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German Pages [341] Year 2021
Franziskus von Heereman
Der Eine für den Anderen Historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Liebe als Güte und Person als Bild
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495823811
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B
Franziskus von Heereman Der Eine für den Anderen
ALBER PHILOSOPHIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
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Franziskus von Heereman
Der Eine für den Anderen Historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Liebe als Güte und Person als Bild
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Franziskus von Heereman One for the Other A historical-systematic investigation of the relationship between love as goodness and person as image Love and image are two fundamental concepts of anthropology. Their mutual relationship – one that is fraught with tension – is seldom discussed, let alone systematically examined. On the one hand, the person understood as image receives their value as ›one to be loved without conditions‹ from the absolute that they show; love is in danger of aiming not at the image itself but at what is shown in it. But then, the principle that is supposed to guarantee the finite person’s infinite self-purposity is precisely the one that endangers it. In order to refute this, the author elaborates the idea that the essence of what is shown in the picture might be such that it can appear only within the independent selfhood of the picture. In the course of this exploration, the relationship between image and love will be examined with Plato, Thomas Aquinas, Fichte, Feuerbach and Levinas, and a new systematic synthesis will be developed.
The Author: Franziskus von Heereman, born in 1976, studied philosophy, fundamental theology and literature in Munich. His doctoral thesis of 2009 focused on German Idealist J. G. Fichte. In 2016 he completed his habilitation at the Munich School of Philosophy. Since 2016 Franziskus von Heereman holds the endowed chair of Philosophy of SocialCaritative Action at the Philosophical-Theological University of Vallendar.
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Franziskus von Heereman Der Eine für den Anderen Historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Liebe als Güte und Person als Bild Liebe und Bild sind zentrale anthropologische Bestimmungen, die in einem spannungsvollen und bisher kaum thematisierten, geschweige denn systematisch untersuchten Verhältnis stehen. Einerseits entnimmt die als Bild konzipierte Person ihren unbedingten Liebeswert dem Absoluten, das sie zeigt, andererseits steht dann die Liebe zu ihr in Gefahr, nicht auf das Bild, sondern auf das in ihm Gezeigte zu zielen. Dann aber wäre genau das Theorem, das der endlichen Person ihre unendliche Selbstzwecklichkeit sichern soll, deren Sargnagel. Es sei denn das Wesen des im Bild Gezeigten wäre von der Art, dass es sich gerade und einzig im Selbstsein des Bildes zeigte. Die vorliegende Arbeit untersucht das Verhältnis von Bild- und Liebesdenken bei Platon, Thomas von Aquin, Fichte, Feuerbach sowie Levinas und versucht eine eigene systematische Synthese.
Der Autor: Franziskus von Heereman, geboren 1976, studierte Philosophie, Fundamentaltheologie und Literaturwissenschaft in philosophischer Perspektive in München. 2009 promovierte er mit einer Arbeit über Fichte. 2016 folgte die Habilitation an der Hochschule für Philosophie München. Seit 2016 ist Franziskus von Heereman Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Philosophie sozial-caritativen Handelns an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48920-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82381-1
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Meinem Lehrer Jörg Splett
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Platon . . . . . . . 2.1 Bild bei Platon . . . 2.2 Liebe bei Platon . . 2.2.1 Eros . . . . . 2.2.2 Aufstieg . . . 2.2.3 Abstieg? . . . 2.2.4 Phaidros . . . 2.2.5 Lysis . . . . 2.2.6 Gerechtigkeit 2.2.7 Frömmigkeit 2.2.8 Göttliche Güte 2.3 Zusammenfassung .
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27 28 35 35 39 42 47 51 55 58 59 61
3 Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Geschichtliche Position . . . . . . . . . . . . 3.2 Liebe bei Thomas . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Wie Gott liebt . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Wie der Mensch liebt . . . . . . . . . . 3.3 Bild bei Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der Mensch: geschaffen als und zum Bild 3.3.2 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der Mensch: Betrachter des Bildes . . . 3.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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64 64 66 66 77 113 113 118 119 132
9 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Inhaltsverzeichnis
4 Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Bild bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Funktion des Bildes im System . . . . . . . . 4.1.2 Größe des Fichteschen Bildbegriffs . . . . . . 4.1.3 Grenze des Fichteschen Bildbegriffs . . . . . . 4.1.4 Exkurs: Zur Frage der veränderten Lehre beim sogenannten »späten« Fichte . . . . . . . . . 4.2 Liebe bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Gottesliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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134 135 135 143 147
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149 153 153 158 163
Feuerbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feuerbachs Entdeckung: Konstitutive Interpersonalität Problem: Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe der Nicht-Existenz Gottes . . . . . . . . . . . 5.4.1 Feuerbachs Sensualismus . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Projektionen: Nur gleich und gleich erkennen sich 5.4.3 Wunschdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Religion verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Die Liebe ist Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Göttlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Der späte Feuerbach. Abschied von der Göttlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.1 Die Natur als Grund des Menschen . . . . . . . 5.8.2 Der Mensch: Krönung der Natur, aber nicht göttlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.3 Egozentrierung der Liebe . . . . . . . . . . . . 5.8.4 Ableitung der Moral aus dem Egoismus . . . . . 5.8.5 Ende der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Und das Bild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11 Spekulatives Potential der Güte . . . . . . . . . . . .
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165 165 168 170 172 172 176 178 183 183 186
5 5.1 5.2 5.3 5.4
10 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
. 192 . 192 . . . . . . .
195 199 205 210 213 216 219
Inhaltsverzeichnis
6 6.1 6.2 6.3
Von der Liebe als Güte zur Person als Bild . . . . . . . . Vorbemerkung zum Gottesbegriff . . . . . . . . . . . . Terminologie: Das Liebenswerte an der Liebe ist die Güte . Aufweis des Primates der Güte . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Sinnerfahrung in der Begegnung mit realisierter Güte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Ex negativo: Die umfassende Katastrophe des Ausbleibens der Güte . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Erscheinung der Güte im Sollen . . . . . . . . . . 6.3.4 Güte und Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Selbstverleugnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Eudaimonismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Der-Eine-für-den-Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Liebe Deinen Nächsten – Das bist Du . . . . . . . . . . 6.8 Über Levinas hinaus: Güte jenseits meiner . . . . . . . . 6.8.1 Güte des anderen Menschen . . . . . . . . . . . 6.8.2 Güte Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9 Anders als Streben und früher als Geben: Empfangen . . 6.10 Güte und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8
Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte . . . . . . . . Fragestellung und definitorische Präliminarien Stellvertretung oder Erscheinung? . . . . . . Offenbarung und Geheimnis . . . . . . . . Selbstsein und Medialität . . . . . . . . . . Entsprechung: Andersheit und Gleichheit . . Identität und Differenz . . . . . . . . . . . Rätsel, Freiheit und Geheimnis . . . . . . . Der Mensch: Das Bild schlechthin . . . . . .
Abkürzungsverzeichnis
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237 240 241 244 245 246 250 254 257 257 260 264 272
280 280 285 289 294 301 306 313 317
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
222 222 225 235
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 11 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
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»Wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blass und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. … [Sie] ist mit jeder anderen Vollkommenheit inkommensurabel«. Arthur Schopenhauer
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Vorwort
Vorliegende Arbeit wurde im Juli 2016 von der Hochschule für Philosophie München als Habilitationsschrift angenommen. Da ich unmittelbar nach Abgabe der Arbeit meine Tätigkeit zunächst als Lehrstuhlvertreter, dann als Lehrstuhlinhaber an der PhilosophischTheologischen Hochschule Vallendar aufgenommen habe, drängten sich viele neue Verpflichtungen, vor allem die Ausarbeitungen der Vorlesungen (nach der Spezialisierung eine Wiederaufnahme der ganzen Breite philosophischer Anthropologie, Religionsphilosophie und Philosophiegeschichte), vor, so dass es mir erst heute, drei Jahre später, möglich ist, diejenigen Arbeiten, die ich für die Drucklegung für unerlässlich gehalten habe, abzuschließen. Dabei musste ich die Hoffnung auf genügend zeitlichen Spielraum, um die Arbeit fundamental zu erweitern, bald fahren lassen. So fehlt nun Vieles, was für eine Arbeit über das Verhältnis der Begriffe Liebe und Bild nur schwer zu entbehren ist. Das fängt an bei den untersuchten Autoren. Zwar konnten die mir für meine Frage wichtigsten umfassend bearbeitet werden: Platon, Thomas, Fichte, Feuerbach und Levinas. Aber es hätte noch viele andere gegeben, bei denen es lehrreich gewesen wäre, das Verhältnis von Bild- und Liebesbegriff zu untersuchen: Aristoteles, Augustinus, Kant, Hegel, Schopenhauer, um nur die vordringlichsten zu nennen. Dafür reichte die Zeit nicht. Auch gibt es weder in den historischen noch den systematischen Kapiteln eine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen Forschungsliteratur, sondern nur eine – hoffentlich kluge – Auswahl. Mit diesen Schwächen muss ich leben: Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht macht eine breite Front auf; zumal, wenn es um eine Mehrzahl von Denkern und das Verhältnis zweier Begriffe geht. Ich gebe die Arbeit dennoch dankbar in Druck, weil mir scheint, dass unbeeinträchtigt von besagten Mängeln die Kernintuition stimmt und nach vielen Seiten hin ausgearbeitet werden konnte. Sie ist zu entscheidend, um neu zu sein, aber vielleicht ist sie doch nir15 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Vorwort
gends so in den Mittelpunkt getreten und systematisch durchgeführt worden wie hier. Zumindest gilt, dass noch keine größere philosophische Forschungsarbeit das Verhältnis dieser beiden, für den Menschen grundlegenden Begriffe Liebe und Bild angegangen ist, was nicht zuletzt deshalb erstaunt, weil, wie sich zeigen wird, viele Bewegungen anthropologischen und religionsphilosophischen Denkens implizit im Spannungsfeld des jeweiligen Verständnisses beider Begriffe stattgefunden haben und stattfinden. Gleichwohl gilt, dass meine systematische These zur Bestimmung beider Begriffe, nämlich, dass nur eine als Güte verstandene, absolute Liebe den Menschen zugleich Person und Bild sein lassen kann, immer wieder bei anderen angeklungen ist, wie sich gleichfalls noch zeigen wird. Am deutlichsten bin ich diesem Gedanken schon zu Anfang des Studiums bei meinem Lehrer Jörg Splett begegnet. 1 Ihm verdanke ich kaum Ermessliches: nicht bloß gute Gedanken, sondern ein Denken der Güte. Nun, da die Zeit der vielen Qualifikationsarbeiten – und damit nicht das Lehrer-Schüler-, wohl aber das eine Widmung unmöglich machende Prüfer-Prüfling- / Gutachter-Begutachteter-Verhältnis – hinter uns liegt, sei ihm diese Arbeit mit meinem tiefen Dank zugeeignet. Der Hochschule für Philosophie München und ihrem Präsidenten, Prof. Johannes Wallacher, möchte ich danken für die freundliche Aufnahme meines Habilitationsgesuches und die Gelegenheit zur Mitarbeit in der Lehre. Sodann den beiden Professoren, die neben Jörg Splett als Fachmentorat meine Arbeit begleitet haben: Prof. Josef Schmidt S.J. für seinen großen Einsatz für das Zustandekommen dieser Habilitation, seinen Rat und seine Ermutigung; Prof. Georg Sans S.J. für seine klarsichtige Kritik, die die fristgerechte Fertigstellung der Arbeit ermöglicht hat. Prof. Holger Zaborowski, der als externer Gutachter der Habilitation herangezogen wurde, verdanke ich wertvolle Hinweise und Ratschläge. Von Herzen Dank auch den Studenten, die in meinen Seminaren und Vorlesungen in München und Vallendar mitgearbeitet haben. Ihr echtes Interesse, ihre Fragen und ihre Antworten haben so manchen Gedanken »entbunden«, der für diese Arbeit von großer Wichtigkeit war. Lorelay Matatula danke ich für ihre unverzichtbare und stets 1 Im 7. Kapitel »Gottes Menschlichkeit (Analogie)« seiner Gotteslehre Gotteserfahrung im Denken. – Die Motti auf der Umschlagrückseite: Levinas, JS, 265/152; Baader 1851 ff., Sämtliche Werke, XII, 416. Das Eingangsmotto: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Sämtliche Werke (A. Hübscher), Bd. III, 261 f.
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Vorwort
heitere Hilfe bei der Literaturbeschaffung. Wertvolle Korrekturen verdanke ich Anne Schlund und Christoph Kruck. Schließlich danke ich meinen Eltern, ohne deren Ermutigung, den eigenen Weg auch durch die Täler der Zukunftssorgen weiter zu verfolgen, und ohne deren substantielle Hilfe dieser letzte Qualifikationsschritt nicht gangbar gewesen wäre. Eigens noch einmal meiner Mutter für unermüdliches und scharfsichtiges Korrekturlesen. Meinen Kindern für die verlässliche, vergnügte und notwendige Sprengung des Elfenbeinturmes. Zuletzt meiner Frau: Ohne das Geschenk, mit ihr durchs Leben gehen zu dürfen, wäre mir die Güte nicht zum Lebensthema geworden. Noch einige technische Bemerkungen: Die zwischenmenschliche Liebe, die diese Arbeit untersucht, ist die Nächstenliebe, nicht die erotische/romantische Liebe (bzw. diese nur, sofern sie am Wesen jener teilhat). Die Frage des Geschlechtes des/der jeweils Liebenden oder Geliebten spielt deshalb hier keine Rolle. Daher wird auf eine »gegenderte« Sprache verzichtet. Zugrunde liegt das klassische grammatikalische Verständnis, in dem in abstrakten Zusammenhängen das Maskulinum generisch zu verstehen ist, also alle Menschen der bezeichneten Klasse einschließt. »Der« Liebende ist hier also der liebende Mensch, unabhängig davon, welches biologische Geschlecht er haben und wie er sich zu diesem verhalten mag. Zitate stehen in der Originalsprache. Um den Text für jeden nachvollziehbar zu machen, wurde allermeist eine gängige deutsche Übersetzung mitgegeben. Nicht geläufige Abkürzungen sind im Siglenverzeichnis am Ende der Arbeit aufgelistet.
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Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht das Wechselverhältnis zweier Begriffe, die je für sich seit langem Gegenstand philosophischen Forschens sind: Liebe und Bild. Kein bedeutender Philosoph seit Platon, der die Liebe nicht thematisiert hätte, und auch das Bild ist eine Kategorie, die zwar nicht immer unter diesem Namen verhandelt wird, aber der Sache nach in keiner Philosophie fehlt. Mit dem Entstehen der »Bildwissenschaft« ist ihm in den letzten drei Jahrzehnten der bisher höchste Grad der geisteswissenschaftlichen Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Sosehr also beide Begriffe zum traditionellen Bestand philosophischer Untersuchungen gehören, so wenig ist ihr Wechselverhältnis thematisiert worden. Dabei ist dieses keine Petitesse, sondern, wie sich zeigen wird, einer der entscheidenden Orte, an dem die Streitfrage nach dem Verhältnis zwischen der endlichen Person und dem Absoluten ausgetragen wird. Schon in der Gründungsschrift der Philosophie der Liebe, in Platons Symposion, wird die Frage, wie einem begrenzten Seienden unbegrenzte Verehrung und Liebe zuteilwerden kann, mit der Kategorie des Bildes gelöst. Der Geliebte selbst ist nicht göttlich, aber Abbild des göttlich Schönen. – Damit ist die Liebe zur Person erklärt, aber zugleich als bleibende delegitimiert. Denn im Durchschauen dieses Bildverhältnisses liegt schon der Aufruf, sich nun den noch entsprechenderen Abbildern des Schönen und schließlich diesem selbst zuzuwenden. Das Bild erklärt und rechtfertigt den Liebeswert des Geliebten und rückt diesen doch eigentümlich aus dem Fokus des Liebenden. Denn eigentliche, und das ist immer unbegrenzte, Liebe gebührt einzig der Wirklichkeit, deren Abbild er ist. Wie das Bild die Liebe zum Endlichen aushöhlt, indem es sie zu stützen versucht, erntet es nun umgekehrt den Einspruch der Liebe. Freilich nicht, solange sie bloß Gott liebt, denn dann ist eine Verzweckung all dessen, was nicht Gott ist, nicht nur kein Problem, sondern durchaus sinnvoll. Soweit sie 19 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Einleitung
aber einen anderen Menschen wirklich als ihn selbst liebt, behauptet sie dessen unbedingt-unendlichen und keineswegs bloß instrumentellen Wert. Woher aber der unbedingt-unendliche Wert eines bedingt-Endlichen? Man sieht, wie sich die Kategorie des Bildes erneut erhebt: Das Endliche ist nicht Gott, aber sein Bild. Diese Weise, wie Liebe und Bild einander hervorrufen und zugleich immer in der Gefahr sind, einander die Legitimation zu entziehen, soll zunächst historisch untersucht werden. Das erste Kapitel widmet sich, wie eben angerissen, Platon. Sodann soll es um den Aquinaten gehen, der zum einen die wichtige Aristoteles-Definition der Freundschaft aufgreift, zum anderen von der Antike den Primat des Eros und der Einheit erbt, der er nun die Differenz stiftende Wirklichkeit eines gütigen Gottes gegenüberstellen muss. Person ist nicht mehr bloß unterwegs zum Unendlichen, sondern durch den Aufbruch des Unendlichen zu ihr unendlich gewürdigt. Angesichts dessen dürfte die Liebe nicht mehr bloß Gott lieben. Es ist bewegend zu sehen, wie sehr Thomas damit ringt, einerseits wirklich die Differenz zu berücksichtigen, die entstehen muss, wenn das Absolute anderes liebt als sich selbst, und doch zugleich im Versuch der Beweise, dass dies die Einheit des Absoluten nicht aufbricht, zu Formulierungen kommt, die diese Differenz, wenn nicht wieder dementieren, so jedenfalls zu verbergen suchen. Gott liebt dann im Menschen sich, und der Mensch im Anderen immer Gott. Eine weitere Spannung, die Thomas umtreibt, ist das Verhältnis einer eudaimonistischen Motivation allen geschöpflichen Willens zum Um-des-anderen-willen der Freundschaftsliebe. Wie wir sehen werden, hat diese Frage – klassisch geht es um Eros und Agape – unmittelbar mit unserem Thema zu tun. Denn nur die »Agape« 1 zum anderen Menschen hat Gründe, gegen die Auflösung personaler Selbstzwecklichkeit in ein Gebrauchsgut für den Aufstieg zu Gott zu protestieren. Der Eros ist dagegen ein Brauchen, und, was man braucht, ist nicht irgendein, sondern – aufgrund unseres unendlichen Horizontes – das höchste Gut. Die Auflösung aller Wirklichkeiten in bloße Manifestationen des höchsten Guts stellt somit für den Eros prinzipiell kein Problem dar. Die Arbeit wendet sich dann Fichte zu. Auch wenn bereits meine Dissertation das Thema Selbst und Bild bei ihm erforscht hat, ist er In der Arbeit wird aus noch zu zeigenden Gründen der Begriff »Güte« verwandt (vgl. S. 231 ff.).
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Einleitung
aus dem Gang der vorliegenden Untersuchung nicht wegzudenken. Der Grund ist sein solitärer Rang als Bild-Philosoph. Wird der andere Mensch, wie bei Platon und allermeist auch bei Thomas, als Abbild gedacht, dann ist, wenn und insofern die Bildtheorie für das Ganze einer Philosophie bestimmend ist, seine Vorläufigkeit, gegen die die Güte protestiert, kaum mehr abzuwenden. Denn ein Abbild ist stets defizient gegenüber der Sache selbst, dem ›Urbild‹. Man sieht die Kopie einer Wirklichkeit, die man zumindest prinzipiell auch an sich sehen könnte. Und wer braucht die Kopie, wenn man der zugrundeliegenden Wirklichkeit – eschatologisch und/oder schon hier in Denken und Mystik – unmittelbar begegnen kann? Gegen diese unbefriedigende Verhältnisbestimmung setzt eine Bewegung ein, die zum einen mit der Entzogenheit des Absoluten radikal ernst macht, zum anderen die Welt als Erscheinung des Unsichtbaren denkt. Einen ersten Höhepunkt erreicht ein solches Erscheinungsdenken bei Nicolaus Cusanus; auf ein System gebracht wird es von Fichte. Nach jahrelangem Ringen um die Frage des Verhältnisses von endlichem und absolutem Ich findet er die Antwort im Begriff des Bildes. Das Bild ist nun nicht mehr Abbild, irgendwie zurückbleibende Ähnlichkeit Gottes, sondern reine Erscheinung eines an sich Unzugänglichen und damit dessen unübersteigbare Manifestation. Dieser Durchbruch in der Bildphilosophie – wieder sehen wir die spannungsvolle Zusammengehörigkeit beider Begriffe – führt allerdings zu einem Bruch mit der Person. Sie nämlich wird nun zum reinen Medium; sich selbst vernichtend, um nur noch das Erscheinen Gottes zu sein, und im Anderen nur noch ebendies liebend – welche Liebe im Letzten und eigentlich die Liebe des Absoluten zu sich selbst ist. Verständlich, dass unser nächster Autor, Ludwig Feuerbach, auf das Schärfste gegen die Medialisierung der Person bei Fichte und Hegel protestiert. Es ist exakt die Spannung zwischen Liebe und Bild, die ihn dazu treibt, um der Liebe willen das Bildsein des Menschen radikal zu negieren, und stattdessen diejenige Wirklichkeit, vor der sein endlicher Wert »wie nichts« erscheint, zum bloßen Bild zu erklären. Nicht mehr der Mensch ist Bild Gottes, sondern Gott ein irreales Abbild des Menschen. Der Durchbruch zur wahren Liebe des menschlichen Du gelingt nur über den Tod Gottes. Während sich allerdings bisher zeigte, wie sehr der Bildbegriff an der Selbstzwecklichkeit der geliebten Person nagte, geschieht sich nun das Umgekehrte: Der Abschied vom Bild bedeutet einen Rückzug in die Immanenz, in der die 21 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Einleitung
Person ihres unbedingten Wertes gerade verlustig geht, weil es eine Dimension des Unbedingten, von der her ihr trotz ihrer Bedingtheit unbedingte Würde zukommen könnte, schlicht nicht mehr gibt. Diese dramatische Entwicklung soll in der Nachverfolgung des Feuerbachschen Denkweges von der Vergöttlichung des Menschen bis zu seiner Naturalisierung dargestellt werden. Wenn wir uns dann schließlich dem systematischen Teil zuwenden, spielt die Auseinandersetzung mit einem Denker eine zentrale Rolle, dem zunächst ein eigenes historisches Kapitel zugedacht war. Dies ist aus Zeitgründen nicht mehr gelungen. Es lässt sich aber insofern verschmerzen, als dass alles hier Versuchte in einer Weise von Emmanuel Levinas beeinflusst ist, dass er als magister wie adversarius im systematischen Teil gut aufgehoben ist. Das Kapitel über die Liebe versteht sich also nicht als Arbeit über Levinas, aber durchgehend als Gespräch mit ihm. Sosehr die Infragestellung der gesamten abendländischen Philosophie spätestens seit Kant zu einem Etikett geworden ist, ohne welches kaum einer mehr seine philosophische Arbeit verkaufen will, so dass man vor lauter neuen Ideen, die durchs philosophische Dorf gejagt werden, die alten gar nicht mehr sieht, geschweige denn kennt (denn wer von all denjenigen, die heute behaupten, das Gegengewicht zur gesamten Philosophiegeschichte zu liefern, kann rechtens von sich behaupten, sie so gut zu kennen, dass sein Anspruch gedeckt wäre [ganz zu schweigen von ihren Adepten]?) – sosehr also dieses Aufstehen gegen alles Vorherige fragwürdig ist, meine ich mit Blick auf Levinas gleichwohl, dass er legitimer Weise den Anspruch erhebt, der Philosophie eine Frage zu stellen, die so zentral ist wie vor ihm ungestellt. Es ist die Frage, wie sie es mit dem anderen Menschen halte, und ob sie nicht vielmehr als an Seinsvergessenheit an einer Seinsversessenheit kranke, in der der Andere immer auf die Einheit desselben zurückgeführt wird und die in wechselseitiger Verstärkung theoretische Grundlage wie praktischer Niederschlag aller Ausflucht vor dem Anspruch des Anderen und aller Versuche, ihn dem Großen und Ganzen unterzuordnen, ist. Diese Frage ist, wie mir scheint, der Gewissensspiegel, der an jede Philosophie zu halten ist, und dem ich in dieser Arbeit zu genügen versucht habe. Zugleich aber geht es hier nicht primär um Levinas-Exegese, sondern mit ihm um die Sache. Sosehr ich ihm darin folge, dass das Antlitz des Anderen, das mir seinen unbedingten Wert verkündet, indem es sagt »Du darfst mich nicht töten«, das zentrale Einfallstor der Realität ist und deshalb den Ausgangspunkt aller Philosophie dar22 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Einleitung
stellen sollte, so wenig kann die Levinas’sche Durchführung einer solchen Philosophie einfach gegengezeichnet werden. Denn seine Generalkorrektur der Denkgeschichte wird mit der Aufbringung eines solchen Gegengewichtes ins Werk gesetzt, dass er in schwerwiegende, für Leben und Lieben keineswegs harmlose Schräglagen gerät. Gemeint ist der Gedanke der radikalen Abwesenheit Gottes und der Verzicht, die mir geltende Güte zu denken. Deren Diskussion im LiebesKapitel ist für die Herausschälung des hier vertretenen Begriffs der Güte ebenso zentral wie die positive Anknüpfung an Levinas. Eine Fülle der philosophischen Literatur zur Liebe schlägt sich mit der Frage herum, was Liebe eigentlich sei, und sieht dafür auf die zahlreichen Verwendungen des Wortes Liebe. Sie reichen von der Mutterliebe über die Knabenliebe, den Opernliebhaber, den Philatelisten, das Verliebtsein, den Liebestod, die Nächstenliebe, die Liebeswerke, die göttliche Minne bis zu der Liebe, die im 1. Johannesbrief zur Wesensbeschreibung Gottes wird. Will man all diese disparaten Phänomene auf einen Begriff bringen, wird dies entweder scheitern oder dasjenige, was als Gemeinsamkeit in alle dem ausgemacht wird, wird von solcher Unbestimmtheit sein, dass es kaum wert ist, sich damit zu beschäftigen. Stattdessen könnte man nun dafür plädieren, manche der genannten Verwendungen des Wortes »Liebe« für unstatthaft zu erklären. Damit aber gerät man in die unergiebige Diskussion, mit welchem Recht man den Briefmarkenfreunden Sprachvorschriften erteilen wolle. Genauso gut könnte man den Schlossern verbieten, das Wort Mutter zu verwenden, weil damit eigentlich der weibliche Teil der biologischen Herkunft eines Menschen gemeint sei. – Statt also zu behaupten, das Wort Liebe meine nur dies und das oder dürfe nur dies und das meinen, sei von vorneherein geklärt, dass es mir keineswegs um all das geht, was Menschen Liebe nennen, und ich nicht den Anspruch vertrete, mit der Liebe, die ich hier untersuche und deren Wesen ich darzustellen versuche, den gemeinsamen Kern aller Verwendungen dieses Wortes zu bezeichnen (eher hege ich große Zweifel daran, dass das, was hier untersucht wird, sich in alle dem findet, was Liebe genannt wird). Die Liebe, nach der hier gefragt wird, ist jene Haltung, mit der man die Existenz und das Wohl des Anderen will – und zwar: um seinetwillen. Das systematische Liebeskapitel versucht, diese Liebe als diejenige Wirklichkeit auszumachen, die allein dem anderen Menschen gerecht wird und die dem Menschen als das inkommensurabel Höchste begegnet, und dies so sehr, dass eine Konzeption des Abso23 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Einleitung
luten, in deren Mitte nicht seine Güte stünde, notwendig falsch wäre. Dabei wird es zugleich einerseits um die Auseinandersetzung mit eudaimonistischen Theorien, die in der Selbstliebe den Ursprung aller Liebe zu anderen ausmachen, andererseits um jene Theorien gehen, die meinen, das Für-den-Anderen als Gegen-sich-selbst denken zu müssen. Zwischen beiden Riffen gilt es hindurchzugelangen zu einem Begriff der Güte, der weder vom Egoismus ausgehebelt noch von der Autoagression verstellt wird. Vielleicht ist das Hauptproblem der Philosophie der Liebe nicht, dass dem Eros, sondern dass der Güte Gift zu trinken gegeben wurde. Schließlich soll gefragt werden, ob ein solcher Begriff von Interpersonalität ein Bilddenken nötig macht, und, falls ja, wie dieses auszugestalten ist. Dabei wird sich zeigen, dass der Verzicht auf die Kategorie des Bildes die Person in einer immanenten Faktizität fixiert, in der gerade ihre unendliche Würde verloren gehen muss. Dann aber ist zu fragen, wie sich das Unendliche in der Person als ihrem Bild zeigen kann, ohne dass sie ihrer Würde nun wieder verlustig geht, weil ihr nur als Übergangsstufe auf dem »näher mein Gott zu Dir«Weg begegnet wird. Der Antwortversuch lautet: Wenn Güte das Höchste ist, was wir Menschen kennen, und das Absolute mithin nicht absolut wäre, wenn es bloß Sein, Leben oder Vernunft wäre, sondern seinerseits die Vollkommenheit der Güte sein muss, dann kann sein Bild gar nicht bloßes Mittel sein, sondern dann zeigt sich das Absolute gerade in der Selbstzwecklichkeit der endlichen Person als die Güte, die eben das die Person gründende Wollen dieser selbst und um dieser selbst willen ist. Der Mensch als er selbst und kein anderer wird damit präzise zur Gegenwart absoluter Güte (denn wo jemandes Schatz ist, da ist auch sein Herz 2). Ist so der Weg von der Güte zum Bild beschritten, soll das letzte Kapitel umgekehrt vorgehen: Vom Bild zur Güte. Diskussionspartner sind vor allem Vertreter der aktuellen »Bildwissenschaft«. Anspruch des Kapitels ist, zu zeigen, dass alles, was an möglichen Aspekten im Begriff des Bildes liegt, erst in der Person als Bild in seine einende Vollgestalt kommt und erst in ihr die Spannungsmomente dieser Aspekte eine echte Synthese finden. Damit wird als das Bild schlechthin eben jenes Bild behauptet, das die Bildwissenschaft in ihrer FokussieVgl. Mt. 6,21. Bei der Gelegenheit: Wird an Stellen wie dieser aus der Bibel zitiert, dann nicht als Autorität, sondern als Fundstelle, die auf ihre Weise Dinge sagt, wie sie hier auf philosophischem Weg erarbeitet werden.
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rung auf Ästhetik, Semiotik, Erkenntnislehre und Kulturphilosophie am wenigsten im Fokus hat: Der ganze Mensch – nicht als homo pictor 3 und nicht als der, der in Bildern sieht, sondern, dem zuvorund zugrundeliegend, als selbst durch und durch Bild. Dass dies in der Bildwissenschaft so unterbelichtet ist, liegt natürlich daran, dass im Zeitalter der Immanenz die Bildlichkeit aller Wirklichkeit kaum Sinn macht, weil dasjenige, dessen Bild es sein könnte, wo nicht negiert, agnostisch umschifft wird. Wenn unter immanentistischen Vorzeichen aber alles Bild wäre, dann hieße Bild: Schein. Denn ein Bild von nichts ist Fata Morgana. Erst als Person kann etwas zugleich ganz und gar Bild als Medium und Bild als eigene Wirklichkeit sein. Dies aber nur dann, und hier spurt sich der Weg vom Bild zur Güte, wenn das, was sich zeigen will, von der Art ist, dass es sich nur im bleibend Anderen ihrer selbst zeigen kann, weil es eben dies ist: Absoluter Wille zur unaufhebbaren Selbstheit anderer. Das aber gilt einzig von der Liebe als Güte. Zuletzt ein Wort zur Methodik. Sie besteht in einer Diskussion der rationalen Reflexion allgemein menschlicher Erfahrungen mit einer Fülle von Diskussionspartnern, von denen ein großer Teil bereits lange tot ist. Dass ein solches Gespräch über die Zeiten hinweg von vielen Fachgelehrten für unmöglich gehalten wird, die deshalb statt dieser Diskussion lieber Ideengeschichte betreiben, ist mir bewusst (und m. E. mit dafür verantwortlich, dass die akademische Philosophie in den öffentlichen Diskussionen unseres Landes weitgehend unsichtbar ist). Philosophiegeschichte ist nicht eine »Geschichte von Irrthümern«, wie Schopenhauer meinte 4, sondern der Einsichten, die, weil eben Einsichten, nicht aufhören, uns zu betreffen. Ob ein Gespräch über die Zeiten hinweg möglich ist, lässt sich nicht im Vorhinein klären (erinnert sei an Hegels Beispiel des Mannes, der sehr bereit ist, ins Wasser zu springen, sobald er Schwimmen gelernt habe 5), man muss es je neu versuchen; der Verlauf mag sich dann empfehlen oder nicht. Die Behauptung aber, dass eine solche Verständigung prinzipiell nicht möglich sein sollte, ist die Aufkündigung unserer diachronen Zusammengehörigkeit als Menschheit. Die
Nach einem schönen Wort von Hans Jonas: »Homo pictor […] bezeichnet den Punkt, an dem homo faber und homo sapiens verbunden sind – ja, an dem sie sich als ein und derselbe erweisen« (1994, 122). 4 Schopenhauer, Philosophische Vorlesungen, Bd. I, 125. 5 Hegel, Enzyklopädie der Wissenschaften, Werke in 20 Bd., Bd. VIII, 54. 3
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Einleitung
Parzellierung menschheitlichen Denkens in radikal voneinander geschiedene Epochen erweist sich so als eine Spielart des Programmes, den Kontext für so übermächtig zu erlären, dass es über verschiedene Kulturen und Weltanschauungen hinweg kein Gespräch soll geben können. Die Anerkenntnis von Vielfalt im Namen der Menschlichkeit verkehrt sich so in eine Tribalisierung der Menschheit, an deren Ende, weil Gespräch unmöglich ist, schlicht das Kräftemessen tritt. Dass eine Arbeit, in deren Mitte die Erfahrung der Verpflichtung zur Menschenliebe steht, ein solches Axiom ablehnen muss, ist evident. Was wir vor allem sind, ist: Hüter unseres Bruders. Wie sollten wir das sein können, wenn wir ihn nicht verstehen könnten? Nun aber sollen wir es sein, also muss es möglich sein. Systematische Diskussion der Philosophiegeschichte beinhaltet das Bekenntnis zur Einheit der Menschheit. Sie in jeder Person heilig zu halten ist Amt der Liebe. Dass sich in ihrer Heiligkeit der Heilige zeigt, davon legt die Rede von der Person als Bild Zeugnis ab. Dass dem Theismus, näherhin dem christlichen Bekenntnis, dem ich mich zugehörig fühle, ohne ihm deswegen unerlaubterweise Axiome für die Philosophie zu entnehmen, durch die hier vorgelegten Reflexionen ein Stück erleichtert werde, alles an ihm abzuwerfen, was der Ineinssetzung des Wesens Gottes mit reiner Güte im Weg steht, halte ich für einen der Arbeitsaufträge der Philosophie eines Christen. Dass ein Theismus absoluter Güte auch dem, der ihn nicht vertritt, als ein zumindest kohärentes, und vielleicht trotz der Schwächen dieses Durchganges bisweilen faszinierendes Gedachtes erscheinen mag, ist eine Hoffnung, die ich mit dieser Arbeit verbinde.
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Platon
Platon als »philosophorum pater« 1 ist in »his Herculean attempt to convey for the first time a conception of an abstract intelligible realm« 2 zugleich und als solcher Vater unseres Problems, Entdecker (oder Gräber?) des Grabens zwischen der Transzendenz des schlechthin Wahren, Schönen, Guten und der irdischen Wirklichkeit als deren mangelhaftem Abbild. Auch im Hinblick auf Liebe und Bild ist die Forschungsliteratur zu Platon kaum mehr zu übersehen, und bei den vielen Offenheiten seines Werkes sind die Interpretationsansätze kaum mehr überschaubar. Niemand kann das corpus platonicum auf durchgängig klare und eindeutige Systemlinien festlegen. Hätte Platon zu allem eine klare und letzte Antwort, so hätte er nicht diese beispiellose Fruchtbarkeit für die folgende Geschichte der Philosophie haben können. Mehr noch, als er Fragen beantwortet hat, hat er sie entdeckt und in seinen Antwortversuchen, gerade weil sie oft nicht einlinig sind, einerseits die Hörer und Leser zum Selbstdenken aufgefordert, andererseits im Oszillieren seiner Theorie Möglichkeiten angezeigt und eröffnet, die die Folgenden ausschreiben und in die Auseinandersetzung führen konnten. Es geht hier darum, die platonische Entstehung unserer Fragestellung nachzuzeichnen, wobei zugleich die angerissenen, aber liegen- oder fallengelassenen Perspektiven, die bereits Folgendes vorwegnehmen, zu Wort kommen sollen. Um eine solche Linie zeichnen zu können, schließen wir uns derjenigen Platon-Hermeneutik an, die Mouroutsou in ihrem Artikel zur »Metaphysik des Bildes« bei Platon folgendermaßen fasst: »Auch um eine einzige Zeile in einem Dialog zu deuten und zumal um ein schwerwiegendes Motiv zu interpretie1 Marsilio Ficino, In convivium Platonis, de amore. Commentarius. Prooemium (Ficino 1994, 10). 2 Patterson 1985, 29.
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Platon
ren, bedarf es einer Geschichte oder, wenn möglich, gar einer philosophischen Theorie, wobei wir auf den [!] ganzen corpus angewiesen sind. Jeder Dialog weist trotz seiner künstlerischen Autonomie über sich selbst hinaus«. 3
2.1 Bild bei Platon »L’idée de l’image est omniprésente dans la philosophie de Platon« 4 – und zwar als metaphysische Schlüsselkategorie: »Das Bild ist das metaphysische Bild der platonischen Metaphysik, die bevorzugte Metapher zur Illustration des Verhältnisses von Schein und Wirklichkeit, von Werden und Sein.« 5 Die umgebende sichtbare Wirklichkeit ist nicht die eigentliche Wirklichkeit, diese nämlich wird nicht mit den Sinnen angeschaut, sondern durch Denken mit der Vernunft erkannt. 6 Sie ist nicht wirklich, sondern scheint nur wirklich zu sein. Mouroutsou 2010, 33. Nevsky 2011, 1. Patterson attestiert der Bildphilosophie Platons weitgehende werkdiachrone Konsistenz: »Plato’s image metaphysics, for all its diversity, is neither internally inconsistent nor a merely consistent patchwork of philosophical ideas. It is a tight-knit theory, with additions and developments over time to be sure, but with each new strand securely woven into the same basic fabric« (148). 5 Ambuel 2010, 17. Grundlegend zum Bild bei Platon: Desclos 2000, Lee 1966, Mouroutsou 2010, Nevsky 2011, Patterson 1985. Zur Terminologie Ambuel, 14 ff., Patterson 30 f., Tornau 2007. Dem Bildbegriff zuordenbar sind bei Platon im Wesentlichen folgende Termini: eikon (εἰκών), eidolon (εἴδωλον), phantasma (φάντασμα), mimema (μίμημα). Während Tornau die Termini für »grundsätzlich synonym« hält (29), lassen sich nach Ambuel zumindest folgende Schwerpunkte feststellen: Mimema meint eine Nachbildung, bei der vor allem das Zurückbleiben hinter dem Original – bis hin zur Fälschung – im Fokus steht. Eidolon ist »Platons Lieblingsausdruck für eine sichtbare bildliche Darstellung oder die Nachahmung eines Originals« (Ambuel, 15); es lässt sich auf alles Visuelle beziehen, aber auch auf Bilder im übertragenen Sinne. Mehr oder weniger umfangsgleich dazu ist das phantasma, allerdings meint dieses mitunter vor allem das imaginäre Bild. Die stärkste Wertschätzung erhält das Bildliche als eikon. Einerseits meint es Bild im weiten Sinne, andererseits wird es vor allem in Kontexten verwendet, in denen die Ähnlichkeit eines Bildes betont wird. So wird etwa im Sophistes »eikon von phantasma als das richtige vom falschen Bild unterschieden« (ders., 16). Auch Sekimura sieht (in Anknüpfung an Saïd 1987) eikon als den positivsten Terminus für Bildlichkeit, allerdings v. a. in Absetzung zum eidolon: »L’eidôlon est un simulacre, l’eikôn est un symbole« (Sekimura 2009, 25). 6 »Zu jenen sich gleichseienden kannst du doch wohl auf keine Weise irgend anders gelangen als durch das Denken der Seele selbst, sondern diese Dinge sind unsichtbar und werden nicht gesehen« – »τῶν δὲ κατὰ ταὐτὰ ἐχόντων οὐκ ἔστιν ὅτῳ ποτ’ ἂν ἄλλῳ ἐπιλάβοιο ἢ τῷ τῆς διανοίας λογισμῷ, ἀλλ’ ἔστιν ἀιδῆ τὰ τοιαῦτα καὶ οὐχ 3 4
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Bild bei Platon
Damit ist sie nicht. Aber derart nicht-seiend ist sie eben doch – denn woher sonst ihr Schein? »Nichtseiend also nicht wirklich ist wirklich das, was wir ein Bild nennen …«. 7 Einerseits gilt dem Bild deshalb eine generelle Polemik, sofern es sich nämlich als die wahre Wirklichkeit ausgibt und diese damit verstellt. Andererseits lässt sich zwischen schlechten und guten Bildern unterscheiden. 8 So lautet die Stufenleiter im X. Buch der Politeia am Beispiel des Bettgestells: »Drei Bettgestelle, das eine das in der Natur seiende, von dem wir […] sagen würden, Gott habe es gemacht. […] eines aber der Tischler […] und eines der Maler«. 9 Während der Tischler zwar »nicht das Seiende, sondern nur etwas Sobeschaffenes wie das Seiende« 10 macht, somit aber doch bestrebt ist, »das Seiende, wie es sich verhält, nachzubilden« 11, bildet der Maler diese Nachbildung nach. »Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei« 12 des Malers. ὁρατά« (Phd. 79a). Wir haben »zu unterscheiden: was ist das stets Seiende, das Entstehen nicht an sich hat, und was das stets Werdende, aber niemals Seiende; das eine, stets gemäß demselben Seiende ist durch Vernunft mit Denken zu erfassen, das andere dagegen durch Vorstellung vermittels vernunftloser Sinneswahrnehmung vorstellbar, als entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend« – »Ἔστιν […] πρῶτον διαιρετέον τάδε· τί τὸ ὂν ἀεί, γένεσιν δὲ οὐκ ἔχον, καὶ τί τὸ γιγνόμενον μὲν ἀεί, ὂν δὲ οὐδέποτε« (Ti. 27c–28a; vgl. Sph. 247a–e). – Bzgl. der Übersetzung habe ich mich an der Schleiermacherschen orientiert. Gelegentliche Abweichungen sind jedoch nicht eigens markiert. 7 »Fremder: Also für nicht wirklich nicht seiend erklärst du das Scheinbare, wenn du es doch als das Nichtwahre beschreibst. Theaitetos: Aber es ist ja doch irgendwie. Fremder: Nicht jedoch wahrhaft, meinst du. Theaitetos: Das freilich nicht. Aber Bild ist es doch wirklich. Fremder: Nichtseiend also nicht wirklich ist wirklich das, was wir ein Bild nennen? Theaitetos: In einer solchen Verflechtung scheint […] das Nichtseiende mit dem Seienden verflochten zu sein« – »ΞΕ. Οὐκ ὄντως [οὐκ] ὂν ἄρα λέγεις τὸ ἐοικός, εἴπερ αὐτό γε μὴ ἀληϑινὸν ἐρεῖς. ΘΕΑΙ. Αλλ’ ἔστι γε μήν πως. ΞΕ. Οὔκουν ἀληϑῶς γε, φῄς. ΘΕΑΙ. Οὐ γὰρ οὖν· πλήν γ’ εἰκὼν ὄντως. ΞΕ. Οὐκ ὂν ἄρα [οὐκ] ὄντως ἐστὶν ὄντως ἣν λέγομεν εἰκόνα; ΘΕΑΙ. Κινδυνεύει τοιαύτην τινὰ πεπλέχϑαι συμπλοκὴν τὸ μὴ ὂν τῷ ὄντι« (Sph. 240a–b). 8 Ein »Oszillieren zwischen einer uneingeschränkten Verurteilung des Bildes und einer Unterscheidung zwischen guten und schlechten Bildern« (Mouroutsou 2010, 37). Vgl. Nevsky 2011, 476, 491; Desclos 2000, 310 ff. 9 »[…] τριτταί τινες κλῖναι αὗται γίγνονται· μία μὲν ἡ ἐν τῇ φύσει οὖσα, ἣν φαῖμεν ἄν […] ϑεὸν ἐργάσασϑαι. […] Μία δέ γε ἣν ὁ τέκτων. […] Μία δὲ ἣν ὁ ζωγράφος« (Pol. 597b). 10 »[…] εἰ μὴ ὃ ἔστιν ποιεῖ, οὐκ ἂν τὸ ὂν ποιοῖ, ἀλλά τι τοιοῦτον οἷον τὸ ὄν« (597a). 11 »[…] τὸ ὄν, ὡς ἔχει, μιμήσασϑαι« (598b). 12 »Πόρρω ἄρα που τοῦ ἀληϑοῦς ἡ μιμητική ἐστιν« (598b).
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Platon
Was uns hier nun primär interessiert, ist das Bettgestell zweiter Ordnung, also dasjenige sichtbar, greifbar Hiesige, das nicht die göttlich-wahre, einfache 13 Idee ist, sondern deren Nachbildung. Dieses verhält sich zu seiner Nachbildung in der Kunst wie Wahrheit und Unwahrheit (510a). Seinerseits aber verhält es sich nun wie zur Idee? Die hiesigen Wirklichkeiten sind – so zeigt vor allem das Liniengleichnis (509e–511e) – ihrerseits Bilder der Ideen (510b). Sie dienen als sinnenhafte Bilder dessen, »was man nicht anders sehen kann als mit dem Verstand«. 14 Es geht also 1) um eine Verschiedenheit der Dimensionen: Die Abbildung eines Tieres ist von anderer Seinsart als ein konkretes, lebendiges Tier und ein solches ist von anderer Seinsart als die Idee dieses Tieres. 15 Was die Bilder adelt, ist ihr Abbilden eines Seienden. Sie sind also nicht reiner Schein, sondern (keinesfalls selbstverständlich, wenn wir etwa an Parmenides, aber auch an heutige repräsentationskritische Bildtheorien denken 16) Bild von: ἐικών τινὸς (vgl. Ti. 29b). Was ihnen Defizienz gibt, ist, dass sie nicht das Abgebildete sind, sondern seine Darstellung in einer abgeschwächten Seinsebene, eine Abschattung. 17 »Zwei solche aber oder mehrere sind von Gott nicht erzeugt worden und werden es auch nicht werden. […] Weil […,] wenn er auch nur zwei gemacht hätte; so würde sich doch wieder eines zeigen, wovon jene beiden die Gestalt an sich hätten, und so wäre dann jenes, was das Bettgestell ist, und nicht die zwei« – »δύο δὲ τοιαῦται ἢ πλείους οὔτε ἐφυτεύϑησαν ὑπὸ τοῦ ϑεοῦ οὔτε μὴ φυῶσιν. […] Ὅτι […] εἰ δύο μόνας ποιήσειεν, πάλιν ἂν μία ἀναφανείη ἧς ἐκεῖναι ἂν αὖ ἀμφότεραι τὸ εἶδος ἔχοιεν, καὶ εἴη ἂν ὃ ἔστιν κλίνη ἐκείνη ἀλλ’ οὐχ αἱ δύο« (597c). 14 »[…] ὰ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ« (511a). Vgl. Patterson 1985, 27 f.; Ringbom 1965, 90 ff. 15 »Image F and model F are two types of F, not similar with respect of being F (…) however else they might resemble one another« (Patterson 1985, 29 f.). 16 Vgl. Grave/Schubbach 2010, 163 ff. 17 Ein wesentliches Kriterium der Inferiorität dieser Wirklichkeit ist der Charakter des Werdens, worauf besonders stark Ambuel abhebt: »Die Phänomene (die […] als koextensiv mit den Bildern gelten können) [sind] nicht identisch mit der Wirklichkeit. […] Als eine Ganzheit wird die phänomenale Welt – von bloßen wahrnehmbaren Augenblicken bis zu gewöhnlichen Gegenständen – als ›Werden‹ bezeichnet. Die Nähe zu einer Lehre vom universalen Fließen liegt auf der Hand, aber Platons Metaphysik der Phänomene geht über die bloße Feststellung, dass sich alles bewegt hinaus. ›Werden‹ bezeichnet nicht irgendeine ständige kosmische Regung und Bewegung, sondern bedeutet, dass keine phänomenale ›Entität‹ jemals eine ›Entität‹ im vollen Sinne ist, etwas, das einfach als es selbst dasselbe ist, etwas, das, was es ist, in sich und aus sich selbst ist. Dieses wird sich als das definitive Kennzeichen des platonischen Bildes erweisen – und nicht irgendeine Eigenschaft der Wahrnehmbarkeit in 13
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Bild bei Platon
Zu dieser dimensionalen Differenz kommt 2) eine graduelle hinzu, ausgedrückt im Begriff der Ähnlichkeit: es »gleicht« und »bleibt doch dahinter zurück«. 18 Bild und Abgebildetes haben doch so viel miteinander zu tun, dass sie mehr oder weniger ähnlich sein können (keinesfalls selbstverständlich, weil man ja fragen könnte, und wir im Folgenden zu fragen haben werden, wie ein sinnenfällig Sichtbares einem bloß mit der Vernunft zu Erkennenden soll ähneln können). Dabei ist sowohl das Gleichen wie das Zurückbleiben konstitutiv. Ohne ein Gleichen gäbe es keine Verbindung. Ohne das Zurückbleiben aber keinen Unterschied: »Wären dies wohl noch so zwei verschiedene Dinge wie Kratylos und des Kratylos Bild, wenn einer von den Göttern nicht nur deine Farbe und Gestalt nachbildete, wie der Maler, sondern auch alles Innere ebenso machte wie das deinige, mit denselben Abstufungen der Weichheit und der Wärme, und dann auch Bewegung, Seele und Vernunft, wie dies alles bei dir ist, hineinlegte und mit einem Worte alles, wie du es hast, noch einmal neben dir aufstellte; wären dies denn Kratylos und ein Bild des Kratylos oder zwei Kratyloi?« 19 Womit sich zeigt, dass dimensionale Verschiedenunmittelbarer Gegebenheit« (2010, 18). Letzteres würde ich so freilich nicht teilen. Das Werden ist ein Negativkriterium für das Nicht-wirklich-Sein der Bilder. Positiv aber ergibt sich daraus noch keineswegs ihr Sinn: das Zeigen und Verbergen, ohne welches das Bild »Bild« unverständlich bliebe. 18 »Dieses, was ich hier sehe, will zwar sein wie etwas gewisses anderes, es bleibt aber zurück und vermag nicht so zu sein wie jenes, sondern ist schlechter« – »[…] τοῦτο ὃ νῦν ἐγὼ ὁρῶ εἶναι οἷον ἄλλο τι τῶν ὄντων, ἐνδεῖ δὲ καὶ οὐ δύναται τοιοῦτον εἶναι [ἴσον] οἷον ἐκεῖνο, ἀλλ’ ἔστιν φαυλότερον« (Phd. 74d–e). 19 »ἆρ’ ἂν δύο πράγματα εἴη τοιάδε, οἷον Κρατύλος καὶ Κρατύλου εἰκών, εἴ τις ϑεῶν μὴ μόνον τὸ σὸν χρῶμα καὶ σχῆμα ἀπεικάσειεν ὥσπερ οἱ ζωγράφοι, ἀλλὰ καὶ τὰ ἐντὸς πάντα τοιαῦτα ποιήσειεν οἷάπερ τὰ σά, καὶ μαλακότητας καὶ ϑερμότητας τὰς αὐτὰς ἀποδοίη, καὶ κίνησιν καὶ ψυχὴν καὶ φρόνησιν οἵαπερ ἡ παρὰ σοὶ ἐνϑείη αὐτοῖς, καὶ ἑνὶ λόγῳ πάντα ἅπερ σὺ ἔχεις, τοιαῦτα ἕτερα καταστήσειεν πλησίον σου; πότερον Κρατύλος ἂν καὶ εἰκὼν Κρατύλου τότ’ εἴη τὸ τοιοῦτον, ἢ δύο Κρατύλοι;« (Cra. 432b–c). Patterson zeigt anhand dieser Stelle, dass das Wesen des Bildes nicht allein darin begriffen werden kann, dass es das Abgebildete kopiert. Wäre das Ziel des Bildes das Gleichen, dann wäre es am Ziel kein Bild mehr, sondern die Sache selbst: It »leads to the contradiction that a perfect image is not an image at all« (Patterson 1985, 39). Damit kann aber, was zu Merkmal (1) zurückführt, das Wesen des Bildes nicht unter dem Paradigma des Gleichens erschöpfend begriffen werden. Zu ihm gehört vielmehr ebenso und fundamentaler der prinzipielle Seins-Unterschied zum Dargestellten: »For if […] an exact duplicate on an F cannot be an image F because it would be instead another real F, then it is one condition on being an image F that it not be a real F« (ebd.).
