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German Pages [420] Year 2016
Norbert Schläbitz
Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen Vom Neuhumanismus als Leitkultur, von der »Wissenschaft« der Musik und von anderen Missverständnissen
Mit 5 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0621-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Unter Verwendung des Bildes »Bruchland« (100 cm x 140 cm, Mischfarbe) von Achim SchlÐbitz mit Beifþgungen von Notationen von Norbert SchlÐbitz. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbestÐndigem Papier.
Inhalt
Die Geschichte vom schönen Traum mit seinen hässlichen Folgen . . . .
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Bildungspraxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das griechische Studium am Katzentisch/. . . . . . . . . . . . . . . . . Vokabeln und Grammatik pauken: Instrument zur ethischen Läuterung/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kritik der Medien und dann und wann ein Weltuntergang . . . . . . . Erstes Szenario: Medien, die Schwächung des Geistes und die Demenz/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Szenario: Verlust der Autorität, der Verlässlichkeit des Wissens und irrlichternde Gedanken/. . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Szenario: Informationsüberfluss und Desorientierung/. . . . Viertes Szenario: Medien, Menschenmaß und die Deformierung des Geistes/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünftes Szenario: Die Suchtgefahr in Medienwelten/. . . . . . . . . . Sechstes Szenario: Medien, der Realitätsverlust und das zerstreute Bewusstsein/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebtes Szenario: Medien und die Isolationsgefahr/. . . . . . . . . . . Die Apokalypse und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit/. . . . . . . . . Medienwirkungen jenseits der Apokalypse/. . . . . . . . . . . . . . . Bildungsfantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platon. Von weichlichen Tonarten und solchen, die dem Krieger dienen/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles. Zwischen Banausentum und ethischer Erziehung/. . . . . Winckelmann. Edel, still und eine große gesetzte Seele/. . . . . . . . Goethe, Schiller. Das klassische Ideal und die ästhetische Erziehung/. Humboldt. Das von Göttlichkeit durchstrahlte Griechentum/. . . . . Alles nur erträumt. Fehlurteile, Missverständnisse, Fantasien/. . . . .
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Inhalt
Alltag der Seminarpraxis und die Suche nach dem ethischen Ort/. . . . Das (neu-)humanistische Programm der Exklusion/. . . . . . . . . . . Das Inhumane humaner Bildung oder : Das ärgerliche Theorie/Praxis-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm von Humboldt im Fokus/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Intoleranz (neu-)humanistischer Bildung/. . . . . . . . . . . . . Skizzierung eines Jahrhunderts. Der »bessere« Mensch und seine Umwelt/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mangelnde Fähigkeit zur Deliberation/. . . . . . . . . . . . . . . Paradigmatisch: Thomas Mann und die Verwandtschaft von Kultur und Barbarei/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Leerformel »Bildungshumanismus«/. . . . . . . . . . . . . . . . . Die Quellen der Humanität und die Führungsstruktur im III. Reich/. ›Handeln aus Pflicht‹. Die Purzelbaumethik vom ›guten Willen‹/. . . Bildungsbürgertum, Kunstverständnis und die Inhumanität/. . . . . Bildungshumanismus und die Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen/. Vom bösen Zauber der Humanität zur Kränkung des Selbst/. . . . . . Musik als Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikalisch reizvoll, aber völlig bedeutungslos/. . Wo Sprache zur Musik wird/. . . . . . . . . . . . Gefühlsloser Klangstrom/. . . . . . . . . . . . . . En-Kulturation und Mutterleib/. . . . . . . . . . .
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Die Komplexitätslüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt des Komplexen oder : Eine Stufentheorie der Kunst/. . . . . Fehlende Maßstäbe und rhetorische Tricks/. . . . . . . . . . . . . . . Auf zum Komplexitätsgipfel zum Werk der Werke/. . . . . . . . . . . Fantasy-Literatur der Fachdisziplin Musik/. . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische Interpretation als Spiel/. . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt des Unterkomplexen oder ganz einfach: Blühender Unsinn/. Von der (Un-)Möglichkeit zu benennen, was Kunst ist/. . . . . . . . .
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Vom Wortlaut der Schrift … und von zu einfachen Beschreibungen . Vom Ort der Musik und von der »musikalischen Logik«/. . . . . . . Betriebsblindheit und Fehlschlüsse/. . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Etikettenschwindel »musik«-immanente Analyse/. . . . . . . . Babylonische Schriftverwirrung und die Illusion vom Wortlaut der Schrift/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Die Lesbarkeit der Partituren und ihr mehrfacher Schriftsinn/. . . . . . Medienrevolution. Der »Triumpf der Analyse« und ihre Erfüllung in der Digitalität/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine musikalische Analyse mit Weitsicht und die Welt der Geschichtenerzähler/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geist der Romantik Die Verzauberung der Fachdisziplin/. . . . . . . . . . . . . . . Paradigmatisch: Publikationen von »Herzensergießungen« als Wissenschaft getarnt/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verdunklungsgefahr statt erhellender Erkenntnis/. . . . . . .
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Romantische Codierung oder als »E« und »U« zum »A« und »O« verklärt wurden… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Traum vom verlorenen Paradies und der von einer glückseligen fernen Zukunft/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von absoluter Musik und kunstreligiösen Begleiterscheinungen/. . Geschichtsklitterung. Vom »Hofschranzen« zur Apotheose des Künstlers/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der neue Absolutismus und seine pyramidale Struktur/. . . . . . . Sehnsucht nach dem »Wächterstaat«/. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Gegenstand der Fachdisziplin. Altbekannt, manchmal enervierend Tausendmal gehört und immer weniger verkauft/. . . . . . . . . . . . »Neue Musik« in der nach unten offenen Abwärtsspirale/. . . . . . . Absolut aufgeräumt. Der Zuspruch von Konzerten und Fluchtimpulse/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Crisis! What crisis?« Die Fachdisziplin Musik . . . . . . . . . . Die Musik als verspätete Disziplin/. . . . . . . . . . . . . . . . . Parallelwelt ohne Resonanzereignisse/. . . . . . . . . . . . . . . In der kulturellen Redundanzschleife liebgewordener Routinen/. Schreibarbeiten. Zwischen Best-of-Musik und mikrologischen Mini-Studien/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Vermissen Sie die Dronte?«/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die nach unendlich strebende musikalische Küstenlinie oder : Knappheit reguliert den Wert/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstreflexive Kritik aus dem Raum der Fachdisziplin Musik/. . Theorie- und Methodendefizite/. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Kompetente Nachbarschaftshilfe und musikalischer Analphabetismus im Fach/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Rücksturz zur Erde« oder : Bildung und Theorie sind nicht festzustellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Komposition – Eine Neue Musik für den Hörer/. . . . . . . Die Rezeption – Erlebniscenter (Musik-)Kunst/. . . . . . . . . . Die Produktion – Die merkantilen Kunstverwerter/. . . . . . . . Die Reflexion – Zur kompetenten Anschlusskommunikation mit Systemrelevanz/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aufbruch zu einer »transhumanistischen« Bildung . . . . . . . . . . . . Zweckfreie Bildung. Operante Konditionierung statt Selbstbildung/. . . Die Verabschiedung vom Schubladendenken oder : Wie humanistische Bildung denkbar ist/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien der Bildung. Das Eigentliche ist sichtbar/. . . . . . . . . . . . . Horizonterweiternde Kompetenz. Der Kanon und der Abschied vom Teddybären/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteilnehmende Kompetenz. Rehabilitierung des Fremden/. . . . . . . Musikgeschichtliche Kompetenz. Vom musikalischen Fortschritt zur evolutiven Entfaltung/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreativ-kommunikative Kompetenz. Vitalisierung des kulturellen Erbes/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Kompetenz. Ästhetische Erziehung/. . . . . . . . . . . . . Mediale Kompetenz. Technokultur/. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . RESET: Mit Blick zurück zum Neuanfang/. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Geschichte vom schönen Traum mit seinen hässlichen Folgen »Jedes kulturelle Feld besitzt seine eigenen Mythen. Mittelständische Angehörige des Kulturmilieus erzählen […] über Literatur gerne die Mär, sie verhindere per se die Barbarei.«1
Dieses Buch handelt von wirkmächtigen Märchen und Mythen, die – von den Künsten und den jeweiligen Fachdisziplinen ausgehend – den Raum gesellschaftlicher Kommunikation durchsetz(t)en. Von einem solchen Märchen oder Mythos, wie man will, berichtet auch das Eingangszitat. Es sind dabei zweifelsohne nicht nur mittelständische Angehörige eines Kulturmilieus, die – dem Kinde gleich – mit großen träumenden Augen und dem Finger auf den Zeilen jener Mär sich vorbehaltlos hingeben. Im Gegenteil. Dass Literatur – ja weiter gefasst –, dass Kunst zum guten Wesen führte, der Barbarei – quasi wie naturgewollt – wirkend entgegensteht, das ist von Künstlern, ihren Exegeten und deren Rezipienten so gebetsmühlenartig oft repetiert worden, bis im Sinne einer Massenautosuggestion die Mär nicht mehr als Mär erkannt, sondern für die Wirklichkeit genommen wurde. In Schriften dazu waltet wesentlich der Indikativ, wo der Konjunktiv schon gewagt wäre. Gerade auch die Gegenwart ist nach wie vor bestellt von solcher Rede, wenn bspw. ein Nida-Rümelin – im Indikativ selbstredend – feststellt: »Humanistisches Denken ist immer auch emphatisch: Es weiß um die Beschränktheit der eigenen Perspektive und verlangt, sich in die andere Person hineinzuversetzen, um Verständigung möglich zu machen.«2 So klar und unmissverständlich das Geschriebene auch zu sein scheint, es bewegt sich doch im Raum einer märchenhaften Erzählung und steht entgegen der breiten Wirklichkeitserfahrung. Es bricht sich hier ein Wunschdenken seine ungehemmte Bahn und entfacht einen Wirbel schön gewählter wie ungebremster Wortstafetten, das sich zu ganzen Büchern ballt. Ein harmloses erstes Beispiel nur dazu, das den so schönen PhilosophenWorten doch ein wenig den Boden entzieht. Man suche nur die Empathie und 1 Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Einführung in den Mainstream der Minderheiten. In: Goer, Charis/Greif, Stefan/Jacke, Christoph (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart (Reclam) 2013, S. 224. 2 Nida-Rümelin, Julian: Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität. In: Hutter, Axel/Kartheininger, Markus (Hg.): Bildung als Mittel und Selbstzweck. Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs. München (Karl Alber) 2009, S. 127.
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Die Geschichte vom schönen Traum mit seinen hässlichen Folgen
das Konsensstreben in den Äußerungen eines Claus Peymann, dem Theaterregisseur und wohlbekannten Intendanten, zum Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner. Unterstellt dabei sei, dass Claus Peymann der Bildungsgüter reichlich genossen hat und in irgendeiner Form der Wirkmacht der so positiv geschätzten Bildungsgüter ausgesetzt gewesen ist: »Der Renner ist jung, frisch, ein bisserl dumm, immer nett lächelnd und auf Rhythmus aus. Ich hab mich ein paarmal mit dem getroffen – der weiß vom Theater nix. Da ist keinerlei Geschichtsbewusstsein, kein Hintergrund. Da können Sie genauso gut mit dem Pförtner sprechen. Er ist einer dieser Lebenszwerge, die jetzt überall die Verantwortung haben. […] Wenn man Gespräche mit ihm führt, ist man nach einer halben Stunde am Ende, es wird einem langweilig, der Mann ist ja leer. Mit dem ist ein Gespräch gar nicht möglich. Man sitzt einem leeren, netten weißen Hemd gegenüber.«3
Schon schleicht ein erster Zweifel sich ein ob der so segensreichen Charakterprägung durch Bildungsgüter und das Märchenhafte daran schimmert sogleich durch. Es wäre spannend zu erfahren, wie ein Nida-Rümelin solche sprachlichen Ausbrüche in sein Weltbild vom humanistisch Gebildeten, der doch von ach so viel Empathie und dem Streben nach Verständnis erfüllt ist, zu fügen verstünde. Wer aber nun der Verdacht äußert, dass es sich bei der Vorstellung, Kunst und Kultur würde der Charakterbildung (irgendwie aus sich heraus) prinzipiell dienlich sein, um ein schön halluziniertes Märchen handelt, muss damit rechnen, dass ihm oder ihr ähnliche konsensträchtige Worte wie die von Peymann entgegenschallen. Das Verständigungsstreben, das so geboten wird, ähnelt eher der wüsten Beschimpfung. Und auch hier ist manchmal ganz arglos fraglos zu fragen, worin die Empathie sich spiegelt, die Suche nach der Verständigung, wo unschöne Wortungetüme bewegt werden. Die dann schon mal von Empörung getragenen, gerne auch reflexionsfreien Worttiraden werden teilweise umso heftiger geführt, seitdem Bologna der zweckfreien Bildung ein Fragezeichen hintenanstellt und das Märchen vom charakterlichen oder anderweitigen Nutzen des Zweckfreien hinterfragt, ihr und ihm den Grund und Boden entzieht. Diese alten Geschichten eines notwendigerweise von allen Zwecken enthobenen Bildungsgutes werden wohl deshalb wie ein Schild vor sich hergetragen und bis aufs Messer verteidigt, weil jene Geschichten so schön klingen, man ihnen das ganze Leben gewidmet hat und man von schönen Träumen einfach nicht lassen sowie nicht genug bekommen mag, ein Aufwachen denn auch unerquicklich irritierend wäre sowie eine neue Geschichte nicht gleich an der Hand, was an dem Traum festhalten und ihn weiter ausspinnen, heftigst verteidigen lässt – Empathie hin, Verständigung her. Wie von selbst kommen die Geschichtenerzähler auf die Künste zu sprechen 3 Die Zeit v. 08. 04. 2015.
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mit ihrem Einfluss und ihren Wirkungen, wie sie auf den menschlichen Charakter zu wirken mögen. Jene humane Gesinnung wird erfahren durch ausgewählte Dinge und Undinge und deren Mehrwert, den man empfängt. Da beginnt dann der eigentliche märchenhafte Traum, und es ist fürwahr ein schöner Traum. Ganze Bibliotheken kann man füllen mit Büchern von Autoren, die davon erzählen, dass Kunst und unbedingt schöne Kunst gar nicht anders kann, als nur sittlich zu wirken und der Veredelung des menschlichen Charakters zuarbeitet. Aber Vorsicht: nicht jede Kunst – so der Tenor – ist hierfür geeignet. Nur große Meisterwerke von edler Güte zeigen die gewünschte Wirkung. Die edle Einfalt, stille Größe eines Winckelmann wird hier gern bemüht. Jede andere aber verderbe den Charakter oder lässt ihn – so die schöne Geschichte von der schlechten Welt – zumindest im entmündigten Zustand verkümmern und, betäubt vom ästhetisch Vergifteten, den Verhältnissen sich ergeben. Schon Platon wusste wortreich und in Dialoge gestanzt zu scheiden in schädliche und positiv wirkende Musiken, wie immer er das auch eruiert haben mag. Empirisch jedenfalls nicht. Doch so kleinlich nachzufragen geziemt sich sicher nicht. Wenn Platon spricht, hat das Gewicht. Auf alle Fälle wusste er von der erzieherischen Wirkung mancher Musik zu erzählen, wenn man ihr nur ausgesetzt sei. Noch das 20. Jahrhundert weiß, umrahmt von kritischer Theorie, immer noch zu scheiden zwischen guter und schlechter Kunst, ausgedrückt in der ein Erweckungspotential in sich tragenden autonomen Kunst einerseits und andererseits jener, die Abhängigkeit und Hörigkeit nur einpflanzt und das arme Menschenkind verdinglicht. Adorno weiß davon bemerkenswert wie unermüdlich in seinen Schriften zu berichten. Und ein Staunen macht die Runde: Wie einfach doch die Welt sein kann, wenn man Adornos herrlich dialektisch kryptischen Schriften nur folgen mag und kann. Er singt bei allem dialektischen »sowohl als auch« doch nur das eher buchstabenarme schlichte Lied von »E« und »U«. Wo das Hohe Lied vom »E« und »U« gesungen wird, greift man zurück auf eine Erfindung der Romantik. Dort treffen Wissenschaft und Fantasie ganz ungehemmt aufeinander, und aus dieser seltsamen Gemengelage entwerfen sich Geschichten von der Kunst, die sich wissenschaftlich nennen und paradox doch von Träumen künden. Die »E«/»U«-Dichotomie findet so ihren Grund in einer paradoxal gestimmten Denkform. Beim Singen des Liedes vom hohen »E« im Spiel des Lichts tut sich auf der anderen Seite ein wahrer dunkler Abgrund auf. Im allesverschluckenden »U« findet er seine (sinn-)bildliche Entsprechung. Dieses »U« erscheint als Abgrund, als schwarzes Loch, erfüllt vom Schatten, in dem jede Aura sich verliert, das Immergleiche regiert und im schattenhaften Dunkel quasi zur bloßen Onanie animiert. Adorno will es so, dass der Genuss der falschen Kunst nur Ersatzbefriedigung liefert. Solange an der falschen Kunst goutiert wird, sind Bildung und Rettung im Umkehrschluss eines sich vollziehenden orgiastischen Höhepunkts dann völlig unmöglich. Aus dieser leitet sich
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kein kritisches Bewusstsein ab. Nur eine hohe Kunst, filigran und komplex, von Autonomie umfangen, zugleich vom Menschengeist ersonnen und doch irgendwie untergründig teleologisch vorgezeichnet, ist allein sich selbst genug und kann gerade deshalb, weil sie zweckfrei, ansonsten zu nichts taugt und nutzlos ist, so ungemein wunderbar auf den Charakter wirken oder zumindest ihr kritisches Potential entfalten. Adorno hat diese Idee nun nicht erfunden, eher für sich sortiert, dabei – garniert mit Fantasie – ein bisschen modifiziert. Das Zauberwort von einer von allen Zwecken befreiten Kunst ist besonders zu betonen. Gerade im 19. Jahrhundert wächst die Überzeugung von der sich selbst genügenden und gerade dadurch einer Menschengeist dienenden Kunst. Die Formel »l’art pour l’art« aufnehmend, meint ein Thomas Mann dann: »keinen anderen Zweck habe sie verfolgt, als der Wahrheit und Schönheit zu dienen«4, was zumindest Komponisten wie Bach, Telemann, Händel und viele andere wundern würde, da sie ganz profan Musik auf Bestellung, oft nach kleinlicher Vorschrift und für den Tagesgebrauch zu schreiben hatten. Der Zwecke gab es für sie viele, um Musik zu schreiben, die Wahrheit stand bei ihnen eher hintenan. Aber wer will hier so beckmesserisch sein. Die Formel des »l’art pour l’art«, einmal erfunden, klingt einfach so endlos zeitlos schön, dass mit einem Male eine ganze Geschichte künstlerischer Gebrauchspraxen ihr offensteht. Wen kümmern da noch zeithistorische Bedingtheiten, profane Umgangsweisen oder sozio-ökonomische Gründe? Gleich von der Wahrheit muss sie, die Kunst, denn künden. In kleinerer Münze geht es nicht. Hinzufügen möchte man zum Wahren, Schönen des Thomas Mann – das versteht sich nunmehr schon fast beinahe wie von selbst – das Gute. Damit ist jene Trinität erfüllt, eine göttliche Dreifaltigkeit, obwohl in jener Zeit, als Thomas Mann diese Worte wählte, doch auch schon die »Ästhetik des Hässlichen« der Schönheit ihren Platz streitig machte, sich seit 1853 durch Karl Rosenkranz Schrift dazugesellte oder zumindest sich untergründig ins Bewusstsein drängte. Diese erzwang die geometrische Wandlung zur Quadratur, was mit göttlicher Dreifaltigkeit wiederum nur ganz schwer in Einklang zu bringen ist. Sozusagen die Quadratur des Dreiecks. Einerlei: Wo die Wahrheit sich offenbart, sind weitergehende Effekte – vom Kunstschein ausgehend – recht einsichtig, denn wer wollte nicht der Wahrheit teilhaftig werden im Angesicht der Kunst und – von der Aura der Kunst umflossen und durchwirkt – ein guter, sprich besserer Mensch werden? Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, denn jede gute Geschichte, zu denen Märchen fraglos gehören, braucht einen Konflikt. Dieser Konflikt zeigt sich darin, dass die Teilhabe an der Wahrheit gleichwohl mit Arbeit verbunden ist, denn die Wahrheit teilt sich nicht einfach mit. Wohl wird etwas von den Künsten 4 Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt/M. (Fischer) 42009, S. 298.
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empfangen, was nur den Künsten gleich einem Keim innewohnend ist, doch das Gegenüber darf nicht passiv sein, damit der empfangene Keim auch wachse und gedeihe. Es gilt zu heben den Schatz, der sich nicht einfach zeigt. Damit die Empfängnis gelingt, ist Aktivität vonnöten. Zu der unverzichtbaren Arbeit gesellt sich noch die notwendige Zeit, die zum Verstehen aufgebracht werden will, so wollen es die Schriftgelehrten und die die Schriften Verzehrenden. Ein beiläufiges Flanieren ist ganz unvorstellbar bei solchen verborgenen Werten in Werken. Sie wollen gehoben werden. Das Stichwort heißt daher Kontemplation. Die Kunst will kontemplativ erschlossen werden, der schöne lichte Schein durchbrochen, um dahinter das in der Tiefe schlummernde Eigentliche zu ergründen, nur so wird die Wahrheit gewonnen. Diese Auseinandersetzung mit der Kunst führt zu einem inneren Erkenntnissprung, emotiv empfunden, auch kognitiv durchdrungen, es kommt sozusagen zu einem inneren »Ach so«, quasi zu einer Läuterung, und es wird geboren zuletzt – endlich der bessere Mensch. Die Katharsis nimmt so ihren Gang. Das Ganze klingt geradezu märchenhaft schön, obwohl die meisten Märchen – das sei am Rande hier nur erwähnt – ja eigentlich weniger schön denn mehr brutal und grausam sind, auf jeden Fall aber scheint der märchenhafte Traum zu schön, um wahr zu sein. Doch das »zu schön, um wahr zu sein« kommt in den Geschichten vom Traum von einer besseren Welt mit besseren Menschen selten vor. Durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch bleibt der Äther erfüllt von den Geschichten der sittlichen, erzieherischen Wirkung von Kunst; vom veredelten Charakter und mehr ist die Rede. Der Strom der Zeichen wird nicht müde, davon zu berichten. Über diese segensreiche Auseinandersetzung mit Kunst bildet sich der Mensch und wird – wo im Bildungsprozess eins zum anderen sich fügt – charakterlich gefestigt und ethisch geläutert. Damit ist ein weiteres Zauberwort ausgesprochen, das in dem Verwandlungsprozess vom Menschenkind zum humanen Wesen unverzichtbar ist: die Bildung. Über die zweckfreie Kunst wird Bildung gewonnen. Nur über die Bildung, Folge jenes kontemplativen Zugangs und so das kenntnisreiche Einverleiben der voll der Wahrheit steckenden Künste im besten Sinne, kann die Verwandlung, die man sich ja nur wünschen kann, gelingen… Auch davon wird im Buche zu reden sein. Aber halt, es gilt sogleich sich im Detail zu korrigieren, denn vom Äther wie gerade eben zu sprechen verbietet sich von selbst, weiß doch jeder naturwissenschaftlich Kenntnisreiche, dass der Äther, einst erdacht als unsichtbares Medium, das dem Licht als Träger zur Ausbreitung dienen sollte, eine menschliche Erfindung ist, folglich gar nicht existent. Vor weit über hundert Jahren schon war dem Äther das unrühmliche wie für ihn traurige Ende beschieden, als sich herausstellte, dass Licht »gar kein Medium brauchte und sich
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selbst genug war.«5 Das kann man wissen, muss man aber nicht, denn das gehört zur Bildung freilich nicht, wo naturwissenschaftliche Phänomene angesprochen sind. Weit gefehlt! Es gilt hier unbedingt Gradationen der Bildung auszusprechen. Dem Bildungsgiganten Thomas Mann zufolge verspreche nur metaphysische Religion oder ersatzweise Bildung Versöhnung (so weit, so gut), und er ergänzt ganz sanft in Parenthese: »womit natürlich nicht naturwissenschaftliche Halbbildung gemeint sein kann«.6 Natürlich nicht!, würde vielleicht auch heute mancher noch zustimmen wollen. Warum der Apfel vom Tische fällt, das nicht zu wissen tut der Bildung keinen Abbruch, aber nicht zu wissen, wer Die Glocke geschrieben hat, das schon. Die Rede vom naturwissenschaftlich Gebildeten gleicht so eher einem Oxymoron. Die Worte des Thomas Mann sind geschrieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Über einen Zeitgenossen des wahrhaft Gebildeten weiß Ulrich Konrad, ein Vertreter der Fachdisziplin Musik7, ganz Ähnliches zu berichten: »Vor einigen Jahrzehnten, als es auch für phantasiebegabte Professoren noch unvorstellbar war, dass die Verhältnisse an deutschen Universitäten sich ändern könnten, soll sich folgende marginale, aber bezeichnende Geschichte zugetragen haben: Der Romanist Ernst Robert Curtius lehnte den Ruf auf einen Lehrstuhl an einer Technischen Hochschule mit der Begründung ab, dann würde ja der ordentliche Professor für Heizung und Lüftung ›Herr Kollege‹ zu ihm sagen.«8
In einer Haltung wie dieser oder auch der von Thomas Mann spürt man – so müsste wohl ein Nida-Rümelin argumentieren – geradezu paradigmatisch das durch die rechte Bildung erworbene ausgezeichnete humane Wesen. Man sieht: Die humanistisch geprägten Äußerungen von Peymann vom Beginn fügen sich so nahtlos ein in eine lange Tradition. Erfüllt von Humanität als Folge so umfänglicher Kontaktzeiten mit den segensreichen Bildungsgütern wissen ein Thomas Mann wie sein der Bildung gewogener Kollege ihre Worte so einfühlsam zu wählen, dass man sie als Vertreter der Naturwissenschaften fraglos auch vorbehaltlos annehmen kann. Wie könnte man hier auch zürnen? Erscheint denn hier nicht die zu Beginn zitierte These zur humanistischen Bildung valide 5 Fischer, Ernst Peter : Die Verzauberung der Welt. Eine andere Geschichte der Naturwissenschaften. München (Siedler) 2014, S. 35. 6 Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, a. a. O., S. 273. 7 In dem vorgelegten Buch wird, abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen, von der »Fachdisziplin Musik« und nicht von der »Musikwissenschaft« gesprochen. Der Grund liegt darin, dass bei einem zentralen Bereich der Musik, der sogenannten »Historischen Musikwissenschaft«, es sich nicht um eine Wissenschaft handelt, sondern entweder um Belletristik handelt oder um ein Schreiben, dessen Basisaxiom nichtwissenschaftlicher Natur ist. Die Gründe für diese Annahme werden im Verlaufe der Arbeit erläutert. 8 Konrad, Ulrich: ars – Musica – scientia. Gedanken zu Geschichte und Gegenwart einer Kunst und ihrer Wissenschaft. In: Laurenz Lütteken (Hg.): Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung. Kassel (Bärenreiter) 2007, S. 20.
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gespiegelt? Würde nur jeder so denken und einfühlsam sich auszudrücken verstehen wie ein Thomas Mann, Curtius oder Peymann heute, es wäre fürwahr eine bessere Welt, in der wir lebten, nicht wahr? Das sei am Rande und ganz beiläufig nur erwähnt. Ulrich Konrad nun, der von dieser letztgenannten Anekdote (Curtius) zu berichten weiß, setzt seine Rede fort mit den Worten: »Die Zeiten haben sich inzwischen gründlich geändert, ja, das Blatt hat sich völlig gewendet«9, und man meint gar ein ganz leicht untergründig mitlaufendes Bedauern aus ihnen abzulesen, dass die Bildungszeiten sich so grundlegend geändert haben und die wirkliche Bildung jenseits der Naturwissenschaften zunehmend unter Rechtfertigungsdruck ob ihrer geradezu unvergleichlichen Qualitäten steht. Bildung, so wollen es die Geschichtenerzähler, folglich Versöhnung, ergibt sich danach allein durch das so segensreiche Studium der Künste und so auch der großen Schriften des Thomas Mann, der sich so trefflich ausgewogen – konsensträchtig geradezu – mitzuteilen weiß. Und doch fragen viele heute nach dem Nutzen solchen Bildungsstrebens und finden ihn einfach nicht. Doch verbietet sich solches freche Fragen nicht? So ist seit Jahrtausenden – unter Außerachtlassung des Äthers nun – der Luftstrom erfüllt vom Klang der Worte, die der Kunst ethische Wertschätzung, Versöhnung oder anderes schön Klingendes beimessen. Und in der Tat reicht die Ahnenreihe Jahrtausende zurück. Sicher : in Nuancen unterscheiden sich jene märchenhaften Geschichten, aber immer steht am Ende ein anderer, ein gut erzogener, ein in der Regel doch irgendwie – wie mittlerweile zu wissen ist – besserer Mensch. Die Begriffe des Sittlichen, des Ethischen, der Veredelung, auch der Pflicht (ein weiteres großes, ein ganz wichtiges Zauberwort im Raum der Ethik, von dem die Rede sein soll) u. a.m. bürgen dafür. Märchen und Mythen wachsen in der Regel aus dem Volk empor, werden von Generation zu Generation weitererzählt und tradiert. Ihre Verfasser bleiben ungenannt und unbekannt. Auch das Märchen von der sittlichen Prägung durch Kunst und Kultur kennt keinen einsamen Verfasser, gehört aber doch eher zur Gattung der Kunstmärchen, und es nahm seinen Ausgang weniger aus den breiten Schichten einer Gemeinschaft. Erzählt wurde es so schon – wie erwähnt – in der Antike und generell eher dort, wo man in anderen, höheren gesellschaftlichen Sphären sich zu bewegen meinte. Nicht jeder kann danach im gleichen Maße an Kunst und Kultur partizipieren. Die davon Ausgeschlossenen bleiben von der charakterlichen Prägung im genannten Maße in großen Zügen ausgespart, haben aber gleichwohl zu achten jene, die an der Bildung so außerordentlich gewachsen sind. So fühlt man sich selbst ins rechte Licht gestellt, und im Schatten stehen all die vielen anderen im indifferenten grauen Einerlei. 9 Ebd.
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Gerade deshalb können die Peymanns auch so schön schimpfen über jene, die mit ganz anderen Dingen und Undingen sich beschäftigen, und können ein Thomas Mann und Curtius so abschätzig über andere Bildungswelten reden, von denen sie keine Ahnung haben. Sie wähnen sich im hellen Lichte stehend, die anderen aber nicht. Wer von solchen Erzählungen inkludiert ist, findet nichts Falsches daran, auch weil dieses Märchen einen selbst so schön hervorragend in Szene setzt. Die listige Vernunft schlägt geradezu Purzelbäume, um solchen Märchen einen vernünftigen Grund zu geben und entledigt sich dabei zugleich aller Vernunft. Sieh an, sagt sie, es klingt vielleicht wie ein Märchen, und doch ist es die einzig wahre Wirklichkeit, von der wir künden. Kein Kopfschütteln lädt zum Zweifeln ein, kein Ungemach lässt einen Schritt vom einmal eingeschlagenen gedanklichen Wege tun. Die märchenhafte Kopfgeburt bleibt von reiner kritischer Vernunft umschlossen und abgewehrt – manchmal koste es, was es wolle – der anderen auf der Zunge liegende, fast schon halb ausgesprochene Satz: Der Kaiser ist ja nackt. Er hat ja gar nichts an… ***
Die bislang gewählten Worte hegen einen ganz leichten Zweifel (wie vielleicht zu bemerken war), dass der Traum vom besseren Menschenwesen, durch Bildung erworben, auch nur in groben Zügen plausibel wäre. Einmal richtig hingeschaut, verliert der Traum auch seine Kohärenz. Es schleicht sich alsbald der Verdacht ein, wer so zum Träumen neigt, handelt alsbald sich ein Trauma ein. Von den traumhaften, märchenhaften Vorstellungen von einer besseren Welt oder von einer ethisch gestimmten Welt handelt dieses Buch, aber eben auch davon, welche traumatischen Folgen sich auf diese Weise einstellen. Er erzählt davon, welche Purzelbäume das Denken manchmal schlägt, wenn man bspw. partout die »edle Einfalt, stille Größe« zum Maßstab aller Kunst machen will, woraus die großen Werke wachsen und still gedeihen sollen, und man doch erkennen muss, aber nicht will, dass die edle Einfalt, stille Größe gar kein antikes Vorbild kennt. Nur die wenig wissenschaftliche Träumerei eines Winckelmann hat sie in Szene gesetzt. So erfährt das so viel beschworene klassische Ideal seine Wandlung zur Luftnummer, wird zum bloßen Kontingenzereignis, wo man zuvor doch die korrekt eins zum anderen sich fügende Notwendigkeit walten sah. Ein Trauma ist dies, fürwahr. So handelt dieses Buch auch von Menschen, die den Traum zur Basis ihres forschenden Strebens gemacht haben, sich dabei fortreißen ließen und bspw., ihren Winckelmann deklamierend, fantastische Geschichten über musikalische Formen, Gattungen schrieben, darüber schrieben, mit wem Musik so alles sprach sowie noch spricht und wie sie läuterte, dabei manchmal alles Forschen aus dem Blick verlierend, galt es doch, dem Märchen einen tiefen Grund und Nahrung zu geben.
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Zum Thema erhoben ist so im Folgenden auch die Wissenschaft von der Musik, die das Märchen so vollständig inkludierte, dass die Geschichten, die sie einstmals schrieb und zuweilen noch schreibt, an eine Märchenkultur sich anlehnt. Ein Trauma fürwahr auch das, wenn die Wissenschaft der Musik der Wissenschaft zuweilen recht ferne steht. Selbst angeführte Gründe, wie sie so oft zu finden sind, was ein großes Werk von anderen scheidet, stechen nicht, wenn sie nur einmal (und nicht nur ausschnitthaft) auf die ganze Musikkultur ausgelegt sind. Musik kann heute alles sein, Stillsein und Rauschen inklusive, sodass man allein noch sagen kann: Was aber gemeinhin als Musik wahrgenommen wird, stört – wie die Störung – wohl die Stille, aber stört – wie die Stille – nicht. Es gibt kein Passepartout, eine Generalformel, das/die für jede Musik gilt und über sie vorurteilsfrei urteilen ließe. Schon wird die Grundlegung – wie nach einem starken Regenfall – aber ganz rasant einfach fortgeschwemmt. Und doch wird oft noch so getan, als ob es das gäbe – ein festes Fundament, von dem aus sich entscheiden ließe, was groß und besser sei und anderes eben nicht. Was bleibt vom Fach, das mit wissenschaftlichem Denken und Argumenten so schwer sich tut? Die Musik und die Musikversteher sind zwar das zentrale Thema, um das das Buch hier kreist, aber immer wieder sind es auch die anderen Künste, die begleitend angesprochen werden. Das Märchen von den segensreichen Künsten ist eines, das nicht nur in der Musik so traumatisch verstörend wirkte, da der Plot in den anderen Künsten oftmals ähnlich ist: Hier die unvergleichliche, sich klassisch gebärdende Kunst, dort die Künstler, die sich hingebungsvoll und unbedingt entbehrungsreich allein der Kunst verschreiben, und endlich die an der Kunst sich Bildenden, die an ihr wachsen und sich erheben zu so charakterlich unvergleichlichen Menschenwesen, auf dass sie anderen zum Vorbild gereichen. So zumindest die Theorie! Das Edle, Wahre, Gute fände sich in wohlgesetzter Literatur, in aufeinander abgestimmter Farbe im Bild und im recht gesetzten Ton in der Musik ohnehin aufgehoben. Edle Einfalt, stille Größe eben! Auch die Plastik leistet hier wahrlich ihren guten Dienst. Doch die Zeit der edlen, stillen Helden-Epen ist längst vorbei. Sie werden bestenfalls im Historienroman oder in Fantasygeschichten neugeschrieben. Und von denen gibt es viele auch in den genannten Disziplinen. Die Fachdisziplin Musik hat mit ihren Geschichten geholfen, Bildungswerte zu heben, sie zu archivieren und – ganz wichtig – auch zu kommentieren, zu kommunizieren im eigenen Sinne, damit auch wirklich jeder weiß, wie unvergleichlich hoch die Kunst zu schätzen ist und in Andacht ihr gedacht. Ein Trauma drückt sich darin aus, dass der Glaube an die Kunst zum Träumen auch die verführte, die sich der Forschung verschrieben haben und um die Erschließung von Kunst sich bemüh(t)en: Die Fachdisziplin der Musik – beflügelt von romantischen Träumen – erzählte und erzählt vom Guten und Schlechten,
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die für das Gute (»E«) die schönsten Worte findet, doch das Schlechte (»U«) schmäht oder darüber schweigt. Es schnürt jenen, die dem »E« so wortreich huldigen, beinahe die Kehle zu; Worte versiegen, wo am Horizont auch nur das »U« aufscheint: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, so möchte man beinahe mit Wittgenstein argumentieren. Nur die auratische Kunst mit hohem Bildungswerte und sittlich erziehend sowieso lässt die Worte wortgewaltig perlen. Das weitgehende Schweigen am anderen Orte zur Musik des Populären sowie der Gegenwart ganz generell hat der Fachdisziplin nicht gerade gutgetan, denn das Hohe Lied vom »E« kennt nur die hier zu Beginn schon märchenhaft entfaltete Strophe. Im ewigen Wiederklang derselben Geschichte findet das homophon gehaltene Lied kaum Gehör noch Widerhall beim Publikum. Und der Glaube an den Inhalt der Geschichte ist mittlerweile ersetzt durch begründete Zweifel. Längst werden andere neue und neueste Lieder im polyphonen Vielklang gesungen, was homophon geführte Weltansprachen von einst leiser klingen, wenn nicht gleich verklingen lässt. Die Musik der Gegenwart ist so voll der Stile, dass es keinen Stil mehr gibt, was den polyphonen Gesamtklang erklärt. Jeder musikalische Stil, jedes Genre, geht hier seinen eigenen Weg. War das Schweigen zum polyphon gehaltenen Liedgute der Gegenwart, das vollumfänglich erklingt und seine Freunde findet, von seinen Verächtern einst frei gewählt, so sind zum Schweigen sie heute fast verdammt, denn im langen Schweigen verlor man den kommunikativen Anschluss zu einer Musik, die man so gar nicht kennen wollte und über die man nun auch aufgrund mangelnder Kompetenz nichts zu sagen weiß. Wovon man keine Ahnung hat und so auch nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. So lautet die Maxime für so viele Vertreter der Fachdisziplin Musik. Und so findet man lieber weiter weise Worte für das Hohe Lied zum »E« und singt dies klagend nunmehr, doch unverdrossen. Und es erklingt darin der Ton – wie stets – vom Früher an. Unbemerkt bisweilen bleibt im Klagelied dabei, dass das »E« zum »U« gar keine Trennung kennt. Die ganzen Gründe, die man wortgewandt so fand, worin sich hohe Kunst vom nicht unerheblichen Rest scheiden sollte, sind durch eine rosarote Brille gesprochen. Sie sind tendenziös, durchaus nicht objektiv, lassen nur das Eigene gelten und formen einen Maßstab daraus. Auch darin drückt ein Trauma sich aus, dass der Rezipient von heute in »E« und »U« nicht nur nicht mehr das »A« und »O« sieht, sondern er sich kein »X« mehr für ein »U« vormachen lässt. Es war ein romantischer Traum, dem die Schriftgelehrten ganz und gar so hoffnungslos verfallen waren. Die Romantik hat so vielen Schriften zu Musik und den Künsten die einst aufblühende aufklärerische Vernunft gleich wieder ausgeblasen. Das Hohe Lied klingt traurig nun. Das Erwachen ist mit Schmerz verbunden, die so angenehm übersichtlich gegliederte zweiwertige, wohlgeordnete Welt dabei entschwunden. Das alles gerät der Fachdisziplin zum Problem: An Geschichten von früher mangelt es – so wollen es musikverste-
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hende und andere Autoren – dabei weiter nicht. Es bleibt darin die Ehrfurcht vor dem Künstler von früher weitestgehend erhalten und dessen überlieferte Kunst der von heute unvergleichlich vorgestellt. Auch das ist dem Märchen gleich. Die Geschichten von der Musik als Kunst geben dem Damals prominenten Raum: Es war einmal… Und dieses Damals oder Früher findet sich bei Bach, Beethoven & Co nun mal am besten aufgehoben. Die Gegenwart wiederum findet sich bestenfalls in Fußnoten nur erwähnt. So gilt es folglich auch dem Staunen der Autoren sich zuzuwenden, dass eine erwach(s)en(d)e Welt jenseits solcher so schön ersonnener Helden-Epen der Meisterwerke-Signatur so recht nicht mehr traut. Ihre Glaubensgemeinschaft bröckelt oder potentielle Glaubensbrüder/-schwestern setzen den Geschichten gleich ein kritisches Fragezeichen hintenan. Oder sie hören schon gar nicht mehr hin, wenn andere von der hohen Kunst künden, vorschlagen, was man hören sollte und was meiden. Man goutiert stattdessen, was immer man will und bildet sich ein eigenes Urteil. Was andere dazu sagen, wen kümmert das schon noch? Von erwachsen gewordenen Konsumenten wird die Gegenwart der Kunst der guten alten Zeit, so schlimm und blutig sie meistens war, oftmals vorgezogen. Die groß geschriebenen Vorbilder von einst (ob Meisterwerk oder Titanentum) sind zu oft ohnehin nicht das gewesen, als das sie beschrieben worden sind. Noch weniger interessieren die neu geschriebenen Geschichten der einsam gewordenen Schriftgelehrten abseits der Titanen und Heroen, die Geschichten zu kleinen und kleinsten Meistern, denn auch diese erzählen im Duktus des Es war einmal… (und so von einer Zeit, wo neben der Musik auch alles andere angeblich besser war). Nicht mehr Ansprachen gleich an die ganze Welt werden dabei wortgewaltig begründet, sondern der lokalen Geschichten wird gedacht. Was an einem x-beliebigen Hoftheater sich einst so abspielte und wie die Tabulaturenwelt im Kloster sowieso zur Zeit des Dreißigjährigen oder eines anderen Krieges sich so ausnahm, das könnten so die Themen sein. Diese neuen Geschichten sind weniger groß angelegte Epen, mehr Kurz- und Kürzestgeschichten, um die forschende Autoren sich heute kümmern. Doch nicht einmal für diese Kurz- und Kürzestgeschichten nehmen sich die Leser von heute Zeit, denn Zeit ist eine kostbare Währung, die verantwortlich verwendet werden will. Für Nichtigkeiten bleibt da keine Zeit. Mit der fehlenden Leserschar fehlt die Anerkennung somit auch… Die Bücher und Geschichten von Literaten der Fachdisziplin Musik gerieren sich im kommunikativen Klima von heute als wahre Ladenhüter. Zur Dekonstruktion des Traumes von einer besseren Welt gesellt sich nicht von ungefähr ein weiteres Trauma, von dem die so vortrefflich vorbildhaften Kunstgenießer und die vielen den Traum in Szene setzenden Autoren wenig wissen wollen. Dieses Trauma, gewichtig mehr noch als die schon erwähnten,
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lässt sich leicht benennen: Die Bildung durch Kunst mag zu mancherlei führen, doch eine Veredelung des Charakters ist – ganz moderat formuliert – in der Kunst und ihrer Rezeption eher nicht angelegt. Das ist bislang schon durchgeklungen und nicht unbedingt eine Neuigkeit, aber doch immer wieder zu erwähnen, weil manche Philosophen und andere noble Verkünder einfach nicht davon lassen können und unbenommen aller widersprechenden Gründe und Ereignisse dieses alte Lied noch singen. Dieses Träumen aber von der großen Kunst und ihrer vorbildlichen Wirkungen trübt den Blick dafür, dass die so schön erzählte Geschichte leicht zum Gegenteil führt. Vom Märchen ist schon die Rede gewesen und auch davon, dass die meisten Märchen weniger schön denn grausam sind. Und auch, wo man nicht um Leib und Leben wie in manchen Märchen gleich fürchten muss, verführt dieses Märchen von den Bildungsgütern wie von selbst dazu, Unterschiede festzustellen, die das Eigene (und gelegentlich auch sich selbst) zum Besten bestellen, ins rechte Licht stellen, und alles andere nachgeordnet behandeln, indem man wie vorgeführt an Thomas Mann mit so wunderbar scharfsinnig ersonnenen Kriterien zu unterscheiden weiß zwischen (an Kunst und Literatur) Gebildeten und (naturwissenschaftlich) Halbgebildeten. Es gibt ein aus dem Märchen abgeleitetes Oben und Unten, was aus dem Märchen ganz schnell einen Alptraum werden lässt. Noch Peter Sloterdijk schreibt: »Die Zeiten, als Bildung höflich machte, scheinen vorüber«.10 Es gilt da zu korrigieren. Die Zeiten, als Bildung höflich machte, hat es nie gegeben. Bildung im Humboldt’schen Sinne führt nicht zur Veredelung des Charakters, sondern oft eher zur mangelnden Ausbildung desselben und mangelnden Achtung der vielen, die dem selbst gepflegten Bildungsideal nicht folgen oder folgen wollen. An den Thomas Manns, den Curtius, den Peymanns und so vielen anderen Bildungsbeflissenen deutet es sich schon an, dass der Bildungshabitus weniger zum edlen, besseren Wesen führt, sondern – Nida-Rümelin zum Trotz – die Arroganz, Ignoranz, Engstirnigkeit, auch Rücksichtslosigkeit befördert jenen gegenüber, die klug, aber anders denken, dabei andere Interessenslagen haben. Wo die klassische Bildung so unreflektiert, ungeniert hofiert wird, läuft Gesellschaft Gefahr, sich selbst ein Trauma einzuhandeln. Und das ist leicht zu erklären. Die Geschichte vom Menschen, der von Humanität beseelt ist, Folge von durch Kunst veredelter Charaktere, hat sich bislang noch nicht so recht einstellen mögen. Die Künste entfalteten sich, die Kunstideale der Vorväter sind geund zum natürlichen Vorbild erhoben, die Bildungsanstalten gaben umfangreich Hilfestellung zu ihrer Erschließung und so zur rechten Kontemplation, die Museen sind wahre Lehrstätten der Humanität, auch ihre ungesehenen Keller 10 Sloterdijk, Peter/Heinrichs, Hans-Jürgen: Die Sonne und der Tod. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2006, S. 296.
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borden über vom humanen Geiste; – die Künste drangen so ein in beinahe alle Lebensbereiche. Und doch – bei aller Humanität, die uns umstehen mag und Einfluss nimmt auf geheimnisvolle Weise – die Inhumanität feierte und feiert immer wieder unverdrossen ihre Feste. Untergründig scheint das Trauma auf, denn bei einem oberflächlichen Rundgang durch die Geschichte darf man vielleicht nicht auch arglos fragen: Nahm das Inhumane nicht gerade dort oft seinen Ausgang, wo man umfänglich ihrer segensreichen Wirkungen der schönen Dinge und Undinge sich ausgesetzt sah, sie auch zu schätzen sowie kontemplativ zu erschließen wusste? Bei einem solchen Rundgang wird die Interpunktion vom Fragezeichen zum Ausrufezeichen wohl nicht von ungefähr in Bälde wechseln. Dass der zum Träumen bereite Mensch seinem eigenen Traum erliegen kann und so ein Trauma hervorrufen, erinnert an das Märchen mit seinen weniger schönen Seiten. In diesem Trauma mag sich aber weniger ein Märchen darstellen als die stets mitgeführte andere Seite der Medaille, die den Traum auszeichnet. Man könnte das auch ganz unprätentiös sachlich benennen mit einer ZweiSeiten-Unterscheidung nach Luhmann, mit der Einheit der Differenz von Traum/Trauma. Wer sich dem Traum von der Charakter bildenden, veredelnden Kunst hingibt und überdies ganz ganz fest daran glaubt, handelt sich beinahe zwangsläufig das Trauma gleich mit ein. Der Traum von einer besseren Welt gebärt nicht selten eine schlechtere. Diese Geschichte kommt im Traum von der Humanität nicht vor und auch nicht, dass der mit offenen Augen Träumende ursächlich nicht selten verantwortlich dafür ist. Gerade der unerschütterlich feste Glaube an die schönen, von einem scheinbar auratischen Fluidum umwölkten Künste kann zuweilen sehr gefährlich werden für andere Kunstschätze wie auch für einen selbst. Vielleicht gilt es daher noch pointierter zu formulieren: Der Traum von einer besseren Welt gebärt in der Regel eine schlechtere. ***
Wohin die Reise weiter gehen mag für Kunst, die Künstler und die sie begleitenden Autoren, im Guten wie im Schlechten, ist Thema gegen Ende dieses Buches und wie der Traum von einst, geerdet nun, diffundiert ins dispersive Nichts ist, auch das will besprochen werden, weil ein Menschenleben selbst viel zu spannend ist und überdies zu kurz, um allein in einer von anderen ersponnenen Märchenwelt zu leben. Wo einst die Schriften, Bilder, Skulpturen, Partituren regierten, über die der Gedanke vom humanen Gehalt sich so schön entwickeln ließ, haben längst andere Medien die Regentschaft übernommen. Andere Botschaften sind ihnen eingeschrieben, die weniger die grundlose, nie gefundene Tiefe als mehr den Oberflächengeist bedienen. Sie speichern alles ohne Unterschied, nehmen den Dingen wie Undingen die latente Schwere und machen so ein Träumen leicht, das nicht gleich der ganzen Welt und zur Not auch
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mit Gewalt den eigenen Traum als den eigentlichen überstülpen will. Medien schaffen so Unterschiede und ebnen sie auch wieder ein. Die neuen Medien demokratisieren, wo vordem das Gegenteil herrschte. Sie heben auf den Monolog und propagieren die freie Rede, und sie leisten einen Beitrag zu mehr Bescheidenheit. Auch das ist – wie zu sehen sein wird – nicht immer wohlgelitten bei denen, die der Bildung und der Kunst ein unverrückbares Denkmal setzen wollen und die konsequent Medienrevolutionen mit Argwohn betrachten. Am prägnantesten hat dies wohl mal Arnold Feil, Autor einer opulenten MusikChronik und fraglos ein humanistisch gebildeter Geist, ausgedrückt, der – jenseits aller Digitalität – zurückblickend schon über frühe analoge Techniken wie Lautsprecher und Verstärker folgende einfühlsame Worte fand: »Die für den Menschen als Menschen schlimmste technische Erfindung unseres Jahrhunderts ist – trotz der mit Atom und Atomspaltung zusammenhängenden Erfindungen – die des Lautsprechers, bzw. der Kombination Mikrophon-VerstärkerLautsprecher. Ihr nämlich ist es zu verdanken, daß man zwar ein übermenschlich großes Stadion beschallen kann, aber auch, daß die Menschen das Hören als Zuhören verlernt haben und nicht mehr lernen«.11
Ein leichtes Stirnrunzeln ob dieser These mag sich bilden. Gehört denn – ganz nebenbei einmal gefragt – bspw. nicht auch die Wasserstoffbombe mit ihren Folgen zu jenen Erfindungen, die dann irgendwie (Nagasaki und Hiroshima eingedenk) nach Feil nur nachgeordnet Geltung erfährt? Es ist nicht zu wissen, von welchem Gepräge die hier gezeigte humanistische Haltung ist. Es schleicht sich aber unterschwellig der Verdacht ein, dass ob der schwerwiegenden Erfindungen um die Kernspaltung und ihrer Folgen der gezeigte Humanismus mehr den toten Dingen wie Undingen (Kunst genannt) gewogen ist denn dem Menschen. Ein Aufschrei in der Fachdisziplin ob der gezeigten Feil’schen Haltung gab es indes nicht. Der Pinselstrich, der hier im Gewand der Klage ob der ungeliebten Medienerfindungen gewählt wurde, erscheint überdies so grob, dass dem Autor für spätere Medienentwicklungen ganz schlicht die Worte haben fehlen müssen. Doch nicht der von Arnold Feil bedienten Klage ist das Wort zu führen (wobei man sich gleich fragen mag, welche ethische Gesinnung dem Autor solcher Zeilen die Schreibfeder geführt haben mag. Die humanistische Prägung liegt gleichwohl nahe). Statt Klage zu führen gilt es, den Medien Dank auszusprechen: Die Musik, die Kunst ist wieder unter uns in dieser Welt. Sie war so abgehoben, dass man sie kaum mehr hören konnte oder wollte, so fern stand sie dem Leben und der Menschenwelt. Mit dem Wandel der Medien hat die Denkmalskultur erste Risse bekommen und ist endlich zerbrochen. Auch der Bildungsdünkel ist 11 Feil, Arnold: Metzler Musik Chronik vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart/ Weimar (Metzler) 1993, S. 747.
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dankenswerterweise ins digitale Nichts entschwunden. Vom fernen Himmelreich sind die Künste wieder nah herangerückt, dass man sie auch ohne Arg und schlechtes Gewissen wieder konstruktiv gebrauchen oder sich daran unbeschwert erfreuen kann. Das Märchen von einer besseren Welt, gefunden in einer sittlichen Bildung und vom großen »E«rnst der Kunst beflügelt, in die Welt getragen von seinen getreuen Verkündern sowie niedergelegt in zahllosen Schriften, hat sein Ende gefunden, wie einst der Äther schon. Es war alles bloß erfunden wie jenes unsichtbare Fluidum. Die Disziplinen, die zum Verkünden sich berufen fühlten, sehen nun sich selbst, zwar echauffierend und irgendwie doch stumm, am Abgrund stehen. Zuweilen werden sie, wie mancherorts die Fachdisziplin Musik, auch abgewickelt, weil sie zur Veränderung nicht tauglich sind und sie zur Musik von heute ohnehin (fast) nichts zu sagen haben. All das klingt nach Trauerarbeit und doch will dieses Buch enden mit einer Wiedergeburt der Disziplin(en), wie sie sich reformieren und ein Lied komponieren, das vom ganzen Alphabet getragen ist. Und endlich: Eine Renaissance der Bildung steht zuletzt denn an, die den eigenen Schätzen keinen Sockel baut, sondern stetig neu sie konstruiert und an anderen Schätzen partizipiert. Mag sein, dass auch das ein Märchen in sich birgt, doch etwas Besseres als das Märchen mit seinen dunklen Schattenseiten findet (darin) sich allemal.
Kritik der Medien und dann und wann ein Weltuntergang »Woran es freilich nie gefehlt hat, das waren die Warner und die Mahner. Die Kulturkritik ist älter als ihr Name. Sie läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen«12.
Änderungen allgemein rufen Befürworter (»Evangelisten«) wie Kritiker (»Apokalyptiker«) hervor. Das gilt für alle gesellschaftlichen Felder und so natürlich auch für Musik und Kunst. Die veränderte Haltung den Künsten gegenüber, in ihnen weniger ein Erweckungspotential denn mehr ein Anlage- oder ein reines Genussobjekt mit geringer Halbwertzeit zu sehen, sieht seinen Grund in solchen Veränderungen. Und im Schlepptau jener Veränderungen reisen die »Apokalyptiker« wie »Evangelisten«. Die Apokalyptiker haben beim Publikum in der Regel leichteres Spiel (und manchmal auch hohe Absatzzahlen), wobei das eine wie andere verständlich ist. Ein erstes Beispiel: Eine große Erzählung vom Untergang der Welt künden folgende Zeilen: »Alle autonomen Kunst-Zonen sind entweder im Mainstream aufgegangen oder sie existieren in den Vorstellungen und Diskursen derer, die die heutige Gegenwartskunst verwalten, nicht als ›avancierte‹ Kunst und werden entsprechend abgewertet, z. B. dem Kunstgewerbe oder der Hobbykunst zugerechnet.«13 Unschwer ist der kritische Impetus herauszuhören. Die weitere Lektüre bestätigt dies, wenn von der »usurpierte[n] Autonomie« durch die Kunstverwerter und der »totalen Ökonomisierung des Kunstsystems« die Rede ist.14 Die »schleichende Er-Schöpfung« einer geschwächten Kunst wird diagnostiziert.15 Ein so zunächst im Aufsatz entfalteter Aufriss über die Kunst wird nachfolgend vom gleichen Autor einige Jahre später ausgearbeitet zu einem ganzen Buch mit dem Titel Geistessterben.16 Die inhaltliche Verortung ist leicht auszu12 Enzensberger, Hans Magnus: Das digitale Evangelium. Propheten, Nutznießen und Verächter. In: ders.: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt/ M. (Suhrkamp) 2004, S. 76. 13 Maset, Pierangelo: Mainstream und Gegenwartskunst. In: Zeitschrift Musik & Ästhetik, hg. v. Holtmeier, Ludwig/Klein, Richard/Mahnkopf, Claus-Steffen. Stuttgart (Klatt-Cotta) 11. Jhrg., Heft 42, April 2007, S. 81. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 82. 16 Vgl. Maset, Pierangelo: Geistessterben. Eine Diagnose. Stuttgart (Radius) 2010.
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machen bei Überschriften wie »Die totale Ökonomie als Ausdruck des Geistessterben« (Kap. 1), »Aufgabe des Geistes in der virtuellen Welt« (Kap. 2), »Die feindliche Übernahme des Geisteslebens durch Controlling und Marketing« (Kap. 3) und endlich »Das Ende der Kunst als Spektakel« (Kap. 4). Der zum Ende genommene »Ausblick« wendet das für Kunst diagnostisch Beschriebene zum gesamtgesellschaftlichen Problem, weiß von einer »Krise der Ethik« zu berichten17, von einer »Ausrichtung an der Masse«18 oder der »Verzweckung des Menschen«.19 Der allerletzte beschließende Satz am Ende des Buches, dass sein Titel Geistessterben ja noch Leben und somit Hoffnung verhieße für eine »humane Zukunft«20, denn diese sei notwendig auf einen lebendigen Geist angewiesen, trügt nicht darüber hinweg, dass es ein Abgrund ist, »an dem wir stehen«.21 Vielleicht aber ist der Schritt zum Fall angesichts solcher Einschätzung auch schon geleistet. Wie auch immer : Die Apokalypse steht unmittelbar an oder währt schon längst. Auch das Wissen um gegenteilige Schreibkultur22 ändert nichts daran, dass mahnende Schriften zum kulturellen Untergang bei Paradigmenwechseln populär, sozusagen en vogue sind. Sie stellen sich damit in eine Reihe eines ganzen ›Genres‹, dem durch verortete Apokalypsen erst Leben eingehaucht wird. Der Rekurs auf die Tradition und auf den erlittenen Verlust treten ganz gerne auf im Gewand des sogenannten »Unzeitgemäßen« auf. Man wähnt sich also gegen den Strom schwimmend. Aber darin zeichnet sich weniger ein Gegen-den-Strom-Schwimmen ab als der Mainstream der gehäuft auftretenden »Apokalyptiker«, nur gelegentlich werden sie von den »Evangelisten« schriftstellerisch flankiert. Und das hat seinen guten Grund. Geschichten, die nicht vom Untergang erzählen, sind oft nicht sexy. Wahre Propheten wissen daher oft von Untergängen zu berichten, die einst kamen, noch kommen mögen oder schon sind, wo ein weniger emphatischer Geist diese noch gar nicht sieht. Schon in Bibelzeiten wird so der Untergang der Welt beschrieben oder neu beschworen und in der Zukunft wieder auf uns zukommen gesehen. Die Gründe hierfür sind austauschbar : Früher war es ein wenig gott17 18 19 20 21
Ebd., S. 109. Ebd., S. 111. Ebd., S. 113. Ebd., S. 114. Ebd. (Am Rande und in Klammern gesprochen sei erwähnt: Im »Wir« spricht der Autor Maset stellvertretend für uns alle. Er gibt nicht allein seine Meinung kund, sondern legt die seine ungefragt in eines jeden Mund. Ein – man möchte meinen – nicht ganz redliches Unterfangen, denn wo der Autor Maset den Abgrund spürt, mögen andere festen Boden unter den Füßen spüren oder im Zuge von Entwicklungen endlich von einem Abgrund sich entfernen sehen.) 22 Vgl. Raab, Klaus: Wir sind online – wo seid ihr? Von wegen dummgesurft! Die unterschätzte Generation. München (blanvalet) 2011 oder Milzner, Georg: Digitale Hysterie. Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen. Weinheim & Basel (Beltz) 2016.
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gefälliges Leben, für das der grundgütige barmherzige Gott alles sündige Leben – vom ungeborenen Fötus bis zum hilflosen Greis – von der Sintflut zum Zwecke einer gründlichen Reinigung fortschwemmen ließ. Dank Noah und seinem offenkundigen Replikationsvermögen über die bekannten drei Söhne hinaus erholte sich die Population recht bald, um alsbald schon wieder schwere Sünde auf sich zu laden. Nicht müde werdende Propheten zeichnen seitdem ein düsteres Bild von der Zukunft an die Wand. Die Apokalypse soll sich einstellen bevorzugt an runden Geburtstagen und so an Jahrhundertwenden. Aber auch dazwischen liegende Jahrestage werden gerne angenommen. Vor dem Weltuntergang ist man halt nie sicher. Wenn dann mal wieder der Weltuntergang nicht eintreten wollte, wird der nächste sogleich angemahnt. So folgt Menetekel auf Menetekel, weil die Welt einfach nicht untergehen will. Diesem Umstand ist es gedankt, dass – diese Prognose sei gewagt – die Profession der Propheten so bald nicht untergehen wird. Auch jenes Buch vom Geistessterben steht in dieser Linie, weiß vom Untergang zu erzählen, gezeichnet von einem Propheten, der für die Zukunft nur ganz Schlimmes sieht. Es gibt so viele Gründe für den Weltuntergang, der stets unvermeidlich kommen soll. Als ein solcher steht immer wieder auch die Technik, die unsere Zivilisation verderben und in den Untergang treiben wird. Neue technische Errungenschaften sind so allenthalben als Boten für den Untergang ausgemacht. Das Problem wird oft im medialen Gewand erkannt, in das Gesellschaft gekleidet ist. Im Schlepptau jeder technischen Neuerung folgt auf dem Fuße so der mahnende Prophet. Abermals mit Pierangelo Maset, der allen Geist hinwegsterben glaubt: »[D]ie schöne neue Welt der digitalen Ermächtigungen ist keineswegs eine Reise ins Offene, zu ungeahnten Kontinenten und intellektuellen Abenteuern, vielmehr ist bereits eine digitale Ödnis vorherrschend, die recht erstickend wirkt.«23 Eine Metapher von Ödnis, Verkümmerung, Nivellierung (eben die Metapher vom Untergang) u. ä.m. ist solcher Argumentation zwingend eingeschrieben. Wo technische Errungenschaften neu das Licht der Welt erblicken, stellen die nunmehr »Medienpropheten« (Enzensberger) sich als warnende Bewahrpädagogen vor. Ihre Untergangsprophetien verlaufen streng linear kausal. Der Grund für alles Ungemach (Wirkung) wird allein in den neuen Technologien (Ursache) gesehen. Medientechniken lassen wenig Gutes für die Zukunft erahnen, wie den Status Quo bewahrende Mahner voraussagen. »Statt auf das Fundament einer Bildung werden wir uns in Zukunft auf das stützen, was wir irgendwo im Netz irgendwie gerade erfahren. Der Fluch der ständigen Verfügbarkeit flüchtigen Wissens
23 Maset, Pierangelo: Geistessterben, a. a. O., S. 56.
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bedeutet also das Ende des reflektierten Wissens und damit unserer Bildung.«24 Auch Markus Reiter, der so schreibt, zeichnet ein nicht gerade freundliches Bild von Bildung und Kultur für die Zukunft, ebenso wenig wie Holger Noltze, der mit folgenden Worten den Untergang des Abendlandes heraufdämmern sieht: »Wir befinden uns, was Verständnis und Aufnahmefähigkeit für Kunst und Kultur angeht, in einer Verblödungsspirale«25. Nachdem das Fernsehen, wie in der Vergangenheit in elaborierter Wortakrobatik prognostiziert, dann doch nicht zur Volksverdummung beigetragen hat, sind es nun also Computer und Internet, die unseren Geisteszustand im nicht wohlgefälligen Sinn beeinträchtigen sollen. Es wird abermals ein Untergangsszenario, die Apokalypse mit deutlichen Worten beschrieben. Der Feldzug von Autoren wie Pierangelo Maset, Holger Noltze oder Markus Reiter wird heute so gegen die Neuen Medien geführt: Computer, Internet, Web 2.0 u. a.m. Tenor aller weitläufigen Kritik: Die rechte Wertschätzung der überkommenen Kultur würde nicht mehr erbracht werden. Den menschlichen Geistesgaben wäre mit dem Neuen nicht gedient. Kritik äußert sich oft auch dahingehend, dass gute, bewährte Maßstäbe aufgehoben würden und einst Wertgeschätztes im beliebigen Nebeneinander untergehen oder respektlos umgewertet würde. »Vielmehr herrscht ein tausendfach zersplitterter Umgang mit allen erdenklichen Formen des Klingenden: Musik ist abgelöst worden von ›Musiken‹, Kunst ist an ihr alles oder nichts«,26 klagt so auch ein Ulrich Konrad und findet sich wieder im Chor ähnlich Klagender. Buchtitel wie Dumm 3.0, Die Stunde der Stümper27, Digitale Demenz28, Verloren im Netz29, Payback30, Digitale Diktatur31, Digital Junkies32 oder auch Die Leichtigkeitslüge33 sprechen eine allzu deutliche Sprache, als dass für Kultur und 24 Reiter, Markus: Dumm 3.0. Wie Twitter Blocks und Networks unsere Kultur bedrohen. Gütersloh 2010, S. 35. 25 Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität. Hamburg (Edition Körber-Stiftung) 2010, S. 27. 26 Konrad, Ulrich: ars – Musica – scientia, a. a. O., S. 33f. 27 Vgl. Keen, Andrew : Die Stunde der Stümper. Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören. München (Carl Hanser) 2008. 28 Vgl. Spitzer, Manfred: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München (Droemer) 2012. 29 Vgl. Dammler, Axel: Verloren im Netz. Macht das Internet unsere Kinder süchtig? Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2009. 30 Vgl. Schirrmacher, Frank: Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. München (Karl Blessing) 2009. 31 Vgl. Aust, Thomas/Amman, Stefan: Digitale Diktatur. Totalüberwachung, Datenmissbrauch, Cyberkrieg. Düsseldorf (Econ) 2014. 32 Vgl. Wildt, Bert te: Digital Junkies. Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder. München (Droemer) 2015. 33 Vgl. Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge, a. a. O.
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Bildung noch irgendeine begründete Hoffnung bestünde. Fast noch augenscheinlicher als die eigentlichen Titel sind die Untertitel jener Bücher von derlei Untergangsmetaphorik geprägt. Die Stunde der Stümper setzt sich fort mit der näheren Titelerläuterung: »Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören«, Dumm 3.0 findet Gefallen in der Formulierung »Wie Twitter, Blogs und Networks unsere Kultur gefährden«, Verloren im Netz stellt die rhetorische Frage in den Raum: »Macht das Internet unsere Kinder süchtig?«, Payback zeichnet Verdammnis und Rettung in folgender Formulierung: »Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen«, und die Digitale Demenz sieht gleich ganze Generationen von geistig Behinderten heraufziehen, wenn es heißt: »Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen«. Und in der Digitalen Diktatur herrschen »Totalüberwachung, Datenmissbrauch, Cyberkrieg«.34 Die Evidenz und Unausweichlichkeit, mit der Prognosen für die nahe Zukunft beschrieben werden, sollten aber auch hier mit Blick auf ihre Eintrittswahrscheinlichkeit nicht zu hoch veranschlagt werden. Auch die prognostizierten medialen Untergangsszenarien der Vergangenheit haben nicht den gewünschten Erfolg gebracht, wiewohl sie ähnlich deutlich sich artikulierten. Jeder prognostizierte medial bedingte Untergang musste bislang auf eine ungewisse Zukunft verschoben werden. Unbenommen dessen wird mit jedem neuen Medienumbruch erneut das bedrohliche Szenario entworfen, das dann doch wieder nicht eintreten will. Geoffenbarte und gebetsmühlenartig verkündete Bildungsmiseren sind daher selbst bei aller wissenschaftlichen Grundierung wenig verlässlich und mit deutlicher Skepsis zu genießen. Der Grund für die Kritik am jeweils neuen Medium ist leicht einzusehen: Um die Qualitäten der Neuen Medien zu wissen ist nicht leicht, was es der Kritik so leicht macht, da sie allein Verlustrechnungen aufmacht und Ängste schürt. Die kritischen Töne zu den jeweils neuen Medien sehen einen Grund darin, dass offenkundig mit jedem neuen Medium eine gesellschaftliche Veränderung sich begibt. Und Veränderungen prinzipiell sind von nicht auslotbaren Unwägbarkeiten begleitet. Das wiederum verunsichert nicht nur, es ängstigt auch. So werden mit Aufscheinen des Unbekannten Risiken befürchtet. Zugleich stellt jede Veränderung eine Kritik am Bestehenden dar, um dessen Wert man weiß und dessen Verlust ebenfalls befürchtet wird. Und veränderte Wertschätzungen und solche Verlustängste sind nicht unbegründet. Änderungen ändern nun mal und lassen auch das Liebgewordene nicht ungeschoren. Neue Medien lassen daher Sorgenfalten aufscheinen, weil ein gesellschaftlicher Status Quo sie nicht bekümmert. Bei unheilvollen Prognosen 34 Lediglich »Die Leichtigkeitslüge« findet einen weiterführenden Untertitel, der sich von Neutralität geprägt zeigt: »Über Musik, Medien und Komplexität«.
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geht es daher nicht um den Untergang der Gesellschaft, sondern um die Angst um das Vertraute bzw. um den Verlust des Vertrauten. Daraus leitet sich dann wie von selbst der Mainstream der Warner und Mahner ab. Die Publikationen der Mahner und Warnen bedienen den besorgten Mainstream. Das vermeintliche Gegen-den-Strom-Schwimmen ist so keiner. Das Vertraute signalisiert Sicherheit, Verlässlichkeit, die Veränderung dagegen nicht. Im Vertrauten sind obendrein die Verteilungskämpfe um die besten Plätze schon geleistet. Wer bislang mit umfänglich angeeigneten Bildungsgütern zu brillieren wusste und daraus Anerkennung ziehen konnte, wird auf einmal zum skurrilen Gesellen, der zwar vieles weiß, aber vielleicht nicht einmal den Computer starten kann und dies als kritische Attitüde pflegt. Oder er weiß nicht, wo was steht im Netz, unbenommen dessen dass man vielleicht sich nicht getraut, Wissen neu zu verknüpfen. Der Kanon wird zum Fluidum, der eigene Status steht vielleicht infrage. In der Veränderung wird so gegebenenfalls manches, vieles, alles neu sortiert. Und das macht Angst. Auch die Frage nach dem Wohin begleitet jede Veränderung, die Antwort darauf verbleibt im Nebel der Ungewissheit. Wähnt man im ersten Falle sich lenkend, so bleibt im zweiten Falle wesentlich das Sich-Treiben- und Überraschen-Lassen. Das Bild des Lenkens suggeriert persönliche Kontrolle und Entscheidungskraft, eigene Wege zu gehen. Und doch ist es gerade das nicht, was statthat, denn das Vertraute bietet allein schon von anderen vorgezeichnete, ausgetretene Pfade. Es ist schon entschieden worden. Selber lenken kann man nur da, wo man wirklich neue Wege einschlägt. Entscheiden ist so zuallererst dort möglich, wo nicht schon entschieden ist. Und ein neues Medium gibt oftmals die Chance dazu. Vertrautheit entsteht durch eine konzise, also komplexitätsreduzierte Beschreibung gesellschaftlicher Zustände, die auf Dauer gestellt sind. Das macht die Prognose der Zukunft leicht und verleiht dem zukünftigen Horizont des doch Unbekannten einen vertrauten Schimmer. Die verorteten Sicherheiten suggerieren einerseits Verlässlichkeit und sind andererseits Operatoren gefestigter Machtstrukturen. Das Problem dabei: Das Vertraute zu vertraut geworden erzeugt nur Stillstand und Langeweile, einen stillgestellten Kanon, der nur sich selbst genügt. Ja, man möchte beinahe sagen, dass gerade im Vertrauten jenes Geistessterben angelegt ist, das so gerne für den umgekehrten Fall prognostiziert wird. Pointiert formuliert: Man braucht nicht mehr selbst zu denken, ein Auswendiglernen reicht. Man braucht nicht mehr selbst erkunden, es ist schon erkundet worden. Der ausgetretene Pfad krümmt sich zurück zum Kreislauf des Immergleichen, und vorgebliche Lenkungskontrolle erinnert eher an den Ritt auf dem Pony in der Zirkusmanege mit dem Zügel in der Hand. Das Leben wird – im Kreise reitend – so
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vorgestellt wie ein Ponyhof. Für Musik-Kunst heißt dies: Einmal Beethoven & Co, immer Beethoven & Co. Darum herum gruppiert sich Weniges nur noch. Ein solches zirkuläres Treiben ist das Leben aber gerade nicht. Jede Medien(r)evolution arbeitet dieser Krümmung entgegen, macht Prognosen aber auch extrem unsicher. Die Formierung von Gesellschaft durch Medientechnologie schürt so sicher Ängste und ist doch unverzichtbare Stimulanz – man möchte meinen –, gesellschaftlicher Demenz vorzubeugen. Neue Medien implizieren den Kontrollverlust über das, was ist. Als neuer unkalkulierbarer Operator im Netz von Machtstrukturen sind sie Stimuli für in ihrer Umwelt angesiedelte Gedankenwelten, die sich affizieren lassen. Das Neue arbeitet der Selbstzufriedenheit und Gemütlichkeit im Denken entgegen. Nicht ein Geistessterben, wie befürchtet, ist die Folge. Neue Medien bieten ein hohes Erregungspotential für gedankenträchtige Geistestätigkeiten, nötigen quasi zur geistigen Beweglichkeit, wo ausgetretene Pfade verlassen werden (müssen). Wer keinen Sinn dafür hat, vollzieht daher bisweilen den Synapsenkurzschluss Apokalypse, der nur noch den groben Pinselstrich kennt: »Verblödungsspirale«, »Untergang reflektierter Bildung«. Schlichter geht es kaum noch. Autoren führen in dem von ihnen bedienten Genre ›Untergangsliteratur‹ vor, was sie angesichts der Neuen Medien befürchten: Mangelnde Differenziertheit und mangelnde Abstraktionshöhe. Der neue gesellschaftliche Operator, ausgedrückt im neuen Medium, wird so als alleiniges Problem formuliert. Er gefährdet nicht nur wohlfeile Sicherheiten oder Machtstrukturen, in denen eingerichtet wurde, sondern stellt das ganze Gebäude linearer Zukunftssicherung infrage. Medienkritik in ihrer Eindimensionalität ist daher oftmals »eher der Sphäre der Trivialliteratur als der Wissenschaft zuzurechnen.«35 So schlicht gestrickt nach trivialem Muster ist die Welt also nicht. Zukunft erscheint nie im Horizont des Gewissen, sondern nur in der Einheit der Differenz von wahrscheinlich/unwahrscheinlich, bei der man auch mit dem Unwahrscheinlichsten, das seine unbedeutenden Ursachen haben kann, rechnen muss. Evolutive Entwicklung oder gesellschaftliches Durcheinander und Linearität vertragen sich schlecht. Nur, wo also alles bleibt, wie es ist, sind Prognosen verlässlich in die Zukunft zu lesen und können einigermaßen Planungssicherheit signalisieren. Für den Fall der linearen Forschreibung dessen, was ist, in die Zukunft ist die Prognose im Grunde überflüssig: Wenn alles beim Alten bleibt, braucht es auch keine Prognose. In Prognosen, was wohl kommen werde, drückt sich demnach nichts anderes als eine moderne Kaffeesatzleserei aus, die sich heute als Wissenschaft unterschiedlichster Couleur tarnt und eine Wissenschaft eigentlich nicht ist. Was man früher Prophetie nannte, nennt man heute Prognose. Waren es einst Zeitenwenden, Sonnenfinsternisse, abgelaufene (Maya-)Kalender, die Kristallkugel, der Kaffeesatz, die Konstellation von Pla35 Enzensberger, Hans Magnus: Das digitale Evangelium, a. a. O., S. 77.
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neten oder etwas profaner die von Knochen nach einem Wurf derselben, so sind es heute genau erhobene Daten oder nach allen Regeln der Kunst recherchierte Fakten, die erhoben und gedeutet werden und dann doch nicht halten, was Computeralgorithmen zu bunten Grafiken kalkuliert haben oder Menschengeist in sie hineingelesen hat. Hans Magnus Enzensberger nennt jene bewahrenden Propheten denn auch »Medienapokalyptiker« und stellt ihnen entgegen die »digitalen Evangelisten«, die allein eine Heilslehre im jeweils Neuen sehen.36 Und wenn es so ist, dass die Kulturkritik (und das bezieht die Medienkritik ein) älter als ihr Name ist, wie es Enzensberger eingangs im Zitat bekundet, dann ist damit auch gesagt, dass jede neue Medientechnik ihre mahnenden Verächter hervorruft, die warnen, schlimme Folgen vorhersagen, weil sie um den Niedergang der Gesellschaft mitunter in apokalyptischem Ausmaße scheinbar profund wissen. Wusste die Kritische Theorie von der unverzichtbaren Notwendigkeit zur Veränderung zu berichten im Sinne: Nur durch Änderung des Status Quo ist der Mensch zu retten, so heißt es nun: Nur im Erhalt des Status Quo ist der Mensch zu retten. So treten die Propheten des Untergangs stetig als Wiedergänger auf. Der nie eintretende Niedergang hindert aber nicht, den Weltuntergang, sobald die mediale Umwelt sich ändert, am Horizont abermals neu heraufdämmern zu sehen und fest im Glauben an die eigene Prophetie erneut zu postulieren. Medienschelte hat also Tradition. Neue Medien stehen immer in der Kritik, während die überkommenen unkritisch wertgeschätzt und überschätzt werden. Die Kritik am jeweils neuen Medium lässt sich auf einige wenige, wenngleich markante Punkte herunterbrechen: – Schwächung des Geistes – Suchtpotential – Vereinzelung des Subjekts, Isolation – Werte/Orientierungsverlust – Information overload – Realitätsverlust.
Erstes Szenario: Medien, die Schwächung des Geistes und die Demenz/. Schon Platon klagte über die Schrift, die er als »Schattenbild« den »Urbildern« (dem Reich der Ideen) gegenüberstellte und als defizitär auslegte. Die Schrift befördere nach Platon das Vergessen und so den Niedergang einer imposanten 36 Vgl. ebd., S. 78.
Erstes Szenario: Medien, die Schwächung des Geistes und die Demenz/.
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Gedächtniskultur. Der Buchstabe werde »der Lernenden Seelen […] Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, […] erinnern werden.«37 Dies beklagt Platon zwar zu Recht, doch das Gespräch des Sokrates mit Phaidros wird von ihm aufgeschrieben, sodass sein Klagen auch über Räume und Zeiten hinweg vernehmbar ist. Mit dem Niedergang der Gedächtniskultur einhergehen also neue Qualitäten. »Sobald die Schrift erfunden war, wurde das Gedächtnis von einer Last befreit«.38 Rhapsodien wie die Ilias oder Odyssee Homers brauchen nicht mehr mühsam memoriert werden. Dieses beklagte Vergesslichkeitssyndrom durchzieht die gesamte Geschichte der Speichertechniken. Mit jeder neuen Speichertechnik hat die Vergesslichkeit des Menschen zugenommen. Einst wurde die »Schrift […] erfunden, und wir haben das Gedächtnis verloren. Es wurde kollektiviert und objektiviert, obwohl wir es für subjektiv und kognitiv halten. Dieser Prozeß ist eine permanente Begleiterscheinung der Menschwerdung. Wir müssen also keine Angst davor haben, etwas zu verlieren, vielmehr gewinnen wir etwas«39, nämlich durch die Entlastung, als Erinnerungsarchiv zu dienen, die Fähigkeit, sich neuen Dingen zuzuwenden und sie zu entwickeln. Wenngleich nicht als positiv deklariert, hebt auch schon Platon diese Eigenschaft hervor: »Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden«.40 Einmal internalisiert ist die Schrift dann doch ein hohes Gut und dem mündlichen Memorieren von Geschichte hoch überlegen. Mit dem Buchdruck seit Gutenberg und den im 19. Jahrhundert mit seinen explosionsartig sich vermehrenden Erinnerungsarchiven und Archivaren wird die Vergesslichkeit konstitutiv, weil das Selbst-Erinnern überflüssig wird. Man könnte sogar sagen: Wer nichts vergisst, kann auch nichts Neues denken. Die Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft ist an Vergesslichkeit gekoppelt. Der Klage eines Platon nicht unähnlich entzündet sich heute die Kritik an den digitalen Medien. Abermals wird mit Sorge eine abnehmende Gedächtnisleistung diagnostiziert. »Die ›digitale Demenz‹ greift weltweit um sich. […] Handys und Pocketcomputer dienen als externe Gedächtnisspeicher – überall sind sie dabei, erleichtern den Alltag. Doch die Folge ist auch, was in Fachkreisen ›digitale Demenz‹ genannt wird: Die Abhängigkeit von technischen Geräten macht die moderne Menschheit immer vergesslicher«41. 37 Platon: Phaidros, hg. v. Karlheinz Hülser. Leipzig (Insel) 1991, S. 137 (275a). 38 Serres, Michel: Ist die Kultur in Gefahr? In: Bind8, J8rime (Hg.): Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert.Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007, S. 213. 39 Ebd. 40 Platon: Phaidros, a. a. O., S. 137 (275a). 41 Driessen, Barbara: Die »Digitale Demenz« greift weltweit um sich. In: Westfälische Volksblatt vom 13./14. 10. 2007 (Rubrik: Aus aller Welt).
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Einige Jahre später wird die Digitale Demenz von Manfred Spitzer zum Buchtitel erhoben.42 Auch hier kann man wie Manfred Spitzer also eine Verlustrechnung aufmachen und dem unreflektierten Kulturpessimismus anhängen oder man kann ganz anders fragen, welche neuen Qualitäten und Gewinne mit dem Neuen einhergehen. Die Neuen Medien eröffnen abermals eine Entlastung und einen neuen Spielraum für Ideen. Das heutige Beschreiben einer Gesellschaft, die dem Dunkel des Vergessens entgegenwankt, das Manfred Spitzer befürchtet, oder eine geistige »Verblödung« heraufbeschwört, wie sie Holger Noltze ausmacht, liest sich demnach wie die Abschrift von Platons Kritik, der die Blaupause dazu liefert. Wie sehr der Spielraum an Möglichkeiten durch die Implementierung eines neuen gesellschaftlichen Leitmediums sich verändert, sei an einem Medienumbruch vergangener Zeiten, an der Schnittstelle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit dokumentiert. Im Sinne einer Gegenüberstellung kann mit Heinz Schlaffer, der wiederum die Forschungsergebnisse von Walter Ong zusammenfasst, der Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung wie folgt festgestellt werden: Mündlichkeit – additiv – redundant – konservativ – anthropomorph – sinnlich-konkret – einfühlend – situationsbezogen – personal – narrativ – mythisch
Schriftlichkeit – subordinativ – ökonomisch – innovativ – begrifflich – abstrakt – distanzierend – kategorial – sachlich – kausal – historisch43
In dieser Gegenüberstellung der Qualitäten der Schrift ist auch der Wandel von einer glaubensträchtig mystischen zu einer wissenschaftlich orientierten Gesellschaft angelegt. Mit den Speichertechniken und der Möglichkeit zur Systematisierung von Wissen wächst die Bedeutung der Archive. Die Archive mit ihren Schrift- und Dokumentensammlungen sind der Ort, der der Mythenbildung vorbeugt oder auch Mythenkritik betreibt.44 Jede Verbesserung der Speichertechniken bedingt des Weiteren einen Demokratisierungsschub, weil es Wissen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. 42 Vgl. Spitzer, Manfred: Digitale Demenz, a. a. O. 43 Vgl. Schlaffer, Heinz: Einleitung zu: Goody, Jack/Watt, Ian/Gough, Kathleen (Hg.): Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1986, S. 16. 44 Vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München (Beck) 2009, S. 32.
Zweites Szenario: Verlust der Autorität, der Verlässlichkeit des Wissens
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Zweites Szenario: Verlust der Autorität, der Verlässlichkeit des Wissens und irrlichternde Gedanken/. Wo nur – wie in der Vorzeit des Gutenberg’schen Buchdruckes – schwer zugängliche Manuskripte verfügbar sind, die zudem weitgehend in Kirchenhand liegen, ist ein exklusives Wissensmonopol und Meinungsmonismus gegeben. Nur spezifische, in der Regel den Lehrmeinungen der Kirche entsprechende Lesarten von Geschriebenem erreichen so über eine ausgewählte Schar von Interpreten eine breite Öffentlichkeit. Beim Lesen von Büchern aber schweift der Gedanke in alle Richtungen, der sich damit vorgegebenen Lehrmeinungen, Glaubenspostulaten und so generell Autoritäten entzieht und beim Lesen irgendwelcher, auch möglicherweise nicht-autorisierter Quellen seine eigene, anders gelagerte, auch flüchtige Meinung bildet. Der kritischen Mahner Lösung für dieses Phänomen: »Keinen anderen Satz bekam der Leser jener Zeit so oft zu lesen wie die Warnung, nicht zu viel zu lesen. Denn wer las, war mit dem Buch, seinem Urteil, seiner Phantasie allein, entzog sich der Rede des Vaters, des Lehrers, des Pfarrers, des Meisters, des Prinzipals«45 Das Buch ist festgefügter Autoritätenwelten nicht zuträglich. Da der Lesenden Meinung nur schwer zu kontrollieren ist, nicht gewünschte Lesarten (als fehlgeleitete Urteile oder Missverständnis deklariert) vorgezeichnet sind, ist die Empfehlung des NichtLesens nachvollziehbar. Die Kritik der Kirche entzündet sich auch daran, dass sie selbst der Kritik unterworfen wird. Zu leicht ist das Handeln kirchlicher Würdenträger über die Lektüre der Bibel, die ein anderes Handeln zum Maßstab erhebt, als verwerflich einzustufen. »In den ersten sechzig Jahren nach der Erfindung des Buchdrucks erschienen 400 volkssprachliche Bibelausgaben, und jeder des Lesens Kundige fand in den Lehren der Evangelien etwas, worin der in Rot und Purpur gewandete Klerus der damaligen Zeit versagte.«46 Mit der Verbreitung des Buches und der damit einhergehenden Alphabetisierung verliert sich sukzessive die Autorität des kirchlichen Interpreten. Auch hier hat Platon die Entwicklung klar vorhergesehen und nicht gutgeheißen, wenn er Sokrates sagen lässt: Ist Gesagtes »aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht.«47 Sie bedarf, um recht anerkannt und verstanden zu werden, des »Vaters Hülfe«48, sprich der wissenden Autorität. Wissen 45 Schlaffer, Heinz: Lesesucht. In: Busch, Günter/Freund, J. Hellmut (Hg.): Gedanke und Gewissen. Frankfurt/M. (Fischer) 1986, S. 645. 46 Tuchman, Barabara: Die Torheit der Regierenden. Frankfurt/M. (Fischer) 52012, S. 72. 47 Platon: Phaidros, a. a. O., S. 139 (275e). 48 Ebd.
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und die Wahrheit sind mit dem Buchdruck nicht mehr an einzelne Personen delegiert, die dieses bzw. diese als Experte verkünden und damit legitimieren, sondern einerseits an die nicht mehr kontrollierbare Zahl gedruckter Bücher unterschiedlichster Qualität und andererseits an die Auswahl des Lesers, der die Vielzahl nach eigenem Ermessen selektiert. So nimmt es kein wunder, dass die Kirche dem Massendruck von Büchern kritisch und hemmend gegenübersteht sowie mit Verboten, Zensur und Verfolgung reagiert, denn die Vervielfältigung der Bücher beschleunigt den schon mit der Schrift eingeleiteten Autoritätsverlust und Wertewandel. »Gedruckte Flugblätter, in denen die katholische Kirche angegriffen wurde, gedruckte Bibelübersetzungen und gedruckte Katechismen – all das spielte eine wichtige Rolle für die Reformation. So bestätigte sich die Angst des katholischen Klerus, dass Alphabetisierung Häresie hervorbringe, und das führte zur Veröffentlichung des berüchtigten Index der verbotenen Bücher, ein Versuch, das Druckwesen mit den eigenen Waffen zu schlagen.«49
Insbesondere aber die Idee von Wissenschaft, frei von religiöser Kontrolle, kann sich mit dem Buchdruck eindrucksvoll durchsetzen. Der Glauben tritt dabei zurück, es gilt die Phänomene der Natur nunmehr zu erklären. Enden zur Zeit des Glaubensprinzips alle Lebensfährnisse im Jenseits, wo göttliche Belohnung oder verdiente Strafe warten, so erfüllen sich die Wissenschaftswege ebenfalls in einem Endpunkt, der nunmehr aber im Diesseits liegt, mag er Weltformel o. ä. geheißen werden. Das teleologische Moment bleibt erhalten, nur der Endpunkt wird jeweils woanders lokalisiert. War der eine Weg zu Gott vorgegeben, so haben sich die Wege zum Ziel nun multipliziert, aber alle Wege, über die man auch streiten mag, deuten in die gleiche Richtung. Die Welt von Schrift oder Buch ist, auch wenn sie andere Ziele hat, von Linearität erfüllt und teleologisch motiviert. Durch das Schreiben von Büchern wird – auch das ist eine neue Entwicklung – eine neue Autorität geboren: der Autor, dessen Schrifterzeugnisse gleichwohl für ihn bürgen und die durch ihre Vervielfältigung die Idee eines geistigen Eigentums und Copyrights in Szene setzen. An die Stelle des vielwissenden zu befragenden Einzelnen (personal) treten das Buch, die Bibliothek, das Archiv mit der Option, selbst kritisch nachlesen zu können. Auch wenn selbst die Gegenwart in Grundzügen das Autoritätenargument noch kennt (Bei Kant steht geschrieben…, Habermas sagt…), wobei allein die Nennung des Namens dem Gesagten Gewicht verleihen soll und dabei die eigene Reflexion stillzustellen droht (und manchmal auch stillstellen soll), erweist sich doch zumeist das schwarz auf weiß in Lettern gestanzte (unveränderbare) Wort auf dem Papier als 49 Burke, Peter : Kommunikation. In: Rublack, Ulinka (Hg.): Die neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln. Frankfurt (Fischer) 2013, S. 232.
Drittes Szenario: Informationsüberfluss und Desorientierung/.
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verbürgter Sachwalter von Gesagtem. Denn auch im personalen Autoritätenargument bleibt als Bezugsgröße das Fest-Geschriebene der Personen und nicht das, was in mündlicher Rede gesagt wurde. Wer etwas gilt, definiert sich über seine Bücher. Im Widerstreit der Meinungen bleibt es so immer Gedrucktes, das den Weg vorgibt, nie das, was da und dort – von welcher anerkannten Persönlichkeit auch immer – mal gesagt und durch Hörensagen – dem Gerüchte gleich – weitergetragen worden ist. Autoritativ wirkt allein das Buch bzw. die Masse der Bücher. Man muss nicht mehr alles glauben, was erzählt wird, sondern die in Dokumenten abgelagerten Geschichten sind wissenschaftskritisch (eben distanziert und in zunehmender Abstraktion) zu beleuchten und mit eigenen Anmerkungen zu versehen. Die Folgen für den gelehrten Wissenden sind fundamental: »Gelehrsamkeit wurde von persönlicher Gedächtnisleistung entkoppelt, der Wissen akkumulierende Polyhistor wurde vom Leitbild zur bedauerten Kuriosität«.50 Mit der Loslösung des Wissens vom menschlichen Geist, was Platon kritisiert, erlebt der Vermittler des Wissens einen schleichenden Autoritätsverlust. Die Autorität ist in nicht unwesentlichem Maße schon zur Zeit der Schrift an ebendiese delegiert, die präzise wiedergibt, was geschrieben wurde. Im besonderen Maße gilt dies aber für das Buch.
Drittes Szenario: Informationsüberfluss und Desorientierung/. Wurde einst mit dem Umbruch zum Buch der Buchkultur nicht vertraut und mit Misstrauen begegnet dem Leser, der sein Wissen unkontrolliert daraus schöpfte, und wurde einst dem ausgewiesenen menschlichen Experten als Interpreten von Schriften nachgetrauert, so wird heute der Internetkultur und weiterhin dem darin surfend Lesenden nicht vertraut und bedauert der vorgebliche Untergang der Expertenkultur Buch. »In der alten Welt erarbeiteten sich Experten Kenntnisse und trugen sie zusammen. Für die meisten Menschen war dieses kondensierte und reflektierte Wissen, das in Enzyklopädien und Fachbüchern seinen Niederschlag fand, völlig ausreichend. Dieses Wissen bot ein Fundament – unsere Bildung. Es ließ sich intellektuell noch verarbeiten und mit anderen Erkenntnissen in einen Zusammenhang stellen.«51
Etwas optimistisch ist die Vorstellung, dass mit der Buchkultur noch Überschaubarkeit herrscht. Schon die Publikation von Büchern jenseits der digitalen Welt lässt einen Überblick sowie die intellektuelle Verarbeitung der publizierten Bücher nicht mehr zu, und nur noch persönliche Selektionsmechanismen, In50 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a. a. O., S. 33. 51 Reiter, Markus: Dumm 3.0, a. a. O., S. 35.
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teressenslagen als auch die schlichte Ignoranz optier(t)en als Filter. Diese nicht mehr zu bewältigende Zahl an Büchern wird – ganz anders als zu früheren Zeiten – in der Gegenwart nicht als Problem diskutiert, sondern als Problem gar nicht (mehr) wahrgenommen. Der in der Gegenwart allseits beklagte information overload ist schon vor aller Digitalität mit dem Buchdruck Thema und nicht zu lösen gewesen. Die Kritik am Buch entzündet sich schon in vergangenen Jahrhunderten am Überfluss der Informationen. Schon Erasmus von Rotterdam (ungefähr 1466–1536) weiß um die Gefährdung ob des Zuviels an Büchern, wenn er schreibt: »Schon die bloße Vielzahl ist schädlich für die Gelehrsamkeit, denn sie verursacht einen Überfluss«.52 Auch bei Leibniz (1646–1716) sorgt die »schreckenerregende und immer weiter anwachsende Menge der Bücher«53 für solches Unbill, dass er infolge dieses Überflusses an Information ein Chaos beschwört, nicht viel anders liest sich heute im Angesicht der Internetlektüre die Befürchtung um den information overload. Einer der Herausgeber der berühmten Enzyklopädie, Denis Diderot, wiederum beklagt 1775, man könne »eine Zeit vorhersagen, in der es fast so schwierig sein wird, aus Büchern zu lernen wie aus der direkten Betrachtung des ganzen Universums.«54 Kaum anders lesen sich heute die Kritiken zum Informationssurfen im Internet: die Zuverlässigkeit der Quellen sei zu beanstanden als auch die Auswahlkriterien, nach denen im Internet flanierende User wählen. Dagegen wird heute die Experten-Kultur des Buches gestellt. Dieselbe Kritik wie zu seligen Bücherzeiten lässt sich so unter digitalen Verhältnissen herausarbeiten. Immer mehr Wissen ist durch die Verschriftlichung von Gedanken vom menschlichen Geist ausgelagert. »In dem halben Jahrtausend seit der Erfindung des Buchdrucks sind etwa hundert Milliarden Bücher veröffentlicht worden, wenn man alle Sprachen und Auflagen zusammenrechnet. Dieser Umfang stellt weniger als ein Monatsvolumen dessen dar, was momentan ins Netz gestellt wird.«55
Als Folge davon entsteht geradezu explosionsartig weiteres Wissen, das Menschengeist fraglos gar nicht mehr fassen kann. Wissen fördert durch die Externalisierung aus dem menschlichen Geist nicht nur die Vergesslichkeit, sondern macht es diesem zunehmend unmöglich, es überhaupt speichernd zu er-
52 Erasmus von Rotterdam, zit. n. Jarvis, Jeff: Mehr Transparenz wagen. Wie Facebook, Twitter & Co die Welt erneuern. Köln (Bastei-Lübbe) 2012, S. 116. 53 Leibniz, zit. n. Passig, Kathrin/Lobo, Sascha: Internet. Segen oder Fluch. Berlin (Rowohlt) 2012, S. 104. 54 Denis Diderot, zit. n. ebd., S. 104. 55 Chatfield, Tom: Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblüht. München (Kailash) 2012, S. 28.
Viertes Szenario: Medien, Menschenmaß und die Deformierung des Geistes/.
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fassen. Aber man hat – bei Bedarf – den Zugriff darauf, woraus sich ein leicht den Nachteil ausgleichender Vorteil ableitet.
Viertes Szenario: Medien, Menschenmaß und die Deformierung des Geistes/. Um Kultur und den Menschenverstand scheint es auch deshalb mehr als schlecht zu stehen, wenn die Mensch/Medienkopplung und ihr Einfluss auf das Gehirn berücksichtigt werden. Auch hier ist die Apokalypse vorgezeichnet, wenn man Autoren wie Manfred Spitzer glauben mag: »Wenn […] das Gehirn immer lernt (es kann eines nicht: nicht lernen!), dann hinterlässt auch die mit digitalen Medien verbrachte Zeit ihre Spuren. Hierbei ist auch noch Folgendes zu beachten: Unser Gehirn ist das Produkt der Evolution; es entstand also über einen langen Zeitraum durch Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen, zu denen digitale Medien definitiv nicht gehörten.«56
Manfred Spitzer so zum Beispiel genommen ist fraglos zuzustimmen. In der Tat gehören zu den Umweltbedingungen des Gehirns in seiner Entwicklung nicht die digitalen Medien, sodass es nachvollziehbar scheint, wenn der Autor auf der Basis dieses Axioms in der Folge – und das heißt: mehrerer hundert Seiten – die negativen Folgen dieser dem Gehirn entwicklungsfremden Umweltbedingungen darstellt, um so umfassend den »[g]eistige[n] Abstieg«57 zu dokumentieren. Logische Nachvollziehbarkeit erfahren Argumente aber erst durch die Möglichkeit zur Verallgemeinerung. Möchte man dem Argument folgen und sucht dessen Verallgemeinerung, wird die These der die geistige Entwicklung negativ beeinflussender Umweltbedingungen sogleich fragwürdig: Das Entziffern eines symbolischen Codes und das Erfassen einer Bedeutung entlang dieser zu Zeilen geordneten Symbole im Buch entsprechen ebenfalls so gar nicht den Umweltbedingungen, unter denen das Gehirn sich einst ausprägte. Und in der Tat ist das neuronale Design des Gehirns nicht auf das Lesen von Texten abgestellt. Die Schrift entstand vor etwa 5400 Jahren bei den Babyloniern, das Alphabet vor etwa 3800 Jahren. »Unser Genom hat nicht die Zeit gehabt, sich so zu wandeln, dass es zum Lesen geeignete neuronale Schaltkreise hervorbringen konnte. […] Nichts in unserer Evolution hat uns darauf vorbereitet, sprachliche Informationen auch visuell aufzunehmen.«58 Lesen vollziehen wir immer noch mit unserem Primatengehirn, »das für das Überleben in der afrikanischen Savanne 56 Spitzer, Manfred: Digitale Demenz, a. a. O., S. 15. 57 Ebd., S. 296. 58 Dehaene, Stanislas: Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert. München (btb) 2010, S. 12.
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angelegt ist.«59 Unser Gehirn hat sich zwar im Zuge langer evolutiver Prozesse »an Sprache und Sozialisation angepasst, nicht aber an das Lesen, das es erst seit wenigen tausend Jahren gibt.«60 Für eine genetische evolutive Veränderung ist dieser Zeitraum viel zu kurz. Dass die Kulturtechnik Lesen trotzdem so schnell und umfassend sich einverleibt werden konnte, liegt daran, dass das »Lesen […] selbst Formen ausgebildet [hat], die unseren Schaltkreisen angepasst sind.«61 Bestimmte neuronale für das Sehen zuständige Netzwerke haben sich »einfach auf die besondere Form von Buchstaben und Wörtern spezialisiert.«62 Und eingegrenzter gesprochen, sind es die neuronalen Schaltkreise »der invarianten visuellen Erkennung und ihre Verbindung zu den Bereichen der gesprochenen Sprache.«63 Auch das Lesen hat seine Spuren im Gehirn hinterlassen, bestimmte Funktionen, für die neuronale Schaltkreise einst sich gebildet haben, besetzt oder ersetzt. Lesen entspricht also nicht den Umweltbedingungen des Gehirns, unter denen es sich gebildet hat. Wenn man dem Axiom umweltgerechter Bedingungen des Gehirns von Manfred Spitzer Glauben schenkt und in Mensch/ digitalen Medienkopplungen bedenkliche Wirkungen verortet, dann wendet es sich gegen jedes Leitmedium der Gesellschaft und so auch gegen das »Buch« und die Deformierung spezifischer neuronaler Schaltkreise durch das Ausbilden einer Lesekompetenz. Die Kritik von Spitzer trifft so auch das Buch. Und doch scheint dieses eine geistige Verblödung oder Deformierung gerade nicht vorbereitet zu haben. Der geistigen Zukunft der digitalen Gesellschaft darf so optimistisch entgegengesehen werden. Heute stehen die digitalen Medien in der Kritik, zu anderen Zeiten war es das Buch, vor dem gewarnt wurde. Man könnte daher vielleicht in Ergänzung zu Manfred Spitzer auch an die das Wohl des Kindes gemahnende Pädagogenrede des 18. Jahrhunderts erinnern, die sich der seinen nicht unähnlich liest: »Wie ich alle Pflichten von den Kindern fernhalte, so nehme ich ihnen die Werkzeuge ihres größten Unglücks: die Bücher. Die Lektüre ist die Geißel der Kindheit«64, meint zumindest Jean-Jacques Rousseau in seinem Erziehungsroman Emile, der das Medium zur Entwicklung des Kindes (und damit auch des Gehirns) von allen naturfremden schädlichen Einflüssen frei halten wollte. Auch hier wird die Gefahr entwicklungsfremder Umweltbedingungen beschworen. Spitzers Argumentation wendet sich in seiner Generalisierung auch und gerade gegen das Leitmedium »Buch«, denn das Dekodieren eines symbolischen Codes und das 59 60 61 62 63 64
Ebd. Ebd., S. 133. Ebd., S. 351. Ebd., S. 137. Ebd., S. 352. Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder über die Erziehung. Paderborn (Schöningh) 121995, S. 100.
Fünftes Szenario: Die Suchtgefahr in Medienwelten/.
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sukzessive Verfolgen desselben entlang von Zeilen dürfen als noch weniger dem Gehirn gemäß betrachtet werden als das ganzheitliche Erfassen von virtuellen Bild- und Tonwelten, wie es die digitalen Zurschaustellungen ermöglichen. Die Frage, was unter »bestimmten« Umweltbedingungen zu verstehen ist und wann diese ihrer entwicklungsgemäßen Bestimmung entsagten, ist dabei noch nicht einmal angerissen. Ihre Beantwortung erscheint aber auch obsolet. Einmal in die Kultur geworfen, ist die Rückkehr zu »bestimmten« ursprünglichen Umweltbedingungen unmöglich und wohl auch nicht wünschenswert, denn die goldenen Zeitalter der jüngeren wie älteren Vergangenheit waren wohl weniger golden denn mannigfaltig grausam und verhießen keine lange Lebenszeit.
Fünftes Szenario: Die Suchtgefahr in Medienwelten/. Eine weitere Kritik, die jedem neuen Medium entgegenschlägt, ist die des Suchtpotenzials, dem der mit dem Medium sich Auseinandersetzende ausgesetzt ist. Auch diese Kritik ist nicht neu, sondern eine, die auf Wiedervorlage beruht. »Es werde zu wenig gelesen, klagen heute die Sachwalter der Kultur. Zweihundert Jahre früher klagten ihre Vorgänger, daß zu viel gelesen werde«65, bemerkt Heinz Schlaffer an, wo Bildschirmwelten in den Vordergrund rücken, Kulturstandbewahrer die Kulturtechnik des Lesens bedroht sehen und vor zu großer Computerpräsenz warnen. Und generell wiederholen sich Klagen und Befürchtungen heute die Neuen Medien betreffend, wie sie schon in jener Zeit geäußert wurden: »Das Viellesen wird am Ende des 18. Jahrhunderts in den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen fast epidemisch. Pädagogen und Kulturkritiker beginnen darüber zu klagen. Was im Lesenden vorgeht, läßt sich schwer kontrollieren – es gibt Erregungen, Phantasien im Verborgenen.«66
Dieser epidemische Zuwachs des Lesens geht Hand in Hand mit Befürchtungen, dass im Lesen eine Sucht sich äußert, so wie heute Kulturkritik selten auf den Hinweis des Suchtpotenzials verzichtet, das mit dem Wechsel des Mediums nun die Neuen Medien beinhalten sollen. »Neue Medien haben wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen ein Suchtpotenzial«67, diagnostiziert abermals Manfred Spitzer, der mit dieser Kritik nicht allein steht: »Er saß anfangs mehrere Stunden, dann ganze Nächte vor dem Monitor, und eines Tages kam der Teenager überhaupt nicht mehr vom Computer weg, verlor nach und nach den Bezug zur 65 Schlaffer, Heinz: Lesesucht, a. a. O., S. 645. 66 Safranski, Rüdiger : Romantik. Eine deutsche Affäre. München (Carl Hanser) 2007, S. 48. 67 Spitzer, Manfred: Digitale Demenz, a. a. O., S. 20.
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Lesendes Kindermädchen (Holzstich 1863).
Realität«68. So heißt es in einem Zeitungsbericht im Jahre 2007. Kritiker des Gegenwartsmediums stehen damit abermals in einer Linie mit Kulturkritikern, die einst vor dem Buch als süchtig machendes Medium warnen. Um geistigen Schäden vorzubeugen, verfügen besorgte Stadtväter des Bremer Stadtrates im Jahr 1790 eine polizeiliche Prüfung der der Lesesucht Verfallenen zum Zwecke des Nachweises eines nachteiligen Einflusses des Buches auf den Charakter von Lesenden. Doch die Kommission kommt zu dem Ergebnis, dass »auch ohne polizeiliche Aufsicht auf Charakter und Denkungsart kein nachteiliger Eindruck ausgeübt wird«69. Ganz allgemein ist von der »Lesesucht« im 19. Jahrhundert die Rede. Süchtige werden gemeinhin für krank befunden: Von Lesesüchtigen ist die Rede, die ihre körperlichen Bedürfnisse wie Essen und Schlafen hintenanstellen70 oder auch berufliche Pflichten vernachlässigen, wie es ein Bild der Satirezeitschrift »Postheiri« aus dem Jahre 1863 dokumentiert, in dem ein Kinder-
68 Martin Weber. In: Neue Westfälische v. 4. 12. 2007, Rubrik Kultur/Medien. 69 zit. n. Schmidt, Siegfried J.: Medienlast und Medienlust. In: Hendricks, Wilfried/Zimmermann, Thomas F. (Hg.): Schule in der Informationsgesellschaft. Loccum 1995, S. 175. 70 Vgl. Schlaffer, Heinz: Lesesucht, a. a. O., S. 645.
Sechstes Szenario: Medien, der Realitätsverlust und das zerstreute Bewusstsein/.
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mädchen, vom Lesen ganz gefangen, nicht mitbekommt, dass ihr im Kinderwagen mitgeführtes Kind verlorengeht.71
Sechstes Szenario: Medien, der Realitätsverlust und das zerstreute Bewusstsein/. Ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigende Kindermädchen wandeln in einer anderen Welt. Sie erheben den Buchstaben zur Wirklichkeit und leben in der Welt der Fantasie. Man könnte auch sagen: Sie erleiden einen dem Wohl des Kindes nicht zuträglichen Realitätsverlust. Auch die Sorge ob eines Realitätsverlustes ist keine, die mit den Neuen Medien erstmals erhoben wird, sondern eine, die schon das Bücherlesen begleitete. Lesende verlieren sich in den virtuellen Welten von Romanen, und »dem freien Flug der Phantasie steht nichts mehr im Wege.«72 Die Leipziger Bücherkommission prüft 1775 auf Antrag, ob Goethes Werther verboten werden sollte, weil es manchen Lesenden so ergriffen haben soll, dass er – wie Werther – seinem Leben ein Ende bereitete, und beschied denselben positiv (wie sie wenige Jahre später – 1779 – auch Lessings »Nathan der Weise« verbietet). »Die Sache hat ihre Richtigkeit, daß dieses Buch eine Apologie des Selbstmordes genannt werden könnte, die in den Händen junger Leute von ungeübten Sinne, auch anderen dickblütigen Personen, um desto gefährlicher ist, da der V. zu undeterminiert von dem Selbstmorde schreibt, und durch witzige und feine Bemerkungen seinen Leser ordentlich hinreißt«.73
Selbst Immanuel Kant kann dem Lesen zumindest von Romanen und dem freien Lauf der Fantasie wenig abgewinnen und nur mit Kritik begegnen, die Wirkung neben »manchen anderen Verstimmungen des Gemüts« sei, »daß es die Zerstreuung habituell macht«.74 Kant beklagt die Zerstreuung, die an die Stelle der Konzentration tritt, und formuliert gegenüber dem Buch eine weitere Kritik, die auch den Neuen Medien gegenüber oft formuliert wird: Der Mangel zum konzentrierten Gedanken. Das zerstreute Bewusstsein und die Unfähigkeit zur längerfristigen Konzentration sowie der Realitätsverlust, auch diese Urteile sind mit den Neuen Medien wiederaufgelegt worden.
71 Bild aus: Bluhm, Detlef: Von Autoren, Büchern und Piraten. Düsseldorf (Artemis& Winkler) 2009, S. 139. 72 Schlaffer, Heinz: Lesesucht, a. a. O., S. 650. 73 Bücherkommissar Bel, zit. Fellmann, Walter : … doch das Messer sieht man nicht. Merkwürdige Kriminalfälle und sensationelle Prozesse. Augsburg (Bechtermünz) 1999, S. 74. 74 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Stuttgart (Reclam) 1983, S. 139.
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Siebtes Szenario: Medien und die Isolationsgefahr/. Das Lesen beim Spaziergang im öffentlichen Raum, das das Kindermädchen vorführt, entspricht weniger der Regel, gelesen wird auch damals schon ganz im Privaten still vor sich hin. Zum Lesen zieht der Lesende sich zurück, sucht die Stille und so die Einsamkeit, um in einer anderen Welt zu leben. Der Lesende – ganz ohne Frage – isoliert sich. Und daran ist Kritik anzumelden. Jene Kritik daran findet selbstredend ihre Wiederaufführung im digitalen Zeitalter. »Im Schulalter wird vermehrt soziale Isolation beobachtet«75, diagnostiziert nicht allein der Autor der Digitalen Demenz, der gleichwohl so ziemlich alle Vorurteile zum Digitalen in seinem Buch bedient. Isolation ist dem Lesen wesentlich, das Argument daher nicht originell, und die Folgen jenes einsamen Lesens scheinen dem gesellschaftlichen Miteinander nicht so zum Schaden gereicht zu haben, dass die Warnung vor dem Lesen aufgrund seiner offenkundig asozialen Komponente noch heute eine Chance hätte. Auch in der Wiederauflage im digitalen Zeitalter wird die düstere Prognose der Vereinzelung nicht plausibler und so den Schiffbruch erleiden.
Die Apokalypse und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit/. Mittlerweile hat Manfred Spitzer seine Untergangsmetaphorik und seinen Feldzug gegen die neuen Medien in einem neuen Buch weitergeführt. Nunmehr heißt das Buch Cyberkrank, und es beschreibt im Untertitel ein abermals undifferenziertes Szenario (»Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert«76), auf das man in einigen Jahren wohl genauso staunend und leicht amüsiert zurückschauen wird wie gegenwärtig auf die einst wissenschaftlich sich gebenden Analysen von Adorno & Co zum Fernsehen, die Jahrzehnte zuvor eine nicht mehr aufzuhaltende Verblödung sowie Verdinglichung unter den Zuschauern als ausgemacht gesehen hatten. Nach den in der Vergangenheit kritisierten Medien ist es eben bis zum Aufkommen der digitalen Medien vor allen das Fernsehen gewesen, das in der Kritik gestanden hat. Etwas süffisant kommentiert Christian Demand diesen Feldzug gegen das Fernsehen: »Seit Beginn der massenhaften Verbreitung von Fernsehgeräten in den fünfziger Jahren bis heute warnen Kulturkritiker und Medientheoretiker, Soziologen, Philosophen, Politiker, Lehrer und Eltern ohne Unterlaß und in der selbstverständlichen Erwartung 75 Spitzer, Manfred: Digitale Demenz, a. a. O., S. 25. 76 Spitzer, Manfred: Cyberkrank. Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München (Droemer HC) 2015.
Die Apokalypse und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit/.
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einmütiger öffentlicher Zustimmung vor der gefährlichen Sogwirkung und Suggestivkraft des Mediums. Dabei lautete der kritische Befund von Anfang an Realitätsverlust«77,
… der in einer früheren Zeit dem Lesen von Romanen zugewiesen wurde. »Auch unser Verhältnis zu weiten Teilen der Presse, des Kinos, zu Lifestylemagazinen, Comics, Videospielen und Internet ist geprägt von tiefem Mißtrauen gegenüber jeder Form medialer Rhetorik und Inszenierung. Der aufgeklärte Leser/User/Zuschauer ist ein zähledernder Skeptiker, ständig auf der Hut vor geheimen Verführern, vor Mogelpackungen und Lockvogelangeboten. […] Den Medien gegenüber gilt der Generalverdacht der Heimtücke. Dabei wird die Gefahr, der Täuschung auf den Leim zu gehen, interessanterweise in der Regel vor allem bei den anderen gesehen. […] Die Teilnehmer versichern einander gegenseitig, der von Adorno prophezeiten Rückbildung des Bewußtseins dank eigener kritischer Reflexionsleistung noch immer nicht erlegen zu sein. Gleichzeitig aber gehen sie ganz selbstverständlich davon aus, daß die Masse der Zuschauer im Gegensatz zu ihnen als willfährig passives Publikum dem verführerischen Glanz der Fernsehbilder hilflos ausgeliefert und deshalb pädagogisch zu begleiten sei. […] Das Mißtrauen gegenüber dem Fernsehen ist wohlgemerkt ein Mißtrauen gegenüber dessen Medialität als solcher und nicht nur gegenüber bestimmten Programminhalten.«78
Die Ironie und das nicht mehr ganz Ernstnehmen der eingebrachten Bedenken und Prognosen mögen also ihren Grund in der immer gleichen Kritik den jeweils neuen Medien gegenüber haben, die sich in einer schon im 18./19. Jahrhundert etablierenden »Bewahrpädagogik« äußerte. Die einst Buch, Zeitung, dann Fernsehen, endlich gegenüber den digitalen Medien gemachten Vorwürfe lauteten in schöner regelmäßiger Wiederkehr in summa wie folgt: Sie beförderten »die Erzeugung einer zur Realität in Widerspruch stehenden medienvermittelten Scheinwelt, de[n] Verfall geistiger und kultureller Werte durch die seichte Massenunterhaltung der Medien, eine die kindliche Phantasie überreizende und aggressionsauslösende Medienwirkung«79,
77 Demand, Christian: Das Leben selbst: Kunst, Medien, Wirklichkeit. In: Sonderheft Merkur, hg. v. Bohrer, Karl-Heinz/Scheel, Kurt. Wirklichkeit. Wege in die Realität, Heft 9/10. 59. Jahrgang, Stuttgart (Klett-Cotta) Sep./Okt. 2005, S. 973. 78 Ebd., S. 973f. 79 Hüther, Jürgen/Podehl, Bernd: Geschichte der Medienpädagogik. In: Hüther, Jürgen/ Schorb, Bernd/Brehm-Klotz, Christiane: Grundbegriffe Medienpädagogik. München (KoPäd-Verlag) 1997, S. 118f. Heute setzt Medienpädagogik – wo sie auf der Höhe der Zeit ist – auch weniger auf bewahrpädagogische Aspekte denn auf die Ausbildung eines kritischreflexiven Bewusstseins und auf die Ausbildung eines medienkompetenten Handelns auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Nicht der Schutz vor den Medien und vor deren Inhalten steht im Vordergrund, sondern deren kompetente Handhabe, damit Schülerinnen und Schüler wissen, was sie tun, wenn sie den Computer einschalten und im Internet surfen.
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… so Jürgen Hüther und Bernd Podehl, die die Geschichte der Medienpädagogik in einem Lexikonbeitrag nachzeichnen. Wohlgemerkt sind dies Vorwürfe, die durch die Jahrhunderte hindurch den jeweiligen neu aufkommenden Einzelmedien gemacht wurden. Heute stehen die Neuen Medien in ihrer Medialität oftmals in der Kritik, die geäußerten Vorbehalte sind der Blaupause aus dem 18. Jahrhundert oder noch früherer Jahrhunderte (Platon) zu entnehmen, während der vormals kritisierte Buchdruck zum unübertrefflichen Maßstab erhoben wird. Während Kulturkritik in früheren Zeiten Befürchtungen zum ›Buch‹ ausspricht und vor der Einvernahme durch das Buch warnt, also im Grunde einen Status Quo vor der massenhaften Verbreitung des Buches beschwört, geht mit dem Buchdruck eine neue Qualität einher : Alphabetisierung, Literalisierung – Aufklärung (Wissenschaft), Demokratisierung u. a.m. Das heißt nun nicht, … – dass das Lesen nicht auch ein Suchtverhalten hier und da fraglos beschwor, – dass es in Einzelfällen nicht auch das Individuum isolierte – oder dass auch mit dem Lesen mitunter ein Realitätsverlust einherging. – Auch durch die Pluralisierung von Werten durch das Buch mag für manchen Orientierung schwerer geworden sein, – und selbst das Zerstreuungspotenzial durch das Buch mag für Einzelne Gefährdungen als Folge gehabt haben, … doch daraus die Medialität als solche als Gänze in Frage zu stellen, wäre verfehlt und würde – nunmehr in Kenntnis der nachgerade erkannten unbestrittenen Qualitäten – ohnehin keiner mehr tun. Ganz offenkundig haben die in der Vergangenheit heftig kritisierten Medien ›Schrift‹, ›Buch‹, ›Fernsehen‹ (von ›Zeitungen‹ und vom ›Radio‹ ließe sich ähnlich Kritisches berichten80) ihre Kritiker enttäuscht, weil ihre Prognosen zur Beförderung des kulturellen Untergangs sich nie erfüllten, was heutige Kritiker aber nicht hindert, das Neue Medium in seiner Medialität mit den immer gleichen Vorbehalten von einst zu bedenken. Auch im Bereich der Neuen Medien gibt es unbestritten Fälle von Isolationstendenzen, Suchtgefahr, Orientierungslosigkeit, vielleicht auch den Realitätsverlust u. a.m. zu beobachten. Wie aus diesen beklagenswerten Problemfällen ein allgemeingesellschaftliches Problem gemacht wird, beschreibt allerdings eine unzulässige Pauschalisierung und unseriöse Vereinfachung. Das Problem liegt demnach nicht in einer berechtigten Sorge um negative Entwicklungsausschläge im Bereich der Digitalität, das Problem liegt im Trend zur blanken Verallgemeinerung derselben. Das Problem mag auch darin liegen Schülerinnen und Schüler sollen selbst entscheiden können, welche Medien sie nutzen und wie sie sie nutzen. 80 Vgl. Passig/Lobo: Internet, a. a. O.
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– dieser Eindruck drängt sich zumindest auf –, dass man nicht hinreichend die Geschichte der Medien mit ihren früheren Verächtern zur Kenntnis nimmt. So wüsste man, dass die eigenen Bedenken, die man zum neuen gesellschaftlichen Leitmedium formuliert, in der Regel dieselben sind, mit denen Bedenkenträger von einst ihre Schriften zu früheren Medienrevolutionen garnierten. So wüsste man, dass die eigenen Sorgen, von denen man umgetrieben wird, lediglich die Wiederauflage früherer Befürchtungen sind, die sich dann doch nicht bewahrheiteten oder von positiven Effekten aufgefangen waren. Das ließe dann vielleicht vorsichtiger formulieren. Wenn man sich auf die im Verlaufe des Kapitels eingeführte Regel über Prognosen bezieht, die das lineare Fortschreiben dessen, was ist, in die Zukunft betreibt, und auf die Medienrevolutionen der Vergangenheit blickt mit ihren prognostizierten apokalyptischen Szenarien, die dann doch nicht eingetreten sind, und wenn man dieses Scheitern nun ebenso linear fortschreibt auf die Zukunft, welche Eintrittswahrscheinlichkeit die von Bewahrpädagogen formulierten gegenwärtigen Untergangsprognosen zur Digitalität haben, dann lautet die Prognose, die es eigentlich nicht braucht (Wenn alles beim Alten bleibt, braucht es auch keine Prognose): Es steht zu vermuten, dass die Apokalyptiker von heute mit den in ihren bewahrpädagogischen Schriften formulierten Thesen von gestern vom Untergang des Menschen und der Kultur insgesamt in der Zukunft ein weiteres Mal enttäuscht werden. Ihre einzige Hoffnung ist, dass ein unerwarteter systemischer Zusammenbruch (einem Börsencrash gleich) ihren Prognosen erstmals in der Geschichte der Medienrevolutionen Festigkeit verleiht. Im Unterschied zum Börsencrash, der nun zwar selten, aber doch, eingebunden in einen bekannten Schweinezyklus, tatsächlich immer wieder eintritt, sind die apokalyptisch sich abbildenden Szenarien bislang noch nie gesamtgesellschaftlich aufgetreten. Inwieweit man sich diese Erwartungshaltung nun bei den Neuen Medien zu eigen machen will, muss jeder selbst entscheiden.
Medienwirkungen jenseits der Apokalypse/. Insbesondere warnende Worte, die den Untergang der Bildung und die allgemeine Verdummung heraufbeschwören, sind mit Vorsicht zu genießen, findet man sie abermals schon in Platons Schriften und seitdem durchgängig durch alle Zeiten hindurch als auch regelmäßig in Frank Schirrmachers Schriften als drohendes Menetekel an die Wand gemalt. Vor warnenden Worten dem Neuen gegenüber ist selbst zu warnen, denn nachgerade zeigt sich, dass trotz aller heraufbeschworenen, die Kultur vernichtenden Untergänge durch Medien gerade jene kritisierten Medien sich zuletzt als Gesellschaft und Kultur nicht nur fördernde, sondern auch bewahrende Medien herausgestellt haben. Mit jeder
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neuen Medien(r)evolution ist die Verabschiedung von Zwängen und eine gesellschaftliche Öffnung zu verzeichnen gewesen. – Mit Speichermedien generell konnten neue Ideen geboren werden und sie ihre weitverzweigten Wege durch Raum und Zeit hindurch gehen, – mit dem Buchdruck im Besonderen ist die Verabschiedung von Wissensmonopolen (der Kirche) als auch die Aufhebung von Denkverboten einhergegangen, – mit den elektronischen und heute digitalen Datenflüssen ist der geschlossene kulturelle Raum aufgebrochen und einer Vielfalt von Einflüssen gewichen, der nach persönlicher Maßgabe zugewendet werden kann. Man könnte auch so sagen: Mit jeder neuen Medien(r)evolution ist ein neuer Komplexitätsschub gewonnen worden, zu dem verhalten werden musste, und als Folge davon auch ein neuer Horizont von Möglichkeiten entstanden. Die gesellschaftliche Optionenvielfalt und das geistige Erregungspotential steigen. Die Hierarchien sind mit jeder neuen Medienrevolution flacher geworden, Demokratisierungsprozesse sind durch Medienrevolutionen angestoßen, beschleunigt worden. Das Buch als Speichermedium erlebt mit den elektronischen und heute digitalen Speichermedien nunmehr eine Krise und ebenfalls einen Autoritätsverlust. Aber auch dieser mag einen Innovationsschub als auch ein Bewahrungspotential des Alten in sich tragen. Digital ist Lesen, Schreiben/Speichern viel schneller und unmittelbarer zu vollziehen als mit dem Druck. Insbesondere das Überarbeiten und Verändern erlebt mit CUT/COPY/PASTE einen qualitativen Sprung. Speicherungen ist der vorläufige Charakter nunmehr konstitutiv. Was einst wie gemeißelt zwischen Buchrücken für alle Zeiten stand, erlebt seine Verflüssigung und einen Meinungspluralismus, wie er selbst dem wissens- und meinungsfördernden Speichermedium Buch nicht möglich war. Die relativ junge Idee des geistigen Eigentums und Copyrights sieht sich faktisch wieder aufgelöst, wird de jure aber mit allmöglichen juristischen Klimmzügen (noch) aufrechterhalten; es wird den neuen Medienverhältnissen wieder anzupassen versucht. Der Künstler oder Musiker vergangener Zeiten, z. B. des Barock, für den es eine Auszeichnung war, kopiert zu werden und der selbst kopierte, hätte in der Copyright-Kultur der jüngeren Vergangenheit seine rechte Not mit dem Gesetz gehabt. Im digitalen Zeitalter fände er sich wieder problemlos zurecht, denn was heute CUT/COPY/PASTE heißt, hieß früher bspw. »Parodieverfahren« oder »Pastiche«. Im »Mashup« der Gegenwart erfüllt sich die Anerkennung fremden Wirkens.81 Jenseits der unterschiedlichen Namen sind die Verfahrensweisen damals/heute im Umgang mit Kunst einander sehr ähnlich. 81 Vgl. Gehlen, Dirk von: Mashup. Lob der Kopie. Berlin (Suhrkamp) 2012.
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Bot das Buch mit seiner linearen Entfaltung ein teleologisches Modell, so ist in der Digitalität der Knotenpunkt82 und das Kreuz & Quer zur Norm geworden. Alle Teleologie erweist sich hier als aufgehoben. Anstatt den Dingen ein für alle Mal auf den Grund zu gehen, werden die Dinge und ihre Zusammenhänge oftmals kalkuliert und konstruiert. Die Denkmöglichkeiten, neue Zusammenhänge zu konstruieren, explodieren. Und bot die Welt des Buches ein Arkanum, das sich für junge Menschen erst durch ihre Alphabetisierung durch lehrende Erwachsende aufschließen ließ, so deutet sich für die Gegenwart der umgekehrte Umstand an. Alphabetisiert erscheinen die jungen Leute als »digital natives«, während für viele Erwachsene die digitalen Welten sich zunächst als Arkanum erweisen, in die sie – oft genug durch »digital natives« – erst eingeführt werden müssen und dabei Grundkompetenzen der digitalen Alphabetisierung erlernen. Wer bei facebook und anderen sozialen Foren ein Konto eröffnet, fragt am besten erst einmal bei jungen Leuten nach, wo man einen Klick setzt und wo man dies tunlichst besser lässt. Die Angst vor diesem Wissensvorsprung von jungen Leuten sowie die eigene Ratlosigkeit, wie das Neue zu handeln ist, sind in vielen apokalyptisch angehauchten Büchern beinahe zu greifen. Man spürt das Unbehagen an einer sich ändernden Welt, an der man leidet. Das allgemeine Beschwören von ›Gefahren‹ verstellt den Blick auf die unvermeidlichen ›Abenteuer‹ in der neuen Medienwelt, die Möglichkeiten wohin auch immer eröffnen. Ein offener Horizont, der sich bietet. Es ist die Sehnsucht nach ›Sicherheit‹, was jedes ›Risiko‹ zu meiden sucht und doch erst die Gefahren heraufbeschwört, wo andernorts Aufgeschlossenheit waltet sowie Möglichkeiten nach Risikokalkulation verwirklicht werden.83 Die Navigation durch den digitalen Raum ist fraglos – auch jenseits aller plakativen Verblödungs- oder Demenzvermutungen – mit Risiken verbunden, ein falscher Klick am falschen Ort kann Kosten wenn nicht Ärgeres verursachen, doch bewandert im Lesen und Schreiben des digitalen Alphabets offenbaren sich neue Möglichkeiten, die Handlungsspielräume neu ausloten lassen. Der digitale globale Weltraum als neuer kommunikativer Nahraum provoziert Kontingenz durch Schaffung neuer sozialer Komplexität. »Am spektakulärsten aber ist vermutlich, dass die Ausbreitung des zentrifugalen Mediums Internet sowohl den Bereich der Öffentlichkeit erweitert als auch die Zivilgesellschaft und die Demokratie fördert.«84 Denn das dialogische Palaver entzieht sich weitgehend oder immer wieder einer ›Top-down-Kontrolle‹. Endlich kontrolliert und so marginalisiert an einem Ort, setzt es sich unkontrolliert am anderen Ort fort, generiert und gestaltet soziale Wirklichkeit, die von vielen beeinflusst wird, 82 Vgl. Sloterdijk, Peter : Medienzeit. Stuttgart (Cantz) 1993, S. 59. 83 Vgl. S. 367–372. 84 Burke, Peter : Kommunikation, a. a. O., S. 239f.
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sozusagen im freien Wildwuchs. Stets muss man mit einem neuen kommunikativen Einfall rechnen, dessen Entwicklung unabsehbar bleibt. Das kann man auch mit der fortwährenden Schaffung eines sozialen Systems und mit dessen Autonomie gleichsetzen. Kontrollmechanismen verfangen und verlieren sich immer wieder im Netzwerk der unabsehbaren Möglichkeiten von gemeinschaftlicher Kommunikation. Mochte Goethe noch mit Faust im Zweifel sein, ob im Anfang das Wort gestanden haben mag, und den Sinn, die Tat und Kraft noch ebenbürtig schätzen, so ist die Schaffung dieser neuen Welten dem programmatischen Wort geschuldet, selbst wenn sie mit dem digitalen Alphabet geschrieben sind, das nur die Ziffern »0« und »1« kennt. Auch wäre vielleicht selbst ein Goethe heute nun im Zweifel, ob am Anfang das inhaltsschwere Wort oder die semantisch leere Ziffer gestanden haben mag. So wie die durch die Zeit hin gültigen Leitmedien nach und nach hierarchische undurchlässige Strukturen kritisierten und allgemeine Demokratisierungsprozesse zumindest begünstigten, so scheint der Lohn aller Wortarbeit in den sozialen Netzen präsumtiv einen Demokratieschub als auch das Misstrauen gegenüber allgemeine Kontrolle zu befördern. So mögen die Vorstellungen eines Hans Magnus Enzensbergers aus dem Jahr 1971 zu einem emanzipatorischen Mediengebrauch mit den digitalen Medien vielleicht nicht erfüllt sein, aber doch – um einzutreten in den Kreis der Prognosetreibenden – auf den Weg gebracht worden sein. Repressiver Mediengebrauch85 – Zentral gesteuertes Programm – Ein Sender, viele Empfänger – Immobilisierung vieler Empfänger – Passive Konsumhaltung – Entpolitisierungsprozess – Produktion durch Spezialisten – Kontrolle durch Eigentümer oder Bürokraten
Emanzipatorischer Mediengebrauch – Dezentrale Programme – Jeder Empfänger ein potenzieller Sender – Mobilisierung der Massen – Interaktion der Teilnehmer (feedback) – Politischer Lernprozess – Kollektive Produktion – Gesellschaftliche Kontrolle durch Selbstorganisation
Und beschließend dann in einem zeitlich groß gewählten Kontext doch die Linearität zu bemühen, sieht es so aus, dass Medien Denkhaltungen ändern. Sie präformieren Aufmerksamkeit, legen Umgangsformen nahe. In der Auseinandersetzung mit ihnen lernen Anwender ihre immanenten »Botschaften« kennen. Sie kommunizieren ihre Botschaften dann am erfolgreichsten, wenn sie am wenigsten Aufmerksamkeit erregen und als Hintergrundphänomen nur oszillieren. So wie auch eine Brille dann am besten ihren Dienst tut, wenn sie nicht 85 Tabelle ist von Enzensberger und seinem Baukasten für eine Theorie der Medien entnommen, zit. n. Weber, Stefan (Hg.): Theorie der Medien. Konstanz (UVK) 2003, S. 113.
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durch Verschmutzung, Kratzer etc. in ihrer Leistung, das Sehen zu optimieren, beeinträchtigt wird und der Anwender ihrer medialen Qualität gar nicht bewusst wird, so sind auch mediale Gedächtnisspeicher optimal in Form gebracht, wenn sie als Medium gar nicht in den Blick geraten und die Konzentration allein auf den Inhalt gerichtet bleibt. Die Beschäftigung mit seinen Inhalten, mit Text, Bild und Ton, macht blind für das Medium selbst. Das ist es, was Marshall McLuhan einst seinen prägenden und oft zitierten Satz schreiben ließ: »Das Medium ist die Botschaft«. Die Digitalität ist es, die die Welt zusammenführt zum berühmten, von McLuhan beschriebenen globalen Dorf und veränderte Wahrnehmungsund Umgangsformen als auch neue Wertschätzungen impliziert, was Gefahren für Mensch und Kultur gleichermaßen gedanken- und wortreich heraufbeschwören lässt. Mochte mit dem Buch die Stetigkeit sich vermitteln, so in der digitalen Welt eher die Vorstellung von Flüchtigkeit und eines beständig Neuzurechtrückens. Mit der Metapher des Meeres und der des bewegten Flüchtig-Vergänglichen lässt sich Gegenwart vielleicht besser beschreiben als mit der Metapher der Stetigkeit oder des Denkmals mit seiner Orientierung auf Festigkeit und Gehalt. Diese Metapher, die das Flüchtige ins ortlose Zentrum rückt, ist auch im Rückgriff auf die neuen Medienverhältnisse zu sehen. Wie Bickenbach und Maye in ihrem Buch über die Metapher Internet86 ausweisen, kann man das Internet von der Metapher des Wassers beseelt sehen. Vom Datenmeer oder der Informationsflut ist häufig die Rede, von Kanälen, von Quellen, und wer im Internet sich bewegt, »surft« darin oder er »navigiert« und muss aufpassen, dass er nicht untergeht. Auf der Hut muss man zudem sein vor »Netzpiraten«. Die Metapher des Wassers, des wogenden Flüssigen wohnt dem Ganzen inne, bei dem alles in Bewegung bleibt ohne festen Grund und Boden. Es gilt, an der Oberfläche zu bleiben und die Tiefen zu meiden, um nicht im Bodenlosen zu versinken. Und so wie das Meer ein noch unbekannter Kontinent ist und vielleicht auch in Zukunft bleibt, so bleibt auch das Internet unergründlich. Es deutet sich hier vielleicht eine Annäherung an fernöstliche kulturelle Muster an, wo der Prozess eher im Vordergrund stand und steht und nicht das abgeschlossene unveränderliche Werk, den unser kultureller Raum sich erdachte. Was man so – ohne die genannten Bilder überstrapazieren zu wollen – festhalten kann, ist das Moment … – der prinzipiellen Dynamik, – der Vorläufig- und Bodenlosigkeit, – der Unvorhersehbarkeit, – der Verunsicherung,
86 Vgl. Bickenbach, Matthias/Maye, Harun: Metapher Internet. Literarische Bildung und Surfen. Berlin (Kadmos) 2009.
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– auch das der Oberflächlichkeit im gleichberechtigten Nebeneinander der Datenflut. Die neuen Medienverhältnisse stehen symptomatisch für diese Entwicklung. Das alles lockt eben die Kritik jener hervor, die ihrer Sache und Kunst-Denkmäler – festgezimmert gar auf alle Ewigkeiten – gewiss sind, … – dass Wissen und Bildung nicht mehr das sind, was sie einst waren, – dass damit das gesellschaftliche Fundament gefährdet sei, – dass Kultur der Vergleichgültigung anheimfalle und – richtungsweisende Ideale, Werte verloren gehen und Orientierungslosigkeit herrsche. Der gesellschaftliche Medienwandel verändert Einstellungen und Umgangsformen. In eine heuristische Tabelle eingeordnet, lassen sich die Veränderungen in einem heuristischen Modell wie folgt beschreiben:
Medienfolgen und Medien-»botschaften«87
87 Vgl. Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander. Musikkommunikation und (Jugend-)Sozialisation zwischen »Hard-Net« und »Soft-Net«. Osnabrück (epOs) 2004, S. 23.
Bildungsfantasien »Beethovens Kunst ist nicht wie die seiner Vorgänger, eine Kunst des schönen Scheins, des reizvollen Spiels, sie ist eine ethische, im höchsten Sinne sittliche Kunst; freie Bekenntnismusik. Nicht das Schöne allein ist ihr Zweck, durch das Schöne will sie das Gute erreichen.«88 »Und doch wird immer wieder behauptet, gute freie Musik, adäquat gehört, könne den Menschen bessern, nicht zuletzt auch auf dem Wege über die ästhetische Erziehung und Geschmacksbildung.«89 »Viele Eltern haben ein Interesse daran, daß ihre Kinder nicht in schlechte Gesellschaft geraten, denn sie nehmen an, daß der Umgang mit bestimmten Personen einen Einfluß auf die Entwicklung ihrer Kinder haben wird. Auf ähnliche Weise wird man wohl auch auf die unterschiedlichen Charaktere zweier Personen schließen dürfen: Eine Person, die den ganzen Tag nur heitere Streichquartette von Joseph Haydn hört, wird wohl zu einer anderen Lebenseinstellung disponiert sein als eine Person, die sich den ganzen Tag nur die düster-aggressiven Lieder der Gruppe Rammstein zu Gemüte führt.«90
In Kunstmusik eines Beethovens eine sittliche Musik oder in Beethovens »Eroica« den »höchste[n] Ausdruck sittlicher Kraft« zu sehen,91 ist im Jahre 1926, als dies Fritz Volbach schreibt, noch weithin gesellschaftlicher Allgemeinplatz und Bildungs-Glaubensbekenntnis. Bezugssystem für Volbach sind neben den Literaten Goethe und Schiller die antiken Philosophen und so auch Aristoteles, der einen Einfluss auf die sittliche Bildung von Musik sieht. Und Volbach steht in deren Tradition, wenn er schreibt: Die Musik »vermag in der Tat den Menschen zu veredeln und besser zu machen.«92 Und als wolle er seine Worte noch einmal unterstreichen, wiederholt er unverzüglich: »Sie vermag es.«93 88 Volbach, Fritz: Handbuch der Musikwissenschaften. Bd. 1, Münster (Aschendorff) 1926, S. 100. 89 Eggebrecht, Hans Heinrich: Gute und schlechte Musik. In: Dahlhaus, Carl/Eggebrecht, Hans Heinrich: Was ist Musik? Wilhelmshaven (Florian Noetzel) 21987, S. 86. 90 Rinderle, Peter : Musik, Emotionen und Ethik. Breisgau (Karl Alber) 2011, S. 52. 91 Volbach, Fritz: Handbuch der Musikwissenschaften. Bd. 1, a. a. O., S. 102. 92 Volbach, Fritz: Handbuch der Musikwissenschaften. Bd. 2, Münster (Aschendorff) 1930, S. 96.
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Ausgewählte Musik soll den Menschen läutern, und ein im Geläutertsein besserer Mensch würde in der rechtschaffenen Auseinandersetzung geboren werden. Diese Haltung zur Kunstmusik im Speziellen und zur Kunst im Allgemeinen wird selbst Jahrzehnte später und auch im neuen Jahrtausend noch verfochten, wie den Eingangszitaten zu diesem Kapitel von Hans Heinrich Eggebrecht aus dem Jahre 1987 und von Peter Rinderle aus dem Jahre 2011 zu Musik, Emotionen und Ethik zu entnehmen ist. Was Hans Heinrich Eggebrecht hier im skeptischen Tone anspricht, benennt eine ethische Dimension, die der Kunstmusik bzw. der Kunst allgemein unterstellt wird. Auf diese ethische Funktion hebt auch Rinderle – fern aller Skepsis – ab, der den Begriff der Ethik nicht allein auf moralische Aspekte übertragen sieht, sondern in einem weiten Sinn auf generelle Verhaltensänderungen der einen oder anderen Art abstellt. Er glaubt an »eine Erziehung unserer Emotionen« durch Kunst dergestalt, »an den richtigen Dingen auf angemessene Weise emotional Anteil zu nehmen und auf sie mit Lust bzw. Unlust zu reagieren«.94 Er folgert: »Da es aber nicht nur moralisch gute, sondern auch unmoralische und böse Musik gibt […], kann Musik unter Umständen auch einen negativen Einfluß ausüben und zu einer Abstumpfung der Emotionen sowie zu einer Verrohung der Sitten führen. […] Da man Emotionen außerdem als Wahrnehmungen von Werten verstehen kann, läßt sich expressive Musik auf diese Weise als der Ausdruck und die Artikulation einer bestimmten Wahrnehmung von Werten verstehen.«95
Rinderle, der unter anderem Musikästhetik und Ethik lehrt, versteht so Emotionen erzeugende Musik als Musik, die auf den Charakter abfärbt im guten wie weniger guten Sinne. Für Rinderle gilt es – der gewählte Indikativ spricht Bände – dabei als ausgemacht, dass es gute und böse Musik gibt. Es gibt Lebensbewältigungsstrategien, die der vernetzten Komplexität von Gesellschaft oder gesellschaftlichen Phänomenen Herr zu werden versuchen, indem man sie auf schlichteste Ursache/Wirkungsverhältnisse reduziert und Rezipienten als Trivialmaschinen wie einen Kaugummiautomaten versteht. Der Einwurf einer Münze sieht das immer gleiche Ergebnis vor : den Erhalt der Kaugummikugel. Für Autoren wie Rinderle funktioniert auch die Verabreichung von Musik nach demselben Muster. Die Einnahme des rechten Therapeutikums Musik sieht als Folge den charakterlich wohldisponierten Menschen vor. Nur vor Überdosierung oder der falschen Musik sollte man sich hüten. Das rezipierende Subjekt wird weniger als aktiver Teilnehmer im Rezeptionsprozess verstanden denn als passiv aufnehmender Schwamm. In der Vorstellung, aus der gehörten 93 Ebd. 94 Rinderle, Peter : Musik, Emotionen und Ethik, a. a. O., S. 51. 95 Ebd.
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rechten, richtigen Musik ließe sich eine charakterliche Disposition ableiten, liegt dann eine Lebensbewältigungsstrategie vor, die einen heiteren Haydn und die düster-aggressive Gruppe Rammstein mit entsprechend empfindenden Rezipienten in Verbindung bringt. Plakativ gesprochen: Es gibt – so will es Rinderle in ontologischer Tradition – gute Musik, nicht allein im qualitativen Sinne, sondern im ethischen. Und wo es eine gute Musik gibt, sind die Verlockungen einer bösen Musik unvermeidlich. Der Teufel versteckt sich sozusagen in verzerrten Gitarrenklängen. Und man mag sich gar nicht vorstellen, von welchem Charakter jene erfüllt sein müssen, die solche Musik ersinnen, spielen und auf Konzerten inszenieren, sollte dieser These von guter wie schlechter Musik auch nur ein Hauch von Plausibilität innewohnen. Schon wird man stutzig ob der Relevanz solchen Theoretisierens. Eine solche Rhetorik, wie sie ein Rinderle anstimmt, ähnelt der, wie sie im Falle von mancher Medienkritik zu verzeichnen ist: Gewaltdarstellung in den Medien evoziere reale Gewalt beim Rezipienten. Medien beförderten u. a. »eine die kindliche Phantasie überreizende und aggressionsauslösende Medienwirkung«96, so Jürgen Hüther und Bernd Podehl. »Solche Thesen gelten heute als empirisch nicht haltbar«97, Forschung wie diese operiert mit einem »reduzierten und oft kraß vereinfachten Wirklichkeitsverständnis.«98 Und doch finden Vorstellungen vom Menschen als Trivialmaschine ihre Anhänger selbst in der Gegenwart. Von einem solchen »kraß vereinfachten Wirklichkeitsverständnis« sind auch die emphatisch bewegten Verlautbarungen einer sittlichen Kunst und ästhetischen Erziehung durchgängig geprägt. Einer unterstellten rechten richtigen, gar guten Musik wird die entsprechende Einflussnahme auf das Bewusstsein unterstellt. Moral und Unmoral lässt sich, so wollen es manche Autoren wie Rinderle, ganz eindeutig im luftleeren Raum nichtssagender Intervallfolgen und gesetzter Harmonien ausdrücken. Haydn ist dann heiter, anderes aggressiv. Die Frage, für wen Haydn heiter klingt und für wen vielleicht nicht, stellt sich nicht. Das Heitere gilt als ausgemacht, obwohl für manches Ohr Haydn vielleicht entsetzlich langweilig99 oder nervtötend klingt, was der Aggression gegebenenfalls gar 96 Hüther, Jürgen/Podehl, Bernd: Geschichte der Medienpädagogik, a. a. O., S. 118f. Heute setzt Medienpädagogik – wo sie auf der Höhe der Zeit ist – auch weniger auf bewahrpädagogische Aspekte denn auf die Ausbildung eines kritisch-reflexiven Bewusstseins und auf die Ausbildung eines medienkompetenten Handelns auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Nicht der Schutz vor den Medien und vor deren Inhalten steht im Vordergrund, sondern deren kompetente Handhabe, damit Schülerinnen und Schüler wissen, was sie tun, wenn sie den Computer einschalten und im Internet surfen. Schülerinnen und Schüler sollen selbst entscheiden können, welche Medien sie nutzen und wie sie sie nutzen. 97 Faulstich, Werner : Grundwissen Medien. München (Fink) 1994, S. 80. 98 Moser, Heinz: Einführung in die Medienpädagogik. Opladen (Leske + Budrich) 1995, S. 107. 99 Vgl. S. 146.
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Vorschub leisten mag. Haydn wird gegen Rammstein in Stellung gebracht, so plakativ wollen es Autoren wie Rinderle. Ist so jede mit Streichern gespielte Musik dem Guten gewogen und jede mit verzerrter Gitarre unterlegte Musik von vornherein zum Bösen bestellt? Wo ließe sich eine Band wie Apocalyptica einordnen, die als Streicher-Ensemble eine eher zum Lager der Rammstein-Apologeten gehörende Musik spielt? Was wäre, wenn Rammstein durch Harfenklänge ganz dezent interpretiert würde? Spielen Musik unterlegte Texte bei der Bestimmung des Guten wie Bösen eine Rolle? Verliert dann Haydn sein für unmissverständlich gut bestelltes Gewicht, wenn zu seiner Melodie die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen würde? Im Grunde doch nicht, denn das würde einer Relativierung das Wort reden, das Gute wie Böse wäre dann von Fall zu Fall zu entscheiden. So aber steht es nicht geschrieben, wo es gute und böse Musik gibt und ein klares unabänderliches Wesensmerkmal bestimmt wird. Ist das Gute wie Böse also generell in den Klängen präsent und irgendwie zwischen Intervallen und Harmonien eingebettet? Auch würde es interessieren, wie sich ein Cat Stevens oder Ed Sheeran zu Richard Wagner oder Werner Egk verhielten, wobei Letzterer in seinen Werken die Nazi-Ideologie zumindest implizit wenn nicht explizit hofierte.100 Aber nach einer Theorie, wie sie hier vorgeführt wird, will dies nichts heißen: Egk steht ganz fraglos in der klassischen Tradition. Gehört seine Musik, egal für wen er komponierte und für welche Ziele, dann tendenziell dem guten Lager an, auch wenn sie in grausamen Zeiten ihre beste Zeit hatte und sich feiern ließ? Auch die Position von Carl Orff und die Musik, die er zur Zeit des III. Reiches komponierte, sind mit einer Theorie vom Guten und Bösen in der Musik, wie sie Rinderle pflegt, kaum kritisch zu hinterfragen. Kann man die Musik von Hans Pfitzner, der dem System im III. Reich loyal zur Seite stand und selbst nach dem Ende des Terrorregimes noch verteidigende Worte für den Völkermord fand, trennen von der Musik, die er schrieb? Kann man des Komponisten Haltung ethisch bedenklich erachten, die Musik aber als vorbehaltslos gut, also ethisch wertvoll, befinden, weil sie der musikalischen Tradition zugehörig sich zeigt? Zumindest ist ein Theoriegebäude wie das von Rinderle solchen Fragen ausgesetzt. Wo würde hier gut und böse lokalisiert werden und warum? Wie ist es dann um Arnold Schönberg bestellt, dessen Zwölftonverfahren seine größten Erfolge in Horrorfilmen feierte, was den Komponisten zur recht betrüben würde? Ist mit dem Komponieren mit zwölf gleichberechtigten Tönen vom Komponisten ein böses Kompositionsverfahren in die Welt gesetzt worden? Vielleicht findet man das unbedenklich Gute ja nur bei den unverdächtigen und 100 Vgl. Heister, Hanns-Werner : Maskierung und Mobilisierung. Zur Rolle von Musik und Musiker im Nazismus. In: Sarkowicz, Hans (Hg.): Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus. Frankfurt/M./Leipzig (Insel) 2004, S. 329f.
Platon. Von weichlichen Tonarten und solchen, die dem Krieger dienen/.
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scheinbar für immer und ewig als groß ausgemachten Komponisten wie Bach, Haydn, Mozart, Beethoven… Ein paar Leerstellen seien für einige wenige Weitere bereitgestellt und zum Füllen nach eigenem Gusto vorgeschlagen. Aber der ganze weitere Komponisten-Rest stünde von vornherein unter Generalverdacht und müsste sich dann doch zunächst einmal erklären, beweisen? Und welche Musik – so stellt sich weiter die ganz arglose Frage – ist weder gut noch böse, sondern verbliebe im indifferenten Niemandsland? Diese These von Musik mit ethischer Dimension aus dem Jahre 2011 (und dem Menschen als Trivialmaschine) hat ihre großen Vorväter und blickt auf eine lange Tradition zurück, auf die auch Rinderle Bezug nimmt: Platon und Aristoteles.101 Deren Schriften und spätere mit ähnlichem Gehalt verfasste Schriften (insbesondere jene, die dem Klassik-Mystizismus verbunden sind) in der Nachfolge werden seitdem studiert, zitiert, proklamiert, die kritische Reflexion dazu wird – sofern vorhanden – oft kleingeschrieben oder ist gar nicht vorhanden.
Platon. Von weichlichen Tonarten und solchen, die dem Krieger dienen/. Platon hat ein ambivalentes Verhältnis zur Musik. Er unterstellt der Musik eine zwar erzieherische Wirkung, lässt dies aber nicht für jede Musik gelten. Das Zusammenspiel von Wort, Ton und Rhythmus (also keine instrumentale Musik) solle den Charakter bilden, er scheidet aber dabei für ihn klagende und weichliche Tonarten aus102, da sie für »Wehrmänner« nicht brauchbar seien und eher »Trunkenheit, Verweichlichung und Schlaffheit« beförderten. »Welche Tonarten sind also weichlich und bei den Gastmahlen üblich? Ionisch, […], und lydisch, welche auch die schlaffen heißen.«103 Für »kriegerische Männer« bliebe demnach übrig nur noch die dorische und phrygische Tonart. Dorische (die aufrüttelnde) und phrygische (milde) Tonart würden gleichwohl einen guten sittlichen Dienst tun. »Diese beiden Tonarten, eine gewaltige und eine gemächliche, welche der Unglücklichen und Glücklichen, der Besonnenen und Tapferen Töne am schönsten nachahmen werden, diese lasse mir.«104 Ausgefällt werden darüber hinaus alle vielharmonischen Instrumente und tonartreiche Instrumente.105 Für 101 Vgl. Rinderle, Peter : Musik, Emotionen und Ethik, a. a. O., S. 125. 102 Vgl. Platon: Politeia. Sämtliche Werke 5, nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl, hg. von Karlheinz Hülser. Frankfurt/M. (Insel) 1991, S. 215 (398e). 103 Ebd., S. 215/217. (398e/399a). 104 Ebd., S. 217 (399c). 105 Vgl. ebd., S. 217 (399c).
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die Aufnahme in den von Platon vorgestellten idealtypischen Staat bleiben allein Lyra und Kithara übrig, welche in der Stadt zu gebrauchen seien. Auf dem Lande dagegen würde »irgend eine Art von Pfeife« dem Hirten einen guten Dienst tun.106 Das darüber hinausgehend Wenige, was dann an Musik noch übrig bleibt, solle ebenfalls erzieherisch wirken. Schließlich werden bei Platon über Wirkungsweise und Ziel einer musischen Erziehung Worte gewechselt und herausgestellt, dass »Zeitmaß und Wohlklang vorzüglich in das Innere der Seele« einzudringen und – bei richtiger Erziehung – »wohlanständig« zu machen verstünden.107 Wer das Schöne so in die Seele aufnähme und daran sich nährte, würde »selbst gut und edel werden«.108 Das Schöne insbesondere in musikalischer Gestalt wird so zum Medium einer sittlichen Erziehung.
Aristoteles. Zwischen Banausentum und ethischer Erziehung/. Auch Aristoteles, der Schüler Platons, beschäftigt sich, wenn auch nicht sehr umfangreich, so aber doch auch mit der Musik und ihrer erzieherischen Wirkung. Aristoteles unterscheidet, wie späterhin durch die Jahrhunderte hindurch weiterhin unterschieden wird, zwischen der praktischen Ausübung von Musik und der Rezeption/Reflexion derselben. Das tätige Musizieren selbst wird dabei als gering erachtet, die gedankliche Auseinandersetzung in Muße wird wertgeschätzt. »[N]icht den Zeus selbst lassen die Dichter singen und Zither spielen, vielmehr bezeichnen wir solche, die sich damit förmlich abgeben, als Banausen, und erachten, daß ein Mann solches nicht tut, es sei denn im Rausche oder zum Scherze.«109 Musiker werden so eher als zur Abstraktion kaum fähige Erfüllungsgehilfen betrachtet und nötig allein, damit Musik klingt. Da die Rezeption von Musik nicht völlig von der Kompetenz des Musizierens losgelöst werden kann, akzeptiert Aristoteles eine graduelle praktische Kompetenz. »Wir lehnen für die Jugend die Ausbildung zum Virtuosentum in der Musik ab […]. Denn wer hier seine Kunst zeigt, der betreibt sie nicht, um sich selber sittlich zu veredeln, sondern um den Hörern ein Vergnügen, und dazu noch ein grobsinnliches, zu bereiten.«110 Die sittliche Veredelung ist also an eine niederschwellige Fähigkeit zum Musizieren gebunden, auch weil im anderen Falle die zeitaufwändige Arbeit an der Spielkompetenz im Vordergrund stünde und nicht 106 107 108 109
Ebd., S. 219 (399d). Ebd., S. 223 (401d). Ebd., S. 225 (401e). Aristoteles: Politik, übersetzt von Rolfes, Eugen. In: ders.: Aristoteles philosophische Schriften 4. Hamburg (Felix Meiner) 1995, S. 290 (1339b). 110 Ebd., S. 297 (1341b).
Aristoteles. Zwischen Banausentum und ethischer Erziehung/.
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die Muße. Der eigentlichen Reflexionsarbeit, auf die es zuletzt allein ankommt, täte dies Abbruch. Aristoteles betont, dass das tätige Musizieren, wenn schon dann in der Jugend zu lernen sei. In späteren Jahren soll man »sich mit der in der Jugend erworbenen Fähigkeit begnügen, das Schöne zu beurteilen und sich auf richtige Weise zu erfreuen.«111 Auch Aristoteles weiß wie Platon um sittlich wirkende und weniger sittlich wirkende Instrumente. Flöte und Zither scheiden bei Aristoteles aus, sie erscheinen völlig ungeeignet zur sittlichen Bildung. Sie wären zu stimulierend oder aber auch zu schwer zu erlernen. Es bleiben nur »diejenigen, die geeignet sind, gute Schüler der Musik oder der anderen Disziplinen zu bilden.«112 Der große Philosoph widmet sich endlich auch den Musiken selbst, den Melodien, Tonarten und Taktmaßen und deren unterschiedlichen sittlichen Prägungen. »Dagegen sind in den Melodien an sich schon Nachahmungen ethischer Vorgange enthalten, wie es jedem einleuchten muß. Denn die Natur der einzelnen Tonarten ist von vornherein so verschieden, daß der Hörer bei jeder von ihnen anders und nicht in gleicher Weise gestimmt wird, sondern bei einigen, wie der sogenannten mixolydischen, mehr traurig und gedrückt, bei anderen, wie den ausgelassenen, mehr leichtsinnig, während eine andere vorzugsweise in eine mittlere, gefaßte Stimmung versetzt, was wohl von allen Tonarten allein die dorische tut, wogegen die phrygische zur Begeisterung hinreißt. So urteilen die Schriftsteller, die über diesen Zweig der Erziehung philosophiert haben, mit Recht. Was sie an Gründen für sich anführen, dafür können sie die Erfahrung selbst zur Zeugin nehmen. Denn mit den verschiedenen Taktarten ist es ebenso. Die einen haben einen ruhigeren Charakter, die anderen einen bewegten, und bei diesen ist wieder die Bewegung bald plumper, bald vornehmer.«113
Musik verführt leicht zum Genuss und zuletzt zum Banausentum, so ein weit verbreiteter Vorwurf, dem sich Aristoteles graduell nur entgegenstellt,114 da auch er einräumt, »daß gewisse Arten Musik zu betreiben die beregte nachteilige Wirkung tatsächlich haben.«115 Bei Berücksichtigung aber der von Aristoteles gemachten Einschränkungen zur Wahl der Melodien und Zeitmaße als auch der Instrumente sowie einem kontrollierten Gebrauch gleichwohl eignet Musik sich weniger zum reinen Vergnügen denn mehr zur sittlichen Erziehung. Die Gefahr zum Banausentum scheint gebannt. Dann eignet sie sich als »Bildungsmittel«, das die Muße zentral setzt und nicht die Arbeit oder das Vergnügen. »Die Muße
111 112 113 114 115
Ebd., S. 294 (1340b). Ebd., S. 295 (1341a). Ebd., S. 293 (1340a/b). Vgl. Ebd., S. 294f. (1340b). Ebd., S. 295 (1341a).
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dagegen scheint Lust, wahres Glück seliges Leben in sich selbst zu tragen. Das ist aber nicht der Anteil derer, die arbeiten, sondern derer, die feiern.«116 Die Musik, so schließt Aristoteles in Abgrenzung zu Nützlichkeitserwägungen und anderen Disziplinen, ist »für edle Geistesbefriedigung in der Muße bestimmt […], auf die man sie auch von den Alten bezogen sieht.«117 Die Musik vermag sodann als Bildungsmittel dienlich sein und fähig, »dem Gemüte eine bestimmte sittliche Beschaffenheit zu geben.«118
Winckelmann. Edel, still und eine große gesetzte Seele/. Von den beiden philosophischen Giganten aus entwirft sich eine lange Ahnengalerie mit Traktaten zur ethischen Gesinnung von Kunst und Musik. Eine besondere Rolle in dieser Ahnengalerie spielt ganz fraglos Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) und dessen Kunstauffassung im Kontext seiner bedingungslosen Griechenverehrung. Manifestiert zeigt sich diese in Winckelmanns Betrachtung der Laokoon-Gruppe und dem Satz: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.«119
Und Winckelmann führt sodann am Beispiel der Laokoon-Gruppe diesen Gedanken exemplarisch aus. »Je ruhiger der Stand des Cörpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Character der Seele zu schildern: in allen Stellungen, die von dem Stand der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele nicht in dem Zustand, der ihr der eigentlichste ist, sondern in einem gewaltsamen und erzwungenen Zustand. Kentlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist sie in dem Stand der Einheit, in dem Stand der Ruhe.«120
116 117 118 119
Ebd., S. 285 (1337b). Ebd., S. 286 (1338a). Ebd., S. 293 (1340b). Winckelmann, Johann Joachim: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. Stuttgart (Reclam) 2013, S. 27. 120 Ebd., S. 29.
Goethe, Schiller. Das klassische Ideal und die ästhetische Erziehung/.
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Goethe, Schiller. Das klassische Ideal und die ästhetische Erziehung/. Jene Beschreibungen, in denen – von heutiger Warte aus gesehen – mehr Poesie denn Analyse zu verorten ist, machten einen großen Eindruck, mögen sie Goethe, Herder, Schlegel, Lessing oder auch bspw. Hegel heißen. Winckelmann z. B. verbindet Ethik und Ästhetik, indem er die Formvollendung antiker Skulpturen, deren Schönheit, an die Menschenbildung koppelt. Indem Winckelmann eine »edle Einfalt und eine stille Größe« in den griechischen Plastiken ausmacht, in denen sich Seelenzustände ausdrückten, spiegelt sich eben in der harmonischen Gestaltung die »schöne« oder besser jene schon erwähnte »große und gesetzte Seele«. Mit dem Aufheben von Gegensätzen im harmonischen Ganzen eines anzustrebenden Ideals nach Vollkommenheit wird im sogenannten klassischen Denken charakterliche Menschenbildung anzustreben gesucht. Der sinnliche Trieb und die Gesetze der Vernunft sollen in Harmonie zusammengeführt und das reale »Sein« (Wirklichkeit) am »Sollen« (Wahrheit) ausgerichtet werden. Winckelmanns Vorstellungen von der »edlen Einfalt und stillen Größe« der griechischen Plastiken stehen hier Pate. Nicht von ungefähr soll der Verbund von Sein und Sollen sich vollendet im Kunstwerk ausdrücken, da dem Menschen dies selber möglich zu verwirklichen scheint. Goethe hat diese veränderte, klassisch genannte Kunstauffassung in seinem Aufsatz zu Winckelmann eindrucksvoll beschrieben. »Der Mensch vermag gar manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. […] Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt – dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.«121
Die menschlichen Eigenschaften, harmonisch verbunden, sehen dann das Vollkommene. Das Ergebnis und »das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch.«122 Die Problematik erweist sich darin, dass die Natur den schönen Menschen in seiner Vollkommenheit »nur selten hervorbringen [kann], weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und selbst 121 Goethe, Johann Wolfgang von: Winckelmann. In: ders.: Werke. Bd. 12. Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen. Hamburger Ausgabe. München (dtv) 1998, S. 98. 122 Ebd., S. 102.
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ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommenen zu verweilen und dem Hervorgebrachten Schönen eine Dauer zu geben.«123 So ist es denn nur ein »Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.«124 Hier nun ist es dem Kunstwerk gegeben, dem flüchtigen Augenblick Dauer zu verleihen, wobei der Mensch als »Gipfel der Natur« das Naturwerk darin übersteigt. »Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, […]. Ist es einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung«.125
Endlich ist der vormalige unzulängliche Augenblick zur Dauer und Ewigkeit erhoben und sind die Vermögen in Einklang gebracht. »[I]ndem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst«.126 Der Mensch erweist sich als göttergleich, erhält götterähnlichen Status. »Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben.«127 Im harmonischen Kunstwerk verwirklicht sich der Mensch, der Augenblick ist in der Dauer aufgehoben, die allgemeine Regel mit dem Individuellen versöhnt. Die Rezeption am so Geschaffenen vermag positiv Einfluss nehmen auf den Menschengeist. Bei Schiller und dessen »Ästhetischer Erziehung« steht ganz allgemein die Kunst im Zentrum, an der der Mensch sich bilden möge. Im Schönen bzw. in der schönen Kunst sind die Vernunft und das Sinnliche harmonisch zusammengeführt. Die Veredelung des Menschen, die Schiller vorschwebte, würde – wo der Mensch Anteil nähme an den im Schönen verorteten Werten – vollzogen. Hier steht Schiller in der Tradition der Humanisten. »Nach Ansicht der Humanisten nämlich führten eine an der antiken Literatur geschulte Sprache und ein eleganter Stil in Wort und Schrift unwillkürlich zu einer moralisch-praktischen Veredelung des Individuums. Das Schöne war ihnen zugleich das Gute.«128 Durch Schillers Ideenkonstrukt hindurch ist auch im besonderen Maße Kant und dessen »Kritik der Urteilskraft« zu vernehmen, welcher der Frage nachging, wie aus dem Verbund von Verstand und Einbildungskraft ästhetische Erfahrung möglich wird und die Antwort in der »Empfindung« oder anders ausgedrückt im »interesselosen Wohlgefallen« sieht, woraus sich Autonomieästhetik und äs123 124 125 126 127 128
Ebd., S. 102f. Ebd., S. 103. Ebd. Ebd. Ebd. Maaser, Michael/Walther, Gerrit: Einleitung zu: dies. (Hg.): Bildung. Ziele und Formen. Traditionen und Systeme. Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar (Metzler) 2011, S. XII.
Goethe, Schiller. Das klassische Ideal und die ästhetische Erziehung/.
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thetische Erziehung im Sinne Schillers gleichermaßen ableiten lassen. Wie eine solche Wandlung sich im Menschen vollziehen möge, ist bei Schiller nachzulesen, der mit seiner Idee einer ästhetischen Erziehung als auch der seiner Idee folgenden Sentenz, der »Bretter, die die Welt bedeuten« der schönen Kunst zubilligte, sie könne den Menschen charakterlich bilden. Für Schiller sind bspw. die Bretter der Theaterbühne ein Ort, der zum Lernen auffordert, weil auf ihnen gezeigt wird, was im Ideal sich begeben solle und was Wertschätzungen begründet. Eine im Geist entworfene, vorgestellte Wirklichkeit wird auf der Bühne konkretisiert und im idealisierten Spiel zur Schau gestellt: Eine Welt des Scheins, die zum vorbildhaften Sein erhoben wird; sie bietet »schöne Kunst«, und als solche ist sie orientiert am Ideal. Das Ziel: des Menschen ästhetische Läuterung. »Jeder individuelle Mensch, […], trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich«.129 Das Ideal verkörpert ein allgemeines Prinzip – die Notwendigkeit –, die Lebenswirklichkeit des Menschen dagegen das Feld der Veränderung – das der Freiheit. Der Glaube an die Versöhnung zwischen (Gesetz) »Notwendigkeit/Freiheit« trägt so Schillers ästhetische Erziehung im Besonderen und im Allgemeinen insgesamt die Klassik in der Nachfolge Winckelmanns. Ein ganzes Programm zur Menschenbildung ist darin zu erkennen und eine allseits gebildete Persönlichkeit ist das Ziel. Auf diese Weise erfahren, so der Glaube, das individuelle wie auch gesellschaftliche Sein gleichermaßen ihre Berücksichtigung. Die harmonische und sittliche Vervollkommnung sollen das Menschenwesen und die Gesellschaft läutern, keine Revolutionen. Zum harmonischen Ausgleich sollen insgesamt kommen: »Verstand/Gefühl«; »Geist/Natur«; »Pflicht/Neigung«; »Gesellschaft/Individuum«. Geleitet wird Schiller bei der Ausformulierung seiner ästhetischen Erziehung von seinen Erfahrungen mit der Französischen Revolution, deren naturhafte Gewalttätigkeit er ablehnt, dabei aber die Reformierung des Staates, in dem das einzelne Individuum sich wiederzufinden vermag, grundsätzlich anerkennt. Während er in den revolutionären Umwälzungen den sinnlichen Trieb als rohe Natur walten sieht, ist der überkommene absolutistische Staat ein durch Regelungen überformter Staat, in dem alles seine vermeintliche, vorgegebene Ordnung hat, der individuelle Freiheiten nicht zulässt. In einem neuen Staat, der Schiller vorschwebt, soll die Vielheit der Individuen zur Einheit zusammengeführt werden, ohne dass das Individuum wie im Absolutismus unterdrückt wird. Schiller hegt die Vorstellung, »daß das Individuum Staat wird, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt«130. Eine »jede gründliche Staatsverbesserung [muss] mit Veredelung des Charakters beginnen«, so 129 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart (Reclam) 1985, S. 11. 130 Ebd., S. 12.
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Schiller, »diese aber [muss] an dem Schönen und Erhabenen sich aufrichten«.131 Er entwirft dabei die Vorstellung, die Vermögen von Vernunft und Sinnlichkeit in der schönen Kunst als lebende Gestalt aufgehen zu lassen, um einer neuen Menschwerdung zu dienen. Kunst war Leben, da die Natur der Sinne daran Gefallen fanden, und Kunst war Gestalt, da die Vernunft sich gleichsam in der Kunst aufgehoben sah. Beides im Gleichklang war – wie Schiller befand – nur im Schönen zu finden. In dem Ausgleich der Differenzen ist die Einmaligkeit (von Werken) dann begründet, denn im Ausgleich liegt die mit sich selbst im Einklang stehende Identität, und damit ist der Zugang zur Wahrheit begründet. So soll der Mensch an der Kunst, die sich auf ein »wahres« Zentrum hin bewegt, sich bilden und genesen. Die schöne Kunst und so auch das Theaterspiel sind daher für Schiller die Mittel, damit das Allgemeine (ausgedrückt im Staat) und das Besondere (Individuum) gleichermaßen Berücksichtigung erfahren. In der Kunst verbinden sich vernünftige Form und naturgegebene Sinnlichkeit. »Im Kunstwerk als der ins Werk gesetzten Schönheit […] erfährt sich der Mensch als überlegenes Wesen, als ein Wesen, das Ideale realisieren und dadurch als Künstler wirken kann […] wie als Wesen, das sich auch rezeptiv aus den Fesseln der Natur zu befreien weiß.«132
131 Schiller, Friedrich: Briefe an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg, in: Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Dann, Otto u. a. (Frankfurter Ausgabe), Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. v. Janz, Rolf-Peter, unter Mitarbeit v. Brittnacher, Hans Richard u. a., Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1992, S. 491–555. Brief v. 13. 07. 1793. 132 Jung, Werner : Von der Mimesis zur Simulation. Hamburg (Junius) 1995, S. 74.
Humboldt. Das von Göttlichkeit durchstrahlte Griechentum/.
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Schiller spricht von der »Einheit von Geist und Natur«. Bildung ist mit Blick auf die angestrebte Selbstvervollkommnung von einem Telos beseelt, auf das das Individuum – und möglichst alle Individuen – sich zu verwirklichen hat/haben. Die schöne, in ihren Proportionen ausgewogene Kunst ist dem Menschen Widerschein, um Mensch zu werden. »[D]ie Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen.«133 Zuwendung zur schönen Kunst in der »uninteressierten freien Schätzung des reinen Scheins«134 ist die eigentliche Erhebung des Tieres zum Menschen, denn der »tierische Kreis«, in dem jene gefangen, ist »aufgetan, und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet.«135 Kunst dient der Menschwerdung durch Menschenbildung, ist ethisch, humanistisch bestimmt.
Humboldt. Das von Göttlichkeit durchstrahlte Griechentum/. Wilhelm von Humboldt endlich zeigt sich von ähnlichen Vorstellungen infiltriert. Er blickt auf eine lange Ideentradition zurück, als er seine Gedanken zur (neu-)humanistischen Bildung formuliert. Bildung grenzt sich ab von der Ausbildung und weist das Nützlichkeitsdenken zurück. Bildung solle dem Menschen dienen, zu seiner geistigen Entfaltung beitragen, ihn befähigen zu einem Leben in Freiheit und Mündigkeit. Bildung wird dabei als Selbstbildung verstanden, die zur Ausprägung einer individuellen Persönlichkeit führt und ist Folge eines dem Menschen innewohnenden »Bildungstriebes«, ein Begriff, den Wilhelm von Humboldt von seinem Lehrer, dem Naturforscher Blumenbach übernommen hat. Bei Blumenbach sind die Begriffe »Bildung« und »Bildungstrieb« biologisch gewendet. Jeder lebende Organismus trägt in sich den Trieb zur Entwicklung und Selbst-Erhaltung.136 Es sind biologische Kräfte, die schöpferisch schaffend wirken. Humboldt überträgt diese Vorstellungen von Blumenbach auf den menschlich-geistigen Bereich und dessen Entfaltung, zu der es den Menschen treibt. Abstand nehmend von einem utilitaristischen Ausbildungsprinzip soll eine zweckfreie Bildung zur sittlichen und ästhetischen Persönlichkeitsreifung beitragen. Wer aber lernt, sich auf etwas zu verstehen, hat keine Chance zur Selbstvervollkommnung oder sittlichen Läuterung. Die Disposition zum Individuum soll nach Humboldt seine Entfaltung finden im Allgemeinen einer Bildung. Auch Humboldt, der ähnlich wie Schiller an Kant 133 134 135 136
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, a. a. O., S. 41. Ebd., S. 119. Ebd., S. 119. Vgl. Geier, Manfred: Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 2012, S. 344.
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anschließt, glaubt an eine Persönlichkeitsbildung durch Kunst, an den Selbstwert von Kunst. »Ausbildung und Verfeinerung muss das bloss sinnliche Gefühl erhalten durch das Aesthetische. Hier beginnt das Gebiet der Kunst, und ihr Einfluss auf Bildung und Moralität. Nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung auf den ganzen Charakter, als der Ausdruck des Unsinnlichen im Sinnlichen, des Erhabenen, des Einfachen, des Schönen in allen Produkten der Kunst, die uns umgeben.«137
Diese Entwicklung aller im Menschen veranlagten Kräfte ist sodann vorzugsweise am vorbildhaft erachteten Griechentum zu fördern. Dort glaubt Humboldt, unerwünschte griechische Lebensweisen ausblendend, eine Gesellschaft vorzufinden, in der ein Ideal sich zeigt. »Wir haben in den Griechen eine Nation vor uns, unter deren glücklichen Händen alles, was, unserm innigsten Gefühl nach, das höchste und reichste Menschendaseyn bewahrt, schon zu letzter Vollendung gereift war ; wir sehen auf sie, wie auf einen aus edlerem und reinerem Stoffe geformten Menschenstamm, […]. Ihre Kenntniss ist uns nicht bloss angenehm nützlich und nothwendig nur in ihr finden wir das Ideal dessen was wir selbst seyn und hervorbringen möchten; wenn jeder andre Theil der Geschichte uns mit menschlicher Klugheit und menschlicher Erfahrung bereichert so schöpfen wir aus der Betrachtung der Griechen etwas mehr als Irdisches ja beinah Göttliches. […] Jener Hauch des Alterthums ist also Hauch einer hellen von Göttlichkeit – denn was, wenn nicht die Idee, ist göttlich? – durchstralten Menschheit«.138
Humboldt vertritt diese Haltung auch deshalb, weil er die Menschheit in ihrer Entwicklung mehr absteigend sieht. Im Anfang liegt daher das höchstentwickelte Menschengeschlecht sowie eigentliche Vorbild. »Dieser Anfang nun ist auch seine Vollendung; von da geht es unmittelbar in blosser Entwickelung des Vorhandenen, und mit Kraftabnahme, rückwärts.«139 Im Gegensatz zu anderen Modellen, die ihr Ziel in einer teleologisch gewandten fernen Endzeit liegen sehen, liegt bei Humboldt das Ideal in einer fernen Vergangenheit, man könnte auch sagen: im RESET. Alles zurück auf Start. In der Wendung zurück wird die Offenbarung gesehen. Daraus leitet Humboldt einen vorbildhaften Humanismus und seine (neu-)humanistische Bildung ab. In dem Ähnlichwerden der alten Griechen, in denen Humboldt das sich verwirklichte Individuum sieht, ist der Weg zum RESET, wenn nicht schon geleistet, so doch gewiesen. Über das Studium der Literatur und des Altertums versucht Humboldt dem 137 Humboldt, Wilhelm von: Über Religion. In: ders, Werke in 5 Bänden, Bd. 1, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 12. 138 Humboldt, Wilhelm von: Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten. In: ders, Werke in 5 Bänden, Bd. 2, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 92/100. 139 Humboldt, Wilhelm von: Betrachtungen über die Weltgeschichte. In: ders: Werke in 5 Bänden, Bd. 1, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 569.
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vorbildhaften ursprünglichen Sein und der Selbstentfaltung näherzukommen. An den vorhandenen Überresten wäre im günstigsten Fall »der Abdruk ihres Geistes und ihres Charakters« abzulesen.140 Zwar sieht Humboldt solche Spuren ganz allgemein in den Künsten, z. B. in Plastiken. Aber eine sieht er ganz prominent davon abgehoben: »Die beträchtlichsten sind die litterarischen.«141 Diese zum Ideal erhobene Welt kann so durch Rezeption der Geisteswerke und insbesondere der literarischen erfahrbar werden. Um den Charakter des Menschen und hier dem einer als vorbildhaft ausgezeichneten Nation näherzukommen, »muss [der Auffassende; Anm. N.S.] sich immer dem auf gewisse Weise ähnlich machen, das er auffassen will.«142 Es ist dem Mensch nach Humboldt dort möglich, wo alle dessen Kräfte vereint und gleichmäßig sich einbringen, »eine Uebung, die den Menschen so vorzüglich bildet.«143 Genauer formuliert dies Humboldt in einem Brief an seinen Freund und Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf im Jahre 1792: »Es gibt, außer allen einzelnen Studien und Ausbildungen des Menschen, noch eine ganz eigene, welche gleichsam den ganzen Menschen zusammenknüpft, ihn nicht nur fähiger, stärker, besser an dieser und jener Seite, sondern überhaupt zum größeren und edleren Menschen macht, wozu zugleich Stärke der intellektuellen, Güte der moralischen und Reizbarkeit und Empfänglichkeit der ästhetischen Fähigkeiten gehört.«144
Durch das Studium und dem sich Ähnlichmachen mit dem, was man studiert, vollzieht sich so eine zu wünschende Charakterbildung. So tragen das Studium und die Kenntnis des Menschen im Altertum – neben anderen Vorteilen »ganz besonders zur Bildung des schönen menschlichen Charakters« bei.145 Durch das Studium der Griechen ist gleichsam Ursprüngliches und im Ursprünglichen eine vorbildhafte Norm aufschließbar. Denn will man wissen, was den Menschen in seinem Menschsein (intellektuell, moralisch, ästhetisch) ausmacht, zeigt der Blick zurück auf ebendiesen Ursprung, wo eine »anfangende Nation«146, wie sie sich in den Griechen verkörperte, jene zu bildenden Qualitäten aufzeigte. Diese unverstellte Zusammenschau intellektueller, moralischer und ästheti140 Humboldt, Wilhelm: Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondere. In: ders, Werke in 5 Bänden, Bd. 2, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 8. 141 Ebd., S. 9. 142 Ebd., S. 7. 143 Ebd. 144 Humboldt an Friedrich August Wolf. Brief vom 01. 12. 1792. In: Freese, Rudolf (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Sein Leben und Wirken, dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit. Berlin (Verlag der Nation) 1953, S. 170. 145 Humboldt, Wilhelm an Friedrich August Wolf. Brief vom 23. 01. 1793. In: ders.: Briefe. München (Carl Hanser) 1952, S. 75f. 146 Humboldt, Wilhelm von: Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondere, a. a. O., S. 20.
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scher Fähigkeiten, die ganzheitlich zusammengeführt und um ihretwillen ausgebildet werden, ist dann Humanität geheißen und daran zu bilden. Nicht ein Nützlichkeitsdenken in Hinblick auf einen Beruf, sondern die Bildung um der Bildung in Hinblick auf den Menschen evoziert den humanen Wert. Selbstbildung bedarf eines Gegenstandes, erfolgt so an Schriftzeugnissen (vornehmlich griechischer Provenienz), aber ebenso in Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Erzeugnissen (als auch mit wissenschaftlichen Problemstellungen in Forschung und Lehre). Zuletzt führt dies in der Verengung zur Auseinandersetzung mit Kunst generell und so auch – jenseits aller Griechen – mit der Musik, bspw. in der Schrift Über geistliche Musik, wo Humboldt kritisiert, »dass der Einfluss zu wenig benutzt würde, welchen die Musik auf den Charakter und die Bildung einer Nation ausüben kann«.147 Der Mensch in seiner Unabhängigkeit und Autonomie steht im Mittelpunkt einer (neu-)humanistischen Bildung. Die nach Humboldt inneren »Kräfte« des Menschen – wie Verstand, Einbildungskraft oder die sinnliche Anschauung – treten in Auseinandersetzung mit der äußeren Welt über einen Gegenstand. »Mit allen diesen, wie mit ebensoviel verschiedenen Werkzeugen, muss er die Natur aufzufassen versuchen, nicht sowohl um sie von allen Seiten kennen zu lernen, als vielmehr um durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene inwohnende Kraft zu stärken, von der sie nur anders und anders gestaltete Wirkungen sind«.148
Der Mensch tritt ein in den Zustand der Entfremdung, um nach partikularer Aneignung des Gegenstandes zu sich selbst wieder zu gelangen und mit neuem Blick die Welt zu sehen. Es besteht so eine Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt. Humboldt schreibt dazu, »dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohlthätige Wärme in sein Innres zurückstrale. Zu dieser Absicht aber muss er die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen.«149
Gerade nun die Kunst und wesentlich also die schöne Kunst führt zur Harmonisierung aller beteiligten Kräfte. Sie soll die Entwicklung geistig-seelischer Anlagen und Fähigkeiten zur intellektuellen Auseinandersetzung befördern helfen, da sie die »ungeheure Masse einzelner und abgerissener Erscheinungen in eine unge-
147 Humboldt, Wilhelm von: Über geistliche Musik. In: ders: Werke in 5 Bänden, Bd. 4, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 38. 148 Humboldt, Wilhelm von: Theorie der Bildung des Menschen. In: ders: Werke in 5 Bänden, Bd. 1, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 237. 149 Ebd. S. 237.
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trennte Einheit und in ein organisirtes Ganzes« verwandle.150 Sie würde Gesetzmäßigkeiten von Welt in sich aufnehmen und darüber hinaus zum Ideal hin transzendieren. Die Beschäftigung mit Kunst könne somit zur kulturellen und auch moralischen Selbstbildung führen. Eingebunden in das freie Spiel der Kräfte verliert – im Zuge einer kontemplativen Auseinandersetzung mit dem Schönen – die Geworfenheit des Individuums seine Bedeutsamkeit. Im Zustand eines Abstandnehmens und der Entrückung vollzieht sich schließlich Bildung. Bildung ist danach ein individueller Vorgang, schöpferische Erschließung von Welt durch Anteilnahme der inneren Kräfte am ausgesuchten vortrefflichen Angebot.
Alles nur erträumt. Fehlurteile, Missverständnisse, Fantasien/. Diesen Überlegungen und Vorstellungen ist durch die Zeit hindurch nachhaltig Referenz erwiesen worden bis in die Gegenwart hinein. An der schönen Kunst möge der Geist wachsen und sich ethisch/moralisch bilden, was noch Ende des 20. Jahrhunderts bspw. Hartmut von Hentig in seinem Buch Bildung dieselbe wie folgt umschreiben lässt: »Bildung mildert die Konflikte zwischen unseren sinnlichen und unseren sittlichen, zwischen unseren intellektuellen und unseren spirituellen Ansprüchen, sie fördert keine einseitige Genialität«.151 Insbesondere im Zeitalter der Krise der Geisteswissenschaften wird implizit oder explizit immer wieder auf Modelle wie die geschilderten Bezug genommen und herausgestellt, was verlorengeht an humanistisch geprägter, selbstgenügsamer, von allen Zwecken bereinigter Menschenbildung. Das Gedankengebäude, das so schön entworfen ist, und allenthalben von den sittlich-segenreichen Künsten spricht, ist selten auf seine empirische Relevanz befragt worden. Für Platon ist die Kithara (Zither) ein geeignetes Instrument, der sittlichen Bildung zu genügen. Aristoteles stellt diese gleich ins Abseits, wenn es darum geht, entsprechende Erziehungsziele zu erreichen. Nur »Banausen« suchen, wie Aristoteles meint, hier größere Kontaktzeiten. Man darf getrost behaupten, ohne fehlzugehen: Beiden Haltungen zum Instrument ist nicht allzu viel bzw. nicht ansatzweise Substanz abzugewinnen. Sie sind schlicht der Fantasie beider Autoren entsprungen. Die Zither wie auch andere Instrumente stehen – so ist vielmehr zu vermuten – irgendwelchen Bildungszielen ethisch-sittlicher Couleur eher vollkommen indifferent gegenüber. Kontaktzeiten mit ausgewählten Instrumenten entscheiden nicht – auf den Punkt gebracht – über gut und böse oder irgendwelche andere Charaktereigenschaften. Wieso ist 150 Humboldt, Wilhelm von: Über Goethes Hermann und Dorothea. In: ders: Werke in 5 Bänden, Bd. 2, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 140. 151 Hentig, Hartmut von: Bildung. Weinheim & Basel (Beltz) 1996, S. 39.
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nach Aristoteles die Flöte oder auch die Zither ein Instrument, das der Bildung entgegensteht und bei Platon wird die Zither (Kithara) prominent hervorgehoben? Sind die angeführten Gründe denn tatsächlich ansatzweise einsichtig bzw. überhaupt auch nur graduell diskussionswürdig? Als zeithistorische Dokumente sind sie interessant, auch wichtig (ganz ohne Frage), inhaltlich, bezogen auf Charakterprägung oder sittlicher Erziehung, völlig irrelevant. Den Autoren der Vergangenheit sind ihre Vorstellungen nicht vorzuwerfen, bei den nachgeborenen Apologeten wundert es allerdings schon, dass die Gedankengebäude oft unkritisch fortgetragen werden. Wie kommt weiterhin ein Platon dazu, bestimmte Tonarten für charakterlich förderlich zu beschreiben, andere aber nicht? Die Argumente, die er hierzu anführt, beruhen auf maximaler Spekulation. Genauso gut wäre auch anders herum zu argumentieren gewesen. Was bleibt von solchen argumentativen Wolkentürmen und vom Gedanken einer sittlichen Kunst, wenn sie in praktisch nichts als haltlosen Spekulationen gründen? Wie kann es weiter sein, dass ein Winckelmann noch heute zum Teil zitierfähig in Sachen Kunst ist, wenn man weiß, dass seine Annahmen auf falschen Prämissen gründen? An den Griechen soll die Kunst von heute ein Beispiel sich nehmen. Erinnern wir uns nur an seine unendlich oft zitierte »edle Einfalt« und »stille Größe«, die er in griechischer Kunst ausgemacht haben will, jene berühmten Motive, die in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst allenthalben neu bemüht werden und in der Literatur so gern zitiert wurden, im Grunde noch werden. »Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten«.152 In den Kunstwerken der Griechen ist angelegt und ausgeführt das Idealische aller Kunst. »Die Kenner und Nachahmer der Griechischen Wercke finden in ihren Meister-Stücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur ; das ist, gewisse Idealische Schönheiten derselben«.153 Auch hier wird nunmehr die Kunst von früher zum Ideal genommen, wird zuletzt zum Vorbild für das, was werden solle. Das, was längst zu Staub verfallen und bestenfalls in Ruinen erhalten, wird von Winckelmann gedanklich rekonstruiert und zum erstrebenwerten Endzustand erklärt. Und entscheidend dabei ist, dass »ein schöner Körper desto schöner sein [wird], je weißer er ist«.154 Noch heute wird seine Ästhetik zitiert, um vom Griechentum und dessen Kunst ein Bild sich zu machen, was seltsam ist, denn die so schön beschriebenen griechischen Skulpturen waren einst bunt wie Comic-Hefte, weder still noch edel 152 Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, a. a. O., S. 10. 153 Ebd., S. 11. 154 Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums. Berlin 2003. Vers. 1.1, eBook-Edition, S. 129.
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waren sie, sondern grell und schreiend. »Knallbunt, heftig« waren sie.155 Im Verlaufe ihres Verfalls sind Farbpigmente lediglich verblasst und übrig blieb der blasse Untergrund. Damit findet das Winckelmann-Universum sein bonbonfarbenes Ende. Nur die Farben – so könnte man aufs Erste meinen – waren also verblichen, und Winckelmann bestaunte eine marmor- und gipsweiße Kunst und konnte ästhetisch schön beschreiben, was nie gewesen ist: Edle Einfalt. Stille Größe. Winckelmann ist einem verfallsgenerierten Irrtum erlegen. Dass die Skulpturen der Antike vielfarbig gewesen sind, hat man auch schon im 19. Jahrhundert wissen können und zuweilen auch gewusst, als William Henry Leeds z. B. im Foreign Quaterly Review (1836/1837) schrieb: »Ein solchermaßen verschönerter dorischer Bau muss nicht einem mit Blumen bekränzten Herakles, sondern vielmehr einem von Kopf bis Fuß tätowierten Herakles geglichen haben«. Er stünde, so fährt er fort, »diametral entgegengesetzt der ›edlen Einfalt‹ der klassischen Architektur.«156 Da die so schön ersonnene Theorie der polychromen griechischen Kunst entgegenstand, wurde – wie so oft in der (Kunst-)Geschichtsschreibung – nach dem Muster verfahren: Was nicht passt, wird passend gemacht. Oder, abermals in den Worten Leeds, es gelte »ganz davor zu fliehen, das Thema zu beseitigen und wie bisher fortzufahren. Vielleicht ist dies die beste Lösung, da sie uns vor einer großen Konfusion bewahren und vermeiden kann, unsere so angenehm geordneten Kenntnisse durcheinander zu bringen.«157 Salvatore Settis kommentiert diese Zeilen mit den Worten: »Leeds Voraussage wurde wahr, die Beseitigung des Problems war die am häufigsten angewandte Lösung.«158 Alle späteren, sich sukzessiv zunehmend einstellenden Funde, die die Polychromie griechischer Statuen mehr und mehr belegten, führten nicht zur grundlegenden Revision des einmal erworbenen Griechenbildes und Kunstverständnisses. »Argumentationen, archäologische Beweise und Rekonstruktionsversuche mit antiken und modernen Beispielen reichten jedoch nicht aus, um einen außergewöhnlichen kulturellen Widerstand zu überwinden, der zwar widerstrebend die Verbreitung der Polychromie in der klassischen Kunst zugibt, ihre kognitive Wirkung jedoch ignoriert und faktisch ein Bild der antiken Kunst pflegt, das immer noch vom strahlenden Weiß des Marmors geprägt ist.«159
155 Settis, Salvatore: Schicksale der Klassik. Vom Gips zur Farbe. In: Brinkmann, Vinzenz u. a. (Hg.): Zurück zur Klassik: Ein neuer Blick auf das Alte Griechenland; Katalogbuch zur Ausstellung in Frankfurt a. M., Liebighaus Skulpturensammlung, 8.2.–26. 5. 2013. München (Hirmer-Verlag) 2013, S. 82. 156 William Henry Leeds, zit. n. ebd., S. 67. 157 Zit. n. ebd. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 68.
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Da spielt es dann – am Rande nur erwähnt – auch keine große Rolle mehr, dass Winckelmanns so schön geschriebene Kunstgeschichte nicht mal in erster Linie auf der Betrachtung verblasster Originale beruhte, sondern auf der von Kopien aus Gips. Es wäre so von Vorteil gewesen, wenn Winckelmann seine Studien zur griechischen Kunst allein an den Originalen gemacht hätte und weniger an römischen Kopien aus Bronze oder Gips. Im Grunde müsste man die Formel von Winckelmann dahingehend korrigieren, dass von der edlen Einfalt und stillen Größe gipsweißer Kopien die Rede sein müsste. So wissen wir mit Winckelmann, dass nicht Marmor oder anderer edler Stoff, sondern dass Gips (wer hätte das gedacht?) der Stoff ist, um große Kunst zu schaffen. Und er konnte zum Stoff der Stoffe werden, weil er so schön weiß ist. Den Römern, nicht den Griechen sei es gedankt und Winckelmanns Fauxpas, sich wesentlich mit römischen Kopien zu begnügen. An den Originalen hätte er wohl so manche Restfarbe entdeckt und vielleicht eine andere Formel gefunden (vielleicht die »Bonbon-Theorie«), die die Ästhetik der Kunst vielleicht ähnlich begeistert hätte, was allerdings eine andere als die klassische Kunstgeschichte hätte schreiben lassen (müssen). Diese Formel hätte dann wohl differenzierter, komplexer ausfallen müssen, um von einer farbig ausgeprägten Volkskunst, von der sich die edle stille Kunst so schön abzugrenzen verstand, sich weiterhin abzuheben. Winckelmann setzte prinzipiell auf Empirie und persönliche Anschauung und wendete sich gegen eine »verstaubte« Buchgelehrtenkultur. Insofern macht es wundern, dass Winckelmann selbst nie vor Ort die Anschauung suchte. »Warum aber suchte sich Winckelmann ausgerechnet eine Region heraus, die er nie angeschaut hat, um Anschauung als wissenschaftliche Notwendigkeit zu verkünden?«160 Ein persönlicher Besuch vor Ort hätte wohlmöglich nie den Irrtum von edler Einfalt, stiller Größe ausrufen oder vorsichtiger formulieren lassen. Das Griechenbild von Winckelmann ist eine Kopfgeburt, man könnte auch sagen, eine reine Luftnummer, die von Nachgeborenen dankbar aufgenommen wurde und die selbst dann von ihr nicht lassen konnten, als die Kopfgeburt als Kopfgeburt sich mehr und mehr herauskristallisierte. Ein ganzes vornehmes, klassizistisches Weltbild, gründend in mehr Gips als Marmor, ist darauf aufgebaut worden. Das anmutend leuchtend-strahlende Weiß, das zum Ideal hin transzendierte und sich so abhob von der farbigen »Kleckserei« einer Volkskunst, wird auf einmal überdeckt von eben jenen bunten Farbpigmenten, die der kunstphilosophischen Betrachtung nicht für Wert erachtet wurden oder bestenfalls zur Negativfolie taugten. Nähme man diesem Weltbild seinen weißen Gips und weißen Marmor, bräche das ganze vornehme Fundament weg und das Weltbild in sich in nichts zusammen. Wovon man sich so entschieden abzu160 Martus, Steffen: Die Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. Berlin (Rowohlt) 2015, S. 692.
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grenzen suchte, so auch von der Freude an der Farbe im Volkstümlichen, wird auf einmal auch im Edlen erkannt. So wird fortan eine Fiktion zur Wirklichkeit erhoben und vom wirklichen Griechentum lieber dezent der Blick abgewendet oder nicht so genau hingeschaut. Und schwärmerisch werden weiter Anmut, Würde, edle Einfalt, stille Größe (und was auch sonst an schönen poetischen Worten zu finden ist) beschworen. Da das längst vergangene Griechentum nicht zum ersonnenen Ideal vom Griechen passt, wird man selbst zum Künstler : Man bastelt sich seinen eigenen wohlgefälligen Griechen und nimmt sich dann ein Vorbild daran. Auch andere Autoren – von Platon, Aristoteles, Schiller, Goethe, Humboldt ist die Rede gewesen, weitere ließen sich ergänzen … – haben sich ihre Ansichten, manchmal am Schreibtisch, im philosophischen (Selbst-)Gespräch oder wo auch immer, schlicht und ergreifend ausgedacht, und Generationen späterer Rezipienten taten und tun zuweilen immer noch so, als ob dem so fantasiereich Ausgedachten ein wirkliches Fundament zugrunde läge. Wie kann es sein, dass Humboldts sogenannte Studien zum Griechentum z. T. als solche selbst heute noch so benannt werden, obwohl sich darin nicht vielmehr als eine haltlose Schwärmerei ausdrückte, wo von »Vollendung« oder von einer von »Göttlichkeit […] durchstralten Menschheit« die Rede ist? Aus solchen Schwärmereien leitet Humboldt (s)einen vorbildhaften Humanismus und seine (neu-)humanistische Bildung ab. Wilhelm von Humboldt schreibt seine hingebungsvollen Zeilen im frühen 19. Jahrhundert. Im selben Jahrhundert, nur wenige Jahre später, schreibt auch der große Historiker Jacob Burckhardt über das Griechentum und findet so ganz andere Worte. Die nach Humboldt angeblich von Göttlichkeit durchstrahlte Menschheit wird von Burckhardt als grausam, mörderisch beschrieben, die besiegte Gegner ohne Gnade tötete und erbeutete Frauen und Kinder zum Sklaventum verdingte. Sofern sie dazu nicht taugten oder nicht zu verkaufen waren, wurden auch diese gerichtet. Gnade ließ man bestenfalls aus Selbstschutz walten aus Angst vor Rache. Von einem humanen Wesen kann keine Rede sein, von Grausamkeit viel eher. Das Bild vom Griechen, umwölkt von Edelmut und Sittlichkeit, benennt denn Jacob Burckhardt schon im 19. Jahrhundert ganz unmissverständlich als Fälschung: »Eine der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen, und um so unwiderstehlicher, je unschuldiger und überzeugter sie auftrat.«161 So schreibt Burckhardt im 19. Jahrhundert. Ich möchte nicht darüber spekulieren, was Humboldt davon alles hätte wissen können/müssen, zumindest die Fakten dazu lagen auch zu seiner Zeit allgemein zugänglich vor. Aber nachfolgende Generationen, die 161 Burckhardt, Jacob (2012): Griechische Kulturgeschichte, Bd. 2. Altenmünster : Jazzybee Verlag (ebook). Pos. 9674.
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ungehemmt der Begeisterung eines Humboldt oder auch Schiller folgten, hätten wissen können, ja müssen, es sei denn, sie verdrängten oder lasen lieber die schöngeistige Literatur von Humboldt wie auch Schiller, die sich ihren Griechen auf dem Blatt Papier erträumten und sich dabei von eigener Emphase und vom eigenen Schreibstrom fortreißen ließen. Zugleich als schöner Nebeneffekt baut man sich selbst ein Denkmal dazu. Henning Ritter, der auf die Diskrepanz zwischen idealistischer Ergriffenheit und Historie aufmerksam macht, kommentiert: »All diese mehr oder weniger bekannten Tatsachen haben das Bild der Griechen nicht trüben können. Ein Vorhang scheint noch immer zwischen das ideale und das wirkliche Leben der Griechen gezogen«.162 Man kann auch sagen, der Traum, das irrlichternde Phantasma, wird zum wahren Leben erhoben, und darauf baut man ein jeglicher Grundlage entbehrendes Erfahrungs- und Bildungskonzept. So schreiben Künstler, Komponisten, Interpreten, Bildungsbewusste bis hin zum (vorgeblich) Wissenschaft Treibenden der Kunst(-Musik) teils immer noch ethische, sittliche Eigenschaften zu, die bei rechtem Konsum zum humanen Menschendasein führten. Von eigener Emphase fortgetrieben, wird das keinen Widerspruch duldende selbstgefällige Pathos bemüht, bis die Kunst erstrahlt im aus Worten ersonnenen Götterhimmel. Und wahrlich ursprünglich und rein sozusagen ist nur vom Griechentum selbst zu lernen. Noch die Gegenwart sieht Autoren (von Hartmut von Hentig ist schon die Rede gewesen), die so der (neu-)humanistischen Bildung nachhängen und diesen Gedanken und weitere unkommentiert, ja akklamierend als in sich begründet sehen. »Humanistische Bildung«, so Konrad Paul Liessmann, »bedeutete allerdings nicht eine allgemeine oder unverbindliche Ausrichtung an den Ideen der Humanität, der Menschlichkeit oder der Menschenwürde. Diese Vorstellungen sind für den Neuhumanismus streng gebunden an das Studium der antiken Sprachen, namentlich des Altgriechischen, und der antiken Kultur.«163
Und Liessmann führt hierzu aus einmal mehr die begründenden Worte von Humboldt, der beim Griechen den »ursprüngliche[n] Charakter der Menschheit überhaupt« gesehen haben will.164 Ein solches Studium, führt Liessmann mit Humboldt fort, würde in »jedem Zeitalter allgemein heilsam auf die menschliche Bildung wirken«.165 In diesen und weiteren wörtlichen Ausführungen von Humboldt wähnt Liessmann »keine kritiklose[…], idealistische[…] Verehrung der Alten«. Mitnichten – im Gegenteil: Liessmann wähnt, wie er sagt, »gute[…] 162 163 164 165
Ritter, Henning: Notizhefte. Berlin (Berlin Verlag) 52010, S. 265f. Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung. Wien (Paul Zsolnay) 2006, S. 57. Humboldt, zit. n. ebd. Humboldt, zit. n. ebd.
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Gründe« darin.166 Noch heute, wie am Beispiel dieses und zuletzt auch am Beispiel Rinderle vom Beginn dieses Kapitels zu sehen gewesen ist, werden die Schriften von Platon, Humboldt & Co weiter so gelesen, als ob ihnen ein irgendwie gearteter empirischer Gehalt innewohnte, wird den Schwärmereien Humboldt substanzielles Gewicht beigemessen und weiterfantasiert. Die »stille Größe«, geschaffen aus sich lautstark und manchmal gar nicht sich sittsam mitteilenden, mehr bedrohlich aufbauenden Wortgebirgen, die jedes »aber« unverzüglich lärmend, auch beleidigt pikiert – indigniert zu ersticken suchen, ist der reinen Fantasie geschuldet und sonst nichts. Die Formel vom ethischen Gehalt von (Musik-)Kunst ist ein reines Luftschloss nur. Man könnte auch sagen: Alle schönen Worte und allen Lärm, der darum gemacht wird, beiseite schiebend, offenbart sich wie im Märchen die betrübliche Einsicht: Der Kaiser ist ja nackt.
166 Ebd.
Bildungspraxen »Dass die Wirklichkeit vom Ideal beträchtlich abweichen konnte, zeigten zahlreich verbliebene Erscheinungsformen des Pennalismus, wie er im 16. und 17. Jahrhundert üblich gewesen war. Immerhin reichte er auch im 19. Jahrhundert noch von flegelhaftem Schülerbenehmen des neuen, ›seinem‹ Burschen ›untergeordneten‹ Fuchses über ausgemachtes Rabaukentum der akademischen Jugend mit ihren exzessiven Gelagen bis zu Schlägereien und blutigen Duellen.«167 »Durch die Unterstützung der nationalsozialistischen Herrschaft und durch Verwicklung in nationalsozialistische Verbrechen hatten sich große Teile des deutschen Bürgertums tief diskreditiert.«168
Das Zauberwort »Bildung« ist im 19. Jahrhundert das Schlagwort, um eine bestmögliche Entfaltung individueller Anlagen zu gewährleisten. Nützlichkeitserwägungen sind fortan nicht nur nicht gewünscht, sondern werden geradezu für schädlich erachtet, um das Wechselspiel zwischen Bildungsgut und Individuum bestmöglich in Gang zu setzen. Zweckfrei muss das Bildungsgut sein, dem Nützlichkeitsgedanken eben fernstehend. Je weniger Nutzen demnach ein ästhetisches Bildungsgut hat (man könnte auch sagen: je nutzloser es ist), umso besser kann es der charakterlichen Läuterung und Förderung der Anlagen und Fähigkeiten dienen. Zumindest hat sich das Wilhelm von Humboldt so in etwa vorgestellt. Eine so von vordergründigen Zwecken bereinigte Bildung wird im 19. Jahrhundert auf den Weg gebracht, allerdings weniger aus humaner Gesinnung um des Menschen willen, sondern um machtpolitischen Interessen in Zukunft sowohl politisch als auch militärisch besser Ausdruck verleihen zu können als bis dahin. Schon Friedrich der Große beklagt im 18. Jahrhundert die »mangelnde Bildung der adeligen Offiziere seines Heeres«.169 Aber erst Napoleons Sieg 1806 167 Koch, Hans-Albrecht: Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution. Darmstadt (Wiss. Buchgesel.) 2008, S. 145. 168 Kocka, Jürgen: Bildung und Bildungsbürgertum. In: Schlüter, Andreas /Strohschneider, Peter (Hg.): Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert. In: Berlin (Berlin Verlag) 22009, S. 139. 169 Frühwald, Wolfgang: Gelehrte Bildung. In: Maaser, Michael/Walther, Gerrit (Hg.): Bildung. Ziele und Formen. Traditionen und Systeme. Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar (Metzler) 2011, S. 45.
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über Preußen und Österreich veranlasst den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III., die geistigen und schöpferischen Kräfte des Landes zukünftig zu stärken, wo die körperlichen versagt hatten und auch nicht mehr vorhanden waren. »Der Staat muss durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren hat«, so die häufig zitierte Sentenz von Friedrich Wilhelm III., von der gleichwohl nicht zu wissen ist, ob er sie je gesagt habe.170 Anderer Qualitäten hat es nun bedurft: Er setzt – u. a. mithilfe des zunächst unwilligen Wilhelm von Humboldt – ein umfangreiches Bildungsprogramm in Gang. Nicht die Abstammung, sondern geistige Fähigkeiten sollen – so zumindest die Idee – bei der Besetzung von Ämtern und militärischen Posten im Vordergrund stehen. Man könnte auch so sagen: Die zweckfreie Bildung hat so dem Zweck dienen sollen, durch Förderung persönlicher Fähigkeiten einen durchsetzungsfähigen Staat auszubilden. Schon mit den angestrebten politischen Zielen bekommt der Glanz einer zweckfreien Bildung einen ersten matten Schimmer, doch mag unbenommen dem menschlichen Streben im Sinne Humboldts Erfolg beschieden sein, was Bildung wieder in das rechte Licht stellt. Doch einstweilen nur, wie zu sehen ist: Für die Reifung des Geistes soll nur die Auseinandersetzung mit ausgesuchten Gegenständen verantwortlich sein und sonst nichts. Über diese Bildung erlangt der Mensch – quasi in Auseinandersetzung mit den Bildungsgütern – ein hohes Maß an sittlich geprägter Erziehung. Humboldts Ziel der, wie er sagt, »Veredlung des Menschengeschlechts«171 soll über das Studium der Griechen und ihrer Schriften vornehmlich erreicht werden, da Humboldt in den Schriften der alten Griechen das vorzüglichste Bildungsmedium sieht. Und das geschieht vor dem Hintergrund dessen, dass Humboldt glaubte »beweisen« zu können, »daß nicht bloß vor allen modernen Völkern, sondern auch vor den Römern die Griechen«172 zu einem Studium befähigten, das »zum größeren und edleren Menschen macht«.173 Und in seinem Werk Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere führt er dazu aus: »Ein den Griechischen Charakter vorzüglich auszeichnender Zug ist, […], ein ungewöhnlicher Grad der Ausbildung des Gefühls und der Phantasie in einer noch sehr frühen Periode der Kultur, und ein treueres Bewahren der kindlichen Einfachheit und Naivetät in einer schon ziemlich späten. Es zeigt sich daher in dem Griechischen Charakter meistentheils der ursprüngliche Charakter der Menschheit überhaupt, nur mit einem so hohen Grade der Verfeinerung versezt, als vielleicht nur immer möglich sein mag; und vorzüglich ist der Mensch, welchen die Griechischen Schriftsteller 170 Zit. n. Gall, Lothar: Wilhelm von Humboldt. Berlin (Propyläen) 2011, S. 138. 171 Humboldt, Wilhelm von: Betrachtungen über die Weltgeschichte. In: ders, Werke in 5 Bänden, Bd. 1, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 569. 172 Humboldt an Friedrich August Wolf. Brief vom 01. 12. 1792. In: Freese, Rudolf (Hg.): Wilhelm von Humboldt, a. a. O., S. 123. 173 Ebd.
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darstellen, aus lauter höchst einfachen, grossen und – wenigstens aus gewissen Gesichtspunkten betrachtet – immer schönen Zügen zusammengesetzt. Das Studium eines solchen Charakters muss in jeder Lage und jedem Zeitalter allgemein heilsam auf die menschliche Bildung wirken, da derselbe gleichsam die Grundlage des menschlichen Charakters überhaupt ausmacht.«174
Soweit die Theorie, die umfangreich und emphatisch in Schriften zum Griechentum ausgeführt wird.
Das griechische Studium am Katzentisch/. Das Griechische gleichwohl spielt im 19. Jahrhundert (und späterhin sowieso) in den Bildungseinrichtungen nur die zweite Geige, findet seinen Platz am Katzentisch und alsbald nur selten auch nur da noch. In die Praxis gewendet, sieht die Theorie sich nicht rechtschaffen umgesetzt, denn Griechisch und inhaltliche Auseinandersetzungen rücken bei aller ihr beschiedenen Wertigkeit sogleich ins zweite Glied. Prägnant lässt sich das an den Stundentafeln am preußischen Gymnasium ablesen. Mit der (neu-)humanistischen Bildung verbunden ist insbesondere die Lehre des Lateinischen, das Griechische folgt nachgeordnet und verliert alsbald wieder an Relevanz. In den Stundentafeln des Gymnasiums liegt Latein 1812 unangefochten an erster Stelle, das mit Humboldts Reformen erst neueingeführte Griechisch folgt mit Abstand. In den Folgejahren erhöht sich das Deputat in Latein noch, während die Stundentafel für Griechisch, kaum eingeführt, schon wieder Streichungen erfährt, sodass das Deputat für Latein in den Jahren 1856/59 gegenüber Griechisch bald mehr als doppelt so hoch liegt.175 Die Prominenz der lateinischen Sprache sieht dabei ihren Grund in der alten Wissenschaftstradition, in der die Wort- und Schriftkompetenz in Latein als unverzichtbare Bedingung für jeglichen Wissenschaftsbetrieb gesehen wurde. Mit anderen Worten wird das ohnehin immer schon die Lehranstalten füllende Latein in den (neu-)humanistischen Lehrbetrieb überführt. Unter dem Label des (Neu-)Humanismus wird mit Blick auf Latein so nur fortgeführt, was ohnehin seit Jahrhunderten statthat. Im Unterschied zur alten Lateinschule, die zum Schreiben und Sprechen der Sprache ausbildete und ganz praktisch zweckorientiert operierte, verliert sich allein der Nützlichkeitsgedanke nun.176 Mit dem Aufkommen der Landesspra174 Humboldt, Wilhelm: Humboldt, Wilhelm von: Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondere, a. a. O., S. 19. 175 Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge der neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim/München (Juventa) 52010, S. 146. 176 Vgl. Fuhrmann, Manfred: Der europäische Bildungskanon. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt/M./Leipzig (Insel) 2004, S. 58–62.
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chen im Verlaufe des 18. Jahrhunderts gerät die ehemalige Kernkompetenz Latein zwar so zunächst ins Abseits sowie in die aufklärerische Kritik. Sie erweist sich nicht mehr als hinreichend nützlich im Bildungsbetrieb. Sie kann sich aber nun doch durch alle Wirren hindurch zentral, auch dank des (Neu-)Humanismus, neu positionieren, denn von den (Neu-)Humanisten »wurde ein jenseits aller Nützlichkeit liegender Bildungssinn behauptet.«177 Der Mangel an Nutzen gereicht ihr nun zum Vorteil. Ein allgemeiner Bildungsaspekt wird der Sprache Latein nun zugebilligt. Man könnte auch sagen: Die Apologeten der Sprache Latein können sich glücklich schätzen, dass die zunehmend ihren gesellschaftlichen Nutzen verlierende Sprache Latein nunmehr als »zweckfreie« neue Höhenflüge verzeichnen kann – Humboldt sei Dank. In diesem neuen Geiste kann die alte Sprache Latein neue und umfassende Erfolge feiern. Obwohl im Sinne der Verehrung der Antike als Leitbild Griechisch im Vordergrund stehen müsste, spielte es doch stets nur die Begleitmusik, die zudem stetig leiser wurde, denn weniger das so emphatisch beschworene Griechisch denn Latein wird so zum vorgeblichen Veredelungsinstrument.
Vokabeln und Grammatik pauken: Instrument zur ethischen Läuterung/. Eine Veredelung, so möchte man meinen und wie auch anders, geschieht zuvorderst über die Lektüre von Schriften. Eine solche aber nimmt nur einen kleinen Teil der Unterrichtszeit ein. Das Humboldt’sche Leitbild und mit ihm der Veredelungsgedanke, die Bildung am griechischen Kultur-Urspung, erfährt einen weiteren Rückschlag, denn an die Stelle humanistischer Studien tritt zuvorderst die Schulung von Grammatik und Vokabeln. Kulturelle Monumente und Schriften treten da auf Zeit inhaltlich zurück. »[A]uf die Jahre des elementaren Grammatikdrills folgten nur noch die Jahre der Autorenlektüre, und hinter all den Mühen standen lediglich die abstrakten Ziele des Erwerbs von Bildung und der Schulung des Intellekts.«178 Recht eigentlich besehen ist die (neu-)humanistische Erziehung in erster Linie eines gewesen: Eine reine Paukschule der Vokabeln und Grammatik in Latein und nachgerade Griechisch. Darin drückt sich realiter mehr das apostrophierte Bildungsideal aus als in ausgesuchten Bildungsinhalten. Stefan Rebenich schreibt hierzu: »Ein zunehmend veräußerlichter Bildungsbegriff machte aus dem humanistischen Gymnasium im Kaiserreich eine Exerzieranstalt, die auf Drill und Routine setzte. 177 Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis in die Gegenwart. Wetzlar (Büchse der Pandora) 1982, S. 97. 178 Fuhrmann, Manfred: Der europäische Bildungskanon, a. a. O., S. 61.
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Man begnügte sich damit, die Verba auf -mi einzupauken.«179 Ganz ähnlich formuliert dies Manfred Fuhrmann: »Vor allem aber waren die alten Sprachen das Schibboleth der Bildung – man konnte nicht beanspruchen gebildet zu sein, wenn man nicht aus eigener Erfahrung von den Tücken der griechischen Verben auf –mi zu erzählen wußte oder von den Schwierigkeiten des taciteischen Stils.«180
Bildung orientiert sich so an grammatischen Problemen der rechten Form und erst nachgerade an Inhalten. Eine inhaltsleere Form wird so zum Bildungsaspekt und zum Instrument sittlicher Bildung erhoben. Vorzüglich ausgewählte Inhalte spielen da zunächst mal keine tragende Rolle. Inhaltlich treffen in späteren Zeiten endlich Cicero und Homer aufeinander, wenngleich auf lange Sicht – Humboldts zum Vorbild erhobenem Menschentum in der Antike zum Trotz – dann doch eher der Römer Cicero den Sieg davonträgt und gerade nicht der Grieche Homer. Das Studium der Griechen (oder ihrer Schriften), in denen man einen Anfang ausmachte und einen Humanismus in unverstellter Form, der zum Vorbild gereichen sollte, weicht so mehr einem Studium der Römer (oder ihrer Schriften). Ob Römer oder Grieche spielt – so will es scheinen – da schon keine entscheidende Rolle mehr. Es reicht auch das durch Entwicklungsprozesse verfälschte schon nicht mehr so reine Stadium späterer römischer Schriftwerke. Zu griechischen und lateinischen Texten gesellt sich schließlich noch die Lektüre und Interpretation deutscher Werke, um dem humanen Wesen den rechten Weg zu weisen. So kommt es also auf Ursprünge oder Anfänge immer weniger an. Es sei denn, dass man in deutscher Literatur ein geglücktes, kompositorisches Epigonentum des Griechischen ausmacht, um so über diesen Umweg den reinen Anfängen wieder nahe zu sein. Wie auch immer : Der Selbstfindungsprozess des Menschen will ganz offenkundig auch ohne den Umweg eines unverstellten von Humboldt ausgemachten reinen griechischen Ursprungs gelingen. Die Unterschiede, woran der Geist sich sittlich bilden soll, verschwimmen so letztlich in der Indifferenz.
Alltag der Seminarpraxis und die Suche nach dem ethischen Ort/. Das Ideenkonstrukt einer humanistischen Bildung erfährt seine Konkretisierung in der von Humboldt dann nicht ganz freiwillig angestoßenen Bildungsreform in Schule und Universität. Im Königsberger und Litauischen Schulplan 179 Rebenich, Stefan: Klassische Bildung. In: Maaser, Michael/Walther, Gerrit (Hg.): Bildung. Ziele und Formen. Traditionen und Systeme. Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar (Metzler) 2011, S. 53. 180 Fuhrmann, Manfred: Der europäische Bildungskanon, a. a. O., S. 62ff.
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von 1809 sind die geplanten Reformen ausformuliert. Dort ist die Staffelung in Elementarunterricht, Schulunterricht und Universitätsunterricht181 (in Autonomie, Freiheit und in Zurückgezogenheit) vorgesehen. Auf alle Fälle erscheint diese Ausrichtung Humboldt’scher Bildung als eine Bildung ohne Humboldt. Das ließe sich noch verschmerzen, denn mag der Schulunterricht am Gymnasium sich zuvorderst als Grammatik- und Vokabeltraining darstellen, die eigentliche durch angeeignete Bildung sich einstellende Charakterbildung ist ohnehin erst an der Universität vorgesehen. Universitäten sollen über den Forschungs- und Ausbildungsbetrieb, den sie darstellen, so etwas sein wie Geburtshelfer humaner Gesinnung. Alain de Botton formuliert das wie folgt: »Doch die wichtigeren Ansprüche, die man an Bildung stellt, die Art, von der in den Broschüren oder bei den Abschlussfeiern die Rede ist, zielen darauf ab, dass Colleges und Universitäten mehr als bloße Brutstätten für die Technokraten und Industriellen von morgen sind. Nein, sie sollten sich höhere Ziele setzen und uns zu besseren, weiseren und glücklicheren Menschen machen.«182
Alain de Botton bezieht sich u. a. auf John Stuart Mill und Matthew Arnold, die ganz ähnlich formulieren, von der Kultivierung der Menschen sprechen, aus der die Liebe zum Nächsten entspringen solle, sodass man zum Ziel die Verringerung des menschlichen Elends sich setze.183 Verantwortlich für die »komplexesten, sinnreichsten und therapeutischsten Bildungsresultate«184 sollten Fächer wie Philosophie, Geschichte, Kunst, klassische Philologie, Sprachen und Literatur sein. So allgemein formuliert und hehre Ziele verfolgend, sollen Fächer wie diese Vorrang zu haben vor den praxisnahen Naturwissenschaften. Man möchte beinahe beipflichten, sind es doch Geisteswissenschaften, die hier zum Zwecke der Charakterbildung genannt werden. Und gerade an denen ließe sich doch – wie denn auch anders – im genannten Sinne bilden, wenn man an große bedeutungsschwere Lektüren nur denken mag, woraus man seine Lehren ziehen möge. Schriften aus Literatur und Philosophie mögen zum Nachdenken anregen, Haltungen prägen, keine Frage. Auch das Affizierenlassen durch eine Plastik oder ein Bild mag Anschauende beeindrucken, auch emotional und ästhetisch, und zum intensiven Studium bewegen, aber – stellt man einmal Schillers und andere Wunschvorstellungen beiseite, wie Kunst von sich ausstrahlend auf den Charakter wirken möge – sittlich verändern? Und von der 181 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Der Königsberger und der Litauische Schulplan. In: ders: Werke in 5 Bänden, Bd. 4, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 169. 182 Botton, Alain de: Religion für Atheisten. Frankfurt/M. (Fischer) 2013, S. 102. 183 Vgl. ebd. 184 Ebd., S. 103.
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Musik als Veredelungsinstrument darf man obendrein sagen, dass sie nichts als Bedeutungsleere in sich trägt. Die humane Gesinnung entspränge bei ihr sozusagen dann aus dem Nichts, wenn man mal das romantische Märchen außen vor lässt, dass die Musik angeblich eine Sprache über der Sprache sei und von anderen Sphären kündet.185 Einen Automatismus zur Charakterveredelung aus der Anschauung von Kunst abzuleiten, was entsprechende Empfehlungen zur Bildung rechtfertigte, ist daher eine in nichts begründete Spekulation. Nicht das Objekt strahlt sozusagen von innen heraus einen sittlichen Mehrwert aus, sondern der Rezipient macht mit Kunst etwas – zuweilen irgendetwas. Bricht man das Ganze im Übrigen weiter auf die Seminar-Praxis um, verlieren sich die prognostizierten Bildungsziele allerdings doch so sehr im Vagen, dass sie immer weniger einsichtig werden, bis sie sich im magischen Dunkel der Zauberei verlieren. Man denke an die in Universitäts-Seminaren vermittelte philologische Kärrnerarbeit, die sich im Identifizieren, Dokumentieren, zeitlichem Einsortieren und Kommentieren abbildet, und frage sich dann, wo der den Menschen bessernde therapeutische Ort liegen soll oder wo ein katalogisierendes Tun anfängt, therapeutisch im gewünschten Sinne zu wirken. Überblicksveranstaltungen bspw. zur Kunst der Vergangenheit, in denen Daten, Fakten und vereinzelte Detailinformationen zusammengetragen werden, stehen als Therapeutikum wohl auch nicht gerade in vorderster Front, zu grobmaschig erweisen sich solche Darstellungen. Den Lautverschiebungen in der Sprache im germanistischen Seminar nachzugehen ist das Sittliche wohl eher nicht inhärent, wenn vermittelt wird, dass die indogermanischen stimmlosen Verschlusslaute »p«, »t« und »k« sich wandelten zu den germanischen »f«, »I« und »h«. Zumindest erweist sich dies nicht gleich als offenkundig. Tendenzen des (Musik-)Theaters zu erschließen mag als intellektuelle Bereicherung empfunden werden, die Förderung der Liebe zum Nächsten, wovon Matthew Arnold träumte, ist nicht sofort augenscheinlich, obwohl es sicher spannend wäre zu wissen, ob die Behandlung von Monteverdis frühen Opern eher zum Sprung auf den ethischen Gipfel führte, die Vergegenwärtigung von Glucks Opernreform oder vielleicht die Auseinandersetzung mit Show, Revue und Amüsierbetrieb des frühen 20. Jahrhunderts. Den kompositorischen Gesamtbau eines Werkes (in Literatur oder Musik) in Augenschein zu nehmen ist fraglos eine spannende Aufgabe, den sittlichen Bildungswert daraus nachvollziehbar herzuleiten wahrscheinlich noch spannender. Findet man den bei der Analyse von Fugen oder der einer Musik im Sonatenhauptsatz verortet? Beim Beschäftigen mit unterschiedlichen Erzählweisen im Roman oder mit der Homophonie und Polyphonie als ästhetischem Ideal in der Musik dürfte sich ebenfalls die sittliche Erregung in Grenzen halten. 185 Vgl. S. 143–157.
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Die Verinnerlichung der pythagoreischen Stimmung und/oder vieler anderer Stimmungen trägt zur Erhellung des eigenen Wissenshorizontes bei, zur Charakterschulung – lässt man die Magie oder einen romantischen Zauber mal beiseite – taugt dies wohl ebenso nicht. Vielleicht wähnt man aber dem pythagoreischen und syntonischen Komma spezifische ethische Aspekte inhärent, die im hörenden Nachvollzug den besseren Menschen gebären. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Die Auseinandersetzung mit linguistischen oder musiktheoretischen Problemen jedweder Art arbeitet doch wohl anderen denn als sittlich geprägten Zielen zu. Stellt man ins Zentrum einer Seminararbeit, wie sich kulturelle Identität in höfischen und urbanen Räumen einstellt, ist man um entsprechendes Bescheidwissen fraglos reicher, zur eigenen sittlichen Prägung trägt vermutlich auch dies kaum bei. Liefert das Studium sowie die Kenntnisnahme der unterschiedlichen Haltungen zur Musik bei Platon und Aristoteles etwa eine solche Gewährleistung?186 Auch die Auseinandersetzung mit ästhetischen Theorien oder diversen Schulen ist eine lohnende, manchmal auch intellektuell anstrengende Aufgabe, worin darin der sittliche Mehrwert aber liegen soll, verbleibt doch sehr im Dunkeln. Literaturseminare wiederum könnten da schon eher geeignet sein, sie sind allerdings weniger besinnliche Lesestunden, in denen man kontemplativ das Gesagte zum Zwecke der persönlichen Besserung in sich hineinversenkt, als mehr Seminare, in denen man den Entstehungsprozess eines Romans/Schauspiels nachvollzieht, unterschiedliche Handschriften studiert, Lesarten zur Kenntnis nimmt, die Rezeptionsgeschichte nachvollzieht u. a.m. Oder : Bietet ein Vergleich der römischen Dichter Horaz und Petronius in Bezug auf die Metaphorik der Naturbetrachtung die Möglichkeit eines sittlichen Mehrwerts? Zum letztgenannten Beispiel, das von Alain de Botton stammt, nimmt der Autor den Rezipienten ins Blickfeld: »Vielleicht weil die Lüftungsanlage nicht funktioniert und die Fenster nicht geöffnet werden können, schleppt sich das Ganze zäh dahin. Nur wenige der Studenten scheinen den Erörterungen mit dem Interesse zu folgen, das der Dozent vermutlich erwartet hatte, als er vor zwanzig Jahren in Oxford promovierte«.187
Dass Dozenten zwanzig Jahre und mehr die gleiche oder nur leicht variierte Vorlesung bieten, soll es auch des Öfteren schon gegeben haben. Die sendungsbewusste Begeisterung für ein so Vermitteltes dürfte leicht darunter leiden. Professionelle Routine, die den besseren Menschen hintenanstellt, dürfte an deren Stelle latent getreten sein. Die Rahmenbedingungen (Räume ohne Fenster, Neonlicht, zweckmäßige Einrichtung, surrende Klimaanlage oder eine defekte während einer Gluthitze, Heizung zu heiß, zu kalt, gelegentlich passend einge186 Vgl. S. 69–75. 187 Ebd., S. 103.
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stellt für fraglos nicht jeden) in geisteswissenschaftlichen Seminaren sind von vornherein nicht darauf ausgelegt, einen ethischen Mehrwert zu fördern oder zu steigern. Es hängen auch keine Bilder an der Wand, plüschige, gemütliche Sofas sind auch eher selten vorzufinden, kühle Funktionalität der Möbel dagegen schon. Kurz und gut: Zwar wird das humanistische Ideal in Sonntagsschriften geisteswissenschaftlicher Provenienz unermüdlich propagiert, aber schon allein der triste Seminaralltag spiegelt so hochtrabende Ziele nicht. Dass man aus Literatur, philosophischen Schriften, Kunst und Musik für sich persönlich einen individuellen Mehrwert ziehen kann, steht völlig außer Frage, eine solche gesinnungsträchtige Mehrwertbildung ist aber nicht oder nie Thema von Seminararbeit (oder sollte es nicht sein). Der Blick in Modulpläne offenbart es: Was immer das Ziel von Seminararbeit ist: eine Charakterveredelung jedenfalls ist nicht vorgesehen. Die Zielsetzungen sind in Modulplänen anders definiert. Einen solchen heimlichen Lehrplan zu verfolgen, dass man in erster Linie Goethe/Sloterdijk (etc.) liest oder Beethoven/Cage (etc.) hört, um einen besseren Menschen als vordringlichstes Ziel zu generieren, ohne das als eigentliches Ziel für Seminarteilnehmer transparent herauszustellen, wäre selbst schon in sich ethisch äußerst bedenklich, trägt es in sich doch manipulative Züge. Ein sich abzeichnendes Stirnrunzeln ob solcher Menschenmanipulation verflüchtigt sich, da geisteswissenschaftliche Seminare, welcher Provenienz auch immer, – wie geschildert – ganz andere Ziele verfolgen und sich nicht als ›Gesinnungsveranstaltungen‹ verstehen. Es sind keine Erbauungsveranstaltungen, in denen man, kontemplativ versunken, stundenlang Schriften liest, Musiken hört oder anderweitig Kunst goutiert, dabei hoffend, dass sich irgendwann irgendein woher auch immer kommender ethischer Bildungswert offenbare. Das Ganze lässt sich zusammenfassen mit den Worten: Das Vermitteln ethischer Fertigkeiten steht im geisteswissenschaftlichen Studium nicht an. Die Proklamation derselben bleibt allein im spekulativen Raum eines opak bleibenden Dunkels, das gerade aus der Vagheit seine schön klingenden Geschichten einer Persönlichkeitsbildung im vorbildhaften Sinne entspinnt. Bis in die Gegenwart hinein werden der Bildung höhere Weihen zugewiesen, insbesondere seit durch die Veränderung der Struktur von Studiengängen das humanistische Bildungsideal weitgehend zur Seite gestellt wurde: die zweckfreie Bildung als Inbegriff einer Humanität ausbildenden Persönlichkeit. »Was derart ehrgeizige und faszinierend klingende Ziele verbindet, ist ihre Leidenschaft – und ihre Diffusität. Es ist relativ unklar, wie man Studenten durch Bildung zu Großzügigkeit und Wahrheit anhalten und vor Sünde und Fehlern bewahren kann«.188 Alain de Botton führt, nachdem er deutlich gemacht hat, dass in den proklamierten Bildungszielen sich nicht mehr als hochtrabende Floskeln ausdrücken, 188 Botton, Alain de: Religion für Atheisten, a. a. O., S. 102.
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mit denen man sich an Eingangsportalen und bei Abschlussfeiern schmückt und feiert, weiter aus: »Universitäten mögen zwar kulturelles Faktenwissen ohnegleichen lehren, doch sie interessieren sich nicht im Geringsten dafür, ihren Studenten auch beizubringen, wie sie es als Fundgrube von Weisheit nutzen können«.189 Wenn die Idee von einer sittlichen Bildung, wie dargestellt, grundsätzlich ausfällt und stattdessen andere Aspekte von Humanität bemüht oder konstruiert würden und manchmal auch werden im Rahmen einer von Zwecken bereinigten Bildung (z. B. kognitive Weitläufigkeit oder Flexibilität, ästhetisches Bewusstsein, kommunikative Kompetenz, pragmatisches Vermögen u. a.), um an hochtrabenden Zielen zu retten, was noch zu retten ist, dann bedarf es nicht einmal unbedingt geisteswissenschaftlicher Gegenstände, es könnten Inhalte jedweder Art herangezogen werden. Auch hier ließe sich ganz ohne Probleme die Zweckfreiheit bemühen und ließen sich nur solche Gegenstände aussuchen, die mangelnde bis gar keine Alltagstauglichkeit beweisen: Das Erlernen eines abgelegenen Dialektes einer ethnischen Minderheit am weit entfernten Orte, die selbst um das Überleben ihres Dialekts vor Ort bangt, das Erlernen von Maschinensprache, ohne dass man den Zweck verfolgt, Programme zu schreiben, der ästhetische Genuss an Formeln, das Studium von Eröffnungszügen bei Schachpartien (einfach so). Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Mit einer (neu-)humanistischen Bildung / la Humboldt hat das Ganze aber nichts mehr zu tun, was aber auch gleichgültig wäre, weil die vermuteten therapeutischen Kräfte sich ohnehin als obsolet erweisen, wenn man die fantasiegesättigte Vogelperspektive verlassen hat und den Raum der Seminarkultur näher ausleuchtet.
Das (neu-)humanistische Programm der Exklusion/. So folgen- und auch segensreich Humboldts nicht ganz freiwillig angestoßene Reformen in Teilen auch gewesen sein mögen, sie wenden sich – mit Blick auf die humanistische Selbstbildung – nicht an die Allgemeinheit, sondern allein an ein begrenztes Umfeld. Diesem stark umgrenzten Umfeld bleibt der Universitätsunterricht vorbehalten. Das maßgeblich charakterbildende ganzheitliche Lernen in Freiheit und Muße/Zurückgezogenheit, von dem Humboldt träumte, steht – wie vorab beschrieben – erst an der Universität an. Elementarschule und Schulunterricht dagegen sind allein dazu gedacht, grundlegende Kompetenzen, Lernstrategien und Wissen zu vermitteln, während der Universitätsunterricht »für Humboldt die Krönung eines ganzheitlichen Bildungsprozesses [darstell189 Ebd., S. 109.
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te], in dem der wahre Zweck des Menschen seine höchste Gestaltung finden kann.«190 Elementarschule und Schulunterricht haben da nur vorbereitenden Charakter. Wenngleich Wilhelm von Humboldt – auch aus seinen Erfahrungen mit der französischen Revolution – einen Blick für ein reformiertes Staatswesen hatte und eine nicht zweckgebundene Allgemeinbildung auch für die breite Bevölkerung proklamierte, findet diese in der Umsetzung keine rechtschaffende Relevanz. Die Lerninhalte in der Elementarschule beschränken sich – insbesondere im Zuge der Stiehlschen Reformen in Preußen – auf die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen, und der Unterricht besteht darüber hinaus »im Wesentlichen aus dem Auswendiglernen des Katechismus und dem Absingen von Kirchenliedern«.191 Die Idee der (neu-)humanistischen Bildung findet so in der Elementarschule keinen nennenswerten Widerhall. Die von Humboldt angedachte Dreiteilung des Bildungswesens realisiert sich im Grunde in einer Zweiteilung: »In Säulen nebeneinander stehen das höhere und das niedere Schulwesen, das Bildungswesen für die Eliten und die Schulen für die Ausbildung der Massen.«192 Dabei werden viele Wissensinhalte der breiten Bevölkerung als nicht vermittlungsnötig betrachtet, wenn an die ausgewählten Inhalte gedacht wird, an denen wirkliche Bildung sich zuletzt erst vollziehen soll. Kunst/ Kultur (als auch die Problemstellungen der Wissenschaft) sollen für eine humanistisch geprägte Persönlichkeitsbildung geeignet sein, andere Gegenstände indessen nicht. Diese ausgewählten Bildungsinhalte bleiben aber jenseits des Gymnasiums außen vor. Aus den Reihen der Kirche im Zeithorizont Humboldts wird zudem argumentiert, Bildungsprozesse im Sinne Humboldts für die breite Masse würden »den Lernenden seinem ›Stand‹ entfremden, ›Dünkel‹ in ihm wecken und die Fundamente von Staat und Kirche, Gesellschaft und Gemeinde untergraben.«193 Also lässt man es. Die in der ideellen Ausgestaltung betrachtete (neu-)humanistische Bildung widerspricht – in ihrer Umsetzung – Humboldts eigenen Maximen. In seiner Abhandlung aus dem Jahre 1792, den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, hebt er explizit die Interessenslage des Individuums und deren Stärkung hervor und beschwört dabei die Vielfalt von Lebensformen, aus der heraus individuelle Bildung sich facettenreich entwickeln möge. Er spricht von einem wünschenswerten Zustand der wahren Vernunft, …
190 Geier, Manfred: Aufklärung. Das europäische Projekt, a.a.O., S. 360. 191 Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Stuttgart/Weimar (Metzler) 2008, S. 15. 192 Tenorth, Heinz-Elmar : Geschichte der Erziehung, a. a. O., S. 151. 193 Ebd., S. 152.
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»in welchem nicht nur jeder Einzelne der ungebundensten Freiheit geniesst, sich aus sich selbst, in seiner Eigenthümlichkeit zu entwikkeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andre Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder Einzelne nach dem Maasse seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Gränzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich giebt.«194
Jeder sollte sich danach so entwickeln, wie es ihm wünschenswert erschiene: seinen Interessen und »Eigenthümlichkeiten« gemäß und so Teil einer Vielfalt zu entwickelnder Lebensmöglichkeiten sein. Doch nicht jeder darf sich so entwickeln, wo die Verengung auf ausgewählte Lebensumstände und Kulturpraktiken an ausgewählten Orten nur erfolgt. Humboldts humanistischer Bildungsbegriff läuft für die breite Bevölkerung ins Leere. Indem aber Humboldts Bildungsideal kommunikativ Erfolge feiert, werden andere der Zweckfreiheit nicht genügende Bildungsofferten herabgewürdigt. Die Einheit der Differenz von zweckfrei/zweckgebunden stellt den zweiten Wert in den Schatten des ersten. Pointiert und klar in seinen Worten beschreibt auch Reinhard Brandt die Humboldt’sche Einschränkung, woran Bildung exklusiv nur sich vollziehen könne: »Bildung sollte allgemein zur Bestimmung des Menschen gehören, aber sie sollte dann wiederum nur einigen besonderen, mit Titeln dekorierten Menschen zuteil werden. Wir registrieren diese Arroganz als ein besonderes Merkmal in der vielschichtigen Geschichte dieser Institution. Warum soll eine Lehre in einem Handwerk nicht eine ebenso gute Menschen-Bildung vermitteln wie das Mathematik- oder Chemiestudium oder die Assyriologie und Gräzistik?«195
Die Zweckgebundenheit einer Handwerkslehre steht dem Humboldt’schen Programm der Selbstbildung entgegen, wo Kunst/Kultur es doch sein sollen, die den Geist bilden und die Arbeit am Selbst befördern mögen. In der Tat stellt sich die Frage, wieso ein junger in (naturwissenschaftlicher) zweckgebundener Ausbildung stehender Mensch in Schule oder an der Universität, der seinem innigsten Wunsch nach ebendieser Ausbildung (in Schule/Universität) hat Folge leisten dürfen, nicht geradezu perfekt seine Fähigkeiten und Fertigkeiten wird fördern können? Und wieso Kunst, die Schriften großer Literaten oder die Musiken der Komponisten exklusiv berufen sein sollen, ebendiese zu fördern, wenn dem jungen Menschen sowohl die Schriften als auch die Musiken und auch der Umgang damit ein einziges Gräuel sind und auch bleiben und er an anderen Dingen interessiert ist? Nach Humboldt würde, wie er im Litauischen Schulplan von 1809 ausführt, 194 Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In: ders.: Werke in 5 Bänden, Bd. 1, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 69. 195 Brandt, Reinhard: Wozu noch Universitäten? Hamburg (Felix Meiner) 2011, S. 13.
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schon eine Vermischung eines Zweckgebundenen mit Zweckfreiem im Unterricht »Bildung unrein«196 werden lassen. »Was das Bedürfniss des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden.«197 Da der allgemeinbildende Unterricht in Elementarschule und Schulunterricht ausgeblendet bleiben, wird die breite Bevölkerung bis auf einen marginalen Prozentsatz abgesondert. Infolge der Behauptung, auf der Basis von Zweckfreiheit auf der einen und ausgewähltem allgemeinbildenden Gegenstand auf der anderen Seite lasse eine segensreiche Charakterbildung sich nur auf den Weg bringen, wird so eine Bildungsvorstellung in Szene gesetzt, die ein hohes Ausgrenzungspotenzial in sich birgt nicht nur zwischen jener Minderheit, die sich Bildung leisten kann, und jenen, die das nicht können, sondern ausgegrenzt werden auch die das 19. Jahrhundert in Bewegung setzenden naturwissenschaftlich Gebildeten. Humboldts Bildungsprogramm setzt einen Effekt in Szene, … »den Charles Percy Snow als ›Two cultures‹ bezeichnet hat. Damit meint er, dass es schlechterdings unerträglich sei, dass man von einem Naturwissenschaftler eine gewisse Grundbildung in historischen und literarischen Fragen ganz selbstverständlich erwartet, einem Geisteswissenschaftler aber durchgehen lässt, wenn er nicht erklären kann, warum eine über die Tischkante gerutschte Tasse auf den Boden fällt, statt nach oben zu entschweben.«198
Die humanistische Bildung, die zu solchen Effekten führt, ist daher von einem nur marginalen Inklusionspotential ausgezeichnet, auch wenn mancherorts gerade ein solches explizit unterstellt wird. »[H]umanistisches Denken [ist] inklusiv ; es bezieht alle ein, die an der Verständigung teilhaben wollen und teilhaben können.«199 Da von vornherein die Teilhabe an humanistisch gedachten Inhalten sowie dem vorgestellten Umgang der Mehrzahl von Individuen verwehrt bleibt und bleiben muss aufgrund der von Humboldt gemachten Setzungen, operiert die humanistische Bildungsidee demnach gerade nicht inklusiv, sondern aus ihrer Anlage heraus dezidiert exklusiv. In diesem Sinne formuliert auch Thomas Kesselring, wenn er schreibt: »Obwohl nach Humboldt niemand aufgrund seiner Geburt von Bildung ausgeschlossen ist, können doch nicht alle Bürger/innen ›Gebildete‹ werden. Denn gebildet sein heißt so viel wie gelehrt sein. Die Universität bleibt aber nur für einen kleinen Teil der
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Humboldt, Wilhelm von: Der Königsberger und der Litauische Schulplan, a. a. O., S. 188. Ebd. (Humboldt 188). Koch, Hans-Albrecht: Die Universität, a. a. O., S. 12. Nida-Rümelin, Julian: Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität, a. a. O., S. 127.
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Bevölkerung zugänglich. In dieser Hinsicht haftet auch dem Bildungskonzept Humboldts etwas Elitäres an.«200
Schon Schiller, von dem Humboldt sein humanistisches Bildungsideal entlehnt, war nicht sehr optimistisch, dass seine, Humboldts Idee von Bildung sehr nahe stehende, ästhetische Erziehung, die sich der Charakterbildung durch die Auseinandersetzung mit schöner Kunst verschrieben hatte, auf eine breite Öffentlichkeit treffen würde. Zwar sieht er das Bedürfnis nach einem »Staat des schönen Scheins« »in jeder feingestimmten Seele«201 angelegt, aber er glaubt dessen Verwirklichung, das »Reiche des ästhetischen Scheins«, in dem die Menschen durch ästhetische Läuterung auf gleicher Augenhöhe sich begegneten, auf »wenige[…] auserlesene[…] Zirkel« beschränkt, welche wiederum er eher »in der Nähe des Thrones« vermutet.202 Und nicht zu Unrecht wählt Schiller die Zuschreibung des »Schwärmers«, der das »Ideal der Gleichheit« »so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte«.203 Die ästhetische Erziehung ist so hierarchisch sortiert und bleibt von vornherein einer einflussreichen Minderheit vorbehalten, wobei Schiller noch von der trügerischen Hoffnung beseelt sein durfte, eine ästhetische Erziehung würde eine ethisch wertvolle Charakterbildung dergestalt nach sich ziehen, dass durch einen »Gesinnungswandel von oben«204 segensreiche Reformen für viele auf den Weg gebracht würden. Aber auch diese Hoffnung ist eben eine nur trügerische und getragen von nicht eingelösten Wunschvorstellungen, denn in jener gebildeten Minderheit mit akademischer Ausbildung drückt sich in erster Linie das Bildungsbürgertum aus, das »sich überwiegend aus sich selbst [rekrutiert]«205 und als geschlossener Zirkel operiert: »Gleiches Herkommen, gemeinsame gleichartige Ausbildung, Mitgliedschaft in Institutionen, die höhere Schulbildung oder Studium voraussetzen (Verbindungen, Reserveoffizier), prägen Mentalität wie soziales Verhalten und führen zu ›In-group-Verhalten‹ im gesellschaftlichen Verkehr.«206
Eine humanistische Bildung ist und bleibt weitgehend beschränkt auf eine Minorität, die ihre Vorstellungen von Kunst und Kultur kommunikativ durchsetzt, dabei definiert, was ein Bildungsgut ist, aber zugleich eine breite Masse als Folge 200 Kesselring, Thomas: Handbuch Ethik für Pädagogen. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 2009, S. 179. 201 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, a.a.O., S. 128. 202 Ebd. 203 Ebd. 204 Matuschek, Stefan: Kommentar zu Friedrich Schiller : Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2009, S. 220. 205 Klaus Vondung, zit. n. Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik, a. a. O., S. 8. 206 Ebd.
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der Auswahl des Bildungsgutes sowie der Humboldt’schen Bildungs-Praxis, die Zeit, Muße und damit Geld erfordert, von vornherein ausschließt. Es ist so weniger ein Instrument zur ethischen Erziehung als ein Instrument des Machterhalts durch Ausschluss breiter Kreise der Bevölkerung. Das (neu-)humanistische Konzept befördert eine geschlossene Gesellschaft. Das lässt sich auch an Zahlen ablesen: Nimmt man die absoluten Studentenzahlen als Indikator für das Verhältnis von Inklusion und Exklusion, so stehen bspw. im Jahre 1830 an allen deutschen Universitäten 15000 Studenten 24 Millionen Menschen207 gegenüber, die praktisch keinen Anteil haben an der humanistischen Erziehung. In den Folgejahrzehnten ist bis zu Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts sogar ein Rückgang auf etwa 12000 Studierende (+/-500) an den Universitäten zu verzeichnen.208 Die Bildungsidee »privilegiert […] diejenigen, die über eine akademische Ausbildung verfügen, denn diese verspricht ebendieses: Bildung, vermittelt durch die Privilegien einer bestimmten Schicht der besseren Gesellschaft oder hospitierende Gäste«209 Die im Zuge des Jahrhunderts stetig wachsende Zahl an Studenten ist nicht Folge von ethischer Gesinnung nebst segensreichen Reformen für die breite Masse bzw. »Unterschicht«, »die nie mehr als 1,5 % der Studenten stellen« kann,210 sondern der schlichten Notwendigkeit eines wachsenden Bedarfes an Akademikern geschuldet. So übt das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, das in summa »fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung […] (mit langsam wachsender Tendenz)«211 ausmacht, eine explizite Exklusionspraxis aus und reguliert durch Inklusion und Exklusion die vertiefende Teilhabe an Kunst und Kultur. Nach vollzogener Vereinnahmung von Bildungsinhalten zieht die Teilhabe an Bildung strikte Grenzen zu anderen Bevölkerungsschichten. »Wie eine gläserne Mauer half Bildung mit, bürgerliche Exklusivität zu begründen und zu verteidigen.«212 Die Sprachen Griechisch und Latein helfen dabei auszugrenzen, denn man bleibt in der Kommunikation unter sich, wo andere nicht verstehen können. Zugleich gibt man dem anderen zu verstehen, dass man nicht dazugehört, weil man nicht versteht. Inklusion vollzieht sich nur innerhalb ganz enger Grenzen, und sie funktioniert nur auf der Basis des Ausschlusses breiter Massen. Humanistisches Denken in der Vergangenheit war demnach ebenso wenig inklusiv wie dies für 207 Zahlen entnommen: Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik, a. a. O., S. 17. 208 Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar : Geschichte der Erziehung, a. a. O., S. 148. 209 Brandt, Reinhard: Wozu noch Universitäten?, a. a. O., S. 114. 210 Tenorth, Heinz-Elmar : Geschichte der Erziehung, a. a. O., S. 149. 211 Kocka, Jürgen: Bildung und Bildungsbürgertum. In: Schlüter, Andreas/Strohschneider, Peter (Hg.): Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert. Berlin (Berlin Verlag) 2009, S. 134. 212 Ebd., S. 136.
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die Gegenwart beschrieben werden kann. Indem Humboldt dem Menschen die zweckfreie Bildung gibt, schafft er eine neue Ausschlussregel, mit der das Bildungsbürgertum sich nach oben wie unten abgrenzt. Dass der Ausschluss konstitutiv ist, ist auch bei Nida-Rümelin abzulesen in der gewählten Formulierung »teilhaben können«213. Sie weist auf die gesellschaftlich sich vollziehende Exklusion hin und hebt auf die Behauptung, humanistisches Denken würde inklusiv verfahren. Stattdessen wendet sich die Aussage in ihr Gegenteil. Wem der Status oder die Mittel fehlen, kann und darf nicht. Nur Schiller’sche schwärmerische Gemüter können vom Inklusionspotential humanistischer Bildung träumen. Bourdieus Begriff der »kulturellen Reproduktion« greift hier, was meint, dass eine ausgewiesene Schicht, die die Macht dazu hat, persönliche kulturelle Vorlieben zum gesamtgesellschaftlichen Bildungsgut erhebt und daran bruchlos qua »Habitus« anschließen kann. Der »Habitus« jener, die anders gebildet sind, verfehlt dagegen den Anschluss, was die Exklusion – trotz gelegentlicher Anpassungsprozesse – vorantreibt bzw. erhält. Soziale Praxen in der einen oder anderen Art zu leben werden so vom »Habitus« geregelt, welcher »[d]urch die Praxis aufeinanderfolgender Generationen innerhalb eines bestimmten Typs von Existenzbedingungen geschaffen«214 worden ist und als machterhaltendes Selektionsinstrument funktioniert. So befördert auch die (neu-)humanistische Bildung die Exklusion: Was zählt, ist »[n]icht mehr der Bildungsinhalt, sondern das Bildungspatent […], das in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts zu einem wirksamen Instrument sozialer Exklusion wurde.«215 Man könnte auch so sagen: Durch die (neu-)humanistische Auswahl der Bildungsinhalte, über den exklusiven Zugang durch Eingangsberechtigungen und Zertifizierungen, welche wiederum Zugänge zu Berufen eröffnen oder verschließen, ist ein Bildungspatent als Folge zu verzeichnen.216 Denn es vollzieht sich so die operative Schließung eines sozialen Systems, innerhalb dessen Kommunikation allein nach den Regeln humanistischer Bildung abläuft, die sich von der Einheit der Differenz von zweckfrei/ zweckgebunden affizieren lässt, wobei der zweite Wert als Negativfolie für den positiv aufgeladenen ersten Wert operiert. Die Inhalte, die zur Menschenbildung dienen sollten, sind Selbstzweck geworden. Die operative Schließung des sozialen Systems Bildung begründet die Negation gegenüber jedweder anderer Bildung, indem es die Möglichkeit von vorgeblich ethisch geprägter Selbstbildung prominent der eigenen Bildungsidee zuweist und diese für andere Bil213 214 215 216
Vgl. S. 89. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1976, S. 229. Rebenich, Stefan: Klassische Bildung, a. a. O., S. 53. Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar : Geschichte der Erziehung, a. a. O., S. 162f.
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dungsprozesse oder –inhalte ausschließt. Daraus leitet sich die Einheit der Differenz von bildungsnah/bildungsfern ab. So wiederum vollzieht eine auf Allgemeinbildung abzielende Bildungsidee die Wendung zum Machtinstrument, das zudem die Teilhabe an Macht reguliert, wo ein exklusives System eine Kommunikationsbeteiligung zulässt bzw. von vornherein verwehrt. »Angesichts der Tatsache, dass alles pädagogische Handeln als ein Akt der Durchsetzung einer kulturellen Willkür definiert ist, […], erfüllt das Bildungssystem unvermeidlich eine kulturelle Legitimierungsfunktion.«217 Die Implementierung der (neu-)humanistischen Bildung signalisiert Verlässlichkeit für die inkludierten Teilnehmer, denn sie können darauf vertrauen, unter sich zu bleiben. Zugleich stellen sich die inkludierten Teilnehmer durch Inhalation des Humboldt’schen Bildungsprofils mit seinen unterstellten segensreichen Wirkungen ein ausgezeichnetes Zeugnis aus. So wird die Exklusion der vielen von einem mitlaufenden guten Gewissen genährt. Mochte Humboldt auch eine Bildung jenseits des Standesdünkels implementieren wollen (»Dieser gesamte Unterricht kennt […] nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden«218), die von ihm gemachte Setzung befördert allein das Bildungsideal einer Minderheit, die die Möglichkeit einer aus der breiten Bevölkerung geborenen anderen Bildung dezidiert ausschließt und eigene idealisierte sowie im Grunde willkürliche machtgeprägte Vorlieben zum gesellschaftlichen Maßstab macht. Die Gegenstände der Bildung, mögen sie griechischen, lateinischen oder deutschen Ursprungs sein, sind ausgesucht von schon daran Geschulten, die sie der Auseinandersetzung für würdig befunden und überdies daran Gefallen gefunden haben. Die Auseinandersetzung mit den Bildungsgütern braucht Zeit. Zeit aber ist für die vielen ein knappes Gut. Bildung ist folglich ein ausgesprochen teures Gut. Und längst nicht jeder kann mit der Währung Zeit zahlen. Der Bildung matter Schimmer wird von einer dunklen Schicht überzogen. Konklusion: Die Idee einer zweckfreien Bildung, die den Menschen zum Souverän in Sachen eigenen Handelns macht und eines kritischen Urteilens in einer universalistisch geprägten Weltordnung, ist – so schön sie in der Theorie auch sich liest – wenig plausibel noch nachvollziehbar, wo sie nur auf wenige trifft und die ausgelobten Wirkungen ausgewählter Gegenstände nicht halten (können), was sie versprechen. – Der (Neu-)Humanismus ist so ein arglistiges Phänomen, indem er breiten Bevölkerungsschichten eine tiefgreifende Menschenbildung andient (jedem 217 Bourdieu, Pierre: Kunst und Kultur. Zur Ökonomie symbolischer Güter. Schriften zur Kultursoziologie 4. Konstanz (UVK) 2011, S. 37. 218 Humboldt, Wilhelm von: Der Königsberger und der Litauische Schulplan, a. a. O., S. 189.
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soll die »Ich-Werdung« durch Arbeit am Selbst möglich sein) unter Ausschluss derselben. – Der (Neu-)Humanismus propagiert die Gleichheit unter Verschiedenen, produziert und zementiert aber Unterschiede. Die Bildung braucht zur Unterscheidung ein Gegenüber, und das trägt den Namen bildungsfern, was die Einheit der Differenz von bildungsnah/bildungsfern beschreiben lässt. Im Programm der Allgemeinbildung steckt so ein böser Zauber, es werden zementierte Unterschiede durch Gleichberechtigungsannahmen verschleiert. – Die (neu-)humanistische Bildung reproduzierte durch die unsichtbare Wandlung von im Grunde willkürlich ausgewählter Kultur in legitime Kultur allein die soziale Struktur einer spezifischen Schicht. So ist ein Ausschlussoder Exklusionssystem implementiert, das die Inklusion in der Theorie propagiert und praktisch die Exklusion vollzieht. Im Abgesang der Humboldt’schen Bildung heute vollzieht sich kein wirkliches Trauerspiel. Es gab sie eh nur in der Theorie. Die Praxis sah sie nie.
Das Inhumane humaner Bildung oder: Das ärgerliche Theorie/Praxis-Problem »Am anderen Spektrum mochten Anhänger der Lehre, dass der Mensch von Natur aus gut sei, nur ungern von der Hoffnung lassen, die rechte Art von Poesie und Musik könne das Verhalten reinigen. Viele moderne Häretiker bewahrten sich einiges von dem alten Glauben, wonach Malerei, Theater oder Roman einen sittlichen Auftrag hätten, […].«219 »Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist ›Faust‹ und ›Zarathustra‹ und Beethoven-Partitur in den Schützengräben. Denn auch die Eroica und die Egmont-Ouvertüre sind wohl echtester Militarismus.«220 »Furtwänglers Rücktritt [als Vizepräsident der Reichsmusikkammer ; Anm. N.S.] bedeutete zwar einen vorübergehenden Machtverlust des Dirigenten, aber keineswegs das Ende seiner künstlerischen Karriere im NS-Reich. Ganz im Gegenteil: Rasch und vollständig gelang ihm ein neuerlicher Schulterschluss mit Goebbels. […] Tatsächlich war und blieb Furtwängler nicht nur das beste, sondern auch ein treues Pferd im arischen Dirigentenstall des Reichs.«221
Der Gedanke einer humanen Persönlichkeitsbildung reicht zurück bis in die Antike. Und als Medien humaner Bildung sind seit ehedem Kunst/Kultur vorzugsweise auserkoren. Gleichwohl bedarf es dazu der »rechten« Kultur, die ausgewiesen als große Kunst ist, es bedarf der Meisterwerke einer Kultur. Ihnen wird Erziehungsfähigkeit zugebilligt. Geradezu Wundersames vollzieht sich im Dunstkreis von Kunst/Kultur, sofern man sich nur die rechte Mühe gibt. Zu beschäftigen ist in der Folge daher mit eben jenen Kunst und Kultur unterstellten Aspekten, dass die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur einen reinigenden oder erzieherischen Charakter habe, dass sie sittlich wirke, 219 Gay, Peter : Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. Frankfurt/M. (Fischer) 2008, S. 77. 220 Sombart, Werner, zit. n. Piper, Ernst: Nacht über Europa, a. a. O., S. 236f. 221 Riethmüller, Albrecht: A clockwork Brown. Musiker in den Institutionen des »Dritten Reichs«. In: Das »Dritte Reich und die Musik«, hg. v.: Stiftung Schloss Neuhardenberg in Verbindung mit der Cit8 de la musique, Paris. Berlin/Paris (nicolai) 2004, S. 102.
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dass sie Qualitäten habe, die sich schlussendlich ethisch schreiben. Im Kontext solcher Überlegungen betritt man unweigerlich (moral-)philosophische Gründe und Abgründe und ein Minenfeld oft inkompatibler Definitionen. Gesinnungsethische Vorstellungen der einen oder anderen Provenienz genießen in Abhandlungen dazu dabei ungeteilte Aufmerksamkeit wie Berücksichtigung, die Abstraktionshöhe ist oftmals beträchtlich, wenn in der Theorie die Bedingungen der Möglichkeiten von Ethik und Bildung erörtert werden. Herabgestiegen aus den lichten Höhen der theoretischen Erörterung und umgebrochen auf die Lebenspraxis vollzieht Theorie oftmals die Wandlung zum opaken Terrain. Der Praxisschock nimmt der Theorie nicht selten ihren beinahe märchenhaften Zauber. Die segensreichen Wirkungen von Kunst und Kultur werden im Zuge ihrer Wandlung vom Sollen zum Sein mit oft eher dunklen Begriffen besetzt. Und in Klammern gesprochen: Es ist dabei das Paradoxon zu beobachten, dass manche Theorie ihre Strahlkraft gerade aus dem Dunkel ihrer Begriffe zieht. Klammer zu. Im Unklaren bleibt, was – um ein Beispiel zu nennen – eine »wohlgestimmte« bzw. »edle Seele«, von der so oft in Schriften die Rede ist, denn wohl sein soll, die sich einstelle in der kontemplativen Kunstbeschau, oder wie sittliches, ethisches Handeln konkret sich ausnimmt u. a.m. Dabei wird gleichwohl mitlaufend suggeriert deren Selbstverständnis, der Leser wisse irgendwie wohl schon, was gemeint ist. Wo immer der Begriff des Sittlichen, Ethischen Verwendung findet, wird davon ausgegangen, dass in der Wechselwirkung von Kunst/Kultur einerseits und Mensch andererseits die individuellen Anlagen, Vermögen, Eigenschaften, Fähigkeiten sich auf alle Fälle segensreich im positiven Sinne entwickeln. Besserung vollzieht sich bspw. dahingehend, dass dem eigenen Sein ein verlässliches Fundament und so Orientierung gegeben oder dass dem anderen mit mehr Toleranz und Respekt begegnet werde und so insgesamt das Menschengeschlecht sich bessere und Menschen füreinander mehr Freund denn Feind sind. Im Zuge solcher Argumentationen werden solche Besserungseffekte zu allgemeingültigen Effekten implizit hochstilisiert. Der Sache an sich sei es gegeben, so und nicht anders zu wirken, denn mit anderen Sachen würden sich solche Besserungseffekte nicht einstellen. Daher auch der Bezug auf große Kunst oder auch auf eine vorbildhaft angenommene Vergangenheit: In Auseinandersetzung mit griechischen Texten und Skulpturen bspw. vollzieht sich (bei aller unverzichtbaren qualitativen Arbeit am Selbst) begleitend und sozusagen automatisch eine innere Wandlung. Wohlproportionierte Kunst, welcher Provenienz auch immer, kann gar nicht anders, als charakterlich gut zu wirken. Immer ist es ein positiver Effekt, der statthat. Und diese dabei ausgesuchten Kunst-/Kulturobjekte wirken – aufgrund ihrer einer Idealität nahekommender Gestalt – natürlich durch alle Zeiten hindurch. Ihnen wird infolge einer ihnen zugebilligten Wahrhaftigkeit Universalität, Zeitlosigkeit oder eben auch eine in ihnen sich
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spiegelnde Idealität unterstellt. Völlig ausgeschlossen, dass beim Tischlern eines Tisches bzw. Anderem oder in Auseinandersetzung mit einer mathematischen Formel sich Vergleichbares einstellte. Für den Rezipienten ergibt sich ein Effekt dergestalt, dass man in Auseinandersetzung mit bspw. der Laokoon-Gruppe für sich selbst Gewinn daraus zieht. Es bildet sich eine Schleife zwischen einer mit eigener Sprache sich irgendwie mitteilenden Sache und einem sich in die Sache Versenkenden – und wo die Schleifenbildung glückt – auch Verstehenden. Erziehungsbedürftig, wie der Mensch ist, hat er so ganz wundersame Bildungsmedien vorliegen, die seiner humanen Menschenbildung zugetan sind. Die Aneignung von zum Vorbild erhobener Kunst und Kultur ergibt sich im Prozess der Bildung. Und der Prozess verdeutlicht, dass die Bildung nie abgeschlossen ist, sondern dass die Kommunikation mit Kunst aufrechterhalten bleibt. Diese segensreiche Wirkung entfalten aber nur die recht ausgesuchten Bildungsgüter. Wer den falschen Dingen sich zuwendet, dessen Schicksal ist ganz zweifelsohne – wie man im tiefsten 20. Jahrhundert noch kategorisch zu berichten weiß – in der Verdinglichung, im entmündigten Sein ausgemacht. In all dem – so gilt es klar und deutlich herauszustellen – drückt sich nicht weniger aus als blühender Unsinn.
Wilhelm von Humboldt im Fokus/. Wilhelm von Humboldt steht paradigmatisch für eine durch Bildung geprägte Existenz. Es lohnt zu prüfen, inwieweit er selbst einlöst, was er durch Bildung auf den Weg gebracht zu sehen glaubte. Wilhelm von Humboldt zieht sich 1791 aus dem Berufsleben zurück, um »auf dem Lande in einer unabhängigen, selbst geschaffenen, unendlich glüklichen Existenz«222 eben diesen Weg des Glückes beschreiten zu können. Dieser Weg des Glückes erscheint als einer der Selbstsorge. Obwohl geprägt von den Ideen der Aufklärung sowie geschult an den Gegenständen der Klassik und so insgesamt humanistisch gebildet, zeigt Humboldt wenig Begeisterung für die Aufgabe, im Jahre 1809 auf Veranlassung Friedrich Wilhelms III. eine Bildungsreform auf den Weg zu bringen. Folgt man der Biografie von Lothar Gall, so steht Humboldt dieser Aufgabe deshalb ablehnend gegenüber, weil er … »dafür seine Existenz als weitgehend unabhängiger Privatmann in Rom aufgeben [musste], die durch seine diplomatischen Verpflichtungen als Vertreter Preußens beim 222 Humboldt, zit. n. Geier, Manfred: Aufklärung. Das europäische Projekt, a. a. O., S. 350.
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Heiligen Stuhl kaum beschränkt wurde und so ganz seinen Lebenserwartungen entsprach, seinem Bestreben, durch unmittelbare Anschauung immer tiefer in die Welt der Antike einzudringen«.223
Mit anderen Worten hieße es, eine glückliche, erfüllte Existenz, die ganz und ausschließlich auf die Selbstsorge im Kunstgenuss ausgerichtet ist, aufzugeben zum Wohle einer der Allgemeinheit dienenden Aufgabe. Danach steht Wilhelm von Humboldt der Sinn gerade nicht. Er weigert sich. Diese Haltung zu kritisieren steht nicht an, aber zu befragen die ethische Dimension doch, die begleitend mitläuft. Eine ethische Rechtfertigung für die reine Selbstsorge ließ noch sich finden und so das Abstand halten zu gesellschaftlichen Aufgaben ebenso, wenn man eine Bemerkung Humboldts aus dem Jahre 1791 heranzieht und ihr Geltung auch für das Jahr 1809 verschafft: »[B]ilde Dich selbst und […] wirke auf andre durch das, was Du bist, diese Maximen sind mir zu eigen.«224 So gereicht man dem anderen zum Vorbild in der Selbstsorge und so der qualifizierten Arbeit am Selbst. Man möchte beinahe mit Adam Smith von der »unsichtbaren Hand« des zweckfreien Bildungswesens sprechen, die dort walten mag und die in der Idee – trotz Verfolgen eigener Interessen – zuletzt dem gemeinschaftlichen Wohl auf geheimnisvolle Weise zuarbeitet. Im Unterschied zu Adam Smith, der den maximalen Egoismus propagierte und das eigene Interesse dort am besten eingelöst sieht, wo man mit Sympathie auch die Interessen anderer vorausbedenkt und bedient, fehlt der Blick in der von Humboldt herausgestellten Vorbildfunktion. Sympathie bei Adam Smith ist nicht zu verstehen als »Zuneigung« oder »Gewogenheit«, sondern als »Einfühlungsvermögen«. Man kann sich einfühlen in das, was der andere denkt und braucht, und infolgedessen diese Vorstellungen für eigene Zwecke nutzen. »Gib mir, was ich wünsche, und du bekommst, was du benötigst.«225 Diese Sympathie fehlt der unsichtbaren Hand einer (neu-)humanistisch geprägten Bildung, sofern eine solche in Humboldt sich paradigmatisch ausdrückt. Kein Blick für den anderen, kein Pflichtgesetz Kant’scher Provenienz noch ein asketisches, vom Beruf geprägtes Leben leiten so den Ideengeber der (neu-)humanistischen Bildung, sondern die reine Lust, dieses zu tun (die Antike sich zu erschließen und weiterhin eine »glükliche Existenz« zu führen), und nicht jenes (die angetragene Aufgabe, eine Bildungsreform auf den Weg zu bringen), was dem Gesetz der Pflicht doch Folge leistete. Nicht ein ›Handeln aus Pflicht‹ oder eine bloße ›Pflichterfüllung‹, sondern die Lusterfüllung, der 223 Gall, Lothar : Wilhelm von Humboldt, a. a. O., S. 139. 224 Humboldt, zit. n. Geier, Manfred: Aufklärung. Das europäische Projekt, a. a. O., S. 350. 225 Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. München (dtv) 81999, S. 17.
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Hedonismus als Lebensform stellt die Maxime eines Humboldt vor. Das zu betonen erscheint notwendig, da ein bildungsbürgerliches Bewusstsein auch im reinen Sollensgesetz unter Absehung persönlicher Motive (so die Theorie) seine Erfüllung und ethische Grundierung findet. Doch nicht Selbstkontrolle (und ein unbedingtes darin Aufgehen), sondern Selbstentfaltung bewegt das Leben des Gebildeten auch jenseits von Humboldt. Legitimiert vor sich selbst wird von Humboldt die reine sich lebenspraktisch entfaltende Selbstsorge sodann durch die kühne Hypothese, dass ein in reiner Selbstsorge gelebtes Leben ohne Blick für den anderen dieses, wie auch immer, vorbildhaft auf andere ausstrahlen würde. Die Selbstsorge steht unverrückbar zentral, und alles Weitere ist in den weiten wie dehnbaren Horizont der reinen Spekulation gerückt, was jene Bemerkung schon im 19. Jahrhundert hat kritisch ausleuchten lassen. »Zeitgenossen Humboldts [z. B. dem Arzt und Schriftsteller Johann Passavant (1790–1857); Anm. N.S.] war die mögliche problematische Kehrseite dieser Individualitäts-Vergötterung durchaus bewusst: Die Gefahr eines Abgleitens in die Egozentrik.«226 Die ablehnende Haltung Humboldts zum Angebot des Königs, eine Bildungsreform auf den Weg zu bringen, stellt dessen Wirke durch das, was du bist in ein trübes Licht. Die humanistisch geprägte Selbstbildung zeigt jenseits des Eigeninteresses nur wenig Anteilnahme und noch weniger Sympathie im Sinne des Moralphilosophen Adam Smith, der den Egoismus als Triebfeder sozialen Wirkens beschrieb und die bis heute gültige Bibel des Kapitalismus schrieb: Der Wohlstand der Nationen. Die Selbstbildung zeigt sich wenig ambitioniert, dieses Eigeninteresse zugunsten der Aufgabe an der Allgemeinheit zurückzustellen. Vertretenes Bildungsideal und eigenes Verhalten kommen zuletzt nicht kongruent zur Deckung, widersprechen im Grunde einander. Dass es trotzdem zu einer von Humboldt angestoßenen Bildungsreform kommt, ist der Kabinettsorder vom 18. Februar 1809 zu verdanken, durch die Humboldt trotz bekundetem Unwillen zum Sektionsleiter der Kultus- und Erziehungsbehörde bestimmt wird. Aus diesem zunächst ablehnenden Verhalten Humboldts eine generelle Charakterisierung abzuleiten, steht nicht an, gleichwohl kommen vermutete Effekte von Bildung und Verhalten in diesem Fall nicht zur Deckung. Grundsätzlich erscheint es nachzuvollziehen interessant, wie unterstellte erzieherische Wirkung im positiven Sinn und Verhaltensdispositionen auch in anderen und vor allen Dingen kritischen Fällen zueinander stehen.
226 Rittelmeyer, Christian: Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart (Kohlhammer) 2012, S. 39.
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Die Intoleranz (neu-)humanistischer Bildung/. Gegen all die schönen Vorstellungen oder Behauptungen, was Bildung auf der Basis solcher Voraussetzungen auf den Weg zu bringen vermöchte, wäre nichts einzuwenden. Es wundert gleichwohl schon, wie oftmals die schönen, vom wahren Schein umflossenen Künste bzw. deren Rezipienten oder Schöpfer sich, Humboldt als Person im Folgenden beiseite stellend, mit ganz hässlichen Umständen arrangieren, manchmal daraus gar ihren Vorteil ziehen. Kurz: Die verorteten Eigenschaften von Kunst/Kultur können mit Blick auf die Vergangenheit kurzerhand für obsolet und zum reinen Wunschdenken erklärt werden. Kunst und Kultur einseitig als Bildungsmedium zu verstehen, an dem der Mensch vorbehaltlos reifen und genesen können soll, ist eine höchst suspekte und zweifelhafte Vorstellung. »Der Wunsch, der akademisch Gebildete solle eo ipso auch moralisch besonders qualifiziert sein, ist so fromm wie der Wunsch, der Kirchenglaube führe zu einer sittlichen Haltung.«227 Und wie leicht zu wissen ist, drückt sich schon im Letzteren schon eine allzu kühne Behauptung aus. Das ist Klartext und doch so selten vernommen, und in Ergänzung jener Zeilen wird die These aufgestellt: Gerade an Künsten und anderen Bildungsgütern Geschulte zeigen sich zumindest anfällig für das Erregungspotential des ethisch Bedenklichen. Darin sind sie Kirchen-Gläubigen ähnlich, die sich ihrer Sache zu gewiss sind und dieser zu ihrem unbedingten Recht verhelfen wollen. Die Folge sind bekanntlich die grausam-blutigen Bekehrungsgeschichten, wie sie auch noch heute vorzufinden sind. Die Kunst selbst ist für solche Entwicklungen nicht ursächlich verantwortlich zu machen, sondern die auf sie ausgerichteten Projektionen formen einem radikalen Fundamentalismus gewogene Wertvorstellungen. Im oftmals gezeigten Habitus Bildungsbewusster offenbart sich nicht selten der Inbegriff ignoranter Intoleranz, die ethischen Grundsätzen zuwiderläuft. Die Auseinandersetzung mit Kunst/Kultur ruft oftmals, möglicherweise sogar prominent den gegenteiligen Effekt hervor als den erhofften. Und das ist leicht einzusehen: Wo man für sich seine universalen Prinzipien von Kunst gefunden zu haben glaubt und seine eigene Seele (wo immer man diese auch in sich wohnend wähnt) wohlgestimmt sieht, ist es schwer zu ertragen, dass an anderer Stelle das Seelenheil mit geglückter Kunst anderer Provenienz gefunden wird und in Konkurrenz zur eigenen steht. Das ruft den Widerspruch hervor, einen Chor redlich Empörter, die sich lautstark Geltung verschaffen. Die einmal als »richtig« erkannte Entwicklung lässt kein Gegenüber zu, die Haltung zu aus sich anders darbietender Kunst ist daher oftmals prekär. Daraus entspringen Fundamentalismen. Dass Bildung und Kultur Verhaltens- und Umgangsweisen sowie Charakter227 Brandt, Reinhard: Wozu noch Universitäten?, a. a. O., S. 114.
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züge nicht unbedingt positiv beeinflussen bzw. nicht unbedingt Respekt und Achtung gegenüber anderen erzeugen, mag im Folgenden beispielhaft dokumentiert werden. Die ausgewählten Fallbeispiele sind verschiedenen Zeiten entnommen und ganz unterschiedlicher Natur. Gemeinsam ist ihnen allen, dass doch gewisse Inkongruenzen zwischen vermuteter Wirkkraft von Kunst/Kultur und konkretem Handeln liegen. Wo man in der Bildungspyramide am Zenit sich wähnt oder zumindest eine Meinungsführerschaft für sich reklamiert und also den unterstellten, positiv aufgeladenen Effekten im so umfänglichen Maße ausgesetzt gewesen sein müsste, dass man im Grunde gar nicht anders kann als vorbildhaft zu wirken, findet man doch nicht selten Verhaltensweisen, die dem so gar nicht entsprechen, was als in Schriften stupend ausgemacht gilt. Im Gegenteil: Der bruchlose Glaube an die eigene Weltanschauung verführt so bspw. den durch Bildungsgüter angereicherten und »veredelten« Charakter eines Eduard Hanslick (1825– 1904), der einer der maßgeblichen Musikkritiker des 19. Jahrhunderts und einer der ersten durch Lehrstuhl ausgewiesenen Musikwissenschaftler war, nichtsdestotrotz zu einer Aussage wie der Folgenden: »Wen ich vernichten will, den vernichte ich«.228 Eine solche Aussage macht zumindest wundern angesichts des Bildungsformats und einer Bildung zugewiesenen Effekte. Künstler des Weiteren sind gegenüber ihresgleichen nicht immer wohlgesonnen, wie das folgende, ganz konkrete Beispiel zeigt: »Brüskierungen und kein Ende. Für ihn waren nicht so sehr die ›doofen Fragen‹ eines Ligeti oder die herablassenden, ja höhnischen Bemerkungen eines Carl Orff über entbehrliche ›Entwicklungen‹ in Henzes Opernpartituren, sondern die wiederholten, von Nono ausgehenden und ihm geltenden Jähzorn-Attacken die schlimmsten, die verletzendsten. Nono, der mit ihm zwar in Venedig im selben Flugzeug saß, ihn dort jedoch wie Luft behandelte – und düpierte. Nono, der aus einer weiteren HenzePremiere wutentbrannt herausrannte, aus der seiner Elegy. Nono, der den Esstisch der Hartmanns über den Haufen warf, aufbrausend und wie wild geworden, sobald die Sprache auf Henze kam.«229
So wird über die Umgangsformen einiger Komponisten berichtet, denen das Oeuvre des Kollegen Hans Werner Henze (1926–2012) nicht gefallen hat. Ein Einzelfall in solch exaltiertem Auftreten ist dabei nicht dokumentiert, sondern ein unter Künstlern immer wieder belegbarer Regelfall, der zumindest staunen macht, wenn an den unterstellten unmittelbaren Einflussfaktor von Kunst/ Kultur gedacht wird. Es regiert zwischen unterschiedlichen Ideen folgenden 228 Rizy, Helmut: Ein Zug voll Sprengstoff. Johannes Brahms, Hans Rott & Anton Bruckner. In: Chobot, Manfred (Hg.): Genie & Arschloch. Licht- und Schattenseiten berühmter Persönlichkeiten. Wien/Graz/Klagenfurt (Molden) 2009, S. 95. 229 Rosteck, Jens: Hans Werner Henze. Rosen und Revolutionen. Berlin (Ullstein) 2009, S. 429.
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Das Inhumane humaner Bildung oder: Das ärgerliche Theorie/Praxis-Problem
Komponisten oft genug ein radikales, ja unversöhnliches Freund/Feind-Schema, das sich in gegenseitigen Verunglimpfungen, übelsten Beschimpfungen und allgemeinen Kampfbegriffen artikuliert, wie leicht weiter zu zeigen wäre. Ein weiterer Komponist, der gerne durch Beleidigungen und schlechtes Benehmen auffällt, wenn ihm Kompositionen, Ideen, Haltungen anderer nicht zusagen, ist Pierre Boulez. »[E]r beherrschte wie kaum ein anderer die Kunst, Diskussionen durch brüskierende oder herabsetzende Bemerkungen zu beenden.«230 Gegenüber seinem Lehrer Leibowitz, der ihn in der ihm gewidmeten Ersten Klaviersonate… »auf einige methodische Fehler hinwies, bekam Boulez einen Wutanfall, schrie ›Vous Þtes merde!‹ und rannte hinaus. Als er die Sonate später zur Veröffentlichung überarbeitete, sah er Leibowitz’ Namen oben auf der ersten Seite stehen und stach mehrere Male mit einem Brieföffner darauf ein. Auch gegenüber Komponisten, die ihm nicht auf seinem konsequenten Modernisierungsweg folgen mochten, benahm er sich feindselig. Als Henri Dutilleux 1951 seine lebhaft diatonische Erste Symphonie vorstellte, begrüßte Boulez ihn, indem er ihm den Rücken zuwandte.«231
Humanistische Bildung und vertretbares Benehmen sind keine Attribute, die hinlänglich zusammengehen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Und manchmal führt dies auch zu solchen Albernheiten oder zum kindischem Benehmen wie dem Gegenüber den Rücken zudrehen. Auch dem exaltierten Auftreten so manchen Künstlers einen vorbildhaften Charakterzug, quasi mitlaufend durch intensives Studium und Einverleibung künstlerischer Werke erlangt, entnehmen zu wollen, erscheint – recht freundlich formuliert – ein kühnes Unterfangen zumindest, wollte man einmal den Kategorischen Imperativ eines Kant gelten lassen und eine allgemeingültige Maxime daraus ableiten und jedem solches Verhalten zum Vorbild andienen. Peter Fuchs hat das mal mit den Worten beschrieben: »Aber was man bei Künstlern seit dem ›Sturm und Drang‹, seit der Genieästhetik, seit der Romantik an Individualität zu tolerieren bereit ist, wird an alltäglich lebenden Menschen als zu behandelnde Störung aufgefasst.«232 Zu wundersam und ichbezogen erscheint so mancher Auftritt, der andere rücksichtslos beiseite drückt, weil man selbst den Raum zur Selbstdarstellung beansprucht. Des Weiteren: Die Entrüstungsstürme und Empörungen des im Wesentlichen aus bildungsbürgerlichen Kreisen zusammengesetzten Publikums bei mancher skandalisierten Aufführung, wie sie zu früheren Zeiten nicht selten zu sehen waren, weil den Hörgewohnheiten nicht entsprochen und Neues zum Genuss 230 Vgl. Ross, Alex: The rest is noise. München (Piper) 2009, S. 399. 231 Ebd. 232 Fuchs, Peter : Die Verwaltung der vagen Dinge. Gespräche zur Zukunft der Psychotherapie. Heidelberg (Carl Auer) 2011, S. 41.
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gestellt war, scheinen auch kein besonderer Beleg einer geglückten Charakterschulung durch Kunst zu sein. Man denke nur an Schönberg und an die Skandale, die entbrannten, als seine Werke im frühen 20. Jahrhundert zunehmend dissonanter und seine Konzerte Tumulte bis hin zu Abbrüchen bewirkt haben.233 Auch die Orchesterlieder nach Peter Altenberg, op. 4, von Alban Berg, deren Uraufführung in Wien 1913 aufgrund der Vorgänge während der Aufführung ebenfalls abgebrochen werden musste, liefern ein solches Beispiel. Die Kommunikation über die Musik vollzieht sich hier über den skandalisierten Abbruch, und das heißt rücksichtslos brachial. Der Abbruch ist so nicht das Ende aller Kommunikation, sondern hochanschlussfähig. Eine »soziale Wirkung« folgt über Gespräche und Schrifterzeugnisse, die auf den Abbruch Bezug nehmen.234 Man könnte auch so sagen: Je schlechter das Benehmen, umso mehr wird die Kommunikation angefüttert. Und Künstler wie Publikum zeigen sich in solchem Benehmen oft geradezu höchstkompetent. Und man könnte weiter formulieren, dass es gerade Kunst/Kultur sind, die schlechtes Benehmen im Zuge einer Freund/Feind-Differenz unterfüttern, ja geradezu belohnen. Zu den genannten Beispielen sei gesagt: Es wird hier kein Urteil oder eine Wertung gesprochen über solch immer mal wieder auftretendes, überbordendes menschliches Verhalten, einem veredelten Charakter aber ist dies gleichwohl doch nicht so ganz kongruent, und so ist lediglich die Fragwürdigkeit der segensreichen Charakterschulung von Kunst/Kultur einmal mehr herausgestellt.
Skizzierung eines Jahrhunderts. Der »bessere« Mensch und seine Umwelt/. Fallbeispiele wie die genannten blieben, wenn auch angereichert mit weiteren, immer Einzelbeispiele. Es sei daher ein größerer Maßstab gewählt und ganz allgemein auf die Lebensverhältnisse des 19. Jahrhunderts zurückgeblickt und damit auf die Hochzeit der sogenannten »Meisterwerkekultur«, an der ausgesuchte Bürger sich bildeten, während die ethische Grundhaltung, die sie dabei ausbildeten, den Mitmenschen wenig Freude machte. Im Detail: Im Gefolge der Französischen Revolution entstand auf breiter Front eine industrielle Revolution mit neuen finanzkräftigen bürgerlichen Eliten auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer einfachen besitzlosen Volksschicht, die durch technologische Innovationen (Webstuhl, Dampfmaschine), durch industrielle Produktion 233 Vgl. Neighbour, Oliver/Griffiths, Paul/Perle, George: Schönberg, Webern, Berg. Die Zweite Wiener Schule. Stuttgart/Weimar (Metzler) 1992, S. 16–18. 234 Vgl. Fuchs, Peter : Das System »Terror«. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne. Bielefeld (transcript) 2004, S. 18.
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und Arbeitsteilung zur billigen Lohnarbeit genötigt wurde und einem existenziellen Überlebenskampf ausgesetzt war, weil die Ware Arbeitskraft im Übermaß vorhanden war. Die Folge waren elende Lebensverhältnisse, Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit, hohe Sterblichkeit, die von Verantwortlichen in Kauf genommen wurden, ohne dass ein humaner Charakter sich daran essentiell störte und die Verhältnisse sich grundlegend änderten. An dieser Stelle werden Sittlichkeit, Ethik, veredelter Charakter weniger mit Sekundärtugenden verbunden, sondern ganz naiv als Sorge um den Mitmenschen gedacht. Dass trotzdem sich zwischen 1820 und 1870 die Weltbevölkerung verdoppelte, sieht neben dem medizinischen Fortschritt seinen Grund zwar auch in der »Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen«235, doch zunächst beförderte die Industrialisierung eine weiter auseinanderklaffende Einkommensund Vermögensschere zwischen arm und reich. Erst das »letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war dann in vielen Ländern eine neue Epoche sich vermindernder Unterschiede«236, was aber nicht als Folge einer veränderten humanen Gesinnung zu verstehen ist, sondern dem Umstand geschuldet ist, dass, wo Arbeitskräfte (anfänglich) knapp sind, auch der Marktlohn steigt. Es entsteht ein Kreislauf, in dessen Folge eine Zunahme der Geburtenrate zu verzeichnen ist »und zwar so lange, bis durch die zahlreichen Arbeitskräfte der Lohn wieder auf das Existenzminimum gedrückt wird«.237 An dieser Stelle geht es nicht darum, Sozialkritik zu betreiben, sondern nur darum zu zeigen, dass eine Bildungskultur zu mancherlei führen mag, aber keineswegs zu einer »Veredelung« des Charakters, die sich um den nächsten sorgt. Das Medium, in dem im 19. Jahrhundert ein begütertes Bürgertum rücksichtslos monetäre Flüsse in Szene setzte, war der Kapitalismus. »Ängstliche und zornige Sozialkritiker verdammten die Art, wie Kapitalisten diese Kräfte entfalteten, als eigennützig und skrupellos, und in weiten Teilen war dieser Vorwurf berechtigt.«238 Und trotzdem steht die Verurteilung des Kapitalismus als Gesellschaftsprinzip nicht an, immerhin ließen sich abermals mit den Überlegungen des Moralphilosophen Adam Smith (1723–1790), dem ganze Ökonomengenerationen bis heute verfallen sind, treffliche Gründe für das Ausleben ganz persönlicher Egoismen finden, wie Smith sie favorisierte. In aller Kürze in Klammern gesprochen: Wo jeder als Kaufmann nur auf seine eigenen Interessen und seinen maximalen Profit schaut, muss er letztendlich auch die Interessen des anderen bedienen, denn dem will er ja was verkaufen. Und der kauft nur, was ihm gefällt. »Gib mir, was ich wünsche, und du be235 Immanuel Wallerstein, zit. n. Leidinger, Hannes: Kapitalismus. Wien/Köln/Weimar (Böhlau) 2008, S. 74. 236 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a. a. O., S. 323. 237 David Ricardo, zit. n. Leidinger, Hannes: Kapitalismus, a. a. O., S. 74. 238 Gay, Peter : Die Moderne, a. a. O., S. 42.
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kommst, was du benötigst«239, heißt es im Wohlstand der Nationen, der Bibel der Nationalökonomen bis heute. Das Ergebnis würde das Gemeinwohl implizieren, denn die individuellen Einzelinteressen werden quasi wie von einer »unsichtbaren Hand« (Adam Smith) geleitet, welche eine sozial ausgewogene Gesellschaft hervorruft. »Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen«,240 so zumindest die Theorie. Die Praxis sieht dann doch etwas komplexer, sprich anders aus. Die unsichtbare Hand ist noch heute das Thema, die ganzen Deregulierungsbestrebungen der letzten Jahre gehen darauf zurück: Weniger Staat – mehr Markt (mit den bekannten Folgen). Eine kleine aus dem Bundestag gefallene Partei kennt bis heute kein anderes Credo als das von Smith. Klammer zu. Bis aber die unsichtbare Hand das Puzzle sich auslebender Egoismen zu einem Gemeinwohl zusammengefügt hat, macht jeder, was er will. Rücksichten sind da eher selten zu verorten mit der Folge und dem Blick auf das 19. Jahrhundert wieder : Jenseits der bildungsgesättigten Salons und der Konzertsäle fand die »Veredelung« des Menschen folglich schon ihr abruptes Ende bzw. spielten die unterstellten Effekte von Bildung und Kultur nicht ansatzweise die Rolle, die man ihnen zumaß. Tatsächliche soziale Errungenschaften sind in der Regel politischem Kalkül entsprungen und keiner ethischen Neupositionierung infolge der Rezeption schöner Künste mit ihren Effekten. Man denke bspw. im Jahre 1880 nur an die von Bismarck – am Rande erwähnt: Absolvent des humanistischen Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin – initiierte sukzessive Einführung der staatlichen Sozialversicherung, die nicht um der Menschen willen auf den Weg gebracht wurde, sondern die dazu gedacht war, die aufblühende Sozialdemokratie zu schwächen und die eigene Position zu stärken. Nicht ethische Gesinnung, sondern politisches Kalkül lässt soziale Reformen tätigen. Auch die Senkung des Rentenalters von 70 auf 65 Jahre im Jahre 1916 bspw. folgte Erwägungen, die sich nicht aus ethischen Grundsätzen speisten, sondern die dem Stellungskrieg mit seinem Blutzoll Rechnung trugen und in der Heimat Ruhe stiften sollten. Daneben waren es eklatante soziale Verwerfungen, die sich in Revolten Ausdruck verliehen und als Folge soziale Verbesserungen zeitigten. Auch hier war es nicht das Bildungsbürgertum, das – die Hausmusik pflegend und sich daran erfreuend – sich aufgrund einer sittlich geprägten Charakterschulung im breiten Maßstab für die Belange der sozial Benachteiligten interessierte, gar für diese sich einsetzte. Und doch ist selbst heute noch im neuen Jahrtausend von der bildungsbür239 Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen, a. a. O., S. 17. 240 Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg (Felix Meiner) 2010, S. 297.
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gerlichen »Selbstvervollkommnung« die Rede und von der Musik mit löblichen den Sozialverband stärkenden Wirkungen, wie sie der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad noch im Jahre 2007 auszumachen glaubt: »In der bürgerlichen Gesellschaft richtete sich das Bildungsziel der Selbstvervollkommnung darüber hinaus auf die Funktion des Individuums in einem Sozialverband, auf seine das Gemeinwesen fördernde und verbessernde Tätigkeit.«241 Der Autor glaubt dies recht optimistisch und naiv in einem gemeinsamen Musizieren schon ausgemacht zu sehen. So einfach ist die Welt zu bessern: durchs gemeinsame Musizieren! Und zugleich ist man geneigt zu fragen: Wer musiziert da eigentlich mit wem, und welche weiteren Folgen ergeben sich da für das Sozialgefüge jenseits allen Musizierens? Und ganz aus dem Blick gerät bei solcher Argumentation der Organismus des Orchesters, ein recht undemokratisch geführter Verbund, bei dem die Einzelmitglieder nicht selten in steter Konkurrenz und zuweilen auch Missgunst zueinander stehen. Diese Behauptung von Konrad, den realen Verhältnissen gegenübergestellt, spricht eine gänzlich andere Sprache. Recht besehen hat oder haben diese Vorstellung(en) zwar eine große Strahlkraft, halten aber einer schon nur oberflächlichen Prüfung nicht stand. Zu schön klingt die Theorie, dass man in der Praxis nicht mehr prüft. Nicht »das Studium der Griechen«, in denen Humboldt bewunderungswürdige Menschen verortete, an denen Menschengeist vorbildhaft wachsen sollte, noch die ausgemachten Meisterwerke jener und anderer Zeiten beeinflussten prominent Haltungen und Einstellungen dem anderen gegenüber, sondern allein das Streben nach Gewinn und Besitz. Ethik spielte im 19. Jahrhundert und spielt dabei noch heute keine Rolle, sofern man Ethik nicht wie mancherorts mit Sekundärtugenden wie Leistungswille, Pflichtbewusstsein u. a.m. übersetzt. Der Antagonismus zwischen Wirtschaft und Ethik führt demnach dazu, dass der Humboldt’sche »veredelte« Charakter sich nicht kümmert um soziale Belange anderer oder ein schlechtes Gewissen ausprägt. Wer den wirtschaftlichen Erfolg sucht, sieht grundsätzlich ab von »sozialen Fragen«. Wirtschaft und die in ihrer Umwelt Agierenden sind blind für Rücksichtnahmen. Was zählt, sind Zahlen, Geldflüsse – oder mit Luhmann, es regiert allein der zweiwertige Code zahlen/ nicht-zahlen respektive haben/nicht-haben. Wirtschaftlich skrupelloses Handeln steht einem gebildeten humanen Charakter keineswegs entgegen. Sie vertragen sich, ganz ohne Frage gerade auch deshalb, weil auch der an Bildungsgütern geschulte so humane Geist die Sorge um den anderen kaum oder nicht umtreiben muss.
241 Konrad, Ulrich: ars – Musica – scientia. Gedanken zu Geschichte und Gegenwart einer Kunst und ihrer Wissenschaft, a. a. O., S. 33.
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Die mangelnde Fähigkeit zur Deliberation/. Die harmonische Entfaltung aller Anlagen und Kräfte, geschult durch die Kunst und die Auseinandersetzung mit Form und Inhalt, führt demnach zu keiner ausgeprägten moralischen Qualifizierung, die dem anderen mit besonderer Achtung begegnet. Im Gegenteil, sie hat ein hohes Ausgrenzungs- und Aggressionspotential. Insbesondere in extremen Zeiten wird dies deutlich und hier zum weiteren Beispiel genommen die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und – temporär eingegrenzt – die Zeit des ersten Weltkrieges. Wenn Nida-Rümelin in einer im Jahre 2013 erschienenen Schrift zum Beispiel davon spricht, dass den Humanismus die »ethische Dimension in Gestalt gleichen Respekts, gleicher individueller, menschlicher Würde, gleicher Selbstachtung« sowie die mitlaufende »Fähigkeit zur Deliberation« auszeichnen,242 so ist davon wenig zu spüren in den Worten eines großen Komponisten, der dem missliebig Anderen, in dem Strawinksky, Bizet und Delius erkannt wird, – im Bewusstsein des eigenen kulturellen Überbaus – wie folgt begegnet: »Diese Musik war längst eine Kriegserklärung, ein Ueberfall auf Deutschland. […] Aber jetzt kommt die Abrechnung! Jetzt werfen wir diese mediokren Kitschisten wieder in die Sklaverei und sie sollen den deutschen Geist verehren und den deutschen Gott anbeten lernen.«243 Das Schicksal der Sklaverei sei dem bestimmt, der die eigene deutsche Kultur nicht schätzt und ehrt. Der, der dies in einem Brief vom 28. 08. 1914 an Alma Mahler schreibt, ist ein Künstler vom hohen Range und Arnold Schönberg geheißen, der von der eigenen Kunst und Hochkultur so beeindruckt ist, dass er anderen, die eine andere Kultur pflegen, dieses wenig schöne Schicksal – zumindest kommunikativ – zumisst. Man könnte auch so sagen, dass ihn die besten Absichten um die deutsche Kultur bewegen.244 Genau daraus leitet sich auch das Problem ab. Wo Menschen nur das Beste wollen, ist es mit dem Besten, das andere wollen, nur schwer kompatibel. Wer mit den besten Absichten handelt, sieht die Moral auf seiner Seite, die auch die andere Seite exklusiv für sich reklamieren kann. An dieser Glaubensfrage zerbrechen auch die besten Absichten. Sie enden in Wortschöpfungen wie denen von Schönberg & Co (und/ oder enden in barbarischen Glaubenskriegen). Und so betrachtet Schönberg im 242 Nida-Rümelin, Julian: Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität, a. a. O., S. 126. 243 Tenner, Haide (Hg.): Alma Mahler – Arnold Schönberg. »Ich möchte so lange leben, als ich Ihnen dankbar sein kann«. Der Briefwechsel. St. Pölten/Salzburg/Wien (Residenz) 2012, S. 85. 244 Fraglos ist dies kein allein deutsches Phänomen. Der Überlegenheitsmythos gegenüber anderen Daseinsweisen aufgrund der Alleinstellung eigener Kultur durchzieht die Geschichte von ganz Europa. Vgl. Vaughan, Megan: Kultur. In: Rublack, Ulinka: Die neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln. Frankfurt/M. (Fischer) 2013, S. 300ff.
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Jahr 1914 die Werke von ihm nicht geschätzter Kollegen als »Kriegserklärung« und »Ueberfall auf Deutschland« und begrüßt vehement den Krieg. Die allgemeine Kriegsbegeisterung in jener Zeit ist fraglos kein entlastender Grund. Sie ist eher Beleg für die Folgenlosigkeit der humanistischen Bildung oder auch recht eigentlich Symptom einer solchen. Immerhin ist die Kriegsbegeisterung vorgefunden in der Hochzeit des humanistischen Bildungskonzeptes. In dem Bewusstsein des »Richtigen«, das man selbst vertritt, ist eine zur Gewalt bereite Haltung angelegt. Das Bewusstsein um die eigene, ja einzigartige Kunst lassen einen Künstler wie Schönberg einen Krieg der Worte führen bzw. an diesem sich beteiligen. Andere Künstler haben nicht nur das Schwert des Wortes geführt, sondern auch aus ihrer inneren Überzeugung heraus real geschossen an der Front, wo sie nicht selten auch gefallen sind.245 Die von einem selbst auf hohem Schild getragene Kunst wird verallgemeingültigt und damit über alle anderen Kulturen erhoben. So schreibt der heute längst vergessene Philosoph Vitalis Norström im August 1914 an den deutschen Kollegen und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken, »dass das Deutschtum nicht nur ›eine‹ Kultur […], sondern ›die‹ Kultur«246 sei, und formuliert punktgenau, was in breiten Kreisen gebildeter wie weniger gebildeter Bürger und Künstler nicht weniger laut gedacht wird. Diese Verengung auf die nationale Perspektive verträgt sich aber wenig mit dem Universalismus, von dem im Zusammenhang mit einer humanistisch geprägten Bildung immer wieder die Rede ist: »Humanistisches Denken ist immer universalistisch: Es nimmt den Menschen, unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner Religion, seinem Geschlecht, seiner Herkunft in den Blick und schreibt ihm die gleiche Fähigkeit zur Verantwortung, zur Deliberation, zur Freiheit, zur Autonomie zu.«247 Das ist schön gesprochen – abermals in der Theorie – , doch schon ein anderes Kunstverständnis – mit Blick auf die Praxis – stellt jegliches Verständnis und alle Deliberation zur Seite. Und dass humanistisches Denken »immer auch empathisch« sei, ist angesichts der Beispiele ebenso wenig überzeugend: Humanistisches Denken – so die kühne These –: »weiß um die Beschränktheit der eigenen Perspektive und verlangt, sich in die andere Person hineinzuversetzen, um Verständigung möglich zu machen.«248 Die Empathie, das Hineinversetzen findet in den genannten Beispielen in der reflexionsfernen Drohgebärde sein Ende und jedwede Verständigung sowieso. Die verständnisvolle Kommunikation ist abgebrochen. Die Aggression tritt an deren Stelle. Im Klartext: Die These eines von Empathie erfüllten humanistischen Denkens ist grober Unfug. 245 Vgl. Piper, Ernst: Nacht über Europa. Berlin (Propyläen) 2013. 246 Norström, Vitalis, zit. n. Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. München (Carl Hanser) 2013, S. 119. 247 Nida-Rümelin, Julian: Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität, a. a. O., S. 126f. 248 Ebd., S. 127.