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Platon
heit und qualitative Ähnlichkeit aufs engste verwoben sind: Mag Kratylos in einem zweidimensionalen Gemälde diesem noch so sehr gleichen, es fehlt ihm eben die Dreidimensionalität; und wenn eine Statue ihm auch diesbezüglich perfekt gliche, so bliebe sie doch um eine Dimension zurück, weil sie nicht lebt. Kurz: Es ist das »einem Wahren ähnlich gemachte Andere«. 20 »Kein Duplikat oder eine Kopie, sondern eine Entität, die sich als ontologischer Typus vom Original unterscheidet«, 21 die aber zugleich umso besser ist, je mehr sie innerhalb dieses fundamentalen Unterschiedes dem Dargestellten gleicht. 22 Und eine dritte Differenz 3) kommt hinzu: Während das Wahre als es selbst durch sich selbst ist, ist das Bild nur von ihm her, in einseitiger Abhängigkeit. 23 Womit auch die Ähnlichkeit nicht wechselseitig ist. 24 Damit ist der Stellenwert des Bildes ontologisch verortet; es ist nicht das Seiende, sondern dessen von ihm abhängige, stets zurückbleibende Nachbildung in einer bloß phänomenalen Wirklichkeit. Ist somit bei Platon der Fokus generell mehr auf die Defizienz der Bilder gelegt, gibt es im Spätwerk einen für das Bilddenken äußerst relevan-
»τὸ πρὸς τἀληϑινὸν ἀφωμοιωμένον ἕτερον τοιοῦτον« (Sph.240a). Dabei geht es um beides, »the kinship of sensible (image) F and intelligible (model) F (since both are Fs of one sort or another) and the type distinction between image and real F« (Patterson 1985, 43). 21 Ambuel 2010, 22. 22 »Greater accuracy or correctness of an image […] corresponds to greater excellence as a sensible F« (Patterson, 160). 23 »Mir scheint nämlich, wenn irgend etwas anderes schön ist außer jenem Schönen selbst, dass es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es teilhabe an jenem Schönen, und ebenso sage ich von allem. […] nenne es nun Anwesenheit oder Gemeinschaft, wie nur und woher sie auch komme, denn darüber möchte ich nichts weiter behaupten, sondern nur, dass vermöge des Schönen alle schönen Dinge schön werden« – »φαίνεται γάρ μοι, εἴ τί ἐστιν ἄλλο καλὸν πλὴν αὐτὸ τὸ καλόν, οὐδὲ δι’ ἓν ἄλλο καλὸν εἶναι ἢ διότι μετέχει ἐκείνου τοῦ καλοῦ· καὶ πάντα δὴ οὅτως λέγω. […] εἴτε παρουσία εἴτε κοινωνία εἴτε ὅπῃ δὴ καὶ ὅπως † προσγενομένη· οὐ γὰρ ἔτι τοῦτο διισχυρίζομαι, ἀλλ’ ὅτι τῷ καλῷ πάντα τὰ καλὰ [γίγνεται] καλά. τοῦτο γάρ μοι δοκεῖ ἀσφαλέστατον εἶναι καὶ ἐμαυτῷ ἀποκρίνασϑαι καὶ ἄλλῳ, καὶ τούτου ἐχόμενος ἡγοῦμαι οὐκ ἄν ποτε πεσεῖν, ἀλλ’ ἀσφαλὲς εἶναι καὶ ἐμοὶ καὶ ὁτῳοῦν ἄλλῳ ἀποκρίνασϑαι ὅτι τῷ καλῷ τὰ καλὰ [γίγνεται] καλά« (Phd. 100c–d; vgl. Rep. 508b, 516b–c; Tim 27d–29b). 24 »Die einseitige ontologische Abhängigkeit des Bildes vom Vorbild garantiert die Vermeidung des hier [im Parmenides] durchgeführten Regresses« (Mouroutsou 2010, 42). 20
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Bild bei Platon
ten Dialog, 25 in dem weniger die Wirklichkeitsverdunkelung der Bilder als vielmehr deren versichtbarende Funktion im Mittelpunkt steht. Die Welt als Ganze ist nach dem Timaios ein Bild des Intelligiblen aufgrund der Güte ihres Schöpfers. Wir müssen »erwägen, nach welchem Vorbilde sein Werkmeister es [das Weltall] auferbaute, ob nach dem stets ebenso und in gleicher Weise Beschaffenen oder nach dem Gewordenen. Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick auf das Unvergängliche gerichtet, bei der Voraussetzung dagegen, die auch nur auszusprechen frevelhaft wäre, auf das Gewordene«. 26 »Wessen Erzeuger aber, mit stetem Hinblick auf das stets sich gleich Verhaltende, nach einem solchen Vorbilde dessen Gestalt und Kraft erschafft, das muss notwendig schön vollendet werden im Ganzen« (28a). 27 Damit aber ist sie das bestmögliche Bild der unsichtbaren Welt, wie Platon in einer Formel festhält, die in ihrem radikalen Optimismus (im strengen Wortsinn) und ihrer logischen Doppelgestalt aus aufsteigendem und absteigendem Schluss viel zu denken gibt: »denn sie ist das Schönste alles Gewordenen, er [der Demiurg] der beste aller Urheber«. 28 Damit ist ein Maximum über die Weltwirklichkeit als Bild gesagt: »ein Bild [oder: Schmuckstück] der ewigen Götter«; »ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit« (37c–d). 29 Systematisch kündigt Vgl. dazu Lee 1966: »No other dialogue relies more heavily than the Timaeus on the metaphor of imaging for the relation between Forms and the phenomenal world« (342). 26 »[…] πρὸς πότερον τῶν παραδειγμάτων ὁ τεκταινόμενος αὐτὸν ἀπηργάζετο, πότερον πρὸς τὸ κατὰ ταὐτὰ καὶ ὡσαύτως ἔχον ἢ πρὸς τὸ γεγονός. εἰ μὲν δὴ καλός ἐστιν ὅδε ὁ κόσμος ὅ τε δημιουργὸς ἀγαϑός, δῆλον ὡς πρὸς τὸ ἀίδιον ἔβλεπεν· εἰ δὲ ὃ μηδ’ εἰπεῖν τινι ϑέμις, πρὸς γεγονός« (28c–29a). 27 »ὅτου μὲν οὖν ἂν ὁ δημιουργὸς πρὸς τὸ κατὰ ταὐτὰ ἔχον βλέπων ἀεί, τοιούτῳ τινὶ προσχρώμενος παραδείγματι, τὴν ἰδέαν καὶ δύναμιν αὐτοῦ ἀπεργάζηται, καλὸν ἐξ ἀνάγκης οὕτως ἀποτελεῖσϑαι πᾶν« (28a). »La redéfinition de l’univers en tant qu’image divine des Formes éternelles et la double perfection de l’image ainsi fabriquée: celle-ci est la meilleure image possible à la fois de par la nature parfaite de son modèle et grâce à la perfection de son exécution« (Nevsky 2011, 490). 28 »ὁ μὲν γὰρ κάλλιστος τῶν γεγονότων, ὁ δ’ ἄριστος τῶν αἰτίων« (29a). 29 »[…] τῶν ἀιδίων ϑεῶν […] ἄγαλμα« (37c); »εἰκὼ δ’ ἐπενόει κινητόν τινα αἰῶνος ποιῆσαι« (37d). Nevsky sieht in seiner sehr empfehlenswerten Untersuchung der platonischen Bildphilosophie deren eigentliches Verdienst darin, gegen die radikale Illusionsbehauptung des Parmenides (218 ff.) aufgewiesen zu haben, dass das Bild nicht verschleiert, sondern zeigt: »La vraie signification de sa conception de l’image […] ne consiste point dans une dévaluation de l’image comme apparence illusoire, mais plutôt, au contraire, dans une redéfinition de l’apparence archaïque en tant qu’image. Platon sauve littéralement les apparences du monde« (24). Dadurch eröffne 25
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Platon
sich damit die positive Würdigung der Welt als Versichtbarung des Intelligiblen an, die wir, so wie die Inferiorität des Abbildlichen, im Laufe der Geschichte weiter verfolgen werden können. 30 Platon einen Weg zwischen den zwei Extremen, »d’une part, de ne pas le prendre pour quelque chose de permanent et d’absolument réel […], d’autre part, de ne pas non plus le négliger, dans un faux détachement philosophique, comme une pure illusion« (25). 30 Lee 1966 unterscheidet zwischen »substantial« und »in-substantial« images (353 ff.). Während substantial images zwar ihre Form von einem Anderen erhalten, haben sie ihr Sein in sich. Wenn das Original zerstört würde, würden sie weiterbestehen (was ja – bei einem Teil der artifiziellen Bilder – durchaus auch ihr Sinn sein kann). Ein solches Verständnis ergibt sich, wenn man die Schöpfung aus dem Chaos annimmt – als Formung eines irgendwie schon Vorliegenden: »Indem nämlich Gott wollte, dass alles gut und, soviel wie möglich, nichts schlecht sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm diese durchaus besser schien als jene« – »βουληϑεὶς γὰρ ὁ ϑεὸς ἀγαϑὰ μὲν πάντα, φλαῦρον δὲ μηδὲν εἶναι κατὰ δύναμιν, οὕτω δὴ πᾶν ὅσον ἦν ὁρατὸν παραλαβὼν οὐχ ἡσυχίαν ἄγον ἀλλὰ κινούμενον πλημμελῶς καὶ ἀτάκτως, εἰς τάξιν αὐτὸ ἤγαγεν ἐκ τῆς ἀταξίας, ἡγησάμενος ἐκεῖνο τούτου πάντως ἄμεινον« (Tim 30b). Dagegen stellt Platon in Timaius 48e – 52d ein Model nicht substantieller Bilder vor. Dort (51b) nämlich werden die Ideen in ein »höchst unsichtbares, gestaltloses, allempfängliches Wesen« – »ἀνόρατον εἶδός τι καὶ ἄμορφον, πανδεχές« (freilich »auf irgendeine höchst unzugängliche Weise am Denkbaren teilnehmend und äußerst schwierig zu erfassen« – »μεταλαμβάνον δὲ ἀπορώτατά πῃ τοῦ νοητοῦ καὶ δυσαλωτότατον«) hineingebildet (vergleichbar einer materia prima [Lee 1966, 350]). Damit hört das Bild dann auf, eine irgendwie geartete eigene Realität zu haben (»what the Form is perfectly, the image-phenomenon is imperfectly – but that much, at least, it is« [ders., 362]) und der Dualismus ist überwunden: »The Timaeus’ doctrine of the ›insubstantial image‹ alters this entire picture by reducing the image from a separate object of perception to a wholly ›intermediate nature‹. The error (…) is the notion that the image is something sufficiently distinct from the original to be grouped ›along with it,‹ as another, separate entity, possessing some character and status of its own. Because of the totally dependent nature of the ›insubstantial image‹, the phenomenon is what it is only as an image of its Form. (…) there really is no substantial individual (…)« (ebd.). Wenngleich es wundernähme, dass Platon dieses neue Modell für den Rest des Dialoges ignoriert (349 ff.), sieht Lee darin ein »thoroughgoing ontological employment of the image metaphor« (360). Sicherlich ist es ein schon bei Platon gegebenes Anzeichen einer begriffsgeschichtlichen Entwicklung vom Abbild zum Bild, die jedoch gerade durch Platon zunächst den umgekehrten Gang genommen hat: »Historisch markiert die platonische Bildtheorie den Übergang von einer kultisch-magischen zu einer repräsentationalistischen Bildauffassung. Nach der kultisch-magischen Auffassung ist der Bildreferent im Bild zugegen, nach der repräsentationalistischen Auffassung verweist das Bild als sein Stellvertreter auf ihn« (Sachs-Hombach/Schürmann 2005, 110 f.). Dass sich nun schon im Timaios ein umgekehrter Weg von der Repräsentation zur Präsentation ankündigt (der freilich noch lange nicht konsequent begangen werden wird), wäre in der Fortschreibung dieser Entwicklung allerdings kein Rückfall in eine magische Iden-
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Liebe bei Platon
Diese höchste Würdigung des Bildes im platonischen Werk sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie die thematisierten prinzipiellen Begrenzungen keineswegs aufhebt. Auch die Hervorhebung der dienenden Funktion der Bilder im Timaios ändert nichts an ihrer prinzipiellen Inferiorität. Zwar zeigt das Bild das Dargestellte deskriptiv durch Ähneln, 31 aber zugleich und letztlich referentiell: Es verweist. Denn das Dargestellte ist nicht bloß in dieser seiner immer mangelhaften Darstellung zu sehen, sondern an sich selbst – mit den Augen des Geistes. Indem das Bild auf unvollkommene Weise die Form zeigt, erinnert es an sie 32 und tritt zurück. Die Form lässt sich als solche erkennen, und damit wird das Bild, nachdem es seinen Dienst der Wegweisung getan hat, überflüssig. 33 Zurück in die Höhle geht man nicht um der Schatten willen, sondern einzig aus Gerechtigkeit (Rep. 520a–521b). Man sieht, wie die Frage nach dem Leben in einer Welt der Bilder von sich aus zur Frage nach der Liebe drängt. Wohin soll sie sich wenden?
2.2 Liebe bei Platon 2.2.1
Eros
Der Mensch, positioniert in der Sinnenwelt, sucht die Wirklichkeit jenseits der Bilder. Er sucht sie zunächst in den Bildern, aber, von tität von Bild und Referent, sondern ein dialektischer Aufstieg: Fallen bei der magischen Bildauffassung Bild und Referent in eins, werden sie im Bild als Manifestationsdenken nun sehr wohl unterschieden, aber eben nicht mehr gegenständlich nebeneinander wie bei der Abbild-Theorie. 31 »The succes of a sensible participant in revealing the nature of its intelligible model depends in part, as with worldly images of worldly models, on how faithful or correct an image it is« (Patterson 1985, 162). 32 Zu Bild und Anamnesis: Sekimura 2009, 255–290. 33 »As forms are not dependent for their being on worldly participants, so also can they be known by some few people and by god – the possessors of nous – in themselves and not through worldly manifestations. (…) There is an epistemological priority of Forms parallel to their ontological priority« (Patterson 1985, 162). »Die Ideen und sie allein sind der Gegenstand unseres Wissens« (Borsche 1996, 104). »Für moderne Freunde Platons gilt es als unfein, ihrem Philosophen diese Behauptung zuzumuten. So argumentieren sie, dass Ideenwissen nicht um seiner selbst willen, sondern nur insofern, als es Bedingung von Dingwissen ist, gesucht werde. […] [Dies aber ist] aus den Texten nicht hinreichend begründet« (ebd., 104/Anm. 11).
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Platon
diesen zur Erkenntnis der Ideen erweckt, erlebt er sich zugleich von ihnen in ihrem Wirklichkeitsanspruch betrogen. 34 Und deshalb sucht er, wenn er weise ist, fortan das Gute und Schöne jenseits ihrer. Dass dieses Suchen des Schön-Guten der Inbegriff seiner Weisheit ist, besagt dreierlei: 1) Es ist ihm entzogen und doch 2) gehört es zu ihm, 35 und zwar 3) als dasjenige, was seine eigentliche und letzte Erfüllung ist. 36 Danach strebt er, und dieses Streben nennt Platon Eros. 37 Wonach strebt der Mensch also, wenn er nach dem Geliebten strebt? Danach, in seinen Besitz zu kommen; das ihm Fehlende soll ihm zu eigen werden: »Wer das Schöne begehrt, was begehrt der? […] Dass es ihm zuteilwerde«. 38 Deshalb wird der Eros im Symposion von Sokrates/Diotima als Sohn von Penia und Poros eingeführt; des Mangels und der Findigkeit. Poros ist zu verstehen als die »Personifikation des Weges bzw. Mittels etwas zu erreichen« 39 – nicht etwa, wie häufig zu lesen ist, 40 des Reichtums. Eidolon »apparaît tout à la fois comme un moyen d’accès à la connaissance, et comme un obstacle à surmonter« (Desclos 2000, 311). 35 »The object of desire is that which one lacks, and that which one lacks is that which one is deprived of« (Price 1989, 12). Damit, so Ferrari 1992, ist im Diotima-Mythos auch der Hälftenmenschen-Mythos des Aristophanes bewahrt. Nur eben so, dass das, was dem Liebenden fehlt, nicht seine andere Menschenhälfte ist, sondern kalòs. »And this is to reinstate the message of Aristophanes’ tale: that love is above all a search for what has been lost. Aristophanes only misidentified the loss: It is not of our other half, but of our good« (253). 36 Kosman 1989: »… not simply that which one does not have, nor which one wants in the sense of desires, but that which one lacks, or wants in the sense of needing, missing and requiring for the fulfillment and completion of some nature« (155). 37 Wenn er im Lysis von Philia spricht, ist sein primärer Untersuchungsbereich zwar die Freundschaft und nicht die erotische Partnerliebe oder die metaphysische Liebe zum Schön-Guten (sosehr erstere durch Hippothales mithineinspielt [Lys. 203a– 206c ff.] und der Gedankengang seiner inneren Dynamik nach zu letzterer drängt), aber unbeschadet dieser materialen Einschränkung ist die Philia im Lysis formal nicht minder Eros: Wir lieben, was wir brauchen, und wir brauchen, was uns fehlt. S. u. 51 ff. 38 »ἐρᾷ ὁ ἐρῶν τῶν καλῶν· τί ἐρᾷ; […] ότι γενέσϑαι αὑτῷ« (Smp. 204d). »Können wir […] schlechthin sagen, dass die Menschen das Gute lieben? […] Müssen wir nicht hinzusetzen, dass sie lieben, das Gute zu haben?« – »[…] οὕτως ἁπλοῦν ἐστι λέγειν ὅτι οἱ ἄνϑρωποι τἀγαϑοῦ ἐρῶσιν; […] οὐ προσϑετέον […] ὅτι καὶ εἶναι τὸ ἀγαϑὸν αὑτοῖς ἐρῶσιν;« (Smp. 206a). 39 Perkams 2007, 182. S. a. Sheffield 2006, 42 ff. 40 Vgl. z. B. Frede 2012, 141; Aertsen 2009, 191. Ihr Reichtum ist bloß, dass sie bei all ihrer Armut die Wege findet, sich etwas zu beschaffen. Deshalb – sokratischer Wendepunkt der Lobeshymnen beim Gastmahl – ist eben eigentlich auch nicht sie zu 34
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Liebe bei Platon
Konstitutiv für die platonische Liebe ist damit das Fehlen des Geliebten – »Love is not the possession of desirable things, but the awareness that there are things which it would be desirable to possess, but which one does not yet possess« 41 – und das findige Streben nach dessen Besitz. 42 Dieser Strebeliebe wird immer wieder der Vorwurf gemacht, sie sei egoistisch. Und in der Tat ist zu fragen: Worum willen wird etwas gewollt? Der Lysis stellt sich ausdrücklich diese Frage. 43 Ist man jemandem freund »ohne Zweck und ohne Grund, oder zu einem Zweck und aus einem Grund?« 44 Sokrates Antwort lautet: Wir sind jemandem freund um des Gutes willen, das wir durch ihn erreichen; dem Arzt um der Arzneikunst, dieser um der Gesundheit willen. Damit ergibt sich: »Freund ist man also, dem man freund ist, um etwas willen, dem man freund ist« (220b). 45 Dabei lässt sich aber nun nicht in unendlichem Regress weiterschreiten. Es braucht – zum Zustandekommen einer wie langen Reihe auch immer – eines, das als es selbst, und nicht als Mittel zu einem anderen Zweck, gewollt wird. Dieses ist preisen, sondern ihr Objekt. Kosman: »Socrates turns from a praise of love to a praise of love’s object […]. If love is intentional of an object not yet realized, the love or praise of love will constitute a project essentially selfcontradictory in nature« (154). 41 Gould 1963, 43. Weswegen das Geständnis des Sokrates, »nichts als Liebessachen zu verstehen« (Smp. 177d), nicht gegen sein Bekenntnis des Nicht-wissens spricht (App. 22c–d, Smp. 216d.), welches er noch im früheren Lysis ausdrücklich auch auf die Liebe bezogen hatte (212a), sondern dieses gerade noch einmal bestätigt: »The equation of love with the mean between ignorance and knowledge is, of course, not merely an illustrative comparison. We begin to see why Socrates could say that love was the only thing he had knowledge of. Correctly understood, it amounts precisely to the same thing as his more characteristic profession of radical ignorance« (Gould, 44; vgl. Kosman 1989, 154). 42 Mit der bei Platon nicht problematisierten Folge, dass gerade jenes Erreichen des Erstrebten der Liebe den Garaus machen würde. »Die schon Weisen sind nicht mehr Weisheitsfreunde« (Lys. 218a). »Kein Gott philosophiert …« (Smp. 204a). Vgl. Figal 2005, 90. 43 Vgl. Bordt 1998, 197–207. 44 »Πότερον οὖν οὐδενὸς ἕνεκα καὶ δι’ οὐδέν, ἢ ἕνεκά του καὶ διά τι;« (Lys. 218d). 45 »Ἕνεκα ἄρα τοῦ φίλου τοῦ φίλου τὸ φίλον φίλον« (Lys. 219b). Dabei können wir den letzten Teil der Bestimmung »wegen etwas, dem man feind ist« (»διὰ τὸ ἐχϑρόν« in unserem Beispiel: der Krankheit) außen vor lassen. Platon zeigt selbst einige Seiten später auf, dass das Übel nicht notwendige Bedingung des Begehrens ist: »Auch wenn das Böse untergegangen ist […], werden wir einigem freund sein – Ἔσται ἄρα καὶ τῶν κακῶν ἀπολομένων, […] φίλ’ ἄττα« (221 b-c). Denn es geht im Letzten nicht um Reparatur eines Defektes, sondern um Aufhebung eines Mangels (220b–221d). Vgl. Bordt 1998, 209–219.
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Platon
das πρῶτον φίλον, das Erstgeliebte. Und damit das Einziggeliebte, denn »wovon wir sagen, dass wir ihm um eines andern willen freund sind, das benennen wir offenbar nur mit einem fremden Wort, freund aber mögen wir in der Tat wohl nur jenem sein, in welchem alle diese sogenannten Freundschaften endigen« (220a–b). 46 Bezeichnet man nun mit dem Symposion das Gute als das Letzt-/Erstgewollte, 47 lässt sich im Fragehorizont des Lysis sagen: Man will die Gesundheit, weil sie gut ist. Aber auf die Frage, warum man das Gute will, gibt es keine sinnvolle Antwort mehr – zumindest nicht, solange man nach weiteren Objekten fragt. Die Frage, die der Egoismusverdacht aber erhebt, bezieht sich auf das Motiv des Subjektes im Wollen des Guten: Wofür will man das Gute? Genauer: Für wen? Diese Frage aber thematisiert Platon gar nicht erst ausdrücklich, weil sie in seinen Prinzipien immer schon beantwortet ist. Der Mensch sucht/begehrt/erstrebt, und d. h. liebt, weil ihm etwas fehlt, und dabei geht es nicht darum, dass das Finden des Gesuchten dem Gesuchten dient, 48 sondern dem Suchenden. Das Theorem, das diesen Primat des Für-mich unverrückbar zementiert, ist die Eudaimonia, die Glückseligkeit, als letztes Worum-willen. Ist das Ziel des Strebens das Gute, so ist doch dessen Zweck die eigene Glückseligkeit: »Durch den Besitz des Guten […] sind die Glückseligen glückselig. Und hier bedarf es nun keiner weiteren Fragen mehr, weshalb doch der glückselig sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein« (205a). 49 Führt man hier schon die aristotelisch-thomanische »ὅσα γάρ φαμεν φίλα εἶναι ἡμῖν ἕνεκα φίλου τινὸς ἑτέρου, ῥήματι φαινόμεϑα λέγοντες αὐτό· φίλον δὲ τῷ ὄντι κινδυνεύει ἐκεῖνο αὐτὸ εἶναι, εἰς ὃ πᾶσαι αὗται αἱ λεγόμεναι φιλίαι τελευτῶσιν« (220a–b). Einzig geliebt zumindest innerhalb einer Bedingungsreihe. Ob es mehrere Reihen mit einem je eigenen proton philon geben kann, ist entscheidend für den Stellenwert des anderen Menschen und wird uns im Folgenden weiter beschäftigen. 47 Vgl. Smp. 205a. Im Lysis selbst wird das Gute noch nicht als Idee gedacht, eher als die »Menge aller guten Dinge« (Kreft 2012, 210). 48 Was ja auch möglich wäre: Man denke etwa an das Suchen nach einem verschwundenen Kind. 49 »Κτήσει […] ἀγαϑῶν οἱ εὐδαίμονες εὐδαίμονες, καὶ οὐκέτι προσδεῖ ἐρέσϑαι Ἵνα τί δὲ βούλεται εὐδαίμων εἶναι ὁ βουλόμενος; ἀλλὰ τέλος δοκεῖ ἔχειν ἡ ἀπόκρισις« (Smp. 205a). Vgl. Menon 77c–78b. Vgl. Euthd. 278e–282d: Dort ist die Begründung für das Streben nach Weisheit, dass wir »alle streben, glücklich zu sein – εὐδαίμονες μὲν εἶναι προϑυμούμεϑα πάντες« (282a). Vgl. Vlastos 1973, 10 f.; Gould 1963, 46 f.; Irwin 1995, 52 ff. »Notice that it would not be a final answer to claim that human beings desire good things, or a good, which is not constitutive of, or conducive to, happiness. The finality of the answer rests on the assumption that the 46
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Liebe bei Platon
Unterscheidung von finis cuius (das erstrebte Objekt) und finis quo (das Subjekt, um dessentwillen das Objekt erstrebt wird) ein, so lässt sich sagen: der finis cuius mag manch tugendhaft Edles und Selbstloses sein; finis quo ist die Glückseligkeit des Liebenden. 50 Ob man deshalb den platonischen Eros egozentrisch nennen sollte, wie es etwa Nygren tut, 51 hängt davon ab, von welchem finis man spricht. Der liebende Mensch will nicht sich selbst, sondern das Gute, und insofern kann Kruse-Ebeling schreiben: »Der platonische eros ist […] streng von einer nur um das eigene Ich kreisenden Selbstliebe zu trennen und von vornherein mit einer Selbsttranszendenz, einem Verlassen und Überwinden der eigenen Ich-Zentriertheit verbunden« (84). Nur ist damit die Frage des Egozentrismus nicht vom Tisch. Sie lautet: finis quo? In der Tat, er kreist nicht um sich selbst, sondern um die Idee, dies aber aus einem Motiv, in dem es ihm um sich geht. 52
2.2.2
Aufstieg
Dies ist das prinzipielle Liebesszenario, in dem nun die Liebe zum anderen Menschen verortet werden muss. Der andere Mensch begegnet als Teil der irdisch-endlichen Wirklichkeit und ist doch zugleich in seiner ihm eigenen Befähigung zur Transzendenz das unter allem Sichtbaren ausgezeichnete Bild des Unsichtbaren: »Reigengenossen der Götter«; 53 »ein Gewächs, das nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt« 54 (Ti. 90a); ein »heiliges Bild« (Phdr. 251a u. 252d). 55 ultimate aim of all desire and action is happiness« (Sheffield 2006, 77). Insofern ist Ebbersmeyer 2009 nur im Bezug auf den Terminus, nicht aber im Bezug auf die Sache zuzustimmen, wenn er dafürhält, dass »die Liebe zu sich selbst (philautia), die bei Aristoteles zur Grundlage aller Liebesbeziehung zu anderen wird (EN 1168a28– 1169b2)«, bei Platon »eine untergeordnete Rolle« (301) spielt. 50 S. dazu unten 85 ff. 51 Vgl. Nygren 1955 [1930], 120 f. 52 Die Verdammung der Selbstliebe in Nom. 731d–732b fordert nichts anderes als das von Eigensinn und Eitelkeit unabgelenkte Aus-Sein auf das Gute. Dessen Motivation im Glücksstreben bleibt gänzlich unangetastet. 53 »[…] τούς ϑεούς συγχορευτὰς« (Nom. 654a). 54 »[…] ὄντας φυτὸν οὐκ ἔγγειον ἀλλὰ οὐράνιον« (Ti. 90a). 55 »ἄγαλμα« (Phdr. 251a, 252d). Freilich zunächst im Modus eines inhärierenden Auftrages: »Verähnlichung mit Gott so weit als möglich, und diese Verähnlichung besteht darin, dass man gerecht und fromm sei mit Einsicht – ὁμοίωσις ϑεῷ κατὰ
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Platon
Dass sich im geliebten Menschen mehr zeigt, als dieser ist, erweist sich als das Schwungrad des platonischen Eros. In ihm, einem Schönen und Guten, zeigt und entzieht sich das Schöne und Gute selbst. Als ein solches Bild liebt ihn der Liebende zu Recht, jedoch dann und nur dann, wenn er entzündet vom sich-Zeigenden über sein konkretes Bild hinausgeht zum immer Schöneren: »von einem zu zweien, und von zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne.« 56 Der Geliebte dient dem Liebenden im Aufstieg des Symposions mithin v. a. als Verweis auf das je Schönere, bzw. das Schöne selbst. »Beim Anblick der hiesigen Schönheit, jener wahren sich erinnernd«, 57 liebt er nicht »knechtischerweise die Schönheit eines Knäbleins oder irgendeines Mannes«, 58 sondern »das Schöne selbst, nicht die vielerlei schönen Dinge«. 59
τὸ δυνατόν· ὁμοίωσις δὲ δίκαιον καὶ ὅσιον μετὰ φρονήσεως γενέσϑαι« (Theaitet 176b; vgl. Rep. 500c, 613a–b; Nom. 716a–d). »Die platonischen Aussagen über den Menschen ›pendeln‹ gewissermaßen permanent zwischen einer eher deskriptiven Anthropologie, welche die naturgegebene Mittelstellung des Menschen betont, und einer normativen (oder auch: ideellen) Anthropologie, deren Kerngehalt das wahre Menschsein in seiner höchsten Vollendungsgestalt ist, das der Mensch erst selbst zu verwirklichen bzw. zu dem er sich selbst zu machen hat« (Müller 2009, 196; vgl. Patterson 1985, 157 f.). Die Skala reicht vom »göttlichsten und zahmsten Lebewesen – ϑειότατον ἡμερώτατόν τε ζῷον« bis »zum wildesten von allen, welche die Erde hervorbringt – ἀγριώτατον, ὁπόσα φύει γῆ« (Nom. 766a). 56 »[…] ἀπὸ ἑνὸς ἐπὶ δύο καὶ ἀπὸ δυοῖν ἐπὶ πάντα τὰ καλὰ σώματα, καὶ ἀπὸ τῶν καλῶν σωμάτων ἐπὶ τὰ καλὰ ἐπιτηδεύματα, καὶ ἀπὸ τῶν ἐπιτηδευμάτων ἐπὶ τὰ καλὰ μαϑήματα, καὶ ἀπὸ τῶν μαϑημάτων ἐπ’ ἐκεῖνο τὸ μάϑημα τελευτῆσαι, ὅ ἐστιν οὐκ ἄλλου ἢ αὐτοῦ ἐκείνου τοῦ καλοῦ μάϑημα, καὶ γνῷ αὐτὸ τελευτῶν ὃ ἔστι καλόν« (Smp. 211c–d). 57 »[…] ὁρῶν κάλλος, τοῦ ἀληϑοῦς ἀναμιμνῃσκόμενος« (Phdr. 249d). 58 »[…] ὥσπερ οἰκέτης, ἀγαπῶν παιδαρίου κάλλος ἢ ἀνϑρώπου τινὸς« (Smp. 210d). 59 »[…] αὐτὸ τὸ καλὸν ἀλλὰ μὴ τὰ πολλὰ καλά« (Rep. 493e). »Although one must begin with sense perception it is possible ultimately to rise above it to apprehension of Forms alone. (…) Similarly, one may gain some conception, or perhaps dim recollection, of a man through studying images of him, but can in principle have direct access to him independently of any of his images« (Patterson 1985, 162). Zum Ascensus im Symposium s. a. Sheffield 2006, Kap. 4; Price 1989, 38 ff.
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Liebe bei Platon
Die Entdeckung des eigentlich Geliebten treibt den Liebenden also weiter und damit über den anderen Menschen hinaus, so dass schließlich gilt: »The boy of beautiful soul has disappeared from view. We are not told what happens to him. While there is no reason to deny that the lover could continue to share with him the results of his later philosophic quest, the center of his emotional attention is no longer occupied by an individual person, or indeed by persons at all.« 60 Der Andere wird nicht mehr kontempliert. »Neither has any reason to look into the other’s eyes«. 61 Für die Platonforschung zur Liebe stellt G. Vlastos’ Artikel »The Individual as an Object of Love in Plato« (1973) einen zentralen Bezugspunkt dar. 62 Wohl keiner vor ihm hat das Versagen der platonischen Eroskonzeption vor der Liebe zum Individuum mit solcher Entschiedenheit und Kompetenz dargelegt. Für die vorliegende Untersuchung ist sein Artikel nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil er Platons Liebesbegriff im Zusammenhang mit seiner Abbildtheorie erschließt: »What we are to love in persons is the ›image‹ of the Idea in them.« (31). »On the terms of that theory, to make flesh-and-blood men and women terminal objects of our affection would be folly or worse, idolatry, diversion to images of what is due only to their divine original.« (32). The »idea, and it alone, is to be loved for its own sake; the individual only so far as in him and by him ideal perfection is copied fugitively in the flux« (34). 63 Damit kommt es als ein Selbst für den Liebenden nicht in Betracht. »So unless a man we loved actually was this proton philon [was eben bei Platon nicht gedacht wird; vgl. 19 f.], it would be a mistake to love him ›for his own sake‹, to treat him in, in Kant’s phrase, as ›an end in himself‹« (10).
Ferrari 1992, 258; vgl. Gould 1963, 55. So Price 1989 (58), der allerdings bzgl. des Phaidros die bleibende Funktion des Geliebten als Bildes vertritt (vgl. ebd., Kap. 3). 62 Vlastos 1973, 3–42. 63 Vgl. Nozick 2006: Wie kann unter solchen Vorzeichen die Treue in der romantischen Liebe erklärt werden? »If someone were loved ›for‹ certain desirable or valuable characteristics, it seems you should love this new person more. […] Plato’s theory is especially vulnerable to these questions, for there is the Form of Beauty that is the ultimate and appropriate object of love; any particular person serves merely as a bearer of characteristics that awaken in the lover a love of the Form and hence any such person should be replaceable by a better awakener« (76). 60 61
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Platon
Seit dem Vlastos-Artikel ist nahezu alle Platon-Forschung zur Liebe eine Auseinandersetzung mit dieser Position 64 – und dies selten zustimmend, meist stark modifizierend oder ablehnend. Auf die eine oder andere Weise wird versucht, Platon so zu interpretieren, dass erstens der Geliebte nicht bloß ein Wegweiser auf dem Weg zum Guten ist, sondern selbst Adressat der Liebe bleibt – einer Liebe, von der mancher zweitens zusätzlich zu zeigen versucht, dass ihr Eigeninteresse bei Platon im Einklang mit einem echten Altruismus stünde. Diese Weisen der Rehabilitierung Platons als personalen Liebesphilosophen sollen im Folgenden untersucht werden.
2.2.3
Abstieg?
Für das Symposion setzt man zur Wiedereinsetzung der Liebe zum Liebling beim »Zeugen im Schönen« 65 an. Wie kommt es zu diesem? Der Mensch will das Gute, und zwar nicht nur jetzt, sondern für immer (206a). Was aber der Unendlichkeit für einen Sterblichen am nächsten kommt, ist die Zeugung: »auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, dass es durchaus immer dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes Neues solches zurücklässt, wie es selbst war«. 66 Dieses Zeugen ist eine »göttliche Sache« 67 und kann deshalb nur in eine Wirklichkeit hinein geschehen, die dieser Divinität angemessen ist: das Schöne. 68 Dabei eignet dem Zeugen nun selbst eine innere Stufung. Zuerst die leibliche Dimension, »indem sie [die Liebenden] durch Kindererzeugen Unsterblichkeit und Gedächtnis und Glückseligkeit, wie sie meiVgl. Price 1989, Irwin 1995, Nussbaum 1986, Nicholson 1999, Sheffield 2006, Nails/Lesher/Sheffield 2006 – siehe jeweils im Register. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. 65 »[…] τίκτειν […] ἐν δὲ τῷ καλῷ« (Smp. 206c). 66 »τούτῳ γὰρ τῷ τρόπῳ πᾶν τὸ ϑνητὸν σῴζεται, οὐ τῷ παντάπασιν τὸ αὐτὸ ἀεὶ εἶναι ὥσπερ τὸ ϑεῖον, ἀλλὰ τῷ τὸ ἀπιὸν καὶ παλαιούμενον ἕτερον νέον ἐγκαταλείπειν οἷον αὐτὸ ἦν« (208a–b). »Love is not only love of the good but also the desire to possess the good always (206a); but the desire to possess the good always is really two desires, one for the good and one for immortality; and ›begetting‹ is the closest that a mortal creature can come to immortality« (Ferrari 1992, 255; s. a. Frede 2012; Gould 1963, 49 f.; Sheffield 2006, 75–111). 67 »ϑεῖον τὸ πρᾶγμα« (206c). 68 »Unangemessen ist das Häßliche allem Göttlichen, das Schöne aber angemessen – ἀνάρμοστον δ’ ἐστὶ τὸ αἰσχρὸν παντὶ τῷ ϑείῳ, τὸ δὲ καλὸν ἁρμόττον« (206d). 64
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Liebe bei Platon
nen, für alle künftige Zeit sich verschaffen«. 69 Sodann die seelische: In jemandes Seele Weisheit und Tugend senken. »Die größte aber und bei weitem schönste Weisheit […] ist die, welche in der Staaten und des Hauswesens Anordnung sich zeigt, deren Name Besonnenheit und Gerechtigkeit ist«. 70 Dies führt nun zu einer Wiedereinsetzung des aus den Augen geratenen Geliebten. Da die Verheißung, Tugend zu »erzeugen« und »aufzuziehen« (212a), auch noch für den höchsten Punkt des Aufstieges gilt, folgert Price: »Personal love, of a kind, is thereby not supplanted, but glorified«. 71 Im Status des irdischen Lebens gibt es damit in der Tat keine mitweltvergessene reine Schau des Schönen und Guten. Der Weg nach oben ist ohne den Weg nach unten nicht zu machen. 72 Denn wenn der Mensch nur durch Verähnlichung mit dem Göttlichen die ideale Wirklichkeit erreichen kann, Verähnlichung aber nur durch analoge Unsterblichkeit gelingt, die einzig durch das Zeugen im Schönen möglich ist, dann bleibt er für seine Erlösung angewiesen auf den Kontakt mit dem Geliebten. Ziel bleibt die Idee, aber da der Aufstieg immer der »educative pederasty« verbunden bleibt, ist sein Verständnis »as describing a discarding of persons for the sake of Forms […] confusing the loved one’s role as an object of contemplation (in which he is soon largely superseded) with his role as a recipi-
»διὰ παιδογονίας ἀϑανασίαν καὶ μνήμην καὶ εὐδαιμονίαν, ὡς οἴονται, αὑτοῖς εἰς τὸν ἔπειτα χρόνον πάντα ποριζόμενοι« (208e–209a). 70 »πολὺ δὲ μεγίστη, ἔφη, καὶ καλλίστη τῆς φρονήσεως ἡ περὶ τὰ τῶν πόλεών τε καὶ οἰκήσεων διακόσμησις, ᾗ δὴ ὄνομά ἐστι σωφροσύνη τε καὶ δικαιοσύνη« (209a). Aus welcher Zeugung dann durch die Mitwirkung des Geliebten auch eine gemeinsame Elternschaft von Liebendem und Geliebtem für das in letzterem Erzeugte wird: »So dass diese eine weit genauere Gemeinschaft miteinander haben als die eheliche und eine festere Freundschaft, wie sie auch schönere und unsterblichere Kinder gemeinschaftlich besitzen – ὥστε πολὺ μείζω κοινωνίαν τῆς τῶν παίδων πρὸς ἀλλήλους οἱ τοιοῦτοι ἴσχουσι καὶ φιλίαν βεβαιοτέραν, ἅτε καλλιόνων καὶ ἀϑανατωτέρων παίδων κεκοινωνηκότες« (209c). 71 Price 1989, 54 – vgl. dazu die Kritik Sheffields S. 163 ff. u. 17 ff. 72 Eine Inversion des Ascensus, auf den Platon besonders plastisch im Theaitetos zu sprechen kommt: »[…] man muss trachten von hier nach dort aufs schleunigste zu entfliehen. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott so weit als möglich, und diese Verähnlichung besteht darin, dass man gerecht und fromm sei mit Einsicht – πειρᾶσϑαι χρὴ ἐνϑένδε ἐκεῖσε φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ ὁμοίωσις ϑεῷ κατὰ τὸ δυνατόν· ὁμοίωσις δὲ δίκαιον καὶ ὅσιον μετὰ φρονήσεως γενέσϑαι« (Tht. 176a– b) – schön kommentiert von Price: »Striking here is that flight from the world is equated with playing one’s part rightly within it« (1989, 51). 69
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Platon
ent of thought«. 73 Damit führt kein Weg am Anderen vorbei. Jedoch muss man zusehen, dass man hier nicht voreilig auf eine innere Haltung der Agape schließt. 74 Das, was der Zeugende hier tut, wäre in seinem Was mit der Güte vereinbar: Einen jungen Menschen zu einem Leben der Tugend führen. Aber warum er es tut, weist in keiner Weise auf eine Motivation des gütigen Für-den-Anderen. Mit keiner Silbe erwähnt Platon, dass es dem Zeugenden hier um den Schönen ginge, vielmehr dementiert Diotima dieses eindeutig: »Die Liebe, o Sokrates, geht gar nicht auf das Schöne, 75 wie du meinst. – Sondern worauf denn? – Auf die Erzeugung und Geburt im Schönen« 76 – auf diese aber, wie gezeigt, der eigenen Unsterblichkeit halber. Und unter diesem Vorzeichen erklärt dann Diotima auch den von Phaidros als Zeichen höchster Liebe erwähnten Stellvertretertod der Alkestis für ihren Gatten mit dem »gewaltigen Trieb […], berühmt zu werden und einen unsterblichen Namen auf ewige Zeiten sich zu erwerben«. 77 »Denn meinst du wohl, sprach sie, Alkestis würde für den Admetos gestorben sein [es folgen weitere Beispiele], wenn sie nicht geglaubt hätten, eine unsterbliche Erinnerung ihrer Tugend würde nach ihnen bleiben«? 78 Jede noch so raffinierte Operation, mit der man versucht, das Streben nach der eigenen Erfüllung mit einem echten Für-den-Anderen-um-seinetwillen zu versöhnen, indem gesagt wird, die Liebe des Anderen führe nur dann zum begehrten Glück, wenn wirklich der Andere als er selbst und um seinetwillen gemeint ist, 79 geht a) über Price, 49. Etwa: »Der zunächst als Begehren bestimmte Eros – im Grunde ein Begehren nach Unsterblichkeit – wendet sich vermöge seiner Zeugungskraft liebend und sorgend dem geliebten Menschen zu« (Kuhn 1975, 50). Oder: »Quand l’amour s’évanouit à titre de tendance vers ce dont il est encore dépourvu, il subsiste néanmoins, en retour, comme effusion bienveillante, comme faveur concédée, comme grâce condescendante« (Robin 1970, xcvii). 75 Womit sie hier nicht die Idee als das Schöne an sich meint – das gäbe im Gesamtkontext keinen Sinn, sondern das Einzelschöne, dem der »Zeugungslustige« (Schleiermacher 208e, 209c) sich nähert. 76 »ἔστιν γάρ, ὦ Σώκρατες, ἔφη, οὐ τοῦ καλοῦ ὁ ἔρως, ὡς σὺ οἴει. Ἀλλὰ τί μήν; Τῆς γεννήσεως καὶ τοῦ τόκου ἐν τῷ καλῷ« (Smp. 206e). 77 »[…] δεινῶς […] ἔρωτι τοῦ ὀνομαστοὶ γενέσϑαι καὶ κλέος ἐς τὸν ἀεὶ χρόνον ἀϑάνατον καταϑέσϑαι« (208c). 78 »ἐπεὶ οἴει σύ, ἔφη, Ἄλκηστιν ὑπὲρ Ἀδμήτου ἀποϑανεῖν ἄν, […] μὴ οἰομένους ἀϑάνατον μνήμην ἀρετῆς πέρι ἑαυτῶν ἔσεσϑαι« (208d). 79 »If bequeathing a way of life is to satisfy, even to some extent, an innate desire for 73 74
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Liebe bei Platon
Platon hinaus 80 und kann b) nicht vertuschen, dass das movens selbst in diesen Interpretationsmodellen maximaler Liebe zum Anderen bei Platon die Eudaimonia ist: Wir also in der Aporie stehen, die uns von nun an begleiten wird, dass der Andere um seiner selbst willen geliebt werden soll, weil ich mir um meinetwillen ein gutes/glückliches Leben sichern will. Ein wirkliches und gültiges Für-Dich, das aus einem ursprünglichen Für-mich soll motiviert sein können, wirft ein Problem auf, bei dem sich die Philosophie nicht beruhigen kann. 81
survival, I must value its realization in another rather as I value it in myself. If I view him as a means and not an end, then his happy life cannot count in itself as a success for me. The further we extend the desire for the good to belong to oneself always (Smp. 206a11–12), the less we can oppose it to a desire that others should possess the good, and for their own sakes« (Price 1989, 98). Kuhn: »Mit dem Begriff der begehrenden Liebe verbanden sich […] von vornherein der Gedanke der fürsorgenden Liebe, griechisch gesprochen der epimeleia, des Sichkümmerns um etwas oder jemanden, und die Einsicht in die Untrennbarkeit dieser beiden Begriffe. Die Begehrensliebe will das Gute für mich, den Begehrenden, und um meinetwillen. Die Fürsorgeliebe will das Gute für den Anderen um des Anderen willen.« Sie implizieren sich: »Das Ziel, das begehrte ›Gute für mich‹, ist nicht Seligkeit, sondern Unseligkeit, wenn das ›für mich‹ bedeutet: ›für mich allein‹« (Kuhn 1975, 42). Das mag sich aus eigenem Nachdenken ergeben, aber ein einfaches Sich-implizieren von sorgender und begehrender Liebe bei Platon zu behaupten (54), überreizt deutlich das Blatt. 80 Wie schließlich dann auch Kuhn andeutet: Das Gute mit der Güte identifizieren; den menschenliebenden Gott mit der Idee des Schönen selbst? »Die Annahme ist wohl erlaubt, solange wir uns daran erinnern, dass wir mit ihr über das von Platon ausdrücklich Gesagte hinausgehen. […] Dass der Weg hinauf und der Weg herab ein und derselbe sind – diese von Heraklit ausgesprochene Wahrheit (fr. 60) lässt Platon uns allenfalls erraten« (55). 81 Eine Zwischenposition nimmt Sheffield ein: Eros als Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott ist nicht nur zuständig für den Aufstieg, sondern auch für den Abstieg – das bringt den anderen Menschen ins Spiel: »Denn Gott verkehrt nicht mit Menschen, sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses [das Dämonische] – ϑεὸς δὲ ἀνϑρώπῳ οὐ μείγνυται, ἀλλὰ διὰ τούτου πᾶσά ἐστιν ἡ ὁμιλία καὶ ἡ διάλεκτος ϑεοῖς πρὸς ἀνϑρώπους« (Smp. 203a). »For the one who has made the ascent, then, if he is to fulfill his demonic nature, he must perform this demonic work and descend back again from gods to men« (Sheffield 2006, 177). Gleichwohl ist damit nicht gesagt, dass dieser Dienst um des Anderen willen geschieht, wie Sheffield selbst eingesteht, und es ist auch nicht gesagt, dass er zum Eros gehört oder aus dem Eros folgt (vgl. 179). Er folgt für Sheffield eher aus der menschlichen Natur: »Contemplation of the form may not require another person, but our natures may require us [»human beings cannot engage in continuous contemplative activity {…} (207c5–208b5)« – 179] to keep realizing that activity in our lives and to communicate back from the divine form to the realm of human concerns« (180).
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Platon
Horn sieht nur einen Ausweg aus diesem Versagen der im Symposion dargelegten Theorie vor der Liebe zu Personen, 82 nämlich den, dass es hier letztlich überhaupt nicht um die Personenliebe gehe, sondern um die philosophische Liebe zur Idee. Wäre das Symposion eine Theorie über die Liebe zu Personen, so wäre das Versagen dieser Theorie angesichts der wirklichen Phänomene personaler Liebe niederschmetternd. Derart niederschmetternd, dass man, so Horn, schlicht nicht davon ausgehen kann, Platon habe mit dem Symposion eine solche Theorie vorlegen wollen. 83 Das Symposion ist stattdessen eine Theorie der Liebe des Philosophen »als eines in manchen Individuen angelegten Strebens nach vollkommener intellektueller Einsicht« (5). Will man etwas über interpersonale Liebe erfahren, müsse man in die beiden anderen Liebes-Dialoge schauen, in denen »augenscheinlich nicht die Theorie der Sokrates-Diotima-Passage wiederholt« (2) werde. Dies wollen wir im Folgenden tun.
Das er in neun Einwänden präzise zusammengefasst hat (Horn 2012, 6–12), von denen die vier folgenden für unsere Fragestellung von Belang sind. Nach der Nummerierung bei Horn: III) Warum die Liebe als defizitären Zustand beschreiben? Ist sie nicht eher »Ausdruck einer persönlichen Stärke«? Außerdem müsste sie im Erreichen des Geliebten enden, anstatt, was doch eindeutig näher liegt, »zu einer Erfüllung« (8) zu gelangen. VI) »Einwand gegen den Egoismus und den Unilaterismus von Sokrates’ Konzeption der Liebe« (10), der einerseits »instrumentalisierend mit Blick auf die geliebte Person […] [als] ein Mittel zur Realisierung des Begehrens des Liebenden« (10) vorgeht, andererseits die Frage der Gegenseitigkeit ganz außenvorlässt. VII) »Impersonalismus«: Im Blick ist nicht die Person, sondern ihre Eigenschaft der Schönheit, die zudem immer überboten wird von noch Schönerem bzw. dem Schönen selbst. VIII) »Antiindividualismus«: Der Geliebte ist nicht in seiner Eigenart im Blick, sondern »als nur token eines bestimmten type« (11). 83 Ähnlich Sheffield: »Socrates does not offer us an account of altruistic love, but that, as I hope to have shown, is a misguided expectation. The flaw in this case is an interpretative one on our part, and not in Socrates’ account of erōs« (181; vgl. dies. 2012). Auch Vlastos sieht, dass »Plato’s theory is not, and is not meant to be, about personal love for persons« (1973, 26), dies aber nicht, weil er sich hier nicht damit beschäftigen wollte, sondern weil sie nicht im System zu integrieren ist: »Diotima’s failure«, eine Liebe zu einer Person um ihrer selbst willen zu beschreiben, »is no accidental oversight, but an integral feature of the structure of Plato’s theory.« (31) »The high climatic movement of fulfilment – the peak achievement for which all lesser loves are to be ›used as steps‹ – is the one farthest removed from affection for concrete human beings.« (32) 82
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Liebe bei Platon
2.2.4
Phaidros
Liebesphilosophisch haben wir im Phaidros in gewisser Hinsicht ein Pendant zur Bildphilosophie des Timaios. Wie im Timaios ist zunächst nicht das Zurückbleiben des Bildes hinter dem Abgebildeten entscheidend, sondern die Tatsache seines Abbildens – so aber nicht sein Verstellen, sondern sein Erschließen. Zwar geht es auch hier um Erinnerung (Phdr. 249d) an das in einem früheren Leben am »überhimmlischen Ort – τὸν […] ὑπερουράνιον τόπον« (247c) erschaute Original, aber die scheint nicht zwingend ad hoc zu einem Überstieg zu führen; eher geht es um ein Ersehen des Erinnerten im Bild, das der Andere ist. Und dies in drastischen Worten: »Wer […] noch frische Weihung an sich hat und das Damalige vielfältig geschaut, wenn der ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst. […] hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott, und fürchtete er nicht den Ruf eines übertriebenen Wahnsinns, so opferte er auch, wie einem heiligen Bilde, oder einem Gotte, dem Liebling«. 84 »Als wäre jener sein Gott selbst, bildet er ihn aus und schmückt ihn wie ein heiliges Bild, um ihn zu verehren und ihm begeisterte Feste zu feiern«. 85 Hinzukommt auch hier, »ohne dem Neide oder unedler Missgunst Raum zu geben gegen den Geliebten«, 86 der pädagogische Dienst, den Geliebten anzuleiten zur Nachahmung des Gottes. Nirgendwo ist die Rede von einem Überstieg über den Liebling. Im Gegenteil: Es geht um ein »seliges und einträchtiges Leben«. 87 Selbst die nicht gänzlich »platonisch« Liebenden werden, »als Freunde […] obgleich nicht ganz so wie jene [die nicht fleischlich Liebenden], miteinander, während ihrer Liebe und auch, wenn sie darüber hinaus sind, leben, überzeugt, dass sie die größten Pfänder einander gegeben und angenommen haben, welche frevelhaft wäre jemals wieder un-
»ὁ […] ἀρτιτελής, ὁ τῶν τότε πολυϑεάμων, ὅταν ϑεοειδὲς πρόσωπον ἴδῃ κάλλος εὖ μεμιμημένον ἤ τινα σώματος ἰδέαν, πρῶτον μὲν ἔφριξε […] εἶτα προσορῶν ὡς ϑεὸν σέβεται, καὶ εἰ μὴ ἐδεδίει τὴν τῆς σφόδρα μανίας δόξαν, ϑύοι ἂν ὡς ἀγάλματι καὶ ϑεῷ τοῖς παιδικοῖς« (251a). 85 »[…] ὡς ϑεὸν αὐτὸν ἐκεῖνον ὄντα ἑαυτῷ οἷον ἄγαλμα τεκταίνεταί τε καὶ κατακοσμεῖ, ὡς τιμήσων τε καὶ ὀργιάσων« (252d–e). 86 »[…] οὐ φϑόνῳ οὐδ’ ἀνελευϑέρῳ δυσμενείᾳ χρώμενοι πρὸς τὰ παιδικά« (253b). 87 »μακάριον […] καὶ ὁμονοητικὸν τὸν […] βίον« (256a–b). 84
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Platon
gültig zu machen und in Feindschaft zu geraten«. 88 Die zur Vollkommenheit gelangten Liebenden aber »werden der Liebe wegen zu gleicher Zeit befiedert« 89 – zur gemeinsamen Schau der Ideen. Das ist nun in der Tat ein Gedanke, der so im Symposion nicht erscheint: »In the Symposium [Plato] speaks of a way to philosophy through love, in the Republic of a way to love through philosophy. In the Phaedrus he speaks of the philosophic lover«. 90 Im Phaidros gilt nun, »that it is not necessary, or perhaps even possible, for the philosopher to fall out of love and cease to need his special friend«. 91 Besonders stark macht M. Nussbaum den Wandel der Stellung der geliebten Person vom Symposion zum Phaidros. So sieht sie schon im Symposion in der – häufig übersehenen – Rede des Alcibiades eine offene Stelle, in der die Einzigartigkeit des Geliebten dem sokratischen Aufstieg entgegengehalten wird: »If a writer describes a certain theory of love and then follows that description with a counterexample to the theory, a story of passion for a unique individual as eloquent as any in literature – a story that says that the theory omits something, is blind to something – then we might want to hesitate before calling the author blind«. 92 Während es im erotischen Aufstieg des Symposion keine »irreplaceability« (181) gibt, hält Alcibiades genau diese dagegen: »Socrates is like nobody else, to respond to him as such and to act accordingly, is the rational way to behave towards another individual. (…) it is an integrated response to the person as a unique whole« (191). Der Leser steht vor einer Wahl, in der Platon ihm allerdings in der Weise, wie er den getriebenen Alcibiades beschreibt (»seine Tollheit und sein verliebtes Wesen ist mir ganz schrecklich« 93), eindeutig den Diotima-Weg nahelegt: »We cannot simply add the love of Alcibiades to the ascent of Diotima; […] we cannot have this love and the kind of stable rationality that she revealed to us. […] We see two kinds of value, two kinds of knowledge; and we see that we must choose. One sort of understanding blocks the other« (197 f.). Diese Alternativik aber ist tragisch, denn hier wie dort »φίλω μὲν οὖν καὶ τούτω, ἧττον δὲ ἐκείνων, ἀλλήλοιν διά τε τοῦ ἔρωτος καὶ ἔξω γενομένω διάγουσι, πίστεις τὰς μεγίστας ἡγουμένω ἀλλήλοιν δεδωκέναι τε καὶ δεδέχϑαι, ἃς οὐ ϑεμιτὸν εἶναι λύσαντας εἰς ἔχϑραν ποτὲ ἐλϑεῖν« (256c–d). 89 »[…] καὶ ὁμοπτέρους ἔρωτος χάριν, ὅταν γένωνται, γενέσϑαι« (256e). 90 Gould 1963, 104. 91 Ebd., 120. 92 1986, 167. 93 »ὡς ἐγὼ τὴν τούτου μανίαν τε καὶ φιλεραστίαν πάνυ ὀρρωδῶ« (Smp. 213d). 88
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Liebe bei Platon
fehlt dem Liebenden Entscheidendes: Wenn er Sokrates folgt, lässt Alcibiades ihn sehen, »that in embarking on the ascent I am sacrificing a beauty; so I can no longer view the ascent as embracing the whole of beauty. The minute I think ›sacrifice‹ and ›denial‹, the ascent is no longer what it seemed« (198). Den Weg des Alcibiades der Liebe zum Individuum zu gehen aber macht ihn zum Sklaven des Eros: »I can live in erōs, devoted to its violence and its sudden light. But once I have listened to Diotima, I see the loss of light that this course, too, entails« (ebd.). Während nun der Symposion-Platon eindeutig den Diotima-Weg favorisiert, kommt es, nach Nussbaum, zu einer Wende im Phaidros (nicht zuletzt bedingt durch seine eigene Liebe zu Dion von Syrakus, auf den im Phaidros immer wieder angespielt werde [229 f.]). »In the Symposium […] Plato offers us a stark choice; on the one hand, the life of Alcibiades, the person ›possessed‹ by the ›madness‹ of personal love; on the other, a life in which the intellectual soul ascends to true insight and stable contemplation by denying the ›mad‹ influence of personal passion. […] In the Phaedrus, however, philosophy itself is said to be a form of madness or mania, of possessed, not pure intellectual activity, in which intellect is guided to insight by personal love itself and by a complex passion-engendered ferment of the entire personality. Certain sorts of madness are not only not incompatible with insight and stability, they are actually necessary for the highest sort of insight and the best kind of stability. Erotic relationships of long duration between particular individuals (who see each other as such) 94 are argued to be fundamental to psychological development and an important component of the best human life« (20). 95 Wir haben hier also eine weniger transitorische Funktion des Geliebten. Er ist zwar auch hier wie im Symposion ein zur Erinne-
Zu dieser Aufwertung von Individualität im Phaidros s. a. 218 f. Damit hat Nussbaum 1986 vom Phaidros her eine Gegenposition zu Vlastos aufgestellt, die der seinen an Prominenz in der Debatte kaum nachsteht. Vlastos selbst geht nur kurz auf den Phaidros ein, betont allerdings auch dort den transitorischen Charakter des Anderen: er ist eben ein heiliges Bild und wird als solches angeschaut (zudem mit Fixierung auf seine Gestalt [1973, 30 Anm. 88]) – also nicht als Selbstzweck: »Depicting him as an adorable cult-object, Plato seems barely conscious of the fact that this ›holy image‹ [251a 6] is himself a valuing subject, a center of private experience and individual preference, whose predilections and choice of ends are no reflex of the lover’s and might well cross his at some points even while returning his love.« (ebd., 32).