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An jenem damals stattfindenden »Krieg der Geister«, der die eigentlichen Gräuel an der Front ideologisch unterfütterte, beteiligt sich – und das ist für die Auseinandersetzung mit den so schön ausgedachten Wirkungen humanistischer Bildung wesentlich – praktisch das Gros der Bildungselite. Die gegenteilige These von der Verrohung der Sitten im Angesicht eines durchlaufenen humanistisch geprägten Bildungsprozesses gewinnt an Plausibilität: Die humanistische Bildung hat ihren Teil zu den Verhältnissen beigetragen. Jene Elite ist von dem Glauben getragen gewesen, dass das eigene Kultur- und Sittengemälde einzig nur zu rechtfertigen und gegen jeden zu verteidigen ist. Von ihren eigenen humanistisch geprägten Überzeugungen fühlen sich viele Bildungsbürger dabei getragen und gerechtfertigt das Handeln in Verteidigung der eigenen Ideale. Unterfüttert werden die eigenen »grundsatzethischen Maßstäbe[…]«249 mit Überlegungen der Philosophen, die »[i]n einem heute kaum noch vorstellbaren Ausmaß« den Krieg rechtfertigten.250 Die Überhöhung zur Kulturnation führt – wie auch bei der Mehrzahl der Professoren – zur »Verherrlichung der deutschen Nation«.251 Dem von Wissenschaftlern, Künstlern und Literaten auf den Weg gebrachten Aufruf »An die Kulturwelt« folgt zwei Wochen später die »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches«. Der Aufruf, ein undifferenziertes, von Unterstellungen,252 Aggressivität und Verunglimpfungen gezeichnetes Pamphlet sondergleichen, endet mit den Worten: »Glaubt uns! Glaubt uns, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Dafür stehen wir euch ein mit unserem Namen und unserer Ehre!«253 Zu seinen 93 Unterzeichnern gehören u. a. Max Liebermann, Max Reinhardt, Engelbert Humperdinck, Wissenschaftler, Literaten und Nobelpreisträger wie Gerhart Hauptmann, Wilhelm Röntgen, Paul Ehrlich, Rudolf Eucken. Dieser »Aufruf an die Kulturwelt« hat eine verheerende »Wirkung im feindlichen und im neutralen Ausland« gehabt, schien doch die intellektuelle Elite »sich von eben jener ›Kulturwelt‹ verabschiedet zu haben, an die sie in ihrem patriotischen Manifest appellierte.«254 Die Erklärung der Hochschullehrer hat nicht weniger als 80 % der Lehrkörper unterzeichnet und endet mit den Worten: »Unser Glaube ist, daß Sieg, Ulrich: Geist und Gewalt. München (Carl Hanser) 2013, S. 117. Ebd., S. 104. Ebd., S. 113. Vgl. Piper, Ernst: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des ersten Weltkriegs. Berlin (Ernst Piper) 2013, S. 219ff. 253 Aufruf an die Kulturwelt v. 04. 10. 1914. In: Böhme, Klaus (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im ersten Weltkrieg. Stuttgart (Reclam) 2014, S. 49. 254 Winkler, Heinrich August: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege. 1914–1945. München (Beck) 2. Überarbeitete Auflage 2015, S. 17.
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für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt«.255 Nunmehr hängt das Wohl schon der gesamten europäischen Kultur am deutschen Sieg. Selbstredend ist auch die andere, gegnerische Seite nicht müde geworden, »rhetorische Geschütze«256 aufzufahren und zu nutzen. Eine rhetorische Schlammschlacht, von Intoleranz und ideologischer Verbissenheit geprägt, auf alle Fälle jenseits aller Sittlichkeit, durchflutet das gesamte Geisteswesen und drückt sich prägnant aus in solchen Schriften im Detail und ganz allgemein im »Krieg der Geister«. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte im Zuge dieser verbalen Kriegsführung auch die von Akademikern hervorgehobene »humanitäre Dimension der eigenen Klassiker« und deren »universalistisches Weltbild«.257 Von hier aus sind die »Gedanken zu einer deutschen Ethik«258, wie sie der Philosoph Kurt Bauch (von Ernst Cassirer gleichwohl nicht unwidersprochen) formuliert, nicht mehr weit. So geht es um die Verteidigung von Kultur, um ethische Werte in absoluter Geltung. Das Bewusstsein um die eigenen universalistisch gedachten Ideale lässt die Werte anderer als nichtig erscheinen und klein. Die Durchsetzung des eigenen Kulturgutes wird dann gleich zur Rettung der Kultur von ganz Europa erhoben. Dass die Künstler hier rege mit martialischen Worten sich beteiligen, nimmt so nicht wunder. Sie sind Teil einer allgemeinen Geistesströmung, man möchte fast sagen: Geistesverstörung. Von Schönberg ist schon die Rede gewesen, aber auch Alban Berg meldet sich nicht weniger deutlich zu Wort, bekundet, dass die Schulung in vorbildhaft angenommenen Künsten und ein Bewusstsein für Form und Inhalt keineswegs dazu führt, »den Reichthum des anderen sich eigen machen«259 zu wollen, wie ein Humboldt es sich erträumte und ein Rümelin noch heute träumt. Durch alle Vielheiten der Epochen und Perioden hindurch kann, wie Humboldt erläutert, der Mensch doch nur eine der Vollkommenheiten erreichen, in der sich »der Charakter des ganzen Menschengeschlechts« abbildet.260 Stattdessen reduziert sich die Vielheit im Bildungsdünkel auf eine nationale Einheit und singuläre Kultur, in der das Eigentliche entdeckt wird. Von einer Bildung, die auch aus dem inneren Reichtum des anderen welcher Zeiten und Räume zum Zwecke der Vervollkommnung auch immer schöpft, kann so nicht ansatzweise Rede sein. In einem Brief an Schönberg schreibt Alban Berg Sätze, die eher vom Größenwahn künden, aber keineswegs von Humanität, insofern Größenwahn und Humanität nicht als inkompatibel füreinander erachtet Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches v. 16. 10. 1914. In: Ebd., S. 50. Piper, Ernst: Nacht über Europa, a. a. O., S. 224. Sieg, Ulrich: Geist und Gewalt, a. a. O., S. 110. Ebd., S. 132. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, a. a. O. S. 65. 260 Ebd., S. 64.
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werden. »Ich erflehe vom Himmel den Sieg unserer u. der deutschen Armee. Es ist ja ausgeschlossen, daß das deutsche Reich u. wir mit ihm zu Grunde gehen sollen. Es ist in mir ein unerschütterlicher Glaube erwacht an den deutschen Geist, der ja fast ausschließlich die menschliche Kultur geschaffen hat.«261 Und wenige Tage später schreibt er an Anton Webern ganz ähnlich klingende Sätze: »Ja, es ist eine furchtbare, aber reinigende Zeit. Jedenfalls: Siegreich muß der deutsche Geist sein. Denke an die Klarheit Beethovens, Kants, Schönbergs, Mahlers und an den Nebel des Französischen, Russischen.«262 Dass Bildung und Kultur den menschlichen Charakter positiv veredeln würden, ist hübsch ersonnen, aber pure Fiktion, vielleicht darf man abermals sagen: Darin drückt sich aus blanker Unsinn. Und doch wird dieser Unsinn auch im 21. Jahrhundert noch vertreten: »Das Trennende der Nation, der Sprache und der Kultur erscheint aus einer humanistischen Perspektive als relativ.«263 Das Gegenteil ist der Fall. Aus humanistischer Perspektive erscheinen jene Faktoren nicht als relativ, sondern als konstitutiv. Diese Idee hat deshalb eine so große Strahlkraft durch die Zeit hindurch, weil sie – als säkularisierte Religion – ein Transzendenzheil verspricht, dabei so schön klingt und überdies die eigene Kultur vom Schein des Auserwählten durchflutet erscheint. Solche aus dem Bewusstsein für das selbst Kultur- und Kunstwertgeschätzte formulierten Sätze sind fraglos nicht allein für die beispielhaft angeführten Musiker typisch, auch die anderen Künste reihen sich nahtlos ein in diesen Chor. Beispielhaft genannt für die Literatur und stellvertretend für die anderen Künste sei hier Alfred Döblin, der nichts daran findet, Kulturgüter anderer Nationen zu zerschießen264, oder auch der Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann, der befindet, dass »alle […] mit hohem Bewußtsein für einen edlen und reichen nationalen Schatz [kämpfen], für die inneren und äußeren Güter, die dem Fortschritt und dem Aufstieg der Menschheit dienen.«265 Die Messlatte kann dabei nicht hoch genug gelegt werden, und naheliegend ist deshalb, dass gleich die ganze Menschheit in ihrer segensreichen Entwicklung zum Maßstab bestimmt ist. So beflügeln Worte der Gewalt und vom Kampf den künstlerisch Begabten und finden darin ihre Rechtfertigung und sehen sich kompatibel mit den zur geistigen, feinsinnigen Auseinandersetzung einladenden Erzeugnissen 261 Berg an Schönberg in einem Brief v. 11. 08. 1914, zit. n. Moldenhauer, Hans/Moldenhauer, Rosaleen: Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes. Zürich/Freiburg i. Br. (Atlantis) 1980, S. 189. 262 Alban Berg, zit. n. Floros, Constantin: Neue Ohren für Neue Musik. Streifzüge durch die Musik des 20. Und 21. Jahrhunderts. Mainz (Schott) 2006, S. 33. 263 Nida-Rümelin, Juilan: Alte Bildungsideale und neue Herausforderungen der europäischen Universität, a. a. O., S. 128. 264 Vgl. Martynkewicz, Wolfgang: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945. Berlin Aufbau) 2009, S. 226. 265 Hauptmann, Gerhart, zit. n. ebd., S. 226.
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von Gesellschaft, die vordergründig nur den rohen entfesselten Gewalten und Gewalttätigkeiten fern stehen. Niklas Luhmann hat einmal geschrieben: »Im Namen Gottes zu kämpfen ist schon schlimm genug, im Namen des Menschen zu kämpfen, ist geradezu absurd, weil ja auf der anderen Seite auch Menschen stehen.«266 Im Namen von Kunst/Kultur zu kämpfen ist zuletzt nicht weniger schlimm oder absurd, sondern desgleichen zutiefst inhuman. In der Apotheose der materialen Entäußerungen dinghafter oder undinghafter Natur ist das Absehen vom Menschen generell inbegriffen, ganz gleich auf welcher Seite Menschen stehen. Dieser Kampf kennt gar keinen Menschen, sondern allein die Vergötterung eigener Kunst.
Paradigmatisch: Thomas Mann und die Verwandtschaft von Kultur und Barbarei/. Beteiligt an diesem »Krieg der Geister« hat sich auch und im besonderen Maße Thomas Mann mit grundsätzlichen Gedanken zum Krieg, zum Künstlertum und dessen Stellung zur Gesellschaft. Dass Kunst und Gewalt einander nicht ausschließen, sondern bedingen, dafür findet Thomas Mann ein Begründungsmuster und liefert implizit im Zuge seiner Ausführungen zahllose Belege für die Inhumanität humanistischer Bildung. Seine Gedanken zum Kriege aus dem Jahre 1914 verdeutlichen, dass Kunst und Kultur wenig zu einem humanen Wesen beitragen, das für den anderen Sorge trägt, wenn er ausführt, dass Kultur nicht das »Gegenteil von Barbarei« sei.267 Das Bewusstsein für die eigene, anderen überlegene Kunst spricht ganz offensichtlich niedere Instinkte an. Wolfgang Martynkewicz kommentiert: »Anders gesagt: Kulturbürger und Gewaltmensch schließen sich nicht aus, sie sind vielmehr, wie Mann an der Beziehung von Kunst und Krieg demonstriert, schöpferisch aufeinander bezogen«.268 Der Künstler wäre despotisch und autoritativ seine Kunst. Und Thomas Mann fragt nach den »gleichnishafte[n] Beziehungen, welche Kunst und Krieg miteinander verbinden«269 und findet in der »Organisation« das erste Prinzip, das beide Welten auszeichnet, und er zählt auf eine große Zahl von Eigenschaften, die die Kunst und den Krieg einander ähnlich machen, über die Tapferkeit, dem Entsagen von Sicherheiten, der Standfestigkeit, dem Ertragen von Strapazen und 266 Luhmann, Niklas: Wie halten Sie’s mit Außerirdischen, Herr Luhmann? Berlin (Kadmos) 2014, S. 105. 267 Mann, Thomas: Gedanken zum Kriege. In: ders.: Essays, Bd. 1. Frühlingssturm. 1893– 1914. Frankfurt/M. (Fischer) 1993, S. 188. 268 Martynkewicz, Wolfgang: Salon Deutschland, a. a. O., S. 225. 269 Mann, Thomas: Gedanken zum Kriege, a. a. O., S. 190.
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Niederlagen, der Hingabe, einem moralischen Radikalismus u. a.m.270 »Mit großem Recht hat man die Kunst einen Krieg genannt, einen aufreibenden Kampf: schöner noch steht ihr das deutscheste Wort, das Wort ›Dienst‹ zu Gesicht, und zwar ist der Dienst des Künstlers dem des Soldaten viel näher verwandt, als dem des Priesters.«271 Aus dieser Verwandtschaftsbeziehung zwischen Kunst und Gewalt hebt Thomas Mann an zur Laudatio des zu begrüßenden I. Weltkrieges, in dem Deutschland die »Synthese von Macht und Geist« sucht, wie er formuliert.272 Der beginnende Krieg ist mit Freude erwartungsvoll begrüßt worden. »Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung«273, die Hoffnung zum »gewaltige[n] und schwärmerische[n] Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung«.274 Und der »Soldat im Künstler« möge doch »Gott loben […] für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte.«275 Der Bildungsbürger Thomas Mann, der so unmissverständlich schreibt, steht dabei einem Bildungsbürgertum vor, für das er stellvertretend Worte wählt. Mehr noch: »Thomas Mann wurde zum bedeutendsten literarischen Apologeten des gerade beginnenden Krieges.«276 Die Verbindung von Künstlern und ihrer Werke mit der Apotheose des Militarismus, wie eingangs im Zitat durch den Nationalökonom Werner Sombart gezeigt, macht so ihren guten schlechten Sinn. Gewalt und Kunst treffen sich in der gutbürgerlichen Mentalität, und in dieser Symbiose verliert sich jede Form von Humanität. Auch Thomas Mann ist nicht weniger als ein Kind seiner Zeit, nicht nur dem ubiquitären (sowie mittlerweile auch relativierten) Kriegs-Patriotismus erlegen, sondern sich und seinesgleichen sowie die von ihnen gestaltete Kunst über andere erhebend. Von dieser lichten Warte aus wird das Richtschwert mit aller Gewalt zumeist mit Worten geführt. Aber solche Worte fallen auf fruchtbaren Boden und wiegen schwer, bereiten blutiger Gewalt den Grund und Boden. Dieses Richtschwert trifft nicht nur den ausgemachten »Feind« jenseits der Landesgrenzen, sondern wird geführt auch gegen die Mitmenschen im eigenen Land, denn es gilt, die eigene Position zur uneingeschränkten Richtlinie zu erheben. In dem monumentalen Werk Betrachtungen eines Unpolitischen führt Thomas Mann über Hunderte von Seiten während des I. Weltkrieges aus, dass eine herausragende Kultur wie Deutschland kein demokratisches Bewusstsein haben dürfe, um wirkliche Kultur zu schöpfen, der Künstler bedürfe der her270 271 272 273 274 275 276
Vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Thomas Mann, zit. n. Martynkewics, Wolfgang: Salon Deutschland, a. a. O., S. 237. Mann, Thomas: Gedanken zum Kriege, a. a. O., S. 193. Ebd. Ebd. Piper, Ernst: Nacht über Europa, a. a. O., S. 145.
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ausgehobenen Stellung, der er im egalitären Staat beraubt und so der Staat auch seiner schöpferischen Kraft verlustig gegangen sei. In der Demokratie – so Thomas Mann – vereinigen »sich viele Stimmen der Zeit; – vereinigen sich zum Lärm und nicht zur Musik, denn sie wissen nichts voneinander.«277 Ein »Ereignis Goethe« wäre unter demokratischen Bedingungen nicht möglich gewesen.278 Auch drücke sich der »Wille eines Volkes« mitnichten in der »›Summe‹, der Masse« aus, die sich qua Abstimmung artikuliert.279 Ließe man, wie Mann beispielhaft anführt, im dritten Kriegsjahr des I. Weltkrieges die Masse der Deutschen abstimmen über Krieg und Frieden, würde sich eine »erdrückende Majorität« für den von Mann als abwegig betrachteten Frieden entscheiden.280 In dieser Willensbekundung der Masse wäre nach Thomas Mann keineswegs der Wille des Volkes ausgedrückt, der »ein anderer sein kann«.281 Und den macht er an anderer Stelle aus: »Der Wille eines historisch aufsteigenden Volkes ist eins mit seinem Schicksal.«282 Die teleologische Anmutung verweist auf Hegel, wo »das Ganze […] das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen«283 ist, das im absoluten Geist erfüllt ist. Die Proklamation des absoluten Geistes macht die Bedürfnisse des Einzelnen verschwinden und ihn zum Werkzeug, das namenlos dem Weltgeist zuarbeitet. Mögliches individuelles Leiden ist bedeutungslos, ja gerechtfertigt und sogar vernünftig, denn im Einzelnen verkörpert sich mit Blick auf den fernen Geist der augenblickliche »Geist der Zeit«. So ist der einzelne ohne Anspruch auf individuelles Glück allein notwendiges Zwischenstadium auf dem Weg zum absoluten Geist, was Hegel mit geradezu lyrisch geprägten schöngeistigen Worten die wenig schönen Aussichten formulieren lässt: »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.«284 Herbert Marcuse merkt zu Hegels Weltgeistphantasma kritisch an: »Die überlebensgroße Kultur stellt in den Schatten den kleinen einzelnen, der gerade gut genug ist, an ihr zu bauen. Die Kultur ist nicht zum Genuß da, sondern zur Erhöhung eines Allmächtigen, der zum Beispiel auch Menschheit heißen kann.«285
277 278 279 280 281 282 283
Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 247. Ebd., S. 292. Ebd., S. 281. Ebd. Ebd. Ebd. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke Bd. 9, hg. von Bonsiepen, Wolfgang/Heede, Reinhard. Hamburg (Felix Meiner) 2011, S. 15. 284 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke 12, hg. v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1986, S. 42. 285 Marcuse, Herbert: Meine Geschichte der Philosophie. Zürich (Diogenes) 1981, S. 298f.
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Bei Thomas Mann findet man eine ähnliche Geisteshaltung vor. Das deutsche Volk findet in einem fernen Schicksal seine Erfüllung, persönliches Wollen, auch möglicherweise ausgedrückt von einer Mehrheit des Volkes, ist mit einem Federstrich auszustreichen. In jener Willensbekundung einer Volksmehrheit scheinen auf für Mann nur die individuellen Einzelinteressen, aber nicht der Volkswille. An die Stelle der Volksmehrheit ist so umstandslos zu setzen der eigentliche Willen des aufstrebenden Volkes. Die Bevölkerung allerdings – nach Mann: »die Masse« – weiß nicht um ihren eigenen Willen. Möchte man um den Willen des wirklichen Volkes wissen, frage man so besser nicht das Volk, sondern lieber die Einzelperson Thomas Mann, die prominent darum zu wissen vorgibt und gleich auch die Rahmenbedingungen dafür umreißt. Die Demokratie, so weiß der Literat zu berichten, wäre dem Deutschen »landfremd« und kann »niemals deutsches Leben und deutsche Wahrheit werden«.286 Als Konklusion kann nur gelten: »Fort also mit dem landfremden und abstoßenden Schlagwort ›demokratisch‹!«287 Die Führung obliegt allein ausgewählten Persönlichkeiten in ihrem Sagen und ihrer Vorbildlichkeit. »[M]an hole die Pfitzner und Strauß über ihr Wohlverhalten zur Demokratie und zum ›gleichen Stimmrecht‹ aus, und man wird sein blaues – durchaus nicht sein ›rotes‹ Wunder erleben, man wird erfahren, daß Radikalismus im Künstlerischen und eine politisch recht konservative Gesinnung sich vortrefflich vertragen … Einen berühmten Kapellmeister höre ich ausrufen: ›Es wird dahin kommen, daß das Orchester darüber abstimmt, ob eine Stelle piano zu spielen sei oder mezzo-forte!‹«288
Eine Gleichheitsvorstellung oder demokratisches Bewusstsein bewegt Thomas Mann nicht, wo aus einer gestaffelten Verteilung der Geistesgaben heraus eine rigorose Führungskultur abgeleitet wird. Auch hier steht Thomas Mann mit seiner Haltung nicht alleine. »Der Erste Weltkrieg wurde von maßgeblichen deutschen Intellektuellen als Kampf der Ideen von 1914 gegen die Ideen von 1789 geführt: Ordnung, Zucht und Innerlichkeit gegen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, deutsche Kultur gegen westliche Zivilisation.«289 Nicht von ungefähr bieten solche gedanklichen Ausführungen auf fast 600 Seiten einen Nährboden für ein Bürgertum, das sich späterhin endlich enthusiastisch begeistert für eine Politik, die zum Führerkult sich bekennt und ihn schonungslos umsetzt. Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich stellen nicht von ungefähr fest, dass die – man möchte fast sagen – aus dem 286 287 288 289
Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, a. a. O., S. 290. Ebd., S. 291. Ebd., S. 280. Winkler, Heinrich August: Europäische oder westliche Werte. In: Hennerkes, Brun-Hagen/ Augustin, George (Hg.): Wertewandel mitgestalten. Freiburg im Breisgau (Herder) 2012, S. 69f.
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Bauch heraus runtergeschrieben Betrachtungen eines Unpolitischen »bereits den Setzkasten bereit[stellten] für jene Geister nach 1918, welche die Forderung nach deutscher Eigenart und einem ebensolchen Sonderweg zur Grundlage ihrer politischen Philosophie machten.«290 Der Hitler-Biograf Joachim Fest erinnert sich in einem Interview, dass sein Vater »Thomas Mann niemals, auch später nicht, die ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ verziehen [hat]. Sie hätten, meinte er, mehr zur Abwendung vor allem des Bürgertums von der Republik beigetragen als das ›Hitler-Geschrei‹.«291 Unterstellt man diesen Analysen eine gewisse Plausibilität, so ergibt sich die ironische Brechung, dass auch ein Thomas Mann, vehementer Gegner des Faschismus, ebendiesem mit seinen politischen unpolitisch genannten Schriften mit den Boden bereitet hat, Folgen seiner wesenshaften Bestimmungen zur überlegenen deutschen Kultur und zum Volk, das der Demokratie auf ewig fern stünde. Dieses leidenschaftliche Plädoyer für Gewalt und Barbarei, dieses Plädoyer für eine autoritäre Staatsordnung des humanistisch gebildeten Bürgers Thomas Mann, der andersdenkenden Menschen mit wenig Achtung begegnet, um der Apotheose von Kunst und Kultur den Weg zu bereiten, beschwört in jenen Schriften ein III. Reich (nicht zu verwechseln mit dem III. Reich der späteren verbrecherischen Diktatur der Faschisten), das jene Synthese von Geist und Macht verinnerlicht haben sollte. Eine »konzise Beschreibung deutsch-bürgerlicher Mentalität« urteilt Max Fuchs über die Betrachtungen eines Unpolitischen und einer weiteren Schrift mit ähnlich drakonischem Inhalt, bei denen einem infolge der »reaktionären Positionen fast auf jeder Seite der Atem stockt.«292 Die uneingeschränkte Wertschätzung der eigenen Hochkultur mit ideellem Mehrwert ist es, die so formulieren lässt, über die eine Gemeinschaft sich identifizieren möge und auszuzeichnen verstünde. Die Synthese von Geist und Macht allerdings bzw. die von Bildung und Krieg formt den jeden Dialog abbrechenden Fanatismus, der, indem er einem schlichten Freund/Feind-Schema nachhängt, komplexen Zusammenhängen sich nicht gewachsen zeigt und gerade deshalb so gefährlich ist. Thomas Mann bietet hier ein Beispiel dafür. Thomas Mann hat Gedanken der Zeit verinnerlicht und im Glauben daran entsprechende Formulierungen gefunden, die er späterhin zurücknimmt. Im Jahre 1939 beschied Thomas Mann in Kultur und Politik, dass in jenen Vorstellungen »Musik, Metaphysik, Psychologie, eine pessimistische Ethik, ein in290 Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt/M. (Fischer) 2013, S. 68. 291 Fest, Joachim: ›Die Verkörperung des Bösen‹. In: Aust, Stefan/Spörl, Gerhard (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Der lange Schatten des Dritten Reiches. München (Deutsche Verlags Anstalt) 2004, S. 19. 292 Fuchs, Max: Leitformeln und Slogans in der Kulturpolitik. Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2010, S. 119.
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dividualistischer Bildungsidealismus«293 sich vereinigt hätten und revidierte bedauernd, erkannte und benannte aber – von der Musik, der Metaphysik bis schließlich hin zum Bildungsidealismus – recht bezeichnend die Gründe für die Inhumanität, die er einst vertrat. Immerhin. Und Mann benennt das Problem des Bildungshumanismus. Der allzu große Glaube an den Segen ausgewählter Bildungsideale verführt zur Inhumanität. Auch und gerade der Bildungsidealismus, der doch die humanistische Gesinnung in sich zu tragen vorgibt, verführt zum sozial-darwinistischen Gedankengespinst mit Profilierungsgestus, das sich abwendet vom Menschen und von zivilisatorischen Errungenschaften und setzt an zum Sprung zu rückwärtsgewandten Verhältnissen, die die Apotheose der Hierarchie und des Kults feiern.
Die Leerformel »Bildungshumanismus«/. Massiv beeindruckt von der eigenen wahrsprechenden Kunst/Kultur und den Wirkungen, die sie zeitigt, nimmt man sich das Recht heraus, anderen Gewalt anzutun unter Ausklammerung der Selbstbefragung oder vermuteter Deliberation, wie sich das mit den Wirkungen auf sich selbst verhält. Dieses Bewusstsein eines Gewissens, dessen man unmissverständlich selbst habhaft zu sein glaubt, deformiert das Gewissen. Es ist fraglos Jochen Krautz zuzustimmen, der zur vermeintlichen Schulung des Bewusstseins durch Bildungsgüter schreibt: »Die Hoffnung, dass es reicht, die ›hohen Bildungsgüter‹ den Schülern vorzusetzen, ist im 20. Jahrhundert tragisch enttäuscht worden. Romane wie Erich Maria Remarques ›Im Westen nichts Neues‹ schildern, wie im Kaiserreich hochgebildete Studienräte, die Griechisch und Latein fließend sprachen, ihren Schülern all das klassische Bildungsgut vorgekaut hatten – und ihre Schützlinge dann beim Kriegsausbruch 1914 mit ›Hurra!‹ an die Front schickten, für Volk und Vaterland. Weder Schüler noch Lehrer sahen darin irgendeinen Widerspruch zur erworbenen ›Bildung‹.«294
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade durch die erworbene Überlegenheit suggerierende Bildung wird begünstigt der Keim des Inhumanen. Die durch Bildung Auserwählten zeigen sich nicht gerade freundlich gegenüber Mitmenschen, die nicht zum auserwählten Volk gehören. Die Inklusion im kleinen Kreis straft die Exkludierten mit Miss-, ja Verachtung. Auch die Künstler stimmen – wie zu sehen war und noch weiter ist – so in jenes Hurrageschrei ein und sehen 293 zit. n. ebd. 294 Krautz, Jochen: Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie. Kreuzlingen/München (Diederichs) 2007, S. 19.
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sich von den unterstellt sittlich gestimmten Einflüssen ihrer Kunst nicht ansatzweise gewarnt oder beeinflusst. Der Beispiele ließen sich noch viele anführen. So wäre der Antisemitismus Richard Wagners Jahrzehnte zuvor ein anderes treffliches hier nur angedeutetes Beispiel. Fraglos stellen auch die Bemühungen vieler Künstler, der Hitler-Diktatur sich freundlich anzupassen, zumindest die Frage nach der ethischen Grundhaltung und ihrer Vorbildfunktion, wie bei Richard Strauss, Präsident der Reichsmusikkammer von 1933–1935. »1933 hatte er Joseph Goebbels ein Lied gewidmet, im März 1935 spielte er Hitler persönlich seine Hymne für die Olympischen Spiele in Berlin vor, und wenige Wochen später schenkte er Hermann Göring die Reinschrift seiner letzten Oper, Arabella, zu dessen Vermählung […]. Und so weiß man auch nicht recht, ob es Zuneigung, Ergebenheit, Hoffnung, Anbiederung oder eine Mischung aus alledem war, was Strauss am 18. April 1935 antrieb, folgende handschriftliche Zeilen an Hitler in die Berliner Reichskanzlei zu schicken«295, …
und es folgen Worte des »wärmsten Dank[s]« für eine »kostbare, wahrhaft begeisternde Stunde«, die Hitler Richard Strauss »geschenkt« habe nebst »herzlichsten Glückwünschen« zum Geburtstag.296 Albrecht Riethmüller ist im Zweifel, ob sich in Äußerungen wie diesen purer Opportunismus oder doch tatsächliche politische Überzeugung spiegelt. Diese Zeit, zu der jene Huldigungen verfasst worden sind, sieht zwar noch keinen Vernichtungskrieg, wohl aber schon die vom System ausgehende rohe Gewalt, die Aushebelung demokratischer Grundrechte, den Terror auf der Straße, die willkürliche Verfolgung politisch Andersdenkender u. a. m., was bei einer ethischen Beurteilung der einen (in Hinblick auf einen möglichen Opportunismus) oder anderen Haltung (in Hinblick auf eine mögliche politische Überzeugung) wird Abstriche machen lassen müssen. Das Versprechen, Bildung, Kunst, Kultur würden eine ethische Gesinnung vorbildhaft beeinflussen, scheint auch 1945 nach dem Vernichtungskrieg nicht eingelöst zu sein beim Komponisten, als Richard Strauss in einem Interview um persönliche Einstellungen zur Zeit befragt wird. Klaus Mann, dessen Vater Thomas Mann ein angespanntes Verhältnis zu Richard Strauss pflegte, besucht zusammen mit dem jüdischen Emigranten Curt Riess unter dem Namen Mr. Brown den hochbetagten Komponisten Richard Strauss.297 Über das geführte Interview mit Richard Strauss berichtet Mann wie folgt:
295 Riethmüller, Albrecht: A clockwork Brown, a. a. O., S. 95. 296 Ebd. 297 Vgl. Kater, Michael H.: Komponisten im Nationalsozialismus. Berlin (Parthas Verlag) 2004, S. 345f.
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»Die Naivität, mit der er sich zu einem völlig ruchlosen, völlig amoralischen Egoismus bekennt, könnte entwaffnend, fast erheiternd sein, wenn sie nicht als Symptom sittlichgeistigen Tiefstandes so erschreckend wäre. […] Ein Künstler von solcher Sensitivität – und dabei stumpf wie der Letzte, wenn es um Fragen der Gesinnung, des Gewissens geht! […] Ein großer Mann – so völlig ohne Größe!«298
Der mörderische Krieg, so klagt Klaus Mann an, kümmerte Strauss nicht, die Millionen der in den Gaskammern Ermordeten kümmerten Strauss nicht, dass Deutschland in Schutt und Asche lag, kümmerte Strauss nicht299, aber dass er gegen Ende des Krieges Ausgebombte aufnehmen sollte, das empörte ihn zutiefst: »Fremde – hier, in meinem Heim!«300 Michael H. Kater beklagt in einem Portrait zu Richard Strauss, dass Klaus Mann unter anderem Namen dieses Interview sich erschlichen habe, stellt aber die Aussagen des Komponisten selbst nicht in Abrede.301 Humanität, die sich mit Kunst verbindet, erweist sich abermals als bloße Leerformel. Auch Wilhelm Furtwängler arrangierte sich mit dem nationalsozialistischen System im III. Reich ebenso wie Karl Böhm oder auch Carl Orff. »Gewiss ist die Nähe jeder einzelnen der hier genannten Persönlichkeiten differenziert zu betrachten. Eines hatten sie aber alle gemeinsam: Das ›Dritte Reich‹ hatte ihre Karriere gefördert. Hitler und Goebbels hielten viel von ihnen und betrachteten sie auch politisch als zuverlässig«302 Für Herbert von Karajan, der gleich zweimal in die NSDAP eintrat, einmal in Österreich und einmal in Deutschland, gilt dasselbe. Misha Aster führt aus: »Charismatisch und ehrgeizig, verband das doppelte ›NSDAP‹-Mitglied[…] seine persönlichen Fähigkeiten mit der politischen Kraft von Görings Protektion, um sich ganz nach oben zu katapultieren.«303 Neben den genannten Persönlichkeiten benennt Günther Rüther diverse Künstler der Liste der »Gottbegnadeten«, die im III. Reich Sonderrechte besaßen und vom Kriegsdienst befreit waren. Zu ihnen gehörten Heinz Rühmann, Gustav Gründgens, Elly Ney u.v.a. Die von Hitler und Goebbels zusammengestellte Liste umfasste etwa 1000 Künstler. Wie sich humanistische Bildung und nationalsozialistische Nähe (ob aus Überzeugung oder aus Mitläufertum sei dahingestellt) in all den Fällen vertragen, darf zumindest angefragt sein. Hans Pfitzner Nähe zum III. Reich ist hinreichend dokumentiert 298 Richard Strauss, zit. n. Mann, Klaus: »Scham und Takt sind seine Sache nicht«. Klaus Mann über ein Gespräch mit dem Komponisten Richard Strauss. In: Plato, Alexander von/Leh, Almut (Hg.): »Ein unglaublicher Frühling«. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland. 1945–1948. Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 1997, S. 368f. 299 Vgl. ebd., S. 369f. 300 Ebd., S. 369. 301 Vgl. Kater, Michael H.: Komponisten im Nationalsozialismus, a. a. O., S. 345f. 302 Rüther, Günther : Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945. Göttingen (Wallstein) 2016, S. 23. 303 Aster, Misha: Das Reichsorchester. Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus. Berlin (Siedler) 2007, S. 264.
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und zeichnet kein freundliches Bild vom Komponisten, der bspw. Hans Frank, dem »Schlächter von Auschwitz«, eines seiner Werke widmete und vor dessen Hinrichtung diesem noch ein mitfühlendes Telegramm zusandte.304 Auch Intellektuelle in anderen Bereichen dokumentieren die Leere, die Absenz von Humanität, die erworbene Bildung auszeichnet: Die von Strauss geführte Klage über die ihm als Zumutung erscheinende Forderung gegen Ende des Krieges, Fremde in seinem Haus zu dulden, ähnelt wiederum der Larmoyanz eines Heideggers »über das ihm nach dem Krieg Angetane (Internierung und Untersuchungshaft für den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess)«305, über die Vittorio Hösle schreibt, dass diese »angesichts der Verbrechen des NS-Regimes, das er unterstützt hatte, fast noch schlimmer ist als seine Taten.«306 Vittorio Hösle widmet sich in jenem kleinen Essay dem Thema Nationalsozialismus und Philosophie und fragt sich, »[w]elche bedeutenden philosophischen Ideen […] zur Bejahung des Nationalsozialismus bei[trugen], zumindest zur Unfähigkeit, die kriminelle Natur dieser Bewegung zu erkennen?«307 Ausgehend von Gottlob Frege, der sich in seinen Tagebüchern schon früh als Sympathisant von Hitler zu erkennen gibt, aber schon 1925 stirbt, spannt Hösle den Bogen zu den bis Kriegsende mit NSDAP-Parteibuch ausgestatteten Philosophen Arnold Gehlen, Carl Schmitt, Autor der den Röhm-Putsch und der die daran anhängigen Morde rechtfertigenden Schrift Der Führer schützt das Recht308, und Martin Heidegger. Hösle skizziert in seinem kleinen Essay Ideenkongruenzen zwischen Nationalsozialismus und Philosophenlehre sowie persönlicher Motive der Philosophen, die sie zum Nationalsozialismus führten.309 Die aufgrund affiner Gedanken zum Nationalsozialismus gegebene Verstrickung von Heidegger in das mörderische System kommentiert Peter Fuchs zu Recht mit den Worten: »Wie schwer ist es, bei diesem unglaublich genialen Mann davon abzusehen, daß er sich in das Spiel des Dritten Reiches verwickelt hatte?«310 Warum aber sollte man davon absehen? Und es stellt sich so die Frage, ob man ein Werk wie das von
304 Siehe auch: Busch, Sabine: Hans Pfitzner und der Nationalsozialismus. Stuttgart (Metzler) 2001. 305 Hösle, Vittorio: Die Irrtümer der Denker. In: Aust, Stefan/Spörl, Gerhard (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Der lange Schatten des Dritten Reiches. München (Deutsche Verlags Anstalt) 2004, S. 192. 306 Ebd. 307 Ebd., S. 188. 308 Vgl. Zehnpfennig, Barbara: Carl Schmitt. In: Nida-Rümelin (Hg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis Wright. Stuttgart (Alfred Kröner) 1991, S. 543. 309 Vgl. auch: Bialas, Wolfgang/Gangl, Manfred: Intellektuelle im Dritten Reich. Frankfurt/M. (Peter Lang) 2000. 310 Fuchs, Peter : Diabolische Perspektiven. Vorlesungen zu Ethik und Beratung. Berlin (LITVerlag) Berlin 2010, S. 8.
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Heidegger (oder anderer311) lesen kann oder darf, ohne dass man den faschistischen Hintergrund des Autors stets mitdenkt. Der »Kronjurist« des Dritten Reiches wiederum, Carl Schmitt, bekannte sich auch nach dem Kriege weiterhin zum Antisemitismus und zu Hitler. »Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind«, schreibt er in seinen unter dem Titel Glossarium veröffentlichten Tagebüchern. An anderer Stelle steht geschrieben: »Was ist eigentlich unanständiger : 1933 für Hitler einzutreten oder 1945 auf ihn zu spucken?«312 Im Übrigen bedauerte er, Heidegger gleich, sein Schicksal nach dem Kriege, als ihm die universitäre Lehre untersagt wurde. »Schmitt trug sein Nachkriegsschicksal würdelos. Er goss seine Ressentiments in die Form weinerlicher, von Selbstmitleid triefender Tagebücher.«313 Lassen sich also die Gedanken von Philosophen trennen von den Gedanken solchermaßen politisch Überzeugter, auch unbelehrbarer Überzeugungstäter? Wie immer man eine solche Frage auch beantworten will, eines wird deutlich: Bildungsbewusstsein funktioniert ganz fraglos und man kann hinzufügen bevorzugt ohne Ethik, was nicht nur Philosophen, sondern auch viele Künstler sich hat einbinden im III. Reich in das gewalttätige System und darin persönliche Vorteile suchen lassen: »Musik und Kultur retten las sich bei Hitlers Musikern vorzugsweise als: die eigenen Privilegien und Positionen retten oder sogar ausbauen.«314 Und so könnte man zahlreiche Künstler als auch humanistisch Bildungsgeschulte ergänzen, die verdeutlichen, dass Geist, Intellekt, zuletzt Bildung keine Garanten für eine ethisch gestimmte Haltung sind und dass Kunstprodukte, wie auch immer sie wirken mögen, aus sich heraus nicht auf den Charakter im positiven Sinne oder sittlich wirken, und falls sie doch wirken, sie eher der Verrohung der Sitten zuarbeiten. 311 z. B. Carl Schmitt: Auch bei einem Autor wie Carl Schmitt, der sich nicht nur mit dem Nationalsozialismus arrangierte, sondern sich willig und aktiv einbinden ließ (und dem Nationalsozialismus aus innerer Überzeugung folgte), stellt sich immer die Frage nach der Zitierfähigkeit noch in heutiger Zeit, gleich wie scharfsinnig seine Schriften auch sein mögen. Die Frage als solche ist sicher beantwortet, denn Carl Schmitt wird gelesen und rezipiert – trotz seiner exponierten und unrühmlichen Stellung im III. Reich. Es wäre der Frage nachzugehen interessant, ab welchem Grad einer Verstrickung in menschliche Barbarei jemand nicht mehr als zitierwürdig erscheint, gleich welcher Leistungen auf anderem Gebiet er denn fähig war. Wären eigentlich führende Vertreter des nationalsozialistischen Regimes, sofern sie denn scharfsinnige Gedanken zu Themenwelten jenseits menschenverachtender Ideologie verfertigt hätten, unter Ausklammerung ihrer Stellung im Staat, genauso heute noch zitierfähig? Falls nicht oder doch (je nach dem), wie viel Barbarei oder menschenverachtenden Hintergrund verträgt ein Zitat? Wo liegt die Grenze, ob jemand zitierfähig oder nicht mehr zitierfähig ist? 312 Carl Schmitt, zit. n. Lilla, Mark: Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen. München (Kösel) 2015, S. 59. 313 Ebd. 314 Heister, Hanns-Werner : Musik und Musiker im Nazismus, a. a. O., S. 317.
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Die Quellen der Humanität und die Führungsstruktur im III. Reich/. Der (Neu-)Humanismus eines Humboldt und seine positiv verorteten Wirkungen sind eine schön erfundene Geschichte, die nur im völligen Verblendungszusammenhang wirken kann: d. h. unter Einbildung vorgestellter schöner Effekte (Theorie) und unter Missachtung konkreter Umstände (Praxis). In der Theorie schön ersonnen und ausgesponnen, hält sie in der Praxis nicht, was sie verspricht. Die mit Kunst und Kultur verbundene Heilserwartung findet allein zwischen Buchrücken in zu Zeilen gefügten, wohlgeordneten Lettern statt. Den Kosmos des Buches verlässt sie indessen nicht. Und wo doch, ersetzt die Kommunikation darüber deren Realisation. Richtig ist zwar auch, dass Kommunikation Realitäten schafft, und ebendieser Realitätskonstruktion ist es ja geschuldet, dass der symbiotischen Beziehung von Kunst/Kultur und Charakterbildung das Wort (!) geredet wird, aber unterhalb der Rede findet sich keine handlungsorientierte Entsprechung. Die Wirkmacht des Wortes im Bekenntnis zum Ideal überschreibt alle Faktizität. Und hier offenbart sich der Verblendungszusammenhang. Die sittliche Charakterschulung findet nicht statt, aber man findet unbenommen doch weiterhin schöne Worte für sie. Am deutlichsten wird das Auseinanderklaffen von Wort und Faktizität endlich an den Massenmördern des III. Reiches einerseits und der unverdrossenen Proklamation einer segensreichen humanistischen Bildung andererseits, die bis heute immer wieder aufscheint. Eine Vielzahl der führenden Verbrecher im III. Reich hat einen humanistisch geprägten Bildungsweg durchlaufen. Joseph Goebbels oder Rudolf Hess erhalten in von der Kirche geführten Internaten ihr lebensweltliches Rüstzeug. Heinrich Himmler, der »Massenmörder aus gutem Hause«315, hat das humanistische Wilhelmsgymnasium in München besucht und eine klassische humanistische Ausbildung genossen. »Alfred Andersch charakterisierte den Vater Heinrich Himmlers, den ›Vater eines Mörders‹, als unmenschlichen Griechischlehrer an einem humanistischen Gymnasium in München. Egidius Schmalzriedt brachte es in seiner skandalträchtigen Tübinger Antrittsvorlesung von 1970 auf den Punkt: Die unkritische Verherrlichung des ›Klassischen‹ in bürgerlichen Schulen und Wohnzimmern habe Platon und Thukydides, Horaz und Tacitus zu Kronzeugen des Faschismus gemacht.«316
Ernst Röhm ist einst Schüler des humanistischen Maximiliangymnasiums in München gewesen. Baldur von Schirach, der »Mann von Kultur«, wie ihn der Vorsitzende bei den Nürnberger Prozessen nennt, aufgewachsen im kulturgetränkten Weimar, ist bis zu seinem Tode unverbesserlicher Faschist geblieben. 315 Wildt, Michael: Massenmörder aus gutem Hause. In: Die Zeit v. 01. 10. 2008. 316 Rebenich, Stefan: Klassische Bildung, a. a. O., S. 52.
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»[D]as Elternhaus bot reiche geistige und künstlerische Anregungen, vor allem auf literarischem und künstlerischem Gebiet, aber neben und über diesen Bildungsmöglichkeiten des Elternhauses war es die Aura der Stadt selbst, die auf meine Entwicklung eingewirkt hat«317, führt er – in Nürnberg nach dem Krieg vor Gericht gestellt – aus. Die Aura der Stadt Weimar verhindert die menschenverachtende Gesinnung nicht. Man müsste, wollte man den Worten Schirachs zu Aura und Entwicklung seiner selbst irgendeine Relevanz beimessen, eher von einer Förderung des Charakters unter negativen Vorzeichen sprechen. Reinhard Heydrich besucht zwar kein humanistisches Gymnasium, aber kommt immerhin aus einem musischen Elternhaus. Musisch ist er sehr begabt gewesen. Und man könnte mit Josef Mengele die Reihung fortsetzen und Name um Name um Name ergänzen. Diese Namenliste hier eklektisch zusammengetragener Personen, die sich schlimmster Verbrechen und nicht beschreibbarer Monströsitäten im III. Reich schuldig gemacht haben und zuvor ein humanistisch geprägtes Bildungssystem durchlaufen hatten ohne nennenswerte charakterliche Bildung im Sinne Humboldts, wäre leicht fortzuführen, und doch könnte man in der Summe aller Beispiele – und mögen diese auch mehrere Bände füllen – unverdrossen Einzelfälle deklarieren. Selbst ein solcher Katalog von Büchern, der Name an Name fügte mit Bildungsweg und Tätigkeit im III. Reich, wäre als Einzelfalldarstellung zu bezeichnen. Nüchterner ist da die Zahl der Absolventen namhafter humanistisch geprägter Universitäten, wie sie sich in den Absolventen der Universitäten Leipzig, München, Göttingen und Heidelberg abbildet: »[F]ast 80 Prozent der späteren intellektuellen Elite der SS besuchten im Lauf ihres Studiums eine dieser vier Hochschulen.«318 Christian Ingrao hält in seinem Buch über Hitlers Elite fest: »Die deutsche Universität war nach wie vor eine Zitadelle der humanistischen Gelehrsamkeit, und das schlug sich auch in der Fächerwahl der glühendsten NSAnhängern unter den Studenten nieder.«319 In einer positiv gestimmten ethischen Gesinnung schlug sich dieser Bildungsweg hingegen ganz offenkundig nicht nieder. Nicht von ungefähr schreibt Stefan Rebenich über die klassische Bildung: »Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fragten manche vorwurfsvoll, warum auch sie [die klassische Bildung; Anm. N.S.] in den Strudel ideologischer Verführungen und apokalyptischer Verbrechen geraten war.«320
317 Baldur von Schirach, laut Protokoll der Nürnberger Prozesse, zit. n. Schirach, Richard von: Der Schatten meines Vaters. München (dtv) 2001, S. 11. 318 Ingrao, Christian: Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalistischen Massenmords. Berlin (Propyläen) 2012, S. 33. 319 Ebd., S. 57. 320 Rebenich, Stefan: Klassische Bildung, a. a. O., S. 51.
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›Handeln aus Pflicht‹. Die Purzelbaumethik vom ›guten Willen‹/. Der Gedanke von der sittlich-erzieherischen Wirkung durch Kunst ist bislang geführt worden unter der Prämisse, dass darunter verstanden wird, eine charakterliche Läuterung, die zu einem wie auch immer gearteten anderen Menschen führt, der Empathie und Verständnis zeigt für den anderen und der so jedweder Verrohung entgegensteht. Aber selbst angesichts der Gräueltaten im III. Reich lassen sich die Ethik bemühende, legitimierende Gründe für ein Verhalten finden, das diese Verhältnisse befürwortend annimmt oder zumindest erklärt, sofern nur vernünftige Gründe dafür gefunden werden. Konkret: Wer Menschen Unheil antut oder gar mordet, muss keineswegs in Konflikt mit seinem ethischen Bewusstsein geraten. Trotz solcher Taten, kann das reine Gewissen unbefleckt bleiben und sich sogar bestätigt sehen. Kants Pflichtethik steht hierfür Pate. »Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich in Geheim ihm entgegen wirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?«321
Es ist eine Ethik der Selbstdisziplinierung und eines asketischen Daseins. So mag jeder für sich genommen an den Verhältnissen leiden, aber sie doch für sich annehmen in Hinblick auf eine einmal geprüfte und für sich angenommene Pflicht, kein pflichtgemäßes Handeln, sondern ein ›Handeln aus Pflicht‹ treibt an und lässt tun, was eben getan werden muss. Entscheidendes Kriterium ist der gesinnungsträchtige ›gute Wille‹, dem Folge geleistet wird. »Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut«.322 Jedwede Neigung hat da zurückzustehen. Während Letztere (die Neigung) dem persönlichen Glücksstreben dient, dient Erstere (die Pflicht) dem allgemeinen Wohl (glaubt zumindest Kant), denn sie ist – befreit von allen Zwecken – abgeleitet aus einer allgemeinen Maxime. »[E]ine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch 321 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 121993, S. 209 [A 154]. 322 Ebd., S. 19 [BA 4].
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erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird«.323 Der ›gute Wille‹ ist frei von allen Absichten. Er richtet sich allein – zweckfrei eben – nach der Maxime. Thomas Mann vereinnahmt so die Pflichtethik gleich für das ganze Bürgertum und setzt zum ›guten Willen‹ indirekt das Bürgertum in Parenthese. »[D]er Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften«.324 Eine eiserne Disziplin wird hier vernommen. Der zivile bürgerliche Geist kennt allein die Pflicht. Der Schwur auf die Pflicht, zu der auch die hier nicht zentralstehende Pflichterfüllung gehört, sieht gerade nicht die Verantwortung, gar Sorge (Empathie) für den anderen, denn es wird die Selbstdisziplinierung, um des ›guten Willens‹ wegen, eingeübt. Und so, wie man selbst unter Absehung von Neigung und Glückszuständen seiner absolut gesetzten Pflicht Folge leistet, ist auch die entsprechende Erwartung an jeden anderen gerichtet, denn nur so ist dem aus der Maxime abgeleiteten ›guten Willen‹ zu entsprechen. Das Leben ist – salopp formuliert – eben nicht ein Ponyhof, aber der Mensch kann so am Unbill der Welt wachsen, wenn er nur dem ›guten Willen‹ unter Absehung eigener Haltungen oder Bedürfnisse dient. Und Norbert Bolz kann schreiben: »Ich will, was ich soll, und ich kann, weil ich soll. Das befriedigt keine Bedürfnisse, sondern macht aus mir einen besseren Menschen.«325 Dieser »bessere Mensch« ist Folge einer Pflichtethik, bei der der Mensch mit Einsicht in die Notwendigkeit gehalten ist, zu tun, was zu tun ist, egal welche Folgen daraus auch erwachsen.326 So wird der »bessere Mensch« begründet und auf den Weg gebracht. Die These vom besseren Menschen nach Befolgen der unveräußerlichen Maxime zur Verwirklichung des guten Willens und somit die des Kategorischen Imperativs erscheinen gleichwohl nicht sehr plausibel. Damit die Geschichte vom ›guten Willen‹, eruiert aus einer Maxime, und so der Kategorische Imperativ funktionieren, ist eine Gleichheitsannahme für die Menschen, unter denen der Kategorische Imperativ ausgelobt wird, unverzichtbar. Diese aber ist Ergebnis einer Unterscheidung, die vor aller vernunftgemäßen Ermittlung der Maxime schon längst waltet und opake Grundlage für nachfolgende maximenträchtige Überlegungen ist. Ernst von Glasersfeld hat einmal geschrieben: »Wo der andere nicht mehr als Mensch kategorisiert wird, da gilt auch der kategorische Imperativ nicht mehr.«327 Eine vorab getroffene Unterscheidung Mensch/ 323 324 325 326
Ebd., S. 26 [BA 14]. Mann, Thomas: Gedanken zum Kriege, a. a. O., S. 188. Bolz, Norbert: Das richtige Leben. München (Fink) 2014, S. 123. Der Unterschied zum bloßen Pflichtbewusstsein wird hier offenkundig. Aus Pflichtbewusstsein mag man auch tun, wenn die Einsicht fehlt. Die Pflicht gebietet es. 327 Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1996, S. 337.
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Nicht-Mensch lässt jeden ›guten Willen‹ ins Leere laufen, denn damit aus einer Maxime, also aus dem Grundsatz für persönliches Handeln oder dem subjektiven Prinzip zu handeln, ein praktisches allgemeingültiges Gesetz werde, muss man vernünftig wägen. Bevor aber gewogen wird, ist längst definiert worden, was der zu wägende Bereich alles umfasst. So kann man – wie in jüngerer Vergangenheit unselig erlebt – Volks- und Glaubensgemeinschaften die Anerkennung, Mensch zu sein, schlicht verweigern.328 Die so Angesehenen wären reinen Gewissens so zu behandeln, wie man wollte, ohne dass das formale, praktisch fundierte Gesetz auch nur im Ansatz davon affiziert wäre. So könnte die theoretische Vernunft die schrecklichsten Gräueltaten vollziehen und die praktische Vernunft prinzipiell völlig unbeteiligt dabei zusehen, ja sogar kritiklos applaudieren, da sie sich nicht im Widerspruch zu ihren allgemeinen Grundsätzen sehen muss. Schon Kant grenzt ja den Anwendungsbereich des Kategorischen Imperativs ein und lässt die normativen Gesetze nur eingeschränkt gelten, indem er Lebewesen sortiert in vernünftige/unvernünftige, und Tiere gehören eben nicht dazu. Mit denen kann man tun, losgelöst von allen Maximen und vom ›guten Willen‹, was man will. Es sind also nur die Einschluss- und Ausschlusskriterien zu ändern, und der Kategorische Imperativ erweist sich als zahnloser Tiger, weil er nicht auf alle Menschen gleichermaßen angewendet wird. Abermals an Kant sei dies an einem besonders prägnanten Beispiel dokumentiert: »Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutze desselben geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann, und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt, wird, kann keine Verordnung heben.«329
Bei Kant sind dies uneheliche Kinder, die im Ausschlusskatalog erscheinen und von keinem Kategorischen Imperativ erfasst werden müssen oder können. Sie können also ohne weiteres vom Leben zum Tode befördert werden, denn das Gesetz sieht in seiner Zeit die Ehe als Voraussetzung für die Kindsgeburt vor. 328 Selbst unsere demokratische Gesellschaft billigt nicht jedem, vollwertiger Mensch zu sein, zu. Zwar ist die Würde des Menschen unantastbar, wie es im Grundgesetz heißt, aber was unter Mensch zu verstehen ist, darüber geben Grundgesetzkommentare Aufschluss. Nach dem Grundgesetzkommentar von »Maunz und Dürig« werden Menschen in potentielle und wirkliche Menschen unterschieden (vgl. Wokart, Norbert: Die Welt im Kopf. Ein Kursbuch des Denkens. Stuttgart/Weimar (Metzler) 1998, S. 251ff.). Wirkliche Menschen sind danach solche, die des Vernunftdenkens mächtig sind und wählen dürfen, potentielle solche, die – aus welchem Grund auch immer – des vernünftigen Denkens nicht fähig sind. Daher darf man ihnen auch das Wahlrecht entziehen. 329 Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Rechtslehre. 2. Teil. Das öffentliche Recht. Stuttgart (Reclam) 1990, S. 198.
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Außereheliche Kinder stehen außerhalb des Gesetzes. Ihre »Vernichtung« ist nach Kant legitim und berührt den Kategorischen Imperativ in keiner Weise. Kant klammert uneheliche Kinder aus, andere mögen definierend ganze Volksgruppen ausklammern oder Merkmale setzen, wie Glaubenszugehörigkeit oder Hautfarbe, und zugleich nach einem redlich eruierten Kategorischen Imperativ leben, während sie gleichzeitig die Ausgegrenzten »vernichten«. Das universale Gesetz bezieht sich immer auf eine (bewusst oder unbewusst) ausgewählte Gruppe. Alastair MacIntyre führt wiederum an, dass »die kantische Prüfung einer wahren moralischen Vorschrift [darin] besteht […], daß ich sie auf konsistente Weise verallgemeinern kann. Nun kann aber mit genügendem Einfallsreichtum fast jede Vorschrift verallgemeinert werden.«330 Und MacIntyre entwirft im Folgenden ein Beispiel solcher Art. Mit anderen Worten: Wer nur mit hinreichend großer Fantasie und Intellekt gesegnet ist, wird reine Sollensgesetze mit Universalitätsanspruch zu generieren verstehen. Da diese wiederum nicht nach ihren Zielen und Zwecken beurteilt werden dürfen (so schlimme Folgen diese auch haben mögen), wird »[j]eder, der nach dem kantischen Begriff der Pflicht erzogen wurde, […], zu einem leichtgängigen Konformismus gegenüber Autoritäten erzogen.«331 Das Ergebnis sieht also, wenn auch das Gegenteil gewollt ist, nicht nur Ausschlussmechanismen vor, sondern zugleich blinden Gehorsam gegenüber Autoritäten. Man denke nur an die groß angelegte Studie Das Amt zum deutschen Diplomatendienst im Dritten Reich und der Bundesrepublik von Conze/Frei/ Hayes/Zimmermann, in der gezeigt wird, wie leicht sich einbinden lässt, wer für sich die Pflicht zum höchsten Gebot bestellt, ob im ›Handeln aus Pflicht‹ oder bloßen ›Pflichtbewusstsein‹ ist im Grunde einerlei. Eigene Haltungen spielen keine Rolle, wo die Pflicht währt. Und die Pflicht fällt leicht ohnehin dort, sofern die Ideologie begrüßend akklamiert ist. »Eine scheinbar unpolitische Beamtenmentalität, in der Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Effizienz und Staatstreue zählten, aber auch die aus dem Kaiserreich tradierte Anpassungs- und Unterordnungsbereitschaft sowie nicht zuletzt ein ausgeprägtes Standesbewusstsein hatten es dem Gros der Beamten im Auswärtigen Dienst ermöglicht, relativ rasch und zielstrebig zum nationalsozialistischen Staat zu finden.«332
330 MacIntyre, Alasdair: Geschichte der Ethik im Überblick. Weinheim (Beltz/Athenäum) 1995, S. 183. 331 Ebd., S. 184. 332 Conze, Eckart/Frei, Norbert/Hayes, Peter/Zimmermann, Moshe: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München (Karl Blessing) 2010, S. 88f.
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Pflichtbewusstsein auch und gerade das etwas anders gelagerte ›Handeln aus Pflicht‹ sind auf Anpassungs- und Unterordnungsbereitschaft angewiesen. Das eine gibt es ohne das andere sowieso nicht. Sie fallen zuletzt in eins. Und ob die Pflicht geschuldet ist dem ›Opportunismus‹ aus Angst oder der ›Loyalität‹ aus Überzeugung, macht keinen großen Unterschied, denn der Unterschied zwischen dem einen und anderen ist Folge einer außengeleiteten kommunikativen Zuordnung. Die Zuschreibung ›Opportunismus‹ oder ›Loyalität‹ ist demnach bezogen auf das gleiche Verhalten. Nur die aus der jeweiligen Betrachtungsweise erfolgte Bewertung lässt dasselbe Verhalten entweder tadeln oder loben. Wo aus ›Loyalität‹ oder ›Opportunismus‹ der Pflicht gehorcht wird und in Ausübung manch grausamer Tätigkeit selbst psychisch gelitten, ist das eigene Tun zu entschuldigen, denn man verfährt getreu der Pflicht und bleibt gar so Erfüllungsgehilfe des ›guten Willens‹, wie immer der auch gerade ausgelobt ist. Es ist gar in Szene gesetzt der bessere Mensch. Das Ganze lässt sich auch als ›Purzelbaumethik‹ beschreiben, wo der ›gute Wille‹ als Erklärungsmodell für ›böse Taten‹ herangezogen wird. Der ›gute Wille‹, den Kant im Sinn hat, verfährt also, ohne es zu wissen, auf der Basis einer unsichtbar bleibenden Einheit der Differenz grundsolide zweckorientiert. Das reine Sollen erscheint als bloße Schimäre.333 Mochte Kant als Kind der Aufklärung sowie Vernunftgläubiger noch der Pflicht und Pflichterfüllung das Wort reden sowie an ein Sollensgesetz mit Absolutheitsanspruch glauben, so hat der absolute Glaube an die Vernunft ihren Schiffbruch erlitten spätestens im 20. Jahrhundert mit den von Deutschland ausgehenden Ereignissen. Die Ausführungen von von Glasersfeld und MacIntyre liefern einsichtige Gründe für das Scheitern. Die Formulierung von vernunftgeprägten Sollensgesetzen hat ihren blinden Fleck, der zuletzt noch die Ausnahme von der Gesetzesregel nicht sieht und den die Humanität nicht ansatzweise kümmert, sofern nur blank dem Gesetze gefolgt wird. Mit anderen Worten: Die Formulierung eines absoluten Gesetzes (oder auch eines Kategorischen Imperativs) operiert – Kant zum Trotz – hoffnungslos unterkomplex, da es die Basisdifferenz nicht sieht, von der aus alle Überlegungen starten, ein einmal erkanntes Sollensgesetz der Kritik entzieht und zum Gehorsam aus Pflicht erzieht sowie die Ausnahme von der Regel nicht nur nicht sieht, sondern gar die Ausnahme zur Regel mit unbotmäßigen, ja hässlichen Folgen machen kann und letztlich machen wird. 333 Darüber hinaus führt, wenn man einmal genau hinsieht, die praktische Vernunft einen unausgesprochen bleibenden, subjektiven Willensaspekt mit, der dem reinen Sollen entgegensteht: Startpunkt, von dem alles Unterscheiden ausgeht: die Vernunft. Man könnte sagen, der Parasit ist der Glaube an die Allmacht der reinen Vernunft, die der moralische Urteile Fällende voraussetzt. Ein jedes Sittengesetz verfolgt den Zweck und transportiert das Ziel, der Vernunft absolut Geltung zu verschaffen.
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Auch bleibt die Frage offen, welche Instanz darüber entscheidet, ob ein gefundenes Sollensgesetz nach Maßgabe des Kategorischen Imperativs gefällt ist oder daran scheitert. Naiv wäre es zu glauben, es könnte nach hinreichendem vernünftigen Wägen ein Konsens unter allen Beteiligten gefunden werden (wie immer man diese Beteiligten auch aussuchen wollte). Sofern ein Habermas und Sloterdijk sich auf einen Kategorischen Imperativ einigen könnten (so kühn der Gedanke auch ist), stünde irgendwo schon ein Dritter bereit, der klug und anders denken würde. Wer entschiede dann? Die am besten aufgestellte Autorität unter den Zusammengerufenen? Die Person mit der besten Vernetzung? Wer die größte Macht hat, den größten Einfluss, würde seinen Kategorischen Imperativ zum Leitbild ausrufen, denn der einzige Konsens im diskursiven Vielerlei ist der unauflösliche Dissens. Und stünde irgendwo ein den Kategorischen Imperativ formulierender Niemand bereit, er würde nicht einmal gehört werden, weil ihm schon allein der Zugang verwehrt wäre zur Kommission der Denker, und falls seine Einlassungen durch einen veritablen Glücksfall doch Eingang fänden kaum ernst genommen oder zerrieben werden zwischen den diskursiven Interessen, die sich machtvoll in Szene setzen und durchsetzen wollten. Wie das sich ausnehmen kann, lässt sich an Lothar Fritze, Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung sehen, der Georg Elser, Attentäter auf Hitler, »moralisches Versagen« vorwarf, weil er als »Durchschnittsbürger« geistig nicht in der Lage gewesen sein könnte, sein Handeln umfassend vernünftig zu bedenken. Seine Tat wäre nicht das »Resultat einer kenntnisreichen, sachorientierten und nüchternen politisch-moralischen Kalkulation« gewesen, da er »seine politische Beurteilungskompetenz überschritten« habe.334 Diesen Gedanken konsequent zu Ende gedacht, wären nur noch Menschen ab einem bestimmten Grad von Intellektualität in der Lage, ethisch vertretbar zu handeln.335 Genau auf solche Überlegungen liefe es hinaus, wenn 334 Lothar Fritze, zit. n. Lau, Joerg: Eine Selbstbeschädigung. Wie ein Forscher den HitlerAttentäter Elser verunglimpft und das Hannah-Arendt-Institut in Dresden in Misskredit bringt. In: Die Zeit vom 13.01.00, Nr. 3, S. 39. 335 Es mutet in der Tat schon ein wenig seltsam an, wie die Widerstandskämpfer um Stauffenberg jedes Jahr öffentlich und fraglos zu recht geehrt werden, während Georg Elsers Mut zur Tat keine oder kaum öffentliche Resonanz erfährt. Der »Durchschnittsbürger« Georg Elser sah das Unheil schon früh heraufdämmern, als die Stauffenbergs – einen seltsamen Treuebegriff pflegend – noch gehorsam ihrer Pflicht nachkamen, ob aus Pflichtbewusstsein oder Handeln aus Pflicht sei dahingestellt. Neben Georg Elser gibt es noch andere, die gleich ihm handelten und scheiterten. Diese einfachen Leute sahen viel früher, was kommen würde, und werden nicht geehrt. Und falls doch dann am Rande und fern der Öffentlichkeit, jenseits von Staatsakt und TV. Vielleicht ja deshalb, weil sie einfache Leute waren und kein von und zu oder Teil des Bildungsbürgertums. Mit Bedauern ist zu registrieren, dass so kluge, mutige Leute heute keinen Nachhall finden und dass andere, die erst viel zu spät klug geworden sind, allein Anlass für Gedenkfeiern sind.
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man Vorstellungen eines Lothar Fritze, wie sich Vernunft und moralisches Verhalten zueinander verhalten, eine gewisse Plausibilität einräumte. Nur gebildete Menschen wissen, was sie tun, können ihr Handeln überdenken und moralisch handeln. Jörg Lau kommentiert: »Die Delegitimation des singulären Widerstandsaktes eines ›kleinen Mannes‹ dient im Gegenschluss der Exkulpation des Mitläufertums. […] Nimmt man die von Fritze aufgestellten rigorosen Kriterien zur moralischen Beurteilung von Widerstandshandlungen ernst, so müssen die meisten unter totalitären Verhältnissen überhaupt denkbaren Akte der Auflehnung illegitim erscheinen.«336
Die Bedingung der Möglichkeit zum moralischen Handeln ist abhängig vom jeweiligen Bildungsgrad. Und nicht nur das: Nur eine spezifische Bildungslaufbahn garantierte eine hinreichende Vernunftprägung für das Durchdenken ethischer Problemstellungen. Für seine Abhandlung erhielt Lothar Fritze zwar reichlich und massiv Kritik, aber auch Unterstützung, z. B. vom stellvertretenden Direktor des Instituts, dem Politikwissenschaftler Uwe Backes, der Fritzes Ausführungen »für einen moral-philosophischen Beitrag kantischen Zuschnitts« hielt.337 Der Kategorische Imperativ erfüllt in der Praxis nicht die elementarsten Erwartungen, die in ihn gesetzt sind. Der Kategorische Imperativ ist das Ergebnis elaborierter Theorie, nur in der Praxis funktionieren, das tut er nie. Im Gegenteil, er ist geeignet, die eher dunklen Charakterzüge im Menschen zu verstärken, da er Menschen vernünftige Gründe gibt, sie mit gutem Gewissen auszuleben. Die von Pflicht erfüllten und dabei sich ausbildenden besseren Menschen wären demnach auch – ganz unironisch und keineswegs zynisch – die Eichmanns & Co gewesen.338 Die Rede von der Pflicht ist von vielen nach dem Ende des Vernichtungskrieges 1945 und der Befreiung als legitimierender Grund für das 336 Ebd. 337 Zit. n. ebd. 338 Eichmann hat sich in der Tat während seines Prozesses auf den Kategorischen Imperativ bezogen und so eigene Verantwortung abgelehnt, indem er der Pflichterfüllung das Wort redete. Zwar wurde in Abrede gestellt, dass Eichmanns Verständnis des Kategorischen Imperativs mit dem von Kant etwas zu tun habe. Hierzu braucht es aber eine Instanz, die über richtig und falsch richtet. Man mag bei Eichmann im Urteile fraglos richtig liegen, aber die Frage nach der richtenden Instanz stellt sich grundsätzlich. Wer ist oder soll die Instanz sein, die entscheidet, ob man den Kategorischen Imperativ richtig angewendet habe oder nicht. Immerhin kann die Vernunft zu unterschiedlichen Schlüssen kommen, sodass unterschiedliche Instanzen zu ganz unterschiedlichen Urteilen ob der rechten Anwendung/ Auslegung kommen. Schon beginnt der Streit nach der rechten Auslegung, der im Unversöhnlichen enden kann, wo man Folgerungen nicht folgen mag oder wo man sich Fehlschlüsse u. a. nachweist. Der Kategorische Imperativ ist so eine sehr zweifelhafte Richtschnur. Das Pflichtgesetz von Kant fußt überdies auf der Prämisse universalistischer Pflichten. Dass es solche gäbe, ist aber schon eine höchstvoraussetzungsreiche Prämisse und reine Glaubenssache.
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eigene hässliche Tun angeführt worden und hat ein schlechtes Gewissen viel zu selten nur beschert. »Befehl war damals Befehl. […] Mich als Nazi-Verbrecher zu bezeichnen ist lachhaft«339, meint so nicht von ungefähr der verurteilte Kriegsverbrecher Erich Priebke, wobei es sich diskutieren lässt, ob hier ein ›Handeln aus Pflicht‹ oder ein pflichtgemäßes Handeln vorliegt. Und die Erwägungen von MacIntyre und die von von Glasersfeld berücksichtigend, braucht es nicht einmal viel Fantasie, um einen Kategorischen Imperativ zu formulieren, der die moralische Integrität eines Priebke ins günstige, ja vorbild-, tugendhafte Licht setzt. Es ist die Pflicht, die den Nazi-Verbrecher getrieben hat, und diese ist – so ist zu vermuten – unter Verzicht auf das eigene Glücksgebot geleistet worden. Aber so schwer diese Pflicht zu erfüllen auch war, es wird dem Pflichtgesetz getreu gefolgt, indem man sich unter Aussparung eigener Bedürfnisse oder emotiver Befindlichkeiten in den Dienst der Sache und dem reinen Sollen stellte. Und daran ist zu wachsen und der »bessere Mensch« auf den Weg gebracht. Man mag daher seine eigene Integrität nicht infrage gestellt sehen und im Zuge der gegen sich verübten Härte im Ausüben einer Pflicht, die vielen den Tod gebracht haben mag, sogar als »besserer Mensch« gefühlt haben. In der Erfüllung der Pflicht ist die moralische Gesinnung ausgedrückt, weil man der Pflicht und nicht anderen Erwägungen folgt. Grausames Morden und ein ethisch reines Bewusstsein sich zu erhalten, gar auszuprägen: Das schließt einander nicht aus. »Ideologen der Vernichtung wie Himmler, Täter wie Rudolf Höß und zahllose andere haben immer wieder betont, dass es eine unangenehme, der eigenen ›Menschlichkeit‹ widerstrebende Aufgabe war, Menschen zu vernichten, sich aber gerade in der Selbstüberwindung zum Töten die besondere charakterliche Qualität der Täter zeige. Es geht dabei um die Verkoppelung von Töten und Moral, und es ist diese Verkoppelung zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit unangenehmer Handlungen gegen das eigene mitmenschliche Empfinden auszuführen, die den Tätern die Möglichkeit gab, sich noch im Morden als ›anständig‹ zu empfinden«.340
Auf eine andere Ebene gehoben, sieht die Sache gleichwohl anders aus: So traurig und grausam auch die Pflicht sich gestalten mag, sie macht das Leben im rechtschaffenen Befolgen der Regel und des Pflichtgesetzes leicht, denn man ist jeglicher Verantwortung für eigenes Tun enthoben. Durch die Gesetzesregel ist schon entschieden worden. So ist das Paradox beschrieben, dass, wer sich den eigenen Bedürfnissen entfremdet und entsagt, sich das Leben ziemlich leicht macht. Das Ethos von der Pflicht stellt eine abstrakte Idee über den Menschen und schreibt sich als Ethik mit negativem Vorzeichen, denn sie hat ihren blinden Fleck in dem fehlenden Blick für die konkreten Verhältnisse. Abermals ein 339 Fiedler, Teja: Nazis auf der Flucht. 60 Jahre Kriegsende Teil V. Stern 13/2005, S. 138. 340 Neitzel, Sönke/Welzer, Harald: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten, Sterben. Frankfurt/M. (Fischer) 2011, S. 201.
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Beispiel für jene ›Purzelbaumethik‹ ist es, die sich hier ausdrückt. Das Ethos von der Pflicht setzt einen formalisierten Maßstab an die Stelle einer im Handeln sich prüfenden und permanent korrigierenden Ethik. Das Ethos von der Pflicht setzt einen Regelkreis in Gang, der nur um sich selbst und den Selbsterhalt noch kümmert und als blind laufendes System kafkaeske Verhältnisse schafft. Abermals ist das Theorie/Praxis-Problem zu sehen. Was in der Theorie so schön vernünftig ersonnen war, läuft in der Praxis auch in diesem Falle völlig aus dem Ruder. Ja, man möchte beinahe einen Kategorischen Imperativ formulieren, der da heißt: Folge einem Sollensgesetz und setze es absolut, und es wird ganz zwangsläufig das Sollen ins inhumane Abseits stellen. Jeder Kategorische Imperativ trägt als Möglichkeit die verheerende Katastrophe in sich. Sie ist ihm sozusagen programmatisch eingeschrieben. Es nimmt jedenfalls nicht wunder, dass ein Bürgertum am Ethos zur Pflicht sich erbaute und über eine so gesetzte Ethik dem Ungeist der Zeit sich näherte und ihn pflegte.
Bildungsbürgertum, Kunstverständnis und die Inhumanität/. Gerade das Bildungsbürgertum zeigt sich – trotz oder nunmehr aus einsichtigen Gründen sogar gerade wegen des humanistisch geprägten Bildungsprofils – ziemlich angezogen von dem Ungeist, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waltet. »Zunächst der Faschismus und dann der Nationalsozialismus übten auf große Teile der Intelligenz und des Bürgertums eine ästhetische Anziehungskraft aus, die heute schwer nachvollziehbar ist.«341 Weite Kreise des deutschen Bildungsbürgertums begreifen »den politischen Umbruch von 1933 idealisierend als ›eine wirkliche Gesundung des deutschen Staatslebens‹«342, wie Stefan Rebenich mit Wilhelm Mommsen dessen Haltung und die des Bürgertums generell herleitet. Diese Anziehungskraft mag auch Folge weiterer Gründe sein, die darin zu sehen sind, dass die Politik und hier namentlich Adolf Hitler selbst von den Ideen des Bildungshumanismus getragen ist, wie Wolfgang Martynkewicz ausführt, wenn er Hitlers Vorstellungen zur Kunst zitiert, der Kunst als über sich hinausgehend und insbesondere a-historisch bezeichnet: »Selbst wenn ein Volk erlischt und Menschen schweigen, dann werden die Steine reden, solange es andere Völker gibt mit annähernd gleichem kulturellen Vermögen.«343 Die Unsterblichkeit ist es, die Kunst auszeichnen möge, und über die Kunst werde auch 341 Lepenies, Wolf: Kultur und Politik, a. a. O., S. 110. 342 Rebenich, Stefan: Die Mommsens. In: Reinhardt, Volker (Hg.): Deutsche Familien. Historische Portraits von Bismarck bis Weizäcker. München (dtv) 2010, S. 164. 343 Martynkewicz, Wolfgang: Salon Deutschland, a. a. O., S. 462.
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das Volk durch die Zeiten fortgetragen. »Wenn in tausend Jahren unsere Nachkommen die Erde nicht durchwühlen werden nach den Trümmern der Kunstwerke unsrer Zeit – dann war diese auch nicht wirklich gross! Denn jede grosse Epoche wird sich in unvergänglichen Monumenten und Kunstwerken verewigen«344, sagte Hitler einmal in kleinem Kreise bei einem Besuch im Salon Bruckmann unter Bildungsbürgern in den 20er-Jahren. Und der Gastgeber fühlte sich unwillkürlich an Hölderlin erinnert, der einmal sagte: »Dies ist die Unsterblichkeit […] [D]ie schönen Götter Griechenlands sind solche Abbilder der schönsten Gedanken eines ganzen Volkes. – So ist es mit der Unsterblichkeit beschaffen.«345 Der Künstler wiederum steht, wie Adolf Hitler fortfährt, auch dem Naturwissenschaftler vor, denn der Künstler schafft sehenden Auges die »wahre Kunst«. Es »kann die konstruktive und tektonische Form der Lösung ihrer beiden Aufgaben dem wirklich begnadeten Künstler gelingen, ehe noch die sogenannte exakte Wissenschaft den Beweis für die tatsächlich statische Richtigkeit der gefundenen Lösung zu liefern vermag.«346 Ja mehr noch, der Künstler scheine die Fähigkeit zu besitzen, »die Erkenntnisse seiner Mitwelt oft um Jahrtausende«347 zu überspringen, während der exakte Wissenschaftler nur in kleinen Schritten Erkenntnisse zu erschließen vermag. Der Rückbezug zum Altertum erfolgt ganz ähnlich bei Hitler wie in bildungsbürgerlich geprägten Herleitungen auch, wird doch hier eine unverstellte, große Kultur ausgemacht, auf die durch alle zwischenzeitlichen kulturellen Wirrnisse hinweg wieder zurückgegriffen werden kann. »Und es ist daher kein Wunder, daß jedes politischheroische Zeitalter in seiner Kunst sofort die Brücke sucht zu einer nicht minder heroischen Vergangenheit«348, in der in jeder Rede die Griechen und Römer ausgemacht werden. »Da es aber besser ist, Gutes nachzuahmen, als Neues, Schlechtes zu produzieren, können die vorliegenden intuitiven Schöpfungen dieser Völker heute als Stil ohne Zweifel ihre erzielte und führende Mission erfüllen.«349 In der Kunst der Vergangenheit des Altertums offenbaren sich Erkenntnisse und Erfahrungen, offenbaren sich »Wahrheiten«.350 In Parenthese gesprochen: Worte wie diese könnten auch von Winckelmann oder Humboldt stammen. Ein so gebildetes Bürgertum kann vorbehaltlos ohne Einschränkung applaudieren. Von der Basis solch wahrer Kunst ausgehend, kann dann auch der 344 Hitler, Adolf, zit. n. ebd., S. 463. 345 Hugo Bruckmann zit. hier Hölderlin, nach ebd., S. 463f. 346 Hitler, Adolf: Der Führer über die Kultur im nationalsozialistischen Staat. Aus der Rede auf dem Reichsparteitag 1933. In: Forsthoff, Ernst: Deutsche Geschichte von 1918–1938 in Dokumenten. Stuttgart (Alfred Kröner) 1942, S. 445. 347 Martynkewicz, Wolfgang: Salon Deutschland, a. a. O., S. 464. 348 Hitler, Adolf: Der Führer über die Kultur im nationalsozialistischen Staat, a. a. O., S. 446. 349 Ebd. 350 Ebd.
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rechte Weg in die Zukunft unverblendet von den Irrtümern der Zeit eingeschlagen und eine Kunst, die über der Zeit steht, geschaffen werden. Politik und Kunst geben einander die Hand im Glauben an die Wahrheiten der Kunst und dem Überdauern in der Ewigkeit. Solche Kunst schaffen können nur Genies, über dem Volke Schwebende, was auch eine demokratische, auf Egalität beruhende Gesellschaft wie von selbst ausschließt. Als Erfinder solcher Gedanken zeichnet Adolf Hitler fraglos nicht als originärer Autor verantwortlich, er übernimmt und vereinnahmt bildungsbürgerliches Gedankengut: »der Hinweis auf die Tradition, […], das Beharren auf Authentizität und Verwurzelung, die Erhebung der Kunst über die Wissenschaft. In keiner Zeit waren diese Gedanken so virulent wie um 1900.«351 Den Bildungsidealismus jener Zeit vertretend, zum eigenen Programm erhebend und in Reden vehement proklamierend, kann ein Bildungsbürgertum akklamieren dem Ungeist der Zeit, wenn man der Analyse von Wolfgang Martynkewicz Glauben schenkt, der schreibt: »Das gebildete Bürgertum, das um 1900 den ästhetischen Aufbruch maßgeblich geprägt und getragen hatte, konnte sich in Hitlers Kunstverständnis wiedererkennen. Es konnte sich auch wiedererkennen in dem, was er vernichten und abschaffen wollte, das Form- und Ortlose, das Fremde und Wurzellose.«352
Auch viele Künstler fügten sich nicht nur ein in das System, sondern gingen konform mit Ideen des Faschismus. Eine weltbürgerliche Humanität, die sich nicht im nationalen Dünkel verfing, war oftmals nicht zu verzeichnen. Was Lepenies im Folgenden über Schriftsteller schreibt, lässt sich ebenso umstandslos auf Künstler aller Richtungen übertragen: »Viele Autoren hinderte ihre künstlerische Sensibilität nicht daran, zum Opfer einer groben politischen Ideologie zu werden.«353 Und an Stelle der Rolle des Opfers, das Lepenies den Künstlern zubilligt, die von einer Haltung der Passivität und einem willenlosen Widerfahren ausgeht, ist auch die Täterrolle nicht auszuschließen, wenn Künstler, ihrer Reflexionskraft nicht beraubt, sich bewusst akklamierend den Verhältnissen zugewandt und aktiv daran mitgestaltet haben. Es sei festgehalten: Spätestens angesichts dieser Verbrechen im 20. Jahrhundert ist es müßig, über segensreiche Wirkungen humanistischer Bildung zu räsonieren. Anzunehmen, Bildung, Kunst, Kultur würden den Geist im positiven Sinne formen/prägen, beschreibt eine leider zu schöne Illusion, wie die Ereignisse in der Kulturnation Deutschland im 20. Jahrhundert ziemlich eindeutig belegt haben, was Adorno im Jahre 1950 schreiben lässt: Die überlieferten ästhetischen Formen sind »Lügen gestraft [worden] von der Katastrophe jener 351 Martynkewicz, Wolfgang: Salon Deutschland, a. a. O., S. 465. 352 Ebd., S. 466. 353 Lepenies, Wolf: Kultur und Politik. Frankfurt/M. (Fischer) 2008, S. 123.
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Gesellschaft, aus der sie hervorgingen.«354 Die Ernüchterung ob der nur angedichteten segensreichen Wirkung von Bildung und Kultur schwingt auch in den Worten des großen Musikkritikers Joachim Kaisers mit, der schreibt: »Kultivierte Leute verhalten sich vielleicht um eine Spur gesitteter als völlig unkultivierte, derbe und rohe, die nichts als bloße Gewalt kennen. Aber eine stetige Beschäftigung mit Kultur verbessert den Menschen nicht unbedingt. Den Obersturmbannführer, der in Auschwitz Bach hörte, soll es schließlich gegeben haben. Ich fürchte sogar, dass jemand, der über die Maßen kultiviert und sensibel für Schönes ist und darin einen großen Teil seines Menschseins verwirklicht, möglicherweise im Privatleben jene dunklen und schmutzigen Seiten, die auch zum Menschen gehören, umso heftiger und ungehemmter herauslässt.«355
Bildungshumanismus und die Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen/. Trotz aller Unmenschlichkeit und gedanklichen Irrlehren, an denen auch die humanistisch geprägte Bildungselite im nicht unerheblichen Maße beteiligt war, bleibt der Glaube an eine humanistisch geprägte Kultur mit positiv gesetztem Mehrwert auch nach der Befreiung durch die Alliierten ungebrochen. Die Vorstellung an eine ideengeleitete Kultur trägt auch weiterhin die Alliierten. Noch während des 2. Weltkrieges glaubte das London Institute of Sociology, dass mit Wiederherstellung der kulturellen Werte Deutschland wieder charakterlich genesen könnte. »[I]n Kunst und Kultur [wurde] ein Korrektiv fehlgeleiteter Politik gesehen, dessen Wirkungen maßlos überschätzt wurden. Dies war nicht nur in Deutschland der Fall. Als Mitglieder des London Institute of Sociology während des Zweiten Weltkrieges vorhersagten, dass Deutschland den Nationalsozialismus nur überleben werde, wenn es seine kulturellen Werte, wie sie sich in der Person und im Werk Goethes verkörperten, wieder herstellte, verfielen sie der typisch deutschen Illusion. Das Gegenteil stimmte: Um den Zivilisationsbruch, den es über Europa gebracht hatte, zu heilen, musste Deutschland die deutscheste aller Ideologien aufgeben, die Illusion, die Kultur könne eine Kompensation der Politik sein.«356
Es ließe sich auch die These aufstellen: Der humanistisch geprägte Geist liefert bevorzugt den Nährboden für ausufernde Inhumanität. Ins Bewusstsein dringt der Zweifel an die segensreichen Wirkungen von Kultur freilich nicht. Auch die 354 Adorno, Theodor W.: Auferstehung der Kultur in Deutschland? In: ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1971, S. 27. 355 Joachim Kaiser. In: Kaiser, Henriette/Kaiser, Joachim: »Ich bin der letzte Mohikaner«. Berlin (Ullstein) 22008, S. 229. 356 Lepenies, Wolf: Kultur und Politik, a. a. O., S. 110.
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Überlegungen nach dem 2. Weltkrieg des deutschen Historikers Friedrich Meinecke in seinem vielgelesenen Buch Die deutsche Katastrophe, »Goethegemeinden« zu bilden, in denen wöchentlich, am besten nach dem sonntäglichen Besuch der Kirche, die Bekanntschaft mit den »lebendigsten Zeugnisse[n] des großen deutschen Geistes« durch Vortrag »den Klang der Stimme den Hörern ins deutsche Herz zu tragen – edelste deutsche Musik und Poesie zugleich ihnen immer zu bieten«, läuft in die Richtung der Restituierung eines humanen Charakters durch Kunst. Es wäre zu spüren, »wie Seele zu Natur und Natur zu Seele wird«, und würde zu einem »deutsche[n] character indelebilis« führen.357 Prägnanterweise ist es überdies die »deutsche« Kultur, welche ihre Wirkkraft entfalten möge, womit so die polarisierende Einheit der Differenz zwischen eigener/fremder Kultur aufgespannt, ja erhalten wird. Die deutschen Bürger zur Teilnahme an Lesungen und Konzerten zu verpflichten, damit die Kunst ihre segensreiche Wirkung entfalten könnte und eine humane ethische Gesinnung wieder auf den Weg brächte, läuft in die Richtung dieses Irrglaubens, Kultur könne Einfluss nehmen auf eine sittliche Gesinnung. Orientierung, Werte sollten neu implementiert werden mit einer Neuorientierung auf die humanistischen Quellen. Meineckes Buch erfuhr, wie Lepenies in Kultur und Politik ausführt, reichhaltig Kritik u. a. von Ralf Dahrendorf, der darauf verwies, dass »durch die Besinnung auf das heilige Erbe der Goethe-Zeit« er an der Brücke mitbaute, wo auch »die sich harmlos gebärdende Inhumanität ihren Platz hat.«358 Gleichwohl ist es dann doch auf Zeit »zu einer Rückbesinnung auf die humanistischen Bildungsideale« gekommen. »Man bemühte sich mit erneuerter Anstrengung um Orientierung, um Werte, um die Quellen der Humanität.«359 Der Glaube, durch die explizite Auseinandersetzung mit Kultur würde ein kultivierter Mensch in Szene gesetzt, der auch sittlich vertretbare Werte pflegen würde, hat sich als hübsch ersonnene Fantasie und reines Wunschdenken erwiesen und wird im Grunde wider besseren Wissens immer wieder neu aufgelegt. Es ist die reine Fantasie, die solche unsinnsgesättigten Blütenträume träumen lässt und die auch hier die Geschichten um Kunstwelten mit ethisch geprägtem Folgewirken erfinden ließ. »Fantasie ist die Fähigkeit, die Religion und Mythologie hervorbringt«,360 wie sie auch den Mythos von Bildung und Ethik in Szene setzte. Oft genug und immer wieder erzählt, wächst zwar der Glaube an die schön erzählten Geschichten, ohne dass der Gehalt derselben davon sich be357 358 359 360
Friedrich Meinecke, zit. n. ebd., S. 275. (Lepenies) Ralf, Dahrendorf, zit. n. ebd., S. 283. (Lepenies) Fuhrmann, Manfred: Der europäische Bildungskanon, a. a. O., S. 208. Armstrong, Karen: Eine kurze Geschichte des Mythos. München (dtv) 2005, S. 8.
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troffen zeigen muss. Jene oftmals emphatisch überhöhte Kultur trägt nicht zwangsläufig bei zu einem Menschen mit ansprechendem Wertebewusstsein, wie das Scheitern in der Praxis belegte. So zeichnet humanistische Bildung stets durch zwei Seiten sich aus, die Möglichkeit zum empfindsamen Sein ist ihr genauso gegeben wie die Möglichkeit zu Barbarei, ob sich die eine oder andere Richtung erfüllt, ist im Wechselspiel von innen und außen bestellt und die erstrebte Richtung keineswegs von vornherein oder von Wahrscheinlichkeit bestimmt. Was im 19. Jahrhundert Humboldt mit seinen idealistischen Grundüberzeugungen über die Effekte einer zweckfreien Bildung ersonnen hat, wird – bei allem kritischen Begleitrepertoire – gebetsmühlenartig bis heute oft unreflektiert repetiert, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass diese Phantasmagorie im schrecklichen Maße längst gründlich widerlegt ist. In einer für den Musikschulunterricht geschriebenen Didaktik kann daher noch Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts stehen: »Die Aufklärung hatte dem Menschen die ›selbstverschuldete Unmündigkeit‹ (Kant) genommen. Die Musik steht nicht mehr in einem fremden weltanschaulichen oder gesellschaftlichen Auftrag; ihre kirchliche und höfische Bestimmung ist zu Ende, sie ist freiheitliche Aussprache des autonomen Menschen geworden. Dadurch steigert sich ihr Rang; Beethoven hält sie für eine ›höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie‹, sein Zeitalter sieht in ihr die ›Vermittlung des Göttlichen‹. Hand in Hand damit geht die Begründung einer saekularen Sittlichkeit in der Idee der Humanität. ›Edel sei der Mensch, hilfreich und gut‹ (Goethe). Beethoven wählt aus Schillers Freudenlied jene Strophen zur Komposition aus, welche die Freude, die Gottesfurcht und die Nächstenliebe verherrlichen. Dem Humanitätsglauben liegt zugrunde der Glaube an das Ursprünglich-Gute im Menschen. Diese lichte schöne Gefühlswelt des Menschen, die edle Grundstimmung der Seele, diese reine Menschlichkeit spiegelt sich in der klassischen Musik. Daher ihre idealistische Beschwingtheit, ihre natürliche Erhabenheit und Würde.«361
Es ist ein Beziehen auf kanonisierte Texte, über die Autoren autoritative Wirkung entfalten. Die Rezeption und textimmanente Erschließung erscheinen dabei wichtiger als die reale Lebenspraxis, die im Widerspruch zum Gesagten stehen mag: darin scheint auf das ärgerliche Theorie/Praxis-Problem, dass die Praxis sich so gar nicht an die Theorie oftmals halten will. Und wo die Praxis an die Theorie sich nicht hält, ist es ausgemacht, dass die Praxis »falsch« ist und fraglos nicht die Theorie. Im Zweifelsfalle wird der theoretischen Erörterung mehr Gewicht zugemessen denn den realen Effekten. Darin steckt schon ein Programm. 361 Alt, Michael: Das musikalische Kunstwerk. Musikkunde in Beispielen, Bd. 2. Düsseldorf (Schwann) 1965, S. 227f.
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Mit Hinweis auf Autoren wie Kant, Schiller, Humboldt u. a. wird Gesagtes autoritativ legitimiert. So festgefügt der Glaube an die ethische Dimension der rechten (Kunst/Kultur-)Lektüre ist, erinnert dieses Glaubenspostulat an den Buchglauben vergangener Zeiten, als einmal in Schrift gegossene Wissenszeugnisse unmissverständlich von der Wahrheit kündeten, mochten diese auch keinen Widerhall im »Buch der Natur« jenseits aller Buchdeckel finden. Wie festgefügt der reine Buchglaube sich einst darbot, mag ein Beispiel verdeutlichen. An einer Leiche demonstriert ein Anatom des 17. Jahrhunderts, dass der Nervenstamm vom Hirn ausgeht und nicht, wie das Buchwissen dies darlegt, vom Herzen. Ein Buchgelehrter hingegen – der Tradition noch verpflichtet – sagt nach dieser Demonstration: »Ihr habt mir das alles so klar, so augenfällig gezeigt – stünde nicht der Text des Aristoteles dagegen, der deutlich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen, man sähe sich zu dem Zugeständnis gezwungen, daß ihr Recht habt«.362 Recht ähnlich nehmen sich die Haltungen zu den Effekten humanistischer Bildung heute noch aus, dass man einen fiktiven Vertreter von Humboldts Bildungskonzept, der beispielhaft auf die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis desselben aufmerksam gemacht wäre, sagen hört: Stünden nicht die Worte eines Humboldt dagegen, man sähe sich gezwungen einzuräumen, dass das Bildungsideal einer Charakterveredelung schlicht falsch ist. Das Simulakrum der (neu-)humanistischen Bildung trübt den Realitätssinn im beträchtlichen Maße. Es ist dabei eingerichtet im rein leerlaufenden virtuellen Kosmos, der sich abschottet von allen realen Wendungen. »Auschwitz [hat] das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen. Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern.«363
Die humanistische Bildung hat nicht abseits des Systems Nationalsozialismus gestanden, sondern ist tragender Teil desselben gewesen mit ihren zunächst einmal unpolitischen Vorstellungen zur Kunst mit einer vorgeblichen Zeitlosigkeit, Universalität, zuletzt Einzigartigkeit, Authentizität, Wahrhaftigkeit, die aber einen verhängnisvollen Schweif nach sich ziehen. An die Stelle des bröckelnden Gottesversprechens rückt das Versprechen, dass die eigene Kultur in einem überzeitlichen Zusammenhang stünde, was die Liebhaber ihrer Kunst über andere erhebt.
362 Galilei, zit. n. Spierling, Volker : Kleine Geschichte der Philosophie. Piper. München (Piper) 5 1997, S. 143. 363 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno/Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. 6. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003, S. 359.
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Vom bösen Zauber der Humanität zur Kränkung des Selbst/. Von kunstreligiösen Erwartungshaltungen ist eine humanistische Bildung geprägt gewesen und vom Glauben an Künstler, die das Unaussprechliche in »wahre Kunst« graduell einzubinden verstehen. Gerade Metaphern von Überzeitlichkeit, Authentischen und manchem mehr sind es, denen ein humanes Antlitz fehlt und die asoziale Folgen zeitigen, obwohl gerade mit ihnen der Versuch gemacht ist, eine Unterscheidung einzuführen, über die Humanität sich vorbildhaft definieren mag. Begriffe wie die genannten, die vom Einzigartigen und Wahren sprechen, die den Glauben an eine universalistische Prägung formulieren, tragen in sich den Keim des Totalitären, da sie mit extremen Ausschlussmechanismen arbeiten. Das Einzigartige, Universale duldet keinen weiteren Partner neben sich. Der vertretene Kulturbegriff gründet in der Einheit der Differenz von innen/außen, bei der – ganz im Sinne der Metaphysik der Präsenz – der positiv gesetzte Wert nach innen gerichtet ist und der negative mit dem Außen verbunden ist. Im günstigen Fall kann sich die Negation in freundlicher Anerkennung ausdrücken oder auch in schlichter Ignoranz dem Anderen gegenüber, im weniger günstigen Fall durch Missionierung und Okkupation des Fremden auf die eine oder andere Weise. In beiden Fällen aber hat die Wertschätzung des Anderen oder Fremden ihre engen Grenzen und zurückzustehen vor der Einzigartigkeit des eigenen kulturellen Erbes, das zugleich auch noch zum Überzeitlichen hochstilisiert wird. Ausgegrenzt des Weiteren werden weite Teile der Bevölkerung eigener Nationalität, wenn die Kunst autoritativ wirkt und nur einige wenige ausgezeichnet sind, eine solche Gestalt werden zu lassen, und weitere wenige ausgewählt sind, daran zu partizipieren. Die (neu-)humanistische Bildung setzt notwendig auf eine Vielzahl von Ausgegrenzten. Es lässt sich die These formulieren: Die Inhumanität wohnt dem sich bildenden humanen Charakter inne. Das Bewusstsein für Kunst mit ideellem Mehrwert, die zum Denkmal erhoben wird, lässt gerade jene Humanität vermissen, die beschworen wird, denn sie erhebt den unantastbaren Kunstschrein über den Menschen, der – sofern er sich nur hinreichend Mühe gibt – graduell Anteil nehmen kann und darf am bleibend unterstellten Wert der Kunst. Der Einzelne darf an absolut/autonom sich gerierenden Künsten – die losgelöst vom weltlichen Tand und Zwecken sein sollen – sich erbauen und soll – so die Heilsbotschaft – an ihr wachsen. Diesen herausragenden Stellenwert absolut/autonom sich vorstellender Kunst erhebt Adorno in der Negativen Dialektik zum Problem, wenn er schreibt, dass in Philosophie, Wissenschaft und Kunst, »im emphatischen Anspruch ihrer Autarkie«364, die Unwahrheit haust und drückt damit nicht weniger aus, als dass 364 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften. Bd. 6, hg. v. Rolf Tiede-
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gerade dort, wo die sogenannte Autonomie unterstellt wird, die Lebenswirklichkeit zugunsten des verfochtenen Ideals aus den Augen verloren wird. Jede noch so sehr dem Menschen dienende Idee, die a-historisch und kontextunbezogen gedacht wird (zeitlose, universale Kunst, Kategorische Imperativ z. B.), erfährt ihre inhumane Wandlung. Auf eine allgemeine Ebene gehoben: Wer sich nicht am Menschen orientiert, sondern an einer Idee (um des Menschen willen), vergeht sich am Menschen (um der Idee willen). Das gute Gewissen oder auch eine humane Gesinnung muss dabei nicht einmal verlustig gehen, da man sich an der Idee – am Ideal – orientiert, das jede Gewalt, jede Barbarei zu rechtfertigen scheint, denn ein einmal erkanntes Ideal will – gegen alle Widerstände und mangelnde Einsicht – erhalten oder durchgesetzt werden. Auch im Leben nach einem einmal erkannten universalistisch angehauchten Pflichtgesetz erfüllt sich dieses Ideal und zeigt das Inhumane daran an. Möchte man der eigenen Verantwortung entsagen und ein gutes Gewissen dabei behalten, spricht man nur das Zauberwort, das da Bildung heißt. Die Bildung liefert das Grundvertrauen zu sich selbst. Aus dem Vertrauten schöpft man das Selbstvertrauen. Und aus dem (Selbst-)Vertrauten ist die Selbstgewissheit zu schöpfen, die gerne und leicht umschlägt in die Selbstgefälligkeit, die dem anderen das eigene Verständnis als das Verständnis preist, das es um jeden Preis zu erhalten gilt. Bildung nötigt infolgedessen zur Anpassung und fördert eine Horizonteintrübung, man könnte auch sagen: Engstirnigkeit. Bildung, so emphatisch überhöht oder zentral gesetzt, schränkt das Urteilsvermögen massiv ein, wo Selbstzufriedenheit/Selbstgefälligkeit geistige Beweglichkeit ersetzt. Kunst und Kultur – trotz grausamer Widerlegung aller ethisch gestimmten Wirkungsunterstellungen – weiterhin in eine ethisch geprägte Rahmenordnung einfügen zu wollen, sieht möglicherweise seinen Grund allein in der Kränkung, die den durch Bildungspatent Ausgewiesenen widerfahren ist. Es ist der Verlust gesellschaftlicher Stellung zu verzeichnen, wenn das Bildungspatent weder einen tatsächlichen noch einen Placebo-Effekt in sich trägt. Der durchlaufene Initiationsritus, ausgewiesen durch das erworbene Bildungspatent, ist obsolet geworden. Wenn aber die Initiation – das Hinübergleiten in einen ausgewiesenen, auch von anderen anerkannten Stand – ausbleibt, verfällt der Unterschied zur Breite der Bevölkerung. Die an die Vernunftreligion der Bildung gläubig sich Haltenden sehen sich ihrer Unterschiede beraubt und gehen auf in die breite Masse, auch Bevölkerung geheißen. Und das kränkt. Die sukzessive Humanisierung im Entwicklungsgang der Geschichte fällt aus und so auch die »Veredelung des Menschengeschlechts«, wie sie sich Humboldt erträumte.365 mann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003, S. 359. 365 Humboldt, Wilhelm von: Betrachtungen über die Weltgeschichte. In: ders: Werke in 5 Bänden, Bd. 1, hg. v. Flitner, A. und Giel, K. Studienausgabe (Darmstadt) 2010, S. 569.
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Erklärbar wird das Paradox einer inhuman sich gebärdenden Humanität, wenn man einmal den Blick auf die Evolution und dort auf die Primaten wirft. Soziobiologisch drückt sich in dem aggressiven Verhalten der Kulturbürger und Künstler ein durch Evolution angelegtes Gruppengesetz aus, wie es auch bei Primaten vorzufinden ist. »Je kooperativer Gesellschaften sind, je enger ihre Mitglieder durch eine sie verpflichtende Binnenmoral zusammengehalten werden, desto kampfesstärker vermögen diese nach außen hin aufzutreten. Moral wird erst dann als Moral verstanden, wenn sie einen Feind, gleichsam einen lebenspraktischen Gegenentwurf zu sich selbst, konstruiert.«366
366 Voland, Eckhart: Die Natur des Menschen. Grundkurs Soziobiologie. München (Beck) 2007, S. 27.
Musik als Sprache »Der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung (1875–1961), der sich der Musik gegenüber zunächst skeptisch verhielt, kam 1956 durch die Begegnung mit einer Musikerin zu der Ansicht, Musik sei die Muttersprache der Menschheit, die Sprache der Seele. Er hätte auch sagen können: Musik ist die innere und universelle Sprache Gottes. Die Vorstellung von der Musik als Universalsprache – dies sei hier angemerkt – ist bereits im 19. Jh. aufgekommen. Franz Liszt (1811–1886) schreibt: ›Die Musik ist als die universelle Sprache der Menschheit zu bezeichnen, durch welche das menschliche Gefühl sich allen Herzen in gleich verständlicher Weise mitteilen kann.‹«367 »Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. […] Musik zielt auf eine intentionslose Sprache. […] Sie verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen.«368 »Musik ist eine Sprache, die jeder versteht. Das ist blühender Unsinn.«369
Die so vorzüglichen Vermittlungsqualitäten ethischer und anderer Natur, die insbesondere Musik vorgeblich haben soll, werden in einer Vielzahl von Schriften gerne damit erklärt, dass es sich bei der Musik um eine besonders ausgezeichnete ›Sprache‹ handle. Über den einverleibten Klangstrom würde der Mensch (intuitiv) verstehen, und so würden Komponisten jenen nutzen, mitunter um sich mitzuteilen den Sprachgemeinschaften gleich der ganzen Welt, und könnten ein Verstehen in ihrem oder auch höheren Sinne evozieren. Es 367 Heymel, Michael: Wie man mit Musik für die Seele sorgt. Ostfildern (Matthias Grünewald Verlag) 2006, S. 107. 368 Adorno, Theodor W.: Musikalische Schriften I–III. Gesammelte Schriften. Bd. 16, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003, S. 252f. 369 Fladt, Hartmut: Der Musikversteher. Was wir fühlen, wenn wir hören. Berlin (Aufbau) 2012, S. 11.
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braucht nur die richtigen und ins richtige Verhältnis gesetzten Töne, und in aller Welt wird verstanden. Ansprachen an die ganze Welt vollziehen sich so nicht nur von der Kanzel, sondern auch über Partituren sowie vom Dirigentenpult. Einschränkend muss dabei allerdings sogleich gesagt werden, dass diese besondere Form der ›Weltkommunikation‹ ganz offenkundig nur mit Musik aus dem westlich geprägten Kulturraum funktioniert. Sich ganz unterschiedlichen Sprachgemeinschaften gleichzeitig mit Musik mitzuteilen, wird in der Regel von Komponisten und Dirigenten verlautbart, die die klassische Tonsprache der westlichen Hemisphäre nutzen. Weniger bekannt dagegen ist, dass Kulturgemeinschaften, die mit dissonierenden, unserem Ohr nur schwer zugänglichen Schwebungsklängen arbeiten, mit dem Anspruch, ›Weltkommunikation‹ zu betreiben, auftreten. Die richtige Tonsprache, die von der ganzen Welt verstanden wird, scheint allein im europäischen Kulturraum ihre Heimat zu haben. Die Sprache der Töne kennt ganz offenkundig mehrere Sprachfamilien, und – will man der These von der Allgemeinverständlichkeit der Sprache der Musik etwas abgewinnen – nicht alle musikalischen Sprachfamilien scheinen gleichermaßen zur Kommunikation unter den Völkern geeignet. Beethoven, Liszt und so viele andere Komponisten scheinen also außerordentliches Glück gehabt zu haben, dass sie aufgrund Geburt in der musikalischen Sprache des europäischen Kulturraumes zu schreiben gelernt haben. Wer in anderen Sprachen der Musiken dagegen sich ausdrückt oder andere goutiert, ist aus der richtigen musikalischen Weltsprache ausgeschlossen. Es ist die Frage berechtigt, ob jene, die das dissonierend Distantische privilegieren, »an kulturelle Peripherien verschoben werden«?370 Und in der Tat scheint dies so zu sein. Jedwede andere musikalische Ausdrucksform wird durch die Monopolisierung der europäischen Tonsprache, die bekanntlich dem Distantischen nicht gewogen ist, als falsche Sprache inkriminiert. Auch Adorno ist diesem Gestus noch erlegen und wägt Gedanken, die weniger philosophisch denn mehr metaphysisch, religiös, man kann auch sagen: schlicht esoterisch motiviert sind. Das Zitat zu Beginn dieses Kapitels legt schon Zeugnis davon ab. Hartmut Fladt dagegen macht gleich kurzen Prozess mit der Annahme der Musik als Sprache. In den Kontext gesetzt liest sich Aussage von Fladt wie folgt: »In vielen Sonntagsreden von Politikern, Gesangsvereinsvorsitzenden, Kulturmanagern und Medienbossen wird ein Satz über die Musik bemüht, der allgemeine Zustimmung genießt. Dabei ist aber der fromme Wunsch der Vater des Gedankens und die
370 Kaden, Christian: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik kann, Kassel (Bärenreiter) 2004, S. 283.
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Ignoranz seine Mutter. Der Satz lautet: Musik ist eine Sprache, die jeder versteht. Das ist blühender Unsinn.«371
Es lässt sich nur ergänzen, auch tief in der Musik Stehende akklamieren oft zu diesem Unsinn oder formulieren ihn gleich selbst. Kaum ein Dirigent, der diese These nicht irgendwann in großer Rede und Geste mal bemüht. Oder : Wie viele Vertreter der Fachdisziplin Musik haben nicht in diesem Sinne schon ihre Schriften verfasst? Sicherlich, auch Adorno relativiert die Aussage von der Musik als Sprache gleich zu Beginn seiner Ausführungen, wenn er schreibt, »Musik ist sprachähnlich. […] Aber Musik ist nicht Sprache.«372 Aber schon der Folgesatz und die weiteren Ausführungen geben dem Ganzen wieder eine Wendung ins Metaphysische, wo mit unbelegbaren Glaubenssätzen davon gesprochen wird, dass die »Sprachähnlichkeit […] den Weg ins Innere« weisen würde wie auch ins Vage und dass diese Sprachähnlichkeit »als zeitliche Folge artikulierter Laute« »mehr […] als bloß Laut«373 wären. »Sie sagen etwas, oft ein Menschliches. Sie sagen es desto nachdrücklicher, je höher die Musik geartet ist.«374 Und mit der höheren Musik ist natürlich zuletzt die absolute Musik gemeint, deren logische Struktur nur von ausgewählten Experten zu durchdringen ist. So kommt er auf die Musik als Ganzes zu sprechen, eben auch auf ihre logische Struktur, in der es vermeintlich ein richtig und falsch gäbe, und es folgt eine Gemengelage aus Fantasie und Philosophie, die sich immer wieder auf die Seite einer zwar nicht begrifflichen, aber doch begriffslosen Sprache schlägt, die was zu sagen befähigt wäre, wie untergründig, tiefsinnig, dunkel auch immer. Die Musik »verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen. Und als sollte sie, die beredteste aller Sprachen, über den Fluch des Mehrdeutigen, ihr mythisches Teil, getröstet werden, strömen Intentionen in sie ein.«375 Musik erschlösse sich nur durch Interpretation, die sich beim Musizieren als auch stummen Lesen der Partituren offenbare. »Die meinende Sprache möchte das Absolute vermittelt sagen, und es entgleitet ihr in jeder einzelnen Intention, läßt eine jede als endlich hinter sich zurück. Musik trifft es unmittelbar, aber im gleichen Augenblick verdunkelt es sich, so wie überstarkes Licht das Auge blendet, welches das ganz Sichtbare nicht mehr zu sehen vermag.«376
371 372 373 374 375 376
Hartmut Fladt: Der Musikversteher, a. a. O., S. 11. Ebd., S. 251. Ebd. Ebd. Ebd., S. 252f. Ebd., S. 254.
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Ausführungen wie diese treffen sich mit denen zahlreicher Komponisten oder zeigen in ihrem theologischen Gehalt eine große Schnittmenge. »Der gregorianische Gesang hat mit gezeigt, dass hinter der Kunst, zwei, drei Noten zu kombinieren, ein kosmisches Geheimnis verborgen liegt.«377 Es ließen sich zahllos weitere mit ähnlichem Inhalt anführen. Gemeinsam ist solchen Aussagen, dass sie sich dahin versteigen, über ein allgewaltig großes Ganzes zu sprechen, seien es Aussagen zur Sprachgemeinschaft der ganzen Welt oder wie hier, indem sie gleich den ganzen Kosmos vereinnahmen. Das Praktische an solchen Aussagen ist, dass sie weder zu belegen noch zu widerlegen sind. Insofern kann man alles behaupten, was man will und einem gerade im Überschwang der Gefühle Bedeutungsträchtiges in den Sinn kommt, und Gesagtes hingebungsvoll mit Bedeutung aufladen. Hartmut Fladt räumt mit der großen Geste des ›Weltwissenden‹ auf und verabschiedet die Sprachähnlichkeit von Musik, ihre Allgemeingültigkeit als auch das richtig oder falsch. Er hebt auf auch die Ideologie von »höherer« Musik, von der Adornos Ausführungen stets beseelt sind, wenn er schreibt: »›Musik‹ hat dutzende, ja hunderte ›Sprachen‹ mit Tausenden Redewendungen, Vokabeln, mit unterschiedlichster Syntax und Grammatik. Da herrscht eine Sprachverwirrung babylonischen Ausmaßes. Der Satz müsste korrekt lauten: Wer versteht wessen Musik-Sprache NICHT, und warum? Oft überwältigt uns das Gefühl, kopfüber in die Musik eingesogen zu werden, und dieses ›Kopfüber‹ überwältigt dermaßen, dass es uns wie ›kopflos‹ erscheint: als Gefühl, bei dem Denken und Wissen ausgeschaltet sind, als pure Emotion. Ein solcher metaphorischer ›Hörsturz‹ kann bei jeder Musik geschehen, aus jedem musikalischen Genre, aus jeder historischen Epoche, aus jeder Musikkultur. Nur : was meinen Nachbarn überwältigt, kann mich völlig kaltlassen. Ich flippe da aus, wo meine Kollegin nur den Kopf schüttelt.«378
Fladt pluralisiert die Musik, zu der sich ganz fraglos ein Überwältigtsein einstellen kann, indem von ihm nicht mehr zwischen vermeintlich höherer und niederer Musik unterschieden wird. Ein tiefes Gefühl bei der Rezeption von Musik, das einen die Welt umarmen und den Zeitgenossen nebenan verstehen lässt, mag sich bei Schlagermusik genauso einstellen wie bei jeder anderen Musik. Mit Weltsprache hat das Ganze nichts zu tun, lediglich mit einem persönlichen Ergriffensein. Der Glaube an eine Musik, deren Laute mehr als Laute sind, der Glaube an einen Telos, der natürlich nur die »höhere« Musik betrifft, und eine »Tendenz des Materials«, woraus auch ein richtig und falsch sich ableitete, aber auch der Glaube an ein in sich der Musik dunkel Ausdrückendes zeigt an eine Affinität, die 377 Pärt, Arvo, zit. n. Walter, Meinrad: Ein Hauch der Gottheit ist Musik. Gedanken großer Musiker. Ostfildern (Patmos) 22011, S. 67. 378 Fladt, Hartmut: Der Musikversteher, a. a. O., S. 11.
Musikalisch reizvoll, aber völlig bedeutungslos/.
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wie dem romantischen Denken entsprungen scheint oder auch ist, und sich – bei allen belegbaren anderen inhaltlichen Unterschieden – in eine Reihe stellen lässt zu den Schriften der Literaten Wackenroder, Tieck oder E.T.A. Hoffmann, aus deren Feder Ähnliches hätte fließen können bzw. tatsächlich sich zu Zeilen gefügt hat. Danach trägt die Musik einen, wie dunkel oder verheißend geheimnisvoll auch immer ausformuliert, aber doch einen spezifischen Inhalt in sich. Daran schließt der Schreibstrom so vieler an, die der Musik zugewandt sind.
Musikalisch reizvoll, aber völlig bedeutungslos/. Weiterführend als die Schriften der Romantik – weil von träumerischen Aspekten befreite Worte – sind da schon die Ausführungen von H. H. Stuckenschmidt, der den Gedanken eines Inhalts – so dunkel er auch sein mag – in Abrede stellt und eine Begründung liefert, wieso das Missverständnis von einer Sprache, die jeder versteht, so leicht auftreten kann: »Aber Musik! Sie ist ja die Form selbst, alles Formale und Strukturelle fällt bei ihr mit dem sogenannten Inhalt zusammen; sie bildet die wunderlichste Ehe von Rationalem und Gefühligem, und auch wo sie so tut, als könne sie Gewitter und Sturm, Kuckucksruf, Wachtelschlag und Nachtigallenlied, Wilhelm von Kaulbachs Hunnenschlacht und Viktor Hartmanns großes Tor von Kiew, die Lokomotive vom Typ Pacific 231, die Regentropfen einer Herbstnacht auf Mallorca oder die Geräusche eines Ehebruchs im Kreise Msensk nachmalen, kommt sie von der ihr angeborenen Abstraktion nicht recht los.«379
Stuckenschmidt spricht Klartext, wo Adorno, dem Klang- wie eigenen Schreibstrom erlegen, unwiederbringlich in das Schattenreich untergründig religiös motivierter oder romantisch geprägter Argumentationsfiguren entführt wird. Aus diesem Irrgarten hat auch keine Dialektik wieder herausgeführt. Man träumt sich was und führt dies dunkel dialektisch aus. Das ist schon alles. Nichts von dem, was Adorno zum Thema schreibt, ist in irgendeiner Art und Weise belegbar. Hier regiert allein der Glauben, der auf eine treue Gemeinde baut, die sich mit einem unbegründeten Ahnen oder besser Fantasieren zufrieden gibt. Stuckenschmidt stellt dagegen heraus: Musik ist nicht konkret und drückt nichts aus. Die Abstraktion liegt allein ihr zugrunde. Ihr Mangel an Konkretion ist es, der ein universelles Verständnis suggeriert. Man kann auch sagen: Musik ist keine Sprache, sie spricht nicht. Das lässt sich leicht begründen. 379 Stuckenschmidt, Hans Heinz: Musikkritik. In: Blöcker, Günter/Luft, Friedrich/Stuckenschmidt, Hans Heinz/Grohmann, Willi: Kritik in unserer Zeit. Literatur. Theater. Musik. Bildende Kunst. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 21962, S. 47.
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Musik als Sprache
Schon der Bezug auf die reine Form ist ein Hinweis auf Selbstreferentialität. Systemtheoretisch gesprochen: Der informative Aspekt (Fremdreferenz, ein »Etwas«) spielt in der Musik keine, die Form der Mitteilung (Selbstreferenz), »wie« etwas mitgeteilt wird, dagegen die entscheidende Rolle, was das Paradox erzeugt, dass die Absenz von Fremdreferenz polyvalente Ansichten (also Fremdreferenz) zur Folge haben kann. Die Privilegierung der Form (Mitteilung) vor dem Inhalt (Information) dokumentiert sich im selbstreferentiellen Spiel der musikalischen Zeichen. Musik ist als pure Selbstreferenz sich selbst allein mitteilend. Die Stellung der Intervalle zueinander ist entscheidend (das Wie!), dem »Was« steht sie fremd gegenüber. Wer sich mit Musik beschäftigt, setzt sich mit der musikalischen Form auseinander und nicht mit Bedeutungen. »[D]er Sinn eines Tones ist durch die Differenz, in der er sich findet, bestimmt und nicht an sich selbst.«380 Der Primat der Selbstreferentialität ist es, der durch die Zeiten hindurch das Missverständnis hat aufkommen lassen, von Musik als einer Sprache zu reden, die auf der ganzen Welt verstanden würde, und die geeignet wäre, Ansprachen an die Menschheit zu richten. Aus der prinzipiellen Inhaltsleere der Musik entspringt die Vorstellung von ungeheurer Inhaltsschwere. Lässt man nur einen Ton erklingen, so gehen Gedanken auf ihre eigenwillige Reise, und so mancher glaubt sich gar mit einer anderen Welt, jenseits dieser, kommunikativ verbunden. Nicht in ihrer so oft beschworenen Bedeutsamkeit, sondern gerade in ihrer Bedeutungsleere liegt der Mehrwert von Musik. Das Paradox ist beschrieben: »Ironie, je leerer, desto voller.«381 Musik kann diese Leere, die so zum Gedankenkurzschluss führt, deshalb füllen, weil Musik nichts sagt und jeder in sie hineinlegen kann, was er gerade mag. Gerade weil die Musik so nichtssagend ist, ist sie so ein vielsprechendes Phänomen. Beim Hören reiht sich gleichwohl Gedanke an Gedanke und füllt die abstrakte Form mit Konkreta. Beim Hören von Musik denkt man sich was: irgendwas – so wie Adorno! Auch Adorno weiß selbstredend darum, dass Musik nicht Tisch, Stuhl oder Anderes sagen kann. Adornos Idee vom Sprachcharakter operiert denn auch auf einer anderen Ebene, die sich jenseits des Begrifflichen bewegt: eine Sprache jenseits der Sprache. Es ist eine Sprache, die – bezogen auf inhaltliche Verweise – der Sprache nicht ähnlich ist. Der Sprachcharakter von Musik, der Adorno zum metaphysischen Spekulieren verführt, ist nicht weniger Folge eines romantischen Erbes, in dem auch ein Adorno steht. Auch die Abstraktion in der bildenden Kunst beflügelt die Fantasie. Man betrachte Bilder von Jackson Pollock, von Theo van Doesburg, Mark Rothko 380 Fuchs, Peter : Vom Zeitzauber der Musik. In: ders.: Theorie als Lehrgedicht. Systemtheoretische Essays I, hg. v. Marie-Christine Fuchs. Bielefeld (transcript) 2004, S. 152. 381 Kamper, Dietmar : Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie. München (Fink) 1995, S. 44.
Musikalisch reizvoll, aber völlig bedeutungslos/.
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oder auch von Josef Albers und frage sich und andere, was man sieht. In dem nichtgegenständlichen Farbauftrag wird man Allmögliches konkretisieren. Die großflächigen, beinahe monochromen Werke von Mark Rothko erlauben einen freien Flug der Fantasie. Ein Hineinversenken, ein gedankenträchtiges Hineinfallen ist möglich, weil dem Auge kein konkreter Anhaltspunkt geboten wird. Mark Rothko gilt als ein wahrer Romantiker der Abstraktion. Und der Verweis auf die Romantik ist so falsch nicht, denn die Romantik kennt Ähnliches, das Tilgen von Konkretionen, bis zuletzt – alles Konkrete übermalend – beinahe nur noch ein waberndes Nebelmeer übrig bleibt, so bspw. bei Caspar David Friedrich mit seinem Mönch am Meer, bei dem in der Überarbeitung zunehmend alle konkreten Bezüge getilgt worden sind. Bezeichnenderweise hat die Hamburger Kunsthalle im Jahr 2008 im Rahmen einer Retrospektive zu Mark Rothko auch Caspar David Friedrichs Mönch am Meer zum Vergleich geboten und auf die empfindungsvolle Leere in den zur Schau gestellten Werken beider Künstler aufmerksam gemacht. Auch der Ruinenkult der Romantik läuft in eine ähnliche Richtung, sich nicht mit den konkreten Formen aufzuhalten, sondern das der Ruine Fehlende gedanklich hinzuzuaddieren im freien Flug der Fantasie. In der Abstraktion eines Rothko erfüllt sich die romantische Sehnsucht in der Entgrenzung. Die bildnerische Leere in dem einen wie anderen Falle bietet Bedeutungsfülle. Im Falle der Musik liegt immer schon die Abstraktion vor. Das Konkrete kennt sie nicht. Der wie auch immer geartete Tonschritt, eine Tonfolge, eine harmonische Verbindung oder jedwede Form bleiben das, was sie sind: abstrakt und vor allem ohne Inhalt. Die Note »c« ist »c«, sonst nichts. Im Erklingen sagt dieser Ton nichts! Er tönt nur. Und im Tönen schwingt mit ein geheimnisvolles Versprechen allein nur deshalb, weil der Ton so nichtssagend ist. Das Einzige, was die Musik sagen kann, hängt mit innermusikalischen Parametern zusammen, wie »[z]um Beispiel laut/leise – schnell/langsam – fallend/steigend und so weiter«.382 Mit Sprache hat das alles nichts zu tun: »Bezeichnend für die Musik ist das Tönen (Ton, Klang, Geräusch). Das Tönen ist für das Sein und Besagen der Musik das Primäre.«383 Für die Sprache dagegen ist das »Lauten (Vokale, Konsonanzen, Umlaute)«384 nicht das Primäre, sondern mithilfe des Lautens wird auf anderes bezogen. Sprache bezeichnet »etwas«, übt eine Stellvertreterfunktion aus, während die Mitteilung der Musik »in dem Ist ihres Mediums beschlossen [liegt].«385 Man könnte in Anlehnung an Gertrude Stein sagen: Musik ist Musik ist Musik und sonst nichts. Darin liegt auch ihr einziges und ewiges Geheimnis 382 Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik und Sprache. In: Albrecht Riethmüller (Hg.): Sprache und Musik. Laaber (Laaber) 1999, S. 10. 383 Ebd. 384 Ebd. 385 Ebd.
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verborgen, dass sie nichts sagt, obwohl sie uns berühren kann. Ihr Geheimnis liegt darin, dass es kein in ihr liegendes Geheimnis gibt. Das Wissen darum, dass Musik, fern aller metaphysischen Kommunikationständeleien, so gar nichts Bedeutungsvolles in sich trägt, ist dabei nicht neu. Schon Eduard Hanslick hat im 19. Jahrhundert der Musik als Sprache eine Absage erteilt. Er enthält sich aller romantisch geprägter Sprachverwirrungen, ethischer Zuschreibungen und Charakterveredelungen, die mit Inhalation von Klangströmen einhergehen sollen und schreibt wenig erhaben, sondern analytisch nüchtern. Hanslick fragt nach dem Inhalt der Musik und benennt ihn am Beispiel der Ouvertüre von Beethovens »Prometheus«: »Vor dem geistigen Sinn des Hörers erbaut sich also in der Melodie die Symmetrie zwischen dem ersten und dem zweiten Takte, […]. Der den Rhythmus markierende Baß bezeichnet den Anfang der ersten drei Takte mit je einem Schlag, den vierten mit zwei Schlägen, in gleicher Weise bei den folgenden vier Takten. Hier ist also der vierte Takt gegen die drei ersten eine Verschiedenheit, […]. Die Harmonie in dem Thema zeigt uns wieder das Korrespondieren eines großen und zwei kleinen Bogen; dem Cdur-Dreiklang in den vier ersten Takten entspricht der Sekundakkord im fünften und sechsten, dann der Quintsextakkord im siebenten und achten Takt. Dies wechselseitige Korrespondieren zwischen Melodie, Rhythmus und Harmonie erzeugt ein symmetrisches und doch abwechslungsvolles Bild, welches durch die Klangfarben der verschiedenen Instrumente und den Wechsel der Tonstärke noch reichere Lichter und Schatten erhält.«386
Ein solches Schreiben auf diese Weise über Musik gleicht der Verdoppelung des Notentextes. Damit ist alles gesagt! Von mehr kann die Musik nicht sprechen. Weder von Höherem spricht die Musik noch von profanen Dingen. Klartext spricht auch Hans Heinrich Eggebrecht: »Musik kann nicht sagen: Tisch oder rund oder runder Tisch.«387 Ein »Gespräch« mithilfe der Musik zu organisieren ist daher zum Scheitern verurteilt. »[D]ie Musik [kann] nicht mitteilen, nicht bezeichnen, nicht benennen. Deshalb, schon deshalb, ist Musik keine Sprache.«388 Und um diese Einsicht Eggebrecht wusste schon Hanslick, wenn dieser schreibt, »dass in der Sprache der Ton nur ein Zeichen, d. h. Mittel zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden ist, während in der Musik der Ton eine Sache ist, d. h. als Selbstzweck auftritt.«389
386 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch Schönen. Wiesbaden (Breitkopf & Härtel) S. 30f. 387 Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik und Sprache, a. a. O., S. 9. 388 Ebd. 389 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch Schönen, a. a. O., S. 88.
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Wo Sprache zur Musik wird/.
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Wo Sprache zur Musik wird/. Musik zu verstehen ist eine leichte Sache, sofern man liest oder erzählt bekommt, was Sache ist. Erst wenn mittels Sprache eine Geschichte, ein Programm mitgeteilt werden (Bilder einer Ausstellung eines Mussorgsky) oder persönliche Erfahrungen musikalische Analogien herstellen lassen, kann Musik Bestimmtes sagen. Nach Lektüre des Programmheftes hört man den Gnom sich bewegen, wähnt man sich auf der Promenade flanierend u. a.m. Vom Hörer aus wird das als Programm Gelesene in die Musik hineingelegt. Auch wer den Kuckuck in der Natur vernommen hat, meint den lautmalerisch musikalisch nachgebildeten Kuckuck in der Terz in prominenter Lage in der Musik wiederzuerkennen. Die Vogellautähnlichkeit der Terz in hoher Lage aber verschwindet gleich wieder, sobald sie aus dem Cantus firmus in die Mittellage nur rückt und ihr selbstreferentielles Dasein als Terz und inhaltlich nicht den Laut des Kuckucks offenbart. Die Terz ist kein Stellvertreter für den Laut des Kuckucks. Wie anders dagegen operiert das Wort. Während das Wort, wohlgeformt, krumm, klein oder groß, geschrieben oder wie auch immer, seines stellvertretenden Verweisungscharakters nicht verlustig geht, mag die Terz nur in einsamer hoher Lage an den Kuckuck erinnern lassen. Von außen, vom Zuhörer ist eine Analogie hineingelegt. Wenn auch Musik keine Sprache ist, so kann umgekehrt doch Sprache zur Musik werden, sich zumindest sich ihr annähern. Wo Sprache ihres Repräsentationscharakters verlustig geht, weil sie ebenfalls zunehmend die Konkretion verabschiedet, wachsen auch hier die Möglichkeiten zur gedanklichen Ausgestaltung von Gesagtem. Die Sprache bekommt in diesen Fällen musikalische Qualität. Das Gedicht z. B., insbesondere die so vielsagende hermetische Lyrik, nimmt Anleihen bei der Musik. Hermetische Lyrik meidet die Eindeutigkeit und kommt – wenn schon nicht als Kommunikationsverweigerung – so doch als verlangsamte Kommunikation daher. Was mögen Zeilen bedeuten, wie die von Ferdinand Schmatz: »maist, laublundet/ füllte die führde/ wehe/ trug zirfel meller«?390 Wenn die Musik als selbstreferentielles Phänomen nichtssagend ist, so wird auch Sprache mit Verabschiedung der Repräsentation nichtssagend, produziert dadurch Sinnüberschüsse, arbeitet mit Referenzverweigerungen und bietet eine Stoppfunktion gegenüber schnellem Verstehen: Normale Verstehensprozesse werden, wie Peter Fuchs dies nennt, diskriminiert. »Das Ereignis ›Gedicht‹, auf das der Anschluß referiert, ist abgeschirmt gegenüber der schnellen Zuweisung von bestimmtem Sinn«.391 Hermetische Lyrik beinhaltet 390 Schmatz, Ferdinand: Magen. In: Fuchs, Peter/Schmatz, Ferdinand: »Lieber Herr Fuchs, lieber Herr Schmatz!« Opladen (Westdeutscher Verlag) 1997, S. 147. 391 Fuchs, Peter : Die Funktion der modernen Lyrik. In: Ebd., S. 139.
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aufgrund der Dominanz der Selbstreferenz einen Mehrwert, so wie auch die Musik ausschließlich den sinnträchtigen Mehrwert bedient. Anstatt von Evidenzen werden bei unzugänglichen Gedichten Ambivalenzen produziert und wird so ein kreatives Ausloten von Möglichkeiten provoziert. Im Gedicht wird – wie in der Musik – die Form privilegiert. Das hermetische Gedicht wird im Zuge seiner Annäherung an das selbstreferentielle Tönen der Musik beinahe selbst Musik schon und wird – darin auch der Musik vergleichbar – zum Geheimnis, das das psychische Bewusstsein affiziert und die Fantasie anregt. Der Dadaismus bietet ein weiteres Beispiel, wie Sinnentleerung ein Füllhorn an Deutungsmöglichkeiten unterbreitet. Es gibt noch ein Jenseits von hermetischer oder dadaistischer Lyrik, das den Mehrwert generieren kann: den Computer. Es bräuchte nur einen Algorithmus, der Buchstabenfolgen kalkuliert, der jedwede Sinnhaftigkeit ausschließt und der allein dem Klang seine Aufmerksamkeit widmet, folglich auf das ausgewogene Zusammenspiel von Vokalen und Konsonanten achtet, es bräuchte Rezipienten, die sich vom Strom sinnloser Lautfolgen fortreißen lassen, dabei der vorgestellten untergründig mitlaufenden Bedeutung des so schön anzuhörenden, ansonsten leeren Klangstromes nachhängen – und schon ist eine neue »wahre Sprache« im Sinne Adornos entstanden. So verbinden sich Logik und Leere, und Menschen dürfen träumen ob der wahren Sprache, die intuitiv nur zu erfassen ist und so unkonkret vom Eigentlichen spricht und doch verschweigt usf. Und der logisch abgefasste Algorithmus hilft, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden und so zwischen Unsinn und Unsinn. Auch so wäre Sprache musikalisch zu wenden. Das Auslöschen aller Konkretion.
Gefühlsloser Klangstrom/. Ein Programm zur Musik hilft, Klänge besser oder zumindest eindeutiger zu verstehen. Neben einem möglichen Programm ist es allein die persönliche Disposition, was man in gehörter Musik versteht. Mancher wähnt sich, mit Anmutungen an Religion oder Esoterik, einem Unsagbaren nahe, das sich in einem nicht auf den Begriff zu bringenden sagenden »Gefühl« äußert. Man fühlt sich aufgehoben, »weiß« um die »Wahrheit« des in der Musik Gesagten, kann es aber nicht auf den Begriff bringen. Aber schon wieder ist ein Vorurteil gefällt und ein Missverständnis ausgesprochen. Über das Gefühl meint man zu verstehen. Und es mag auch sein, dass andere ein vergleichsweise ähnliches Gefühl haben. Damit ist aber nicht gesagt, dass dort, wo Menschen beim Hören von Musik meinen, ein gemeinsames Verstehen zu teilen, dass der gehörten Musik ein solches Verstehen immanent wäre, denn Musik taugt auch nicht zur begriffs-
Gefühlsloser Klangstrom/.
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losen gefühlsträchtigen Mitteilung. Die These von der Selbstreferentialität der Musik besagt auch, dass sie als nichtssagendes Medium auch keine Gefühle – welcher Art auch immer – transportiert. Damit ist nicht weniger gesagt, dass Musik von sich aus keine bestimmten Gefühle auslöst, so kontraintuitiv diese Aussage auch sein mag, da jeder Mensch beim Hören liebgewonnener Klangereignisse mitunter fröhlich, auch traurig oder sonstwie gestimmt ist. Arvo Pärts Spiegel im Spiegel z. B. geht ans Herz, lässt vielleicht in Melancholie versinken oder rührt manche Menschen gar unweigerlich zu Tränen. Der tragenden Melodie, gespielt von einer einsamen Violine und unterlegt mit gebrochenen Klavierakkorden, kann sich kaum einer entziehen, so glaubt man vielleicht und sieht sich bestätigt durch eine mit den Tränen kämpfenden stumme, überwältigte Gemeinde, die dieselbe Musik hört. Und doch ist es so, dass dieselbe Musik einen anderen Zuhörer zum Einschlafen inspiriert und den Dritten vor Langeweile die Sekunden bis zum Ende zählen lässt. Der Grund liegt nicht in einem mangelnden intuitiven, vom Gefühl bestimmten Verstehen, sondern einfach darin, dass keine spezifischen Gefühle ausgelöst werden, die in irgendeiner Form in der Musik selbst lägen. »Eine Melodie, um ein einfaches Beispiel zu nehmen, ist nicht ernst, traurig, gelöst, heiter, himmlisch oder sehnsuchtsvoll. Solche Beschreibungen werden jedoch an sie herangetragen, weltweit und in verschiedenen Zeiten und Kulturen verschieden, wie sich leicht zeigen läßt, abhängig von den sozialen Bedingungen, unter denen Musik eingesetzt wird, abhängig von den Katachresen, die sich einschleifen, von Hörroutinen, die es uns heute unmöglich machen, gleichsam ›nackt‹, jenseits von Bedeutungen Musik zu hören«.392
Auch diese Erkenntnis ist nicht neu: Im 19. Jahrhundert schon, als die Musik auf ihre unendlichen Botschaften befragt wurde, hat wiederum Eduard Hanslick mit der Charakterisierung der Musik als »tönend bewegter Form« dem widersprochen. Hanslicks Inhaltsanalyse zu Beethovens Prometheus, die zuvor in Grundzügen ausgeführt wurde, fasst er mit den Worten zusammen: »Einen weiteren Inhalt als den eben angedeuteten vermögen wir durchaus nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein Gefühl zu nennen, welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte.«393 Schließlich setzt Hanslick seine Ausführungen fort, indem er nach dem gefühlsträchtigen Inhalt beliebiger Themen großer und weniger großer Komponisten fragt: »Wer tritt hinzu und getraut sich, ein bestimmtes Gefühl als Inhalt dieser Themen aufzuzeigen? Der Eine wird ›Liebe‹ sagen. Möglich. Der Andere meint ›Sehnsucht‹. 392 Fuchs, Peter : Musik und Systemtheorie. Ein Problemaufriss. In: Richtsteig, Tobias/Hager, Uwe/Polaschegg, Nina (Hg.): Diskurse zur gegenwärtigen Musikkultur. Regensburg (ConBrio) 1996, S. 52. 393 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch Schönen, a. a. O., S. 31.
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Vielleicht. Der Dritte fühlt ›Andacht‹. Niemand kann das wiederlegen. Und so fort. Heißt dies nun ein bestimmtes Gefühl darstellen, wenn niemand weiß, was eigentlich dargestellt wird?«394
Das Resümee, zu dem Hanslick schließlich kommt, widerspricht im großen Maße der insbesondere auch romantischen Vorstellung, Musik könne etwas ausdrücken und sich mitteilen, das jenseits des Musikalischen läge: »Fragt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbstständiges Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material der Darstellung von Gefühlen oder Gedanken. Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen.«395
Dass die Musik die Sprache der Gefühle oder Empfindungen sei, wie es die Romantik beschrieb, dem ist so schon im 19. Jahrhundert energisch widersprochen worden. Der Rezipient legt irgendwas in Gehörtes hinein. Und so kann auch Hanslick schreiben: »Die ›Darstellung von Gefühlen‹ ist nicht der Inhalt von Musik« und auch: »Die Darstellung eines bestimmten Gefühls oder Affektes liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst.«396 Erwartbares emotionales Erleben obligatorisch zu setzen ist also ein Problem, mit dem schon die Affektenlehre des Barock zu kämpfen hatte: »[D]ie psychischen Systeme reagierten auf Musik nicht so, wie sie es der Affektenlehre nach hätten tun müssen. Die Lösung, die den Widerspruch invisibilisierte, bestand darin, Affektenlehre und eine grob zugeschnittene Temperamentenlehre miteinander so zu koppeln, daß sie in ein wechselseitiges Stützungsverhältnis geraten: Wer anders fühlt, als er fühlen sollte, hat eben ein anderes Temperament.«397
Schon der Vorgänger von Johann Sebastian Bach als Thomaskantor in Leipzig, Johann Kuhnau, macht sich lustig über Affekte und die ihnen untergeschobene Wirkung, als er in seinem Traktat des Musicalischen Quacksalbers darüber berichtet, wie er mit ein und derselben Musik beim Publikum zwei gänzlich unterschiedliche Affekte hervorruft.398
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Ebd., S. 33. Ebd., S. 59. Ebd., S. 20 u. 22. Fuchs, Peter : Vom Zeitzauber der Musik, a. a. O., S. 160. Vgl. Bernhard Morbach: Die Musikwelt des Barock. Kassel (Bärenreiter) 2008, S. 55.
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En-Kulturation und Mutterleib/. Und doch gibt es zuweilen eine bei einer Zuhörerschar ähnlich gelagerte Gefühlslage, die gleichwohl ihre jenseits der Musik liegenden Gründe hat. Das Spezifische, ein von vielen vielleicht geteiltes Gefühl, ist Folge einer gemeinsamen Sozialisation. Beim Hören von Musik greifen schlicht angelernte Hörroutinen. Mehr nicht. Und dieser Sozialisationsprozess beginnt schon im Mutterleib. Schon »Neugeborene können aber nicht nur Sprache erkennen, sondern auch Musik«399, wie Gembris entsprechende Forschungen zusammenfassend herleitet. Musik wird schon in der pränatalen Entwicklungsphase wahrgenommen. Melodien, die bspw. Kindern im Mutterleib in den letzten vier Wochen vor ihrer Geburt täglich vorgespielt werden, erkennen diese nach der Geburt wieder. Sie reagieren beim Vorspielen auf ihnen schon bekannte Melodien. Sie lernen Musik im Mutterleib selbst dann wahrnehmen, wenn sie die Musik selbst gar nicht hören. Musik, die werdende Mütter über Kopfhörer vernommen haben, hat auch bei den Ungeborenen zu Reaktionen geführt. Auch nachgeburtliche Erinnerungseffekte sind belegbar. Das Lernen und das Entwickeln von Hörroutinen beginnt so schon im Mutterleib. »Vorgeburtliche Erfahrungen führen zu einer nachgeburtlichen Bevorzugung (Präferenz) für vertraute Klänge« und gleichbleibende akustische Stimulation zur Habituation.400 Bei Geburt hat das Kind also schon eine erste akustische Sozialisation durchlaufen. Was vollkommen natürlich, angeboren scheint, ist angelernt. Die akustische Sozialisation nimmt in den Folgejahren ihren Lauf und lässt Empfindungen zur Musik ausprägen, die nicht weniger als angelernt sind. Dieselbe Musik kann – je nach dem, in welchem Kontext sie erklingt – völlig unterschiedlich wahrgenommen werden. Der banalste Song kann, sobald er die Höhenflüge von Liebenden nur begleitet (»Unser Lied«), emotional aufgewertet werden, einen anderen – aus anderen Gründen – entsetzen lassen usf. Die musikalische Rezeption nimmt so ihren Lauf, wobei sukzessive auch gelernt wird, was auf welche Weise wahrgenommen werden soll: freudvoll, traurig etc. So kommt es, dass die Illusion entsteht, die Musik wäre eine Sprache der Empfindungen oder Gefühle. Diese Prägung lässt uns der einen Musik offen gegenüberstehen, sie als »schön«, »wahrhaftig« und sie gar als mit einem geistigen Mehr versehen wahrnehmen, einer anderen Musik aber fremd gegenüberstehen, die wiederum andere Menschen – damit aufgewachsen – empfindsam werden und Bedeutungen er-
399 Gembris, Heiner : Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung. Augsburg (Wissner) 2002, S. 267. 400 Hannon, Erin E./Schellenberg, E. Glenn: Frühe Entwicklung von Musik und Sprache. In: Bruhn, Herbert/ Kopiez, Reinhard/Lehmann, Andreas C. (Hg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 2008, S. 132f.
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schließen lässt. Musik ist »mit Effekten komplexer Art, die durch Kommunikation über Musik zustande kommen, aufgeladen.«401 Wird der eigene Kulturkreis verlassen, wird deutlicher, dass Musik und Gefühl kulturell geprägt sind. Indische Musik zeichnet sich durch Wirkungen (Rasa) aus, die sie auf den Zuhörer ausüben soll. Erotisch, komisch, rührend, wütend, heroisch, furchterregend, abscheulich, wunderbar sind Erlebensaspekte des rasas, Folgen spezifischer Stimmungen (bhava). Es wird gleichwohl dem in der indischen Musik Unkundigen schwerfallen oder auch unmöglich sein, dergleichen zu empfinden, obwohl in jener Kultur Beheimatete die in die Musik hineingelegten Stimmungen ganz natürlich empfinden mögen. Ein weiteres Beispiel: Man denke an das Spielen fließender Tonkonturen, Tonzüge (dbyangs) in Tibet: »[A]llem voran auf dem großen Becken rolmo und den riesigen, alphornähnlichen Tuben, den dungchen. […] Das Ergebnis – unkundige Touristen würden es als Scheppern, Jaulen und Heulen einordnen – ist Große Kunst und Zeugnis großen Könnens.«402 Wer das Konsonanzprinzip – man möchte beinahe sagen – mit der Muttermilch eingesogen hat, wird dem Phänomen des dissonierend Distanischen wenig Erbauliches abgewinnen können. Dem Distanzprinzip »sind wertvoll die extrem geringen Tonabstände: große Sekunden, kleine Sekunden, vor allem auch die noch engeren, mikrotonalen Schwebungen. Rauigkeiten werden nicht abgelehnt, sondern ausgezeichnet: als annehmlich. Den konsonantisch orientierten Hörer mag das völlig unbefriedigt lassen. Wer jedoch in Distanzen denkt und fühlt, erlebt es umgekehrt, mit einer 180-Grad-Schwenkung. Ganze Kulturen sind imstande, eine derartige ›Umwertung aller Werte‹ für sich vorzunehmen.«403
Es entscheidet die soziale En-Kulturation, ob ein indischer Raga »verstanden« wird, oder ob man ihm »verständnislos«, vielleicht genervt gegenüber bleibt, ob rolmo und dungchen im Wohlklang oder Scheppern enden oder ob diaphones Musizieren als dissonant empfunden wird oder nicht. Man könnte auch so sagen: Die vorgebliche Weltsprache Musik spricht mit unterschiedlichen »Regeln« und arbeitet mit unterschiedlichen »Grammatiken«. Wer in diese nicht eingeführt ist, mag unter Berücksichtigung des eigenen Regelkanons irgendetwas verstehen und empfinden und bewegt sich doch in einer ihm unverständlichen Fremdsprache, die er nach persönlicher Maßgabe umbiegt oder umdeutet. Und dass er sie umdeuten kann, ist Folge dieser nichtssagenden Kunst, 401 Fuchs, Peter : Musik und Systemtheorie, a. a. O., S. 52. 402 Kaden, Christian: Was ist Musik? Eine interkulturelle Perspektive. In: Calella, Michele/ Urbanek, Nikolaus (Hg.): Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven. Stuttgart (Metzler) 2013, S. 3. 403 Kaden, Christian: Das Unerhörte und das Unhörbare, a. a. O., S. 281.
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die offen für alle möglichen Bedeutungszuschreibungen ist. Nur der in der Kultur Stehende zeigt gegebenenfalls die sozial geprägten Empfindungen und »versteht« nach den internalisierten Regeln, die ihm so geläufig sind, dass sie natürlich scheinen. Die Geschichten, von denen die Musiken in den Kulturen erzählen, oder tiefe »wahrhaftige«, »authentische« Empfindungen sind von den jeweiligen Umständen abhängig. Sie entscheiden über die Bedeutungsfülle einer Musik, gleich ob ein Lied – den Höhenflug von Liebenden begleitend – emotional aufgewertet wird oder ob eine Musik zu einem Offenbarungserlebnis wird, bei dem man mit Gott sich verbunden wähnt. Stets ist es der in seinen sozialen Kontext eingebettete Mensch, der die Musik sprechen lässt und dann nach den ihm zur Verfügung gestellten Sozialpraxen (»Regeln«) versteht. Das aus Sozialpraxen heraus entwickelte spekulative Schreiben zur Musik als Sprache, als Instrument zur charakterlichen Veredelung u. a.m. gründet zuletzt in … nichts Substantiellen! Die Musik als a-semantisches Phänomen lädt ein zum Selbstgespräch, weil eine nichtssagende Kunst wie die Musik reine Kommunikationsverweigerung betreibt. Das aber ist ihre eigentliche Qualität. Hörer verfahren ähnlich dem Träumenden auf der Wiese, der in ebenso nichtssagenden vorüberziehenden Wolkenkaskaden oder wie in zurecht gerückten Gesteinsformationen Gestalten und Formen hineinträumt und manchmal sogar Botschaften vom anderen Geiste zu entdecken glaubt. So kann die referenzlose Musik als nichtssagende Kunst nur einen Stimulus und gerade deshalb ein Selbstgespräch in Szene setzen, indem sie schweigt und stattdessen vom Unendlichen fantasieren lässt. Mit Dietmar Kamper wäre abermals zu sagen und zu schließen: »Ironie, je leerer, desto voller.«404
404 Kamper, Dietmar : Unmögliche Gegenwart, a. a. O., S. 44.
Die Komplexitätslüge »Die ›Sachverhalte‹ der Musik, Literatur, Kunst sind komplex. Das ist nicht zu ändern und war schon in Aischylos’ Tragödien so.«405 »Die ›großen Werke‹ sind einfach komplexer, tiefsinniger und geglückter als all die vielen weiteren Artikulationen und Dokumente, die der inflationierte Kulturbegriff als Analysematerial zuläßt«.406
Es geht ein Ungeist herum im Raum von Musikwissenschaft und Musikpädagogik. Dieser Ungeist tritt im Gewand einer Geschichte und als Wiedergänger auf. Es ist dies eine Geistergeschichte, an die man zu früheren, humanistisch geprägten Zeiten ganz fest geglaubt hat, bis sie eines Tages aufgrund gesellschaftlicher Umstände sich zwar als schön erfunden, aber als obsolet herausstellte. Es ist dies eine Geschichte, die von den Qualitäten der Komplexität erzählt, von ihrem Einfluss auf den Menschen, wenn er sich nur recht und richtig auf sie einlässt. Diese Geistergeschichte trägt begleitend die Warnung vor dem Seichten in sich, von dem fernzuhalten es geboten erscheint. Als Wiedergänger tritt diese Geistergeschichte gegenwärtig auf, und sie treibt als Ungeist erneut sich herum. Dabei sucht sie sich ihre gläubige Gemeinde. Von dieser Geistergeschichte soll in dem vorliegenden Kapitel die Rede sein. Es spart dabei nicht an deutlichen Positionierungen, denn der Wiedergänger lässt nur einen und zwar seinen eigenen Weg zur Erschließung von Kultur gelten. Nur in diesem drückt sich der rechte, richtige Weg aus. Wer anderes im Sinn hat, kann nicht mit Milde rechnen. Die Lüge wird ihm angedichtet, wo man dem Leichten das Wort redet. Die Leichtigkeitslüge wird unterstellt. Damit die Wege zur Kultur vielfältig bunt bleiben, sich den flanierenden Spaziergängern flexibel anzupassen verstehen (und nicht umgekehrt der Zwang zum Uniformen besteht), andere Wege gehende Spaziergänger nicht mit seltsamen Unterstellungen konfrontiert werden, die sie ins unrechte, lügnerische Licht stellen, wird dem Ungeist sprachlich kontrastreich begegnet. Als Wiedergänger erzählt dieser Ungeist eine Geschichte von der Kunst, wie diese unterscheidet zwischen weniger guter, guter und – endlich angekommen – sehr guter Kunst. Kunst, so wird berichtet, sei komplex, zumindest gute Kunst. Und weil sie so komplex ist, ist sie auch schwer zu erschließen. Mit der Kultur 405 Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge, a. a. O., S. 229. 406 Hörisch, Jochen: Theorieapotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2010, S. 83.
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möge man es »sich nicht unnötig schwer machen […], dass das Schwere aber schwer und das Komplizierte nun mal komplex ist«, dieser Auffassung ist nicht allein der Autor des Buches Die Leichtigkeitslüge.407 Aussagen, dass die »›Sachverhalte‹ der Musik, Literatur, Kunst […] komplex« seien,408 wollen darauf hinweisen, dass große Kunst, die Hochkultur, eben nicht leicht zu haben ist. Solches trotzdem zu vertreten, wird suggeriert, würde als Leichtigkeitslüge nur zu verbreiten sein. Da fällt es schon schwer, anderes zu vertreten, ist man doch sogleich in die Welt des Lügenbarons von Münchhausen geworfen. Und wer will das schon, wo jemand so selbstgewiss sich selbst in Recht setzt: Es bedarf, so der allein Wahrsprechende, dagegen der ungemeinen Anstrengung in der Aneignung, ein intensives Studium in rezeptiver Andacht der – so mag man vermuten – Partituren vielleicht, um irgendwann bspw. »das Unbegreifliche im Finale der Jupitersinfonie«409 halb rational, halb intuitiv erfassen zu können. So lässt sich Bildung erwerben. Die Anstrengung mit Mozarts Musik macht also ihren Sinn und die Erfahrung mit dem Unbegreiflichen möglich. »Plädiert wird für eine andere Kultur der positiv verstandenen Anstrengung. […] Anstrengung meint die Bereitschaft, sich auf Komplexität einzulassen«.410 Wenn sich die Begrifflichkeit des Komplexen mit dem Bezug auf ein Unbegreifliches nicht auf metaphysischen Tand beziehen soll und Kompositionen von der Art sein sollen, als ob sie mahnen wie ein stummes Bild* mit ihrer Kunst, das als Rätsel sich darbietet und entschlüsselt werden soll, dann darf die verortete Komplexität, zu der man sich verhalten soll, mit dem kompositorischen Bau in Verbindung gebracht werden. Es sei also wohlwollend unterstellt, dass das Unbegreifliche, von dem bei Noltze die Rede ist, tatsächlich allein auf die kompositorische klanggestaltende Finesse sich bezieht, denn diese allein kann einer kritischen Beobachtung zugänglich sein. Sicher : Man kann sich hingeben einer Musik und auf Seelenreisen unvorstellbarer Art sich begeben (man glaubt zu fliegen, ein Frösteln erfasst den Körper), ein Unbegreifliches (am Ende Gott?) beim Hören von Musik zu erahnen meinen, nur der reflexiven Beobachtung sind solche gefühlsträchtigen Reisen nicht zugänglich, eine Analyse ist nicht möglich. »[I]m Singen klingt die Zukunft Gottes schon jetzt in uns an«, meint so ein anderer Autor in einem Buch zur Ästhetik der Kunst.411 Fraglos sind solche Einstellungen legitim, denn wer wollte hier schon Widerrede leisten, wenn der Rezipierende denn nun mal so fühlt oder so zu fühlen meint, dann fühlt er eben so. Punktum. Nur mit Wis407 408 409 410 411
Ebd., S. 24. Ebd., S. 229. Ebd., S. 21. Ebd., S. 24. Bubmann, Peter : Die Klänge des Himmels. Über das Singen. In: Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hg.), Die Sinne, und die Künste, Bielefeld (transcript) 2008, S. 71.
Die Welt des Komplexen oder: Eine Stufentheorie der Kunst/.
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senschaft haben Aussagen, die aus einem kompositorischen Moment metaphysische Zustände abzuleiten trachten, nichts zu tun, sondern mit Esoterik oder Religion, was im Grunde dasselbe ist. Schon das vereinnahmende besitzanzeigende Fürwort uns verwundert in der zitierten Aussage ein wenig, denn aus dem persönlich Empfundenen wird eine unumstößliche Entität abgeleitet. Gibt es denn ein allgemeinverbindliches richtiges Hören, sodass jeder mit Gott über die Musik zu kommunizieren versteht? Und gibt es denn – wie unterstellt und bei Noltze wieder angekommen – ein der Musik immanentes Unbegreifliches? Oder ist es nicht vielmehr so, dass der ganz persönliche individuelle Geschmack es ist, der den einen verleitet zu einer Rezeption, wo man abhebt und vom Unbegreiflichen träumt, während der andere sich schaudernd abwendet, weil ihm jene Musik einfach nicht nahe geht. So mag jemand, der vielleicht Arvo Pärts Spiegel im Spiegel hört, das erhebende Unbegreifliche spüren, wobei – nach Noltze – ein solcher Trip zu einer anderen Welt mit Pärt eigentlich gar nicht machbar ist, wenn Unbegreifliches sich allein im besonders Schweren, Komplexen nur offenbart. Die Komplexität im genannten Stück hält sich doch arg in Grenzen. Der Bezug auf ein Unbegreifliches auf alle Fälle erscheint wissenschaftlich unredlich, wenn persönliche, glaubensgesättigte Gefühlslagen als Beleg für das Unbegreifliche angeführt werden.
Die Welt des Komplexen oder: Eine Stufentheorie der Kunst/. Dass Kunst und Kultur generell schwer oder komplex seien, der Schluss, aus Komplexität nebst »korrekt« erachteter Rezeption ergebe sich der Eintritt in das Reich des Unbegreiflichen, das gleichwohl bleibt – auch ohne Transzendenzbezug – ein grandioser Fehlschluss. In ihm drücken sich allein aus eine haltlose Unterstellung und ein Wunschdenken. Oberflächlich betrachtet hat die Geschichte von der Kunst, die sich durch Komplexität auszeichnet, einen gewissen Charme. Sie erlaubt es zu ordnen die Welt der Kunst in gut und weniger gut. Wo es das Komplexe gibt, muss es auch ein Gegenüber geben, was nicht komplex ist: das Schlichte. Wer sich dem Komplexen (folglich dem qualitativ Guten) zuwendet, so wird erzählt, bewegt sich auf der Seite derer, die ihren Verstand zu schärfen verstehen, wer sich dagegen dem Einfachen zuwendet, für den ist die Verblödung eine ausgemachte Sache. So einfach kann die Welt sein. Verblödung, auch so ein Begriff, der der Schrift Die Leichtigkeitslüge entnommen ist, und einmal mehr wird deutlich, wie holzschnittartig grob manchmal Argumentationslinien geschnitzt sind, wenn bildungshumanistisch geprägte Glaubenssätze zur kulturellen Gegenwart formuliert werden. So schlicht gestrickt, drechselte sich einst auch Adorno seine Welt der Kunst,
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der in seinen Schriften unermüdlich gegen alles anschrieb, was dem eigenen Geschmack nicht zupass kam. Und das Komplexe war auch ihm Herzensangelegenheit, alles Schlichte ein Graus, wie immer er das eine vom anderen auch zu unterscheiden verstand. Das qualitativ Hochwertige erkennt man daran, dass es komplex sei, am anderen Pol bewegt man sich im Dunstkreis des Seichten. Die Anziehungskraft gewinnen solche Geschichten daraus, dass sie so entwaffnend banal gestrickt sind. Differenzierte Argumentation stört da nur. Sobald man nun jenseits des Oberflächlichen, von dem die Geschichte von der Komplexität ummantelt ist, etwas Tiefenschärfe und Nachdenklichkeit hinzuschaltet, wird deutlich, dass diese so hübsch ersonnene Geschichte gravierende logische Mängel aufweist. Diese werden in der Regel dann deutlich, wenn man sich die Mühe macht, Thesen derselben durchzuspielen. Die Grundthese lautet also: Qualität in der Kunst zeichnet sich durch Komplexität aus. Es wird dabei – ob man will oder nicht – eine Hierarchie aufgestellt, bei der das Komplexe irgendwie besser gestellt ist als das weniger Komplexe. Anders macht diese These gar keinen Sinn mehr. Auch hier ließe sich Adorno zum Kronzeugen bestellen. Oben sticht unten (nicht nur im Kartenspiel). Unterschieden wird also auf der Ebene der Unterscheidung der Einheit der Differenz von komplex/einfach. Und diese Unterscheidung trägt nur dann, wenn diese Einheit der Differenz von komplex/einfach auch auf der Seite des Komplexen wiedereingeführt würde, und das führt zwangsläufig eben zur Stufentheorie einer Kunst, die sich zwischen den Polen eines dann weniger guten Einfachen und eines hochwertigen Komplexen abspielt. Damit eine solche Komplexitätshierarchie funktionabel und zu bestimmen ist, ob eine Ansammlung von Noten mehr zum Komplexen neigt oder nicht, muss die Komplexität irgendwie messbar werden, will man sich nicht allein im Bereich persönlicher geschmacksträchtiger Liebhaberei verlieren. Nur so kann man bestimmen und vergleichen. Bspw. müsste sich dann auf irgendeine Weise messen lassen, ob Bach, Mozart oder Beethoven die komplexeren, sprich besseren Werke geschrieben hat. Andere Komponisten sind ohnehin auf ihre Plätze verwiesen. Jedenfalls gilt: Komplexität muss sich messen lassen: Sticht der Sonatenhauptsatz dann das Fugenschema? Und falls sich Gründe dafür finden lassen, ist dann Beethoven besser als zum Beispiel Bach? Und wo steht bloß Mozart? Steht er näher bei Beethoven oder näher bei Bach? Eine solche Gradation von Kunst ruft Noltze zwangsläufig auf den Plan mit dem Argument der Komplexität, der ja irgendetwas gegenüberstehen muss, das nicht so komplex ist. Die Annahme, jene Komponisten würden allesamt auf exakt demselben Komplexitätsniveau operieren, eine Unterscheidung wäre daher nicht möglich, ist selbst für jene große Erzählung zu fantastisch, als dass man sie in Erwägung ziehen mag. Also: Ist Bach besser oder Beethoven? Einer von beiden muss die komplexeren, sprich: besseren Werke geschrieben haben.
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Oder gibt es vielleicht irgendeine Komplexitätszone, in der man nicht mehr die unterschiedliche Güte bestimmt/bestimmen kann? Aber selbst dann müsste, wer in dieser dann differenzlosen Zone der Komplexität, in der Mozart, Haydn, Bach und all die anderen üblichen Verdächtigen ihre Heimat gefunden haben, Komplexität messbar sein, denn zunächst einmal muss man in diese Zone, dem Olymp der Kunst, wo nichts mehr unterschieden wird, hineingelangen. Und das kann nur durch Bestimmung vorgelegter Komplexität geschehen: Also fünf Pfund Noten sind besser als drei Pfund Noten? Zumindest viele Noten sind hilfreich, Komplexität aufzubauen. Wenigstens vier Modulationen sollten schon sein, und selbstredend hilft eine ordentliche Durchführung, Komplexitätspunkte anzusammeln. Das, was hier so süffisant angesprochen wird, gälte es so oder auf ähnliche Weise tatsächlich zu bestimmen, will man nicht im vagen Raum persönlichen Geschmacks sich verlieren, was man gerade für komplex und gelungen hält und was nicht. Besonders spannend wird es dort, wo jemand so gerade eben vorbeischrammt, um aufgenommen zu werden in den Olymp der Güteklasse Komplexität. Ob es Telemann schafft oder Guillaume Dufay? Oder wie ist es mit einem Komponisten wie Dieter Schnebel oder einer zeitgenössischen Komponistin wie Annette Schlünz? Und wie ist es mit einem praktisch längst vergessenen Komponisten wie Bohuslav Martinus? Sind sie den Komplexitätsanforderungen gewachsen, um in den Olymp aufzusteigen? Bei Hanns Eisler oder Kurt Weill muss man gegebenenfalls schon gleich ein Fragezeichen machen. Und Erik Satie fällt wahrscheinlich gleich unten durch. Schon an dieser Stelle ist zu merken, dass das Komplexitätsargument ganz eigenartige Blüten treibt, wenn man es einmal – für einen ganz kurzen Augenblick – tatsächlich ernst nimmt und durchspielt. Aber das Argument Komplexität in höherer Güte sticht ein weniger Komplexes zeitigt weitere seltsame Ausformungen. Bestimmt sei (und irgendwo muss man ja anfangen und messen) Komplexität einmal als schlichte Parametervielfalt und genähert sei dem Phänomen quantitativ : Die vielfältige Verwendung von Parametern wie Tonhöhe, Tondauer, Dynamik und Tempo kann komplexe Klangballungen in der horizontalen wie vertikalen Notenlandschaft zur Folge haben, zum Beispiel: da, da, da, daaaa! Ein Meisterwerk von beeindruckender Komplexität zeigt sich hier schon. Martin Geck macht auf die strukturelle Komplexität dieses Musikstückes aufmerksam, indem er von einem Experiment berichtet, dem Musikkritiker sich stellten, bei dem sie den ersten Satz von Beethovens 5. Sinfonie in zwei Aufnahmen zu hören bekamen. Gemeinhin ist diese Musik trotz ihrer komplexen Struktur sehr wohl noch als durchdringbar zu bestimmen, weil in ihr wiederkehrende zu verfolgende Redundanzen (z. B. das Eingangsmotiv) auftreten, und doch war es den Musikkritikern nicht möglich, hörend die Struktur zu umfassen, obwohl sie wussten, dass sie einem Experi-
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ment beiwohnten und entsprechende Aufmerksamkeit ihrer Höraufgabe zollten. Sie hörten trotzdem nicht, dass der zweiten Aufnahme ganze acht Takte fehlten. »Das riecht nach ›Formenlehre: mangelhaft!‹ Denn bekanntlich folgt der erste Satz der Fünften so lehrbuchmäßig dem Sonatensatzschema, dass Kenner des Werks es eigentlich bemerken müssten, wenn der Durchführungsteil um glatte acht Takte verkürzt wird.«412 Martin Geck führt dies darauf zurück, dass das Ohr ein passiver Sinn ist, der der Musik gehorsam folgt, wohingegen das Auge allein für eine intellektuelle Durchdringung verantwortlich ist. Auch wenn die unterschiedlichen anthropogenen Eigenarten von Ohr und Auge ein Grund für das Scheitern der Musikkritiker sein mögen, es bleibt die Feststellung des Scheiterns am komplexen Phänomen festzuhalten. Hörend war die proportionsgerechte, strukturelle Ordnung der Musik – trotz aller Schulmäßigkeit im Aufbau – in Gänze auch vom ›Experten‹, dem angeblich an der Spitze der von Adorno frei erfundenen Hörertypologie stehenden Rezipienten, nicht mehr zu umfassen. Offenkundig zu komplex war sie selbst für geschulte Ohren. Von solcher Warte aus hat es zum Beispiel ein Arvo Pärt mit seinem Spiegel im Spiegel schwer, als Kunst akzeptiert zu werden, ist das Werk in seiner Anlage doch von sehr überschaubarer Komplexität, ja man möchte beinahe sagen, trotz der kompositorischen Idee, die es hat Gestalt annehmen lassen, von entwaffnender Schlichtheit geprägt. Wenn Kunst also grundsätzlich von Komplexität geprägt ist, wird Arvo Pärt mit Spiegel im Spiegel oder generell mit seinem Tintinnabuli-Stil ohnehin gleich schon einmal ausgefällt. »Ich habe entdeckt, daß es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser eine Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivstem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonalität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt.«413
So entsteht eine Musik des Schwebens, die im Kosmos der Komplexität keinen nennenswerten Widerhall findet. Pärt ist also schlechter als Beethoven. Endlich: Auf diese Weise ist schon mal ein weiterer Komponist (falls man Satie aus dem Reigen der Komplexitätsschaffenden herausnimmt) ausgemacht, der zumindest vor Beethoven die Segel streichen muss, weil jene Musik von einer unverkennbaren Einfachheit geprägt ist. Irgendwie überzeugt schon hier das Komplexitätsargument nicht wirklich. Abermals muss betont werden, dass in genau eine solche Richtung die Idee von einer Kunst auszeichnenden Komplexität läuft, denn – es gilt wiederholend zu erwähnen – von irgendetwas muss das Komplexe ja unterschieden werden. Es 412 Geck, Martin: Wenn der Buckelwal in die Oper geht. München (Siedler) 2009, S. 47. 413 Arvo Pärt, zit. n. Floros, Constantin: Neue Musik für neue Ohren, a. a. O., S. 197.
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muss ein Qualitätsgefälle geben, das sich in dem Maß des jeweils Komplexen spiegelt. Und das Unterschiedene muss dann messbar weniger komplex sein. So schlicht gestrickt, wie vorgestellt, dass Kunst allein dort ist, wo das Komplexe zu verorten ist, ist Kunst zum Glück allerdings nicht. Eine kompositorische Entscheidung, Musik aus wenigen Parametern zu entwerfen, macht eine solche Musik nicht prinzipiell schlechter beziehungsweise weniger gut, wie noch zu sehen sein wird. Eine solche Annahme würde ein seltsames Kunstverständnis offenbaren. Schon das Spielen eines einzelnen Tones kann Kunst sein, genauso wie eine schwarze monochrome Fläche in der bildenden Kunst kunstfähig ist. Man denke, es seien auch die anderen Künste graduell ins Blickfeld genommen, nur an den Suprematismus eines Kasimir Malewitsch und dort eben an sein monochromes schwarzes Quadrat. Zu sehen ist eine reine schwarze Fläche, in der man sich verlieren kann, so gewaltig schwarz und sonst nichts ist sie. Von Komplexität keine Spur. Auch die Readymade-Kunst eines Duchamp ist anerkanntermaßen Kunst und wird in keiner Weise von dem Glaubensdogma an komplexe Kunst erfasst. Duchamps Pissoir, das den Namen Fountain trägt, ist nicht nur anerkanntermaßen Kunst, sondern gehört – auch wenn es die Komplexitätsapologeten in höchste Verwirrung stürzen müsste – zu den zentralen Eckpfeilern, auf denen die Kunst des 20. Jahrhunderts steht: »In einer 2004 unter fünfhundert Kunstexperten durchgeführten Befragung wurde Duchamps Fountain zum einflussreichsten Kunstwerk des 20. Jahrhunderts gekürt.«414 Die Kunstausformung des Dadaismus ist schwerlich mit dem Komplexitätsdiktum in Einklang zu bringen. Auch von der Minimal Art und Music wollen wir lieber gleich ganz schweigen. »Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam in Amerika eine künstlerische Bewegung auf, für die es in Europa keine Parallele gab: die Minimal Art. Sie verblüffte und verblüfft immer noch durch ihre Neigung zu extremer Simplizität, man nennt sie die Kunst der Reduktion. Zugleich opponiert sie gegen den europäischen Kunstbegriff, gegen die Auffassung der Kunst als Botschaft, gegen die tradierten Formen und überhaupt gegen die Komplexität.«415
Nicht von ungefähr beziehen die Minimalisten ihre Inspiration von Kulturen jenseits der europäischen Tradition und grenzen sich ab vom Primat einer in Musik sich spiegelnden Komplexität. Schon der Name nimmt Abschied vom Komplexen. Ein Großteil der Kunst wird ausgefällt, wenn – ich zitiere abermals – die »›Sachverhalte‹ der Musik, Literatur, Kunst […] komplex« sind. Und der Autor 414 Higgs, John: Alles ist relativ und anything goes. Eine Reise durch das unglaublich seltsame und ziemlich wahnsinnige 20. Jahrhundert. Berlin (Insel) 2016, S. 50. 415 Floros, Constantin: Neue Musik für neue Ohren, a. a. O., S. 194.
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Noltze setzt gleich noch einen drauf, um jeden Widerspruch zu unterbinden, und untermauert sogleich im Anschluss diese absolut unveränderliche Tatsache (?) mit den Worten: »Das ist nicht zu ändern und war schon in Aischylos’ Tragödien so.« Unmissverständlich erscheinen solche Worte, suchen jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. So werden also große Teile der Kunst des 20. Jahrhunderts gleich aus den Museen und Konzertsälen verbannt, stehen sie doch der Komplexität – freundlich formuliert – eher fern: Immerhin ist beim Autor Noltze nachzulesen, dass das ja schon immer schon so gewesen ist, dass das Kunst auszeichnende Element die Komplexität ist und dass sich daran auch nichts ändern wird.
Fehlende Maßstäbe und rhetorische Tricks/. Noltze greift auf einen kleinen rhetorischen Trick zurück, um seinen Worten besonderes Gewicht zu verleihen: Er greift auf die griechische Antike zurück, denn die haben ja eh schon alles gewusst. Wer also einen Griechen im Gepäck hat, der kann nicht irren.416 Das wird sich Malewitsch dann schon vorhalten lassen müssen, dass so ein schwarzes Quadrat zu malen nicht nur einfach ist, 416 Um zu belegen, dass man nicht zu Worten gefügte poetische oder literarische Gedanken pflegt, benennt man großartige Zeugen für die erzählte Geschichte. So erfährt die Geschichte ihre Legitimation. Zur Zeugenschaft für die Aufklärung benannt wird gerne Immanuel Kant, der gleichwohl für beinahe alles andere in der Welt auch als Zeuge reklamiert wird. Wer wollte da noch widersprechen, wo Kant die Stimme im buchgedruckten Wort erhebt? Es gilt zu schweigen und gehorsam den Worten Glauben zu schenken. In anderen Fällen wird – der Schrift sei es gedankt – beinahe immer ein alter Grieche gefunden, auf dessen Schultern wir stehen, der schon vor Jahrtausenden fast exakt genau wusste, wie die Welt gefügt ist. Sagt der eine Grieche, dass die Welt aus Atomen besteht, und passt dies nicht zu der selbst erzählten Geschichte, ja dann nimmt man halt einen anderen, für den alles fließt. Und passt beides nicht, sagt man: Schau an, schau an: Die Griechen haben es schon immer gewusst, dass alles fließt und zugleich aus Atomen besteht. Es gibt immer einen oder mehrere Griechen, der passt / die passen. Fragt man ganz arglos, wieso auf das antike Griechenland so gern Bezug genommen wird, so ist die Antwort mit Humboldt, ein nicht minder großer Zeuge par excellence ganz ohne Frage, gleich bei der Hand: Weil in den Griechen eine anfangende Nation sich darbietet, ein in Reinheit sich darstellender Ursprung, so will es zumindest ein Humboldt, so gilt es an ihnen sich ein Vorbild zu nehmen. Und seitdem er solche schönen Worte wählte zum Ursprung im Grunde des Menschentums, wird er unermüdlich zitiert. Sicher : Dabei übergeht man großzügig, dass orientalische und ägyptische Errungenschaften in jener anfangenden Nation sich Ausdruck verleihen, aber in der Lesart Humboldts klingt die Geschichte für die europäische Hemisphäre viel hübscher. Und irgendwo muss man ja anfangen. Die Wiege der europäischen Kultur ist im Humboldt’schen Geschichtsuniversum viel besser aufgehoben als in Afrika, das schwingt in jener erfundenen Geschichte mit. Nicht nur Humboldt will es so, aber insbesondere auch Humboldt. Und mit Humboldt haben wir – ähnlich Kant – einen Zeugen, dem zu widersprechen es sich nicht geziemt.
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sondern auch, dass das auch jeder kann. Aber möglicherweise finden sich Winckelmann’sche Worte von »edler Einfalt, stiller Größe«, und der Re-Import in die Sphäre der Kunst gelingt irgendwie. Aber Duchamps Pissoir wäre wohl selbst mit einem solchen Winkelzug Winckelmann’scher Prägung nicht zu retten. Das Dogma, dass das »nicht zu ändern [ist] und […] schon in Aischylos’ Trago¨ dien« so war, dass die Sachverhalte von Kunst komplex seien, lässt das Gros der Kunst des 20. Jahrhunderts weiterhin dahinschmelzen. Erschreckt vom eigenen Dogma, was auf einmal alles keine Kunst mehr ist, mag man also nun schöne Worte finden und beredte Ausnahmen oder Ergänzungen formulieren, wieso im Einfachen doch noch so was wie Kunst sich ausdrückt. So finden sich weitere rhetorische Tricks, mit deren Hilfe die Güte einer präferierten Musik begründet werden soll. Da ist dann das aus der Zauberflöte stammende bekannte Papageno-Papagena-Duett (gerade auch dessen Beginn mit seiner besonders textlichen intellektuellen Tiefe des »Pa Pa Pa …« der Papagena und des »Pa Pa Pa …« des Papageno), ein Musterbeispiel für ein unterhaltendes Moment. Da werden argumentative Verrenkungen getätigt, um die im Seichten angesiedelte, wenig komplexe Unterhaltung doch zur hohen Kunst zu verklären: »Das Duett ist mit seinen repetierten Noten und seiner harmonischen Schlichtheit bewußt als eine komische Einlage gestaltet, ein Intervall von comic relief zwischen zwei hochpathetischen Szenen.«417 So bewegt sich diese schlichte Musik doch wieder im Fahrwasser hoher Kunst. Im Fahrwasser der einmal erklärten Kunst gewinnt alles an Tiefe, auch die Schlichtheit harmonikaler Wendungen und mangelhafter Libretti, was Hans-Ulrich Gumbrecht zu dem Schluss führt: »Die Anstrengung, literarisch drittklassigen Libretti – denken Sie an die Zauberflöte, Fidelio, oder die Meistersinger – szenische Qualität oder etwa psychologische Tiefe abzugewinnen, kann leicht in das peinliche Gegenteil umschlagen.«418 Das »Pa Pa Pa« eines Mozarts ist sodann zweifelsohne Kunst-Musik und wird dem »E« zugeschlagen, wie schlicht, albern oder lustig die Musik auch klingen mag, das »De do do do de da da da« von Police kann dagegen nur »U«-Musik sein, obwohl doch die größere Silbenvielfalt im zweiten Fall ganz augenscheinlich besticht. Von struktureller musikalischer Komplexität kann bei dem genannten Beispiel von Mozart auch nicht die Rede sein. Aber indem die Oper von Mozart als »untrennbares Ganzes aus Text und Musik, Hohem und Niedrigem, Lustigem und Schmerzvollem, Spektakel und Geheimnis« betrachtet wird,419 erhält auch 417 Assmann, Jan: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium. München/Wien (Carl Hanser) 2005, S. 254. 418 Gumbrecht, Hans-Ulrich: Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. In: Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2001, S. 73. 419 Assmann, Jan: Die Zauberflöte, a. a. O., S. 13.
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das Banalste seinen hohen, ernsten Stellenwert, wo in dem anderen Fall allein die Unterhaltung und das Spektakel vielleicht nur ins Blickfeld rücken. Meistens aber rücken sie nicht einmal ins Blickfeld, sondern Urteile sind auch ohne Rezeption durch Setzung schon getroffen. Man denke nur an das Das war immer schon so-Argument bei Noltze. Auch die »Ode an die Freude« von Beethoven besticht – um ein anderes Beispiel zu nennen – durch markante Schlichtheit im horizontalen Verlauf. Eine Melodie, bestehend aus lediglich fünf Tönen (nebst einem weiteren sechsten Ton im letzten Takt der Melodie) sowie einem beinahe ausschließlichen Voranschreiten in Sekundschritten, würde – von einem anderen Komponisten in Szene gesetzt – diesem vielleicht nur insofern zur Ehre gereichen, dass darin ein Talent zum Schreiben eingängiger Melodien im Sektor der »U«-Musik gesehen würde. Doch diese eingängige, schlichte Melodie wird stattdessen begründend als besonders genialer Einfall gefeiert. »Alle Solisten jubeln, und endlich Jubel im vollen befreiten Chor. Unglaubliche Disposition Beethovens.«420 Bei Beethovens »Ode an die Freude« handelt es sich – ähnlich wie bei dem Papageno/PapagenaDuett der Zauberflöte – um einen »Ohrwurm«.421 Aber Ohrwürmer sind nicht gleich Ohrwürmer in bildungshumanistischer Wertschätzung. Es kommt darauf an, ob der Textmarker »E« oder »U« regiert. Während man in dem einen Fall einen unglaublichen Einfall sieht, eine geniale musikalische Gliederung, die ihresgleichen sucht, ja eine fast göttliche Fügung mit Unbegreiflichkeitsgarantie, ist es in dem anderen Fall populärer Ohrwürmer auf alle Fälle eine unterkomplexe Banalität, über die es sich hinwegzugehen lohnt und die sich gerade auch darin ausdrückt, dass sie dem Ohr gefällig ist und den Publikumsgeschmack bedient. Skepsis an dieser Einstellung in beiden Fällen mag darin sich gleichwohl ausdrücken, dass in dem Fall von Beethovens Ode die Textgrundlage Schiller und in dem Fall Mozart das Thema der Oper Zauberflöte entscheidend für den Höhenflug ist. Je nach dem, welches Argument gerade passt, wird es herangezogen. Ist die Musik schlicht, wird der Text für den tiefen Ernst verantwortlich gemacht, ist der Text banal, führt die Musik zum Unbegreiflichen. Ohne die konstruierte thematische Einordnung bleiben Ode wie Duett rein unterhaltend ohne nennenswerten Mehrwert. Es ließe sich also auch argumentieren, um das Komplexitätsargument zu retten: Die Idee, die dahinter steckt, ist von Philosophie und von höchst komplexen Gedanken durchdrungen, und deshalb erscheint das Nicht-Komplexe irgendwie doch komplex und ist Kunst. Man nimmt also in der konkreten Kunstrealisation bewusst Abstand von aller Komplexität, um über das einfach Gestrickte zu abstrakten Höhenflügen anzutreten. »Edle Einfalt, stille Größe«? 420 de la Motte, Diether : Melodie. München (dtv/Bärenreiter) 1993, S. 357. 421 Ebd., S. 350.
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Ein einfaches gestricktes Kunstwerk besitzt dann so was wie philosophische Tiefe. So ließe sich argumentieren: Das Problem dabei ist, dass die Welt der Ausnahmen oder ergänzenden Beifügungen endlich überborden wird, um der Grundthese weiter Geltung verleihen zu können. So wird man irgendwann, ähnlich dem Ptolemäischen Weltsystem, das rechnerisch nie so recht funktionierte und das über immer kompliziertere Ausnahmeregelungen erhalten ward, bis es mit Kopernikus zusammenbrach, ganz ähnlich mit der Idee einer komplexen Kunst verfahren: Alles, was nicht komplex ist, dem man aber die Kunstförmigkeit doch nicht so recht absprechen will, wird über wortgewandte Akrobatik wieder in das System re-importiert. Solche Ausnahmen sind gleichwohl allein nach Gutdünken entworfen, voll der Beliebigkeit, um weite Teile der Kunstwelten zurückzuführen in den Schoß der Kunst. Und so mag man Arvo Pärt, auch die Protagonisten der Minimal Music und Pop Art, in den Olymp der Kunst wieder aufnehmen und weiterhin festhalten am Dogma: Kunst ist komplex, war schon immer komplex und wird es immer bleiben – beim Griechen Aischylos und basta. Aber auch bei noch so schönen Worten und hoffentlich zumindest halbwegs logischen Herleitungen, an denen es gerne auch mal mangelt, bleibt doch eine Gradation der Kunst erhalten: Oben sticht unten, und man wird sagen müssen, Arvo Pärt als Re-Import in die Welt der Kunst rangiert weit unter Beethoven, und das findet bei manchem, wenn nicht gar vielen, vielleicht sogar seine Zustimmung, denn das Komplexitätsargument ist unerbittlich.422 Für manche ist sowieso mit Beethoven der Gipfel aller Komplexität und Kunst erreicht. Seitdem gibt es nur noch siechenden Niedergang. Logisch begründen lässt sich das zwar nicht ansatzweise, wo emotive Anwandlungen und persönlicher Geschmack Urteile maßgeblich mitprägen, aber wen kümmert das schon, wo so empfunden wird. Bei all dem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden, wenn man unvergleichliche Kunstereignisse aus unterschiedlichen Jahrhunderten nebeneinanderstellt und ziemlich undurchschaubar nach besser und schlechter beurteilt. Es stellt sich auch zugleich die Frage, ob, wer zum Beispiel die Sonatenhauptsatzform verwendet, heute noch gut beraten ist, dieses zu tun. Mit anderen Worten: Sind die Gattungen und Formen der Vergangenheit überhaupt noch geeignete Mittel, Musik mit hinreichend Komplexität anzureichern? Liefern sie nicht nur – allzu bekannt und viel zu oft verwendet – nur noch gähnende Langeweile und beim Hörer das Gefühl des »Bitte nicht schon wieder«? So mag 422 Vielleicht aber, auch das ist nicht auszuschließen, bleibt der Autor des »das war schon immer so, [dass Kunst komplex ist,] und wird auch so bleiben« konsequent in seiner Argumentation, und tatsächlich werden Dadaismus, Suprematismus, Minimal Art, Pop Art und vieles andere verbannt, mit dem Stigma Nicht-Kunst belegt.
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aus dem Blickfeld der Gegenwart Arvo Pärt mit seinem Tintinnabuli-Stil plötzlich ein größeres Maß an Komplexität in sich bergen als der Sonatenhauptsatz. Wir kommen ebenfalls später noch einmal darauf zurück. Möglicherweise ist auch beim Aufbau eines höchst differenzierten, nicht mehr notierbaren Grooves die Komplexitätsschwelle zum Eintritt in den Olymp der Kunst wesentlich leichter zu überschreiten als mit den hinlänglich bekannten musikalischen Formen der Vergangenheit. Da stellt sich unvermeidlich die Frage: Wie ermittelt man eigentlich die Komplexität einer Sonatenhauptsatzform oder die eines Grooves? Und wie werden sie gegeneinander verrechnet, damit man weiß, welche Musik komplexer und damit besser ist? Selbst Kunsterscheinungen aus demselben Jahrhundert zu vergleichen, offenbart ein seltsames Gebaren und ist demselben Problem gegenübergestellt. Ist dann Wagners Rheingold besser als die 9. Sinfonie von Beethoven, weil der Zusammenschluss mehrerer Künste zwangsläufig höhere Komplexität verheißt? Wie lauten also jenseits der Komplexitätsbehauptung die Kriterien, wonach qualifiziert wird? Würde mit der Summation mehrerer Künste in einem Werk eine Komplexitätssteigerung erfolgen, Beethoven hätte schlechte Karten, irgendwie mithalten zu können mit Wagner und dessen Gesamtkunstwerk. Es wird deutlich, dass es kein verlässliches Kriterium zum Messen von Komplexität über die Grenzen genrespezifischer Musiken hinweg gibt. Es fehlt ganz schlicht ein übergreifend einsetzbares Analyseinstrumentarium nebst Maßstab. Das wie auch immer gewählte Analyseinstrumentarium ist nicht neutral, allein die Wahl desselben formuliert im Vorfeld aller Analyse schon ein Urteil. Das Medium ist die Botschaft. Man vergleicht hier Äpfel mit Birnen, und da man Äpfel lieber mag und die Geschmacksfermente der Äpfel zur Grundlage des Vergleichs mit Birnen macht, kommen die Birnen immer schlecht weg dabei. Sonatenhauptsatzform vs. Groove = Apfel vs. Birne? Komplexitätsvertretende Apfelliebhaber dürften mit dieser Gleichung zufrieden sein.
Auf zum Komplexitätsgipfel zum Werk der Werke/. An der Komplexitätspyramide lässt sich weiter bauen, denn der Komplexitätsgipfel ist längst noch nicht erreicht. Je differenzierter und unerbittlicher die Determination musikalischer Parameter betrieben wird, umso komplexer, undurchschaubarer wird die Zusammenballung von Tönen. Ich gebe zunächst mal ein Beispiel423 für eine jeden Interpreten überfordernde Komplexität aus der musikalischen Gegenwart:
423 Dieses Beispiel wird ausnahmsweise im späteren anderen Zusammenhang im Buch im
Auf zum Komplexitätsgipfel zum Werk der Werke/.
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»Viel hilft viel. Sagen sich scheinbar viele Komponisten und schwärzen das Papier. Zusatzzeichen, Erläuterungen, Fußnoten, Regelungen, Hinweise. […] Keine Lücke ist zu klein, um nicht noch ein weiteres – möglichst selbstkreiertes – Zeichen unterzubringen, kein Zwischenraum zu eng, um nicht eine verbale Anweisung hineinzuzwängen. Keine Note ohne mindestens vier zusätzliche Erläuterungen. […] Gegeben sei ein Takt für Violine solo – notiert in drei Systemen. Im oberen steht als Taktartangabe 9/16 sowie eine Klammer über den ganzen Takt: 9:10. Innerhalb dieser Klammer beginnt auf dem dritten Schlag eine weitere Klammer : 3:5, wobei wiederum deren vierter Schlag noch mal in 7:6 unterteilt ist. Und auf dem – punktierten – fünften Impuls dieser Klammer steht eine Note (die einzige in diesem System), selbstverständlich versehen mit umfangreichen Erläuterungen zu Klangfarbe, Erzeugungsart, Laustärke, Geste und Bedeutung.«424
Mit dieser Beschreibung wird allein das erste System beschrieben. Es folgen sodann die nicht weniger kaum zu durchschauende Beschreibungen zum mittleren und unteren System. Steffen Schleiermacher, dem dieses Werk zur Prüfung vorgelegt war, kommentiert diese Schreibarbeit mit süffisantem Ton, indem er aus dem Ganzen eine Rätselaufgabe macht und bislang noch unterschlagene Anforderungen nachreicht: »Frage: In welcher Reihenfolge erklingen die Töne? Für eine klangliche Vorstellung dieser knappen zwei Sekunden gilt es aber noch zu berücksichtigen, dass die Töne eher Geräusche sind, die – wie das Vorwort erhellend beiträgt – fast unhörbar sein sollen. Und über den ganzen Abschnitt gibt es da noch die Meta-Angabe über ein Verlangsamen von Viertel 67,3 zu Viertel 58,9. Das ist viel zu lang und viel zu unübersichtlich zu lesen, beschwert sich hier bestimmt der eine oder andere, vielleicht sonst im Großen und Ganzen gar gutwillige Leser. Eben!«425
Die Differenziertheit der Beschreibung signalisiert unverkennbar ein hohes Maß an Komplexität. Die Kommentierung, wie Einzelnotenereignisse gespielt werden sollen, dass sie beinahe nur unhörbar den Luftraum durchschwingen dürfen, ist ein Beispiel für die Diffizilität der Komposition, man bedenke die Mannigfaltigkeit der Taktwechsel, die metrumgenaue Angabe bis hinters Komma, wie ein Ritardando sich zu vollziehen habe, mehr Komplexität geht kaum noch. Man könnte sagen: Ein Höchstmaß an Güte, ausgedrückt durch ein Höchstmaß an Komplexität. Wie schlicht und banal dagegen ist die Jupitersinfonie eines Mozart gestrickt, die mit wenigen, geradezu kargen Angaben zur Spielkultur auskommt. Mozart hat hier doch – ganz ohne Frage – nicht nur in Beethoven seinen Meister
Kapitel Vom Wortlaut der Schrift… und von zu einfachen Beschreibungen noch einmal zitiert. 424 Schleiermacher, Steffen: komponisten können interpreten offensichtlich nicht leiden… In: Neue Zeitschrift für Musik. Themenheft Notation. Nr. 5, Sep./Okt. 2008., S. 42f. 425 Ebd., S. 43.
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gefunden. Auch der Komponist der Gegenwart sticht ihn in Sachen Komplexität leicht aus und Beethoven gleich mit. Selbst das frühe 20. Jahrhundert lässt Beethoven & Co. in Sachen Komplexität ganz schlecht aussehen und deutlich hinter sich. Denken wir hier nur an die Zwölftonmusik oder besser noch an die serielle Musik. Hier kommt die menschliche Vorstellungskraft aufgrund der überbordenden Komplexität ganz schnell an ihre Grenzen, wie Notenereignisse sich zu Klang fügen mögen. Eine völlig aus ihren Anfangsbestimmungen heraus determinierte Musik, wie sie in der Serialität bedacht wurde, impliziert bspw. eine so komplexe Musik, dass sie in ihrer Gesamtform auch vom Auge, das den Noten folgt, nicht mehr zu überschauen ist. Manche seriell komponierenden Komponisten konnten so gar nicht mehr übersehen, was sie da komponierten. Es überstieg ihren wie auch eines jeden anderen Geisteshorizont, die Gesamtschau im Gesamten zu bedenken. Adorno sprach in diesem Zusammenhang nicht ohne Grund von der »Kontrolle des Unvorstellbaren«.426 Denn werden sämtliche Toneigenschaften einer Reihendetermination unterzogen und die Anfangsbedingungen fixiert, so kommt die Gesamtform praktisch dem Zufall gleich, was Ligeti einst schrieben ließ, dass »das total Determinierte dem total Indeterminierten gleich wird«.427 Daher werden entsprechende Stücke vom Hörer kaum als zusammenhängend denn mehr als zerrissene Musikgewebe erfahren, deren Strukturzusammenhänge – da sie durch den Ausschluss von Wiederholungen (also Redundanz) das Gehör einem ständigen Wechsel an Höreindrücken aussetzen – sich kaum mehr oder gar nicht mehr erschließen lassen. Zur »Kontrolle des Unvorstellbaren« eines Adorno gesellt sich eine Struktur des Unhörbaren und auch sehend nicht mehr Fassbaren. Maximale musikalische Komplexität beinhaltet so zwar eine maximale Information, aber aufgrund ihrer Nichtdurchschaubarkeit aus Mangel an Redundanz und Wiedererkennbarkeit fällt sie mit der Nicht-Information ineins. »Die ›immer überraschende Form‹ (Pousseur […]) kann nun einmal nur überraschen, wenn andererseits Hörererwartungen vorhanden sind, und diese können auf die Dauer nur dann vorhanden sein, wenn sie Nahrung bekommen, das heißt, wenn sie wenigstens teilweise, in bestimmten Grenzen erfüllt werden. […] [P]ermanente Unvorhersehbarkeit [vergewaltigt und entmündigt] den hilflosen Hörer viel mehr […] als die logische und immerhin doch sanfte auditive Führung in früherer Musik.«428
Maximal strukturierte Komplexität und Zufallsereignisse sind so Brüder im Geiste. Es dürfte einsichtig sein, dass solcherlei Werke die Komplexität eines zum 426 Adorno, Theodor W.: Musik und Tradition. In: Musica 1/1961, S. 3. 427 György Ligeti, zit. n. Richter, Klaus Peter : Soviel Musik war nie. München (Luchterhand) 1997, S. 108. 428 Rohwer, Jens: Neueste Musik. Ein kritischer Bericht. Stuttgart (Klett) 1964, S. 72.
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Vergleich dann doch eher banalen da, da, da, daaaa mit Leichtigkeit überschreiten. Unbestritten dürfte abermals sein, dass mit wachsender Anzahl von Parametern noch weitaus komplexere Zusammenballungen von Klang zu gestalten sind, die um ein Vielfaches komplexer sind als alles, was Mozart, Beethoven & Co. je zu Papier haben bringen können. Man erinnere sich auch an eine Musik wie der von Klarenz Barlow, der zwischen 1975 und 1979 das Stück C ¸ og˘luotobüsis¸letmesi für Klavier komponierte, zu dem der Komponist schreibt: »Es laufen gleichzeitig …, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mehrere Klangschichten, von denen die eine momentan punktuell, die nächste melodisch, eine dritte akkordisch, oder die eine mit ebenem Rhythmus und die andere synkopiert sein kann. Die Musik variiert in den einzelnen Schichten von konsonant bis dissonant, tonal zu quasi atonal, metrisch zu quasi ametrisch, ereignisreich zu ereignisarm; trotzdem bildet das Stück eine organische Einheit«.429
Bei dem Versuch, mehrere musikalische Schichten mit wechselnder Tonalität und Metrik zu komponieren, entwickelte Barlow Formeln, die den Stilen und Metriken der Jahrhunderte gerecht werden sollten. Diese Formeln dienten Barlow als Grundlage für ein Computerprogramm, das mit Hilfe von ihm selbst entwickelter Algorithmen die Kompositionsarbeit ausführte. Ein höchst komplexes Unterfangen, mit dem Computer der 70er Jahre noch ihre rechte, liebe Zeit beanspruchende Not hatten. »In einem Rutsch habe ich am Ende dann die ganze Partitur durchrechnen lassen, und sie wurde dann an einem Tag in Zahlenkolonnen hergestellt«.430 Auch wenn man die fraglos noch geringe Rechenleistung von Computern der 70er Jahre in Rechnung stellen muss, legt die verwendete Zeit von einem Tag Zeugnis ab über die Komplexität des Kompositionsalgorithmus. Auch der folgende Umstand dokumentiert dies: Aus Mangel an Notationsprogrammen in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war es anschließend an Barlow selbst, die ausgewiesenen Zahlenkolonnen in die Symbole der Notenschrift zu übertragen. Ein komplettes Jahr benötigte die handschriftliche Übertragung auf das Notenpapier, und ein weiteres halbes Jahr benötigte dann ein Pianist, um das Stück sich anzueignen und aufzuführen. Das Ergebnis ist eine hochkomplexe, interessante Klaviermusik. Wie anders erscheint da die schlichtgestrickte Klaviermusik früherer Jahrhunderte, als Strukturen schon beim bloßen Anblick sich offenbarten. Ob der Komponist eine klangliche Vorstellung hatte von dem, was er da in 429 Barlow, Klarenz, zit. n.: Batel, Günther : Zur Geschichte der Computermusik. Instrumentenkundliche und kompositionsgeschichtliche Aspekte. In: Batel, Günther/Kleinen, Günter/Salbert, Dieter (Hg.): Computermusik. Laaber (Laaber) 1987, S. 63. 430 Barlow, Klarenz. In: Weyer, Rolf-Dieter : Komponieren, trotz mit und aus dem Computer. Ein Gespräch mit Klarenz Barlow. Zeitschrift für Musikpädagogik. Heft 42. Nov. 1987, S. 5.
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Szene setzte, mag man bezweifeln. Für den Komponisten kann das Werk, aufgrund seiner Komplexität, vor seiner Vollendung klanglich kaum vorstellbar gewesen sein, es entzieht sich seiner gedanklichen Kontrolle, ebenso wenig wie die Serialisten der 50er Jahre nicht mit Gewissheit auszusagen vermochten, wie die Ergebnisse ihrer Kompositionsbemühungen schlussendlich klingen würden. Die Analyse solcher Werke erfordert schon viel Detektiv- und Feinarbeit, falls sie überhaupt noch gelingen kann: Folge der ungeheuren Komplexität, von der solche Stücke durchdrungen sind.
Klarenz Barlow C ¸og˘luotobüsis¸letmesi (Ausschnitt, mit freundlicher Genehmigung des Komponisten).
An der Komplexitätsskala lässt sich aber noch weiterdrehen. In der elektronischen/digitalen Musik kann jeder einzelne Ton in seine in ihn auszeichnenden Einzeltöne/-ereignisse zerlegt werden oder man kann, vom Sinuston ausgehend, mikroskopisch genau einen gewünschten Klang obertongerecht gestalten. Es können Abhängigkeiten zu weiteren Parametern geschaffen werden, wonach vielleicht Obertöne in exakter Zahl hinzuaddiert oder reduziert werden, sobald ein anderer Parameter im Bereich zum Beispiel der Lautstärke den Zustand x einnimmt, welcher allerdings nur unter der Bedingung eintritt, wenn wieder ein anderer Parameter, sagen wir die Variable y, sich auf ganz bestimmte Weise verhält. Solche Wenn/Dann-Beziehungen können in beliebiger Form zusammengestellt und in einem Algorithmus ausgedrückt werden. Obwohl die geschilderten Wenn/Dann-Beziehungen je für sich Linearität spiegeln, entwickelt sich schnell durch die gegenseitige Einflussnahme ein nicht-
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lineares, vollkommen undurchschaubares Geflecht, bis ein nicht-vorhersehbares, man kann auch sagen, unbegreifliches überkomplexes Emergenzphänomen Gestalt annehmen kann, bei dem mit Hinzufügen eines jeden neuen Parameters die Komplexität exponentiell wächst. Endlich: Das Unbegreifliche hat definitiv Gestalt angenommen. Und es ist fraglos nachvollziehbar, welche gedankliche Mühe es braucht, diese musikalische Qualität von so höchster Güte, von einer künstlerischen Einzigartigkeit, in dem das Unbegreifliche sich fulminant ausdrückt, auch nur in ihren Grundzügen nachzuvollziehen. Alles, was Beethoven & Co. in den vielen Jahrhunderten zuvor zusammengenommen komponiert haben, kann nicht ansatzweise an diesen hohen Grad von Komplexität heranreichen. Mag sein, dass das Ganze trotzdem abscheulich klingt, aber darum geht es ja gerade nicht: um ästhetischen Wohlklang. Und außerdem: Wenn man sich erst einmal richtig auf dieses Höchstmaß des künstlerischen Glücks, ausgedrückt in dem filigranen Zusammenspiel eines unermesslich scheinenden Geflechts aus Ursachen und Wirkungen, eingelassen hat, wer sagt denn, dass man der verborgenen Qualitäten nicht gewahr werden würde, wenn man sich nur hinreichend Mühe gäbe? Und mehr noch: dass man – einmal halbwegs das Charakteristische der Komposition nachvollzogen – hinfließt und sagt: Nur so kann wahre Musik klingen. Durch das klanglich Scheußliche hindurch eröffnet sich dem Rezipienten der eigentliche, der wahre Klang. Wer etwas anderes sagt, hat nicht verstanden. Und schon zeigt man der unverständigen Gemeinde den erhobenen Finger und sagt: Man muss sich schon ein wenig Mühe geben, um solche geheimnisvoll waltenden Proportionen wertschätzen zu können. Und recht hat doch der so Scheltende: Immerhin wissen wir ja schon seit der Antike, genau gesagt, seit Aischylos’ Tragödien, dass Kunst komplex ist und nicht anders sein kann als komplex. »Das ist nicht zu ändern und war schon in Aischylos’ Tragödien so.« Es geht um das Komplizierte, das Schwere, eben das Komplexe. Man möchte meinen, die Spitze der Pyramide wäre endlich erreicht, aber ich zögere, den größten aller Komponisten schon zu nennen, der über allen thront, denn was beschrieben wurde, ist doch eine rein strukturelle Komplexität, rein quantitativ erfassbar und in Algorithmen ausdrückbar. Diese Form der Komplexität ist vielleicht gedanklich nicht mehr nachvollziehbar, aber berechenbar. Vielleicht aber gibt es jenseits des Berechenbaren eine Komplexität, die unkalkulierbar und absolut unbegreiflich bleibt. Gehen wir die Sache mit dem Komplexen daher noch einmal von einer anderen Seite an, wo dem Inhalt mehr zugewandt wird. Bislang wurde Komplexität aus guten Gründen ja allein quantitativ, bezogen auf eine vorliegende Parametervielfalt, erfasst. Damit eine inhaltliche Bestimmung von Komplexität nicht in reine Beliebigkeit umschlägt, denn eine Qualifizierung von Inhalt ohne ein verlässliches Kriterium unterliegt in der Regel höchst subjektiven Ansichten,
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übersetzen wir Inhalt mit Information und versuchen Information ebenfalls quantitativ zu erfassen. Nun denn: Musik ist einer Gestalt/Grund-Unterscheidung geschuldet, die nicht beliebig ist, denn diese Selektion der Rauschumwelt in Gestalt und Grund ist danach verfügt, ob sie einer wahrnehmenden Person Ordnung und damit eine sinnvolle Information verspricht. Eine geordnete Welt von Tönen ist dieser Person in einem bestimmten Maß informativ, der gestaltlose Hintergrund dagegen uninformativ. Wir nehmen zum Beispiel mal wieder das da, da, da, daaaa! Wir erkennen darin eine musikalische Information und abstrahieren von allen weiteren Klangereignissen. Was aber ist nun genau eine Information (Ordnung) und was ein störendes Hintergrundrauschen (Sound & Noise) und was unterscheidet beziehungsweise verbindet Information/Ordnung und Nicht-Information/Zufallsklang miteinander? Hier liefert die Informationstheorie ein Modell, das den Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen zu erklären hilft. Als allgemeingültiges Prinzip der Natur gilt: »Unordnung ist wahrscheinlicher als Ordnung, die Unordnung nimmt von allein zu.«431 Das Wahrscheinliche ist das Streben der Dinge zum Verfall. Das ist die Entropie, deren Maß bestimmt ist durch das Maß des Wahrscheinlicher-Werdens der Dinge. Im Gegensatz dazu ist die Neg-Entropie zu verstehen, deren Maß von ihrer Unwahrscheinlichkeit bestimmt ist. Neg-entropische Zustände sind unerwartet/selten und – jetzt sind wir beim Thema – daher informativ, entropische dagegen nicht. Konkret: Informativ ist so bspw. das bekannte und schon mehrfach erwähnte da, da, da, daaaa, da dieses Zusammenspiel von Ton und Rhythmus in der Natur als extrem unwahrscheinlich gelten kann. Mag sein, dass ein Specht mal diesen Rhythmus klopft, aber Rhythmus und Tonhöhe zusammen, das käme schon einem Wunder gleich. Das Herausbilden von Mustern (musikalischer Ordnung, ausgedrückt im da, da, da daaaa) in einem natürlichen Prozess des immer Wahrscheinlicher-Werdens ist extrem unwahrscheinlich und als informationsproduzierender Vorgang zu werten. Mit Norbert Wiener wäre daher zu sagen: »Gerade wie der Informationsgehalt eines Systems ein Maß des Grades der Ordnung ist, ist die Entropie eines Systems ein Maß des Grades der Unordnung; und das eine ist einfach das Negative des anderen.«432 Inseln der informativen Ordnung in einem Meer der Unordnung stellen folglich unerwartete Zustände dar. Unser da, da, da, daaaa (+ Tonhöhe) trägt also ein erhebliches Maß an Information in sich. Bedauerlicherweise behält diese Information nicht ihren Wert. Sie zerfällt: Eine stets gleichbleibende Ordnung geht ihres informativen Charakters verlustig, da sie die in sie gestellte Erwartung erfüllt. Sie ist voraussehbar. »Eine Information, die sinngemäß wiederholt wird, ist keine Infor431 Flechtner, Hans Joachim: Grundbegriffe der Kybernetik, München (dtv) 1984, S. 75. 432 Wiener, Norbert: Kybernetik. Düsseldorf/Wien/N.Y./Moskau (Econ) 1992, S. 38.
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mation mehr. Sie behält in der Wiederholung ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert.«433 Mit anderen Worten: Eine Zusammenballung von Unwahrscheinlichkeiten – das vorab genannte da, da, da, daaaa (+ Tonhöhe) – wird durch Wiederholung/Musterung zu einem ziemlich wahrscheinlichen Phänomen – redundant. Die eben noch erkannte Information verfällt zur NichtInformation. Hundert Mal gehört verliert Beethovens Motiv und Werk seinen informativen Wert, wird langweilig bei allem nach wie vor unterlegtem Sinn, den der eine so, der andere irgendwie ausloten mag. Redundante (unterkomplexe) Langeweile pur also. »Einige der komplexesten und gewagtesten Musikstücke des 19. Jahrhunderts sind durch die pausenlose Wiederholung fast inhaltslos geworden. Presto: Beethoven light – ta-ta-ta-taaaa!«434 Übersetzt man die Inhaltsleere mit Nicht-Information, erhält man eine konzise Beschreibung für das, was bei auf Dauer geschalteter Aufführungen der immergleichen Werke unvermeidlich geschieht: Es entstehen Redundanzen infolge erwartbarer Ereignisse. Die bei Beethoven auftretenden Redundanzen müssen nicht gleich zur Langeweile führen, wenngleich der Informationswert durch jede Wiederholung selbstredend sinkt. Doch durch ständige Wiederholung desselben Stückes erfüllt sich ebenso beständig die Erwartungshaltung, was den Geist ermüden lässt. Aus psychologischer Sicht ist dieses Phänomen auch unter »Habituation« bekannt. Es stellt sich irgendwann beim Hörer Langeweile ein. »So könnte man erklären, dass manche Menschen Bach, Mozart und Haydn zumindest über weite Passagen zwar schön, aber trotzdem fad finden: irgendwie angenehm, aber extrem gleichförmig, vorhersehbar, monoton und sich wiederholend.«435 Der Habituation entgegen arbeitet die neue überraschende Information. Und nun nähere ich mich endlich dem Gipfel der Pyramide, wo Nicht-Linearität in unvorstellbarem Maße waltet und wo Information im Grunde nie zur Nicht-Information zerfällt, zumindest wäre dies extrem unwahrscheinlich. Und falls doch die Redundanz einmal eintritt, muss man auf informative Überraschungen stets gefasst sein. Das zuvor benannte nicht-informative Hintergrundrauschen ist gleichbedeutend mit maximaler Information. Aufgrund seines hohen Informationsgehaltes sind wir nur nicht in der Lage, die jeweils zur Verfügung gestellte Information zu erfassen. Wenn man so will: Das Unbegreifliche in Reinkultur. Wer eine solche Komposition ersinnt, der wäre der Meister aller Komponisten. Er hätte das Werk der Werke komponiert. Und diesen Meister gibt es: Maximale Komplexität liefert eine Musik, wie sie John Cage empfunden hat, als er das Rauschen – die Stille – der Welt zur Musik erklärt 433 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 31993, S. 102. 434 Walsh, Michael: Keine Angst vor klassischer Musik. München (Piper) 1997, S. 164. 435 Richter, Thomas: Warum man im Auto nicht Wagner hören sollte. Musik und Gehirn. Stuttgart (Berlin) 2012, S. 69.
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hat. Stille ist »nicht die Abwesenheit von Klängen, sondern anzufangen, sich für die Klänge zu öffnen, die da sind – sie zu hören.«436 Das im Moment der Aufführung sich zufällig klanglich Realisierende ist die Musik. Diese Musik der Stille, die durch Störung besticht, ist in ihrem Verlauf vollkommen unvorhersehbar. Sie wartet ständig mit neuen Klanginformationen auf, produziert ständig Neues. Ihr Problem: Die Informationsdichte ist – infolge zu geringer Ordnungsgrößen und Redundanzeffekte – zu groß (zu komplex), was es für Rezipienten schwierig werden lässt, aufgrund ihrer Nichtvorhersagbarkeit darin überhaupt Musik zu erkennen. Aber das ist ja das Problem des Rezipienten, dass er das Unbegreifliche nicht verstehen kann, egal wie viel Mühe er sich auch gibt. Es ist eben Folge dessen, dass ein Maximum an Komplexität vorliegt. Und wer hat für diese Musik die Ohren geöffnet und dafür Werbung gemacht? John Cage, der Meister aller – so wissen wir es nun – Komplexität.
Fantasy-Literatur der Fachdisziplin Musik/. Man mag sich daran stören, dass man vorab Information quantitativ fasst, Neuigkeit als zentralen Wert fasst und Redundanz als Nicht-Wert, ohne weiter inhaltlich zu spezifizieren, aber auf irgendeine Weise sollte das Komplexe zu quantifizieren sein, um es abzugrenzen von einem weniger Komplexen. Sich weitergehend inhaltlich qualitativ, also beschreibend mit kompositorischem Inhalt auseinanderzusetzen und daraus Wertschätzung abzuleiten, führt zu nichts, sucht man einem gewissen Maß an Objektivität zu genügen. Das kann man im privaten Raum sicher machen, nur betritt man hier das Feld der argumentativen Beliebigkeit. Wohin das führt, kann man an folgendem Beispiel sehen. Es folgt ein längeres Zitat, dass die Beliebigkeit qualitativer Aussagen zur musikalischen Form prägnant belegt: »Das Folgende zeigt nämlich, daß Beethoven in diesem Satze den Daseinskampf eines von Gewalt bis zum Wahnsinn getriebenen Volkes hat darstellen wollen. Jedesmal, wenn die drohende musikalische Geste der Tyrannenwut (1–5, 22–24) erklungen, ächzen die Unterdrückten auf und versuchen eine Gegenwehr, die ihr Ziel zwar nie erreicht, aber mehrmals (so in 44ff.) bis zum gewaltigen Aufbäumen geht. Ein zweiter solcher Ansturm des Volkes war in Takt 58 vorüber. Ihn dämpft der Tyrann, indem er der drohend heranflutenden Menge seine Wächter entgegenstellt. Breitspurig und roh pflanzen sie sich auf (59–62). Läßt man dieses Bild gelten, dann ergibt sich für das p und dolce vorzutragende Seitenthema 63-ff. das Bild einer schützenden, beruhigenden Geste, etwa der Mütter, die ihre furchtsamen Kinder mit zärtlichem Zuruf besänftigen. 436 John Cage, zit. nach: Pinos, Alois: Paradoxe der Kommunikation in der neuen Musik, in: Kolleritsch, Otto (Hg.), Verbalisierung und Sinngehalt. Über semantische Tendenzen in und über Musik heute. Wien/Graz (Universal Edition) 1989, S. 113.
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Aus dem Zuruf entwickelt sich leidenschaftliche Ungeduld und drängende Sehnsucht (cresc., 84ff.) bis zum Erlösungsgedanken (94ff.): Ach, wären wir erst frei, alles wäre gut! Um diesen Preis willen wollen wir weiterkämpfen! […] Das Tyrannenmotiv bleibt auf unisone Tuttischläge beschränkt, während die Volkskampfmotive in allen Stimmen, Lagen und Schattierungen erscheinen können und in der Regel einen aufgelockerten Satz zeigen. Dort Unbeugsamkeit, brutaler Wille, hier Ratlosigkeit und Durcheinander. Mit beiden Gegensätzen arbeitet auch die Durchführung. Die freiheitliche Aufwallung, mit der der erste Teil schloß, wird mit einer neuen furchtbaren Drohung der Wächter beantwortet (125–128). Sie löst Trotz aus, der, dreimal mit ohnmächtigen Ansätzen beginnend, zu offener Empörung führt. Wie sich das zusammenrottet (158-ff.), in Wut die Fäuste schüttelt (168ff.), wie die Henkersknechte mit breiten Schritten heraneilen (179ff.) und die Menge zurückdrängen, bis alles erschöpft am Boden liegt, wie zwei maßlose Drohungen erfolgen – die zweite (240ff.) unter Aufgebot der gesamten fühllosen Henkerschar –, diese Szenen mag Beethoven in voller Realistik vor seinem inneren Auge erblickt haben.«437
Erlösen wir den Leser und halten ein und fest: Wir wohnen, auch wenn Beethoven in seiner Musik poetische Anleihen machte, hier einer Märchenstunde bei, die der Autor Arnold Schering mit Wissenschaft verwechselt. Traumverwebt, trauerreich umschweben Gestalten* Schering in seiner märchenhaften Zeichenwelt. Fraglos liegt hier ein Paradebeispiel eines qualitativen Zugangs vor. Man nennt dieses Verfahren auch hermeneutische Interpretation. Seine Auslegung kritisch zu hinterfragen verwirft Schering als »ungerechtfertigte Zumutung«438, denn seine Beweisführung wäre von einem »innere[n] Verstehen, das gleicherweise geistiger wie seelischer Natur ist«, geleitet.439 Mit solchen Worten verabschiedet man sich umgehend aus dem Bereich jedweder Wissenschaft. Jeden Wissenschaftler machen solche Worte staunen. Es wäre wohl nicht verkehrt, wenn wenigstens von einem Hauch minimalster Reliabilität solche Lust am Schreiben umfangen wäre, das dem sogenannten seelischen Verstehen ein Grund gegeben hätte. Schering ist davon meilenweit entfernt. Der Anspruch nach Objektivität ist sicher nie zu erfüllen, das heißt aber nicht, dass man von vornherein diesem Anspruch sich gänzlich versagt und von subjektiver Fabulierkunst allein sich treiben lässt, obgleich Schering genau den umgekehrten Fall für sich reklamiert. Auch weitere Werke Beethovens werden von Schering in seinem Buch Beethoven in neuer Deutung, das nicht weniger fantasiegeleitet verfährt, beleuchtet und Ergebnisse entsprechend halluziniert. Man glaubt einem Kurs zum kreati437 Schering, Arnold: Zur Sinndeutung der 4. und 5. Symphonie. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft, hg. v. der Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft. 16. Jhrg. Heft 2. Februar 1934, S. 77f. 438 Ebd., S. 82. 439 Ebd.
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ven Schreiben beizuwohnen, allerdings ist auch hier sich Schering seines wissenschaftlichen Vorgehens gewiss.440 Die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind die Geburtsstunde von Fantasy-Epen gewesen. Für die Literatur steht Tolkien mit seinem Herrn Der Ringe. In der Musik legt Arnold Schering seine Beethoven-Deutung mit allerdings dankenswerterweise weniger großem Erfolg vor. Ein Zeitgenosse von Schering schreibt 1949, dass mit dieser »völligen« ins Poetische abdriftenden Beethoven-Deutung Schering »über das Ziel hinausgeschossen« sei.441 Das ist noch sehr freundlich formuliert. Diese schriftstellerische Märchenstunde liefert wesentlich ein Psychogramm des Interpreten, aber weniger einen Zugang zu Beethovens Musik. Von Wissenschaft ist da keine Spur. Die Fachdisziplin Musik – ich zögere hier von Musikwissenschaft zu sprechen – bedient zu jener Zeit noch umfänglich das Fantasy-Genre, wenngleich die Geschichten im Einzelnen nicht immer gleich so opulent wie bei Schering ausgeschmückt sind: Auch die Geschichten von Genies, Titanen, einsam schaffenden Komponistengrößen, mit dem Unendlichen sprechenden Werken und ähnlichem Wundersamem weisen in eine ebensolche fantasieangereicherte Richtung. Die Schriften der Fachdisziplin sind daher zu großen Teilen weniger der Wissenschaft denn mehr der Belletristik zuzuordnen. Und im Raum der Beletristik hat sich die Fachdisziplin eben dem Genre ›Fantasy‹ verschrieben. Zu den bekannten Fantasy-Autoren jener Zeit (z. B. Robert E. Howard, Michael Moorcock, Poul Anderson, H.P. Lovecraft, J.R.R. Tolkien u. a.) gesellen sich die weniger bekannten mit opulenter Fantasie ausgestatteten aus dem Raum der Fachdisziplin Musik. So nimmt es nicht wunder, dass eine solchermaßen literarische, aufgehübschte Schering’sche Märchenstunde an Worten einst in einem Organ der Fachdisziplin Musik publiziert wurde, das dem grundlegenden Missverständnis unterlag, es würde prominent wissenschaftliche Beiträge veröffentlichen. Man glaube nun bitte nicht, die Fantasie und kreative Schreibkultur spielten im 21. Jahrhundert keine Rolle mehr. Auch das 21. Jahrhundert kennt seine Betroffenheitslyrik und Fantasygeschichten.442 Es dürfte jedenfalls klar geworden sein, warum inhaltliche Qualifizierungen wenig hilfreich sind und warum Qualifizierung hier über den Informationswert zu fassen versucht wurde. Von mal mehr, mal weniger märchenhaften Qualifizierungen gilt es Abstand zu nehmen, um Komplexität in der Kunst zu bestimmen, wenn man sie denn bestimmen will. Es mag nicht befriedigend sein, Komplexität informationstheo440 Vgl. Schering, Arnold: Beethoven in neuer Deutung, Leipzig 1934, S. 10. 441 Liess, Andreas: Die Musik im Weltbild der Gegenwart, Lindau im Bodensee 1949, S. 223. 442 Vgl. Gülke, Peter : Die Sprache der Musik. Essays zur Musik von Bach bis Holliger. Stuttgart/ Weimar (Metzler), Kassel (Bärenreiter) 2001, S. 336. Vgl. dazu in diesem Buch auch das Kapitel Die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geist der Romantik, hier S. 225–244.
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retisch zu bestimmen, weiter als in den vorgeführten Fällen führt es allemal. In Klammern gesprochen, auch die Mär von der Komplexität in der Kunst, fällt der Gattung Fantasy zu. Klammer zu.
Hermeneutische Interpretation als Spiel/. Komplexität lässt sich also auch jenseits aller musikalischen Strukturen definieren. Sie bezieht sich auf das Verarbeiten nicht nur musikalischer Traditionen in eigener Musik und das explizite Aufzeigen jener Bezüge. Das muss also nicht unbedingt strukturelle Komplexität implizieren wie beim gezeigten Beispiel von Klarenz Barlow. Sie kann sich auch in einfacheren musikalischen Linien verbergen. Der Rezipient hört und findet Anleihen, zeigt Ähnlichkeiten auf. Ein kleines musikalisches Motiv, vom Komponisten ›xy‹ übernommen, offenbart eine thematische Verwandtschaft oder – im neuen Kontext – gegebenenfalls eine musikalische Gegenrede. Und solches gilt es gedankenreich aufzuzeigen. Eine solche Beschäftigung mit Kunst gleicht mehr einem Rätsel, das es zu entziffern gilt. Je eleganter, auch variantenreicher eine solche Verweisungsstruktur angelegt ist, umso komplexer zeigt sich die Kunst und umso schwieriger gestaltet sich die Entzifferungsarbeit. Das Entziffern solcher Kunst mit Rätselcharakter wird seit jeher mit großem Ernst betrieben. Zum Lösen der gestellten Rätsel dient die erworbene Bildung im (neu)humanistischen Sinne. Daher rührt auch der tiefe Ernst mit ihrer Apotheose der Bildungsgüter. Aber kommt ein solches Entziffern nicht einem auf welchem Niveau auch immer angelegten Kreuzworträtsel gleich, bei dem man nach einer plausiblen Lösung sucht? Drückt sich darin nicht vielmehr ein spannendes Spiel für Erwachsene aus? Die reflexive Beschäftigung mit Kunst – so lässt sich sagen – ist ein Spiel, und sie ist es immer schon gewesen, nur war es den Gewerbetreibenden in Sachen Rezeption und Reflexion nicht so bewusst, weil der große Ernst, mit dem das Spiel betrieben wurde, das Spiel daran verdeckte. Das Spiel verläuft nach eben jener Regel: Der Künstler schafft ein Kunstereignis und verbirgt darin seine oftmals bezugsträchtigen Motive, manchmal macht er dies bewusst, manchmal aber fließen diese einfach begleitend ein im Prozess der sich entwickelnden Kunst. Und der Rezipient vormals lässt sich davon affizieren und sucht zu entschlüsseln, was ihm im Verborgenen vorgegeben ist. Oft genug werden auch Bezüge aufgezeigt, die weder bewusst noch unbewusst beim Gestalten eingeflossen sind. Sie sind konstruiert und hineingelesen in die zu entziffernde Kunst. (Arnold Schering liefert hier geradezu ein Paradebeispiel.) Das alles gleicht einem Rätselspiel, bei dem Bezüge aufgezeigt werden, wie Gedanken im Kunstereignis verknüpft worden sind. Sind Anleihen gemacht worden bei diesem oder jenem gesellschaftlichen Ereignis oder Gedanken/kompositorische
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Strukturelemente von diesem oder jenem Künstler/Intellektuellen/Philosoph eingearbeitet worden? Mit jedem weiteren Herleiten entsprechender Bezüge gewinnt das Spiel an Fahrt. Und die Freude an jedem (vermeintlichen) Nachweis lässt das eigene Bildungsbewusstsein im gleißenden Sonnenschein sich bewegen und den Ernst an der Sache wachsen. Und doch bleibt es nur ein Spiel. Prägnant hat dies die Tochter des berühmten Literatur- und Musikkritikers Joachim Kaiser mal beschrieben, der sich auf neues literarisches Werk freute: »Das literarische Großereignis des Jahres steht an, die Veröffentlichung des neuen Romans von Günter Grass. […] Die Ungeduld meines Vaters wächst. Vorfreude auf das Werk, an dem der verehrte und in kollegialer Freundschaft verbundene Autor jahrelang gearbeitet hat. […] Je vertrackter die Zusammenhänge, desto mehr blüht mein Vater auf und schwingt sich vergnügt von Zitat zu Zitat in die flirrende Sphäre der abstrakten Beweisführung hoch, […]. […] Ein, zwei Tage später ist es so weit. […] Er knickt Seiten um, krakelt mit abgenagten Bleistiften Notizen«.443
Ganz offenkundig wird hier die Freude am Spiel. Man könnte das Spiel auch so beschreiben, dass der Künstler ein Rätsel kombinatorisch verfügt. Und auf dieses Rätsel stürzt sich freudvoll der Rezipient, sucht und findet, setzt an zu Gedankenflügen. Je reichhaltiger der Entschlüsselungsnachweis, umso ausgeprägter erscheint die angeeignete Bildung und umso größer auch die Freude am Ergebnis. Die (neu-)humanistische Bildung ist dabei der Schlüssel, um fruchtbare Gedankenreisen auf den Weg zu bringen. Dieses Spiel ist wie viele andere für sich alleine, aber auch als Gesellschaftsspiel zu spielen. Das Problem daran ist: Dieses Spiel ist über lange Zeit mit allzu großem Ernst betrieben worden. Anerkennung auf hoher, (neu)humanistisch geprägter Bildungsebene konnte nur erlangen, wer dieses Spiel souverän beherrschte. Andere Spielkulturen hatten es da schwer. Dass es sich dabei allein um ein Spiel für Erwachsene handelte, diese Einsicht stellte sich bei diesem Gesellschaftsspiel selten ein. Man wies ihm stattdessen eine ungeheuer bedeutende Rolle zu. Und die eigene Rolle als Interpret wurde als nicht minder bedeutend erachtet. Und wer vielleicht von sich sagte, ich spiele doch nur, wäre nicht sehr ernstgenommen worden. Doch diese vom tiefsinnigen Ernst geprägte Spielkultur hermeneutischer Provenienz ist heute weitgehend pass8, zu großen Teilen eine andere. Das altbekannte Spiel mag man weiterspielen, nur die höheren Weihen sind ihm aberkannt, wer diese einfordert, findet Anerkennung nur im kleinen Rahmen noch. Und selbst das ist ungewiss, wo die meisten Vertreter hermeneutischer Fabulierkunst vor sich hin schreiben, ohne wirklich vom gleich nebenan Schreibenden noch zur Kenntnis zu nehmen oder ohne selbst noch relevant zur Kenntnis genommen zu werden. Es drückt sich darin ein 443 Kaiser, Henriette/Kaiser, Joachim: »Ich bin der letzte Mohikaner«, a. a. O., S. 10f.
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implizites Eingeständnis nur unterstellter Tiefenschärfe aus. Und es geht längst nicht mehr um Tiefe, ontologische Sinnvermutungen, um die gestritten wird, sondern um die Oberfläche, das Schreiben um des Schreiben willens selbst. Die einen lösen Kreuzworträtsel, die anderen suchen einer verrätselten oder rätselhaften Kunst eine (irgendeine) Lösung abzuringen. Beide Problemlösungsvorgänge bewegen sich auf der gleichen Ebene. Und dieses Wissen darum ist gut so. Die Schreibkunst gewinnt so wieder Bodenhaftung, und wer mag, kann sich spielerisch erfreuen daran oder es auch lassen. Auch kann dieses Spiel mit immer wieder komplexen Verweisen kein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen im Rahmen traditionsgeeichter Musik, sondern gespielt wird mittlerweile quer durch alle Musiken hindurch. Man denke nur an die Kunst des Mashup. Hinter einem Mashup verbirgt sich eine digitale musikalische Kunstform, die sich gern auch mit dem Bild, bewegt oder stehend, verbindet. Grundsätzlich gilt: In einem Mashup wird bestehende Musik zu etwas Neuem kompiliert. Ein Mashup-Künstler wie Robin Skouteris verbindet da schon mal die Mondscheinsonate von Beethoven mit den Eagles und deren Hotel California. Auch Maria Callas fügt sich mit ihrer Stimme nahtlos ein, und der Beginn von Madonnas Like a prayer will, neben diverser anderer musikalischer Beifügungen, um die man erst mal wissen muss und oft nicht kann, auch nicht fehlen. Es sind so die unterschiedlichsten Stile ganzer Jahrhunderte, die eingebunden sein können im klanglichen Zusammenspiel. Wer um die zeitlichen und genrespezifischen Ursprünge nicht weiß, wird Robin Skouteris Genremix als Originalschöpfung akzeptieren, zumal solche Zusammenhänge oder Herkünfte nicht immer so leicht zu ermitteln sind wie die altbekannte Mondscheinsonate von Beethoven oder der Welthit der Eagles. Manchmal sind es nur ganz wenige klangliche Momente, die eingebunden und schon vorüber sind, bevor sie als mögliches Zitat überhaupt wahrgenommen sind. Endlich kann eigentlich erkannt werden nur das, was man schon kennt. Es bedürfte im Zuge jedweder Interpretation sowohl der umfassenden Kenntnis der Musik der Vergangenheit als auch Kenntnis der Musik der Gegenwart in ihrer ganzen Breite. Und darin ist ein offenkundiges Scheitern angelegt. Man ahnt, welche Komplexität sich hier entfalten kann. Es werden so immer bei analytischem Zugang zu einem Mashup geformten Lied dunkle Flecke bleiben, eben ein ganzer Reigen von Unbekannten, Irrtümer sind vorgezeichnet, Fehlinterpretationen angesagt. Hinzu tritt zu Text und Musik ja auch noch das Bild, das fraglos ebenfalls Anleihen machen kann bei unbekannten Vorbildern, um die man als Analysierender nicht unbedingt wissen kann, so geläufig sie an anderer Stelle dem interessierten Filmcineasten manchmal gar sein mögen. Mit Musik, Text und Bild bewegt sich, wenn eine Anleihe aus der Physik erlaubt ist, eine angestrebte Analyse auf der Ebene des berühmt-berüchtigten Dreikörperproblems, was besagt, dass drei aufeinander Bezug nehmende Körper nicht mehr kongruent in
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ihren Wechselbeziehungen bestimmt werden können. »Es ist bis heute nicht möglich, die Trajektorien dreier sich gegenseitig beeinflussender Körper, etwa von Sonne, Erde und Mars so zu beschreiben, daß zu jedem Zeitpunkt eine deterministische Voraussage über das künftige Geschick der drei Körper möglich ist.«444 Hier schon ist die Grenze gegenwärtigen menschlichen Wissens bestimmt. Interpretation läuft da, falls das Dreikörperproblem auf ähnliche Art und Weise auf den geisteswissenschaftlichen Bereich übertragbar ist, ohnehin mehr und mehr ins Leere oder wird mehr zur individuellen Schöpfung ohne größeren Bezug zum Interpretierten. Und so wächst kompositorische Komplexität ins Unergründbare, Unfassliche, wo alles mit allem verbunden werden kann dank digitaler Verhältnisse. Das Spiel gewinnt unvergleichliche Dimensionen und bleibt doch – bei allen Entzifferungsproblemen – ein anregendes Spiel. Mehr und mehr werden Konstruktion und Dekonstruktion zum Label, von dem dieses Spiel ausgezeichnet ist, was im Widerschein auch das Spiel mit dem tiefen Grund in ein neues spielerisches Licht stellt. Es kann mit großem Vergnügen gespielt werden, wie dies bei dem großen Kritiker Joachim Kaiser ganz offensichtlich aufscheint, der mit geradezu kindlichem Vergnügen spielt. Und man möchte beim Lesen seiner Zeilen gleich mitspielen. Nur muss man den Spaß an der Sache, die Freude an welchen Lösungen auch immer, nicht mehr hinter tiefschürfenden Gründen, die man zu erschließen glaubte, verstecken.
Die Welt des Unterkomplexen oder ganz einfach: Blühender Unsinn/. Mochte man an die prinzipielle Komplexität von Kunst glauben in früheren Zeiten, spätestens seit dem 20. Jahrhundert hat sich dieses Argument überlebt. Trotzdem wird es unverdrossen – hier von Holger Noltze – bemüht, zugleich findet es seine Leser, obwohl bei einem flüchtigen Rundblick durch die mannigfaltigen Welten der Kunst es keine rechtschaffende Widerspiegelung findet. Verbal wird das Komplexitätsargument beinahe trotzig formuliert in dem Sinne, dass das immer schon so gewesen sei. Die Formulierung in ihrer Undifferenziertheit erinnert beinahe schon an eine Form kindlicher Rechthaberei, wo jemand unterstützend mit dem Fuß aufstampft, um jeden Widerspruch auszuschließen. »Das ist nicht zu ändern und war schon in Aischylos’ Tragödien so.« Punktum! Obwohl sich längst alles geändert hat, werden Veränderungen verbal in Abrede gestellt. Hier tritt jemand auf im Gewand des vorgeblich Wissenden, der um das – wenn man so will – komplexe Wesen von Kunst definitiv weiß. Er 444 Cramer, Friedrich: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen. Frankfurt/ M./Leipzig (Insel) 1993, S. 163.
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weiß zugleich um ein mancher Musik Innewohnendes – hier das Unbegreifliche –, das nur auf eine Rezeptionsweise, die mit Mühe/Muße verbunden ist, offengelegt werden kann. Kein Gedanke wird daran verschwendet, dass man selber es sein könnte, der was auch immer in die Kunst hineinlegt. Kein Gedanke daran, dass man seinem eigenen Wunschdenken buchgedruckten Raum gibt. Wer etwas anderes behauptet, dass Kunst auch leicht sein kann oder auch schwere Kunst leicht zu rezipieren wie zu erfassen, der lügt. Dass den Autoren die vielfältigen Kunstwelten, für die das Komplexitätsargument nicht passt, nicht kümmern, operiert als ein gar nicht mal so neues Phänomen. Es gibt andere Beispiele, wo man den konkreten Erscheinungen nicht traut und stattdessen lieber in die Schriften jener sich versenkt, die dem wunschgesättigten Bild von Kunst das Hohelied singen. Ein fulminanter Verdrängungsmechanismus waltet dann, der – wie gesagt – allerdings so neu nicht ist: Man denke hier nur das Winckelmann’sche Universum »edle[r] Einfalt«, »stille[r] Größe«, auf das im Kapitel Bildungsfantasien schon eingegangen wurde, wo gezeigt wurde, dass jenes geistreich entworfene Universum nachweislich falsch ist. Die griechische Kunst war nicht vom schlichten Weiß, wie erträumt, sondern bonbonfarben bunt, was auch Winckelmann hätte sehen können, wenn er seine Beobachtungen nur an den griechischen Originalen abgelesen hätte und nicht vornehmlich an römischen, weißen Gipskopien. Auch das 19. Jahrhundert wusste schon um diesen Irrtum und ignorierte das Wissen um den Irrtum, weil die gesamte klassische Ästhetik, zu der man sich bekannte, damit hinfällig geworden wäre. So wurde eine reine Luftnummer, eine in nichts gründende Leerformel, lieber fortgeschrieben und eine ästhetische Klitterung betrieben.445 Und damit sind wir zugleich beim Komplexitätsdogma: Hier treffen sich die den Kopf in den Sand steckenden Ästhetiker mit Autoren wie Noltze, die die schlicht gestrickte, nicht stimmige These von der Komplexität in der Kunst vertreten. Und Noltze steht hier nur stellvertretend für so viele Vertreter der Fachdisziplin Musik. Die einen können nicht vom farblosen Winckelmann’schen Griechenlandbild lassen, die anderen nicht von ihrem Komplexitätsideal. Ein Höchstmaß an Ignoranz regiert in beiden Fällen, wo die empirische Wirklichkeit flugs beiseite gestellt wird, weil eine in Worte gegossene Theorie zum Glaubensdogma erhoben wurde und dagegensteht. Das 20. Jahrhundert sieht die Möglichkeit von Kunst in beinahe allen Erscheinungen vor. Anstatt einer künstlerischen Vielfalt sich zu stellen, die vielleicht auch sprachlos macht, weil es keine fassbaren Kriterien mehr für Kunst gibt, waltet nach wie vor das eindimensionale klassische Ideal, weil es sich so schön in eine kunstästhetische Formel hat packen lassen: Mal heißt diese »Edle Einfalt. Stille Größe«, ein 445 Vgl. S. 70–72.
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anderes Mal »Kunst war und ist komplex und wird es immer bleiben«. Und nicht zu vergessen: »Das ist nicht zu ändern und war schon in Aischylos’ Tragödien so.« Punktum! Man stellt dabei das Faktische, die konkreten Kunstausprägungen in ihrer gesamten Breite, beiseite und träumt weiter. Die einen träumen von Anmut, Würde, edle Einfalt, stille Größe (und was auch sonst an schönen poetischen Worten zu finden ist), die anderen von der prinzipiellen Komplexität von Kunst. So wird lieber eine Fiktion zur Wirklichkeit erhoben und ansonsten besser nicht so genau hingeschaut. Mit dem Abwenden des Blicks vom nicht passenden Faktischen wird man so selbst zum Künstler : Der Autor bosselt sich seine eigenen Vorstellungen von Kunst zusammen und nimmt sich dann ein Vorbild daran, behauptet schließlich die Unverrückbarkeit desselben. Wer daran zweifelt, gar etwas anderes sagt, wird implizit der Lüge bezichtigt und wird der Halbbildung bezichtigt. Kunst wäre auch leicht zu haben? Völlig ausgeschlossen angesichts apodiktischer Rede nebst Verwendung markanter Rede von der Leichtigkeitslüge. Und doch: Kunst ist auch leicht zu haben. Komplexität kann ein Qualitätsmerkmal von gelungener Musik sein, muss es aber nicht und das gilt – nach Aufhebung der Textmarker von »E« und »U« – für jede Musik: »die Beatles, übermächtig, und ich gehe ans Klavier, versuche, MICHELLE zu spielen (und merke, dass auch Ohrwürmer ziemlich komplex angelegt sein können)«.446 Was, wenn eine populäre unterhaltende Musik einen möglicherweise höheren Komplexitätsgrad aufweist als eine, für die der Textmarker des Ernsten vorbehalten ist?: »Bohemian Rhapsody« vs. »Kleine Nachtmusik«. Zur Rettung des »Hochs« und der »E«rnsten Musik werden dann auch wieder mancherlei Purzelbäume nicht gescheut, die bspw. in Mozarts Kleiner Nachtmusik doch noch eine musikalische Wendung finden, die das selbst verfochtene Gütesiegel rechtfertigt. Klipp und klar räumt Hans-Christian Schmidt mit solchen Unterscheidungen auf: »Nicht zu klären brauche ich […], ob das Haydn-Divertimento, die Mozart-Serenade, der Chopin-Walzer und die Gershwin-Rhapsody ›ernste‹ oder ›unterhaltende‹ Musik sind; die Simplizität einer Sonatine machte mir dann unaufhebbare Kopfschmerzen ebenso wie die Komplexität eines Titels von Weather Report oder Blood, Sweat & Tears.«447
Kunst ist nicht immer komplex. Sie ist auch leicht, manchmal schlicht, ohne an Größe zu verlieren, trotz apodiktischer Rede in kindlich-trotziger Manier : »Die ›Sachverhalte‹ der Musik, Literatur, Kunst sind komplex. Das ist nicht zu ändern 446 Fladt, Hartmut: Der Musikversteher, a. a. O., S. 188. 447 Schmidt, Hans-Christian: Musikdidaktik zwischen Eh und Uh oder: Erziehung zur Müdigkeit. In: Jost, Ekkehard (Hg.): Musik zwischen E und U. Mainz/London u. a. (Schott) 1984, S. 79.
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und war schon in Aischylos’ Tragödien so.« Punktum! Die Absurdität mancher Argumentation offenbart sich manchmal gerade in ihrer Wiederholung. Mit Wissenschaft hat eine solche undifferenzierte Argumentationsführung, die jeden Zweifel, gar Widerspruch kategorisch in Abrede stellt, natürlich nichts mehr zu tun, bestenfalls mit wissenschaftlichem Unsinn. Zur These der edlen Einfalt und stillen Größe gipsweißer Kunst und der These von der prinzipiellen Komplexität von Kunst gesellt sich zuweilen ebenfalls unter tradierten Kulturvertretern (und so implizit auch bei Noltze) die gebetsmühlenartig wiederholte These, dass Musik etwas sage und eine universelle Sprache sei, die jeder versteht. Und es sei erinnert an Hartmut Fladt, der zu dieser durch die Zeit hindurch wabernden These prägnant herleitet, dass dies »blühender Unsinn« sei.448 Unsinn muss man Unsinn nennen dürfen. Nicht viel anders verhält es sich mit der These von der edlen Einfalt und stillen Größe von Kunst. Und Autoren, die apodiktisch und undifferenziert die These von der prinzipiellen Komplexität vertreten, schreiben nicht weniger Unsinn und versuchen einem Publikum das als wissenschaftliche Erkenntnis zu verkaufen. Dieser belletristische Unsinn ist Folge einer oft mangelhaften Alphabetisierung im Raum von Kunst und Musik (in der jeweiligen Fachdisziplin), die sich dann darin ausdrückt, dass man Kunst und Musik der Gegenwart ratlos gegenübersteht, dabei sich weigert, an der eigenen Lese- und Rechtschreibschwäche zu arbeiten. Und schlimmer noch: Die eigene mangelhafte kulturelle Alphabetisierung wird anderen auch noch angedient. Der kulturelle Horizont so vieler soll eingeebnet, eingeschränkt werden, weil man selbst über den eigenen Tellerrand nicht hinauszuschauen und die Mannigfaltigkeit der Kultur nicht zu lesen versteht. Und da beginnt das Problem. Würden so unterkomplexe, fantasiegesättigte Thesen als persönliches Glaubensbekenntnis dezidiert herausgestellt, wäre das fraglos legitim: Persönlich glauben darf man alles, sofern man nicht missionarisch tätig wird, anderen den eigenen Glauben aufzwingt, andere Meinungen zulässt wie billigt. Man mag sich dafür entscheiden, an fantastische Geschichten dieser oder anderer Art zu glauben, und sein Leben danach ausrichten. Man mag Winckelmanns Gipskopien hofieren und zum marmornen Original verklären. Man mag an überlebten Gattungen der Musik sich erfreuen, sie zu zeitlos aktuellen stilisieren und unermüdlich sie studieren. All das kann man tun. Schwierig wird es dort, wo man solchen individuellen Glaubens-Geschichten nicht folgen mag und der Lüge bezichtigt wird. In solchen Äußerungen spiegelt sich nicht nur eine Form der Unfreundlichkeit Andersdenkenden gegenüber, sondern zugleich eine spezifische Art von Rechthaberei, ja von ideologischem Fundamentalismus, die/der neben dem eigenen Glauben nichts zulässt und in Abrede stellt jede andere 448 Fladt, Hartmut: Der Musikversteher, a. a. O., S. 11. Vgl. auch hier in diesem Buch das Kapitel Musik als Sprache, hier S. 143–157.
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Haltung. Zwar kann man nicht (mehr) Einfluss nehmen auf jene, die sich der persönlich gepflegten Rezeption verweigern, aber immerhin kann man sie der Lüge bezichtigen. Ideologie und/oder Fundamentalismus zeichnen sich generell durch mangelnde Selbstreflexivität aus. Sie operieren mit einem überschaubaren Angebot von schlichten Ge- und Verboten, die durch das Ausdrücken von Achtung/Missachtung durchgesetzt werden. In der weiteren Differenzierung kann die von gut/böse oder aber auch die von gut/schlecht stehen, wobei der grobe Pinselstrich allein die eigene Ideologie im strahlenden guten Licht stehen lässt. Da haben Andersdenkende oft wenig zu lachen. In dem ideologieverdächtigen Darlegen von Kunst als komplexer Kunst als unverrückbare Gegebenheit drückt allerdings sich aus nicht mal – wie vorab genannt – wissenschaftlicher Unsinn (im Grunde genommen ein Oxymoron), es ist auch kein – in Adaption eines Buchtitels – eleganter Unsinn,449 es ist nichts anderes als blühender Unsinn. Wer die Leichtigkeitslüge im Munde führt, hat sich hat sich vom rationalen Argument verabschiedet und in der Welt des Unsinns eingerichtet, der hemmungslos Blüten treibt. Sowohl die These von der komplexen Kunst als auch das ganze Buch dazu unterläuft insgesamt mit spielerischer Leichtigkeit aber auch jedes Komplexitätsniveau. Ein Kollege, mal befragt, was ihm zu diesem Buch denn zu sagen einfiele, meinte lapidar : »Dieses Buch ist auf wirklich gutem Papier gedruckt.« Ein mäandrierendes Kunstsystem verweigert sich so einfach gestrickten Formeln, die explizit zu wissen vorgeben, was Kunst denn nun ist (und was nicht). (»Die ›Sachverhalte‹ der Musik, Literatur, Kunst sind komplex. Das ist nicht zu ändern und war schon in Aischylos’ Tragödien so.«)
Von der (Un-)Möglichkeit zu benennen, was Kunst ist/. Die Schwierigkeit zu definieren, was Kunst genau ist oder auszeichnet, wird auch an folgendem Beispiel aus dem Raum der bildnerischen Kunst deutlich, das gleichwohl übertragbar ist auf die Musik und ebenfalls das Komplexitätsargument nicht auslässt. »Was wäre ein eindeutiges Beispiel für ein Kunstwerk? Nun, man möchte wohl meinen, daß niemand bestreiten wollen wird, daß Gemälde wie Poussins Raub der Sabinerinnen, Leonardo da Vincis Mona Lisa oder Rembrandts Nachtwache Kunstwerke sind. Was aber, wenn einer sagte: ›Nein, keines davon ist ein Kunstwerk‹?«450 449 Vgl. Sokal, Alan/Bricmont, Jean: Eleganter Unsinn, München (Beck) 1999. 450 Ziff, Paul: Was es heißt zu definieren, was ein Kunstwerk ist. In: Bluhm, Roland/Schmücker, Reinold (Hg.): Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik. Paderborn (mentis) 2005, S. 18.
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In diesem Fall wäre man genötigt, allgemeingültige Kriterien für die Kunstförmigkeit von etwas anzugeben. Der Autor Paul Ziff versucht in der Folge, solche Kriterien zu benennen, indem er auf die differenzierte Farbverwendung aufmerksam macht, das Spiel von Licht und Schatten, »Dissonanzen, Kontraste und Harmonien« in der Farbgebung, Gedanken zur allgemeinen Kompositionsanlage in ihrer Stimmigkeit formuliert und vielerlei mehr und diese Summe an Beschreibungsaspekten unter sechs Kategorien subsumiert. Und er endet mit einer siebten, die da heißt: »Und schließlich ist das Gemälde ein gutes Gemälde. Und das heißt ganz einfach, daß es sich lohnt, Poussins Bild in der Weise, die ich so ungenau beschrieben habe, genau zu betrachten, zu studieren und zu analysieren«451, was als Argument nur Staunen macht, drückt sich in ihm doch ein zirkuläres Argument aus: Auf der Basis seiner Güte wird das Kunstwerk geprüft, die Güte wiederum ist Folge der Prüfung usf. Aus einem solchen Regelkreis gäbe es kein Entkommen, und die Bestimmung eines Kunstwerks würde obsolet. Wenngleich manche der Kriterien im Kontext der Kriterienherleitung merkwürdig sind, wenn man bspw. nachfragen würde, was es heißt, ein Kunstwerk würde »offensichtliches Geschick« des Künstlers bekunden, und wieso sich auch für diesen Autor gerade in dessen »komplexer formaler Struktur« die Kunstförmigkeit ausdrückte, was abermals einen Mark Rothko mit seinen monochromen Gemälden oder die Vertreter der Minimal Music schnell zum Bodensatz aller Kunst beförderte, so erscheint es an dieser Stelle wesentlich, darauf aufmerksam zu machen, worauf Maurice Mandelbaum hinweist, dass nämlich implizit auf eine »mindestens minimale ästhetische Theorie«452 bezogen wird. Das macht deutlich, dass die Kriterien für Kunst nicht mehr aus dem menschlichen Erzeugnis gezogen werden, sondern dass eine vorurteilende Vorstellung, was Kunst sein soll, schon im Vorfeld besteht. Aus dieser Vorstellung, die als zuhanden bleibende ästhetische Theorie mitläuft, werden Kriterien abgeleitet und dann dem jeweiligen menschlichen Erzeugnis bloß übergestülpt. Das gilt dann nicht nur für den hier vorgestellten Fall, sondern auch für andere ästhetische Kunstbegründungen (z. B. Adorno, Danto etc.). Der ästhetischen Theorien gibt es aber viele und keine steht einer anderen vor. Und in ihrer zeitlichen Abfolge der Entstehung drückt sich auch keine Präferenz aus dergestalt, dass später kommunikativ ersonnenen eine höhere Wertigkeit zukäme. So verlieren sich auch die für eine ästhetische Theorie ausgemachten Kriterien in der Irrelevanz vor der Kunst, die von einer anderen ästhetischen Theorie motiviert ist. Worin drückt sich das »offensichtliche Geschick« in der ReadyMade-Kunst und 451 Ebd., S. 20. 452 Mandelbaum, Maurice: Familienähnlichkeit und allgemeine Aussagen über die Künste. In: Bluhm, Roland/Schmücker, Reinold (Hg.): Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik. Paderborn (mentis) 2005, S. 84.
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dem Aufstellen eines Pissoirs eines Duchamp in Museumsräumen aus, dessen epochale Bedeutung für die Kunst unter Kunstexperten unstrittig ist? Oder man denke an die Performance-Veranstaltungen des Wiener Künstlers Günter Brus in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der während seiner öffentlichen Körperanalyse-Veranstaltungen auch schon mal urinierte und kotete. Was sagt dies über die Form, die innere Komposition aus? Und für die Musik gilt Ähnliches. Man denke über das Paradebeispiel John Cage hinaus an Stockhausen und bspw. sein Stück der Richtigen Dauern, das lediglich ein paar magere schriftliche Anweisungen für die Instrumentalisten bereithält: »Spiele einen Ton/ Spiele ihn solange/ bis du spürst/ dass du aufhören sollst// […] Höre immer den anderen zu/ Spiele am besten/ wenn Menschen zuhören// Probe nicht«. Einer solchen Musik ist eine musikalische Architektur, in der ein Motiv zur Gesamtanlage sich in einem ausgewogenen Verhältnis befindet, nicht gegeben, ein »offensichtliches Geschick« – ein Können im Sinne einer kompetenten Handhabung des musikalischen Materials – nicht erkennbar, wie sich Harmonie und Dissonanz zueinander verhalten ist völlig ausgeschlossen zu prognostizieren, und überdies fällt auch das Kriterium »komplexer formaler Struktur« gänzlich weg. Was überhaupt Kunst ist, ist nicht ansatzweise zu definieren. Insofern laufen auch jegliche Definitionsbemühungen ins Leere oder verheddern sich in ihrer eigenen Argumentationsführung. Es gibt kein Alleinstellungsmerkmal, woraus sich die Kunstwürdigkeit von Etwas ableitete. Ist eine rot grundierte Leinwand, seriell im Ablauf eines industriellen Prozesses hergestellt, z. B. schon Kunst? Und wie ist es mit einer, von einem Künstler genauso rot angemalten Leinwand, der beabsichtigte, auf diesem Untergrund ein neues Werk entstehen zu lassen, und der darüber verstarb? – Die unvollendete Röte!, so mag ein Kunsthistoriker beim Anblick formulieren und ein Werturteil höchster Güte aussprechen. Was, wenn ein Künstler, Malewitsch ähnlich, eine Leinwand monochrom rot ausfüllte und sodann glücklich feststellte: Mein Werk. Ich nenne es ›Die durch den besonderen Saft schreiten‹? Endlich mag es auch den Fall geben, wo ein Eimer Farbe, durch einen Zufall verschüttet, mit einem satten, uns längst bekannten Rot eine Leinwand ausfüllt, die dort – aus welchen Gründen auch immer – herumlag. Der Künstler, der Malermeister, die Reinigungskraft oder sonst wer stellt das rot gewordene Unglück vor die Tür, wo ein Mensch vorüberflaniert, dieses verhunzte Rechteck oder Quadrat sieht und augenblicklich weiß: Nur so darf wahre Kunst aussehen, ästhetisch gelungen, einfach perfekt! Große Kunst bedarf keiner Umwege, sie braucht nur die eine einzige Idee, um ihre Wirkung zu entfalten, und – alles ist gesagt, wie hier. Und es mag den Fall geben, wo der große Künstler des Werkes Die durch den besonderen Saft schreiten eben dieses bereitstellt für den Abtransport für eine Ausstellung, und der dumme Zufall oder eine Schlamperei will es, dass das ohne irgendeine inhaltliche Aussage seriell produzierte rote
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Stück daneben steht und irrtümlicherweise das Letztere den Weg zur Ausstellung findet, wo das Publikum und auch unser Flaneur von eben staunt ob dieses abstraktionsmächtigen Bildes: Ganz große Kunst! Des Meisters eigentliches Werk aber geht den Weg zahlloser anderer intentionsloser serieller Rot-Produktionen und wird verarbeitet in einem Schaufenster zu einem weitgehend großen roten Hintergrund, ohne groß Beachtung zu finden, dem wir uns aber, nur an einen anderen Ort gestellt, wieder andächtig zuwendeten. Und endlich mag es den Fall geben, wo beim Anblick dieses unsere Beispielskultur durchziehende Rot man sich bemüßigt sieht zu sagen: Was für ein Schund!, nur um weniger Jahre später sich zu revidieren und die große Kunst, das geglückte, gar unendlich große, weitsichtige Werk darin zu erkennen. Welches Urteil stimmt in diesem Wechselfall der Urteile, zumal – das sei nicht ausgeschlossen – einige Jahre später die Idee vom Schund sich nachhaltig wieder einschleicht?453 Dass damit dann das Endurteil gesprochen wäre, ist nicht ausgemacht. Es gibt kein einziges belastbares Kriterium, das bestimmen ließe, was Kunst ist und was nicht. Von Niklas Luhmann stammt das Bonmot, dass man manchmal nur dadurch weiß, dass etwas Kunst ist, wenn man den Künstler danebenstellt, John Cage zum Beispiel.454 Darin drückt sich mithin noch die beste Definition zur Ermittlung von Kunstförmigkeit aus. Fragt man demnach, was Kunst denn nun ist, und will man von solch blühendem Unsinn wie beschrieben Abstand nehmen, wenn offenkundig alles Kunst sein kann, so ist die Antwort schnell gefunden: Kunst ist reine Setzung, oftmals nur noch erkennbar durch Signierung durch einen Künstler oder durch Hinzustellung eines Künstlers. Oftmals ist Kunst zudem von Zufällen abhängig oder von persönlichen Geschmacksrichtungen von Mäzenen, die jenes fördern, anderes aber halt nicht. Und auf diese Weise entsteht (auch) Kunst. Duchamp hat das einmal mit fraglos despektierlichen, aber zugleich recht eindringlichen Worten beschrieben: »[E]s gibt kein äußeres Merkmal, das erklärt, warum ein Fra Angelico und ein Leonardo gleichermaßen ›anerkannt‹ sind. Alles geschieht aus reinem Zufall. Künstler, die zu Lebzeiten wussten, wie sie ihrem Schund Wertschätzung verschaffen konnten, waren sicher gute Handlungsreisende, nichts garantiert aber die Unsterblichkeit ihres Werkes. Und selbst die Nachwelt ist eine reine Hure, die sich dem einen entzieht, den anderen wieder zu Ehren kommen lässt (El Greco), und sich die Freiheit nimmt, ihre Meinung alle fünfzig Jahre wieder zu ändern.«455
453 Das vorliegende Beispiel ist entworfen in Anlehnung und Erweiterung zu Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1991, S. 17–20. 454 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1995, S. 478. 455 Duchamp, zit. nach Gamboni, Dario: Zerstörte Kunst, Köln (DuMont) 1998, S. 328.
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Kunst auf der Basis schon solcher Unwägbarkeiten zu qualifizieren, sprengt das schlichte Komplexitätsuniversum, das so gerne bemüht wird, um Kunst zu definieren. Kunst fällt stattdessen aus lichten Höhen in Bodennähe. Das alles ist unangenehm, denn die einst in metaphysischen Höhen sich wohl eingerichtete Welt der Kunst wird weltlich, profan. Natürlich nimmt das auch den Verkündern der reinen Lehre – so auf den Boden der Tatsachen gebracht – ein wenig ihrer Bedeutsamkeit, denn eine paradoxe Formel steht dem entgegen: Kunst in der Vielfalt ihrer Erscheinungen ist viel zu komplex, als dass die These von der generellen Komplexität von Kunst auch nur einen Ansatzpunkt zu greifen fände. Und es finden sich in einer auf Wissen aufbauenden Gesellschaft auch dankenswerterweise immer weniger Leute, die zur vom Unbegreiflichen fabulierenden Kunstreligion konvertieren und sich – wie früher – ein X für ein U vormachen lassen. Es geht ein Ungeist um in der Kunst, der die Kunst maßregeln und ihrer schöpferischen Kraft berauben will, wo man Komplexität zum Kriterium für hochwertige Musik erhebt. Wer das Hohelied der Komplexität singt, dem ist allerdings mit Josefs K.’s Aussage zu begegnen: »Trübselige Meinung. Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht«. Die Komplexitätslüge ist ein Teil von dieser Weltordnung. Eine Unterstellung wird zum Kriterium für Qualität erhoben und die Unterstellung als Unterstellung ausgeblendet. Dieser Ungeist, der als Wiedergänger auftritt, findet bei denen eine wohlgefällige Resonanz, die verblassenden Entwicklungslinien mit Misstrauen begegnen, bei denen, die – wo kein Weg mehr der Weg ist – verlässlichen Halt suchen und doch keinen mehr finden. So ebnet man lieber die Vielfalt ein, (er)findet einfach gestrickte Regeln und richtet sich ein in einen wohlgefälligen Formelpark und unterläuft dabei beständig, ohne es zu merken, das Niveau aller Kunst, für das man keine Worte findet. Es ist dies ein Unterfangen, das Niveau von Kunst herabzuzwingen auf das lineare Nebeneinander formelhafter Worte. Die Zeit der in Kästchen sortierten Kunst-Welten ist lange vorbei, falls es eine solche überhaupt je gegeben haben sollte. Die Gedanken von Kunst als komplexer Kunst entstammen wohl noch einem Jahrhundert, als Genies und Titanen die europäische Welt noch bevölkerten, das sich entfaltende 20. Jahrhundert räumt mit dieser so einfach modellierten Welt von Kunst auf. Es artikuliert sich in dem Komplexitätsargument ein Denken der Vergangenheit, das der Gegenwart sich nicht gewachsen, nicht hinreichend komplex zeigt. Auch die Vorstellungen vom Unbegreiflichen, was einer Komposition innewohnen sollen, sind traumbestellt aus vergangenen Tagen. Und abermals: Natürlich kann jeder beim Hören der Jupitersinfonie empfindend hineinlegen, was man als Rezipient gerade so will: das Unbegreifliche, Kommunikation mit Gott und was einem sonst noch grad so alles einfällt oder was man zu fühlen meint. Es sind aber, muss man das wirklich noch einmal beto-
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nen?, Anmutungen des Rezipierenden. Es ist – solange das Gegenteil nicht bewiesen ist (und ein Beweis erscheint ausgeschlossen) – nicht der Sache innewohnend, kein ontologisches oder metaphysisches Wesen, das der Sache MusikKunst gegeben wäre oder das sich durch die Musik Ausdruck verleiht. Ein solches Denken lässt sich umgangssprachlich als altbacken, systemtheoretisch mit Luhmann als alteuropäisch bezeichnen. Es wird der Komplexität von Gesellschaft nicht ansatzweise gerecht. Die Turinggalaxis ist es, die manchen Kunstgläubigen verzweifeln lässt angesichts der Möglichkeiten von Kunst und ihn sich fundamentalistisch einrichten lässt in den überholten Kunstvorstellungen von ehedem. Die Turinggalaxis ist es, die dem Ziel von Kunst eine Absage erteilt und ohne Arg eine prinzipielle Kunstförmigkeit herausstellt. Die Turingmaschine nebst ihrer umfänglichen Begleiterscheinungen bürgt für das evolutive Entfalten einer Kunst, für das die rechten Worte zu finden kaum mehr möglich ist, für das man in seiner Mannigfaltigkeit aber empfänglich sein kann, wenn man sich nur dem, was da ist, ohne Restriktionen einfach öffnet. Hierzu gilt es allerdings, eine gewisse »Offenohrigkeit« sich zu erhalten oder zu entfalten. An der aber mangelt es bei manchen Zeitgenossen mit ihren überholten Vorstellungen von Kunst. Die Einheit der Differenz von komplex/einfach ist nur dann als Unterscheidung, als Gradmesser für Kunst, zulässig, wenn das Maß nicht auf einer privilegierten Seite, sondern in ihrer Mitte, dem beide Seiten zusammenhaltenden Schrägstrich, gesucht wird. Das ist der immer wieder neu zu suchende Mittelpunkt und Nicht-Ort, die Erfüllung der Utopie, die antreibt. So drückt sich Kunst in der Ausgewogenheit von Einfachheit und Komplexität – im wie auch immer schwerpunktverlagerten Mittelmaß – aus. Als positiver Nebeneffekt verlieren sich metaphysische Anklänge wie fast von selbst, Musik und Kunst bleiben der Erde und dem Menschen fest verbunden, denn wer will diese schon im Mittelmaß suchen. Das Hohelied von komplexer Kunst ist nach zu einfachem Muster gestrickt, da es nur die eindimensionale Linie und – auf die Fläche gebannt – nur eine Richtung – die von unten nach oben – kennt, während die Kunst auf allen Ebenen von allen Richtungen auf kein Zentrum strebt und in alle Richtungen zugleich weist. Wahrlich kein einfaches Unterfangen, im Schlichten wie Komplexen die Kunst zu leben und dabei im Zuge eintretender Zufriedenheit doch »offenohrig« zu bleiben und nicht am Wegesrand sich einzurichten. Weltenbummler in Sachen Kunst zu sein heißt, die schlichten wie komplexen Räume ohne Vorurteil zu durchschreiten und zu erkunden sowie sich von dem blühenden Unsinn zu verabschieden, dass Kunst kompliziert bzw. komplex sein muss – Aischylos & Co zum Trotz. Am Rande sei noch erwähnt, dass die mit Sternchen versehenen, kursiv gesetzten Worte in diesem Kapitel einem Trauerspiel von Aischylos entnommen sind. Jedweder Fundamentalismus mit Formelkanon hindert da nur, grenzt die
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»Offenohrigkeit« nur unschön ein. Öffnet man aber sich dem, was da ist, beweist unvoreingenommen »Offenohrigkeit«, ist die Welt des Klanges reich, weil sie so wunderbar vielfältig ist und sich Regeln versagt. Dem Zuhörenden und der Kunst kann dies nur recht sein.
Vom Wortlaut der Schrift … und von zu einfachen Beschreibungen »Der Triumph der Analyse [!] besteht in dem Nachweis, daß ein Werk, mindestens ein geglücktes, nicht anders sein kann, als es ist.«456 »Je resoluter verschiedene Urteile und je ›eindeutiger‹ die Auslegung rationalistisch sich stilisierender Analytiker sind, um so mehr zeugen sie von Einbildung, von engstirniger Eingenommenheit«.457
Der blühende Unsinn im Raum der Fachdisiplin Musik setzt sich auch auf anderen Ebenen fort. Nicht nur ist die Vorstellung, dass Musik eine allgemeinverständliche Sprache sei, blühender Unsinn, wie der Musiktheoretiker Hartmut Fladt konstatiert, oder irgendwie auf geheimnisvolle Weise die Kommunikation mit einer göttlichen Erscheinung erlaubte, blühender Unsinn. Auch die Vorstellung, dass Kunst komplex sein muss, ist – wie gezeigt – ein ebensolcher Unsinn. Damit nimmt der Unsinn aber kein Ende. Vom Bodensatz des Unsinns aus ist auch die Vorstellung aufgebaut, dass der Kunst quasi ontologisch eingehaucht wäre, sie würde zur Charakterveredelung beitragen, sozusagen einen ethischen Mehrwert in sich tragen. Das wiederum verführte (was noch zu zeigen sein wird) zu der von Unsinn getragenen Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein »E«, das sich vom »U« abhebt, denn Kommunikation mit göttlichen Sphären kann nur in ernsten Gefilden sich begeben. Nicht genug damit ergibt sich daraus der Unsinn, Werke der ernsten Kultur bedürften der spezifischen Baukultur, sodass sie nach »richtig« und »falsch« zu beurteilen wären, denn nur das »Richtige« würde ethisch wirken, die privilegierte Kommunikation erlauben u. a.m. So ist auch die Vorstellung, dass ein Werk nicht anders komponiert sein kann, als es ist, eine vom bloßen Unsinn getragene. Und die Vorstellungen vom Triumpf der Analyse, denen der exemplarisch angeführte Carl Dahlhaus nachhängt, betten sich in diese umfängliche Unsinnskultur nahtlos ein.
456 Dahlhaus, Carl: Plädoyer für eine romantische Kategorie. Der Begriff des Kunstwerks in der neuesten Musik. In: ders.: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik. Mainz (Schott) 1978, S. 277. 457 Karbusicky, Vladimir : Systematische Musikwissenschaft. München (Fink) 1979, S. 199.
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Vom Ort der Musik und von der »musikalischen Logik«/. Möchte man Musik möglichst exakt erschließen, erfolgt die Hinwendung zum Notentext – es ließe sich auch sagen: zum Wortlaut der Schrift – beinahe wie von selbst, denn nur die Schrift erscheint unveränderlich sowie verlässlich, der Klang als flüchtiger Geselle dagegen ist Anlass, der Meinung ihren freien Lauf zu lassen. »[D]er eindeutig bestimmbare ›Ort‹ des musikalischen Kunstwerks [wäre] die vom Komponisten verfertigte Partitur«458, benennt Albrecht Wellmer die Position Schriftkundiger. Schriftkundige erheben den Anspruch, aus dem Wortlaut der Schrift das der Schrift Wesentliche zu erschließen, da doch nur dort, ohne dem Meer der widersprüchlichen Meinungen sich hinzugeben, nachzulesen sei, was wie zu bedeuten hat. Und so werden die Zeichenwelten beinahe – einem mathematischen Text vergleichbar – auf ihre ihnen innewohnende Evidenz hin gelesen. Der mathematischen Logik ähnlich ist von einer »musikalischen Logik« die Rede. Nur das Vokabular lautet – der Mathematik nunmehr unvergleichlich – anders, wo vom Trugschluss, dem Neapolitaner, Doppeldominanten, Zwischendominanten, Modulationen und so vielem anderen mehr die Rede ist. Das Versenken in den Text und dessen Mikroanalyse mitsamt seiner Erklärungen verführen die Erklärer zum Glauben an die Schrift selbst und an die Möglichkeit des Triumpfes der Analyse. Wie zu zeigen sein wird, sind sie der Magie von Texten und ihrer Botschaften erlegen. Heißt es nicht schon bei Kafka: »Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus«?459 Und so ist es auch beim Wortlaut der Schrift in der Musik. »Die Schrift ist unveränderlich«460, doch die Meinungen über sie gehen ganz schnell auseinander, so steht es bei Kafka, als der Geistliche die Türhüterlegende im Roman Der Prozess opulent exegetisch ausleuchtet und keine Meinung sich als widerspruchsfrei darstellt. Nach Herleitung der Vielfalt der Meinungen sagt schließlich K., dem das Unterbreiten der Meinungen gegolten hat: »Trübselige Meinung, […], [d]ie Lüge wird zur Weltordnung gemacht.«461 Und nicht viel anders und eher noch viel mehr erscheint es bei der Musik als Schrift. Denn was schon die Schrift sei, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Findet man die Musik allein im Notentext?, wie manche Schriftgelehrte meinen. »Man muß diesen Gedanken nur einmal aussprechen, um zu sehen, wie absurd er ist.«462 Wer dieser Absur458 Wellmer, Albrecht: Das musikalische Kunstwerk. In: Kern, Andrea/Sonderegger, Ruth (Hg.): Falsche Gegensätze. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2002, S. 138. 459 Kafka, Franz: Der Prozess. Erarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Norbert Schläbitz. Paderborn (Schöningh) 2001, S. 212. 460 Ebd., S. 213. 461 Ebd., S. 216. 462 Wellmer, Albrecht: Das musikalische Kunstwerk, a. a. O., S. 138.
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dität oder diesem Unsinn nachhängt, der »ignoriert nicht nur die Bedeutung des Nicht-Notierten, aber gleichwohl durch Aufführungstraditionen Bestimmten in Partituren der Vergangenheit, er ignoriert vielmehr ineins damit auch das konstitutive Moment der Interpretation in der klanglichen Realisierung von Notentexten.«463 So ist die Musik nicht vielmehr doch am anderen Orte im Klang selbst, den exakt zu lesen bislang noch niemand vermochte, zu finden?, wie wieder andere meinen. Und doch, seit der Möglichkeit der Aufschreibung des Realen seit weit über hundert Jahren, ist es denkbar, diese neue Form der Schriftmusik durch wiederholte Lektüre lesen zu lernen. Aber wie sie dann zu deuten ist, darüber wiederum ist kein Einvernehmen mehr zu finden. So ist eine Analyse nach Wortlaut der Schrift dem einen Möglichkeit zu zeigen, dass etwas nicht anders sein kann, als es ist, und dem anderen Zeichen engstirniger Eingenommenheit, was die Deutbarkeit der Musik doch stark in Zweifel stellt. Jene, die den Wortlaut der Schrift im Notentext zu finden meinen, haben Instrumente zu ihrer Analyse entwickelt, die die Schrift zerlegen lassen, um daraus wieder eine Gesamtschau zu generieren. Das Analyseinstrument, um die formale Struktur eines Musikstückes zu ergründen, liefert ein Teilgebiet der Fachdisziplin Musik, genannt die Musiktheorie. Die Musiktheorie bezieht sich auf das, worauf sie sich verlassen kann, und das ist in der Regel eben der Notentext unter Ausklammerung weiterer Aspekte. Denn der Musikklang ist ein viel zu unsicherer Geselle, als dass er die eigentliche Zuwendung verdiente. Im Notentext aber meint man ausschließlich den Wortlaut der Schrift zu vernehmen. Sie bewegt sich im Bereich von Harmonie-, Formenlehre oder Kontrapunkt und sucht allgemeine Prinzipien und musikalische Gesetze zu erschließen. Diese wiederum bilden die Grundlage, um die Zusammenhänge anderer symbolisch codierter Musik herauszuarbeiten und zu bewerten. Zur Beschreibung solcher Notentexte ist im Zuge der Zeit so ein diffiziles wirkmächtiges wie hochintellektuelles Theoriegebäude gebaut worden, das immer differenziertere Optionen zur Beschreibung bietet. Auf die Verlässlichkeit des eigenen Analyseinstruments bauend und dem Glauben anhängend, mit diesem so gut wie jede Musik einordnen zu können, entspringt die Vorstellung, dass eine komplexe formale Struktur symbolisch codierter Musik die Qualität derselben mehr als nahelegt. »Wer die ästhetische Überlegenheit des Streichquartetts oder der Symphonie über die Popmusik behauptet – und es ist unmöglich, sie nicht zu behaupten, ohne die gesamte bisherige Ästhetik preiszugeben –, demonstriert zugleich, ob er will oder nicht, ein
463 Ebd.
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durch musikalische Symbole ausgedrücktes Sozialprestige, das er für sich selbst in Anspruch nimmt und anderen verweigert.«464
Diesem analytischen Verallgemeinerungsgestus erlegen fällt das Urteil zur Musik der Gegenwart vernichtend aus, obwohl die Musik der Gegenwart – gleich welcher Provenienz auch immer – oft nach ganz anderen, mitunter ganz unvergleichlichen Prinzipien gewebt ist, die jenes hoch spezialisierte Analyseinstrument gar nicht erfassen kann. Diesen Umstand im Vorübergehen leichtfertig ignorierend, kann das Streichquartett, ob gut oder schlecht gebaut, jedweder Populären Musik danach als überlegen gelten. Die Problematik einer solchen Einstellung wurde im letzten Kapitel ausgiebig erörtert, da dieser Logik innewohnend ist, dass das weniger Komplexe bis hin zum Einfachen, Schlichten auch von minderer Qualität zwangsläufig sein muss, denn die eine Seite ist ohne die andere nicht zu haben. In der Aussage von Carl Dahlhaus zu Beginn des Kapitels ist dies anschaulich vorgeführt. Nur zur Erinnerung: Wer Komplexität oder auch eine zum Vorbild erhobene Regel zum Maßstab für die Qualität von Musik erhebt, sieht sich vor das unlösbare Problem gestellt, zu erklären, wieso wachsende Komplexität nicht mit wachsender Qualität einhergehen muss und wieso manche klug durchkalkulierte hochkomplexe serielle Musik doch nicht so geglückt scheint wie manche Musik der Vergangenheit oder manche Musik der Gegenwart, die durch frappante Einfachheit ausgezeichnet ist. Das Argument von der Komplexität, aus der sich Qualität ableiten ließe, hat so sein Tücken und es einmal durchdeklinierend verstrickt es sich in Widersprüche. Diesen Glauben an die Möglichkeiten des verwendeten Theoriegebäudes mit seinen Prinzipien und Gesetzen trägt gleichwohl die eingangs zitierte Sentenz von Carl Dahlhaus vom geglückten Werke. Die Auseinandersetzung mit dieser Haltung von Dahlhaus zur Analyse von Musik lohnt noch heute, weil Dahlhaus jene Zeilen schrieb zu einer Zeit, als hierüber noch großes Einvernehmen bestand, wie umgekehrt er als herausragende Persönlichkeit seines Faches großen Einfluss genommen hat auf die Einstellung und Ausprägung der Fachdisziplin. »Er saß eigentlich immer nur zu Hause, studierte Partituren und schrieb kluge, hochabstrakte Bücher.«465 Grundlage für die Analyse eines Werkes ist für viele Schriftgelehrte oder Schriftgläubige somit das seit Popper im Grunde aus dem Blick geratene Prinzip einer Verifizierung, denn nur aus dieser Haltung heraus kann der Anspruch nach Ermittlung eines So-und-nicht-anders formuliert werden. Es steht im Kontext einer kommunikativen Gemeinschaft, die diesem seinerseits seine Referenz erweist. »Jede Kommunikation setzt andere Kommunikationen gleichen Typs voraus, auf die sie reagieren und die sie stimulieren 464 Dahlhaus, Carl: Ist die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik eine Fiktion? In: Jost, Ekkehard (Hg.): Musik zwischen E und U. Mainz/London/N.Y./Tokio (Schott) 1984, S. 16. 465 Kaiser, Henriette/Kaiser, Joachim: »Ich bin der letzte Mohikaner«, a. a. O., S. 27.
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kann.«466 Und Dahlhaus konnte sich seiner Resonanz gewiss sein. Ohne kommunikativen Anschluss und Widerspiegelung eigener Rede am anderen Ort sind Worte worüber auch immer reines Rauschen und vor allen Dingen eines nicht: Kommunikation. Es gilt so, einen Anschluss zu erzielen. Und dieser Anschluss, auf den Dahlhaus setzt, konnte auf eine Tradition zurücksehen: Hugo Riemann sprach so einst nicht von ungefähr von »allgemein gültige[n] Gesetze[n]«, und andere fanden dies ganz plausibel und spannen ein kommunikatives Netzwerk, das über Gesetze des Allgemeinen sich definierte und sie durchdeklinierte. Clemens Kühn kommentiert diese Vorstellung mit den Worten: »Das ›Allgemeine‹ und ›Reine‹ zielt auf ›allgemein gültige Gesetze‹ (Riemann) und ein überzeitliches ›Wesen der Kunst‹ (Marx)«, wovon die beiden Theoretiker dann die konkrete Musik scheiden. Die Rede ist hier von Adolph Bernhard Marx (1795–1866), der ein Kind des 19. Jahrhunderts ist, und von Hugo Riemann (1849–1919), der zum großen Teil noch in dem Jahrhundert wirkt, in dem dieser Traum sich wirkmächtig in Ideenlehren entwickelte und seinen Niederschlag im Geiste findet. Aber auch das 20. Jahrhundert trägt die Sehnsucht nach der idealisierten Norm, die im Kontext der Musiktheorie sodann auch nach »richtig/ wahr« und »falsch« zu klassifizieren versteht, noch ganz unverändert zur Schau. »Erwin Ratz geht in seiner Einführung in die musikalische Formenlehre (1951) von der Vorstellung einer ›Urform‹ aus, die analog ›der Urpflanze in der Metamorphosenlehre Goethes‹ allen musikalischen Formen zugrunde liege.«467 Hier meint man die Rede zu vernehmen, dass die Schrift unveränderlich und nur korrekt zu lesen sei, um als Essenz das Wahre zu filtrieren. Zur weiteren Voraussetzung hat die Geschichte von wahr und falsch sowie von Urformen die Idee vom fortschrittlichen Gang von Kunst, die sich in der Zeit und eines fernen Tages im Absoluten erfüllt. Vertreter dieser Fortschrittslehre stehen dabei noch durchaus in einer Linie mit Hugo Riemann, dem es noch möglich ist,… »seine Geschichte der Musiktheorie (1898) in ein System münden zu lassen. Er mußte dazu eine Auswahl und eine Akzentuierung der älteren Lehren vornehmen. […] Um eine solche Auswahl und Akzentuierung vornehmen zu können, bedurfte es der impliziten Annahme eines fortschreitend sich auf ein Ziel hin entfaltenden historischen Prozesses«.468
Voraussetzung für diese Einstellung ist die »Entwicklung der Musik als Ursprungsgeschichte des autonomen, individuellen, unwiederholbaren, in sich selbst begründeten und um seiner selbst willen existierenden Kunstwerks« zu 466 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1997, S. 190. 467 http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/528.aspx, gesehen März 2013. 468 de la Motte-Haber, Helga (Hg.): Handbuch der systematischen Musikwissenschaft, Bd. 2. Musiktheorie. Laaber (Laaber) 2005, S. 13.
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sehen.469 Eine Fortschrittsgeschichte wird hier entworfen, die im autonomen Werk sich erfüllt. Und weil dieses allein um sich selbst kreist, lässt sich dieses auch aus sich selbst heraus allein mithilfe des Notenextraktes erschließen. Die Geschichte vom musikalischen Kunstwerk ist über die Zeit von mancher Seite der Kritik überstellt gewesen, ist zur Seite gestellt worden und hat der Vielfalt von Geschichten längst weichen müssen, aber noch heute wirkt die Geschichte vom autonomen oder auch absoluten Werk, was nicht ganz dasselbe ist, aber hier zu diskutieren nicht der Ort, untergründig fort und das trotz aller Weiter- oder Parallelentwicklungen. Die Fortschrittsgeschichte, die sich im autonomen Werk erfüllt, ist nicht nur in Feuilletonkreisen selbst heute noch gern erzählt. Da, wo das »Zeitlose«, die »Universalität« oder auch eine Losgelöstheit von funktionalen Gründen hervorgehoben wird, findet das um sich selbst kreisende Werk seine Erhaltung oder Wiedergeburt, dessen »Einzigartigkeit« in seiner »musikalischen Logik«470 begründet liegt. Von Riemann stammt die Begrifflichkeit der musikalischen Logik, die er in seiner Dissertation und später in seiner Geschichte der Musiktheorie entfaltet.471 Die Musik wird aus dem zeitlichen Kontext gehoben und schließlich zum a-historischen Phänomen hochstilisiert. Und die in Noten gestanzte Logik der Musik des so einzigartig vermuteten Werks lässt sich vernünftig analytisch mit dem erlernten Werkzeug erschließen. Die musikalische Logik scheint unerschütterlich, das Werk autonom und in sich ruhend, vom Selbstzweck erfüllt, und das Werkzeug der Erschließung selbst allen Zeiten enthoben und für alle Musiken gleichgültig. So der Glaube, der dahintersteht. Was gilt, ist allein der Wortlaut der Schrift und die Möglichkeit zur Exegese. So weit das Missverständnis, denn von jeglichem Wesen bleibt man generell geschieden und auch die Ur-Form bewegt allein das glaubensträchtige Nachdenken über sie. Der Glaube aber ist eigentlich das Thema der Religion: Man setzt dort das unzugänglich Absolute (Göttliche) in die Welt, das ob seiner Existenz und Grundes nicht hinterfragt werden kann und darf, denn meinungsfreudige Diskussionen hätten ein hohes Zersetzungspotential. Ergo: Als nicht befragbares Glaubenspostulat wähnt sich der Glaube sicher wissend und nicht hypothesengeleitet, der im Zuge neuer Hypothesenbildung hätte auch verworfen werden können.472 Aber Gott ist für Gläubige nicht infrage zu stellen und als bloße Hypothese nicht erlaubt. Jeglicher Glaube minimiert Komplexität zu einem überschaubaren Phänomen. Weil man der Komplexität nicht Herr 469 Dahlhaus, Carl: Grundlagen der Musikgeschichte. Köln (Hans Gerig) 1977, S. 23f. 470 Ebd., S. 25. 471 Vgl. Riemann, Hugo: Über das musikalische Hören, Dissertation (1874); Geschichte der Musiktheorie (1898). 472 Vgl. Schmidt-Salomon, Michael: Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. Aschaffenburg (Alibri) 2006.
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wird, erschafft man einen für alles Unverstandene verantwortlichen Herrgott. So lässt sich Komplexität mit einfachen Mitteln natürlich auch reduzieren. Schon die Religion gibt zu einfache Antworten und Gebote, nach denen sich leben lässt. Sie ersetzt die kritische Reflexion durch den Glauben. Und dieses Vorbild funktionierte im Raum der Religion schon nur über Exkommunikation und Denkverbote. Der Gott der Fachvertreter Musik nennt sich »musikalische Logik« Der Glauben, hier (Religion) wie dort (musikimmanente Analyse), operiert mit dem Primat der Ignoranz und Intoleranz. Nur auf der Basis solcher Grundannahmen bzw. ontologischer Verfestigungen und Transzendenzunterstellungen kann dann ein So-und-nicht-anders, das Geglücktsein einer Kunst und hier der Musik verfochten werden. Mit dem Bemühen um den Ur-Grund, um das Wesen einer Kunst, oder um eine inhärente innermusikalische Logik machen Vertreter dieser Lehre es sich – ganz ähnlich wie in der Religion – recht und zu einfach, denn vertrauensvoll wird dem Glauben an den Wortlaut der Schrift sich vorbehaltlos hingegeben. Ein Hinterfragen steht nicht an.
Betriebsblindheit und Fehlschlüsse/. Diese glaubensträchtige Haltung aber trübt im Zuge ihrer Simplifizierungen den Blick für jeglichen Zusammenhang, dem die symbolisch codierte Schrift sich verweigert. Vom blinden Fleck des Beobachters erster Ordnung kann hier gleich mehrfach die Rede sein. Exakte objektivierte Herleitungen, gar Beweise in der Musik lassen sich nur führen, wenn die Musik und ihre weitreichenden Existenzbedingungen ausgeklammert sind, das musiktheoretische Design die allesentscheidende Rolle spielt sowie eine innewohnende musikalische Logik axiomatisch angenommen wird. Auf diese Weise kann in der europäischen Tradition ein »tief angelegtes objektivistisches Phantasma« entstehen.473 Die Vorstellung, Musik wäre immanent nach einer sie auszeichnenden Logik allein zu betrachten, und so der vielfach zitierte Satz von Carl Dahlhaus vom Triumpf der Analyse verfahren demnach naiv und hoffnungslos unterkomplex. Mit Blick auf jene zitierte Sentenz von Dahlhaus schreibt bspw. Martin Geck, ein Fachkollege von Dahlhaus, unmissverständlich: »Die Betriebsblindheit, mit der dieser kluge, vielseitige und hochgebildete Gelehrte hier argumentiert, ist mit Händen zu greifen.«474 So wie Martin Geck Abstand nimmt vom oder von Betriebsblinden, zeigen sich auch andere von der musikalischen Logik, von der ein Riemann, Dahlhaus o. a. träumten, nicht mehr sehr angetan. Reinhold Brink473 Wellmer, Albrecht: Das musikalische Kunstwerk, a. a. O., S. 138. 474 Geck, Martin: Wenn der Buckelwal in die Oper geht, a. a. O., S. 43.
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mann schreibt dazu: »Der Glaube, irgendetwas in Musik folge einer Form unabdingbarer Logik, ist falsch. Es ist eine reine Fiktion, dieser Glaube, dass ein musikalisches Geschehen mit strikter Logik vor sich gehe.«475 Sicher : Die Blindheit, von der Martin Geck spricht, ist konstitutiv für jegliches wissenschaftliches Denken. »[E]in Beobachter kann nicht sehen, was er nicht sehen kann. Er läßt sich durch die Offensichtlichkeit der ihn überzeugenden Form blenden.«476 An anderer Stelle formuliert Niklas Luhmann nicht weniger klar : »Ein System kann nur sehen, was es sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann.«477 Metaphorisch gesprochen: Die aufgesetzte Brille erlaubt es zwar, klar zu sehen und zu beschreiben die Phänomene aus bestimmtem Winkel, aber – sofern die Brille nur ihren guten Dienst tut – gerät sie selbst nicht in den Blick, und das verführt zu dem Missverständnis, der klare Blick, die urteilende Beschreibung, eine »zutreffende« Analyse wären ohne sie getroffen und demnach objektiv. Das ist die »Betriebsblindheit«, von der Martin Geck spricht. Eine jede Brille hat ihre Möglichkeiten, aber auch Grenzen. Dass mit dem Wechsel der Brille mit verändertem Schärfeprofil und einem anderen Beobachtungsstandpunkt obendrein zum anderen Urteile gelangt wird, ist dem Betriebsblinden nicht einsehbar, der mit seinem Ansatz des Normativen fürderhin das »Richtige« vom »Falschen« scheiden zu können glaubt. Unter Außerachtlassen der Komplexität der Beschreibung und damit veränderter Beobachtungsstandpunkte nebst diverser Brillenwerkzeuge, wie sie dem Phänomen zugutekämen, und dem Allein- und Stillstellen der eigenen Brillensicht, können Dahlhaus u.a eine Analyse tätigen und zum wahrsprechenden Urteil kommen über ein Werk, das nicht anders sein kann, als es ist. So wird der Botschaft der Schrift als Notenelaborat genüge getan. Zum Problem gerät der zum getrübten Urteil kommende glasklare Brillenblick – wie hier vorgeführt –, wenn von der Ebene 2. Ordnung nicht befragt wird bzw. wenn unhinterfragt bleiben das eigene Analyse- oder Messinstrument und die Fragen »Wie beobachte ich?« bzw. »Warum beobachte/analysiere ich auf diese Weise?«, »Auf welche andere Art und Weise ließe sich noch beobachten und urteilen?« »Welche Urteile legt die eingenommene Perspektive nahe, welche schließt sie aus?« Ein anderes Mess- und Analyseinstrument evoziert ein anderes Urteil – ein anderes So-und-nicht-anders. Damit ist aber jedwedes So-und-nicht475 Brinkmann, Reinhold/Rihm, Wolfgang: Musik nachdenken im Gespräch. Regensburg (ConBrio) 2001, S. 112. 476 Luhmann, Niklas: Ich sehe was, was du nicht siehst. In: ders.: Soziologische Aufklärung 5. Opladen (Westdeutscher Verlag) 21993, S. 69. 477 Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Opladen (Westdeutscher Verlag) 31990, S. 52.
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anders aufgehoben und auf alle Zeiten erledigt. Jene von Geck diagnostizierte Betriebsblindheit erstreckt sich so auch auf das Analyseinstrumentarium, das stattdessen als praktikables Werkzeug für beinahe jede Musik vorgestellt wird und doch nur ganz bescheiden für eine bestimmte Idee von Musik und einen ganz begrenzten Zeitabschnitt tauglich ist. »Musiktheoretischen Systemen scheint Konservatismus innezuwohnen, der vielleicht zu ihrem Überleben in sich wandelnden Zeiten beiträgt. Theorien haben eine Tendenz, sich selbst zu erhalten, auch wenn sie Phänomene nicht oder nicht mehr angemessen beschreiben. Sie können jedoch an Gültigkeit gewinnen, wenn sie sich als Theorien mit begrenzter Reichweite verstünden und sowohl ihre Axiome als auch die Anwendungsfelder klar umrissen. […] Es scheint, daß viele Musiktheoretiker den Wert ihrer Theorie an deren Generalisierbarkeit bemessen. Der Umfang einer Theorie kann jedoch grundsätzlich kleiner oder größer sein. Es ist notwendig, daß die Gegenstände, auf die sie sich bezieht, klar definiert sind.«478
Erst auf der Ebene der Beobachtung 2. Ordnung kann eine partielle Blindheit überwunden und auch das eigene Mess- und Analyseinstrument als relativ und standortgebunden betrachtet werden. Das hieße, »[n]icht was an einer Komposition ›richtig‹ oder ›falsch‹ ist [ist das Thema], sondern warum etwas als ›richtig‹ oder ›falsch‹ gegolten hat, ist eine der Fragestellungen in der Musikwissenschaft.«479 Das kann man dann auch Kontingenzschulung nennen. An dieser Fragestellung scheitern der von Martin Geck noch maßvoll Gescholtene als auch seine Befürworter. Die Beobachtung 2. Ordnung würde das gefällte Verifizierungsprinzip ausschließen und das Prinzip der Falsifizierung bzw. von stets nur vorläufig getroffenen Hypothesen nimmt Gestalt an. Man weiß dann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann: Dem Charme der zu offensichtlichen Form bleibt man zwar erlegen, aber man weiß um deren Charme, der einen trügt. Und abermals wird das Spiel offenkundig, das man spielt, weil mit wachsendem Spielraum vermeintliche Verbindlichkeiten zum »Schauen wir doch mal so« vom anderen Standorte aus diese auflösen. Der große Rezensent Joachim Kaiser hat dies einmal beispielhaft ausformuliert. Die Kultur »hat immer weniger klare Regeln und wird immer unübersichtlicher. Ende der sechziger Jahre, Anfang der siebziger Jahre veränderte sich unsere Beziehung zur Kunst und zur Moderne grundsätzlich. Immanente Werktreue, auch die Avantgarde der Künste, wurden von der Postmoderne oder von der Postpostmoderne abgelöst. Im Augenblick kann man verbindliche Maßstäbe kaum mehr definieren. Man kann nicht mehr fordern, ein Stück muss dramaturgisch zwingend gearbeitet sein, ein Film muss 478 de la Motte-Haber, Helga (Hg.): Handbuch der systematischen Musikwissenschaft. Bd. 2, a. a. O., S. 14. 479 Rösing, Helmut/Petersen, Peter : Orientierung Musikwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 2000, S. 97.
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eine überschaubare Handlung haben, ein Bild muss einen definierbaren Gegenstand oder zumindest einen klaren Rhythmus erkennen lassen. Alles das klingt altmodisch. So wird die begründete Beurteilung eines Werkes oder einer Interpretation ungemein schwierig. Der angegriffene Regisseur kennt den fraglichen Text ja auch. Er sagt, es ist meine freie künstlerische Meinung zu finden, dass Mozarts Don Giovanni ein alter Schwuler war und kein junger potenter Edelmann. Also zeige ich ihn so. Da kommt man sich als Kritiker schon albern vor, pedantisch zu beweisen, dass Don Giovanni kein schwuler Greis gewesen ist.«480
Eigene Wertmaßstäbe werden nicht mehr absolut gesetzt, sondern relativ. Das Spiel gewinnt dabei ungemein an Fahrt, die Spielmöglichkeiten explodieren für Gestaltende als auch für im Stillen Rezipierende. Die Wertmaßstäbe des Beobachters und das eigene Mess- und Analyseinstrumentarium bei jeder musiktheoretischen Betrachtung offenzulegen sind unverzichtbar, ändert sich doch mit jedem Wechsel der Perspektive der Maßstab, mit dem gemessen wird, und so auch das Urteil über Musik. Plakativ formuliert: Mit der Wertschätzung von Sinfonien bei Vertreten eines entsprechenden Maßstabes fällt das Urteil über Minimal Music oder auch über Populäre Musik entsprechend düster aus. Mit der Wertschätzung rhythmischer Gestalt oder einer Musik, die den Prozess boniert, fällt umgekehrt das Urteil über die abendländische Kunstmusik nicht gerade freundlich aus, denn der klangliche Reichtum in der Vertikalen ist erkauft mit der rhythmischen Schlichtheit in der Horizontalen usw. Die Idee des analytischen Zugangs, die Dahlhaus verficht, ist so eine mit begrenzter Reichweite: und zwar sowohl lokal als auch temporal. Vorstellungen vom So-und-nicht-anders beziehen sich nicht von ungefähr auf die Musik der Vergangenheit und scheitern grandios an der Gegenwartsmusik in ihrer Diversifizierung. Die gedanklich implementierte Ignoranz lässt das Scheitern nicht oder wenn dann am anderen Orte nur registrieren. So beredt zum Vergangenen sich verhalten wird, so schweigsam wird es, wenn die Geburt von Musik jüngeren Datums ist.
Der Etikettenschwindel »musik«-immanente Analyse/. Trotz aller hochabstrakter Theorien und Modelle nötigt der dabei begleitende blinde Fleck der Beobachtung zum Urteil des zu einfachen Zugangs und dies aus einem weiteren Grunde: Da man das erklingende Phänomen nicht zuletzt aufgrund seiner Flüchtigkeit und seiner vielfältigen Entstehungsumstände nur schwer und ungenau beschreiben kann, lässt man alles weg, was man nicht beschreiben kann (und damit auch die erklingende Gestalt), und beschränkt 480 Kaiser, Henriette/Kaiser, Joachim: »Ich bin der letzte Mohikaner«, a. a. O., S. 190.
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sich nur auf das, was man festgefügt zu haben glaubt und dessen man sich sicher zu sein scheint. Mit Blick auf Strawinskys Musikalische Poetik, in der er bekennt, dass der Komponist sich nicht aller Einflüsse, die bei der Entstehung eines Werkes eine Rolle spielten, bewusst ist, schreibt Karbusicky : »Das Wesen des Musikwerkes kann folglich auf das Notenbild nicht reduziert werden«481 An anderer Stelle schreibt er : »Das Musikwerk ist vielfach ein Ergebnis unbewußter Prozesse des Musikdenkens; die Bewußtheit der Vorgänge (insbesondere was die Form, die harmonischen Mittel, das ›Handwerk‹ anbelangt) begleitet den Schaffensprozeß, ist nicht sein Wesen. Die grundlegende psychische Einstellung ist mehr ›irrational‹. Der Künstler kann nicht alles ununterbrochen reflektieren; totale Bewußtheit würde den Schaffensprozeß zerstören.«482
Und unter »Wesen« mag man kein vorbildhaftes Transzendenzphänomen verstehen, sondern die Summe aller zuletzt in Gänze nicht erschließbaren in der realen Klanggestalt sich abbildenden Einflussfaktoren. Da man des Unbewussten und auch Irrationalen nicht habhaft werden kann, beschränkt man sich in musiktheoretischen Erörterungen auf das rein rational Zugängliche, auf das reine Handwerk, dokumentiert in der Niederschrift. Die Existenzbedingungen für eine Musik gleichen – bei allen gründlichen Recherchen und sorgfältigen Herleitungen – in summa einer black box. Wie das Innere dieser black box aussieht, wird man nie wissen. Allein die Niederschrift, das einzig Sichtbare, bleibt der verlässlichen Analyse zugänglich. Aus ihr heraus werden Gesetze und Existenzbedingungen für eine Musik formuliert. Der komplexe Schaffensprozess mit seinen vielfältigen Gründen und Bezügen wird somit auf einen und damit unzureichenden Grund zurückgeführt. Diese Form des selektiven Zugangs ist auch gemeint, wenn davon gesprochen wird, dass man sich die Sache zu einfach macht, weil man nur dort sucht, wo man das Licht wähnt. Das erinnert ein wenig an die von Paul Watzlawick erzählte Geschichte vom Mann, der seinen verloren gegangenen Schlüssel in dunkler Nacht unter dem hellen Licht einer Straßenlaterne sucht. Die Frage eines hilfsbereiten Polizisten, ob der Schlüssel hier denn verloren gegangen sei, wird vom Suchenden verneint mit der Bemerkung: »Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.«483 Ganz ähnlich verhält es sich mit der werkimmanenten Analyse von Musik. Da die vielfältigen Einflüsse, die eine Musik so und nicht anders haben entstehen lassen, nicht verlässlich eruiert werden können und weitgehend im 481 Karbusicky, Vladimir : Systematische Musikwissenschaft, a. a. O., S. 198. 482 Ebd., S. 197. 483 Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein. In: ders.: Anleitung zum Unglücklichsein. Vom Schlechten des Guten. Zwei Bestseller in einem Band. München (Piper) 2005, S. 31.
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Dunkel bleiben und die erklingende Musik selbst noch schwerer zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden kann, sucht man an anderer Stelle, nämlich dort, wo Licht ist. Übrig bleibt – alles Fleisch von der Musik nehmend – dabei nur ein karges Gerüst, ein Skelett, zusammengefügt aus Symbolen und Relationen.484 Auch die Analyse eines Gedichtes erschöpft sich nicht in dem Aufzeigen des Metrums von Trochäus, Jambus, Daktylus oder Anapäst, der Dokumentation des Versmaßes, dem Herausarbeiten der Klangfiguren wie Alliterationen, Assonanzen, Anaphern/Epiphern, der Beschreibung der Reimstruktur und von so vielem anderen mehr. Und möge man auch noch viel tiefer in die Struktur sich so hineinarbeiten, das ist dann doch nicht das Gedicht, nicht wahr? Auch ein Sound-nicht-anders ist daraus nicht abzuleiten, da die Ratio die Wort-Bausteine nicht nach Bedienungsanleitung zusammenstellt. Im Gegenteil: was das Gedicht ist und es auszeichnet, bleibt bei solcher Analyse verschlossen. Die Erschließung eines Gedichtes beginnt erst jenseits der formalen Analyse. Eine solche Analyse bleibt nicht überflüssig, aber sie ist, was sie ist: Und sie ist ein Hilfsmittel, nicht das Eigentliche. Und so verhält es sich auch bei der Musik. Übrig bleibt bei alleinigem Bezug auf das musiktheoretische Design nicht die Musik, sondern das bloße Supplement, der Notentext, der das eigentlich sich Ereignende, den komplexen in ein Umfeld eingebetteten Klangstrom, ersetzt. Ein gefälltes Urteil vom So-und-nichtanders einer Musik ist demnach nicht Folge einer Beschreibung des erklingenden Phänomens, sondern Folge einer notenimmanenten Betrachtung. Insofern ist der oft gewählte Begriff einer rein »musikimmanenten« Analyse weniger problematisch denn entlarvend: ein Etikettenschwindel. Eine musikimmanente Analyse findet gerade nicht statt, sondern ein notenimmanente. Der Notentext, der als Bedienungsanleitung zur Musik erst führen soll, wird nicht nur beim notenimmanenten Zugang mit der Musik gleichgesetzt, sondern ersetzt diese prinzipiell. Es bedarf gar nicht mehr ihrer Umsetzung: Das Supplement ist dann die Musik. Im Begriff einer »musikimmanenten« Herangehensweise drückt sich der Etikettenschwindel aus. Man begnügt sich mit dem, was nicht die Musik ist: dem Supplement und nennt es Musik. Der bloße Stellvertreter wird zum Hauptakteur gemacht, und der eigentliche Hauptakteur in seinem komplexen Sein spielt die zu vernachlässigende Nebenrolle. Wie sehr eine solche Stellvertretung das Denken bestimmt, ist an Adorno mit seinem Vorschlag einst an die Musikpädagogik nachzuvollziehen, wie man sich 484 Der Begriff des Skeletts verführt zu dem Missverständnis eines evolutiv Entwickelten und so auf eine Form abzielend, die der Natur entsprungen oder einem Ideal abgelesen sei. Das Skelett, von dem hier die Rede ist, ist keines aus Ideenhimmeln abgelauschtes, sondern ein menschengemachtes und daher eines, das nicht von entwicklungsbedingter Notwendigkeit, sondern von Kontingenz bedingt ist.