94 95
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rung entzündendes Abbild, aber die Erkenntnis des in ihm sich zeigenden Göttlichen 96 führt nicht zum Versinken seiner, sondern zunächst zum Schmücken des Bildes und weiterer Versenkung in ihn. 97 Am Ziel des Weges aber, dessen Wesen ein Heimweg ist (249a), 98 wird der Ineinanderblick von der Schau des Schönen abgelöst. Immerhin: diese Schau ist – und auch dies ist neu – eine gemeinsame. Damit ist die Sache bildtheoretisch nicht gelöst: weil der Mensch ja gerade nicht mehr als Bild geliebt wird, sondern als Gefährte und Freund, aber es kündigt sich doch – wie im Zeugen des Symposion, nur ohne den dort ausdrücklich erotischen Vorhalt eines Strebens nach der eigenen Unsterblichkeit – etwas an, was im Gegensatz zum transzendierenden Eros beim Anderen verharrt: eine Zusammengehörigkeit von Personen, die zu einem Bleiben führt, das länger währt als die Funktion des Anderen. Ein Eros, der bleibt, und schon kein Eros mehr ist, wenn doch diesem Zusammenbleiben in der gemeinsamen Schau des Schön-Guten eigentlich kein Nutzen entsprechen kann (denn Schöneres als das Schöne und Besseres als das Gute kann es nicht geben). Wenn der Andere als Abbild gedacht wird, dann dominiert bei Platon die Nutzenliebe. Erst die Erfüllung seiner Abbildfunktion, die den Liebenden zum Überschreiten des Abbildes geführt hat (und dies – eschatologisch – eben auch im Phaidros), lässt den Eros, der seinen Nutzen sucht, verstummen und ließe nun, wenn der Andere Freund Die mediale Rolle des Geliebten wird also keineswegs zurückgenommen: »Indem nun der Führer sie [des Lieblings glänzende Gestalt] erblickt, wird seine Erinnerung hingetragen zum Wesen der Schönheit – ἰδόντος δὲ τοῦ ἡνιόχου ἡ μνήμη πρὸς τὴν τοῦ κάλλους φύσιν ἠνέχϑη« (Phdr. 254b) – »bei dem Anblick der hiesigen Schönheit jener wahren sich erinnernd – ὁρῶν κάλλος, τοῦ ἀληϑοῦς ἀναμιμνῃσκόμενος« (ebd., 249d). 97 Darauf weist auch Kreft 2012 hin. Bleibende Notwendigkeit der Gegenseitigkeit auf dem Weg zur Wahrheit: »Die Erinnerung muss immer erneuert und wachgehalten werden, damit die Seele nicht wieder von der Vergessenheit beschwert wird. Gegenseitige Liebe garantiert auf diese Weise, dass sich die Liebenden schrittweise vollständig an das Wahre erinnern und ist somit eines der größten Güter, wenn nicht das größte Gut auf Erden (Phdr. 245b7; 256b4–7, 256e3–4). […] Das gute Leben beinhaltet also doch tiefe zwischenmenschliche Beziehungen, und wenn unsere Intuitionen hinsichtlich der gegenseitigen Liebe im Symposion rebelliert haben, dann können sie im Phaidros mit Sokrates Frieden schließen« (220 f.). Dass diese gegenseitige Kontemplation nicht eigentlich einander, sondern der sich abbildenden Idee gilt und zudem in eschatologischer Perspektive durch eine Schau der Idee an sich abgelöst wird, problematisiert Kreft hier nicht. 98 »Once a soul has entered into its incarnate life, the way backwards is the only way forwards« (Price 1989, 74). 96
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Liebe bei Platon
bleibt, Raum für eine andere Liebe. 99 Allerdings haben wir hier nicht mehr als eine argumentative Unbestimmtheit, eine Leerstelle, die sich kreativ mit einem agapeischen Eingriff füllen lässt. Gibt es dagegen im corpus platonicum echte vestigia caritatis? Im Folgenden möchte ich einige Stellen untersuchen, die den Anschein erwecken, sich nicht umstandslos in das platonische Konzept einer reinen Eudaimonia-Motivation einordnen zu lassen. Dabei beginne ich mit einer Fehlanzeige im Lysis, um dann über die Tugenden der Gerechtigkeit und der Frömmigkeit zur Theologie zu gelangen, in der sich schließlich ein kleines, aber starkes Theorem findet, das sich im allgemeinen platonischen Drängen nach der Erfüllung des Selbst wie eine Bewegung ganz anderer Art ausmacht.
2.2.5
Lysis
Zunächst: Unsere Frage ist nicht die des Lysis. In ihm geht es vielmehr darum, wie es überhaupt zu Freundschaft kommen kann. Dafür nämlich muss – unter den Vorzeichen des strebenden Eros – ausgemacht werden können, wie Menschen einander von Nutzen sein können. Der Dialog endet also nicht in der Aporie, weil Nutzenliebe und Güte unvereinbar gegenüber stünden, sondern weil es nicht gelingen will, den Nutzen auszumachen, den ein Freund vom anderen haben kann. 100 Mit einem Bösen befreundet zu sein, nutzt weder einem anderen Bösen noch einem Guten – denn beide wollen nicht, dass ihnen Unrecht angetan wird (214c). Welchen Nutzen aber soll der bereits Gute von einem anderen Guten haben? Er braucht vom Anderen nicht, was er selbst schon ist (215a). Weil die Liebe hier aber axiomatisch als Nutzenliebe veranschlagt wird, bleibt es somit bis zuWie aber diese dann mit dem Bildsein des Anderen zu vermitteln wäre, ist bisher gänzlich offen, und kann auch erst gefragt werden, wenn wir einen solchen Liebesbegriff – hier oder bei den Späteren – gefunden haben. 100 Von der so umfangreichen wie kontroversen Diskussion des Lysis (s. dazu den knappen Überblick bei Nichols 2009, 153) gilt: »Interpretations of the Lysis present a bizarre spectacle: consider practically any possible thesis about the dialogue and you will find that both it and its opposite have been defended. […] One possible reason is that the Lysis is an aporetic dialogue. Hence, any interpreter who believes that the dialogue contains a positive characterization of friendship must go beyond what is explicitly stated in the text« (Gonzales 1995, 69; vgl. als Beispiel für die Vielfalt und Heterogenität der Interpretationen auch nur einer einzigen Stelle: Bordt 1998, 139 Anm. 324). 99
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Platon
letzt unverständlich, wie es überhaupt so etwas wie Freundschaft geben kann (223b). 101 Was diesen Frühdialog dennoch für uns interessant macht, ist, dass wir en passant auf eine Liebesbestimmung stoßen, die für einen kurzen, sofort wieder vergehenden Moment jenes »Um-des-Anderen-willen« im Begriff aufleuchten lässt, 102 dessen definitorische Stabilisierung erst Aristoteles leisten wird. Wenn die Eltern des Lysis ihn lieben, dann folgt, so Sokrates: »Also wollten sie auch wohl, dass du 101 Bordt liefert eine »kritisch-konstruktive Interpretation«, die dieses Dilemma aufbricht. Eine solche »unterscheidet […] zwischen einer Widerlegung auf der Ebene des Dialoges und auf der Sachebene.« Es ist keineswegs zwingend, dass »Platon der Auffassung gewesen ist, eine Widerlegung auf der Dialogebene sei auch sachlich richtig, es ist […] ebenso möglich, dass er der Auffassung gewesen ist, eine Widerlegung auf der Dialogebene sei sachlich falsch« (67). Hier helfen drei Fragen (Bordt 1998, 70): 1) Steht die These in Kongruenz »zu dem, was sonst im Dialog behauptet oder widerlegt wird«? 2) Ist sie kongruent mit entsprechenden Thesen in anderen Dialogen? 3) Ist die These »sachlich plausibel«? Vor diesem methodologischen Hintergrund argumentiert Bordt mit Verweis auf eine Fülle von entsprechenden Belegstellen (S. 168: Nom. 837a; Phdr. 240c; Rep. 29a; Smp. 195b; Gorg. 510b) für einen sehr wohl gegebenen Nutzen der Guten für einander: »Die Freundschaft zweier Menschen zueinander ist in dem je individuellen Streben der Freunde nach dem Guten gegründet. (…) Die Freunde sind gleich, weil sie auf dasselbe Ziel ausgerichtet sind. Sie sind gut, insofern sie beide nach dem Guten streben. (…) [Die] unterschiedliche Perspektive ermöglicht es zu verstehen, wie sich Freunde nützen können. Weil die Freunde jeweils andere Aspekte dessen, was das Gute ist, verstanden haben, sind sie in der Lage, ihrem Freund in der Erreichung seines Ziels zu helfen« (92 f.; vgl. Geier 2002, 162). 102 Im Begriff – denn, dass der Dienst des Sokrates an seinen Mitbürgern und Freunden von einer solchen Haltung angetrieben wurde, ist so offenkundig, wie es andererseits kein Argument sein kann: »It might be objected that Socrates cannot mean to endorse this view of love, for it would belie his own profession of love for his fellowcitizens: he says that he loves them (Ap. 29d), but does not impute to them either wisdom (just the opposite!) nor any other quality which would elicit utility-love [vgl. Kuhn 1975, 42]. But what does this prove? Can’t a man be better than his theory?« (Vlastos 1973, 9) Ein ähnliches, viel unscheinbareres, aber sehr liebenswertes Beispiel einer Menschlichkeit, die mit dem Eros nicht hinreichend erklärt zu sein scheint, ist der Gefängniswärter des Sokrates, der in Tränen ausbricht, als er ihm die Stunde der Hinrichtung ankündigt, und den Sokrates dann folgendermaßen gegenüber seinen Freunden charakterisiert: »Wie fein der Mensch ist. So ist er die ganze Zeit mit mir umgegangen, hat sich bisweilen mit mir unterredet und war der beste Mensch; und nun, wie aufrichtig beweint er mich! – Ὡς ἀστεῖος, ἔφη, ὁ ἄνϑρωπος· καὶ παρὰ πάντα μοι τὸν χρόνον προσῄει καὶ διελέγετο ἐνίοτε καὶ ἦν ἀνδρῶν λῷστος, καὶ νῦν ὡς γενναίως με ἀποδακρύει« (Phd. 116d). Auch hier wäre ein Streben und Habenwollen eine unangemessene Deutung, es zeigt sich vielmehr ein Sein-Für – eine Haltung, die Sokrates praktiziert und hier preist, aber eben nicht in sein Nachdenken über die Liebe zwischen Menschen aufnimmt.
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Liebe bei Platon
so glücklich wärest als möglich« 103 Es ist hier zum ersten und einzigen Mal in den großen Liebesdialogen ausdrücklich gesagt, dass die Liebe zum Anderen dessen Glück will. 104 Dann aber wendet sich das Blatt. Denn, nachdem Sokrates dem Lysis seine jugendbedingte Unbrauchbarkeit aufgewiesen hat, die seine Eltern dazu führt, ihm vielerlei zu verbieten, heißt es abrupt: »Jetzt also liebt weder dich dein Vater noch sonst jemand jemanden, insofern er unbrauchbar ist. […] Wenn Du aber verständig wirst, o Sohn, dann werden alle dir freund und alle dir zugetan sein: denn du wirst brauchbar sein und gut. Wenn aber nicht: so wird weder irgendein anderer dir freund sein noch selbst dein Vater oder deine Mutter oder deine Verwandten«. 105 Vom Glückwollen für den Geliebten ist hier überhaupt nicht mehr die Rede. Geliebt wird, wer dem Liebenden Nutzen bringt. 106 Damit aber stellt sich die Frage, ob das Glückwollen für den Geliebten in dieser Topographie der Nutzenliebe überhaupt einen bleibenden Ort haben kann. 107
»Οὐκοῦν βούλοιντο ἄν σε ὡς εὐδαιμονέστατον εἶναι« (Lys. 207d). Eine Andeutung dessen kann man noch dort im Phaidros festmachen, wo gesagt wird, das Schmücken des Geliebten geschehe ohne Neid (Phdr. 253b). Dies ist eine Umschreibung ex negativo: wenn nicht missgönnt, dann gegönnt. Wir werden ihr am Ende des Kapitels im Blick auf die Theologie Platons wiederbegegnen (S. 59 ff.). 105 »Nῦν ἄρα οὐδὲ σὲ ὁ πατὴρ οὐδὲ ἄλλος ἄλλον οὐδένα φιλεῖ, καϑ’ ὅσον ἂν ᾖ ἄχρηστος […] Εὰν μὲν ἄρα σοφὸς γένῃ, ὦ παῖ, πάντες σοι φίλοι καὶ πάντες σοι οἰκεῖοι ἔσονται — χρήσιμος γὰρ καὶ ἀγαϑὸς ἔσῃ — εἰ δὲ μή, σοὶ οὔτε ἄλλος οὐδεὶς οὔτε ὁ πατὴρ φίλος ἔσται οὔτε ἡ μήτηρ οὔτε οἱ οἰκεῖοι« (210c–d). 106 Nutzen freilich weit verstanden als »alles das, was in einer positiven Beziehung zum eigenen guten Leben steht« (Bordt 1998, 139 f.; vgl. 214). 107 Wenig einleuchtend erscheint mir, dass Platon mit der Behauptung, der Perserkönig würde Lysis seine Geschäfte übertragen (209c–e), wenn er ihn für weiser hielte als sich, das reine Nutzenkriterium ad absurdum führen wolle (Bordt 1998, 138; vgl. Price 1989, 3). Nichts spricht dagegen, in diesem Passus eine Regelanwendung zu sehen, deren Resultat in seiner Unwahrscheinlichkeit aufhorchen lässt und doch gerade dabei zeigt, dass das Argument stimmt. Die Absurdität läge dann nicht in der Annahme, der Perserkönig würde jemanden, den er für weiser als sich selbst erachtet, zu seinem Bevollmächtigten machen, sondern in der Annahme, dies könne auf Lysis zutreffen. In der Tat ist der Kontext der Demütigung des Lysis im Auge zu behalten (Sokrates will dem Lysis seine Unreife demonstrieren [vgl. 210e]), und es stimmt, dass zwischen der Eingangs- und der Endbestimmung in diesem Passus ein logischer Bruch ist. Im Blick auf das Folgende aber scheint mir eher der Anschein einer gönnenden Liebe der nicht zu haltende Fremdkörper zu sein als die Nutzenliebe. Während erstere nämlich gänzlich untertaucht, ist letztere omnipräsent und die Denkfigur, vor der der Lysis sich aporetisch fragt, was man braucht, bzw. was einem angehörig ist. 103 104
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Platon
Dazu vermag nun auch der zweite Auftritt der Elternliebe im Lysis kaum etwas beizutragen. Es geht um das proton philon, das Erstgeliebte, und der vom Vater geliebte Sohn dient als Beispiel für dasjenige Geliebte, um dessentwillen eine Reihe anderer Wirklichkeiten erstrebt werden: Wenn der Sohn eines Vaters Schierling getrunken hat, dann wird sich der Vater sehr viel aus Wein (als Heilserum) machen, ja, sogar aus dem diesen enthaltenden Gefäß, aber dies alles nur, weil er »den Sohn allen andern Dingen vorzuziehen pflegt«, 108 er ihm »über alles geht« 109 (219d–e). Vlastos hat überzeugend gegen Gauthier/Jolif 110 gezeigt, dass es hier keineswegs um den Unterschied von »amour de concupiscence« und »amour désinteressé« geht, sondern um »the difference between instrumental and intrinsic value«, von dem gilt, dass er »as valid for the egoist as for anyone else« ist. 111 Sich-viel-machen-aus erzwingt keineswegs eo ipso schon das Wollen des Glücks des Anderen, im Zusammenhang des Lysis ist dies vielmehr ohne weiteres und naheliegender als Begehren des Gutes zu lesen, das er selbst ist oder beibringt. 112 Wenn also keine Liebe ohne Nutzen, wie ließe sich dann noch das Dem-anderen-Glück-Wollen einbringen. Ich sehe zwei Möglichkeiten: 1) Das Glück des Anderen wird um des eigenen Nutzens willen gewollt. Ein glückliches Kind bringt einleuchtender Weise eine Fülle von Nützlichkeiten mit sich. Aber dies hieße, dass das eigentliche Motiv für das Wollen des Glücks des Kindes eben der eigene Nutzen ist und nicht dieses Glück als das seine. 2) Glück wird dem gegönnt, der zugleich nützlich ist: Es mag »Dinge« geben, »die einem »πατὴρ ὑὸν ἀντὶ πάντων τῶν ἄλλων χρημάτων προτιμᾷ« (219d). »περὶ παντὸς ἡγεῖσϑα« (219e). 110 Vgl. Gauthier/Jolif 1970, 671, 726. 111 Vlastos 1973, 9 f./Anm. 22. Diese Stelle ist aus einem anderen Grund interessant; sie legt für einen Moment nahe, dass für den Eros eine Person wirklich ein proton philon sein könne. Man muss allerdings in Rechnung stellen, dass wir hier auf der Ebene eines Beispieles sind (es folgt das Beispiel, dass Gold und Silber um des Kaufbaren willen geliebt werden [220a], welches von Platon nun wirklich nicht als ein letztes proton philon angesehen wird), und dass zudem die durchgehende Frage nach dem Nutzen des Anderen kaum nahelegt, es ginge Platon hier in einer Nebenoperation darum, die Spur zu legen, dass das eigentliche proton philon in der Freundschaft die Person des Freundes sei. 112 Insofern kann ich Price nicht zustimmen, wenn er diese Stelle als Dementi der reinen Nutzen-Liebe liest. Warum sollte im Theorie-Rahmen des Lysis die Tatsache, dass »a father treasures his son before all his other possessions [πάντων τῶν ἄλλων χρημάτων – 219d]« (3) nicht nutzenfokussiert gedacht werden (zumal, wenn man nicht zu Unrecht χρημάτων mit »possession« übersetzt)? 108 109
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Liebe bei Platon
um seiner [!] selbst willen und um etwas anderes willen lieb sind.« Dies die Position Bordts. 113 Seine zentrale These lautet, dass der Nutzen des Freundes zwar eine notwendige, aber doch keine hinreichende Bedingung für das Zustandekommen einer Freundschaft sei. 114 Problematisch dabei ist, dass, wenn es so wäre, Platon sich, soweit ich sehen kann, über die hinreichende Bedingung ausschweigt. Vor allem aber scheint es mir fraglich, ob man von einer wirklichen Selbstzwecklichkeit des Geliebten für den Liebenden sprechen kann, wenn sie nur unter der Bedingung gegeben ist, dass jener diesem ein gutes Mittel zur Verfolgung seiner eigenen Ziele ist. Die Bedingung unterhöhlt hier das Bedingte; die Selbstzwecklichkeit, die auf der Fremdzwecklichkeit aufruht, unterliegt Einschränkungen, die sie letztlich aufheben.
2.2.6
Gerechtigkeit
Wenn also keiner der Liebesdialoge ausdrücklich eine Haltung der Güte präsentiert, so muss man dafür vielleicht weg von diesen in die Ethik gehen und dort zu derjenigen Tugend, die es ihrem Wesen nach mit dem Anderen zu tun hat: zur Gerechtigkeit. Das größte Opfer für die Anderen leisten wohl die freiwilligen Rückkehrer in die Höhle; von der Schau der Wahrheit zurück zu den Schatten, zum Dienst an den dortigen Bewohnern (520c). Wer »die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts« 115 gesehen hat, wird »viel lieber […] ›das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann‹ 116 und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort [in der Höhle] und so zu leben«. 117 Und dennoch ist er aufgefordert »wieder herab[zu] steigen […] zu der Wohnung der übrigen«, 118 um »für die andern Vgl. Bordt 1998, 207. Vgl. Bordt 1998, 136–140. So auch Sheffield im Bezug auf das Symposion: »If we take it that the form is the only object that is desired for its own sake alone we leave room for the possibility that other objects may be valued for their own sakes, and for the sake of a further end« (172). 115 »τὸν ἥλιον, οὐκ ἐν ὕδασιν οὐδ’ ἐν ἀλλοτρίᾳ ἕδρᾳ φαντάσματα αὐτοῦ« (Rep. 516b). 116 Odyssee, 11. Gesang, 489 f. 117 »σφόδρα βούλεσϑαι »ἐπάρουρον ἐόντα ϑητευέμεν ἄλλῳ ἀνδρὶ παρ’ ἀκλήρῳ« καὶ ὁτιοῦν ἂν πεπονϑέναι μᾶλλον ἢ ’κεῖνά τε δοξάζειν καὶ ἐκείνως ζῆν« (516d). 118 »καταβατέον […] εἰς τὴν τῶν ἄλλων συνοίκησιν« (520c). 113 114
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Platon
Sorge zu tragen, und sie in Obhut zu halten« (520a). 119 Dies ist eine Forderung der Gerechtigkeit: »Euch […] haben wir zu eurem und des übrigen Staates Besten wie in den Bienenstöcken die Weisel und Könige erzogen und besser und vollständiger als die übrigen ausgebildet« 120 (520b); diese Wohltat ist nun dem Staat zurückzuzahlen. Ein Selfmademan wäre dazu keineswegs verpflichtet: das ist »ganz billig, dass, was von selbst gewachsen ist, da es niemandem für seine Kost verpflichtet ist, auch nicht Lust hat, jemandem Kostgeld zu bezahlen«. 121 Was aber ist das Wesen der Gerechtigkeit, das sie zu solcher Rückerstattung verpflichtet? Wird sie bei Aristoteles als »πρὸς ἕτερον« bezeichnet, 122 so besteht sie bei Platon in einem geordneten Selbstverhältnis (Rep. 443c–d). »Nicht ›jedem das Seine‹, sondern ›jeder das Seine‹ [Rep. 433b] ist die Formel der Gerechtigkeit« 123. Es ist also nicht primär eine Haltung auf den anderen hin, sondern auf die eigene innere Ordnung, die erst so vermittelt zu einer Haltung dem Anderen bzw. der Polis gegenüber wird. 124 119 »ῶν ἄλλων ἐπιμελεῖσϑαί τε καὶ φυλάττειν« (520a). Ein Faktum, das Anders Nygren bezeichnenderweise unterschlägt, indem er nur 517c bringt, wo davon die Rede ist, dass die außerhalb der Höhle Angelangten »keine Neigung verspüren, sich den menschlichen Alltagsgeschäften zu widmen« (Nygren 1955 [1930], 114 f.). Pate steht hier wohl die hermeneutische Grundentscheidung, das Evangelium vorläuferlos – entgegengesetzt zu seiner, ja, zu aller Zeit – darzustellen: »Für die jüdische Gesetzesfrömmigkeit wie für die hellenistische Erosfrömmigkeit ist Agape ein Schlag ins Gesicht« (135). So fehlt denn auch – abgesehen von ihrer thetischen Erwähnung als »veredelte Form der Liebe nach Aristoteles«, die »schließlich auf der Selbstliebe aufbau[e]« – jegliche Auseinandersetzung mit der Selbstzweckformel der Freundesliebe bei Aristoteles. Das ganze epochemachende Werk über Eros und Agape, dem wir noch öfter begegnen werden, durchzieht eine Voreingenommenheit, die sich immer wieder mit dem wissenschaftlichen Anspruch des Autors reibt. Ein Beispiel: Dass der platonische Eros als durch und durch »egozentrisch« analysiert wird, sei nicht als »Wertprädikat« (121; vgl. 19 ff.) zu verstehen – während es auf derselben Seite heißt, dass in Smp. 208d–e »die egozentrische Orientierung auf besonders abstoßende [!] Weise« hervortrete. 120 »ὑμᾶς […] ἡμεῖς ὑμῖν τε αὐτοῖς τῇ τε ἄλλῃ πόλει ὥσπερ ἐν σμήνεσιν ἡγεμόνας τε καὶ βασιλέας ἐγεννήσαμεν, ἄμεινόν τε καὶ τελεώτερον ἐκείνων πεπαιδευμένους« (520b). 121 »δίκην δ’ ἔχει τό γε αὐτοφυὲς μηδενὶ τροφὴν ὀφεῖλον μηδ’ ἐκτίνειν τῳ προϑυμεῖσϑαι τὰ τροφεῖα« (520b). 122 EN 1129b26–40. 123 Schäfer 2007, 133. 124 Dabei korreliert die Gerechtigkeit mit der Glückseligkeit (Rep. 354a; 580b–c). Zwar wird sie sowohl »um ihrer Folgen« als auch »um ihrer selbst willen« geliebt,
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Liebe bei Platon
Was hier wieder motivational und formal im Selbstverhältnis aufgehängt wird, ist gleichwohl material von großer Wucht in seiner Verpflichtung für den Anderen. Es geht – zuhöchst dann in den Nomoi – um eine beeindruckende Verantwortlichkeit für den anderen Menschen, und dies v. a. denen gegenüber, die des besonderen Schutzes bedürfen: die Alten (717b–c), die Gäste und Fremden (729), die »Schutzflehenden – ἱκέται« (730a) und unter denen noch einmal in besonderem Maße die »Waisen und Verlassenen«. 125 Dabei geht die Verpflichtung für das Wohlergehen der Waise bis zur Forderung: »Wer eine männliche oder weibliche Waise bevormundet, […] liebe denjenigen, welchen das Schicksal der Verwaisung betraf, nicht minder als seine eigenen Kinder und sei nicht mehr für das eigene Vermögen als für das seines Mündels besorgt, ja für dieses noch mehr als für das seinige.« 126 Es fehlt allerdings ein Theorem, dass das, was materialiter hier für den Anderen geschieht, auf der Motiv-Ebene um seinetwillen geschehen ließe. Denn letztlich wird in all diesem Tun die eigene Tugend und in ihr die Glückseligkeit erstrebt. Dass Tugend auch damit zu tun hat, für die Anderen zu sorgen, sieht tief, aber solange dies ganz und gar eingebettet ist in die Suche nach dem Meinen, ist der Andere auch als Empfänger von Wohltaten noch instrumentalisiert. Dennoch stoßen wir an etwas Neues, nämlich dort, wo diese Schutzwürdigkeit der Bedürftigen (freilich keineswegs aller) 127 begründet wird mit einem besonderen Augenmerk der Götter: Die Vormünder haben »die Götter des Himmels zu fürchten, welche für die Verlassenheit der Waisen ein Empfinden haben«, 128 und über die aber mit dem für solches kategorisches Um-ihrer-selbst-willen verhängnisvollen hypothetischen Zusatz: von dem, »der glückselig sein will – ὸ καὶ δι’ αὑτὸ καὶ διὰ τὰ γιγνόμενα ἀπ’ αὐτοῦ ἀγαπητέον τῷ μέλλοντι μακαρίῳ ἔσεσϑαι« (Rep. 358a; vgl. Nom. 716a, 734d–e, 879b–c). Ein Eudaimonismus, der freilich nicht primär auf den außersittlichen Nutzen schielt (solche Folgen hält Platon bewusst als sekundär bis zum Ende der Politeia [612b ff.] zurück), sondern sein Glück eben im Sittlich-sein erstrebt. 125 »ὀρφανὰ καὶ ἔρημα« (927b–c). 126 »Ὃς ἂν ϑῆλυν εἴτε ἄρρενα ἐπιτροπεύῃ […] μὴ χεῖρον ἀγαπάτω τῶν αὑτοῦ τέκνων τὸν τῆς ὀρφανικῆς μετειληφότα τύχης, μηδὲ τῶν οἰκείων τῶν τοῦ τρεφομένου χεῖρον χρημάτων ἐπιμελείσϑω, βέλτιον δὲ ἢ τῶν αὑτοῦ κατὰ προϑυμίαν« (928a–b). 127 Die augenfälligste Ausnahme bilden die behinderten oder illegal gezeugten Kinder (Rep. 460a – 461c) und die Sklaven (Nom. 868b–c; 869d). 128 »τούς ἄνω ϑεοὺς φοβείσϑων, οἳ τῶν ὀρφανῶν τῆς ἐρημίας αἰσϑήσεις ἔχουσιν«
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Platon
Rechte der Fremden wacht »Zeus, der Gastliche« (Nom. 953e). Damit richtet sich nun der Blick auf die Götter bzw. zunächst auf die ihnen zugeordnete Tugend.
2.2.7
Frömmigkeit
So wie die Gerechtigkeit den, der sie um seines Glückes willen erstrebt, in die Verantwortung den anderen gegenüber weist, so sendet die Frömmigkeit zum anderen Menschen aufgrund des Willens derer/dessen, denen/dem sie sich beugen will. 129 Im Euthyphron bricht Sokrates mit dem überkommenen »do ut des«-Prinzip, indem er zeigt, dass jenen, von denen alles kommt, nichts Nützliches gegeben werden kann: »Erkläre mir also, welchen Nutzen die Götter wohl haben von den Geschenken, die sie von uns empfangen. Denn was sie geben, weiß jeder, da wir ja gar nichts Gutes haben, was sie nicht gegeben hätten. Was sie aber von uns empfangen, welchen Nutzen bringt ihnen das?« 130 Die Lösung dieser im Euthyphron nicht gelösten Frage identifiziert Vlastos 131 in der Verteidigungsrede des Sokrates, wenn dieser sagt, »dass Euch in dieser Stadt noch nie ein größeres Gut [Sokrates Sorge für die Seelen der Mitbürger] widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste«. 132 Hier ist wieder die Struktur der Inversion des Ascensus. Sich an Gott richten, heißt in seinen Dienst zu treten, der ein Dienst an den Menschen ist: »doing on the god’s behalf, in assistance to him, work the god wants done and would be doing himself if he only could.« 133 Kein Nach-oben, ohne ein Nach-unten. »In Socratic piety that link between our good and that of others is made non-contin(Nom. 927b). Die Alten halten gar die Waisen und Verlassenen, für »das wichtigste und heiligste Vermächtnis – παρακαταϑήκην […] μεγίστην ἱερωτάτην« (927c). 129 Diese Entdeckung verdanke ich Vlastos (vgl. Vlastos 1991, Kap. 6). 130 »φράσον δέ μοι, τίς ἡ ὠφελία τοῖς ϑεοῖς τυγχάνει οὖσα ἀπὸ τῶν δώρων ὧν παρ’ ἡμῶν λαμβάνουσιν; ἃ μὲν γὰρ διδόασι παντὶ δῆλον· οὐδὲν γὰρ ἡμῖν ἐστιν ἀγαϑὸν ὅτι ἂν μὴ ἐκεῖνοι δῶσιν. ἃ δὲ παρ’ ἡμῶν λαμβάνουσιν, τί ὠφελοῦνται;« (Euphr. 14e–15a). Eine im AT häufig begegnende Religionskritik: »Hätte ich Hunger, ich brauchte es dir nicht zu sagen, denn mein ist die Welt und was sie erfüllt« (Ps. 50,12). 131 Vgl. Vlastos 1991, 175. 132 »οὐδέν πω ὑμῖν μεῖζον ἀγαϑὸν γενέσϑαι ἐν τῇ πόλει ἢ τὴν ἐμὴν τῷ ϑεῷ ὑπηρεσίαν« (Ap. 30a). 133 Vlastos 1991, 175. »Socrates has hit on a new conception of piety, as revolutionary
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Liebe bei Platon
gent through devotion to a disinterestedly benevolent god who, being already perfect, does not require from us any contribution to his own well-being but only asks each of us to do for other persons what he would be doing for them himself if he were to change places with us.« 134 Der Link zwischen dem eigenen Wohlergehen und dem des Anderen besteht in der Erstrebenswürdigkeit der Arete. Ohne die Tugenden kann es kein gutes Leben geben; zu diesen aber gehört die Frömmigkeit, und die verbindet mich über Gott mit dem Anderen. Und Vlastos weist darauf hin, dass diese Entdeckung der Frömmigkeit »brings a release from that form of egocentricity which is endemic in Socratic eudaimonism, as in all eudaimonism. In that theory the good for each of us is unambiguously our own personal good: the happiness which is the final reason for each of our intentional actions is our personal happiness. […] Were it not for that divine command that first reached Socrates through the report Charephon brought back from Delphi [bzw. dessen Deutung: 171 ff.] there is no reason to believe that he would have ever become a street-philosopher« (177). Damit ist der Andere noch nicht zum vollgültigen Zweck des Menschen geworden, denn auch hier geht es ihm um die eigene Arete und um diese als Weg zur eigenen Glückseligkeit. 135 Aber es scheint, als würde der Mensch in einer anderen, höheren Dimension zu einem Letztzweck. Denn wir erfahren etwas über eine Wirklichkeit, die schon glückselig ist, deshalb nichts mehr für sich erstreben muss und sich doch der Menschen annimmt. So fällt der Blick nun zuletzt auf den, der solchen Einsatz für den Anderen befiehlt, ohne dass ihm per definitionem seiner Göttlichkeit dadurch etwas zukommen kann – und damit auf ein Attribut, das wie ein Negativ die noch unbekannte Güte umreißt: Neidlos ist der Gott.
2.2.8
Göttliche Güte
Dass Gottes Gutsein seine Güte beinhaltet, tritt vor allem im Timaios und den Nomoi deutlich heraus. Darauf vertrauen etwa die Gein the religious domain, as is his non-retaliatory conception of justice in the moral one« (ebd., 176). 134 Vlastos 1991, 177. 135 Vgl. Nom. 716d, 718a.
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Platon
sprächspartner in den Nomoi mit dem bewegenden Gebet: »So laßt uns denn Gott um seinen Beistand bei der Errichtung dieses Staatsgebäudes anflehen. Möge er uns erhören und uns gnädig und huldvoll nahe sein, um uns den Staat und die Gesetze in Ordnung bringen zu helfen!« 136 Und weiter sprechen die Nomoi von Kronos als φιλάνϑρωπος 137 und vom gastlichen Zeus. 138 Nimmt man nun hinzu, dass die Götter nichts von den Menschen erhalten können, was ihnen nützt, und somit ihre Freundschaft und Gastlichkeit nicht nutzengesteuert sein kann, dann können wir hier schon die Dämmerung eines agapeischen Liebesbegriffes konstatieren, den Platon am präzisesten ex negativo, wie in einer Hohlform, ausdrückt. Dass der Demiurg die bestmögliche Welt schafft, liegt begründet in seiner Neidlosigkeit: »Er war gut, und in einem Guten entsteht niemals Neid, worauf sich derselbe auch immer beziehen könnte, und, weil frei von diesem, wollte er denn auch, daß alles ihm selbst so ähnlich als möglich werde«. 139 Jemandem etwas nicht neiden, heißt entweder, gegenüber dem ihm Eigenen gleichgültig zu sein, was angesichts der hier in Frage stehenden Güter unangemessen wäre (und sich deshalb schon als eine verborgene Form des Neides zeigt – Missgunst, die sich den Ärger erspart, indem sie den Besitz des Anderen geringschätzt) oder es heißt: jemandem etwas gönnen. Das Gegenteil des Neides ist das Gönnen und will man ein originäres Substantiv für dieses Verb nennen, so kommt dem am nächsten die Güte. 140 136 »Θεὸν δὴ πρὸς τὴν τῆς πόλεως κατασκευὴν ἐπικαλώμεϑα· ὁ δὲ ἀκούσειέν τε, καὶ ἀκούσας ἵλεως εὐμενής τε ἡμῖν ἔλϑοι συνδιακοσμήσων τήν τε πόλιν καὶ τούς νόμους« (Nom. 712b – vgl. 664c; Phdr. 257a). 137 Nom. 713c–d. 138 Vgl. Nom. 729e–730a, 879e, 953e; vgl. Sph. 216b. Eine Positivierung und Personalisierung dessen, was in Rep. 379e–382e abstrakter und primär ex negativo gesagt wird: a) Gott ist nicht Ursache des Schlechten. b) Es ist nicht er, der schuldig werden lässt. c) Wenn er straft, dann einzig, um zu bessern. Vgl. dazu Bordt 2006, 127–133. 139 »ἀγαϑὸς ἦν, ἀγαϑῷ δὲ οὐδεὶς περὶ οὐδενὸς οὐδέποτε ἐγγίγνεται φϑόνος· τούτου δ’ ἐκτὸς ὢν πάντα ὅτι μάλιστα ἐβουλήϑη γενέσϑαι παραπλήσια ἑαυτῷ« (Ti. 29e). Phdr. 247a: »Missgunst ist verbannt aus dem göttlichen Chor – φϑόνος […] ἔξω ϑείου χοροῦ ἵσταται«. So auch bei Aristoteles Met. I 983a2–3 – vgl. Gould 1963, 163. 140 Wir hatten schon erwähnt, dass diese Neidlosigkeit vom Liebenden in Phdr. 253b– c ausgesagt wird. Ebenso finden wir in Nom. 730e–731a die Aufforderung, »aus Freundschaft – διὰ φιλίας« die eigene Tugend »neidlos – ἀφϑόνως« anderen zu vermitteln; auch in Rep. 500a und Epist. 344b findet sich das Ideal der Neidlosigkeit. Während die Neidlosigkeit für das Handeln Gottes aber konstitutiv ist, findet das
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Zusammenfassung
Dass Platon diese Haltung nur ex negativo anreißen kann, zeigt, dass sie gewissermaßen inkognito im System wohnt, und das an einer Stelle, wo sie kaum gesucht wird – nämlich nicht in den Liebesdialogen, sondern dort, wo die Frage nach dem Woher des Kosmos wie auch der zwischenmenschlichen Pflichten auf theologischen Boden gelangt. Was Platons Ahnungslosigkeit bzgl. einer selbstvergessenen Liebe angeht, lässt sich diese nicht mehr pauschal behaupten. Ex negativo, an unerwarteter Stelle und nicht durchgreifend systembildend wohnt so doch schon die Güte beim pater philosophorum. Nicht genug, um das Um-deinetwillen an die Stelle des Für-mich zu stellen; aber es scheint doch, wenn auch gut verborgen – sozusagen von »jenseits des Seins« 141 – jenes gütige Licht, in dem die systematische Zentripetalität der Liebe und ihres Umganges mit der Bilderwelt eine zweifelhafte Figur macht.
2.3 Zusammenfassung Bei Platon sind sowohl Liebe als auch Bild ontologische und anthropologische Kategorien ersten Ranges. Bildhaftigkeit ist das Wesen allen empirischen, veränderlichen Seins. Dabei denkt Platon Bild als Abbild, d. h. als eine defizitäre Seinsform, deren Wesen es ist, eine stets zurückbleibende Abbildung der eigentlichen Wirklichkeit zu sein. 142 Zusammengefasst in der Formel aus dem Sophistes: das »einem Wahren ähnlich gemachte Andere« (Sph. 240a). Meist steht im Fokus der platonischen Bildphilosophie das Zurückbleiben des Abbildes hinter dem Abgebildeten und die Notwendigkeit des Überstieges über das Sichtbare zum in ihm versichtbarten Intelligiblen.
Ideal der Neidlosigkeit, sofern damit auch im Zwischenmenschlichen schon Güte umrissen sein soll, keinen systemrelevanten Platz in Platons Anthropologie. 141 »ἐπέκεινα τῆς οὐσίας« (Rep. 509b). Levinas hat in dieser geheimnisvollen Formel aus dem Sonnengleichnis eine jener »ausnahmsweise[n] Sternstunden – à ses heures les plus hautes, ex-ceptionelles« der europäischen Philosophie gesehen, die »vor allem aber bei sich blieb, um das Sein zu sagen, das heißt die Immanenz im Sein; das Beisich, das Zuhause, dessen Eroberung und dessen eifersüchtige Verteidigung die europäische Geschichte gewesen ist – mais qui restait surtout chez elle en disant l’être, c’est-à-dire l’intériorité à l’être; le chez soi, dont l’histoire européenne elle-même, a été la conquête et la jalouse défense« (JS, 380 f./224). 142 »In Platons […] Konzept sind die Phänomene überhaupt allesamt mangelhafte Abbilder« (Ambuel 2010, 27).
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Platon
Im Timaios zeigt sich, ohne eine grundsätzliche Änderung der Ontologie des Bildes, ansatzhaft ein Wertungsumschwung, der dem Offenbaren und Zeigen vor dem Versagen der Ähnlichkeit den Vorrang einräumt. Die Liebe ist als Eros das Schwungrad allen menschlichen Strebens. Es geht ihr um das, was den Menschen glückselig machen kann. Auf diesem Wege nun spielt der andere Mensch eine gewichtige Rolle und gewinnt die Bildkonzeption interpersonale Relevanz. Denn der Liebende liebt im Geliebten ein Abbild des Schönen. Dies führt im Hauptstrom der Liebesphilosophie Platons zu einer zunächst deskriptiven, dann deiktischen und damit schließlich vorübergehenden Funktion des Geliebten: er bildet mittels unvollkommener Ähnlichkeit dasjenige ab, auf das er über sich hinaus verweist. Er bleibt zurück in doppelter Weise: geringer, weil Abbild, und deshalb nicht mehr angesehen. So im Symposion. Im Phaidros wird die Versichtbarung stärker betont, aber auch hier ist das Ziel letztlich die Schau dessen, was der Geliebte nur ansatzhaft zeigen kann. Damit stellt sich von Platon her genau das Problem, das diese Arbeit untersuchen will: Wie kann ich das Bild, das der Mensch ist, so denken, dass er ein Selbst bleibt und als solches zu lieben ist? Aber kennt Platon überhaupt eine Haltung des wirklichen Umdes-anderen-willen? Dies wurde in einem weiteren Schritt untersucht. Dabei war es zum einen wichtig zu zeigen, dass ein übereifriger Harmonisierungsansatz, der dem Eros ein agapeisches Motiv überzieht, unangemessen ist, dass es aber andererseits durchaus Dialogstellen gibt, in denen – nie vollends thematisiert – ein solches Um-des-anderen-willen in Sicht kommt. Während dieses beim Menschen immer umfangen von einem Streben nach den Tugenden, die als die Erfüllung der eigenen Glückseligkeit verstanden werden, und somit nie letztgültig auf das Wohl des Anderen um dessentwillen bezogen ist, so fehlt solches Glücksstreben bei den um das Wohl der Menschen bemühten Göttern. So aber ergibt sich die Möglichkeit zumindest mit Blick auf sie, der Güte bei Platon einen zart sich andeutenden Selbststand jenseits ihrer Kassation durch den erotischen Vorhalt zu attestieren. Das hat dann zwar keine Beziehung mehr zu seiner Bildphilosophie, ja, es zeigte sich sogar, dass ein solches Für-den-Anderen, wo es sich momentweise auch im zwischenmenschlichen Bereich andeutet, erst da möglich wird, wo seine Bildfunktion überstiegen ist. Dennoch ist es ein wichtiger Befund, weil uns damit die ersten Re62 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Zusammenfassung
gungen jenes Liebesbegriffes an die Hand gekommen sind, auf den hin wir nach der Vereinbarung von Liebe und Bild fragen. Denn, hält man die Nutzenliebe für die einzige Form zwischenmenschlicher Liebe, ist die Bild-Liebe-Thematik schon aporiefrei erledigt: Ich liebe den Anderen um des Höheren willen, das sich in ihm zeigt und auf das hin ich ihn übersteigen werde, wenn er es mir ausreichend gezeigt hat, um diesen Schritt im Denken (Symposion) oder durch Erlösung (Phaidros) gehen zu können. Genau damit kann eine Liebe, wie wir sie in der Spättheologie Platons meinten, heraufdämmern zu sehen, ihren Frieden nicht machen.
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3 Thomas von Aquin
3.1 Geschichtliche Position Wenn wir nun mit Thomas von Aquin weitergehen und damit wesentliche Stationen von Bild- wie Liebesphilosophie überspringen, so in dem Bewusstsein, dass wir diese bei Thomas wiederfinden werden. Für den Liebesbegriff geht es im Wesentlichen um drei Schritte, die Thomas vorausgegangen sind: 1) Die weltanschauliche Umwälzung, die das Christentum für das westliche Denken bedeutete, weil in der Systemspitze der neuen Religion ein Gott steht, der sich in Jesus Christus als letztgültige und bedingungslose Liebe erwiesen hat, und diese Liebe sich nicht mehr erotisch verstehen lässt, sondern das restlose Um-des-Anderen-willen ist, das für die griechische Welt so neu ist, dass man erst einen eigenen Begriff dafür finden musste: Agape 1. Die alles durchstimmende Kraft ist nicht mehr der Eros des Endlich-Kontingenten, der in den Bereich des Ideal-Absoluten strebt, sondern umgekehrt: das Absolute und daher Unbedürftige gibt sich ins Kleinste (in seinem liebenden Schaffen und a fortiori in der Inkarnation), ohne in irgend-
Bei der Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische stoßen die Übersetzer an das Problem, dass sich das hebräische ahab als ungeschuldet huldvolle Zuwendung Gottes zu seinem Volk mit den gängigen griechischen Liebesbegriffen nicht übersetzen ließ. »Es ist ein Neologismus, auf den die Septuaginta verfällt: Agape (ἀγάπη) wird durch das Judentum und später durch das Christentum zu einem griechischen Hauptwort. Die Stoiker kennen zwar die Agapesis (ἀγάπησις) als eine – bescheidene – Tugend, zu bejahen, was recht ist; deshalb wird Agape für griechische Ohren verständlich« (Söding 2009, 147). Pate steht aber – »alttestamentlich grundiert, neutestamentlich pointiert« (Söding 2008, 66) – die »Entdeckung und Erfahrung einer Liebe Gottes, deren leidenschaftliches Begehren nicht der Not gehorcht, einen eigenen Mangel auszugleichen oder Anerkennung hervorzurufen«, die sich vielmehr vollzieht als »Unbedingtheit einer Bejahung Anderer, die schöpferische Kraft hat« (ebd., 76; vgl. Söding 1992; Warnach 1951, 84 ff.; Aertsen 2009, 191).
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Geschichtliche Position
einer Weise einen Vorteil davon haben zu können. Liebe »will« immer noch, aber nicht mehr für sich, sondern für den Anderen. 2) Die Vermittlung dieser »neuen« Liebe mit der bedürfenden Liebe der vorchristlichen Antike leistet Augustinus in seiner Synthese von Agape und Eros. Der Mensch sucht seine Erfüllung, nicht weniger als bei Platon, aber er findet sie einzig in der selbstvergessenen Ekstase auf Gott hin. 2 Prinzipiell wird dieser Ansatz von Thomas weitergetragen. Alles beginnt mit dem Begehren nach dem erfüllenden Gut, das sich in einem Zustand erfüllt, in dem es aufgehoben ist in selbstvergessene Schau. 3) Zwischen Platon und dem Christentum liegt Aristoteles, auch wenn er in das christliche Denken erst im Hochmittelalter Einzug hält – als ungeheure Herausforderung und zugleich Chance für das christliche Denken. Thomas leistet die für Jahrhunderte maßgebliche Synthese beider. Für die Liebe ist der Beitrag des Aristoteles dahingehend entscheidend, dass er in seinen Büchern zur Freundschaft diejenige Formel prägt, die begrifflich vorwegnimmt, was zum alles durchstimmenden Motiv des Offenbarungsereignisses wird: »Lieben sei also einem anderen das wünschen, was man für Güter hält, und zwar um dessent- und nicht um unseretwillen und nach Kräften dafür tätig sein«. 3 Nicht, dass dieser Gedanke bei Aristoteles schon systembildend würde, zu stark ist das Gewicht des Eros, 4 aber seit ihm liegt er als kaum überholbare Formel der gütigen Liebe auf dem Tisch – und Thomas greift ihn auf. 5 Thomas eignet sich in besonderer Weise als zu untersuchender Autor in unserer Frage, weil bei ihm all diese Zwischenschritte auf dem Wege der Entwicklung des Liebesbegriffes synthetisiert und zuVgl. Singer 1984, Bd. I, 194 ff.; Kruse-Ebeling 2009, 135–143; Burnaby 1991 [1938], 241–252; Maxsein 1966, 70–90. 3 »ἔστω δὴ τὸ φιλεῖν τὸ βούλεσϑαί τινι ἃ οἴεται ἀγαϑά, ἐκείνου ἕνεκα ἀλλὰ μὴ αὑτοῦ, καὶ τὸ κατὰ δύναμιν πρακτικὸν εἶναι τούτων« (Rhetorik 1380b35. Ebenso Nikomachische Ethik 1155b31; 1166a2–6). Zur Freundschaft bei Aristoteles vgl. Stern-Gillet 1995; Price 1989; Cooper 1980. 4 Vgl. Vlastos 1973, 5 f., 33. 5 McEvoy hält dafür, dass Thomas »zutiefst beeindruckt [gewesen sein muss] von der Parallele zwischen der Aristotelischen Formel, nach der der Freund wie ein ›anderes Selbst‹ (alter ipse) geliebt werde, und dem Gebot des Evangeliums, den ›Nächsten wie sich selbst‹ zu lieben (Mt 22)« (McEvoy 1996, 297). »Die Aristotelische Formulierung des Inhaltes der engsten Freundesliebe kam der christlichen Lehre zur Nächstenliebe schon wörtlich so nah, dass sie diese kaum unberührt lassen konnte« (ders., 302; vgl. ders. 2002, 21 f.; vgl. Papadis 1980, 20–34; 122–144). 2
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Thomas von Aquin
gleich weitergebracht werden, indem der Aristotelische Freundschaftsbegriff nun für den von Augustinus erarbeiteten Caritasbegriff fruchtbar gemacht wird. Auch der Bildbegriff hat sich gewandelt. Schon tiefgehend durch Aristoteles, bei dem das Verhältnis von Idee und Abbild abgelöst wird von der Form in der Materie. Und noch einmal radikal durch das Christentum, dessen Glaube an Jesus Christus als das unüberholbare Bild des Vaters nachgerade einen »iconic turn der (monotheistischen) Religionsgeschichte, manifest gegenüber dem Judentum (wie dem Islam) und latent gegenüber der griechischen Philosophie mit ihrer Religionskritik als Bildkritik und Kritik des Anthropomorphismus« 6 darstellt. Damit erfährt das Bild eine fundamentale Aufwertung, die natürlich nicht folgenlos für den Gedanken der Bildhaftigkeit des Menschen ist. Wie weit allerdings die mittelalterliche Rezeption dieser Aufwertung schon das Problem der Inferiorität des Bildes gegenüber dem in ihm eigentlich angeschauten und geliebten Abgebildeten lösen kann, wird uns im Folgenden zu beschäftigen haben, und – um dies vorweg zu sagen – bei aller Aufwertung der Dimension des Bildes ist eine hinreichende Vermittlung, wie etwas zugleich Bild Gottes und ein Selbst, das als solches liebt und zu lieben ist, und das eine nur als das andere sein kann, hier noch nicht durchschlagend geleistet – und dies wohl nicht zuletzt aus Mangel an Bewusstsein für dieses Problem. Sowohl für den Liebes- wie für den Bildbegriff bei Thomas beschränken wir uns auf die Summa Theologiae.
3.2 Liebe bei Thomas 3.2.1
Wie Gott liebt
3.2.1.1 Sich Thomas setzt mit der Gotteslehre ein, und nach den Bestimmungen zu seinem Sein (I q. 2), seiner Einfachheit (q. 3), Vollkommenheit (q. 4), Gutheit (q. 6), Unendlichkeit (q. 7), seinem Sein in den Dingen (q. 8), seiner Unveränderlichkeit (q. 9), Ewigkeit (q. 10), Einheit (q. 11), den Bestimmungen seiner Namen (q. 13), seines Wissens 6
Stoellger 2014, 143.