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der Musik nähern sollte: »Ihr Ideal [das der Musikpädagogik; N.S.] wäre das adäquate, aber stumme Lesen von Musik, so wie das Lesen der Sprache selbstverständlich ist. Dabei wird vorab an die Fähigkeit des Partiturlesens zu denken sein.«485 So schief der Vergleich zwischen dem Lesen von Sprache und dem von Musik schon ist, für den hier angesprochenen Gedankengang ist wesentlich: Nicht mehr das Ohr spielt hier die zentrale Rolle, sondern das Auge, das die Notenzeilen entlangwandert. Durch den nicht »musikimmanenten«, sondern rein »notenimmanenten« Zugang wird die Beschäftigung mit Musik zur reinen Augenkunde. Das Auge ist befähigt, analytisch zu sezieren, das Ohr will Anteil nehmen. Nur im Geiste soll man Klang noch realisieren, weil man dem Ohr nicht traut. Die Musik bei »musikimmanenter Analyse« verschwindet, was bleibt, ist das stumme Lesen, die Stille, und trotz aller Beredsamkeit über die Stellvertreter der Musik breitet sich ein großes Schweigen aus.
Babylonische Schriftverwirrung und die Illusion vom Wortlaut der Schrift/. Dieser Mangel der zu einfachen Beschreibung wird so endlich offenkundig in der Musik des voranschreitenden 20. Jahrhunderts, als das Geräusch zunehmend Eingang in die Musik fand und es immer schwieriger wurde, stellvertretende Zeichen zu generieren, in denen sich das Geräusch abbilden sollte. Das drückt sich in der zunehmenden Unanschaulichkeit der Partituren mit ihren neu erfundenen Zeichen und verbalen Ergänzungen aus. Hunderte und Aberhunderte von Zeichen haben so die Welt der Notation in den vergangenen Jahrzehnten inflationär geflutet, die zu verstehen zunächst genaue Legendenkunde voraussetzt, was aber nicht zu verhindern vermag, dass ihre vorgebliche Eindeutigkeit im Zuge von neuen Ungenauigkeiten und missverständlichen Doppeldeutigkeiten weiter beeinträchtigt wird. So mag dasselbe Zeichen bei dem einen Komponisten das und bei einem anderen was ganz anderes bezeichnen. Steffen Schleiermacher, Juror bei manchem Komponistenwettbewerb, beschreibt dies in einem Beitrag der neuen Zeitschrift für Neue Musik mit von Ironie und Humor triefenden Worten: Der Juror »vertieft sich Stunde um Stunde in die Folianten, dabei oft schon resigniert im mehrseitigen Vorwort und der umfänglichen Zeichenerklärung sich verhakend. Er versucht, diese zu verinnerlichen und aufs Geschriebene anzuwenden. Um sie sogleich wieder vergessen zu müssen, weil der nächste Komponist völlig andere Zeichen, Erklärungen und Bedeutungen geschöpft hat, verwirrenderweise gleiche Zeichen für 485 Adorno, Theodor W.: Zur Musikpädagogik. In: ders.: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 71991, S. 104.
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entgegengesetzte Sachverhalte, unterschiedliche Zeichen für identische Sachverhalte verwendet«.486
Mit Blick auf solche babylonische Verwirrungen in der Schrift feststellen zu wollen, dass ein geglücktes Werk »nicht anders sein kann, als es ist«, ist mehr und mehr zu einem uneinlösbaren Anspruch und zur bloßen rückwärtsgewandten Attitüde geworden. Die Unvereinbarkeit zwischen Notentext und erklingendem Phänomen wird gerade daran deutlich, dass versucht wird, mit immer neuen Zeichen die Kluft zwischen Supplement und komplexen Phänomen zu schließen mit dem Ergebnis, dass die Zeichenwelt einen den Interpreten überfordernden Komplexitätsgrad erreicht. »Viel hilft viel. Sagen sich scheinbar viele Komponisten und schwärzen das Papier. Zusatzzeichen, Erläuterungen, Fußnoten, Regelungen, Hinweise. […] Keine Lücke ist zu klein, um nicht noch ein weiteres – möglichst selbstkreiertes – Zeichen unterzubringen, kein Zwischenraum zu eng, um nicht eine verbale Anweisung hineinzuzwängen. Keine Note ohne mindestens vier zusätzliche Erläuterungen. […] Gegeben sei ein Takt für Violine solo – notiert in drei Systemen. Im oberen steht als Taktartangabe 9/16 sowie eine Klammer über den ganzen Takt: 9:10. Innerhalb dieser Klammer beginnt auf dem dritten Schlag eine weitere Klammer : 3:5, wobei wiederum deren vierter Schlag noch mal in 7:6 unterteilt ist. Und auf dem – punktierten – fünften Impuls dieser Klammer steht eine Note (die einzige in diesem System), selbstverständlich versehen mit umfangreichen Erläuterungen zu Klangfarbe, Erzeugungsart, Laustärke, Geste und Bedeutung.«487
Die folgenden Erläuterungen beschreiben das mittlere und untere System, wobei die Taktarten (mittleres System 11/16-Takt) sowie die jeweiligen verschachtelten Klammerverhältnisse differieren: 17:11, 4:7, 2:5 (mittleres System). Für das untere System, das als 3/8-Takt deklariert ist, bilden sich verschachtelte Klammerverhältnisse von 4:3, 5:3 und 5:3 ab. Die Impulse der Noten sind jeweils unterschiedlich innerhalb der Klammerangaben gesetzt, mal auf dem dritten, mal auf dem zweiten Impuls. Den offenkundigen Rätselcharakter dieser Notenvorlage unterstreicht Steffen Schleiermacher, der zur Stellungnahme zu diesem Werk aufgerufen war, wenn er schreibt: »Frage: In welcher Reihenfolge erklingen die Töne? Für eine klangliche Vorstellung dieser knappen zwei Sekunden gilt es aber noch zu berücksichtigen, dass die Töne eher Geräusche sind, die – wie das Vorwort erhellend beiträgt – fast unhörbar sein sollen. Und über den ganzen Abschnitt gibt es da noch die Meta-Angabe über ein Verlangsamen von Viertel 67,3 zu Viertel 58,9. Das ist viel zu lang und viel zu unübersichtlich 486 Schleiermacher, Steffen: komponisten können interpreten offensichtlich nicht leiden… In: Neue Zeitschrift für Musik. Themenheft Notation. Nr. 5, Sep./Okt. 2008, S. 42. 487 Ebd., S. 42f.
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zu lesen, beschwert sich hier bestimmt der eine oder andere, vielleicht sonst im Großen und Ganzen gar gutwillige Leser. Eben!«488
Noch längst ist in solcher Beschreibungsvielfalt die 1:1-Entsprechung nicht erreicht (und prinzipiell nicht zu leisten), und doch ist die Lesbarkeit beeinträchtigt und die Partitur weitgehend als Spielanweisung nutzlos. Um als Spielanweisung geeignet zu sein, ist eine implementierte Unschärferelation unverzichtbar. Und würde ein Wunder der Schreibarbeit die 1:1-Entsprechung möglich machen im Sinne der Parabel von der Strenge der Wissenschaft eines Jorge Luis Borges mit der Landkarte, die sich über das ganze Land erstreckte und dieses zur Gänze abdeckte, das sie zu beschreiben suchte, wäre die Komplexität ihrer Erscheinung so undurchschaubar, was sie abzubilden sucht, und wiederum nicht geeignet als Spielanweisung oder als Mittel zur Qualifizierung des Phänomens. Mit der babylonischen Schriftverwirrung wird die Illusion vom reinen Wortlaut der Schrift konterkariert und doch vom Autor Dahlhaus aufrechterhalten, obwohl die Illusion als Illusion schon längst in der Schrift sich selbst offeriert und enttarnt ist. Die Öffnung von Kompositionen für den Zufall zum einen und das Zubilligen von Spielräumen für den ausführenden Interpreten einer Musik zum anderen führen zu einer weitgehenden Interpretations- und Ausführungsbeliebigkeit. Sicher, die Zeilen von Steffen Schleiermacher sind erst Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts geschrieben, doch nicht viel anders nimmt sich dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch schon aus, als z. B. selbst in einem Schulbuch zur »Systematisierung der Notation« von einer… »wahren Inflation neuer Figuren [die Rede ist], deren Verständlichkeitsgrad unterschiedlich gut zwischen objektiver Unbrauchbarkeit, Mißverständlichkeit oder Doppeldeutigkeit und echter Eindeutigkeit oder doch wenigstens Benutzbarkeit schwankt. Die Zahl der in den zwanzig Jahren bis 1965 eingeführten neuen Zeichen liegt etwa bei etwas über 700. Viele davon heben sich gegenseitig auf, indem derselbe musikalische Tatbestand von verschiedenen Komponisten mit verschiedenen Zeichen bedacht wird oder, was noch verwirrender ist, ein und dasselbe Zeichen bei verschiedenen Komponisten etwas ganz anderes bedeutet.«489
Die Lektüre dieses Schulbuches wäre Dahlhaus anzuempfehlen gewesen, was – in Kenntnis der Vielfalt möglicher und sich widersprechender Beschreibungen von Musik – seine Worte zum Triumpf der Analyse möglicherweise vorsichtiger hätte formulieren lassen. Die Schriftverwirrung hat so in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts solchen Einzug in die Musik gehalten, dass Aloys Kontarsky 488 Ebd., S. 43. 489 Kirchmeyer, Helmut/Schmidt, Hugo Wolfram: Die Garbe 4. Aufbruch der jungen Musik. Von Webern bis Stockhausen. Köln (Hans Gerig) 1970, S. 165f.
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1964 dafür die Metapher von Ampellichtanlagen entwarf, die in jeder Stadt anders zu interpretieren sind. »… der sich an diesem Zeichen orientieren soll, gleicht einem Autofahrer, für den rotes Licht in Darmstadt bedeutet, in Donaueschingen dagegen , während er in Palermo die Wahl hat zwischen beiden Möglichkeiten oder sich für eine ganz andere entscheiden kann, z. B. den Wagen stehen zu lassen und zu Fuß weiterzugehen.«490
Und doch angesichts solcher Entwicklungen träumen Vertreter der Fachdisziplin Musik wie Carl Dahlhaus noch Jahre später (1978) vom geglückten Werke, dessen man analytisch habhaft werden könnte. Deutlich an einer solchen Aussage wird, dass man das geglückte Werk allein in der Vergangenheit und im Grunde in einem anderen Jahrhundert zu finden meinte. Die waltende Ignoranz lässt nur den Blick zurück gelten, eine allgemeine Stilkongruenz weiterhin und implizit konstatieren und gegenwärtige Stilvielfalt ablehnend verneinen. Schon die Gegenwart sieht anders aus. Wo Stilvielfalt währt, ist der verbindliche Maßstab im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte, kann von Werktreue oder anderen Dingen nicht ansatzweise die Rede mehr sein. Die Sehnsucht nach dem geglückten Werke und dessen analytischem Beleg ist in einer Zeit verfochten, als nicht nur die Fortschrittsidee vom Ideal einer sich zuletzt erfüllenden Musik längst Geschichte ist, sondern sie ist formuliert in einer Zeit, als die Musik längst ganz neue Wege geht und die Hoffnung auf distinkte Werkbeschreibungen ins Leere läuft. Die babylonische Schriftverwirrung war längst zum Standard erhoben. Die Schriftverwirrung ist nur Ausdruck und Symptom jener neuen Stilvielfalt. Die Individualisierung von Musikgestaltung macht Stilkongruenz oder anerkannte Formschemata, eine allgemeine musikalische Syntax und jedwede gesetzte Funktion von Musik obsolet. Die musikalischen Stile in ihrer Ambiguität, den Individualphilosophien der Komponisten folgend, stellen den Moment als Ereignis vor, das Monument dabei beiseite, finden am Prozess Gefallen und die Performanz musikalisch attraktiv. Die Ratlosigkeit von so manchem Schriftgelehrten wird angesichts solcher Tendenzen offenkundig, wenn wie bei Ludwig Finscher, einer Lichtgestalt der Fachdisziplin Musik, zu Beginn des neuen Jahrtausends geschrieben steht, dass auch Werke wieder geschrieben werden und die Hoffnung auf die Renaissance eines verbindlichen Stils daraus hervorlugt. »Daß die Kompositionsgeschichte, […], schon wieder einen Schritt weiter ist und daß wieder Werke im emphatischen Sinne geschrieben werden und als solche rezipiert werden sollen, könnte
490 Aloys Kontarsky, zit. n. Schleiermacher, Steffen: komponisten können interpreten offensichtlich nicht leiden …, a. a. O., S. 42.
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hoffnungsvoll stimmen«.491 Interessant ist neben der ausgedrückten Hoffnung wiederum die nach wie vor daraus abzulesende Fortschrittsgeschichte, der weiter nachgehangen wird, sowie die daran gekoppelte Stileinheitlichkeit, wenn das Schreiben von Werken nicht als punktuelles Phänomen im Raum eines statthabenden Stilpluralismus wahrgenommen wird, sondern als signifikantes Signal mit möglicher Vorbildfunktion und Breitenwirkung. Und zugleich seltsam genug: Gerade im Rückgriff auf das Früher, das Werk, wird der Fortschritt ausgemacht. Der Blick zurück vollzieht die Wendung zur Offenbarung, sucht darin eine Zukunft auszumachen und betreibt doch nur den untauglichen Versuch zur Restauration überlebter musikalischer Zustände. Es überträgt blank wie unbewusst eine alte politische Haltung überlebter Ordnung wie bspw. vom Wiener Kongress nunmehr auf die Künste respektive die Musik: Vorwärts, es geht zurück, der schon – trotz der Mächte, die dahinterstanden – im 19. Jahrhundert kein rechter Erfolg mehr beschieden war, was die Sentenz in Szene setzte: Der Kongress tanzt, aber es geht nicht vorwärts. Der Glaube an geglückte Werke, das Ausmachen von Sinfonien, die wieder komponiert werden, signalisieren nicht nur das Signal des Es geht zurück, sondern obendrein auch das des Es geht nicht vorwärts. Sicher : Wer mag, schreibt auch noch im 21. Jahrhundert Werke mit einem Anfang, das Einzelmotive entfaltet als auch verschränkt, einem Ende, das den Anfang wieder tönend mitbedenkt, und einem Dazwischen, das mit Durchführung wie Modulationen manchen Rezipienten beschenkt, wie zu anderen früheren Zeiten eben, weil des Komponisten Philosophie dieses absolut nun mal so haben will. Aber ein verbindlicher Maßstab für andere ergibt sich daraus wahrlich nicht. Stilpluralismus impliziert schlechterdings Eklektizismus, und der macht auch Werke im emphatischen Sinn ohne jegliche herausgehobene Privilegierung als ein singuläres Rezeptionsangebot neben zahllosen anderen möglich.
Die Lesbarkeit der Partituren und ihr mehrfacher Schriftsinn/. Die erklingende Musik hat sich gleichwohl weitgehend abgelöst vom alles kontrollierenden Komponisten und verweist damit auf einen musikgestaltenden Gang, der über das ganze 20. Jahrhundert zu beobachten ist. Jene Werke, in sich abgeschlossen, selbstbezüglich, ohne Funktion, sucht der Analytiker, ins Notenbild gesetzt, heute mehr und mehr vergeblich. Eine »unifizierte Notation«, wie Ligeti dies nennt, ist heute nicht mehr möglich. »Eine unifizierte Notation hat einen einheitlichen Stil zur Voraussetzung. Das Bezeichnende für die heutige 491 Finscher, Ludwig: Diversi diversa orant. In: Riethmüller, Albrecht (Hg.): Archiv für Musikwissenschaft. LVII Jahrgang, Heft 1/2000, S. 14.
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kompositorische Situation ist aber, daß es einen einheitlichen Stil nicht gibt.«492 Die neuen Notenwelten sind die Kritik der Idee vom im Notenbild nachweisbar geglückten Werke und zeigen den systeminternen Mangel der zu einfachen Beschreibung auf. Die Quelle des musikalischen Sinns liegt damit nicht mehr beim »Schöpfer« einer Musik, sofern eine solche Begrifflichkeit, vom Schöpfer reden zu wollen, überhaupt noch Sinn macht. Der Musikschreibende gibt sich hin den musikalischen Zeichen, verändert, erfindet, rekombiniert, verliert sich in dem Gestaltenwollen bis hin zu einem selbstgenügsamen, der Leserlichkeit sich entziehenden Schriftwerk. Der Lesende, den Schrift gewordenen Verästelungen folgend, wird – trotz und gerade ob mancher Bemühung, alles determinieren zu wollen – wieder frei in der Ausführung. Die Lesbarkeit der Partituren wird durch Individualisierung der Schrift aufgehoben von einer zu dichten Beschreibung, deren Deutungshorizont – wie bei einem hermetischen Gedicht – in alle möglichen Richtungen weist, nur in keine eindeutige mehr. Alle Versuche zu ihrer Systematisierung sind fragile Konstrukte, die zuletzt nicht halten können, was sie versprechen, und nur neue Unordnung mit jedem Versuch schöpfen. Man muss nur alles kontrollieren wollen, und schon gibt man dem Interpreten und dessen selektiver Lesekompetenz wieder freie Hand. Das ist die eine Entwicklung. Die andere Entwicklung versucht erst gar nicht, Schriftzeichen deterministisch zu betrachten, sondern gibt ihnen einen großen Interpretationsspielraum, was dem Ausführenden eine sinngebende Rolle zuweist. Der musikalische Text ist so Träger mannigfaltiger Botschaften. Der Sinn der Musik verändert sich aber von Aufführung zu Aufführung, was die Spurensuche nach Zusammenhängen analysierender Außenstehender weitgehend obsolet macht. Damit ist eine partielle Rückkehr zu verzeichnen zu den Ursprüngen der musikalischen Schrift, als die Niederschrift von Musik der Deskription sich verpflichtet sieht und von Präskription keine Rede ist. Man denke an die musica enchiriadis (rememorationis subsidia) aus dem 9. Jahrhundert, wo dem Ausführenden die Bestimmung über das Resultat obliegt, dieser autorisiert das Musikereignis. Die Schrift selbst mit ihren vagen Zeichen ist nur als Erinnerungshilfe gedacht. Erst im Zuge der Schriftverfeinerung gewinnt der Musiktext an Autorität und verliert der Ausführende an Bedeutung, wenn nach dem korrekten Gang der Komposition gefragt wurde. Doch noch im 16. Jahrhundert ist die Notenschrift nicht als absoluter Imperativ gedacht, wenn an die Virtuosenmusik gedacht wird und an die Freiheiten, die der Ausführende sich nimmt. Erst im 18. Jahrhundert vollzieht die Notenschrift ihre Wendung hin zu »im492 Ligeti, György : Neue Notation – Kommunikationsmittel oder Selbstzweck? In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Lichtenfeld, Monika. Bd. 1. Mainz/Berlin/London u. a. (Schott) 2007, S. 180.
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perativistische[n] Symbole[n]«, wie sie Roman Ingarden dann nennt.493 Fortan gilt es, »die ›Wahrheit‹ allein in der scheinbar so präzisen Notation zu suchen, sich nur an die Noten zu halten und nur noch ›nach Noten‹ zu musizieren.«494 Unter Verwendung des Adverbs »scheinbar« macht Tappolet auf das Missverständnis aufmerksam, aus dem Schriftwerk ließe sich ein Komponistenwille getreu extrahieren. Der sukzessive Wandel der Notation in der Musik z. B. von einer deskriptiven zu einer präskriptiven kennzeichnet den Verlust an Autorität. Der Ausführende wird mehr und mehr zu einem getreuen Repetitor dessen, was geschrieben ist, ist aber nicht mehr die maßgebende, sich verbürgende Instanz, die Kraft des verinnerlichten Wissens vorgibt, wie etwas musikalisch zu leben ist. Will man wissen, wie Musik zu erklingen hat, beugt man sich nunmehr über Notenwerke und liest nach.495 Ein Vorteil jenes Autoritätsverlustes: Die Entfaltung der Musik in der verräumlichten Zeit, indem ein musikalischer Gedanke über Partiturseiten hinweg ausgestaltet werden kann. Das distanziert analytisch-sezierende Auge tritt dem in Klang eingebundenen Ohr bei der Gestaltung von Musik zur Seite. Eine Verobjektivierung der Musik erfolgt. »Im Sehen gerinnt die Welt zu Objekten.«496 Mit der Buchstaben- und Notenschrift ist ein gesellschaftliches Gedächtnis geschaffen, das weitaus mehr speichern und erinnern kann, als es dem menschlichen Gedächtnis möglich ist. Die Idee des absoluten Werkes im 19. Jahrhunderts setzt notwendig auf die Exaktheit einer Notation und den Primat der Präskription und verführt weiterhin zur Vorstellung eines So-und-nicht-anders einer zu analysierenden Musik. Das Prinzip der Präskription, das sich aus der Notenschrift sukzessiv ehedem entwickelte, ist heute ein Phänomen neben vielen, wo Musikschaffende – ihren Individualphilosophien folgend – Interpreten große und größte Freiheitsgrade beim Deuten von Partituren einräumen, eigene Zeichenwelten ersinnen, die über spezifische Kompositionen hinaus kaum Verbindlichkeit haben.
493 Ingarden, Roman: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Tübingen (Niemeyer) 1962, S. 26. 494 Tappolet, Willy : Notenschrift und Musizieren. Das Problem ihrer Beziehungen vom Frühmitelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin (Robert Lienau) 1962, S. 58. 495 Vgl. Schläbitz, Norbert: Der diskrete Charme der Neuen Medien. Augsburg (Wissner) 1997. 496 Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart (Reclam) 1996, S. 249.
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Medienrevolution. Der »Triumpf der Analyse« und ihre Erfüllung in der Digitalität/. Aber deutlich an dem Beschriebenen wird, wie maßgeblich entscheidend das Medium, das für die Aufschreibarbeit von Musik genutzt wird, mitwirkt an der Gestalt werdenden Musik. Das entfaltete präskriptive Medium Notenschrift fördert im Zuge einer mitlaufenden Botschaft die Idee von Werken, die vor einem Absoluten sich verneigen, und geboren wird eine Papiermusik, über die das Auge schweifen kann, an Zusammenhängen über seitenlange Schriftsätze sich erbauen kann, während das Ohr nur noch eine sekundäre Rolle spielt. Die Not und der Blick bei Schriftgelehrten zurück gründen nicht nur darin, dass die kundigen Analytiker der schriftgewordenen Werke im Verlaufe des 20. Jahrhunderts in einem Zeitalter der zunehmenden Schriftverwirrung sich verlieren, sondern überdies mitunter schlicht ihren ›Gegenstand‹ Notenpapier und Notenwelt völlig verloren haben. Die Aufschreibarbeit von Musik wird heute vielfach – unter Umgehung jedweder symbolischer Codierung – gleich dem digitalen Speicher überantwortet. Die Notenschrift ist im 21. Jahrhundert nicht mehr das Leitmedium der Musik, das sie für wenige Jahrhunderte war. Die digitalen Speicher haben ihr diesen Rang längst abgelaufen, auch deshalb, weil sie nicht nur genauer und nicht bloß symbolisch aufzuschreiben verstehen, sondern auch das zwischen den Intervallen Erklingende diskret berücksichtigen. Die Notenschrift ist dazu einerseits in ihrer symbolischen Codierung als auch andererseits in ihrer eingeschränkten Distinktion zur Diskretion nicht oder nur unzureichend in der Lage. Seitdem die Notenschriften und –zeichen sich vervielfältigten und die digitalen Medien die Aufschreibarbeit ohnehin viel exakter leisten als jede noch so fein verästelte Notenschrift, hat sich die Halbwertzeit der ewigen Werke doch enorm verkürzt. Möchte man eine Musik verstehen, gilt es dem Medium der Schreibarbeit, das oft genug zum opaken Hintergrund gerät, so nicht minder Aufmerksamkeit zu zollen. Das Plädoyer, dem nachweisbar geglückten Werk das Wort zu reden und damit ein Musik- oder in der Verallgemeinerung ein Kunstwerk nach »richtig« und »falsch« auszuloten, führt insbesondere im Zeitalter der Digitalität auch auf ein gefährliches Terrain, denn wer Musik nach einer rein immanenten Logik unter Außerachtlassen weiterer Parameter zu qualifizieren sucht, reduziert sie zu einem rein mathematisch berechenbaren Kalkulationsobjekt, das allein Algorithmen – geschrieben gemäß vermeintlich ermittelter Gesetzmäßigkeiten – abarbeitet. Der mathematischen Logik ist der Computer idealer Rechenpartner, einer musikalischen Logik, sofern sie auf logisch-korrekte Ergebnisse abzielt (und auf was sollte sie sonst abzielen?) nicht minder. Eine gelungene Musik würde danach möglichst passgenau den musikalisch-logischen Gesetzmäßig-
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keiten entsprechen, eine weniger gelungene wäre von Regelverstößen durchbrochen oder möglicherweise geschrieben, ohne dass überhaupt Gesetze zu ihrer Qualifizierung vorlägen. Eine Musik des So-und-nicht-anders bedarf unverzichtbar des Gesetzes zum Abgleich und so einer idealisierten Norm, die zum unvergleichlichen Vorbild gereicht. Eine solche Norm, soweit sie vorliegt, ist dann aber auch in einem Algorithmus abzubilden. Und der fehlerfrei formulierte Algorithmus kalkuliert weitaus besser die richtig gestimmte Musik als jeder Mensch, der zu Fehlern neigt, was dem So-und-nicht-anders nicht gerade zuträglich ist. An die Stelle des doch immer wieder fehlenden, von Emotionen geplagten Menschen träte in der Musik dann doch besser gleich das digitale, nach McLuhan zwar heiße, aber hier kalt kalkulierend bezeichnete Medium Computer, denn dem fällt es wesentlich leichter, einen wohldefinierten Algorithmus abzuarbeiten, als dem mängelgeprägten Menschen. Hier werden die Folgen zu einfacher Beschreibungen, wie sie ein Dahlhaus, fraglos auch Finscher und andere verfechten, deutlich: Wo die ideale Norm vorgestellt wird und man glaubt, über eine solche zu verfügen, wird Komponieren mithilfe von Turings konkret gewordener Papiermaschine schlicht maschinisierbar. Voraussetzung dafür ist nur eine musikalische Logik, die auch in sich logisch ist. Man muss nur eine Reihe wohldefinierter Anweisungen im Sinne einer Bedienungsanleitung formulieren. Und paradox genug: Mit dem einstmals ersonnenen Traum vom Wesen von Kunst, von allgemein-gültigen Gesetzen, der Urform und anderen fantastischen Gebilden war das Ende aller Träumerei mit Blick auf die Zukunft gleich eingeläutet, weil heutige digitale Medien, die den Traum als Algorithmus sich zu eigen gemacht haben, weitaus besser rechnen und schon gar nicht träumen können. Mit anderen Worten: Wer träumen will, muss demnach nur logisch exakt formulieren können. Ihre sinnlich gewordenen Kalkulationen laden sicher ein zum Träumen, gründen aber nicht in der Ontologie des »UR« oder anderen wesenhaften Spukgesetzen, sondern allein in den nichtssagenden Ziffernketten von 0 und 1. Das ist ihre eigentliche Qualität und lässt sie letztlich nicht ge-, sondern bloß erfundene Gesetze fehlerfrei abarbeiten oder auch neue erfinden. Um den Nachweis eines So-und-nicht-anders zu erbringen, ist man bei Fugen komponierenden Computerprogrammen eher an der richtigen Stelle als bspw. bei Johann Sebastian Bach, der im Vergleich zu ersteren sich die Freiheit nahm, dem bloßen Schema Fuge seine individuelle Form auf-, und auf diese Weise dem realisierten Schema einen defizitären Mangel einzuprägen. So wird es sein, dass man nahezu jedem Komponisten in seiner Zeit Abweichungen von der jeweils gültigen musikalischen Norm nachweisen kann, und mag als vermeintlich Wissender um die rechte Norm den Fehler diagnostizieren und den mahnenden Fingerzeig erheben. Der wohldefinierte Algorithmus errechnet die wahre, weil
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fehlerfreie Kunst dann. Wer sich um den wahren Wortlaut der Schrift bemüht, handelt sich das digitale Alphabet ein. Wo etwas nicht anders sein kann, als es ist, gereicht dies der Musik kaum zum Lob. Im Gegenteil: Es stehen eher die Redundanz und musikalische Langeweile Pate, denn der musikalische Weg bleibt gemäß der unerschütterlichen Logik (mit bestenfalls gesetzmäßiger Variationsbandbreite) vorgezeichnet. Die Differenz dagegen macht erkennbar eine »geglückte« Musik aus, denn in Musik ist nicht die Regel oder eine idealisierte musikalische Logik (im Sinne »allgemein gültige[r] Gesetze« eines Hugo Riemann) entscheidend, die sich erfüllt, sondern bekanntermaßen die Abweichung, die Differenz. »Man kann die Tendenz des Komponierens verstehen, das ›System‹ zu sprengen, seine Gebote nicht zu achten und neu zu bestimmen, was ›erlaubt‹ ist.«497 Beethovens Sinfonien sind geradezu das Paradebeispiel, das gerade den Abstand zur Norm positiv herausstellt und interessant macht. »Schließlich war Beethoven selbst ein Regelrelativist; hatte er bei anderen Gelegenheiten nicht betont, es gebe keine Regel, die man nicht um des Schöneren willen verletzen dürfe?«498 In dem Ausloten eines vorgeblichen Soseins einer Musik ist so ein gravierender Denk- und Systemfehler mitgeführt. In der Dynamik der Kunst ist die Widerlegung aller formelhaft gedachter Gesetzesvorschriften angezeigt, die den Imperativ So und nicht anders ausrufen. Allein eine kalkulierende Vernunft für ein Klangereignis verantwortlich machen zu wollen entbehrt der Vernunft. Der Blick heute im Zeitalter der Schriftverwirrung, der digitalen Schrifterneuerung weist auf diesen Systemfehler wie von selbst hin. Ganz automatisch wendet sich der Blick ab vom zu engen Musiksystem, in dem die Notwendigkeit regierte, und weitet sich zu einem, das einen Sinn für die Kontingenz entwickelt. Bei jedem sich abzeichnenden Objekte oder Gegenstande bleibt man doch offen für das Hintergrundrauschen, das die mögliche Alternative bereithält. So gilt es stets, das System der engen Regeln zu sprengen, und es zeigt sich augenscheinlich, dass man hier doch in gar nicht mal so fremden, sondern tradierten Gewässern sich bewegt.
Eine musikalische Analyse mit Weitsicht und die Welt der Geschichtenerzähler/. Eine komplexe, über das Notenbild hinausreichende Beschreibung wäre vonnöten, welche den notenübergreifenden Kontext umfänglich mitberücksichtigt. Eine komplexe Beschreibung ist dann gegeben, wenn zur Beschreibung des 497 Karbusicky, Vladimir : Systematische Musikwissenschaft, a. a. O., S. 198. 498 Caeyers, Jan: Beethoven. Der einsame Revolutionär. Eine Biographie. München (Beck) 2012, S. 675.
Eine musikalische Analyse mit Weitsicht und die Welt der Geschichtenerzähler/.
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Phänomens unterschiedliche Zugänge und Methoden gewählt werden, um das Phänomen in seinen Verästelungen vertretbar zu beschreiben. Gerade das lässt die notenimmanente Analyse – zumindest hier in Gestalt von Carl Dahlhaus – vermissen. Möchte man in die Musik verstehend eintauchen, muss man das Licht der Straßenlaterne verlassen und auch im Dunkeln suchen, hoffen, dass man tastend auch dort zum Verstehen das eine oder andere findet. Möglicherweise muss man auch dem Dunkel sich hingeben, die Augen schließen und zuhören, dem Ohr vertrauen. Mit alleinigem Blick auf das Supplement bleiben die Verästelungen, Bezüge, Umstände allesamt gekappt. Was es braucht, ist eine komplexe Beschreibung, um dem musikalischen Phänomen, warum es so ist und nicht anders, analytisch sich halbwegs vertretbar zumindest anzunähern. Beinahe möchte man mit Goethe argumentieren, der einst im Gedicht Epirrhema schrieb: »Müsset im Naturbetrachten/ Immer eins wie alles achten;/ Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:/ Denn was innen, das ist außen./ So ergreifet ohne Säumnis/ Heilig öffentlich Geheimnis.// Freuet euch des wahren Scheins,/ Euch des ernsten Spieles: / Kein Lebend’ges ist ein Eins,/ Immer ist’s ein Vieles.«499 Der Triumpf der Analyse, der Dahlhaus vorschwebte, berücksichtigte nichts von dem. Eine komplexe Beschreibung dagegen versucht eine Vielfalt von Entstehungsbedingungen mit in den Blick zu nehmen, würde dazu unterschiedliche Zugänge wählen, die sich aus verschiedenen Disziplinen speisen. – Der philosophische und/oder ästhetische Zugang ist wichtig, weil jeder Kunstbetrachtung entweder eine explizite, oftmals aber mehr eine implizite Theorie zugrunde liegt. Die impliziten sind der Musik-/Kunstwerkbetrachtung das Problem, weil ihre Ausblendung zu der Haltung verführen kann, man würde Kunst objektiv, sozusagen an sich, betrachten, wo doch ein Aufnehmen und Verarbeiten theoretisch-philosophisch motivierter Axiome vorliegt. Insofern gilt es gerade auf sie zu achten und sie aufzuzeigen. Das beste Beispiel liefern hier Dahlhaus und Geistesverwandte selbst, liegt der Idee vom geglückten Werke die ästhetische Theorie vom absoluten/autonomen musikalischen Kunstwerk zugrunde. Sein Ansatz ist also hochvoraussetzungsvoll. – Der soziologische Zugang ist wichtig, weil aus dem gesellschaftlich-geistigen Klima heraus die Theorie erklärbar werden kann, die sich gebildet hat. Es lässt sich aus ihm ableiten, warum ein Theoriegebäude für eine bestimmte Zeit Popularität erlangt hat, warum die Kommunikation beeinflusst wurde, befruchtete und Breitenwirkung erlangen konnte und warum in einer anderen Zeit eine Musik keinen nennenswerten Widerhall mehr fand. Zugleich
499 Goethe, Johann Wolfgang von: Epirrhema. In: ders.: Gedichte, hg. u. kommentiert von Erich Trunz. München (Beck) 1999, S. 358.
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erscheint er wichtig, weil auch aus politischen Grundströmungen ein Musik und Kunst bestimmendes Idiom sich ableiten mochte. Die Begutachtung soziologischer Rahmendaten geht somit einher und Hand in Hand mit den historischen. Es sind also synchrone und diachrone Beschreibungen, die ins Verhältnis gesetzt werden. Der psychologische Zugang ist wichtig, weil persönliche Gefallensmaßstäbe die Merkmalsdiskussion von Musik und Kunst und deren Wertschätzung mitbedingen. Dabei ist zu unterscheiden der musikpsychologische Zugang, der sich mit der Wirkung von Musik auf den Rezipienten und mit dessen subjektiver Wahrnehmung beschäftigt, von einem Zugang, der die psychische Disposition des Analytikers mit seinen persönlichen Vorlieben und Abneigungen in Augenschein nimmt. Auch das spielt eine maßgebliche Rolle. Insbesondere auf die zweite Variante zu verweisen erscheint notwendig, weil diese oft und gerne unter Verweis auf Musikkunst auszeichnende »objektive« Merkmale negiert wird. Ein Paradebeispiel für den letztgenannten Fall liefert abermals Adorno, der seine persönlichen Vorlieben hinter analytischen Betrachtungen (unbewusst) maskierte und Hierarchien und Rezeptionsweisen von Kunst herleitete, die geradewohl von persönlichen Gefallensmaßstäben unterminiert waren. Die Hierarchie vom Hörer als Experten bis zum antimusikalischen Hörer liefert weniger eine vertretbare Lehre vom Rezipienten von Musik als vielmehr eine Psychoanalyse des Erfinders dieser Typenlehre. Und zu den psychologischen gesellen sich zwangsläufig die biografischen Rahmendaten, die den Entstehungsprozess einer Musikkunst begleiten und zur Erklärung herangezogen werden, warum gerade dieses und nicht jenes das Empfinden affiziert oder provoziert. Dazu gehören dann ebenso persönliche glückliche wie unglückliche Lebensumstände wie auch mögliche medizinische Befunde, aus denen heraus Musiken ebenfalls erklärbar werden mögen. Der technische Zugang ist unverzichtbar bei der Betrachtung, weil mit dem Gebrauch spezifischer »Materialitäten der Kommunikation«500 als Emergenzphänomen auch eine ganz spezifische folgenreiche Kommunikation
500 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988. Unter ›Materialitäten der Kommunikation‹ werden alle Medien verstanden, die Kommunikation und deren Distribution ermöglichen: z. B.: (Noten-)Schrift, (Noten-)Papier, Buch, Film, Brief, Computer. Auch Medien wie Schreibmaschine, Füller, Bleistift u.v.a.m. gehören dazu. Musikinstrumente mit ihren Qualitäten lassen sich ebenfalls darunter subsumieren. Marshall McLuhan hat solchen Materialitäten der Kommunikation im besonderen Maße das Augenmerk geschenkt und ihre »Botschaften« jenseits der transportierten Inhalte herausgearbeitet. Luhmann bezieht solche Materialitäten nicht in seine systemtheoretischen Überlegungen ein, da bei Luhmann aus dem Dreischritt ›Information-Mitteilung-Verstehen‹ und dem In-Szene-Setzen ›doppelter Kontingenz‹ Kommunikation allein sich entfaltet.
Eine musikalische Analyse mit Weitsicht und die Welt der Geschichtenerzähler/.
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einhergeht. Das aber wird in der Regel nicht offenkundig, denn wer Texte oder Noten liest, lenkt seine Aufmerksamkeit auf den Inhalt, sucht Sinn zu erschließen oder Strukturen zu analysieren und ist dabei ›blind‹ für den Träger der Information. Dass der Träger einer Information aber Inhalte präformiert, verdeutlichen auf geradezu atemberaubende Weise heute die digitalen Medien, die neue Wissenshorizonte eröffnen, dabei überkommene Sinnvermutungen dramatisch in Frage stellen, indem sie Umgangsweisen und Wertschätzungen verändern. Ihre Analyse kann das opake Medium – die »Materialität der Kommunikation« mit ihren Folgen – sichtbar werden lassen. Dies öffnet Sinnsuchenden den Blick über bloße Inhalte hinaus für weitergehende ›Botschaften‹, die sich reflexiv, konstruktiv wie kreativ als auch mitunter gegen die Medialität wenden lassen. – Und der phänomenale Zugang ist wichtig, der Klang, das Ereignis, zu dem sich die unterschiedlichen Rahmendaten verdichtet haben. Dessen klangliche Beschreibung, die Analyse des Sounds, zu dessen Hilfe auch, aber eben nicht allein der Notentext herangezogen werden kann (aber nicht zwingend herangezogen werden muss), spielt eine Rolle bei der Betrachtungsweise von Musikkunst. Im Kontext der Musik ist der Notentext damit ein Hilfskonstrukt bei Analyse und Qualifizierung und stellt keineswegs die Hauptrolle dar. In ihm bildet sich eine bloße Bedienungsanleitung ab und bei der Betrachtung von Erzeugnissen wird ihm dieser Stellenwert auch zugewiesen und bleibt ihm auch erhalten. Alle Aspekte sind aufeinander bezogen, und unentwirrbar miteinander verflochten gilt es sie zu bedenken bei der Analyse und Wertschätzung von Musik. Und all diese Themenfelder sind auch Teil der Fachdisziplin Musik, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit heißen sie Musikästhetik, Musikpsychologie, Musiksoziologie, Musiktheorie, Musikanthropologie, Musikethnologie, Akustik, Musikgeschichte, Instrumentenkunde …. »Erst im Chor mag eine gewisse Wahrheit liegen.«501 Diese Themenfelder im chorischen Zusammenklang mit unterschiedlichen Wissenschaftstheorien liefern wertvolle Aussagen zur Musik, zum Hörer, aber immer auch zum Analysierenden selbst, ohne dass sich eine abschließende wahr- oder richtigsprechende Gesamtaussage daraus ableiten ließe. Was bei einem solchen Zugang verloren geht, ist der Charakter der Eindeutigkeit, so sehr aus jedem Arbeitsfeld man auch objektiv zu beschreiben und untersuchen sucht. Aber eine letztgültige Ursache/Wirkungsmatrix ist nicht zu
501 Kafka, Franz: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Frankfurt/M. (Fischer) 1976, S. 249.
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formulieren. Zu komplex sind die Zusammenhänge, dass jede formulierte Ursache den Widerspruch in sich angelegt sieht. »[A]uch die ›dichteste Beschreibung‹ ist interpoliert, sonst würde sie pointillistisch zerfallen wie ein ›Mandelbrotbäumchen‹ in der Chaostheorie. Selbst wenn dem Historiker alle nur denkbaren Quellen, alle Urkunden, Akten und Protokolle und was es sonst noch an Zeugnissen gibt, von schriftlichen Dokumenten zu Realien, zur Verfügung stünden, wenn das Archiv unendlich wäre wie bei Borges’ Bibliothek von Babel, änderte das nichts daran, daß er als standpunktgebundener Interpret das Material sichten, einiges auswählen, das meiste beiseitelassen müßte, daß er interpretieren und spekulative Linien ziehen müßte im Hinblick auf seine erzählerische Absicht.«502
Das führt zu dem Gedanken, dass es sich um Geschichtenerzähler handelt, die aus einer Auswahl dessen, was geschehen ist, eine kongruente Geschichte weben. Es handelt sich vielmehr um Belletristik, weniger um Wissenschaft, was im Fach betrieben wird; eine These, die sich mit der Haltung von Theodor Mommsen verträgt, der schreibt: »Der Geschichtsschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten.«503 Eine ähnliche Denkfigur lässt Dahlhaus die Musikgeschichtsschreibung als unwissenschaftlich klassifizieren und diese dem Kunsthandwerk zuschreiben, das Zutagefördern der Quellen allerdings – daran lässt er keinen Zweifel – ist der Wissenschaft zugehörig. »Lassen Sie mich […], […], mit der schlichten Feststellung beginnen, daß ich mein eigenes Fach, die Musikhistorie, keineswegs in sämtlichen Teilen für eine Wissenschaft halte.«504 Gleichwohl gilt, dass – ähnlich einer erzählerischen Absicht, die sich aus dem gewählten Standpunkt ableitet – auch Quellenrecherche von einem spezifischen Standpunkt aus betrieben wird, »ein standortfreier Historiker (ohne Perspektive) ist unmöglich.«505 Nicht alles, was möglich wäre, wird zutage gefördert, katalogisiert u. a.m., sondern nur das schon im Vorfeld für musikalisch Wert Befundene. Dahlhaus irrt daher, wenn er glaubt, Quellenkunde oder die Rekonstruktion einer Überlieferungsgeschichte wären von objektivem verlässlichen Charakter. Vielmehr ist hier Nipperdey zuzustimmen: »Wir entdecken neue Quellen, und in bekannten Quellen entdecken wir immer Neues und immer Anderes. […] Wenn objektiv heißen soll: 502 Burger, Rudolf: Im Namen der Geschichte. Vom Mißbrauch der historischen Vernunft. Hannover (zu Klampen) 2007, S. 101. 503 Mommsen, Theodor : Rektoratsrede (1874). In: Stern, Fritz/Osterhammel, Jürgen (Hg.): Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart. München (Beck) 2011, S. 263. 504 Dahlhaus, Carl: Diskussionsbeitrag zum Themenfeld Wissenschaft und Kunst. Über die Notwendigkeit und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im Kontext von Kunst und Erziehung. In: Ehrenforth, Karl Heinrich (Hg.): Schulische Musikerziehung und Musikkultur. Mainz/London u. a. (Schott) 1983, S. 191. 505 Nipperdey, Thomas: Kann Geschichte objektiv sein? München (Beck) 2013, S. 67.
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Reproduktion der Vergangenheit, dann gibt es keine objektive Historie.«506 Stets gibt es ein Zuviel an Daten. Und zu den Daten, die auserwählt werden aus interessiertem Blicke, gesellt sich die Unzahl jener Daten, die unerhoben bleiben. Die Welt als Totalität ist »nicht erschöpfbar.«507 Schon hier waltet das subjektive Moment. Auch Quellenrecherche, Überlieferungsgeschichten u. ä. sind nicht losgelöst von Kommunikationszusammenhängen, die Standortbestimmungen befürworten. Der Standort in dem einen (Musikgeschichtsschreibung) wie anderen Falle (Quellenrecherche etc.) legt die Perspektive fest, qualifiziert schon im Vorfeld, ohne dass auch nur ein einzige Note gesichtet und bewertet wäre, und manifestiert Vor-Urteile. Der Standort reduziert unüberschaubare Möglichkeiten, macht Komplexität handhabbar, baut neue im Zuge des Umgangs mit Komplexität auf, und es entsteht (eine) Musikgeschichte. Und jene, die Musikgeschichte aufschreiben, sind weniger Wissenschaftler denn Geschichtenerzähler. Bei jedwedem vertretbaren Urteile, wie immer auch nachvollziehbar es sich darstellt, gilt es doch anzuerkennen, dass es auch jederzeit ganz anders hätte ausfallen können und auch wird, denn »[d]er Historiker gehört selbst zu der Geschichte, mit der er sich beschäftigt.«508 So gilt es auch stets mit dem eigenen Reflexionsgrund sich zu befassen und ihn so gut als möglich offenzulegen. Das mannigfaltige Bündel an Beschreibungen liefert folglich mögliche Erklärungen, Plausibilitäten für eine erklingende Musik, aber keine objektiven Belege, gar Beweise für ein Dasein im So-und-nicht-anders. Im Gegenteil: Es stellt vielmehr infrage ihr Sosein, öffnet Horizonte (anstatt sie zu verschließen) für ein mögliches Anderssein. Es öffnet sich der Ort der bloßen Meinungswelten, die nicht gegeneinander aufgerechnet und zu einer Meinung hin aufgelöst werden können. Was man gewinnt, sind inspirierende Geschichten zur musikalischen Vergangenheit wie Gegenwart ohne Wahrheitsbehauptung. Es drückt sich in ihnen aus eine »kulturelle Schöpfung«, aber keineswegs eine »ontologische Dignität«.509 Die flüchtige Kunst der Musik wird nicht stillgestellt, sondern bleibt ein bewegliches Medium, offen für immer neue analyseträchtige Geschichten. Dieser Mangel an Wahrhaftigkeit ist nicht zu beklagen, sondern gerade in ihnen drückt sich das Maß der Redlichkeit aus: Wäre der Schaffensprozess nur um ein Weniges verschoben gewesen vielleicht nur um ein paar Stunden, wäre nicht eine graduell oder auch ganz andere Musik entstanden? Auf einmal erscheint die Frage nach dem Notwendigen fragwürdig bis hinfällig und unter verkehrten Vorzeichen: Die Einheit der Differenz von notwendig/kontin506 507 508 509
Ebd., S. 64f. Ebd., S. 64. Ebd., S. 67. Burger, Rudolf: Im Namen der Geschichte, a. a. O., S. 118.
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gent verkehrt sich zur Einheit der Differenz von kontingent/notwendig. Auf einmal gilt es Wahrscheinlichkeiten an anderen Orten auszuloten. So werden Gestaltwahrnehmungen geschult, indem das so entscheidende und sonst so vernachlässigte Hintergrundrauschen vernommen wird. Von »Offenohrigkeit« zu reden, erweist sich hier als plausibel. Nur in einem Zurück zu alten Zeiten, als die Welt der Zeichen noch übersichtlich und der Präskription gewogen war, ist der romantische Traum vom nach Autonomie strebenden Werke noch zu träumen. Wenn es aber so ist, dass Musik immer auch im gewissen Grad Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse ist und man anstatt des Zeitlichen, Universalen der Kunst das ihr ureigene vergangene Zeitfenster anerkennt und so Erdung gibt, dann ist die Musik, die sich Dahlhaus und seine Verfechter erträumen, auch nur unter Bedingungen früherer Zeitumstände zu haben. Ein kurzer Blick zurück auf vergangene Gesellschaftsverhältnisse sollte vor diesem Alptraum, der den Traum vom rechten, richtigen Werke begleitet, zurückweichen lassen. Die Schriftverwirrung heute ist so auch das Spiegelbild gegenwärtiger Zeitumstände: Und die sind – bei aller Kritik, die auch die heutigen Zeitumstände fraglos verdienen – bunt, von Vielfalt geprägt, dem individuellen Sein gewogen, vom freiheitlichen Denken geprägt, dabei stets überraschende Wendungen eingehend, unauslotbar. Diese Schriftverwirrung ist so zu begrüßen, wie auch die digitale Welt, die nachgerade die künstlerischen Möglichkeiten nochmals erweitert und die symbolische Schrift als Träger musikalischer Information abzulösen beginnt oder schon ersetzt hat. Ein weiterer Kreativitätsschub. Das stellt sicher auch die eigene Kunst des Beobachtens und das eigene Wissen infrage und verunsichert zudem, denn für die kunstvollen Ausprägungen der eigenen Zeit fehlen einem die Mittel, das Wissen und sodann die Worte. Die geordnete Welt der Kunst ist in sich zusammengefallen, eine neue Ordnung noch nicht oder überhaupt nicht mehr in Sicht. Das alles nötigt aber zum Neuund Weiterlernen. Auch der Glaube ist bei diesem Lernprozess zurückzustellen. Das ist fraglos mitunter unbequem, denn jedes Lernen macht Mühe, zu bequem ist die erworbene Basis, von der man schöpft. So bleiben manche den Geschichten, die sie kennen, unverändert treu, und es bleibt der Traum vom Sosein einer Kunst virulent erhalten und als Fortsetzungsgeschichte mit einem allerdings immer kleiner werdenden Publikum erhalten. Der Traum vom geglückten Werk war schon zurzeit von Carl Dahlhaus schriftgewordener Gedanken ausgeträumt. Schon dieser Traum trug im geheimen Untergrund das Präfix »Alp« vor sich her, indem er jegliche Meinungsvielfalt exkommunizierte und anderen Ansätzen ein Denkverbot aussprach. Man hatte einen Scheinriesen geschaffen, der heute, je näher man ihn redlich beleuchtet hat und so ihm nahegekommen ist, auf Normalmaß schrumpfte. Durch die Verabschiedung der Setzung von Ur-Formen, ontologischen Grund-
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annahmen oder vom Wesen einer Kunst mit wahrsprechenden Urteilen verlieren nicht nur sicher gewähnte Normen, sondern auch deren Vertreter ihren Platz auf der hohen Warte. Sie erhalten wieder Bodenhaftung. Sicher : Träumen ist trotzdem und immer erlaubt, solange man den eigenen Traum nicht zum Imperativ für andere erhebt. Es gibt keinen irgendwie gearteten Maßstab (sozusagen eine musikalische ›Weltformel‹) für »geglückte« oder qualitativ hochstehende Musik, der sich musiktheoretisch begründen ließe, so schöne oder auch deutliche Worte man auch dafür finden mag. Einen solchen doch zu proklamieren hieße, die Komplexität der Musik auf zu einfache Gründe zurückzuführen und damit der Kunst das Ende zu bereiten. Und wer will das schon? Diese einst so schön erfundene Geschichte hat zur Basis nur blühenden Unsinn. Was bleibt vom Wortlaut der Schrift? Nicht auf der zweidimensionalen Fläche der Partituren – von links nach rechts gelesen – offenbart sich der Wortlaut der Schrift, sondern die Schrift ist geschrieben in 3D, wobei ergänzend die Dimension der Zeit noch mitgelesen werden muss. Das macht die Angelegenheit schwierig, auch unbequem, mitunter ist die Schrift kaum zu entziffern, wenn nicht mal die Leserichtung korrekt bestimmt werden kann. Aus der Not entspringt aber die Lust zum Abenteuer, denn es steht an ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Lesereise, deren Ziel man nicht kennen kann. Nur den Aufbruch muss man wagen!
Die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geist der Romantik »Immerhin läßt sich eine starke und wertvolle absol. Musik denken, die […] einzig vom kosmischen Urstrom der Tonkunst selber lebt.«510
Eine Zustandsbeschreibung: Das 19. Jahrhundert ist für Deutschland ein bewegtes Jahrhundert. Die Erschütterungen der Französischen Revolution strahlen immer noch weit über die Landesgrenzen hinaus aus und zeigen ihre Wirkungen auch in den deutschen Kleinstaaten. Zugleich ist mit Napoleon ein Herrscher mit Großmachtansprüchen auf die politische Bühne getreten, der nach großen Erfolgen oder Eroberungszügen zu Beginn sowie dem daran gekoppelten Elend zuletzt die finale Niederlage erleidet. Zurück bleibt ein unruhiges politisches Klima in Europa. Die Friedensverhandlungen auf dem Wiener Kongress von 1814/15, die das Ende von Napoleons Herrschaft auch vertraglich besiegeln, zielen ab auf die Restauration vorrevolutionärer Verhältnisse. Die alte Ordnung mit dem Führungsanspruch des Adels soll wieder installiert werden. Das drückt sich in der Sentenz aus Vorwärts, es geht zurück als auch in der von Der Kongress tanzt, aber es geht nicht vorwärts. Als Ergebnis der Restaurationsbemühungen formiert sich in Deutschland u. a. der Deutsche Bund. Von der politischen Entwicklung des Stillstandes und Rückschrittes sehen sich viele Bürger enttäuscht und ziehen sich zurück in die Idylle des Privatraums als auch in die Welt der Fantasie. Zugleich bleibt es eine unruhige Zeit des Umbruchs, ausgehend von einem wachsenden Standesbewusstsein jenseits des Adels, das von einer politischen Neuorientierung getragen ist und Gegenreaktionen vom politischen Establishment hervorruft. In das 19. Jahrhundert fällt die verunglückte März-Revolution im Jahre 1848 und nach dem erfolgreichen Krieg 1871 gegen Frankreich der Zusammenschluss der deutschen Vielstaaterei zum Deutschen Reich. Wissenschaftlich ist das Jahrhundert vom Positivismus und vom Fortschrittsdenken geprägt. An die Stelle der metaphysischen Spekulationen tritt die empirisch erfahrbare Wirklichkeit. Andere Ideenrichtungen beziehen sich gleichsam auf das Gegebene: der »Materialismus«, der der Materie Vorrang vor dem Geist einräumt, der »Utilarismus«, der das Glück der meisten und die Nützlichkeit in den Vordergrund stellt, der »Pragmatismus«, der die Wahrheit 510 Moser, Hans Joachim: Musiklexikon, A–L, Bd. 1, Hamburg (Sikorski) 41955, S. 4.
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im Erfolg sucht. Max Weber hat 1917 diesen Prozess der Verwissenschaftlichung, der mit Descartes begonnen hat, die »Entzauberung der Welt« genannt. Im Zuge der Erfolge des Vernunftdenkens und jener Entzauberung ist eine fortschreitende Säkularisierung zu beobachten. Die Aufklärung und der Vernunftglaube stellen den Absolutismus und eine Regentschaft »von Gottes Gnaden« schon im 18. Jahrhundert in Zweifel. Die glaubensträchtige Institution Kirche fühlt sich der weltlichen Macht stets mehr verbunden denn dem einfachen Gläubigen selbst, sodass der Umbruch dieser hierarchisch gegliederten Ordnung im breiten Maßstab erst mit der Französischen Revolution 1789 markiert ist. Zuvor setzt die Kirche alles daran, dass alles so bleibt, wie es ist. Die Proklamation der Menschenrechte im Gefolge der Französischen Revolution mit ihrer Feststellung der Gleichheit aller Menschen wird vom Papst Pius VI 1791 im Breve »Quod aliquantum« diskriminiert als »verabscheuungswürdige Philosophie der Menschenrechte«511 und mit Blick auf die göttliche Offenbarung zurückgewiesen. »Kann man etwas Unsinnigeres denken, als eine derartige Gleichheit und Freiheit für alle zu dekretieren?«, formuliert Papst Pius VI. in eben jener Schrift weiter.512 Armut ist bis dahin in der Gesellschaft ein fester Bestandteil, denn das solche Ungleichheit festschreibende System ist in der christlichen Vorstellungswelt nicht nur gottgewollt, sondern die Menschen haben vor dem 19. Jahrhundert »nie daran gezweifelt, das Armut ein Teil der natürlichen und gottgewollten Ordnung sei.«513 Mit diesen Vorstellungen von Gott gewollt wird das Ungleichheit und Not wie Leid produzierende System für sakrosankt erklärt und werden gesellschaftliche Schieflagen legitimiert. So gilt es zwar, Not zu lindern, aber nicht, diese zu beseitigen. Die Vernunft, die Aufklärung sowie die Französische Revolution räumen mit diesen gottgewollten Zuständen ziemlich gründlich auf und setzen irdische Maßstäbe an deren Stelle. Von Frankreich nehmen jene Impulse ihren Lauf über die französischen Grenzen hinaus. Die Kirche sieht sich so im 19. Jahrhundert zunehmend ihrer Vormachtstellung beraubt und sucht mit dem 1. Vatikanischen Konzil zu retten, was für sie noch zu retten ist, und betreibt doch nur Rückzugsgefechte. Friedrich Nietzsche findet für die umgreifenden Veränderungen die Formulierung der »Umwertung der Werte« und spricht von der »Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung.«514 Gott ist eine Erfindung des
511 Zit. n. Küng, Hans: Ist die Kirche noch zu retten? München/Zürich (Piper) 2011, S. 131. 512 Zit. n. Kühner, Hans: Das Imperium der Päpste. Kirchengeschichte. Weltgeschichte. Zeitgeschichte. Von Petrus bis Johannes Paul II. ebook (Fischer) 2015, Pos. 6147. 513 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt, a. a. O., S. 322. 514 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, hg. von Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino. München/Berlin/N.Y. (dtv/de Gruyter) 1999, S. 126.
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Menschen, »sie haben sich ihren Gott und ihre Welt aus Nichts geschaffen.«515 Gott und die Religion sind als geschichtliche Erscheinungen zu begreifen, die eine gesellschaftliche Funktion erfüllten und nunmehr überflüssig sind. »Gott ist todt«.516 Wo sich alle vermuteten fixen Orientierungspunkte verlieren, bleibt zuletzt nichts. Mit Nietzsche: »[W]as bedeutet Nihilism? daß die obersten Werthe sich entwerten.« Und er stellt voran die Antwort gleich mit: »[E]s fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ›Warum‹?«517 So beschreibt Nietzsche einerseits den Niedergang der alten Welt sowie das Aufscheinen einer Neuen. Wirtschaftlich nimmt Deutschland einen raschen Aufschwung. Binnen kurzer Zeit vollzieht Deutschland den Wandel von einer noch weitgehend agrarischen Gesellschaft zu einer der führenden Industrienationen in der Welt. Damit verbunden sind ein Aufblühen, aber auch ein zügelloses Expandieren der Großstädte mit Herausbilden von Elendsvierteln und weitergehender Verarmung breiter, ohnehin nicht begüterter Bevölkerungsschichten (Stichwort Pauperismus), Folge auch von explodierendem Bevölkerungswachstum und Herausbildung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Als weitere Bezugsgrößen sind Charles Darwin (1809–1882) und seine Abstammungslehre sowie für das frühe 20. Jahrhundert Sigmund Freuds (1856– 1939) Psychoanalyse zu nennen, die ebenfalls das Bild vom Menschen verändern und dem Selbstbild jene vielfach zitierten und berühmten »Kränkungen« zufügen. Der menschliche Narzissmus hat mit Freud – beginnend bei Kopernikus und dessen Erkenntnis, dass der Mensch nicht im Zentrum des Universums steht, über Darwin, der den Glauben an eine göttliche Abkunft durch das Herleiten etwas profanerer Familienverhältnisse doch tief erschütterte, bis hin zu Freud selbst, der dokumentierte, dass das Ich nicht Souverän seiner eigenen Entscheidungen ist – »drei schwere Kränkungen« (Freud) erfahren. Der Mensch erscheint nunmehr von den äußeren Umständen determiniert, und das menschliche Bewusstsein ist nicht mehr – eine weitere Erkenntnis – Herr in seinem eigenen Hause, wo vielmehr das Unterbewusstsein die Mitregentschaft reklamiert. Der Mensch erscheint seiner metaphysischen Gewissheiten und Haltepunkte mehr und mehr entzogen: Wie sagte schon einige Jahre zuvor Nietzsche: »Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts?«518 515 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA 11, hg. von Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino. München/Berlin/N.Y. (dtv/de Gruyter) 1999, S. 335. 516 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, hg. von Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino. München/Berlin/N.Y. (dtv/de Gruyter) 1999, S. 467. 517 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, a. a. O., S. 350. 518 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, KSA 5, hg. von Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino. München/Berlin/N.Y. (dtv/de Gruyter) 1999, S. 404.
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Trotz aller Restaurationsbemühungen von Politik und Religion in jenem Jahrhundert erfährt so die Gesellschaft doch eine sukzessive wie tiefgreifende Veränderung von einer – wie es Niklas Luhmann nennt – stratifikatorisch gegliederten Gesellschaft hin zu einer funktional gegliederten Gesellschaft. Stratifikatorisch erscheint die Gesellschaft hierarchisch gegliedert. Funktional differenziert zerfällt die Hierarchie in gleichberechtigte Funktionssysteme wie Wirtschafts-, Wissenschafts-, Rechts-, Religions-, Kunst-, Politik-, oder Erziehungssystem, von denen keines dem anderen vorsteht. Was aus einem System heraus formuliert wird, ist nicht mehr als umfassende gesellschaftliche Richtlinie für alle weiteren Systeme zu verstehen.519 Diese Wandlung hin zu einer funktional differenzierten Gesellschaft ist als Prozess zu verstehen, nicht als plötzliche Umschlagsänderung. Eine Folge der Veränderungen: Nicht mehr durch Geburt soll der Lebensweg vorgezeichnet sein, sondern durch individuelle Leistung sollen Ämter, Funktionen und Positionen besetzt werden. Schon im 18. Jahrhundert der Aufklärung, aber verstärkt im 19. Jahrhundert wird so gesellschaftlich »von Herkunft auf Zukunft« umgestellt, wie dies Niklas Luhmann für die Pädagogik herleitet.520 Mit dem allmählichen Wegbrechen alter Stabilitäten und Verbindlichkeiten wird die Zukunft ein zunehmend unsicherer Kontinent. Das Umstellen von Herkunft auf Zukunft bewegt so auch die Bildungsbemühungen von Wilhelm von Humboldt mit seiner Vorstellung einer zweckfreien Bildung, die sich vorzugsweise an den alten Griechen orientieren soll, an deren Kunst und insbesondere an der Sprache. Das 19. Jahrhundert ist zusammenfassend so eines, das aufklärerische Vernunft, die harten Faktenwissenschaften, in der die Gesetze der Natur ihres Zaubers entkleidet werden, nach vorne spült. Wie immer man dieses Jahrhundert mit seinen Umwälzungen, stampfenden Maschinen und Kriegen schlussendlich auch charakterisieren möchte, es ist – das sollen die Ausführungen bis hierhin deutlich gemacht haben – eines nicht: ein Jahrhundert der Romantik. Dieses romantisch geprägte Jahrhundert gab es im Grunde nie. Das gilt es zu betonen, denn in vielen Schriften klingt es so an, als wäre die Romantik ein das 19. Jahrhundert breit durchdringendes Phänomen gewesen. Die Romantik spielt sich nur im ganz kleinen Kreise ab. Dieser kleine wie einflussreiche Kreis erträumt sich jene andere Seite, ausgehend vom Ende des 519 Ein Beispiel: Wenn die Kirche z. B. wie im 1. Vatikanischen Konzil per Abstimmung der Kirchenvertreter den Papst in bestimmten Fragen für unfehlbar erklärt, so spielt das keine verbindliche Rolle für die Wirtschaft, Politik oder die Erziehung. Eine Jungfrauengeburt, päpstlich verkündet, kümmert die Naturwissenschaft wenig. Sie befragt weiterhin lieber die Biologie und kommt zu anderen Schlüssen. 520 Luhmann, Niklas: Das Kind als Medium der Erziehung. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2006, S. 10.
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18. Jahrhunderts, einen Zauber und findet diesen vorzugsweise in früheren idealtypischen Zeiten oder fernen zukünftigen, wo der Idealzustand einst wiederhergestellt wird. Während die Gesellschaft vehementen Veränderungen unterliegt, beginnt demnach eine kleine Bevölkerungsschicht zu träumen und legt ihren Traum in Schriften nieder.
Die Verzauberung der Fachdisziplin/. In diese Zeit des Wandels und der widerstreitenden Positionen im 19. Jahrhundert fällt auch die Inauguration einer neuen Disziplin an der Universität: Die Fachdisziplin Musik wird in den Fächerkanon der Universitäten aufgenommen. Einerseits sich als Wissenschaft verstehend und damit dem einen Pol sich zuordnend, steht sie andererseits jenem anderen von schönen Zeiten träumenden Pol nicht fern. Diesem inneren Widerstreit erscheint die Fachdisziplin Musik ausgesetzt, was auch das Forschen und Schreiben über Musik nicht unwesentlich affiziert. Einerseits wollen Gesetze der Musik erforscht werden, andererseits scheinen diese zu Himmelspforten öffnenden Sehnsuchtsorten zu führen und dort sich zu erfüllen. Mit einher geht damit eine ästhetische Aufwertung der Musik, und eine ganze Musikgeschichtsschreibung rankt sich um sie herum. Dass die Fachdisziplin Musik erst so spät sich etabliert und institutionalisiert wird, mag erstaunen, denn über Musik geschrieben wird schon in der Antike, zu denken sei nur an die septem artes und die Stellung der Musik, die sie dort und späterhin noch hatte. Auch die späteren Jahrhunderte nehmen die Musik immer wieder zum Gegenstand der Reflexion. Gleichwohl warnen Helmut Rösing und Peter Petersen davor, solche Schreibarbeiten, so interessant und mitunter auch weiterführend sie sein mögen, mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung gleichzusetzen: »Gelegentlich wird behauptet, die Musikwissenschaft sei 3000 Jahre alt. Dahinter steht der Gedanke an die Musik der alten Griechen. […] Dennoch läßt sich weder in der Antike noch im Mittelalter ernstlich von Musikwissenschaft reden. Nicht jede Anhäufung von Wissen ist Wissenschaft. Pythagoras’ Spekulationen über die ›Sphärenharmonie‹ (Entsprechung von kosmischer und musikalischer Ordnung), die auch im Mittelalter fortlebten (›Musica Mundana‹), tragen deutliche Spuren eines philosophisch-mystischen Weltbildes.«521 Ganz ähnlich formuliert das Richard Klein, wenn er schreibt: »Auch die geläufige Redensart, Musikwissenschaft sei die älteste aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen, weil doch schon Platon und Pythagoras über Musik spekuliert haben, war nie mehr als der Alltagsmythos einer historischen Philologie des 19. Jahrhunderts, die sich eine Vergangenheit gibt, aus der sie stammen möchte.«522 521 Rösing, Helmut/Petersen, Peter : Orientierung Musikwissenschaft, a. a. O., S. 96. 522 Klein, Richard: Musikphilosophie zur Einführung. Hamburg (Junius) 2014, S. 9f.
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Und doch wird immer wieder an dieses mystische Erbe angeschlossen und eine zusammenhängende Geschichte formuliert, die dann suggeriert, die Wissenschaft von der Musik würde bruchlos vorangeschritten sein.523 An der Universität im deutschsprachigen Raum etabliert sich die Auseinandersetzung mit Musik so erst im 19. Jahrhundert, als zunächst Adolph Bernhard Marx 1830 Musikprofessor an der Friedrich-Wilhelms Universität in Berlin wird und Eduard Hanslick auf den Lehrstuhl für Musikwissenschaft im Jahre 1861 in Wien berufen wird. Die Ursprünge der Fachdisziplin Musik liegen somit in einem Jahrhundert, das vom Träumen auf Wissen umgestellt hat, während in der Fachdisziplin Musik vom Traume aus zum Wissen voranzuschreiten gesucht wird, denn sie findet ihre Paten und Vorbilder weniger in den Schriften der Wissenschaft denn mehr in den Schriften der Romantik, die sich auch und gerade um die Musik kümmern. Dieser – man möchte sagen – Geburtsfehler begleitet die Fachdisziplin bis in die Gegenwart hinein. Erinnert werden soll an die Schwärmereien von Tieck, Wackenroder oder E.T.A. Hoffmann zur Musik. Die Tonkunst beschreibt Ludwig Tieck in den Phantasien über Kunst als »geoffenbarte Religion«524, die in der Instrumentalmusik ihre wunderbarste Verwirklichung findet. Die Vokalmusik muss gegenüber der Instrumentalmusik zurückstehen. Die Vokalmusik »scheint mir aber bei allem diesem immer nur eine bedingte Kunst zu sein; sie ist und bleibt erhöhte Deklamation und Rede, jede menschliche Sprache, jeder Ausdruck der Empfindung sollte Musik in einem mindern Grade sein. In der Instrumentalmusik aber ist die Kunst unabhängig und frei, sie schreibt sich nur selbst ihre Gesetze vor, sie phantasiert spielend und ohne Zweck, und doch erfüllt und erreicht sie den höchsten, sie folgt ganz ihren dunkeln Trieben, und drückt das Tiefste, das Wunderbarste mit ihren Tändeleien aus.«525
Wilhelm Heinrich Wackenroder steht Ludwig Tieck, der die Musik ins Religiöse umdeutet, in seinem Wunder der Tonkunst in nichts nach: »[I]ch möchte glauben, daß die unsichtbare Harfe Gottes zu unsern Tönen mitklingt, und dem menschlichen Zahlengewebe die himmlische Kraft verleiht«.526 Die Sprache der Musik sei eine überirdische, die er als »Sprache der Engel halten möchte«.527 Die Musik spreche »in einer fremden, unübersetzbaren Sprache«.528 Und die
523 Vgl. Konrad, Ulrich: ars – Musica – scientia, a. a. O. 524 Tieck, Ludwig: Symphonien. In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich/Tieck, Ludwig: Phantasien über die Kunst. Stuttgart (Reclam) 2005, S. 107. 525 Ebd., S. 110. 526 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Die Wunder der Tonkunst. In: ders./Tieck, Ludwig: Phantasien über die Kunst. Stuttgart (Reclam) 2005, S. 66. 527 Ebd., S 67. 528 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Von den verschiedenen Gattungen in jeder Kunst und
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Flüchtigkeit, von der die Musik ausgezeichnet ist, ist für ihn Zeugnis eines himmlischen Ursprungs: »[K]eine andre Kunst [hat] einen Grundstoff, der schon an sich mit so himmlischem Geiste geschwängert wäre, als die Musik.«529 Auch Beethoven findet religiös motivierte Zeilen zur Musik, wenn er schreibt: »Musik [ist] der einzige unverkörperte Eingang in eine höhere Welt des Wissens […], die wohl den Menschen umfaßt, daß er aber nicht sie zu fassen vermag.«530 Von E.T.A. Hoffmann wiederum stammt die oft zitierte Sentenz, die Musik sei »die romantischste aller Künste«, »nur das Unendliche ist ihr Vorwurf.«531 Was Hoffmann & Co schreiben, bewegt sich im Feld der Literatur, die im reflexiven Schreiben über Musik der romantischen Idee Schlegels einer progressiven Universalpoesie genügen wollte. So erscheint im 19. Jahrhundert Kunstkritik als »Reflexionsmedium«, das Teil des Kunstsystems ist, und in der Kunstkritik wird »geradezu das Bemühen um Vollendung des vom Künstler vorgegebenen Werkes«532 gesehen. So inspirierend die Schriften der Romantik für die Musikschaffenden sind, so inspirierend sind sie eben auch und leider für die neue universitäre Fachdisziplin. Der Traum wird konstitutiv für das Schreiben über Musik, und die blaue Blume der Nährboden, von dem aus die Geschichtsschreibung in der Fachdisziplin über Musik erblüht. Diese Schreibarbeit steht der Kunst oder Literatur näher als jeglicher Wissenschaft, wenn Transzendenzverweise getätigt werden, ein ungebremster Heroismus sich Bahn bricht, eine absolute Musik proklamiert wird und Autonomiebestrebungen befördert werden. Die aus Schriften geborene sowie in Schriften sich ausformulierende Romantik spannt »einen Kontext« auf, »innerhalb dessen andere Texte als kontextsensitiv erscheinen«533, schreibt so Peter Fuchs. Auch die Schriften der Fachdisziplin Musik zeigen sich von der Romantik kontaminiert und tragen die Romantik in sich. Die sich in der Zeit ausbildende Fachdisziplin folgt so nicht von ungefähr ihren literarischen Vorbildern.
529 530 531 532 533
insbesondere von verschiedenen Arten der Kirchenmusik. In: ders./Tieck, Ludwig: Phantasien über die Kunst. Stuttgart (Reclam) 2005, S. 72. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik. In: ders./Tieck, Ludwig: Phantasien über die Kunst. Stuttgart (Reclam) 2005, S. 79. Beethoven, zit. n. Arnim, Bettina von: Werke und Briefe, Bd. 2, hg. von Gustav Konrad. Frechen/Köln (Bartmann) 1959, S. 248. Hoffmann, E.T.A.: Beethovens Instrumentalmusik. In: Ders.: Fantasiestücke in Callots Manier. Frankfurt/M. (Insel) 1990, S. 53. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1995, S. 270. Fuchs, Peter : Moderne Kommunikation. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1993, S. 81.
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Paradigmatisch: Publikationen von »Herzensergießungen« als Wissenschaft getarnt/. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen: So wählt Adolph Bernhard Marx in seinem 1867 posthum erschienenen Buch Das Ideal und die Gegenwart Worte, die sich eher literarisch bzw. märchenhaft oder tief romantisch verklärt ausnehmen denn wissenschaftlich streng: »Das inwendig wallende und waltende und fortwirkende Leben, das im getreuen Wiederhall uns zu offenbaren, – vielmehr die Räthselwelt des verhüllten Innern in Räthselsprache uns geheimnisvoll zu deuten: das ist die Bestimmung der Musik, – Räthsel sie selber, Räthselsprache für die ewigen Geheimnisse der Menschenbrust. […] Dennoch war es nicht den Alten beschieden […], die Kunst des Innern zur Vollendung zu führen. […] Erst das Christentum, dem innerlichen Leben zugewendet, den Blick auf das Ueberirdische, Körperlose geheftet, seinem ganzen Wesen nach Mysterium, gleichsam die Geburtsstätte des in sich zur Selbsterkennung gewendeten Seelenlebens und die Zufluchtsstätte für die nach ihrem Ursprung hinverlangende Seele, erst das Christentum konnte diese Kunst, das seligspielende Abbild seiner selbst, zur Vollendung und Herrschaft bringen. […] Sehr spät erst ist diese jüngste der Künste zu ihrer Vollendung gelangt; Sebastian Bach und Händel, die Söhne des vorigen Jahrhunderts, bezeichnen die ersten Fußstapfen auf der Höhe.«534
Mit einem Umfang von beinahe 300 Seiten verliert sich das Buch in Beschreibungen, die idealistischer vollmundiger Schwärmerei dieser oder ähnlicher Art sich hingeben. Wo die Musikwissenschaft beginnt und märchenhaftes Schreiben über Musik ihr Ende findet, ist dabei nicht so leicht wenn überhaupt auszumachen. Die Fachdisziplin Musik bietet in ihrem Anbeginn und über weite Jahrzehnte hinweg eher eine Gemengelage aus kritischer Reflexion und überbordender Fantasie. Man denke auch an Guido Adler (1855–1941), der mit seiner im Grunde bis heute geltenden Systematisierung der Disziplin seinen Stempel aufdrückt und seinen unverrückbaren Platz in der Historie der Fachdisziplin hat. In dem von ihm herausgegebenen Handbuch der Musikgeschichte aus dem Jahre 1930 (1924) schreibt er über die Wiener Klassik: »Die Wiener klassische Schule ist von allen Kulturnationen in der ganzen musikalischen Welt als Inbegriff tonkünstlerischer Vollendung anerkannt; […]. Ihre Wirkung erstreckt sich bis auf den heutigen Tag und wird, solange unser Tonsystem verständlich ist, diese ihre Allgemeingeltung behaupten. Die Gründe liegen in ihrer Entstehung, Entfaltung, ihrem Aufbau, ihrer Kraft, ihrer edlen Einfalt und beredten Größe (während Winkelmann bei der antiken Klassik von ›edler Einfalt und stiller Größe‹ spricht), der 534 Marx, Adolph Bernhard: Das Ideal und die Gegenwart. Jena (Hermann Gothenoble) 1867, S. 231f.
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Kongruenz von Form und Inhalt, ihrer Wahrheit und Ausdruckstiefe, vornehmen, fast schlichten Haltung, ihrer Sättigung an Schönheit und Vollkommenheit«.535
In über weitere Zeilen hinweg sich ähnlich fortsetzenden Ausführungen wird einer Herzensangelegenheit schwärmerischer Ausdruck verliehen. Der Anspruch auf Wissenschaft kann da kaum rechtschaffend eingelöst werden, wo die »Werke großer Meister« bzw. die »Gesamtausgaben von Werken der Tonheroen«536, wie er Komponisten in seinen persönlichen Lebenserinnerungen nennt, editiert und nachgerade qualifiziert werden sollen. Dieser Größe von Heroen hat die Wissenschaft sich zu beugen. Was soll man sodann von Schriften wie dieser halten, die sich auf Winckelmanns Formulierung von ›edler Einfalt und stiller Größe‹ beziehen, wo man zu Lebzeiten Guido Adlers schon seit mehr als 100 Jahren wusste, dass die Beobachtungen Winckelmanns, auf denen die Formel gründete, falsch waren, was auch die ›edle Einfalt und stille Größe‹ entwertete und zur untauglichen Referenzformel zur Qualifizierung von Kunst machte?537 Der Mangel an Wissenschaftlichkeit ist solcher Schreibarbeit konstitutiv. Selbst spätere sachliche Ausführungen in dem Handbuch der Musikgeschichte können von den vorangestellten Schwärmereien und unvertretbaren Bezugsgrößen gar nicht mehr losgelöst betrachtet werden, sind infolge des spezifischen Codes mehr Folge jener. »Wie in der Musik Kunst und Wissenschaft eng verbunden sind, so stehen Künstler und Forscher in untrennbarer Verbundenheit oder sollten es sein«,538 schreibt Guido Adler und ebnet die Unterschiede schreibend ein, was Wissenschaft ist und was Kunst. Auch in späteren Jahrzehnten finden namhafte Vertreter der Fachdisziplin Worte für Komponisten und deren Leistungen, die weniger dem kommunikativen Gestus der Wissenschaft folgen, denn mehr der eigenen Euphorie und Bewunderung erliegen: 1926 schreibt Fritz Volbach (1861–1940), der der erste Direktor des 1927 offiziell gegründeten musikwissenschaftlichen Seminars an der Universität Münster wird, im Handbuch der Musikwissenschaften über Beethoven: »Mit Titanenkraft reißt er [Beethoven; Anm. N.S.], wie Prometheus, an den Fesseln, die ihn an die Erde ketten; und immer von neuem wagt er den Kampf, der ihn über sich selbst emporheben soll, dem Göttlichen zu, um in ihm mit dem höchsten Schönen zugleich das höchste Gute zu umfangen«.539 535 Adler, Guido: Die Wiener klassische Schule. In: ders. (Hg.): Handbuch der Musikgeschichte, Bd. 3. München (dtv) 31980, S. 768. 536 Adler, Guido: Wollen und Wirken. Aus dem Leben eines Musikhistorikers. Hamburg (Severus) 2012, S. 47 (Nachdruck der Originalausgabe aus dem Jahre 1923). 537 Vgl. S. 69–75. 538 Ebd., S. 95. 539 Volbach, Fritz: Handbuch der Musikwissenschaften. Bd. 1, a. a. O., S. 100.
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Es gilt auch hier zu betonen, dass in solcher Schreibpraxis Wissenschaft sich abbilden soll! Und Beethoven hätte ihm vielleicht sogar zugestimmt zu solcher Schreibpraxis, glaubte er doch von sich zu wissen, »daß Gott mir näher ist wie den andern in meiner Kunst«.540 Künstler können gleichwohl glauben, was sie wollen, nur wo die Wissenschaft sich meldet, sollte der Glauben nachvollziehbaren Gründen weichen. Solche Schreibpraxis kann nur deshalb als Wissenschaft gedacht werden, weil das kommunikative Klima im einflussreichen Kreise solches begünstigte und in der Folge auch weiter begünstigt. 1934 liefert Arnold Schering (1877–1941) mit seiner poetisierenden Beethoven-Deutung wahrhaft Anschauliches dazu und fantastische Erklärungen zu Beethovens Musik, beseelt vom erfindungsreichen Schreibenden. Da ist von Müttern die Rede, die ihre Kinder schützen wollen, von ächzenden Unterdrückten, die sich gegen Tyrannen stemmen, wie Fäuste geschüttelt werden, Henkersknechte heraneilen und von vielem mehr. Und all dies glaubt Schering in der Musik von Beethoven Note für Note nachweisen zu können bis hin zu einer 1:1-Entsprechung zwischen Musik und (an dieser Stelle) Gedichten von Schiller.541 Bildhaft gesprochen sieht Schering Beethoven mit dem Finger auf der Zeile die Schiller’schen Gedichte entlanggleiten, während er mit der anderen Hand den jeweiligen Zeilenstand in Noten »übersetzt«. Was immer auch Beethoven beim Schreiben seiner Musik empfunden haben mag, entzieht dem Autor solcher Zeilen sich grundsätzlich und wird doch bis ins Detail unter dem Label von Wissenschaft einem Publikum als solche offeriert. Zum Ende solcher Deutungsarbeit fragt Schering nach der Richtigkeit derselben und verwirft – wie vorab in einem anderen Zusammenhang schon einmal zitiert – dies als »ungerechtfertigte Zumutung«.542 Seine Beweisführung könne nur indirekt verfahren und geleitet wäre sie vom »innere[n] Verstehen, das gleicherweise geistiger wie seelischer Natur ist.«543 Von einem wissenschaftlichen Gestus ist solche Schreibarbeit ganz offenkundig nicht begleitet, wo seelisches Verstehen zum Gradmesser von Wissenschaft erhoben wird. Hier waltet allein der fantasiegesättigte Glaube, von dem die Fabulierkunst getrieben wird. Auf ganz ähnliche Weise beleuchtet Schering weitere Werke Beethovens in seinem Buch Beethoven in neuer Deutung. Er wähnt sich, wie er sagt, den exakten »Schlüssel« zu einigen Werken Beethovens gefunden zu haben, und schreibt dazu: »Die von mir an drei Symphonien erprobte Methode, die musikalische Gestalt der Werke zu einem in ihr real gewordenen bestimmten Programm in Beziehung zu setzen, 540 Beethoven, zit. n. Arnim, Bettina von: Werke und Briefe, Bd. 2, a. a. O., S. 246. 541 Vgl. Schering, Arnold: Zur Sinndeutung der 4. und 5. Symphonie, a. a. O., S. 77f. Vgl. auch in diesem Buch das Kapitel Die Komplexitätslüge, hier S. 159–194. 542 Ebd., S. 82. 543 Ebd.
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habe ich nunmehr bei der Untersuchung mehrerer Streichquartette und Klaviersonaten erneut angewandt und bin zu den in diesen Blättern mitgeteilten überraschenden Ergebnissen gekommen. Ich übergebe sie der Öffentlichkeit im Bewußtsein des Gelingens einer Entdeckung, die nicht ohne erhebliche Folgen auf unsere Stellung zu Beethovens Künstlertum und Geistigkeit sein wird.«544
Er setzt Beethovens Werke nunmehr mit Werken von Shakespeare und Schiller in Beziehung und sucht 1:1-Analogien. Er betont auch hier die angebliche Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens. Die mit Wissenschaft verwechselte Fantasiereise zeigt sich unter anderem in folgenden Sätzen: Ein Beispiel aus dem ersten Satz, Poco Adagio C, Allegro C aus dem Streichquartett Eb-Dur, op. 74., wo er Shakespeares Romeo und Julia mit eben jenem Werk zusammenreimt: »[D]ie aus tiefster Verschwiegenheit des Herzens aufkeimende Sehnsucht Romeos, das Schmerzlich-Wonnevolle, Bitter-Süße der Gefühle, die atemlose Spannung des in Seligkeit Entrückten, vermag Beethoven infolge der Unmittelbarkeit der musikalischen Sprache in zwei Dutzend Takte zusammenzudrängen. […] In das zarte Fragen, Bitten, Seufzen klingen zweimal Rufe wie ›Ach!‹ oder ›Oh!‹ Oder sind es Andeutungen von Julias Worten von oben: ›Weh mir!‹ und ›O! Romeo! Romeo!‹? Des Lauschers Spannung erhöht sich, ja wird (18ff.) unerträglich bis zu dem Augenblick, wo die Geliebte sich zeigt und der Schleier der Zurückhaltung fällt: das Allegro beginnt. Die aufjauchzenden Akkorde sind eine Umbildung des schwermütigen Motivs am Anfangs des Adagios, – dort elegische Frage, hier jubelnde Antwort. […] Die nun folgende berühmte ›Harfenmusik‹ (35ff.), die dem Quartett den bei Liebhabern bekannten Namen gegeben hat, ist nichts anderes als eine unbegreiflich schöne Auslegung der Worte Romeos: Es ist meine Liebe, die mir bey meinem Namen ruft! – Welch einen Silberklang haben die Zungen der Verliebten des Nachts, gleich der sanften Musik für aufmerksame Ohren!«545
Ein Zeitgenosse von Schering sagte einmal, dass mit dieser ins Poetische abdriftenden Beethoven-Deutung Schering über das Ziel hinausgeschossen sei.546 Das ist recht freundlich formuliert, man könnte auch sagen, dass – der Musik erlegen – jemand vollumfänglich, unter Ausklammerung aber auch jeder Reflexion, alles in die Musik hineingelesen und hineinfabuliert hat, was ihm lieb und teuer war. Eine Einführung in die Historische Musikwissenschaft aus dem Jahre 2011 nennt das Schering’sche Verfahren, bei dem man Musik und Literatur quasi 1:1 in Beziehung zu setzen versuchte, »[b]erühmt-berüchtigt«.547 Darin ist verklausuliert beschrieben, dass beim Lesen Schering’scher Zeilen man einer 544 Schering, Arnold: Beethoven in neuer Deutung. Leipzig (C. F. Kahnt-Verlag) 1934, S. 10. 545 Ebd., S. 16f. 546 Vgl. Liess, Andreas: Die Musik im Weltbild der Gegenwart. Lindau am Bodensee (WerkVerlag KG Frisch & Perneder) 1949, S. 223. 547 Meischein, Burkhard: Einführung in die Historische Musikwissenschaft. Köln (Dohr) 2011, S. 105.
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reinen Märchenstunde beiwohnt. Zweifel an dem eigenen Tun kommen dem Autor Schering nicht. Im Gegenteil: »Ein Zweifel, ob wirklich der richtige Schlüssel gefunden ist oder ob außer der angegebenen Deutung nicht noch eine andere möglich sei, wird jedesmal von der Musik selbst zerstreut. Unsere Deutungen treten mit dem Anspruch auf, zum ersten Mal das von Beethoven geübte Prinzip der Anlehnung an poetische Vorbilder festgestellt und nachgewiesen zu haben.«548
So und also nur so ist Beethoven nach Auffassung des Autors zu hören und zu deuten. Mit den vorgelegten musikalischen Deutungen ist sich Schering gewiss, dass es keinen Überschuss mehr gibt. Alles, was zu entschlüsseln war, ist den Dichtungen kongruent entnommen, geradezu »zwangsläufig«, wie er schreibt, aus ihnen abgeleitet. Die Musik erscheint ihm zweifelsfrei wie erschöpfend entschlüsselt. Und zum Beleg seiner Entschlüsselungsarbeit führt er das zu Entschlüsselnde an. Eine solche Wissenschaftsvorstellung ist schon grotesk abenteuerlich zu nennen: Man nehme die Noten ›a‹ und ›e‹, lese in diese ein komplexes Shakespeare’sches Drama hinein. Wo man (neugierig, überrascht, (un)gläubig) fragt, wie man auf eine solche Interpretation gekommen sei, lege man zum »Beweis« wieder die Noten ›a‹ und ›e‹ vor. Punkt! Dieser methodische Zugang ist zumindest originell. Nur wissenschaftlich ist er nicht, auch nicht in gröbsten Zügen. Spannend – und am Rande nur erwähnt – auch hier zu wissen wäre, wo die Grenze wieder liegt, ab der eingebrachte Fantasiereisen generell als ›über das Ziel hinausgeschossen‹ gelten, als ›berühmt-berüchtigt‹ oder einfach als Unsinn tituliert werden, und bis wohin die Fachdisziplin Musik sie durchaus als wissenschaftlich zu tolerieren gewillt ist. Auch die Folgezeiten weichen nicht ab von einer Schreibkultur, die sich von reicher Fantasie und Begeisterung treiben lässt, ja von ihnen nährt, wie auch die Aussagen von Ernst Bücken aus dem Jahre 1942 exemplarisch belegen, der sich zu Mozart kommunikativ verhält und dem Heroen- oder Titanentum sich nicht entsagen kann: »Was in der c-moll-, der e-moll-Sonate in wildem, trotzigem Ungestüm losbricht und manchmal schon ein jung-Beethovensches Titanentum vorklingen läßt, ist die erste große Eigenprägung des Mozartschen Schöpfertums. […] Welche Fülle von feinen Details alles dessen, in dem Mozart weit über den Zeitstil hinaus der Einzige ist und geblieben ist! Das Brausen einer feurigen Jünglingsseele, der epochale Sturm und Drang haben zum ersten Male eine Schöpferkraft entfesselt, die ein summum opus des siebzehnjährigen Künstlers entstehen ließ.«549
548 Schering, Arnold: Beethoven in neuer Deutung, a. a. O., S. 13. 549 Bücken, Ernst: Wolfgang Amadeus Mozart. Schöpferische Wandlungen. Hamburg (Hoffmann und Campe) 1942, S. 23f.
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Die Begeisterung des Schreibers Ernst Bücken (1884–1949) über das »Brausen einer feurigen Jünglingsseele« schwingt in den Zeilen mit, wo man vom Vertreter der Fachdisziplin Musik hätte ein bisschen wissenschaftliche Distanz erwarten dürfen und müssen. Nicht wegen jenes Mangels an wissenschaftlicher Distanz, sondern wegen seiner Verstrickung in das faschistische System wird er nach 1945 dann in den Ruhestand geschickt. Walter Wiora (1906–1997) wiederum, kein Unbekannter und für manche Lichtgestalt im Fach der Musik, schreibt in der Ausgabe des MGG550 der Jahre 1949–1951 unter dem Stichwort Absolute Musik einleitend zur Aufgabe der Musikwissenschaft: »Das Wesen der Sache selbst ist ihr Thema, die Liebe zum Lebendigen und Ewigen ihr Antrieb, der Geist strenger Wissenschaft ihr Gesetz.«551 Die Begriffe des ›Ewigen‹ und insbesondere des ›Wesenhaften‹ sind konstitutiv für die Abhandlung und für das, wofür Absolute Musik stehen soll. Auch das sind problematische Formulierungen, wo man das ›Ewige‹ oder auch die ›Liebe des Lebendigen‹ zum Zeugen für die Entfaltung einer Absoluten Musik macht, wenn man als Wissenschaftler kritisch nachfragt, wie er zu solchen Aussagen kommt und wie er sie belegt? Zuletzt drücken sich darin zwar legitime, aber wissenschaftlich unhaltbare Ichbotschaften aus. Das ›Ewige‹ zum Ankerpunkt von Wissenschaftsarbeit zu machen eliminiert jede Wissenschaft. »[D]er eigentümliche Sinn und Wert absoluter Musik [ist], daß sie Wesenheiten an und für sich zur Erscheinung bringt, ohne die Realzusammenhänge, in denen wir sie sonst erfahren. Ähnlich der ›reinen‹ Vernunft, Mathematik und Phänomenologie ist sie ein Herausheben undinglicher Ideen. Sie ist, mehr oder weniger bewußt, erlebende und erlauschende ›Wesensschau‹ oder kann es sein.«552
Über diverse Aspekte zum thematischen Schwerpunkt gelangt Wiora zum vorletzten Punkt V der Abhandlung und zu der These: »Der Weg von den ›Vorhallen der Musikrezeption‹ zu ›ihren innersten Heiligtümern‹ (Nietzsche) erfordert Ehrfurcht« sowie zu der Frage, was den Menschen heute zur absoluten Musik treibt. Er folgert: »Der Mensch kehrt sich von der ›Welt‹ ab, nicht nur um zu ›fliehen‹, sondern auch um sich zu läutern und aus tieferen Brunnen zu schöpfen. Musik der besinnlichen Stille ist ihm ein Weg zur Abgeschiedenheit und Sammlung der Seele aus ihrer Zerstreuung an die Vielheit der Dinge. Er möchte Welt gänzlich ›lassen‹, weil sie ihm heillos profan erscheint, und ersehnt dann eine weltfern unsinnliche, vergeistigt reine Tonkunst. Doch er hebt weltliche Lebensfülle mit hinauf, wenn er darin den Abglanz Gottes spürt: 550 MGG = Musik in Geschichte und Gegenwart, hier die Ausgabe der Jahre 1949–1951, hg. von Blume, Friedrich. Kassel/Basel (Bärenreiter Verlag). 551 Wiora, Walter: Stichwort Absolute Musik. In: MGG, Bd. A–BL, hg. von Blume, Friedrich. Kassel/Basel (Bärenreiter Verlag) 1949–1951, S. 49. 552 Ebd., S. 54.
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Musik als ›Ausdruck der höchsten Fülle des Daseins – Schöpferlob‹ (Hoffmann). Er möchte sich selbst als Mensch und Person auflösen, wenn ihm ›das Absolute‹ als unpersönlicher Weltgrund erscheint.«553
Hier werden der Mensch in seiner Haltung zur absoluten Musik und sein Beweggrund, sich hinzugeben, beschrieben. Die Strenge der Wissenschaft, die Walter Wiora relativ zu Beginn des Artikels benennt, löst sich auf ins weltanschaulich Metaphysische, das sich Ausdruck verleiht im Inhalt als auch im Stil des Schreibenden, der nahtlos anknüpft an Inhalt und Stil des Romantikers E.T.A. Hoffmann, den Wiora unterstützend für Gesagtes noch Mitte des 20. Jahrhunderts für zitierfähig im Raum wissenschaftlichen Denkens hält. Zu betonen ist dabei, dass Wiora nicht beschreibend Haltungen anderer darlegt, sondern in eigener Sache tätig ist, denn schon längst ist der Autor im Schreiben seinen romantischen Vorbildern erlegen, was insbesondere gegen Ende des Artikels eine Steigerung noch erfährt. »In Werken religiöser Meister, wie Bach und Bruckner, zeigen sich reiner und eindringlicher als in anderer Kunst Urphänomene des Numinosen. Sie transzendieren, indem sie die musikalischen Werte über menschliches Maß hinaus in der Richtung auf die Idee des höchsten Gutes steigern oder, ähnlich der negativen Theologie, zu ›tönendem Schweigen‹ herabmindern.«554
Auch das will Wissenschaft sein. Der Glaube an die Kraft der Musik, alles Weltliche zu übersteigern in ein anderes Reich, führt die Feder Wioras, die fraglos über die Möglichkeit des musikalischen Ausdrucks von Urphänomenen, von denen nicht zu wissen ist, als auch generell eines Numinosen, das stets auch zu bezweifeln ist, spekulieren mag. Dieses alles allerdings im von ihm gewählten Indikativ als schlicht Gegebenes vorauszusetzen und entsprechend darzustellen, erscheint wissenschaftlich auch zu damaliger Zeit nicht zu rechtfertigen. Man kann auch sagen: es ist unseriös. Das »Ziel der Wissenschaft«, das Wiora abschließend im letzten VI. Punkt beschwört, »ein Bild vom Wesen der Musik zu errichten«555, scheitert so schon im Ansatz und auch dann, wenn man die Frage nach dem Wesen der Dinge, die für sich genommen problematisch genug ist, als Ansatz einmal gelten lässt. Der Artikel, der immerhin in dem deutschsprachigen Lexikon für Musik (MGG) einst erschienen ist, ist getragen von religiös motivierten Glaubenssätzen, verklärenden Heilsbeschwörungen, unbewiesenen und unbeweisbaren Ich-Behauptungen, die trotzdem unhinterfragt als Gegebenes gesetzt werden, sowie getragen von Beschreibungen, die eher einer Poesie zugeschlagen werden mögen, die das musikalische Heil der Welt im Angesicht 553 Ebd., S. 55. 554 Ebd., S. 56. 555 Ebd.
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einer jüngst von unmenschlichen Verbrechen und Morden durchsetzten Welt mit schönen Worten beschwört. Wie wenig Wissenschaft sich darin ausdrückt, wird vielleicht in einem ungewöhnlichen Vergleich sinnfällig: Selbst die Poesie zu der Zeit, als Walter Wiora jenen Artikel in einem hochangesehenen wissenschaftlichen Organ als wissenschaftlichen Artikel publizieren durfte, hatte – abgesehen von der verklärenden magischen Naturlyrik mit ihrem Sinn fürs naturschöne Detail – im Angesicht der jüngeren Vergangenheit mit Trümmerlyrik und hermetischen Gedichten, die Abstand nehmen vom Epitheta Ornans, einer solchen schöngeistigen Sprache längst entsagt. Mit den Worten Wolfdietrich Schnurres: »zerschlagt eure Lieder/ verbrennt eure Verse/sagt nackt/was ihr müsst«. Nicht allein die Städte, sondern auch die bis dahin bestimmenden Ideale liegen in Trümmern, was sich auch in der lyrischen Sprache ausdrückt. »Die Autoren suchten nach einer Sprache, die karg wie die Wirklichkeit des Alltagslebens und auf das Maß nüchterner Mitteilung zurückgeschraubt war.«556 Der Bezug zur Lyrik scheint mit Blick auf den Sprachgestus eines Wioras nicht völlig unangebracht, dessen Sprache mehr in Richtung auf Schlegels Projekt einer romantischen Universalpoesie weist, die bekanntermaßen Wissenschaft als Kunst betreiben will. Nicht das beschreibend Nüchterne, wie bspw. in Hans Eichs »Inventur«, drückt sich eben bei Wiora aus, vielmehr tendiert sein Schreiben mit Blick auf das in Musik sich vermeintlich ausdrückende Urphänomenale eines Numinosen in Richtung auf eine naturmagische Lyrik, die mit mythischen überzeitlichen Motiven und romantischen Elementen noch arbeitet und die in der Natur unsichtbar wirkende Kräfte auszumachen sucht.557 Andere Lexika wiederum, wie das von Hans Joachim Moser, nehmen auf Wioras glaubensträchtiges Schreiben Bezug, sprechen im Lexikonartikel zur Absoluten Musik »vom kosmischen Urstrom«558 und tragen so bei zur Verbreitung solch freier Gedankenflüge, die in Anspruch nehmen, Wissenschaft zu sein und dieser zugleich so unendlich fern stehen. Das Urteil über solche fantasiegesättigten Schreibzeugnisse der Vergangenheit scheint ob ihrer mangelnden Wissenschaftlichkeit vordergründig unge556 Zˇmegacˇ, Viktor/Sˇkreb, Zdenko/Sekulic´, Ljerkra: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden (marix) 2004, S. 350. 557 Im Unterschied zur Romantik des 19. Jahrhunderts, die eine naturmagische Totalität pries, sucht eine magische Naturlyrik nach 1945 generell im »grünen« Detail die Losung einer Transzendenzerfahrung. »Der Blick, der an Brandstätten nach einem Lebenszeichen sucht, findet in Gewächsen den Zauber der Natur. Da dieser Zauber in den Einzelheiten liegt, ähnelt der lyrische Wortschatz nicht selten dem Fachvokabular des Botanikers« (Zˇmegacˇ, Viktor/ Sˇkreb, Zdenko/Sekulic´, Ljerkra: Kleine Geschichte der deutschen Literatur, a. a. O., S. 374) Das Vertraute und Geringste in der Natur geraten zum mit neuem Blick Angeschauten, zum Geheimnisvollen. 558 Moser, Hans Joachim: Musiklexikon, A–L, a. a. O., S. 4.
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recht, weil es vom heutigen Standpunkt aus gefällt wird. Aber nur auf den ersten Blick. Möchte man auch Barbara Tuchman mit ihrem Zitat eines ungenannt bleibenden englischen Wissenschaftlers folgen, dass »[n]ichts […] ungerechter [wäre], […] als Menschen der Vergangenheit nach den Ideen der Gegenwart zu beurteilen«559, und möchte man dies zumindest ansatzweise auch noch gelten lassen für die Musikschreibenden des 19. Jahrhunderts, die zur kleinen Schar der Romantiker zählten, so darf abermals herausgestellt werden, dass auch schon das 19. Jahrhundert und mehr noch das 20. Jahrhundert ansonsten wissenschaftlich ganz andere Maßstäbe pflegte. Große Teile der lyrischen Kunst erscheinen zu Wioras Zeit wissenschaftlicher als die Wissenschaft selbst, die die Kunst der Musik zu ihrem Thema macht. Entlarvender geht es kaum, wie weit die Fachdisziplin Musik in so vielen ihrer Schriften dem wissenschaftlichen Gestus fernsteht. »Um solche, auf heutigen Wertmaßstäben beruhenden Urteile zu vermeiden, müssen wir die Ansichten der jeweiligen Zeit berücksichtigen«560, führt Tuchman ihren Gedanken fort. Als Walter Wiora z. B. sein von romantischreligiösen Motiven durchsetztes Schreiben als vorgebliche Wissenschaftslektüre publizieren lässt und auch publiziert bekommt, ist das wissenschaftliche Kommunikationsklima ganz allgemein schon längst ein anderes. Bezogen auf die wissenschaftlichen Gepflogenheiten in jener Zeit generell, wird das Urteil ob solcher Schriftzeugnisse, bezogen auf ihren wissenschaftlichen Gehalt, nicht milder. Was als Wissenschaft von der Musik in Schriften vorgestellt wird, ist Belletristik durch und durch. Bis in die Gegenwart unverdrossen halten sich immer wieder von der Fantasie beflügelte Beschreibungen zur Musik, die vom eigenen Träumen und von Gefühlen bestimmt sind, wie das folgende Beispiel dokumentieren mag. Peter Gülke kommt – nunmehr schon im 21 Jahrhundert angelangt – in seinem Essay über Debussys Pr8lude / L’aprHs-Midi d’un Faune u. a. etwa zu folgenden erstaunlichen, erbaulichen, aber selten wissenschaftlichen Einsichten: »Zunächst, am Beginn, ist da nur ein einzelner, einsamer, in das Schweigen gestellter Ton, in dessen reglosem Schweben sich ein Bedürfnis nach Bewegung und Fortgang erst bilden muß, ehe die Linie tastend herabgleitet in die rätselhafte Ungewißheit des Tritonus g und sodann zurückschwingt – wie ein Versuch, der zu nichts führte und zurückgenommen, alsbald aber wiederholt wird. […] Hierin ist zunächst kaum mehr artikuliert, als daß die Flöte angeblasen wird; es handelt sich im allergenauesten Sinne um ein Präludium, das selbst nichts vorstellen kann und will […]. Eben diese Unverbindlichkeit im Hinblick auf eine musikalische Kristallisation sichert die ›animalische‹ Gebundenheit der Linie an das Instrument und in dieser zumal dem Ton cis seine – später kompositorisch so präzis wahrgenommenen – traumatischen Qualitäten. Wie der magisch tönende Stoff selber steht er, alle anderwärts orientierenden Momente 559 Tuchman, Barbara: Die Torheit der Regierenden, a. a. O., S. 12. 560 Ebd.
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abweisend, in seiner baren klingenden Materialität vor uns und bohrt sich um so mehr ins Bewußtsein, als diesem zunächst alle Hilfsmittel zuordnenden Begreifens fehlen.«561
Auch der Standort, von dem aus Gülke als auch die anderen Zitierten sprechen, ist nicht vom Gestus oder präziser : vom Code der Wissenschaft geprägt. Ein Code ist nach Luhmann eine beobachtungsleitende duale Differenz, die es erlaubt, dieses und nicht jenes zu beobachten. Als zweiwertige Unterscheidungsoption selektiert er und schließt ein, wo das dabei Ausgeschlossene durch die andere Seite der Unterscheidung weiterhin mitgeführt wird, denn damit »dieses« bezeichnet werden kann, wird es unterschieden von etwas anderem (eben »jenem«): groß/klein, schön/hässlich, Frau/Mann oder auch System/Umwelt etc. Die Fachdisziplin Musik versteht sich – das gilt es mittlerweile zu betonen – als Teil des Systems Wissenschaft und hat demnach zu unterscheiden mit dem Code von wahr/falsch. Andere Systeme unterscheiden anders: Das Rechtssystem nach dem Code Recht/Unrecht, das Politiksystem nach dem Code Macht/Ohnmacht etc. Dabei werden aus jeweiligem Systemhintergrund Modelle entworfen und Plausibilitäten bestimmt, die im Wissenschaftssystem – wo sie sich kommunikativ entfalten und erhalten – das Gütesiegel »wahr« verliehen bekommen. Wo aber vom »reglosen Schweben« ausgehend Linien »tastend« herabgleiten, »rätselhafte« Ungewissheiten heraufbeschworen oder »traumatische Qualitäten« zuerkannt werden, wie bei Gülke zuletzt, kann der wissenschaftliche Code nur eine nachgeordnete Bedeutung spielen. Von »›animalische[r]‹ Gebundenheit der Linie an das Instrument« zu reden, beschreibt ein besonderes Bonmot von Unwissenschaftlichkeit. Ein weiterer Aspekt widerspricht diesem ebenfalls: Die Musik bei Gülke wird im Zuge der Beschreibungen personalisiert und erhält zudem ontologische Qualitäten, denn in der Allgemeinheit, wie der Musikwissenschaftler Gülke jene Phänomene beschreibt, ist es ja nicht nur der Hörer Gülke, der unbestritten so und auch noch weitergehend empfinden mag, sondern ein jeder soll bei rechter Rezeption scheinbar so erfahren können, da die Phänomene von der Musik aus ihren Ausgang zu nehmen scheinen. Zumindest suggerieren dies die Ausführungen wie vorgestellt. Dass der Ton »cis« Anderes abzuweisen versteht, wie Gülke festzustellen meint, haucht ihm als Akteur quasi Leben ein und drückt ein geradezu fantastisches Grundmotiv aus, von dem das Schreiben über Musik in diesem Aufsatz generell begleitet ist. Man fragt sich doch unweigerlich, wie der Ton »cis« das so von sich aus macht, welche Abwehrstrategien er so entwickelt hat, welche Waffen er denn so hat und einsetzt, oder ob es nicht eher so ist, dass der Rezipient von Musik dem Ton »cis« eine so oder anderes geartete Umwelt gibt? 561 Gülke, Peter : Die Sprache der Musik. Essays zur Musik von Bach bis Holliger. Stuttgart/ Weimar (Metzler), Kassel (Bärenreiter) 2001, S. 336.
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Gülkes Aufsatz ist ausgewiesen als Essay. Ein Essay bietet vom Charakter her sicherlich größere schriftstellerische, auch assoziative Freiheiten als ein genuin wissenschaftlicher Text, aber ernstgenommen will ein Essay in der Regel dann doch werden. Auch die jedem Schüler, jeder Schülerin bekannte Schrift »Was ist Aufklärung?« von Kant ist abgefasst als Essay und wird ernsthaft rezipiert bis in die Gegenwart hinein. Das Essay ist so ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und einem gedanklichen Sich-treiben-lassen. Und mag man auch die Personalisierung von Noten- und Klangereignissen bei Gülke als rhetorischen Kniff verstehen, als legitime bildhafte Sprache562, so stehen die Umschreibungen, was die Musik an fabelhaftem Erlebnis in sich bergen soll, der Wissenschaftssprache fremd gegenüber. Das vorliegende Essay von Peter Gülke ist daher weniger eines, das sich an ein erkenntnisträchtiges Publikum wendet, sondern an eines, das seine Fantasie beflügelt sehen und träumen will. Es soll und will hineingezogen werden, Distanz ist einem solchen Publikum fremd, wie auch dem Autor Gülke Distanz zu seinem musikalischen Gegenstand fremd ist, wenn er Formulierungen wie die genannten wählt. Hier spricht der begeisterte Rezipient, der sich von seiner Begeisterung forttreiben lässt, aber kein Wissenschaftler (zumindest in diesem Text nicht). Und in einem letzten Beispiel möchte man fragen, ob in einem Text von nunmehr Laurenz Lütteken über die Frage nach der Musik und der Begründung der Fachdisziplin an Hochschulen noch die »Seele« ihren Ort haben sollte. Die Haupteigenschaft der Musik bestehe doch darin, so der Autor, »auf die Seele des Menschen zu wirken und diese zu erschüttern.«563 Das mag man so sehen, wenngleich man hofft, dass man unter Seele hier kein dem Menschen eingehauchtes Fluidum versteht, sondern eher ein psychische Disposition. Daraus sodann aber ein Argument für den Fortbestand der Fachdisziplin an Universitäten zu entwickeln, erscheint kühn und eher als ein Argument zu deren Abwicklung, wenn es keine nachvollziehbareren Argumente gibt.
Verdunklungsgefahr statt erhellender Erkenntnis/. »Forschung«, so schreibt Sloterdijk, »ist eine Maßnahme zur organisierten Wegarbeitung des Verborgenen«.564 Wenn Forschung bestrebt ist, das Verborgene und Nicht-Sichtbare in den Kreis des Sichtbaren zu überführen, so heißt 562 Mit ein wenig Mühe sind solche im Grunde nicht tragfähigen Personalisierungen auch im vorliegenden Buch herauszuarbeiten. 563 Lütteken, Laurenz: »Und was ist denn Musik?« Von der Notwendigkeit einer marginalen Wissenschaft. In: ders. (Hg.): Musikwissenschaft. Eine Standortbestimmung. Kassel/Basel/ London/N.Y./Prag (Bärenreiter) 2007, S. 43. 564 Sloterdijk, Peter : Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews. Berlin (Suhrkamp) 2013, S. 243.
Verdunklungsgefahr statt erhellender Erkenntnis/.
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das auch, Verborgenes zu entmystifizieren, es zu befreien vom fantastischen Schein, der diesem manchmal angedichtet wird. Wie ehedem das Donnergrollen den Unwillen der Götter oder des Gottes ausdrückte und durch Forschung zum physikalischen Phänomen sich verweltlichte, so gilt es, auch dem künstlerischen Phänomen, befreit von allen Götterdichtungen, weltlich erklärbare Züge zu geben. Die Neigung zum Gegenteil bewegte allzu lange die Fachdisziplin. Bedeutungshorizonte sind dabei aufgespannt worden, die wenig zur Erklärung ohnehin, aber auch nicht zum Verstehen beigetragen haben. Anstatt etwas zu erhellen und ein Geheimnis zu lüften, sind Geheimnisse, illuminiert von einem diffusen Schleier, geschaffen worden. Anstatt zu erhellen, betreibt man eher Verdunkelung. Das solcherart Umhüllte ist wie die Kaaba in Mekka zu bestaunen und deren Prediger wertzuschätzen. Nur aus dem Blickwinkel romantischer Vorstellungen macht ein solches diffuses, im Sinne von Peter Fuchs rauschreiches Schreiben aber Sinn. Wissenschaftliches Schreiben ist bemüht um sprachliche Klarheit in dem Versuch, maximale Information zu liefern. Schreiben mit einem Höchstmaß an Information, das die Form der Mitteilung nachrangig behandelt, leistet aufklärerische Kommunikation. Sie versucht, »Kommunikation rauschfrei zu stellen.«565 Das Gegenteil dessen beschreibt Peter Fuchs als romantische Kommunikation. Romantische Kommunikation verfährt dagegen rauschreich, gibt der Fantasie freien Lauf. »Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein«, schrieb einst Novalis; bei Marx wie Adler, aber auch bei Volbach, Schering, Wiora oder Gülke lassen sich die Autoren von ihrer Begeisterung an der Musik affizieren und treiben, und der Leser ist aufgerufen, sich treiben und vom Schreibfluss der Begeisterten mitnehmen zu lassen. Wenn es nicht der wissenschaftliche Code von wahr/falsch ist, vom dem das Schreiben der exemplarisch genannten Autoren bestimmt ist, stellt sich die Frage nach dem Code, der die so rauschreichen Ausführungen wie die genannten bestimmt. Angesiedelt wird der Code im religiös-romantischen Kontext. Hier findet sich ein Bereich mit rauschreicher Kommunikation, wie ihn Peter Fuchs benennt, der freiwerdenden Assoziationen ihren Lauf lässt. Gefunden wird der Code in der Einheit der Differenz von transzendent/immanent. Die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geist der Romantik hat die (aus der Religion eingewanderte) Leitdifferenz von transzendent/immanent etabliert. Diese Leitdifferenz ist es, die bei allem seriösen Quellenstudium, akribischer Musikanalyse oder Musikgeschichtsschreibung vorab Daten implizit zum vorgestellten Ziele qualifiziert. Alle aufklärerische (bzw. wissenschaftliche) Kritik ist folglich geleitet von dieser die Fantasie beflügelnden Prämisse und versucht, rauschreicher Kommunikation einen vernünftigen Halt zu geben. Im Klartext: Die Fachdis565 Fuchs, Peter : Die Funktion der modernen Lyrik. In: ders: Konturen der Modernität. Bielefeld (transcript) 2005, S. 172.
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Die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geist der Romantik
ziplin Musik erliegt einer Transzendenzillusion, der sie nicht gewahr wird, und pflegt von Anbeginn an eine romantisch codierte (und implizit religiös motivierte) Kommunikation. Das drückt sich darin aus, dass in der Kunst in der Regel ein Mehrwert verortet wird, der über die reine Erscheinung hinausweisen soll. Wovon Dirigenten, aber auch manche Fachvertreter heute noch schwärmen (»Töne sind höhere Worte« [N. Harnoncourt mit R. Schumann]), ist Folge geistesgeschichtlicher romantischer Ideen des 19. Jahrhunderts. Die Fachdisziplin Musik hat ihre romantischen Wurzeln und nährt sich von romantischer Kommunikation. Ihre Schriften sind so durchzogen von Gedanken, die das Verborgene nicht wegerklären, sondern dieses in Szene setzen. An die Stelle von erkenntnisträchtiger Erhellung tritt der Primat der rauschreich in Szene gesetzten Verdunklung. Die Fachdisziplin Musik in ihren Anfängen begründet so weniger eine Wissenschaft, die weltliche Erzeugnisse wissenschaftlich zu verstehen sucht, sondern verficht mehr eine Transzendenzideologie, die bis heute – wie exemplarisch aufgezeigt – deren Schriften durchdringt. Im Code, der Einheit der Differenz von transzendent/immanent, liegt ihr immer neu aufscheinendes Scheitern begründet. Und das Scheitern drückt sich aus in ihren märchenhaft versponnenen Schriften.
Romantische Codierung oder als »E« und »U« zum »A« und »O« verklärt wurden… »Kunst [ist] ein entmaterialisierter Widerschein göttlichen Lebens.«566 »Die Kunst ist für mich ein Geschenk Gottes. Wo sie sonst herkommen sollte, wäre für mich nicht erklärbar«.567
Man könnte dem vorangegangenen Kapitel den Vorwurf machen, hier wäre ausgesprochen selektiv nach Schriften gesucht worden, die dem eigenen Argumentationsgerüst passend erscheinen. Dazu gilt es festzustellen: Jedwede Beschäftigung mit welchen Inhalten auch immer gründet in Selektion. Der Selektion ist nicht zu entkommen. Der Vorwurf wäre auch dahingehend ungerecht, als dass in ausgewählten Schriften der Fachdisziplin Musik das romantisch Schwärmerische – wie vorgeführt – zu finden ein ausgesprochen leichtes Unterfangen ist und keine große Kunst, zu vielfältig sind Schriften vom entsprechenden Impetus erfüllt. Das Selektierte hat demnach exemplarischen Charakter. Das gilt zumindest für die Schriften älteren Datums. Die Schriften der Fachdisziplin sind durchsetzt vom schwärmerischen Gestus, der – das sei betont – mit Heranrücken an die Hier und Jetzt schwindet. Der weitaus größere, ja größte Teil der Schrifterzeugnisse in der Fachdisziplin Musik gegenwärtig zeigt sich asketisch nüchtern, er operiert rauschfrei im Sinne der Wissenschaft. Die Notenanalyse von Werken kommt ohne zauberhaft schmückende Wortanreicherungen aus, philologische Kärrnerarbeit bedarf des konkreten Datums und genauer Detailarbeit und Zuordnungen, aber nicht der Personalisierung von wie auch sich immer gebärdender Notenereignisse / la Gülke noch ontologischer Wesenheiten u. a.m. Insofern erscheint es ungerecht, der Fachdisziplin die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. Doch recht besehen bleibt der Fachdisziplin Musik bei aller akademischer Nüchternheit das Romantische weiterhin inhärent, der Bezug zum Märchen generell präsent, ihre Wissenschaftlichkeit fragwürdig. Die These: Auch in Schriften, wo der romantische Code nicht vordergründig aufscheint, der Ton sachlich, nüchtern klingt, ist das Schreiben von der Romantik affiziert. Auch wenn der Stil der Fachdisziplin heute »nach einer eindeutigen, sachli-
566 Fischer, Edwin, zit. n. Walter, Meinrad: Ein Hauch der Gottheit ist Musik, a. a. O., S. 16. 567 Harnoncourt, Nikolaus: »Töne sind höhere Worte«. Gespräche über romantische Musik. Salzburg (Residenz) 2007, S. 20.
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chen und von äußerlichen Effekten freien Sprache«568 strebt, wie es in einer Einführung zum Fach heißt, ein Unterfangen, das die Fachdisziplin oft mit Leichtigkeit unterlaufen hat, bleibt sie weiterhin romantisch codiert, denn als Folge der Erfindung einer Musik mit Transzendenzverweis setzt sich diese MetaErzählung in einer teleologisch motivierten Musikgeschichte als auch in einer schwerwiegenden Differenz fort, die im 19. Jahrhundert ihren Ursprung genommen haben. Das Entscheidende sind nicht allein – wie vorab angeführt – offenkundig glaubensträchtige, manchmal geradezu abenteuerliche Abhandlungen namhafter Autoren, die es fortreißt, sondern entscheidend ist etwas anderes: Es ist die aus dem romantischen Motiv entworfene Einheit der Differenz von transzendent/immanent weiterdifferenzierende Unterscheidung von »E«/»U«Musik, die selbst akademisch anmutendes Schriftwerk romantisch unterwandert. Es ist so die Geschichte von einer klaren zweiwertigen Differenz, die andere Differenzen überdeckt, tilgt. »Die Spaltung der Musikkultur in E und U, in Ernst und Unterhaltung, setzt in dieser Epoche der Entwicklung ein«.569 (Gemeint ist die Epoche der Romantik.) Und das hat seine Gründe: Eine Musik, die für die »Sprache der Engel« gehalten wird570 und die eine Kommunikation mit anderen Sphären erlauben soll, muss dem Weltlichen fernstehen und darf schon gar nicht unterhaltend sein. Sie muss von großer Würde und vom großen Ernst geprägt sein. Die »E«rnste Musik wird mit einem ideellen Überbau versehen vorgestellt, eben geeignet, die weltlichen Sphären zu übersteigen, wozu eine »U«nterhaltende Musik nicht fähig ist, so ist in aller Kürze die Denkfigur zu umschreiben. Die lose gekoppelte Ereignismenge Musik, entstanden aus den unterschiedlichsten Gründen und für die unterschiedlichsten in der Regel unterhaltenden Zwecke, wird enger geknüpft und zusammengehalten von der Differenz des großen »E« zum abseits stehenden »U«. Die Geste der Unterhaltung würde dem (quasi-)göttlichen Status nicht gerecht. Also streicht man das unterhaltende Element so mir nichts dir nichts heraus und sucht dem Ernst der Lage gerecht zu werden und erfindet – so ist zu betonen – im deutschen Raum das Etikett der »E«rnsten Musik. Diese Denktradition – Alessandro Baricco spricht von einem »Vorurteil«, das der Romantik zu verdanken sei und mit spezifischen Komponisten verbunden wird571 – nimmt seinen Lauf in eben diesem Jahrhundert, das die Vernunft so schätzt und als Rückseite der Medaille so vorbehaltlos dem 568 Schwindt-Gross, Nicole: Musikwissenschaftliches Arbeiten. Kassel (Bärenreiter) 62007, S. 197. 569 Wörner, Karl H.: Geschichte der Musik. Göttingen, neubearbeitet von Wolfgang Gratzer u. a. (Vandenhoeck & Ruprecht) 81993, S. 454. 570 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Die Wunder der Tonkunst, a. a. O., S. 67. 571 Vgl. Baricco, Alessandro: Hegels Seele oder die Kühe von Wisconsin. Nachdenken über Musik. München (dtv) 2006, S. 18.
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Träumen verfällt. Das wie eine Monstranz vor sich her getragene »E« ist romantisch kontaminiert durch und durch und so auch das Gros der Schriften der Fachdisziplin. Auf der Basis dieser Denkfigur wird sodann eine ebenfalls dem romantischen Erbe innewohnende teleologisch motivierte Musikgeschichte – eine Meta-Erzählung – entworfen und geschrieben. Es ist die Geschichte vom großen »E«, die in ihrem ungeschriebenen Untergrund ein »U« mit sich führt. Nun also werden ehedem nicht mehr markttaugliche, längst vergessene Musiken zu überzeitlichen Erscheinungen hochstilisiert, scheinbar umweht von einem göttlichen Hauch. Aus dieser Haltung heraus kann dann auch die Gebrauchsmusik der Vergangenheit wiederentdeckt, auratisch überhöht und ihr mit Andacht begegnet werden. Rückblickend wird so die Musik der Vergangenheit neu geordnet. Dass die Komponisten früherer Jahrhunderte in der Regel sich den Wünschen ihrer Auftraggeber gewogen zeigen und nach detaillierten Vorgaben produzieren mussten, tritt dabei in den vernachlässigbaren Hintergrund. Um eine unbestreitbar auf ein Publikum zugeschnittene Musik doch zu zweckfreien Individualschöpfungen zu erhöhen, gibt es verbale Rettungsversuche. Adorno benennt diesen Hinweis zur Gebrauchsmusik vergangener Zeiten so lapidar als einen Fehlschluss, wenn er schreibt: »Wird […] eingewandt, die Freiheit des Künstler sei selber bloß Ideologie, und gerade die authentischen Kunstwerke hätten stets in gewisser Weise unter sozialer Kontrolle, dem Willen der Auftraggeber oder dem Richtspruch des Marktes gestanden, so ist das sophistisch.«572
Feudale Auftraggeber hätten um die Kompetenz ihrer Künstler gewusst und so implizit deren Unabhängigkeit anerkannt, die Abweichung von der musikalischen Norm wäre honoriert gewesen und hätte als »Siegel der Genialität« gegolten.573 Folglich wäre auf diese Weise – trotz Gebrauchsanlass – keine Gebrauchsmusik entstanden, sondern eine den Zwecken sich versagende Kunst. Doch der musikalische Konformismus in jenen Werken bleibt dominierend, denn bei allen eloquenten Argumentationsfiguren zur Rettung einer universal gedachten Meisterwerkekultur mit Individualschöpfungen muss die Musik dem Geschmack des Publikums zuletzt treu ergeben bleiben. Sie muss sich andienen, damit sie wohlgefällig akklamiert wird. Entfällt der Zuspruch, entfallen monetäre Gaben und durchaus auch manchmal Lebensgrundlagen. Um den zentralen Zweck herum dient sich die kompositorische Abweichung an und nicht umgekehrt. Auch vom Auftraggeber verfügte Anweisungen zur Komposition sind 572 Adorno, Theodor W.: Musik auf dem Verordnungswege. In: Schoeller, Wilfried F. (Hg.): Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der »Neuen Zeitung«. Frankfurt/M./Wien/Zürich (Büchergilde Gutenberg) 2005, S. 480. 573 Ebd.
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zum Imperativ erhoben und keine Nebensache. Ein paar bekannte Beispiele nur: »Friedrich [der Große; Anm. N.S.] zahlte die Zeche und bestimmte deshalb, wo es langging; er allein diktierte die Regeln von Arrangement, Instrumentierung, Tonart und Tempo.«574 Auch die Art und Weise, wie Musik Gestalt annimmt, zeigt ihren Gebrauchscharakter an. Nicht wenige Kompositionen früherer Zeiten sind mehr Massenproduktionen geschuldet denn Individualschöpfungen. So werden musikalisch zugängliche Zutaten zu einer neuen, in der Regel gefälligen Gesamtkomposition zusammengerührt. Dabei wird bspw. Kammermusik in Auftrag gegeben, z. T. in ganzen Serien produziert, die einander ähneln, aber den Markt befriedigen. Man könnte auch sagen: Eine Musik des »Mainstreams«, nach gefälligen Mustern erarbeitet, ist Folge solcher Produktionsbedingungen. Handwerkskunst und geistiges Moment bedingen so einander. Die Vielzahl der Kantaten von Telemann oder Bach oder die über 40 Opern von Händel zeigen an nicht nur eine Gebrauchs-, sondern eine reine Verbrauchsmusik, produziert für das Tagesgeschäft. »Genialität«, von der Adorno spricht, muss sich verwenden im Sinne von Zwecken und Gönnern und Individualität sich ausleben lediglich im Schatten derselben. Die Rede von der Individualschöpfung unterschlägt die zentralen personalen Abhängigkeiten und vor allen Dingen die im Hintergrund lauernden misslichen Folgen, die sie strukturiert und formt. Vom Boden nicht immer leichter Lebenstatsachen entsteht das Individualwerk, weniger vom Ideenhimmel aus. Die Argumentationsfigur Adornos redet Unliebsames klein, erscheint so selbst sophistisch. So bleibt es in der Musikgeschichtsschreibung bei der nachträglichen Um-Etikettierung eines Gebrauchswerks mit begrenzter Haltbarkeit zum zeitlosen Meisterwerk. Das erweist sich grundsätzlich als problematisch, denn wie zu wissen ist, sind Um-Etikettierungen, die die Mindesthaltbarkeit betreffen, in der Regel nicht wohlgelitten. Man findet in anderen Fällen freundliche Worte dafür. Das soziale Programm in früheren Jahrhunderten sieht eine dem »E« fernstehende Wertschätzung der Musik und wird – romantisch verklärt – doch dem fünften Buchstaben im Alphabet zugeordnet. Wie unbekümmert Musik zusammengebastelt wurde, zeigen auch die folgenden Beispiele: Im 17. Jahrhundert ist es bei geistlichen Kompositionen nicht unüblich, »Schlager und Gassenhauer als Grundlage von Vertonungen des Messentextes« zu nehmen.575 Martin Luther (1483–1546) bspw. nutzt so gerne ganz unverkrampft schon vorhandene Musik und so auch das Volkslied, versieht dessen Melodien manchmal mit nur wenigen Textveränderungen, und macht es so für die Liturgie verwendbar. Kontrafaktur ist diese bekannte Kopplung von Alltagsmusik mit 574 Blanning, Tim: Triumph der Musik. Von Bach bis Bono. München (Edition Elke Heidenreich bei Bertelsmann) 2010, S. 27. 575 Heinemann, Michael: Kleine Geschichte der Musik. Stuttgart (Reclam) 2004, S. 106.
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einem Text, der einen religiösen Inhalt in sich trägt, genannt und Luther bekannt dafür. So wird bspw. aus dem Gesellenlied »Innsbruck, ich muss dich lassen« das Sterbelied »O Welt, ich muss dich lassen« oder aus dem Bänkellied »Aus fremden Landen komm ich her« das Weihnachtslied »Vom Himmel hoch, da komm ich her«. Der Gedanke, dass es gerade die Musik sein solle, in der das Unsagbare Gestalt annehme, steht dieser Praxis noch völlig fern. So wird kombinatorische Bastelarbeit verfügt. Auch der Barock z. B. bedient sich der Musik noch wie eines Baumaterials, das oft nach gusto und je nach Verwendungszusammenhang benutzt wird. Händel »borgte […] sich anderswo musikalisches Material, verbesserte es bei der Übernahme und gab es als sein eigenes aus. Eine Liste der von Händel begangenen Plagiate wäre unglaublich lang.«576 Ob es nun um Musik von Komponisten wie Keiser, Mattheson, Telemann, Muffat, Scarlatti, Caldara, Corelli o. a. handelt, alles findet sich in Händels Musik eingebunden und unter eigenem Namen veröffentlicht.577 Händel erscheinen auch manche Arien von Leonardo Da Vinci so gelungen, dass er sie in seine Oper Die verlassene Dido einbindet und so eine Oper schafft, »bei der lediglich die Rezitative von ihm waren«.578 Dieses Vorgehen der Musik-»Bastelei«, bei dem man Eigenes auseinandernimmt und neu kombiniert oder bei dem man Eigenes mit Fremden zu Neuem fügt, ist nicht ehrenrührig, sondern gängige Praxis und wird »Pasticcio« genannt. Heute würde man von CUT/COPY/PASTE sprechen. Melodien und Musik sind Allgemeingut, für den allgemeinen Gebrauch zugänglich und für den Verbrauch bestimmt. Noch Mozart geht ganz pragmatisch mit Musiken um, und für den weihevollen Gottesdienst geschriebene Musik konnte an anderen Orten – mit neuem Text versehen – ganz andere weltliche Dienste leisten. So gilt sein Interesse nicht allein der Musik, sondern stets auch dem Auftraggeber, der zahlt, was die Musik zum reinen Konsumgut macht. Bei Mozart in Auftrag gegebene Kompositionen präsentieren sich zum Teil eher als Stückwerk denn als zusammenhängende Musikstücke: so bspw. auch seine C-Moll Messe (K. 417a). »Die Messe war Fragment, Mozart hat die fehlenden Sätze aus früheren Werken angestückelt: Welche es waren, ist nicht mehr bekannt. Er tat es mit der gleichen Unbedenklichkeit, mit der er später dem gesamten Werk die liturgische Unterlage entzogen hat, um ihr eine weltliche zu unterschieben: die Kantate ›David de Penitente‹ (K. 469, März 1785), ein Auftrag des Pensionsfonds der Musikerwitwen […], der wahrscheinlich nicht so honoriert wurde, daß er eine Originalkomposition wert war.«579 576 Schonberg, Harold C.: Die großen Komponisten. Ihr Leben und Werk. Bindlach (Gondrom) 1990, S. 58. 577 Binder, Franz: Georg Friedrich Händel. Sein Leben und seine Zeit. München (dtv) 2009, S. 60. 578 Ott, Karl-Heinz: Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel. Hamburg (Hoffmann & Campe) 22009, S. 274. 579 Hildesheimer, Wolfgang: Mozart. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1980, S. 146.
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So liegt es nahe, dass Musik, die Ergebnis eines ökonomisch geprägten Handels ist, recht bald einem neuen musikalischen, tagesaktuellen Handelsgut weichen muss und vergessen wird. Das zu wissen ist allzu bekanntes Allgemeingut, was auch Vertreter der Fachdisziplin Musik, die ansonsten zum Träumen neigen, wie am Beispiel Walter Wiora gezeigt, ohne Frage anerkennen: »Musikalische Kunstwerke haben einst fast nur innerhalb ihrer Mitwelt gelebt. Vor Händel und der Wiener Klassik war es nur wenigen beschieden, über die Epoche ihrer Entstehung hinaus lange Zeit konkret fortzubestehen.«580 Sie gingen verloren oder verschwanden in Archiven und wurden schnell vergessen. Gebrauchen und verbrauchen, das ist die Haltung gegenüber Musik. Gleich für welchen Kontext Musik einst gedacht gewesen ist, für sich selbst genommen war sie ohne größeren Wert. Die Musik u. a. »war dazu da, den Gläubigen auf Gebet und Frömmigkeit einzustimmen, oder eine Feststimmung zu erzeugen, zu zerstreuen und zu erheitern während Banketten, Hochzeiten, Festen etc.; das heißt, sie stellte stets etwas Zusätzliches und Unwesentliches dar.«581 Das oftmals nur einmal Verbrauchte wird zum Müll der kulturellen Geschichte. Der Markt von damals ist dem Markt von heute darin ähnlich. Im 19. Jahrhundert ändert sich dies. Das Stöbern im musikalischen Müll wird zur Profession, und geborgene Fundstücke werden von jetzt auf gleich zu Schätzen hochstilisiert. Mit der vom romantisches Gestus umantelten Geschichtsschreibung werden vergessene Musiken nun auf einmal auf den Faden einer unbeirrbar fortlaufenden Entwicklung aufgereiht und gesäubert von allen profanen Zwecken und Gebrauchspraxen oder sozio-ökonomischen Gründen. Es »erblühte der Glaube an die Unvergänglichkeit großer Meisterwerke.«582 Der Glaube tatsächlich ist es, der die Feder führt, das Wissen um profane Zwecke hat hintenanzustehen. Musik mit Verfallsdatum erfährt nun mit der Verleihung des »E« eine höhere Weihe. So kann Musik als überzeitlich und idealtypisch musterhaft verortet werden. Nunmehr zur »E«rnsten Musik mutiert kann ein universelles ästhetisches Prinzip unterstellt werden. Rückwirkend kann so auch Musik von Bach, Händel & Co, die für den Tagesgebrauch/Verbrauch und zur bloßen Unterhaltung/Erbauung geschrieben war, unter der Einheit der Differenz von transzendent/immanent auf Universalität/Ewigkeit getrimmt werden. Es leitet sich ein Unterschied ab, der einen Unterschied macht. Dieses Glaubensdogma, nach einfachen Gesetzen gestrickt und zu einer großen Erzählung ansetzend, operiert mit unverrückbaren Einschlüssen wie Ausschlüssen: mit Heiligsprechung wie 580 Wiora, Walter: Das musikalische Kunstwerk. Tutzing (Hans Schneider) 1983, S. 64. 581 Fubini, Enrico: Geschichte der Musikästhetik. Von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart/ Weimar (Metzler) 1997, S. 205. 582 Wiora, Walter: Das musikalische Kunstwerk, a. a. O., S. 65.
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mit Verdammnis, ausgedrückt eben in den schlichten Buchstaben von groß geschriebenen »E« und »U«, die nunmehr für die Zukunft zum »A« und »O« aller geistigen Anstrengungen gemacht werden, womit die Schreibenden sich selbst und anderen ein »X« für ein »U« vormachen. So wird jene teilweise auf atemberaubende Weise zusammen- und wieder umgebastelte Unterhaltungs- bzw. Gebrauchsmusik vergangener Tage, die aber vom Schema inkludiert wird, plötzlich – quasi per Federstrich – zum großen Werk (»E«-Musik), und andere Unterhaltungsmusik mit Nichtbeachtung gestraft (»U«-Musik). »Leute, die mit der Dienerschaft an einem Tisch gegessen und sich ihr Brot verdient hatten, indem sie nicht weniger und nicht mehr als gute Unterhaltungsmusik schrieben. Jahrhunderte feinen Kunsthandwerks wurden so mit einemmal Kunst. Das neu entstandene Unternehmen der ernsten Musik beschaffte sich auf diese Weise eine vornehme und weit zurückreichende Ahnentafel«583.
Aus der internalisierten, aber kaum reflektierten differentiellen Einheit von »E« und »U« heraus lesen also Fachautoren die Geschichte der Musik wie auf eine Perlenschnur gezogen sich notwendig entwickelnd. Guido Adler (1855–1941), ohne den die Fachdisziplin Musik heute eine gänzlich andere (vielleicht auch gar nicht) wäre, schreibt dazu in seinen persönlichen Lebenserinnerungen: »Bald glaubte ich zu erkennen, daß ›die Entwicklung der Tonkunst organisch sei. In stetiger Aufeinanderfolge reihen sich die Entwicklungsmomente aneinander‹ – diese These stellte ich an den Anfang meiner erstpublizierten Arbeit ›Die historischen Grundklassen der christlich-abendländischen Musik bis 1600‹«.584
Im Kontext der erfundenen Geschichte einer Musik, die die Kommunikation mit anderen Sphären knüpft, wird die Musik ideologisch erhöht. Dem einmal verinnerlichten Glauben an einen mit Notwendigkeit sich realisierenden Entwicklungsgang und an hehre Werte steht seine mögliche Verneinung nicht gegenüber. So wird unter romantisch durchdrungenen Diskurspraktiken Archäologie betrieben und es wird – dem nun gängigen Kommunikationsschema folgend – eine frei erfundene, aber schön geschriebene fantasievolle Geschichte in die Welt gesetzt, egal wie nüchtern, trocken, akademisch die Geschichten allenthalben klingen. Während bei den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts Adolph Bernhard Marx oder Guido Adler das romantische Gerüst und Beobachtungsschema in deren Formulierungen deutlich aufscheint, wirken viele Arbeiten der späteren Fachdisziplin Musik in der Regel wissenschaftlich nüchtern, scheinen Wissenschaft zu sein, obwohl auch sie ganz vom Geist der Romantik, bedingt durch Leitcode nebst prominentem Schema »E«/»U«-Musik, durchdrungen sind und davon 583 Baricco, Alessandro: Hegels Seele oder die Kühe von Wisconsin, a. a. O., S. 20. 584 Adler, Guido: Wollen und Wirken, a. a. O., S. 18.
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gelenkt werden. »E« und »U«, jene romantische Erfindung, legt den Rahmen von Forschung fest, pflanzt sich durch alle Folgeoperationen fort, beleuchtet und grenzt zugleich aus. Spätere Generationen von Vertretern der Fachdisziplin Musik können das strukturell-analytisch verfahrende Konzept von der Musik als Werkgeschichte darauf aufbauen, bewegen sich ganz fraglos im rauschfreien Diskurs, doch wird dieser – unbewusst – vom Grund romantischer Kommunikation aus geführt. Die Folgen des romantischen Codes reichen bis in die Gegenwart. »Die Sequenz der Operationen führt zum Aufbau eines komplexen Systems, das aber immer von der ersten Unterscheidung abhängig bleibt.«585 Die Fachdisziplin Musik hat bis heute mit der Anfangsdifferenz von transzendent/immanent und weiterer Reduzierung des Alphabets zur differentiellen Einheit von »E« und »U« zu kämpfen. Die Vertreter der Fachdisziplin sind im 20. Jahrhundert im großen Maßstab diesem basalen Schema erlegen und entwerfen ihre musikgeschichtlichen Schriften vornehmlich auf der Basis eben dieser differentiellen Einheit. Gerade auch Carl Dahlhaus ist dieser Tradition im Jahre 1984 noch treu ergeben, wenn er in den Sigeln »E« und »U« gleich »eine Gattungsdifferenz« auszumachen glaubt586, ohne anzugeben, worin das gattungsspezifisch musikalisch Gemeinsame sogenannter »U«-Musiken von bspw. Queen, Gentle Giant, Yes, Cat Stevens, Jethro Tull oder vielleicht John Lee Hooker denn liegen möge. Dahlhaus mögen diese Musiker, die zu seinen Lebzeiten die Musikszene mitbestimmten, entgangen sein, begründet wird der Unterschied von Dahlhaus ohnehin von anderer Warte. Er behauptet, dass zwischen ehedem am Hofe tätigen Musikern/ Komponisten einerseits und Straßenmusikern andererseits ein Unterschied herzuleiten sei, weil die Erstgenannten sich dieses Unterschiedes ganz fraglos bewusst gewesen wären. Und mit Blick auf das eigene Selbstverständnis einerseits und andererseits auf ihre ersonnene Musik leitete sich hieraus auch die Differenz zwischen einer höherwertigen »E«-Musik und einer weniger gehaltvollen »U«-Musik ab.587 »›Niedere‹ Musik war die von Angehörigen der ›niederen‹ Stände. Und daß Mozart für den Wiener Hof Bündel von Menuetten komponierte, weil er dafür bezahlt wurde, und zwar nicht schlecht, sollte nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß er sich auch nur einen Augenblick lang mit Straßenmusikanten auf derselben Stufe sah oder daß ihm die Differenz der Gebrauchsmusik zum ›Don Giovanni‹ nicht bewußt gewesen wäre.«588
585 Esposito, Elena: Operation. In: Baraldi, C./Corsi, G./dies.: GLU. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 3 1999, S. 125. 586 Dahlhaus, Carl: Ist die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik eine Fiktion?, a. a. O., S. 11. 587 Vgl. Ebd., S. 12. 588 Ebd.
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Eine solche argumentative Hilfskonstruktion wiederum erscheint inkonsequent, als dass gerade Dahlhaus ansonsten die Musik allein aus sich heraus (immanent) zu qualifizieren glaubte, ohne Bezug auf das soziale Umfeld, aber der qualitative oder ästhetische Status einer Musik ausgerechnet aus dem sozialen Umfeld bzw. aus dem Selbstverständnis von Komponisten, wo sie sich denn gerne selbst angesiedelt sähen, abzuleiten versucht ist. Möchte man wissen, ob etwas »E« oder »U« sei, so die dabei implizit verfochtene These, frage man nur den Musiker, der die Musik in Szene setzt. Zur Befragung anstünden aber nur vorab schon ausgewählte Musiker wie Mozart & Co. Die Tautologie in der Argumentationsführung ist hier mehr als mit Händen zu greifen. Wo es keine musikalischen Gründe für eine Differenzierung gibt, sucht man sie durch soziale zu ersetzen. Wie banal eine Musik auch immer ist, der soziale Status der sich daran verlustierenden Rezipienten oder Auftraggeber sowie das Selbstwertgefühl der alimentierten Produzenten, die hoffentlich – um monetäre Flüsse weiter fließen zu lassen – den Geschmack ihrer Auftraggeber getroffen haben, erheben sie gleichwohl zur hohen Kunst. Die starre gesellschaftliche Stände-Ordnung einer untergegangenen Zeit wird im Schreiben über die Musik mit großem »E« und »U« aufrechtzuerhalten versucht. Der Versuch der Verankerung von »E« und »U« in gegenwärtiger Zeit verfügt weiterhin, dass jedwede noch heutzutage geschriebene Banalität als hohe Kunst betrachtet wird, sofern der soziale Status nur stimmt. Jenseits dessen verfällt danach weiterhin alles zur Unterhaltung. Das ideologische Moment enttarnt sich darin selbst. Ein Kollege von Carl Dahlhaus räumt klipp und klar mit der Differenzierung von »E« und »U« auf. Wenngleich in diesem Buch schon einmal zitiert, lohnt die Wiederholung der folgenden Zeilen: »Nicht zu klären brauche ich […], ob das Haydn-Divertimento, die Mozart-Serenade, der Chopin-Walzer und die Gershwin-Rhapsody ›ernste‹ oder ›unterhaltende‹ Musik sind; die Simplizität einer Sonatine machte mir dann unaufhebbare Kopfschmerzen ebenso wie die Komplexität eines Titels von Weather Report oder Blood, Sweat & Tears.«589
Die Geschichte der Musik ist so insgesamt eine mit viel Fantasie geschrieben, sie erzählt von Anfang und Ende und von im Zeitlosen, Universellen sich erfüllenden höheren Glaubenswahrheiten. Sie erzählt von den Denkmälern der Musikgeschichte, aus denen der kanonische Glaube sich schöpft. Sie ist weniger erfüllt vom Geiste der Wissenschaft.
589 Schmidt, Hans-Christian: Musikdidaktik zwischen Eh und Uh oder: Erziehung zur Müdigkeit, a. a. O., S. 79.
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Der Traum vom verlorenen Paradies und der von einer glückseligen fernen Zukunft/. Der Garten Eden, jener wundersame, himmlisch irdische Ort, war Heimstatt von Adam und Eva, bis – wie in der Genesis 3 geschrieben steht – der Sündenfall Adam und Eva, sie beide, der himmlischen Heimstatt beraubte. Adam aß auf Anraten Evas vom Baum der Erkenntnis. Im Neuen Testament weist Paulus im Römer-Brief 5,12–21 darauf hin, dass durch Adams Tat oder Übertretung, wie man will, schon auf das Kommende und so Gott hingewiesen ist. Und mehr noch: Gefallen aus einem Heilszustand in die Sünde wird eines Tages eine Leben gebende Rechtsprechung statthaben. So wollen es die Geschichtenerzähler der Bibel, die Paulus solches erzählen lassen. Am Anfang steht das Heil, dann folgt die Tat, die zum Tode führt, am Ende wieder das unverwesliche Leben. »Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendig machender Geist« (1Kor 15, 45ff.). Der Anfang ist dem Ende gleich, und aller Weg dazwischen sucht in mühevoller Art und Weise und Entwicklungsgang den Anfang im Ende neu zu schaffen, ja ihn noch zu übersteigen, denn es ist das Unvergängliche, worin das Ende sich erfüllt. Bis dahin ist es ein weiter Weg und die Vertreibung aus dem Paradies dem Sündenfall geschuldet. Aber grundsätzlich ist es recht eigentlich doch ein Weg zurück zu einem Anfangszustand, in dem alles Heil wieder wie früher währt, ja vielleicht schöner noch und himmlisch ist. Die Geistesgeschichte ist erfüllt vom Traum nach dem verlorengegangenen Heil. Es gibt so viele tragische Geschichten, in denen man einen verloren gegangenen Glückszustand auf ähnlich fantasievoll beschriebenem Wege wieder erreichen will. Stets wird der Ausgang genommen von einer heilen, zumindest vorbildhaften Zeit, zu der – bei rechtem Lebenswandel – wieder zurückgekehrt werden soll. Dieses biblische Motiv, die Sehnsucht nach dem Heil, findet sich auch wieder in der Romantik des 19. Jahrhunderts mit ihren so schön ausgesponnenen Träumen. Ontologie und Teleologie verbinden sich im 19. Jahrhundert in der romantischen Idee einer Musikgeschichtsschreibung. Wovon man im Kosmos des großen Buchstabens »E« nichts wissen kann, das wird flugs erfunden: Nunmehr ist alles Schreiben der Musik auf ein Ziel gerichtet und vollendet sich im absoluten Geist. Das teleologische Prinzip läuft in eine ferne Zukunft, kommend aus einer nicht minder fernen Vergangenheit: Es wird so auch erinnert an paradiesische Zustände, freigelegt im musikalischen Entwicklungsgang oder wiederangestrebt, bereinigt vom Irdischen, vollendet in ebenso ferner Zukunft als Göttliches. »Der primäre Impuls zur Historisierung des allgemeinen musikalischen Bewusstseins entsprang der romantischen Kernidee einer universalen
Der Traum vom verlorenen Paradies
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christlichen aetas aurea, eines Goldenen Zeitalters.«590 Der Mangel an Faktizität wird wettgemacht durch reiche Fantasie. In einem solchen, in einem (wie üblich) nebulösen früher ausgemachten Zeitalter ist der Mensch dem Menschen nicht Wolf, sondern einander liebend ist man sich begegnet, und die Natur ist dem Menschen umfänglich wohlgesinnt. In kleiner Münze geschrieben findet sich diese Variante wieder im Geiste der Rede von der »guten alten Zeit« oder des »Früher war alles besser«, egal wie übel solche Zeiten auch gewesen waren. Je ferner und daher unergründlicher diese Zeiten liegen, umso besser, schöner werden sie beschrieben. Mit anderen Worten: Wo man keine Ahnung vom Früher haben kann, wird die Ahnung durch den vollumfänglich fantasiegeprägten Traum ersetzt: Golden glänzen Zeitalter gerne dann darin. Und dahin möchte man gerne zurück: In den Schoß von irgendetwas, was man nicht kennen kann. Nur dass es unvergleichlich schön war, das wähnt man nur irgendwie zwar, aber doch ganz sicher zu wissen. Das große »E« will es so. Der Ariadnefaden der Musikgeschichte nimmt seinen Ursprung vom Paradiese aus. Nur zurück zum Anfang leitet er dann doch nicht mehr. Also spinnt man ihn weiter zu einer fernen Zukunft hin, denn auch die umgekehrte Variante dieser Geschichte ist nicht weniger fantastisch: Sie sieht wiederum (wie üblich ebenfalls) den Idealzustand in einer allzu fernen Zukunft, wenn einmal das aufgeklärte Zeitalter währt oder der absolute Geist sich endlich erfüllt. Hegels System kann hier z. B. Pate stehen: seine fantastische Vorstellung von dem Zusammenklang von Inhalt und Form, von einem Idee bezeichneten Geistigen, ausgedrückt in sinnlich-konkretem Material. Zur Romantik gesellt sich der Idealismus. Aber was ist denn der Idealismus dann anderes als eine Religion, die sich als Philosophie maskiert? Und zugleich paart sich der Idealismus auch mit der Romantik: Der Idealismus ist die unvernünftige Variante der Romantik, diese weiß immerhin um ihren Traum, jener aber wähnt sich vernünftig und träumt doch nur von in ferner Zukunft sich erfüllenden absoluten Geistern. Indem die Romantik weiß, dass sie träumt, zeigt sie sich beinahe vernünftig. Es ist im Grunde einerlei, welche der beiden Varianten gerade im Blickpunkt steht: Da die eine als auch die andere Variante weder zu überprüfen noch zu erleben möglich ist, ist es eine Gemengelage aus Idealismus, Romantik, Religion, Metaphysik, Esoterik, die alles Weitere verfügt. Die eine Geschichte beginnt mit dem Es war einmal, die andere mit Eines fernen Tages wird es wieder sein. Das Paradies steht an beiden Enden der fein gesponnenen Geschichte. Doch der Faden führt nie hinaus, sondern immer tiefer hinein in ein aus Worten gewobenes Labyrinth, das zur Fantastik sich bekennt, diese aber als solche nicht benennt. Das verstellt jede Aussicht auf einen Ausweg. Im Klartext: Zwischen Märchengeschichte und Fantasy- bzw. Zukunftsroman oszilliert die Kunst gegenüber gezeigte Haltung 590 Konrad, Ulrich: ars – MUSICA – scientia, a. a. O., S. 28.