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Liebe bei Thomas
(q. 14), Lebens (q. 18) und Willens (q. 19) stoßen wir endlich auf seine Liebe (q. 20). Grundlegend dafür ist das in der vorhergehenden Quaestio Gezeigte: Gott will. Alles Seiende verlangt nach dem ihm eigenen Gut. »Wenn es das Gut besitzt, ruht es in ihm, wenn nicht, strebt es danach.« 7 In den nicht-rationalen Seienden herrscht dieses Streben als appetitus naturalis. In den erkenntnisfähigen Wesen ist diese natürliche Hinordnung Wille (voluntas). 8 Da Gott die vollendete Erkenntnis ist, muss in ihm auch ein vollendeter Wille sein. Ein vollendeter Wille aber ist dort, wo er hin will, und hat das, was er will. Auch Gott will das Gute. Weil er aber selbst das Gute ist, will er sich, hat immer schon, was er will, und ruht in der Vereinigung mit dem Gewollten: »Man nimmt in Gott einen Willen an, der immer das Gute besitzt, das sein Gegenstand ist, da er dem Wesen nach von ihm nicht verschieden ist.« 9 Grundlegend für das Wollen aber ist die Liebe. Während sich nämlich der Wille je nach den Bedingungen in unterschiedlicher Weise auf sein Objekt bezieht (etwa »in Freude und Lust auf das Gut, das man gegenwärtig besitzt«, in »Sehnsucht und Hoffnung auf das Gut, das noch nicht erlangt ist« 10), geht die Liebe »auf das Gute im allgemeinen, gleichgültig, ob man es schon besitzt oder nicht«. 11 Wenn also gesagt wird, Gott wolle sich, so ist dies gleichbedeutend mit seiner Liebe zu sich. Soweit lässt der Liebesbegriff nichts von der Neuheit des Christlichen erahnen. Was hier geschildert wird, scheint nichts anderes zu sein als eine Liebe, die nicht mehr Eros sein muss, weil sie hat, was »[…] cum habet ipsum, quiescat in illo; cum vero non habet, quaerat ipsum« (I 19,1 c.). Die Übersetzung orientiert sich an der Deutschen Thomas-Ausgabe, ohne ihr in allen Fällen zu folgen. Um den Fußnotenapparat nicht zu sehr anschwellen zu lassen, werden nicht alle deutschen Übersetzungen der Zitate geliefert, aber – so zumindest die Absicht – immer genug, um den Gedankengang auch ohne hinreichende Lateinkenntnisse verstehen zu können. 8 Vgl. Aertsen 2009, 199. Der appetitus naturalis kann bisweilen auch, anders als hier, der Sammelbegriff für das geschöpfliche Begehrungsvermögen überhaupt sein. Dann umfasst er auch den Willen (vgl. z. B. I 78,1 ad 3). 9 »Voluntas in Deo ponitur; quae semper habet bonum quod est ejus objectum, cum sit indifferens ab eo secundum essentiam« (I 19,1 ad 2; vgl. I 20,1 ad 3). 10 »[…] gaudium et delectatio est de bono praesenti et habito; desiderium autem et spes, de bono nondum adepto« (I 20,1 c.). 11 »Amor autem respicit bonum in communi, sive sit habitum, sive non habitum« (I 20,1 c.). »Love regards the good simply, whether had or not had, whereas desire regards the good as not had, and delight regards the good as had« (Malloy 2007, 66). 7
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Thomas von Aquin
Eros noch erstrebt. Erfüllter Eros, dessen Wesen Seligkeit ist. Das, was Eros will, die Erfüllung mit dem Gut, ist hier immer schon der Fall; nicht ein findiger Armer auf dem Weg zum Guten, sondern das Gute bei sich; die Selbstbezüglichkeit des Vorzüglichsten, die bei Aristoteles Denken des Denkens (νόησις νοήσεως) 12 heißt. 3.2.1.2 Die geschaffene Person Gäbe es nichts als diese Selbstbezüglichkeit Gottes, so gäbe es nichts als Gott. Dass etwas ist, das nicht Gott ist, zeigt, dass er etwas will, was nicht er ist: »quod Deus non solum se vult, sed alia a se«. 13 Damit ist aber zugleich gesagt, dass er etwas liebt, das nicht er ist. Wie aber kann das sein, wenn es immer das Gute ist, das gewollt wird, und Gott selbst dieses Gute in Vollkommenheit ist? 14 Warum sollte er dann ein Objekt haben, das nicht er ist? Zum Wesen des Willens, antwortet Thomas, gehört nicht nur die natürliche Hinneigung zu seinem eigenen Gut – es zu erreichen, wenn er es nicht hat, und in ihm zu ruhen, wenn er es hat 15 –, sondern auch, sein Gut anderen mitzuteilen: »proprium bonum in alia diffundat«. 16 »Wenn […] schon die Naturdinge, soweit sie vollkommen sind, ihr Gut anderen mitteilen, wie viel mehr gehört es zum göttlichen Willen, dass er sein Gut anderen in der Form der Ähnlichkeit mitteilt, soweit dies möglich ist.« 17 Was aber ist dazu das Motiv? Thomas trifft eine Unterscheidung, die für das Ganze seiner Liebesphilosophie fundamental ist: »Der Akt der Liebe strebt immer auf ein Doppeltes: auf das Gute, das man jemandem will [amor concupiscentiae], und auf den, dem man das Gute will [amor amicitiae]. Denn das heißt eigentlich jemanden lieben: ihm Gutes wollen.« 18 Bezogen auf das bonum diffundans Aristoteles, Met. XII 1074b34. I 19,2 c. 14 »Cuicumque voluntati sufficit aliquod volitum, nihil quaerit extra illud. Sed Deo sufficit sua bonitas, et voluntas ejus ex ea satiatur« (I 19,2 arg. 2). 15 »[…] ut acquirat ipsum cum non habet, vel quiescat in illo cum habet« (I 19,2 c.). 16 I 19,2 c. 17 »Unde, si res naturales, inquantum perfectae sunt, suum bonum aliis communicant, multo magis pertinet ad voluntatem divinam, ut bonum suum aliis per similitudinem communicet, secundum quod possibile est« (I 19,2 c.). 18 »Actus amoris semper tendit in duo: scilicet in bonum quod quis vult alicui: et in eum cui vult bonum. Hoc enim est proprie amare aliquem, velle ei bonum« (I 20,1 ad 3). 12 13
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Liebe bei Thomas
bedeutet dies: Das Gut, das das absolut Gute will, ist es selbst – als Mitgeteiltes in der höchstmöglichen 19 Ähnlichkeit. Wem es aber dies will, sind die »anderen«, die Geschöpfe, die in diesem Wollen zugleich den Grund ihrer Existenz haben. 20 Das eigentliche Motivans liegt dabei im Dativobjekt: »Das Schenken Gottes kommt daher, dass er die Menschen liebt, die Er beschenkt«. 21 Dieser Bezug auf die Geschöpfe provoziert weitere metaphysische Bedenken. Sie gehen dahin, dass Gottes Wille, wenn er anderes will als sich, von etwas anderem (»ab aliquo alio«) bewegt wird. Das aber widerspricht seiner Souveränität, so wie das Wollen vieler seiner Einheit entgegensteht. 22 Thomas antwortet mit dem Aufweis, dass Gott auch im Wollen des Außergöttlichen nicht aufhöre, seine eigene Gutheit, also sich selbst, zu wollen, indem er all dieses auf sich als letztes Ziel hinordne. »In den Dingen, die wir wegen des Zieles wollen, besteht der ganze Grund der Bewegung im Ziel. […] Wenn also Gott das Außergöttliche nur des Zieles wegen will, das seine eigene bonitas ist, so folgt daraus nicht, dass etwas anderes seinen Willen bewegt als nur seine bonitas.« 23 Und so wird auch im Wollen des alia a se die Einheit des
Das begrenzte Maß der Ähnlichkeit resultiert nicht aus einer Grenze der Güte, sondern aus den Grenzen der Aufnahmefähigkeit des »Ähnlichkeitsträgers«, vor der schon der Demiurg im Timaios stand (Ti. 29e). 20 Während unser Wille das »Gutsein der Dinge« nicht hervorbringt, sondern »von ihm […] bewegt wird«, liebt Gott so, dass seine Liebe das Gute, das sie will, in den Dingen und dadurch diese selbst allererst hervorbringt: »Amor dei est perfundens et creans bonitatem in rebus« (I 20,2 c.). 21 »[…] datio divina provenit ex eo quod amat homines quibus dat« (II-II 117,6 ad 1). Vgl. I 38,2 c.: »Ratio […] gratuitae donationis est amor. Ideo enim damus gratis alicui aliquid, quia volumus ei bonum. Primum ergo quod damus ei, est amor quo volumus ei bonum. Unde manifestum est quod amor habet rationem primi doni, per quod omnia dona gratuita donantur. – Der Grund der frei geleisteten Schenkung ist Liebe. Denn deshalb geben wir jemandem etwas umsonst, weil wir ihm Gutes wollen. Das Erste also, was wir ihm geben, ist die Liebe, mit der wir ihm Gutes wollen.« Ein solches Dativobjekt des Wollens Gottes können im Vollsinn nur Mensch und Engel sein, alles andere wird vor allem ihnen gewollt: »Sic igitur Deus, proprie loquendo, non amat creaturas irrationales amore amicitiae, sed amore quasi concupiscentiae; inquantum ordinat eas ad rationales creaturas, et etiam ad seipsum; non quasi eis indigeat, sed propter suam bonitatem et nostram utilitatem« (I 20,2 ad 3). 22 Vgl. I 19,2 arg. 2 u. 4. 23 »In his quae volumus propter finem, tota ratio movendi est finis […]. Unde, cum Deus alia a se non velit nisi propter finem qui est sua bonitas, ut dictum est, non sequitur quod aliquid aliud moveat voluntatem eius nisi bonitas sua« (I 19,2 ad 2). 19
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Thomas von Aquin
göttlichen Willens nicht aufgesprengt, will er doch »nur durch Eines […], das ist durch seine bonitas.« 24 Ist damit aber nicht dementiert, was eben erst als kostbarer Ertrag gehoben wurde, dass nämlich der Mensch als um seinetwillen gewollt in den Blick kommt? Nicht, wenn wir das oben zum amor amicitiae Gesagte weiter ernst nehmen und hier eintragen. Das quod im Akt der Liebe, dasjenige also, das jemandem gewollt wird, bleibt Gott, und insofern will Gott nichts, dessen Ziel nicht Gott wäre (gemäß der höchstmöglichen Teilnahme einer jeden Art am göttlichen Wesen auf die Weise der Ähnlichkeit). Das cui aber, also derjenige, dem die Liebe ihr quod will, ist hier eben nicht Gott, sondern das Geschöpf. Wäre es dies nicht, so wäre nicht bloß die Rede vom amor amicitiae Gottes zum Geschöpf leeres Gerede. Es bliebe Gott nur der amor concupiscientiae dem Geschöpf gegenüber und damit wäre neben dem göttlichen Um-deinetwillen auch die Göttlichkeit Gottes, die nichts zu ihrer höheren Vollkommenheit oder Glückseligkeit bedarf, dementiert. Wenn Gott das Geschöpf nicht um dessentwillen will, dann braucht er es für sich, und ist nicht mehr Gott; wenn er aber Gott ist und das Geschöpf nicht um seiner selbst willen will, weil er nur sich um seiner selbst willen wollen kann, dann existierte es überhaupt nicht. Zwar vermeidet Thomas hier durch die Konzentration auf das quod, ausdrücklich zu bejahen, dass Gott im amor amicitiae tatsächlich und unaufhebbar andere liebt als sich, aber indem er cui und quod unterscheidet und um der göttlichen Einheit willen auf das quod abhebt, ändert sich damit doch nichts daran, dass Andere als er selbst sein cui sein können und, weil endliche Personen tatsächlich existieren, sein cui sein müssen. So müsste man wohl auch die, wieder um der Betonung der Identität willen, geschlagene Volte verstehen, dass Gott in allem nur seine eigene bonitas wolle. Prima facie für die menschliche Selbstzwecklichkeit einigermaßen anstößig heißt es da: »So will Er also, dass Er selbst und dass die anderen Wesen sind, doch sich selbst als Ziel, die anderen Wesen als [Mittel] zum Ziel«. 25 Das Ziel aber ist seine bonitas. Bedeutet sie meist den Inbegriff der Fülle des Seins, so doch auch manchmal jene Güte, deren Adjektiv nicht »gut«, sondern
24 25
I 19,2 ad 4. »Sic igitur vult et se esse, et alia. Sed se ut finem, alia vero ut ad finem« (I 19,2 c.).
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Liebe bei Thomas
»gütig« ist. 26 Dann aber würde er im Wollen des Anderen tatsächlich seine bonitas wollen, der es – so fährt Thomas fort – »geziemt, andere an ihr selbst teilnehmen zu lassen«. 27 In diesem Sinne gilt dann auch die augustinische Formel: »Quia enim bonus est, sumus« 28 – allerdings, und das bliebe selbst nach dieser Operation noch zu sagen, indem er nicht einfachhin abstrakt diese seine Güte will, sondern diese als Wollen dieses Menschen, und dies nicht um-willen dieses Wollens, sondern um-willen des in ihm gewollten Menschen. Es fällt allerdings immer wieder sehr schwer, dieses Verständnis von bonitas zu unterlegen; oft besagt das Wollen seiner bonitas nichts anderes als sein Sich-Wollen, und daraus allein wird niemals anderes als Er. Es ist, als fehle Thomas immer wieder selbst der spekulative Mut, den er an einer Stelle mit Pseudo-Dionysos einfordert: »Man muss den Mut haben, um der Wahrheit willen zu sagen, dass die Ursache von allem selbst durch den Überfluss seiner liebenden Güte aus sich heraus tritt zur Fürsorge alles Existierenden.« 29 Im Hintergrund der umständlichen Operationen des Aquinaten steht seine weitreichende metaphysische These der einseitigen Relation von Schöpfung und Schöpfer. 30 »Da also Gott außerhalb der ganzen Ordnung der Geschöpfe ist und alle Geschöpfe auf ihn hingeordnet sind und nicht umgekehrt, ist es offenkundig, dass die Geschöpfe real auf Gott bezogen sind; aber in Gott ist keine reale Beziehung von ihm auf die Geschöpfe, sondern nur eine gedachte, insofern die Geschöpfe auf ihn bezogen sind.« 31 Thomas hat »seine Lehre von der So etwa im Zusammenhang mit der Barmherzigkeit als Abhebung des Geschenkten vom Geschuldeten: Die Barmherzigkeit geht jeglicher Gerechtigkeit Gottes voraus. Denn alles, was er dem Geschöpf schuldet, schuldet er ihm letztlich wegen einer vorgängigen Güte: »Utpote si dicamus quod habere manus debitum est homini propter animam rationalem; animam vero rationalem habere, ad hoc quod sit homo; hominem vero esse, propter divinam bonitatem. Et sic in quolibet opere Dei apparet misericordia, quantum ad primam radicem eius« (I 21,4 c.). Und in der quaestio zu den 12 Früchten des Geistes wird die Güte als Wille zum Wohltun definiert: »Ad id autem quod est iuxta hominem, scilicet proximum, bene disponitur mens hominis, primo quidem, quantum ad voluntatem bene faciendi. Et ad hoc pertinet bonitas« (I-II 70,3 c.). 27 »… inquantum condecet divinam bonitatem etiam alia ipsam participare« (I 19,2 c.). 28 De Doctr. Christ. i, 32. Thomas zitiert dies in I 19,4 ad 3. 29 »[…] audendum est autem et hoc pro veritate dicere, quod et ipse omnium causa, per abundantiam amativae bonitatis, extra seipsum fit ad omnia existentia providentiis« (I 20,2 ad 1; vgl. Pseudo-Dionysius De Div. Nom. Kap. 4 MPG 3/712). 30 Vgl. unten 125 f. 31 »Cum igitur Deus sit extra totum ordinem creaturae, et omnes creaturae ordinen26
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Thomas von Aquin
Einseitigkeit der realen Relation der Welt auf Gott nicht ausdrücklich mit der Frage konfrontiert, wie denn dann noch Gemeinschaft mit Gott ausgesagt werden kann«. 32 Peter Knauer sieht nun die Lösung dieses Problems – schon implizit bei Thomas – in der Trinität, in der der Mensch an der Seite des Sohnes hineingenommen ist in das Gegenüber- und Bezogensein der göttlichen Personen. »Die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes stellt die einzig mögliche Weise dar, unser Geschaffensein aus dem Nichts und so die Absolutheit Gottes anzuerkennen und dennoch unsere Gemeinschaft mit ihm zu behaupten. Denn nur, wenn Gottes Liebe zu uns nicht in uns ihr konstitutives Woraufhin hat, sondern in Gott selbst, wird sie nicht geschaffenen Bedingungen unterworfen. […] Man kann also durchaus von einer realen Relation Gottes auf die Welt sprechen, aber diese hat ihr bestimmendes Woraufhin nicht in der Welt sondern in Gott«. 33 Aber, fragt M. Knapp zu Recht: »Kann nicht von Liebe nur da gesprochen werden, wo der Geliebte sich als er selbst und um seiner selbst willen gemeint wissen darf? Und ist das nicht gerade darin begründet, dass der Liebende sich dem anderen in seiner Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit zuwendet und ihn eben so zum ›bestimmenden Woraufhin‹ seiner Liebe macht?« 34 tur ad ipsum, et non e converso, manifestum est quod creaturae realiter referuntur ad ipsum Deum; sed in Deo non est aliqua realis relatio eius ad creaturas, sed secundum rationem tantum, inquantum creaturae referuntur ad ipsum« (I 13,7 c.; vgl. I 6,2 ad 1; I 28,1 ad 3; I 45,3 ad 1). 32 Knauer 2003, 206. 33 Ebd., 206 f. 34 Knapp 2005, 62. »Aquinas would no doubt have to say, remaining within the logic of the model he has adopted for exploring charity, that the soul and God are alter ipse to each other, since without that there simply is no friendship. If one indeed may not affirm that God is the alter ipse of the soul in the state of grace, then the model of friendship, chosen to provide a clue to the nature of charity, would break down even earlier than it is ultimately destined to do« (McEvoy 2002, 36). Der Irrealis, den McEvoy hier bemüht, zeigt, dass selbst ein großer Anhänger der Freundschaftlehre des Aquinaten nicht ganz verhehlen kann, dass es Probleme geben könnte, wenn man das Konzept einer echten Bezogenheit von Gott auf Nicht-Gott, wie es der Freundschaftsgedanke notwendig macht, an der Metaphysik des Aquinaten versucht. – Von äußerst hilfreicher Klarheit sind hierzu die Ausführungen W. Kerns in Mysterium Salutis. Er stellt die Frage, ob es »sehr erhellend wirkt, zu sagen, der Beweggrund Gottes für die Erschaffung der Welt sei seine Liebe zu sich selbst«. Es dürfe sich dabei nämlich nicht »die Meinung einschleichen, Gott liebe nur sich selbst und nicht auch die Welt, und zwar die Welt an sich, mit einer ihr Wirklichkeit schenkenden Liebesmacht« (499). Vielmehr: »Wenn Platon und mit ihm Plotin und Proklos sagen, dass Gott der Neidlose ist, der nicht mit der Eifersucht des Olymps […] auf den Menschen
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Liebe bei Thomas
Ohne Alterität gibt es keinen Zugang zur Güte und umgekehrt. Was die Frage nach der Alterität in ihm aufruft. 3.2.1.3 In-sich: Trinitätslehre Wenn er uns nämlich nicht braucht, weil er in sich vollkommen, und das heißt auch, und vor allem, in sich schon vollkommene Liebe sein muss, dann ist er als schon in sich »für den Anderen« zu denken. Dass der religionsgeschichtliche Schritt von einem liebenden Gott zum Gott, der die Liebe ist, wie er im Christentum vollzogen wird, mit seiner Selbsterschließung als interpersonale Wirklichkeit zusammengeht, ist insofern folgerichtig. Eine andere Frage ist, ob und wie sehr dieser Sinn der Trinität im jeweiligen Denken der Trinität tragend gewesen ist. 35 Die originäre Leistung des Aquinaten auf dem Weg zu einem Denken eines interpersonalen Gottes liegt in seinem Begriff der subsistenten Relation. Sie ist ein Meilenstein in der Aufwertung personaler Bezüglichkeit. Die göttlichen Personen können ja nicht, nach der Person-Definition des Boethius (»naturae rationalis individua substantia« 36) Substanzen sein, weil damit der Monotheismus in einen Drei-Gott-Glauben auseinanderfiele. Gott ist Einer und nicht drei in sich stehende Entitäten. Dennoch sollen die Personen eine reale Bestimmung sein. Thomas findet die Lösung im Begriff der sub-
Prometheus herabfährt, so dass seine Liebe schon mehr als Agape denn als Eros erscheint; dann kann christliches Gottesbekenntnis nicht allzuviel Umschweife dahinterher machen« (500). Wenn andererseits gelte, dass dem Menschen die Ehre Gottes als Zweck gesetzt sei, so komme alles darauf an, dabei zu verstehen und festzuhalten, dass ihm eben dies um seiner, des Menschen, selbst willen gesetzt sei. Dafür findet er beim Aquinaten die dialektische Formel: »Idem est dictu, quod Deus omnia propter seipsum fecit […] et quod creaturas fecerit propter earum esse« (De Pot. 5,4). 35 Zumal am Anfang der theoretischen Bemühungen um die Dreifaltigkeit weniger das Nachdenken über Gott als immanente Liebe stand als der Versuch, die im Neuen Testament hervortretenden unterschiedenen göttlichen Akteure so zu denken, dass weder ihre Verschiedenheit noch ihre Einheit verloren geht (vgl. Söding 2001, 241). Spätestens ab dem Konzil von Nizäa (im Jahr 325) ist »prinzipiell klargestellt […], dass die personale Differenzierung Gottes nicht auf der Ebene unterhalb des göttlichen Seins liegt, sondern mit dem göttlichen Sein selbst identisch ist« (Greshake 1997, 88). Damit aber tritt das personale Einzelsein aus dem Schatten der Vorherrschaft des Allgemeinen und ist der Grundstein dafür gelegt, dass diese Alterität als Möglichkeitsbedingung dialogischen Geschehens in Gott verstanden werden kann. 36 Contra Eutychen et Nestorium, III (Boethius 1988, 74).
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sistenten Relation. 37 Die göttliche Person ist gerade nicht Substanz, die sich darüber hinaus auch auf einen anderen hin vollzieht, sondern ganz und gar Relation. Jede Person ist durch und durch – je eigener – Bezug auf die beiden Anderen und ist mit den Anderen der drei-eine Vollzug göttlicher Liebe. Dieser begriffliche Zugewinn für eine grundlegende Relationalität wird vom Aquinaten nun frappierender Weise nicht für ein Denken innergöttlicher Güte fruchtbar gemacht. Während Augustinus die Trinität vom Selbstverhältnis des Menschen, der sich erkennt (Erkennender – Erkanntes – Erkennen) bzw. liebt (Liebender – Geliebter – Liebe), her entwickelt hatte, 38 womit der dialogisch-communiale Aspekt gänzlich in der Selbstvermittlung der unitas zu verschwinden drohte, hatte Richard v. St.-Victor im 12. Jahrhundert ein Modell vorgelegt, in dem die immanente Trinität nicht gewissermaßen als eine dreistrukturelle Weiterentwicklung der noeisis noesios konzipiert war, sondern von der interpersonalen Liebe her verstanden wurde. Als Liebe, so Richard, kann Gott nicht alleine sein, denn sonst liebte er nur sich selbst, und Selbstbezug als ausschließliche Form der Liebe wäre statt Höchstpunkt der Liebe nicht einmal mehr deren Schwundstufe. Er kann aber auch nicht bloß zu zweit sein, denn sonst wäre er zwar dilectio und redilectio, aber es fehlte ihm die Einheit im Lieben, die condilectio. 39 »Anders als Augustin, Anselm v. Canterbury, Richard v. St.-
Vgl. I 29,4 c. Siehe dazu den Sammelband von Brachtendorf 2000 (Hg.), sowie Greshake 1997, 99 f. 39 »Wenn einer einem andern Liebe schenkt, wenn ein Einsamer einen Einsamen liebt, dann ist zwar Liebe vorhanden, aber die Mit-liebe fehlt. Wenn zwei sich gegenseitig gern haben, einander ihr Herz in hohem Sehnen schenken und der Liebesstrom von diesem zu jenem, von jenem zu diesem fließt und gegenläufig je auf Verschiedenes zielt, dann ist zwar auf beiden Seiten Liebe da, aber die Mitliebe fehlt. Von Mitliebe kann erst dann gesprochen werden, wo von zweien ein dritter einträchtig geliebt, in Gemeinsamkeit liebend umfangen wird und die Neigung der beiden in der Flamme der Liebe zum Dritten ununterschieden zusammenschlägt. – Quando unus alteri amorem impendit, et solus solum diligit, dilectio quidem est, sed condilectio non est. Quando duo se mutuo diligunt, et summi desiderii affectum invicem impendunt, et istius in illum, illius vero in istum affectus discurrit, et quasi in diversa tendit, utrobique quidem dilectio est, sed condilectio non est. Condilectio autem iure dicitur, ubi a duobus tertius concorditer diligitur, socialiter amatur, et duorum affectus tertii amoris incendio in unum conflatur« (De Trinitate, Lib. III, Cap. 19, PL 196/927 [1980, 104]). Vgl. unten 261 ff. 37 38
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Victor, Abaelard u. a.« 40 sieht Thomas nun keinen Denkweg, der es erlauben würde, aus Vernunftgründen von der Einheit Gottes zu seiner Dreipersonalität fortzuschreiten. Sie kann einzig der Offenbarung entnommen werden. 41 Diesen Glauben vorausgesetzt, kann die Vernunft Überzeugungsargumente liefern, warum dies nicht unmöglich ist. 42 Diese entnimmt Thomas nun nicht der Interpersonalität, sondern, ähnlich wie Augustinus, der Intrapersonalität. »Um den trinitarischen Glauben darzustellen, muss man die immanenten Hervorgänge in den Blick nehmen, deren bestes Beispiel nach Thomas im Vollzug des Intellekts gegeben ist«. 43 Der Geist bringt das Wort hervor und liebt es. 44 – Das Modell des Victoriners dagegen lehnt er ab. 45 Es ist nun nicht an einer philosophischen Untersuchung, den theologischen Ertrag der thomanischen Trinitätsspekulationen zu bewerten, aber auf der Suche nach der Güte als dem Höchsten erringt der trinitarische Gedankengang des Victoriners eine philosophische Schlüssigkeit, die Thomas gar nicht beansprucht, ja, für unmöglich hält. Die binnentheologische Diskussion über das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft im Bezug auf die Lehre von der Trinität können wir hier auf sich beruhen lassen. 46 Für unser Fragen gilt es Greshake 1997, 118. Vgl. Emery 2005, 84 f. 42 »[…] rationes quae inducuntur a Sanctis ad probandum ea quae sunt fidei non sunt demonstrativae, sed persuasiones quaedam manifestantes non esse impossibile quod in fide proponitur« (Sth II-II 1,5 ad 2). Vgl. Schmidbaur 1995, 92 ff. 43 Emery, 93. Vgl. »[…] accipienda est processio […] secundum emanationem intelligibilem, utpote verbi intelligibilis a dicente, quod manet in ipso« (Sth I 27,1 c.). 44 Dazu ausführlicher im Zusammenhang mit dem imago-Denken des Thomas unten 115 f. 45 Eine Gemeinsamkeit im Besitz des Gutes sei für die vollkommene Freude nur dann notwendig, »wenn in einer Person nicht die vollkommene Gutheit vorhanden ist; weshalb sie zur ganzen Fülle der Freude des Gutes eines anderen bedarf, der mit ihr in Gemeinschaft steht – quando in una persona non invenitur perfecta bonitas; unde indiget ad plenam bonitatem jucunditatis bono alicujus alterius consociati sibi« (I 32,1 ad 2). Das geht freilich am Gedanken des Victoriners spektakulär vorbei. Denn mit der Fülle der Freude wird der Wunsch der Güte, sie zu teilen, nicht kleiner, sondern größer. Es geht nicht um Ergänzung, sondern um Mitteilung. Wenn es zum Guten gehört diffusivum sui zu sein, dann muss dies doch gerade von der Liebe gelten, die aber als die Liebe zum Zweiten alleine bliebe ohne einen dritten, mit dem sie diese teilen könnte. 46 Nur so viel: Was soll es heißen, dass Gott sich mit der Vernunft aus der Schöpfung erkennen lasse, wenn seine Dreipersonalität prinzipiell nicht ohne Offenbarung zu erkennen ist? Wenn sie gleichrangig ist mit seiner Einheit, insofern es diese gar nicht anders gibt als im dreieinen Vollzug, dann wäre doch ein Gott, der nur als Einer 40 41
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hier nur festzuhalten, dass die Liebe Gottes zur geschaffenen Person, die bei Thomas so eindeutig angenommen wird, wie sie immer wieder in Einheits-Operationen verdeckt zu werden droht, keine Stütze in der thomanischen Trinitätslehre findet. Dass Gott Für-den-Anderen sein kann, weil er schon in sich dieses Für-den-Anderen lebt, ja, ist, finden wir so nicht bei Thomas. Sosehr er mit seinem Modell der subsistierenden Relation ein begriffliches Besteck bereitlegt, mit der sich die Dialogizität in Gott denken ließe, ohne darüber seine Einheit zu verlieren, so wenig nutzt er es dazu. Leitkategorie bleibt der erkennende und liebende Selbstbezug. 47 Auch in seiner Trinitätslehre ist die Sorge, die Identität zu verlieren, höher als diejenige um die systembildende Bedeutung der Güte. 3.2.1.4 Resümee Thomas Ausführungen zur göttlichen Liebe sind von dem Bestreben geprägt, das agapeische Moment ihrer Beziehung zu Welt und Mensch klar festzustellen, bei gleichzeitiger Betonung der unaufhebbaren Selbstbezogenheit Gottes, die oftmals wie ein Dementi des Bezuges wirkt. Die Güte muss so vom Leser immer wieder erinnert und eingetragen werden, wenn der Andere zum bloßen Moment am Selbstbezug Gottes zu werden droht. Wie aber sieht es mit der Liebe der geschaffenen Person aus? Versuchen wir auch hier eine Systematisierung. erkannt wird, nicht der Gott, an den Thomas glaubt. Zumal Thomas selbst sagt, dass sich die Notwendigkeit seines Schaffens erst durch die Erkenntnis der Hervorgänge in ihm widerlegen lässt, und erst damit sein Schaffen aus Liebe erweislich wird: »Per hoc autem quod ponimus in eo processionem amoris, ostenditur quod Deus non propter aliquam indigentiam creaturas produxit, neque propter aliquam aliam causam extrinsecam; sed propter amorem suae bonitatis« (I 32,1 ad 3). Schmidbaur, der die NichtBeweisbarkeit der Trinität scharf verteidigt, muss dann folgerichtig auch die »Lehre von der frei gewollten Schöpfung« als »reinen Glaubensinhalt« (Schmidbaur 1995, 128) hinstellen – ein hoher Preis, weil damit sowohl Menschenwürde wie Göttlichkeit Gottes ins Feld des nur durch Offenbarung zugänglichen Wissens einrücken. Ein Gott, der durch Mangel genötigt würde, zu schaffen, wäre nicht Gott, und ein Mensch, der geschaffen wäre, diesem Mangel abzuhelfen, wäre statt Selbstzweck Mittel. Sollte beides erst durch Offenbarung abweisbar sein, wäre dasjenige, was die Vernunft von Gott wissen kann, statt umnebelt selbst bloß Nebel. 47 Es zeigt sich auch hier, was Pesch im Rahmen seiner Analyse des thomanischen Sakramentenbegriffs und seines Verständnisses des Ordenslebens so konstatiert: »The community-dimension of Christian existence is underestimated in Thomas’ thought« (Pesch 1989, 23 f.).
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Liebe bei Thomas
3.2.2
Wie der Mensch liebt
Die Summa diskutiert die menschliche Liebe vor allem an drei Stellen: a) I 60 behandelt zwar »amor sive dilectio« der Engel, bezieht sich aber immer auch auf den Menschen, der mit ihm als geschaffenes Vernunftwesen in den Grundprinzipien vernünftiger und freier Liebe übereinkommt. b) I-II 26–28: Hier wird unter den menschlichen Leidenschaften die natürliche Liebe als erstes Prinzip ausgemacht und analysiert. c) Diese wird durch die Gnade in der Caritas vollendet; jener Liebe, die Thomas als Freundschaft zwischen Mensch und Gott bestimmt. Sie wird untersucht in II-II 23–27. Wir behandeln die Ergebnisse dreiteilig: 1) Einige grundlegende Bestimmungen. 2) Die Liebe zu Gott. 3) Die Liebe zum Mitmenschen. 48 3.2.2.1 Grundlegendes zur menschlichen Liebe 3.2.2.1.1 Liebe als passio Die Summa behandelt die menschliche Liebe im Kapitel zu den Leidenschaften (passiones). Geht es in der Prima Secunda zunächst um die anthropologischen Themen der beatitudo als letztes Ziel des Menschen (qq. 1–5) und sodann um den Willen (qq. 6–21), wendet Thomas sich in qq. 22–48 denjenigen Akten zu, die »den Menschen und den anderen Sinnenwesen gemeinsam« sind und Leidenschaften der Seele genannt werden. 49 Blickt man zurück auf die Kapitel zur Gottesliebe und zur Liebe der Engel, mag es verwundern, dass Thomas die Liebe in diesem unmittelbar mit der Sinnlichkeit verwobenen Feld behandelt, anstatt im Feld des Willens. 50 Dies hat folgenden Grund: Der amor ist eine Kraft, die auf analoge Weise die gesamte Seinspyramide bestimmt. Überall dort, wo es ein Streben gibt, wirkt bereits die Liebe. »Darum gibt es entsprechend dem Unterschied des Strebens auch einen solchen der
Da in allen Bereichen das Feld der Selbstliebe mitthematisiert wird, ja zumindest der Nächstenliebe prioritär und konstitutiv vorangeht, widmen wir ihr kein eigenes Kapitel. 49 »… de actibus qui sunt homini aliisque animalibus communes, qui dicuntur animae passiones« (I-II 6, prooem.). 50 »Ratio passionis magis proprie invenitur in actu appetitus sensitivi quam intellictivi« (I-II 22,3 c.). 48
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Liebe.« 51 Da der Mensch als leibliches Sinnenwesen mit den subpersonalen Ebenen der Wirklichkeit wesenhaft verwoben ist, gilt dies auch für seine Liebe. Bereits auf der Ebene der nicht-sinnenhaften Natur spricht Thomas von einem Streben bzw. von Liebe (amor naturalis). 52 Schon dieses Streben verdankt sich einem Wahrnehmen. Allerdings nicht »auf dem Wege über die eigene Wahrnehmung, sondern über die Erkenntnis desjenigen, der die Natur so eingerichtet hat«. 53 Bei den Tieren geschieht das Streben schon aus eigener Wahrnehmung, »jedoch aus Notwendigkeit, nicht aus frei vollzogenem Urteil.« 54 Hier spricht Thomas von einem amor sensitivus in appetitu sensitivo. Dort, wo das Streben »der Wahrnehmung des Strebenden folgt und zugleich dem freien Urteil unterliegt«, findet sich das vernünftige Streben, »das ›Wille‹ genannt wird«: 55 amor intellectivus in appetitu intellectivo. Diese Liebe bleibt aber in der menschlichen Natur verwoben mit dem amor sensitivus, so dass sie zu den Leidenschaften gezählt wird und unter diesen den Primat innehat: »Von der Liebe werden sowohl Sehnsucht als auch Traurigkeit, Lust und schließlich alle anderen Leidenschaften verursacht«. 56 Auf allen Ebenen zeigt sich nun die ursprüngliche Passivität der Liebe in ihrem Ergriffen- und Bewegtwerden. Für das Nicht-Sinnenhafte liegt das Erleiden klar zutage und ist radikal: Es wird von außen durch den verursachenden agens zur Tätigkeit bestimmt, der »eine doppelte Wirkung im Erleidenden hervorbringt. Denn erstens gibt er ihm die Form, zweitens aber gibt er die aus der Form folgende Bewegung, wie z. B. das Hervorbringende dem Körper die Schwere verleiht und die aus ihr folgende Bewegung.« 57 Aber auch dort, wo das
»Unde secundum differentiam appetitus est differentia amoris« (I-II 26,1 c.). »[…] die Schwere, die Ursprungsgrund der Bewegung zu dem der Schwere konaturalen Ort ist, kann gewissermaßen naturhafte ›Liebe‹ genannt werden. – […] gravitas, quae est principium motus ad locum connaturalem propter gravitatem, potest quodammodo dici amor naturalis« (I-II 26,2 c.). 53 »[…] non per apprehensionem propriam, sed per apprehensionem instituentis naturam« (I-II 26,1 c.). 54 »[…] ex necessitate, non ex iudicio libero« (I-II 26,1 c.). 55 »[…] appetitus consequens apprehensionem appetentis secundum liberum iudicium. Et talis est appetitus rationalis sive intellectivus, qui dicitur voluntas« (I-II 26,1 c.). 56 »[…] ex amore […] causantur et desiderium et tristitia et delectatio, et per consequens omnes aliae passiones« (I-II, 28, 6 ad 2. Vgl. I-II, 25, 2). 57 »Agens autem naturale duplicem effectum inducit in patiens, nam primo quidem 51 52
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Streben durch die eigene Wahrnehmung in Bewegung gesetzt wird, herrscht eine vorgängige Passivität: Denn das Streben wird vom erstrebten Gegenstand hervorgerufen. »So verleiht […] der erstrebte Gegenstand selbst dem appetitus zunächst eine gewisse Übereinstimmung mit sich selbst, die im Wohlgefallen am Erstrebten besteht, woraus dann die Bewegung zum erstrebten Gegenstande folgt.« 58 Dort, wo dann noch das freie Urteil und die Entscheidung hinzukommt, wächst zwar die Aktivität des Strebenden, ist aber weiterhin bedingt durch eine vorläufige Passivität. »Die erste Veränderung also des appetitus vom Erstrebten her wird ›Liebe‹ genannt, und die ist nichts anderes als das Wohlgefallen am Erstrebten. Aus diesem Wohlgefallen folgt [beim Menschen u. U. frei] die Bewegung zum Erstrebten hin, das ist die Sehnsucht; und zuletzt die Ruhe, das ist die Freude.« 59 Dass Thomas die Liebe unter den Leidenschaften behandelt, bedeutet also zugleich dreierlei: 1) Die menschliche Liebe ist weder bloß geistig noch bloß sinnlich, sondern beides in unaufhebbarer Verwobenheit. Deshalb wird sie nicht zusammen mit dem Willen behandelt, sondern mit den Leidenschaften, die »sich mehr im Akt des sinnenhaften als des geistigen Strebens« 60 finden – also dort, »wo eine körperliche Veränderung vorliegt«. 61 2) Ihr eignet etwas ursprünglich Passives, ein Entflammtwerden vom daraufhin – mehr oder weniger selbsthaft – erstrebten/geliebten Gegenstand. 3) Dieser Kontext lässt sie zunächst ganz im Sinne des amor concupiscentiae erscheinen. Wenn sie im Bereich der Leidenschaften den Primat innehat, so deshalb, weil sie für alle Arten des Strebens »das Prinzip der auf das
dat formam, secundo autem dat motum consequentem formam; sicut generans dat corpori gravitatem, et motum consequentem ipsam« (I-II 26,2 c.). 58 »Sic etiam ipsum appetibile dat appetitui, primo quidem, quandam coaptationem ad ipsum, quae est complacentia appetibilis; ex qua sequitur motus ad appetibile« (I-II 26,2 c.). 59 »Prima ergo immutatio appetitus ab appetibili vocatur amor, qui nihil est aliud quam complacentia appetibilis; et ex hac complacentia sequitur motus in appetibile, qui est desiderium; et ultimo quies, quae est gaudium« (I-II 26,2 c.). 60 »Ratio passionis magis proprie invenitur in actu appetitus sensitivi quam intellectivi« (I-II 22,3 c.). 61 »Passio proprie invenitur ubi est transmutatio corporalis« (I-II 22,3 c.). Interessanterweise spielt diese Verwobenheit mit der Sinnlichkeit in den folgenden Quaestiones zum menschlichen amor kaum eine Rolle.
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geliebte Ziel gehenden Bewegung« 62 ist. Sie geht auf das »quod«, das Akkusativobjekt der Liebe und ist deshalb »in concupiscibili«. 63 3.2.2.1.2 Begriffsbestimmung Erstaunlicherweise liefert Thomas erst im Rahmen der Liebe als Grundleidenschaft eine Begriffsbestimmung der verschiedenen Liebestermini, 64 die er zuvor ja, wie gesehen, bereits reichlich und mehr oder weniger synonym 65 verwandt hatte. Es geht um »vier Namen«, die sich in etwa auf dasselbe beziehen: 66 amor, dilectio, caritas, amicitia. Die amicitia ist nach dem Philosophen, also Aristoteles, ein Habitus 67 und wird als solcher in die folgende Unterscheidung nicht mit einbezogen. Akt bzw. Leidenschaften sind die ersten drei. Dabei ist amor der Allgemeinbegriff: »omnis enim dilectio vel caritas est amor, sed non e converso«. 68 Zum amor gehört das Bewegtwerden durch »Amor dicitur illud quod est principium motus tendentis in finem amatum« (I-II 26,1 c.). 63 Vgl. I-II 26,1. 64 Vgl. I-II 26,3. 65 Quaestio I 20 zur Liebe Gottes nennt die Liebe durchweg amor. Caritas kommt nur einmal vor – als Zitat von I Joh 4,16; dilectio dagegen gar nicht; amicitia nur einmal im Zusammenhang der Unterscheidung zwischen den amores concupiscentiae et amicitiae (I 20,2 arg. 3 u. ad 2). Als Verben begegnen amare und diligere. Auch in den Quaestiones zur Trinität (I 27–43) spielt die caritas keine Rolle; sie taucht nur auf in Schrift- (so in 43, 3 arg. 2 u. ad 2) oder Augustinuszitaten (37,1 arg. 1 u. ad 1); bzw. dort, wo es um die gnadenhaft erhobene menschliche Liebe geht (43,5 arg. 2/ad 2; 43,6 arg. 2/ad 2); die dilectio im Zusammenhang mit electio (I 23,4); die amicitia gar nicht (ebenso wenig die benevolentia). In der Engellehre (qq. 50–64, v. a. qq. 59/60/62) tritt die caritas nur höchst vereinzelt auf, v. a. im Zusammenhang mit der beatitudo als ihrem Verdienst (I 62,5 c.; ebd., 9 ad 2). Die erscheint nur bei der Unterscheidung von amor concupiscentiae und amor amicitiae (60,3 c. u. 60,5 c.). Interessanterweise tritt nun aber, ohne dass dies thematisiert oder irgendeine Abgrenzung eingeführt würde, an die Stelle des amor (nur 21-mal in der Engellehre verwandt) die dilectio (113-mal) und ebenso überwiegt diligere bei weitem amare (62:16). Betrachtet man die nun folgende Definition, wird man wohl sagen müssen, dass sie auf Thomas’ bisherige Verwendung der Termini kaum anwendbar ist: Die Definition des amor legt seine primäre Verwendung in der Gotteslehre nicht nahe, und die Definition der dilectio lässt sich nicht auf die Engellehre anwenden, in der amor und dilectio derart synonym verwendet werden, dass es immer wieder heißt amor sive/ seu/vel dilectio (I 60 pr., q. 1 arg. 1 u. arg. 2) und sogar die Frage von naturaler und freier Liebe unter den Termini dilectio naturalis und dilectio electiva verhandelt wird. 66 I-II 26,3 c.: »quatuor nomina inveniuntur ad idem quodammodo pertinentia«. 67 Thomas bezieht sich auf EN 1157b28–29. 68 I-II 26,3 c. 62
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das Geliebte. Die dilectio fügt dem eine bewusste Entscheidung zur Liebe hinzu 69 und ist deshalb im Unterschied zum amor nicht schon im Begehrungsvermögen (concupiscibilis) als solchem, sondern im Willen und mithin nur in vernunftbegabten Naturen. 70 Die Caritas wird hier nicht weiter definiert, als dass sie der Liebe eine gewisse Vollkommenheit hinzufüge aufgrund des Wertes des Geliebten. 71 Während die dilectio ausdrücklich die entscheidende/entschiedene Liebe meint, bezieht der amor auch das seine Liebe rein erleidende Streben des Subpersonalen ein. Wäre die personale Liebe bloß selbstbewegt, so wäre sie weniger göttlich, als wenn sie auch zugleich Leidenschaft ist: »Der Mensch kann mehr zu Gott hinstreben durch die Liebe, indem er sich von Gott selbst gleichsam ziehen lässt, als dass die eigene Vernunft ihn dahin führen könnte«. 72 Deshalb lässt Thomas unter ad 4 zum einen Pseudo-Dionysos These gelten, dass amor göttlicher ist als dilectio. 73 Andererseits ist für ihn diese Unterscheidung wohl keine reale, weil im appetitus intellectivus die dilectio und der amor dasselbe sind. 74 Das heißt: Es gibt weder ein reines Gezogensein noch eine reine Entschiedenheit, sondern gezogene Entschiedenheit bzw. entschiedenes Gezogensein, und deshalb wird er, abgesehen von I-II qq. 26–28, wo es eben ausdrücklich um die Liebe als passio geht, amor und dilectio weiterhin synonym gebrauchen. 75 3.2.2.1.3 Amor concupiscentiae und amor amicitia Steht die amor-Liebe hier eigentlich im Kontext der begehrenden Leidenschaften, so wird nun (q. 26,4) innerhalb ihrer die uns schon bekannte Unterscheidung getroffen, die das Begehren an zweite Stelle setzt. Es geht um die Unterscheidung von »amor amicitiae« und Thomas leitet diligere von dis-legere (auslesen, auswählen) ab: »Addit enim dilectio supra amorem, electionem praecedentem, ut ipsum nomen sonat« (I-II 26,3 c.). 70 »Unde dilectio non est in concupiscibili, sed in voluntate tantum, et est in sola rationali natura« (I-II 26,3 c.). Vgl. Aertsen 2009, 199. 71 »… ut ipsum nomen designat« – Thomas leitet caritas von carus ab (vgl. Sent. d. 27,2 ad 7). 72 I-II 26,3 ad 4. 73 Vgl. I-II 26,3 s.c. Thomas zitiert aus De Div. Nom, C. IV, § XII (PG III, 709 B). 74 Vgl. I-II 26,3 ad 1 + ad 3. 75 So auch in II-II qq. 23–27 zur caritas. Zwar verwendet Thomas hier dilectio (213mal) doppelt so oft wie amor (112-mal), aber ohne dass sich dabei Unterschiede in einer mehr aktiven oder mehr passiven Liebe festmachen ließen. Vgl. etwa »amor caritatis, quo diligitur Deus« (II-II 25,1 arg. 1 + 2, ad 2) und andersherum »quod dilectio caritatis tendit in Deum«. 69
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»amor concupiscentiae«. 76 Lieben heißt nämlich eigentlich, so wird nun Aristoteles zitiert, »jemandem Gutes wollen«. 77 Damit aber hat sie zwei Objekte: Dasjenige (bonum), das gewollt wird, und den-/diejenige (alicui), dem/der es gewollt wird. Diese(n) liebt sie mit amicitia und ist nur insofern ursprüngliche Liebe (amor simpliciter), jenes mit concupiscentia und ist hier nur in abgeleiteter Weise Liebe (amor secundum quid). 78 Es fällt damit die Freundschaft des Aristoteles mitten hinein in die bisher im Feld der Leidenschaften als Begehren entworfene menschliche Liebe, die zunächst einfach für sich ihr ersehntes Objekt erstrebte und nun darauf gestoßen wird, dass all ihrem Etwas-Wollen ein Jemandem-Wollen zugrundeliegt; und dass dieses Dativ-Wollen eigentlich die Liebe ist. 79 Zwar kann dieser jemand, dem eine Person etwas will, auch sie selbst sein, aber selbst dann liegt eine andere Ordnung als die des Begehrens vor. Dasjenige, für das ich das Gute will, wird nicht wiederum begehrt, sondern als es selbst und für es selbst bejaht, wenn sein Wohlergehen erstrebt wird. Deshalb sind, wie Thomas in ad 3 klarmacht, die amicitia utilis et delectabilis defizitäre Freundschaften, weil bei ihnen das velle bonum amico in eigennütziger Absicht in den amor concupiscentia gezogen wird. 80
Vgl. McEvoy 2002, 21 f. »velle alicui bonum« (I-II 26,4 c. Vgl. Rhet. II, 1380b35-a1: »ἔστω δὴ τὸ φιλεῖν τὸ βούλεσθαί τινι ἃ οἴεται ἀγαθά, ἐκείνου ἕνεκα ἀλλὰ μὴ αὑτοῦ, καὶ τὸ κατὰ δύναμιν πρακτικὸν εἶναι τούτων«). So schon – ohne Aristoteles-Zitat, aber mit dem wichtigen »eigentlich« – I 20,1 ad 3: »Hoc enim est proprie amare aliquem, velle ei bonum.«. 78 »Ad illud ergo bonum quod vult alteri, habetur amor concupiscentiae: ad illud autem cui aliquis vult bonum, habetur amor amicitiae. […] amor quo amatur aliquid ut ei sit bonum, est amor simpliciter, amor autem quo amatur aliquid ut sit bonum alterius, est amor secundum quid« (I-II, 26, 4 c.). 79 Vgl.: »amare nil aliud sit quam velle bonum alicui« (I 20,2 c.). »Amor autem quidam est perfectus, quidam imperfectus. Perfectus quidem amor est quo aliquis secundum se amatur, ut puta cui aliquis vult bonum, sicut homo amat amicum. Imperfectus amor est quo quis amat aliquid non secundum ipsum, sed ut illud bonum sibi ipsi proveniat, sicut homo amat rem quam concupiscit.« (II-II 17,8 c.). 80 »[…] in amicitia utilis et delectabilis, vult quidem aliquis aliquod bonum amico, et quantum ad hoc salvatur ibi ratio amicitiae. Sed quia illud bonum refert ulterius ad suam delectationem vel utilitatem, inde est quod amicitia utilis et delectabilis, inquantum trahitur ad amorem concupiscentiae, deficit a ratione verae amicitiae« (I-II 26,4 ad 3). 76 77
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Mit dieser Klarstellung dürfte sich dann allerdings auch gezeigt haben, dass die Einordnung des menschlichen amor unter die Leidenschaften wohl nicht gelten kann für das, was Lieben eigentlich ist, und damit zumindest äußerst unglücklich ist. Für dieses Wollen, das kein Begehren ist, geben die Leidenschaften in ihrer prinzipiell appetitiven Ausrichtung – die begehrenden wie die überwindenden – nicht den geeigneten Rahmen ab. 81 Sehen wir im Folgenden zu, wie sich das Verhältnis von Begehren und Wohlwollen in der Gottes- und Menschenliebe entwickelt. Aber zuvor noch einige Worte zur Freiheitlichkeit der Liebe. 3.2.2.1.4 Freiheit und Gnade Es ist hier nicht der Raum, das komplexe Gefüge von Gnade und Freiheit beim Aquinaten darzustellen. Dennoch müssen wir einige Grundlinien klären, weil es dieser Untersuchung ja nicht bloß um den als er selbst geliebten Menschen, sondern zugleich um den selbst liebenden Menschen geht. Denn genauso wie der geliebte Mensch als bloßes Medium Gottes sein Selbst verlöre, so würde der liebende Mensch entselbstet, wenn nur Gott in ihm liebte. Grundlegend ist zunächst die Unterscheidung von Natur und Gnade. In der Natur herrscht der appetitus naturalis, dem der Mensch restlos unterworfen ist. Er liebt Gott als das höchste Gut über alles, an zweiter Stelle sich und dann den Nächsten, weil es so seiner Natur entspricht. Frei ist er nur in der Wahl der Mittel zu diesem Ziel, und dort ist der Ort, wo sich die Korruption der gefallenen Freiheit findet. »Der Wille strebt von Natur aus auf sein letztes Ziel. Jeder Mensch will nämlich die Seligkeit […]. Die Liebe (dilectio) zu dem Guten also, das der Mensch von Natur aus als Ziel will, ist naturhafte Liebe (dilectio naturalis). Die aber von dieser abgeleitete Liebe, welche auf ein Gut geht, das des Zieles wegen geliebt wird, ist die wahlfreie Liebe (dilectio electiva).« 82 Vgl. die Anfragen bei McEvoy 1996, 297 f.; Messina 2011, 61 ff. Thomas selbst hatte eigentlich im ersten Teil schon einmal geklärt, dass die Liebe, sofern sie geistig ist, nicht zu den passiones gehört: »Amor igitur et gaudium et delectatio, secundum quod significant actus appetitus sensitivi, passiones sunt, non autem secundum quod significant actus appetitus intellectivi. Amor igitur et gaudium et delectatio, secundum quod significant actus appetitus sensitivi, passiones sunt, non autem secundum quod significant actus appetitus intellectivi« (I 20,1 ad 1). 82 »Voluntas naturaliter tendit in suum finem ultimum, omnis enim homo naturaliter vult beatitudinem. (…) Dilectio igitur boni quod homo naturaliter vult sicut finem, 81
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Auf der Ebene der gnadenhaften Erhebung wird Gott anders geliebt, wie wir sehen werden. Auf diese Ebene gelangt der Mensch zwar nicht ohne Einwirkung der Gnade, andererseits aber auch nicht ohne die Zustimmung der Freiheit. Thomas verhandelt dies in II-II 23,2 unter der Fragestellung, ob die caritas etwas Geschaffenes in der Seele sei. 83 Ist die Seele ein Vollzug des Menschen oder ein göttlicher Vollzug in ihm? In der Antwort zitiert Thomas zunächst den Magister (Petrus Lombardus), nach dem die »Caritas nicht etwas Geschaffenes in der Seele ist, sondern der Heilige Geist selbst«. 84 Und setzt sich dann sehr entschieden davon ab: »Wenn wir das aber recht betrachten, so führt dies eher zu einer Zerstörung der caritas.« 85 Sie wäre dann nämlich gar nicht mehr die Liebe des Menschen und würde damit ihn auch gar nicht zu einem Liebenden umgestalten. Soll er durch die Gnade zum Liebenden werden, kann dies nicht ohne seine Freiheit gehen, »denn Liebe besagt ihrem Begriff nach, dass sie ein Akt des Willens ist.« 86 Das Wirken Gottes durch die Gnade muss also so gedacht werden, dass der Wille als Wille und so »auch« durch sich zur Liebe erhoben wird. Thomas bringt dieses dialektische Verhältnis von bewegtwerdendem Selbstbewegen und selbstbewegtem Bewegtwerden folgendermaßen auf den Begriff: »Nicht so geht die Bewegung der caritas vom Heiligen Geist aus […], als würde der Geist des Menschen nur bewegt und wäre in keiner Weise Ursprung dieser Bewegung. […] Anderenfalls würde folgen, dass Lieben (diligere) nicht freiwillig wäre.« 87 Und noch einmal positiv gewendet: »es muss so sein, dass der Wille derart vom Heiligen Geiste zum Lieben bewegt wird, dass er [der Wille] auch selbst diesen Akt setzt.« 88 Wichtig für unser Thema ist hierbei nur, dass für den Aquinaten in der Liebe der Mensch a) selbsthaft und frei engagiert ist und b) die est dilectio naturalis, dilectio autem ab hac derivata, quae est boni quod diligitur propter finem, est dilectio electiva« (I 60,2 c.). 83 »[…] aliquid creatum in anima« (arg. 1). 84 Magister ponit, »quod caritas non est aliquid creatum in anima, sed est ipse Spiritus Sanctus mentem inhabitans« (II-II 23,2 c.; vgl. Sentenzen, lib. I, dist. 17, PL 192/ 564 ff.). 85 »Sed si quis recte consideret, hoc magis redundat in caritatis detrimentum« (ebd.). 86 »[…] amor de sui ratione importet quod sit actus voluntatis« (ebd.). 87 »Non enim motus caritatis ita procedit a spiritu sancto movente humanam mentem quod humana mens sit mota tantum et nullo modo sit principium huius motus […] Unde sequeretur quod diligere non esset voluntarium« (ebd.). 88 »[…] oportet quod sic voluntas moveatur a spiritu sancto ad diligendum quod etiam ipsa sit efficiens hunc actum« (ebd.).
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Liebe bei Thomas
göttliche Erhebung und Befreiung zu solcher Selbsthaftigkeit ihrerseits nicht ohne selbsthafte Zustimmung des Befreit-Werdenden geschehen kann. Alle anderen damit verbundenen Fragen, wie etwa die der Prädestination, lassen wir auf sich beruhen. 89 Nach diesen Vorausklärungen soll es nun zunächst um die Liebe des Menschen zu Gott, dann um die Nächstenliebe gehen. 3.2.2.2 Gott lieben 3.2.2.2.1 Quod? Gott als letztes Ziel. Der Mensch ist – wie alles 90 – um eines letzten Zieles willen tätig; »omnia quae homo appetit, appetat propter ultimum finem«. 91 Gäbe es kein letztes Ziel, so gäbe es überhaupt keine Bewegung zu irgendeinem Ziel. 92 Dieses Letzte aber muss vollkommen sein, anderenfalls könnte der menschliche Wille nicht in ihm als seinem Letzten ruhen. 93 Dieses Vollkommene, nach dem alles strebt, ist für Thomas die je Wir können dies, weil es in dieser Untersuchung darum geht, wie die Liebe zu denken, nicht wie sie zu erlangen ist. Damit verzichten wir auch auf die eingehende Behandlung des Problems der Zirkularität in der Umkehr: Um gut sein zu wollen, muss man schon gut sein, denn nur der Gute will gut sein. Dass dies einen Eingriff ab extra verlangt, ist evident und zugleich auch, dass der nicht am Subjekt vollzogen werden kann, sondern in ihm und mit ihm geschehen muss. So schwierig dies zu denken ist, es gibt nur folgende Alternativen: 1) Der Mensch muss nicht umkehren, weil er schon gut ist. 2) Der Mensch ist verloren. 3) Er wird umgekehrt. – Diese Alternativen aber sind keine, denn: 1) widerspricht der Erfahrung der Bosheit, 2) der Erfahrung, dass Umkehr tatsächlich geschieht und 3) dem Wesen der Umkehr als Neuanfang, will sagen: erneuertes Neuansetzen eines durch diesen Neuanfang hindurch sich als derselbe erhaltenden bereits Angefangen-Habenden. Diese Identität des Umgekehrten mit dem zuvor Abgewendeten zeigt sich in der Dankbarkeit des Umkehrenden wie derer, zu denen er umkehrt, welche nur Sinn gibt bei seiner Identität mit dem zuvor Abgewendeten – gedankt wird ja für seine Umkehr. Diese personale Identität wäre aber zwingend verloren, wenn die Bewegung der Freiheit ohne ihr Mittun umgewendet würde – wie auch immer die neue Freiheit der vorigen ähneln würde, sie wäre nicht dieselbe Person, sondern eine zweite Auflage. 90 Vgl. I-II 1,2. Dazu Ilien 1975, 25–49; Dörnemann 2012, 105 ff.; McEvoy 2002, 21. 91 I-II 1,6 c. 92 »Impossibile est in finibus procedere in infinitum, ex quacumque parte. In omnibus enim quae per se habent ordinem ad invicem, oportet quod, remoto primo, removeantur ea quae sunt ad primum. […] non est possibile in causis moventibus procedere in infinitum, quia iam non esset primum movens, quo subtracto alia movere non possunt, cum non moveant nisi per hoc quod moventur a primo movente« (I-II 1,4 c.). 93 »Oportet igitur quod ultimus finis ita impleat totum hominis appetitum, quod nihil extra ipsum appetendum relinquatur« (I-II 1,5 c.). Vgl. Schockenhoff 2007, 68–73; Speer 2005, 157 f. 89
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eigene Vollkommenheit. 94 Was ist diese für den Menschen, und wie unterscheidet er sich darin als creatura rationalis von den nicht-rationalen Geschöpfen? Thomas führt eine Unterscheidung ein, die objektseitig benennt, was er im Liebesbegriff bereits subjektseitig geklärt hatte: finis quo und finis cuius. 95 Letzteres ist die Sache selbst (res), die erstrebt wird (also das »quod« des amor concupiscentiae), das erste ihr Gebrauch oder ihre Erlangung (»usus sive adeptio illius rei« – dass sie also jemandem [cui] zuteil wird). 96 In Bezug auf die Sache selbst, die erstrebt wird, gibt es keinen Unterschied zwischen den Geschöpfen: »Deus est ultimus finis hominis et omnium aliarum rerum«. 97 Wohl aber in der Weise, wie dieses Ziel erreicht und gehabt wird (usus). Während die nicht-rationalen Geschöpfe ihr Ziel erreichen, indem sie an der Ähnlichkeit mit Gott teilhaben (»secundum quod sunt, vel vivunt, vel etiam cognoscunt«) 98, erreichen die rationalen Geschöpfe ihr Ziel, indem sie Gott schauen und lieben (»cognoscendo et amando Deum«) 99. Diese Form der Vollkommenheit aber nennt Thomas Glückseligkeit (beatitudo). Sie kommt nur rationalen Geschöpfen zu und ist deren höchstes Gut (»beatitudo est bonum perfectum«) 100. 3.2.2.2.2 Cui? Mir. Der Mensch übernimmt also sowohl das finis cuius wie auch das finis quo Gottes: So wie Gott sich (finis cuius) dem Menschen zur Liebe und Schau (finis quo) will, will der Mensch Ihn (finis cuius) sich (finis quo). Was aber ist prioritär? Das finis quo: Wir lieben jenen mehr, dem wir etwas Gutes wünschen, als dasjenige, das wir ihm wünschen. Gott wünschen wir uns; daraus würde folgen, dass wir uns mehr lieben als ihn. Kann Thomas dem entgehen? Er stellt sich dem Problem unter III 2,7. Es geht um die Frage, ob die Seligkeit ein Teil von uns sei. Nun, »Omnes appetunt suam perfectionem adimpleri, quae est ratio ultimi finis« (I-II 1,7 c.). 95 »[…] finis dupliciter dicitur, scilicet cuius, et quo, idest ipsa res in qua ratio boni invenitur, et usus sive adeptio illius rei« (I-II 1,8 c.; vgl. Speer 2005, 155 f.). 96 I-II 1,8 c. 97 I-II 1,8 c. 98 I-II 1,8 c. Eine gewisse Erkenntnis spricht Thomas auch den Tieren zu (vgl. Mertens 2005, 172). 99 Ebd. 100 I-II 2,4 arg. 2. 94
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Liebe bei Thomas
sagt Thomas, wenn wir doch einerseits uns 101 und andererseits die beatitudo am meisten lieben, dann folgt, dass die beatitudo ein Teil der Seele sein muss. Im sed contra hält Thomas nun axiomatisch dagegen, dass einzig Gott um seiner selbst willen zu lieben ist, und alles andere um seinetwillen, so auch wir selbst. Die Seligkeit, die der Mensch über alles ersehnt, kann somit nicht als Teil seiner selbst zu verstehen sein. Sie ist Gott – aber nicht einfachhin, sondern als gehabter, welches Haben die Seele wieder ins Spiel bringt: »Die beatitudo ist etwas zur Seele Gehöriges, aber dasjenige, worin die Seligkeit besteht, ist außerhalb der Seele.« 102 So kann Thomas anscheinend dem Vorwurf entgehen, hier werde etwas mehr geliebt als Gott. Den hatte er in Arg. 2 scharf formuliert: »jenen, dem wir etwas Gutes wünschen, lieben wir mehr als das Gute, das wir ihm wünschen; so lieben wir mehr den Freund, dem wir Geld wünschen, als das Geld.« 103 De facto aber hat er das Problem gar nicht gelöst, sondern umgangen, indem er die cui-Frage mit dem quod beantwortet hat. Dies zeigt sich deutlich, wenn er in ad 2 sagt: »Die Seligkeit wird über alles geliebt als das begehrte Gut, der Freund aber wird geliebt als der, für den wir das Gut begehren.« 104 Es besteht nun ein klare Zuordnung: Auf der Ebene des gewünschten Gutes ist einzig Gott um seinetwillen – und d. h. als letztes Ziel – zu lieben. Auf der Ebene der Freundschaft liebt der Mensch im Gott-über-alles-Wollen sich selbst am meisten. Wenn man nun hinzuzieht, dass Liebe eigentlich (proprie) heißt, jemandem Gutes wollen, liebt in der Gottesliebe der Mensch eigentlich sich selbst. Thomas operiert hier also zur Lösung des Problems mit einer ähnlichen Finte wie schon in der Frage, ob Gott wirklich anderes als »Magis autem unusquisque seipsum amat quam alium« (I-II 27,3 c.). »Dicendum est quod beatitudo est aliquid animae; sed id in quo consistit beatitudo, est aliquid extra animam« (I-II 2,7 c.). Vgl. I-II 11,3 ad 3: »Finis dicitur dupliciter, uno modo, ipsa res; alio modo, adeptio rei. Quae quidem non sunt duo fines, sed unus finis, in se consideratus, et alteri applicatus. Deus igitur est ultimus finis sicut res quae ultimo quaeritur, fruitio autem sicut adeptio huius ultimi finis. Sicut igitur non est alius finis Deus, et fruitio Dei; ita eadem ratio fruitionis est qua fruimur Deo, et qua fruimur divina fruitione.« 103 »(…) illud cui appetimus aliquod bonum, magis amamus quam bonum quod ei appetimus, sicut magis amamus amicum cui appetimus pecuniam, quam pecuniam« (I-II 2,7 arg. 2). 104 »(…) beatitudo maxime amatur tanquam bonum concupitum, amicus autem amatur tanquam id cui concupiscitur bonum; et sic etiam homo amat seipsum« (I-II 2,7 ad 2). 101 102
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sich lieben könne. 105 Löste er dort das Problem, indem er auf das quod abhob und das cui überging – Gott will sich (den Geschöpfen) –, so nun im Blick auf den Menschen: Liebt der Mensch nicht sich mehr als Gott, wenn er doch alles, was er will, sich will? Nein, denn er liebt nichts mehr als ihn. Die Beunruhigung, die durch die cui-Frage entsteht, wird mit der quod-Antwort befriedet. 106 Wendet man dagegen ein, dass zwar auf der Akkusativ-Ebene Gott maxime geliebt wird, die Dativ-Liebe aber grundsätzlich dimensional jede Akkusativ-Liebe überbietet (magis), ja, erst eigentlich (proprie) Liebe ist, dann hilft für die Frage nach der prioritären Liebe zu Gott gar nichts, dass er als höchstes Objekt geliebt wird; proprie, weil freundschaftlich, liebt in dieser strebenden Liebe nach dem göttlichen Gut der Mensch sich. »Jemanden um seinetwillen lieben« ist demnach eine Formel, die immer der Analyse bedarf. Wir waren dem schon bei Platon begegnet. 107 Dass ein anderer als der Liebende als das Um-willen seiner Liebe ausgemacht wird, kann zweierlei heißen und ist nur in einer der beiden Bedeutungen ein Ausgang aus der Egozentrizität. Das Um-willen auf der Appetitus-Ebene bezieht sich auf ein Ziel, das nicht zur Erreichung eines anderen Zieles erstrebt wird (und deshalb eigentlich kein Ziel, sondern nur ein Mittel wäre), sondern das eben seinen Wert in sich hat und deshalb kein anderes Um-willen mehr hat als sich selbst. Auf dieser Ebene ist über die Freundschaftsliebe überhaupt nichts gesagt, sondern nur das eigentliche Objekt der Begehrensliebe ausgemacht. Scharf davon unterscheiden aber muss man das Um-willen in der Freundschaftsdefinition des Aristoteles, der ja nicht davon spricht, dass der Freund den Freund um seinetwillen will, sondern dass er dem Freund Gutes will – um dessentwillen. Und, wie um alle Unklarheiten auszuräumen, spezifiziert er dies noch durch die Abgrenzung vom Eigennutz: »Lieben sei also einem anderen das wünschen, was man für Güter hält, und zwar um dessent- und nicht um unseretwillen und nach Kräften dafür tätig sein«. 108 Vgl. S. 68 ff. Freilich gesteht er zuletzt, die eigentliche Frage nicht behandelt zu haben, und verschiebt sie auf das Caritas-Kapitel (wo er sie, wie wir sehen werden, freilich auch nicht ausdrücklich beantwortet): »Utrum autem amore amicitiae aliquid homo supra se amet, erit locus considerandi cum de caritate agetur« (I-II 2,7 ad.2). 107 Vgl. S. 54. 108 »ἐκείνου ἕνεκα ἀλλὰ μὴ αὑτοῦ« (Rhetorik 1380b 35). Ebenso Nikomachische Ethik 1155b31; 1166a2–6. Dass er selbst die Begrifflichkeit des »Um-willen« nicht einzig der benevolenten Liebe vorbehalten hat, sondern sie auch im Sinne der Aus105 106
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Soweit wir also hier sehen können, begehrt der Mensch nichts so sehr wie Gott und ist andererseits niemandem so sehr freund wie sich. Ein solches Verständnis legt sich immer nahe, wo Thomas den Strebe-Weg des Menschen zu Gott thematisiert. Andererseits aber gibt es quer dazu stehende Gedanken, in denen sich zeigt, dass Thomas selbst – anders als manche seiner Adepten 109 – sich nicht damit beruhigen kann, dass die Selbstliebe wirklich die Triebfeder für die Gottesliebe soll sein können. 3.2.2.2.3 Quod ohne Cui: Gott nicht mehr als mein Ziel wollen 3.2.2.2.3.1 Gemäß der Natur Ein solcher Gedanke taucht schon in den Erwägungen über die natürliche Liebe auf. Es geht darum, dass Engel und Mensch schon naturaliter Gott mehr lieben als sich selbst. Dies wird erstlich behandelt in I 60,5, also in der Quaestio zur Liebe der Engel. Der Mensch wird hier ausdrücklich miteingeschlossen. 110 Kurz zuvor heißt es: »et angelus et homo naturaliter appetunt suum bonum, et suam perfectionem«. 111 Dies aber nenne man sich selbst lieben. 112 »Sowohl der Engel wie der Mensch liebt sich selbst, insofern er sich mit dem appetitus naturalis irgendein Gut ersehnt.« 113 Bis hierhin müsste man also das Obige bestätigen: Indem der Mensch das Gute begehrt, will er sich gut. Im übernächsten Artikel aber erfahren wir, dass der Engel (und mit ihm der Mensch) Gott mehr als sich selbst liebt. 114 »Ein jedes Wesen […] im Bereich der Naturdinge, welches in dem, was es ist, der Natur nach einem anderen zugehört, wird ursprünglicher und mehr hingeneigt zu dem, welchem es gehört, als zu sich selbst. […] Wir sehen nämlich, dass von Natur aus der Teil sich der Gefahr aussetzt zur Erhaltung des Ganzen; so setzt sich die Hand ohne Überlegung dem Hiebe aus zur Erhaltung richtung auf eine intrinsische Werthaftigkeit verwendet, ohne die »ambiguity in ›loving a person for himself‹« wahrgenommen zu haben, zeigt Vlastos 1973, 33. 109 Vgl. die systematische Diskussion des Eudaimonismus unten, S. 246 ff. 110 Während es in den Untersuchungen zur natürlichen Liebe des Menschen nicht eigens thematisiert wird, begegnet es kurz innerhalb des Gnadentraktates (I-II 109,3). Die Caritas-Questiones greifen es dann wieder auf (vgl. II-II 26,3). 111 I 60,3 c. 112 »Et hoc est amare seipsum« (I 60,3 c.). 113 »Unde naturaliter tam Angelus quam homo diligit seipsum, inquantum aliquod bonum naturali appetitu sibi desiderat« (I 60,3 c.). 114 »Dilectione naturali Angelus diligit Deum supra seipsum« (I 60,5 s.c.).
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des ganzen Körpers.« 115 So auch im Feld des tugendhaften Menschen, »denn es ist einem tugendhaften Bürger eigen, sich der Todesgefahr auszusetzen zur Erhaltung des ganzen Staates«. 116 Insofern wir aber alle in Gott übereinkommen und von ihm unser Sein haben, lieben wir ihn mehr als uns. »Es folgt, dass Engel und Mensch mit der natürlichen dilectio Gott mehr und ursprünglicher lieben als sich selbst«. 117 Die Frage ist, welche Form der Liebe an dieser Stelle gemeint ist. Man kann auch sie noch im Sinne der vermittelten Selbstliebe lesen, die ihre Lebensbedingungen unbegrenzt bejahen muss. So Christmann: »Wie […] jedes Wesen mit elementarer Kraft am Sein hängt, so hängt es mit derselben Kraft auch am Ganzen. Aus dieser Grundtatsache schließt nun Thomas, dass der Mensch – ebenso wie der Engel, der eben auch nicht das Ganze, sondern nur Teil ist und dies viel tiefer erkennt als der Mensch – von Natur Gott mehr liebt als sich selbst. Beide, Mensch und Engel lieben in Gott sich selbst, weil Gott der einzige Garant ihrer Existenz und ihres Heiles ist, indem Er sie selbst mit dem Ganzen und doch auch wieder als Einzelwesen im Sein erhält«. 118 Andererseits zeigt der Hinweis auf die Bereitschaft zum Selbstopfer, dass es hier durchaus auch um ein letztes Sein-für gehen kann, in dem das Sein des Höheren an sich und damit unabhängig von dem, was es für mich ist, bejaht wird. Thomas ringt mit beiden Optionen. So stellt er sich selbst den Einwand, jeder sei in der naturhaften dilectio »dem anderen um des eigenen Selbst willen zugeneigt; ein Jegliches liebt nämlich etwas, insofern es gut für sich selbst ist. Also ist der Engel in der natürlichen dilectio Gott nicht mehr als sich selbst zugeneigt.« 119 Thomas antwortet nun, dass dies falsch sei, wenn man das »insofern« (inquantum) als Zielbestimmung auffasse: »Denn er 115 »Unumquodque autem in rebus naturalibus, quod secundum naturam hoc ipsum quod est, alterius est, principalius et magis inclinatur in id cuius est, quam in seipsum. (…) Videmus enim quod naturaliter pars se exponit, ad conservationem totius, sicut manus exponitur ictui, absque deliberatione, ad conservationem totius corporis« (I 60,5 c.). 116 I 60,5 c. 117 »Sequitur quod naturali dilectione etiam angelus et homo plus et principalius diligat Deum quam seipsum« (I 60,5 c.). 118 Christmann, 474. 119 »[…] naturali dilectione quilibet diligit alium propter se, unumquodque enim diligit aliquid inquantum est bonum sibi. Ergo dilectione naturali Angelus non diligit Deum plus quam seipsum« (I 60,5 arg. 2).
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ist Gott von Natur aus nicht um seines [eigenen] Gutes willen zugeneigt, sondern um Gottes selbst willen.« 120 Wenn das »insofern« aber die ratio der Liebe von seiten des Liebenden (»rationem amoris ex parte amantis«) meine, dann sei es richtig, denn: »es läge nicht in der ratio irgendeines [Geschöpfes], Gott zu lieben, wenn nicht deshalb, weil ein jedes von dem Gute abhängt, das Gott ist.« 121 Wie immer man hier das schwierige ratio übersetzen mag, es kann nicht im Sinne des eben ausgeschlossenen Kalküls als Beweggrund oder Denkweise der Liebe verstanden werden, sondern muss so etwas wie ihre allem bewußten Streben zuvor- und zugrundeliegende Natur meinen. Für diese wäre es absurd, wenn sich ihre höchste Hingabe auf eine Wirklichkeit bezöge, der sie nicht zuinnerst zugehörte. Ich deute es so, dass das zweite das erste nicht aufhebt: Ziel der Liebe ist Gott nicht wegen des Gutseins für den Liebenden, sondern an sich selbst; dies könnte aber nicht der Fall sein, wenn er nicht immer schon das Gut des Liebenden wäre. Das Gutsein für den Liebenden ist ontologisch notwendige Bedingung für eine geschöpfliche Liebe, die motivational nicht dieses, sondern die Sache selbst als Ziel hat. So greift er diesen Gedanken in den Erwägungen um die menschliche Caritas noch einmal auf: »Auch der Teil liebt das Gut des Ganzen nur insofern, als es ihm selbst zukömmlich ist; nicht aber so, dass er das Gut des Ganzen auf sich bezieht, sondern vielmehr so, dass er sich selbst auf das Gut des Ganzen bezieht.« 122 Robert Spaemann hat überzeugend gezeigt, dass hier ein Problem aufbricht, das Thomas in seiner Tragweite wohl noch nicht gesehen hat. Es entsteht durch die Reflexion des Liebenden: Denn im Gegensatz zur Hand wird er nicht bewegt, sondern bewegt sich selbst – aufgrund eines Motivs. D. h. zur Ontologie, in der der Mensch auf 120 »Non enim diligit naturaliter Deum propter bonum suum, sed propter ipsum Deum« (I 60,5 ad 2). Vgl. I-II 109,3 c.: »[…] naturali appetitu vel amore unaquaeque res particularis amat bonum suum proprium propter bonum comune totius universi, quod est Deus.« 121 »Non enim esset in natura alicuius quod amaret Deum, nisi ex eo quod unumquodque dependet a bono quod est Deus« (ebd.). 122 »Bonum totius diligit quidem pars secundum quod est sibi conveniens, non autem ita quod bonum totius ad se referat, sed potius ita quod seipsam refert in bonum totius« (II-II 26,3 ad 2). Vgl. ebd., 13 ad 3 – mit Bezug auf welche Stelle Bossuet meinte, gegen Fenelon zeigen zu können, dass letztlich eben doch die Selbstliebe das movens für alle Gottesliebe sei. Fenelon hielt dagegen dafür, dass diese »Zukömmlichkeit« Gottes für den Menschen zwar das Fundament der Gottesfreundschaft, nicht aber deren Motiv sei (vgl. Spaemann 1990, 39 f.).
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das Ganze hin angelegt ist, tritt die anthropologisch-psychologische Frage nach der Motivation, die fragt, ob er dem Ganzen um des Ganzen oder um seiner selbst willen dient bzw. dienen soll. Die Lösung, die Spaemann sieht, liegt in einem Auseinanderhalten von beiden Ebenen. Was ontologisch Ermöglichungsgrund ist, muss nicht psychologisch das Motivans sein: »Es ist also gesagt, dass zwar der ontologische Ermöglichungsgrund der Gottesliebe (der Grund der Liebe von seiten des Liebenden) im kreatürlichen Abhängigkeitsverhältnis zu Gott liegt, dass diese eigene Abhängigkeit von Gott aber gerade nicht Motiv (finis) der Zuwendung des Willens zu Gott sei, sondern Gott in seinem durch die Vernunft intendierbaren Selbstsein«. 123 So interpretiert stoßen wir hier also auf eine Liebe, in der das Individuum dem Ganzen, zu dem es gehört, mehr das Gute wünscht als sich selbst. Wie dies mit dem Primat der Ich-Freundschaft in der Strebeliebe vermittelbar ist, bleibt offen. Wir gehen über zur Untersuchung der caritas, von der aus sich dann eine genauere Kennzeichnung dieser Form der Liebe herstellen lässt. 3.2.2.2.3.2 Gemäß der Gnade Über die Natur hinaus, sie vollendend, 124 erwirkt die Gnade, dass Gott freundschaftlich geliebt wird. Thomas nennt zu Beginn seiner Untersuchung der caritas mit Rückgriff auf Aristoteles 125 drei Wesensmerkmale der Freundschaft: 1) »benevolentia«: »wenn wir jemanden so lieben, dass wir ihm Gutes wollen«. 126 2) »Mutua amatio«, »denn der Freund ist dem Freund Freund«. 127 Dies aber gründet 3) in »aliqua Spaemann 1990, 99. Dies übrigens auch ein Argument für die natürliche Deus-super-omnia-Liebe: »Alioquin, si naturaliter plus seipsum diligeret quam Deum, sequeretur quod naturalis dilectio esset perversa; et quod non perficeretur per caritatem, sed destrueretur« (I 60,5 c.). 125 Die Übertragung des aristotelischen Freundschaftsbegriffes auf die Mensch-GottBeziehung darf als »Thomas’ eigener Beitrag« zu einer Definition der Caritas betrachtet werden. »Kein mittelalterlicher Theologe vor ihm hat es gewagt, den Freundschaftsgedanken aus der aristotelischen Ethik in solcher Unmittelbarkeit und gedanklicher Konsequenz zur spekulativen Analyse der Gottesliebe heranzuziehen, wie Thomas es versucht hat, seit er als junger Magister Sententiarum zum ersten Mal eigenständig das Herzstück der ganzen Tugendlehre bearbeitet« (Schockenhoff 2007, 232; vgl. McEvoy 1996, 297; Pinckaers 1963). 126 »[…] quando scilicet sic amamus aliquem ut ei bonum velimus«. Im Gegensatz zum »amor […] cujusdam concupiscentiae«, bei dem wir »ipsum eorum bonum velimus nobis« (II-II 23,1 c.; vgl. Aristoteles, EN 1155b31). 127 »[…] quia amicus est amico amicus« (ebd.). 123 124
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communicatione«, 128 welche hier darin besteht, dass Gott »uns seine Seligkeit mitteilt«. 129 Diese dritte Bedingung bewirkt denn auch den Unterschied zwischen natürlicher und übernatürlicher Liebe: »Gott wird, sofern Er das allumfassende Gut ist, von welchem jedes natürliche Gut abhängt, von einem jeden Wesen in naturhafter dilectio geliebt. Insofern er aber das Gut ist, welches kraft seiner Natur alle mit übernatürlicher Seligkeit beseligt, so ist man ihm zugeneigt in der dilectio der caritas.« 130 Dieses Insofern (inquantum) bleibt ähnlich oszilierend wie schon in den Teilen über die natürliche Liebe. Immer wieder schillert es in Richtung eines »Weil« (quia): »Das, was die Seligkeit einflößt, ist deshalb zu lieben, weil es Ursache der Seligkeit ist.« 131 Damit aber drängt sich der amor concupiscentiae als Modell auch dieser neuen – gnadenhaften – Liebe auf. So auch, wenn Thomas den Begriff der fruitio von Augustinus übernimmt: »Caritas nenne ich die Bewegung der Seele zum Genuss Gottes um seiner selbst willen«. 132 Dass man den Zustand der Gottesbegegnung Genuss nennt, 128 Vgl. EN 1161b2–10. »Anyone who loves another with true friendship must also (must in the strict sense of the word) desire to communicate with that person« (Malloy 2007, 82). Eine solche Freundschaft hatte Aristoteles aufgrund der Ungleichheit von Gott und Mensch ausgeschlossen (EN 1158b35 – 1159a3) und »allenfalls der mythischen Redeweise zugestanden« (Schockenhoff 2007, 233; vgl. EN 1179a23–31). Für Thomas wird sie durch die Inkarnation möglich und so verweist er hier auf 1 Kor 1,9: »Getreu ist Gott, durch den ihr zur Gemeinschaft seines Sohnes (κοινωνίαν τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ) berufen seid« (vgl. Schockenhoff 2007, 239). White verkennt gerade die Radikalität dieser Gemeinschaft von Mensch und Menschgewordenem, wenn er dafür hält, »that in the Christian tradition all talk about Jesus being ›my friend‹ must be figuratively or metaphorically intended, since in this case the distance between the benefactor and the beneficiary is held to be tremendous« (White 2001, 26). 129 Deus »nobis suam beatitudinem communicat« (II-II 23,1 c.; vgl. Dörnemann 2012, 114 f.). In II-II 25,7 c. nennt Thomas noch einmal fünf Eigenarten der Freundschaft, die benevolentia (1–3) und communicatio (4+5) näherhin skizzieren: 1) Jeder will, dass sein Freund da ist und lebt (»esse et vivere«). 2) Er will ihm Gutes. 3) Er tut ihm Gutes. 4) Er lebt mit ihm zusammen »delectabiliter«. 5) »Concordat cum ipso, quasi in eisdem delectatus et contristatus« (vgl. EN 1166a6–8). 130 »Deus, secundum quod est universale bonum, a quo dependet omne bonum naturale, diligitur naturali dilectione ab unoquoque. Inquantum vero est bonum beatificans naturaliter omnes supernaturali beatitudine, sic diligitur dilectione caritatis« (I 60,5 ad 4). 131 »Illud quidem quod est beatitudinem influens est ea ratione diligibile quia est beatitudinis causa« (II-II 25,12 c.). Ähnlich: »[…] supremus gradus dilectionis est quo caritas diligit Deum ut beatificantem« (I-II 109,3 ad 3). 132 »Caritatem voco motum animi ad fruendum Deo propter ipsum« (II-II 23,2 s.c.).
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mag noch angehen, wenn man damit thematisiert, dass sie sicher auch das ist. Wenn man aber statuiert, dass die Seele sich zum Genuss bewegt, dann ist das eigentlich Erstrebte das Gott-Haben und nicht Gott selbst, und dann kann propter deum nicht mehr bedeuten als den intrinsischen Höchstwert des von mir um meinetwillen gewollten unübersteigbar Letzten, weil Höchsten. Alles spitzt sich also auf die Frage zu, wie diese Doppelbedeutung des propter deum in den Griff zu bekommen ist. Kurz vor Schluss der Quaestiones zur caritas kommt Thomas selbst darauf zu sprechen. In II-II 27,3 will Thomas zeigen, dass Gott mit der Caritas um seiner selbst willen zu lieben ist. 133 Dafür fragt er jetzt ausdrücklich, was »ly ›propter‹ importat«. 134 Es bezeichnet ein Ursachenverhältnis. 135 Damit ist für Thomas zur weiteren Bestimmung des spezifischen »wegen« in »seinetwegen« (»propter« in »propter seipsum«) eine Untersuchung dieses Ursachenverhältnisses im Blick auf die vier aristotelischen Arten von Ursachen notwendig: 1) Causa finalis. Etwas lenkt als Ziel. Das kann ein Zwischenziel sein, und ist damit ein Mittel, das »wegen« etwas anderem gewählt wird; so z. B. die Arznei wegen der Gesundheit. Gott als letztes Ziel ist aber gerade dasjenige, das nicht noch einmal eines anderen wegen erstrebt wird. Er ist also selbst die Zielursache unserer Liebe. 2) Causa formalis. Formursache für die Gutheit eines Menschen ist seine Tugend. Aufgrund ihrer ist er gut »et per consequens diligibilis«. Gott aber ist in und an sich gut: »ejus substantia est ejus bonitas«. 136 Es gibt also auch keine andere Formursache für unsere Liebe zu ihm. 3) Causa efficiens. Nach der Wirkursache lieben wir jemanden, weil er auf jemand anderen zurückgeht, den wir in erster Linie lieben. So lieben wir unter Umständen die Söhne wegen des Vaters. 137 Auch in dieser Weise kann Gott nicht eines anderen wegen geliebt werden. Er, als der Grund von allem, hängt selbst von nichts ab, und so auch die caritas von nichts anderem als allein von ihm. Vgl.: »Motus autem humanae mentis ad fruitionem divini boni, est proprius actus caritatis« (I-II 114, 4 c.). »[…] Deus est super omnia diligendus. Hoc enim simpliciter tunc erit, quando homo perfecte eo fruetur« (II-II 26,13 c.). 133 »Deus diligendus est propter seipsum« (s.c.). 134 II-II 27,3 c. 135 »[…] habitudinem alicujus causae« (ebd.). 136 Ebd. 137 »[…] diligimus aliquos inquantum sunt filii talis patris« (ebd.).
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Liebe bei Thomas
4) Inwiefern ist aber Gott auch die causa materialis unserer Gottesliebe? Insofern als er unserer Liebe nicht bloß die Form gibt, sondern sie allererst hervorbringt. Hier aber kann er – freilich vorläufig – wegen etwas anderem, das uns zur Liebe disponiert, geliebt werden: »nämlich durch von ihm empfangene Wohltaten, oder dadurch, dass wir Belohnungen erhoffen, oder durch die Strafen, die wir durch ihn zu vermeiden trachten«. 138 Die causa materialis können wir auf sich beruhen lassen, weil hier die Gottesliebe klarerdings aus der Selbstliebe folgt. Aber mit Blick auf die anderen drei Ursachen zeigt sich ebenfalls, dass das propter im Falle Gottes überhaupt nicht den freundschaftlichen Sinn des »Dir-Wollens« hat, sondern immer nur sein unabhängig von allem anderen bestehendes Sein als Letztziel meint. Das propter seipsum im Bezug auf Gott meint nicht einen Bezug, der ihm gut will, sondern der ihn will aus keinem anderen Grund als, weil er ist, der er ist. Es geht um einen intrinsischen Höchstwert. Allerdings – und hier wird auch verständlich, was sich da in der natürlichen Gott-über-alles-Liebe ankündigte – auf der Spitze dieser Liebe ist sie so an die Wertschätzung hingegeben, dass aus dem ›Gut für mich‹ ein ›Gut an sich‹ wird. Die höchste Höhe des summum bonum wird erst dort erreicht, wo erkannt wird, dass es besser ist, als es je für mich sein könnte. Ihn höher schätzen als Seine Gabe. Herauswachsen über den Missstand, dass wir von Gott »alles haben wollen außer Gott selbst«. 139 Wir lieben ihn dann nicht mehr unseres Heiles wegen, sondern er ist unser Heil; ihn lieben heißt dann Ausgerichtetsein auf jenes höchste Gut, dessen Gutsein noch einmal transzendiert, dass es unser Gut ist. Thomas schließt also auf seine Weise an die augustinische Synthese an, dass der Eros sich erfüllt in der Selbstvergessenheit. 140 Wie aber ist nun dieses Um-seinetwillen Gottes zu denken, 138 »[…] puta per beneficia ab eo suscepta, vel etiam per praemia sperata, vel per poenas quas per ipsum« (ebd.). 139 »[…] qu’on voudrait tout de Dieu, excepté Dieu même« (Maurice Blondel, L’Action, 359). 140 Vgl. Schockenhoff: »Indem der Mensch Gott als sein letztes Ziel und höchstes Gut erkennt, das würdig ist, um seiner selbst geliebt zu werden, erlangt er durch die Hingabe an dieses objektiv erfüllende Gut die höchste Vollendung seines Menschseins. Die Hingabe an Gott und die Erfüllung des Liebenden sind keine Gegensätze, sondern zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit, die in einer als vollkommen gedachten Liebe zusammenfallen« (Schockenhoff 2007, 241; vgl. ders. 2003, 68).
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wenn es nicht mehr bloß darauf zielt, was er für mich ist, sondern was er in sich ist. Man könnte es Wertschätzung nennen, die sich in der Anbetung vollendet. Sie wäre tatsächlich nicht mehr Brauchen, aber auch nicht Freundschaft, sondern ein drittes: Anerkenntnis eines Gutes an sich, also ohne Fokussierung auf sein Gutseins für mich. 141 Dies muss sowohl der Freundschaft wie dem Begehren zugrundeliegen (denn etwas nicht Wertgeschätztes kann ich weder begehren noch ihm gut sein), ist aber bloß in sich weder das eine noch das andere. Man kann also Gott als höchstes Gut anerkennen, unabgelenkt und ganz ausgerichtet. Dass er dies auch für mich ist, kann in solcher Anbetung zurücktreten, weshalb dieser höchste Akt sich dann auch in der Schau vollendet (und nicht im Willen): »Die Liebe erstrebt das Gut nicht des Genusses wegen, sondern es ist ihre Folge, dass sie sich ergötzt im erreichten Gut, das sie liebt. 142 Und so entspricht ihr als Ziel nicht der Genuss, sondern vielmehr die Schau, durch die ihr das Ziel primär gegenwärtig wird.« 143 Genau diesen Zustand kann man nun auch noch wollen, aber wem? Wenn nicht mehr sich, weil dies nicht mehr Gegenstand des Wollens ist, wem dann? Oder ist das cui mit der Erfüllung des Wollens verschwunden? Wo aber ist dann der amor amicitiae geblieben, dessen oberster Wesenszug doch bisher war, nicht primär den Anderen als Gut anzusehen, sondern ihm gut zu wollen?
141 Ein Lebensthema von C. S. Lewis: »It is the feeling which would make a man unwilling to deface a great picture even if he were the last man left alive and himself about to die; which makes us glad of unspoiled forests that we shall never see« (2002 [1960], 20). »Appreciative love gazes and holds its breath and is silent, rejoices that such a wonder should exist even if not for him« (ebd., 21). Oder schlicht: »it is more important that Heaven should exist than that any of us should reach it« (2012 [1955], 245). 142 Vgl. I-II 4,1. Im Blick auf die Zielursache wird die Freude nicht weniger begehrt als das höchste Gut, weil beides im Ziel untrennbar ist. Motivational aber regiert das höchste Gut, auf das ja die Freude selbst ihrerseits ausgerichtet ist. Vgl. I-II 2,6 ad 1 und Schockenhoff 2003, 79 f. Freilich räumt Schockenhoff ein, dass Thomas selbst die »terminologische Differenzierung« zwischen summum bonum als dem Gegenstand und der beatitudo als dem »subjektive[n] Moment, das im Ergreifen und Genießen des beglückenden Gutes besteht«, »nicht konsequent durchhält« (81). 143 »[…] caritas non quaerit bonum dilectum propter delectationem, sed hoc est ei consequens, ut delectetur in bono adepto quod amat. Et sic delectatio non respondet ei ut finis, sed magis visio, per quam primo finis fit ei praesens« (I-II 4,2 ad 3). Vgl. I-II 3,4: Das Wesen der Seligkeit besteht in der Vernunft und nicht im Willen.
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3.2.2.2.4 Cui? Ihm. – Ansätze der Güte in der menschlichen Gottesliebe Der Mensch antwortet also in Annahme des göttlichen Geschenkes, indem er es zunächst für sich, dann aber an sich will. Diese Annahme der göttlichen Liebe ist aber noch nicht ihre Erwiderung. Diese wäre erst gegeben, wenn der Mensch nicht bloß das höchste Gut, sondern diesem gut wollte. Aber ist das nicht ein verstiegenes Konzept: Gott freundschaftlich lieben? Wie ließe sich so etwas denken? Und warum sollte man es überhaupt tun? Es ist der Freundschaft, wie Thomas sie von Aristoteles übernommen hat, eigen, dem Anderen Gutes zu wollen. Wenn Thomas die Liebe zu Gott auch soweit von der Selbstliebe als dem eigentlichen movens befreit hat, dass er das Ziel als eine letzte ekstatische Haltung definiert, der es nicht mehr darum geht, den Geliebten als eigenes Gut zu wollen, sondern diesen selbst in se, und insofern einer Konkupiszenz Lebewohl gesagt wurde, die den Anderen zum Mittel des Eigenen macht, so ist dennoch damit, dass ich nicht mein Gut in Gott suche, sondern diesen selbst, überhaupt nichts dazu gesagt, ob ich ihm sein Gut will. Das sehe ich eo ipso auch noch nicht in folgender schöner Bestimmung: »Wenn einer die Wonne in Gott sucht, so gehört das zur Liebe, in der Gott mit der Liebe des Begehrens geliebt wird. Mehr aber lieben wir Gott mit der Liebe der Freundschaft als mit der Liebe des Begehrens; denn das Gute Gottes ist in sich selbst unendlich größer als das, was wir davon durch Teilhabe genießen können. Deshalb liebt schlechthin der Mensch ex caritate Gott mehr als sich selbst«. 144 Es ist hier in der Tat abgewendet, dass der Mensch Gott als Gut für sich will. Er zielt vielmehr auf ihn selbst, wie er in sich ist. Aber die Frage ist, ob er dieses Göttlich-Sein Gottes, das er anbetend wertschätzt, ihm will und gönnt. Davon ist an solchen Stellen nichts gesagt, und danach fragen wir hier. Daran – und deshalb geht es hier nicht um eine Petitesse – hängt aber das gesamte Konzept der caritas als Freundschaft zwischen Mensch und Gott. Denn die benevolentia ist integraler Teil der freundschaftlichen Liebe. Und wenn Gott dem Menschen (cui) gut 144 »[…] hoc quod aliquis velit frui Deo, pertinet ad amorem quo Deus amatur amore concupiscentiae. Magis autem amamus Deum amore amicitiae quam amore concupiscentiae, quia maius est in se bonum Dei quam participare possumus fruendo ipso. Et ideo simpliciter homo magis diligit Deum ex caritate quam seipsum« (II-II 26,3 ad 3).
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will, der Mensch aber nur Ihn (quod) will (und sei es auch nicht mehr für seine beatitudo, sondern an sich), dann ist Gottes Liebe vom Menschen gar nicht erwidert, womit mit der benevolentia zugleich die Wechselseitigkeit der Freundschaft als mutua amatio verlorengeht. Zugleich verschwände die dritte Bedingung für das Bestehen einer Freundschaft: die communicatio. Zu fragen ist nämlich, worin die Seligkeit Gottes liege, wenn nicht in seiner Liebe, und was seine Liebe im Letzten sein soll, wenn nicht (zumindest auch) jenes ungeschuldete, lebensspendende Wohlwollen, das er in sich schon sein muss, wenn es der Grund seiner Schöpfung soll sein können. Wenn er uns dieses Wohlwollen als unsere Möglichkeit, ihm zu antworten, gar nicht geschenkt hat, dann hat er seine Seligkeit gar nicht mitgeteilt, und es gibt keinen hinreichenden Grund mehr, von einer Freundschaft zu sprechen. Er gibt uns aus gönnender Liebe alles, außer dieses Gönnen? Zu Ende gedacht, zerstörte dieser Rückbehalt nicht bloß ein Kriterium der Freundschaft, sondern damit alle. Thomas hatte diese Frage da, wo sie im Rahmen der Untersuchungen zur natürlichen Liebe auftauchte, auf das Caritas-Kapitel verschoben, 145 sie dort aber, wie gesehen, nicht ausdrücklich behandelt. Fragen wir hier also ausdrücklich, ob Gott, den wir als Gut wollen, auch freundschaftlich geliebt wird, indem wir ihm Gutes wollen. Was aber, so meldet sich der erste Zweifel, könnte dieses bonum sein, das der Mensch Gott soll wünschen können? Die angemessenste Antwort wäre doch: Das höchste Gut. Denn warum ihm weniger wünschen, als er und wir uns wünschen? Wie aber soll man ihm das höchste Gut wünschen können, wo er es doch selbst ist? Es scheint dies, einen doppelten Widersinn zu ergeben, denn a) können wir ihm nicht seine Gottheit schenken, weil wir sie gar nicht haben, und b) brauchen wir das auch nicht, weil er sie schon hat. Doch genauer hingesehen, spricht nichts gegen ein solches Gott (finis quo) Gott (finis cuius) wollen. Zu b) gilt, dass zum Wollen nach Thomas nicht zwingend das Nicht-haben gehört. Wollen, was man noch nicht hat, ist ein Streben; aber es gibt eben auch ein Wollen des Verwirklichten, und dies ist ein Genießen und Ruhen. Eben dies aber könnte doch auch der Mensch gegenüber Gottes Gottsein: wollen, dass er er ist. Der Mensch könnte einstimmen in das göttliche Sich145 »Utrum autem amore amicitiae aliquid homo supra se amet, erit locus considerandi cum de caritate agetur« (I-II 2,7 ad 2).
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Wollen, und deshalb mit ihm und bei ihm ruhen. Und aus unserer Verdienstlosigkeit an seiner Seligkeit (a) ergibt sich vielleicht noch eine weitere Drehung: Indem wir an seinem Sich-Haben keinen Anteil haben, weil er er ist und sonst keiner, können wir doch und gerade diese unsere Verdienstlosigkeit an seinem Glück noch einmal wollen und bejahen. Seine Herrlichkeit als die seine, und d. h. zumindest implizit als nicht die meine, wollen: das präzise ist ein Gönnen. Wäre dies nicht erst die eigentliche Antwort darauf, dass er mich und sich mir gegönnt hat? Und ließe sich nicht erst so sagen, dass Gott dem Menschen keine gute Gabe zurückgehalten habe? Es gibt Momente im Denken des Aquinaten, wo sich so etwas ankündigt. In II-II q. 28,1 geht es um den Zusammenhang von Freude und Caritas: »Die Freude resultiert aus der Liebe entweder wegen der Anwesenheit des geliebten Gutes oder auch deswegen, weil dem geliebten Gut dessen eigenes Gut gegeben und bewahrt ist. Das Zweite gehört vor allem zur Liebe des Wohlwollens, kraft derer man sich freut, wenn es dem Freunde gut geht, auch wenn er abwesend ist.« 146 Die Anwendung dessen auf Gott in ad 3 greift dies allerdings nicht wieder auf: »An Gott können wir geistige Freude in doppelter Weise empfinden: Einmal, wenn wir uns an dem göttlichen Gut in sich betrachtet freuen; in anderer Weise, wenn wir uns am göttlichen Gut freuen, sofern wir daran teilhaben. Die erste Freude ist besser; und sie vor allem geht aus der Caritas hervor.« Hier ist der Gedanke der Güte gerade nicht mehr präsent, es geht wieder um Wertschätzung eines intrinsischen Gutes. Und die Erklärung der zweiten Freude drängt gar den gesamten Gedankengang zurück auf die Ebene des amor concupiscentiae: »Die zweite Art der Freude geht hervor aus der Hoffnung, durch die wir den Genuss des göttlichen Gutes erwarten.« 147 Die zweite Art der Liebe ersehnt, was der ersten schon zu Eigen ist. Warum aber wird diese ersehnte erste Liebe nun auf einmal wieder Ge146 »Gaudium enim ex amore causatur vel propter praesentiam boni amati; vel etiam propter hoc quod ipsi bono amato proprium bonum inest et conservatur. Et hoc secundum maxime pertinet ad amorem benevolentiae, per quem aliquis gaudet de amico prospere se habente, etiam si sit absens« (II-II 28,1 c.). 147 »[…] de Deo potest esse spirituale gaudium dupliciter, uno modo, secundum quod gaudemus de bono divino in se considerato; alio modo, secundum quod gaudemus de bono divino prout a nobis participatur. Primum autem gaudium melius est, et hoc procedit principaliter ex caritate. Sed secundum gaudium procedit etiam ex spe, per quam expectamus divini boni fruitione« (II-II q.28,1 ad 3). Vgl. die schöne Ausdeutung dieser Stelle bei Sherwin 2015., 197 f.
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nuss genannt, wo es in (c.) doch gerade nicht um Genießen, sondern um Gönnen und im ersten Teil der Antwort zwar nicht mehr um diese, aber immerhin doch um intrinsische Wertschätzung ging? 148 Es gibt noch ein reineres Auftreten der freundschaftlichen Liebe des Menschen zu Gott. 149 Es handelt sich um II-II q. 35 mit ihren Ausführungen zur acedia, die bestimmt wird als »sich betrüben über das göttliche Gut, über das sich die caritas freut«. 150 Wenngleich der gesamte Duktus des Artikels das bonum divinum vor allem als zu erlangendes darstellt, von welchem sich der niedergedrückte Geist traurig abwendet, öffnet die folgende Quaestio zur Sünde des Neides die Augen für ein tieferes Verständnis. Der Neid wird nämlich als Trauer über das Gut des Nächsten definiert, während dieses Gut eigentlich aus Liebe Anlass zur Freude sein müsste. Werden nun zugleich der Neid und die acedia einander zugeordnet und nur im Hinblick auf ihren Gegenstand voneinander abgegrenzt (»sicut acedia est tristitia de bono spirituali divino, ita invidia est tristitia de bono proximi« 151), dann ließe sich vielleicht – mit Thomas mehr als das von ihm Ausgeführte sagen: Was die acedia im Letzten verfehlt, ist eine Freude über das göttliche Gut nicht als Gehabtes, auch nicht an-sich, sondern als das Seine, Für-ihn – eben jenes Gönnen, das Sein Wesen uns gegenüber ist. 152
148 Vgl. II-II 17,8 c.: »Amor autem quidam est perfectus, quidam imperfectus. Perfectus quidem amor est quo aliquis secundum se amatur, ut puta cui aliquis vult bonum, sicut homo amat amicum. Imperfectus amor est quo quis amat aliquid non secundum ipsum, sed ut illud bonum sibi ipsi proveniat, sicut homo amat rem quam concupiscit. Primus autem amor Dei pertinet ad caritatem, quae inhaeret Deo secundum seipsum, sed spes pertinet ad secundum amorem, quia ille qui sperat aliquid sibi obtinere intendit.« Die Hoffnung erhofft anderes, als die Liebe tut. Sie will für sich, wen die Liebe als ihn selbst will. Wie soll sie sich dann in der Liebe erfüllen? 149 Den Hinweis darauf verdanke ich Splett 2002, 99. 150 »[…] tristari de bono divino, de quo caritas gaudet« (II-II 35,2 c.). 151 II-II 36,4 c. 152 Neben diesem Gott Gott gönnen, könnte man für die caritas als benevolente Freundschaft Gott gegenüber auch darüber reflektieren, dass wir ihm uns (und die Anderen) gönnen können. Also sich ihm nicht bloß übergeben, sondern gönnen. Nicht als hätte er eo ipso etwas von diesem Geschenk, aber doch so, als käme sein souveräner Entschluss, andere zu lieben, erst dort zu seiner Erfüllung, wo er den erreicht, mit dem er befreundet sein will. Dies könnte man ihm ermöglichen und gönnen; und wäre damit auch vereint im Wollen desselben – ich bei Ihm / du bei Ihm / wir bei Ihm. »Idem velle et nolle« ist eine Freundschaftsformel, die in der
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Was also bleibt nach unserer Untersuchung des thomanischen Denkens über die Liebe Gottes zum Menschen, sowie vice versa? Der Befund ist jeweils, dass der Aquinate das Für-den-Anderen der Freundschaft einerseits der Liebe in ihren genetischen Code schreibt, andererseits in der Anwendung der Begrifflichkeit das JemandemWollen vom Jemanden-Wollen bei weitem überstrahlt wird. Zudem wird das Akkusativ-Wollen immer dann, wenn die Liebe zum Anderen die Einheit aufzusprengen droht, zu einer Ausflucht, die es ermöglicht, mit ein und demselben Terminus die durch das cui aufspringende wahrhaftige Differenz von Mensch und Gott mit dem Aufweis des immer und von allen gewollten göttlichen quod wieder zu schließen. Es bedarf der entschiedenen Interpretation, will man das Fürden-Anderen aufrechterhalten. Thomas scheint immer wieder bereit, es aufgrund von vermeintlichen Strukturnotwendigkeiten, die sich einer nur in Ansätzen personalen Metaphysik verdanken, aufs Spiel zu setzen. Das Faszinierende ist, dass er dabei nie ganz verliert, was er riskiert hat. Deutlich wird dies aber nur, wenn man interpretatorisch entschieden ist, jede Einheitsformel immer nach der Vermittelbarkeit mit der von ihm selbst aufgenommenen, personale Alterität voraussetzenden Freundschaftsformel des »um des Geliebten willen« zu befragen. Wesentlich versteckter, wo überhaupt bewusst, ist die Frage nach der freundschaftlichen Liebe des Menschen zu Gott. Das aber stellt, wie hoffentlich deutlich gemacht werden konnte, die ernsthafte Frage, wie das Verhältnis zwischen Gott und Mensch eine mutua amatio sein kann. Kommen wir nun zur Liebe zwischen Menschen. 3.2.2.3 Den Menschen lieben 3.2.2.3.1 Natürlich: Aufgrund der Einheit der Art Auch der Nächstenliebe begegnen wir zuerst in den Quaestiones zur Liebe der Engel, deren meiste Prinzipien auch für den Menschen gelten. Mensch und Engel lieben von Natur aus sich selbst. »Das aber, was mit etwas anderem eins ist, ist dieses selbst; darum liebt ein jedes
Summa zwar nicht definitorisch, aber doch bisweilen erläuternd begegnet (II-II 25,6 arg.4; 29,3 c. [mit Verweis auf Aristoteles 1166a7]; II-II 104,3 c.).