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und konkretisiert sich immer wieder in den Schriften über Musik mit dem großen »E«. Die Musikgeschichtsschreibung bewegt sich so über lange Zeit daher wesentlich in märchenhaften oder fantastischen Gefilden. Die Aufeinanderfolge von Stilen und Epochen gründet nunmehr – und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein – in der »Tendenz des Materials«, das Adorno ausgemacht haben will und sich nur ausgewählten Komponisten mitteilt, die sich zwar einerseits individuell des Materials bemächtigen, aber andererseits den »Bewegungsgesetzen« des Materials mit dem darin abgelagerten »sedimentierten Geist« gehorchen.591 Im musikalischen Material offenbart sich so abgelagerter gesellschaftlicher Geist. Der im Material sich abbildende objektive Geist, gekoppelt noch mit der Vorstellung »allgemein gültige[r] Gesetze« eines Hugo Riemann, führt zu ausgewählten Persönlichkeiten, die die »richtige« Musik in Szene zu setzen verstehen und denen nun durch die Zeit hindurch ihr fester Platz in der Entwicklungsgeschichte der Musik zugewiesen wird: Bach, Haydn, Mozart, Beethoven usf. Andere werden ausgefällt oder zur Nebenfigur bestellt. Das lässt Vertreter der Fachdisziplin Musik scheiden in der Tendenz des Materials folgerichtig und anzuerkennende oder nicht-folgerichtig geformte und folglich zu vernachlässigende Musik. Gradmesser teleologisch motivierter Urteile ist implizit oder explizit dann das in der Transzendenz verortete Ideal.
Von absoluter Musik und kunstreligiösen Begleiterscheinungen/. In der Vernunft hat man im 19. Jahrhundert eine neue Religion gefunden und die Religion selbst ist auf eine abschüssige schiefe Ebene gesetzt, aber die menschliche Sehnsucht nach einer metaphysischen Heimstatt fühlt sich in der Vernunft nicht aufgehoben. Gefunden wird diese im Reich der Künste und im besonderen Maße in der Musik. »Dieses rätselhafte und unerklärbare Erhobensein durch die Sinfoniemusik ist offenbar erst möglich für eine Hörerschaft, deren Sicherheit nicht nur im Glauben an Gott und sein Weltenlenkertum stark erschüttert ist, sondern die sich zunehmend unklarer wird über Existenz und Wirken außerirdischer Mächte. Da kommt es dann eher zu Hilfsvorstellungen wie denen vom höchsten Wesen, vom Schicksal, von höheren Mächten oder der Vorsehung.«592 591 Vgl. Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. v. Tiedemann, Rolf unter Mitwirkung von Adorno, Gretel/Buck-Morss, Susan/ Schultz, Klaus. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003, S. 39. 592 Schleuning, Peter : Ein paar Gedanken zum Anfang. In: ders. (Hg.): Warum wir von Beethoven so erschüttert werden und andere Aufsätze über Musik. Frankfurt/M. (Roter Stern) 1978, S. 55.
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Als Folge bestimmen die aus der Romantik geborenen gesellschaftlich kommunizierten Vorstellungen über Musik Haltungen und Rezeptionsweisen zur Musik, sie implementieren schließlich eine Vorstellung von absoluter Musik und Hochkultur (»E«-Musik) und kanonisieren diese. Mit Transzendierung von Kunst und vor allem von Musik wird die von der Religion hinterlassene Leerstelle durch die Setzung zeitloser, sich selbst genügender absoluter Kunst gefüllt. Und die Vertreter der Fachdisziplin bedienen diese Sehnsucht, nicht als Wissenschaftler denn mehr als hingebungsvoll Gläubige. Seitdem ist für dieses Fach, die eigene Leitunterscheidung von »E« und »U« nicht hinreichend hinterfragend, das musikalische Kunstwerk Thema. Und insbesondere die Instrumentalmusik bewegt für viele Jahrzehnte die Vertreter der Fachdisziplin Musik, denn eine in das »Geisterreich des Unendlichen«593 hineinführende und »das Reich des Ungeheuren und Unermeßlichen«594 öffnende Musik findet sich am ehesten im rein undinglichen Klang. Worte in textgebundener Musik stören da nur. Die romantischen Schriftsteller insgesamt schaffen so eine traumhafte Welt der Musik, die nicht von dieser Erde ist. »Die Schriften von Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder haben den Boden vorbereitet für die Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, die die von allen Bezügen und Zwecken gereinigte Musik als Objekt der Anbetung erscheinen ließ.«595 Das Phantasma der absoluten Musik ist geboren. »Die so verstandene ›Kunstreligion‹ zeigt sich, kurz gesagt, als romantische Idee, die einen Gedankengang der Aufklärung zum Abschluss bringt. Namentlich Dichter und Kunstphilosophen der deutschen Romantik haben sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts begründet bzw. in ihren Werken davon profitiert. Unter dem Stichwort l’art pour l’art ist die Kunstreligion vor 1900 schon zum Signum aller ästhetischen Moderne avanciert, und solang die Grenzziehung zwischen Kunst und Religion an Geltung nicht verliert, wird mit kunstreligiöser Praxis zu rechnen sein.«596
Absolute Musik ist auf sich selbst bezogen, ist eine Musik, textungebunden und bar jeden Programms, jeder Begrifflichkeit und bar jeden funktionalen Zusammenhangs. Während die anderen Künste in ihrer Materialität und folglich auch das menschengemachte Wort mit seinen künstlerischen Textschöpfungen stets die Verbindung zum Weltlichen halten, ist die Musik als körperlose Kunst davon befreit und scheint aus diesem Grunde ihrer Immaterialität und Flüchtigkeit schon geeignet, in andere Sphären aufzusteigen. Die Musik ist nicht festzustellen. Aus der Position der Dienerin wird die Musik im 19. Jahrhundert 593 Hoffmann, E.T.A.: Beethovens Instrumentalmusik. In: ders.: Fantasiestücke in Callots Manier. Frankfurt/M. (Insel) 1990, S. 57. 594 Ebd., S. 55. 595 de la Motte Haber, Helga: Musik und Natur. Laaber (Laaber) 2000, S. 18. 596 Costazza, Alessandro/Laudin, G8rard/Meier, Albert: Kunstreligion. Der Ursprung des Konzepts um 1800. Band 1. De Gruyter : Berlin, New York (de Gryter) 2011, S. 7f.
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zur Sprache Gottes und über alle anderen Künste erhoben. Gilt die Musik, wie Carl Dahlhaus schreibt, einstmals unter den »Common-sense-Ästhetikern« im 18. Jahrhundert noch als ein »›angenehmes Geräusch‹ unter der Sprache«597, so vollzieht sie ihre Wandlung im 19. Jahrhundert »in der romantischen Metaphysik der Kunst zu einer Sprache über der Sprache«.598 Nichts anderes als die laufende gesellschaftliche Kommunikation im 19. Jahrhundert ist es, die die gängige Vorstellung verwirft, die Musik wäre bestenfalls Dienerin des Wortes und darüber hinaus ein höchst »angenehmes Geräusch« sowie zum Ge-/Verbrauch bestimmt und die eine andere Vorstellung in Szene setzt. Wie schreibt noch 1957 der große Dirigent Bruno Walter : »So wurde mir aus meinem täglichen Erleben und wachsend tiefem Erfühlen der Musik allmählich immer klarer, daß sie eine Welt für sich sei, fern den anderen Künsten, daß der mächtige offenbare Strom unserer Musik aus einem eigensten verborgenen Quellgebiet stamme und sich nähre, das nicht in der realen Welt liegt. Immer erklang mir aus der Musik etwas geheimnisvoll Jenseitiges, das mir tief das Herz bewegte und mit beredter Überzeugungskraft auf einen transzendenten Inhalt hinwies.«599
Selbst die vom Wort begleitete Musik ist für Bruno Walter umgeben noch vom transzendenten Schein, denn das irdische Wort werde von der Musik quasi aufgelöst, die Musik nimmt es mit auf ihre Reise.600 Die Instrumental- bzw. absolute Musik wird – dieser Denkvorstellung nach – als dem Göttlichen am nächsten stehende Kunst verortet. »Das Absolute ist – verkürzt ausgedrückt – Gott in seinem Sein bei sich. Und die Musik – als tönende Harmonia seit jeher dem Göttlichen, Metaphysischen, Kosmischen geöffnet – kann eine Ahnung des Absoluten als des Göttlichen, des Unaussprechlichen, Unendlichen vermitteln und bewirken, indem und je mehr sie absolut, das heißt in ihrem Sein als tönende Harmonie bei sich selbst ist.«601
Mit dieser Auffassung eines bei sich und bei Gott Seienden macht die Musik einen Sprung aus dem Souterrain in die lichtesten Höhen der Anerkennung. Die Musik, »ursprünglich letzte der Künste«602, ist plötzlich über allen Künsten schwebend vorgestellt und macht so eine steile Karriere. An die Stelle der reinen Bedürfnisbefriedigung tritt das unerfüllbare Begehren. Folglich wird der Musik auch so begegnet, und Rezipienten wie Schreibende fühlen auf einmal dem Unendlichen sich nahe, empfinden beim Hören der Musik quasi im Wortlaut der Dahlhaus, Carl: die Idee der absoluten Musik. München (dtv) 1978, S. 15. Ebd. Walter, Bruno: Von der Musik und vom Musizieren. Tübingen (Fischer) 1957, S. 17. Vgl. ebd. Eggebrecht, Hans-Heinrich: Absolut, autonom, funktional. In: ders.: Die Musik und das Schöne. München (Piper) 1997, S. 60. 602 Fubini, Enrico: Geschichte der Musikästhetik, a. a. O., S. 204.
597 598 599 600 601
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erzählten Geschichte. Der Weg zur transzendenten Erfahrung ist auf einmal und vornehmlich über die Musik nur möglich. Man könnte auch so sagen: Die Musik vollzieht so ihre Wandlung vom Genussmittel zum Psychopharmakon. Was sich mit der Konstituierung der absoluten Musik ereignet, »ist nichts Geringeres als eine tiefgreifende Veränderung des Musikbegriffs: kein bloßer Stilwechsel der musikalischen Formen und Techniken, sondern ein fundamentaler Wandel dessen, was Musik überhaupt ist und bedeutet oder als was sie aufgefaßt wird.«603 Die »frohe Botschaft« wird nun in Stein gemeißelt und im »sinnlichen Scheinen der Idee«604 widergespiegelt, in Farbe ausgedrückt oder in Worte gewendet, aber recht eigentlich ist sie in den Noten und Partituren der absoluten Musik geschrieben. »So vertritt die Kunst allemal die Gottheit und das menschliche Verhältnis zu ihr ist Religion«, schreibt Beethoven.605 Man könnte auch so sagen: Nach der Religion ist vor der Religion. Nur kommt sie nunmehr daher im Gewande der Kunst im Allgemeinen und im Gewand der Instrumentalmusik im Besonderen. »Wie die Musik zu werden, ist das Ziel jeder Kunst«, schreibt so Schopenhauer. Und ihre schriftstellerische Rechtfertigung erfährt sie im Falle der Musik durch die gleichnamige Fachdisziplin, die die Arbeit der Romantiker von Tieck, Wackenroder u. a. begründend flankiert. Die in Noten aufgeschriebene Heilsbotschaft kündet von dem, was gewesen ist und wohin man sich wieder sehnt. Und das ist immer ein ferner Kontinent, in dem paradiesische Zustände herrschen. Und die schriftgelehrten Priester nennen sich fortan Musikwissenschaftler und finden immer weniger den absoluten Klang im Gegenwärtigen. Zumindest hat sich alles Neue vor den kanonisierten Botschaften zu verbeugen, wird daran gemessen und kann doch nie genügen, wo die frohe Botschaft doch schon längst von den verstorbenen Meistern verkündet ist. Die neuen Priester verkünden den neuen rechten Glauben, fordern autoritär zu glauben daran auf und haben wenig Nachsicht mit denen, die anderen Glaubens sind.
Geschichtsklitterung. Vom »Hofschranzen« zur Apotheose des Künstlers/. Die romantische Kommunikation verlangt den Freigeist, der nur für die Musik lebt und niemandem sonst verpflichtet ist. Ludwig Tieck schreibt so emphatisch über den Künstler : 603 Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, a. a. O., S. 7. 604 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke 13. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1994, S. 151. 605 Beethoven, zit. n. Arnim, Bettina von: Werke und Briefe, Bd. 2, a. a. O., S. 248.
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»Jeder Künstlergeist muss sich ohne Druck und äußern Zwang wie ein edler Baum mit seinen mancherlei Zweigen und Ästen ausbreiten; er strebt von selbst durch eigne Kraft nach den Wolken zu, und so erzeugt sich die erhabene oder sinnige Pflanze, sei es Eiche, Buche oder Zypresse, Myrte oder Rosengesträuch, je nach dem der Keim beschaffen war, aus dem sie zuerst in die Höhe sproßte. So musiziert jedes Vögelein seine eigentümlichen Lieder«.606
Es entwickelt sich im 19. Jahrhundert parallel dazu die Selbstbeschreibung des Künstlers, der – trotz vieler weiter bestehender finanzieller Abhängigkeiten – sich künstlerisch frei zumindest wähnt und der durch den Schöpfernimbus, der ihn umweht, »zum Repräsentanten des kulturellen Fortschritts [wird], er erscheint als Vermittler zwischen göttlichem Ideal und menschlicher Realität, als Prophet künftigen gesellschaftlichen Glücks oder sogar als Heilsbringer«.607 So entfaltet sich beinahe wie von selbst der Mythos des »Genies«, des beinahe gottähnlichen »Schöpfers« im Zuge eines romantisch geprägten Kommunikationsprozesses, der die Apotheose der Kunst in Szene setzt. »Musik [ist] höhere Offenbarung […] als alle Weisheit und Philosophie, […]. […], wem sie sich verständlich macht, der muß frei werden von all dem Elend, womit sich die andern schleppen.«608 Nicht für das Geld, nur für seine Kunst lebt der Künstler – so will es die Mär. An solcher gesellschaftlicher Kommunikation beteiligen sich – wie nicht anders zu erwarten ist – auch die Künstler selbst: Robert Schumann spricht davon, dass Beethoven der »Hohenpriester« sei. Bettina von Arnim wiederum schildert Beethoven als einen Menschen, der beinahe nicht von dieser Welt ist. »[M]öge er nur leben, bis das gewaltige und erhabene Rätsel, was in seinem Geist liegt, zu seiner höchsten Vollendung herangereift ist, ja, möge er sein höchstes Ziel erreichen, gewiß, dann läßt er den Schlüssel zu einer himmlischen Erkenntnis in unseren Händen, die uns der wahren Seligkeit um eine Stufe näher rückt.«609
Bettina von Armin führt aus, dass das Genie »mit Gott spricht«.610 Und dass Beethoven Zeugnis dafür ist, dass der »Erlöser« lebe, davon zeigt sich Richard Wagner zutiefst überzeugt. »Ein so intelligenter und professioneller Musiker wie Robert Schumann scheute sich nicht, Beethoven als einen ›Hohenpriester‹ zu feiern, der sein Amt am ›Hochaltar der Kunst‹ versehe. Nur Richard Wagner übertraf ihn in solcher Verehrung. In seinem Aufsatz ›Eine Pilgerfahrt zu Beethoven‹ erklärte er, Beethovens Musik sei ihm ein 606 Tieck, Ludwig: Franz Sternbalds Wanderungen. Altenmünster (Jazzbee Verlag) eBook, Position 2584/2585. 607 Held, Heinz-Georg: Schnellkurs Romantik. Köln (Dumont) 2003, S. 48. 608 Beethoven, zit. n. Bettina von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 2, a. a. O., S. 246. 609 Armin, Bettina von: Werke und Briefe. Bd. 2, a. a. O., S. 246. 610 Ebd., S. 284.
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Garant dafür, dass ›mein Erlöser lebt‹, und er ließ keinen Zweifel daran, dass dieser lebende Erlöser tatsächlich Beethoven war.«611
Auch der Mythos von »Weihekuss«, den Franz Liszt als Elfjähriger 1823 von Beethoven einmal erhalten haben soll und der »diese Geste als eine Art Segnung, als Bestätigung einer heiligen ›Sendung‹ empfunden habe«612, gehört in diese Reihe von Überzeichnungen um den Künstler als Säulenheiligen. Diese Geschichte stellte sich als erfunden heraus, da Beethoven bei jenem Konzert, zu dem Liszt den »Weihekuss« erhalten haben soll, gar nicht zugegen gewesen ist. »Trotzdem diente die Geschichte vom Weihekuss lange Zeit zur Erklärung des apostolischen Eifers, mit dem Liszt sich während seines ganzen Lebens für Beethovens Werke eingesetzt hat.«613 Die Musik erstrahlt im himmlischen Glanz, und die Künstler werden zu Hohepriestern ihrer Kunst. Musik, so will es das soziale System im 19. Jahrhundert, lässt das Unendliche (das Absolute) erahnen und die Künstler werden Boten des Heils. In der metaphysischen Wendung von Kunst werden aus normalen Menschen mit Schwächen übermenschliche Titanen, und kommunikativ wird alles Menschliche oder werden alle Schwächen getilgt/verschwiegen, bis der Mensch mit der Vorstellung oder besser dem Wunschdenken übereinstimmt, wie gerade das Beispiel Beethoven zeigt. Er steht paradigmatisch für die allgemeine Überhöhung des Künstlers. Aus den Musikern und Komponisten, verstanden als Handwerker, »Hofschranzen«614, die wenige Jahrzehnte zuvor noch froh sein mussten, »wenn man sie nicht noch als Kammerdiener oder gar für niedere Dienste einsetzte«615, ist so das erkannte/verkannte Genie und der Heroe geworden, das/der nicht von dieser Erde zu stammen scheint und dem dann auch manifeste Gestalt im Denkmal verliehen wird. Die nunmehr erzählten Geschichten künden nicht mehr davon, dass noch im 18. Jahrhundert, wie in einer Schrift der Kaiserin Theresia an ihren Sohn Friedrich zu entnehmen ist, »Musiker […] neben Bettlern und Schauspielern ganz unten in der Hierarchie« stehen.616 Ganz anders lesen sich die Verszeilen des Literaten Franz Grillparzer, der angesichts der Enthüllung des Gedenksteins an Beethovens Grab die Worte findet: »Wir haben einen Stein setzen lassen. Etwa ihm zum Denkmal? Uns zum Wahrzeichen! Damit noch unsere Enkel wissen, wo sie hinzuknien haben, und die Hände zu falten, 611 612 613 614 615 616
Gay, Peter : Die Moderne, a. a. O., S. 80. Caeyers, Jan: Beethoven. Der einsame Revolutionär, a. a. O., S. 674. Ebd., S. 675. Elias, Norbert: Mozart. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1991, S. 21. Blanning, Tim: Triumph der Musik, a. a. O., S. 26. Wißmann, Friederike: Deutsche Musik. Berlin (Berlin-Verlag) 2015, S. 215.
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und die Erde zu küssen, die sein Gebein deckt. Der Name Beethoven steht darauf, und somit der herrlichste Wappenschild, purpurner Herzogsmantel zugleich und Fürstenhut.«617
Diese Worte wählt Franz Grillparzer zu Ehren Beethovens, und er zeichnet so einen Menschen, der kein Musikhandwerk mehr betreibt, sondern der »leben [wird] für alle Zeiten« und »unantastbar [sein] für immer.«618 1827 sind diese Worte formuliert. Sie leben fort in den musikgeschichtlichen Schriften und finden selbst sich noch wieder im Material für den Musikunterricht des Jahres 1950, gefolgt von einem Bild von J. Stieler, das das Vergeistigte wie schöpferisch Entschlossene des Komponisten nur unterstreicht. Beethoven glänzt nun – nach dem Tode – abermals mit Grillparzer wie »ein Sternbild am Himmel der Nacht«619. Solche Worte, im 19. Jahrhundert formuliert, machen dort ihren guten Sinn, sind es doch Jahrzehnte, in denen einige den Traum zur Realität erheben und – so sie können – leben. Doch noch lange bis ins späte 20. Jahrhundert hinein lebt dieses so erträumte Bild vom Schöpfertum und Genie fort und wird unermüdlich heranwachsenden Menschen im Schulunterricht als mustergültige Folie vorgestellt. So wird ein Kult um Personen betrieben, und es werden Charaktere gezeichnet, die es nie gegeben hat. Der »E«rnsten Musik ist dies geschuldet. Der Kult wird fortgesetzt noch im Titelbild jenes Schulheftes der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Es füllt den Umschlag der Beethovenkopf vom Klinger-Denkmal, das den Worten des anbetungswürdigen Schöpfergenies nur neue Nahrung gibt. 1885 ist dieses Denkmal in einer ersten Gipsfassung vorgestellt und schließlich 1902 von Max Klinger umgesetzt worden. Als Material dienten kostbarer Marmor, Onyx, Elfenbein, Opale, Achaten, Jaspis. Richard Dehmel findet schon für das Vorläufermodell die Zeilen: »Doch neben mir saß Zeus,/ ein neuer Zeus, von Antlitz und Gestalt/ BEETHOVEN gleich, und in den Abgrund/ der Welt und Menschheit starrt sein Schöpferblick/ herab vom Thron der Sünde und Erlösung,/ daß sich der Adler ihm zu Füßen sträubt,/ erwartungsvoll.«620 Nichts Irdisches haftet Denkmal noch Verszeilen mehr an. Er ist den Göttern nicht nur gleich, es ist ein Gott, der hier beschrieben wird. Noch mancher Zeitgenosse von heute glaubt unverdrossen an Schöpferblick und neuen Gott, dem man in Beethoven ausgemacht haben will. Die Beethoven-Büste auf dem eigenen Klavier will es so. Der Kult lebt an mancher Stelle so noch heute ungebrochen fort.
617 Franz Grillparzer, zit. n. Daube, Otto: Ludwig van Beethoven. Bd. 1. Dortmund (W. Crüwell) 1950, S. 3. 618 Ebd., S. 50. 619 Ebd., S. 3. 620 Dehmel, Richard: Zwei Folgen Gedichte. Berlin (Fischer) 1921, S. 23.
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Wie anders aber lesen sich die Zeilen des ehemaligen Studenten und heutigen Vertreters der Fachdisziplin Christian Kaden, der schreibt: »Erst als Student lernte ich, dass in den bekannten Druck-Ikonen die Pockennarben aus dem Gesicht des Verherrlichten getilgt waren, ebenso wie seine Trinker-Züge, die immerhin Moritz von Schwind, in einer schier geheimgehaltenen Federzeichnung, aufs Papier gebannt hatte […]. Und freilich erfuhr ich, dass Bilder selbst nicht stinken, auch auf Umwegen nur über Beethovens olfaktorische Ausstrahlung – und seine Landstreichererscheinung während der späten Lebensjahre.«621
Auch das Verständnis von Beethoven als freiem Künstler, der nur sich selbst zum Maßstab nimmt, ist in nicht wenigen Zügen geschönt und darin eine unbotmäßige Idealisierung ausgedrückt. Der Künstler, der frei von allen Abhängigkeiten ist und nur für seine und von seiner Kunst lebt, ist eine romantische immer und immer wieder kolportierte Idealisierung, an der die Künstler selbst immer wieder fleißig mitgestrickt haben. Doch der paradigmatisch genannte Beethoven »lebte nicht vom Erlös seiner Kompositionen, sondern von der Pension, die ihm seine drei adligen Förderer gewährten«.622 Die Freiheit des Schöpfers und die Freiheit seiner Musik sind so abhängig von finanzkräftigen Gönnern, denen gefällt, was Beethoven an Musik gebärt. Trotzdem wird diese Freiheit mit Pensionsnetz, die vor dem freien Fall zwar nicht fürstlich, aber doch immerhin auf gewisse Zeit vorsorglich absichert, in vielen Schriften eher ausgeklammert. Der Kult um das »E« will es so. Auch frei sich wähnende Künstler wollen leben, einer sie hochlebenden Musikgeschichtsschreibung zum Trotz: Beethoven komponiert z. B. immer wieder auch mit Blick auf sein Publikum und dessen Bedürfnisbefriedigung Musikstücke, die allein aus monetären Gründen Gestalt annehmen und die Freiheit des Künstlers nicht groß nachfragen, solange das Geld nur stimmt. Zum Wiener Kongress 1814 komponiert Beethoven reichlich »Kongress-Kitsch«, schwülstig und monumental.623 In späteren Jahren bemüht er sich vergeblich um Festanstellungen, weil die Freiheit und das zugesprochene Hohepriestertum ihn doch recht schlecht ernährt. »1819 erwartete er, dass Erzherzog Rudolph ihn nach Olmütz holen würde, und 1822 bewarb er sich in Wien um den Posten des verstorbenen Hofkomponisten Anton Teyber ; seine adligen Freunde Moritz von Dietrichstein und Moritz von Lichnowsky setzten sich für ihn ein. Ein Jahr später ließ er bei den Esterh#zys nachfragen, ob sie nicht die nach Haydns Tod vor anderthalb Jahrzehnten weggefallene Kapellmeisterstelle neu besetzen wollten. Er hoffte vergebens.«624 621 Kaden, Christian: Das Unerhörte und das Unhörbare. Kassel (Bärenreiter) 2004, S. 248. 622 Ratcliffe, Philip: Schuberts Lieder. In: Raeburn, Michael/Kendall, Alan: Geschichte der Musik. Bd. 2. Mainz (Schott) 1993, S. 93. 623 Vgl. Caeyers, Jan: Beethoven. Der einsame Revolutionär, a. a. O., S. 547–551. 624 Ebd., S. 717.
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Hinzu treten noch die zahlreichen Bettelbriefe eines Beethovens, welche beredtes Zeugnis davon ablegen, dass der Freiheit des Künstlers doch enge Grenzen gesetzt sind. Sie widersprechen der Idee eines nur für seine Kunst lebenden Künstler. Noch auf dem Sterbebett unternimmt Beethoven den Versuch, »der London Philharmonic Society 100 Pfund – etwa 1000 Gulden – abzubetteln, übrigens mit Erfolg, […]. […] Die drei Mitleid erregenden Briefe, […], erwecken den Eindruck, der Kranke benötige dringend ein Almosen, um auch nur seinen Lebensunterhalt und die Arztkosten bestreiten zu können«625, was der Wahrheit nicht entspricht. So arm, wie Beethoven sich schreibt, ist er beileibe nicht. »Seine fast flehentlichen Bitten um finanzielle Unterstützung erschienen deshalb geradezu als Betrugsmanöver.«626 Die Freiheit des Künstlers und Selbststilisierung zum freischaffenden Künstler ist auch bei Beethoven eher eine aus der Not geborene und Folge veränderter Zeiten. »Der Adel hatte weniger Interesse an repräsentativer Selbstdarstellung in Kunst und Kultur«627 und das Bürgertum ist wenig gewillt, die verbliebene Leerstelle zu füllen. Der Bürger »war nicht so leicht bereit, sein sauer verdientes Geld für Kunst und Kultur aus dem Fenster hinaus zu werfen.«628 Realität und Darstellung durch die schreibende Zunft kommen so nicht hinreichend zur Deckung. Die schreibende Zunft der Fachdisziplin gestaltet am Bild, in dem der Künstler frei und dem Weltlichen abhold ist, über lange Zeit mit. Wo biografische Daten nicht zum ersonnenen Bild vom Künstler passen, werden sie vom Wissenschaftsbetrieb passend gemacht oder gleich ganz unterschlagen. Dieses Schreiben nach Wunschvorstellungen mag in jener Zeit einer umgreifend grassierenden ›Kognitiven Dissonanz‹ bei den Fachvertretern zuzurechnen sein. Nicht zuletzt deswegen mögen also Künstlerbiografien geschönt, geglättet worden sein, von irdischen Unzulänglichkeiten und geistigen Verwirrungen befreit, wie Christian Kaden auszumachen glaubt: »Das Stereotyp vom ›guten (toten) Künstler‹, und der Beweihräucherungs-Service an diesem Guten, verbesserte kostenfrei das Eigenbild und das Eigenbewusstsein des Diensttuenden. Es beschert ihm, durch Übertragung, vorzeigbare Identität, kräftigt die Selbstbehauptung. Nur so lässt sich verstehen, dass auch härteste Lebens-Tatsachen der zum Idol-Deklarierten unter den Teppich gekehrt werden. Beethoven ist ein Beispiel dafür. Ein drastischeres noch ist die Rezeption Richard Wagners.«629
Und als Beleg nennt Kaden so neben Beethoven insbesondere Richard Wagner, dessen antisemitisches »Pamphlet« Aufklärungen über das Judentum in der 625 626 627 628 629
Ebd., S. 715. Ebd. Ebd., S. 717. Ebd. Kaden, Christian: Das Unerhörte und das Unhörbare, a. a. O., S. 249.
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Musik z. B. aus dem Jahre 1869, wie Kaden schreibt, »von der musikwissenschaftlichen Wahrnehmung ausgeblendet« geblieben ist.630 Im Klartext: So genau möchte die Fachdisziplin es gar nicht wissen, was für ein Mensch hinter dem Komponisten hervorlugt. Der Mensch Wagner passt nicht zum schriftgeprägten Bild vom »E«. Die Sentenz, was nicht passt, wird passend gemacht, findet hier ihren schlechten Ort, denn neben den Literaten und den Musikkritikern ist es auch die Fachdisziplin Musik, die diesen Vorstellungen erliegt sowie sie gedankenreich mit ihren Schriften salbungsvoll befeuert. Heroenkult ersetzt wissenschaftliche Reflexivität und Genauigkeit durch persönliche Begeisterung und Gläubigkeit. Möchte man träumen, schlägt man ein Buch von Vertretern der Fachdisziplin Musik zu Themen mit Herzensangelegenheiten auf, möchte man dagegen wissen, legt man diese lieber beiseite, recherchiert oder liest an anderer Stelle besser genauer noch mal nach. Das Alphabet, mit dem diese Kunstreligion ihre Glaubenssätze verfasst, kennt nur zwei Buchstaben: die von »E« und »U«. Und wo so unterschieden wird, ist auch der beobachtungsleitende Code aus der Romantik aktiv, ganz gleich wie sachlich sich die Schriften ausnehmen. Abhandlungen, die (ehedem und heute noch) mit den Begrifflichkeiten »E«/»U«-Musik hantieren, Musik entsprechend analysieren und sortieren, haben angesichts dieses romantischen Erbes einen fragwürdigen wissenschaftlichen Stellenwert, da der zugrunde gelegte Leitcode wissenschaftlichen Kriterien nicht genügt. Die Einheit der Differenz von tranzendent/immanent richtet es, steht einem distanziert reflexiven Zugang entgegen. Der schwärmerische Gestus bleibt auch dem nüchternen, akademischen Stil immanent. Diese stets untergründig mitlaufende Einheit der Differenz von tranzendent/immanent schreibt die kunstreligiöse Attitüde sowie eine absolutistische Ordnung fort, wo beides aufzuheben wäre, da die Musik der Gegenwart mit dem ganzen Alphabet und seinen 26 Buchstaben wieder spricht und eine andere, dafür ungemein bunte, ja buntere Geschichte erzählt.
Der neue Absolutismus und seine pyramidale Struktur/. Das monarchistisch gegliederte Gesellschaftsgebäude im 19. Jahrhundert erfährt ergänzend zum bestehenden Absolutismus einen Absolutismus der Kunst, der sich als langlebigerer erwiesen hat als die Monarchie, denn selbst unter sich einstellenden demokratischen Verhältnissen beansprucht dieser Absolutismus – wenn auch mit immer weniger Erfolg – bis heute Geltung. Diese neue Form des Absolutismus sieht – unterhalb des Numinosen – an der weltlichen Spitze das (musikalische) Kunstwerk, dem der Künstler und dann die ›Schriftgelehrten‹ 630 Ebd.
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folgen, die das Schriftgelegte lesen und deuten können. Aber der Künstler ist als der quasi von Gott ›Auserwählte‹ an die Spitze der Hierarchie gestellt. Die Vergöttlichung des Künstlers ist so auch Folge der Vergöttlichung der Musik. »Die romantische Lehre stellt den Künstler nur um eine Kleinigkeit unter Gott selbst«.631 Je losgelöster auf Kunst bezogene Kommunikation, die auch und gerade die Produktion umfasst, von anderen kommunikativen Gründen sich löste und sich nur noch auf sich selbst bezog, umso mehr finden frei flottierende Gedankenwelten aus der Umwelt irritierenden Gefallen daran und stimulieren Kommunikation, die sich zunehmend repliziert und ausdifferenziert, bis dem Absoluten der Anschluss gelingt und Absolutes basale Stabilität erlangt. Kommunikativ in Sachen Kunst wird dabei beinahe fast alles möglich unter der Bedingung, den rechten Anschluss zu finden, was die Umwelt in allgemeine Verzückung bringt. »Der Trend zur Einzigartigkeit des Kunstwerks bei Generalisierbarkeit seiner thematischen Bedeutung setzt die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems voraus. Das Kunstsystem ist in seiner Einzigartigkeit und thematischen Offenheit, in seiner operativen Konkretion und in seinem Unfestgelegtsein zugleich das, was in jedes einzelne Kunstwerk hineincopiert wird.«632
Mit Blick auf die Umwelt folgt die These: In Kunstproduktion/-rezeption manifestiert sich pure Selbstdarstellung, die gerade deshalb so gut funktionieren kann, weil sie die Selbstdarstellung verleugnet: »l’art pour l’art«. Die Vorstellung einer »l’art pour l’art« ist also gerade keine Kunst um der Kunst willen, sondern beschreibt begleitend stets schlicht die Erhöhung des Selbst, in der sich ganz profan typisch menschliche Eitelkeiten artikulieren. Man hat Anteil an dem Mehrwert, den die Kunst bereithalten soll. »Im Blick auf deren historische Bedeutung und Stellung innerhalb der Entwicklung der modernen Kunst sollte man besser von ›Kunst um des Künstlers willen‹ sprechen, denn es ging dabei nicht nur um die Wertschätzung schöner Objekte als solcher, sondern mindestens ebenso sehr um ein kraftvolles Plädoyer für den Schöpfer solcher Objekte.«633
Die Musik um der Musik, die Kunst um der Kunst willen ist einst eine allmählich wachsende, schließlich im 19. Jahrhundert endgültig erwachende und sich verselbstständigende Kommunikation, die gerade deshalb so erfolgreich sein kann, weil anteilnehmende Beobachter sich davon faszinieren lassen, da sie sich selbst dabei so gut in Szene setzen können. Ein wenig Glanz vom lichten Schein der von der Gebrauchswert zur Einzig631 Mueller, John H.: Fragen des musikalischen Geschmacks. Köln/Opladen (Westdeutscher Verlag) 1963, S. 9. 632 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, a. a. O., S. 292. 633 Gay, Peter : Die Moderne, a. a. O., S. 75.
Der neue Absolutismus und seine pyramidale Struktur/.
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artigkeit hochstilisierten Kunst fällt ab so auch auf die, die Kommunikation bedienen sowohl produktiv als auch rezeptiv. Die Funktion dieser Kunst-Kommunikation ist die Selbstvergewisserung/Selbstbestätigung, man könnte auch sagen: Ich-Setzung der an der Kommunikation Beteiligten. Die historisch geprägte Rahmengeschichte dazu liefert ein Fach wie die Disziplin der Musik, die umgekehrt ebenfalls ihre Reputation daraus zieht. Mit der Apotheose der Kunst erhebt es auch jene, die als Sachwalter der Kultur auftreten, um den rechten Umgang zu wissen vorgeben und als Richter auftreten, in den erweiterten Kreis der Kunstschaffenden. In der Hierarchie nach Künstlern und Fachgelehrten folgt sodann der gebildete Genießer. Er erscheint mündig, ein regelkonformes Verständnis zu entwerfen, und kann einen privilegierten Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie einfordern. Gerade er liefert die kommunikative Resonanz, die es Künstlern und Schriftgelehrten erlaubt, am ersonnenen Menschen- und Kunstbild zu werkeln. Damit ist die Gebäudehierarchie, die einer Pyramide gleicht, aber noch nicht abgeschlossen. Schließlich folgen noch die, die herangeführt werden in den Kreis der Wissenden und ggf. schon willig hören, aber (noch) nicht verstehen. Ihnen ist gemeinsam der Glaube an die Wirkmächtigkeit der Musik, die einem höheren Ziel verpflichtet ist. Metaphysische Girlanden umranken dabei so nicht nur das Kunstwerk, sondern auch die damit sich Befassenden, wobei Künstler, Schriftgelehrte und Rezipienten sich schließlich einer geistigen Elite zugehörig fühlen mit ausgefallenem Sendungsbewusstsein. Vor den großen Meisterwerken für die Ewigkeit fällt der Einzelne als Individuum in die Bedeutungslosigkeit, das Kunstwerk wird als Überzeitliches zum reinen Kultgegenstand, dem man als Sterblicher huldigen muss. Wer versteht, darf graduell Anteil nehmen am Einzigartigen, soll daran wachsen an dem anderen Sphären zugehörigen Original. Wer nicht versteht, erscheint von vornherein als diskreditiert, unfähig ein Höheres für sich zu erschließen, denn der Gegenstand selbst ist der Kritik entzogen. Eine jede Hierarchie bedarf des Untergrundes, der breiten Masse. Den Abschluss bildet so auch hier die Masse der Unwissenden, die gleichwohl uneingeschränkt wertzuschätzen aufgefordert genötigt und auf den Glauben an die Kunst verpflichtet wird. Zur rezipierenden Anteilnahme ist diese aber eher nicht vorgesehen, da die Kunst als Religion fortan geistige Durchdringung abnötigt, für die die breite Masse weder Zeit, folglich Muße noch das Geld besitzt. So ist eine neue absolutistische Ordnung entstanden, von ›Schöpfers Gnaden‹ sozusagen, mit Privilegien für eine kleine Schicht, von denen die breite Masse besser ausgeschlossen bleiben soll. So können noch im 20. Jahrhundert dann ›Hörertypologien‹ erfunden werden, die dem eigenen Geschmack höchste Geltung, am anderen Ende der Geschmacksskala aber nur dumpfes Erleben einräumen. Der zum strukturellen
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Hören befähigte ›Experte‹, so denkt es sich ein Adorno aus, stünde an der Spitze, der ›emotionale Hörer‹ verbleibt am Boden, der allein zur triebgesteuerten Reaktion auf einen Klangstrom fähig ist.634 Symptomatisch sind im Absolutismus der Kunst solche Vorstellungen, wenig wissenschaftlich obendrein.
Der künstlerische Absolutismus
Sehnsucht nach dem »Wächterstaat«/. Der Absolutismus von ›Künstlers oder Schöpfers Gnaden‹ befindet sich über den Menschen stehend, die Meinung zum diesem erscheint mitunter wenig freundlich gestimmt. Schon Adorno sieht, bedauernd zwar, aber nichtdestotrotz, in den meisten Menschen eine triebgesteuerte, zur Reflexion kaum fähige 634 Adorno, Theodor W. Einleitung in die Musiksoziologie. In: Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1992, S. 17–21.
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Masse. Die gesellschaftlichen Zustände wären dafür verantwortlich und diese zu ändern, damit »die Bildung autonomer, selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen« möglich werde.635 Solange die ›Kulturindustrie‹ aber nur »Ersatzbefriedigung« böte, wären »Abhängigkeit und Hörigkeit der Menschen« obligat, wäre eine Änderung der Verhältnisse nicht in Sicht. Nur durch die Zuwendung zur gesellschaftskritischen Kultur, wie sie Adorno schätzt, würde »Mündigkeit« zu realisieren sein. »Werden die Massen, zu Unrecht, von oben her als Massen geschmäht, so ist es nicht zum letzten die Kulturindustrie, die sie zu den Massen macht, die sie dann verachtet, und sie an der Emanzipation verhindert, zu der die Menschen selbst so reif wären, wie die produktiven Kräfte des Zeitalters sie erlaubten.636«
Adorno führt 1967 vor, was er kritisiert: Eine Vielzahl von Menschen, jeder individuell für sich genommen, befähigt zur Abstraktion auf unterschiedlichsten Ebenen, wird, wo dem eigenen Primat von Kultur nicht gefolgt wird, unterschiedslos zur ›Masse‹ erklärt. Nur durch Unterwerfung dem Absolutismus der Kunst, der zur geistigen Reflexion befähigte, wird zum kritischen Menschschein erhoben, wo zuvor der Mensch in der ›Masse‹ – mehr seinen Instinkten folgend – dumpf reagierte denn agierte. Diese Argumentationsfigur leitet Adorno durch die Zeiten. Zusammen mit Horkheimer formuliert er Jahrzehnte zuvor : »Wer im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert Geld ausgab, um ein Drama zu sehen oder ein Konzert zu hören, zollte der Darbietung wenigstens soviel Achtung wie dem ausgegebenen Geld.«637 Resignierend stellen sie fest: »Kunst hat den Bürger so lange noch in einigen Schranken gehalten, wie sie teuer war. Damit ist es aus.«638 Es vollzieht sich die Entfremdung, es fehlt an kritischem Bewusstsein als auch an Respekt. »Dem Konsumenten ist nichts mehr teuer.«639 Ausgemacht wird von hoher Warte aus, wie Adorno an anderer Stelle im Jahre 1953 schreibt, für solches Verhalten der stets für alles Bedenkliche verantwortlich gemachte Klassenfeind der Menschen: die Kulturindustrie: Ihr »Ausgeschlossensein[…] von der Bildung […] wird heute von der Kulturindustrie verstärkt«.640 Außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit würden die Menschen nur dumpf Reflexen folgen und jedweden Anspruch meiden. Die »Massen« wären immer weniger »fähig und willens […] die Anstrengung des Verstehens auf sich zu nehmen« 635 Adorno, Theodor W.: Ohne Leitbild In: Schöttker, Detlef (Hg.): Von der Stimme zum Internet. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1999, S. 126. 636 Ebd. 637 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. (Fischer) 1985, S. 144. 638 Ebd. 639 Ebd. 640 Adorno, Theodor W.: Musik auf dem Verordnungswege, a. a. O., S. 478.
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infolge der Verhältnisse, wie sie sind, die nur die Verdinglichung des Menschen sehen.641 Ergo: Die Massen »hassen, was sie nicht lieben dürfen.«642 Bei Adorno wird jede Form relevanter Geschmacksprägung jenseits des eigenen Geschmacks bestritten, jede Kritik an sakrosankt gesprochener Kunst wird so von vornherein verunmöglicht. Wo etwas nicht gefällt, ist es Folge mangelnder Bildung, nur dem banalsten Vergnügen sind die Menschen dann noch fähig. So residiert Adorno (Horkheimer selbstredend auch) nah am Gipfel der Pyramide, hinterfragt nicht einmal in groben Zügen, ob sein Bild von Kunst und Kultur überhaupt stimmig ist und ggf. nicht auch die Verhältnisse zementiert, wie sie sind, und findet wenig freundliche Worte für die, die kulturell anderes schätzen. Dem Absolutismus der Kunst Verbundene einigt ähnliche, in der Regel von wenig Achtung getragene Haltungen zum Menschen. So hat einst Wilhelm Furtwängler, dem Pyramidengipfel noch ein wenig näher stehend, in einem Gespräch zu Protokoll gegeben: »Jedes Publikum […] muß zunächst als eine willenlose Masse, die hemmungslos, gleichsam automatisch auf jeden Reiz reagiert, angesehen werden. […] [A]lles, was in der Kunstöffentlichkeit geschieht, [geht] durchaus triebhaft, unberechenbar, ohne höheres Bewußtsein vor sich […]. Die sogenannte ›Öffentlichkeit‹ ist sich in musikalischen Dingen über nichts weniger klar als über sich selbst.«643
Auch in Äußerungen wie diesen drückt sich der unbedingte Glaube an den Absolutismus der Kunst aus, an die unvergleichliche Bedeutsamkeit von Kunst und daraus abgeleitet an die eigene Bedeutsamkeit. Für Furtwängler spielt die Zeit, die zur Erschließung absoluter Werke notwendig sein soll, eine große Rolle. »Es kann zuweilen Jahrzehnte, kann Menschenleben in Anspruch nehmen.«644 Für die kontemplative Durchdringung der absoluten Werke wird Zeit eingefordert, die weniger begüterten Menschen in der Regel fehlt. Damit bleibt der Kreis derer, die eingeladen sind, sich vermeintlich erhellen zu lassen, wie es auf anderem Wege nicht möglich sein soll, von vornherein eingeschränkt. Man bleibt unter sich. Die Argumentationsfigur bleibt zuletzt eine, die einen selbst in hehre große Licht des Wissenden, »das Publikum – ›träge‹, wie es nun einmal ist« –, aber zum Unwissenden und zur Negativfolie erklärt, vor dem/dem man sich abhebt als Verkünder der absoluten Musik.645 Der Ausdruck der mangelnden Achtung, die hier geradezu umfänglich zum Ausdruck kommt, ist Folge jenes Weltbildes, geboren aus dem kunstreligiös geprägten Absolutismus, von dem auch der (Neu-)Humanismus getragen ist. 641 642 643 644 645
Ebd. Ebd. Furtwängler, Wilhelm: Gespräche über Musik. Zürich (Atlantis) 1949, S. 8. Ebd. Ebd., S. 10.
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Der Dirigent Furtwängler formuliert seine Haltung zum Menschen aus einer Parallelwelt heraus, die zwar noch eine Deutungshoheit in Sachen Kunst für sich reklamieren kann, die aber doch infolge auch technologisch bedingter Demokratisierungsprozesse allmählich in Rückzugsgefechte sich gedrängt sieht. Dieses Pyramidenbewusstsein, das sich mit Meinungsvielfalt oder demokratischen Verhältnissen wenig verträgt, hat sich lange erhalten, ist aber durch technologische Erfindungen wie Grammophon, Lautsprecher, Schallplatte sukzessiv unterwandert worden. Schon zur Zeit der ersten Demokratie in Deutschland wird die Kunst infolge technologischer Innovationen demokratisiert und diese Pyramide erschüttert, bekommt erste, wenngleich nur feine Risse. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst wachsen die Kontaktzeiten mit ebendieser Kunst für breite Bevölkerungskreise, dies allerdings sehr zum Unwillen in Sachen Kunst Privilegierter, weil mit der Rezeption von Kunst die Ideologie vom Absolutismus der Kunst nicht gleichermaßen verinnerlicht wird. Mit den technologischen Erfindungen, den mannigfaltigen Reproduktionstechniken im Raum der Kunst, sieht Adorno das Zeitalter der ›Kulturindustrie‹ heraufdämmern, die seiner Meinung nach der Demokratie nicht gewogen ist. Recht eigentlich aber sind es gerade diese Reproduktionstechniken, die zur Demokratisierung beitragen und auch den Absolutismus der Kunst tief erschüttern. Man bildet sich eine eigene Meinung, hebt hervor und stellt beiseite, wie es vordem nicht denkbar war. Die Gipfelstürmer in Sachen Kunst fühlen ihre Position tief erschüttert, führen verbale Rückzugsgefechte. Mit Bedauern ist mitunter das Aufheben der ständischen Ordnung beklagt, wie Ernst Krenek im 20. Jahrhundert 1930 noch formuliert: »Durch das Aufhören der ständischen Gliederung der Gesellschaft haben die Privilegien bestimmter Schichten auf gewisse Erzeugnisse auch ein Ende genommen. […] Die Kunst dem Volke, die Kunst für alle. Dagegen wäre nun nichts einzuwenden, wenn dabei nicht übersehen würde, daß eine Beziehung zur Kunst nicht automatisch durch das Vorhandensein eines Menschen in einem Konzertsaal auf Grund verbilligten Kartenbezuges entsteht, sondern erst auf Grund einer geistigen Voraussetzung.«646
Diese aber fehlt dem weniger begüterten Menschen, weil ihm im Zuge zeitaufwändigen Selbsterhalts die Möglichkeit zur Einweihung verwehrt bleibt, wie Krenek dies nennt. Mit der Reproduktionstechnik der Schallplatte hat dieser durchaus gewollte Initiationsritus »Einweihung« seine maßgebliche Relevanz verloren. Die Kunst wird »zwischen Delikatessenhandlungen und Raseurge-
646 Krenek, Ernst: Der schaffende Musiker und die Technik der Gegenwart. In: Kestenberg, Leo (Hg.): Kunst und Technik. Berlin (Volksverband der Bücherfreunde. Wegweiser-Verlag; epOs) 1930/2000, S. 148.
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schäften in jeder Gasse verhökert«647, sagt Krenek treffend, und es drückt sich auch darin aus Trauerarbeit ob untergegangener besserer Zeiten. Für den Komponisten Arnold Schönberg drückt sich in der »Kunst für alle« quasi ein Oxymoron aus. Er kommt zu dem Schluss: »›Wenn es Kunst ist, dann ist es nicht für die Menge.‹ ›Wenn es für die Menge ist, dann ist es nicht Kunst.‹«648 Die Läuterung durch Kunst gelingt offenkundig nur, wenn nur von vornherein Auserwählte eingeladen werden bzw. nach vorgegebenem Programm zur Einweihung eingeladen wird. Auch Walter Wiora argumentiert in diesem Sinne, wenn er schreibt: »Durch Massenverbreitung kann Vertrautheit mit einem Musikstück in Abstumpfung umschlagen«649, als er zum einen die Abnutzung musikalischer Ausdrucksmittel durch häufige Verwendung bedenkt, begleitet noch zum anderen durch die Distribution von Musik. »Symphonien Bruckners schallen aus Lautsprechern als breiige Klangströme in Alltagsgeschäfte hinein.«650 In allen Statements wird im Grunde für eine schichtendichte, geschlossene Gesellschaft eingetreten. Diese Vorstellungen arbeiten mit einer einigermaßen seltsamen, man kann fast sagen wenig dem Menschen gewogenen Konstruktion: Zum einen soll der Normalbürger die hohe Kunst, für die Künstler, Schriftgelehrte und an der Kunst Gebildete einstehen, uneingeschränkt achten, zum anderen soll sie – die Kunst – dem Normalbürger besser vorenthalten werden, weil dadurch die Kunst profanisiert, trivialisiert, entweiht würde. Die Fachdisziplin Musik trägt mit ihren überschäumenden Schriften zu Kunst und Komponisten in nicht geringem Maße die Verantwortung an dem sorgsam gestrickten Mythos einer überzeitlichen Musik und an dieser Form von Absolutismus. Im Zuge der romantischen Codierung von transzendent/immanent ist eine Trennung der Musik verfügt, die kaum wissenschaftlich zu legitimieren ist, aber romantisch zu erklären ist und in religiösen Heilsbotschaften sich erfüllt. Wer der Kunstreligion mit absolutistischen Zügen sich hingibt, ist kaum in der Lage, eigene Haltungen zu überdenken, zu sehr engt das Schema von »E« und »U« diese ein, lässt nur eines denken und fällt von vornherein andere ästhetische Vorstellungen aus. Es ließe sich eine Formulierung von Ludwig Wittgenstein aus seinen Philosophischen Untersuchungen anführen, die diesen Sachverhalt benennt und besagt: »Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was
647 Ebd., S 149. 648 Schönberg, Arnold: Briefe (Brief an William Schlamm v. 01. 07. 1945), hg. von Stein, Erwin. Mainz (Schott) 1958, S. 248. 649 Wiora, Walter: Das musikalische Kunstwerk., a. a. O., S. 69. 650 Ebd.
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wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.«651 Mit der Einstellung, dass Kunst nur einem eingeschränkten Publikum zur Verfügung stehen soll und jenseits dieses auserwählten Publikums minderer Geschmack nur waltet, stehen die Musiker, Komponisten und Schriftgelehrten des Faches Musik selbstredend nicht allein. Auch die anderen Künste haben ihren Teil dazu beigetragen: Noch das Jahr 2013 verneigt sich vor dem künstlerischen Absolutismus auch jenseits der Fachdisziplin. Es klingt in Schriften ein Bedauern an um dessen Niedergang, indem Kunst sich breiten Schichten geöffnet zeigt, die nun rezipieren sowie agieren mögen, wie sie wollen. So weiß bspw. der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa im Jahre 2013 zu berichten, dass die Hochkultur ehedem »ob ihrer Komplexität und zuweilen schwer verständlichen Codes zwangsläufig einer Minderheit vorbehalten«652 gewesen sei, und es schwingt Bedauern in seinen Worten mit, denn diese Zeiten der kontemplativen Anstrengung scheinen mit Zugangsberechtigung für »die größtmögliche Anzahl von Menschen« endgültig vorbei. »Quantität auf Kosten von Qualität.«653 Was folgt sodann, ist ein einziges Lamento, das den untergegangenen Zeiten nachtrauert. Die Auswanderung der Kultur aus einem begrenzten Milieu in den breiten gesellschaftlichen Raum, »dieses lobenswerte Ansinnen[,] [hatte] den unerwünschten Effekt, dass es das Kulturleben trivialisierte und ins Mittelmaß herabzog; wobei formale Laxheit und inhaltliche Seichtigkeit der Kulturprodukte mit ebendiesem Ziel gerechtfertigt wurde, die größtmögliche Anzahl von Menschen zu erreichen.«654 Die in solchen Klageschriften wie in einer Endlosschleife gefangene Rede von der Trivialisierung der Kultur, ihrer Entwertung, und die Klage, die darüber statthat, wird aus der Öffnung der Kultur für alle hergeleitet und reproduziert das romantische »E«/ »U«-Schema. Ein Verlust geht damit gleichwohl nicht einher, denn es bleibt jedem ja unverloren, Kunst nach eigenem Ansinnen weiterhin zu schätzen und so zu zelebrieren, wie man mag. Das Problem, das kränkt: Die rituelle Kunstverehrung gleichwohl trifft auf keine Umwelt mehr, die dem Ganzen einen besonderen Status einräumt. Die rituellen Handlungen, die sich ausgebildet haben, die Initiation, das Einführen in jenes Kulturleben, haben nicht mehr die gesellschaftliche Anerkennung wie ehedem. Es finden sich immer weniger, die dieser kultischen Verehrung noch folgen mögen. Mittlerweile drückt sich darin eine 651 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus/Philosophische Untersuchungen. Leipzig (Reclam) 1990, S. 157 (§ 103). 652 Llosa, Mario Vargas: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst. Berlin (Suhrkamp) 2013, S. 33. 653 Ebd. 654 Ebd.
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Kunstrezeption vergleichbar vieler anderer aus. Und das mag stören, auch kränken. Wer im Übrigen, wie der Autor Llosa es macht, im Kulturleben allein den Boulevard noch ausmacht, wie der Titel seines Buches das dokumentiert (»Alles Boulevard«), verkennt das ausdifferenzierte Kulturleben der Gegenwart, das auf allen Ebenen statthat. Oder er kennt es einfach nicht – wie auch bei der unübersichtlichen Fülle, die es gibt? Aber schon ein flüchtiger Blick auf YouTube, Deezers oder auch Spotify könnte eine vage Ahnung geben von dem, was alles möglich in der Kunst heute ist. Was wird der Nobelpreisträger Llosa schon von Bands wie Spiritualized oder Giant Sand, Gesaffelstein und so unzählig vielen anderen wissen? Zu vermuten steht: NICHTS! Und würde die Rezeption auch gesucht, wäre das Urteil aufgrund des eigenen verabsolutierten Geschmacks voraussichtlich nicht wirklich gefällig sein? Ist das Vorurteil in Sachen Kunst nicht so tief verankert, dass »Offenohrigkeit«, die Bereitschaft, auch gänzlich Neues sich zu erschließen, sich darauf einzulassen, so gut wie ausgeschlossen werden kann? Das Kulturleben der Gegenwart reicht vom gut verkäuflichen Mainstream bis zur kaum Zuspruch findenden experimentellen Nischenkultur, die trotzdem ihre Interessenten findet. Es lässt sich die These aufstellen: So viel Kultur wie gegenwärtig war nie! Kultur entfaltet sich in alle Richtungen ohne restriktive Maßregelungen mehr. Gerade auch dem Experiment gewogene Minderheiten können heute ihre ihnen gemäße Kultur entwickeln, leben, weil die unterschiedlichsten, mitunter auch unvergleichbaren Kulturen ihre Orte finden, wo früher eine ideologisch überhöhte wie hofierte – man möchte auch hier beinahe sagen – »Mainstream«-Kultur von Beethoven & Co relativ einseitig sich aufgestellt zeigte und wenig anderes Geltung erlangen konnte, weil es kommunikativ in Abrede gestellt wurde. Zwischen den Ideologien von Absoluter Musik, Gesamtkunstwerk und wenigem mehr konnte schwer nur anderes sich behaupten und wenn dann nur im Widerstreit bzw. als Bodensatz. In der Ideologie vom Absolutismus der Kunst drückt sich mangelnder Respekt gegenüber allem aus, was von der Ideologie nicht inkludiert ist. Auch die folgenden Ausführungen von Pierangelo Maset sind von der »E«/ »U«-Dichotomie infiziert und wähnen sich der ernsten Sache gewiss, was den Absolutismus der Kunstreligion fortzuschreiben gedenkt. Er schreibt: Angesichts der »Ausrichtung an der Masse« gelte es für den »Schutz der Minderheiten und ihrer Positionen«655 einzutreten. Darin wäre der Vollzug gelebter Demokratie angezeigt, dass eine vom Autor persönlich geschätzte »Lebensweise« nach wie vor ihren Platz findet in der Gesellschaft. Maset wie Llosa erweisen sich als Brüder im Geiste. Zu beiden kunstapokalyptischen Haltungen ist zu sagen: Der Platz in der Gesellschaft für überkommene Kunst ist in keiner Weise gefährdet, nur der ihm zukommende Stellenwert ist relativiert. Für andere Lebensweisen 655 Maset, Pierangelo: Geistessterben, a. a. O., S. 111.
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findet der Autor Maset, sofern sie von einem größeren Publikum Zuspruch erfahren, ebenfalls wenig freundliche Worte, wenn er klagt, dass durch die »Ausrichtung an der Masse« und die vorgebliche Instrumentalisierung demokratischer Prinzipien durch die Massenmedien »die unumstößliche Dauerherrschaft des durch Mehrheiten gesicherten Mittelmaßes […] sich fettleibig fort[setzt]«.656 Wer so argumentiert, kennt die auch im Kultursektor auf Interaktivität ausgerichteten Medien nicht. Er pflegt nach wie vor das Kulturindustrie-Theorem, das schon zu Zeiten Adornos fragwürdig war und unter digitalen Voraussetzungen den letzten Rest an Stimmigkeit verloren hat. Nicht kulturelle Nivellierung, sondern Differenzierung vollzieht sich in einem Medienzeitalter, wo das lineare Sendeschema des Broadcasting längst aufgebrochen und auf dem Rückzug ist. Eine Online-Kultur sucht sich ihre eigenen, von Interaktivität bestimmten Wege. Interaktivität impliziert De-Linearität, und De-Linearität impliziert nicht nur Vielfalt, sondern immer auch Emergenz (hier in Sachen Kunst). Die Argumentation von Maset wählt – wie so oft und fast schon paradigmatisch in kulturkritischen Schriften vorzufinden – den allzu groben Pinselstrich, der zugunsten der Festigung eigener Position alle filigranen Feinheiten meidet, die der eigenen Position zuwiderlaufen. Auch hier waltet – neben einer nicht hinreichend erschlossenen Gegenwartskultur – eine Ideologie des mangelnden Respekts oder mangelnder Anteilnahme anderen Kunstausformungen gegenüber. In solcher Argumentation drückt sich jene absolutistische Haltung aus, wird implizit doch zum Ausdruck gebracht, dass die von vom Autor Maset ins Blickfeld genommene und geschätzte Minderheit in individuellen Geschmacksfragen um den rechten Weg des Geschmacks für alle weiß, während die »Masse« nur das Mittelmaß schätzt. Der – sagen wir lieber etwas neutraler gestimmt – Mehrheit der Bevölkerung wird per se jeglicher richtungsweisender Geschmack mit Geltung abgesprochen. Es unterstellt obendrein eine Homogenität von Masse, dass jenseits der eigenen verorteten vorzüglichen Minderheit die Mehrheit der Bevölkerung gleichen und selbstredend minderwertigen Geschmacks ist. Bevölkerung aber ist nicht einem durchgerührten Kuchenteig ähnlich mit vergleichbaren Vorlieben, eher einem bunten durcheinandergewürfelten Kieselstrand. Die sogenannte Masse splittert sich auf in Individuen. Nicht jede Kunst, die ein breites Publikum goutiert, ist sicherlich von hervorragender Güte. Daraus leitet sich aber nicht der Umkehrschluss oder Fehlschluss ab, dass generell Kunst mit Breitenwirkung von schlechter Qualität sei, wie Maset unterstellt. Ebenso ist die von Maset befürwortete Minderheitenkunst nicht grundsätzlich herausragend. Auch für sie gilt: Sie ist von Licht und Schatten getragen. All das wird vom groben Pinselstrich und so von mangelnder 656 Ebd.
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Abstraktionshöhe übertüncht. Die in der Argumentation vorangetriebene Pauschalisierung Minderheit/ausgewiesen in Geschmacksfragen und Mehrheit/ Geschmack mit Mittelmaß ist wenig überzeugend noch nachvollziehbar. Sie erscheint kontaminiert vom Absolutismus der Kunst überkommener Provenienz. Die gegenwärtige Welt der Kunst kennt nicht nur die von Maset privilegierte Minderheit, der er selbst sich zugehörig fühlt, sondern sie ist voll der Nischen, für die sich andere Minderheiten interessieren. Der Minderheitenschutz, so macht es allerdings den Eindruck, wird nur reklamiert für jene Minderheit, die sich kanonisch gedachter Kunst und so dem Absolutismus vergangener Zeiten zugewendet hat. Vernachlässigt scheint der Minderheitenschutz für so viele andere künstlerische Richtungen, um die man ob ihrer Vielfalt gar nicht in Gänze wissen kann. Die Minderheit, der allein Geltung zugesprochen wird, ist eingebettet ein hierarchisches System von Künstlers Gnaden und steht oder stand an der Spitze der Pyramide, was verständlicherweise in Konflikt steht mit der Vorstellung vom Volk als Souverän. Die Dogmatik des mangelnden Respekts ist ein immer wiederzufindender Reflex, ob die Autoren nun Schönberg, Krenek, Adorno, Horkheimer657, Llosa, Maset etc. heißen. Der mangelnde Respekt gegenüber den Vielen, die anderes schätzen, erinnert latent bis offenkundig an Haltungen früherer, überwunden geglaubter Zeiten, als bspw. auch ein Thomas Mann seine Abneigung gegen das demokratische Wesen dadurch begründet, dass das Volk, abermals »die Masse«, um seinen eigenen Willen nicht wüsste, sondern nur wenige Auserwählte seines Schlages wüssten, was des Volkes Wille ist.658 In Kunstfragen gilt natürlich auch die gleiche Zuschreibung von Verantwortlichkeiten. Nur ausgewiesene Persönlichkeiten wissen, wo des Pudels Kern in Sachen Kunst zu finden ist. Solche Haltungen zeichnen sich insgesamt durch ein ganz eigenwilliges Demokratieverständnis aus, das mehr an Platons ›Wächterstaat‹ erinnert, in dem der auserwählte »Fachkundige« eine herausragende, regulierende Rolle spielen sollten, als an demokratische Verhältnisse mit gleichem Stimmrecht. Um Minderheitenkunst, um die Maset sich sorgt, muss einem nicht bange werden, weniger denn je. Sie ist einfallsreich und sucht sich ihre Orte, an denen sie ihr Publikum findet. Das hält sie auch lebendig. Es ist gerade kein Mittelmaß zu verzeichnen, eine Einebnung von Unterschieden, sondern im Gegenteil, eine Ausdifferenzierung in einem bisher nicht gekannten Maße ist im Kunstsystem von heute zu beobachten. Dass in der Menge der Erscheinungen auch gut verkäufliches Banales sich begibt, wer wollte das bestreiten? Doch die verkaufsträchtige Banalität hat von jeher ihren gesellschaftlichen Stellenwert gehabt und 657 Vgl., S. 267–271. 658 Vgl., S. 113–115.
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ist keine Erfindung gegenwärtiger Entwicklung. Die Behauptung von der Verflachung der Künste und der totalen Ökonomisierung – so pauschal sie formuliert ist, so falsch ist sie. Die Sorge, die manche umtreibt, ist eher der Verlust der eigenen Privilegien und auch Meinungsführerschaft in Sachen Kunst. Kunst, einst ideologisch überhöht, hat sich nunmehr einzureihen in die Vielfalt der umstehenden Künste. Die rituelle Überfrachtung überkommener Kunst kann sich keiner allgemeinen Wertschätzung mehr erfreuen, die einst zur Religion hochstilisierte Kunst hat sich ihre neuen öffentlichkeitswirksamen Orte zu suchen und muss auch – auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt – um ein neues Publikum werben, ja »buhlen«. Wo in der Vergangenheit ein bildungsbürgerlicher Diskurs im Zuge privilegierter gesellschaftlicher Vernetzung mit Macht eigene persönliche Wertschätzungen zu absoluten erhob, sind heute andere diskursive Praktiken getreten, die – und darum möchte man danken – demokratischer aufgestellt sind. Die Gegenwart kennt weniger den Absolutismus der Kunst denn mehr flache Hierarchien. Der tiefe Fall vom Gipfel auf die gleiche Ebene schmerzt. Das einst Begründungsunbedürftige muss nun stets immer wieder neu begründet werden. Das einst weitgehend Konkurrenzlose steht nun in stetiger Konkurrenz. Und auch das schmerzt. Bis in die Gegenwart sind gleichwohl – obwohl die lebendige Kultur längst andere Wege geht – die Ausläufer dieser Religionsbewegung der (Musik-)Kunst weiterhin auszumachen auch an ihren Tempeln, zu denen Wallfahrten sich vollziehen oder sich vollziehen werden: Was der Religion der Petersdom in Rom oder der Dom zu Köln ist, ist der Musik der Hügel in Bayreuth oder die Elbphilharmonie in Hamburg. Religiös anmutende Pilgerstätten, in denen Kunst nicht gelebt, sondern im Sinne einer rituellen Handlung wie früher zelebriert werden. Wer sich um den Minderheitenschutz dieser Provenienz sorgt, muss um diesen nicht bange sein bspw. angesichts des Spektakels, das jedes Jahr sich ›wagnerisch‹ begibt, oder angesichts der vielen Millionen, die jedes Jahr in den Kultursektor fließen. Dass unbenommen dessen monetäre Gaben weniger üppig fließen als zu anderen Zeiten, sieht als Reflex die Klage vom Untergang der Kultur nebst Forderung des Schutzes der Minderheit. Auch steigt der Rechtfertigungsdruck an für Ausgaben, die nicht dem Gemeinwohl dienen. Die zum Beispiel erhobenen Bayreuth wie die Elbphilharmonie zeigen an: Der Absolutismus lebt nach wie vor und erscheint – wie es absolutistischen Ausprägungen zu eigen ist – wenig legitimiert durch den Souverän, sondern behauptet durch eine Einfluss nehmende Minderheit. Diese Verneigung vor dem absoluten Werk wird gegenwärtig getragen wenn schon nicht von ›Gottes Gnaden‹ so doch immer noch von romantischem Gespinst, über das Gottes Wille durch die Hintertür wiedereinführt sich sieht. Zu wünschen wäre eine Kehrtwende, wie sie einst Thomas Mann vermochte, als er sich lossagte von seinen der Demokratie fernstehenden Ideen. »Musik, Metaphysik, Psychologie, eine pessimistische
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Ethik, ein individualistischer Bildungsidealismus«659 hätten für das von ihm vertretene Denkmodell eines Staates, der zur Demokratie sich ablehnend verhält, verantwortlich gezeichnet. Er distanzierte sich davon. Zu wünschen wäre, dass auch heute umfänglich die Revision gelänge. Es hieße das Illusionstheater beenden, das um Bildungshumanismus und ästhetische Modelle mit Heilsvorstellungen gespielt wird. Das Terrain, in dem der kunstreligiöse Absolutismus regiert, wird stetig kleiner, was Hoffnung auf Besserung demokratischer Verhältnisse gibt. Eine fortschreitende Entmystifizierung ist in Gang gesetzt. Der »Wächterstaat« bleibt allein ein Denkmodell, das am Horizont gleichwohl weiterhin drohend dräut.
659 zit. n. Fuchs, Max: Leitformeln und Slogans in der Kulturpolitik, a. a. O., S. 119.
Der Gegenstand der Fachdisziplin. Altbekannt, manchmal enervierend »If one had to hear Verdi incessantly in Paradise, I’d ask for leave and the occasional visit to Purgatory or perhaps even hell.«660
Das kommunikative Klima interessiert sich für Musik der Gegenwart im breiten Maßstab und drängt die Musik der Tradition (und die Schreiberzeugnisse dazu) an den Rand, weil sie wenig neu und allzu altbekannt klingt. Durch die stete Wiederholung altbekannter Musik in Neu-Interpretationen erhält nur in Nuancen sie ein neues Gesicht. Redundante Ereignisse zeigen sich in dem Aufzeichnen und Aufführen der immer selben Musik durch unterschiedliche Interpreten und Klangkörper. Die stete Wiederholung der immer gleichen Musik von Bach bis Mahler befördert die Langeweile und das »Bitte-nicht-schonwieder«-Syndrom. Hans Christian Schmidt hat das einmal prägnant mit Blick auf Lehrer beschrieben, der stets die gleichen Werke im Unterricht behandelt. »[D]em Lehrer hängen die Classicals des Musikunterrichts buchstäblich zu den Ohren heraus.«661 Selbst mancher Vertreter klassischer Musik lässt sich unfreiwillig zum Zeugen des »Bitte-nicht-schon-wieder-Syndroms« heranziehen, wenn bspw. der Pianist Alfred Brendel in seinem Buch »Music, sense and nonsense« schreibt, dass er lieber in der Hölle schmoren möchte, als ständig Verdi hören zu müssen. Betrachtet man Verdi als Leerstelle für die sattsam bekannten Vertreter klassischer Komponisten mit ihrer immer wiederaufgelegten Musik, so drückt sich offenkundig darin ein Plädoyer zur Veränderung und Erneuerung aus. Dass eine Konzerthauskultur trotzdem die Werke des einen Jahres alsbald schon wieder ins Programm aufnimmt, liegt daran, dass ein stetig älter werdendes Publikum nicht davon lassen mag, sich eingerichtet hat im Wohlbekannten und sich Neuem nicht öffnen mag. Daran ist auch nichts zu kritisieren. Nur neue Rezipienten lassen sich mit den Klängen von gestern nicht hinreichend erschließen. Im Wohlbekannten bildet sich für ein Abonnement-Publikum ein Hort ästhetischer Gewissheit ab. Fast noch mehr als an materiellen Besitztümern hängt, wie Peter M. Endres und Gerald Hüther zeigen, unser Herz an »feste[n] Über660 Brendel, Alfred: Music, sense and nonsense. Ebook (Robson Press) 2015. Pos. 6932. 661 Schmidt, Hans-Christian: Musikdidaktik zwischen Eh und Uh oder, a. a. O., S. 82.
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zeugungen, präzise[n] Vorstellungen und Ideen davon, worauf es im Leben ankommt.«662 Eine solche Sicherheit bleibt gleichwohl trügerisch, denn Leben grundsätzlich, und für die Kunst gilt dies nicht minder, heißt Veränderung, evolutionären Prozessen sich zu stellen, anstatt einen liebgewordenen Status Quo zu erhalten. Feste Überzeugungen, präzise unverrückbare Vorstellungen und Ideen, eben liebgewordene Routinen, stehen dem entgegen. Besitzstandswahrer und -verwalter betreiben so eher den Abgesang dessen, was sie zu erhalten suchen. Besitzstandswahrung führt zur Konservierung und im Zuge einer Idealisierung zur kultisch geprägten Fetischisierung sowie zum Abgleiten in nicht weniger als religiöse Gründe (sowie manchmal auch zum von Brendel beschriebenen Verdi-Syndrom, das den Fluchtimpuls begünstigt).
Tausendmal gehört und immer weniger verkauft/. Redundant gewordene Musikkulturen sind selbst, wo sie gefallen, wenig geeignet, marktwirtschaftlich vertrieben zu werden, denn Musikredundanzen stehen bei Liebhabern längst im häuslichen Regal, sie gleich dutzendfach zu kaufen erscheint als ein eher seltenes Phänomen. So lässt sich diese Redundanzproblematik in der Gegenwart auch an harten Tatsachen wie Verkaufszahlen sogenannter »E«-Musik ablesen, die man schon viel zu oft gehört hat: Bspw. verkaufte in den USA Abbados Antrittseinspielung der Ersten Symphonie von Brahms in fünf Jahren nur 3000 Stück. Um in die Gewinnzone zu kommen, hätten aber 50000 verkauft werden müssen. »Der Break-even-Punkt würde nicht erreicht werden, nicht vor der Wiederkunft Christi.«663 Eine Abbado-Edition der Deutschen Grammophon verkauft gar nur 60 Exemplare. Norman Lebrecht, der diese Daten ermittelt hat, ergänzt: »Muti, dem Antipoden von Abbado, ging es nicht besser. Zwei seiner Verdi-Opern bei Sony erreichten nicht einmal vierstellige Verkaufszahlen. Simon Rattles Sibelius, bei EMI erschienen, schaffte eine Auflage von 2000 für die Zweite und die Fünfte Symphonie und einige hundert für die übrigen. Haitinks Siebte Symphonie von Mahler tröpfelte in achtzehn Monaten mit einer Verkaufszahl von insgesamt vierhundert vor sich hin. Barenboim zählte sechshundert bei einer Dritten Symphonie von Bruckner.«664
662 Endres, Peter M./Hüther, Gerald: Lernlust. Worauf es im Leben wirklich ankommt. Hamburg (Murmann) 2014, S. 128. 663 Lebrecht, Norman: Ausgespielt. Aufstieg und Fall der Klassikindustrie. Mainz (Schott) 2007, S. 171. 664 Ebd., S. 171.
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Die Verkaufszahlen für Europa lesen sich etwas günstiger, doch die Tendenz ist dieselbe. »[D]as Ausmaß der Katastrophe war unwiderlegbar.«665 Die Folge: Der Chef von Sony nimmt daraufhin von weiteren Klassikaufnahmen Abstand mit der Begründung, die guten Werke seien alle schon aufgenommen, und zwar viel zu oft. Ähnlich drastische Maßnahmen ergreifen auch EMI und Warner. Wo man zwischen 435 Versionen der »Vier Jahreszeiten« auswählen kann wie bei amazon666 oder zwischen 276 Versionen von Beethovens V.667, sind solche Entschlüsse nachvollziehbar. Der Sony-Chef beendet seine vernichtende Analyse: Es gäbe im Klassikbereich keine neuen Melodien im Angebot.668 Die früher hofierten Dirigenten sind heute genötigt, selbst Akquise zu betreiben, damit die immergleiche Musik auch in ihrer ganz persönlichen Interpretation den Markt noch befüllen kann: »Die Maestros waren so klein geworden, dass sie selber den Hörer in die Hand nahmen und um Arbeit bettelten. Abbado ging mit völlig Fremden zum Essen, in dem Bemühen, das Geschäft in Berlin zu puschen, wo die Musiker die Hälfte ihres Einkommens den Tonaufnahmen verdankten. Das beste Angebot, das ihm gemacht wurde, war, ein Paar unerquicklicher EMI-Sänger zu begleiten, Roberto Alagna und Angela Gheorghiu. Die Zeiten waren hart, also akzeptierte er es.«669
Abbados Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern, Simon Rattle, gelingt es ebenfalls nicht, »die Krise der Musikindustrie zu lösen, trotz seiner sozialen Initiativen, die von Unterhaltungen mit türkischen Akkordarbeitern bis hin zu Musikprojekten in sozial benachteiligten Schulen reichten.«670 Auch Solokünstler wie bspw. ein Rolando Villazjn tingeln durch die Medien und haben es trotz aller peinlich anmutenden Kaspereien, für die sie manchmal stehen, schwer, dem Publikum sich soweit anzudienen, dass ihre Alben sich halbwegs verkaufen. »Wie sehr der Klassikmarkt am Boden liegt, zeigte sich unlängst an Villazjns (stimmlich wie künstlerisch) misslungenem Händel-Album. Fast hatte man das Gefühl, die PR-Maschinerie implodiere hier in einer letzten, verzweifelten Anstrengung: Rolando bei Wetten dass …?, Rolando schon Wochen vor Erscheinen bei ttt, Macho Rolandito auf Riesenpostern in jedem Plattenladen. Im Vergleich zur Pop-Szene sind die Zahlen ohnehin lächerlich. Einzig Cecilia Bartoli und Anna Nebtrebko verkaufen neue Platten im sechsstelligen Bereich. Villazjn solo gerade einmal die Hälfte. Und alles 665 Ebd. 666 Eine aktuelle Sucheingabe bei amazon weist 1840 Einträge aus. Datum August 2015. Geprüft wurde aber nicht auf mögliche Doppelungen. 667 Eine aktuelle Sucheingabe bei amazon weist 1572 Einträge aus. Datum August 2015. Geprüft wurde aber nicht auf mögliche Doppelungen. 668 Lebrecht, Norman: Ausgespielt, a. a. O., vgl. S. 174. 669 Ebd., S. 172. 670 Ebd., S. 173.
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andere, was Rang und Namen hat, versendet sich oft weit unter 20000 Exemplaren. Profit machen, sagt Andreas Mölich-Zebhauser, könne man überhaupt nur noch mit Konzerten.«671
Nur über den Preis lassen sich klassische Aufnahmen noch adäquat verkaufen, wie das Label NAXOS bewiesen hat. In seinem Anfang produzierten für 100$ je CD Orchestermusiker aus östlichen Ländern klassische Musik am laufenden Band. »Dirigenten und Solisten erhielten 500 bis 1000 Dollar«.672 Auf TantiemenZahlungen verzichtet der NAXOS Label-Gründer Klaus Heymann völlig. NAXOS veröffentlicht alles, sofern es sich nur halbwegs verkaufen lässt, es reguliert die Nachfrage über den Preis. Der Erfolg gibt ihm recht mit der Folge: »Um Tonaufnahmen von einem Orchester zu machen, zahlt man heute kleinere Preise als am Anfang in der Slowakei und in Ungarn«673, sodass heute in Osteuropa eingespielte Werke von Einspielungen westeuropäischer Orchester oftmals ersetzt sind. Für Musiker, die es ehedem gewohnt gewesen sind, dass man ihnen für Einspielungen ein Honorar bezahlt und sie obendrein noch an den Tantiemen beteiligt, ist es ein schwieriger Lernprozess anzuerkennen, dass man dankbar sein muss, überhaupt Repertoire-Musik aufnehmen zu dürfen gegen geringes oder auch gar kein Entgelt. Der Weg, Aufnahmen über ein Eigenlabel zu vertreiben, verheißt ebenfalls nicht immer bessere Verkaufszahlen und Tantiemen, wie das London Symphony Orchestra (LSO) dokumentiert: »LSO Live, mit Haitink, Davis und Jansons, zahlte in seinem vierten Jahr weniger als 500 Dollar an die Musiker aus – weniger, als sie an einem einzigen Morgen bei EMI in der Abbey Road verdient hätten.«674 Die Einstellung Verantwortlicher, einer hinreichend oft aufgezeichneten Musik die lediglich nach individuellen Gesichtspunkten interpretierte Neuaufzeichnung zu verweigern, ist so leicht nachvollziehbar : Sicher ist es interessant, Interpretationen hinlänglich bekannter Musik zu vergleichen. Verlassen sei im Beispielhaften dazu das Es war einmal des Beethoven & Co und zugewendet dem auch schon, aber noch nicht ganz so fernen Gestern. Das »Yesterday« von den Beatles mag man sich anhören in der Interpretation von Caterina Valente und anschließend die von Sammy Davies jr. oder Ray Charles danebenstellen. Mike Krüger hat sich auch an diesem Lied versucht, und wie interessant ist es wohl, eine Interpretation von Karel Gott damit zu vergleichen. Auch Benny Goodman hat »Yesterday« seinen Stempel aufdrücken wollen. Und Neil Diamond führte im Jahr 2010 diesen Song in seinem Programm. Die Band Wet Wet Wet lässt es sich 671 Lemke-Matwey, Christine (unter Mitarbeit von Claus Spahn): Singen bis der Arzt kommt. In: Die Zeit, Nr. 30 v. 16.07.09, Feuilleton, S. 39. 672 Lebrecht, Norman: Ausgespielt, a. a. O., S. 149. 673 Klaus Heymann, zitiert n. ebd., S. 151. 674 Ebd., S. 178f.
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nicht nehmen, diese Melodie in ihrem Sound erklingen zu lassen. Und so könnte man die Aufzählung fortsetzen um zahlreiche Künstler und um namhafte Bands. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange die Musik jenseits dieser Interpretationen tatsächlich Neues gebärt, das den eigentlichen Sound der Zeit ausmacht. Allein immer nur »Yesterday«, vielleicht noch »Satisfaction« und wenig mehr zu interpretieren befriedigt nicht, weil man in jedem Neuaufguss das Gestern hört. Und an dieser Stelle entsteht das Problem, das die Musik der Vergangenheit mit ihrem Es war einmal hat: Wo jeder Dirigent im Bereich des Klassischen mit seiner persönlichen Interpretation von Beethoven & Co aufwarten möchte, erscheint das Weghören aus Überdruss beinahe zwangsläufig und notwendig. Nur auf den Nebenschauplätzen wird heute das Gestern im »Yesterday« in der Populären Musik wiederaufgelegt. Auf dem tagesaktuellen Marktplatz der Ideen erklingt ganz andere Musik. Als Evergreen findet es seinen eigenen Platz im tagesaktuellen Geschehen. Genau das aber fehlt im Sektor der Traditionsmusik. Mit anderen Worten gehört die Neu-Interpretation, wie die Populäre Musik zeigt, auf das Nebengleis, auf der Hauptstraße dagegen tobt das wohin auch immer sich krümmende Neues und Anderes schaffende Treiben der Musik, der Kunst. Die klassische Musik dagegen bleibt Neu-Interpretationen gestriger Musik treu verhaftet, erklärt sie zur Hauptsache. »[I]nnerhalb der Grenzen des alten Denkens wäre vorhersehbar gewesen, dass es eines Tages schwierig werden würde, der Kundschaft die dritte Zauberflöte oder zum x-ten Mal Dvorˇ#ks Symphonie Aus der Neuen Welt zu verkaufen«675, analysiert selbst Holger Noltze und beschreibt die Vermarktungsstrategien als »einerseits weiterhin Umwälzung des immer gleichen Repertoires in immer neuen Verpackungen und Editionen; andererseits [als] Aufbau von Star-Images, die sich dann eben auch wie die von Popstars kommunizieren lassen.«676 Ohne Star-Dirigenten wären Beethoven & Co wohl längst im Archiv mit gelegentlicher Wiederaufführung zu feierlichen Anlässen abgelegt. Dirigenten wie Furtwängler, Toscanini, Karajan & Co haben sich einst selbst zum Kult erhoben, was über die Selbstinszenierung geholfen hat, die Musik in der Endlosschleife für gewisse Zeit noch zu vermarkten. Der Dirigent Karajan hat sich auf Plakaten und Tonträgern in großen Lettern präsentiert, Beethoven musste mit kleineren Buchstaben sich bescheiden. Die Musik von Beethoven ist dabei lediglich Träger der Ikone Karajan und anderer gewesen. Es hätte auch die Musik von Bach oder Mahler sein können, über die dem Dirigenten gehuldigt worden wäre. Den Verkäufen ist es fraglos zugutegekommen.677 Will man die Musik von gestern und vorgestern erfolgreich vermarkten, muss 675 Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge, a. a. O., S. 160. 676 Ebd., S. 160f. 677 Karajan steht mit 200 Millionen Einheiten zu Buche. Vgl. Lebrecht, a. a. O., S. 188.
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zumindest der Rahmen aktuell erscheinen, wenn der Inhalt es schon nicht ist. Man denke an die Popkonzerte der Tenöre. Ein Pavarotti nebst der ein solches Ereignis produzierenden Firma konnten hundert Prozent der Einnahmen verlangen, während die eigentlichen Organisatoren über das erworbene Prestige ihre Geschäftsanteile sich sichern mussten und auch konnten.678 Die Verkaufszahlen der heute als Popstars vermarkteten Künstler klassischer Musik lassen sich wie bspw. bei den drei Tenören daher sehen (14 Millionen verkaufte Einheiten von der ersten und 7,8 Millionen Einheiten von der zweiten CD), insgesamt aber schreiben sich die Verkaufszahlen von klassischer Musik relativ übersichtlich, und im Vergleich zu tagesaktueller Musik tendieren sie – abgesehen von wenigen Ausnahmen – recht schnell in Richtung unerheblich. Indiz dafür ist auch, dass Enrico Caruso mit seinen 1903 aufgezeichneten Arien mit einer Million verkaufter Einheiten immerhin noch auf Platz 25 der meistverkauften Tonträger in der klassischen Musik rangiert.679 Im Marktsegment der Musik insgesamt wäre er damit nur unter ferner liefen aufzufinden. Eine Musik der Vergangenheit, zum x-ten Male aufgenommen, ist mangels innovativer Impulse wenig attraktiv für den Zuhörer.
»Neue Musik« in der nach unten offenen Abwärtsspirale/. Noch viel ärger steht es um die Musikkunst mit dem großen »E«, die als Gegenwartskunst dem breiten Publikum sich stellt. Sie nennt sich seit mehr als hundert Jahren Neue Musik und könnte – so möchte man meinen – Redundanzbereiche befrieden, also Neues bieten. Doch den Marktplatz der Öffentlichkeit meidet auch und gerade sie. Man muss sie schon gewissenhaft suchen, um sie zu finden. Und das Neue, das in der Regel in … a) atonalen Gefilden, b) der Verwendung von Geräuschen, c) der vokalen Deklamation, d) exzentrischer Rhythmik und e) klanglichen sowie dynamischen Hoch- und Weitsprüngen … seit mehr als hundert Jahren sich kombinatorisch abspielt und daher so viel Neues in seiner Rezeptur gar nicht bietet, zeigt wenig Sinn, um den möglichen Hörer sich zu kümmern und um ihn zu werben. Das Operieren mit jener altbekannten a/b/c/d/e-Rezeptur gibt der Kulturkritik von Adorno/Horkheimer einen ganz neuen – jenseits von Radio, Film u. a. angesiedelten – Sinn und 678 Vgl. Walsh, Michael: Keine Angst vor klassischer Musik, a. a. O., S. 162f. 679 Lebrecht, Norman: Ausgespielt, a. a. O., S. 187.
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Adressaten: »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit.«680 So extravagant Neue Musik oftmals auch daherkommt, so ähnlich im Grundgestus bleiben die Klangereignisse indes in vielen Fällen doch. Die Rezeptur, so ähnlich diese häufig auch daherkommt, ist nicht ausgewogen und geht am Geschmack des Publikums allzu oft vorbei. Im öffentlichen Raum ist sie kaum präsent, den Diskurs der Öffentlichkeit befruchtet auch sie nicht. »Das Ende der ›neuen‹ Musik ist offenkundig: Ihr System bricht zusammen, ohne daß die Öffentlichkeit dies registriert«.681 Die aus dem »E«/»U«-Blickwinkel fokussierte Neue Musik wird nicht ohne Grund von Claus-Steffen Mahnkopf als bloße Nischenkultur bezeichnet. »Die Neue Musik schließlich, unfähig der Partizipation am kulturellen Diskurs, hat sich zu einer Monade eines autoreferentiell sich selbst abwickelnden Subsystems abgeschlossen und ist dort ihren Neurosen ohne therapeutischen Außenkontakt ausgesetzt.«682 Eine solche Musik ist nicht geeignet, das Defizit der klassischen Musik aufzuheben und innovativ zu wirken, denn im absoluten Kreisen um sich selbst hat sie den Hörer längst vergessen, sie weiß allzu selten nur zu unterhalten, gleich ob das Neue nun schon hundert Jahre alt und vielleicht Schönbergs Namen tragen mag oder jüngeren Datums ist. So hat sich ein »Zirkel bloß der Beteiligten [entwickelt], der gleichsam um sich selber rotiert und sich selbst genug ist.«683 Die Antwort auf die Frage »Was bleibt?« vom Herausgeber des Buches mit dem Titel Was bleibt? 100 Jahre Neue Musik kann dahingehend beantwortet werden, dass viel nicht bleiben wird von der Neuen Musik. Auch der Rezensent zum Buch, Wolfgang Rathert, muss eingestehen: »Es stellt sich der Verdacht ein, dass die neue – oder emphatischer : Neue – Musik jenseits der Selbstwahrnehmung oder Selbstsuggestion ihrer Protagonisten und Exegeten ein Projekt bleibt, dass man euphemistisch als unvollendet, wohlwollend als wirkungslos und sarkastisch als gescheitert werten kann – und dies im Gegensatz zur Situation neuer Bildender Kunst, die regelmäßig Besucherrekorde, Skandale und gesellschaftlich relevante Diskussionen hervorbringt.«684
Die Zeiten, als Skandale und Skandälchen in der Musik die gesellschaftliche Welt bewegten, sind schon lange vorbei. Geringfügige Ausschläge sind selbst aus Bayreuth kaum mehr zu vernehmen. Gesellschaft hat sich – im Unterschied zur Fachdisziplin – grundlegend verändert. Zu bedauern ist das nicht, wenn man einmal ins Blickfeld nimmt, wie sich die Welt von einst fügte und wie sie sich heute fügt. Zum Nachteil hat sie sich – trotz aller gegenwärtigen Wertediskus680 681 682 683 684
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 108. Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritik der neuen Musik, a. a. O., S. 16. Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritische Theorie der Musik, a. a. O., S. 81. Ebd., S. 75. Rathert, Wolfgang: 100 Jahre Neue Musik. In: Zeitschrift Musik & Ästhetik, hg. v. Holtmeier, Ludwig/Klein, Richard/Mahnkopf, Claus-Steffen. Stuttgart (Klett-Cotta) 18. Jahrgang, Heft 72, Okt. 2014, S. 112.
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sionen und auch Probleme – nicht verändert. Die Belanglosigkeit des musikalischen Schaffens ist Folge der Ignoranz einer Vielzahl von Komponisten gegenüber den Wünschen des Publikums und Folge einer spezifischen Dünkelhaftigkeit, die mit Egozentrik und Ich-Botschaften aufwartet. Gleichgültigkeit gegenüber dem Publikum zeigten schon Schönberg & Co, doch nach dem 2. Weltkrieg wurde diese Tendenz auf Veranstaltungen wie den unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik noch verstärkt. Die von Wolfgang Steinecke auf den Weg gebrachten Internationalen Ferienkurse werden in jener Zeit zu 100 % ausfinanziert. Was als Hilfe gedacht war, unterstützt, bei allen musikalisch fruchtbaren Ergebnissen, den zunehmenden Autismus, unter dem die Neue Musik noch heute leidet. Der größte Fehler, den man hat machen können, war demnach, die Kunst vom Markt zu entkoppeln. Anstatt dass Komponisten ihre Musik zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes heranziehen mussten, indem sie einen breiten öffentlichen Markt bedienten, dem sie auch gefallen mussten, waren sie plötzlich vom Markt entkoppelt und brauchten nur noch – nichts und niemanden mehr Rechenschaft ablegend – vor sich hin zu komponieren. Künstler machen es ihrem Publikum nicht immer leicht, nunmehr fehlte aber auch jeglicher Ansporn, das Publikum mitzunehmen. »Die Komponisten blieben dort unter sich; nur die Presse war willkommen. Die nichtprofessionellen Musikfreunde waren nicht mehr angesprochen; sie wandten sich ab.«685 In der Regel als Erfolgsstory beschrieben, erscheinen die zum Beispiel genommenen Ferienkurse in Darmstadt in ihrer Entkoppelung von Musik und Zuhörer zurückblickend eher als Trauerspiel, das als Trauerspiel nicht wahrgenommen wurde, weil man die Absenz eines Publikums als Grundvoraussetzung für Innovation betrachtete. Diese autistisch anmutende Selbstbezüglichkeit ist der Neuen Musik ein Problem, das sie als Problem dort nicht erkennt, wo der Rezipient für seine mangelnde Zugewandtheit verantwortlich gemacht wird. Er hätte das Zuhören verlernt, wäre nur zur Zerstreuung bereit, würde sich mit nivellierten Klängen zufrieden geben, dem Hohen nicht gewogen sein u. a.m. Adorno u. a. liefern in jener Zeit die ideologische Unterfütterung. Eine kritische Reflexivität aber dem eigenen Tun gegenüber ist selbst heute noch nicht sehr ausgeprägt. »Das System setzt auf Bestandssicherung.«686 Mancher Komponist noch heute wähnt sich nach wie vor in besonderer Stellung stehend, quasi als Speerspitze einer Masse vorauseilend, meint belehrend wirken zu können – und wenn schon nicht als avantgardistische Speerspitze, so doch als moralische Instanz will er mit seiner 685 Zimmermann, Hans Werner : Über Musik und Musiker. Streifzüge durch die Musikgeschichte. Kassel/Basel/London/New York/Prag (Bärenreiter) 2015, S. 287f. 686 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritik der neuen Musik, a. a. O., S. 12.
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Kunst den kritischen Finger auf die gesellschaftlichen Wunden legen. Und doch spult er ab in dieser Haltung dabei nur das romantische Programm von der Kunst mit Mehrwert und macht dabei oft mehr Reklame für sich selber, reine Selbstdarstellung. Rezipierende Jünger für dieses religiöse Programm mit Sendungsbewusstsein sind allerdings kaum noch zu finden. Man ist des Programms behaupteter verborgener Sinnüberschüsse und der Selbstdarstellungen überdrüssig. Die permanenten Simulationen der Gewichtigkeit eigener Kunst sowie des Selbst als wissender »Seher« führen zum »Nichts-Neues«-Syndrom, zum allgemeinen Desinteresse und so zum Ende aller Inszenierungen der Selbstinszenierungen. Der potentielle Adressat Neuer Musik ist längst erwachsen geworden, er weiß um die Attitüden und das kritische Theater, das gespielt wird. Er lässt sich nicht länger als unmündiges Objekt deklarieren, das des künstlerischen Erweckungsrufes bedarf, um überhaupt kritisch denken zu können (oder gar zu dürfen). Als selbstbewusster Kunde, als Subjekt in eigener Sache, wendet er sich ab von der Ideologie leerer Phrasen, die allein der Konstituierung und dem Erhalt künstlerischer Autorität diente. Und so finden die Lehrveranstaltungen der Neuen Musik – so wie die Messe in der Kirche – im Konzertsaal vor ziemlich leeren Stühlen statt. Möge auch Welturaufführung an Welturaufführung sich reihen (schon das Apostrophieren von Kunst in entsprechendem Kontext zeigt an das Verheben am eigenen Gewicht), eine Inszenierung bedeutungsschwangerer Kunst ohne Publikum lässt die Kommunikation kalt und oft gänzlich unbeeindruckt. Ohne kommunikativ relevanten Anschluss gibt es jene einfach nicht. Abermals finden wir uns in einer Parallelwelt wieder, die eben im Kreisen um sich selbst, sich selbst genügt.
Absolut aufgeräumt. Der Zuspruch von Konzerten und Fluchtimpulse/. Diese Haltung wiederum, dass dem Rezipienten ein Unverständnis unterstellt wird bei eigenem richtigen sowie erkenntnisträchtigen Tun, das sich um den Zuspruch beim Publikum nicht kümmern muss, beginnt nicht in Darmstadt, auch nicht bei Schönberg zuvor, sondern ist geschuldet dem Gang in die Selbstbezüglichkeit als absolute Musik ehedem mit romantischem Tand im 19. Jahrhundert. »Nichts hat sich daran geändert, daß die autonome Kunstmusik einen Begriff von Musik überhaupt abgibt«, ist Claus-Steffen Mahnkopf trotz aller Kritik ansonsten dieser Sparte gegenüber überzeugt und für sie einge-
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nommen.687 Das Kunstwerk mit Heiligenschein, in dem ein Ideal im Objekt sich verwirklichte oder ein imperatives kritisches Urteil sich ausdrückte, ist dabei längst aus dem Zentrum in die Peripherie gerückt. Das Mandat des Absoluten findet keinen Zuspruch mehr, nicht nur weil darin allein ein romantisches Phantasma sich ausdrückt, sondern auch, weil die Rezipienten sich nicht wiederfinden können. Ihr Urteil fällt entsprechend vernichtend aus. Leere Säle und Kassen sind die Folge. Die Folgen: Das, was Neues bieten könnte, erklingt infolge seiner mangelhaften a/b/c/d/e-Rezeptur nur im kleinen Kreise oder traut sich niemand aufzuführen, weil man um das noch verbliebene AbonnementPublikum im Konzertsaal fürchtet. So bleibt allein die altbekannte Musik des Es war einmal seinem zunehmend ergrauenden Publikum treu. Ein neues, junges Publikum dagegen findet sich so leicht nicht, weil nichts Neues gefällig tönt oder das ansonsten Tönende ziemlich antiquarisch klingt. Aus dem Bewusstsein derer, die nach wie vor einen festen Begriff von Bildung und Kultur haben und Maßstäbe festgezurrt sehen im »E« und »U«, wird aber nicht der selbst geschätzten Musik ein Mangel zugewiesen, sondern eine zu diagnostizierende mangelnde Anteilnahme jüngerer Generationen an Konzerten klassischer Musik wird insbesondere dieser als Bildungsmangel ausgelegt. »In den letzten Jahren ist bei klassischen Konzerten und Opernaufführungen ein deutlicher Besucherrückgang bei Jugendlichen, aber auch bei der Elterngeneration beobachtet worden. Nach Untersuchungen des ›Jugend-Kultur-Barometers‹ interessieren sich nur noch 9 Prozent der jungen Leute (14 bis 24 Jahre) für Klassische Musik und nur 3 Prozent für die Oper.«688
Ein kulturelles Defizit wird daraus abgeleitet, und ganze Untergangsszenarien werden heraufbeschworen. Der Mangel wird auf Seiten des (jungen) Menschen, aber auch auf Seiten von Bildungsinstitutionen gesehen, die kulturelle Werte nicht mehr transportierten wie ehedem und von großen Meisterwerken immer weniger träumen. Das Defizit eigenen Handelns und die Notwendigkeit zur Änderung werden dabei nicht wahrgenommen. So wie ein Abonnement-Publikum bei Klängen Neuer Musik den Fluchtimpuls nur schwer unterdrücken kann, so ist dieser Impuls gelegentlich auch bei jüngeren Generationen zu verzeichnen, allerdings bereits schon den sogenannten Meisterwerken gegenüber. Badestrände werden bisweilen mit klassischer Musik zu später Stunde beschallt, wissend, dass damit das meist jugendliche Publikum sein Missfallen an der Musik durch Flucht äußert. Ähnlich sieht die Lage aus, wenn an die Musikbeschallung mit klassischer Musik in UBahnhöfen gedacht wird: 687 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritische Theorie der Musik, a. a. O., S. 226. 688 Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge, a. a. O., S. 61.
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– Ob man sie einsetzt, weil man sich erhofft, dass die hohen Frequenzen der Geige bei Drogenabhängigen als geradezu physischer Schmerz erlebt werden und als dessen Folge die Flucht erfolgt wie in Potsdam, – oder ob man sie einsetzt wie in Berlin, weil man sich von der Klangberieselung erhofft, dass sie einem unliebsamen Publikum wie Drogenhändlern irgendwann gehörig auf die Nerven geht, – oder ob man sie einsetzt wie in London in den U-Bahnhöfen, weil man sich über die Dauerberieselung nebst erkennbarem Einschläferungspotential eine höhere Friedfertigkeit erhofft und einen Rückgang der Kriminalität um 30 % konstatiert, … stets ist der Meisterwerkekultur mit doch latenter Ignoranz gedacht und sie mit Zwecken befrachtet. Die gesellschaftliche Kommunikation kümmert sich nicht ums »E« und »U« und sieht im Mangel an Anerkennung jener altehrwürdigen Musik kein eigenes Verschulden oder mangelndes Verstehen mehr bei sich, sondern in der Musik selbst. Im Sinne der Facebook-Generation wird geurteilt nach »gefällt mir« oder »gefällt mir nicht mehr«. Vieles wird allerdings gleich beiseitegelegt und kommt noch nicht einmal mehr in den Genuss, ein beiläufiges »LIKE« sich zu erwerben, um gewürdigt zu werden zu der einen oder anderen Seite.
»Crisis! What crisis?« Die Fachdisziplin Musik »Im deutschen Sprachraum ist offenbar eben nicht unversehens aus der Diskussion über die Musikwissenschaft eine Diskussion über die Musikwissenschaft geworden, also aus der Frage nach der rechten Gestalt eine Frage nach der Existenzberechtigung an sich.«689 »Die deutschsprachige Musikwissenschaft scheint sich augenblicklich in einer – möglicherweise selbstverschuldeten – Krise zu befinden, […]. Sie hat es versäumt, […], ihre zweifellos notwendige und grundlegende historische Gewichtung auf gesellschaftsrelevante Bereiche wie soziologische und psychologische Problemfelder vernehmbar zu erweitern, wie es die heutige Musikszene, ein im Umbruch befindliches Musik- und Kulturleben erfordert hätte.«690 »Nichts hat sich daran geändert, daß die autonome Kunstmusik einen Begriff von Musik überhaupt abgibt«.691 »[V]ermissen Sie die Dronte?«692
Die Band Supertramp hat in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Titel eines ihrer Alben, »Crisis! What crisis?«693 die Situation der sogenannten »E«- oder Kunst-Musik und des sie begleitenden wie behütenden Faches in universitärer Verankerung geradezu treffend genau beschrieben, ohne dass sie mit diesem Titel darauf abgezielt hätte. Von einer Krise könne eigentlich keine Rede sein, so ist von Vertretern der Fachdisziplin Musik immer wieder zu hören, wenn man es nur in Ruhe rührig streben und vor allen Dingen monetäre Gaben weiter fließen ließe. Der Unmut wird im Gegenteil darüber laut, dass überhaupt eine Nachfrage zum eigenen Tun sich erlaubt wird. Eine selbstkritische Betrachtung ist eher selten so zu beobachten, vielmehr die Empörung darüber, »dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, 689 Lütteken, Laurenz: Vorwort. In: ders. (Hg.): Musikwissenschaft. Eine Standortbestimmung. Kassel/Basel/ London/N.Y./Prag (Bärenreiter) 2007, S. 15. 690 Jung, Hermann: Schulmusik und Wissenschaft. Über den (drohenden) Verlust historischer Begründungszusammenhänge. In: Gauger, Jörg-Dieter/Wilske, Hermann (Hg.): Bildungsoffensive Musikunterricht. Freiburg i.Br. (Rombach) 2007, S. 36. 691 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritische Theorie der Musik. Weilerswist (Velbrück) 2006, S. 226. 692 Dekkers, Midas: An allem nagt der Zahn der Zeit. München (btb) 1999, S. 27. 693 Titel einer Langspielplatte der Gruppe Supertramp aus dem Jahre 1975.
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»Crisis! What crisis?« Die Fachdisziplin Musik
wie es war«, wie es prägnant in einer Verszeile von Hannes Waders »Heute hier, morgen dort« heißt. Jenes, was nicht geblieben ist, sind die Mythen bzw. Märchen, auf denen die Fachdisziplin ihre mittlerweile bedenklich wackelnden Grundmauern errichtet hat. Die Mythen/Märchen, die über Zeiten die Gesellschaft begleitet haben, sind längst obsolet und als Fundament nicht mehr tragfähig. – Der Mythos, Bildung wäre zuvorderst durch die Rezeption von Kunst und die Lektüre literarischer Schriften zu erwerben, hat Probleme, einen kommunikativen Widerhall noch zu finden. – Der Mythos, Bildung würde segensreich den Charakter prägen, hat seinen konjunkturellen Zenit schon vor Jahrzehnten überschritten. – Der Mythos, individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten wären durch Zweckfreiheit des Gegenstandes zuvorderst zu fördern, erweist sich als obsolet. – Der Mythos, eine Bildung ohne Ziel und Zweck würde quasi eine universelle Qualifikation ausstellen, die praktisch für jeden Beruf auszeichnete, wird vom Zeitalter zunehmender Spezialisierungen konterkariert. – Der Mythos, praktisch jedes künstlerische Artefakt müsste als erhaltungswürdiges Erbe recherchiert, editiert und katalogisiert werden, um den Bestand von Gesellschaft zu garantieren, ist kaum einsichtig zu begründen. – Der Mythos, es ließe sich zwischen »E«- und »U«-Musik trennscharf unterscheiden bzw. es ließe sich die Unterhaltungsmusik der Vergangenheit von der Unterhaltungsmusik der Gegenwart auf diese Weise abgrenzen, wird in immer kleineren Zirkeln gepflegt.
Die Musik als verspätete Disziplin/. Diese und andere Mythen respektive Märchen setzen der Musik und graduell den Künsten insgesamt zu. Mit Veränderungen wird sich schwergetan. Die Fachdisziplin Musik mag im Zuge des veränderten Kommunikationsklimas gleichwohl vor größere Probleme als andere geisteswissenschaftliche Fächer gestellt sein, sehen sich Musikschaffende, für die die Fachdisziplin sich in erster Linie interessiert, mit den künstlerischen Entwicklungen ihrer Zeit selten auf Augenhöhe, eher diesen nacheilend, ohne den Abstand merklich verringern zu können. »Die Musik bleibt im Allgemeinen in ihrer Entwicklung ein bis zwei Generationen hinter den anderen Künsten zurück, vielleicht deshalb, weil Musiker stärker in ihre Traditionen eingebunden und weniger an den jeweils neuesten Strömungen ihrer Zeit interessiert sind.«694 694 Keil, Werner : Musikgeschichte im Überblick. München (Fink) 2012, S. 207.
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Diese Aussage wird, obwohl vom Autor auf die verspätete Romantikrezeption im 19. Jahrhundert in der Musik bezogen, in einer verallgemeingültigten Generalisierung ausgesprochen und somit für die Gegenwart (oftmals augenzwinkernd) für ebenso gültig befunden getreu dem entschuldigenden Motto: Das Hinterherlaufen der Kunstmusik als auch der Fachdisziplin Musik hat Tradition. Veränderung tut nicht oder so bald nicht Not. Es bestätigt damit Nietzsches These von der Musik als verspäteter Kunst. Die Aussage des Autors Keil mag ihre Richtigkeit haben in Hinblick auf einen kleinen Kreis von Musikfreunden, die so denken mögen und lustlos hinterhereilen den künstlerischen Formen der Gegenwart. Weitet man dagegen den Blick auf Musikschaffende jenseits des eingeschränkten Interesses und so über den Tellerrand hinaus, wird diese These ihres Gehaltes entleert. Die Musik und die sie ausübenden Musiker jenseits dieses eingeschränkten Kreises erweisen sich als künstlerisch gegenwartsfest. Es pulsiert vor Ort sowohl in der Kunst selbst als auch in der sie begleitenden reflexiven Diskurskultur, wo allerdings einige wenige Kunstschaffende sowie zu dieser Kunst sich Äußernde immer nacheilen und hoffnungslos zu spät kommen. Claus-Steffen Mahnkopf, Vertreter der Fachdisziplin, findet denn auch wenig freundliche Worte für die Haltung des verspäteten Nachschreitens, das dem Fach wie eingeschrieben scheint: »Die Musikwissenschaft – insbesondere die deutsche – versteht sich als Geschichtsschreibung und reagiert auf dem Gebiet der Komposition – und weitgehend auch der musikalischen Praxis – mit einer erstaunlich konsequenten Askese gegenüber den relevanten geistigen Diskursen von heute. Und die wenigen Interessierten ihrer Zunft laufen in die Falle der herrschenden kompositorischen Gerontokratie: Sie rezipieren Komponisten mit jahrzehntelanger Verzögerung, ohne daß es ihnen besonders auffiele. Die lebendige Gegenwart entgleitet ihnen.«695
Die lebendige Gegenwart, die Mahnkopf vorschwebt, bewegt sich wiederum allein im Kreise dessen, was man Neue Musik nennt. Diese wagt allerdings den Schritt, das sei an dieser Stelle schon mal formuliert, in das vollumfänglich gegenwartsfeste musikalische Leben ebenfalls nicht. Aber selbst dieser eingeschränkt-umgreifende Blick auf die Neue Musik wird im Vergleich zum sonst begünstigten Untersuchungsgegenstand von Vertretern der Fachdisziplin in der Tat vernachlässigt, was sie selbst dieser Entwicklung nachschreitend verstehen lässt. Und auch hierfür gibt es gute Gründe: »Was vermag das theoretische Wissen über Kompositionstechniken, das an der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts gebildet wurde, wenn es nicht einmal mehr zum Erfassen der zeitge-
695 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritik der neuen Musik. Entwurf einer Musik des 21. Jahrhunderts. Eine Streitschrift. Kassel/Basel/London/N.Y. (Bärenreiter) 1998, S. 17.
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nössischen E-Musik taugt?«696 Die Krise der Geisteswissenschaften bildet sich so in verschärfter Form ab in der Einzeldisziplin Musik. Zehn bis zwanzig Jahre Verspätung kommen in heutiger Zeit einem Mehrgenerationenwechsel gleich. Nur Aktualität impliziert Resonanz und Akzeptanz. Der umgekehrte Fall fällt aus oder wickelt ab.
Parallelwelt ohne Resonanzereignisse/. Die Folgen: Die Fachdisziplin Musik sieht sich ihrer Gegenstände – der Partituren und erklingenden Phänomene – zwar nicht beraubt, aber doch der Wertschätzung ihrer Fundstücke und so auch ihrer gründlichen Arbeit insgesamt. Ein Beispiel: Das vor wenigen Jahren wiederentdeckte Kleinod Ahnung eines Robert Schumann, immerhin noch eine kleine Meldung in den Nachrichten wert, lässt doch zugleich die gesellschaftliche Kommunikation heute weitgehend gleichgültig. Vielleicht noch von einer Kultursendung am späten Abend aufgenommen, versendet sich Schumann und seine Ahnung, ohne irgendeine Resonanz erfahren zu haben. Ohne gelingende Anschlusskommunikation an die relevanten Diskurse der Gegenwart wird das von wenigen als Sensationsfund einer Notenhandschrift Empfundene (z. B. auch Neuentdeckungen Alter Musik) nur in jenem kleinen Kreis der Fachdisziplin wahrgenommen und wertgeschätzt. Jenseits dieses Kreises aber bleibt die Anerkennung – freundlich formuliert – überschaubar. Die Kommunikation geht darüber hinweg, hält andere Themen zentral besetzt. Die Fachdisziplin hat sich in einer Parallelwelt eingenistet ohne größere Außenweltkontakte. Ja, man stelle sich vor, im Zuge akribischer Detektivarbeit, bei der auch Kommissar Zufall seine nicht geringe Rolle spielen möchte, stellte sich heraus, Mozarts Requiem wäre – unter Verwendung weniger hinterlassener Mozart’scher Skizzen und eines vermuteten Austausches zwischen Mozart und Süßmayr über das Werk in seiner Fortführung kurz vor seinem Tode697 – nicht von seinen Schülern Franz Xaver Süßmayr, Franz Jacob Freystädtler und Josef Eybler vervollständigt worden698, sondern der Komponist selbst hätte neben dem knapp fünfminütigen Introitus auch Hand angelegt an den nicht ganz unerheblichen fünfundvierzigminütigen Rest. Es würde in der Fachdisziplin Musik mit historischer Ausrichtung ein Erdbeben festgestellt ob einer unglaublichen Sensation höchster Güte, die ganze Tagungsbände wohl noch auf 696 Gruhn, Wilfried: Lernziel Musik. Perspektiven einer neuen theoretischen Grundlegung des Musikunterrichts. Hildesheim/Zürich/N.Y. (Georg Olms) 2010, S. 71. 697 Vgl. Geck, Martin: Mozart. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 2007, S. 199. 698 Vgl. Melograni, Piero: Wolfgang Amadeus Mozart. Eine Biographie. München (Pantheon) 2009, S. 324.
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Jahre füllte. Doch jenseits der internen kommunikativen Aufregung wäre – bis fraglos auf eine Kurznachricht in den Tagesmedien und recht rasch abebbender Berichte im Kultursektor – diese Sensation als Sensation nicht wahrzunehmen, Folge des veränderten Kommunikationsklimas und so auch Folge veränderter Wertschätzungen gegenüber der kulturellen Güter der Vergangenheit. Doch nicht einmal Sensationsfunde im Sinne des hier konstruierten Mozart’schen Requiems sind zu erwarten. Auch der Glaube an nur mittelprächtige Funde oder Ergebnisse, die gesellschaftlich ihren in irgendeiner Form ihren kommunikativen Niederschlag fänden, entspringen allein kühnsten Träumen. Man möge dieses Gedankenexperiment von anderer Warte angehen und sich vorstellen, die gesamte Literatur der letzten dreißig Jahre in der Fachdisziplin wäre ungeschrieben geblieben, und sich fragen, inwieweit der gesellschaftlich kommunikative Raum dadurch heute anders aufgestellt wäre? Wäre nicht zu erwarten, dass das Konzertleben mit der bekannten Best-of-Klassik ganz ähnlich bestellt wäre wie gegenwärtig? Sind nicht – trotz der zahllosen Schreibarbeiten – in den letzten Jahrzehnten Paradigmenwechsel, die einen fundamentalen anderen Blick auf die Musik erlaubt hätten, (in der Fachdisziplin Musik wohlgemerkt) gänzlich ausgeblieben? Benennen denn nicht die letzten Jahrzehnte ein bloßes Weiter so wie bisher? Fügte sich, ließe man im Zuge des Gedankenexperiments die letzten dreißig Jahre einmal aus, das heute Beschriebene nicht beinahe nahtlos dort an, wo man vor dreißig Jahren den Schreibstift abgesetzt hätte? Striche man die Leistungen der Fachdisziplin weg, so als wären sie nie gewesen, der gesellschaftliche Raum würde – so stünde zu erwarten – davon kommunikativ unberührt geblieben sein. Mit anderen Worten: In den dreißig Jahren hat sich trotz aller Quantität auf der Habenseite wenig niedergeschlagen. Wo man sich Qualität erhofft, hat man Quantität geliefert. So nimmt es auch kein wunder, dass der Widerhall aller rührig regsamen Schreibarbeit der Fachvertreter in der Gesellschaft so verschwindend gering ist, dass sich Schwingungen – wenn überhaupt – praktisch nicht feststellen lassen. Die Ergebnisse und Erkenntnisse der Fachdisziplin Musik rangieren folglich weitestgehend unter dem Label »Belanglosigkeit«.
In der kulturellen Redundanzschleife liebgewordener Routinen/. Der Vergleich zum Kulturbetrieb insgesamt bietet sich an: »Die Illusion einer in Wirklichkeit längst verlorenen gemeinsamen Verständigungsbasis bewahrt er [der Kulturbetrieb; Anm. N.S.] durch die Konservierung und Fetischisierung historischer ästhetischer Kategorien und daran gebundener Wertvorstellun-
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gen«699, kritisiert der Komponist Helmut Lachenmann. Lachenmann beschreibt so eine Form von problematischer Besitzstandswahrung, wie sie auch in einem Kanon ausgedrückt ist. Das führt bei aller intellektuellen Finesse doch nur zur Trägheit des Denkens, denn es werden liebgewordene Routinen gepflegt, anstatt sich neuen Herausforderungen zu stellen. So hängt die Fachdisziplin Musik ihrer Illusion im Sinne Lachenmanns nach mit fatalen Folgen: Konservierung und Fetischisierung der Traditionsmusik in der Fachdisziplin Musik führen zur kultischen Wiederholung des Immergleichen und so beinahe zwangsläufig zu redundanten Schreib-Ereignissen. Der Diskurs der Fachdisziplin Musik hat zu dieser Fetischisierung und Konservierung nicht eben zum Vorteil der Musik der Tradition beigetragen. Im Gegenteil: Durch das eingeschränkte Interesse an der künstlerischen Gegenwart und das bis heute teils unveränderte »Meisterwerke«Diktum700 hat der Diskurs in der Fachdisziplin das eine wie andere befeuert: Konservierung und Fetischisierung. Die tradierte Musik als Gegenstand der Fachdisziplin, der das vornehmliche Interesse mit wenigen Ausreißern in andere Felder gilt, steckt selbst in einer opulenten Krise. Gesellschaftlich spielt sie längst eine Nebenrolle, während im Zentrum längst eine ganz andere Musik die Welt bewegt. Dem gesellschaftlich Beiseitegelegten gilt nach wie vor das Interesse der Fachdisziplin Musik, deren Schicksal folglich ähnlich aufscheint. Nur in der grandiosen Verkennung solcher Tendenzen im Fortschreiben überholter Bildungsillusionen kann man im Jahre 2012 noch an die Tagesaktualität tradierter Musik glauben und dies im Rahmen musikgeschichtlicher Überblicksdarstellungen und Vorlesungen Studierenden noch andienen: »Da die Werke des 19. Jhdts. von Beethoven bis Mahler, von Rossini bis Puccini in unserem Musikleben stark dominieren, bewegen wir uns nicht in einem historisch fernen Raum, […]; wir empfinden bei Musik des 19. Jhdts. vielmehr eine unmittelbar lebendige Tradition und erleben sie in einer Art ästhetischer Gegenwart.«701
Der Autor jener Zeilen, Werner Keil, ist seiner Parallelwelt, aus der heraus er dies formuliert, verfallen. Die Verwechslung der erklingenden Musik im Konzertsaal (in Klausur) mit der lebendigen musikalischen Gegenwart jenseits dessen verführt im Zuge eines wenig realistischen, schon gar nicht wissenschaftlichen, sondern mehr verzauberten oder verklärten Blicks zu dem Missverständnis, von »ästhetischer Gegenwart« eigener Art zu reden. Nichts dergleichen dominiert 699 Lachenmann, Helmut: Über Tradition. In: ders.: Musik als existenzielle Erfahrung. Schriften 1966–1995. Wiesbaden 1996, S. 339. 700 Ausgedrückt allein schon in Buchtiteln: vgl. z. B. Hinrichsen, Hans-Joachim/Lütteken, Laurenz (Hg.): Meisterwerke neu gehört. Ein kleiner Kanon der Musik. 14. Werkporträts. Kassel/Basel/London/N.Y./Prag (Bärenreiter) 2004. 701 Keil, Werner : Musikgeschichte im Überblick, a. a. O., S. 198.
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demnach wie behauptet. Vergangenheit ist nicht zu vergegenwärtigen so als ab sie heute wäre. Vergangene Traditionen sind nur als vergangene Traditionen – sozusagen als Austritt aus der Gegenwart – durch den Filter gegenwärtigen Erlebens zu goutieren. Von Dominanz gar der ehrwürdigen Meister im Musikleben kann überhaupt keine Rede sein. Sie gilt höchstens allein unter Ausklammerung des öffentlichen musikalischen Lebens privatissimo. Der Autor Keil mag die Musik von früher schätzen, die Verallgemeinerung zum Wir ist inakzeptabel, wo vom Ich die Rede sein müsste. Das vereinnahmende Wir in schriftstellerischer Rede versucht, die eigenen Vorlieben zu generalisieren, ist infolgedessen zurückzuweisen. Es ist Ausdruck mangelnder Einsicht für den tatsächlichen Stellenwert vergangener Musik. Im Wir ist eine Gemeinschaft adressiert, die sich wahrscheinlich wundern würde, wüsste sie, was alles in ihrem Namen alles so postuliert wird. Ohne relevante kommunikative Wahrnehmung in der Öffentlichkeit oder zumindest der respektablen Aufnahme jenseits der sie hegenden Fachdisziplin mangelt es der Traditionsmusik, neu Editiertem oder Wiederentdecktem – man möchte sagen – an Realitätsfestigkeit. Ohne Realitätsfestigkeit aber wächst auch der Rechtfertigungsdruck, dem auch das Fach ausgesetzt ist. Der einstige Adressat, das Bürgertum, ist weggebrochen. Das Bürgertum, weitgehend aufgegangen in die Mittelschicht, hat sich anderen Themen zugewandt. An die Stelle der Vergangenheitskultur, kommuniziert im kleinen gesellschaftlichen Kreise, sind vielleicht die Rolling Stones, Arvo Pärt, Radiohead, Ed Sheeran, Philip Glass, Rihanna oder meinetwegen auch Helene Fischer getreten, vielleicht aber auch lediglich der Börsenbericht und die nächste Weltwirtschaftskrise, die sich ganz ähnlich dem Schweinezyklus turnusgemäß mit Sicherheit einstellt. Die Vergangenheit dagegen hat ihre Zeit gehabt, sie verhält sich zur Gegenwart anachronistisch und antiquiert, ist daher an die Museen oder im Falle der Musik an die Konzertsäle verwiesen, was graduell dasselbe ist. Jenseits ihrer Mauern wird tradierte Kultur oder Kunst oft nur noch dann ein Thema, wenn … – opulente, werbewirksam in Szene gesetzte Ausstellungen auf ihr sonntägliches flanierendes Publikum hoffen, – auf Auktionen beträchtliche Summen für in Safes gelagerte Kunst gezahlt wird, – das Thema Original und Fälschung aus begründetem Anlass über die Feuilletons hinaus die Medien beherrscht… – oder wenn Beutekunst der Nazis ihre rechtmäßigen Besitzer selten findet, weil das Gesetz das nicht vorsieht bzw. den Erwerb trotz der unseligen Umstände in der Vergangenheit einem erstaunten Publikum für rechtmäßig erklärt. In ein Museum kann man kommen und gehen, wann man will, sich anregen lassen, vielleicht auch ärgern zu Zeiten, die man selbst bestimmt. Die Musik der
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Vergangenheit hat aber – anders als die übrigen Künste – nicht einmal im Museum einen Ort, wo – auf den Besuch eingestellt – sie permanent ausgestellt auf ein sonntägliches Publikum warten könnte, denn ohne konkreten Aufführungstermin gibt es sie einfach nicht. Nur im Konzertsaal zu vorgegebenen Zeiten ist sie zu haben. Dieses Angebot zur Prime time steht allerdings in Konkurrenz mit attraktiven Angeboten am anderen Orte. Und anders als die manifeste Museumskunst, die die Gleichzeitigkeit vieler Zeiten und Objekte gewährleistet, ist dem Konzertsaal die Aufführung nur recht weniger Stücke und das heißt bewährter Klassikhits möglich. Der determinierenden Kraft der sich schnell einstellenden Unlust ob einer gehörten sogenannten Neuen Musik stellt sich kaum ein Intendant, wo – wenn überhaupt – nur der Klassikhit sein spärliches Publikum noch zieht. Das Risiko des Scheiterns wäre zu groß. Nur die Lust garantiert das Wiederkommen des ohnehin schon schmal gewordenen Publikums. Nicht also um der Kunst, sondern um der Bedürfnisbefriedigung weniger Zahlungswilliger willen ändert das Repertoire sich kaum. Man könnte beinahe sagen: Selbst Redundanzen haben Chancen, wenn der Markt nicht unverdrossen immer kleiner würde. Die Vielfalt der übrigen untergegangenen, aufgefundenen sowie mühsam wiederaufgeforsteten Musiken, um deren Hebung sich die Fachdisziplin so sorgsam müht, findet abermals den Weg in den Konzertsaal nur selten oder überhaupt nicht mehr. Das Publikum will, wenn es sich schon die Arbeit macht und den Weg zum Konzertsaal auf sich nimmt, die altbekannten Klassikhits hören und ist dem beiseite gestellten oder neuentdeckten Alten nur wenig, beinahe gar nicht aufgeschlossen. Die meisten Musiken der Vergangenheit gibt es so in der Regel nur zwischen Buchrücken in den papierenen Verliesen. Ihr Ausgang ist streng geregelt. Zur Aufführung gelangen sie selten und wenn dann auf Initiative interessierter kleiner Ensembles, die um ihr Publikum werben müssen. Dort haben sie ihren Ort und dies zu recht. Ohne Klangwerdung gibt es diese Musiken im Grunde aber nicht. Und es stellt die Frage sich, warum für viel Geld im öffentlichen Namen (und nicht Auftrag) sie wiederaufgeforstet werden.
Schreibarbeiten. Zwischen Best-of-Musik und mikrologischen Mini-Studien/. Wo die offenkundigen Werke der Vergangenheit umfänglich recherchiert, auch mehrfach editiert und sorgfältig katalogisiert sind, die Neue Musik nur wenig Zugewandtheit erfährt, wendet sich die Fachdisziplin unverdrossen den immer kleiner werdenden Kleinoden der Musik zu und füllt so die Archive. Die Fachdisziplin Musik kümmert aus Mangel an vertretbaren tagestauglichen »Gegen-
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ständen« mit Breitenwirkung sich folglich um jene Musiken, die ein Publikum kaum erreichen werden. Es fehlen ihr Themen von gesellschaftlicher Relevanz. Auf der einen Seite bleiben die immer gleichen Komponisten und Musiken Thema der Fachdisziplin Musik, die um kleine Wissensfragmente bereichert werden (siehe Schumanns Ahnung) oder deren Geschichte mit geringen Abweichungen stetig neu geschrieben werden. Geburts- und Todestage von Komponisten sind oftmals Anlass zur Neuschreibung von Lebensläufen und Musikgeschichten, die Altbekanntes in neue Gewänder oder Prachtbände kleiden. Pünktlich zum 150. Geburtstag im Jahr 2014 erscheint z. B. die x-te Biografie zu Richard Strauss mit den bekannten Redundanzen zum Komponisten, geschrieben vom Vertreter der Fachdisziplin Laurenz Lütteken. Für sie gilt, was auch für andere Biografien gilt: »Ja, es wird die zehnte Mozartbiographie verlegt – am besten zu einem runden Geburtstag. Oder Wagner zum Wagnerjahr.«702 Es sind so, der klassischen Best-of-Musik verhaftet bleibend, in der Regel abermals weitgehend redundante Ereignisse, die in Szene gesetzt werden.703 Wer will, sammelt so die Biografien, die schon den Markt bevölkern, findet zwei, drei Petitessen zum auserwählten Komponisten, die noch nicht geschrieben waren, mischt das Ganze und bastelt daraus seine neue Biografie. Gelobt an solchen Werken im Feuilleton wird selten Inhaltliches, gerne aber der literarische Stil, zu dem der Autor der altbekannten Geschichte befähigt ist. Aber selbst an einem ein Publikum ansprechenden literarischen Stil mangelt es in der Regel, wenn man dem Verleger Peter Mischung glauben mag. »Am intelligent vermittelnden und schreibgeübten deutschen Musikschriftstellern fehlt es.«704 Er trifft sich da mit Claus Steffen Mahnkopf, der die »Schriftprodukte […] [der Fachdisziplin Musik] weit von den stilistischen Qualitäten von Büchern entfernt [sieht], die man gerne liest (Martin Geck und Peter Gülke sind Ausnahmen).«705 Zu trocken, akademisch, mit anderen Worten: zu langweilig wird berichtet. Für ein Fach, dessen Schriften gerne mal in die Belletristik abgleiten, wiegt eine solche Kritik doppelt schwer. Es fehlt an begabten Schreibgeübten, die wie der Amerikaner Alex Ross zu formulieren verstehen, dessen hohe Auflagen erzielende Musikgeschichte The rest ist noise zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gekürt wurde. 702 Mischung, Peter in: Das Musikbuch heute. Drei Stellungnahmen. In: In: Zeitschrift Musik & Ästhetik, hg. v. Holtmeier, Ludwig/Klein, Richard/Mahnkopf, Claus-Steffen. Stuttgart (Klett-Cotta) 18. Jahrgang, Heft 72, Okt. 2014, S. 94. 703 Ein Vertreter der Fachdisziplin Musik verweigerte sich einem potentiellen Promovenden, der über Beethoven promovieren wollte, als Doktorvater mit dem Argument, dass zu Beethoven schon längst alles geschrieben worden sei. Diese Aussage behält auch dann noch ihre Geltung, wenn Detailforschungen zum Komponisten auf unabsehbare Dauer fortgeschrieben werden können. 704 Mischung, Peter in: Das Musikbuch heute, a. a. O., S. 95. 705 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritische Theorie der Musik, a. a. O., S. 239.
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Neben solchen in schöner Regelmäßigkeit erscheinenden Biografien werden auf der anderen Seite eben musikalische Petitessen zur Hauptsache erhoben und quellenmäßig gründlich erschlossen. Einige Beispiele: Forschungen über ein »unbekanntes Orgelfragment des 15. Jahrhunderts in der Erzabtei St. Peter« (Klaus Aringer), die »Tabulatur von Kernberg vom Beginn des 17. Jahrhunderts« (Reinald Ziegler) sind dabei genauso ein Thema wie solche über ein »Evangeliar des 9. Jahrhunderts als musikhistorische Quelle« (Michael Klaper). »Neue Fragmentfunde in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster« (Eva M. Maschke), wollen besprochen, »Metrische Metronomangaben bei Max Reger« (Klaus Miehling) behandelt, »Zehn unbekannte Berlin-Briefe von Felix Mendelssohn Bartholdy« (Klaus Rettinghaus) oder auch »C. P. E. Bachs ›Einfall einen doppelten Contrapunkt in der Oktave von sechs Takten zu machen, ohne die Regeln davon zu wissen.‹ Ein musikalischer Spaß« (Gunter Quarg) erörtert werden. Auch können »›Orlando Coryphäus in der Arte Harmonia‹. Eine neue Quelle zur Lasso-Rezeption um 1600« (Leonore Kratz) oder »Tradition und Innovation in der Modusanwendung in der Instrumentalmusik des 16. Jahrhunderts« (Kateryna Schöning) Basis für nähergehende Betrachtungen werden, finden ihre Drucklegung, aber kaum oder keine Leser. Nicht einmal die Fachdisziplin Musik selbst nimmt noch groß Notiz von dem, was so alles auf geduldigem Papier verewigt wird, wenn den Äußerungen von Ludwig Finscher gefolgt wird, dass das Schreiben mehr der eigenen Karriereplanung dient und weniger der Rezeption: »Jeder muß so viel und so schnell schreiben, daß er nicht mehr zum Lesen kommt.«706 Das sind nur wenige, aber aufschlussreiche Beispiele, die der Zeitschrift Die Musikforschung entnommen sind. Aufsätze mit ähnlich veritablen Inhalten entsprechen dem Standard jener Zeitschrift. Eine Aufzählung von Aufsätzen mit mikrologischer Themenrelevanz wäre ein Leichtes über Seiten fortzuführen. Wenn schon die fachlich aufbereitete Best-ofMusik der vergangenen Jahrhunderte nur noch wenig Interesse beim lesenden Publikum erfährt, dann gilt dies umso mehr für die am Rande jenes Mainstreams liegende Musik überholter Zeiten. Es fehlt jegliche Aktualität oder zumindest ein Aktualitätsbezug. Es drängt sich abermals der Eindruck auf: Wären die Schriften der Fachdisziplin Musik der letzten Jahrzehnte weitestgehend ungeschrieben geblieben, ihr Fehlen wäre nicht weiter aufgefallen. Es fehlte nichts.707 Sicher : Daneben gibt es auch anspruchsvollere Beiträge z. B. zu Friedrich Kittlers Bedeutung für die Fachdisziplin Musik (Rainer Bayreuther) oder Abhandlungen zur Atmosphärenforschung (Birgit Abels) u. a.m. Bezogen auf die Gesamtheit der Publikationen machen diese aber nur einen verschwindend geringen Anteil aus. 706 Finscher, Ludwig: Diversi diversa orant, a. a. O., S. 15. 707 Vgl. S. 294–298.
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»Vermissen Sie die Dronte?«/. Das Gros von Veröffentlichungen zur Musik bewegt sich in Zeiten, die vor dem 20. Jahrhundert oder bestenfalls in dessen erster Hälfte desselben liegen. Nicht der lichte Glanz der Gegenwart, sondern vom Staub der Vergangenheit sind jene Schriften beseelt. Bezogen auf den Wissenschaftszweig der Soziologie hat Niklas Luhmann einmal geschrieben: Das Fach »hat sich offenbar in ihre eigene Methodik, in ihre eigene Datenanalyse, in ihre eigenen Theoriegeschichten, die sie immer wieder neu erzählt, eingesponnen. Es werden Briefe der Klassiker wiederentdeckt, die das, was sie geschrieben haben, in ein neues Licht setzen. Darüber werden Aufsätze publiziert, die wieder kritisiert werden, weil andere Briefe dagegen sprechen. All dies ist Abnagen des letzten Fleisches an alten Knochen, die Realität läuft derweil einfach weg.«708
Treffender könnte die Zustandsbeschreibung auch für die Fachdisziplin Musik kaum ausfallen, die mit diesem Problem schwindender Relevanzen fraglos nicht alleinsteht, wenn man ergänzend eine Aussage von Stefan Rebenich zur Philosophie hinzuzieht: »Mit immer größerem Aufwand wurden immer kleinere Parzellen bestellt. Am Ende fand Platons Nachtuhr ebensolche Aufmerksamkeit wie seine Ideenlehre.«709 Doch wer hat schon Platons Nachtuhr oder Schumans Ahnung vermisst oder die Tabulatur von Kernberg, die vergessenen Briefe eines Mendelssohn Bartholdy oder die zahllosen unbekannten Orgelfragmente u. a.m., als sie noch nicht ergründet, gehoben, publiziert und diskutiert waren? »Vermissen Sie die Dronte?«, fragte einmal Midas Dekkers, wo das Verschwinden ganzer Tierarten in der Zeit alltäglich ist und die Vergänglichkeit nicht aufzuhalten. Und seine Frage ist rhetorisch gemeint, die Antwort gleich in den Mund gelegt. Niemand vermisst die Dronte so wenig wie den ausgestorbenen Beutelwolf oder auch den Quagga, von dem der Autor Holger Noltze noch zu berichten weiß.710 Und an den Dinosauriern findet man nur deshalb Gefallen, weil sie so auffällig groß und zum Glück ausgestorben sind. Diese für die Gattung Dronte unbezweifelbare Tragödie ist dem Menschen völlig gleichgültig, weil sie in Kommunikationszusammenhängen für den Menschen keinerlei Rolle spielt, genauso wenig wie das heute von dem Aussterben bedrohte Aye Aye, das Holger Noltze betrauert.711 Wie schade wäre es doch, meint zum Beispiel der Autor, wenn das Fingertier (Aye-Aye), ein vom Aussterben bedrohtes Tier mit großen Knopfaugen aus der 708 Luhmann, Niklas: Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Heidelberg (Carl Auer) 2005, S. 31. 709 Rebenich, Stefan: Klassische Bildung, a. a. O., S. 53. 710 Vgl. Dekkers, Midas: An allem nagt der Zahn der Zeit, a. a. O., S. 27. 711 Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge, a. a. O., S. 35–38.
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Gruppe der Lemuren, verschwände. Eine Welt des Wenigerwissens wird verortet und des unwiederbringlichen Verlustes von Artenvielfalt, bei der die Stellung des Verlorenen zum Ganzen mit mahnenden Worten beschrieben wird. Genauso traurig wäre der Verlust der wertbehafteten Kultur. Selbst so unvergleichliche Dinge wie das Nibelungenlied haben in der Schule nicht mehr ihren rechtschaffenden Ort, schiebt der Autor alsbald nach. Bestenfalls Versatzstücke davon sind noch Thema. So geht die Kultur den Weg des Fingertiers. Setzt man an die Stelle des Aye Aye nun aber die Dronte, die kein Mensch vermisst, hätte die Argumentation dahingehend laufen müssen, dass die Zeit nun mal über Natur und Kultur hinweggeht und, weil ein Verlust nicht mal ansatzweise zu bemerken ist, ein Verlust gar kein Verlust ist. Ja mehr noch: Das Aussterben, der Untergang, das Vergessen in Natur und Kultur gehören eben dazu. Problematisch ist der Vergleich von Natur (Aye Aye) und Kultur (Nibelungenlied etc.) nicht nur aus den genannten Gründen, sondern auch deshalb, weil die Kultur, anders als es bei der Natur der Fall ist, ja unverloren bleibt. Sie verliert nur das öffentliche Interesse, mag zu irgendeinem anderen Zeitpunkt wieder aufmerken lassen. Während Natur endgültig ausstirbt, wird Kultur bloß vergessen, eingelagert in Archiven (versehen mit der nie auszuschließenden Option, erinnert zu werden). Bleiben wir aber noch einmal bei dem von Noltze eingebrachten Natur/Kultur-Vergleich und ersetzen das Aye Aye wiederum mit der Dronte: So wenig jemand das flugunfähige Vogeltier Dronte vermisst, so wenig werden die entdeckten und aus einsichtigem Grunde noch weniger die unentdeckten Kleinode vermisst. Oder : Wer vermisst schon die verschollenen Kantaten eines Telemann oder Bach? Die entdeckten aber, einmal in die Archive aufgenommen, gehen ein in ein unüberschaubares Datenmeer und finden dort kaum ein Erinnern, eher im Vergessen zum zweiten Mal den Tod. Nur die eine oder andere hat – aus welchem Grund auch immer – einen herausgehobenen Status sich erworben. Die Archive gleichen eher bedeutungsleeren Verliesen.
Die nach unendlich strebende musikalische Küstenlinie oder: Knappheit reguliert den Wert/. Für die zahllosen Fundstücke, die darin im wahrsten Sinne des Wortes eingehen, gilt dasselbe wie für den Kreislauf des Geldes. In der Multiplizierung desselben ist die eigene Entwertung unvermeidlich. Allein Knappheit schafft den Wert. »Wir können immer davon ausgehen, daß das, was zählt, nicht im Überfluß
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vorhanden ist.«712 Die überschaubare Anzahl an in Vasen gestellter Sonnenblumen, die ins rahmenbegrenzte Bild gesetzt wurden, macht deren Wert aus. Das Auffinden weiterer tausend davon reguliert den Preis aller rapide nach unten. Die Mona Lisa hinter dickem Panzerglas gäbe es nicht, wo Leonardo Da Vinci sie zu Hunderten (oder in zahllosen Variationen davon) unters Volk gestreut hätte. Auch der ideelle Wert jenseits des monetären erscheint nicht völlig abgekoppelt von der Verfügbarkeit von Kunst. Woran kein Mangel herrscht, da verschieben sich auch Wertmaßstäbe. Die mehr als hundert Sinfonien von Haydn bleiben also nicht ohne Grund zumeist ungehört, die Sinfonie mit dem Paukenschlag allein zumeist in Erinnerung. Auch hier relativiert sich der ideelle Wert mit jeder weiteren. Der monetäre sowieso. Es gibt einfach zu viel davon. Die Erfolge in der Fragmentrecherche in der Fachdisziplin, dem Auffinden von Fundstücken dieser oder jener Art, sind den Fragmenten nicht eben zuträglich. Die nach neuen alten Fundstücken Schürfenden sind es also, die – ohne es zu wollen – die Transformation vom musikalischen Schatz zum Rohstoff mit veränderter Wertschätzung veranlassen. Die Ressource Fragment, Fundstück ist nicht knapp. Es gibt genug davon, ein Versiegen der Quellen ist nicht zu erwarten. Zwar erscheint die Annahme plausibel, dass die Musik der Vergangenheit nach endlich strebt. Das aber ist ein Irrtum: In dem Zuwenden immer kleinerer Detailprobleme und musikalischer Petitessen zur musikalischen Vergangenheit ergibt sich das bekannte Problem des Landvermessers, der die Küstenlinie Englands möglichst exakt bestimmen möchte und feststellen muss, dass zum Zwecke größerer Genauigkeit ein immer kleinerer gewählter Maßstab beim Erfassen einer Küstenlinie diese immer länger wird, bis sie endlich zur Unendlichkeit strebt, eine Erkenntnis, die Lewis Fry Richardson zu verdanken ist.713 Auch die musikalische Küstenlinie kennt kein Ende. Ein zu immer feineren Details neigender Maßstab in der Fachdisziplin multipliziert die in die Archive neu eingehenden oder ausgiebig kommentierten Musiken der Vergangenheit ins Uferlose oder Unendliche. Ein Stopp oder Halt ist hier nicht auszumachen oder je zu erwarten. So betreibt die Fachdisziplin unermüdlich die Entwertung ihrer Fundstücke und ihrer selbst. Und das Einnisten in der Vergangenheit verführt zur weiteren Verzettelung darin, ohne dass der forschende Blick jemals die Gegenwart erreicht. Einmal aufgenommen in die Archive, ist dem abermaligen Vergessen im Datenmeer kaum zu entrinnen. Ähnliches gilt für die unermüdlichen Kommentierungen, Neuinterpretationen oder die graduell veränderten Betrachtun712 Bolz, Norbert: Das konsumistische Manifest. München (Fink) 2002, S. 75. 713 Vgl. Ravn, Ib (Hg.): Chaos, Quarks und schwarze Löcher. München (Antje Kunstmann) 1995, S. 66.
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gen von Musiken, welcher Provenienz auch immer. In der Summe, wie sie verfertigt werden, verlieren sie sich in der Beliebigkeit, was deren Wert als überreichliches Gut schmälert. Die Ressource vergangene Musik nebst Schriften darüber gibt es so beliebig viel wie Sand am Küstenstrand. Es kommt aufgrund der Fülle auf das einzelne nicht so an. Reguliert wird der Überfluss hier nicht wie im Wirtschaftskreislauf über Geld.714 Ein solcher würde diesen aus Mangel an Nachfrage zum Erliegen bringen. Der durch die Fachdisziplin betriebene Entwertungsprozess hin zur belanglosen Petitesse wird subventioniert. So läuft die Produktion von Fundstücken unermüdlich fort, obwohl rezipierende Abnehmer dafür nicht ersichtlich sind. Vertreter der Fachdisziplin rechtfertigen ihr Tun in der Regel damit, dass sie »unsere Kultur« erhielten. Das mag man so sehen. Doch ist dies eine Kultur von begrenzter Reichweite. Regional mag solche Fragmentrecherche daher bedingt noch von Interesse und gerechtfertigt sein, doch bleibt dieses Interesse so stark lokal begrenzt, dass nachzufragen ist, ob die Schreibarbeit zu eingrenzend lokalen Phänomenen staatlich zu alimentieren ist und ob Kultur nicht generell in größeren Zusammenhängen zu denken ist. Es bliebe den Kommunen unverloren und vorbehalten, zu finanzieren solche mikrologisch anmutende Recherchearbeit (wenn sie den wollten). Das dominierend umgreifende Tun der Fachdisziplin mit lokalen Inselthemen und winzigen Detailproblemen erscheint ohne expliziten Auftrag vom Staate nicht gerechtfertigt. Die Umwelt zu überzeugen, einen nicht versiegenden Überfluss mit bedingt ideellem und monetärem Wert finanziell weiterhin zu unterstützen, fällt daher immer schwerer. Die Frage nach der Notwendigkeit solcher Produktion von Nichtigkeiten wird immer öfter und lauter gestellt. Die mangelnde Nachfrage am Überfluss hat gute Gründe und sieht sich mit dem Moment der Knappheit am anderen Ort konfrontiert: Aufmerksamkeit ist eine nur begrenzte Ressource. Sie kann nicht beliebig multipliziert werden. Insofern wird dieses kostbare Gut nur selektiv verwendet. Soziale Aufmerksamkeit zu erwerben mit zahllosen, weiter wachsenden Musiken, die aufgrund ihres Alters den Rezeptionsgewohnheiten nicht entsprechen und diskutiert werden nur im kleinen Fachkreise unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ist schwer möglich. Ihre Rezeption würde Zeit und eben Aufmerksamkeit kosten, die besser oder lieber gewidmet wird dem gegenwärtigen Musikleben. Das Leben im Hier und Jetzt ist viel zu wertvoll, als es beständig im musikalischen Gestern oder Es war einmal auszuleben. Die Kommunikation geht über das einstmals gelebte Musikleben hinweg. Die Entscheidung Alt oder Neu ist die Frage nach dem Leben in einem Museum oder dem Bewegen im Schmelztiegel lebendiger 714 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 31999, S. 253.