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das, was mit ihm eins ist.« 153 Eine gewisse Einheit bedeutet demnach eine gewisse Liebe. »Darum ist ein jedes Ding dem, was mit ihm der Art nach eins ist, in naturhafter dilectio zugeneigt, sofern es seiner Art zugeneigt ist. […] So muss man denn sagen, dass ein Engel den anderen in naturhafter dilectio liebt«. 154 Allerdings liebt er ihn nicht in gleichem Maße wie sich selbst: »Da nämlich die dilectio naturalis auf der natürlichen Einheit gründet, so liebt er [der Engel] das, was weniger eins ist mit ihm, von Natur aus weniger. Darum liebt er von Natur aus dasjenige mehr, was der Zahl nach eins mit ihm ist [sprich: sich selbst], als das, was der Art oder Gattung nach eins mit ihm ist.« 155 Das »wie dich selbst« im Gebot der Nächstenliebe meint also keine Gleichheit von Selbstund Nächstenliebe, sondern nur eine Ähnlichkeit. 156 3.2.2.3.2 Gnadenhaft: Propter Deum Die Begründung der Nächstenliebe ändert sich nun durch das Auftreten der caritas. Sie ist, wie gezeigt, Freundschaft mit Gott aufgrund der Seligkeit, die er dem Menschen mitteilt bzw. in der er sich dem Menschen mitteilt. Wo, lässt sich nun fragen, kommt hier der andere Mensch vor? Zunächst einmal, so ergibt sich, braucht es ihn nicht: In I-II, 4 fragt Thomas nach den Bedingungen der Seligkeit 157 und dort unter
153 »Angelus et homo naturaliter seipsum diligit. Illud autem quod est unum cum aliquo, est ipsummet, unde unumquodque diligit id quod est unum sibi« (I 60,4 c.). 154 »Et ideo dilectione naturali quaelibet res diligit id quod est secum unum secundum speciem, inquantum diligit speciem suam. (…) Sic ergo dicendum est quod unus Angelus diligit alium naturali dilectione« (I 60,4 c.). 155 »Cum enim dilectio naturalis super unitatem naturalem fundetur, illud quod est minus unum cum eo, naturaliter minus diligit. Unde naturaliter plus diligit quod est unum numero, quam quod est unum specie vel genere« (I 60,4 ad 2). 156 I 60,4 ad 2: »[…] ly sicut non designat aequalitatem, sed similitudinem. Cum enim dilectio naturalis super unitatem naturalem fundetur, illud quod est minus unum cum eo, naturaliter minus diligit.« Analog wird in den Passio-Quaestiones die zwischenmenschliche Liebe auf eine Übereinkunft in der Ähnlichkeit zurückgeführt: »Daher nämlich, dass zwei sich ähnlich sind, gewissermaßen dieselbe Form habend, sind sie gleichsam eins in jener Form […]. Daher geht der Affekt des einen auf den andern als auf etwas, das mit ihm eins ist, und er will ihm Gutes, wie auch sich selber. – Ex hoc enim quod aliqui duo sunt similes, quasi habentes unam formam, sunt quodammodo unum in forma illa […] Et ideo affectus unius tendit in alterum, sicut in unum sibi; et vult ei bonum sicut et sibi« (I-II 27,3). 157 »[…] considerandum est de his quae exiguntur ad beatitudinem« (I-II 4 pr.).
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a. 8, ob die Seligkeit die Gesellschaft der Freunde verlange. 158 Die Antwort offenbart, dass wir dem Problem der bloß vorübergehenden Relevanz des anderen Menschen, wie sie sich uns im Symposion gezeigt hat, noch nicht entkommen sind: Zwar braucht der Mensch Freunde für »die Glückseligkeit dieses Lebens«, 159 aber »in patria« bedarf er ihrer nicht zur vollkommen Seligkeit, »quia homo habet totam plenitudinem suae perfectionis in Deo«. 160 Zwar trägt die Gegenwart anderer zur Seligkeit bei, 161 indem sich die Seligen gegenseitig sehen und sich in Gott über ihre Gesellschaft freuen. 162 Denn die Liebe zum Anderen folgt aus der vollkommenen Liebe zu Gott. Aber die Seligkeit wäre auch vollkommen, wenn nur eine einzige Seele bei Gott wäre: »Si esset una sola anima fruens Deo, beata esset, non habens proximum quem diligeret.« 163 Die Frage nach dem Anderen als Gut des Begehrens taucht wieder auf im dritten Artikel der 11. Quaestio über die fruitio, welcher beweist, dass in allem Genießen der eigentliche Gegenstand das letzte Ziel ist: »Dasjenige, was einfachhin das Letzte ist, in welchem als letztes Ziel etwas genossen wird, wird eigentlich Frucht genannt und wird im eigentlichen Sinne genossen.« 164 Aber, lautet ein Einwand, was heißt es dann, wenn der Apostel zu Philemon sagt: »ego te fruar in domino« (Phlm. 20)? 165 Thomas antwortet mit Augustinus, dass der entscheidende Punkt das »in domino« sei. Dadurch werde klar, dass er als Zweck Gott genieße, während der Bruder dazu ein Mittel sei. 166 »[…] utrum requiratur societas amicorum« (I-II 4 pr.). »[…] si loquamur de felicitate praesentis vitae […] felix indiget amicis«. Um ihnen Gutes zu tun, sich an ihrer sittlichen Gutheit zu erfreuen und um Hilfe bei seinen guten Werken zu erfahren (»ut scilicet eis benefaciat, et ut eos inspiciens benefacere delectetur, et ut etiam ab eis in benefaciendo adiuvetur« [I-II 4,8 c.]). 160 Ebd. 161 »Sed ad bene esse beatitudinis facit societas amicorum« (ebd.). 162 Thomas zitiert Augustinus: »creatura spiritualis, ad hoc quod beata sit, non nisi intrinsecus adiuvatur aeternitate, veritate, caritate creatoris. Extrinsecus vero, si adiuvari dicenda est, fortasse hoc solo adiuvatur, quod invicem vident, et de sua societate gaudent in Deo« (ebd.; Augustinus: Gen. ad litt., Lib. VIII, Kap. XXV [PL 34/391]). 163 I-II 4,8 ad 3. Eine eingehendere Diskussion dieses Problemkreises findet sich unten, S. 127 f. 164 »Quod ergo est simpliciter ultimum, in quo aliquid delectatur sicut in ultimo fine, hoc proprie dicitur fructus, et eo proprie dicitur aliquis frui« (I-II 11,3 c.). 165 I-II 11,3 arg. 1. 166 »Quia illud addidit, in domino se posuisse finem, atque eo se frui significavit. Ut sic fratre se frui dixerit non tamquam termino, sed tanquam medio« (I-II 11,3 ad 1 – 158 159
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So »scheint es, dass die Liebe der Caritas bei Gott stehen bleibt, und sich nicht auf den Nächsten erstreckt.« 167 Videtur leitet freilich ein, was nur so zu sein scheint, denn – sed contra – in der Schrift heißt es, »dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe« (1 Joh 4,21). Wie also führt die Gottesfreundschaft zur Nächstenliebe? Warum den Nächsten lieben, wenn wir doch eigentlich Gott lieben? Die Antwort lautet nicht mehr wie im Feld der natürlichen Liebe, weil wir irgendwie eins mit ihm sind und nun einmal unausweichlich uns selbst und das Unsrige lieben, sondern: propter deum. »Freundschaft richtet sich auf jemanden in doppelter Weise. Einmal auf ihn selbst; und so gibt es Freundschaft immer nur dem Freund gegenüber. In anderer Weise kann sie sich auf jemanden richten mit Rücksicht auf eine andere Person. Wenn nämlich jemand Freundschaft mit einem Menschen hat, liebt er aus diesem Grunde alle, die zu diesem Menschen gehören, seine Söhne, seine Knechte oder wer immer zu ihm gehören mag. 168 Und so groß kann die Liebe des Freundes sein, dass er um des Freundes willen auch die liebt, die zu ihm gehören, selbst wenn sie uns beleidigen oder hassen. Und so erstreckt sich die Freundschaft der caritas selbst auf die Feinde, die wir aus caritas mit Rücksicht auf Gott lieben, mit dem wir in erster Linie (principialiter) die Freundschaft der caritas haben.« 169 In aller Schärfe: »Ratio diligendi proximum ex caritate Deus est.« 170
mit Bezug auf Augustinus De Doctrina Christiana, Lib. I, C 33, PL 34/33). Mit ähnlichen Problemen ringt Thomas, wenn er einerseits das kontemplative Leben als »besser«, »würdiger« und »verdienstvoller« als das aktive herausstellt, ohne doch andererseits die Berechtigung des aktiven Lebens, ja, die Verpflichtung zu ihm, verlieren zu wollen (II-II 182; vgl. Beyer 2003, 124 ff.). 167 »Videtur quod dilectio caritatis sistat in Deo, et non se extendat ad proximum« (IIII 25,1 arg. 1). 168 Vgl. hierzu auch II-II 25,8 c. 169 »Amicitia se extendit ad aliquem dupliciter. Uno modo, respectu sui ipsius, et sic amicitia nunquam est nisi ad amicum. Alio modo se extendit ad aliquem respectu alterius personae, sicut, si aliquis habet amicitiam ad aliquem hominem, ratione eius diligit omnes ad illum hominem pertinentes, sive filios sive servos sive qualitercumque ei attinentes. Et tanta potest esse dilectio amici quod propter amicum amantur hi qui ad ipsum pertinent etiam si nos offendant vel odiant. Et hoc modo amicitia caritatis se extendit etiam ad inimicos, quos diligimus ex caritate in ordine ad Deum, ad quem principaliter habetur amicitia caritatis« (II-II 23,1 ad 2). Vgl. Wadell 2014, 382; ders. 2015, 203–207. 170 II-II 27,7 c.
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Um dem Anderen als einem Selbst und einem Selbstweck gerecht zu werden (das Denkziel dieser Arbeit), ist es nun von höchster Wichtigkeit, eben diese Rekonstruktion festzuhalten: Der Andere ist zu lieben, weil – so darf man »pertinere« hier verstehen – Gott ihn liebt. Nur so wird der Andere nicht bloßer Ort der Bewährung auf dem nötigen Umweg zu Gott. Er ist für Gott selbst Zweck und darf – nein – soll es auch für uns sein. Denn Gott lieben heißt, ihn mitsamt seiner Zwecke zu lieben. So, aber auch nur so, kann dieses Konzept von Nächstenliebe vertreten werden. Folgt man dem Gefälle, von dem Thomas in diesem Punkt bedroht ist, landet man bei einem Verständnis, das inakzeptabel ist. Immer wieder nämlich droht das Wovonher der gesollten Nächstenliebe, die Liebe Gottes, zum einzigen und eigentlichen Ziel der Nächstenliebe zu werden, so als wäre der Nächste in irgendeiner Form das Mittel, um in den Genuss Gottes zu kommen; in actu, weil Gott »in ihm« ist, oder in patria wegen des durch die Liebe zu ihm erworbenen Verdienstes. Auch hier verläuft die Grenze wieder haarfein. So sagt Thomas etwa: In rechter Weise »wird der Mensch geliebt wegen dessen, was in ihm Gottes ist«. 171 Dies lässt sich retten, denn der andere Mensch selbst ist Gottes. Und ihn als ein Selbst zu lieben bedeutet zugleich, Gottes freundschaftlichen Willen zu diesem zu lieben. Nicht mehr zu retten ist allerdings, wenn aus dem Genitiv ein Akkusativ wird. So zitiert Thomas zustimmend Augustinus: »Caritas in proximo non diligit nisi Deum«. 172 Diese Formel muss man, wenn einem an der Würde der endlichen Person gelegen ist, strikt abweisen. Wenn ich im Anderen nichts als Gott liebe, dann ist er als ein Selbst annulliert; dann ist er bloße Durchgangsstation, Mittel zum Zweck. Versteht man das propter deum aber so, dann ist für die Nächstenliebe seit Platon nichts gewonnen, und wird die in der aris-
»[…] amatur propter illud quod est Dei in ipso« (II-II 25,1 ad 1). II-II 44,2 arg 2. Vgl.: »Die Liebe Gottes […] ist das Ziel, auf das die Liebe des Nächsten ausgerichtet ist – Dilectio autem Dei finis est, ad quem dilectio proximi ordinatur« [II-II 44,2 c.; vgl. Beyer 2003, 122 f.]). Oder: »Gott wird im Nächsten geliebt, wie das Ziel in dem, was auf das Ziel ausgerichtet ist. – Deus diligitur in proximo sicut finis in eo quod est ad finem« (II-II 44,2 ad 2). Vgl.: »diligendum proximum propter Deum sicut propter finem« (II-II 44,3 c.). Und das Augustinuszitat aufnehmend: »Ratio diligendi proximum Deus est, non enim per caritatem diligimus in proximo nisi Deum: et ideo eadem caritas est qua diligitur Deus, et proximus« (103,3 ad 2). 171 172
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totelischen Freundschaftsformel erreichte Güte gegenüber dem Freund unter dem Anspruch ausschließlicher Gottesliebe begraben. Soll der andere Mensch also wirklich Selbstzweck sein können, muss man gegen alle andersklingenden Formulierungen festhalten, dass Gott wirklich ihn liebt und nicht bloß sich in ihm, und dass deshalb wir, von diesem Grund der Selbstzwecklichkeit des Nächsten ergriffen, ebenfalls wirklich ihn lieben und nicht etwa Gott an seiner Stelle. Dann, aber nur dann, kann man auch sagen, dass man Gott »in ihm« liebt. Was also immer stimmt, ist, dass wenn der Andere um seinetwillen geliebt wird, auch – zumindest implizit – Gott geliebt wird. Aber dieses »auch« ist nicht ein irgendwie schwammiges Zugeständnis an eine Transzendenz, die in aller Kategorialität mitgegeben ist, sondern die präzise Bedingung für die Menschlichkeit einer theistisch »informierten« Nächstenliebe: Im Anderen darf nie nur Gott geliebt werden, sondern immer nur auch. 173 Prinzipiell ist ein solches Denken der Interpersonalität von Letztzwecken mit Thomas möglich – allerdings nur dann, wenn man die Dialogizität gegen den Monolog, die Person als Zweck gegen ihren, sei’s heiligen, Nutzwert aufrechterhält. Eines der Verhältnisse in der Liebesphilosophie des Aquinaten aber lässt sich nicht retten, wenn es einem um den Anderen zu tun ist, und das ist das Verhältnis von Selbst- und Nächstenliebe. Dazu nun. 3.2.2.3.3 Als ausgedehnte Selbstliebe Während sich alles bisher Dargestellte von einer daran interessierten und darum bemühten Interpretation – mal leichter, mal schwerer – mit der Liebe als wohlwollender Hinneigung zum Anderen um seinetwillen vereinbaren oder zumindest verknüpfen ließ, kommen wir zuletzt zu einem Theorem des Aquinaten, das sich einer solchen an der Güte orientierten Hermeneutik versperrt. Gemeint ist die Ableitung der Nächstenliebe aus der Selbstliebe und die damit einhergehende Unterordnung jener unter diese. Der Mensch soll Gott über alles lieben, den Anderen aber wie sich selbst.
173 Inwieweit nun umgekehrt nie nur der Andere geliebt werden darf, ist eine Frage, die wir hier noch nicht stellen. Vielleicht genügt für jetzt zu sagen, dass unter den Vorzeichen des Schöpfungsdenkens der Andere gar nicht alleine geliebt werden kann, weil im Ja zu ihm das göttliche Ja immer mitbejaht wird. Was aus einer Liebe zum Anderen wird, die sich von einem solchen gründenden Ja dispensieren will, ist eine Frage, bei der wir uns von Feuerbach Klärung erhoffen.
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Liebe bei Thomas
Dieses »wie« jedoch bedeutet – wir hatten es schon gesehen 174 – nicht den gleichen Verpflichtungsgrad von Nächstenliebe und Selbstliebe, sondern nur eine Ähnlichkeit der Verpflichtung. Die Nächstenliebe ist nachrangig zur Selbstliebe. 175 Warum? Zur Frage, ob der Mensch ex caritate auch sich selbst zu lieben hat, wird als erster Einwand Gregor der Große zitiert: »Caritas minus quam inter duos haberi non potest.« 176 Dies träfe zwar zu, so entgegnet Thomas, aber nicht, weil die Selbstliebe keine wahre Freundschaft wäre, sondern weil mit ihr etwas vorliege, das mehr sei als Freundschaft; 177 höheres als Vereinigung, nämlich Einheit, die das Prinzip aller Vereinigung ist. 178 Entsprechend lesen wir immer wieder apodiktisch, jeder liebe sich selbst am meisten (zumindest im Horizontalen, müsste man schon im Sinne Thomas’ ergänzen). 179 So ist es auch in der Caritas geboten, dieses Gefälle aufrechtzuerhalten – mich also mehr zu lieben als den Anderen. »Homo ex caritate magis debet dili-
Vgl. 102. Der Nächste sei zu lieben wie das Selbst, nicht »aequaliter«, sondern »similiter« (II-II 44,8 c.). »Wenn geboten wird, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, wird die Liebe zu sich der Nächstenliebe vorangestellt. – Cum autem mandatur quod aliquis diligat proximum sicut seipsum, praefertur dilectio sui ipsius dilectioni proximi« (II-II 44,8 ad 2). Vgl. zum Primat der Selbstliebe über die Nächstenliebe: Dörnemann 2012, 109 f. 176 II-II 25,4 arg. 1. Gregor, PL 76/1139. 177 »… aliquid majus amicitia« (II-II 25,4 c.). 178 »Unitas est principium unionis« (II-II 25,4 c.). 179 »Magis autem unusquisque seipsum amat quam alium« (I-II 27,3 c.). Die merkwürdigste Aufgipfelung dieses Axioms begegnet in der an Augustinus anschließenden Behauptung, dass durch den Sündenfall nur die Gottes- und Nächstenliebe betroffen wurde, während die Selbstliebe intakt geblieben sei. Die Liebe zu sich selbst und zu seinem Leib musste nicht eigens geboten werden, denn »soweit der Mensch auch aus der Wahrheit herausfällt, immer bleiben in ihm die Selbstliebe und die Liebe zum eigenen Leibe. – quantumlibet enim homo excidat a veritate, remanet illi dilectio sui et dilectio corporis sui« (II-II 44,3 ad 1; vgl. De Doc. Chr., Lib. I, Cap. 23, PL 34/27). Ebenso in I-II 100,5 ad 1: »Fuit autem dandum praeceptum homini de dilectione Dei et proximi, quia quantum ad hoc lex naturalis obscurata erat propter peccatum, non autem quantum ad dilectionem sui ipsius, quia quantum ad hoc lex naturalis vigebat.« Wie aber hat man sich eine solche intakt gebliebene Selbstliebe vorzustellen, wenn sie doch, wie Thomas gleich im nächsten Satz sagt, die Gottes- und Nächstenliebe miteinschließen müsste: »Vel quia etiam dilectio sui ipsius includitur in dilectione Dei et proximi, in hoc enim homo vere se diligit, quod se ordinat in Deum«? Vgl. im systematischen Teil dieser Untersuchung: 267 ff. 174 175
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gere seipsum quam proximum.« 180 Das biblische »sicut teipsum« 181 bedeute nicht »die Gleichheit, sondern den Grund der Liebe« und deshalb eben nicht »Gleichheit«, sondern »Ähnlichkeit« der Verpflichtung. 182 Wird nun trotz des Primates der Selbstliebe der Andere geliebt, dann geht das nur, indem er in diese Selbstliebe mithineingenommen wird. So ist der Freund ein Teil von mir, und ich liebe ihn – als Teil von mir – so wie mich. 183 So mag man das sehen, wenn jemand erst einmal mein Freund ist, aber die Frage ist doch: Wie wird er das? Wie, wenn die Wurzel (radix! II-II 25,4 c.) und das Muster aller Liebe die
180 II-II 26,4 c. Vgl. II-II 26,13 ad 1: »[…] oportet quod aliquis se plus quam alios diligat«. Angewandt bedeutet das dann z. B., dass der Mann sich mehr liebt als seine Gattin. Im Bezug auf Eph 5,33: »Die Männer sollen ihre Frauen lieben wie sich selbst«, heißt es, die Stelle sei nicht dahingehend zu verstehen, »quod homo debeat diligere uxorem suam aequaliter sibi ipsi«, »weil die Liebe, die einer zu sich selbst hat, der Grund der Liebe ist, die er zu seiner ihm angetrauten Gattin hat« (II-II 26,11 ad 2). Und weiter (26,12 c.): Im Empfänger der Wohltaten liebe ich meine »Schöpfung« (so wie der Dichter sein Werk), mein Sein und Leben, »das sich vor allem in seinem Handeln kundgibt« (mit Bezug auf EN 1168a1–9), liebe ich meine Tugend als mein Gut. 181 Lev 19,18; Mt 19,19; Mt 22,39; Lk 10,27; Röm 13,9; Gal 5,14; Eph 5,33; Jak 2,8. 182 »[…] illud etiam non est sic intelligendum quod ly sicut importet aequalitatem, sed rationem dilectionis« (II-II 26,11 ad 4). Vgl. »[…] ly sicut non designat aequalitatem, sed similitudinem. Cum enim dilectio naturalis super unitatem naturalem fundetur, illud quod est minus unum cum eo, naturaliter minus diligit« (I 60,4 ad 2).Vgl. auch II-II 44,8 ad 2: »Cum autem mandatur quod aliquis diligat proximum sicut seipsum, praefertur dilectio sui ipsius dilectioni proximi.« Daraus folgt, dass ich mein höchstes Gut nicht für den Anderen aufs Spiel setzen darf, indem ich um seinetwillen auch nur die kleinste Sünde beginge (vgl. II-II 26,4 c.). Wohl aber soll ich, wenn die Umstände es erfordern, körperliche Schäden für meinen Nächsten auf mich nehmen (vgl. ebd., ad 2); denn meinen Leib habe ich weniger zu lieben als ihn (vgl. II-II 26,5). Dass Thomas allerdings auch solchen Einsatz für den Nächsten wieder auf die je größere Selbstliebe zurückführt, ist schon eine bemerkenswerte Wendung: »[…] detrimenta corporalia debet homo sustinere propter amicum, et in hoc ipso seipsum magis diligit secundum spiritualem mentem, quia hoc pertinet ad perfectionem virtutis, quae est bonum mentis. – Die körperlichen Schäden muss der Mensch um des Freundes willen auf sich nehmen; und gerade damit liebt er sich selbst mehr dem geistigen Menschen nach, denn das gehört zur Vollkommenheit der Tugend, die das Gut des Geistes ist« (26,4 ad 2). Natürlich kann ich mir nur selbst das Gute einer guten Tat zuteilen, aber warum soll ich dem Anderen sein Gutsein nicht genauso wollen wie mir? Wenn ich auch nicht für ihn sündigen darf, ich kann ihm eine mir mögliche gute Tat überlassen, sagt immerhin Aristoteles (EN 1169a32–34), freilich nicht, ohne gleich wieder zu betonen, dass man sich damit das Schönere zuteilt. 183 Vgl. I-II 28,1 c. Vgl. auch EN 1170b7.
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Selbstliebe ist, soll aus dieser heraus die Freundschaft »kommen« 184? Er wird doch in der Liebe nicht als Teil von mir geliebt, weil er schon ein Teil von mir wäre, sondern es ist gerade die Liebe, die ihn mir zu einem solchen macht, und dies wieder auf die Selbstliebe zurückführen zu wollen ist zirkulär. Thomas selbst spricht davon, als er PseudoDionysos auslegt: »Die Liebe ist eine einigende und verbindende Kraft.« 185 Während er nämlich die einigende Kraft, mit welcher jemand etwas begehrt oder erlangt, dem amor concupiscentiae zuordnet, so verbindet der amor amicitiae den einen mit dem anderen derart, dass er sich zu ihm wie zu sich selbst verhält. 186 Dass ich also den Anderen mit Selbstliebe liebe, geschieht deshalb, weil – und dann, wenn – die Liebe ihn mir zu einem solchen Teil von mir macht. Dass aus der Differenz Identität wird, muss sich mithin einer anderen Macht verdanken als der Selbstbejahung. Dieser Wille zum Anderen als Wasserzeichen der Liebe zeigt sich auch, wenn Thomas im Anschluss an Pseudo-Dionysos auf den ekstatischen Charakter der Liebe zu sprechen kommt. Die extasis gebe es im amor concupiscentiae nur secundum quid, weil der Liebende zwar außer sich ist, nämlich bei dem erstrebten Gut, dieses aber letztlich auf sich zurück beziehe. Erst im amor amicitiae aber sei sie simpliciter gegeben, weil der so Liebende »dem Freunde Gutes will und tut, indem er gewissermaßen um ihn Sorge und Vorsorge trägt wegen des Freundes selbst.« 187 McEvoy hat darauf hingewiesen, dass ohne die Aufnahme dieses Gedankens der amor amicitiae kollabieren würde: »Love that dwells on the other breaks out, as it were, in a straight line from the self and remains within the term to which it attains, thus breaking the circularity of centripetal desire […], which goes out from the self, admittedly, but only to return to its own starting184 So Thomas EN 1168b3–6 übersetzend: »amicabilia quae sunt ad alterum, venerunt ex amicabilibus quae sunt homini ad seipsum, dum scilicet homo ita se habet ad alterum sicut ad se« (I-II 99,1 ad 3). 185 »Amor est vis unitiva et concretiva« (I 20,1 arg. 3). Vgl. De nom. div., Cap. 4, § 12, MPG 3/709,713. 186 »[…] pro tanto dicitur amor vis concretiva, quia alium aggregat sibi habens se ad eum sicut ad seipsum« (I 20,1 ad 3). 187 »[…] in amore concupiscentiae, quodammodo fertur amans extra seipsum, inquantum scilicet, non contentus gaudere de bono quod habet, quaerit frui aliquo extra se. Sed quia illud extrinsecum bonum quaerit sibi habere, non exit simpliciter extra se, sed talis affectio in fine infra ipsum concluditur. Sed in amore amicitiae, affectus alicuius simpliciter exit extra se, quia vult amico bonum, et operatur, quasi gerens curam et providentiam ipsius, propter ipsum amicum« (I-II 28,3 c.).
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point. To put the matter another way, if the brief page containing the notion of ecstasy were to be removed then amor amicitiae would disappear with it, and only love motivated by desire would remain.« 188 Es ist also genau umgekehrt: Nicht die Liebe zum Nächsten ist abgeleitet aus der Selbstliebe, sondern eigentliche Liebe gibt es nur zu einem alter ipse. Das ipse, das irgendwie auf mich zurückzuverweisen scheint und den Anderen als Teil meiner selbst evoziert, bedeutet vielmehr in der Verbindung mit dem alter das Höchste an Differenz. Nicht nur ein irgendwie anderes, sondern ein anderes Selbst. Letzte Differenz. 189 Diese aber zu bejahen zielt von mir weg zum Anderen, den ich nicht als Teil meiner selbst liebe, sondern den ich als ihn selbst liebe und der nur so und nur solange in diesem Sinne ein Teil meiner selbst sein kann – weil die Liebe das Schicksal des Geliebten zu ihrem eigenen macht; sie freut sich an seiner Freude und leidet an seinem Leid. Dies ist nicht die Identität von Ganzem und Teil, sondern die dialogische Identität der Liebe, die ihr Herz dort hat, wo ihr Schatz ist. 190 Damit aber zeigt sich, dass umgekehrt die Selbstliebe aus der Nächstenliebe abzuleiten ist. Während die Nächstenliebe simpliciter Liebe ist, ist es die Selbstliebe nur secundum quid. Es ist ein uneigentliches Sprechen. An ganz anderer Stelle erscheint dies bei Thomas gegen alles vorher über den Primat des Selbstbezuges Gesagte so plötzlich und klar, wie es umgehend wieder verschwindet: Es geht um die Dankbarkeit (II-II 106) und dort (a. 3) um die Frage, ob man 188 2002, 31. Kwasniewski 1997: »Such love of another for his own sake does not turn back upon itself; the end of the action is precisely the good of the other, even if the good state one wishes or seeks for the beloved should happen to perfect the lover as well. Such reflexive perfection is not the radix amoris but the fructus amoris: it follows upon but does not constitute the essence of love directed to another’s good« (593). Auch wenn diese Umkehrung des Bedingungsverhältnisses wohl über den Aquinaten hinausgeht, bestätigt sich die Subversion, die von Thomas’ Konzeption der Extase hätte ausgehen können (sie findet sich stärker noch ausgearbeitet in De Div. Nom., Cap. 4, Lec. 10; und in der Auslegung der Caritas, die »non quaerit quae sua sunt« [1 Kor 13,5], In II Cor., cap. 12, lect. 1). Vgl. Aertsen 2009, 202. 189 Vgl. McEvoy: »The ›ipse‹ part expresses an identity (quasi idem), in that we wish to our friend the same good as we do to ourselves […]. ›Ipse‹ connotes self-identity. On the other hand, the ›alter‹ in ›alter ipse‹ retains his self-identity over against me, as the ipse he is in and for himself, a free and personal being, and therefore ontologically incommunicable – meaning by that the fundamental truth that individual personhood cannot in its very individuality be replicated« (2002, 36; vgl. White 2001, 23, 44). 190 Vgl. Mt 6,21.
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jedem Wohltäter zur Dankbarkeit verpflichtet ist. Ein Einwand (arg. 1) lautet, man könne sich selbst Gutes tun, aber sich nicht selbst danksagen, mithin sei nicht jedem Wohltäter zu danken. Thomas antwortet nun mit Seneca, dass es eine eigentliche Wohltat sich selbst gegenüber nicht gebe (ad 1): »Wie nicht freigebig ist, wer sich selbst beschenkt, noch gütig, wer sich selbst verzeiht, noch barmherzig, wen sein eigenes Elend rührt, sondern wer das alles anderen gegenüber tut, so macht auch keiner sich selbst ein Geschenk. Er folgt nur seiner Natur, die ihn antreibt, Schädliches zu vermeiden und Nützliches zu erstreben«. 191 Wenn man also von Wohltaten spreche, die man sich selber leiste, so sei das ein metaphorisches Sprechen, in dem »das, was eigentlich auf einen anderen hin gesagt wird, für das verwandt [wird], was auf einen selber bezogen ist«. 192 Das bringt es auf den Punkt und hätte die Kraft, die gesamte Interpersonalitätslehre des Aquinaten zu korrigieren. Tut es aber nicht. Stattdessen hält Thomas dafür, dass auch in patria der Primat der Selbstliebe vor der Nächstenliebe bestehen bleibe. Dafür trifft Thomas eine Unterscheidung im Grad der Liebe (dilectionis gradus). Dieser Grad kann sich einmal beziehen auf die Größe des objektiv Guten, das wir jemandem wünschen, sodann auf die Intensität der subjektiven Liebe. Weil Gott und die seinem Willen gemäße himmlische Ordnung über alles geliebt werden, will der Mensch jedem genau den Lohn, den er erhalten hat. Damit will er denen, die besser sind als er, mehr als sich. 193 Bzgl. der Intensität der Liebe 194 aber liebe weiterhin ein jeder sich mehr als die Anderen – denn, dass man sich ganz auf Gott ausrichte, »gehöre zur Selbstliebe« – und wolle erst »in zweiter Linie die Ordnung der anderen auf Gott«. 195 Vgl. Seneca, De Beneficiis, V. Buch, Kap. IX. »Metaphorice tamen illa quae ad alterum proprie dicuntur, accipiuntur in his quae sunt ad seipsum« (II-II 106,3 ad 1; mit Verw. auf EN 1138b5–19). 193 »[…] plus diliget meliores quam seipsum, minus vero minus bonos. Volet enim quilibet beatus unumquemque habere quod sibi debetur secundum divinam iustitiam, propter perfectam conformitatem voluntatis humanae ad divinam. – […] er wird die Besseren mehr lieben als sich selbst, die weniger guten aber weniger. Denn wegen der vollendeten Übereinstimmung des menschlichen Willen mit dem göttlichen wünscht jeder Selige, dass jeder andere das hat, was ihm auf Grund der göttlichen Gerechtigkeit gebührt« (II-II 26,13 c.). 194 Die »Deutsche Thomas-Ausgabe« übersetzt mit »Liebesglut« (Bd. 17a, 164 f.). 195 »Secundo vero modo aliquis plus seipsum diliget quam proximum, etiam meliorem. Quia intensio actus dilectionis provenit ex parte subiecti diligentis, ut supra 191 192
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Thomas von Aquin
Diese Überordnung der Selbstliebe über die Nächstenliebe auch in patria scheint mir nun vollends indiskutabel. Das Gebot der Selbstliebe folgte ja aus der Zugehörigkeit des Selbst zu Gott, die anderen gehören aber doch nicht minder zu ihm, und warum sollte ich seinen Willen zu mir mehr lieben als seinen Willen zu den Anderen? Die Heilssorge, in der ich mein Heil nicht für den Anderen gefährden durfte, ist in patria vorbei. Warum immer noch mehr Glut im Blick auf mich als im Blick auf die Anderen, wenn doch Gottes Glut die Anderen nicht mehr oder weniger als mich betrifft? Thomas hat einerseits mit der Aufnahme der aristotelischen Freundschaftsdefinition, die ihn tief bewegt haben muss, einen großen Schritt getan zum Geliebten als selbst einem Zweck, und insofern ist Aertsen gegen Nygren recht zu geben, dass Thomas mitnichten »alle Liebe grundsätzlich als begehrende Liebe verstehe […]. Der Aquinate gibt […] etwas anderes zu erkennen: Die Freundschaftsliebe ist die eigentliche und wahrhafte Form der Liebe« (201). Andererseits war er von einem anderen (auch aristotelischen) Gedanken zutiefst beeinflusst – dem Vorrang des Selbstverhältnisses; in der Liebe Gottes zum Menschen, in der Liebe Gottes zu sich und in der Liebe des Menschen zu Gott sahen wir die Güte gefährdende Potenz seiner Versuche, den Willen zum Anderen mit dem Sich-Wollen zu vermitteln. Immer wieder musste man an seine Absicht und anderswo Gesagtes erinnern, um nicht das Für-den-Anderen der Liebe in der Liebe als Wollen-des-Anderen-für-mich kollabieren zu lassen. Nirgendwo zeigt sich die Unangemessenheit dieser Prämisse so sehr wie bei unserem Kernthema, der Nächstenliebe, die in ihrer Nachrangigkeit zur Selbstliebe den Liebesbegriff als unbedingten Willen zum Sein und Wohlergehen des Anderen um seinetwillen selbst gravierend ins Wanken bringt.
dictum est. Et ad hoc etiam donum caritatis unicuique confertur a Deo, ut primo quidem mentem suam in Deum ordinet, quod pertinet ad dilectionem sui ipsius; secundario vero ordinem aliorum in Deum velit, vel etiam operetur secundum suum modum. – In der zweiten Weise [der Liebesglut] aber wird jeder sich selbst mehr lieben als den Nächsten, auch wenn dieser besser ist. Denn die Stärke des Aktes der Liebe liegt am Liebenden. Und dazu wird jedem das Geschenk der Gottesliebe von Gott zuteil, dass er zuerst einmal seinen Geist auf Gott ausrichtet, was zur Selbstliebe gehört: dass er in zweiter Linie aber die Ordnung der anderen auf Gott wünscht und [diese Ordnung] in seiner Art wirkt« (II-II 26,13 c.).
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Bild bei Thomas
3.3 Bild bei Thomas Wenden wir uns nun dem Bild zu. Wie bei der Liebe beschränken wir uns auf die Summa. 196
3.3.1
Der Mensch: geschaffen als und zum Bild
Der Mensch ist Bild Gottes. Dies ist nicht ein nebensächliches Akzidens, sondern sein Wesen. So überschreibt Thomas die Quaestio, die sich mit der imago beschäftigt (I 93): De fine sive termino productionis hominis. 197 Das Bildsein ist nicht ein bloßes Nebenprodukt seines Geschöpfseins, nach dem das Geschöpf nolens volens eine Ähnlichkeit mit dem Schöpfer hat, sondern Zweck und Ergebnis seiner Hervorbringung. Was aber ist ein Bild? Es gehört zu ihm zweierlei: 1) Seine Ähnlichkeit (similitudo) mit dem Exemplar (d. i. der abgebildeten Wirklichkeit). 2) Dass es Ausdruck (expressio) des Exemplares ist. 198 Aufgrund der alles Endliche unendlich überragenden Wirklichkeit Gottes kann es der Mensch nur bis zur Ähnlichkeit (similitudo) bringen, niemals zur Gleichheit (aequalitas). Weil es aber zu einem vollkommenen Bild gehört, der abgebildeten Wirklichkeit ganz zu gleichen, ist der Mensch ein unvollkommenes Bild (imago dei imperfecta). Dies drückt sich aus im biblischen »nach dem Bilde Gottes schuf er sie« (Gen 1,26). »Das Verhältniswort ›nach‹ bezeichnet nämlich eine Annäherung, die einem [weit] abstehenden Dinge zukommt.« 199 Demgegenüber ist Christus aufgrund derselben gött196 Zur werkgeschichtlichen Entwicklung des Bildbegriffes bei Thomas siehe v. a. Beaurecueil 1955; Merriell 1990; Krämer 2000. Zur vorangehenden Behandlung der Bildthematik im 12. Jhd. die umfassende Untersuchung Otto 1963. Zum Bild in der Summa: Lafont 1996, 265–298. Zum Kunstbild bei Thomas: Bauch 1994, 291–299. 197 Vgl. Goris 2005, 126 f; Krämer 2000, 282–286. 198 Vgl. I 93,1 c. Zwei Eier, zitiert Thomas das klassische Beispiel Augustins, sind trotz ihrer Ähnlichkeit nicht Bild und Exemplar, weil sich hier nicht eins im anderen ausdrückt (Augustinus, De diversis quaestionibus, Lib. 1, C. LXXIV, PL 40/86). 199 »Manifestum est autem quod in homine invenitur aliqua Dei similitudo, quae deducitur a Deo sicut ab exemplari, non tamen est similitudo secundum aequalitatem, quia in infinitum excedit exemplar hoc tale exemplatum. Et ideo in homine dicitur esse imago Dei, non tamen perfecta, sed imperfecta. Et hoc significat Scriptura, cum dicit hominem factum ad imaginem Dei, praepositio enim ad accessum quendam significat, qui competit rei distanti« (I 93,1 c.). In a.5 ad 4 unterscheidet Thomas einen
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Thomas von Aquin
lichen Natur die imago Dei perfecta. Er gleicht dem Vater wie der Sohn dem König, während der Mensch ihm nur ähnelt wie das Bild auf einer Münze dem abgebildeten König. 200 Damit ein Ähnliches auch Bild genannt werden kann, reicht allerdings nicht jedwede Ähnlichkeit. Es muss von derselben Art wie das Exemplar oder diesem der Art nach zumindest ähnlich sein (similitudo secundum speciem). Eine Ähnlichkeit mit Gott hat ein jedes Ding, insofern es existiert oder lebt. Die Artähnlichkeit, die ein Bild ausmacht, aber besteht erst dann, wenn ein Ding nicht bloß lebt und existiert, sondern überdies weiß oder erkennt (sapiunt vel intelligunt). 201 Fehlt diese Artähnlichkeit, ist das Geschöpf nur eine Spur Gottes (vestigium). Bild wird es durch die Vernunft. doppelten Sinn. Zum einen, wie hier, zielt das »nach« auf den Zielpunkt des Schaffens (terminum factionis). »Ut sit sensus: Faciamus hominem taliter, ut sit in eo imago«. (Vgl. I 35,2: »Homo non solum dicitur imago, sed et ›ad imaginem‹ : per quod motus quidam tendentis in perfectionem designatur.«) Zum anderen kann das »nach« auf das Vorbild des Schaffens hinweisen, so wie man sagt: »Iste liber est factus ad illam.« Dann aber ist eigentlich die Rede von Gottes Wesenheit, und Bild meint eigentlich das Exemplar: »sic imago Dei est ipsa essentia divina, quae abusive imago dicitur, secundum quod imago ponitur pro exemplari« (I 93,5 ad 4) – so spricht man ja auch im Deutschen fälschlicherweise vom Urbild, wenn man die abgebildete Wirklichkeit meint. 200 Vgl. I 93,1 ad 2. Thomas beruft sich erneut auf Augustinus: »imago Dei est in filio suo primogenito sicut imago regis in filio sibi connaturali; in homine autem sicut in aliena natura, sicut imago regis in nummo argenteo« (Sermones de decem cordis, Cap. 9, PL 38/32). – Die Frage der Beziehung von imago perfecta und imago imperfecta im Heilsgeschehen braucht uns hier nicht in extenso interessieren. Nur so viel: in Jesus Christus erreicht die imago trinitatis ihre ursprünglich geschenkte, aber durch die Sünde verlorene Integrität zurück, zugleich verleiht ihr Gott in ihm eine – über diese durch die Schöpfung schon geschenkte Ähnlichkeit hinausgehende – Gleichgestaltung mit dem Sohn – vgl. Rickmann 2015b, 277 f. 201 »[…] similitudo speciei attenditur secundum ultimam differentiam. Assimilantur autem aliqua Deo, primo quidem, et maxime communiter, inquantum sunt; secundo vero, inquantum vivunt; tertio vero, inquantum sapiunt vel intelligunt« (I 93,2 c.). Die Geschöpfe, die diese Höhe nicht teilen, ähneln Gott »per modum vestigii« (93,6 c.). Sie vergegenwärtigen also nicht das Wesen Gottes, sondern repräsentieren ihn in der Weise der Wirkung: »Vestigium autem repraesentat per modum effectus qui sic repraesentat suam causam, quod tamen ad speciei similitudinem non pertingit. – Die Spur hingegen vergegenwärtigt etwas in der Weise der Wirkung, die so ihren Grund vergegenwärtigt, dass sie doch nicht bis zur Artähnlichkeit heranreicht« (ebd.). So ist die Asche Spur des Feuers, die Fährte die Spur des Tieres, die Verwüstung Spur des feindlichen Heeres, und auf ähnliche Weise zeigen die nicht-rationalen Geschöpfe den Verstand Gottes in ihrer sinnvollen Struktur, nicht aber, indem sie selber verständig wären. Und auch die trinitarische Verfasstheit Gottes zeigt sich spurhaft: Die be-
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Bild bei Thomas
Während alle Geschöpfe Bilder der »urbildlichen Ideen« sind, »die sie im göttlichen Geist« besitzen, 202 ist der Mensch Gott selbst ähnlich. Der Engel ist unter dem Aspekt der Vernunft vollkommener als der Mensch und insofern »magis ad imaginem Dei quam homo«. 203 Zwar hat der Mensch zweitrangige Ähnlichkeiten, die der Engel nicht hat – so z. B. seine Zeugungsfähigkeit und die Weise, wie die Seele den ganzen Leib durchdringt –, diese aber sind bildhaft nur unter Voraussetzung der ersten und eigentlichen Bildhaftigkeit, die im Vernunftgebrauch besteht, 204 und aufgrund dieser ist der Engel mehr Bild als der Mensch. Was aber ist es an der Vernunft, dass ihr Besitz das Geschöpf zum Bild macht (a.4)? Sie kann Gott nachahmen. Nachahmen worin? Nicht primär in seinen Akten nach außen, 205 sondern in seiner »Selbsterkenntnis und Selbstliebe«. 206 Entscheidend ist nun daran nicht, dass Gott sich Objekt und Subjekt zugleich ist. In diesem Falle nämlich wäre der Geist dann Bild, wenn er sich selbst anschaut und liebt. 207 Entscheidend ist vielmehr, dass Gott selbst das Objekt seines göttlichen Erkennens und Liebens ist. Deshalb wird der Mensch dadurch zum Bild, dass seine Vernünftigkeit sich liebend und erkennend auf Gott ausrichtet, und damit dasselbe Objekt hat wie dieser. Wenn Gottes Natur aber dreipersonal ist, kann dann der Mensch Bild bloß der Einheit Gottes sein? Thomas verneint dies. 208 Der Mensch kann nicht der göttlichen Natur ähnlich sein, ohne ihre Drei-
stimmte und endliche Substanz weist auf einen Urgrund; die Gestalt (species) weist auf ein Wort (wie die Form des Hauses auf den planenden Gedanken des Baumeisters); ihre Ordnung schließlich auf die Liebe des Schaffenden, der alles auf das Gute hinordnet (vgl. ebd.). 202 »[…] creatura est imago rationis exemplaris quam habet in mente divina« (I 93,2 ad 4). 203 I 93,3 c. Im Gegensatz zur Liebe wird die Gottbildlichkeit nicht auch eigens in den Quaestiones zu den Engeln behandelt (vgl. Krämer 2000, 295, Anm. 79). 204 So ist der Leib in seiner Aufgerichtetheit, die ihn zur Betrachtung des Himmels fähig macht, nicht Bild Gottes, sondern Spur (der Gottebenbildlichkeit der Seele wie Gottes). Vgl. Dander 1969 [1929], 209. 205 Vgl. I-II 3,5 ad 1; Krämer 2000, 91; Rickmann 2015a. 206 »(…) quod Deus seipsum intelligit et amat« (I 93,4). 207 So hat es Thomas im Sentenzenkommentar noch durchgeführt (vgl. Krämer 2000, 297). 208 So wie er auch die Meinung verwirft, wonach der Mensch nur ein Bild des Bildes in Gott sei, welches der Sohn ist. Vgl. I 93,5 arg. 4 u. ad 4; Pelikan 1978, 45 f.
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personalität zu spiegeln, weil sie keine Einheit hat, die sich nicht trinitarisch vollzöge. Die trinitarische Struktur der imago dei zeigt sich in der Verfasstheit des geschaffenen Geistes (mens) 209, nach welcher im Verstand ein Hervorgang des Wortes und im Willen ein Hervorgang der Liebe stattfindet. 210 Es geht also um seine Binnenstruktur, und Thomas lehnt ausdrücklich ab, dass sich die Trinität in der Gemeinschaftlichkeit des Menschen zeige. 211 Aber auch hinsichtlich der trinitarischen Struktur des Menschen geht es nicht um den Selbstbezug, sondern um den Gottesbezug. So schon bei Augustinus, den Thomas hier als Autorität zitiert: »non propterea est Dei imago in mente, quia sui meminit, et diligit et intelligit se; sed quia potest etiam meminisse, intelligere et amare Deum, a quo facta est«. 212 Im Selbstbezug aber verwirklicht der Mensch nur insofern sein Bildsein, als er sich als Bild Gottes anschaut. 213 209 Denn nur er ist das Bild; alle anderen abbildlichen Verhältnisse im Menschen sind Spuren. Von daher wird es verständlich, dass Thomas immer wieder davon spricht, dass »in« ihm das Bild Gottes sei (vgl. I 93,6 ad 1 – der Mensch sei nicht »ipse essentialiter […] imago, sed quia in eo est Dei imago impressa secundum mentem; sicut denarius dicitur imago Caesaris, inquantum habet Caesaris imaginem. Unde non oportet quod secundum quamlibet partem hominis accipiatur Dei imago.«). 210 »[…] in creatura rationali, in qua invenitur processio verbi secundum intellectum, et processio amoris secundum voluntatem, potest dici imago Trinitatis increatae per quandam repraesentationem speciei« (vgl. I 93,6 c.). Weil diese Struktur im Akt gegeben ist, so in zweiter Linie auch in der Fähigkeit bzw. dem Habitus (vgl. I 93,7 c.). 211 Er führt diese Ablehnung im Hinblick auf die Familie als Bild durch (vgl. I 93,6 ad 2): 1) Die Zuordnung der göttlichen Personen zu den einzelnen Familiengliedern kann nicht gelingen. 2) Wenn eine Dreiheit von geschöpflichen Personen als Bild der Trinität dienen könnte, wäre jede Person dieser Dreiheit das Bild bloß einer der göttlichen Personen. 3) Gott hätte das Bildsein des Menschen erst nach der Zeugung eines Kindes aussprechen können und nicht schon bei der Erschaffung von Adam und Eva. – Der Plural im Objekt (»erschuf er sie«) zielt für Thomas nicht etwa auf ihre Gemeinschaftlichkeit ab, sondern darauf, dass die Gottbildlichkeit einem jeden gilt. 212 I 93,8 s.c.; vgl. Augustinus, De Trinitate, Lib. XIV, Cap. 12, PL 42/1048. 213 »[…] non quia fertur mens in seipsam absolute, sed prout per hoc ulterius potest ferri in Deum« (I 93,8 c.). Der Schluss läge nahe, »dass sich der menschliche Geist als Abbild Gottes auf sich selbst beziehen müßte, so wie Gott sich im Vollzug seines innersten Wesens selbst erkennt und selbst liebt. Diesen für die Analogie typischen Weg schlägt Thomas jedoch nicht ein. […] Zwar kennt Thomas durchaus Vorstufen und unvollkommene Ausprägungen der imago, bei denen der explizite Gottesbezug durch den der menschliche Geist direkt und unmittelbar zu Gott hingetragen wird, noch nicht gegeben ist. Dennoch kann nur dann und nur insofern von einer imago Dei im menschlichen Geist gesprochen werden, als die grundsätzliche Möglichkeit für
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Kann man dann aber wirklich von einem jeden Menschen sagen, er sei nach dem Bilde Gottes geschaffen? Thomas bejaht dies, indem er drei Ränge des Bildseins einführt: Erstens ist jeder Mensch Bild Gottes, insofern er die Fähigkeit zur Gotteserkenntnis und -liebe hat (aptitudo naturalem ad intelligendum et amandum Deum). 214 Zweitens, indem er dieses, befähigt durch die Gnade, vollzieht (imago per conformitatem gratiae.). Drittens, insofern er ihn vollkommen erkennt und liebt (imago secundum similitudinem gloriae), was erst in patria möglich sein wird. »Prima ergo imago invenitur in omnibus hominibus; secunda in justis tantum; tertia vero solum in beatis.« 215 Im Rahmen dieser Erwägungen erschließt Thomas dann auch, dass das »imaginem et similitudinem« aus Gen 1,26 kein Hendiadyoin ist (I 93,9). 216 Zum einen gehe die Ähnlichkeit zwar dem Bild voraus (praeambulum) wie die Gattung der Art – denn: »ubi est imago, ibi est continuo similitudo; sed non convertitur«. 217 Zum anderen aber folge sie ihm nach (subsequens), indem sie das Bild bezüglich seiner Vollkommenheit klassifiziere. Auch wenn Thomas ganz auf die Fähigkeit der Gotteserkenntnis und -liebe als Grundlage für das Bildsein des Menschen abstellt, ergeben sich auf dieser Grundlage andere Ähnlichkeitsbeziehungen. Genannt wurde bereits die Weise, wie die Seele den ganzen Körper bewohnt als Analogon zu der Weise, wie der Schöpfer in der Welt präsent ist, oder das Zeugen und Gezeugtwerden. Vor allem aber gilt diese Aufnahme ins Bildsein für das Wirken ad extra. Auch wenn es im Imago-Artikel der Prima Pars nicht berücksichtig wird, avanciert es im Prolog der Secunda Secunda zur zentralen Auslegung seines Bildseins: »Nachdem vom Urbild gehandelt wurde, d. i. Gott, und von den Dingen, die aus der Macht Gottes seinem Willen gemäß hervorgehen, bleibt nun sein Bild zu bedenken, d. i. der Mensch, gemäß
eine solche Beziehung gegeben ist. Von daher stellt Thomas unmissverständlich klar, dass das Bild Gottes in der Seele nur insofern gefunden werden könne, als diese zu Gott hingetragen werde, oder die natürliche Anlage dazu besitze. […] An dieser Stelle wird endgültig klar, dass Thomas eine reine Proportionalitätsanalogie zugunsten der Konformitätsanalogie aufgegeben hat« (Krämer 2000, 328; vgl. Merriell 1990, 219 ff.). 214 Mag es auch so verdunkelt sein, dass es beinahe keins mehr ist – »ut pene nulla sit« (I 93,8 ad 2, Zitat aus Augustinus, [De Trinitate, Lib. XIV, Cap. 4, PL 42/1040]). 215 I 93,4 c. Vgl. Pelikan 1978, 33 f, 39; Merriell 1990, 186 ff. 216 Vgl. Krämer 2000, 330 ff. 217 I 93,9 arg. 1; Augustinus-Zitat aus De diversis quaestinibus, Lib. I, Cap. 74, PL 40/85.
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dem, dass auch er das Prinzip seiner Taten ist, insofern er freien Willen und Herrschaft über seine Taten hat.« 218 Es bleibt bei der Zweitrangigkeit dieser Ähnlichkeit, dennoch ist Rickmanns Thomas-Exegese zuzustimmen, wenn sie die Notwendigkeit eines Gottes Willen entsprechenden Handelns ad extra für das Zustandekommen der erstrangigen conformatio betont: »Das sittliche Handeln ist eine sekundäre und doch unabdingbare Erscheinungsweise der Imago.« 219
3.3.2
Zwischenbilanz
Was sagt uns nun dieser Befund zu unserer Frage nach dem Menschen als liebendes und geliebtes Bild? Zunächst, dass es neben und mit der Fähigkeit zur Erkenntnis Gottes und ihrem Vollzug die Fähigkeit und der Vollzug der Liebe zu Gott ist, die ihn zu einem Bild macht; und dass es dieses Bildsein zwar nicht ausmacht, aber zu ihm gehört, sich entsprechend nach außen, und d. h. nicht zuletzt auf die Anderen, zu richten. Unsere Frage aber, wie man ein Bild als es selbst lieben könne, findet hier überhaupt keine Antwort, weil sie nicht einmal im Ansatz gestellt wird. Zwar wird klar, wodurch der Mensch Bild ist, aber es wird überhaupt nicht thematisiert, wozu er Bild ist. Wenn aber zum Bild nicht bloß gehört, was/wen es zeigt, sondern gleichursprünglich, wem es dieses zeigt, dann steht die Bildtheorie des Aquinaten nur auf einem Bein. Einerseits wird die Bildkategorie ganz ursprünglich aufgenommen; nicht als nachgeklappte, unumgängliche, faktische Ähnlichkeit von Wirkung und Ursache, sondern als dasjenige, wozu der Mensch geschaffen sei. Andererseits aber fragt man sich nach der Bild-Quaestio, ob der Begriff der imago mehr bezeichnet als den ontologischen 218 »postquam praedictum est de exemplari, scilicet de Deo, et de his quae processerunt ex divina potestate secundum eius voluntatem; restat ut consideremus de eius imagine, idest de homine, secundum quod et ipse est suorum operum principium, quasi liberum arbitrium habens et suorum operum potestatem« (I-II pr.). 219 Rickmann 2015a, 103. »Der Mensch kann in der reinen Selbstimmanenz seine Ebenbildlichkeit mit der ›immanenten‹ Trinität nicht ausleben, und ebensowenig kann er seine Ebenbildlichkeit mit der ›ökonomischen‹ Trinität in der reinen Spontanität und Ursprünglichkeit leben. Beide Dimensionen der Imago finden nur dann zu ihrer wahren Verwirklichung, wenn der Mensch sich Gott öffnet, wenn seine Willens- und Verstandesaktivität von den Inhalten erfüllt sind, die Gott schenkt« (dies., 112).
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Bild bei Thomas
Bestand einer besonderen Artähnlichkeit zwischen Mensch und Gott. 220 Wenn Thomas aber den Zweck der Schöpfung des Menschen in dessen Bildsein legt, dann müsste die Verwendung der Bild-Kategorie eigentlich mehr sein als eine Metapher für wesensmäßige Ähnlichkeit. Das Bild hat ja klassisch seinen Schwerpunkt nicht in dem, was es ist, sondern in seiner Funktion: der Versichtbarung. Wo und wie reflektiert Thomas auf diesen zentralen Aspekt der Bildlichkeit? Dem wollen wir nun nachgehen.
3.3.3
Der Mensch: Betrachter des Bildes
Wenn der Mensch dem anderen Menschen (und nicht bloß sich) als Bild begegnen würde, dann müsste dies so geschehen, dass der Andere ein Ort der vermittelten Gottesschau ist. Davon ist in der ImagoQuaestio nicht die Rede. Vielmehr scheint es so, als hätte der Mensch ganz unmittelbar einen Gottesbezug, der ihn zum Bild macht. Wozu bedürfte es dann aber der Bilder? Um hier antworten zu können, müssen wir einen Blick auf die Möglichkeit der Gotteserkenntnis bei Thomas werfen. 221 Gott ist zwar das höchst Erkennbare, aber nicht für den Menschen. »Erkennbar ist etwas, soweit es im Akt ist. Gott aber ist reiner Akt ohne jede Beimischung von Möglichkeit. Darum ist er an sich im höchsten Maße (maxime) erkennbar. Aber was an sich im höchsten Maße erkennbar ist, kann doch der Erkenntnis eines bestimmten Verstandes unerkennbar sein, weil der Erkenntnisgegenstand die Erkenntniskraft überragt«. 222 Unser natürliches Erkennen hebt an mit der Sinneswahrnehmung. Darum »reicht es gerade so weit, als uns das Sinnfällige zu führen vermag« 223 – und das heißt: nicht bis zum unsinnlichen 220 So auch vielfach in der Sekundärliteratur. Etwa wenn es bei Pelikan heißt: »res sacra homo is another Latin term for imago Dei« (27). 221 Vgl. Aertsen 2005, 40–44. 222 »[…] unumquodque sit cognoscibile secundum quod est in actu, Deus, qui est actus purus absque omni permixtione potentiae, quantum in se est, maxime cognoscibilis est. Sed quod est maxime cognoscibile in se, alicui intellectui cognoscibile non est, propter excessum intelligibilis supra intellectum« (I 12,1 c.). 223 »[…] naturalis nostra cognitio a sensu principium sumit, unde tantum se nostra naturalis cognitio extendere potest, inquantum manuduci potest per sensibilia« (I 12,12 c.).
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Wesen Gottes. Der Mensch sieht nur das Sinnliche, aber er schließt von der sichtbaren Wirkung auf die unsichtbare Ursache. 224 Insofern offenbaren ihm die Geschöpfe die Existenz des Schöpfers, aber sie offenbaren nie sein Wesen, denn sie sind »zwar Wirkungen Gottes, erschöpfen aber nicht die Kraft ihrer Ursache. Darum können wir aus den sinnfälligen Dingen nicht die ganze Fülle göttlicher Kraft erkennen, also durch sie auch nicht zur Anschauung seines Wesens kommen«. 225 Ja: »Magis […] manifestatur nobis de ipso quid non est, quam quid est«. 226 Die Geschöpfe zeigen Gott auf dreierlei Weise: »Wir erkennen [1] seine Beziehung zu den Geschöpfen, dass er nämlich Ursache aller Dinge ist; [2] den Unterschied der Geschöpfe zu ihm; dass er nicht etwas von dem ist, was er geschaffen hat; [3] dass wir dieses nicht etwa wegen einer Unvollkommenheit von ihm ausschließen, sondern weil er alles überragt.« 227 Damit sind die drei Pseudo-Dionysischen Wege der Gotteserkenntnis benannt: via affirmativa, via negativa, via eminentiae. 228 So müssen nach der via affirmativa alle Vollkommenheiten (perfectiones), die sich in den Dingen finden, auch in Gott sein. Denn »quidquid perfectionis est in effectu, oportet inveniri in causa effectiva«. 229 Dies aber »entweder in der gleichen Art, wenn es sich um eine gleichartige Ursache handelt (wie wenn der Mensch einen Menschen zeugt); oder in höherer Art, wenn es sich um eine ihrer Wirkung
224 »[…] haec propositio, Deus est, quantum in se est, per se nota est […]. Sed quia nos non scimus de Deo quid est, non est nobis per se nota, sed indiget demonstrari per ea quae sunt magis nota quoad nos, et minus nota quoad naturam, scilicet per effectus« (I 2,1 c.). 225 I 12,12 c. 226 I 1,9 ad 3. Vgl. Johannes von Damaskus, Expositio accurata fidei orthodoxae, Lib. I, Cap. 4, PG 94/799. Vgl. Pesch 1988, 179. 227 »[…] cognoscimus de ipso habitudinem ipsius ad creaturas, quod scilicet omnium est causa; et differentiam creaturarum ab ipso, quod scilicet ipse non est aliquid eorum quae ab eo causantur; et quod haec non removentur ab eo propter eius defectum, sed quia superexcedit« (I 12,12 c.). 228 Vgl. I 13,1 c.: »[Deus] cognoscitur a nobis ex creaturis, secundum habitudinem principii, et per modum excellentiae et remotionis.« Vgl. 13,9 ad 2: »[…] ex effectibus divinus divinam naturam non possumus cognoscere secundum quod est in se, ut sciamus de ea quid est, sed per modum eminentiae et causalitatis et negationis«. Vgl. Pseudo-Dionysos, Mystica theologia, 1.2, PG 3/999. 229 I 4,2 c.
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ungleiche Ursache handelt.« 230 Hier gilt gemäß der via eminentiae letzteres: die »Vollkommenheiten aller Dinge« sind in Gott als »der ersten Wirkursache« »in einer höheren Seinsweise vorgegeben«. 231 Dies aber nicht bloß nach einem Mehr, sondern – via negativa – auf andere Weise als in den Geschöpfen: schlechthin ununterschieden von seinem Wesen und damit auch von allen anderen Eigenschaften, 232 und in unendlicher Weise. Bevor man allerdings im Analogie-Rückschluss von Wesensmerkmalen der sichtbaren, geschaffenen Wirklichkeiten annähernde Aussagen über Gottes unsichtbares Wesen machen kann, gilt ganz unmittelbar, dass Gott in allen Dingen existiert wie die Ursache in der Wirkung. 233 Vorgängig zum Zurückbleiben des Bildes, aufgrund dessen nicht nur es, sondern auch sein Inhalt überstiegen werden muss, wenn sich die Erkenntnis in via Gott nähern will, ist es wirklich Repräsentanz statt bloß Verweis. Der Schöpfer ist als Schöpfer gegenwärtig im Geschaffenen. Dies noch einmal in quasi gespiegelter Weise dort, wo die von ihm geschaffenen Dinge sich in ihrer Tätigkeit ihm zuwenden und seine Weise, als Ursache in ihnen zu sein, erkennen und lieben: »Wir sprechen von einem zweifachen Dasein Gottes in den Dingen. Einmal als wirkende Ursache, und so ist er in allen von ihm geschaffenen Dingen. Sodann gemäß der Art, wie der Gegenstand der Tätigkeit im Tätigen ist. Dies ist den Tätigkeiten der Seele eigen, sofern das Erkannte im Erkennenden und das Ersehnte im Ersehnenden ist. Nach dieser zweiten Art ist Gott auf besondere Weise im vernunftbegabten Geschöpf, das ihn aktual oder habituell erkennt und liebt.« 234 Es ergibt sich also eine zweifache Weise des Bildseins: Einmal abbildend, einmal manifestierend. Zu beiden nun noch einmal im Einzelnen. 230 »[…] vel secundum eandem rationem, si sit agens univocum, ut homo generat hominem; vel eminentiori modo, si sit, agens aequivocum« (I 4,2 c.). 231 »Cum ergo Deus sit prima causa effectiva rerum, oportet omnium rerum perfectiones praeexistere in Deo secundum eminentiorem modum« (I 4,2 c.). 232 Vgl. I q.3 zur Einfachheit Gottes. 233 »Deus est in omnibus rebus, non quidem sicut pars essentiae, vel sicut accidens, sed sicut agens adest ei in quod agit« (I 8,1 c.). 234 »Deus dicitur esse in re aliqua dupliciter. Uno modo, per modum causae agentis, et sic est in omnibus rebus creatis ab ipso. Alio modo, sicut obiectum operationis est in operante, quod proprium est in operationibus animae, secundum quod cognitum est in cognoscente, et desideratum in desiderante. Hoc igitur secundo modo, Deus specialiter est in rationali creatura, quae cognoscit et diligit illum actu vel habitu« (I 8,3 c.).
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3.3.3.1 Versagende Ähnlichkeit Die via affirmativa besagt, dass Gott als die Ursache einer jeden Wirkung deren Vollkommenheit besitzen muss, dies aber in so überragender Weise (via eminentiae), dass er ihr weniger ähnlich als unähnlich ist (via negativa). Thomas vertieft diese Aussage über die Erkennbarkeit Gottes in seinen Erwägungen über die Benennbarkeit Gottes (I 13,1 De nominibus dei), 235 denn die Benennung folgt dem Begreifen. 236 Wenn wir Gott nach den Vollkommenheiten der Geschöpfe benennen, so treffen diese Begriffe (wie Güte, Leben etc.) nach dem, was sie bedeuten (res significata), Gott mehr als die Geschöpfe. Denn in den Wirkungen sind sie nur aufgrund der Ursache und abgeschwächter als in ihr. Insofern weiß der Mensch nicht einfachhin nichts über das Wesen Gottes: »Wir vermögen das Wesen Gottes in diesem Leben nicht so zu erkennen, wie es in sich ist: aber wir erkennen es so, wie es in den Vollkommenheiten der Geschöpfe dargestellt wird.« 237 Nach der Weise aber, wie die Begriffe bedeuten (modus significandi), entsprechen sie den Geschöpfen und nicht Gott. Denn die Vollkommenheiten begegnen uns in den Geschöpfen »getrennt und vielfältig«, in Gott aber »in vollkommener Einheit und Einfachheit«. 238
Vgl. dazu te Velde 2005a. »Secundum igitur quod aliquid a nobis intellectu cognosci potest, sic a nobis potest nominari« (I 13,1 c.). 237 »[…] essentiam Dei in hac vita cognoscere non possumus secundum quod in se est, sed cognoscimus eam secundum quod repraesentatur in perfectionibus creaturarum« (I 13,2 ad 3). 238 »divise et multipliciter« – »unite et simpliciter« (I 13,4 c.). So wie die Vollkommenheit Gottes durch die verschiedenen Vollkommenheiten der Geschöpfe dargestellt wird, sich gewissermaßen in sie hinein ausfaltet, so führen unsere verschiedenen Begriffe für diese Vollkommenheiten, sofern sie auf die eine Vollkommenheit des einen Gottes zielen, diese Vielfalt in die Einheit des Einen mit ihnen Bezeichneten zurück. Was Gott in der Welt ausfaltet, sammelt der Verstand zurück in Seine Einheit. »Im Sprechen über Gott wird eine Bewegung vollzogen von der Welt zu Gott, der nicht zur Welt gehört, jedoch das sie übersteigende Prinzip ist; gleichzeitig wird in diesem Sprechen, in der Bewegung der Sprache, die umgekehrte reale Bewegung von Gott zur Welt (der Kausalität der Schöpfung) reflektiert, als reale Grundlage, die dieses Sprechen ermöglicht. […] In der semantisch-logischen Bewegung des Benennens (von Geschöpf zu Gott) wird die umgekehrte reale Bewegung der Schöpfung (von Gott zum Geschöpf) reflektiert, so dass der Ausgangspunkt der Benennungsrelation als in Wirklichkeit abgeleitet und sekundär erscheint« (te Velde 2005a, 62 f.). 235 236
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»Jegliches Geschöpf repräsentiert ihn und ist ihm insofern ähnlich, als es irgendeine Vollkommenheit hat: jedoch repräsentiert es ihn nicht so wie etwas von seiner [des Geschöpfes] Art oder Gattung, sondern so wie den überragenden Ursprung, hinter dessen Form die Wirkungen zurückbleiben, wenn sie auch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm erreichen«. 239 Hierhin gehört der zentrale Begriff der Analogie. 240 Es herrscht hier keine bloße Wortgleichheit (Aequivokation), in welchem Fall dasselbe Wort zwei völlig ungleiche Wirklichkeiten bezeichnet, aber auch keine reine Bedeutungsgleichheit (Univozität), nach welcher dasselbe Wort hier wie dort streng das gleiche meint, sondern Analogie. Die besagt nun zunächst nicht unmittelbar Ähnlichkeit (similitudo), sondern eine Kategorien überschreitende Begriffsverknüpfung aufgrund eines Verhältnisses zwischen den bezeichneten Dingen. Dies zeigt schon das thomanische Beispiel vom »gesunden« Urin. Die Gesundheit des Urins ähnelt nicht der des Körpers. Dies ist auch gar nicht möglich, weil hier von zwei grundverschiedenen Kategorien die Rede ist: Einer bezeichneten Wirklichkeit, die sich anhand einer von ihr verursachten Wirklichkeit anderer/unterer Ordnung zu erkennen gibt. Der Körper ist gesund, indem er lebt; der Urin nur, indem er in der richtigen Zusammensetzung die Intaktheit dieses Lebens anzeigt, ohne doch selbst das Leben des Körpers zu leben. Gleiches gilt für die »gesunde Nahrung«: »[…] es ist nicht so, dass Nahrung gesund genannt wird, sofern sie eine gewisse Ähnlichkeit zeigt mit der Gesundheit des Körpers. Es ist keine Rede von Ähnlichkeit. Der Zusammenhang zwischen der gesunden Nahrung und dem Körper ist von anderer Art, nämlich der eines ursächlichen Zusammenhangs. Gesunde Nahrung ist gut für die Gesundheit. Wesentlich für die Analogie ist das Verhältnis, das zwischen Dingen besteht, die zu verschiedenen Kategorien gehören. Von welcher Art dieses Verhältnis ist, ist für die Definition der Analogie nicht wichtig«. 241 Angewandt aber auf die Beziehung des Geschöpfes zu Gott als dessen Schöpfer, gehört zu diesem Verhältnis sehr wohl die Ähnlichkeit, weil das Geschöpf als ganz und gar von Gott erschaffenes nur das 239 »[…] quaelibet creatura intantum eum repraesentat, et est ei similis, inquantum perfectionem aliquam habet, non tamen ita quod repraesentet eum sicut aliquid eiusdem speciei vel generis, sed sicut excellens principium, a cuius forma effectus deficiunt, cuius tamen aliqualem similitudinem effectus consequuntur.« (I 13,2 c.). 240 Vgl. einführend mit weiterer Literatur Wippel 1993, 89–93; te Velde 2005a. 241 te Velde 2005a, 70 f.
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sein und haben kann, was in seiner Ursache immer schon ist – nemo dat quod non habet. Diese Ähnlichkeit aber wird letzten Endes von der je größeren Unähnlichkeit Gottes überboten, so dass in dieser Konzeption das Bild doch unendlich mehr nicht zeigt, als es zeigt, – schärfer: dass es auf eine Weise zeigt, die unendlich weniger die Sache trifft, als sie sie verfehlt. – Damit sind wir aber, was die Bildkonzeption angeht, der platonischen Minderwertigkeit der Bilder noch nicht entkommen. 3.3.3.2 Manifestation der göttlichen Ursache in der geschöpflichen Wirkung Jedoch kommt für das Bildsein der Geschöpfe ein Zweites hinzu, das Thomas nicht eigens von der Ähnlichkeitsrelation unterscheidet, das aber durch sein Konzept der creatio ex nihilo unwiderruflich gesagt und von ganz anderer Art als jene erste Bildhaftigkeit ist: Bevor die Wirkung irgendwelche Wesenszüge der Ursache anzeigt, offenbart sie zunächst und grundlegend diese selbst als Ursache. Wenn die Wirkung nichts aus sich hat, dann ist sie in Grund und Boden von der Ursache her, damit restlos ihre Wirkung und damit ganz und gar ihr Dasein. 242 Und insofern geht es hier um mehr als Ähneln, es geht um Gegenwart. Gegenwart der Ursache in ihrer Wirkung. Und das, was hier als Dasein der Ursache erkannt wird, muss nun zugleich wirklich sein, um wirklich deren Dasein zu sein. 243 Eine bloß scheinbar reale Wirkung würde ein bloß scheinbar reales Ursachesein anzeigen. Thomas schränkt diese Gegenwart auf zweifache Weise ein. Zum einen (1), indem er dafürhält, dass, weil die Wirkungen nach außen nicht notwendig sind, sie nicht zum Wesen Gottes gehören. Aus Gott folgt mitnichten seine Schöpfung, wohl aber aus der Schöpfung Gott. 244 Seine Tätigkeiten nach außen sind zwar eins mit seinem Wesen und somit von diesem überhaupt nicht zu unterscheiden, aber nicht wesensnotwendig. 245 Dann lässt sich aber rein aus seinem Genauer: Im konkreten Geschöpf ist die Ursache präsent als Ursache dieser Wirkung, aber weil sie eins ist in ihrem Wesen, ist in dieser Wirkung die ganze göttliche Ursache präsent. 243 Vgl. te Velde 2005b. 244 Vgl. I 19,3 c.; I 2,3 c. 245 »So bezeichnen die Namen Erlöser, Schöpfer u. ä. die Tätigkeit Gottes, die wiederum eins ist mit seinem Wesen. Beide Arten von Namen jedoch werden ex tempore 242
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Schaffen als solchem (also vor aller Eigenschaftlichkeit der Wirkungen) auch nichts über sein Wesen erkennen. Zum anderen (2) gelten die Beziehungen des Schaffens und Erlösens nur quoad nos, aber nicht für Gott. Es herrscht hier eine Beziehung, die nur von Seiten des einen Relatums eine wirkliche Beziehung ist (res naturae), von seiten des anderen aber nur gedacht (res rationis). So bezieht sich unser Wissen (scientia) wirklich auf das Wissbare (scibile); die wissbaren »Dinge selbst dagegen, an sich betrachtet, gehören nicht zu dieser Ordnung« der Erkenntnis. Mit Verweis auf Aristoteles: »Darum wird von ihnen nicht deswegen eine Beziehung ausgesagt, weil sie sich auf etwas anderes beziehen, sondern weil etwas anderes sich auf sie bezieht.« 246 Vergleichbar gilt: »In Gott […] gibt es keine wirkliche Beziehung (non est aliqua realis relatio) zu den Geschöpfen, sondern bloß eine gedachte, insofern die Geschöpfe zu ihm eine Beziehung haben.« 247 Zusammengefasst: »[…] die Namen, die eine Beziehung zwischen Gott und den Geschöpfen besagen, bezeichnen in keiner Weise sein Wesen, sondern […] bezeichnen eine Beziehung von ihm zu einem andern, oder besser: eines anderen zu ihm.« 248 Aber vor beiden Einwänden muss man sich nicht geschlagen geben. Ad 1) Wenn die Wirkung sich begreift als nicht mit Notwendigkeit aus ihrem verursachenden Prinzip hervorgehend, zeigt sich darin nicht erst recht Gott? Dass er nämlich so ist, dass er ohne Notwendigkeit schafft und also nicht zur Komplettierung seiner Göttlichkeit, sondern rein uns um unseretwillen. Und dann kann auch 2) nicht so stehen bleiben: Die Wendung nach außen muss dann auch für Gott gelten. Denn bloß auf sich gewendet, entstünde nichts. Will man dazu nun sagen, er wende sich auf sich in seiner Ursächlichkeit nach außen, bestätigt sich nur das Gesagte, denn dafür muss er wirklich – und zwar sich dessen bewusst – Ursächlichkeit nach außen sein. von Gott ausgesagt, in Bezug auf die in ihnen unmittelbar oder als Folge gegebene Beziehung, nicht aber, sofern sie unmittelbar oder mittelbar die Wesenheit Gottes bezeichnen« (I 13,7 ad 1). 246 »[…] non dicuntur relative eo quod ipsa referantur ad alia, sed quia alia referuntur ad ipsa« (I 13,7 c.). Vgl. Met. 1021a26–30. 247 »[…] in Deo non est aliqua realis relatio eius ad creaturas, sed secundum rationem tantum, inquantum creaturae referuntur ad ipsum« (I 13,7 c.). 248 »De nominibus […] quae relationem ipsius ad creaturam significant, manifestum est quod substantiam ejus nullo modo significant, sed […] relationem ejus ad alium, vel potius alicujus ad ipsum« (I 13,2 c.).
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Damit aber ist beim Aquinaten – noch nicht thematisch, wohl aber von seinen Prinzipien her – die Ähnlichkeits- als Defizittheorie zumindest prinzipiell überwunden. Er erreicht eine fundamentalere Gegenwart als die des platonischen Demiurgen, der ja nicht als Ursache der Welt, sondern als Urheber ihrer Ordnung gegenwärtig war, sodann aber primär die Ideen abbildete und darin nur mittelbar seine Neidlosigkeit. Was dagegen nur aus dem schlechthin souveränen Willen seines Schöpfers ist, vergegenwärtigt diesen, sofern er der Wille zu diesem Geschöpf ist, als welcher Wille er der eine göttliche Wille, und damit Gott selbst, ist. Das Geschöpf ist die Vergegenwärtigung einer Wirklichkeit, die es nicht ist, und exakt dies ist die Funktion eines Bildes. 3.3.3.3 Aufgang des Exemplares Die Wertigkeit eines Bildes zeigt sich immer auch an der Rolle, die es spielt, wenn die in ihm vermittelte Sache unmittelbar selbst ansichtig wird. Im Horizont der christlichen Theologie ergeben sich zwei große Felder einer solchen Konfrontation mit dem Exemplar. Die Christologie als Reflexion auf die imago perfecta, als die Christus geglaubt wird, und die Eschatologie als die Lehre von der absoluten Zukunft des Menschen, in welcher er vom Glauben zum Schauen gelangt, in welcher also der Schleier vor der göttlichen Wahrheit fällt – und sich damit erneut die Frage nach der Rolle der Bilder stellt. Während die visio beatifica unsere Fragestellung vom Verhältnis von Bild und Exemplar in die christliche Vorstellung von Ziel und Vollendung auszieht und noch – zumindest in ihren nicht christologischen Teilen – philosophisch befragt werden kann, kommt mit der Christologie ein Thema in den Blick, das, so zentral, wie es für den Glauben und die Theologie ist, für die Philosophie mit den ihr eigenen Mitteln nicht erschwinglich ist. 249 Die Christologie des Aquinaten auf unsere Frage hin auszuwerten sprengt den Rahmen dieser Arbeit wie die Kompetenz ihres Faches. Zur Orientierung seien einzig die folgenden Bemerkungen ge249 Sie kann die Möglichkeit und den Sinn von letztgültiger Offenbarung und Inkarnation bedenken (dazu Tilliette 1998 [1990]). Aber auch, wenn sie sie für möglich und überaus sinnvoll, ja, notwendend hält, kann sie doch ihre Wirklichkeit weder abstrakt ableiten noch konkret im Blick auf Jesus von Nazareth beweisen. Hier beginnt – auch nach dem Selbstverständnis des Evangeliums (Mt 16,17) – der Glaube. Diesen auszulegen aber ist Sache der Theologie.
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Bild bei Thomas
macht: Das vollkommene Bild muss nicht bloß in der Art mit dem Abgebildeten übereinstimmen, sondern »in derselben Form und Natur auch der Zahl nach […]. Dieser höchste Grad der Vollkommenheit ist im göttlichen Sohn als vollkommenstes Bild des göttlichen Vaters verwirklicht.« 250 Damit ist einerseits Jesus Christus die imago perfecta 251 und die Bildhaftigkeit hat in ihm einen Absolutheitspunkt, wie ihn nur das Christentum kennt. Andererseits erstaunt es, wie wenig der Bildbegriff in der eigentlichen Christologie des dritten Buches der Summa (qq. 1–59) Verwendung findet. 252 Es scheint, als liege das Gewicht der Christologie des Thomas viel mehr auf der soteriologischen Bedeutung der hypostatischen Union als auf ihrer gnoseologischen Bedeutung für das Offenbarwerden Gottes. Nun aber zur Bedeutung der imago dei in der Heimat (in patria) der ewigen Anschauung Gottes. Wenn das Wesen Gottes nicht mehr erschlossen werden muss, sondern geschaut werden kann, welche Rolle spielt dann noch die imago dei? Lassen wir die Frage auf sich beruhen, wie das Verhältnis von imago perfecta und »Gott schauen, wie er ist« zu denken ist, und schauen stattdessen auf unser Thema: Die imago imperfecta. Muss sie noch angeschaut werden, wenn doch das Exemplar selbst gesehen wird (und/oder dieses in der imago perfecta)? Zwar besteht kein Zweifel, dass die letzte und vollkommene (ultima et perfecta) Glückseligkeit in der Anschauung des göttlichen Wesens und nur dort zu finden ist, und insofern könnte man nun schlicht sagen: »Wo eine Sache durch ihre Gegenwart ist, wird ihr Bild nicht mehr zu ihrer Stellvertretung gebraucht, so wie dort, wo der Kaiser ist, die Soldaten nicht seine Bilder ehren«. 253 Aber Thomas lässt durchaus Raum für eine Anschauung der Geschöpfe. Nicht als könnte sie die Seligkeit vermehren, aber es spricht nichts gegen eine gewisse hinzukommende unvollkommene Seligkeit in der Anschauung von Engeln und Menschen. 254 Von ihr muss man paradoxerweise Krämer 2000, 144. I 35. 252 »Lediglich an acht Stellen wird der Begriff der imago Dei explizit genannt« (Krämer 2000, 460). 253 »[…] ubi est ipsa res per sui praesentiam non requiritur eius imago ad hoc quod suppleat locum rei, sicut, ubi erat imperator, milites non venerabantur eius imaginem« (III 5,4 ad 1). 254 »[…] solus Deus sit veritas per essentiam, et […] eius contemplatio faciat perfecte beatum. Aliqualem autem beatitudinem imperfectam nihil prohibet attendi in con250 251
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Thomas von Aquin
sagen, dass sie der vollkommenen Seligkeit nichts hinzufügen kann und doch zu ihr beiträgt. 255 Problematisch für echte Interpersonalität in der Ewigkeit wird es allerdings dort, wo Thomas davon spricht, dass alle Dinge in Gott geschaut werden, in dem sie auf die Weise sichtbar sind wie die Wirkung in der Ursache. 256 Das nämlich heißt eindeutig: ›nicht in sich‹ : »Die Dinge erkennen durch ihre Bilder, die sich im Erkennenden finden, heißt, sie in sich, in ihrem eigenen Wesen erkennen; dagegen: sie erkennen nach den Bildern, die in Gott präexistieren, heißt, sie in Gott schauen.« 257 Nun mag allerlei in Gott wahrer und schöner anzuschauen sein als in sich selbst, 258 aber dies kann zumindest nicht für templatione Angelorum[.] – Nur Gott ist durch sein Wesen Wahrheit und allein seine Anschauung macht vollkommen selig. Eine gewisse unvollkommene Seligkeit gewährt allerdings auch das Anschauen der Engel« (I-II 3,7 c.). Bzgl. des Menschen: »si loquamur de perfecta beatitudine quae erit in patria, non requiritur societas amicorum de necessitate ad beatitudinem, quia homo habet totam plenitudinem suae perfectionis in Deo. Sed ad bene esse beatitudinis facit societas amicorum« (4,8 c.). Und in aller Deutlichkeit heißt es eben dort: »perfectio caritatis est essentialis beatitudini quantum ad dilectionem Dei, non autem quantum ad dilectionem proximi. Unde si esset una sola anima fruens Deo, beata esset, non habens proximum quem diligeret. Sed supposito proximo, sequitur dilectio eius ex perfecta dilectione Dei. Unde quasi concomitanter se habet amicitia ad beatitudinem perfectam« (4,8 ad 3). 255 Christopher Brown nimmt sich der Frage an, wie etwas zur vollkommenen Glückseligkeit nicht notwendig sein und doch zu ihr beitragen kann. Die Steigerung kann sich natürlich nicht auf das summum bonum, sondern einzig auf die Weise seines Besitzes beziehen. Seine Analogie ist die Wiedererlangung des Leibes am jüngsten Tag. Die Seligkeit der Verewigten ist vollkommen und dennoch wächst ihre Extension mit der Wiedererlangung des Leibes: »Whosoever actually sees God in His essence is perfectly happy. But the perfect happiness of the embodied saint is more extensive than that same saint disembodied since the embodied saint enjoys God both bodily and intellectually, a dual enjoyment which is in accord with the nature of human beings as rational animals« (Brown 2009, 239). In ähnlicher Weise werde das Wissen von Gott erweitert durch das Wissen der Gefährten in der Seligkeit (»more ways to see the beauty and goodness of God« – 240). 256 I 12,8 c.: »Omnia autem alia sunt in Deo, sicut effectus sunt virtute in sua causa. Sic igitur videntur alia in Deo, sicut effectus in sua causa. – Alle Dinge sind in Gott, wie die Wirkung in der Kraft ihrer Ursache. So werden alle Dinge in Gott gesehen wie die Wirkung in ihrer Ursache«. 257 I 12,9 c.: »Sic ergo, cognoscere res per earum similitudines in cognoscente existentes, est cognoscere eas in seipsis, seu in propriis naturis, sed cognoscere eas prout earum similitudines praeexistunt in Deo, est videre eas in Deo.« Vgl. I 84,5 c.; Pelikan 1978, 46 f. 258 Thomas spricht davon, dass das Verlangen des Erkennenden nicht auf »alia singularia et cogitata et facta eorum« gehe, sondern auf »species et genera rerum, et rationes earum« (I 12,9 c.). Vgl. Brown 2009, 230 f.
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Bild bei Thomas
die Person gelten, die ja gerade so verursacht wird, dass sie von der Ursache in einen einzigartigen Selbststand gestellt wird. 259 Die Freiheit, die ihr Gott gibt, ist sie selbst, und sie würde in Gott, der ja als Grund echter Freiheit gerade nicht mit dieser zusammenfallen kann, sosehr er auch jegliche ihrer Qualitäten in Eminenz hat, überhaupt nicht angeschaut. Denn so schön der Entwurf sein mag, den er von einer Person hat, und sosehr es so sein mag, dass die Person diesen Entwurf nie erreicht hat und dieser deshalb schöner ist als sie: der Entwurf, die göttliche Idee einer Person, ist nicht sie selbst. Um sie selbst aber geht es in der Liebe. 260 Wenn das Geschöpf in seine Vollendung, die visio beatifica ge-
259 »[…] liberum arbitrium est causa sui motus, quia homo per liberum arbitrium seipsum movet ad agendum« (I 83,1 ad 3). Dies heißt nicht, dass der freie Wille Erstursache ist, aber Gott ist gerade so seine Erstursache, dass er ihm die Selbstbewegung ermöglicht: »[…] sicut naturalibus causis, movendo eas, non aufert quin actus earum sint naturales; ita movendo causas voluntarias, non aufert quin actiones earum sint voluntariae, sed potius hoc in eis facit, operatur enim in unoquoque secundum eius proprietatem – wie er den natürlichen Ursachen, indem er sie bewegt, nicht wegnimmt, dass ihre Tätigkeiten natürliche sind, so nimmt er auch, indem er die willentlichen Ursachen bewegt, nicht weg, dass ihre Handlungen willentliche sind; vielmehr bewirkt er dies in ihnen; denn er wirkt in jedem einzeln gemäß der Eigentümlichkeit desselben« (ebd.). 260 Insofern scheint mir Brown am Ende seines anregenden Artikels zur Frage der »Friendship in Heaven« doch sein Problem nicht in den Griff bekommen zu haben, wenn er die gemeinsame Blickrichtung der Menschen bei der Liturgiefeier als Vorgriff auf die Weise des Miteinanders der Geschöpfe im Himmel darstellt. Zwar sei man »aware of the presence of other creatures«, aber »the attention of the faithful is always directed […] ultimately to God« (244). Die Lösung steht auf einem Bein, wenn die Attention sich nicht auch ganz auf den Anderen richten kann. – Der kleine Diamond in George MacDonalds At the Back of the North Wind bekommt auf die Frage nach der realen Existenz der Dame North Wind von ihr gesagt: »I’m either not a dream, or there’s something better that’s not a dream.« Diamonds Antwort trifft ins Herz dessen, was Unvertretbarkeit der Person bedeutet: »But it’s not something better —it’s you I want, North Wind […]. Somehow, when once you’ve looked into anybody’s eyes, right deep down into them, I mean, nobody will do for that one any more. Nobody, ever so beautiful or so good, will make up for that one going out of sight« (MacDonald 1978, 360 f.). Ähnlich Frankfurt: »The reason it makes no sense for a person to consider accepting a substitute for his beloved is not that what he loves happens to be qualitatively distinctive. The reason is that he loves it in its essentially irreproducible concreteness. The focus of a person’s love is not those general and hence repeatable characteristics that make his beloved describable. Rather, it is the specific particularity that makes his beloved nameable – something that is more mysterious than describability, and that is in any case manifestly impossible to define« (Frankfurt 1999, 170).
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Thomas von Aquin
langt, gilt für sein Erkennen der anderen Geschöpfe offenbar dasselbe, was Thomas immer schon für das Wissen Gottes behauptet: Zwar erkennt er Außergöttliches (alia a se – I 14,5) in der Distinktheit seiner jeweiligen Natur (propria natura uniuscujusque – 14,6), ja, sogar die Einzeldinge (singularia – 14,11). 261 Aber, was hat man sich darunter vorzustellen, wenn er all dies in sich (in seipso) schaut? 262 Mit Bezug auf die Ideen mag das gelten: »Deus secundum essentiam suam est similitudo rerum omnium. Unde idea in Deo nihil est aliud quam ejus essentia« (15,2 ad 3). Die Ideen sind sein Wesen unter der Hinsicht seiner Nachahmbarkeit im Bereich des Geschaffenen (15,2 c.), und insofern kann er diese durchaus in sich sehen. Aber eben nicht die Person; ihren Zusammenfall mit dem göttlichen Wesen behaupten hieße, sie zu negieren. Die Wirkung ist nicht die Ursache (sosehr jene nichts wäre ohne diese), zumindest eindeutig dann nicht, wenn wir von Person sprechen; und insofern lässt sich Person in Gott nicht wie die Wirkung in der Ursache sehen. 263 261 »Wer von Sokrates wüsste, dass er weiß ist, der Sohn des Sophroniskus, oder was auch immer so gesagt wird, so würde er ihn doch nicht erkennen, insofern er dieser Mensch ist – […] qui cognosceret Socratem per hoc quod est albus vel Sophronisci filius, vel quidquid aliud sic dicatur, non cognosceret ipsum inquantum est hic homo« (I 14,11 c.). 262 »Alia autem a se videt non in ipsis, sed in seipso, inquantum essentia sua continet similitudinem aliorum ab ipso – andere als sich schaut er nicht in diesen, sondern in sich selbst, sofern seine Wesenheit das Urbild der zu ihm anderen enthält« (I 14,5 c.). »[…] non oportet quod ipsum intelligere divinum, vel potius ipse Deus, specificetur per aliud quam per essentiam divinum – es ist nicht notwendig, dass das göttliche Erkennen, genauer Gott selbst, durch etwas anderes bestimmt wird als durch die göttliche Wesenheit« (ebd., 14,5 ad 3). 263 Ein Schatten dieser Unterbewertung des Interpersonalen zeigt sich bei den Ausführungen des Aquinaten zum beschaulichen und tätigen Leben (II-II qq. 179–182): Das der Anschauung der göttlichen Wahrheit (contemplatio divinae veritatis – 180,4) gewidmete kontemplative Leben ist nicht nur besser (potior – q. 182,1), sondern auch verdienstvoller (majoris meriti – 182,2) als das tätige Leben, das vornehmlich die Beziehung zum Nächsten betrifft. »[…] vita activa describitur per ea quae ad alterum ordinantur, non quia in his solum, sed quia in his principalius consistit« (181,1 ad 3). Unbeschadet dieser Vorrangstellung kann es »propter necessitatem praesentis vitae« geboten sein, dem tätigen Leben den Vorzug zu geben (II-II 182,1 c.). So ist Thomas selbst nicht bei der Anschauung der Wahrheit verblieben, sondern hat gelehrt, und die Lehre gehört zum tätigen Leben (II-II 181,3), auch wenn das, was sie vermittelt, aus der Anschauung der Wahrheit, die zur Kontemplation gehört, stammt. Geschieht dies, obwohl die höchste Freude in der Kontemplation Gottes gefunden wird und nicht, um sie zu fliehen, so zeigt sich darin die Vollkommenheit der Caritas: »Zur Vollkommenheit der Freundschaft gehört, dass jemand um des Freundes willen zuweilen sogar auf die Freude seiner Gegenwart verzichtet, um in seinem Dienst zu
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Bild bei Thomas
Zugleich – Thomas schlägt Fixierungen immer wieder ein Schnippchen – wird es für die Seligen weiter ein sinnliches Sehen des Sinnlichen, also eine direkte Begegnung mit dem Anderen von Angesicht zu Angesicht geben. 264 Ja, Thomas beweist die Bewegung der Vollendeten (»motus corporum gloriosum« 265) nicht bloß damit, dass Christus sich bei der Himmelfahrt bewegt habe (und ebenso diejenigen, die von der Erde auferstehen werden), sondern dass es auch wahrscheinlich sei, dass sich die Seligen »je nach dem Belieben ihres Willens bewegen, damit sie durch die Ausübung ihrer Kraft die himmlische Weisheit rühmen und offenbaren, und damit ihr Auge sich an der Schönheit der verschiedenen Geschöpfe erfreue, in denen die Weisheit glanzvoll aufleuchtet«. 266 Dies jedoch, ohne dass dies die intellektuelle Gottesschau beeinträchtigen wird: »[…] weil Gott von den Heiligen als der Grund all dessen erfasst wird, was von ihnen getan oder erkannt wird, darum wird ihr Sich-Abgeben mit dem, was sinnlich wahrzunehmen oder sonst zu schauen oder zu tun ist, in nichts die göttliche Schau beeinträchtigen, und auch nicht umgekehrt.« 267 Hier taucht auch in patria statt des Sehens des Bildes im Exemplar, der Wirkung in der Ursache, welches hier um des Ernstes der Selbstheit der Person willen abgelehnt wurde, umgekehrt ein Sehen der Ursache in der Wirkung auf, wie es für die Erkenntnis in via galt, und bei dieser Gelegenheit lässt sich noch einmal präzisieren: Das Sehen der Ursache in der Wirkung, das Sehen also der göttlichen Güte in der Wirkung, der geschaffenen Person, löst weder den Ernst der Selbsthaftigkeit noch die Absolutheit Gottes auf, denn die Person ist als sie selbst das Dasein Gottes. Hier gibt es ein Sehen-In, das dem Bild wie dem sich darin Zeigenden gerecht wird. Einfachhin umdrehen lässt sich das Verhältnis nicht: Ein Schauen der Wirkung in der arbeiten« (Car 11 ad 6, zitiert nach Pesch 1988, 66). Für das kontemplative Leben aber hat das tätige Leben, und damit die Beziehung zum Nächsten, nur eine vorbereitende Bedeutung (vgl. II-II 180,2 c.). 264 Vgl. Suppl. 82,3 u. 4. 265 Suppl. 84,2. 266 »[…] verisimile est quod aliquando moveantur pro suae libito voluntatis; ut, illud quod habent in virtute actu exercentes, divinam sapientiam commendabilem ostendant; et ut visus eorum reficiatur pulchritudine creaturam diversarum, in quibus Dei sapientia eminenter relucebit« (Suppl. 84,2 c.). 267 »[…] quia Deus apprehenditur a sanctis ut ratio omnium quae ab eis agentur vel cognoscentur, ideo occupatio eorum circa sensibilia sentienda, vel quaecumque alia contemplanda aut agenda, in nullo impediet divinam contemplationem, nec e converso« (Suppl. 82,3 ad 4).
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Ursache ist bildtheoretisch fragwürdig – es wäre ein kaum zu erklärender Appendix mittelbarer Gegebenheit eines unmittelbar Gegebenen – und personal zerstörerisch: So wenig der Liebende im Anschauen seiner Liebe die Geliebte selbst anschaut, so wenig lässt sich die geschaffene Person in Gott anschauen, es sei, denn man folgte seiner Blickrichtung. Denn auch dies gehört, will man bleibend interpersonal denken, zum Ziel, das Augustinus einmal als »videntem videre – den Schauenden schauen« 268 definiert hat: Ihn schauen hieße, neben der unaussagbaren Intimität des Ineinanderblicks von Person und Gott, auch: Ihn schauen als den, der auf die Anderen mit derselben, je den Einzelnen meinenden Güte schaut und dies kann nur – wenn anders die Liebenden die Liebe des Geliebten teilen – bedeuten, in das »Gefälle« seines Blickes zu geraten. »Schauen in ihm« hieße dann, schauen in seinem Blick, und damit eigentlich: »schauen mit ihm«. 269
3.4 Resümee Thomas hat Liebes- wie Bildbegriff weiter geführt, als die klassische antike Philosophie dies vermocht hat. Erst im Horizont des Christentums mit seiner Theorie eines Gottes, der die Liebe ist und der im Bild erscheint, werden beide Begriffe gewissermaßen zu Transzendentalien des Endlichen – gibt es doch vor diesem Hintergrund nichts, was nicht seinen letzten Grund in der Liebe Gottes und der Versichtbarung derselben hätte. Thomas trägt sehr viel bei zu einer Präzisierung beider Begriffe und macht sie systematisch fruchtbar. Aber es begegnen auch denkwürdige Rückfälle und nicht genutzte Möglichkeiten. Die gütige Freundschaft, der es um das Wohl des Anderen um seinetwillen zu tun ist, wird als die eigentliche Liebe erreicht. Aber sosehr Thomas die Freundschaftsformel aufgreift und definitorisch in den Mittelpunkt stellt, zieht es ihn immer wieder zu einem Primat des Selbstbezuges – dies ließ sich auf allen Ebenen der Liebe zeigen,
268 Augustinus: »Hoc enim bonus est, videntem videre« (Sermo 69, Cap. 2, PL 38/ 441). 269 »Indem ich Gott erblicke, schauend an sein Wesen rühre, rühre ich an das ›Gefälle‹, das er ist, und werde eins damit. […] Hineingerissen in die Liebeskraft dieses Schauens, schaue ich nun, in seinem Blick, mich und die Geschwister« (Splett 1975, 51).
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Resümee
und mal leichter, mal schwerer und manchmal gar nicht im Sinne der Güte »retten«. Das Bild wird zwar dort, wo es ausdrücklich behandelt wird, weiterhin unter dem Begriff der Ähnlichkeit gefasst. Aber zum einen wird schon für die Ähnlichkeit gesehen, dass sie sich nicht als statische Vergleichbarkeit des ontologischen Bestandes von Gott- und Menschsein fassen lässt, sondern erst relational dort gegeben ist, wo der Mensch sich auf das Exemplar, das sich in ihm zeigen soll, liebend und erkennend ausrichtet. Zum anderen – und vor allem – eröffnet erst die Radikalität des thomistischen Schöpfungsdenkens mit der prinzipiellen Gegenwart der Ursache in der Wirkung die Möglichkeit eines Bildbegriffes, bei dem nicht die versagende Ähnlichkeit, sondern die Manifestation und Erscheinung im Vordergrund steht. Damit liefert Thomas die Grundlage für ein Bilddenken, das – auch wenn Thomas seinerseits diese Linie im Bezug auf das Bild kaum auszieht – seinen Gegenstand eher als Manifestation denn als Abbild denkt. Wenn man bedenkt, dass der Grund wie der Inhalt des geschöpflichen Bildseins die Liebe Gottes ist, dann sind beide Begriffe hier schon auf das Engste einander zugehörig, wenngleich Thomas dieses Verhältnis nicht durchgeführt hat.
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4 Fichte
Mit Fichte wenden wir uns nun einem Denker zu, dessen Philosophie, wie wohl keine sonst, Bildphilosophie ist. Bei ihm ist Bild nicht eine unter anderen möglichen Metaphern für die Beziehung von Welt und Gott, sondern Zentralbegriff für die gesamte uns zugängliche Wirklichkeit. Dabei hat er, wie zu zeigen sein wird, die Bildkategorie in die äußerste ihrer Möglichkeiten geführt: es geht nicht mehr um Abbildlichkeit bei gleichzeitiger Defizienz, sondern um Erscheinung. Das Bild ist so wenig etwas in sich selbst, dass ihm dort, wo es nicht Erscheinung des Absoluten ist, die Nichtigkeit bloßen Scheins bleibt. Zugleich führt Fichtes radikale Bildphilosophie zu einer Auflösung der Person, die um so mehr frappiert, als Fichte seine Arbeit an der Wissenschaftslehre mit dem Anspruch begonnen hatte, ein »System der Freiheit« 1 zu schaffen. Wir konzentrieren uns auf die letzten Lebensjahre Fichtes, der Zeit seiner Professur in Berlin (1810–1814), die zu seinen produktivsten gehören, werden aber auch einen Blick werfen auf systematische Verschiebungen im Vergleich zu vorangehenden Phasen des Gesamtwerks. 2
»Mein System ist das erste System der Freiheit […]« (Entwurf eines Briefs an J. I. Baggesen [1795] GA III/2, 298). 2 »Selbst und Bild« bei Fichte war bereits das Thema meiner Dissertation (Heereman 2010). Dort findet sich vieles ausführlicher, was hier nur in gedrängter Form dargestellt werden kann. Auf der anderen Seite liefert diese neuerliche Durchführung eine konzentrierte und pointierte Zusammenschau mit Blick auf unser Thema, die sich so nicht in der Dissertation findet. Gleiches gilt für die Bezugnahme auf die Frage der »veränderten Lehre« (vgl. vor allem den Exkurs S. 149 ff.). Kapitel 4.1 beruht in Teilen auf meinem Aufsatz »Durch und durch ein ›Durch‹. Größe und Grenze des Fichteschen Begriffs« (Heereman 2016). 1
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Bild bei Fichte
4.1 Bild bei Fichte 4.1.1
Funktion des Bildes im System
Fichtes Philosophie, wie er sie seit dem ersten Durchgang durch die Wissenschaftslehre im Jahr 1804 3 präsentiert hat, ist ganz und gar Bildphilosophie. Damit ist eine Philosophie gemeint, die sich nicht auch mit Bildern beschäftigt, sondern für die das Bild die allumfassende Kategorie des Daseinsverständnisses darstellt. Fichte findet sie, als er in der Rückverfolgung des Wissens auf seine Möglichkeitsbedingungen hin als deren höchste und erste auf ein absolutes Sein stößt, das das Wissen immer voraussetzen muss als dasjenige, wovon es weiß und dem gegenüber es sich als wesenhaft verschieden erfährt. Statt das von ihm im Wissen umfasste Sein ist es dessen Dasein. 4 Damit aber ist die erste und letzte Bedingung allen Wissens ihrerseits vor und damit zunächst außerhalb des Wissens. Wir können dann nur wissen, dass (a) das Absolute ist, weil wir sonst – als Wissen – nicht sein könnten; dass es (b) über diese reine Position hinaus unbegreiflich ist, weil eben als es selbst nicht das Gewusste, sondern das vor allem Wissen dieses erst Ermöglichende, vor welche Ermöglichung wir nicht schauen können, weil Schauen erst durch sie beginnt. 5 Das GA II/7, 33–235, siehe 151 f. »Die Erkenntniss selbst wäre nur zu erkennen aus Etwas, das nicht Erkenntniss ist, nicht Bild, nicht blosse Erscheinung eines im Hintergrunde liegenden, sondern dies selbst: das absolute Seyn; – freilich auch ein durch den Verstand erkanntes, aber schlechthin nicht durch die Erkenntniss gesetztes, indem im Gegentheile diese durch jenes gesetzt ist« (Staatslehre 1813, GA II/16, 24). Fichte verweist in einer noch kaum beachteten Klammerbemerkung auf die Nähe zum ontologischen Gottesbeweis: »(alle haben dies gefühlt, obwohl sie es nicht mit diesen Worten gesagt haben: im onthologischen Be[wei]se fürs Daseyn Gottes liegt es auch: weil er gesezt wird, ist er.)« (Diarium-II, GA II/16, 226). 5 »Keineswegs […] kann dieses Wissen, in ihm selber, begreifen, und einsehen, wie es selber – entstehe, und wie, aus dem innern, und in sich selber verborgnen, Sein, ein Dasein, eine Äußerung und Offenbarung desselben folgen möge […]. Dies kommt daher, weil […] das Dasein gar nicht sein kann, ohne sich zu finden, zu fassen, und vorauszusetzen, da ja das Sichfassen unabtrennlich ist von seinem Wesen; und so ist ihm denn, durch die Absolutheit seines Daseins, und durch die Gebundenheit an dieses sein Dasein, alle Möglichkeit, über dasselbe hinauszugehen, und, jenseits desselben, sich noch zu begreifen, und abzuleiten, abgeschnitten« (Anweisung zum seligen Leben, GA I/9, 88). Vgl.: »[…] weil das Faktum des Begreifens Gott […] voraussetzt, und das Begreifen innerhalb seines faktischen Seyns nicht die Wurzel seines Seyns vernichten kann« (Brief an Jacobi, 3. Mai 1810, III/6, 328). 3 4
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Fichte
Begreifen vollendet sich damit als ›Begreifen des Unbegreiflichen als Unbegreiflichen‹. 6 c) Es muss als reines Leben gedacht werden. Warum dies? Wir müssen von ihm all das fernhalten, was aus dem Bewusstsein folgt, und dazu gehört an vorderster Stelle die Objektform. Ein Objekt verdankt seine Objektform dem Subjekt. Darin ist es aber nicht mehr es selbst, sondern Gegenstand des Subjekts. 7 Hier aber ist der letzte und höchste Inhalt des Wissens, der, wenn er erneut »per hiatum irrationalem« 8 projiziert würde, sich wieder in ein totes Objektsein verwandelte und damit auf das Äußerste verfälscht, weil vorliegend, vorläge. Das Absolute sprengt die Objektform, indem es sich nicht in ein bloßes Jenseits des Subjektes entzieht, sondern sich dort findet, wo die Subjekt-Objekt-Beziehung ihren Ursprung hat: in der Lebendigkeit des projizierenden Subjektes, mit dessen Lebendigkeit es nicht einfachhin verschmilzt, sondern sie als ihre Quelle transzendiert; es ist nicht dieses Leben, sondern ›Leben des Lebens‹, und als solches selbstursprünglich – Leben, das keines anderen Lebens bedarf; »von sich, in sich, durch sich«, »esse in mero actu«. 9 Damit dreht sich aber die Frage um. Sie lautet nicht mehr: Gibt es ein absolutes Sein?, sondern: Gibt es noch irgendetwas außer ihm? »Der Philosoph, um auch nur seine Aufgabe fassen zu können, muß drum doch mit dem Denken zu Ende gekommen seyn, er muß den Begriff des absoluten Seyns haben, der alles andere Seyn ausser dem absoluten ausschließt. Wer diesen Gedanken nicht hat, kann auch nicht die Aufgabe fassen.« 10 Nun gibt es aber doch offensichtlich noch ein anderes: »Ausser ihm kein Seyn: aber der Begriff ist, und ist ausser ihm … Protestatio facto contraria. Indem gesagt wird; es sey nichts ausser ihm, ist etwas, eben dieses Sagen, ausser ihm«. 11 »Wie vermag neben dem absoluten ein faktisches bestehen?« 12 »Die Lösung dieses, gerade dieses u. keines andern Widerspruchs ist die Vgl. WL-1804-II, GA II/8, 33 f.; vgl. Transzendentale Logik II, GA II/14, 223. Vgl. Asmuth 1999. 7 »[…] die Verwandlung des unmittelbaren Lebens in ein stehendes und totes Sein ist der gesuchte Grundcharakter derjenigen Verwandlung, welche der Begriff mit dem Dasein vornimmt« (AzsL, GA I/9, 97). 8 WL-1804-II, GA II/8, 225. 9 Ebd., 228. Vgl.: »Ein ewig reges, nie stillstehendes Leben wie in der Linie kein Stük ist, das nicht Linie wäre, ein Anhalten gar nicht stattfindet« (Einl. i. d. Wissenschaftslehre 1813, GA II/17, 269). 10 WL-1811, GA II/12, 166. 11 WL-1812, GA II/13, 52; vgl. Rametta 2001, 253 ff. 12 WL-1811, GA II/12, 166. 6
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Bild bei Fichte
Aufgabe der Ph.[ilosophie] u. das ist die wahre Ph., die ihn wirklich löst.« 13 Das Sagen des Seins, das »[›]ist[‹] ist ganz u. gar unmöglich, u. widersprechend, denn was gesagt wird; widerspricht dem, daß es gesagt wird; wenn jenes wahr wäre, so könnte es nicht gesagt werden; und so gewiß es gesagt wird, ist es nicht wahr […].« 14 Wenn es also überhaupt etwas anderes gibt als Sein, dann kann dies nicht im selben Sinne sein, denn durch das Sein ist alles Sein erschöpft. 15 Dasjenige, was das Sein des Seins aussagt, muss von anderer Seinsart als das Sein sein. Nämlich von ebenderjenigen Seinsart, die sich im Aufstieg als nicht die Realität, sondern ihr Wissen gezeigt hat, also von einer Seinsart, die kein Sein, sondern dessen Da ist. Wie aber soll man dessen Wesen nun nennen? Dasein des Seins, das Sein außerhalb seiner selbst, Erscheinung des Seins, kurz: Bild. 16 Bild ist die radikale Sichtbarkeit von Sein und damit radikal nicht dieses selbst. 17 Das, was es außerhalb des Absoluten gibt, ist sein Außerhalb, sein Gesehenwerden. Dieses Bild in seinen notwendigen Strukturen zu durchdringen und abzuleiten ist Aufgabe der Wissenschaftslehre, ja, folgt man ihr und ihrem Anspruch, die Philosophie zu sein, Aufgabe der Philosophie überhaupt. Diese Ableitung besteht nun – wichtig zu betonen – nicht darin, das Bild aus dem Absoluten abzuleiten. Eine solche Ableitung ist unmöglich, weil dafür das Unbegreifliche begriffen werden müsste. Es gibt kein logisches terre à terre, keinen Übergang per Kontinuum von Gott zu seiner Erscheinung. 18 Die Tatsache der Erscheinung lässt sich nur unmittelbar aus der Erscheinung Ebd. Einl. i. d. WL 1813, GA II/17, 270. 15 »Durch sein Seyn ist alles sein Seyn und alles mögliche Seyn gegeben, und es kann weder in ihm, noch außer ihm ein neues Seyn entstehen […]« (WL in ihrem allgemeinen Umrisse GA I/10, 336). 16 »Soll nun das Wissen dennoch seyn, und nicht Gott selbst seyn, so kann es, da nichts ist denn Gott, doch nur Gott selbst seyn, aber außer ihm selber; Gottes Seyn außer seinem Seyn; seine Aeußerung, in der er ganz sey, wie er ist, und doch in ihm selbst auch ganz bleibe, wie er ist. Aber eine solche Aeußerung ist ein Bild oder Schema« (WL in ihrem allgemeinen Umrisse GA I/10, 336). 17 Nur das Absolute ist, im Sinne eines »Beruhen[s] auf sich«, »die Erscheinung ist nicht in diesem Sinne, […] sie ist nur in der zweiten zusammengesezten Form, der Beziehung eines Bildes auf sich selbst, d. i. in der Form des Verstehens« (TdB-1813, GA II/15, 123; vgl. Diarium-III, GA II/17, 19). 18 »Muß Gott erscheinen, und erscheint er nothwendig[?]. – . Hierüber ist in seinem Begriffe, der von dem blossen innern Seyn redet, durchaus nichts gesagt […]« (WL1811, GA II/12, 170; vgl. WL-1812, GA II/13, 57). 13 14
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Fichte
entnehmen. Sie ist nicht in irgendeiner Weise notwendig da, sondern faktisch. In diesem Sinne bekennt die WL, die doch alles Wissen »genetisch machen« will, an ihrem Beginn ein Faktum zu haben. 19 Gibt es außer Gott jene Erscheinung seiner, die das einzig mögliche Außer seiner ist? Schau hin, sagt Fichte, anders kannst Du es nicht erfahren. 20 Indem Du die Frage gestellt hast, hast Du sie allerdings schon beantwortet, denn damit gibt es schon anderes als Gott: nämlich zumindest diese Frage. Wenn er aber erscheint, und damit nimmt die Wissenschaftslehre ihr genetisches Verfahren wieder auf, dann in notwendigen Strukturen, die sich ermitteln lassen. Warum dieses? Weil sich das Bild durchsichtig werden können muss, um ganz den aufscheinen lassen zu können, der in ihm erscheint, und um so erst der sichtbaren Wirklichkeit verstehend gegenübertreten zu können. 21 Ein Verstehen, das es ihm ermöglicht, zwischen Schein und Erscheinung zu unterscheiden. 22 Zeichnen wir diesen Weg nach: Erscheinung kann nicht selbstursprünglich, sondern nur Tat des in ihr erscheinenden Absoluten WL-1812, GA II/13, 66 f.: »Es ist ein vermittelter Schluss, ruhend auf dem Faktum, u. dasselbe voraussetzend. Um den Unterschied zu fassen, denken Sie sich folgende andere Schlussweise. Wir hätten einen realen Begriff vom absoluten, u. sähen in demselben ein irgend einen Charakter = x. zufolge dessen es erscheinen müsse. So schlössen wir auf die Nothwendigkeit der Erscheinung, ganz unabhängig von ihrem faktischen Gegebenseyn. […] einen solchen Begriff haben wir eben nicht.« »Nur warum er [Gott] da sey ist unbegreiflich, aber es ist das allerbegreiflichste, warum es unbegreiflich seyn müsse. Den Begriff dran legen, heißt ihm ein Princip geben wollen, wodurch die Absolutheit aufgehoben wird« (WL-III-1804, GA II/7, 362). 20 »Ist denn nun dies, was dieser Argumentation zufolge, wirklich und in der That seyn sollte; und demnach auch das, was diesem voraus gesezt wird […][?] Siehe hin. – . Faktische Wahrheit erhält die für sich als ein blosses Denken rein problematische W.L. nur durch die wirkl. Anschauung. – also nach ihrer Vollendung, ausser ihr selbst; und anders kann es nicht seyn […]« (WL-1811, GA II/12, 146). Vgl. Ciria 1999, 105–118; D’Alfonso 2005, 85 ff. 21 Es »soll (…) das absolute, schlechthin als solches erscheinen, nicht verdekt durch irgend ein Schema; es müßte drum alles Schema, ohne Ausnahme als Schema erscheinen können, damit eben das absolute, als das allein erscheinende in allen diesen Schematen ersehen, und aus allem Schematismus, in dem es nur dunkel u. verdekt ist, herausgehoben werde« (WL-1811, GA II/12, 223). 22 »Die WL in Beziehung auf das Wissen […] [verhält sich] durchaus nicht beobachtend, das formale, oder qualitative Seyn desselben zufolge eines Bildes von ihm setzend, sondern erschauend, was sie als Wissen erschaut, aus einem Princip. Rein a priorisch. Nur was daraus folgt, gilt« (WL 1814, GA II/17, 321). Dieses apriorische Konstruieren der Erscheinung gilt nur für ihre Form, nicht für ihren Inhalt, der sich, wie noch zu zeigen ist, einzig in den unableitbaren Weisungen durch das Sittengesetz zeigt. 19
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Bild bei Fichte
sein. Aber nicht so, als ginge das Absolute in die Erscheinung über. (Hier hat sich Fichte in allen dreien seiner letzten vollendeten Wissenschaftslehren in aller Schärfe von einem Pantheismus spinozistischer Machart abgegrenzt.) 23 Täte es dies, verlöre es in der Vermannigfachung seine Absolutheit. »Durch sein [des Absoluten] Seyn ist sein Von sich erschöpft. [Es] Ist alles, was es seyn kann, in ihm selber immanenter. […] Setzet es [das Absolute] gehe über in eine andere Gestalt = X. so kann es dies nicht etwa durch ein fremdes, denn es ist außer ihm nichts, sondern nur durch sich. Sein ganzes Von sich, Principseyn muß daher im werden, u. bleiben jenes X. aufgegangen seyn. […] Also wäre in ihm ein Princip sich selbst aufzuheben. […] nach den Modifikationen ist Es selbst nicht mehr, sondern es ist aufgegangen in ihnen. [Das ist] Atheismus«. 24 Das Absolute prinzipiiert die Erscheinung vielmehr so, dass es ihr ein eigenes Leben verleiht. Nur wenn die Erscheinung einen solchen vom Absoluten prinzipiierten Eigenstand hat, kann das Absolute absolut sein, ohne dass ihm nun umgekehrt eine solche Abgrenzung zur Erscheinung als Endlichkeit angelastet werden kann. Denn die Erscheinung ist ihrem selbständigen Dasein wie ihrem Sosein nach ganz und gar Tat des Absoluten und auf diese Weise als differente nicht different zum Absoluten. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für dieses Eigenleben der Erscheinung: Leben ist sich ursprünglich nur in Selbstgegebenheit gewärtig – und nur deshalb auch in anderem zu sehen. 25 Die Erscheinung muss also selbst ein Leben sein, um zu erkennen, was das Leben ist, das sich in ihr zeigen will. Wäre sie nur Projekt des Absoluten, nicht produziertes Subjekt, so könnte sie kein Wissen davon haben, was Leben ist. Dies aber soll erscheinen. Wäre sie nicht selbst ein Leben, so könnte sie nur wissen, was ein Gelebtwerden ist, nicht aber, was die schlechthinnige Souveränität desjenigen göttlichen Selbstvollzuges ist, den sie zur Erscheinung bringen soll. 26 Dieses Erscheinungsleben aber muss nun seinerseits angeschaut Vgl. WL-1810, GA II/11, 293–295; WL-1811, GA II/12, 166 ff.; WL-1812, GA II/ 13, 54 f., 60. 24 WL-1810, GA II/11, 293 f. 25 Womit nicht gesagt sein soll, dass die Erfahrung der Lebendigkeit anderer abgeleitet wäre; sie wäre nur, selbst wenn sie, wie die Aufforderungslehre nahelegt, primär ist, nicht möglich, wenn das, was aufgefordert würde, sich darin nicht selbst als lebendig erführe. 26 Gott »selbst sezt sie [die Erscheinung] frei, u. selbständig ab: […] zufolge der 23
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Fichte
werden, denn ein Bild, das nicht auf sein Gesehenwerden angelegt ist, wäre ein Widersinn. Und zwar muss es angeschaut werden von sich selbst, denn es ist nicht das Absolute, das sich in ihm anschaut, 27 und ein Drittes gibt es nicht. Das heißt: Das Bildleben entwirft ein Bild von sich. Es setzt sich – in der Sprache der frühen Wissenschaftslehre – ein Nicht-Ich gegenüber, damit sich in ihm und an ihm seine Ichheit zeigen kann. Der erste Name für dieses Nicht-Ich ist Natur. Sie wird mit einer Eigenstruktur und Eigengesetzlichkeit gebildet, weil sich nur an solcher Widerständigkeit des sinnlichen Bereiches die Wirklichkeit des eingreifenden Ich zeigen kann. 28 Ihrer prinzipiellen Unendlichkeit gegenüber muss sich das Ich auf einen Punkt seines Anfangens setzen. Damit vollzieht es seine Verendlichung: »actus individuationis und concentrationis«. 29 Was aber soll nun gegenüber der Natur geschehen? Ginge es nur darum, ihr gegenüber die Herrschaft des Ich zu demonstrieren, wäre alles recht. Jede Veränderung der eigengesetzlichen Sphäre der Natur nach Begriffen wäre bereits ein Kraftbeweis. Aber bloß dies kann nicht schon die Zielbestimmung des Bildprozesses sein, wie bereits »der natürliche Widerwille jedes unverdorbenen Menschen[,] die formale Freiheit als ihren eigenen Zweck anzusehen«, 30 zeigt. Leben/ Freiheit ist demnach eine Kategorie, die noch zu formal ist; sie alleine macht das Bild nicht zum Bild des Absoluten. Also muss man noch einmal zurück an den Punkt der Ableitung des Lebens aus Gott. Wir hatten gesagt: Es muss selbsthaft sein, weil sich nur so die Selbsthaftigkeit des Absoluten zeigen kann, aber zugleich – und dies kommt nun hinzu – soll dieses Selbst das göttliche Leben versichtbaren. Hier schließt sich Fichtes Bildphilosophie mit seiner Ethikotheologie zusammen. Die Freiheit erfährt sich verpflichtet zu einem Vollzug, der Nothwendigkeit seines [Gottes] formalen Wesens, welches, als selbst lauter Leben, nicht erscheinen kann, und nicht erschienen seyn würde, in dem todten, u. gebundenen, sondern nur in dem in sich selbst lebendigen« (WL-1811, GA II/12, 182). Ebd. die Anmerkung: »Beweiß der Freiheit überhaupt: –. hier ist er. Aber auch nur so ist er zu führen«. 27 »Es kommt eben darauf an zu zeigen, daß es nicht Gott sey, der sich verstehe, sondern, daß es seine absolute Erscheinung sey« (Diarium-III, GA II/17, 196). 28 Der »Widerstand (das eigentlich innere Wesen der Welt, ihre Kraft) [ist] […] gesezt und gedacht […] als reiner Widerstand, und nichts weiter, d. i., als dasjenige, woran die Kraft des Lebens, und im Gegensatze mit welchem die Kraft des Lebens sich sichtbar macht« (TdB-1810/11, GA II/12, 78). 29 Vgl. TdB-1810/11, GA II/12, 153. 30 TdB-1810/11, GA II/12, 111.