Die nach unendlich strebende musikalische Küstenlinie
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Musikkultur. Nick Hornby hat dies einmal in seinem Roman About a boy mit einem generellen Blick auf die Kunst der Tradition veranschaulicht: »Gab es einen langweiligeren Ort als das British Museum? […] Töpfe. Münzen. Krüge. Ganze Räume voller Teller. Man sollte schon triftige Gründe haben, Dinge auszustellen, […]. Nur weil sie alt waren, musste das nicht heißen, dass sie zwangsläufig interessant waren. Nur weil sie überdauert hatten, musste das nicht heißen, dass man sie sich ansehen wollte.«715
Eine entsprechende Resonanz auf ein wie auch immer geartetes Zuviel an untergegangenen Kunst-/Kulturerzeugnissen bleibt aus. Nur weil musikalische Fragmente allerorten noch im Verborgenen auf Entdeckung warten, heißt das nicht, dass sie auch entdeckt werden müssen, wo sie dann vergeblich auf Zuhörer warten. Die Sucht nach Borges Landkarte 1:1, wie in manchen, ihren FraktalRecherchen treu verbundenen Disziplinen verankert, legte einen verdunkelnden Schatten übers Land, wollte man ihnen hinreichende Aufmerksamkeit zollen. Schon jetzt ist die einem Flickenteppich gleichkommende Landkarte eine, die einen wachsenden Schatten über das Land legt, denn jedes neu katalogisierte Kleinod nimmt ein wenig mehr vom Licht, was der Kunst der Gegenwart, ins Schattenreich verlegt, die nötige Aufmerksamkeit nimmt. Die Landkarte, zusammengesetzt aus den Fragmenten des Vergangenen, beschreibt ein lähmendes Moment und stellt die Gegenwart still. Dieser Schatten aber würde auch die unermüdlich aus dem Brunnen des Vergessens gehobene Musik oder jedwede Kunst/Kultur umgreifen. Das rustikale Fachwerkhaus der Vergangenheit, auf das man den wertschätzenden Blick wirft, hat nur deshalb seinen Reiz, weil die meisten anderen verrottet sind. Auch die alten Werke der Künste beziehen ihren Reiz aus dem Verlust der übrigen. Die verloren gegangenen Werke, die Ruinen der Vergangenheit stellen den Humus dar, von dem aus ein erinnerungswürdiger Schatz erst gedeihen kann. Das Schatzhaus Kultur gedeiht nur und ausschließlich auf den Feldern des Vergessenen. Gesellschaft muss vergessen können, um sich im Fortschreiten gut und gern wieder erinnern zu können oder zu wollen. Nur im Verfall ist Erinnerung und Wertschätzung garantiert. Die Vielzahl noch unentdeckter Kleinode gewinnt ihren Wert gerade dadurch, dass sie unentdeckt bleiben. Um Humus zu werden, bedarf es für sie nicht einmal den Umweg des Vergessens. Es gibt sie als Thema einfach nicht. Zum Nachteil gereicht dies der Gesellschaft nicht. Doch wer seit Jahr und Tag »in die Lösung von Detailproblemen […], in mikrologische Begriffsanalysen und abseitige Editionsprojekte« vergraben ist716, wie auch andernorts zu verzeichnen ist, wird wenig Verständnis aufbrin715 Hornby, Nick: About a boy. München (KiWi) 2011, S. 314. 716 Heidbrink, Ludger/Welzer, Harald: Das Ende der Bescheidenheit. In: dies. (Hg.): Das Ende
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gen für eine umfassende Revision eigenen Tuns, fragt weder nach der Relevanz oder dem Erkenntniswert desselben noch danach, ob die eigenen Fragmentrecherchen und –analysen Eingang in die laufende Kommunikation finden. »Bedarf jedes neu gefundene Fragment einer kritischen Ausgabe?«717, fragt so auch Hans Ulrich Gumbrecht, und diese Frage ist nicht minder rhetorisch ausgelegt. So ärgerlich es für manchen Vertreter der Fachdisziplin Musik auch erscheinen mag, das unermüdliche Anhäufen von mehr und mehr lässlicher Datenmengen zur Musik und ihrer Katalogisierung trägt immer weniger bei zur Ausweitung oder Bestandswahrung von Kultur und so folgerichtig als Begleiterscheinung auch nicht zur Existenzsicherung von Instituten. Und die ersatzlose Streichung von so manchem Institut, das genau darin eben seine vornehmste Aufgabe gesehen hat, hat jenseits der Fachdisziplin, nicht mal eine merkbare Lücke hinterlassen. Die Versorgungslage für den eigenen Nachwuchs ist obendrein dadurch immer weniger gesichert. Derlei Fragen, ob es der Kritischen Ausgaben denn nicht genug sei, erhitzt manche Gemüter schon, die dem Fragment ihr Augenmerk und – mehr noch – Herzensblut leihen. Die Inszenierung als selbstlose Bewahrer kultureller Güter generiert die Empörung und verbietet Fragen nach dem Warum/Wozu? Dieser Gestus der rechtschaffenden Empörung ersetzt Reflexivität und weist zurück jedwede Rechtfertigung eigenen Tuns. Ein besitzanzeigendes Fürwort gewinnt dabei besondere Relevanz, wenn auf die Frage nach dem Warum/Wozu? die Antwort nach dem Erhalt unserer Kultur gerne gegeben wird. Wer will und darf da schon kritisch nachfragen, wo das vereinnahmende Unser als uns alle verbindendes Etwas, als gemeinschaftlicher Schatz, hervorgehoben wird? So wird Kultur zum undurchdringlichen Schild für kritisches Nachfragen, und in mikrologischer Quellenrecherche Tätige gerieren sich als einsame Bewahrer, als Fels in der Brandung vor dem Fall in die Kulturlosigkeit. Das Unser suggeriert, dass man für alle spräche, die dem so offerierten Verständnis von Kultur Folge leisteten. Ein solches Reden mit vereinnahmendem Gestus aber erweist sich nicht als autorisiert, wo so viele eine andere Kultur längst pflegen und anders reden. Das Unser unterstellt so eine Familie, die es so gar nicht gibt. Das unterstellte Unser korrespondiert mit dem unzulässigen Wir an anderer Stelle zuvor schon.718 Das Unser suggeriert einen aus unzähligen Individuen bestehenden und doch kompakten gesellschaftlichen Gemeinschaftskörper mit einer Vergangenheit, die für alle so-und-nicht-anders scheint. Einen kongruenten gesellschaftlichen Gemeinschaftskörper aber gibt es nicht. Es gibt nur das Individuum, das jeweils einen eigenen Zeithorizont bereitstellt, innerhalb dessen Gegenwärtiges gelebt, der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften. München (Beck) 2007, S. 10. 717 Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003, S. 111. 718 Siehe S. 296.
Selbstreflexive Kritik aus dem Raum der Fachdisziplin Musik/.
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Vergangenes erworben, geschätzt oder ausgefällt wird. Und aus der Vielfalt divergierender Zeithorizonte mag sich auf Zeit eine vorläufig bleibende konsensträchtige kulturelle Schnittmenge herausbilden, die aber in Bewegung bleibt. Nichts ist auf Dauer bestellt, das Unser eine unzulässige Unterstellung.
Selbstreflexive Kritik aus dem Raum der Fachdisziplin Musik/. Das Heben musikalischer Fragmente wird zum Selbstzweck, dient weniger gesellschaftlicher Kommunikation denn mehr dem eigenen Selbsterhalt einer nicht nach links noch rechts schauenden, vor sich hinschreibenden Schar von Schriftstellern. Es ist jene Parallelwelt, von der man nicht lassen will und wodurch man zur breit gefächerten musikalischen Gegenwart nichts sagen kann, weil man sie einfach nicht kennt, nicht kennen kann noch will. In dem Verlieren von Redundanzen zum einen oder zum anderen in dem Beschäftigen mit Marginalien ist ein Fortschreiben überkommener, gewohnheitsträchtiger Diskurse und ein So-und-nicht-anders angelegt. Diese Haltung zum So-und-nichtanders wird auch in der Fachdisziplin mitunter selbst kritisch gewürdigt. Eggebrecht spricht im Jahr 2000 von der Erstarrung des Faches: »Das Altern der Musikwissenschaft zeigt sich in ihrer existentiellen Entfremdung. Ihr Sinn wäre das Existentielle, das als solches den Menschen betrifft in seinem aktuellen Dasein, den Menschen als Einzelnen in seiner Lebenswirklichkeit«.719 Doch die Lebenswirklichkeit bleibt, wie Eggebrecht bekennt, der Fachdisziplin ein Nebenthema. Zu sehr bleibt die Vergangenheit das Thema, dabei verkennend dass die Vergangenheit schon recht frühzeitig im Gestern wenn nicht schon im Heute beginnt. Die Erstarrung des Faches belegt Eggebrecht mit Überlegungen aus dem Jahr 1972, die er im Jahr 2000 in einem Selbstzitat wiederholt. 1972 schreibt er : »Das Altern der Musikhistoriographie zeigt sich äußerlich als Trend zu ihrer Verselbständigung in sich selbst, wo sie im Starren auf ihre Objekte ein geschichtliches Konzept nicht mehr artikuliert, im Sog des Publikationsmarktes sich verschleißt, trotz Mammutkongressen unbeachtet bleibt, in der Uferlosigkeit beliebiger Details endlose Fäden spinnt und der Gefahr erlegen ist, in unreflektierten Fragestellungen und Stoffbereichen im Schatten tradierter Motivationen geschäftig zu sein und in leerer Betriebsamkeit und Bürokratisierung Material zu häufen und zu verwalten«.720
719 Eggebrecht, Hans-Heinrich: Sinn von Musikwissenschaft heute. In: Archiv für Musikwissenschaft LVII. Jahrgang, Heft 1/2000, S. 4. 720 Ebd., S. 3f.
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Für das Jahr 2000 konstatiert er : »Das könnte ich heute so ähnlich wieder schreiben«721 und bedauert die Wirkungslosigkeit seiner Worte. »Verselbständigung in sich selbst, Konzeptionslosigkeit, leere Betriebsamkeit«, das sind die Beschreibungen, die er auch für die Fachdisziplin in der Gegenwart gerechtfertigt zu formulieren findet. Er folgert im Zuge der Reflexion, auch der Selbstkritik und angesichts zahlloser – seiner Meinung nach – irrelevanter Publikationen im Raum seiner Fachdisziplin: »Die musikwissenschaftliche Welt – so ist sie gefügt. Durch wen und durch was könnte es geändert werden? Durch niemanden und nichts.«722 Ein bedauerndes Nichts ändert sich, wo Änderung Not täte schwingt darin mit. Im Jahre 2006 liest sich das Urteil von Claus-Steffen Mahnkopf zur Fachdisziplin Musik – jede diplomatische Wortakrobatik gänzlich beiseite stellend – noch eindringlicher, wenn er das Fach beschreibt als »behütet im esoterischen Gefilde selbstbezüglicher Forschungszusammenhänge«723, dem es als gesellschaftlich wenig relevantes Fach erlaubt ist, »sich mit sich selber zu beschäftigen.«724 In solchen Worten wie denen von Eggebrecht oder auch Mahnkopf wird ein Urteil gefällt, das in dem Wirken der Vertreter der Fachdisziplin weniger ein gesellschaftlich relevantes Forschen sieht, als vielmehr ein Wirken, das allein persönlichen Interessenslagen folgt, sodass jene leerlaufende Betriebsamkeit als gesellschaftlich alimentierte »Hobby«-Veranstaltung betrachtet werden kann. Man geht seinem Hobby nach und lässt sich das vom Staat bezahlen. Dem Schöpfen von Erkenntnis, in welch geringem Maße auch immer, steht gegenüber die Pathologie: »ein leerlaufender Betrieb personaler Karrieren ohne Kriterien der Kontrolle«.725 Diesen Blick aus dem Innern heraus stellt er gegenüber den Blick von außen, es entpuppt »sich jene akademische Gemütlichkeit, gleich ob unter dem Blickwinkel musikalischer Produktivität oder dem des geisteswissenschaftlichen Diskussionszusammenhanges, als Rückständigkeit und als Mediokrität.«726 So hat sich die Fachdisziplin im Mittelmaß eingerichtet, aus dem heraus Impulse für andere nicht geliefert werden. Hoffnung auf Besserung ist nicht in Sicht, wo die Mittelmäßigkeit noch mit Rückständigkeit sich paart. Auch Albrecht Riethmüller macht, nunmehr im Jahre 2015 angekommen, darauf aufmerksam, wie schwerfällig das Fach sich Veränderungen fügt: »In einem Feuilletonartikel der Süddeutschen Zeitung, in dem das Geschick der Musikwissenschaft in Bayern beklagt wurde, war im Juli 2003 zu lesen, dass in München ›einstige Mittelalterforscher‹ sich nun mit Filmmusik beschäftigten, um zu erweisen, 721 722 723 724 725 726
Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritische Theorie der Musik. Weilerswist (Velbrück) 2006, S. 239. Ebd. Ebd. Ebd.
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dass ihr Fach noch ›zeitgemäß‹ sei. Solche Beschäftigung sei nicht nur erniedrigend, sondern am Ende suizidal. So verrückt und lächerlich der Standpunkt ist, vor einem Jahrzehnt war er in sogenannten besseren Kreisen ernsthaft vorgetragen«.727
»Verrückt« und »lächerlich« sind die einsichtigen Umschreibungen eines renommierten Fachvertreters für Haltungen, wie sie noch vor kurzem Standard waren. Solche der Lächerlichkeit anheimgefallenen Dispositionen sind gleichwohl für respektabel erachtet und mit tiefem Ernst vertreten worden, so unentwirrbar war man verstrickt in tiefste Vergangenheitsbewältigung, die kaum wer nachsuchte. Die unverkennbare kopfschüttelnde Zumutung, sich mit dem Heute zu beschäftigen, wo man doch so vollständig dem Gestern verfallen ist, schwingt in dem verrückt wie lächerlich sich ausnehmenden Standort, von dem man aus spricht, mit. Wo sich dann aber doch wenige Vertreter des Faches der Gegenwart zuwenden, wird reflexartig die Ablehnung artikuliert. Wer was werden will oder wollte in jener Zeit im Fach, bleibt besser der Vergangenheit treu ergeben.
Theorie- und Methodendefizite/. In solchen Analysen spiegelt sich auch ein möglicher Unterschied zwischen der Krise in den Geisteswissenschaften allgemein und ihrer Bewältigung und der Krise der Fachdisziplin Musik, die auch Folge sowohl mangelnder methodischer als auch inhaltlicher Entwicklung ist. Im Zuge dessen ist eine mangelnde Anschlusskommunikation an die herrschende Diskurskultur zu beobachten. Die Geisteswissenschaften kennen einen regen Diskurs der Theorien und Modelle, die Fachdisziplin Musik tritt nur selten oder gar nicht in diesen ein. Aktuelle Theoriediskussionen werden eher als Zaungast wahrgenommen und vernachlässigt sowie neue Themenfelder nur zögerlich, oft gar nicht erschlossen. Das parallele Universum, in dem die Fachdisziplin sich eingerichtet hat, sieht ein außen nicht vor, gleichwohl macht sie sich selbst was vor. Nicht zu Unrecht schildert Claus-Steffen Mahnkopf in einer Fußnote und in Unterscheidung zu ihren angelsächsischen Vertretern, was die Fachdisziplin in Deutschland auf ihrer negativen Seite auszeichnet: »Mystizismus, Irrationalismus, ›Metaphysik‹, ›Tiefe‹«.728 In all jenen Begriffen findet sich wieder das Programm der Romantik, von dem zu distanzieren das Fach in summa es so schwer fällt. Er zieht den Schluss, dass die Fachdisziplin Musik eine »akademische Kellerdisziplin 727 Riethmüller, Albrecht: Musikwissenschaft zwischen Philologie und Kulturanalyse. In: Zeitschrift Musik & Ästhetik, 19. Jhrg., Heft 73, Jan. 2015, S. 78. 728 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritische Theorie der Musik, a. a. O., S. 238.
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[sei]«.729 Die Auseinandersetzungen mit intellektuell anspruchsvollen Theorien – bezogen auf methodischen Gang oder auch epistemologischer Modelle – werden insgesamt selten nur geführt oder gar nicht, zu sehr ist man im eigenen Kellerdasein mit sich selbst beschäftigt. Und wo man im Fach sich doch mal auf aktuelle Theorien bezieht, spürt man, wie reflexhaft Abwehrmechanismen greifen, die sich nicht kritisch-reflexiv bzw. wissenschaftlich ausnehmen, sondern allein umgangssprachlich ablehnend, sprachlich wenig vornehm sich artikulieren. Jede Zeile atmet dann Ablehnung, dass man den aktuellen Diskursen trotzen und weitermachen will wie seit ehedem. Jenseits der Hermeneutik braucht es keine Theorien, auf die man sich beziehen will, auch wenn die Hermeneutik schon seit Jahrzehnten nur noch eine unter vielen ist, so der Gestus des seit jeher nacheilenden Faches. Zuweilen drängt sich – ganz vorsichtig formuliert – bei Lektüre solcher Schriften manchmal ganz leise der Verdacht auf, dass der Autor, der dort spricht, gar nicht gelesen hat, zu dem man laut tönend gerade die Verdammung ausspricht. Mehr als Randnotizen, Polemiken (»Nebelbomben unklarer Begriffe, diffuse[…] Theoreme«730 (Konrad), »intellektuelle Moden«, »methodische[r] Aktionismus« (Hinrichsen)731) zu gegebenen ambitionierten Theoriemodellen aus anderen Disziplinen und die Rückkehr zum business as usual sind nicht zu verzeichnen. Schon die Wahl der Worte mit dem gepflegten Werturteil, das generalisierend in summa verdammt, was Theorie z. Zt. bewegt, zeigt die Auseinandersetzung scheuende Haltung an. Auch der Fachkollege von Konrad und Hinrichsen, Friedrich Krummacher, weiß von »wechselnde[n] Moden«732 zu berichten, von denen sein Fach sich ferngehalten hat. In dieser den Bestrebungen anderer Fächer sich »deutlich artikulierende[n] Geringschätzung« sieht Bettina Schlüter einen Grund für die seit den 70er Jahren sich vollziehende Isolierung des Faches. Sie leitet daraus ab die »wissenschaftstheoretischen Defizite« und die mangelnde »transdisziplinäre Anschlussfähigkeit«, als deren Folge in den USA eine »New Musicology« sich in den 90ern formiert.733 Der deutsche Raum gleichwohl pflegt im prominenten Maßstab weiterhin einen wissenschaftstheoretischen 729 Ebd., S. 239. 730 Konrad, Ulrich: Konrad, Ulrich: ars – Musica – scientia. Gedanken zu Geschichte und Gegenwart einer Kunst und ihrer Wissenschaft. In: Laurenz Lütteken (Hg.): Musikwissenschaft, a. a. O., S. 24. 731 Hinrichsen, Hans-Joachim: Musikwissenschaft und musikalisches Kunstwerk. In: Lütteken, Laurenz (Hg.): Musikwissenschaft, a. a. O., S. 68. 732 Krummacher, Friedrich, zit. n. Schlüter, Bettina: Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Conermann, Stephan: Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern«. Bielefeld (transcript) 2012, S. 235. 733 Schlüter, Bettina: Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Conermann, Stephan: Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern«. Bielefeld (transcript) 2012, S. 235.
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und methodischen Monismus und nimmt wenig teil am Diskurs der Wissenschaften. Auch wenn ein Ludwig Finscher »modischen Konzepten wie Dekonstruktivismus« und ambitionierten Theorien ebenfalls wenig abgewinnen kann, immerhin erkennt er an »eine gewisse Theorieverdrossenheit« und den Mangel einer Diskussionskultur, die für ein Fach, das Wissenschaft sein will, inakzeptabel ist.734 »Während die Geisteswissenschaften von Ismen geradezu erzittern, fehlt, von Anleihen abgesehen, derlei, geschweige denn Eigenständiges.«735 Auch Tobias Janz macht im Jahre 2015 auf dieses Theoriedefizit aufmerksam: »Als generelle Tendenz kann man feststellen, dass, wenn überhaupt, vor allem Methoden, Ideen oder Programme aus benachbarten, übergreifenden oder übergeordneten Disziplinen importiert werden. […] Dem Theorieimport von außen entspricht negativ das nahezu vollständige Fehlen eines Theorie- oder Ideenexports aus der Musikwissenschaft an andere Disziplinen.«736
Ein solches Verhalten schreibt sich parasitär. Ein Beleg für den Hang zur Theorieabsenz durch die Jahre hindurch drückt sich aus in einer einführenden Schrift zum Fach für Studierende: Beinahe 20 Jahre, vom Jahre 1992 an, ist im unveränderten Gewande eine Einführung ins musikwissenschaftliche Arbeiten in der Fachdisziplin prägend gewesen, die erkenntnistheoretisch nur die Hermeneutik und sonst nichts anderes kennt.737 Neben opulent ausgeführter Darstellung zur Quellenerschließung wird die Hermeneutik als das Verfahren zur Auslegung vorgestellt. (a) Programmatisches Bewusstsein und (b) Schreibkultur der Fachdisziplin sind aus dem Geist der Romantik geboren, aber eben aber auch das (c) erkenntnistheoretische/methodische Repertoire entstammt dem 19. Jahrhundert und findet kaum eine vertretbare zeitgemäße Ergänzung. Dieser disziplininterne Diskurs verfehlt nicht nur den allgemein-gesellschaftlichen Anschluss, sondern auch den wissenschaftlichen. Erst im Jahre 2011 sieht jene Einführung sich ergänzt durch auch aktuelle epistemologische Modelle im Kontext einer weiteren »Einführung in die historische Musikwissenschaft«.738 Während die Geisteswissenschaften allgemein teilnehmen am Diskurs der Theorien und Modelle der Gegenwart und so auch mitgestalten den gesellschaftlichen Diskurs, verweigert das Fach diesem sich weitgehend und lebt den erkenntnistheoretischen Stillstand. Die Fachdisziplin kann sich schwer nur von ihren überkommenen bildungsbürgerlichen, zuletzt romantischen Wurzeln 734 Finscher, Ludwig: Diversi diversa orant. In: Archiv für Musikwissenschaft LVII. Jahrgang, Heft 1/2000, S. 16. 735 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritische Theorie der Musik, a. a. O., S. 241. 736 Janz, Tobias: Musikwissenschaft zwischen Philologie und Kulturanalyse. In: Zeitschrift Musik und Ästhetik, 19. Jhrg., Heft 73, Jan. 2015, S. 80. 737 Vgl. Schwindt-Gross, Nicole: Musikwissenschaftliches Arbeiten, a. a. O. 738 Vgl. Meischein, Burkhard: Einführung in die historische Musikwissenschaft, a. a. O.
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trennen. Der Mangel an Veränderungswillen ist dem Fach noch heute immanent. Es regiert die Lernunwilligkeit.
Kompetente Nachbarschaftshilfe und musikalischer Analphabetismus im Fach/. So bleibt eine externe Einflussnahme, um zu reformieren. Oder man macht die Institute gleich ganz zu, wie in der jüngeren Vergangenheit schon mehrfach geschehen, was zwar zu einer Verunsicherung des Faches führte,739 aber nicht zu einer gravierenden Verhaltensveränderung: eher zu einer Wagenburgmentalität. Die Alternative zur Schließung sieht die oft nicht ganz freiwillige Verschränkung der Fachdisziplin zu Bindestrichinstituten vor mit Fächern wie der Theaterwissenschaft, der Medienwissenschaft, der Musikpädagogik u. a.m. Die Hoffnung, die währt, ist, dass jene Fächer offerierten Dienstleistungen etwas abgewinnen können. Im Bindestrich liegt der Lebensnerv, ohne den so manches Institut längst abgewickelt wäre. Zur grundlegenden inhaltlich-methodischen Reformierung führt aber auch dies nur allzu selten. So werden Themen, für die eigentlich die Fachdisziplin prädestiniert wäre, leichtfertig anderen überlassen und die Absenz vom kulturellen Diskurs fortgeschrieben. Man denke nur an den 2006 durchgeführten Bob-Dylan-Kongress am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M. (!), dessen Tagungsband wiederum von dem Sozialphilosophen Alex Honneth herausgegeben wurde. Nimmt man zudem den um die Populäre Musik sich grundsätzlich verdient machenden Richard Klein mal aus, zeichnet bei keinem einzigen Beitrag die eigentliche Fachdisziplin verantwortlich. Will man über die Musik der Gegenwart kompetent etwas erfahren, ist man gut beraten, die Disziplin, die sich mit Musik in ihrer ganzen Breite eigentlich wissenschaftlich auseinander zu setzen hat, gleich auszuklammern, denn außer vorgefertigter Negativ-Urteile sind nennenswerte Analysen oder kompetente Urteile nicht zu erwarten. Obgleich Populäre Musik, oder einschränkender, Rock- und Popmusik längst »eine diskursive Aufwertung als legitime Ausdrucks- und Erfahrungsformen« erlebt haben/hat, Rock- und Popmusik »wissenschaftsfähig [werden] und Einzug halten in das akademische Institutionswesen«740, zeigt sich die Fachdisziplin Musik bemerkenswert wenig beteiligt. Mit den Worten von Neuhoff: »freilich nicht im Rahmen der Historischen Musik739 Vgl. Bertone, Sophie/Fuhrmann, Wolfgang/Grant, M.J.: Was ist neu an New Musicology. In: Habermas, Rebekka/Mallinchrodt, Rebekka von (Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Göttingen (Wallstein) 2000, S. 114. 740 Neuhoff, Hans: Historische Musikwissenschaft: Krisenprofil und Perspektiven. In: Calella, Michele/Urbanek, Nikolaus (Hg.): Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven. Stuttgart (Metzler) 2013, S. 228.
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wissenschaft«741 wird solches wesentlich betrieben. Hoch anerkennenswerte Ausnahmen wie der Arbeitskreis Studium Populärer Musik (ASPM) mit seinen Forschungen, der seit 2014 unter dem Namen Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM) firmiert, heben die Bilanz nur graduell, solange sie Ausnahmen bleiben und nicht zur Regel werden. Auch Internetplattformen, wie die zahlreiche Untersuchungen zur Populären Musik beinhaltende Bibliographie des Musikschriftentums (BMS), zeigen bei Prüfung, dass nur eine kleine Anzahl von Artikeln aus dem Bereich jener Disziplin kommt, die zum Historischen sich bekennt und folgerichtig Verzicht übt. Die Dissertationsmeldestelle der Gesellschaft für Musikforschung (dms)742 weist zu einem nur äußerst geringen Teil Dissertationsvorhaben zur Populären Musik aus. Es dominieren althergebrachte, man kann sagen altbackene Themen. Arbeiten zur älteren Musikgeschichte, um nur ein isoliertes Beispiel zu nennen, zeigen mit 108 Nennungen zu 10 Arbeiten zur Populären Musik ein deutliches Ungleichgewicht. Es dominieren Dissertationen, die keinerlei Bezug zu aktuellen Themen wie der Populären Musik haben. Themen der Vergangenheit haben nach wie vor Hochkonjunktur. Selbst ein Bereich wie Musik zu Bühne und Film, wo ein direkter Bezug zu Populären Themen naheliegen sollte, sind 57 Arbeiten zu Bühnenwerken ausgewiesen und nur eine zum Medium Film, und diese behandelt das Thema: Untersuchungen zur Filmmusik von Dimitri Schostakowitsch.743 Wendet man sich endlich der Plattform der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu, findet man unter dem Stichwort Musik 32 Forschungsprojekte aufgelistet, davon sind 18 explizit den früheren Jahrhunderten zugewandt und behandeln u. a. folgende Themen: – die Musikorganisation an den Welfenhöfen. Eigenständige Entwicklungen und wechselseitige Beeinflussungen zwischen 1600 und 1750, – des Weiteren die Gelegenheitsmusik des Ostseeraums vom 16. bis 18. Jahrhundert: Erfassung, Katalogisierung und musikwissenschaftliche Auswertung, – das Business of Singing in England 1660–1760, – die Rolle der Musik in den Bursfelder Reformen (im 15. Jahrhundert angesiedelt), – die Gattungs- und Kulturgeschichte des weltlichen Liedes in Hamburg der Aufklärung von 1730–1780, – oder Quellen zur frühen Geschichte der Sing-Akademie zu Berlin. Probenbücher – Briefe – Dokumente, 741 Ebd. 742 Siehe http://www.dissertationsmeldestelle.de/, Daten erfasst am 22. 03. 2014. 743 Die entsprechende Datenbank wurde im Jahr 2014 gesichtet.
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– die Dresdner Hofmusik zur Zeit Johann Georgs I. (1611–1656), – die Neudeutsche Schule. Schriftenedition, Datenbank und Studien zu einer zentralen musikästhetischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts und ihren Folgen, – das Ritual und die Inszenierung der musikalischen Aufführungspraxis im Zeitalter des Barock, – als auch Carl Philipp Emanuel Bachs konzertante geistliche Chorwerke. Musik, Poetik und bürgerliche Andacht in der norddeutschen Aufklärung, – Musik und ethisch-moralischer Wandel um 1700: Paris, London, Hamburg, – Musik in Bewegung: Tanzkulturen des 19. Jahrhunderts, – schließlich die Musik im Dienst der politischen und sakralen Repräsentation: Antonio Caldaras Opern und Oratorien unter Kaiser Karl VI. (1716–1736). Darüber hinaus finden sich eine ästhetische Studie zu Adorno, auch wenige musikethnologische oder medizinische Studien, die gefördert werden. Im Umfeld der Populären Musik der Gegenwart dagegen ist eine einzige Studie angesiedelt: – Survey Musik und Medien. Empirische Basisdaten und theoretische Modellierung der Mediatisierung alltäglicher Musikrezeption in Deutschland Wenn man weiß, dass die Gutachter, die die Expertisen zu Anträgen an die DFG schreiben, in der Regel der etablierten Fachdisziplin entstammen, dann wundert die Dominanz historischer Themen nicht mehr. Es währt das Prinzip der Auswahl des Immergleichen. Die Gutachter fördern, was ihnen selbst geläufig und gefällig ist. Der Analyse von Richard Klein ist kaum zu widersprechen, der schreibt: »Zwar gibt es schon seit geraumer Zeit musikwissenschaftliche Institute, die über Popmusik arbeiten und mehr oder weniger erfolgreich musikwissenschaftliche mit soziologischen oder psychologischen Ansätzen verknüpfen. Gemessen am Mainstream der Disziplin bleibt dies jedoch eine Außenseiterposition, mit deren zünftiger Anerkennung es sich verhält wie einstmals mit derjenigen unehelicher Kinder : Man pflegt gewisse Kontakte, findet zu mancher Sprachregelung, hat sich aber nicht wirklich etwas zu sagen, und wenn es hart auf hart kommt, stehen beide auf verschiedenen Seiten. Renommierte Standardwerke zur Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts verlieren kein Wort über Pop, Rock und Blues.«744
Nennenswertes zur Musik und deren Umfeld kommt zumeist aus anderen Disziplinen (z. B. cultural studies, Kulturwissenschaften), die sich brachliegen744 Klein, Richard: Musikwissenschaft auf allen Stühlen. In: Heidbrink, Ludger/Welzer, Harald (Hg.): Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften. München (Beck) 2007, S. 111.
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der Themen annehmen. Resonanz in der Fachdisziplin selbst finden sie kaum, neue thematische Anstöße mit Folgewirkung in dem Fach sind darüber hinaus beinahe undenkbar. Gender, Cultural Studies bzw. New Musicology sind in der Historischen Musikwissenschaft Minderheitenthemen und haben es schwer, wenn Vertreter des Faches wie Ludwig Finscher davor warnen, dass durch die »Ausweitung des Kulturbegriffs (etwa durch die erwähnten Cultural Studies) die Einzigartigkeit unserer traditionellen Musikkultur« verloren gehen könne.745 Er warnt vor der Gefahr, das »Ganze« aus den Augen zu verlieren im Zuge einer Diversifizierung, und interessanterweise setzt er den partikularen Ansatz, den die Fachdisziplin verficht, mit dem Ganzen gleich. Mit Skepsis wird zugleich die New Musicology betrachtet, sie wäre in Zeiten »grassierende[r] political correctness« nicht vorurteilsfrei zu beleuchten und ohnehin von zu viel Subjektivität geprägt.746 Eine für die Fachdisziplin Musik repräsentative Haltung zeigt sich darin, wie Bertone, Fuhrmann und Grant verdeutlichen.747 Nur graduell würden die Schriften der new musicology überhaupt rezipiert, und zum graduell Rezipierten wird der Generalverdacht ausgesprochen: »methodisch zu unkontrollierbare, zu subjektive Hermeneutik.«748 Auch für das Jahr 2015 bemerkt Albrecht Riethmüller an: »Es gibt noch immer zahlreiche Vertreter geisteswissenschaftlicher Disziplinen, voran Philologen und Historiker, die in den aufgekommenen ›cultural studies‹ nichts als Dilettantismus erblicken.«749 Finscher wiederum beklagt zu Beginn des Jahrtausends den Rückgang an Seminaren zur mittelalterlichen Musik und zur frühen Neuzeit, betont deren Wichtigkeit und formuliert so implizit einen Reformentwurf, der die Zeit zurückdrehen soll. Die Folge: »Der gesellschaftliche Wandel lässt neue Forschungsgebiete in den Medien, der Musiktherapie, dem Musikmanagement, der Entwicklung der Jugend, der Begabungsforschung und der älteren Menschen entstehen – und die Musikwissenschaft lässt zu, dass sich die Forschung in andere Fächer verlagert.«750
Zu ähnlichen Schlüssen gelangt auch Hans Neuhoff, der darauf hinweist, dass die relevanten Arbeiten zu Rock, Pop, Filmmusik u. a., in der Regel mit deutlichem Bezug zu medientechnischen Aspekten, in der Fachdisziplin Musik mit historischer Ausrichtung keine feste Heimat haben und geschrieben werden in an745 Finscher, Ludwig: Diversi, diversa, orant, a. a. O., S. 14. 746 Ebd., S. 16. 747 Bertone, Sophie/Fuhrmann, Wolfgang/Grant, M.J.: Was ist neu an New Musicology, a. a. O., S. 116f. 748 Ebd., S. 117. 749 Riethmüller, Albrecht: Riethmüller, Albrecht: Musikwissenschaft zwischen Philologie und Kulturanalyse. In: Musik und Ästhetik, 19. Jhrg., Heft 73, Jan. 2015, S. 77. 750 http://www.fmt.uni-osnabrueck.de/Symposium_2007/BEITRAEGE/Bruhn4Enders2008. pdf (gesehen Okt. 2015).
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»Crisis! What crisis?« Die Fachdisziplin Musik
deren Fächern wie der Medienwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Kultursoziologie oder der Musikpädagogik.751 Die Vernachlässigung der musikalischen Gegenwart oder – man kann auch sagen – die Vernachlässigung der jüngeren musikalischen Vergangenheit hat ihren Preis. Wo wie in einem autogenerativen Zirkel das Personal schlicht aus sich selbst generiert wird und Spezialisten zu den Musiken zum Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert nur mehr von demselben auf Lehrstühle berufen werden oder – über Außenmotivation – nur zögerlich dem 20. Jahrhundert sich nähern, fehlen schlicht die Kompetenzen. Auf den meisten Feldern der Musik regiert innerhalb der Fachdisziplin die selbstverschuldete Inkompetenz. Die Fachdisziplin Musik hat weithin keine Ahnung von der Musik, die sie klingend umsteht. Wer Geschichten und Anekdoten zu Heinrich Schütz zu erzählen weiß, wird schwer zur Mashup-Generation gelangen und sich einbringen können, sofern um die Existenz eines solchen musikalischen Phänomens überhaupt gewusst wird. Wer ausschließlich Sinfonien hörend sich zu erschließen gewohnt ist, wird der HipHop-, Rap-, Techno-, Heavy Metal- und anderer Musik adäquat zuzuhören kaum in der Lage sein. Ein Mangel an »Offenohrigkeit« ist auch hier zu verzeichnen. Der Dirigent Daniel Barenboim hat einmal bei der Rezeption klassischer Musik für ein aktives Zuhören geworben. Er schreibt: Der Zuhörer »muss schon aktiv zuhören. Man sollte, wenn man in ein Konzert geht, eine Idee haben von dem, was einen erwartet. Wer sich einfach auf seinen Platz setzt, der wird wenig mitbekommen. […] Wenn Sie nichts suchen, bekommen Sie nichts.«752 Daniel Barenboim ist hier zuzustimmen, doch nicht weniger gilt dies für die Musik des Populären. Wer als Vertreter der Fachdisziplin Musik keine Idee vom Populären hat, sich der lebendigen, pulsierenden Musik verweigert, dem werden die Feinheiten ebendieser Musik entgehen. Der wird bspw. in Techno-Musik nur Lärm vernehmen und alle frequenzgeprägten Zwischentöne überhören. Wer einfach nur hört, oft nur weghört, aber nicht zuhört, wird wenig mitbekommen. Holger Noltze – Barenboim ähnlich – wiederum plädiert für eine »Kultur der positiv verstandenen Anstrengung«,753 derer es bedarf, komplexer Musik sich zu nähern. Die Musik der Tradition bedürfe der Anstrengung. Daher die immer wiederkehrenden Appelle, Ansprüche nicht zu minimieren, um den Erhalt des kulturellen Erbes willen. Für den Rezipienten dieser favorisierten Musik aber bedeutet es oft eine nicht minder große Anstrengung, sich für die Musik der Gegenwart zu interessieren, sich ihr zuzuwenden, Unbekanntes sich zu erschließen. In dem alleinigen Anerkennen der lieb gewordenen Musik der Ver751 Vgl. Neuhoff, Hans: Historische Musikwissenschaft, a. a. O., S. 236. 752 Barenboim, Daniel: Klang ist Stille, Leben ist Tode. http://www.zeit.de/2007/43/Barenboim Juli 2011. 753 Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge, a. a. O., S. 24.
Kompetente Nachbarschaftshilfe und musikalischer Analphabetismus im Fach/.
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gangenheit drückt sich ein provinzielles Sein aus, das im Erschließen der eigenen unauslotbaren musikalischen Küstenlinie754 das Gefühl gebärt, die Musik gefunden zu haben. Die Folge ist eine Vermeidungshaltung und ästhetische Engstirnigkeit, bei der dem so Forschenden die Musik der Welt täglich mehr entgleitet. Der Mangel an Zuwendung und der Verzicht, über den eigenen Tellerrand der Musik hinauszublicken, führen zur Entfremdung zum eigentlichen Gegenstand, für den die Fachdisziplin eigentlich stehen sollte. Eine Entfremdung zur Musik ist zu verzeichnen. Wenn es richtig ist, dass der Umfang aller seit dem Buchdruck veröffentlichten Bücher weniger als ein Monatsvolumen dessen darstellt, was ins Netz gestellt wird, und man dies als Indiz nehmen darf, dass Vergleichbares sich in der Musik abbildet755, dann wächst die musikalische Unkenntnis im Raum der Fachdisziplin in einer Form, dass von einem grassierenden musikalischen Analphabetismus die Rede sein kann. Mit der wachsenden Inkompetenz wächst die abstinente Haltung. Ein Teufelskreislauf, der als solcher nicht erkannt wird. Die Vielfalt der Musik bleibt unverstanden. Man verbleibt auf den musikalischen Feldern, die man nicht nur schätzt, sondern die allein man kennt. Das ist nicht unbedingt neu. Jörn Peter Hiekel hat in einem Aufsatz zur Musikkritik einmal die Frage aufgeworfen, warum die Fachdisziplin nicht einmal die Neue Musik hinreichend schreibend begleitet, und kommt zu einem ganz ähnlichen Schluss. Bei Beantwortung dieser Frage bezieht er sich auf Carl Dahlhaus, der 1971 reüssiert, dass »durch die Aufhebung oder Suspendierung von Kategorien wie Werk und musikalischer Zusammenhang«756 in der Musik jenseits der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts die Kompositionskritik ihres Gegenstandes beraubt und suspendiert wäre. In dieser Aussage sieht Hiekel eine den musikalischen Entwicklungen gegenüber eingenommene »bemerkenswerte Hilfslosigkeit«. Er folgert weiter : »[W]enn es in den letzten Jahrzehnten tatsächlich eine Krise der Musikkritik gibt, so ist diese wohl nicht zuletzt durch die Neigung der akademischen Musikwissenschaft zu erklären, sich im Gefolge von Äußerungen wie der eben zitierten von Carl Dahlhaus lieber mit den alten Zeiten und ihren scheinbar gesicherten Terrains zu beschäftigen.«757 754 Vgl., S. 38. 755 Vgl. Chatfield, Tom: Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblüht, a. a. O., S. 28. Der Club of Rome Bericht aus dem Jahre 1999 hat mit Blick auf wissenschaftliche Schrifterzeugnisse seinerzeit Vergleichbares notiert: »Die Menge der technischen und wissenschaftlichen Publikationen überstieg allein 196 die Zahl dessen, was Lehrer und Gelehrte seit Anbeginn unserer Zeitrechnung bis zum Zweiten Weltkrieg hervorgebracht haben.« (Cebri#n, Jean Luis: Im Netz – die hypnotisierte Gesellschaft. Stuttgart (dva) 1999, S. 179.) 756 Carl Dahlhaus, zit. n.: Hiekel, Jörn Peter : Substanzielle Musikkritik. Möglichkeiten und Grenzen. In: Lehmann, Harry (Hg.): Autonome Kunstkritik. Berlin (Kadmos) 2012, S. 106. 757 Ebd., S. 106.
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Die Gegenwart der Musik, sei es das schmale Band der Neuen oder das breite Band der Populären Musik, ist für die Fachdisziplin eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten. Sie verbleibt im geschichtlichen kleinen 1x1 des Ihnen Bekannten (wenn man so will eine eng umgrenzte Spartenmusik). An das große 1x1 (Musik in all ihren Facetten) hat die Fachdisziplin bislang sich nicht herangetraut. Es nötigte sie zu einer positiv verstandenen Anstrengung, der sie sich nicht stellen will. So wird es um die Fachdisziplin Musik einerseits immer stiller, weil sie kaum was zu sagen und beizutragen hat zum kulturellen Diskurs, während andererseits die Stimmen sich mehren, die kritische Fragen stellen. Kritische Stimmen wiederum wird selten mit argumentativer Substanz begegnet, vielmehr mit Empörung. An die Stelle der sachlichen Diskussion tritt die moralische Entrüstung. Das ist zwar menschlich verständlich, beschreibt aber keinen wissenschaftlichen Gestus. An die Stelle der Sache tritt auch die Diskreditierung des Anderen bis hin nicht selten zur Beleidigung. Das ist schon weniger verständlich, wissenschaftlich ohnehin nicht und gereicht dem Fach überdies zum Nachteil, denn die Techniken der Entrüstung und Beleidigung machen blind für das eigene Tun. Wo andere sehen, bleibt hier der Blindflug im Sinne Luhmanns erhalten, der die Möglichkeiten zur Veränderung im Verhältnis zur Aktualität des Seienden klein schreibt und schlussendlich ausblendet. Das nimmt den Spielraum und fordert am anderen Orte zum Spielen auf. So wenig wie eine Firma im Zeitalter von Smartphones und Tablet-PCs entwicklungstechnisch mit Geräten von vor zehn/zwanzig Jahren punkten und auf dem Markt sich behaupten kann (z. B. mit Klapp-Handys oder Stand-Alone-PCs mit 500MB Festplatten), so wenig kann eine Disziplin mit den Theorien von gestern, den Themen von vorgestern und den Musiken von damals überzeugen. Veränderung tut Not. In dem Kreisen um sich selbst und dem Erhalten von Autonomie-Illusionen verstehen sich eine Repertoiremusik und Neue (Nischen-)Musik zum einen und eine sie begleitende Fachdisziplin zum anderen vielleicht selbst noch als autonom, aber sie erweisen sich nicht als autark, auch wenn dies aus dem Innern der Fachdisziplin für lange Zeit geglaubt worden ist. Im autarken Modus wäre selbstreferentiell fortzufahren wie bisher, zu erforschen, losgelöst von allen Zwecken, in alle Richtungen nur für sich oder einen kleinen Kreis Gleichgesinnter, privat intim. Eine gesellschaftliche Alimentierung aber darf dem Ganzen Grenzen setzen, auch den selbstreferentiellen Kommunikationsfluss aussetzen, abbrechen. Die genannten musikalischen Felder bedürfen des ernährenden Zuflusses von außen. Die Kanäle dafür versiegen, die Bereitschaft, selbst neue nährende Wege zu erschließen, ist vergleichsweise gering. Die Folge: Was sich nicht ändert, vergeht. Trübe Aussichten für die Fachdisziplin Musik.
»Rücksturz zur Erde« oder: Bildung und Theorie sind nicht festzustellen »Zukunft braucht Herkunft«.758 »Die Pädagogik stellt sich von Herkunft auf Zukunft um«.759 »Heute wird Musik viel früher zu Müll. Sie wird zu Müll, nachdem sie keine Minute lang gehört wurde. Sie ist ein Gebrauchsobjekt, das sofort verbraucht ist. Ein Song, der weggeworfen wird wie die anderen Milliarden Songs auch, die am gleichen Tag im Netz veröffentlicht werden wie er. Mit der Demokratisierung der Mittel ist er in eine Müllwelt geboren worden als Teil eines Müllbergs. Oft wird er nicht einmal ausgepackt vor dem Wegwerfen, sondern ungehört von vornherein als lästiger Müll deklariert.«760
Der Schritt zur Müllwerdung ist allen Dingen wie Undingen eingeschrieben. Man belegt das, was Müll ist, zuweilen nur mit anderen Begriffen, man nennt ihn Ruine oder Fragment und sucht ihn zu erhalten, gar zum Denkmal zu erheben. Das ist vom künstlerischen Standpunkt oft unproduktiv, denn in der Regel entsteht aus dem Müll erst durch Re-Kombination – man könnte auch sagen durch Resteverwertung – etwas gänzlich Neues. Vil8m Flusser hat dies einmal als zirkulären Prozess beschrieben, »in welchem Natur zu Kultur, Kultur zu Abfall und Abfall zu Natur wird.«761 Mit anderen Worten: Der Müllwerdung ist nicht zu entkommen. Und das ist auch gut so. Es gibt so die Tendenz zum Erhalt des von anderen weggeworfenen oder beiseite gestellten Mülls. Das war das Programm der Romantiker, die nicht genug davon bekommen konnten und aus Mangel an Ruinen bisweilen gleich neue bauten. Dieses Programm bewegte bis in die jüngere Vergangenheit eingeschworene Kreise mit dem Unterschied, dass man die Ruinen der Vergangenheit im neuen Glanze wiederauferstehen lassen wollte. Die »Vergegenwärtigung kanonischer Gewissheiten« im Musizieren als memoria z. B.762 drückt sich 758 759 760 761
Marquardt, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Stuttgart (Reclam) 2003. Luhmann, Niklas: Das Kind als Medium der Erziehung, a. a. O., S. 10. Platzgumer, Hans/Niedhart, Didi: Musik=Müll. Innsbruck (Limbus) 2012, S. 46f. Flusser, Vil8m: Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung. Düsseldorf (Bollmann) 1993, S. 239. 762 Gülke, Peter : Viel zu tun. In: In: Lütteken, Laurenz (Hg.): Musikwissenschaft. Eine Standortbestimmung. Kassel/Basel/ London/N.Y./Prag (Bärenreiter) 2007, S. 104.
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bspw. darin aus. Genauer gesagt, bildet sich darin eine Gedächtniskultur der Herkunft ab. Sie bildet sich weniger spiegelbildlich ab, sondern zimmert aus den Fragmenten und Ruinen selektiv nach Maßgabe ein Gedächtnisbild. Nachgeborene konstruieren aus den Versatzstücken von Geschichte ihr Bild von Geschichte, das ihnen gefällt. Einmal zusammengestellt, wird Beton angerührt und ein kulturelles Manifest gegossen. Ein Denkmal ist geboren. Eine Gedächtniskultur der Herkunft füllt die brüchig werdenden Fugen im Denkmal im Zuge sich begebender Wandlungsprozesse mit weiterem Beton aus. Das Problem dabei ist: Die Vergangenheit lebt so nicht. So wird Kultur auf der Intensivstation (subventionierter Konzertsaal oder steuerfinanziertes Museum) nur künstlich am Leben erhalten. Traditionalismus ist der Versuch, einen Status Quo im denkmalsträchtigen Design als vorgeblich begründungsunbedürftig auf Dauer festzuschreiben. In der von Gülke gewählten Begrifflichkeit der »kanonischen Gewissheit« ist eine in Beton gegossene Mauer zu sehen, die um das vergängliche Produkt gegossen wird zur Abwehr jeglicher Zweifel am Gewissen. Es gibt aber eben auch die Tendenz, aus Müll oder Abfall Neues zu schöpfen oder naturalisierten Abfall in Kultur zu wenden. Dieses Programm erscheint dem Heute mehr gewogen. Nicht mehr der Erhalt des Bestehenden oder der bestehenden Verhältnisse steht dann im Zentrum von Gesellschaft, sondern die Eröffnung von Optionen. Das wird im vorliegenden Buch als Umstellung von »Herkunft auf Zukunft« bezeichnet. Herkunft wird damit der Kritik überstellt, ist auf Veränderung aus. Sie ist anzupassen an die gegebenen Verhältnisse, gelegentlich zu überwinden, nicht unbedingt zu erhalten, so lautet die mitlaufende Botschaft. Anstatt der unkritischen Verklärung zum kulturellen Gedächtnis, das unsere Identität sei, wird ihre Auflösung im Neuen betrieben, woraus Identität sich erst bilde. So verstanden wird von »Herkunft auf Zukunft« umgestellt und anstatt Statik Progression betrieben. Darin drückt sich nicht weniger eine Hinwendung zum Individuum aus und eine Abkehr vom Ideellen. Wenn man so will, ist dies, wo man Abschied nimmt von Denkmälern, die eigentliche Wandlung zur Humanität. Die Umstellung von »Herkunft auf Zukunft« sieht ihren Beginn nach Luhmann im 18. Jahrhundert. Spätestens seitdem steht die Herkunft auf unsicherem Grund und sind alle Gewissheiten in Frage gestellt. Mit der Umstellung von »Herkunft auf Zukunft« ist daher erstens kein Verlust von etwas Gewesenem gegeben und zweitens ist dies auch nichts Neues, was statthat. Die Gedächtniskultur wurde schon immer von der sie verändernden Zukunftsprojektion begleitet. Der Transformationsprozess vollzieht sich gegenwärtig nur schneller und damit erkennbar für die am Transformationsprozess Beteiligten. Das Programm der Romantiker mit dem sehnsuchtsvollen Blick zurück wurde damals schon unterlaufen vom Programm, das der Zukunft sich verschrieben hat. Nach dem Ende aller religiös-motivierten, romantischen Heilsbotschaften
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kommt die Bodenhaftung. Komponisten der Neuen Musik, aber auch dem kulturellen Gedächtnis sich Verschreibende können mit einem etwas anders gelagerten Blick zurück auf vorromantische Verhältnisse manches lernen. Die Zeit ohne ideellen oder romantischen Tand sieht Musik, die auf ein Publikum zugeschnitten war und nicht losgelöst davon ersonnen. Der Musik wie Kunst allgemein war diese Funktionsgebundenheit, dieser Dienst am Kunden, Quelle der Inspiration. Zu dieser Haltung wird zurückgekehrt. Der Dirigent John Axelrod erinnert daran, dass es zuvorderst darum geht, mit der Musik das Publikum »glücklich« zu machen. »Liegt darin unsere Verantwortung? Das Publikum zufriedenzustellen, zu seinem Glück beizutragen? […] Wer ist der Boss? Die Musiker oder das Publikum? Ich denke, der einstimmige Beschluss lautet: das Publikum.«763 Nicht der Zuhörer ist in Habacht- und stille Stellung zu bringen, »um dem Orchester dienen«764, sondern umgekehrt dem Orchester seine dienende Funktion wieder begreifbar zu machen. Es gilt die Bedürfnisse eines Publikums zu bedienen. Komponieren als auch eine Musik Aufführen haben nicht primär in dem Bewusstsein, einer Avantgarde zugehörig zu sein, sich zu vollziehen, sondern kommen der menschlichen Bedürfnisbefriedigung wieder zugute wie vor Zeiten, als Kunst noch Handwerk war sowie als Religion nicht vorstellbar. Der Grund dafür ist recht einfach einzusehen. Die Avantgarde ist zusammen mit dem Traum einer teleologisch anmutenden Geschichte der Musik schon vor Jahrzehnten implodiert. An die Stelle der einen teleologischen (Heils-)Geschichte, an der die Avantgarde einst strickte, sind die Geschichten und Geschichtchen getreten. Was soll da noch eine Avantgarde? Es hat sie nur auf dem Spielplatz der Illusionen gegeben. Wer heute noch glaubt, die Avantgarde zu sein, ist nur noch naiv, so sinngemäß Norbert Bolz in einem Fernseh-Interview. Für die sich als Avantgarde wähnende Nischenkultur Neue Musik findet Claus-Steffen Mahnkopf wenig freundliche Worte, wenn er schreibt: »Die ›neue‹ Musik hat sich in eine fundamentale Krise hineinmanövriert, die zwar mit Schlagwörtern wie ›Sackgasse‹, ›Scheitern‹ etc. belegt, aber damit nicht wirklich analysiert werden kann, da die Probleme, interne wie äußere, tiefer liegen.«765 Er fordert aus dem Kreis der Neuen Musik eine schonungslose wie radikale Selbstkritik. »Denn es obliegt dem Diskurs der ›neuen‹ Musik, anstatt der ›Welt‹ oder der Gesellschaft die Schuld zuzuweisen, wie es nur zu häufig der Wesensart von Künstlern entspricht, zu klären, worin die eigenen Fehler, Versäumnisse und Verfehlungen lagen und liegen.«766 Eine solche Selbstkritik erforderte, wie er schreibt, eine innerkompositorische Auseinandersetzung, was doch nicht viel 763 Axelrod, John: Wie großartige Musik entsteht … oder auch nicht. Ansichten eines Dirigenten. Leipzig (Seemann Henschel GmbH) 2012, S. 74. 764 Ebd., S. 68. 765 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritik der neuen Musik, a. a. O., S. 9. 766 Ebd.
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anderes heißen kann, die ausgetretenen Pfade des Neuen, das stetig neue Grenzen zu überwinden sucht, zu verlassen, und was wahrlich Neues zu probieren. Man könnte auch so sagen: Die Komponisten der Neuen Musik haben es sich stets recht und zu einfach gemacht mit ihren Werken, denn komplizierte Musik zu schreiben ist wahrlich keine schwere Kunst, im Gegenteil: das ist ein leichtes Unterfangen. Eine Kunst dagegen ist es, eine Musik mit Anspruch zu schreiben, die auch ihr breites Publikum findet. Mochte Mozart so zu seiner Zeit fraglos manchem sperrig klingen, weil seine Musik auch neutönend war, so wusste Mozart doch stets das Neutönende mit hinreichend Altbekanntem zu ummanteln, dass ein Publikum es zuletzt doch annehmen konnte. Vergessen haben so viele Künstler und Komponisten der Gegenwart, dass »Komponisten […] zu allen Zeiten darauf angewiesen [waren], ihre Kompositionen auf den Markt zu bringen.«767 Der Kunst gereichte dies ganz offenbar nicht zum Schaden. Im Gegenteil. Mit Blick auf die Musik früherer Jahrhunderte lässt sich die Lehre formulieren: Marktkonformität ist zwar nicht das alleinige Indiz für eine Kunst, die überdauern mag, aber es drückt sich darin zumindest ein und fraglos wesentliches Indiz aus. Wird am Publikum oder Markt vorbeiproduziert, wird in der Regel auch die Zukunft wenig Zuspruch formulieren. Marktkonformität steht den Künsten gut zu Gesichte. In einem solchen Unterfangen, eine Musik in Szene zu setzen, die den schwierigen Spagat zwischen Innovation und Konvention schafft, damit eingespielten Hörerwartungen zu entsprechen vermag und trotzdem neutönend klingt, drückt sich höchste Kompetenz aus. So kann Musik-Kunst, was sie so lange schon nicht mehr ist, wieder Anlass zum sozialen Miteinander werden. Solange Komponisten aber in ihren eher esoterisch anmutenden Zirkeln verfangen sind, woraus sie den Ausweg nicht mehr finden, weil sie darin sich gegenseitig bestärken, wie bedeutend sie doch sind oder ihre Kunst zumindest ist, werden erfolgversprechende Änderungen kaum möglich werden. Der Realitätsverlust drückt sich gerade darin aus, dass so mancher Komponist das Desinteresse der Öffentlichkeit an seiner eigenen ewig Neuen Musik als Gradmesser für die eigene Bedeutsamkeit betrachtet. Befeuert wurden und werden Komponisten von einer sie begleitenden Schriftstellerschar (zu der einst ganz fraglos Adorno oder Dahlhaus prominent gehörten), die als Richter vorgeben, über gute und schlechte Musik befinden zu können. »Solange man dem Hörer und Leser vorschreiben wollte, was ›gute‹ und was ›schlechte‹ Musik sei, und sich zudem in größtmöglicher Unverständlichkeit feierte, musste man sich nicht wundern, dass dieser, sofern er sich nicht der ›Szene‹ zurechnete, sich abwendete.«768 767 Wißmann, Friederike: Deutsche Musik. Berlin (Berlin-Verlag) 2015, S. 213. 768 Mischung, Peter : Das Musikbuch heute, a. a. O., S. 97.
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Um die Kommunikation zwischen Kunstschaffenden und Rezipienten wiederzubeleben, gilt es also, dem Hörer wieder zu gefallen, ihm zuzuhören, auf seine Wünsche zu achten, dessen Gunst zu erwerben. Der ganze Selbstbeweihräucherungszirkus hat damit ein Ende zu finden. Es ist zurückzukehren zur Haltung einer Dienstleistung, die Kunstschaffende antreibt. Es gilt nicht länger, allein selbsterdachten höheren Zielen zu dienen, dem Publikum die Welt zu erklären, sondern dem Kunden zu gefallen. Es gilt, Wünschen Folge zu leisten, zuzuhören, um den Dienst am Kunden zufriedenstellend zu leisten. Es gilt eine Kunst zu schaffen, die einen persönlichen Anspruch an eine Kunst mit dem öffentlichen Geschmack verbindet. Zuhören heißt also, eine neue »Offenohrigkeit« zu beweisen, die Kunstschaffende verloren haben durch die aufgebaute, quasi Umweltgeräusche absorbierende Mauer des großen »E«; zuhören heißt also, sich der Umwelt nicht mehr zu verschließen. So gilt es, die Wunschvorstellung vom »E« hoher Kunst abzustreifen und der wahrlich nicht unerheblichen Herausforderung des Weltlichen sich zu stellen. Das Heilsprojekt, das man in der »E«- oder Absoluten Musik gesehen hat, ist grandios gescheitert. Es hat geradewegs in eine dunkle musikalische Sackgasse geführt. Es, das »E«, ist gleichsam die Barriere, die den dunklen Schatten wirft und die so apostrophierte Musik vom Publikum trennt und ihr zu schaffen macht. Unterhaltend kritisch zu begleiten den öffentlichen Diskurs ist eine Kunst, die noch zu selten anzutreffen ist. Komponisten haben es sich seit der Inaugurierung des großen »E« recht und zu einfach gemacht, wenn sie den eigenen Misserfolg oder eine mangelnde öffentliche Anerkennung darauf zurückführten, dass Zeitgenossen sie nicht recht verstünden, weil man als Komponist der eigenen Zeit sich weit voraus wähnte. Gerne verwies man dann auf die Nachwelt, die erst das rechte Verständnis zeigen würde. »Ich habe immer nur mit der Nachwelt gerechnet und nie befürchtet, daß die Mitwelt imstande sein könnte, mein Werk auszulöschen.«769 So mochte noch ein Schönberg, eingebettet in das Kunstverständnis seiner Zeit, ganz redlich schreiben, heute drückt sich in einer solchen Haltung – vergleichbar dem Avantgarde-Gestus – ebenfalls ein Höchstmaß an Naivität oder ihre rechtfertigenden Gründe suchende kompositorische Inkompetenz aus. Der Avantgardist betrachtete seine Kunst, um das Bild eines bekannten Philosophen aufzunehmen, wie eine Flaschenpost, der glaubt an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit werde seine Botschaft gelesen und dort verstanden. In seiner Philosophie der Musik beendete Theodor W. Adorno nicht von ungefähr sein Kapitel zu Schönberg und den Fortschritt mit den Worten: »Sie [die Zwölf-
769 Schönberg, Arnold: Stile herrschen. Gedanken siegen. Ausgewählte Schriften, hg. v. Morazzoni, Anna Maria unter Mitarbeit von Nuroa Schoenberg Nono und Ivan Vojtech. Mainz (Schott) 2007, S. 37.
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tonmusik; Anm. N.S.] ist die wahre Flaschenpost.«770 So machte man es sich bequem, fühlte sich imaginär verstanden und brauchte seine Botschaften nicht zu hinterfragen noch brauchte man sich zu ändern. Schönberg und viele Künstler der Avantgarde haben dem eigenen Misserfolg eine fragwürdige Rechtfertigung unterlegt. Je mehr sich die absolute (Kunst-)Musik vom Publikum abwendete, um so weniger Aufmerksamkeit verdiente sie auch. Mit einer autonomen/absoluten Musik, die sich selbst genug ist, selbstbezüglich um sich selbst kreist, beginnt der Autismus. Alle erfolgreiche wie zeitenüberdauernde Kunst gründet(e) darin, den Bedürfnissen des Publikums Folge zu leisten, ihm nicht vorgeblich belehrend voranzuschreiten, und die eigene Kunst nicht zu hoch zu hängen, sondern sie dort zu belassen, wo sie ist, im Raum des Gebrauchs, auch der Unterhaltung, der Tagesaktualität. Der Rezipient, der sich wohlgefällig und anerkennend zeigt, gehört zum Maßstab des Gelingens. Und so wie jede Alltagsmusik wird sie nach Gebrauch beiseite gestellt und nicht mit archivierungswürdigen Attributen umstellt. Der Komponist Hermann Erpf hat dies einmal mit dem Blick auf die Zeit von Bach und Händel mit den Worten beschrieben: »Werke der Vergangenheit sind kaum bekannt, das einmal bekannt Gewordene wird alsbald zugunsten des Neueren beiseite gelegt, dient höchstens noch zum Studium der Satzkunst. Es gibt kein historisches Repertoire in unserem Sinne, keinen Vorrat an hochbewerteten und deshalb festgehaltenen Stücken einer auch nur kürzeren Vergangenheit. Diese Zeit lebt musikalisch gewissermaßen von der Hand in den Mund, sie ist die eigentliche Zeit der ›Gebrauchsmusik‹; also Musik wird für die vorliegenden Bedürfnisse immer wieder neu geschaffen. Dies gilt sowohl für die weltliche wie für die kirchliche Musik, und so ist das Lebenswerk von J. S. Bach wie von Händel geschaffen.«771
Dieses, wie Erpf es ausdrückt, »von der Hand in den Mund« leben, ohne Rückgriff auf die Vorstellung einer unvergleichlich hochgestellten Kultur, schafft Werke, die man zu anderen, viel späteren Zeiten – und so auch heute – dann auch gerne mal wieder hört im Sinne eines »Evergreens«. Diese, man könnte auch sagen, Wegwerfmentalität hat die Kunst am Leben erhalten und gerade nicht ein märchenhafter Traum vom ewigen Werke. Gerade die auf Tagesaktualitäten hin geschriebene gefällige Musik ist es ja gewesen, die zu späteren Zeiten dann mit dem Ewigkeitsdiktum versehen wurde. Auf die Formel gebracht: Wer sich von der Ewigkeit nicht trennen mag, ist somit gut beraten, für das Tagesgeschäft zu komponieren. Auch die Zeit, als Kunst vom Moment (jetzt) auf unendliche Dauer (überzeitlich) ideell umdatiert wurde, hat 770 Adorno, Theodor W.: Philosophie der Neuen Musik, a. a. O., S. 126. 771 Erpf, Hermann: Vom Wesen der neuen Musik. Stuttgart (Curt E. Schwab) 1949, S. 18.
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in der Praxis mehr den Moment und nicht die Dauer bedient. Der populäre Künstler Daniel Hope meint dazu: »Einer wie Beethoven wusste genau, wie er Wirkung erzielen konnte, wie er seine Mittel einsetzen musste, um seine Zuschauer zu beeindrucken und sie für sich und seine Musik einzunehmen. Wie er und seine Kollegen nicht nur geniale Geister, sondern auch brillante Handwerker waren, die ihr Metier mit allen Tricks und Finessen perfekt beherrschten. Auch beherrschen mussten, weil sie nicht nur für die Ewigkeit komponiert haben, sondern auch für ihre Gegenwart. Sie brauchten Erfolg, nicht zuletzt weil sie Geld verdienen mussten, und deshalb sorgten sie dafür, dass ihre Stücke möglichst auf Anhieb ankamen, vor allem bei ihren Auftraggebern, den Grafen, Fürsten oder kaiserlichen Hoheiten. […] Und, nicht zu vergessen, bei den Konzerten damals gab es fast nur Uraufführungen.«772
Bei Stuckenschmidt steht es ganz ähnlich formuliert: »Damals [im frühen 18. Jahrhundert; Anm. N.S.] war das Musikleben völlig frei von den musealen Zügen, die es später anzunehmen begann. Es war eine ununterbrochene Kette von Ur- und Erstaufführungen. In Leipzig konnte man jeden Sonntag eine neue Kantate von Sebastian Bach hören, in der Dresdener Oper […] gab man fast keine alten Stücke, sondern die frisch komponierten Sachen der lebenden Musiker. Die Sänger und Spieler und Kapellmeister konnten nicht mit ein paar bewährten Nummern der Vergangenheit um die Welt reisen, und das Publikum entzückte sich nicht an den Nuancen, die Herr K. oder Frau C. an den hundertmal gehörten Meisterwerken anbrachte.«773
Die beständige Neuproduktion unterhaltender Musik, zu der man einst aufgerufen war, und die sich bspw. in beinahe 2000 Kantaten eines Telemann – oftmals nur einmal gespielt und dann weggelegt – widerspiegelt, ist das Lebenselixier der Musik. Auch die mehr als 100 Sinfonien eines Haydn – schlichte, zuverlässig produzierte Massenware – legen ein beredtes Zeugnis dafür ab. Die Massenproduktion gefälliger Musik begünstigt ihre Qualität, wie ihre spätere Erhöhung zum zeitlosen Gut dokumentiert. Das Bedürfnis nach neuen Klängen kultiviert die Massenproduktion. Genau dieser Haltung zur Tagesaktualität ist es geschuldet, was Musik sich hat verändern lassen und keine lähmenden Träume vom zeitlos ewigen Werke. Aber kurios genug: Gerade die Wegwerfmentalität der Vergangenheit hat sie zum zeitlosen Gut gemacht und lässt Apologeten des kulturellen Phantasmas mit Mehrwert bis heute in Archiven und Mülleimern der Geschichte nach musikalischen Kleinoden forschen. In der Bereitschaft wegzuwerfen, darin musikalischen Müll zu sehen, liegt der eigentliche Keim des Überdauerns. 772 Hope, Daniel: Wann darf ich klatschen? Ein Wegweiser für Konzertgänger. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 2009, S. 34. 773 Stuckenschmidt, Hans Heinz: Musikkritik. In: Blöcker, G./Stuckenschmidt, H.H./Grohmann, W.: Kritik in unserer Zeit. Literatur, Theater, Musik, Bildende Kunst. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 21962, S. 60.
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Diese Unterhaltungsmusik wird heute z. T. immer noch als ernste Musik verklärt und ist zum unflexiblen Kanon erstarrt, wobei die Apologeten der als ernst apostrophierten Unterhaltungsmusik für neue Musik jenseits der Neuen Musik selten einen Sinn haben, da dem Erhalt des Kanons ihre ganze Sorge gilt. Man kann auch so formulieren: Mit der Idee vom ewigen Werke, kanonischen Gewissheiten und ähnlichen Träumereien haben Rezipienten gerade der Musik das Leben genommen, ihr den Todesstoß versetzt, die man eigentlich schätzte. Was ist der Kanon, das auf Ewigkeit getrimmte Werk anderes als ein Museum, in dem das Überlieferte zur Schau und anschließend beiseite gestellt wird, weil es nichts Neues bietet? Der Weg aus der Sackgasse ist so nicht zu finden. Der Ausgang aus der Misere, in der Teile der Kunstmusik heute stehen, ist in der Orientierung am Jetzt zu sehen. Orientierung am Jetzt heißt also, an einer lebendigen, in den Lebensalltag eingebetteten Kunst zu gestalten. Die Orientierung an Universalität hat – wie die Praxis gezeigt hat – zu einer musealen, statischen Kunst geführt, die der lebendigen Kunst, wo sich Uraufführung an Uraufführung aneinanderreiht und ihre Hörer findet, nicht nur ferne steht, sondern dieser das Leben abgräbt. Dem Eintritt in jene Kultur der Sackgasse ist so Vorschub geleistet worden. So gilt es heute sich wieder zu orientieren am Präsens, an der Präsenz der Gegenwart von Kunst, nicht am Imperfekt, woran allein der Blick zurück sich ausdrückt. Als weltliche Musik, zurückgekehrt in den Schoß der Rezipienten, ist sie – wie zu früheren Zeiten auch – dann auch wieder Musik mit Verfallsdatum. Ihr Schicksal ist ihr vorgezeichnet: Sie wird zu Abfall oder Müll. Widerfährt ihr diese Gnade zum Verfall, hat sie eine aussichtsreiche Zukunft: Um für die Ewigkeit zu komponieren, muss man für die Gegenwart komponieren und ihr gefallen, damit die Musik kommunikative Aufmerksamkeit erregen kann und sie adressierbar wird. Daran mögen dann spätere Zeiten mit ihren Wertschätzungen anschließen. Eine Musik für die Ewigkeit hat den ästhetischen Standards ihrer Zeit zu genügen und ist damit eines nicht: eine Musik für die Ewigkeit. Sie ist eine aus ihrer Zeit heraus zu verstehende Unterhaltungs-, Erbauungs- und manchmal auch Gelegenheitsmusik mit allgemeinakzeptiertem Erregungspotential. Daran wäre heute wieder anzuschließen. Um Kunst-Musik möglich zu machen, gilt es so das Präfix Kunst zu streichen. Nicht Kunst-Musik nehme so Gestalt an, daran haben die gestaltenden Komponisten, Künstler, Interpreten sich dramatisch verhoben, sondern einfach nur gefällige Musik, die sich als Dienst am Rezipienten und dessen Bedürfnissen versteht. Aus einer solchen Haltung heraus kann dann auch für das Tagesgeschäft überdauernde Kunst entstehen. Hierfür gilt es, zunächst die Voraussetzungen zu schaffen, damit Komponisten für die Vitalisierung ihrer Musik einen Sinn entwickeln können.
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Die Komposition – Eine Neue Musik für den Hörer/. Die Rückkehr zum Gebrauchswert von Musik auch im Bereich der Neuen Musik liefert den Ausgang aus der selbstverfügten Sackgasse. Das Selbstverständnis »l’art pour l’art« wird zur Seite gelegt. Als Anreiz zur Veränderung ist es geboten, die üppigen Tantiemen-Zahlungen durch die GEMA bei sogenannten Welturaufführungen Neuer Musik ohne größere bis keinerlei Publikumsresonanz für Komponisten Neuer Musik stark einzuschränken wenn nicht gänzlich einzustellen. Immerhin werden Komponisten ohne jegliche Publikumsresonanz für ihre Welturaufführungen nicht unerheblich gut von der GEMA vergütet. Das Geld hierfür erwirtschaftet die Populäre Kultur, das von der GEMA umgeleitet wird. Es fehlt so die Motivation, eine Musik mit Anspruch in dem oben gemeinten Sinne überhaupt zu versuchen. Ein ideologisch bedingter Konformismus mag die Möglichkeit zur Reform erschweren oder gar nicht erst ins Blickfeld rücken, wo zudem das Selbstverständnis herrscht, dass Subventionen zur Förderung von Klientelkultur der Vergangenheit blank in die Zukunft fortgeschrieben werden und bestenfalls Klage darüber erhoben wird, dass staatliche Alimentationen nicht mehr so üppig ausfallen wie vormals. »Das Jammern des Kultursektors über unzureichende Förderung, Geld und Aufmerksamkeit klingt wie das Jammern eines verwöhnten Kindes. Wer einmal vom Manna gekostet hat, kommt schwer davon los«774 Daher dürfte es Veränderung geben nur durch »den Entzug von Subventionen oder aber durch ästhetische Kritik seitens eines übergeordneten Diskurses um Ästhetik und Musik.«775 Solche Einschnitte erscheinen unvermeidlich, denn Veränderung aus sich selbst heraus bleibt schwierig und auch dem eigenen Selbstverständnis nach unnötig, solange Subventionen für Kultur und Kultureinrichtungen fließen. Überhaupt scheint der eigene Status am jeweiligen monetären Zufluss abgelesen zu werden. Wo das Publikum fehlt, bedarf es anderer Kriterien. »Alessandro Baricco […] schlägt eine radikale Lösung vor: Schluss mit den subventionierten Kultureinrichtungen, alles Geld in Schulen und ins Fernsehen.«776 Die Alimentierung von Kunst, Kultur und Künstler hat eine Laborsituation geschaffen, in der ohne Außenweltkontakt eine Situation waltet, die zur »ästhetischen Inzucht« neigt.777 Ein geschlossener Zirkel macht füreinander Musik und beschränkt sich im Guten wie auch Schlechten in der gegenseitigen Statusbestätigung. Das Subsystem Neue Musik wendet sich nach innen und 774 Haselbach, Dieter/Klein, Armin/Knüsel, Pius/Opitz, Stephan: Der Kulturmarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. München (Knaus) 2012, S. 72f. 775 Mahnkopf, Claus-Steffen: Kritik der neuen Musik, a. a. O. S. 12. 776 Haselbach, Dieter/Klein, Armin/Knüsel, Pius/Opitz, Stephan: Der Kulturmarkt, a. a. O., S. 77. 777 Ebd.
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meidet die Außenresonanz. Und das prägt die »ästhetische Inzucht«. »[D]ie prononcierte Förderung der zeitgenössischen Musik [hat] eine künstliche Situation geschaffen […], von der weder Komponisten noch Publikum in Italien sich erholt haben.«778 Alessandro Baricco beschreibt die Szene in Italien. Sie ist ohne Abstriche auch auf die Situation in Deutschland zu übertragen, wo ebenso Komponisten selbstverliebt vor sich und für sich (hin)schreiben und tatsächlich glauben, an einer großen kulturellen Aufgabe zu arbeiten, ohne zu merken, das sie einzig in einem kopfgeborenen selbstgebastelten Kosmos sich bewegen. Beim Werkeln an der vermeintlich großen Aufgabe haben auch sie nicht nur den Kontakt zum eigentlichen Adressaten ihres Wirkens, zum Publikum, sondern im Grunde auch den zur Musik verloren. So bosselt jeder vor sich hin, und nicht einmal untereinander hört man sich wirklich gerne das an, was der Kollege, die Kollegin gerade so Weltbewegendes fabriziert hat. Das Prinzip, dass (Musik-)Kunst absolut, autonom und frei von allen Zwecken sein soll, ist damit gleichwohl erfüllt. Meistens ungespielt, in der Regel ungehört fristen solche Werke und Nicht-Werke in Partituren, auf Skizzen und Datenträgern ein allein virtuelles Dasein, für das sich keiner interessiert, der nicht an der Komposition oder Produktion beteiligt ist oder der nicht zur marginalen Szene gehört. So autonom und frei von allen Zwecken hatte man sich das einst allerdings nicht gedacht. Und doch ist dabei nur in letzter Konsequenz zu Ende geführt, was der Idee einer zweckfreien Kunst innewohnt. Erst der Künstler als Unternehmer lässt kreative Bemühungen wieder wachsen. Notwendige Voraussetzung dazu ist, wie auch die Autoren des Buches Der Kulturmarkt schreiben, das Freisetzen der kreativen Kräfte durch Entzug der Alimentation: »Kulturpolitik muss Kulturbetriebe aus der Umarmung entlassen.«779 Das kann – wer davor scheut, Geldzuweisungen gänzlich einzustellen – dadurch schon geschehen, dass Misserfolge wie Erfolge sich im zugewiesenen »Budget abbilden«.780 Erfolge werden belohnt, Misserfolge sind am schwindenden Budget abzulesen. Voraussetzungslose Alimentationen lähmen. Ohne diese Wendung zum Unternehmertum verbleibt die Musik (ob nun Neue oder Klassische Musik genannt) im Dunstkreis ihrer bisherigen untauglichen Bemühungen. In diese Richtung zielen auch die Ausführungen des Dirigenten John Axelrod. Er hegt die Vermutung, dass die Losgelöstheit von öffentlicher Resonanz und monetärem Erwerb ein Grund für die Krise der klassischen Musik und Klassikindustrie sein könnte:
778 Baricco, Alessandro, zit. n. ebd. 779 Haselbach, Dieter/Klein, Armin/Knüsel, Pius/Opitz, Stephan: Der Kulturmarkt, a. a. O., S. 66. 780 Ebd.
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»Europäische und amerikanische Musiker sind durch ihre Gewerkschaften und Pensionskassen vergleichsweise gut geschützt. Da gibt es kaum Schattenseiten, keine drohende Gefahr, hinausgeworfen und ins Ghetto zurückgeschickt zu werden. Möglicherweise krankt die Klassikindustrie genau daran.«781
Das zu große Maß an Sicherheit lässt jeglichen Veränderungswillen vermissen. Die Bedeutung bzw. Bedeutsamkeit des eigenen Tuns wird auf den Feldern der Klassischen wie Neuen Musik massiv überschätzt. Die Folge ist die Vernachlässigung des zahlenden Publikums und so des Dienstes am Kunden. Kappt man monetäre Zuwendungen bzw. Subventionen, tritt der Kunde, um den es eigentlich gehen sollte, wie von selbst wieder in den Fokus des Interesses.
Die Rezeption – Erlebniscenter (Musik-)Kunst/. Der daran angeschlossene Schritt leitet sich wie von selbst ab und bezieht sich auf die Rezeptionsbedingungen. Die Konzerte der 3 Tenöre, die eher Popkonzerten ähnelten, können hierbei richtungsweisend sein: Musik zu hören, auch die klassische Musik, ist ein Ereignis mit Event-Charakter. Auch hier liegt das Vorbild in der Vergangenheit zur vorreligiösen Sicht auf Kunst. Die gesellschaftliche Kommunikation hat längst von Kontemplation auf Erleben wieder umgestellt – wie vor dem romantischen Traum vom Absoluten, als der König und sein Hofstaat der Musik »zuhören oder gleichzeitig dinieren [konnten], ihre höfischen Tänze tanzen oder die Musik auch einfach ignorieren (kein großer Unterschied zu heute!).«782 Mit anderen Worten wird der Musik der Heiligenschein genommen und dient wieder dem Menschen. Sie wird so wieder säkularisiert zu einer angenehm klingenden geräuschhaften Sequenz, als die sie ehedem betrachtet wurde, bereinigt vom transzendentalen Schein. »Musik und Transzendenz – dies klingt eher nach kulturgeschichtlicher Erinnerung als nach zutreffender Gegenwartsdiagnose.«783 Die fortschreitende Säkularisierung im 20./21. Jahrhundert hat heute auch die Kunst als Religion ergriffen, sodass Anleitungen zum »richtigen« Verhalten im Konzert zunehmend ins Leere laufen, ihnen mit Unverständnis begegnet wird. Kleiderordnungen sind zum großen Teil ohnehin und schon seit Jahrzehnten Geschichte, Benimmregeln zur »richtigen« Rezeption, das wäre der nächste logische Schritt, würden wünschenswerterweise alsbald freigestellt. Weniger Betriebsanleitungen für das Publikum
781 Axelrod, John: Wie großartige Musik entsteht … oder auch nicht, a. a. O., S. 73. 782 Ebd., S. 85. 783 Schulze, Gerhard: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. Frankfurt/N.Y. (Campus) 1999, S. 86.
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zum richtigen Verhalten beim Konzertbesuch sind notwendig als vielmehr Änderungen in der Konzerthauskultur : »Nicht länger davon ausgehen, dass klassische Musik so etwas wie Religion ist und die Leute sich schon darauf besinnen werden, sobald sie reifer und älter geworden sind. Nein, Elfenbeintürme gehören abgerissen und die unsichtbare Wand zwischen Orchester und Publikum zertrümmert«784, …
meint pointiert abermals der Dirigent John Axelrod zum Verhalten im Konzertsaal, der zum »geheiligten Ort, einer Kirche«785 einst mutierte. »Das Paradigma der Konzertaufführung des 20. Jahrhunderts hat sich verändert. Das passive Erlebnis ist pass8.«786 In eine ähnliche Richtung weisen die im Gespräch formulierten Gedanken zwischen Reinhold Brinkmann und dem Komponisten Wolfgang Rihm, die sich ebenfalls dafür aussprechen, dem Konzertsaal wieder Leben einzuhauchen und das Zelebrieren einer Messe aufzugeben. Die Autoren Brinkmann und Rihm beschreiben das übliche Ritual, dass das Konzert auszeichnet. Mit Beginn des Konzerts gehen die Lichter aus »und die Monstranz in Form des Werkes wird hereingebracht«, beginnt Wolfgang Rihm das Konzertleben zu beschreiben, und Reinhold Brinkmann führt den Gedanken weiter aus, »[u]nd vorne auf dem Altar, auf dem Podium wird es zelebriert. Und in Stille und Ergebenheit hörst du zu.«787 So wie sich die Kirchensäle in der fortschreitenden Säkularisierung zunehmend leerten, leeren sich heute die Konzertsäle, wo man leerlaufende, überholte Rituale zelebriert. Reinhold Brinkmann glaubt nicht an die Zukunft des Konzerts als Vollzug einer Messe mit Verhaltenscodex und prognostiziert eine andere Entwicklung, die er ansatzweise schon zu erkennen glaubt: »In Boston gehen schon zur Aufführung die Lichter wieder an, wofür es eine andere, schlimme Begründung gibt, nämlich dass man die kommerziellen Anzeigen lesen soll und den Einführungs-Text, den die Musikwissenschaftler verfasst haben. Und die virtuellen Hörer sitzen da und lesen […] [i]m Programmheft, und hören nicht mehr zu. […] Dass man eine zweite Beschäftigung hat. In Boston gehen die Leute aus dem Konzert heraus und kommen wieder herein nach drei Minuten.«788
Und das Ganze geschieht, während das Stück aufgeführt wird. Wolfgang Rihm kommentiert diesen Vorgang mit den Worten: »Das ist ja wie im 18. Jahrhundert.«789 Reinhold Brinkmann ergänzt, dass dies noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts so gewesen ist: »[W]enn du Zeichnungen über Aufführungen, Kon784 785 786 787 788 789
Axelrod, John: Wie großartige Musik entsteht … oder auch nicht, a. a. O., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 97. Brinkmann, Reinhold/Rihm, Wolfgang: Musik nachdenken im Gespräch, a. a. O., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd.
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zertaufführungen siehst, dann siehst du, dass die Leute sich unterhalten«.790 Musikaufführungen Mitte des 18. Jahrhunderts sind noch vom Leben erfüllt, sind noch ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem man – wie damals beim Leipziger Großen Konzert – nicht gesessen hat, sondern gestanden, wo man umherflanierte, sich unterhielt und lachte. »Wenn zu laut geplaudert wurde, trat der Saaldiener ans Cembalo und pochte mit einem großen Schlüssel an dessen Deckel. Dann dämpfte sich die Unterhaltung. (Auch Händels vergeblicher Kampf gegen das Tafeln in der Oper gehört hierher.).«791 Die Rezeption von Musik im öffentlichen Raum ist bis weit ins 18. Jahrhundert eine andere gewesen, als es die ritualisierte Musikrezeption im Gotteshaus Konzertsaal von heute Glauben machen will. Ein Konzertbesucher jener Zeit schildert seine Eindrücke: »Der allgemeine Treffpunkt für die Gesellschaft ist von nun an die Oper, […]. Die Damen halten jetzt gewissermaßen ihre Empfänge in ihren Logen, wo die Zuschauer ihrer Bekanntschaft ihnen kurze Besuche abstatten. […] Hierhin [Loge; Anm. N.S.] gehe ich wie in meine Wohnung. Man zückt sein Lorgnon, um zu sehen, was an Bekannten da ist, und besucht sich gegenseitig, wenn man Lust hat. Daß die Menschen hier Opernliebhaber sind, tritt übrigens mehr darin zutage, daß sie da sind, als daß sie etwa dem Stücke aufmerksam zuhörten. Sind die ersten Vorstellungen, […], vorüber, so ist es nicht mehr guter Ton, zuzuhören, außer an den Glanzstellen. Die Hauptlogen sind prächtig ausgestattet, […]. Manchmal wird hier auch Karten gespielt, öfter geplaudert, und man sitzt in einem Kreis in der Loge; […]. Einmal […] kam ich sogar auf den Einfall, Schach zu spielen. Schach ist eine herrliche Erfindung, um über die Leere der langen Rezitative wegzukommen, und die Musik eignet sich vortrefflich, um die allzu große Emsigkeit beim Schachspiel zu unterbrechen. Einen sehr artigen Brauch pflegt der Herzog von Saint-Aignan, wenn er ins Theater geht: er läßt in allen Logen der Damen durch seine Lakaien Eis und Erfrischungen herumreichen«.792
Die Musik ist Anlass zum Besuch der Oper und doch Hintergrundphänomen. Trotz tönender Erscheinung ist sie doch abwesend, ja in der Schilderung wirkt sie beinahe störend, wird als Hintergrundgemurmel so gerade noch akzeptiert. Selbst die ritualisierte Konzerthauskultur verfährt am prominenten Orte nicht viel anders, wo das Event im Vordergrund steht und die Musik den Rahmen dazu bietet. Die Transzendenzillusionen des 19. Jahrhunderts haben ausgesuchter Musik das Leben ausgehaucht. Zur absoluten Musik hochstilisiert, die »ein unbekanntes Reich auf[schließen]« können soll, wie sich ein E.T.A. Hoffmann und so viele andere erträumten, verändert sich die Rezeptionsweise gravierend: Die 790 Ebd. 791 Schleuning, Peter : Ein paar Gedanken zum Anfang. In: ders. (Hg.): Warum wir von Beethoven erschüttert werden und andere Aufsätze über Musik, a. a. O., S. 50. 792 Charles de Brosses, 1739, zit. n. Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. München (dtv/Bärenreiter) 1995, S. 104.
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kontemplative Andacht, Stille, Versunkenheit werden nunmehr abverlangt und andere Verhaltensweisen negativ sanktioniert. Der Hörer »fragt sich, mit welcher planerischen Absicht ihm diese Musikfetzen so vorgeworfen werden. Aber er kann darauf keine klare Antwort erhalten, sondern nur zu dunklen Ahnungen und Vermutungen kommen. Was als Absicht hinter dieser Musik steht, bleibt für ihn ein Rätsel. Die Musik weckt in ihm ein unstillbares und anspannendes Verlangen nach Erklärung und Lösung. Aber es gehört zu dieser Musik, daß dieses Verlangen kein Ziel und keine Lösung finden kann. Diesen Zustand nennt der Hörer Erhobensein, Bewegtsein, Erschütterung, Ergriffenheit, Aufgerütteltsein, Aufgewühltsein. Eine innere Unruhe wird erzeugt, bleibt aber ohne Bezugspunkt oder Lösungsmöglichkeit. Irgendetwas Bedeutendes, Unfaßbares und Rätselhaftes, etwas Unerklärliches und Unergründliches scheint dahinter zu stecken, so unklar und unerklärbar, daß Worte nicht tauglich erscheinen, diesen Eindruck wiederzugeben. Sie könnten ihn höchstens stören.«793
Mit der Inthronisierung der Instrumentalmusik wird der Konzertsaal zum Tempel und dem Menschen die Bewegung zur Musik ausgetrieben. Die Musik diente durch die Zeiten hindurch stets Zwecken, nunmehr – bereinigt von allen menschlichen Zwecken – soll sie posthum Selbstzweck sein – original statt standardisierten kompositorischen Regeln folgend, zeitlos und universal statt für das zweckgebundene Tagesereignis komponiert. Bis weit in die Epoche der Klassik schrieben die Komponisten vor allem Auftragswerke, häufig zu bestimmten Anlässen, Gebrauchsmusik sozusagen. Dass sie Musik für die Nachwelt komponierten, zeitlose Werke für die Ewigkeit, entsprach seinerzeit gar nicht dem Selbstverständnis des Künstlers.794 Im Zuge dieser mysteriösen Transmutation, bei der – wenn man so will – qua gedanklichem Wunschdenken musikalisches Blei in Gold verwandelt wurde, werden aus Konzertsälen gleichsam kirchenähnliche Tempel, in denen man sich auch so zu verhalten hat: still und stumm, glaubensträchtig in kontemplativer Andacht versunken. »Es endete in völliger Fesselung: Kein Wort, keine Bewegung, im Sessel festgebannt.«795 Die »Konzertmusik als feierlicher Bürgergottesdienst« bezeichnet Peter Schleuning diese Form des Stillstellens des Körpers und der abverlangten Andachtshaltung des Publikums.796 Es fehlt eigentlich nur noch der Rosenkranz, der natürlich nicht murmelnd, sondern still zwischen den Fingern bewegt werden will und darf. Die Rezeption von Musik im Modus des bewegungslosen Stillsitzens eignete sich eher für jenes überwundene Zeitalter, das der Körperdisziplinierung großes Gewicht einräumte, als Strammstehen und Stillsitzen sowie Befehl und 793 Schleuning, Peter : Ein paar Gedanken zum Anfang, a. a. O., S. 49. 794 Kent Nagano, zit. n. Nagano, Kent/Kloepfer, Inge: Erwarten Sie Wunder. München/Zürich/ Berlin (Piper) 2016, S. 113. 795 Schleuning, Peter : Ein paar Gedanken zum Anfang, a. a. O., S. 51. 796 Ebd., S. 53.
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Gehorsam zum opportunen gesellschaftlichen Tagesgeschehen gehörten, sozusagen en vogue waren. Die Zeiten aber haben sich gründlich geändert – zum Glück. Dieser Zwang zur körperlichen Disziplinierung ist nunmehr aufzuheben, denn die Erwartung einer religiös anmutenden Andacht in einem Konzertsaal wird von einem heranwachsenden potenziellen Publikum eher mit Befremden und Absenz begegnet. Eine allgemeine Religiosität mit verbindlichen Moralvorstellungen ist ohnehin Geschichte, sie im Konzertsaal zu zelebrieren verfehlt. Eine militaristische Körperdisziplinierung hat ebenfalls ihre Zeit gehabt und befremdet heute weitgehend. Die Religionsattitüde Kunst hat der Kunst nicht eben gutgetan. Es hat ihr die Möglichkeit genommen, in die Breite der Gesellschaft hineinzuwachsen. Die Musik als erlebnisträchtiges sinnliches Erlebnis dagegen ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Insofern ist der bewegenden Sinnlichkeit auch im Konzertsaal zu gedenken oder es sind andere Rezeptionsformen jenseits des Konzertsaales zu überdenken. Der Musik tut dies keinen Abbruch und auch nicht der gedanklichen Reflexion über Musik. Musik als Transzendenzereignis befördert primär den Glauben, aber selten die Reflexion. Glauben und Reflexion stehen einander fremd gegenüber. Das Konzert als Messe und körperliches Disziplinierungsinstrument, als dass es zelebriert und genutzt in der Regel wird, schafft eine Atmosphäre, »die dann auch gegen eine rationale Aufnahme des Stückes, eine kritische Aufnahme, […], gerichtet ist.«797 Will man über Musik nachdenken, ist das Konzert als Transzendenzerlebnis fehl am Platze. Es fördert nur die Andacht und den kritiklosen Glauben, aber nicht das kritische Nachdenken. Eine Rezeptionsform wie bei einem Popkonzert käme nicht nur einem heranwachsenden Publikum entgegen. Sicher : Auch hier ist die Reflexion nicht unbedingt zugegen. Aber ein Verlust ist nicht zu verzeichnen, wo die stille Andacht im anderen konzertanten Fall im Vordergrund steht und die Reflexion ins zweite, dritte Glied rückt, falls sie überhaupt zugegen ist. In diesem Sinne ist auch das atmosphärische Klubkonzert zu bedenken. Unter Verabschiedung aller Selbstdisziplinierung mit vielleicht »Zwischendrin-am-Cocktail-Schlürfen!«798, wie es die Autorin bei einer Aufführung der Künstlerin Anne Sofie von Otter schon erlebt hat, mag auch die Musik der Vergangenheit zum Genuss für ein neues Publikum sich wieder eignen. Manche Aufführungskultur heutzutage sucht neue Wege, die zuletzt rückblickend den altbekannten von früher gleichen, als das Stillsitzen noch nicht Mode war. Durch Teilhabe an der aktuellen Kom-
797 Brinkmann, Reinhold/Rihm, Wolfgang: Musik nachdenken im Gespräch, a. a. O., S. 14. 798 Tewinkel, Christiane: Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile, a. a. O., S. 27.
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munikation lassen sich also Wertschätzungen pflegen, über die Verweigerung dagegen nicht. Kommunikation zeigt sich völlig indifferent gegenüber dem Denkmal Musik und einer Fachdisziplin, Musikern und Komponisten, die so operieren. Kommunikation kennt nur den Anschluss. Was den Anschluss verfehlt, verliert Relevanz und/oder erhält einen anderen Status. Im Raum der Eventkultur kann auch die in den Kreis des Alltags zurückgekehrte Unterhaltungsmusik der Vergangenheit einen neuen publikumswirksamen Platz erlangen und wieder das werden, was sie einst gewesen ist: gute Unterhaltung. In der Neubewertung von hochgeschätztem Unvergänglichen zum gerne mal wieder gehörten Evergreen läge eine solche Chance. Der Evergreen lebt – trotz deutlich hörbarer Patina, die ihn in die Ferne stellt – in der Gegenwart, wo er immer noch oder immer wieder in unterschiedlichen Kontexten und Orten gern gehört wird: »Ein Freund, ein guter Freund«, »Mein kleiner grüner Kaktus« u.v.a.m. Auch Schuberts Winterreise z. B. gehört sodann zur Evergreen-Kultur. Dem Evergreen ist man beizeiten gewogen, da er nicht zum Ausschließlichen neigt, sondern die Gegenwartsmusik beiläufig begleitet. Schubert, Schumann als Evergreen lässt zwar ästhetische Gegenwartspräsenz vermissen, ihnen haftet hörbar das antiquiert Vergangene an, aber in der Patina vielleicht liegt der eigentliche gegenwartsrelevante Reiz. So wird das Vergangene als Vergangenes, eben als wohlklingender Evergreen, goutiert. Nur zur Hauptsache erheben, hinter der die Gegenwart zurücksteht, das ist dann – im akustischen Hier und Jetzt lebend – doch nicht gewollt.
Die Produktion – Die merkantilen Kunstverwerter/. Musiker bisweilen mögen die wertschätzende Haltung zur Kunst vermissen, die Anerkennung den Werken gegenüber, aber auch ihrer eigenen Handwerkskunst gegenüber, der durch Andacht und Stille Tribut gezollt gewesen ist. Doch begegnet der Rezipient der Kunst in einer Art und Weise, wie es auch der Künstler zuweilen tut: weltlich profan, sie auf eigene Interessen hin auslotend und nutzend. Die Kunst um der Kunst willen hat sich unterzuordnen den monetären Ansprüchen, ob Kunst und in welchem Umfange Kunst sei. »Ein Orchesterdienst dauert 3 Stunden und 15 Minuten, die Hochzeit des Figaro leider etwas länger. Also wird die eine oder andere Arie einfach gestrichen.«799 Über diese Zeit hinaus ist die Vergütung eines weiteren kompletten Orchesterdienstes vorgesehen, auch wenn die Zeit nur um eine Minute überschritten würde. »Eine Minute drüber – Doppeldienst.«800 Eine Zerstückelung des Werkes, seine Ge799 Wüllenweber, Walter : Absurdes Theater. In: Stern, Nr. 28/2008. 800 Ebd.
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samtrezeption, das große Ganze, spielt so keine Rolle, wenn der Tarifvertrag spricht. Die Folge: »›Die Hochzeit des Figaro‹ wird in Deutschland in der Regel nicht voll ausgespielt«.801 Auch hat sich die Güte einer Aufführung nach den Terminen und Verdiensten der Musiker zu richten. »Orchesterprobe des ›War Requiem‹ von Benjamin Britten […] Beuerle [der Dirigent; Anm. N.S.] und dem Orchester gelingt es, den stillen, traurigen Charakter herauszuarbeiten. Auf dieser Basis ließe sich bei der nächsten Probe aufbauen. Doch wenn Beuerle wieder nächste Woche nach Saarbrücken reist, sitzen womöglich ganz andere Musiker vor ihm. Der Grund dafür ist das ›Mugge‹, das musikalische Gelegenheitsgeschäft. Die meisten Musiker verdienen sich nebenher noch ein paar hundert oder gar tausend Euro dazu.«802
Künstlerische Qualität hat so vor monetärer Quantität zurückzustehen. Damit Orchestergeschäft und »Mugge« halbwegs zusammen harmonieren, teilen die Musiker den Probenplan selbst ein… »[u]nd nehmen dabei Rücksicht auf die jeweiligen Mugge-Verpflichtungen. ›Der Dirigent hat nur wenig Einfluss darauf, wer gerade im Orchester sitzt‹, sagt Constantin Trinks, Dirigent des Saarbrücker Orchesters. ›Allenfalls zur Premiere kann er Wünsche äußern. Das wird aber nicht gerne gesehen.‹ Man stelle sich vor, Jürgen Klinsmann dürfte seine Mannschaft nicht selbst aufstellen und höchstens für das Eröffnungsspiel Wünsche äußern. Ob dann die Abwehrformation, die er trainiert hat, auch wirklich aufläuft, wüsste er trotzdem nicht. Genauso werden Orchester organisiert.«803
Dass eine solche Organisation nicht immer der Qualität der Aufführung zugutekommt, versteht sich von selbst. Auch wer das Können wie das Glück hat, an staatlichen Musikhochschulen professoral in der künstlerischen Ausbildung beschäftigt zu sein, kennt in der Regel solche Doppelverdienste durch »Mugge«Verpflichtungen einerseits und Eingebundensein in die Instrumentallehre andererseits, was mitunter schon mal Probleme bereitet, beides kongruent miteinander zu verbinden. Kunst um der Kunst willen, so will man meinen, ist keine grundsätzlich geltende Haltung. Auch Dirigenten machen in Sachen Doppelverdienst da keine Ausnahme: »Denken Sie zum Beispiel an den Wirbel um Barenboim und die Pariser Oper 1989. […] L’affaire Barenboim hat neue Rekorde in Sachen Habgier gesetzt. Barenboim, […], wurde als Musikdirektor des neuen Opernhauses an der Bastille fristlos gefeuert, angeblich wegen seiner Programmplanung nach dem Motto ›Treibt die üblichen Verdächtigen auf‹. In Wirklichkeit aber gärte es unter den Franzosen aus ganz anderen Gründen: erstens wegen der astronomischen Höhe seines Honorars (fast eine Million Dollar pro Jahr) und zweitens, weil Barenboim außerdem noch einen Vertrag unter801 Gerald Mertens, zit. n. ebd. 802 Ebd. 803 Ebd.
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schrieben hatte, der ihn zum Nachfolger von Sir George Solti beim Chicago Symphony Orchestra bestimmte. Der Job war, das versteht sich von selbst, nicht gerade pro bono publico. […] Wie sagte doch der große Musikliebhaber Gordon Gekko im Wall Street Journal: Gier ist gut.«804
Das Geschäft steht im Vordergrund, die Kunst wird zum reinen Markenartikel. Das ist nicht zu beklagen, es drückt darin sich fraglos ein legitimes Verhalten aus, wird der eigene Marktwert nach Möglichkeiten auslotet. Aber die Kunst um der Kunst willen wird in solchen Fällen gerade nicht betrieben. Festzuhalten ist daher : Kunstausübung ist Geschäft. Der Künstler nimmt, was er bekommen kann, was oft genug leider nicht genug ist. In den viel zu seltenen Fällen, wo das Geschäft sich lohnt, werden dem Marktwert entsprechend hohe Gagen eingefordert. Und das ist gut so. Ein Produkt wird offeriert, der Rezipient goutiert, ganz wie er möchte. Die kommunikative Erhöhung oder das selbstlose Eintreten für die Kunst erscheint dabei allerdings mehr wie ein Marketing-Gag oder wie die Selbsttäuschung derer, die Kunst zu ihrem Geschäft gemacht haben. Der Marktwert von Künstlern, die der Musik der Tradition sich verbunden zeigen, ist oft allerdings – trotz hoher und höchster künstlerischer Befähigung – als prekär zu bezeichnen. Professionelle Botschafter in Sachen Kunst bieten sich oft zum Schnäppchenpreis an. Ihre künstlerische Orientierung folgt, um vertretbare Einnahmen zu erzielen, oft wirtschaftlichen Erwägungen. Am Beispiel von CD-Einspielungen ist dies leicht abzulesen. Wenn Anna Netrebko Verdi »würdigen« will, wie die Marketing-Abteilung der Deutschen Grammophon mitteilt, macht sie dies in wirtschaftlich günstigen Zeiten, wie dies runde Geburts- oder Todestage von Komponisten generell verheißen. Die »Würdigung« erfolgt so naheliegend im Jahre 2013, 200 Jahre nach Verdis Geburt, und nicht ein Jahr zuvor oder später. Auch die Begeisterung von Rolando Villazjn für Händels Arien stellt sich pünktlich zu Händels 250. Geburtstag im Jahre 2009 ein, wenngleich die Begeisterung beim Publikum für jenes Album überschaubar geblieben ist. Auch hier wird deutlich: Das Publikum will partout kein Geld mehr zahlen für überholte Musik, so sehr diese auch Wohlklang garantiert. Dass im Jahre 2009 vielleicht Charles Gounod Rolando Villazjn interessiert hätte, das wäre bemerkenswert gewesen, ist aber – wenn überhaupt – erst im Jahr 2018 zu dessen 200. Geburtstag zu erwarten. Es mag aber auch sein, dass Charles Gounod, weil er nicht gerade zu den unermüdlich wiederaufgelegten Best-of-Klassikern gehört, auf eine solche Würdigung zu seinem 200. Geburtstage verzichten muss. »Weil die Stücke hörbar wenig(er) taugen – und weil es für den Interpreten ein Wahnsinn ist, sich für ein, zwei Galas eine Partie reinzubimsen, die ihm nie
804 Walsh, Michael: Keine Angst vor klassischer Musik, a. a. O., S. 162.
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wieder begegnen wird.«805 Da selbst die Klassiker nicht viel erwirtschaften, kaum die Produktionskosten stemmen, ist das Verlustgeschäft jenseits der Best-ofKlassiker vorprogrammiert. Das Geschäft mit der Kunst, weltlich profan wie es ist, kennt kein »l’art pour l’art«, keine Kunst um der Kunst willen. Falls überhaupt davon noch die Rede sein soll, heißt »l’art pour l’art« heute, Kunst als das zu nehmen, was sie ist: pures Design, und ihr Mehrwert speist sich aus ihren kommunikativen Anschlüssen. Beim reinen Fortschreiben des Kulturerbes führt dies allein zu den bekannten Ritualen im Konzertsaal oder es gerinnt zum reinen Spektakel beim Sehen und Gesehenwerden (z. B. Bayreuth) oder es wird zum bloßen schmückenden indifferenten Ornament (z. B. Neujahrskonzert). In all diesen Fällen stört die Anwesenheit von Kunst zwar nicht, sie ist aber auch nicht unbedingt notwendig, wie auch Künstler gelegentlich feststellen (Thomas Quasthoff im Interview mit Bettina Böttinger, Kölner Treff). Musik bleibt in diesen Fällen bloßer begleitender, mitunter beliebiger Klangstrom, der hübsch tönt. Eine etwas anders gelagerte »musique d’ameublement« im Sinne Erik Saties drückt sich darin aus. Professionelle Arbeit im Kunstsektor ist daher Selbstvermarktung, weniger Kulturpflege. Kulturpflege bleibt dabei nicht völlig außen vor, ist aber eher willkommenes Nebenprodukt. Die Vermarktung als Botschafter der Kunst gibt allerdings ein gutes Gefühl und verleitet zur Autosuggestion, dass man der Kunst und nur der Kunst verpflichtet sei. Die Überhöhung daran ist allein Selbstinszenierung und Stilisierung, worüber das Produkt sich besser einerseits verkaufen und andererseits das Selbstwertgefühl sich steigern lässt. Nicht, was die Kunst an Qualitäten bereithält, sondern, was an ihr zu verkaufen ist, macht für die Kunstverwerter wie auch Künstler sie interessant. Die Kunstausübung als Geschäft zeitigt darüber hinaus einen positiven Nebeneffekt: Das Geschäft entleert jede andere Idee von Kunst und bringt erträumte Wolkenkuckucksheime vom universellen Mehrwert der Kunst zurück auf die Erde. Für manchen erscheint dies als unerquickliche Bauchlandung, doch ist dieser Rücksturz aus dem Ideenhimmel zur Erde nur zu begrüßen. Der Blick weitet sich, wird wieder klar, das Denken kann sich befreien vom vordergründig seligmachenden und doch nur lähmenden Betäubungsmittel, das Kunst auch sein und den Blick verstellen kann. Mit der Verabschiedung der zum Okkultismus und Totemismus neigenden Droge Kunst, der Verabschiedung des ritualisierten Kults um die Kunst, wird Kunst aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt, in den sie einst gefallen war. Sie erwacht zum Leben, und zum Geschäft tritt die Geschäftigkeit. Und das ist gut so.
805 Lemke-Matwey, Christine (unter Mitarbeit von Claus Spahn): Singen bis der Arzt kommt, a. a. O., S. 39.
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Die Reflexion – Zur kompetenten Anschlusskommunikation mit Systemrelevanz/. Das Design der Fachdisziplin Musik bedarf einer umfassenden Renovierung, was das Verfertigen von mikrologischen Studien, die zahllosen Fragmentrecherchen und insgesamt die Orthodoxie des So-und-nicht-anders (sprich: die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit) aufhebt. Hierbei gilt es zu präzisieren, wenn von der Fachdisziplin Musik die Rede ist. Die Kritik betrifft in erster Linie die sogenannte Historische Musikwissenschaft. Sie hat in ihrer jetzigen Ausgestaltung keine gesellschaftliche Funktion. Die einzige relevant auszumachende Funktion ist der Selbsterhalt, weiter so zu funktionieren wie bisher. Die Historische Musikwissenschaft zeichnet ein großes Theoriedefizit aus und weiß zu der Musik der letzten sechzig, siebzig Jahre wenig zu sagen. Das gilt für die Populäre Musik ohnehin, aber zu großen Teilen auch für die Neue Musik. Sie steht beiden Phänomen im Zuge mangelnder Kompetenz weitestgehend ratlos gegenüber, pflegt statt dessen weiter den Kult der zu in Partituren gefügten musikalischen Welt des Früher, pflegt eben die Orthodoxie des So-und-nichtanders, über den auch die von ihr geschätzte Musik aus dem Zentrum wenn schon nicht ins Nichts, so doch an den gesellschaftlichen Rand katapultiert wurde. Es geht um nichts anderes als um eine umfassende Neuausrichtung des Faches. Der aus der Romantik implementierte Code von transzendent/immanent ist dazu zurückzustellen, der Wissenschaftscode von wahr/falsch steht fortan zentral. Möchte man im 21. Jahrhundert als Fachdisziplin gesellschaftliche Resonanz erzielen, ist der fachliche Schritt ins 21. Jahrhundert auch zu leisten sowohl thematisch, erkenntnistheoretisch als auch methodisch. Umschreiben lässt sich dies als kompetente Anschlusskommunikation mit Systemrelevanz. »Man muß in Form bleiben für alles, was kommt.«806 Damit dies möglich werden kann, wird thematisch der Musik des 21. Jahrhundert in ihrer ganzen Breite zuzuwenden sein. »Wer keine Ahnung von Popkultur hat, egal wie bio-alt, gilt als schwer vermittelbar.«807 Hierin spiegelt sich die erste Voraussetzung, an der schon die meisten Vertreter der Fachdisziplin Musik mit Ausrichtung zum historischen scheitern. Es gilt also, neu zu lernen, Grundkompetenzen in Sachen Musik und sozusagen einen neuen Grundwortschatz zu erwerben, der über Fuge, Kontrapunkt, Madrigal, Motette, Rezitativ, Sonate, Sonatenhauptsatz, Sinfonie etc. hinausgeht. Eine weitere Voraussetzung ist in folgender zu sehen: Die allein ideologisch 806 Sloterdijk, Peter : Ausgewählte Übertreibungen, a. a. O., S. 305. 807 Raab, Klaus: Wir sind online – wo seid ihr? Von wegen dummgesurft! Die unterschätzte Generation. München (blanvalet) 2011, S. 76.
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erklärbare Trennung von »E« und »U«, die allenthalben zumindest untergründig noch zu beobachten ist, wird als Ideologie erkannt und beiseitegelegt. Nicht weniger als eine Neubewertung der Tradition als auch eine umfassend wissenschaftliche Erschließung der Gegenwartskultur in ihrer gesamten Breite wird damit möglich. Grundlegende Einstellung wäre: »Nicht alles, was wir etwa zur Popmusik zählen, ist Kunst von hoher ästhetischer Qualität. Aber ebenso ist nicht alles, was nach herkömmlichen Kategorien zur E-Musik zählt, hohe Kunst.«808 Ontologische Positionen oder die Idee eines zeitlosen Bildungsgehalts in einer neucodierten, kritisch motivierten, endlich wirklich wissenschaftsorientierten Disziplin wären obsolet. Eine flexible Gesellschaft bedarf flexibler Haltungen, aus denen sich ein interessierter, unvoreingenommener Umgang mit Musik herleitet. »Schon als junger Mann, als ich mich für Schönberg, Berg und Webern interessierte und selbst ernsthaft zu komponieren anfing, merkte ich, daß das Insistieren auf der ›Tradition‹ nur ein Vorwand war, jede Erneuerung abzulehnen.«809 Erneuerung geschieht im Idealfall aus Einsicht. Da der Eindruck, dass es hieran fachintern mangelt, nicht ganz von der Hand zu weisen ist, bedarf es der Impulse von außen. Am Deutschen Musikrat, der ebenfalls nur den Blick zurück kannte und jedwede Reform weit von sich gewiesen hat, ist schon einmal vorgeführt worden, wie Erneuerung geschehen kann. Erst die eigenverschuldete Insolvenz und die massive Intervention von außen haben den Deutschen Musikrat zur Reform bewegt. Es bedarf also der nichtnachlassenden kommunikativen Interpenetration externer sozialer Systeme, um eine neue Form zu finden nicht nur für das, was noch kommt, sondern auch für das, was schon ist. Interpenetration heißt, dass eine erfolgreiche Revision abhängig ist von externer Einflussnahme auf die Stellendenominationen. Freiwerdende Lehrstühle für Historische Musikwissenschaft sind demnach umzuwidmen. Aus gewachsenem Selbstverständnis heraus kennt diese den beinahe ausschließlichen Rekurs nur auf die Kunstmusik der Vergangenheit jenseits ihrer Zeit. Es gilt dabei darauf hinzuweisen, dass die Fachvertreter im 19. Jahrhundert – bei aller Verirrung in Bezug darauf, dass Romantik und Wissenschaft sich schlecht vertragen – immerhin wesentlich sich mit ihren zeitgenössischen Komponisten im breiteren Umfang beschäftigten. Diese Haltung ist verlorengegangen. Das Interesse an ihrer eigenen musikalischen Gegenwart hat die Fachdisziplin im Zuge der Zeit dann verloren. Die der Musikwissenschaft vorgeschaltete nähere Bestimmung historisch verleitet zu dem Missverständnis der Vernachlässigung der Gegenwart. Hier eine Neuorientierung aus sich selbst heraus zu erwarten wäre von 808 Nida-Rümelin, Julian: Humanismus als Leitkultur. München (Beck) 2006, S. 118. 809 Kagel, Mauricio: Dialoge, Monologe, hg. v. Klüppelholz, Werner. Köln (DuMont) 2001, S. 26.
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allzu kühnem Optimismus getragen, wo manche Vertreter des Faches Klage darüber führen, dass die Auseinandersetzung mit der Musik des Mittelalters, des 15. oder auch des 16. Jahrhunderts zurückträte zugunsten der »E«-orientierten Musik des 19. und 20. Jahrhunderts (!) und darin schon einen bedenklichen Popularitätsschub sehen.810 Auch jene Bestandsaufnahme zur Fachdisziplin Musik811 aus dem Jahr 2007, aus der schon mehrfach zitiert worden ist, leitet die Bedeutung der existierenden Historischen Musikwissenschaft praktisch durchgängig aus der selbstgestrickten Geschichte der Musik ab und bleibt darin gefangen. Aus diesem, für die Fachdisziplin beinahe konstitutivem Blick zurück wird kein Ausweg gefunden. Man bleibt der Blickrichtung verfangen. Die Rhetorik für diese Rückwärtsbezogenheit verfährt zusammenfassend im großen Umfang tautologisch: Vergangenheitsmusik und die Auseinandersetzung mit ihr im Fach sind danach deshalb von Bedeutung, weil sie mal bedeutend gewesen sind (oder bedeutend gewesen sein sollen). Ein Zirkelschluss! Vordergründig verläuft die Argumentation oft dahingehend, dass dem Erhalt des kulturellen Erbes das Wort geredet wird, weil es der Gegenwart das unverzichtbare Fundament bietet. Die Gegenwart wird so zum eigentlichen Ankerpunkt erhoben, woraus der Beschäftigung mit der kulturellen Vergangenheit die Legitimation erwächst. Das gleicht gleichwohl einem Taschenspielertrick, denn zwischen den Zeilen steht praktisch unmissverständlich geschrieben, dass die Kultur der Vergangenheit prinzipiell als wichtiger erachtet wird als die der Gegenwart. Die Gegenwart wird so zum Alibi für die Beschäftigung mit der bedeutsamen Vergangenheit erhoben und nicht umgekehrt. Bedeutsamkeit hat so ihren ausgemachten bevorzugten Ort. Die kulturelle Gegenwart erscheint vor den ausgemachten Riesen der Vergangenheit nichtig und klein. Eine Haltung, dass eine ferne Zukunft die z. Zt. waltende kulturelle Gegenwart zum bedeutungslosen NICHTS erklärt und weiterhin an sinfonischen und anderen Klängen von »Werken« hängt, lugt an solchen Zustandsbeschreibungen zur Fachdisziplin Musik hervor. Eine Bereitschaft zur Veränderung existiert nicht. Die Fachdisziplin Musik in ihrer gegenwärtigen Form erweist zu großen Teilen sich als ein lernunwilliges System. Lernunwillig heißt aber auch: Wer nur zurückschaut, verpasst den Anschluss. So, wie die Fachdisziplin aufgestellt ist, führt das gesellschaftlich zu nichts. Auch ihr selbst schadet die selbstgeschaffene Isolation im Blick zurück. So bedarf es, wie einst beim Deutschen Musikrat auch, einer Umwelt, die ihr hilft, sich gesellschaftsrelevant neu zu erfinden, und das heißt, die Fachdisziplin zum Lernen zu animieren. Lernen bedarf der Anstrengung, und das ist unbequem, wo man sich überdies ausgelernt wähnt. Damit Lernen trotzdem ge810 Vgl. Finscher, Ludwig: Diversi diversa orant, a. a. O., S. 12. 811 Vgl. Lütteken, Laurenz: Musikwissenschaft, a. a. O.
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schieht, werden freiwerdende Lehrstühle der Historischen Musikwissenschaft im Zuge von Neubesetzungen a) bis auf wenige Ausnahmen mit neuer Denomination ausgestattet, welche die Populäre Musik zentral benennt, b) einer neu zu gestaltenden Kritischen Musikwissenschaft zugeschlagen oder c) der Systematischen Musikwissenschaft. Wer sich wahrnehmungspsychologisch mit Musik beschäftigt, weiß um die Fragilität von Wirkungen. Wer sich aus soziologischer Sicht mit Musik beschäftigt, weiß um den Stellenwert musikalischer Moden der Vergangenheit und um das Umfeld, das sie in Szene setzte. Wer Akustik und Musikästhetik verbindet, kann ergründen, wie Mediensysteme (von griechischer Lyra bis Computer) ganze Kulturprogramme auf den Weg brachten und wieder aufhoben. Darüber hinaus: Wer sich ethnologisch mit Musik beschäftigt, wird bescheidener mit Absolutheitsaussagen, die die eigene Musikkultur privilegiert auszeichnen sollen, insbesondere dann, wenn nicht allein im fremden Kulturraum das Vergangene erschlossen wird, sondern der Fokus auch dort gerichtet wird auf die gegenwärtigen musikalischen Ausfaltungen u. a.m. Grundsätzlich bleiben die Grenzen zwischen den Bereichen fließend. Zu besetzende Lehrstühle der Populären Musik interessieren sich über die Musik hinaus für die medialen Entstehungsbedingungen. Die Welt der Musik ist durch die Neuen Medien einem fundamentalen Wandel ausgesetzt, der von Heranwachsenden mit ihren Umgangsweisen mit Musik und ihren Einstellungen zur Musik mit auf den Weg gebracht wurde. Musik ist in einer Form präsent, wie nie zuvor. »Die Kultur der Kids ist eine höchst mobile, vernetzte, digitale und interaktive Kultur, und die digitalen Technologien werden stillschweigend als Standard anerkannt, der sich vollkommen und unauffällig in ihren Lebensstil einfügt.«812 Die Folge ist eine zunehmend auf Individualisierung ausgerichtete Rezeption der Musik, die sich jenseits des Mainstreams bewegt. Das hat Einfluss auch auf die Musikproduktion oder -komposition. Untersuchungsgegenstand wird so nicht nur die Vielfalt von Musiken, sondern werden auch die Internetportale, über die Musik sich öffentlich präsentiert. Recherchiert werden dabei die Distributionswege von Musik. Veränderungen in der Musikrezeption sind über die Musiken hinaus ausgemachter Gegenstand einer Kritischen Musikwissenschaft. Aus der Musik heraus sich bildende Manifestationen des Selbst werden, auch unter Einbezug der sozialen Netzwerke, ebenso Thema. Die Historische Musikwissenschaft verhält sich gegenüber ihrer Forschungstradition und ihrem Tun affirmativ, eine Kritische Musikwissenschaft dagegen selbstreflexiv. Sie fragt stets nach der Notwendigkeit dessen, was sie tut. Eine Kritische Musikwissenschaft sucht vom hermeneutisch geprägten Form/Inhalts812 Kusek, David/Leonhard, Gerd: Die Zukunft der Musik. München (Musikmarkt) 2006, S. 101f.
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Gedanken (oder auch Substanzgedanken) Abstand zu nehmen. Hans Neuhoff sieht mit der Hermeneutik das Problem mit der »Unendlichkeit der Interpretation«.813 »Die schiere Masse der Produktion, die für den Einzelnen ungreifbar bleibt und mit jedem Versuch einer limitierenden Intervention nur noch weiter wächst, frustriert nicht nur das Endlichkeitsbedürfnis von sinnschaffenden Akten in Permanenz, sondern kommuniziert sich subjektiv als Absurdum, dem Gegenteil von Sinn. Der hermeneutische Zirkel wird zum Hamsterrädchen, in dem sich abgestrampelt, aber kein Fortschritt erzielt wird.«814
Obwohl einst zur Wissenschaft erhoben, bereitet Hermeneutik eher den Weg zum freien Flug der Fantasie, auf dem bereitwillig Folgende sich lesend gerne mitnehmen lassen und manchmal eigene Fantasien spinnen. Wer sich hingegen an so elegant gestrickten Geschichten stört, schreibt eigene. So setzt sich das Webwerk unermüdlich fort ohne Ziel und doch immer mit Blick auf einen imaginierten, die Geschichten legitimierenden Kern. Dieses in alle Richtungen vagabundierende Schreiben trägt die Unverbindlichkeit in sich, zuletzt die Beliebigkeit. Wen kümmert schon, was hier und da geschrieben wird? Sicher : Es mag die geben, die sich ärgern, ignorieren, auch anknüpfen, akklamieren, es könnte aber auch das ganze Gegenteil geschrieben stehen, wirkliche Folgen hat solches Schreiben nicht. Was immer auch geschrieben wird: Hauptsache, der Schreibfluss endet nicht! Hauptsache, es wird geschrieben, irgendwas! Im Schreibstrom des Irgendwas spiegelt sich das Programm der gegenwärtigen historisch ausgerichteten Fachdisziplin. Die einst von Dilthey ausgemachte Trennung Erklären vs. Verstehen verkümmert im Raum der Historischen Musikwissenschaft zur Trennung von Erklären vs. Irgendwas-Verstehen. Das ließe sich zwar mit Luhmanns Kommunikationstheorie legitimieren, jedoch verpasst dieses Verstehen eines Irgendwas den kommunikativen Anschluss, erscheint gesellschaftlich, selbst innerfachlich isoliert, wo jeder rührig vor sich hinschreibt, ohne wirklich Kenntnis zu nehmen vom anderen Irgendwas, und ist abermals mit Luhmann kaum überlebensfähig. Stattdessen ist eine Kritische Musikwissenschaft von der Idee einer temporalisierten Kunst getragen. Mit der Aufgabe der Einheit der Differenz von transzendent/immanent wird die Vorstellung der Kunstreligion zu Grabe getragen. Die Welt der Werke wird wieder weltlich, was erlaubt, den Blickwinkel auf die Welt der Musikkunst zu ändern und über den Tellerrand zu bestätigender Erbauungskunst mit Haltbarkeitsdatum Ewigkeit zu schauen. Das heißt, danach zu fragen, welche Anschlussselektionen eine Musik in sich getragen hat oder trägt und nicht, welche Formvollendungen angestrebt gewesen sind oder scheinen. 813 Neuhoff, Hans: Historische Musikwissenschaft, a. a. O., S. 231. 814 Ebd., S. 232.
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Die Zeiten, als man allgemeingültige Gesetze verortete, die sich in gelungenen Kunstwerken abbildeten, haben heute keine große Konjunktur mehr. Sie waren geschuldet allein dem Transzendenzdiktum. Im Rahmen einer Kritischen Musikwissenschaft werden die Schriften der Fachdisziplin zur Musikkunst der Vergangenheit nicht einfach weggelegt, sondern neu gelesen in dem wahrlich ambitionierten Versuch Dichtung und Wahrheit zu trennen oder – etwas weniger ambitioniert gesprochen – Dichtung von wahrscheinlichem Geschehen zu trennen. Die Re-Lektüre verbindet sich mit folgender Haltung: Kunst begibt sich durch Verarbeitung in konkreten Verwendungszusammenhängen durch interessierte Zuwendung, weitaus mehr jedenfalls als durch bloße Aufrechterhaltung von Bestehendem. Welche Formen lassen sich in der Veränderung lebendig (er)halten? Wie sieht das Medium aus, aus dem Formen sich entfalten und zu neuen Medien werden können? Statt eine Bestätigungskultur weiter zu pflegen, wären die Bedingungen einer Transformationskultur auf den Weg zu bringen. Es geht dabei um kein teleologisch motiviertes Entwicklungsmodell mehr, sondern um eine Haltung der Entfaltung in alle Richtungen hin. Das Denken rastet mit neu gesetztem Blick auf eine Form/InhaltsUnterscheidung nicht mehr ein und sucht nicht zu bestätigen, sondern ist über die Differenz von Medium/Form von einer permanenten kritisch geprägten Reflexion getragen, die den Hintergrund beleuchtet. Was immer ist, erscheint als eine lose Kopplung von Elementen (Medium), aus der heraus Formen sich herausbilden können, die selbst wieder für neue Formbildungen zum Medium reifen können. Symbolisch codierte Niederschriften von Musik verlieren in einer solchen Haltung ihren Wert, suggerieren sie doch eine Dauer, die man dann in Niederschriften wiederzufinden sucht. In der auf Papier geronnenen Augenmusik der Vergangenheit sieht man keine unantastbare, auszulegende Heilige Schrift mit tiefgründiger Botschaft mehr, sondern ein Vergängliches, das über die Schriftwerdung dankenswerterweise langsamer zersetzt wird. »Im Sehen gerinnt die Welt zu Objekten. […] [Jeder Blick] läßt die Gegenstände erstarren, versteinert sie.«815 Das Interesse einer Kritischen Musikwissenschaft gilt der Abweichung, nicht der Norm. Wie sagte selbst Beethoven schon: »sobald das Gefühl unß – eine[n] weg eröfnet, […], fort mit allen Regeln«.816 Auch eine sogenannte große Sinfonie verkörperte nie die Sonatenhauptsatzform in Reinkultur, sondern lebte bekannterweise von der Abweichung einer vorgestellten idealen Norm. Dieses in der Fachdisziplin Musik oft vertretene Paradox, das die 815 Welsch, Wolfgang: Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens. In Ders.: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart (Reclam) 1996, S. 249. 816 Lockwood, Lewis: Beethoven. Seine Musik. Sein Leben. Kassel (Bärenreiter/Metzler) 22012, S. 287.
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Normabweichung goutiert und gleichzeitig die vorbildhafte Norm kommuniziert ist, ist Folge ihrer romantischen Codierung und der Erhöhung der Musik mit religiösem Anklang. Für eine Kritische Musikwissenschaft heißt das: Nicht die formidable Gestalt (Form), der rauschende Hintergrund (Medium) wird Thema. Nicht mehr das alteuropäische, metaphysisch orientierte Denken der Präsenz mit Unterstellung eines Signifikats ist Thema, sondern ein Denken der Differenz nimmt Gestalt an, das dem unermüdlich forttreibenden Signifikantenstrom sein Augenmerk schenkt. Kulturell gewachsene Werte werden somit nicht ontologisch definiert, sondern als in Vernetzungen eingebettet performativ diskutiert. So tritt an die Stelle der Bestätigung die permanente Dekonstruktion, der auch die etablierten Kunstwerke unterworfen sind. Kunst »ist«, so wird dann unschwer zu zeigen sein, weder ein berühmtes Bild (eine Mona Lisa oder Sonnenblumen in der einen oder anderen Blumenvase stehend) noch eine bevorzugte Musik (eine Alpensinfonie oder Helikoptermusik vielleicht), sondern das ganze fragile semantisch aufgeladene Drumherum: das nicht abreißende lärmende Gerede der Signifikanten. Je länger ein solches Gerede ungebührlich lärmt, umso mehr materialisiert sich Kunst. Die »Existenz« von Kunst ist von diesem Gerede, von einem leeren Signifikantenmeer abhängig. Wer von Kunst oder Kunst-Musik redet, hat somit die Bedingungen anzugeben, aus denen heraus etwas als kunstwürdig betrachtet wird oder nicht. Eine kleine Verschiebung nur in diesen Rahmendaten und etwas fällt aus dem Rahmen dessen heraus, was Musik-Kunst gerade sein soll, oder kann zur Kunst werden. Aus Kitsch kann so Kunst werden und aus Kunst Kitsch. Und aus verorteten Schmierereien, wie einst in den 1970er die Graffitis eines Harald Naegelis benannt wurden, wird – wie geschehen – erhaltungswürdige Kunst, um deren Bestand man sich sorgt, und in dieser kann aber eines Tages wieder die Schmiererei lokalisiert werden. Ob etwas Schund oder Kunst ist, kann so Folge einer minimalen Verschiebung innerhalb dieser Koordinaten sein. Wer über Kunst spricht, verfügt über kein »Objekt« mit genau anzugebenden Wesensmerkmalen, mag dies flüchtige (Musik) oder gegenständliche Natur (Skulptur, Bild, Text) sein, sondern immer nur über den Menschen mit seinem ganzen Fühlen und Denken und über den diesen umlaufende Kommunikation. Dieselbe Musik kann zu der einen Zeit als Musik mit Verfallsdatum (z. B. Barock), mit der man einen ganz pragmatischen Umgang pflegt, ein anderes Mal als unvergängliches Werk (z. B. Klassik) betrachtet werden, das als unantastbar gilt, und wieder zu einer anderen Zeit (z. B. heute) zum Weiterbasteln wieder freigegeben und zum Klingelton oder zu einer anderen Kunstform verarbeitet werden. Was angemessen ist oder nicht, entscheidet die gesellschaftliche Kommunikation, zu der die Fachdisziplin Musik als Kritische Musikwissenschaft wieder ihren Teil beiträgt. Jedes Ereignis ist und bleibt ein Mehrfachereignis, je nach dem welche Leitunterscheidung gerade
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Gültigkeit erlangt. Diesem Problem, das die Kunstwissenschaften insgesamt essentiell betrifft, ist zu stellen: Es gibt keine Kunst sui generis. Es gibt allein eine vagabundierende Kommunikation, die etwas zur Kunst erhebt. Hier hat die Historische Musikwissenschaft mit ihr größtes Defizit, die unterkomplexe bequeme Welt des Signifikats zugunsten umherlaufender Signifikanten zurückzustellen und aufzugeben. Kitsch, Kunst, Schund, Alltagsprodukt – jedwede Zuschreibung ist und bleibt jederzeit möglich, sofern die Kommunikation das nur will. Der Wert von etwas oder einem Ereignis ergibt sich nicht aus dem, was es ist (das unergründliche Ding an sich), sondern aus dem jeweiligen (auch vom Medium motivierten) Diskurs, in dem er/es steht. Eine Kritische Musikwissenschaft wendet sich den Diskursen zu, aus denen heraus Kunst sich entwirft. Diskurspraktiken sind so freizulegen und zu sondieren. Strukturalistische, poststrukturalistische, diskursanalytische, konstruktivistische und als Spielart davon systemtheoretische Theorien (u. a.) spielen in einer reformierten Disziplin eine prägendere Rolle als bisher, wo es lediglich das Verdienst weniger Einzelner ist, wenn sie denn zur Anwendung kommen. Die Diskursanalyse (Foucault), die die Idee der Erschließung ursprünglicher Bedeutung unter der Textoberfläche ausschließt, bietet fruchtbare Ansätze. Sie ist »eine historische Analyse, die sich aber außerhalb jeder Interpretation hält: sie fragt die gesagten Dinge nicht nach dem, was sie verbergen, […] nach dem Nicht-Gesagten […]. Sondern umgekehrt, auf welche Weise sie existieren, was es für sie heißt, manifestiert worden zu sein, Spuren hinterlassen zu haben und vielleicht für eine eventuelle Wiederverwendung zu verbleiben«.817 Der dekonstruktivistische Ansatz mit Kritik am Logozentrismus (Derrida) wäre zu befragen, auf welche Weise die diff8rance die Musik und die (Noten-)Schriften zur Musik bewegt. Wo die Hermeneutik die Horizontverschmelzung sucht und das Anknüpfen an Vor-Urteile, will der Dekonstruktivismus die Widersprüche und Diskontinuitäten aufzeigen. An die Stelle zeitgemäßer Wahrheitssuche tritt die Spurensuche. Schließlich wäre der konstruktivistische Ansatz der Systemtheorie nach Niklas Luhmann zu verfolgen, die nur vereinzelt in Schriften – teilweise zudem noch abenteuerlich interpretiert818 – in der Fachdisziplin Musik (eher keinen) Eingang gefunden hat, und in 817 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 132007, S. 159. 818 Wenn nach Luhmann das Missverständnis der Normalfall der Kommunikation ist, dann liegt mit dem Aufsatz eines ungenannt bleibenden Vertreters der Fachdisziplin Musik ein Paradebeispiel vor, wie gründlich man sich einer ambitionierten Theorie verheben kann. Nach siebzehn Seiten Paraphrase von Luhmanns Systemtheorie, die man sich auch hätte schenken können, formuliert jener Fachvertreter auf den letzten vier Seiten immerhin eigene, wenn auch wenige Gedanken, die sein grundlegendes Missverständnis dokumentieren. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt: In jenem Aufsatz wird vom Autor beschrieben,
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das Methodenspektrum aufzunehmen. Zu ihnen gesellen sich rezeptionsästhetische u. a. (Gender Studies z. B.) Ansätze. Wo ontologische Welthaltigkeit verabschiedet ist,819 ist anerkannt: die Kommunikation entscheidet, was Kultur, Kunst sein soll und wie damit umgegangen werden soll: in Andacht versunken, zerstreut oder gar handanlegend. Das strahlt auf das Verständnis von Kunst essentiell aus. Es stellt sich die Frage: Was also ist Kunst dann noch? Was Kunst ist, ist eine reine Verabredung, Folge eines mäandrierenden Gespräches, das – wie der Zufall es will – mal in die eine wie andere Richtung schweift und dabei eine Nebelwolke von spukhaften Zeichen schafft, die einander stützen. Das »Objekt« Kunst löst sich darin auf, wird verflüssigt. Einem entstandenen Produkt wird so nicht aufgrund innewohnender »objektiver« Qualitäten, sondern im Zuge jenes Gespräches eine Wertschätzung ausgesprochen, die erst bevorzugte Qualitäten erzeugt: Was heute noch Schund ist, mag dann morgen schon zur erbaulichen Kunst gerinnen und umgekehrt. Ein solches Gespräch mag von mancherlei Absichten beseelt sein, doch welche davon sich aktualisieren und welche im Möglichkeitshorizont verbleiben, entdass Komponisten ihre Kompositionen mit Bedeutung anfüttern, das soziale System Kunst sich allerdings nur um den Vollzug von Kommunikation kümmert. Also nicht »was« kommuniziert wird, zählt, allein »dass« kommuniziert wird, ist von Relevanz. Darin läge ein Widerspruch. Ergo: Die Systemtheorie taugt nicht, verkürzt gesprochen. Die Autopoiesis des Kunstsystems, das um den kommunikativen Selbsterhalt besorgt ist, und mögliche tiefschürfende Motive von Künstlern stellen aber mitnichten einen Widerspruch dar, da soziales System und psychisches System zwar füreinander notwendige Bedingung sind, aber Umwelt sind und bleiben. Der Künstler (das psychische System), vollgestopft mit Intentionen, interpenetriert allein das soziale System, er kommuniziert nicht. Ob die Kommunikation im System Kunst davon angereichert wird, entscheidet die systeminterne Anschlusskommunikation und nicht der von Sendungen erfüllte Künstler, der allein in der Umwelt des Systems kreist. Denn denkendes psychisches System und kommunizierendes soziales System Kunst operieren überschneidungsfrei, und jedes System macht, was es eben macht: Denken wie Beethoven, dass man Weltansprachen verfügte oder was sonst noch so einem gerade einfällt, auf der einen Seite und auf der anderen soziales Kommunizieren um der Kommunikation willen. Die Kommunikation kümmert demnach nicht, was Komponisten denken, fühlen, bewegen möchten. Sie kommuniziert nach eigenen Regeln. So prozessiert jedes System autonom seine Operationen, ohne autark zu sein. Es gibt also keinen Widerspruch. Völlig absurd wird es dann, wenn unterstellt wird, in Luhmanns Theorie wären Gefühl und Bewusstsein im künstlerischen Akt nicht vorgesehen. Die Frage ist vielmehr die: Ob und in welcher Form das soziale System ein davon getragenes Ergebnis kommuniziert und zur Kunst bestellt oder eben nicht. Und so könnte man fortfahren, um Missverständnis um Missverständnis aufzudröseln. Das Grundproblem jenes Fachvertreters ist: Er argumentiert nicht sauber theorieimmanent. Er vermischt das sehr eigene Kommunikationsmodell von Luhmann mit dem überkommenen Sender/EmpfängerModell von Kommunikation nach Shannon/Weaver, verheddert sich heillos in dieser Gemengelage und produziert geradezu Wundersames, auf alle Fälle wenig Anschlussfähiges. Zwischen dem Herleiten der Theorie und ihrer Anwendung tut sich eine ganze Welt von Irrtümern auf, die leider an dieser Stelle nicht aufgelöst werden kann. 819 Sollte es sie geben, bleiben sie unergründlich, also irrelevant, da der Zugang zu ihnen verschlossen bleibt.
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scheidet sich im vagabundierenden Gespräch und ist nicht allein von einzelnen Gesprächsteilnehmern abhängig, so sehr sie dies auch manchmal wähnen. Aus der Aporie, nicht exakt angeben zu können, was Kunst eigentlich sei und sie auszeichne, erfährt im Kontext einer Kritischen Musikwissenschaft der Mensch, das psychische System im Sinne Luhmanns, und die ihn umlaufende systemische Kommunikation eine wesentlich größere Zuwendung. Aus dem Zusammenklang von System (Kommunikation) und Umwelt (Mensch/psychisches System) ergeben sich ästhetische Theorien und Diskurse über Kunst. Diese kommunikativen Wechselfälle in den Wissenschaften von den Künsten aufzuzeigen erscheinen dabei lohnender als die analytischen Betrachtungen der Kunst selbst, die Produkt dieser Wechselfälle sind. Eine Kritische Musikwissenschaft stellt die Frage nach der eigenen Perspektive und diese nicht auf Dauer. Die Beobachtung zweiter Ordnung zu wagen und den blinden Fleck der eigenen Wahrnehmung aufzuzeigen ist konstitutiv für sie. Das beinhaltet auch die Fähigkeit des Ver- und Neulernens mitunter auch des Vergessens, d. h. einer steten Neuorientierung sich zu stellen, weil die thematische Relevanz kommunikativ nicht mehr erkennbar ist. Mit anderen Worten: Eine Kritische Musikwissenschaft wird selbstreflexiv. »Man lernt, um wieder verlernen zu müssen, wenn es auf Genauigkeit oder Aktualität ankommt, und behält im übrigen ›Bildung‹ als Kondensat zurück. Hier zeigt sich auch der Vorteil des heute kaum noch angebotenen altsprachlichen Unterrichts. Bei Griechisch oder Latein gibt es nichts zu verlernen; es genügt, es zu vergessen.«820
Befähigt zur gesellschaftlichen Anschlusskommunikation heißt für eine Kritische Musikwissenschaft, Studierende endlich ausbildungsrelevant zu unterrichten. Auch daran mangelt es bislang im große Maße. Zwar werden in Modulhandbüchern die Berufsaussichten zwischen Musikjournalismus, Musikdramaturgie oder auch Konzertmanagement angesiedelt. Inhaltlich spiegeln sich die Berufsbilder oft genug im Studium nicht wider, wo weiterhin traditionell musikhistorische Inhalte den Lehrplan in der Universität bestimmen und eigentliche berufsrelevante Inhalte – wenn überhaupt – in Praktika verlagert werden. Universitäres Studium und ausgelagerte Praktika haben auf diese Weise nichts miteinander zu tun. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die herausgestellten Praktika als Feigenblatt dafür dienen, um die Inhalte eines Studiums im Bereich der Fachdisziplin Musik fortschreiben zu können wie seit ehedem. Das Wissen um Heinrich Schütz, Josquin Desprez & Co z. B. befähigt wenig bis gar nicht zum Konzertmanagement. Man kann daher von einer mangelhaften bis ungenügenden Qualifikation für ausgelobte Berufsbilder im bisherigen Aus820 Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2002, S. 134.
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bildungszweig Musik bzw. der Historischen Musikwissenschaft sprechen, die es zu ändern gilt. Ehemalige Absolventen der Fachdisziplin, die – man möchte fast sagen – trotz ihres Studiums ihren guten Weg gemacht haben, zeichnen ein düsteres Bild mit Blick auf das musikaffine Berufsfeld. – Der Musikethnologe Rudolf M. Brandl, Direktor des Phonogrammarchivs des Österreichischen Rundfunks, macht auf die »extrem schlechten Berufschancen«821 für sein Fach, die Musikwissenschaft, aufmerksam. – Otto Brusatti, Autor, Regisseur und Radiomoderator, stellt fest, dass »nach Absolventinnen und Absolventen [des Faches Musikwissenschaft, Anm. N.S.] eigentlich kein Bedarf«822 besteht. – Heiko Maus, freiberuflicher Musikberater und Teilhaber an einer Werbeagentur, empfiehlt beim Ergreifen eines musikwissenschaftlichen Studiums nicht zum »Fachidiotentum« zu neigen und bspw. zum Schubert-, Renaissance- oder Werbemusikexperten zu werden, sondern »befassen Sie sich mit so vielen Musikrichtungen wie möglich.«823 Nur das würde spätere Berufschancen verbessern. Spezialwissen ist so weniger gefragt. Es reicht der grobe Überblick. – Christiana Krautscheid endlich fragt, ob man für ihre Arbeit als Leiterin der internationalen Promotion beim Schott-Verlag eigentlich ein musikwissenschaftliches Studium benötigt, und kommt zu der Antwort: »Nein«, und sie ergänzt: »aber es ist durchaus nützlich.«824 Alle hier zitierten Personen haben ein musikwissenschaftliches Studium aus Neigung durchlaufen und sind dem Fach verbunden. Das Fach hat ihre ungeteilte Sympathie. Und doch sehen sie die Berufsaussichten für das Fach prekär. Auf der einen Seite produziert das Fach inhaltliche Belanglosigkeiten, auf der anderen Seite liefert es kein taugliches Berufsbild für Absolventen. Mit Eintritt in das Studium werden jungen Menschen so in bedenklicher Weise Berufsbilder suggeriert, die es kaum oder fast nicht (mehr) gibt oder für die sie gar nicht ausgebildet werden. Nicht ohne Grund verzeichnen manche Institute zwar vergleichsweise hohe Zahlen von Studierenden zu Beginn des Studiums, aber auch hohe Abbrecherquoten, einerseits weil so mancher jenes Studium als reines 821 Brandl, Rudolf M. zu beruflichen Perspektiven der Musikwissenschaft. In: Knaus, Kodula/ Zedler, Andrea (Hg.): Musikwissenschaft studieren. München (Herbert Utz) 2012, S. 245. 822 Brusatti, Otto zu beruflichen Perspektiven der Musikwissenschaft. In: Knaus, Kodula/ Zedler, Andrea (Hg.): Musikwissenschaft studieren. München (Herbert Utz) 2012, S. 246. 823 Maus, Heiko zu beruflichen Perspektiven der Musikwissenschaft. In: Knaus, Kodula/Zedler, Andrea (Hg.): Musikwissenschaft studieren. München (Herbert Utz) 2012, S. 263. 824 Krautscheid, Christiane zu beruflichen Perspektiven der Musikwissenschaft. In: Knaus, Kodula/Zedler, Andrea (Hg.): Musikwissenschaft studieren. München (Herbert Utz) 2012, S. 258.
Die Reflexion – Zur kompetenten Anschlusskommunikation mit Systemrelevanz/.
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»Parkstudium« nutzt, bis er sein Wunschstudium aufnehmen kann, andererseits weil andere eigene musikalische Interessen und Berufsaussichten sich nicht relevant gespiegelt sehen in Modulplänen. Zum Dritten aber auch, weil sich Studierende zu recht fragen, was sie damit später überhaupt anfangen können, und sich beizeiten nach einem Studium mit Zukunftsfestigkeit umsehen. Die Fachdisziplin mit Ausrichtung des Historischen erweist sich insgesamt so als eine Institution, deren Absolventen aufgrund der mangelnden Veränderungsbereitschaft/-fähigkeit im Fach die Arbeitslosigkeit droht. Hier sieht sich das Fach im Übrigen im unseligen Schulterschluss mit Konservatorien und Musikhochschulen, die unermüdlich Musiker für Orchester und Ensembles ausbilden, die es immer weniger gibt, sofern sie sich nicht neu aufgestellt haben. Berufsbilder für die so vielen, fraglos hervorragend ausgebildeten Instrumentalisten gibt es – bis auf monetär wenig attraktive Anstellungen in Musikschulen oder vereinzelte Lehraufträge an entsprechenden Institutionen – kaum. »Die großen Konservatorien sind eher bestrebt, vergangenem Glanz zu huldigen, als junge Musiker auf die moderne Welt vorzubereiten.«825 Auch hier täte Veränderung not. Es gälte Beethoven & Co, ihrem gesellschaftlichen Stellenwert gemäß, zu einem künstlerischen Nebenthema zu erklären und gegenwartsfeste Ausbildungsinhalte ins Zentrum zu rücken. Ansätze gibt es hier. Sie werden wie in der Fachdisziplin Musik gleichwohl in der Regel zu zögerlich umgesetzt. Die Fachdisziplin Musik verschwendet aufgrund der Dominanz, den das Historische zeitigt, insgesamt Ressourcen, die anderweitig für den Neuaufbau hin zu einer Kritischen Musikwissenschaft vertretbar angelegt wären. Bei einer Revision des Faches würden gesellschaftliche Relevanzen ausgelotet und eingebracht in den Lehrbetrieb; angefangen bei musikalischen Medienberufen, zu denen notwendige Kompetenzen inneruniversitär vermittelt würden (das bisherige Feigenblatt der ausgelagerten Praktika, das zum inneruniversitären inhaltlichen Weiter so genutzt wurde, hätte ausgedient), über Inhalte zum Kulturund Konzertmanagement, zur Öffentlichkeitsarbeit u. a.m. In jedem einzelnen Fall steht der Beruf und den diesen umrahmende Kompetenzen im Zentrum. Jenes allerdings, was bislang das Studium der Musik ausmachte, rückt an den Rand, wird bestenfalls begleitend im überschaubaren Umfange noch gelehrt. Damit wird man auch der Verantwortung gegenüber jungen Menschen gerecht, denen man eine Zukunft mit Aussichten eröffnet und nicht Wege verschließt – wie bislang. Der ideologisch verbrämte Unsinn von der zweckfreien Bildung, die angeblich für so ziemlich alles befähigt, gerade weil sie zu nichts ausbildet, wird im Vorübergehen wie von selbst ad acta gelegt. Der Verwissenschaftlichtung der Fachdisziplin käme auch dies zugute, und 825 Walsh, Michael: Keine Angst vor klassischer Musik, a. a. O., S. 165.
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mit den hier angeregten Veränderungen erfüllte die Fachdisziplin Musik wieder eine gesellschaftliche Funktion, wo sie bislang – frei von allen Zwecken – die Sorge um ihren funktionierenden Betrieb umtreibt und dabei zum Selbstzweck neigt. Die Inauguration einer Kritischen Musikwissenschaft kann hier Abhilfe leisten.
Aufbruch zu einer »transhumanistischen« Bildung »Nicht isolieren. Integrieren!«826 »Nur kein transzendentales Geschwätz, wenn alles so klar ist wie eine Watschen.«827 »Humanismus ist vielleicht verstreuten Einzelnen noch geliebter Besitz, aber er bildet keine Elite mehr, er wird nicht mehr geglaubt und nicht mehr gelebt. Es hat keinen Zweck, sich zu täuschen. Keinen Zweck, das, was uns entschwunden ist, künstlich beleben zu wollen und für eine lebendige Gegenwart, die dahin ist, Ersatz in akademischen Debatten zu suchen. […] Nein, man kann heute nicht mehr für den Humanismus plädieren, so wenig wie für die Wiedereinführung des Spinnrades oder für die Abschaffung des Rundfunks. An Absterbendes und Abgestorbenes soll man keine Energien verwenden.«828
Die Analyse zum Humanismus, die im letztgenannten Zitat verabschiedet wird vom Romanisten Ernst Robert Curtius, ist 1952 noch unter dem Eindruck des Krieges geschrieben worden, aber auch von der Erkenntnis durchdrungen, dass Gesellschaft nicht mehr allein europäisch, sondern nunmehr global zu denken ist. Im globalen Zusammenhang aber spielt der Rückbezug auf das Studium der Griechen mit vorgestellten ästhetischen Idealen und Bildungsprogrammen keine nennenswerte Rolle (mehr). Aufgrund solcher gesellschaftlicher Zustandsbeschreibung, wie sie der vom Beginn des Buches her schon bekannte Curtius durchaus bedauernd formuliert, kommt er zu dem Schluss, dass Europa sich zu wandeln hat, den »engen Europäismus«829 zu verabschieden und sich zu öffnen hat den globalen einander durchdringenden Einflüssen. Und doch hat der
826 Schläbitz, Norbert: Nicht isolieren. Integrieren! Kritik des monokausalen Musikunterrichtes. In: Kampe, Friedrich/Oberschmidt, Jürgen/Riemer, Franz (Hg.): Vielfalt neuer Wege. Bericht vom ersten Niedersächsischen Landeskongress Musikpädagogik. Hannover (Institut für musikpädagogische Forschung. Hochschule für Musik, Theater und Medien) 2014, S. 34. 827 Wittgenstein, Ludwig: Brief an Paul Engelmann v. 16. 1. 1918. In: Somavilla, Ilse (Hg.): Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen. Innsbruck/Wien (Haymon) 2006, S. 33. 828 Curtius, Ernst Robert: Das verlöschende Licht Hellas. In: Schoeller, Wilfried F. (Hg.): Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der »Neuen Zeitung«. Frankfurt/M./Wien/Zürich (Büchergilde Gutenberg) 2005, S. 439f. 829 ebd., S. 440.
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Humanismus, dem das Präfix »Neu« angeheftet ist, angefeuert durch eine Vielzahl von »Konjunkturhumanisten«, wie sie Curtius nennt, gerade nach dem Kriege eben Hochkonjunktur, was zunächst wundern mag: Die Idee der (neu-)humanistischen Bildung ist von mancherlei Hoffnungen getragen gewesen, die sich nicht bestätigt haben. (Neu-)humanistische Bildung: Der schöne Klang von Worten verdeckt, dass Bildungsvorstellungen von einst nur unzureichend einlösten, was sie versprochen haben, und dass in ihnen allein quasireligiös motivierte Erwartungshaltungen sich spiegeln, die Wenigem Achtung, aber weitaus häufiger Missachtung aussprechen. Das Verhältnis von Achtung/Missachtung verschiebt den Blick dabei derart auf das persönlich Achtenswerte, dass er sich zu bedenkenswert Anderem selten offen verhält, dass er eher die Zuwendung verweigert und alsbald in einer größer gewordenen, auch zunehmend elektronisch verbundenen Welt zu einem Tunnenblick verführt, der eben eine nicht mehr weiterführende gedankliche »Enge« produziert. Der einstmals den offenen Horizont ins Visier nehmende Blick verkümmert zu einem, der positiv gestimmt nur zum eigenen Ufer sich verhält. Der Kontinent des Denkens schrumpft – trotz intellektueller Höchstleistungen, eloquenter Rede und elaborierter Theorie – zu einem singulären Inseldasein. Das eigene Ufer garantiert den sicheren Tritt, obwohl man selbst doch vor nicht allzu langer Zeit im ideologischen Morast beinahe hoffnungslos versunken war. Nach Rettung in letztmöglicher Sekunde hebt man an und repetiert – bestenfalls nur leicht variiert – die gleichen Ideen, vertritt Thesen zum (neu-)humanistisch geprägten Bildungsprogramme, wie zu Zeiten als man im Morast gedanklicher Verirrungen noch zu versinken drohte. Statt den Blick zu heben, den unsicheren Tritt zu wagen, Neues zu wagen auch im Denken, verbleibt man – wieder festen Boden unter den Füßen habend – sicheren Schritts im gedanklich Altbekannten, zu dessen Scheitern man sich nicht oder bestenfalls euphemistisch verhält. Zum einen sind es die gedanklich Verunsicherten als auch zum anderen die Unbeirrten, die in Bildungsfragen zum verstetigten, versteinerten Weiter so aufrufen. Mit Ende des 2. Weltkrieges wird das Weiter so als Programm gepflegt. »Die sogenannte Stunde Null ist maßgeblich eine Erfindung der Intellektuellen, eine Kopfgeburt. Sie hat es nie gegeben. Nach ihnen sollte Altes binnen kurzem abgestreift, vergessen werden und dem neuen Platz machen. Aber so funktioniert das Leben nicht. Die Stunde Null erwies sich als Chimäre. Stattdessen gab es einen zwar frühen, aber sich nur langsam entwickelnden Neuanfang, das dem alten Denken lange verhaftet blieb. […] Auch in der Kultur gab es keine Stunde Null. Mit den Autoren lebten Traditionen fort. Kontinuität und Wandel bestimmten die ersten Jahre nach der Katastrophe.«830 830 Rüther, Günther : Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945, a. a. O., S. 19. Vgl. weiter: Adam, Christian: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser : Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2016, S. 313–333.
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Trotz der enttäuschten Hoffnungen, wie Bildung das Menschengeschlecht positiv befruchten mag, hat so auch das Bildungskonzept das Jahr 1945 ohne größere Revision unbeschadet überlebt und bildungsphilosophische als auch bildungspädagogische Überlegungen weiterhin bestimmt. Wieder oder weiterhin soll Bildung sich an ausgewählten Objekten der Kultur vollziehen. Nach wie vor bis in die Gegenwart hinein ist so fest der Glaube an spezifische Effekte damit verbunden dergestalt, »dass Bildungsprozesse durch die Auseinandersetzung mit kanonischem Wissen initiiert werden können.«831 Das kulturelle Erbe soll so abermals sein Quelle für Orientierung, Wertebewusstsein und begründete Urteile. Um das Weiter so in Bildungsfragen kurz nach dem Krieg pflegen zu können, wird die partielle Verantwortung für charakterliche Verrohung am anderen Orte ausgemacht. Es wird geschickt die Differenz von (neu-)humanistischer Bildung/ musischer Bildung bzw. die von Kognition/Emotion aufgemacht. Unterstellt wird dabei, dass eine im III. Reich auf Gemeinschaft abhebende volkstümelnde wie anti-intellektuelle Weltanschauung wie die musische Bildung mit ihrem Traum der »Wiederherstellung der alten Einheit von Musik, Sprache und Bewegung«832 und ihrer »Flucht in eine vermeintlich heile Welt der Vergangenheit«833 die Indoktrination breiter Bevölkerungsteile durch die Nationalsozialisten begünstigt habe. Es wäre ein Mangel an Reflexion zu verzeichnen gewesen, wo ganzheitlich das Gefühl und die Gemeinschaft in der Gruppe angesprochen waren. Das mag so gewesen sein. Doch mit dieser Analyse wird die bruchlose Pflege des (neu-)humanistischen Bildungsprinzips begünstigt, da mit dem Bezeichnen einer Verantwortlichkeit die notwenige Kritik am gefälligen Bildungsprinzip, die eine weitere Verantwortlichkeit abbildet, in den Hintergrund rückt. Die Weiterführung der musischen Erziehung nach dem 2. Weltkrieg wird von Adorno in den 50er Jahren kritisiert.834 Implizit ist mit dieser Kritik an der musischen Bildung die (neu-)humanistische Bildung – gewollt oder nicht, das sei dahingestellt – nicht nur rehabilitiert, sondern sie drängt sich als Alternative geradezu auf. Michael Alt hat im Raum musikpädagogischen Denkens in den 1960ern mit seiner didaktischen Konzeption der Werkinterpretation für den Schulunterricht 831 Martin, Kai: Führt ein Bildungskanon zu musikalischer Bildung? In: Gauger, Jörg-Dieter/ Wilske, Hermann (Hg.): Bildungsoffensive Musikunterricht. Freiburg in Breisgau/Berlin/ Wien (Rombach) 2007, S. 58. 832 Georg Götsch, zit. n. Gruhn, Wilfried: Geschichte der Musikerziehung. Hofheim (Wolke) 1993, S. 227. 833 Gruhn, Wilfried: Geschichte der Musikerziehung. Hofheim (Wolke) 1993, S. 227. 834 Vgl. Adorno, Theodor W.: Kritik des Musikanten u.: Zur Musikpädagogik. In: Adorno, Theodor W.: Dissonanzen. Gesammelte Schriften, Bd. 14, hg. v. Tiedemann, Rolf unter Mitwirkung von Adorno, Gretel/Buck-Morss, Susan/ Schultz, Klaus. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003.
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(1968) an diese Kritik angeschlossen und den Fokus auf eine (neu-)humanistische Bildung gelegt. In seiner Didaktik der Musik sollen durch eine Orientierung am Kunstwerk (so der schon wegweisende Untertitel jenes Werkes) Bildungsprozesse auf den Weg gebracht werden, es sollen exemplarisch Werke erschlossen und große musikgeschichtliche Linien aufgezeigt werden. Implizit mitgeliefert wird ein Wertekosmos, von dem erhofft wird, er würde einem humanen Wesen zuarbeiten. Eine kurze Sentenz aus dem Werk lässt das Märchenhafte daran erkennen. Indem die »Geistfülle« von Epochen zu »heben« angeregt wird, wie Alt schreibt, soll erfahren werden, »wie in der klassischen Musik die Idee der Humanität […] und die idealistisch beschwingte lichte Gefühlswelt reinen Menschentums sich niederschlagen und der sittlich begründete Optimismus dieses Zeitalters ihre eine ›göttliche‹ Heiterkeit verleiht«.835 Solche Worte klingen märchenhaft und werden also geschrieben zu einer Zeit, als die Schreckenszeit des III. Reiches noch präsent gewesen ist, wo der so vorgeblich vorzügliche Bildungsgedanke nichts von alledem gezeigt hat, was man sich nun von ihm schon wieder verspricht. So unreflektiert Michael Alt seine Vorstellungen von klassischer Bildung niederlegt in seiner Didaktik, so unkritisch und bedenklich schwärmerisch lesen sich auch seine auf Schulbuchseiten vorgelegten Zeilen. Im vom selben Autor schon 1965 publizierten Schulbuch steht daher ganz ähnlich apodiktisch – fest im Glauben an die künstlerischen Werke – geschrieben: »Dem Humanitätsglauben liegt zugrunde der Glaube an das Ursprünglich-Gute im Menschen. Diese lichte schöne Gefühlswelt des Menschen, die edle Grundstimmung der Seele, diese reine Menschlichkeit spiegelt sich in der klassischen Musik. Daher ihre idealistische Beschwingtheit, ihre natürliche Erhabenheit und Würde.«836
(Mit solcher Transzendenzträumerei mussten sich vergangene Schülergenerationen nicht nur auseinandersetzen, sondern sie wohl auch noch vertreten, um halbwegs erfolgreich Schule zu durchlaufen.) Aus solchen, weniger von kognitiven denn von emotiven Befindlichkeiten geleiteten Ausführungen wird das Bildungskonzept von Michael Alt gewoben und die Auswahl bildungsträchtiger Musik gefällt: »Es gibt einen über den Zeiten stehenden klassischen Kanon an Musikwerken«.837 Zu diesem gehören die üblichen Verdächtigen bzw. Komponisten mit ihren Orchesterwerken vergangener Jahrhunderte, aber ganz fraglos 835 Alt, Michael: Didaktik der Musik. Orientierung am Kunstwerk. Düsseldorf (Schwann) 1968, S. 169. 836 Alt, Michael: Das musikalische Kunstwerk. Musikkunde in Beispielen, Bd. 2. Düsseldorf (Schwann) 1965, S. 228. 837 Michael Alt, zit. n. Wilske, Hermann: Der Paradigmenwechsel nach 1968. In: Gauger, JörgDieter/Wilske, Hermann (Hg.): Bildungsoffensive Musikunterricht. Freiburg i.Br./Wien/ Berlin (Rombach) 2007, S. 19.
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keine von E-Gitarren getragene Musik bspw. eines Jimi Hendrix, der mit seiner Musik Erfolge feierte, als Michael Alt in einer anderen Musik maßgebliche Bildungswerte vermutete und seine Vermutungen als gesichert darstellte. Was von Bildungswert ist, ist wohldefiniert in diesem Kosmos der Musik. Und auch wenn nach eigenem Anspruch, da die Vielfalt der Musik in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht gänzlich ignoriert werden kann, eingeräumt wird, auch »die Musik aller Funktionszonen […] nun in den Horizont der Schule«838 zu rücken, liegt für Michael Alt der Ort aller Bildung allein und ausschließlich im musikalischen Kunstwerk, das insbesondere übers vornehmlich intentionale Werkhören erschlossen wird. Der Mensch wird über ein Objekt der Anschauung, das (musikalische) Kunstwerk, definiert. Die Musik anderer Funktionszonen dient bestenfalls dazu, »den Unterschied der Zonenniveaus und annähernd auch der jeweiligen Qualitäten aufzuzeigen und so die ganze Musikwirklichkeit auszuloten.«839 So findet auch die Musik der Unterhaltung, des Zivilisationslebens u. a.m. ihren Ort bei Michael Alt, doch – wen wundert’s – nur als Negativfolie. Einbezogen ist so die aus heutiger Sicht genannte Populäre Musik. Die Einheit der Differenz von zweckfreiem Kunstwerk/Populärer Musik geht gleichwohl zu Lasten des zweiten Wertes. Nach Benennung anderer musikalischer Stile und ihrer gesellschaftlichen Dispersion sinken diese herab zum reinen Bodensatz, wenn es den Absatz beschließend heißt: »Und oberhalb dieser Pyramide erhebt sich die zweckfreie Kunstmusik.«840 Der sich selbstgenügende Kunstwerk-Kanon mit seiner als segensreich halluzinierten Wirkung führt so zwangsläufig zur Verdrängung jedweder anderen Musik und zu deren Stigmatisierung. Unterhalb der zweckfreien Kunstmusik auf dem Gipfel der Pyramide waltet nur Musik verschiedener »Art und Güte«, Musik, die »den ernsthaften Willen zur Musik in der Jugend mißzuleiten und unter Niveau abzuschöpfen vermag«, auch eine »heute alle musikalische Äußerung überflutende[…] zerstreuende[…] Komfortmusik«, die »dem in der Masse vereinsamten Menschen von heute Lebenserleichterung, Ablenkung, Befreiung von den zivilisatorischen Verdrängungen, enthemmenden Rausch durch Klangsinnlichkeit, Motorik, flutende Emotion, Phantasieerregung« gibt u. a.m.841 Fraglos atmen jene Zeilen in jeder Windung eines jeden Buchstabens zudem den Geist von Adornos Kulturpessimismus und schließen im Übrigen an die von Adorno empirisch nicht belegten, sondern bloß ausgedachten Typen musikalischen Verhaltens an, an dessen Ende der Unterhaltungshörer von Unterhaltungsmusik steht, der – unmündig wie ihn Adorno
838 839 840 841
Alt, Michael: Didaktik der Musik. Orientierung am Kunstwerk, a. a. O., S. 16. Ebd. Ebd., S. 245. Ebd.
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glaubt – der Kulturindustrie gehorsam unterworfen ist.842 Fortgeschrieben wird so die Einheit der Differenz von »E«-/»U«-Musik, man könnte plakativ auch sagen die Einheit der Differenz von gut/böse. Es ist eine unterkomplexe kleine Kästchen- oder Schubladenwelt, die die Welt in gut und böse respektive schlecht einordnet, die vorgestellt wird. Die (neu-)humanistische Bildung, die so wenig ein Hort gelebter Humanität gewesen ist, wird auf diese Weise im Sinne eines Schubladendenkens erneut inszeniert als Bildungsgut, an dem Menschenwesen genesen können soll. Das Märchen findet seine ungetrübte Fortsetzung.
Zweckfreie Bildung. Operante Konditionierung statt Selbstbildung/. Gerade weil die Kunst keinen Ausbildungszwecken – als zweckfrei beschrieben ist – dient, kann der Mensch mit ihrer Hilfe seine eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten schulen, voranbringen. Die Kernaussage des Märchens von der Bildung ist kaum haltbar, weil – recht besehen – der geradezu inflationär in Bildungsschriften formulierte Gedanke der Selbstbildung im Raum der (neu-)humanistischen Bildung weder vorangetrieben noch wirklich gewollt ist. Sich selbst zu bilden setzt eine gewisse Freiheit woraus, indem in einem Selbstbildungsprozess die Richtung, wohin sich Bildung und Werte wenden, nicht vorgegeben ist. Sich selbst zu bilden erscheint im Horizont (neu-)humanistischer Bildung daher praktisch ausgeschlossen, wo Weltanschauung und Interpretation, ausgedrückt im Kanon, immer schon mitgeliefert werden. Ein Kanon ist weniger eine bloße Sammlung auch abzulehnender Vorschläge denn vorgegebener Verbindlichkeiten. Ablehnung bleibt zwar möglich, setzt aber eher den Ablehnenden ins ungünstige Licht wenn nicht ins Unrecht. Im hellen Licht erstrahlt der Kanon weiterhin. Bei der Bildung des Selbst (auf dem Wege zu seiner vermeintlichen Selbstvervollkommnung) befindet man das Subjekt als zu unsicheren Kantonisten, als dass man sich auf ihn verlassen kann. So wird also der Stand der Dinge zum Bildungsgute erhoben: die verabsolutierte (objektivierte) Kunst mit tiefem Sinn, aus der Subjekt und Gesellschaft sich schöpfen und darin materialisieren sollen. Selbstbildung erscheint so präokkupiert und ist gerade keine Selbstbildung: Wo man bspw. anerkennt, dass jeder Kanon aus subjektiver Wertschätzung heraus aufgestellt ist, werden Einschränkungen dieser Art gleich zurückgenommen, wenn in einer das Humboldt’sche Konzept darstellenden wie befür842 Vgl. Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Gesammelte Schriften, Bd. 14, hg. v. Tiedemann, Rolf unter Mitwirkung von Adorno, Gretel/Buck-Morss, Susan/ Schultz, Klaus. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003, S. 14–35.
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wortenden Schrift noch im neuen Jahrtausend betont wird, dass »eben nicht jede Musik qualitativ gut und geeignet [ist], Bildungsprozesse im hier beschriebenen [Kant’schen, Humboldt’schen; Anm. N.S.] Sinn zu initiieren.«843 So bleibt der Kanon mit Werkempfehlungen, trotz aller Einschränkungen, stabil und unangetastet. Diskussionen über kanonisierte Musik aus unterschiedlichen Perspektiven würden »eigene[…] Interessen und Denkschablonen« gegebenenfalls zurückstellen und »andere, neue Perspektiven auf das Stück einnehmen« lassen. Möglich wäre so, ein »anfängliches (Vor-)Urteil über das Stück zu revidieren.«844 Zwar gäbe es keine Garantie, ein Stück als schön zu beurteilen, sodass eine Rezeptionshaltung nicht von vornherein feststeht, aber »dass ein ästhetisch gelungenes ›Kunstwerk‹ im Mittelpunkt des Unterrichts steht«845, das erscheint unbestritten. Ablehnung kanonisierter Musik erscheint zwar möglich, doch wer ablehnt ein positiv wertgeschätztes Werk, darf nur dort mit Nachsicht rechnen, wo vielleicht noch die Einsicht oder Reife fehlt, »diese Werke auch tatsächlich von vornherein positiv zu bewerten.«846 So schreibt man selbst im neuen Jahrtausend noch. Das Vornherein legt den Unterschied zwischen festgestelltem Wert-Objekt und zu bildendem Subjekt fest. Im Nachhinein, so lässt sich folgern, wird positive Wertschätzung – bei entsprechender Hinführung und unterstellter Geistesgaben – sich quasi zwangsläufig einstellen, denn die einmal festgestellte Lichterscheinung wird den anfänglich Ungebildeten umfluten, nicht unbeeindruckt lassen und den gewünschten Bildungsprozess in Gang setzen. Die Sache selbst wird, bei aller gezeigten pädagogischen Finesse im Vermittlungsprozess, zuletzt in ihrer vorgeblich unbestrittenen Qualität demonstriert und deduziert, aber nie infrage gestellt. Von proklamierter Selbstbildung kann keine Rede sein. Hier steht vielmehr die operante Konditionierung nach Skinner im Vordergrund, die über Billigung/ Missbilligung bzw. Lob und Tadel in Szene gesetzt wird. Die Ablehnung so hochgeschätzter Werke oder vollkommen abseits liegende Meinungen/Interpretationen dazu dürften in der Regel nicht zu offenkundigen Begeisterungsstürmen auf Seiten von Lehrenden stoßen, die unumstößlich überzeugt ob ihrer vermittelten Werke und Werte sind. Spätestens aber bei Prüfungen greift die Luhmann’sche Trivialisierung und vollzieht sich die operante Konditionierung. Da mag man sich dann z. B. mit dem Bach’schen Credo aus der Hm-Messe beschäftigen, dabei gefragt sein, die Exposition des dort verwendeten Fugenthemas zu untersuchen, das Auftreten des Themas am Notentext zu benennen, um endlich die charakteristischen Merkmale der Fuge zu erörtern. Diese Form 843 844 845 846
Martin, Kai: Führt ein Bildungskanon zu musikalischer Bildung?, a. a. O., S. 69. Ebd., S. 68. Ebd. Ebd., S. 68.
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Aufbruch zu einer »transhumanistischen« Bildung
der Befragung ist Trivialisierung genannt, was meint, dass nur bestimmte Antworten geduldet werden, jede Form des eigeninitiativen Umgangs mit dem Material negativ sanktioniert wird. »Der Lehrer bzw. Prüfer stellt eine Frage, obwohl er die Antwort schon weiß. Das ist im sozialen Alltag unüblich und, wenn es herauskommt, peinlich. In der Schule ist dies ein Standardverfahren der Kontrolle der Trivialisierung. Dieselbe Frage müsste, wenn wiederholt, die gleiche Antwort erhalten. Dabei gerät der Gefragte nicht selten in die schwierige Lage, nicht nur die richtige Antwort finden zu müssen, sondern auch noch herausbekommen zu müssen, was der Fragende für die richtige Antwort hält. Extremformen dieser humorlosen Form des quasi maschinellen Trivialisierens sind die heute viel benutzten Tests. Wer ihre Formblätter auszufüllen hat, darf weder unerwartete (aber ebenfalls richtige) Antworten geben noch die Fragen kommentieren oder ändern.«847
Mit Selbstbildung hat eine solche Befragung zwecks Prüfung erworbener Bildungsinhalte nicht viel zu tun, wo der Schüler bzw. die Schülerin wie ein Kaugummiautomat betrachtet wird, bei dem bei einem immergleichen Input (Münze) der immergleiche Output (Kaugummikugel) erwartet wird. Verweigert der Automat mal den erwarteten Output, liegt ein Defekt vor. Nicht viel anders erscheint die Einstellung dem Schüler bzw. der Schülerin gegenüber. Die gleiche Frage erwartet, so oft sie gestellt wird, die gleiche Antwort. Eine Abweichung ist wenig geduldet. Zur Belohnung erhält man ein Lächeln, Lob oder eine gute Zensur. Verweigert der Schüler oder die Schülerin die erwarteten Ergebnisse, liegt es nicht an der Sache selbst, sondern am Schüler/der Schülerin, die die Sache nicht durchdrungen haben. An die Stelle einer Selbstbildung tritt die fremdgesteuerte Konditionierung von Seiten Dritter, die jene Schubladenwelt bedienen, da sie an ihrem Input festgeschriebener Werke nicht zweifeln und als Output nur bestimmte Wertschätzungen, Umgangsweisen damit sowie Ergebnislagen erlauben. So wird eine Konditionierung nebst Trivialisierung zum Zwecke der Fortschreibung eigener Wertschätzungen gerade nicht im Sinne der Schüler und Schülerinnen vorangetrieben, die gerade gut genug sind, an der Pflege und Fortführung des eingelagerten Kanons zu bauen. Notwendig wird dabei in gute und weniger gute Musik kategorisch und vor allen Dingen überschneidungsfrei zu anderen Musiken geschieden. Um das kulturelle Erbe wird ein Kult mit ritualisierter Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen betrieben, die als »Kommunikationsvermeidungskommunikation« operiert, was nichts anderes meint, als dass »Kontingenz auf Notwendigkeit reduziert wird.«848 Darin ist der (Neu-)Humanismus der Religion nicht unähnlich mit ihrer Hoffnung auf Transzendenz. Auch gegen die so 847 Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, a. a. O., S. 78. 848 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1, a. a. O., S. 235.
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fremden, unüberschaubaren Eingriffe der schönen neuen Welt des Digitalen in die eigene Kultur wird durch ritualisierte Kommunikation immunisiert. Das schafft jene unerschütterlichen Selbstgewissheiten im Glauben: Gegenüber der Kultur der Vergangenheit steht der einzelne in der Verpflichtung, er macht sich sozusagen schuldig an ihr, wo dieser nicht die gebotene Referenz erwiesen wird. Die Unauslotbarkeit und der Mehrwert, die mit Kunst verbunden werden und in zweckfreier Kunst oder absoluter Musik ihre eigentliche Erfüllung finden, lassen Demut und Schuldbewusstsein wachsen, wo kommunikatives Verhalten sich nicht verjüngt hin auf das, woraufhin Kunst sich (vermeintlich) offenbart. All das findet sich aufgehoben in der eng umgrenzten Schublade des Denkens. Die Kultur ist das goldene Kalb, um das der (Neu-)Humanismus der Gegenwart tanzt. Erhoben zum Fetisch, rankt um Kultur sich eine Dogmatik des rechten Umgangs oder der rechten Wertschätzung. Nicht die Kultur hat sich im lebendigen Verwendungszusammenhang als gebrauchsfähig zu erweisen, sondern der/das Lebendige hat der stillstehenden Norm sich zuzuwenden und dahin zu verbiegen. Die Folgen für diese Objekt/Subjekt-Beziehung sind gravierend: Die Einheit der Differenz von zweckfreier Kunst/Mensch nimmt so das Kunstobjekt in prominenten Augenschein und setzt den jungen Menschen in die zweite Reihe, der an der Kunst reifen soll. In weiterer Generalisierung ist so beschrieben die Einheit der Differenz von Objekt/Subjekt, wobei der zweite Wert abermals im Schatten des ersten steht und das Subjekt im Orbit der unbeweglichen Kunst nur kreist (man könnte von einer Planet/Trabant-Beziehung sprechen). Nicht der Mensch (Subjekt) steht im Zentrum, sondern der stillstehende Kanon (Objekt), eine – paradox gesprochen – manifeste Lichtgestalt. Wenn die Kunst dann nicht gefällt und noch weniger sich erschließt, dann liegt es nicht an der Kunst nebst ihrer ausgemachten Qualitäten, sondern das Unverstandene ist in den noch nicht ausgereiften oder nicht hinreichend beweglichen Menschenverstand verlagert. Eine solche Bildungsidee dient nicht dem jungen Menschen, sondern dem Erhalt der Kunst, Folge jenes Leitgedankens, der die Kunst an die erste Stelle setzt. Mit der Fortschreibung eines Kanons und dessen Pflege wird der beschworene Humanismus, den die Bildung in ihrem Begriffs-Umfeld stets mit sich führt, schlichtweg konterkariert, ausgeklammert. Zwar werden der Mensch und dessen Bildung emphatisch beschworen, doch recht besehen zählt weniger das Individuum, sondern das kulturelle Erbe und der ritualisierte Kult, der um dasselbe betrieben wird. An die Stelle von Individualität tritt Konformität. So werden junge Menschen konditioniert, die wertschätzen sollen, was andere für sie als Wertgeschätztes imperativ vorsehen. Die in Schriften propagierte Selbstbildung ist in der Praxis unerwünscht. Auch Haltungen im neuen Jahrtausend sind demnach unverdrossen noch davon bestimmt. Deshalb kann man auch sagen: Die (neu-)humanistische Bildung stellt den
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Aufbruch zu einer »transhumanistischen« Bildung
Menschen ins Abseits, pflegt stattdessen den Kult der Kunst, der zu dienen ist. Dem vorgestellten Adjektiv zur Bildung wird nicht entsprochen. Der (Neu-)Humanismus mit Bildungsabsichten öffnet nicht den Blick nach allen Seiten, er schätzt nur den beschränkten Blick, die Schublade, ist ein Instrument, um (Vor-)Urteile zu bestätigen, nicht sie zu hinterfragen, gar zu beseitigen. Der gelebte Bildungshumanismus / la Humboldt stellt zugunsten operanter Konditionierung das selbstbildende Urteil grundsätzlich beiseite. Das Fragwürdige an der humanistisch geprägten Bildungsidee bleibt so der Mangel an menschlicher Zuwendung, so sehr diese auch zum Ziel gesetzt sein mag. Die Begrifflichkeit einer (neu-)humanistischen Bildung gleicht so einem Etikettenschwindel, wo das Objekt stets rechtbehält und lerntheoretisch die Konditionierung zum Maßstab des Lehrens gemacht wird. Man möchte wie am anderen Ort schon mit Kafka argumentieren: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« Das daran anhängige Trauma ist offenkundig.
Die Verabschiedung vom Schubladendenken oder: Wie humanistische Bildung denkbar ist/. Und doch erscheint eine humanistische Bildung möglich, wenn man sich von dieser Lebenslüge, was Kunst bewirken soll, einmal verabschiedet. Dazu gilt es, den Blick über die Zeit, als der (Neu-)Humanismus die Kultur der Bildung betrat, zurückzuwenden. Ein grober Blick zurück zeigt, dass der (Neu-)Humanismus mehr einer Zeit sich verbunden fühlt, von der der Humanismus in der Renaissance sich kritisch absetzt, sie abschätzig gar »Zwischenzeit« nennt. Es ist ein Absetzen von verkrusteten und unvergnüglichen, ja dem Menschen nicht gewogenen Strukturen, das sich abbildet nicht allein in der Kunst, sondern auch in Wissenschaft oder allgemeiner in kultureller Lebensführung. »Es muss etwas geschehen sein in der Renaissance, etwas, das anbrandete gegen die Dämme und Grenzen, die Jahrhunderte gegen Neugier, Begehren, Individualität, gegen nachhaltige Aufmerksamkeit für die Welt, gegen Ansprüche des Körpers errichtet hatten.«849 Der Humanismus in der Renaissance wendet sich über die Lektüre antiker Schriften dem Menschen zu und von dogmatischen Glaubensprinzipien ab. Dieses »Zeitalter der Reform […] orientierte sich an […] klassischen Leitbildern.«850 Diese Orientierung aber dient nicht allein der Wiederentdeckung und der Pflege der so wiedergewonnenen Kultur, sondern ist Impuls, neue Wege zu gehen. »Ich habe stets geglaubt, dass ich die Antike nicht imitieren 849 Greenblatt, Stephen: Die Wende. Wie die Renaissance begann. München (Siedler) 2012, S. 17. 850 Burke, Peter : Die europäische Renaissance. München (Beck) 1998, S. 35.
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muss, um sie zu reproduzieren, sondern um etwas Neues zu produzieren«, so der Humanist Coluccio Salutati.851 Die mittelalterliche christliche Weltsicht, die das gottgefällige Leben nach dogmatisch verfochtenen Regeln über das Einzelschicksal setzt, wird durch humanistisch geprägte Vorstellungen aufgebrochen. Im Detail betrifft das Interesse der Humanisten »die Philologie, die Sprache und Eloquenz, das Menschenbild; ihr Bauen orientierte sich seit Alberti […]an den Schriften des Römers Vitruv«.852 Der Mensch mit seinen Bedürfnissen, seinen Leidenschaften, Lüsten und Fehlern wird Thema, das zugleich die Selbstbeschreibung durch die Scheidung in öffentliches und privates Leben in Szene setzt. So weit in aller Kürze – entscheidend für den hier vorgeschlagenen Gedankengang ist: Mit dem Humanismus geht eine Abkehr von einer eindimensionalen, religiös motivierten Weltsicht einher zugunsten einer plural ausgerichteten, die sich suchend versteht. Diese Geste des Suchens ist gekennzeichnet durch Neugier dem Unbekannten gegenüber. Sie zeigt sich offen und fragil – zur Revision befähigt, Folge nicht unbedingt der Abkehr von aller Religiosität, doch Folge von der Abkehr der Religion als Kult. Kann man den Humanismus von einst als Aufbruch verstehen, … – der mit Rückgriff auf die Antike mit sakrosankten Geboten seiner Zeit bricht und einen durch religiöse Selbstgewissheiten erstarrten Vernunftbetrieb in Bewegung setzt, … – dabei neue Sichtweisen erprobt, Ungewissheiten auslotet sowie alte Gewissheiten infrage stellt und … – der auch aus dem Wissen um die eigenen Mängel das individuelle Sein bewegt, – … so hat der (Neu-)Humanismus der Gegenwart, wo er beschworen wird, mit diesen Qualitäten wenig Ähnlichkeit. Er orientiert sich mit Blick in die mit schönen Worten ausgekleidete Schublade an festen Werten und unverrückbaren Werken (Kanon), begegnet so der beinahe allgegenwärtigen Ungewissheit mit Zuständen/Normen der Tradition, zeigt zudem einem festgefügten Selbstbild sich gewogen. Ist der Humanismus der Renaissance ein in Bewegung setzender, so ist der (Neu-)Humanismus der Gegenwart ein zur Erstarrung neigender, denn um den rechten Umgang mit Werken und um ästhetische Werturteile schon wissend, ist ihm die unbekümmerte Be-Nutzung kultureller Werke oder ihr schlichtes Ignorieren fremd, ja beinahe Frevel und Zeugnis von Unbildung zugleich. Erst nach Durchlaufen eines Initiationsritus – genannt (neu-)humanistische Bildung – sind nach angelernten Regeln (auch abweichende) Wertschätzungen auszu851 Coluccio Salutati (1331–1406), zit. n. Greenblatt, Stephen: Die Wende, a. a. O., S. 134. 852 Fried, Johannes: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. München (Beck) 2013, S. 539.
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drücken erlaubt und ist kommunikative Anteilnahme zu pflegen am Diskurs, die ggf. auch respektable Resonanzen erfährt. Der Humanist der Renaissance ist ein Suchender, der (Neu-)Humanist der Gegenwart ist ein Gläubiger, der seine Religion zelebriert, die aus dem Erhalt des kulturellen Erbes entworfen ist. Dieser Glaube mit einem selbstgewissen wie -gerechten Verständnis verführt dazu, komplexer Wirklichkeit mit ihren Zumutungen mit einfachen Antworten von Ordnung gebenden Werten zu begegnen, die falsche Sicherheiten (Kanon) suggerieren. Der (Neu-)Humanist der Gegenwart hat in dieser Haltung mit den Vorstellungen des Renaissance-Humanismus gebrochen, indem er an die Stelle der Geste des Suchens den selbstgewissen Glauben (Kanon) um die rechten Werte und Werke stellt und zum Fundament bestellt. In diesem Fundament gleichwohl ist die fatale Erosion schon angelegt, denn eine so verstandene, stillgestellte Kultur, die der Denkmalspflege überstellt ist, hebt auf die unverzichtbare Dynamik von Gesellschaft, von der allein sie stabilisiert wird. Kunst/Kultur leben im Überwinden ihrer selbst. Der Kult um sie kappt den Lebensnerv. »Genauso wie die Katholiken glauben, die geheiligte Hostie sei der Leib Christi, so meinen die Musikgläubigen, das Standardrepertoire von Mozart bis Mahler sei auf immer und ewig der Leib der Kunst – unveränderlich, unwandelbar, eine unendliche Quelle ewiger Wahrheiten.«853
Der Götze Kultur erwartet nicht die Innovation, sondern seine unaufhörliche Restauration. Und das macht Gesellschaft instabil, nicht anschlussfähig für das Umweltgeschehen. Der Humanismus der Renaissance, der sich einst gegen den religiösen Fundamentalismus gestellt und sich daraus legitimiert hat, ist im Gewand als schlecht dahingeworfene Karikatur im (Neu-)Humanismus wiederauferstanden und heute selbst fundamentalistisch geworden, wo er zur Legitimation von infrage gestellter Strukturen die humanistische Bildung mit ihren unterstellten Qualitäten ins Felde führt. Der (Neu-)Humanismus der Gegenwart trägt – wo er die humanistische Bildung im Munde führt – in sich die Eigenschaft zur Einebnung von individuellen Vorstellungen, die nicht mehr frei in ihrer Entfaltung, sondern Vor-Schriften unterworfen sind. Präskription und Selbstbildung aber vertragen sich nicht recht. Restauration, Normenkontrolle, Pflege eines Kultes wenn nicht Götzenanbetung sind die Stichworte, die ihn tragen. Einher gehen damit zwangsläufig die einschränkende Kanalisierung der Stimmenvielfalt und eine Befriedung von diskursiven Auseinandersetzungen, denn qua Norm ist schon entschieden worden. An die Stelle der durch den Humanismus alter Prägung implizit über853 Walsh, Michael: Keine Angst vor klassischer Musik, a. a. O., S. 163.
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wundenen gottgewollten Ordnung tritt das Ordnungsgefüge der kulturellen Norm. Man mag über die Ausgestaltung eines Kanons graduell noch streiten, doch die Notwendigkeit eines Kanons selbst steht fest. Von einer Rolle rückwärts ist der (Neu-)Humanismus der Gegenwart bewegt: Eine Restituierung – man möchte beinahe sagen – jener »Zwischenzeit« oder »mittleren Welt« unter neuen Vorzeichen ist anzunehmen, sofern dem (Neu-)Humanismus entsprochen wird. Insofern beschreibt der Rückbezug auf den (Neu-)Humanismus, wo er heute artikuliert oder eingefordert wird, keine Renaissance oder Aufrechterhaltung der humanistischen Denktradition, sondern das ganze Gegenteil: eine absolutistisch anmutende Dogmenpflege, eine ritualisierte Kommunikation mit Restaurationsbestrebungen und eine Apologie des rechten Glaubens. Der kategorische Imperativ, der sich mit Blick auf den (Neu-)Humanismus hier mitteilt, lautet: Suchst du weltanschauliche wie sittliche Orientierung und überzeitliche/ universale Werte, dann wende dich dem kulturellen Erbe zu. Angesichts der Erfahrungen, die damit gemacht wurden, erscheint er nicht sehr plausibel, und angesichts der Kontingenzkultur Weltgesellschaft mit der Vielfalt von Musik und ihrer unterschiedlichen musikalischen Gebrauchspraxen taugt er ohnehin nicht. Und doch erscheint eine humanistische Bildung möglich, sofern über den begrenzten Tellerrand des (Neu-)Humanismus zu schauen gewagt wird. Der aus der Renaissance erwachsene Humanismus hat einst eine übersichtlich geordnete (genormte) Welt, in der jeder seinen gottgewollten Platz hatte, in eine Welt der Unübersichtlichkeit überführt, in der eine Vielfalt der Stimmen und divergierender Wissensstände im konstruktiven Widerstreit liegen. Mit anderen Worten: Er reformierte die Gesellschaft so gründlich und implementierte eine Haltung, die den unermüdlichen gesellschaftlichen Aufbruch und die Suche nach neuen Ufern in sich trägt. Wird diese Haltung sich zu eigen gemacht, ist weitaus mehr gewonnen, drückt sich in ihr aus beinahe eine konzise Beschreibung dessen, was nötig ist in Kontingenzkultur zu bestehen.
Medien der Bildung. Das Eigentliche ist sichtbar/. Nicht von ungefähr erhält die Umstellung von Statik (Kanon) auf Bewegung (Kontingenz) mit den Neuen Medien prominente Zuwendung. Bedingungen des Menschseins verändern sich, sie sind dynamisch zu denken. Ein Zustand, der als idealtypisch zu bezeichnen und auf den Vorstellungen zur Enkulturation und Bildung zu entwickeln und umzusetzen wäre, existiert nicht. Insofern verändern sich auch Bildungsvorstellungen. Das dynamische Moment, das eine conditio humana auszeichnet, ist von mancherlei Faktoren abhängig, zu denen auch die medialen Ausformungen gehören, die ausloten und vorgeben, was unter Bildung und Wissen zu verstehen
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ist. Medien formen Gedächtnisspuren. Der Buchdruck mit seinen diskreten Lettern macht im 15. Jahrhundert die fast vergessenen Schriftstücke griechischer und römischer Denker allgemein zugänglich, lässt das Studium der alten Sprachen aufleben und führt zur Verbreitung fast vergessener Gedanken. Die Renaissance und der daraus geborene Humanismus wären ohne die Gutenberg’sche Technisierung des Buchdrucks nicht zu realisieren gewesen. Mit der Lektüre jener Schriften wird der Mensch in den Mittelpunkt gerückt. Die Medientechnik des 15. Jahrhunderts befördert so völlig neue Gedankenwelten und gebärt eine neue Welt. Medientechnik verfügt – und das ist entscheidend – über eine weitreichende Distribution innovativer Ideen, entworfen aus frei gewordenem Menschengeist, der, ausgelagert in Bücher, Lesekundigen allgemein zugänglich wird. Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Medientechnik Druck mit diskreten Lettern bricht sich trotz restaurativer Widerstände durch Geisteshaltungen religiöser Prägung unbenommen Bahn. Kommunikation orientiert sich fürderhin am Druck und nicht mehr an Oralität. Mit dem Druck einher geht allerdings auch gleichzeitig die problematische Vorstellung von der Absolutheit des zwischen Buchdeckeln Gepressten, in sich Geschlossenen und aus der Zeit Herausgehobenen, das späterhin auch der Kunst in ihrer weiteren Ausdifferenzierung eine Denkrichtung und Menschen jenen spezifischen (neu-)humanistischen Bildungsgrund gibt, der nach Autonomie strebt und doch zum Gehorsam sich fügt. Die mit dem Buchdruck in Bewegung gesetzte Dynamik ist darin zum Erliegen gekommen. Die Medientechnik des 20./21. Jahrhunderts verfügt einen erneuten Innovationsschub und hat wiederum eine neue Welt – erst in ihren Anfängen stehend – entwerfen lassen, die das Komplexitätsniveau abermals steigert mithin auch dadurch, dass die Geschlossenheit von Kommunikation – wie beim Hypertext – in Fragmente zerfällt, die zu neuen Sichtweisen inspirieren. Die digitale Medientechnik schärft zudem den Blick für die Verhältnisse und bietet eine neue Form der Realitätsvergewisserung. Mit ihnen werden auch die letzten Reste überholter Traditionen in Bits und Bytes aufgehoben. Die digitalen Simulationsmaschinen dissimulieren altvertraute Sinn-Simulakren, denn sie zeigen, wie es immer auch noch anders gehen könnte. An die Stelle der Tradition tritt die Projektion. Das lässt das, was Bildung und Wissen für eine in Bewegung stehende Gesellschaft sein mögen, nicht unbeeinflusst. Was Bildung sei, ist nicht festzustellen, wie dies mit einem zeitlos verorteten Kanon bspw. versucht wird, sondern bleibt im Flusse. Ein einst begründungsunbedürftiger Kanon muss nach neuen Gründen suchen bzw. neu begründet werden, um weiterhin bestehen zu können. Und diese Gründe müssen aus dem gesellschaftlichen Umfeld abgeleitet werden, in dem sie Geltung beanspruchen. Gelingt dies nicht, erscheint der Kanon obsolet. Der Mangel eines Wissens um einen Kernkanon ist kein Indiz für
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die »Abnahme der kulturellen ›Alphabetisierung‹«854, wie vermutet, sondern Indiz für die Vielfalt von Kultur. Wo in Fernsehshows die Besten der Nation in Telefonvoten gekürt werden und Mozart nach Grönemeyer und Udo Jürgens den dritten Platz belegt, Beethoven nach Nena und nur knapp vor Roy Black landet und schließlich Bach auf Platz 34 hinter DJ Bobo auf hinteren Rängen landet, drückt sich der Verlust des privilegierten Stellenwerts von kanonisierter Kunstmusik aus, sie ist nunmehr bestenfalls »eine Ausdrucks- und Kommunikationsform von vielen, neben den anderen Musikarten.«855 Die Rangordnung, so ist zu konstatieren, bildet den tatsächlichen Stellenwert überkommener Kunst ab. In dem Medium Zeitung zeigt sich diese veränderte Statusregulierung, wenn in der FAZ oder der SZ neben einem Artikel zu Bayreuth und seinen Inszenierungen auch das letzte Madonna-Konzert besprochen wird.856 Ubiquität schlägt Universalität. Distributionsmedien wie die Notenschrift haben einstmals die Vorstellung vom Überzeitlichen befördert, Distributionsmedien wie digitale Datenträger die der Tagesaktualität mit Verfallsdatum. So verflüchtigt sich Unvergänglichkeit mit dem Wechsel von Verbreitungsmedien. An die Stelle der Rezeption mit nachgeschalteter Drucklegung tritt die unmittelbare Produktion mit unermüdlicher Fehlerkorrektur. Die Produzenten des Wissens sind mit der Verlagerung in die digitale Welt vervielfacht, wie allein das singuläre Beispiel Wikipedia bekanntlich zeigt, das sich aus den Stimmen einer namenlosen Vielfalt selbst organisiert und sich nicht weniger zuverlässig als Informationslieferant zeigt als renommierte Lexika mit dem darin enthaltenen Expertenwissen. Der quantitative Zuwachs an Stimmen und Meinungen heute evoziert eine emergente Ordnung, der auch Bildungsvorstellungen nicht unbeeinflusst lässt. Die Proklamation eines feststehenden Kanons nebst mitlaufender Bildungstheorie orientiert sich am Dinglichen. Man hat, was man hat. So wird der Stand der Dinge zum Bildungsgute erhoben: die verabsolutierte Kunst (Objekt) mit ihrem tiefen Sinn, aus der Subjekt und Gesellschaft sich schöpfen und darin sich materialisieren sollen. Diese Materialisierung gründet in metaphysischen Sphären, in deren Orbit das Selbst sich zu bewegen scheint. Der Innovationsschub des 20./21. Jahrhunderts löst Objekte in Schaltkreisen auf mit emergentem Ordnungsgefüge. Kunst und Anderes werden immaterialisiert, entstofflicht und Sinn bekommt – jenseits aller Metaphysik – durch Konkretisierung wieder festen Boden unter den Füßen. Mit dieser Immaterialisierung erfolgt sozusagen auch eine ideologische Entrümpelung. Die Folge: Das Objekt tritt in den Hintergrund und lässt dem Subjekt größeren Entscheidungsspielraum und per854 Noltze, Holger : Die Leichtigkeitslüge, a. a. O., S. 52. 855 Neuhoff, Hans: Historische Musikwissenschaft, a. a. O., S. 228. 856 Vgl. ebd.
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sönlichen Entfaltungsspielraum. Der tiefe Sinn erfährt seine Wandlung zum Oberflächenphänomen, das zur Bildung des Selbst beiträgt, weil es nunmehr eigene Wege gehen darf. Die Emergenz heute zeigt sich in einer veränderten Haltung zu den Dingen. Es wird mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien nicht weniger als mit der überkommenen europäischen Denktradition gebrochen, die zum Logozentrismus oder auch Eurozentrismus neigte, wie Jacques Derrida gezeigt hat. Das traditionelle Denken ist ein Denken der Präsenz, das gerade da, wo die Nicht-Präsenz von metaphysischen Ideen verfochten wird, sich einstellt, hebt es doch auf eine Idealität und imaginäre Identität von Etwas ab, worin sich die eigentliche Präsenz erfüllt. Die Idealität erscheint als objektive Invariante der Präsenz, vor der jedes sich real Ausformende nachrangig erscheint. Jacques Derrida hat dies die Metaphysik der Präsenz genannt, von der die Geste des Denkens der Tradition erfüllt ist. Diese Denkgeste unterstellt eine privilegierte Form des Seins, was sich in begrifflichen Entgegensetzungen ausdrückt: Idealität/Realität, Seele/Körper, Absolute/Relative, Notwendige/Kontingente, Eigene/ Fremde, wahr/falsch u. a.m. Der zweite Begriff erscheint immer nachrangig, defizitär. Die Metaphysik der Präsenz verführt zur Vorstellung einer stets unvollkommen bleibenden Manifestation von Idealität bspw. im Kunst-Objekt mit den beschriebenen Folgen, die dem Objekt Vorrang vor dem Subjekt einräumen. Das emergente Phänomen, das die digitale Kulturtechnik in Szene setzt, ist die Orientierung am virtuellen Unding, das von der Kommunikation bewegt wird und Objekte (z. B. in Partituren gegossene Formen mit Absolutheitsgarantie) ins Abseits stellt. Wechselt die Kommunikation das Thema, wechselt auch das Unding seine Form. Auf den Weg gebracht ist ein aus Mediengründen entworfenes und so ein medienkompatibles Kontingenzbewusstsein, das den umstehenden Dingen produktiv begegnet, also die Seinsweise durch konkretisierende Veränderung infrage stellt. Galt einst, »daß ein Kunstwerk nur zustande kommt, wenn respektiert wird, daß die Welt unsichtbar bleibt.«857, damit der Geist zu fantasievollen Höhenflügen eingeladen wird, auf denen die unsichtbare Welt als phänomenal flüchtiger Eindruck in Kunst erscheint und tiefen Eindruck hinterlässt, so ist dieser Respekt heute erschüttert. Im Geist ersonnene unsichtbare Welten werden sichtbares Alltags-Phänomen durch Computerkalkulation. Die Fantasie wird sinnlich, anschaulich mit dem Computer, in dessen Tiefen außer 0 und 1 ansonsten wenig vermutet wird. Die Kunst wird heute wieder geerdet und führt auch das kulturelle Erbe in den Kreis der Alltagskultur mit Verfallswert zurück. Das überkommene Weltbild (neu-)humanistischer Bildung, abgeleitet aus spezifischen Medienschaltungen, wird – wo dies anzutragen versucht wird – auf 857 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1995, S. 123.
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Verhältnisse übertragen, in denen vollkommen andere Medienverhältnisse und -botschaften gelten. Und das schreibt sich restaurativ und hat wenig Aussicht auf Erfolg. Die Nach-Gutenberg-Medien schalten »von Sinn auf Sinne, von Metaphysik auf Physis um.«858 Die Bedingungen des Menschseins sind heute bestimmt vom Ausloten von Möglichkeiten, von der Erhöhung der Kontingenz. Mit dem Umstellen von »Sinn auf Sinne«, von »Metaphysik auf Physis« erfährt das eurozentristische Denken mit Nabelschau eine Neurorientierung. Wenn es so ist, dass das Moment … – der prinzipiellen Dynamik, – der Vorläufig- und Bodenlosigkeit, – der Unvorhersehbarkeit, – der Verunsicherung, – auch das Moment der Oberflächlichkeit im gleichberechtigten Nebeneinander der Datenflut… … mit den neuen Medien und der zunehmenden Virtualisierung heute vorherrschend ist, dann evoziert dies, Bildungsaspekte ins Blickfeld nehmend, … – den Vorrang der konkreten Realisierung vor der abstrakten Idealisierung, – den Vorrang des Relativen vor dem Absoluten, – den Vorrang des Kontingenten vor dem Notwendigen, – den Vorrang des Neuen und Fremden vor dem Vertrauten und Eigenen. Eine transhumanistische Bildung öffnet sich neuen Wegen. Als Spielplatz einer transhumanistischen Bildung wird die Kunst in all ihren Ausformungen vorgeschlagen, weil das Spielen mit ihr, so zweckfrei bzw. nutzlos sie jenseits des »interesselosen Wohlgefallens« (Kant) sie im Grunde ja ist oder sein soll, einerseits völlig ungefährlich ist, aus der Kunst heraus entworfene Ergebnisse aber anschaulich und weiterführend sein können.
Horizonterweiternde Kompetenz. Der Kanon und der Abschied vom Teddybären/. Orientierung in einer Kontingenzkultur wird gleichwohl durch einen voreiligen Reflex auf ein Bestands-Wissens, das durch einen Kanon repräsentiert wird, zu sichern gesucht. Vordergründig mag das seinen Charme haben: Normen geben Sicherheit, sie strukturieren nicht durchschaubare Ordnungen nach vorgege858 Hörisch, Jochen: Einleitung zu: Ludes, Peter : Einführung in die Medienwissenschaft. Berlin (Erich Schmidt) 2003, S. 26.
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benem Muster. Angesichts von Globalität und Flexibilisierung aller Lebens(um)stände sieht z. B. Julian Nida-Rümelin den (Neu-)Humanismus als Arznei zu verordnen sich veranlasst: »Vor diesem Hintergrund wird vielleicht etwas deutlicher, warum eine Anknüpfung an die ursprüngliche humanistische Bildungskonzeption angesagt ist. In einer Zeit, in der Prognosen über die konkrete Verwertbarkeit von Wissen angesichts eines beschleunigten Wandels in allen Lebensbereichen immer fragwürdiger werden, gibt es letztlich keine Alternative zur Orientierung an den Grundlagen unserer Kultur. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Bereich der ästhetischen Bildung.«859
Eine voranschreitende Diversifizierung von Gesellschaft, eine gegebene Unübersichtlichkeit soll geordnet werden durch die gemeinsame Lektüre der Kunst-Klassiker. Darin wird erkannt ein gemeinsames Wertereservoir, und durch Lektüre und Einverleibung von Kultur würde die Unübersichtlichkeit in geordnete, bessere Bahnen gelenkt. Der Bildungshumanismus ist so ein Rahmen, der ordnet, strukturiert. Odo Marquard hat einen kleinen Aufsatz mit Titel »Zukunft braucht Herkunft« geschrieben, der ganz ähnlich argumentiert. Auch Marquard erkennt eine beschleunigte Welt, die dem Menschenmaß nicht entspricht. Infolgedessen sei es geraten, dem Vertrauten sich zuzuwenden. Er sucht, diesen Umstand mit einem Blick auf die Welt des Kindes zu veranschaulichen. Um in einer unvertrauten Umwelt zu bestehen (denn ihr zu entfliehen erscheint unmöglich), führt das Kind ein ihm Vertrautes stetig mit sich. »Kinder kompensieren ihr Vertrautheitsdefizit durch Dauerpräsenz des Vertrauten: beispielsweise durch ihren Teddybären.«860 Diese Teddybären-Kultur wird, so Marquard, auch auf der Seite der Erwachsenen ausgemacht. Nur handelt es hier sich nicht um ein plüschiges Getier, sondern in der bestehenden Kultur wird das Äquivalent ausgemacht: »mit Goethe durchs Jahr ; mit Habermas durchs Studium; mit Reich-Ranicki durch die Gegenwartsliteratur.«861 Auf diese Weise, unter Rückbezug des ihnen Vertrauten, glauben Erwachsene der Wandlungsbeschleunigung gewachsen zu sein. Wandlungsbeschleunigung heißt dabei auch, dass der Kontinent des Neuen immer unergründlicher wird, weshalb es geraten erscheint, sich an der kleinen Teddybären-Welt festzuhalten, was auf der anderen Seite weiter die Sehnsucht nach Vertrautem wachsen und noch fester an den Teddybären klammern lässt. Der Kanon wird für unantastbar erklärt und dem Neuen sich verweigert, denn man hat ja eine vertraute Welt für sich gefunden. Das Bild von Odo Marquard ist gut gewählt. An diesem lässt sich auch die 859 Nida-Rümelin, Julian: Humanismus als Leitkultur, a. a. O., S. 26. 860 Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. In: ders.: Zukunft braucht Herkunft. Stuttgart (Reclam) 2015, S. 240. 861 Ebd.
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damit verbundene Problematik ableiten. Auch wenn die Teddybären-Kultur durch die Zeit recht ähnlich auszusehen scheint, im Vergleich offenbaren sich doch Unterschiede, die Unterschiede ausmachen, möchte man im Luhmann’schen oder Bateson’schen Sinne hervorheben. Manche Teddybären sind durch eine neue Farbenpracht ausgezeichnet, andere zeigen sich durch ihre Oberfläche different zu anderen, auch die Form ist durch Variantenreichtum ausgezeichnet u.v.m. Selbst jene mit dem berühmten Knopf im Ohr haben den Zeiten nicht getrotzt, sondern haben sich dem jeweiligen Zeitgeist angepasst. Die vertraute Herkunft, für die der Teddybär ja symbolhaft steht, hat also eine Transformation erfahren und den Sprung nicht 1:1 von damals ins heute geschafft. Mit anderen Worten heißt das nicht anderes, als dass von Generation zu Generation, wenn man im Bild bleiben will, die Teddybären-Kultur sich ändert. Es ist nie dieselbe Herkunft, der sich die Generationen anvertrauen, und manch einst Vertrautes, nunmehr fremd geworden, fällt im Übrigen dabei auch hinten runter. Die Vertrautheit der Elterngeneration ist nicht gleich der Vertrautheit ihrer Kinder. Auch das ist schnell erklärt: Mag zu einer bestimmten Zeit eine Generation mit Goethe durchs Jahr oder mit Habermas durchs Studium und durchs Leben gekommen sein und sich mit Reich-Reinicki die Gegenwartskultur erschlossen haben, so mögen für spätere Generationen andere Autoren diese Vertrautheitsfunktion eingenommen haben. Odo Marquard macht da keine Ausnahme. Nicht ohne Grund mag er gerade diese ihm wohl vertrauten Autoren genannt haben, aber nicht Wolfgang von Eschenbach, Meister Eckart oder Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen. Sie mögen hier und da noch interessieren, aber Vertrautheit signalisieren sie nicht, zum Teddybären eignen sie sich nicht mehr. Goethe, Habermas und Reich-Ranicki sind so auch nicht Teil einer auf Ewigkeit festgeschriebenen Vertrautheit, ausgedrückt in einem unumstößlichen Kanon, sondern sie operieren als ›Leerstellen‹. Was dem einen sein Goethe, ist dem anderen sein Durs Grünbein, dem nächsten sein Roger Willemsen, vielleicht auch sein Frank Schätzing oder irgendwer anderes. Der Teddybär ist demnach keine so feste Größe wie geglaubt. Jede Generation nimmt sich das Recht, selbst zu bestimmen, was ihr vertraut ist, auch wenn das einer früheren Generation nicht gefällig ist. Um im Bild zu bleiben: Es wäre auch höchst seltsam, wenn eine ältere, schon weitgehend gesetzte Generation ihre durchgekauten, wohl auch speichelgesättigten Teddybären mit deutlichen Gebrauchsspuren einer heranwachsenden Generation zum neuerlichen Gebrauch andiente. Das Vertraute, was der einen Generation Zuflucht und Wohlsein verspricht, mag so einer anderen verständlicherweise ein Graus sein. Eine jede Generation erarbeitet sich sozusagen ihre eigenen Vertrautheitspaten, die auch späterhin Zuflucht, Orientierung gewährleisten. Odo Marquard geht in seiner Argumentation aber noch weiter, wenn er davon spricht, dass die Leerstelle Teddybär auch dafür steht, dem beschleunigten
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Wandel dadurch zu begegnen, dass man die Vergangenheit in zunehmenden Maße in die Museen schaufelt, sie kategorisiert, katalogisiert und ausstellt. So versucht man Kontinuität zu bewahren. Die Museen sind sozusagen manifeste Pfeiler der Erinnerung, der Fels in der Brandung, der allen wechselhaften Gesellschaftsstürmen widersteht. Doch recht besehen macht man sich damit etwas vor, genauso wie das Kind mit dem Teddybären sich schon etwas vormacht. So warm und weich ein Teddybär sich auch anfühlt, im Ernstfall hilft er – über den Trost hinaus – nicht oder nur wenig. Ähnliches gilt für die Museen. Im Museum spielt das Leben sich gerade nicht ab. Dazu muss man vor die Türe gehen und die Erinnerungsstücke zurücklassen. Die Museumsstücke sind tatsächlich nunmehr ohne relevanten Zweck. Das Vertraute, mit dem man so sich auf Zeit im Museum umgibt, erfüllt so eine reine Surrogat-Funktion. Man macht sich etwas vor und man fühlt sich im Moment gut dabei. Und das ist auch prima so. So erfährt die Begrifflichkeit des Zweckfreien, die gern im Zusammenhang mit einem Kanon verwendet wird, eine ganz neue Wendung. Losgelöst von allen TranszendenzZumutungen, kann, darf, ja soll man goutieren das einem Gefällige auf welche Weise auch immer. Problematisch aber wird es, wenn man das Surrogat, den Teddybären, zum Eigentlichen, zur Hauptsache kürt und erhöht, wenn man das Leben im Museum dem Leben vor dessen Türen vorzieht, wenn man seinem Teddybären märchenhafte Eigenschaften zumisst und die Umwelt auffordert, manchmal nötigen will, diese Eigenschaften ebenfalls so anzunehmen wie erträumt. Eine gefrorene Vergangenheit soll so zum Leitbild für das bewegliche Leben werden. Statik vs. Mobilität! Es drückt sich ein Fluchtimpuls darin aus und eine Haltung, die dem Surrogat den Vorzug gibt vor dem Leben drum herum. Und es ist zugleich eine Zumutung für andere, eine Erwartungshaltung einzunehmen, dass dem eigenen Teddybär, dem Surrogat mit den ausgelobten Heilserwartungen, sich zu unterwerfen und eigenes Verhalten danach auszurichten sei. Der unkritische Pflege des Kanons bewegt sich genau auf dieser Ebene der Zumutung, die im Klammern an den Teddybären als solche nicht erkannt wird. Der Kanon ist so eine Art Teddybär für Erwachsene, der vermeintlich Sicherheit verspricht, wo einem selbst die Welt drum herum unvertraut (geworden) ist. Mit anderen Worten: Mancher Erwachsene lässt ungern von seiner tröstenden Vertrautheit signalisierenden Ersatz-Plüschwelt (Kanon), die er aber anderen trotz unappetitlicher Speichelreste nebst Gebrauchsspuren aufnötigen will. Es walten massive Verdrängungsmechanismen, und das trägt beinahe schon pathologische Züge. Ein weiteres Problem dabei ist: Jeder Kanon verleitet zu Gewissheiten, aber Gewissheiten verleiden das Lernen. Das ist so lange unbedenklich, sogar nützlich, wie die Umwelt stabil ist und man gleich für das ganze Leben lernt. Einst war die Teddybären-Welt deshalb auch konfektioniert. Das heißt, die Wahl, wovon
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man sich trösten ließ, worin man das Vertraute erkannte, war für alle gleich. Man kaufte den Teddybären von der Stange. Das ist die Zeit, wo Goethe, Bach & Co keine Leerstellen waren, sondern als unhinterfragte Bestandteile der Kultur vorgestellt wurden. Diese Zeiten aber sind längst vorbei. Gesellschaft ist nicht mehr auf Dauer gestellt, sondern auf Wandel. Die Verabschiedung von der Konfektionsware Kanon und die Hinwendung zum Maßanzug individueller Playlists (›Deezers‹ und so vieler anderer Plattformen sei Dank) führen zur Bereitschaft zur Gestaltung neuer Herkünfte, anstatt die alten bloß zu konservieren oder zu restaurieren. Es bedarf also eines hohen Maßes an gedanklicher Flexibilität und Lernbereitschaft. Diese notwendige gedankliche Beweglichkeit in komplexen, fragilen Strukturen wird mit absolut gesetzten Normvorgaben von gestern genommen und der Notwendigkeit einer Lernbereitschaft zum Umlernen in einer schnell wandelnden Welt nicht entsprochen. »Normen sind ja lernunwillige Erwartungen, die kontrafaktisch durchgehalten werden.«862 Eine solche Lernunwilligkeit kann sich nur leisten, wer dem Wandel nicht (mehr) essentiell ausgesetzt ist (er mag an seinem alten Teddybären festhalten); sie anderen zu empfehlen, die auf dem Weg und auf der Suche sind, ist bedenklich. Es lebt also gefährlich, wer sich auf trügerische Sicherheiten verlässt, wo am anderen Orte Entwicklung statthat und man selbst in gefälliger Traditionspflege verharrt. Kanonpflege befördert im Bewusstsein des Sicheren unweigerlich Lernunwilligkeit. Prinzipielle Lernbereitschaft sowie die Bereitschaft zur Revision von Gelerntem garantiert erst die in einer hochkomplexen Gesellschaft erforderliche Kontingenzfestigkeit. »Bildung kann sich nicht an einem imaginären, festgezurrten Kanon orientieren, sondern muß sich der Aufgabe stellen, junge Menschen an ein (Selbst-) Lernen im Sinne von ›Erwerben von Schlüsselqualifikationen‹ heranzuführen.«863 Damit wird eine komplexe, im Wandel stehende Gesellschaft weniger über die Exklusionsbedingungen von Normen definiert, sondern mit Inklusionsofferten bedacht, die einem ungewissen Neuen durch Neugier begegnen, das über erworbene Schlüsselqualifikationen verhandelbar wird. »[Z]u lernen ist die Dauerbereitschaft, Neuem durch Änderung von bereits gelernten Erwartungsmustern zu begegnen«864, schreiben Niklas Luhmann und Eberhard Schorr und stellen die Annahme auf, dass das Erziehungssystem ganz allgemein von Bildung auf Lernfähigkeit sich umzustellen habe, um »Komplexitätsunterlegenheit durch Lernen kompensieren« zu können.865 Folglich gilt es weniger sich auf ein zu vermittelndes kanonisches Bildungswissen zu verstän862 Bolz, Norbert: Die Konformisten des Andersseins. München (Fink) 1999, S. 43. 863 Bäßler, Hans/Jacoby, Richard: Mensch – Natur – Technik. Ein fragender Blick in die Zukunft. In: Musik und Bildung 1997, Heft 6, S. 6. 864 Luhmann, Niklas/Schorr, Eberhard: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt/ M. (Suhrkamp) 1988, S. 86. 865 Ebd., S. 367.
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digen, sondern auf Ungewissheiten zu verstehen, die dem Regelkreis des Bekannten entgegenstehen. Man kann in diesem Zusammenhang auch vom Vermitteln einer horizonterweiternden Kompetenz sprechen. Wer Orientierung anstrebt, hat gerade die Ungewissheiten an- und aufzunehmen, Urteilsverfahren zur Qualifizierung zu entwickeln, die sich nicht kategorisch aus dem überlieferten Werteverständnis der Vergangenheit ableiten. Über Schlüsselkompetenzen kann ein solcher Weg bereitet werden. Das trägt nicht nur zur Orientierung bei, sondern auch zur Horizonterweiterung. Eine transhumanistische Bildung trägt dem Rechnung.
Anteilnehmende Kompetenz. Rehabilitierung des Fremden/. Die Geschlossenheit von Nationen im Sinne eines Nebeneinanders ist im 21. Jahrhundert überholt, wenn man Analysen Glauben schenken mag, die vom transkulturellen Raum und von der Verschränkung von global und lokal sprechen. Datenströme machen an Grenzen nicht halt, kulturelle und andere Einflüsse flottieren weltweit. Worin drückt sich überdies ein spezifisches nationales Design auch noch aus, wenn Einflüsse von allen Seiten statthaben und wirken und schon im Kindergarten die unterschiedlichsten Reg(l)i(gi)onen der Welt aufeinander treffen und sich bedingen? Was sich als Nation noch geriert, ist längst – trotz Nationalsprache, Nationenbanner und Nationalhymne sowie dem »Brexit« der Briten – ein transnationales Gebilde. Was sollen – zumindest mit Blick auf den europäischen Raum – bspw. noch genuin »nationale Interessen« sein, wie dies Robert Menasse nachfragt?: »Können Sie mir erklären, was Ihre berechtigten ›nationalen Interessen‹ sind, und zwar so, dass mir unmittelbar einsichtig ist, dass nur Sie als – sagen wir – Angehöriger der deutschen Nation diese Interessen mit gutem Grund haben, während kein Portugiese, kein Holländer, Italiener oder Litauer diese Interessen haben kann? Können Sie mir diese Interessen nennen, die im Sinne der Menschenrechte legitim und zugleich einzigartig in Europa und weltweit? Was sollte das sein? Oder ist es nicht vielmehr so, dass alles, was sie als Ihr nachvollziehbares Interesse formulieren können, ebenso im Interesse von Portugiesen, Griechen, Holländern und so weiter wäre?«866
Wenngleich Interessen aus nationalem Raume formuliert werden, bilden sich darin oft transnationale ab. Paradigmatisch für einen zukünftigen Zusammenschluss unterschiedlichster Identitäten erscheint für Robert Menasse die Verwaltungshauptstadt Brüssel, die ein »letztlich entspanntes, geordnetes Chaos der Identitäten« vorführt. »Hier wird in einer Stadt wie in einem Labor das Problem 866 Menasse, Robert: Der europäische Landbote. Wien (Paul Zsolnay) 2012, S. 14.
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des ganzen Kontinents durchgespielt«867; im Beamtenapparat, bunt zusammensetzt aus unterschiedlichen kulturellen Identitäten, sieht der Autor ein auf größerer Ebene durchzuspielendes Vorbild. »Durch ihre Arbeit [die der Beamten; Anm. N.S.] am europäischen Projekt wurden die Merkmale ihrer jeweiligen nationalen Identität zu Schrullen, mit denen sie selbstironisch umgehen. Man kann auch sagen: Befreit von nationaler Verbiesterung, wird Mentalität erst zur Kultur. […] Sie sind oftmals in ihrer Praxis, ihrer Arbeit, ihrem Lebensentwurf schon das, was zweifellos attraktiv wäre zu werden, nämlich echte Europäer : polyglott, hochqualifiziert, aufgeklärt, verwurzelt in der Kultur ihrer Herkunft, allerdings befreit von der Irrationalität einer sogenannten nationalen Identität.«868
Im Begriff der Transkulturalität findet sich eine solche Vielfalt ausgedrückt. Passungen haben dabei eine weniger starre Form als die der Tendenz nach uniformierte Zeit der Vergangenheit. Was einst zu einem nationalen Kulturraum sich fügte, trägt demnach transnationale Züge. Eine auf das eigene isolierte kulturelle Erbe bezogene Wissensvermittlung trägt die reine Selbstbeschau in sich und grenzt andere Kulturkreise, die in den eigenen Kulturraum unbenommen und ungefragt hineinwirken und diesen verändern, unzulässig aus. Es hat wenig Platz darin, was ins System des allzu Gewissen nicht passt und trotzdem in einer globalisierten Welt sich Raum greift. Die Proklamation (neu-)humanistischer Bildung führt weniger zum Erhalt des eigenen kulturellen Erbes denn mehr – aus Mangel eigenen Interesses an der unüberschaubaren Vielfalt kultureller Ausprägungen – zur Regression und zu einem zuletzt nur das Eigene schätzende provinziellen Dasein mit Nabelschau. Kompensiert wird der Provinzialismus über die Stilisierung der eigenen kulturellen Ruinen zum Einzigartigen, was der Notwendigkeit enthebt, sich grenzüberschreitend mit dem anderen zu beschäftigen. Kultiviert wird so der Schauplatz nicht weiterführender Erinnerungen. Der Gedanke von einzigartig verstandener eherner Kultur und daraus erwachsender Bildung neigt zum Totemismus und zum Okkultismus. In die Gegenwart gelangt eine solche Kulturbeschau nie, wenn gegenwärtige Kultur mehr und mehr von transnationalen Einflüssen bedingt ist. Eine transhumanistische Bildung ist bemüht, dem sich fraglos schwer zu entziehenden Eurozentrismus durch Umstellen von Wissen auf Lernen, das Orientierung bietet, zu begegnen mit Blick auf das Ungewisse. Voraussetzung dafür ist die Aufgabe der Vorstellung einer besonderen, herausragenden Stellung, die dem eigenen kulturellen Erbe ein allzu hohes Gewicht beimisst. Einem Mühlstein gleich bremst es alle intellektuellen Bewegungsbemühungen aus. Verbindliche Maßstäbe zum Feststellen von kultureller Qualität oder zum Ver867 Ebd., S. 29. 868 Ebd., S. 23.
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gleichen von Kultur existieren nicht, dies wäre als Prämisse für eine transhumanistische Bildung herauszustellen. »Spontan in die Arme schlossen mich Kollegen aus Seoul, als ich zugab, koreanische Musik könne man eben nicht auf dem Klavier spielen. ›Exactly‹, war die emphatische Erwiderung.«869 Oder wie sollte man auch Musik aus dem Kulturraum Asien, die auf dem Prozess beruht und bei jeder Aufführung sich ändert, vergleichen mit Musik, die vom abgeschlossenen Werk ausgeht? Die Aporie von Prozess und Werk macht einen einheitlichen Maßstab zur Qualifizierung aussichtslos. Eine andere Aporie drückt sich in der Vergleichbarkeit von damals und heute aus. Und schließlich gilt die Aporie von Genres. Nur auf der Basis ideologischer Axiome – und so auf der Basis der Simplifizierung komplexer Vielfalt – sind solche zu fällen. Unter Verzicht verbindlicher Maßstäbe können Kunst und Musik unterschiedlicher kultureller Ausprägungen auf gleicher Augenhöhe sich begegnen und lassen einen globalen kulturellen Resonanzraum ins Blickfeld rücken. Wertschätzungen erfahren keine absolute Geltung mehr, sondern werden grundsätzlich temporär, d. h. relativ ausgesprochen. Orientierung mit prominentem Blick auf das eigene kulturelle Erbe oder einer exklusiv verfochtenen Musik betreibt eher Des-Orientierung, Orientierung und Horizonterweiterung dagegen bietet der raumgreifende Blick: die Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Erscheinungen, der Zuwendung dem Fremden gegenüber, das nah heranrückt und sich nicht allein in fremden Kulturen, sondern schon in nicht der Norm entsprechenden musikalischen Ausformungen sich ausdrückt. Vom Fremdem sich irritieren zu lassen heißt daher immer auch, vom Fremden zu lernen. Wenn bspw. Kulturkreise anderer Kontinente sich für die europäische Musikkultur interessieren und gegenüber dem eigentlich für sie Fremden aufgeschlossen und neugierig sind, ließe sich daraus lernen, nicht die eigene kulturelle Überlegenheit oder eine gefährliche Selbstzufriedenheit daraus abzuleiten, sondern umgekehrt sich ebenfalls zu interessieren für die Kultur, aus der der oder das Fremde stammt. »Kulturen, die man […] aufsucht, bilden Knotenpunkte und Schaltstellen, an denen elementare Erfahrungen sowie grundlegende Klärungen und Veränderungen des eigenen Bewusstseins und der eingespielten Haltungen möglich sind.«870 Hans-Jürgen Heinrichs hat Reisende und Forscher im Sinn, im Gesagten spiegelt sich aber auch ein Programm für eine transhumanistische Kultur. Es bedarf der unermüdlichen Anstrengung, Neues kennenzulernen, Wege des Kennenlernens ausfindig zu machen sowie durch Möglichkeiten der Ent-Fremdung eine kulturelle sowie individuelle Bereicherung zu erfahren; kurz: Es gälte, eine neue Kultur der Neugierde zu entwickeln 869 Kaden, Christian: Was ist Musik?, a. a. O., S. 4. 870 Heinrichs, Hans-Jürgen: Der Mensch hat eine Zukunft. Spielräume für Wissen und Bewußtsein im neuen Zeitalter. Kreuzlingen/München (Diederichs) 1999, S. 38.
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und sich konstruktiv befremden zu lassen. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden impliziert ein kulturbelebendes Element, und dieses Gegenüber von Fremdem und Eigenem ist dem Phänomen der Glokalisierung eines Robertson analog, der die unlösliche Verschränkung zwischen global und lokal ähnlich beschreibt.871 Zwei Kommissionen der UNESCO stellten vor nicht allzu langer Zeit so auch nicht von ungefähr folgende Forderungen an eine interkulturell verfahrende Pädagogik: »Modelle interkultureller Erziehung auf allen Ebenen von der Primarschule bis zur Hochschule einzuführen, Pädagogen für die interkulturelle Bildung zu sensibilisieren; das Bewußtsein für kulturellen Pluralismus in jeder Gesellschaft und für den Bedarf nach interkulturellem Dialog zu schaffen, den Respekt vor der kulturellen Vielfalt in den Medien und in der Schule zu vertiefen.«872
Eine transhumanistische Bildung sucht daher eine anteilnehmende Kompetenz zu entwickeln, die Musik von Fall zu Fall – also relativ – im wahrsten Sinne des Wortes bedeutet. Nicht mehr das Objekt tritt dabei in den Vordergrund, sondern das Subjekt, das Anteil nimmt und Wertschätzungen ausspricht. »An die Stelle der oft gestellten Frage, was eine bestimmte Musik ›an sich‹ bedeutet, tritt die Frage, welche Bedeutung eine bestimmte Musik für mich (und andere) hat.«873 Die heute im und über das Internet laufende Kommunikation rekapituliert weniger Fremdurteile, sondern formuliert Eigenurteile. Eine solche Wendung öffnet den Blick für andere Musik und schließt nicht einmal Werkanalysen nach bekanntem Muster aus, dokumentiert aber, dass solche Werkanalysen aus einem spezifischen Blickwinkel – subjektiv motiviert – entworfen sind und mit einem Handwerkszeug vollzogen sind, das nicht generalisierend für jede Ausprägung von Musik verwendet werden kann. Das einst einzigartig Gedachte geht auf in der Vielfalt der Stimmen.
871 Vgl. Robertson, Roland: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Edition Zweite Moderne. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1998. 872 https://www.academia.edu/254439/Auslandsgermanistik_Und_Kulturdialog._Die_Afrika nische_Germanistik_Als_Medium_Des_Deutsch-Afrikanischen_Kennenlernens, download März 2014. 873 Barth, Dorothee: Nicht Ethnie, nicht Bildung, sondern Bedeutungszuweisung. Plädoyer für einen bedeutungsorientierten Kulturbegriff. In: Schläbitz, Norbert (Hg.): Interkulturalität als Gegenstand der Musikpädagogik. Essen (Blaue Eule) 2007, S. 40.
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Musikgeschichtliche Kompetenz. Vom musikalischen Fortschritt zur evolutiven Entfaltung/. Der raumgreifende Blick verstellt nicht den Blick auf den eigenen musikgeschichtlichen Standort, der allerdings eine Neubestellung erfährt. Die traditionelle Idee von Musikgeschichte, auf der auch die Pflege eines Kanons aufbaut, folgt einem linearen Gang. Musikgeschichte ist scheinbar von Notwendigkeit getragen. Zur Konstruktion und Implementierung einer solchen Musikgeschichtsschreibung treten die herausgestellten Ausschlussmechanismen in Kraft, die Wertschätzungen aussprechen und sich anderem verweigern. Die Folge ist eine einzige Erfolgsgeschichte, die vom Fortschritt handelt und in ausgewählten Werken (Kanon) ihren Ausdruck findet, was bedingt ist durch jene Ausschlüsse und die Verknappung musikalischer Ereignislagen: »Wenn Interpretieren hieße, eine im Ursprung versenkte Bedeutung langsam ans Licht zu bringen, so könnte allein die Metaphysik das Werden der Menschheit interpretieren. Wenn aber Interpretieren heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine Richtung aufzuzwingen, es einem neuen Willen gefügig zu machen, es in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Reihe von Interpretationen.«874
Diese motivierten Interpretationen mit linearem Gang, aus denen sich ein historisches Bewusstsein emporwölkt, haben ihren Preis, den die Musik als Kunst zu zahlen hat. Sie verabschiedet sich aus dem Kreis eines lebendigen Gebrauchszusammenhanges und mündet in jene Sackgasse, in der sie heute gepflegt und mehr mühsam denn erfolgreich am Leben gehalten wird. »[A]lles kann, ja muß aufbewahrt, im Gedächtnis der Menschheit aufgehoben werden: aber als ›Denkmal‹, als Relikt.«875 Im Denkmal verliert sich alle Lebendigkeit. Es setzt Patina an, wird zum unhinterfragten Kultobjekt, und spätere Generationen sehen darin nicht viel mehr als halb verfallenes, vielleicht schmückendes, auch hübsch anzuschauendes oder wohltönendes, manchmal auch störendes Ornament, das nicht mehr recht in die Zeit passt und anachronistisch wirkt. Als Denkmal wird bewusst, wie schnell die Zeit – angefüllt mit Neuem – darüber hinwegfegt. Denkmäler grundsätzlich – und nicht weniger Denkmäler der Kunst – hatten einen prominenten Ort wesentlich im ausgehenden 18. und fraglos im 19. Jahrhundert mit dem Blick auf den Nationalstaat, für den Denkmäler eine 874 Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens. München (Fischer) 1974, S. 95. 875 Enzensberger, Hans-Magnus: Die Aporien der Avantgarde. In: ders.: Über Literatur. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2009, S. 153.
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große Symbolkraft hatten.876 Sie waren Orte, in denen eine Nation sich öffentlich darstellte und in denen sich das eigene Bild von Staat und Nation repräsentativ äußerte. Um die (Kultur-)Denkmäler versammelte sich die Nation und festigte sich. Die Nation bot einen geschlossenen Raum, innerhalb dessen strikte Einschluss- und Ausschlusskriterien wirkten, um Geschlossenheit zu bieten. Wer nicht dazugehörte oder nicht passte ins Nationalgefüge, hatte gleichwohl die nicht immer segensreichen Folgen zu tragen. Die im übertragenen Sinne Denkmäler anderer Nationen sprachen eine Kritik den eigenen Denkmälern aus, waren dabei nicht immer wohlgelitten, was die Kommunikation regelmäßig abbrach und kriegerische Gewalt dagegen setzte. Das Vermitteln von Musikgeschichte, die eine in sich kohärente, homogene Identifikationsfolie mit Selbstfindungsangebot erfand, hat seine Zeit gehabt und längst ihr Ende gefunden: Wo Kulturen mit ihren je eigenen Erfolgsgeschichten einander durchdringen, findet auch die Geschichte vom Fortschritt ihr Ende. Das Ergebnis zeitigt transnationale Mischungsverhältnisse in Musik und Kunst, ohne dass von einem Standort aus der Erfolg des Ganzen für sich reklamiert werden kann. Kritik von anderer Seite wäre obligat. Die Ausschlussmechanismen, die eine homogen gefügte Fortschrittsgeschichte einst schrieben ließen, greifen nicht mehr im Spiegel globaler Mitwirkungskräfte. Waren Denkmäler einst »zur Hälfte Erinnerung an etwas Vergangenes und zur anderen Hälfte Anspruch auf etwas Kommendes«877, so können nicht nur Musikdenkmäler, sondern auch andere Kulturzeugnisse nicht mehr den wertschätzenden Anspruch auf das über sie in die Zukunft Hinausweisende einfordern. In die kommunikative Gegenwart passen nicht mehr auf Dauer geschaltete Denkmäler. Das Selbstbild einer sozialen Gemeinschaft ist heute weniger von Homogenität denn von Heteronomität geprägt, die sich in sämtlichen Lebensbereichen und so auch in den Musikgeschichten spiegelt.878 Die Vorstellung eines transnationalen oder globalen Kulturraumes rückt so auch die Musikgeschichte zurückblickend in ein neues Licht, die sich keineswegs mehr so homogen oder kohärent – wie erzählt – darstellt. Auch die Geschichte vom Fortschritt kann neu und anders erzählt werden. »Alle kulturellen Artikulationen sind bei näherem Hinsehen ein kompliziertes Gemisch, entstanden in einer Gemengelage aus Unterdrückung, Diebstahl, Missver-
876 Vgl. Telesko, Werner : Das 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar (Böhlau) 2010, S. 137–156. 877 Assmann, Aleida: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt/M. (Edition pandora – Campus) 1993, S. 57. 878 Der Deutschen liebstes Kind, die Fußballnationalmannschaft, spiegelt dies geradezu paradigmatisch mit ihren Spielern mit Migrantenhintergrund aus den unterschiedlichsten Kulturen, die das Etikett deutsch harmonisch vereint. Diese Einheit bildet sich aus einer Vielfalt, die als Vielfalt erkennbar bleibt und gerade daraus ihre Qualität schöpft.
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ständnissen, Aneignungen, Anverwandlungen und abenteuerlichen Metamorphosen. Die Reinheit ist der historische Ausnahmefall.«879
Verdeckte Brüche sind es, die Geschichte schreiben und gerade nicht der lineare Gang. Wo die Musik nicht mehr vom Fortschritt und vom absoluten Geist erzählt, tritt die Evolution mit ihren Anpassungsleistungen wie Irrtümern ins Blickfeld. Damit erhält das musikalische Werk auch wieder Bodenhaftung, da es ebenso von Zufällen, Fehlern und anderen Aspekten getragen ist wie von Anpassung an ästhetische Vorlieben, auch von Momenten glücklicher wie unglücklicher Fügungen, von Talent, Inspiration, Krankheit, schlechten Charaktereigenschaften, Begegnungen u. a.m. Musikgeschichte wird in ihrer Neuschreibung eine Geschichte von Aufstiegs- und Verfallserscheinungen. Der mehrstimmige Choral und der Sonatenhauptsatz bspw. erscheinen damit nicht mehr im fortschrittlichen Licht. Sie haben ihre Zeit gehabt und sind – so schwer das manchmal einzusehen auch fällt – ein Auslaufmodell geworden und heutzutage nicht einmal mehr das. Auch ohne im Olymp des Universalen/Zeitlosen aufzugehen, muss eine Wertschätzung nicht gering ausfallen. Wertschätzung wird aber nicht mehr imperativ einzufordern sein, sondern Musik hat sich neu zu bewähren, sodass sich temporäre Wertschätzung einstellen kann. Einer transhumanistischen Bildung kommt die Aufgabe zu, eine kunst- oder musikgeschichtliche Kompetenz aufzubauen, die gerade auf jene Brüche und neben den Erfolgsgeschichten auf das Verfallsmoment aufmerksam macht, das alle Musik auszeichnet. Der Vorrang des Kontingenten vor dem Notwendigen zeichnet auch und gerade die europäische Musikgeschichte aus und wäre aus dem Blickwinkel einer transhumanistischen Bildung auch so im Musikunterricht zu erzählen. Sie interessiert sich für die getätigten Ausschlüsse, interessiert sich für zeitbedingte Weltbilder, politische und soziologische Strömungen u. a.m., um aus diesen Blickwinkeln die Musik zu beleuchten, dabei zu dokumentieren den evolutiven Gang der Musik, aber auch darzustellen, wie mithilfe von Ausschlüssen und Verknappungen künstliche Hierarchien und »große überzeitliche Werke« erfunden wurden, die eine Form von Verabredungen waren. Wo man den Ort der Wahrheit einst vermutete, wird die kommunikative Verabredung gefunden und aufgehoben. Eine transhumanistische Bildung nimmt die Fachvernetzung in den Blick.880
879 Terkessidis, Mark: Interkultur. Berlin (Suhrkamp) 2010, S. 173. 880 Siehe hierzu ganz konkret: Ahlers, Michael/Lang, Robert/Schläbitz, Norbert (Hg.): O-Ton 3. Ein Schulbuch für die Oberstufe. Paderborn (Schöningh) 2016.
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Kreativ-kommunikative Kompetenz. Vitalisierung des kulturellen Erbes/. Die Musik der Gegenwart ist dort, wo sie lebendig ist, ein wandelbares Gut und steten Veränderungen unterworfen. Als evolutiv mäandrierendes Musikphänomen verstanden, werden die Attribuierungen des Einmaligen, Zeitlosen, Universalen ersetzt durch jene des Anschlussfähigen, das nicht von Notwendigkeit ausgezeichnet ist, sondern von Kontingenz. Die Verabschiedung des Notwendigen vor dem Kontingenten, des Absoluten vor dem Relativen sowie das Interesse am Fremden und Neuen stellen die konkrete Realisierung der abstrakten Idealisierung vor. Das lenkt abermals den Blick auf das handelnde und urteilende Subjekt. Vitalisierung des kulturellen Erbes heißt sodann, dass Musik der Vergangenheit wie allen musikalischen Gestaltwerdungen weniger kontemplativ, sondern handanlegend begegnet wird. Das umfasst die Produktion, Reproduktion mit traditionellen Instrumenten wie mit den neuen digitalen Medien. Das umfasst auch ihre interne Umorganisation wie Kombination mit anderer Musik aller Genres. Eine transhumanistische Bildung sucht die Musik der Tradition nicht als historisch isoliertes Phänomen abendländischer Kultur zu verstehen und zu vermitteln, sondern stets auf ihre Gegenwartsoptionen hin auszuloten, sie also nicht museal, sondern aktual zu bedenken. Verabschiedet wird im Vorübergehen die historisch bedingte Geschichte von der Scheidung in »E«- und »U«-Musik, sodass die in die Isolation geratene Hochkultur zum verhandelbaren Gut sich wandeln und unbekümmert begreifbar werden kann. Die Musik als denkmalträchtiges Substrat, diese Vorstellung ist mit den digitalen Speichern überwunden. Die aktuale Kommunikation stellt der Innovation einen Freibrief aus, nimmt auch Denkmäler davon nicht aus, denn sie zerfallen in Netzwerken zu Pixelwelten oder werden als Datenströme weiterverarbeitet. Eine lebendige (Musik-)Kommunikation der Gegenwart sucht den digitalen, nicht mehr den materialen Anschluss. Als ein Beispiel von so unzählig vielen mag gelten Robin Skouteris Moonlight Hotel, in dem Beethoven, Madonna, The Eagles, Maria Callas u. a.m. harmonisch vereint in einem Lied sind.881 Obendrein liefert das dazugehörige Video eine augenfällige Deutung. Kunst und Musik kehren in die Alltagskultur zurück, freilich verbunden mit dem Verlust von Historisierung und Heroisierung. Als zwar tönender, aber ansonsten stiller Gesprächspartner konnte sie vor der digitalen Revolution Zuwendung imperativ einfordern, nunmehr gerät sie im Mahlstrom der Kommunikation unter Anschlusszwang. Oder es ist das Vergessen ihr gewiss. Digitalisiert rückt sie von der Peripherie ins
881 Zuhören und zu sehen auf YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=1R8twt0ggAQ.
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Zentrum des musikalischen Lebens zurück und kann im Schmelztiegel von Ideen eine neue Form erhalten. So wird es darauf ankommen, Musik von einst und heute nicht mehr vom Standpunkt einer unterstellten und liebgewordenen Abgeschlossenheit zu betrachten, sondern auf ihre Möglichkeiten zur Kontingenz hin zu prüfen. Um die Zukunft der Musik der Tradition muss man sich dann nicht mehr sorgen, sie ist aufgehoben in neuen Kommunikationszusammenhängen. Die Musik als Datenstrom wird auf ihre Veränderungen und ihre Anschlussfähigkeiten hin betrachtet, auf ihre Qualitäten als markantes Erinnerungsmotiv in neuen Verwendungszusammenhängen u. a.m. Was man früher Pasticcio nannte oder mit der freundlichen Umschreibung des Zitats benannte, ist nicht weniger als gängige Praxis in der Gegenwartsmusik und beschreibt eine praktikable Bauanleitung zur Neuschreibung von Musik. Verliert die Kunst als Praxis im Zuge ihrer Verabsolutierung im fortschreitenden 19. Jahrhundert an Bedeutung und gewinnt als Theorie einen transzendent anmutenden Stellenwert, so kehrt sie als lebendige Praxis heute in die Welt zurück. So kommt Dynamik ins Spiel, wo im anderen Fall Statik und Dogmatik währt. Die »paternalistische Haltung, ausgehend zumeist von einem recht ungebrochenen Verständnis von Hochkultur, legt jede Dynamik lahm.«882 Mit dem Absehen vom Fortschrittsgedanken und dem handanlegenden Zugriff auf die Musik der Tradition wird auch ein kulturelles Erbe wiederbelebt, da rechte Umgangsformen mit Werken nicht mehr eingefordert, sondern neue erforscht werden. Eine kreativ-kommunikative Kompetenz sucht also den Anschluss an die Gegenwartskultur und erhält auf diese Weise auch das kulturelle Erbe. Die Informations- und Kommunikationstechnologien des 21. Jahrhunderts sind folglich für eine transhumanistische Bildung ein unverzichtbares Thema. Eine einst ritualisierte Kunstwerkkommunikation wandelt sich zu einer wertesetzenden Kreativ-Kommunikation.
Ästhetische Kompetenz. Ästhetische Erziehung/. Mit der Umstellung vom tiefen Sinn auf die Sinne und von Metaphysik auf Physis wird der Fokus im Rahmen einer transhumanistischen Bildung auf eine anders verstandene ästhetische Erziehung jenseits von Schiller & Co gelegt. Etymologisch gesehen, geht der Begriff »Ästhetik« auf das griechische aisthesis zurück, was u. a. mit wahrnehmen übersetzt wird. Ästhetik in diesem Wortlaut verstanden, rückt den Menschen und seine Sinne ins Blickfeld und grenzt sich ab von dem Ästhetik-Begriff von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der diesen Begriff mit den Produkten der Künste verbindet, die in 882 Ebd., S. 174.
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ihren gelungenen Proportionen sich »schön« darbieten. Wenngleich in Baumgartens Schrift »Aesthetica« (2 Bde.) schon von der »Erkenntniswissenschaft des Sinnlichen« die Rede ist, lenkt dessen Kopplung von »schön« und »wahr« das Interesse letztlich auf das Kunstwerk. Baumgartens die Ästhetik als Fachdisziplin begründende Überlegungen fanden regen Widerhall im Diskurs der Ästhetik als auch dem von Erziehung und Bildung und so u. a. auch bei Schiller.883 Ist von »ästhetischer Erziehung« im Bildungsdiskurs der Gegenwart die Rede, orientiert sich der Begriff der Ästhetik in der Regel an seinem griechischen Ursprung und nicht an der Kategorie des »Schönen«. Steht in dem einen Fall (Ästhetik/Aisthesis) der Mensch im Zentrum, der über seine subjektbezogene Wahrnehmung Anteil haben soll an seiner Umwelt, ist es in dem anderen Fall (Ästhetik/Lehre vom Schönen) das Kunstwerk, auch und gerade wenn es um den Menschen willen zur Auseinandersetzung herangezogen wird. Die (neu-)humanistische Bildung liefert ein treffliches Beispiel dafür, wie man emphatisch der Mensch beschwören kann und doch – der Lehre vom schönen Kunstwerk erlegen – allein die Kunst hofiert. Eine transhumanistische Bildung orientiert sich an der subjektbezogenen Wahrnehmung. Die Auseinandersetzung mit dem Resonanzraum Kultur in globalen Verhältnissen verfährt jenseits von Schule grundsätzlich handanlegend und findet im Bildungswesen ihr Spiegelbild. Abstand genommen wird dabei des Weiteren von zweifelhaften reformpädagogischen Konzepten der Vergangenheit, die oftmals bis in die Gegenwart hinein zur Esoterik, zum Irrationalismus und zu metaphysischen Gedankenexperimenten neigten. »New-Age-Motive finden sich inzwischen selbst in der Didaktik (Kösel 1993), und sie sind immer assoziiert mit Rückgriffen auf Positionen, die der Reformpädagogik zugeschrieben werden.«884 Auch fundamentalistisch ausgerichtete Konzepte, die die ästhetische Dimension für ein glaubensträchtiges Weltbild instrumentalisiert haben und eine »vormoderne Einheitslehre des Kosmos« lehren885, fördern nicht gerade eine kritische Durchdringung und führen nicht zur Selbstständigkeit, auch ermöglichen aus solcher Ideologie heraus entworfene »künstlerische Produktionen nicht Gestaltungsfreiräume, sondern drücken die Regression in Geborgenheit und Unmündigkeit aus.«886 Schließlich wird auch einer Tradition kritisch begegnet, für die stellvertretend für andere Hermann Lietz, Begründer der Landerziehungsheime, stehen mag, der befand, dass Großstädte an sich »dem 883 Vgl. S. 61–64. 884 Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Aktualität und Histoire. In: Böhm, Winfried/Oelkers, Jürgen (Hg.): Reformpädagogik kontrovers. Würzburg (Ergon) 1999, S. 34. 885 Ulrich, zit. n. Köhler, Regine: Ästhetische Erziehung zwischen Kulturkritik und Lebensform. Eine systematische Analyse der Motive ästhetischer Erziehungskonzeptionen. Weinheim/München (Dr. Kovac) 2002, S. 209f. 886 ebd., S. 210.
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pädagogischen Idealismus und so der Ausbildung des Guten im Kinde« widersprächen.887 Die Dorfgemeinschaft auf dem Lande mit ihren Grundwahrheiten allein gewähre eine »natürliche Erziehung«. Zusammenfassend ließe sich mit Annette Franke formulieren: »Die Kunsterziehung war ausgesprochen antiintellektuell und zivilisationsfeindlich«.888 Das »Zurück zur Natur« und eine Orientierung am Ursprünglichen trägt nicht bei zu einem kompetenten Bewegen in einer Technokultur. Eine relevante ästhetische Erziehung, für die eine transhumanistische Bildung sich interessiert, verhält sich nicht antithetisch der gegenwärtigen Kultur gegenüber, wie dies einst der Reformpädagogik der daraus sich speisenden ästhetischen Erziehung zu eigen war889, sondern sie versteht sich als Teil der Gegenwartskultur. Ästhetische Erziehung im Kontext des befürworteten Bildungsprogramms verweigert sich dem Reflex, das gesellschaftlich Neue weitgehend auszugrenzen und bewahrpädagogisch tätig zu werden, und bezieht folglich die Musik aus allen Lebensbereichen und alle Mittel ihrer Gestaltwerdung in ihre Überlegungen ein. Sie bezieht sich also nicht, wie die (neu-)humanistische Bildung, allein auf die sogenannte Kunstmusik, sondern bezieht alle Facetten musikalischer Äußerungen ein. Sie berücksichtigt auch die neue Medienwelt, die ein anderes ganzheitliches Erfassen evoziert und anerkennt die durch-ästhetisierte Lebenswelt ihrer Schüler, in der kompetent zu bewegen und mitzugestalten gelernt sein will. Sie klammert so das befremdlich Neue der Medienwelt nicht aus, sondern lässt sich konstruktiv davon faszinieren. So kann auch der »Pathologie ästhetischer Erziehung«890 begegnet werden, die im Besinnen auf vorgegebene Formen und deren Nachempfindung im Sinne einer Gemütserziehung und im apodiktischen Glauben um eigene glaubensträchtige Normen verhaftet dem Neuen eine Absage erteilt.
Mediale Kompetenz. Technokultur/. Ein Jenseits der Medien ist heute ausgeschlossen und diesen im Rahmen einer transhumanistischen Bildung aufgeschlossen gegenüberzutreten. Medien prägen Weltwahrnehmung und gestalten Wirklichkeit, wobei der vermittelte Inhalt sekundär ist. Die Medialität selbst ist es, die Veränderungen auf den Weg bringt. 887 Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim/München (Juventa) 2005, S. 109. 888 Franke, Annette: Aktuelle Konzeptionen der ästhetischen Erziehung. München (m press) 2007, S. 106. 889 Vgl. ebd. 890 Schultheis, zit. n. Köhler, Regine: Ästhetische Erziehung zwischen Kulturkritik und Lebensform, a. a. O., S. 209.
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Die Ausführungen im Vorfeld zur Entfaltung des Humanismus in der Renaissance durch den Buchdruck haben dies exemplarisch vorgeführt. Jedes Medium hat seine eigenen Effekte: Schreiben zeitigt andere Effekte als Drucken, und der Druck von Noten nebst deren klanglicher Realisation ist nicht gleichzusetzen mit der Speicherung desselben Klangereignisses auf analoge Speicher wie Schallplatte oder Tonband (Kassette). Dass das Medium die Botschaft ist, ist schließlich mit der Wandlung von Musik auf digitale Speicher beinahe ein Allgemeinplatz und für jeden ersichtlich: CD, Tauschbörsen, mp3Player, SmartPhone, Musik-TV, YouTube… Die Auswanderung der Musik in die Immaterialität des Netzes hat eine völlig neue Haltung zur Musik evoziert, eine neue Sammlerleidenschaft auf den Weg gebracht und auch Fragen zum Urheberrecht in den Raum gestellt. Eine Kulturvermittlung mit den Neuen Medien ist in summa nicht etwa zum Erliegen gekommen, sondern im Gegenteil explodiert, da die Zugänglichkeit zur Kultur ungeregelt qua persönlicher Klick-2-KlickSelektion erfolgt und nicht mehr von spezifischen Bildungsschichten oder monetären Geldzuweisungen geregelt ist. Von einem Rasenden Stillstand (Paul Virilio) sind Heranwachsende heute umfangen, der sie ankommen lässt, ohne abzureisen an ferne Orte. Die Musik ist immer schon da, und ihre Allgegenwart drängt sich als Thema im Bildungswesen förmlich auf. Das Bildungsprogramm unter der Flagge des Transhumanismus verzichtet auf den schnellen Reflex, Verlustrechnungen aufzumachen, die nicht bestritten werden. Wo immer sich Neues begibt, ist die Kulturkritik reflexartig vor Ort, die mit Aufzählen dessen, was vermeintlich oder tatsächlich verloren geht, sich den Blick auf die Chancen verstellt. Manche Klagen kehren dabei seit Jahrtausenden nur leicht variiert immer wieder : Klagen vom Sinn- und Werteverlust, von der Entsinnlichung, vom Realitätsverlust und der Vereinsamung begleiten die je für ihre Zeit gültigen neuen Medien, zumindest seit Sokrates in der Darstellung Platons die Schrift kritisierte; Platon leistete – zur Erinnerung – dies dankenswerter Weise im Medium des Kritisierten. Und befand Platon zu Recht, dass die Schrift das Gedächtnis schwäche, so ist heute das Aufzeigen digitaler Demenz ein Thema, mit dem Bewahrpädagogik neben anderen – durch die Zeiten hindurch immer gleichen repetierten – Gründen ein Abstandhalten zu den digitalen Medien erneut rechtfertigen mag.891 Jedes Medium impliziert Gewinne und Verluste. Und es ist eine Frage, ob man sich den Möglichkeiten des Neuen zuwendet oder ob man Klagelieder anstimmt, die in der Regel zum Leid der Klagenden dann doch nicht gehalten haben oder halten, was sie versprochen haben oder wieder mal versprechen. Auch mit eintretenden Verlusten (Gedächtnisschwäche) fand die kulturelle und übergreifend gesellschaftliche Evolution keinen Niedergang 891 Vgl. auch S. 32–34.
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noch ein schnelles Ende. Auch die Klage über den allgemeinen Werteverlust heute lässt den interessierten Blick zurück auf die Verhältnisse von früher lenken, als jene Werte unangefochten galten, und im Vergleich mit früher das Heute uneingeschränkt nur loben und lässt Zeitgenossen dankbar sein für die neuen wertunsicheren Verhältnisse, die trotz aller möglichen Kritik daran und gegebenen Krisenherde doch freundlicher, gar friedlicher erscheinen als die Zeiten, als Werte noch Werte waren. Von trivialer Zivilisations- und Technikfeindlichkeit, die schlussendlich zum naturhaften Sein allein sich wendet, hält sich eine transhumanistische Bildung fern. Sie interessiert sich für die Wirkungen der Neuen Medien, versucht diese reflexiv zu wenden, um dieselben aufzuzeigen. Sie versucht, Handlungskompetenzen zu vermitteln, orientiert sich an deren Gestaltungsmöglichkeiten, gerade um Orientierung in vernetzten digitalen (Musik-)Welten zu ermöglichen. Sie ist bemüht, Navigationshilfen aufzuzeigen und Selektionstechniken zu schulen. In keiner anderen Kunst haben die Neuen Medien so umfassend neue Umgangsformen und ein neues Wertebewusstsein in Szene gesetzt wie in der Musik. Die Neuen Medien sind daher gerade ein Thema für eine transhumanistische Bildung und für musikpädagogische Überlegungen: Um sich in der Welt von morgen bewegen zu können, sind die Medien von heute zu beherrschen. So ist das Lesen von Daten für ein Verstehen von Musik heute wichtiger als das von Noten.
RESET: Mit Blick zurück zum Neuanfang/. Zusammengefasst: Eine transhumanistische Bildung denkt prinzipiell vom Menschen aus und nicht vom ästhetischen Gegenstand mit unterstelltem Objektcharakter, ausgedrückt in Begriffen wie der Hochkultur, Einzigartigem, Zeitlosen oder »E«-Kultur … u. a.m. Wo die sogenannte Hochkultur so insgesamt wieder Bodenhaftung erfährt, steht auch der Mensch im Zentrum, der im umgekehrten Fall allzu leicht aus dem Blick verloren gehen kann. Vor der Hochkultur verneigt sich der Einzelne und verschwindet im Schatten derselben. Allzu mächtig drückt das Hoch den Einzelnen nieder. Von Selbstbildung in Auseinandersetzung mit Musik mag dann noch die Rede sein, doch wo die Hochkultur waltet, ist die zu bedienende Norm nicht weit, wie gezeigt wurde. Die Orientierung am Menschen begleitet dann noch die pädagogische Rede, während die Orientierung am Kunstwerk sich schon längst wieder Geltung verschafft hat. Damit wird Bildung zu einer bloßen Leerformel, wird »zur Schimäre
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und erscheint für die Herausforderungen gegenwärtigen Lebens – und damit gegenwärtigen Unterrichts – unbrauchbar.«892 Der schöne Klang von Worten hat verdeckt, dass unter dem Schleier der (neu-)humanistischen Bildung ein totalitäres Regime haust mit seinen Vorschriften, die befolgt werden sollen, will man Eintritt in das »Reich der Freiheit« erhalten, von dem Humboldt träumte. Dieses Reich ist von Regeln und Ritualen nur so umstellt. Die individuelle Selbstbildung schreibt sich regelkonform, ist als operante Konditionierung organisiert, ist erzwungen durch Schulung an Fuge, Sonatenhauptsatz u. a. und verbunden mit dem nebulösen Versprechen, frei zu sein, wenn man sich nur an die festgezurrten unveränderlichen Regeln hält. Das unterstellt Zeitlose folgt starren Mustern und kann davon nicht lassen, wäre Beweglichkeit dagegen zu verorten, würde das Zeitlose seiner Zeitlosigkeit nur verlustig gehen. Mit dem in einer transhumanistischen Bildung vollzogenen Wechsel der Perspektive aber vom kognitiv zu erschließenden Kunstobjekt zur Wahrnehmungsperspektive des Subjekts, das eine erkenntnisträchtige Konstruktionsarbeit vollbringt, ist der Weg zu einem Weltzugang beschritten, der in einer vernetzten Welt (global village) einer unüberschaubaren Vielfalt alle Musik beweglich hält und dem Fremden leichter begegnen lässt.893 Anstatt vom Kunstwerk auszugehen und immer schon zu wissen, was Wert hat (Denkmal, Monument), kann über eine ästhetische Erziehung, die sich fern hält von einer zweifelhaften »Zurück zur Natur«-Tradition, mit Stärkung des eigenen Wahrnehmungspotenzials es gelingen, Offenheit zu zeigen. Es ist der Übergang vom »Wissen« zum »Lernen lernen« beschritten, das Differenzen zu verbinden befähigt ist, ohne diese zu einer homogenen Einheit zu verschmelzen. Die transhumanistische Bildung stellt das Subjekt zentral, steht und setzt das Objekt in Bewegung, sucht Wege das Bekannte mit dem Unbekannten zu verflechten, sucht Wege dem Neuen sich zu öffnen durch Begegnung oder auch durch kreative Veränderung. Mit dieser Haltung mag zum kompetenten Bewegen in einer »Kontingenzkultur«894 aufgefordert sein, die zur »Unvorhersehbarkeit, Nichtlinearität und Nichttrivialität« neigt. Das Nichtvorhersehbare – mitunter das Chaos – wird nicht als das zurückweisende Angstmachende vorgestellt, sondern als Voraussetzung für nichtabsehbare Innovationen anerkannt 892 Schatt, Peter W.: Einführung in die Musikpädagogik. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 2007, S. 60. 893 Vgl. Schläbitz, Norbert: Interkulturelle Begegnungen oder : Vom konstruktiven Befremden. In: ders. (Hg.): Interkulturalität als Gegenstand der Musikpädagogik. Essen (Blaue Eule) 2007, S. 7–13. 894 Baecker, Dirk: Zur Kontingenz der Weltgesellschaft. In: Baecker, Dirk/Kettner, Matthias/ Rustemeyer, Dirk (Hg.): Über Kultur. Theorie und Praxis der Kultur. Bielefeld (transcript) 2008, S. 158ff.
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und folglich denkbaren Interventionen zugewendet, die Selbstbildungsprozesse vorantreiben können. Die unermüdliche »heuristische Konstruktion von Alternativen«895 führt dann vielleicht sogar ein in das Humboldt’sche »Reich der Freiheit« und trägt nun wahrlich zur Selbstbildung bei, wie sie Humboldt mit der Vorstellung eines lernenden Subjektes vorschwebte. Das Bildungsprogramm von Humboldt suchte im Grunde das auf den Weg zu bringen, was man heute das »Lernen lernen« nennt. Schon bei Humboldt findet man die beinahe wortgleiche Verwendung, als er im Königsberger Schulplan schreibt, dass neben dem Lernen selbst »der junge Mensch« mit »dem Lernen des Lernens beschäftigt«896 und er beschließend »nun für sich selbst zu lernen im Stande ist.«897 Mit anderen Worten ging es darum zu befähigen, Neues sich eigenständig aneignen zu können oder wie Humboldt wenige Zeilen zuvor schreibt »theils künftig nach Gefallen sammeln zu können«898, Bewährtes kritisch zu hinterfragen ggf. aufzuheben in einen veränderten Kontext oder beiseite zu stellen/zu überwinden in dem Bewusstsein, dass das einst Gewusste sich als nicht mehr tragfähig erweist. In ihrer Umsetzung verkehrte sie sich ins Gegenteil. Die (neu-)humanistische Bildung, auf die so oft bezogen wird, hat in der Praxis dem Humboldt’schen Ideal nie genügt. »Die Humboldtsche Universität sollte eine Einrichtung sein, an der die Professoren nicht mehr aus enzyklopädischen Lehrbüchern den Stoff einer Wissenschaft vorlasen, damit ihn die Studenten als gesichertes Wissen nach Hause tragen konnten. Vielmehr sollten die Studenten an der Entwicklung neuer Fragen und Erkenntnisse teilhaben, zunächst dem Lehrer zuhörend, dann im Fortgang des Studiums immer mehr durch eigenes Mittun bei der Entwicklung neuer Fragen. […] Nicht Nutzen und Anwendung von Wissen sollte das Resultat des Studiums sein, sondern die Befähigung, die richtigen Wege – eben das bedeutet das Wort Methoden – zum Ziel zu lernen.«899
Die (neu-)humanistische Bildung hat dagegen vielmehr den Hang zum kanonischen Wissen etabliert, was das kritische Hinterfragen und das Methodenbewusstsein, ausgedrückt im Lernen lernen, hintenanstellt. Insofern ist es zumindest sonderbar wenn nicht falsch, dass auf den Ideengeber Humboldt so unermüdlich bezogen wird, wenn man auf die Lehrkultur an der Universität der letzten 200 Jahre zurückblickt. Verbunden mit der Wortschöpfung der transhumanistischen Bildung, sind diese Überlegungen zur relevanten Selbstbildung, auch zum »Lernen lernen« im 895 Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung. Opladen (Westdeutscher Verlag) 2000, S. 109. 896 Humboldt, Wilhelm von: Der Königsberger und der Litauische Schulplan, a. a. O., S. 169f. 897 Ebd., S. 170. 898 Ebd. 899 Koch, Hans-Albert: Die Universität, a. a. O., S. 137f.
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Vorangegangenen getätigt worden, und nun mag sich zeigen, dass sich in ihnen über Humboldt hinaus viel mehr eine Rückkehr zur humanistischen Tradition der Renaissance abbildet, die sich konfrontiert sieht mit der Tradition der Scholastik. Die überkommene scholastische Denktradition ist dem neuen Medium Buchdruck mit seinen Möglichkeiten ablehnend gegenüber eingestellt und zieht gegen die durch Buch in Szene gesetzten »Irrlehren« und gegen die Gutenbergtechnik selbst zu Felde900, auch weil unliebsame Gedanken nicht mehr kontrolliert und eingedämmt werden können. Der Humanist der Renaissance ist sich dagegen der Qualität des Neuen Mediums Buchdruck sehr bewusst, sodass Erasmus von Rotterdam darin ein »beinahe göttliches Instrument« sieht und dieses nutzt zur Verbreitung neuer Ideen wie auch andere der neuen Denktradition Gewogene dieses Mittel zur Wissensvermittlung, -verbreitung und -konstitution nutzen.901 »Die Gedanken der humanistischen Gelehrten konnten sich nur deshalb so rasch in Europa verbreiten, weil um 1440 Johannes Gensfleisch, der sich später Gutenberg nannte, in Mainz den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden hatte. […] Er stellte den Lehr- und Forschungsbetrieb der Universitäten, ja das gesamte Bildungswesen auf eine völlig neue Grundlage: Man mußte nur des Lesens kundig sein, um sich das ganze Wissen aneignen zu können, das in der eigenen Muttersprache verfügbar war. […] Die beweglichen Lettern beschleunigten und verbreiterten die Vermittlung von Wissen und den Austausch von Ideen. Die Humanisten zogen als erste Nutzen daraus und bald nach ihnen die Reformatoren.«902
Der Humanist der Renaissance bedient sich des Neuen Mediums, anstatt pauschale Kritik – wie die scholastische Tradition – daran walten zu lassen. Während die überkommene Scholastik das einmal festgestellte Wissen in internen Zirkeln zu präzisieren und immer weiter festzustellen sucht, befindet der Humanist der Renaissance Wissen für grundsätzlich kritikwürdig und überstellt kanonisches Wissen der Kritik der Öffentlichkeit, das nicht nur seine Veränderung, sondern ganz munter seine Aufhebung erlebt. Wissen wird zum lebendigen Gebrauchsgut. Der öffentliche Dialog ist das Medium für den Humanisten zwecks der Auseinandersetzung mit Wissen. Und Wahrheit ergibt sich »aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Meinungen«, aber nicht aus logischer oder dialektischer Deduktion und Demonstration wie in der Scholastik üblich.903 Die Scholastik sieht sich mit ihrer Präferenz der Logik bzw. der Dialektik ewig900 Vgl. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1994. 901 Vgl. Münkler, Herfried/Münkler, Marina: Lexikon der Renaissance. München (Beck) 2005, S. 154. 902 Winkler, Heinrich August: Geschichte des Westens. Von den Anfängen der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München (Beck) 2009, S. 103f. 903 Münkler, Herfried/Münkler, Marina: Lexikon der Renaissance, a. a. O., S. 155.
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gültiger Wahrheiten verpflichtet und kritisiert den Dialog mit der Präferenz der Rhetorik, die die »Leidenschaft des Augenblicks« bedient. Der humanistisch geprägte Dialog wäre bloßes – also auf der Oberfläche bleibendes – »Gerede«.904 Gleichwohl führt dieses »Gerede« vor, dass »alles Seiende nur in seiner Zeit und an seinem Ort das ist, was es ist, und daß deswegen generalisierende Begriffe, die sich dieses Problems nicht bewußt sind, in die Irre führen.«905 Die an der Tradition festzuhalten bestrebte Scholastik kann auf Zeit noch bestehen neben der neuen Denkordnung, der Niedergang scholastischer Ontologie zuletzt ist aber beschlossen. Dem vagabundierenden Denken, dem »Gerede« des Humanismus dagegen gehören die Zukunft. Auch heute wird von Seiten mancher Traditionalisten mit (neu-)humanistischer Gesinnung nunmehr die Kritik der Neuen Medien gerne verfochten und die überlieferte Tradition mit ihren ontologisch vermuteten Grundwahrheiten durch Überführung in überzeitliche Sphären sakrosankt gesprochen. Man mag Erkanntes präzisieren, die grundsätzliche Revision ist nicht vorgesehen. Hermeneutisch gepflegte Argumentationskulturen führen zirkelartig vor, wo am Ende im Lichte sinnlich scheinender Ideen doch noch die verborgene Wahrheit lauert. Das längst einverleibte und naturalisierte Buch wird von den Traditionalisten heute den Neuen Medien gegenüber als Leitmedium verteidigt. Die Neuen Medien würden zum bloßen »Gerede« oder »Geschwätz« verleiten und in ihrer interaktiven – sprich dialogischen – Diskussionsstruktur und -kultur wären sie nicht ernst zu nehmen, fehlt doch oftmals der Gedankengängen wegweisende Experte, der den sachlich geprägten Punkt setzt. Nichts hat im Netz dagegen Dauer, alles ist Augenblick. Im Buch fügen sich Gedanken streng logisch zu Zeilen, während das weit verzweigte öffentliche Netz zur kritischen Auseinandersetzung und Pflege strenger Gedanken nicht tauglich scheint usf. – So hört man Traditionalisten von heute, die sich um das kulturelle Erbe sorgen, bisweilen reden und erkennt, dass die Scholastik von einst beinahe deckungsgleich argumentierte. Der (neu-)humanistisch geprägte Traditionalist mit festem Werteverständnis von heute fällt mit dem Scholastiker von gestern in eins, während der Vertreter einer transhumanistischen Bildung von heute den Humanisten der Renaissance von einst vorstellt, der die Welt zum ungewissen Aufbruch bewegte. Transhumanistische Bildung mag man das hier Entfaltete nennen in Abgrenzung zur in der Praxis verunglückten (neu-)humanistischen Bildung eines Humboldt, doch erscheint nur unter anderen Voraussetzungen und im anderen Gewande lediglich eine Renaissance des Humanismus, die Aufmerksamkeit verdient. Sicher : Diese Form des Humanismus neigt weniger zum Träumen, wie dies seit dem 19. Jahrhundert en vogue war. Auch nimmt 904 Ebd. 905 Ebd., S. 156.
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dieser Humanismus den Bildungsgegenständen den kunstreligiösen Schleier, von denen diese, fast bis zur Unkenntlichkeit ummantelt, wortreich und beinahe ex cathedra verfügt umfangen waren. Statt Heiligsprechung steht eine strikte Säkularisierung an. Es wird nicht wie bislang einseitig das Hohelied der musikalischen Vergangenheit zu singen sein, sondern aufmerksam gemacht auf die Probleme und gesellschaftlichen Verfehlungen, die im Namen einer sakrosankt gesprochenen Kunst legitimiert, mitunter erst auch befördert wurden.906 So wird umfassend von Herkunft auf Zukunft umgestellt und man findet darin wieder nicht nur das Humboldt’sche Programm, das durch die Zeit hindurch bis zur Unkenntlichkeit deformiert wurde, sondern auch Odo Marquards schönen Satz »Zukunft braucht Herkunft«, denn Zukunft ohne irgendeine Transformationsmasse ist kaum zu gestalten. »Zukunft braucht Herkunft« sowie die Umstellung von »Herkunft auf Zukunft« fallen beinahe in eins, wenn Marquard in einem erweiterten Kontext schreibt, dass der »Abschied vom Prinzipiellen« zu vollziehen sei, um »sich verstehend in Kontingenzen zurechtzufinden«. Worauf es ankäme, wäre ein Begrüßen der »Skepsis« und damit ein Begrüßen der »wirkliche[n] Freiheit, die im Plural: die Freiheiten. Zu ihnen kommt es durch die Buntheit des Vorgegebenen«.907 Es drückte sich darin eine Lebenskunst aus. Und es wäre das Ziel »dieser Lebenskunst: ›Lesen und lesen lassen‹! – darin, den absoluten Text […] zum ›relativen Text‹ – zum neutralen, literarischen, ästhetischen unter anderen relativen Texten zu zähmen durch Pluralisierung auch noch der Lesarten«.908 Nichts anderes will eine transhumanistische Bildung, die sich konkret realisiert in einem Integrierenden Musikunterricht, der nicht isoliert, sondern integriert die Vielfalt von Musiken, sich zuwendet unterschiedlichster Zugangs- und Umgangsweisen, sich dabei abgrenzt von Dogma und überkommener ideologischer Überfrachtung.909 Abgewendet von allen Transzendenzillusionen und tiefen metaphysischen Gründen ist den Dingen wie Undingen zuzuwenden, die da sind. Das Eigentliche ist sichtbar. Es waltet ein positiv verstandenes »Lob der Oberflächlichkeit«.910 Dieses »Lob der Oberflächlichkeit«, das Vil8m Flusser anders umreißt, wird hier allerdings verstanden als im Grunde eine Reformulierung von Wilhelm von Ockhams ›Rasiermesser‹, dass man die Anzahl der Entitäten/Begriffe ohne Notwendigkeit nicht vermehren sollte, was fiktive Erklärungsansätze ausfällt und sich mit dem begnügt, was gegeben ist. Es ist eine Lehre der begrifflichen 906 Vgl. S. 95–141. 907 Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. In: Zukunft braucht Herkunft. Stuttgart (Reclam) 2015, S. 26. 908 Ebd., S. 27. 909 Vgl. Schla¨ bitz, Norbert: Nicht isolieren. Integrieren! A. a. O., S. 19–36. 910 Flusser, Vil8m: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien. Düsseldorf (Bollmann) 1993.
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Logik, nicht der Ontologie, eine Lehre, die sich abwendet von tiefschürfenden Abstraktionen. Einfache Erklärungsmodelle sind komplizierteren vorzuziehen. Unbeweisbare Sätze sind zu vermeiden bzw. werden aus Erklärungsmodellen herausgestrichen, belegbare rücken ins Zentrum. Ein so verstandenes »Lob der Oberflächlichkeit«, das den Rasiermessergedanken von Wilhelm von Ockham (1285–1347) einbezieht, fällt Bildungsprozesse umrankende metaphysisch geprägte Heilsbotschaften, auf welche unergründliche Weise Kunst und Bildung Besserungseffekte beim jungen Menschen auf den Weg bringen sollen, von vornherein und wie von selbst aus. Beleuchtet werden die künstlerischen Dinge wie musikalischen Undinge vom Menschen aus. »Willst du dich deines Wertes freuen,/ so mußt der Welt du Wert verleihen«911, schrieb Goethe mit Betonung auf das Personalpronomen »Du« Schopenhauer in das ihm vorgelegte leere Stammbuch. Nicht mehr der blinde »Glaube« und Gehorsam werden eingefordert, die wahrnehmende »Skepsis« regiert. Es kommt Beweglichkeit ins Spiel, was die Statik von ehedem aufhebt, die Kontingenz belebt, die Lesarten beflügelt. Ob eine solche Wandlung zur transhumanistischen Bildung umfassend gelingt, ist abhängig von den nach wie vor merkbar sich einbringenden Diskursen, die das (neu-)humanistische Leitbild weiter einfordern und in multiplen Orientierungswelten einzig eine Gefahr sehen. Die Ideologie von einer linear geschalteten Welt mit vorgeblicher Orientierungsgarantie ist nach wie vor gut vernetzt. Was Hoffnung gibt, ist, dass die Resonanz auf solche Offerten allmählich schwächer wird. Spendete die gesellschaftliche Kommunikation zu anderen Zeiten allgemeinen Applaus und empfahl sich als gefälliger Resonanzkörper, so mischen sich längst andere Stimmen ein, die sich ebenfalls Gehör verschaffen. Boten diese einst einen lässlichen Missklang im Chor des kommunikativen Gleichklangs, so erweisen sich diese neuen und vielfältigen Stimmen längst als meinungsbildend. So mischt sich der Bildungschor, der um die schönen Künste mit ihren ach so trefflichen Eigenschaften sich rankt, seinen Einfluss geltend machend, weiter ein, doch werden die Ausschläge im Kommunikationsraum Gesellschaft schwächer. An Reanimierungsversuchen der (neu-)humanistischen Bildung fehlt es weiter nicht, auch wenn der Ton – trotz den angeschlagenen Pathos – zuweilen merkbar etwas schriller geworden und von einer wenig differenzierten Untergangsmetaphorik begleitet ist. Man kann fast sagen: Je bunter die Welt ist und je vielfältiger die Möglichkeiten sind, die sich Menschen zur Selbstverwirklichung und Selbstbildung bieten, umso grässlicher liest sich das Menetekel, das an die Wand gemalt wird. Es scheint gleichwohl, dass die untergründig verlaufenden diskursiven Praktiken es längst als ausgemacht sehen, dass das Versprechen von einer zweckfreien Bildung, 911 Sprichwörtlich, zit. n. Dobel, Richard (Hg.): Lexikon der Goethe-Zitate. München (dtv) 1995, S. 1046.
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orientiert an den Künsten, einfach nicht stimmt, sondern dass darin sich ein hässliches Märchen, vielleicht gar eine Bildungslüge versteckt. Die (neu-)humanistische Bildung ist fundamental gescheitert, trägt auch ihren Teil der Verantwortung für manche unmenschliche Verhältnisse, wie sie mal waren. Ihrer Verantwortung gestellt hat sich der Bildungshumanismus / la Humboldt in dem den selbstgewissen Monolog pflegenden wie Scheuklappen tragenden »Weiter so« allerdings nie. Die Vergangenheit kann ein trauriges Lied davon singen. Das Bildungsmärchen vom besseren Menschen durch Kunst ist ausgeträumt. Es tönt so unhörbar und doch laut von allen Seiten: Der Kaiser ist ja nackt. Und das gibt Hoffnung! Hoffnung für einen mehr dem Menschen gewogenen Bildungsgedanken, der sich auch transhumanistisch schreibt. Wo man den Traum von den schönen Künsten mit ihren angeblich so segensreichen Folgen endlich verabschiedet hat, mag auch das am unsichtbaren Bande mitgeführte Trauma seinen Abschied nehmen. Den Künsten und vor allem den Menschen kann dies nur recht sein. Mit diesem Abschiednehmen ist der Aufbruch gewiss, auch wenn man um das Ziel nun nicht mehr wissen kann. Aber dass ein Aufbruch ins Ungewisse seine ungeheuren Qualitäten hat, davon kann man spätestens seit Kafka eine gewisse Ahnung haben und – musikalisch gesprochen – ein Lied singen. Die Zukunft steht weit offen – im Scheitern wie im Gelingen. Mag sein, dass auch hier eines Tages eine Geschichte sich herausschält, die zum Märchenhaften neigt. Das alles mag sein. Doch etwas Besseres als das Bildungsmärchen mit seinen dunklen Schattenseiten findet (darin) sich allemal.
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Personenregister
Abbado, Claudio 280f. Abels, Birgit 300 Adam, Christia 98, 105, 254, 352 Adler, Guido 232f., 243, 251, 262 Adorno, Theodor W. 11f., 44f., 120, 134f., 138–140, 143–148, 152, 161f., 164, 172, 189, 206f., 218, 247f., 256, 268–271, 275f., 284–286, 314, 322–324, 353, 355f. Ahlers, Michael 378 Aischylos 166f., 169, 175, 184, 186–188, 193 Alagna, Roberto 281 Albers, Josef 149 Alberti, Leon Battista 361 Alt, Michael 9, 31, 47f., 60, 70f., 74, 89, 107f., 111, 137, 232, 294, 298, 304, 352– 355 Altenberg, Peter 103 Amman, Stefan 28 Andersch, Alfred 122 Anderson, Poul 180 Aringer, Klaus 300 Aristoteles 53, 57–60, 69f., 73, 84, 138 Armstrong, Karen 136 Arnim, Bettina von 231, 234, 259f. Arnold, Mathew 22, 82f., 179f., 234–236, 272, 323 Assmann, Aleida 377 Assmann, Jan 167 Aster, Misha 119 Augustin, George 115 Aust, Stefan 116, 120
Aust, Thomas 28 Axelrod, John 321, 328–330 Bach, Carl Philipp Emanuel 300, 314 Bach, Johann Sebastian 12, 19, 57, 135, 154, 162f., 177, 180, 215, 232, 238, 241, 248, 250, 256, 279, 283, 300, 302, 324f., 357, 365, 371 Baecker, Dirk 385 Baraldi, C. 252 Barenboim, Daniel 280, 316, 335 Baricco, Alessandro 246, 251, 327f. Barlow, Klarenz 16, 173, 181 Barth, Dorothee 375 Bäßler, Hans 371 Bauch, Kurt 110, 116 Baumgarten, Alexander Gottlieb 380f. Bayreuther, Rainer 300 Beck, Ulrich 34, 109, 141, 156, 188, 216f., 220, 306, 314, 339, 360f., 375, 387 Beethoven, Ludwig van 19, 31, 53, 85, 95, 109, 111, 137, 144, 150, 153, 162–164, 168–173, 175, 177–180, 183, 216, 231, 233–236, 256f., 259–264, 274, 281–283, 296, 299, 325, 331, 343, 346, 349, 365, 379 Berg, Alban 103, 110f., 339 Bertone, Sophie 312, 315 Beuerle, Hans Michael 335 Bialas, Wolfgang 120 Bickenbach, Matthias 51 Binder, Franz 249 Bismarck, Otto von 105, 132
412 Black, Roy 365 Blankertz, Herwig 80 Blanning, Tim 248, 261 Blöcker, Günter 147, 325 Blood, Sweat & Tears 186, 253 Bluhm, Roland 43, 188f. Blume, Friedrich 71, 231, 237 Blumenbach, Johann Friedrich 65 Böhm, Karl 119 Böhm, Winfried 381 Böhme, Klaus 109 Bohrer, Karl-Heinz 45 Bolz, Norbert 125, 303, 321, 371 Borges, Jorge Luis 209, 220, 305 Böttinger, Bettina 337 Botton, Alain de 82, 84f. Boulez, Pierre 102 Bourdieu, Pierre 92f. Brahms, Johannes 101, 280 Brandl, Rudolf M. 348 Brandt, Reinhard 88, 91, 100 Brehm-Klotz, Christiane 45 Brendel, Alfred 279f. Brinkmann, Reinhold 202, 330, 333 Brinkmann, Vinzenz 71 Britten, Benjamin 335 Brosses, Charles des 331 Bruckmann, Hugo 133 Bruckner, Anton 101, 238, 272, 280 Bruhn, Herbert 155 Brus, Günter 190 Brusatti, Otto 348 Bubmann, Peter 160 Bücken, Ernst 236f. Burckhardt, Jacob 73 Burger, Rudolf 220f. Burke, Peter 36, 49, 360 Busch, Günter 35 Busch, Sabine 120 Caeyers, Jan 216, 261, 263 Cage, John 85, 177f., 190f. Caldara, Antonio 249, 314 Calella, Michele 156, 312 Callas, Maria 183, 379 Caruso, Enrico 284
Personenregister
Cassirer, Ernst 110 Cebri#n, Jean Luis 317 Charles, Ray 282, 331 Chatfield, Tom 38, 317 Chobot, Manfred 101 Conermann, Stephan 310 Conze, Eckart 127 Corelli, Arcangelo 249 Corsi, G. 252 Costazza, Alessandro 257 Cramer, Friedrich 184 Curtius, Ernst Robert 14–16, 20, 351f. Dahlhaus, Carl 53, 195, 198–202, 204, 209f., 215, 217, 220, 222, 252f., 258f., 317, 322 Dahrendorf, Ralf 136 Dammler, Axel 28 Danto, Arthur C. 189, 191 Darwin, Charles 227 Daube, Otto 262 Davies jr., Sammy Davies 282 Davis, Colin 282 de la Motte, Diether 168, 257 de la Motte-Haber, Helga 199, 203 Debussy, Claude 240 Dehaene, Stanislas 39 Dehmel, Richard 262 Dekkers, Midas 291, 301 Demand, Christian 44f. Derrida, Jacques 345, 366 Descartes, Ren8 226 Desprez, Josquin 347 Diamond, Neil 282 Diderot, Denis 38 DJ Bobo 365 Dobel, Richard 390 Döblin, Alfred 111 Doesburg, Theo van 148 Driessen, Barbara 33 Duchamp, Marcel 165, 167, 190f. Dufay, Guillaume 163 Dutilleux, Henri 102 Dvorˇ#k, Anton&n 283 Dylan, Bob 312
Personenregister
Eagles 183, 379 Eggebrecht, Hans Heinrich 53f., 149f., 258, 307f. Egk, Werner 56 Ehrenforth, Karl Heinrich 220 Ehrlich, Paul 109 Eich, Hans 239, 260 Eichmann, Adolf 130 Eisler, Hanns 163 El Greco 191 Elias, Norbert 261 Elser, Georg 129 Endres, Peter M. 279f. Enzensberger, Hans Magnus 25, 27, 31f., 50, 376 Erasmus von Rotterdam 38, 387 Erpf, Hermann 324 Esposito, Elena 252 Eucken, Rudolf 108f. Eybler, Josef 294 Faulstich, Werner 55 Feil, Arnold 22 Fellmann, Walter 43 Fest, Joachim 21, 37, 116, 250, 280 Finscher, Ludwig 210f., 215, 300, 311, 315, 340 Fischer, Edwin 245 Fischer, Ernst Peter 14 Fladt, Hartmut 143–146, 186f., 195 Flechtner, Hans Joachim 176 Floros, Constantin 111, 164f. Flusser, Vil8m 319, 389 Foucault, Michel 345, 376 Fra Angelico 191 Frank, Hans 28, 120, 382 Franke, Annette 382 Freese, Rudolf 67, 78 Frege, Gottlob 120 Frei, Norbert 127, 210 Freud, Sigmund 73, 103, 113, 137, 168, 182, 184, 227 Freund, J. Hellmut 18, 35, 67, 96, 102f., 116, 263, 334 Freystädtler, Franz Jacob 294 Fried, Johannes 114, 361
413 Friedrich, Caspar David 57, 63–65, 90, 114, 147, 149, 184, 226f., 230, 237, 248, 259, 261, 310, 351 Friedrich der Große 77 Friedrich Wilhelm III. 78, 97 Fritze, Lothar 129f. Früchtl, Josef 167 Frühwald, Wolfgang 77 Fubini, Enrico 250, 258 Fuchs, Max 116 Fuchs, Peter 102f., 120, 148, 151, 153f., 156, 231, 243, 278 Fuhrmann, Manfred 79–81, 136 Fuhrmann, Wolfgang 312, 315 Furtwängler, Wilhelm 95, 119, 270f., 283 Galilei 138 Gall, Lothar 78, 97f. Gamboni, Dario 191 Gangl, Manfred 120 Gauger, Jörg-Dieter 291, 353f. Gay, Peter 95, 104, 261, 266 Geck, Martin 163f., 201–203, 294, 299 Gehlen, Arnold 120 Gehlen, Dirk von 48 Geier, Manfred 65, 87, 97f. Gembris, Heiner 155 Gensfleisch, Johannes 387 Gentle Giant 252 Gesaffelstein 274 Gheorghiu, Angela 281 Giant Sand 274 Giesecke, Michael 387 Glasersfeld, Ernst von 125, 128, 131 Glass, Philip 297 Goebbels, Joseph 95, 118f., 122 Goer, Charis 9 Goethe, Johann Wolfgang von 43, 50, 53, 61, 69, 73, 85, 109, 114, 135–137, 199, 217, 368f., 371, 390 Goodman, Benny 282 Götsch, Georg 353 Gott, Karel 27, 36, 62, 107, 112f., 143, 157, 160f., 192, 200f., 226f., 230, 234, 237, 243, 245, 254, 256, 258, 260, 262, 266, 277, 282
414 Gounod, Charles 336 Grant, M.J. 312, 315 Grass, Günter 182 Greenblatt, Stephen 360f. Greif, Stefan 9 Griffiths, Paul 103 Grillparzer, Franz 261f. Gruhn, Wilfried 294, 353 Grünbein, Durs 369 Gründgens, Gustav 119 Gülke, Peter 180, 240–243, 245, 299, 319f. Gumbrecht, Hans-Ulrich 167, 218, 306 Habermas, Jürgen 36, 129, 368f. Habermas, Rebekka 312 Haitink, Bernard 280, 282 Händel, Georg Friedrich 12, 232, 248– 250, 281, 324, 331, 336 Hannon, Erin E. 155 Hanslick, Eduard 101, 150, 153f., 230 Harnoncourt, Nikolaus 244f. Hartmann, Viktor 101, 147 Haselbach, Dieter 327f. Hauptmann, Gerhart 109, 111 Haydn, Joseph 53, 55–57, 163, 177, 186, 253, 256, 263, 303, 325 Hayes, Peter 127 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 61, 114, 246, 251, 255, 259 Heidbrink, Ludger 305, 314 Heidegger, Martin 120f. Heinemann, Michael 248 Heinrichs, Hans-Jürgen 20, 374 Heister, Hanns-Werner 56, 121 Held, Heinz-Georg 17, 19, 260 Hendricks, Wilfried 42 Hennerkes, Brun-Hagen 115 Hentig, Hartmut von 69, 74 Henze, Hans Werner 101 Hess, Rudolf 122 Heydrich, Reinhard 123 Heymann, Klaus 282 Heymel, Michael 143 Hiekel, Jörn Peter 317 Higgs, John 165 Hildesheimer, Wolfgang 249
Personenregister
Himmler, Heinrich 122, 131 Hinrichsen, Hans-Joachim 296, 310 Hirschfeld, Gerhard 115f. Hitler, Adolf 56, 116, 118–121, 123, 129, 132–134 Hoffmann, E.T.A. 147, 230f., 236, 238, 249, 257, 331 Hölderlin 133 Holert, Tom 9 Holtmeier, Ludwig 25, 285, 299 Hooker, John Lee 252 Hope, Daniel 325 Horaz 84, 122 Hörisch, Jochen 159, 367 Horkheimer, Max 269f., 276, 284f. Hornby, Nick 305 Hösle, Vittorio 120 Howard, Robert E. 180 Humboldt, Wilhelm von 20, 65–69, 73– 75, 77–82, 86–94, 97–100, 106, 110, 122f., 133, 137f., 140, 166, 228, 356f., 360, 385–389, 391 Humperdinck, Engelbert 109 Hüther, Gerald 279f. Hüther, Jürgen 45f., 55 Hutter, Axel 9 Ingarden, Roman 213 Ingrao, Christian 123 Jacke, Christoph 9 Jacob von Grimmelshausen 369 Jacoby, Richard 371 Jansons, Mariss 282 Janz, Tobias 64, 311 Jarvis, Jeff 38 Jethro Tull 252 Jost, Ekkehard 186, 198 Jung, Carl Gustav 143 Jung, Hermann 291 Jung, Werner 64 Jungmann, Irmgard 87, 90f. Jürgens, Udo 365 Kaden, Christian 144, 156, 263–265, 374 Kafka, Franz 196, 219, 360, 391
415
Personenregister
Kagel, Mauricio 339 Kaiser, Henriette 135, 182, 198, 204 Kaiser, Joachim 135, 182, 198, 204 Kampe, Friedrich 351 Kamper, Dietmar 148, 157 Kant, Immanuel 36, 43, 62, 65, 98, 102, 109, 111, 124, 126–128, 130, 137f., 166, 242, 357, 367 Karajan, Herbert von 119, 283 Karbusicky, Vladimir 195, 205, 216 Kartheininger, Markus 9 Kater, Michael H. 118f. Kaulbach, Wilhelm von 147 Keen, Andrew 28 Keil, Werner 292f., 296f. Keiser, Reinhard 249 Kern, Andrea 196, 276, 342 Kesselring, Thomas 89f. Kestenberg, Leo 271 Kettner, Matthias 385 Kirchmeyer, Helmut 209 Kittler, Friedrich 300 Klaper, Michael 300 Klein, Armin 327f. Klein, Richard 25, 229, 285, 299, 312, 314 Klinger, Max 262 Kloepfer, Inge 332 Klüppelholz, Werner 339 Knaus, Kodula 327, 348 Knüsel, Pius 327f. Koch, Hans-Albrecht 77, 89, 386 Kocka, Jürgen 77, 91 Köhler, Regine 381f. Kolleritsch, Otto 178 Konrad, Ulrich 14f., 28, 74, 106, 230f., 255, 310 Kontarsky, Alois 209f. Kopiez, Reinhard 155 Kratz, Leonore 51, 300 Krautscheid, Christiane 348 Krautz, Jochen 117 Krenek, Ernst 271f., 276 Krüger, Mike 282 Krumeich, Gerd 115f. Krummacher, Friedrich 310 Kühner, Hans 226
Küng, Hans 226 Kusek, David 341 Lachenmann, Helmut 296 Lang, Robert 120, 378 Lau, Joerg 129f. Laudin, G8rard 257 Lebrecht, Norman 280–284 Leeds, Wilhelm Henry 71 Leh, Almut 119, 387 Lehmann, Andreas C. 155, 317 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38 Leidinger, Hannes 104 Lemke-Matwey, Christine 282, 337 Leonardo da Vinci 188, 249, 303 Leonhard, Gerd 341 Lepenies, Wolf 132, 134–136 Lichtenfeld, Monika 212 Liebau, Eckart 160 Liebermann, Max 109 Liess, Andreas 180, 235 Liessmann, Konrad Paul 74 Ligeti, György 101, 172, 211f. Lilla, Mark 121 Liszt, Franz 143f., 261 Llosa, Mario Vargas 273f., 276 Lobo, Sascha 38, 46 Lockwood, Lewis 343 Lovecraft, H.P. 180 Luft, Friedrich 101, 147 Luhmann, Niklas 21, 106, 112, 177, 191, 193, 199, 202, 218, 228, 231, 241, 266, 301, 304, 318–320, 342, 345–347, 357f., 366, 369, 371, 386 Luther, Martin 248f. Lütteken, Laurenz 14, 242, 291, 296, 299, 310, 319, 340 Maaser, Michael 62, 77, 81 MacIntyre, Alasdair 127f., 131 Madonna 183, 365, 379 Mahler, Alma 107 Mahler, Gustav 111, 279f., 283, 296, 362 Mahnkopf, Claus-Steffen 25, 285–288, 291, 293, 299, 308f., 311, 321, 327 Malewitsch, Kasimir 165f., 190
416 Mallinchrodt, Rebekka von 312 Mandelbaum, Maurice 189 Mann, Klaus 118f. Mann, Thomas 12, 14–16, 20, 112–116, 118, 125, 276f. Mann, Thomas 10, 12, 14, 16, 20, 112– 116, 117f., 125 Marcuse, Herbert 114 Marquardt, Odo 319 Martin, Kai 164, 201, 294, 353, 357 Martin Weber 42 Martinus, Bohuslav 163 Martus, Steffen 72 Martynkewicz, Wolfgang 111f., 132–134 Marx, Adolph Bernhard 199, 230, 232, 243, 251 Maschke, Eva M. 300 Maset, Pierangelo 25–28, 274–276 Mattheson, Johann 249 Matuschek, Stefan 90 Maus, Heiko 348 Maye, Harun 51 McLuhan, Marshall 51, 215, 218 Meier, Albert 257 Meinecke, Friedrich 136 Meischein, Burkhard 235, 311 Meister Eckart 369 Melograni, Piero 294 Menasse, Robert 372 Mendelssohn Bartholdy, Felix 300f. Miehling, Klaus 300 Mill, John Stuart 82 Milzner, Georg 26 Mischung, Peter 118, 299, 322 Moldenhauer, Hans 111, 114 Moldenhauer, Rosaleen 111, 114 Mölich-Zebhauser, Andreas 282 Mommsen, Theodor 220 Mommsen, Wilhelm 132 Moorcock, Michael 180 Morbach, Bernhard 154 Moser, Heinz 55, 225, 239 Mozart, Wolfgang Amadeus 57, 160, 162f., 167f., 171, 173, 177, 186, 204, 236, 249, 252f., 256, 261, 294f., 322, 362, 365 Mueller, John H. 266
Personenregister
Muffat, Georg 249 Münkler, Herfried 387 Münkler, Marina 387 Mussorgsky, Modest 151 Muti, Riccardo 280 Nagano, Kent 332 Napoleon 77, 225 Nebtrebko, Anna 281 Neighbour, Oliver 103 Neitzel, Sönke 131 Neuhoff, Hans 312, 315f., 342, 365 Ney, Elly 119 Nida-Rümelin, Julian 9f., 14, 20, 89, 92, 107f., 111, 120, 339, 368 Niedhart, Didi 319 Nietzsche, Friedrich 226f., 237, 293 Nipperdey, Thomas 220 Noltze, Holger 28, 34, 159–162, 166, 168, 184f., 187, 283, 288, 301f., 316, 365 Nono, Luigi 101, 323 Norström, Vitalis 108 Novalis 243 Oberschmidt, Jürgen 351 Oelkers, Jürgen 381f. Opitz, Stephan 327f. Orff, Carl 56, 101, 119 Ortkemper, Hubert 331 Osterhammel, Jürgen 34, 37, 104, 220, 226 Ott, Karl-Heinz 249, 333 Pärt, Arvo 146, 153, 161, 164, 169f., 297 Passavant, John 99 Passig, Kathrin 38, 46 Pavarotti, Luciano 284 Perle, George 103 Petersen, Peter 203, 229 Peymann, Claus 10, 14–16, 20 Pfeiffer, Karl Ludwig 218 Pfitzner, Hans 56, 115, 119f. Pinos, Alois 178 Piper, Ernst 95, 102, 108–110, 113, 138, 177, 205, 226, 258, 332 Pius VI. 226
417
Personenregister
Plato, Alexander von 119 Platon 11, 32–35, 37, 46f., 57–59, 69 f., 73, 75, 84, 122, 229, 276, 301, 383 Platzgumer, Hans 319 Podehl, Bernd 45f., 55 Police 167 Pollock, Jackson 148 Pousseur, Henri 172 Poussin, Nicolas 188f. Priebke, Erich 131 Puccini, Giacomo 296 Quarg, Gunter 300 Quasthoff, Thomas 337 Queen 252 Raab, Klaus 26, 338 Radiohead 297 Rammstein 53, 55f. Ratcliffe, Philip 263 Rathert, Wolfgang 285 Rattle, Simon 280f. Ratz, Erwin 199 Ravn, Ib 303 Rebenich, Stefan 80f., 92, 122f., 132, 301 Reger, Max 300 Reich-Ranicki, Marcel 368f. Reinhardt, Max 109 Reinhardt, Volker 132 Reiter, Markus 28, 37 Rembrandt van Rijn 188 Renner, Tim 10 Rettinghaus, Klaus 300 Ricardo, David 104 Richardson, Lewis Fry 303 Richter, Klaus Peter 172 Richter, Thomas 177 Riemann, Hugo 199–201, 216, 256 Riemer, Franz 351 Riess, Curt 118 Riethmüller, Albrecht 95, 118, 149, 211, 308f., 315 Rihanna 297 Rihm, Wolfgang 202, 330, 333 Rinderle, Peter 53–57, 75 Rittelmeyer, Christian 99
Ritter, Henning 74 Rizy, Helmut 101 Robertson, Roland 375 Röhm, Ernst 120, 122 Rolling Stones 297 Röntgen, Wilhelm 109 Rosenkranz, Karl 12, 332 Rösing, Helmut 203, 229 Ross, Alex 102, 299 Rossini, Gioachino 296 Rosteck, Jens 101 Rothko, Mark 148f., 189 Rousseau, Jean-Jacques 40 Rublack, Ulinka 36, 107 Rühmann, Heinz 119 Rustemeyer, Dirk 385 Rüther, Günther 119, 352 Safranski, Rüdiger 41 Salutati, Coluccio 361 Sarkowicz, Hans 56 Satie, Erik 163f., 337 Scarlatti, Domenico 249 Schatt, Peter W. 11, 15, 88, 114, 116, 120, 123, 150, 189, 248, 275, 305, 307, 323, 359, 384f. Schätzing, Frank 369 Scheel, Kurt 45 Schellenberg, E. Glenn 155 Schering, Arnold 179–181, 234–236, 243 Schiller, Friedrich 53, 61–65, 73f., 82, 90, 92, 137f., 168, 234f., 380f. Schirach, Baldur von 122f. Schirach, Richard von 123 Schirrmacher, Frank 28, 47 Schläbitz, Norbert 52, 196, 213, 351, 375, 378, 385 Schlaffer, Heinz 34f., 41–43 Schlegel, Friedrich 61, 231, 239 Schleiermacher, Steffen 57, 171, 207–210 Schleuning, Peter 256, 331f. Schlünz, Annette 163 Schlüter, Andreas 77, 91 Schlüter, Bettina 310 Schmalzriedt, Egidius 122 Schmatz, Ferdinand 151
418 Schmidt, Hans-Christian 186, 253, 279 Schmidt, Hugo Wolfram 209 Schmidt, Siegfried J. 42 Schmidt-Salomon, Michael 200 Schmitt, Carl 120f. Schmücker, Reinold 188f. Schnurre, Wolfdietrich 239 Schönberg, Arnold 56, 103, 107f., 110f., 195, 272, 276, 285–287, 323f. Schonberg, Harold C. 249 Schöning, Kateryna 300 Schorb, Bernd 45 Schorr, Eberhard 371 Schostakowitsch, Dimitri 313 Schubert, Franz 263, 334, 348 Schultheis 382 Schulze, Gerhard 329 Schumann, Robert 244, 260, 294, 299, 334 Schütz, Heinrich 316, 347 Schwindt-Gross, Nicole 246, 311 Sekulic´, Ljerkra 239 Serres, Michel 33 Settis, Salvatore 71 Sheeran, Ed 56, 297 Sibelius, Jean 280 Sieg, Ulrich 77, 81, 108–111 Skouteris, Robin 183, 379 Sˇkreb, Zdenko 239 Sloterdijk, Peter 20, 49, 85, 129, 242, 338 Smith, Adam 98f., 104f. Snow, Charles Percy 89 Solti, Sir George 336 Somavilla, Ilse 351 Sombart, Werner 95, 113 Sonderegger, Ruth 196 Spahn, Claus 282, 337 Spierling, Volker 138 Spiritualized 274 Spitzer, Manfred 28, 34, 39–41, 44 Spörl, Gerhard 116, 120 Stern, Fritz 131, 220, 256, 334 Stevens, Cat 56, 252 Stieler, J. 262 Stockhausen, Karlheinz 190, 209 Strauss, Richard 118–120, 299 Strawinsky, Igor 205
Personenregister
Strohschneider, Peter 77, 91 Stuckenschmidt, Hans Heinz 147, 325 Supertramp 291 Süßmayr, Franz Xaver 294 Tacitus 122 Tappolet, Willy 213 Telemann, Georg Philipp 12, 163, 248f., 302, 325 Telesko, Werner 377 Tenner, Haide 107 Tenorth, Heinz-Elmar 79, 87, 91f. Terkessidis, Mark 9, 378 Tewinkel, Christiane 333 The Beatles 186, 282 Thukydides 122 Tieck, Ludwig 147, 230f., 257, 259f. Tolkien, J.R.R. 180 Toscanini, Arturo 283 Tuchman, Barbara 35, 240 Turing, Alan 215 Urbanek, Nikolaus
156, 312
Valente, Caterina 282 Verdi, Giuseppe 279f., 336 Villazjn, Rolando 281, 336 Vitruv 361 Voland, Eckhart 141 Volbach, Fritz 53, 233, 243 Vondung, Klaus 90 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 147, 230f., 246, 257, 259 Wagner, Richard 56, 118, 170, 177, 260, 264f., 299 Wallerstein, Immanuel 104 Walsh, Michael 177, 284, 336, 349, 362 Walter, Bruno 258 Walter, Meinrad 146 Walther, Gerrit 62, 77, 81 Watzlawick, Paul 205 Weather Report 186, 253 Weber, Max 226 Weber, Stefan 50 Webern, Anton von 103, 111, 209, 339
419
Personenregister
Weill, Kurt 163 Wellmer, Albrecht 196, 201 Welsch, Wolfgang 213, 343 Welzer, Harald 131, 305, 314 Wet Wet Wet 282 Wiener, Norbert 103, 176, 190, 211, 225, 232f., 250, 252, 263 Wildt, Bert te 28 Wildt, Michael 122 Wilhelm von Ockham 389f. Willemsen, Roger 369 Wilske, Hermann 291, 353f. Winckelmann, Johann Joachim 11, 16, 60f., 63, 70–72, 133, 167, 185, 187, 233 Winkler, Heinrich August 43, 109, 115, 387 Wiora, Walter 237–240, 243, 250, 272 Wißmann, Friederike 261, 322 Wittgenstein, Ludwig 18, 272f., 351
Wokart, Norbert 126 Wolf, Friedrich August 67, 78, 132, 134f., 255 Wolfgang von Eschenbach 369 Wörner, Karl H. 246 Wüllenweber, Walter 334 Yes
252
Zedler, Andrea 348 Zehnpfennig, B. 120 Ziegler, Reinald 300 Ziff, Paul 50, 188f. Zimmermann, Hans Werner 286 Zimmermann, Jörg 167 Zimmermann, Moshe 127 Zimmermann, Thomas F. 42 Zirfas, Jörg 160 Zˇmegacˇ, Viktor 239