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Bild bei Fichte
sein Maß nicht in ihrer Willkür, sondern im Wesen des Absoluten hat. Gott erscheint in der Freiheit als das sittlich Gute: »das absolute Sollen [ist] die unmittelbar sich-aufschließende Präsenz des Absoluten im Bewusstsein […].« 31 Für Fichte ist es einerseits restlos formal, soweit es das Begreifen betrifft, andererseits ganz und gar konkret, sofern es den konkreten Aufruf zum konkreten Handeln betrifft. 32 Aufgabe der Freiheit ist es, sich ganz und gar in den Dienst dieses Soll zu begeben, und so ganz zum Bild und Bildner des Bildes Gottes zu werden. Das bedeutet die restlose Aufgabe allen Eigenwillens und Unterwerfung unter das Gesetz, wie es je und je – in einer endlosen Abfolge von Welten 33 – erscheinen wird. 34 Dieser Akt der »SicherIvaldo 2006, 180. Dadurch spaltet sich die eine Erscheinung in zwei Prinzipien: »Es ist vor allen Dingen klar, daß dadurch im Bilde, dem nachmaligen Ich entsteht ein doppeltes Princip, dessen, was es ist als Bild, (des absoluten Lebens, seines Inhalts) u. dessen, was es ist als formales Leben, als ein Selbst« (Diarium-III, GA II/17, 28 f.). 32 »Der Begriff, der da leben soll, ist […] das schlechthin unbekannte, durch kein Denken a priori zu erforschende, sondern dem Bewußtseyn, das darauf gerichtet ist, eben als absolutes sich gebend. Attentire auf dich« (Sittenlehre 1812, GA II/13, 365). Zu den formalen Bedingungen wahrhaft sittlicher Handlungsanweisung durch das Soll gehören: 1) Das ganze Sittengesetz, wie immer es heraustreten wird, wollen, und zwar 2) aus Pflicht sowie 3) immer aus Einsicht und damit – dem Anschein nach (s. u.) – frei. 4) Weil das Herausbilden des Bildes Gottes in der Welt ein gemeinsames Werk ist, in der jeder seinen ureigenen Beitrag beitragen soll, strebt das Gesollte immer in die Gemeinschaft und nach der Erhebung aller zur Sittlichkeit, aber 5) nie anders als durch deren Einsicht und die dieser frei folgenden – anscheinenden – Freiheit, die deshalb unbedingt zu achten ist. Vgl. Heereman 2010, 109–113. 33 Vgl. TdB 1810/11, GA II/12, 125. Der Grund dieser endlosen Abfolge von Welten: Das Sittengesetz steckt innerhalb der Sphäre des Möglichen einen Umkreis des zu seiner Darstellung Gesollten ab. Daraus ergibt sich die notwendige Endlichkeit und Erreichbarkeit des in dieser Welt der Gemeinde Aufgetragenen. Aus zwei Gründen muss jeder solchen Welt eine weitere folgen: 1) Wenn das Leben der Erscheinung seine Aufgabe abgeschlossen hätte, sänke es ins Nichtsein zurück. Nun soll aber die Darstellung Gottes so wenig aufhören, wie er selbst. 2) Ein Bild ist nur zu verwirklichen, wenn es abschließbar ist, andererseits kann es eben deshalb dem unabschließbaren Absoluten nicht entsprechen. »Der Begriff der Unendlichkeit ist deducirt: Es ist dieser die Synthesis der Bejahung der absoluten Endlichkeit mit der Verneinung derselben. (…) Welches ist der Punkt der Ableitung: das Verhältniß des nicht Könnens, u. doch sollens, zum wirkl. Können, u. die Synthesis dieser beiden. Weil das faktische Princip schlechthin in aller Unendlichkeit nicht kann, was es doch in aller Unendlichkeit soll, dehnt sich sein Vermögen aus zu einer Unendlichkeit. Das Soll ist das Eine, u. das Kann jagt dem soll ewig nach« (WL-1811, GA II/12, 235 f.). Deshalb muss es eine Abfolge von Welten über Welten geben. 34 »Hierdurch ist alle künftige Freiheit u. Willensbestimmung schlechthin unmöglich gemacht; wie etwas als Pflicht sich zeigt, thut es das vorausgesezte Ich schon zufolge der Einen ›ewigen‹ Selbstbestimmung dergleichen immer zu thun: aufgehoben alle 31
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Fichte
schaffung des Individuum zur unmittelbaren Sichtbarkeit des Endzwecks […] [ist] der sein eigenthümliches inneres Leben durchaus beschließende Akt. Von nun an lebet es selbst nicht mehr, sondern in ihm lebet, wie es eben seyn sollte, der Endzweck.« 35 Dieser Akt, so scheint es zunächst, geschieht frei, er ist die einzige Freiheit des Individuums. 36 Aber genügt diese Einschränkung der Freiheit auf den übergehenden Akt von der Sinnlichkeit zur Sittlichkeit? Damit ist doch noch immer zumindest in einem Moment die endliche Freiheit am Werk, wo sich doch eigentlich nichts und niemand als das Absolute zeigen sollte. Es steht ein letzter Überstieg an: Auch in dieser anscheinend freien Selbstbestimmung zur unmittelbaren Fremdbestimmung durch das Gesetz hat das Bild sich zu begreifen als kein Selbst, als Pinsel in der Hand des Malers, restloses Medium. Damit wird der Mensch durch und durch zum Durch des göttlichen Erscheinens. Dass er sich dabei so erfährt, als handele er selbst, muss sein, ja, es ist das Signum der Vollendung, aber diese Freiheit, die ihm erscheint, ist nur die Anschauungsform des restlos und widerstandslos vom Absoluten bestimmten einen Erscheinungslebens. »Der Grundsatz der Sittenlehre lässt sich auch so fassen: das Ich muß sich erscheinen, nur als Erscheinung; denn es soll ja nicht sein Leben seyn, sondern Leben eines fremden u. andern, des Begriffs. Ein eigener Wille, oder Leben nie: sondern nur die Erscheinung, die Sichtbarkeit des Begriffs, die eben von jenem sich ablöst, u. das Ich nur das leidende Zusehen seiner Entstehung u. seines Seyns hat«. 37 Dort, wo das Ich seine individuelle Freiheit für bare Münze nimmt, verfehlt es seinen Sinn; als es selbst ist es Schein; Erscheinung ist es nur, wenn es verstanden wird als die Sichtbarkeitsform des göttlichen Erscheinens. Das Leben erscheint in der endlichen Person als das ihre, und es muss als das ihre erscheinen, leere Zeit, klare Erkenntniß u. Handeln ist immer Ein Schlag, mit Nothwendigkeit« (Sittenlehre 1812, GA II/13, 345). 35 TdB 1810/11, GA II/12, 124. 36 »Dem Triebe folgend ist das Individuum durchaus nicht frei, sondern es steht unter einem unwiderstehlichen Gesetze […]. Wiederum, bestimmt von der andern Seite das Individuum sich durch das Sittengesetz, so ist es abermals nicht frei, und das Leben als solches hat abermals keine Kausalität; denn diese eben wird unter Freiheit verstanden. Hat es denn nun überhaupt keine? Allerdings, im Uebergange, in der Erhebung von der Natur zur Sittlichkeit […]« (TdB-1810/11, GA II/12, 121 f.). 37 Sittenlehre 1812, GA II/13, 339. »Begriff« heißt in der Sittenlehre, und nur dort, die Erscheinung des Absoluten in der Freiheit, also – in der sonst vorherrschenden Begrifflichkeit – ihr »Gesetz«, »Soll« oder »Endzweck«.
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Bild bei Fichte
weil anders nicht erscheinen kann, was eigentlich das Leben eines anderen ist. In seinem letzten Denktagebuch, wenige Wochen vor seinem Tod, hat Fichte dieses verwickelte, und doch lupenrein konsequente Verhältnis in der größten Exaktheit auf den Punkt gebracht: »Bild eines Lebens, also ein durchaus objektives Bild: – . Seines Lebens aber, woher nun das? […] Weil Bild des Bildes wenigstens als ein Verstandenes nur möglich ist in dieser Identitätsform, schlechthin unmittelbar. Also verständlich ist es nur als Bild seines Lebens. Schlechthin aber Bild ist es nicht seines, sondern eines andern Lebens«. 38
4.1.2
Größe des Fichteschen Bildbegriffs
4.1.2.1 Nicht Philosophie des Bildes, sondern Bildphilosophie Fichte bringt den Bildbegriff in seine äußersten Möglichkeiten. Das Bild ist nicht bloß Gegenstand, sondern »Prinzip« 39 seiner Philosophie. Weder sind Bilder bloß ein Vorkommnis unter anderen, 40 noch ist es so, dass die Wirklichkeit aufgrund ihrer ontologischen Abhängigkeit eine Ähnlichkeit mit dem vorgängigen Absoluten hat, die man auch mit der Kategorie des Bildes beschreiben kann. Stattdessen ist alle endlich-faktische Wirklichkeit ihrem Wesen nach Bild. 41 Diarium-III, GA II/17, 144 f. Dabei ist es letztlich gleich, ob hier nun das absolute Leben unmittelbar am Werk ist (wie es etwa in der Anweisung zum seligen Leben dargestellt wird [vgl. etwa GA I/9, 124]) oder das von ihm prinzipiierte eine Erscheinungsleben (wie es mir ein proprium der letzten Berliner Jahre zu sein scheint [vgl. Heereman 2010, 137–142, und den Exkurs unten S. 149 ff.]); so oder so ist es nicht das Individuum und vollzieht sich keine Freiheit. 39 Vgl. zum Bild als »Prinzip« einer Philosophie Schweidler 2007: »Es wendet sich vom Objekt zum eigentlichen Element des Philosophierens« (21). 40 Als welches sie in weiten Teilen der »Bildwissenschaft« behandelt werden. Siehe dazu den Artikel: »Bild. Fichte und der ›Iconic Turn‹« (Bertinetto 2012): Für Fichte kann es gar keinen iconic turn geben. »Transzendentalphilosophie, Wissenschaftslehre ist einfach Bildtheorie. Und die Bildtheorie ist nicht dem rationalen Diskurs entgegengesetzt, sondern gerade dessen Basis« (281). Für die Bedeutung, die Fichte für die Bildwissenschaft haben könnte, s. a. Asmuth 2011, 72–91. 41 Freilich auf unterschiedliche Weise gemäß einer Staffelung, an deren Spitze die Gotteserscheinung des Sittengesetzes in der Gemeinschaft menschlicher Freiheiten steht, und an deren Ende die sinnliche Sphäre, die einzig »Material der Pflicht« ist, wiederum gestaffelt in rohe Natur als reine Möglichkeitsbedingung und Kultur als geformtes Material, das schon Bild, aber immer auch Möglichkeitsbedingung für die nächst höhere Manifestation ist. 38
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Fichte
4.1.2.2 Nicht Schein und Schleier vor, sondern Bild von Das Bild bei Fichte ist nicht Schein oder Schleier; nicht Vorgaukelung von Nicht-Existentem; nicht zu entlarvende Fata Morgana. Wird die Bildkategorie so verstanden, dann ist das Bild immer eine die Wahrheit verstellende Instanz. Sein Wert hängt dann ganz davon ab, wie die dahinter liegende Wahrheit gedacht wird. Wird die Wahrheit als in sich absolut gut und schön gedacht, dann stehen die Bilder im Weg und müssen weg. Ist sie aber die alle Illusion des Menschen zerschmetternde Instanz des Offenbarwerdens seiner letzten Belanglosigkeit, dann werden die Bilder nur von jenen stoischen Helden zertrümmert, deren Wille zur Wahrheit auch dann noch besteht, wenn es an ihr nichts Wollenswertes gibt. Wahrscheinlicher aber ist die Proklamation der Hingabe an den Schein als einzige Möglichkeit, dem Grauen einer grauenhaften Wahrheit zu entgehen – in eine ästhetische Rechtfertigung des Daseins oder in eine reine Virtualität (mit den heutigen Möglichkeiten wohl eine besonders naheliegende Option). Bei Fichte dagegen verschleiert das Bild nicht die Realität, sondern offenbart sie. 4.1.2.3 Nicht Kopie, sondern Versichtbarung Schaut man nun in der Denkgeschichte auf jene Fälle, die im Bild nicht bloß Schein und Trug, sondern Realitätserschließung sehen, so ist das zugrundeliegende Modell, wie wir gesehen haben, meist dasjenige der Ähnlichkeit, und damit eines, das allenfalls den halben Weg der Würdigung des Bildes geht. Seine Dienstfunktion besteht dann nämlich in der Erschließung der Wirklichkeit, der es ähnelt und die durch dieses Ähneln des Bildes in den Blick kommt, dadurch aber das Bild auch überflüssig macht. Es hat seine Schuldigkeit getan, es kann gehen. Will man dem entgehen, indem man die äußerste Möglichkeit des Bildes in einer Vollendung der Ähnlichkeit zur Gleichheit in den Blick nimmt, so zeigt sich noch einmal die Unzureichendheit dieser Kategorie. Denn was wäre dies? Noch einmal dasselbe wie das Gezeigte – kein »Bild des Kratylos«, sondern »zwei Kratyloi«. 42 Das Bild wäre also definiert durch einen Begriff, der eine Vollkommenheit an-
Platon, Cra. 432b–c. Man stellt »überrascht fest, dass die vollendete Abbildlichkeit, d. h. der Illusionismus, mit der perfekten Ikonoklastik konvergiert. Mitten im gelungenen Abbild nistet eine bildaufhebende Kraft« (Boehm 1994a, 336).
42
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Bild bei Fichte
steuert, die es doch nie erreichen darf. Seine Bestimmung wäre, seine Bestimmung nicht zu erreichen. Ein solches Verständnis des Bildes als zurückbleibende Ähnlichkeit ist noch unterhalb der eigentlichen Dignität des Bildes. Es ist bei Fichte nicht eine minderwertige Kopie der sich mittels ihrer zeigenden Sache, sondern exakt die Sache – im Modus der Erscheinung. 43 Die Kategorie seiner Angemessenheit ist also nicht die der Ähnlichkeit, die sich auf Distanz zur Gleichheit halten muss, sondern – nach einem Vorschlag Jörg Spletts – die Kategorie der »Entsprechung«. 44 Die Erscheinung sieht nicht aus wie Gott, weil Gott überhaupt nicht aussieht, aber sie ist genau so, wie er in der Erscheinung ist – und dies an jeder Stelle: so wie die Punkte auf einer Kurve, die eine Formel versichtbart, von ihr und untereinander verschieden sind, aber doch gerade in dieser Verschiedenheit je das Dasein der Formel sind. 45 Dies zeigt sich in dieser Klarheit vor Fichte wohl nur bei Cusanus: Die Welt ist der »deus datus« in absoluter Entsprechung zum »deus dans«. 46 4.1.2.4 Nicht Stellvertreter, sondern Gegenwart Zu dieser restlosen Entsprechung des Bildes gehört nun, dass es nicht ein Stellvertreter oder Platzhalter, sondern das Dasein eines nicht »Da das absolute erscheint, ohne Zweifel, als das was es ist, so kann man in gewißer Rüksicht sagen […]: es ist ganz u. ungetheilt daßelbe in der Erscheinung, was im absoluten ist. – Nur ist es nicht auf dieselbe Weise, dort als im wahrhaftigem innern Seyn, hier nur als Erscheinung […]« (WL-1810, GA II/11, 294). 44 In wörtlicher Übersetzung von Analogie; vgl. Splett 2005, 121 ff. 45 »[…] die Erscheinung ist ein anderes zum Erscheinenden, dieser ist nicht dieses andere seiner (insofern es anderes ist), aber auch nicht ein anderes zu diesem (dahinterliegend, ob erreichbar oder unerreichbar). Die Erscheinung ist ihm weder ähnlich noch unähnlich; denn er ›sieht‹ eben so ›aus‹, wie er erscheint, sein ›Antlitz‹, ist, was er zeigt: er ›ist stets (als) der, (als) der er ist‹ (Ex 3,4)« (ebd., 142). 46 Vgl. Nikolaus von Kues: De dato Patris luminum, c.2 (Philosophisch-theologische Schriften, Bd. II, 654); vgl. Flasch 2001, 34 ff. Was nicht bedeuten muss, dass sie die beste aller möglichen Welten ist (die ist nämlich so unmöglich wie eine höchste Zahl). Aber sie ist nicht anders, als Gott will und damit der volle Ausdruck seiner (weil sein Wille, wie beim Aquinaten gesehen, nichts anderes ist als Er). Dass innerhalb dieser Erscheinung nun der Auftrag besteht, dieses Bildsein frei zu verwirklichen, und dies oft genug unterbleibt, führt einerseits in der Tat zu einer Verzerrung des Bildes, soweit es am Menschen ist, es zu füllen, bedeutet andererseits aber doch keine Aufhebung der Exaktheit des Bildes. Denn auch eine sich verschließende Freiheit zeigt exakt das göttliche Freigeben (siehe dazu unten 313 ff.). 43
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Fichte
anders Ersichtlichen ist – sein unübersteigbares Dasein. Auch beim Cusaner gibt es noch den Überstieg in das differenzlose Absolute an sich. 47 Dahinter steht dann wohl doch noch das unausrottbare Misstrauen ins Bild, nach dem es seiner Offenbarungsleistung zum Trotz am Ende eben doch nicht als Anschauung Gottes, sondern als Mauer des Paradieses verstanden wird. Erst der Blick dahinter erreicht dann das Unverhüllte, in seiner Erscheinung »bloß« bildhaft Gegebene. Bei Fichte dagegen gibt der Überstieg über das Für-uns des Absoluten in seiner Erscheinung hinaus zu seinem An-sich keinen Sinn. Freilich geschieht er auf gewisse Weise in der Vernunft, die das Unbegreifliche als unbegreiflich begreift. Aber gerade von diesem begreifenden Nicht-Begreifen her weiß sie sich verwiesen in die Erscheinung; Vernunft, die sich darin vollendet, zu vernehmen. Dass Fichte bisweilen als Mystiker der docta ignorantia und unio mystica dargestellt wird, der das Fahrenlassen allen Erkennens und das Eingehen in die Unbegreiflichkeit des Absoluten propagiert, beruht schlicht auf einem Missverständnis seines Begriffes von Unbegreiflichkeit. 48 Was er verlangt, ist das Eintreten in den Erscheinungsprozess, wie er sich in der Gemeinde sittlicher Iche vollzieht; dort und nur dort wird sich zeigen, wie Gott ist. 49 Die Versenkung in seine unbegreifliche Einheit »In omnibus faciebus videtur facies facierum velate et in aenigmate. Revelate autem non videtur, quamdiu super omnes facies non intratur in quoddam secretum et occultum silentium, ubi nihil est de scientia et conceptu faciei. Haec enim caligo, nebula, tenebra seu ignorantia, in quam faciem tuam quaerens subintrat, quando omnem scientiam et conceptum transilit, est, infra quam non potest facies tua nisi velate reperiri. – In allen Angesichten wird das Angesicht der Angesichte verhüllt und im Rätsel gesehen. Unverhüllt aber wird es nicht erblickt, solange man nicht, über alle Angesichte hinaus, in eine Weise von einsamem und verborgenem Schweigen eintritt, wo es kein Wissen und keinen Begriff eines Angesichtes gibt. Das Dunkel (caligo), der Nebel, die Finsternis oder Unwissenheit, in die der gerät, der Dein Angesicht sucht, wenn er alles Wissen und jeden Begriff übersteigt, ist nämlich derart, daß man Dein Angesicht diesseits nur verhüllt finden kann« (De visione dei, c.6). 48 Klarstellendes dazu bei Janke 1994 im Kapitel »Religion – Mystik. Fichtes Abwehr des Mystizismus« (83–96). 49 »Das Göttliche ist in der Form des Sittlichen, u. anders nicht« (Diarium-II, GA II/ 16, 218). »So weist die WL aus sich selbst heraus, sich setzend nur als Mittel der Klarheit, u. damit der Ruhe, u. der Festigkeit« (WL-1810, GA II/11, 380). »Aus diesem Bilde herausgehend endet sie: nun gehe hin u. werde das Urbild. Wissenschaft hättest du: nun werde Weißheit« (WL-1811, GA II/12, 299). »Es ist drum klar, daß sie, u. der Begriff des absoluten, nur dienen zur Klarheit der Erkenntniß, und daß sobald diese errungen, sie wieder verweisen muß an das Leben, u. an den Siz [!] des wahren Lebens, den Willen, der durch sie theils klar erkannt, und geheiligt wird, theils vollkommen möglich gemacht wird. Wer die WL erkannt hat, ist in alle Bedingun[gen] 47
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Bild bei Fichte
ist dagegen nicht mehr, sondern weniger. Die dann entspringende Verdunkelung ist nicht ein vom »überleuchtenden Leuchten« geblendetes Sehen, 50 sondern tatsächlich ein Nicht-Sehen, das daraus resultiert, dass man sehen will, was für uns nicht an-sich zu sehen ist, bzw. nicht anders zu sehen ist, als wie es sich zu sehen gibt. 51 Damit steht das Bild in der Fülle seiner Möglichkeiten und in einer äußersten Dignität: Nicht bloß Thema, sondern Prinzip der Philosophie; nicht Kopie, sondern exakte Versichtbarung von Unsichtbarem; Dasein, nicht Stellvertreter. Ist damit das Denken des Bildes vollendet? So könnte man meinen, wäre es nicht um einen inakzeptablen Preis erkauft worden: den Preis der Freiheit des Individuums.
4.1.3
Grenze des Fichteschen Bildbegriffs
Fichte gelingt eine trennscharfe Abgrenzung von Sein und Bild dadurch, dass er dem Bild alles Sein aberkennt – »nicht ein Minimum von Seyn selbst.« 52 Nur indem er Sein und Bild als »absolute[n] Ge-
eingesezt des Willens; u. es fehlt eben nur am Willen noch selbst. – . Sie soll eine Wegbahnung zur Sittlichkeit seyn: eine klare Kunst des sittlichwerdens; u dies ist ihre höchste Bestimmung« (WL-1812, GA II/13, 178). Die »aus dem leeren Schattenbegriffe von Gott unbeantwortliche Frage: Was ist Gott, wird hier so beantwortet: er ist dasjenige, was der ihm Ergebene, und von ihm Begeisterte tut« (AzsL, GA I/9, 111). 50 De visione dei, c.6 (Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung, Bd. IV, 70). 51 Einen anderen Menschen kann man aufgrund seiner Leiblichkeit auch sehen, wenn er sich nicht zeigen will, nicht aber das nur von sich umfasste Absolute. Hier gibt es kein Vorliegen auf einer gemeinsamen Ebene, sondern schlechthinnige Entzogenheit in seine Aseität, deren souveränes Sich-Zeigen eben deshalb der einzige Ort ihrer Anschauung ist. 52 WL-1812, GA II/13, 58. »Ausser dem absoluten ist ursprünglich kein Seyn: u. in ihm ist durchaus kein Wandel, oder Werden, es kann drum auch nicht nochmals ein Seyn von ihm ausgehen, u. sich mittheilen, soll feststehen, u. wahr bleiben. Es bleibt drum nur […] übrig, daß in dem Faktischen Seyn, durchaus weder ursprüngliches noch mitgetheiltes u. abgeleitetes Seyn sey, sondern eben durchaus kein Seyn. – So ist der Widerspruch vermieden. Und so ist denn dies die einzige richtige Weise der Lösung« (WL-1811, GA II/12, 167). »Das Seyn [ist] der Form nach geständig in sich selbst: ganz, gediegen, u gehalten. Die Erscheinung desselben ist dies durchaus nicht, sondern es ist das Seyn, ausser dem Seyn. Es ist dies durchaus nicht: sondern es erscheint […] mir in ihm so: als Bild, Schema, u s f. Absoluter Gegensatz« (ebd.; vgl. WL-1810, GA II/11, 323).
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Fichte
gensatz« ansetzt, meint Fichte, denken zu können, dass es außer dem Sein noch etwas geben kann. Dies aber hat unmittelbare Folgen auf sein, neben dem Bild, zweites Lebensthema: die Freiheit, die am Anfang seines Denkweges über allem stand. Sie kann es als reale unter den Vorzeichen des Fichteschen Bildverständnisses nicht geben. Fichte wird in den letzten Berliner Jahren in der Frage der Realität der Freiheit hin- und hergerissen von seinem immer wieder aufkeimenden Bestreben, ihrer anscheinenden Prinziphaftigkeit Realität zuzusprechen und der radikalen Konsequenz seines Bilddenkens, das letztlich eine Leugnung dieser Realität erzwingt. 53 Was sich in der Erscheinung zeigt, ist das Ringen und Entscheiden der Freiheit. Es gilt aber zu begreifen, dass nicht sie ringt, sondern dass sich in ihr und durch sie ein anderes Leben vollzieht, und dass ihr Ringen nichts mehr als der Index eines Geschehens ist, das sich von alleine – und ganz unbeschadet dieses Ringens – durchsetzt. 54 Sosehr sie sich abwägend, ringend und entscheidend erscheint, so wenig liegt diesem erscheinenden Entscheiden irgendeine tatsächliche Eigenaktivität zugrunde. Selbst und Freiheit verschwinden. Im Streit seiner zwei Lebensthemen – Freiheit und Bild – verliert die Freiheit. So wie in Jena die absolute Realität der Freiheit keinen originären Platz für Gott erkennen ließ, und so zum Atheismusstreit führte, so wird die Wendung zum Absoluten zur Grabstätte für die Realität der Freiheit. Damit ist die Schwäche der Bildphilosophie Fichtes benannt, sie ist die Kehrseite ihrer Stärke: Wenn wirklich alles Sichtbare Bild sein soll, dann darf es nichts sein als Sichtbarkeit eines anderen und damit weder dieses noch realiter es selbst. – So zumindest, wenn Einheit
Dieses immer wieder vergebliche spekulative Ringen um die Realität der Freiheit habe ich detaillierter nachgewiesen in Heereman 2012, 256–259; sowie 2010, 128– 136. Vgl. auch Fuchs 2006 u. Baumanns 1990, 371 ff. u. 411. 54 »Weil das Leben des Begriffs erscheint als formales Leben durch sich, als Vermögen, u. so als frei, zu wollen oder nicht, so erscheint der Begriff als ein Postulat eines Willens, als ein formales Gesez, oder als ein soll. Es leuchtet ein, daß dies die eigenste Ansicht der Sittenlehre vom Begriffe seyn muß, indem diese eben Freiheit voraussezt, u. diese unter ein Gesez bringt. Es ist gezeigt, daß diese Ansicht nicht die der Wahrheit sondern bloß der Erscheinung ist; indem der Begriff, wenn er in der That erscheint, nicht leben, u. wirken kann, oder auch nicht, sondern eben wirkt, u. nur im Bilde seines Wirkens sich hingestellt, als ob er dies auch nicht hätte können, um sein absolutes Leben zu bilden« (Sittenlehre 1812, GA II/13, 334 f.). 53
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Bild bei Fichte
und Leben die höchsten Dimensionen des göttlichen Wesens und seines Daseins sind.
4.1.4
Exkurs: Zur Frage der veränderten Lehre beim sogenannten »späten« Fichte
Günther Zöller hat 2010 in einem Artikel zu Fichtes »Anti-Kreationismus« das Problem der Erscheinungsphilosophie folgendermaßen analysiert: »In radikaler Umkehrung des schöpfungstheologischen Übergangs von Nichts zu Etwas, ist der Übergang vom Absoluten zur Erscheinung bei Fichte der Schritt von Etwas zu Nichts, den er selbst in die Formel faßt: ›Das Nichts aus dem Was, der Realität.‹ (GA II/10, 194) Fichtes Anti-Kreationismus ist also nicht nur die Verneinung des Kreationismus, sondern dessen Umkehrung, die These von der Anti-Kreation. Indem das Absolute in Erscheinung tritt, wird es umkreiert in ein (nichtiges) Bild. An die Stelle von Theogonie und Kosmogonie tritt die Anti-gonie, um nicht zu sagen die A-gonie. Rückübertragen auf Fichtes Logoslehre würde das heißen: Im Anfang war das Nichts, und das Nichts war beim Sein, und das Sein war das Nichts. Dann hätte F. H. Jacobi doch nicht ganz Unrecht damit gehabt, der Wissenschaftslehre, die er nur in ihrer frühen Gestalt kannte und deren spätere Darstellungen er nie kennengelernt hat, schon 1799 außer der Diagnose der [sic] Atheismus auch die des ›Nihilismus‹ zu stellen«. 55 Damit hat Zöller einerseits mit einer Klarheit, die in der häufig mit Fichtisieren sich zufrieden gebenden Fachliteratur selten begegnet, das entscheidende Problem der Fichteschen Erscheinungslehre benannt. Andererseits bezieht er sich hier auf die WL 1807 (»Die Königsberger«), und die lässt sich nicht einfachhin auf den gesamten späten Fichte extrapolieren. 56 Denn, was der letzte Fichte um jeden Zöller 2010, 54. Zöller selbst lässt die Frage, inwieweit der Vorwurf des Nihilismus wirklich zuträfe, hier offen. Sie wäre im »Rekurs auf Fichtes weitere Darstellungen der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1810–14 zu erörtern« (ebd.). Was allerdings das Aufgehen des Absoluten in der Erscheinung angeht, hat er schon in vorigen Veröffentlichungen sein Urteil auch bzgl. des letzten Fichtes gefällt: »Statt in dualistischer Manier zwei Leben, ein göttlich-absolutes und ein menschlich-bewußtes, anzusetzen, veranschlagt die letzte Wissenschaftslehre die doppelte, komplementäre Bestimmtheit des einzig uns bekannten Lebens, das sowohl durch die ›Verstandesform‹ als auch durch das
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Fichte
Preis verhindern wollte, war ein Eingehen Gottes in den Erscheinungsprozess (gleich ob »Theo-«, »Kosmo-«, »Anti-« oder »A-«, es ist einfach keine »-gonie« Gottes, die man hier bei Fichte konstatieren könnte). Auch wenn er die Selbstbestimmtheit des Durch-sich der Erscheinung nicht aufrechterhalten konnte, hat er ihre Realität im Sinne eines zwar weder individuellen noch freien, aber eigenen Lebensvollzuges mit großer Entschiedenheit verteidigt. Deshalb stimmt weder, dass Gott hier im Nichts unterginge, noch, dass es einfachhin nichts sei mit der Erscheinung. Fichte hat das Prinzipiierungsverhältnis, das hier zwischen Absolutem und Erscheinungsleben herrscht, mehrfach auf den Begriff gebracht: »Ich frage, was sezt sie [die Kraft zur Sich-Erscheinung] in Thätigkeit; das göttliche Leben […]? Durchaus nicht, sondern sie selbst durch, aus, von sich, sezt sich in Thätigkeit: u. nun ist sie allerdings abgeschieden: in dieser eignen Thätigkeit, u. dem Resultate. Ist sie nun drum ein zweites absolutes[?] Nein […]. wie vermag sie denn dieses Ausscheiden? Lediglich durch Göttliche Kraft, nicht daß diese sie ausschiede, sondern daß vermittelst derselben, u. dadurch, daß sie das ist, sie selbst sich auszuscheiden vermag«. 57 Das Prinzip ist »Entwiklung mit göttlicher Kraft; doch nicht mehr sie selbst: daß sie eigne seyn könne, ist göttlich: wie sie es wirklich ist, nicht mehr«. 58 »Die Erscheinung ist ein reines absolutes Vermögen realer Schöpfung: u. was sie diesseit[s] dieses Vermögens ist, ist sie nicht durch Gott, sondern durch sich selbst. Dieses reine absolute Vermögen selbst aber durch sich etwas zu seyn, ist sie durch Gott; er selbst sezt sie frei, u. selbstständig ab«. 59 – Was bei Fichte von dieser Selbständigkeit bleibt, ist nicht der freie Vollzug des Vermögens (es ist ja nur in individuo sich seiner bewusst und dort, wie gezeigt, nicht realiter frei), immerhin aber noch die Eigenrealität eines zwar restlos theonom gesteuerten, aber eben doch – als Leben, nicht als freies Selbst! – selbst seienden Lebens. Dies ist der Punkt, wo sich sein System einem Pantheismus versperrt, und der mir mithin ein Proprium der universitären, letzten Berliner Jahre (1810–1814) zu sein scheint. Denn in ›absolute Lebensgesetz‹ bestimmt ist. Für den letzten Fichte ist das Leben derart ›verschmolzen‹ mit der Verstandesform, dass es außerhalb derselben allenfalls den Status eines Gedankengegenstandes oder Noumenons hat« (Zöller 2003, 264 f. – vgl. zur Diskussion dieses Ergebnisses im Hinblick auf Diarium III: Heereman 2010, 141 f.). 57 WL-1810, GA II/11, 325. 58 Ebd., 326. 59 WL-1811, GA II/12, 182; vgl. 179.
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Bild bei Fichte
der vorangehenden Phase, die vom Durchbruch zum Absoluten geprägt war, begegneten durchaus Formulierungen einer unmittelbaren Einheit von Sein und Dasein: »das absolute Seyn stellt in diesem seinem Daseyn sich selbst hin, als die absolute Freiheit und Selbständigkeit, sich selber zu nehmen, und als diese Unabhängigkeit von seinem eignen innern Seyn; es erschafft nicht etwa eine Freiheit außer sich; sondern es Ist selber, in diesem Theile der Form, diese seine eigne Freiheit außer ihm selber«. 60 Vielleicht lässt sich dieser Unterschied, der die Epoche, die gemeinhin als späte zusammengefasst wird, in zwei teilt, am Klarsten an folgendem Beispiel zeigen: Fichte spricht in Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 61 davon, dass es – bei aller historischen Bedeutung Jesu für eine Entdeckung des wahren Gottesverhältnisses – keine prinzipielle Mittlerfunktion seiner gebe. »Der reine Christ kennt gar keinen Bund noch Vermittelung mit Gott, sondern bloss das alte, ewige und unveränderliche Verhältniss« – und nun die entscheidende Formulierung – »dass wir in ihm leben, weben und sind«. 62 Sieben Jahre später wird ein solcher Pantheismus rundheraus verworfen: »Eins ist und ausser diesem Einen ist schlechthin nichts. […] Nicht damit verwechselt Sätze, denen die W.L. eben widerspricht, und die sie als den Grund aller Irrthümer u. Verworrenheit aufstellt: hen kai pan. alles in dem Einen. – . Alles: die Summe des Mannigfaltigen? Wer sagt denn, daß in dem Einen ein Mannigfaltiges sey, wer könnte es verstehen: u. vollends ein geendetes beschränktes Mannigfaltiges: eben der Sp[inozische]. Widerspruch«. 63 Besonders deutlich wird dies in der Wiederaufnahme der Formel des Lebens AzsL, GA I/9, 124. Vgl.: »So lange der Mensch noch irgend etwas selbst zu seyn begehrt, kommt Gott nicht zu ihm, denn kein Mensch kann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz, und bis in die Wurzel, vernichtet, bleibet allein Gott übrig, und ist Alles in Allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott. Diese Selbstvernichtung ist der Eintritt in das höhere, dem niedern, durch das Daseyn eines Selbst, bestimmten, Leben, durchaus entgegengesetzte Leben« (ebd., GA I/9, 149 f.). Es gilt, »dass nur durch absolute Intelligenz sich zur Gottheit erhoben werde, oder vielmehr, dass nur die absolute Intelligenz selber der absolute Rükblick der Gottheit auf sich selbst, und so ihr Daseyn selber sey« (Die Principien der Gottes- Sitten- und Rechtslehre [1805] II/7, 432). 61 17 Vorlesungen gehalten in Berlin 1804/05, im Druck erschienen 1806, GA I/8, 189–396. 62 GA I/8, 275. 63 WL-1812, GA II/13, 56. 60
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Fichte
und Webens in Gott: »Alles in dem Einen, alles Eins. – . Allerdings, nemlich in der Einen Erscheinung. – . In ihm leben, weben, sind wir: ja, in seiner Erscheinung: nimmer in seinem absoluten Seyn«. 64 Zumindest dies scheint mir ein eklatanter Unterschied zwischen den Jahren 1804–1808 und 1810–1814 zu sein, die zudem biographisch klar abgegrenzt sind. Zwischen beiden liegt eine klare Zäsur in Gestalt der langen Erkrankung Fichtes, die seine Arbeit nahezu gänzlich zum Erliegen brachte (Juli 1808 – Ende 1809), und auch die Lebensumstände sind äußerst verschieden. Dort der Privatgelehrte, der seine neuen Ausarbeitungen der Wissenschaftslehre vor zwar elitären, aber kleinen 65 Zirkeln präsentiert, während er sich nur mit seinen populärphilosophischen Vorlesungen bzw. deren Druck öffentlich Gehör verschaffen kann, hier der frisch berufene Professor, und zwischenzeitliche Rektor, an der neugegründeten Berliner Universität. 66 Sowohl biographisch, wie formal, wie vor allem und am wichtigsten inhaltlich, gibt es derartig klare Unterschiede, dass man wirklich damit aufhören sollte, die zweite Werkhälfte Fichtes (1804–1814) über den Leisten einer »späten« Lehre zu schlagen. Wenn man einen solchen Unterschied in der Spätphilosophie ansetzt, und zudem die Jahre des Suchens nach dem Atheismusstreit bis zum Durchbruch zum Absoluten 1804 eindeutig von den Jenaer Jahren abgrenzen muss, denen ihrerseits schon ein tastendes Schaffen Fichtes vorausgeht, dann hätte man einen jungen, einen frühen, einen mittleren, einen späten und einen letzten Fichte. Ob diese UnEbd., 60. In der Regel 20–50 Hörer, die durchweg Akademiker, teilweise auch Gelehrte, kaum je aber Philosophen waren. Deren Fähigkeit zur Weitergabe der Wissenschaftslehre dürfte entsprechend eingeschränkt gewesen sein. 66 Dabei hat die letzte Zeit für die Erforschung des in ihr Gedachten den großen Vorteil, dass Fichte hier erstmals seit seiner Demission in Jena wieder dauerhaft akademisch arbeitet. Dies führt zu einem ungeheuren Konvolut von propädeutischen, erstphilosophischen und angewandten Arbeiten, die zudem abgestimmt sind auf eine studentische Hörerschaft (eine Aufstellung der Vorlesungen ab Dezember 1809 findet sich bei Lauth 2003, XX). Das aber heißt, wir müssen hier nicht wie in den Jahren 1800–1807 hoch komplexe, »systematisch isolierte« (Zöller 2010, 257) Ausführungen zur Wissenschaftslehre mit populärphilosophischen Arbeiten in Verbindung bringen, die als hermeneutischer Schlüssel für die Wissenschaftslehre in ihrer Eignung umstritten sind, sondern bekommen von Fichte selbst auf wissenschaftlichem Niveau diejenige Hinführung, Durchführung und Anwendung, die er dem Fachpublikum zukommen lassen wollte. 64 65
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Liebe bei Fichte
terteilung bzw. ihre Benennung praktikabel ist und sich durchsetzen kann, sei hier nicht entschieden. Stoßrichtung dieses Exkurses sollte bloß sein, die zweite Hälfte des Fichteschen Schaffens nicht mehr umstandslos als Einheit zu deklarieren, nur weil hier wie dort von Gott und Erscheinung die Rede ist.
4.2 Liebe bei Fichte Die Rekonstruktion des Bildbegriffes lässt natürlich kaum erwarten, dass Fichte nun die Liebe als personal-dialogisches Geschehen begreift. Dass sie – wie in jeder großen Philosophie – auch bei Fichte eine Rolle spielt, zeigt erneut, wie wenig der Terminus mit einem Wollen des Wohles des Anderen um seinetwillen verbunden sein muss. Auch wenn damit immer etwas gemeint ist, was sich als ein in irgendeiner Weise positiv gearteter Bezug-auf darstellt, kann dessen innere Textur diametral verschieden gedacht werden. Mit Fichte, dessen Bildbegriff an Stringenz alle bisherigen in den Schatten stellt, haben wir nun zugleich den Denker, dessen Liebesbegriff am wenigsten mit der Güte zu schaffen hat. Er begegnet an zwei Systemstellen seines Werkes. 1) In der Phase von 1804–1806 entwickelt er in der Anweisung zum seligen Leben 67 die Liebe als diejenige gefühlsmäßige Erscheinung, in der sich die Verbundenheit von Sein und Dasein im Dasein bekundet. Es geht also um die Liebe zu Gott. 2) Sowohl in der frühen Sittenlehre (1798) als auch in derjenigen von 1812 verhandelt er sie als Menschenliebe, in der der Andere als Gegenstand sittlichen Handelns betrachtet wird. Hier steht die spätere Durchführung im Fokus.
4.2.1
Gottesliebe
Wir hatten oben gesehen, wie Gott bei Fichte ins Denken kommt. Er steht nicht als erste Intuition oder anzunehmende Voraussetzung an der Spitze des Systems. Vielmehr erreicht Fichte das Absolute aufsteigend. Das Wissen befragt sich auf seine Möglichkeitsbedingungen und findet im Fluchtpunkt dieses Fragens, dass alle wissensimmanen-
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In Berlin gehalten und erschienen 1806, GA I/9 [Abk.: AzsL].
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Fichte
ten Bedingungen, die gegeben sein müssen, 68 eine Bedingung haben, die nicht mehr immanent sein kann. Denn das Wissen ist durch und durch und in jedem seiner Vollzüge Behauptung eines Seins außerhalb seiner, vor dem es sich als selbst Seiendes vernichtet, weil es von sich weiß, nichts anderes zu sein als dessen Sichtbarkeit. Dies ist es schon in seiner untersten Stufe als Gegenstandswissen. Der Weg der Wissenschaftslehre besteht darin, all diese Seinsansprüche zu hinterfragen, und es scheint zunächst, als fände sie hinter jedem Gewussten wieder nur ein Wissen: überall gewusstes Wissen, statt gewusstes Sein (schon beginnend mit dem Gefühl, das Fichte als Fühlen eines Fühlens bezeichnet). 69 Und so geht es aufsteigend immer weiter: von der Natur zur Person, zum allgemeinen einen Leben, zum Sittengesetz, das noch einmal in sich als Bild bezeichnet wird, insofern es im Modus der intellektuellen Anschauung gegenwärtig ist. Über diesem gibt es kein höheres Bild, weil alles andere Sichtbare sich als Bedingung der Möglichkeit dieser Erscheinung des sittlich Guten ausweist. 70 Ein Bild – gleich welches – setzt, dass es etwas gibt, das radikal nicht Bild-von, sondern selbst Sein ist. Aber nur ein Bild löst diesen Anspruch ein: das Sittengesetz. In seiner absoluten, jede andere Wirklichkeit richtenden Erscheinung, zeigt es, besser zeigt sich: Gott. Alles andere sind Sichtbarkeitsebenen dieser Erscheinung: So ist die sinnliche Welt ohne jeden wahren Gehalt außer demjenigen, dass sie die Leinwand für dasjenige abgibt, was die Gemeinschaft der Iche in sie hinein bildet. Die Gemeinschaft der Iche ist ohne jeden eigenen Gehalt – außer dem, ihrerseits Medium zu sein für das Sittengesetz, das sich durch sie in der sinnlichen Welt zeigen will; dieses wieder ist nichts an-sich, sondern alles als Medium des Göttlichen in seinem Erscheinen. Soll Gott aber in diesem Erscheinen nicht aufgehen und damit als allein von sich umfasste absolute Wirklichkeit verschwinden, muss das Dasein, wie oben gezeigt, ein eigenes Leben sein. Dies prinzipiierend stößt Gott, wie es die Anweisung zum seligen Leben for-
Bedingungen, die Fichte in immer neuen Begrifflichkeiten erringt, und auf eine fünffache Struktur bringt, die sich in Unendlichkeit fortzeugt, um immer mehr dem Bild des Absoluten zu entsprechen. Vgl. Schmid 1995, 108–116; Paimann 2006. 69 Diesen notwendigen, aber nicht hinreichenden Prozess seiner Philosophie hat Fichte im 2. Buch der Bestimmung des Menschen dargestellt (GA I/6, 215–252). 70 Vgl. Heereman 2010, 119–126. 68
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Liebe bei Fichte
muliert, sein Dasein aus sich heraus und gibt ihm Selbststand. 71 Aber, fragt Fichte nun weiter, was hält die Erscheinung in ihrem Selbststand mit Gott zusammen? Das genau ist der Ort, an dem in der mittleren Phase seines Schaffens die Liebe ins Spiel kommt. Das Dasein bildet eine Welt und in diese Welt hinein sich selbst als handelnd und eine Welt der Freiheit erbauend. Die Einheit mit dem Sein zerbricht im Moment der Reflexion. In der nämlich ergreift sich das Dasein als Dasein, das Wissen als Wissen, und scheidet sich damit vom Sein (denn – zur Erinnerung – Wissen sagt immer: Es ist so, wie ich weiß, aber was ich weiß, bin nicht ich): Des Menschen »Reflexion nur ist es, welche dieses sein eignes, keinesweges ein fremdes Seyn ihm erst entfremdet, und in der ganzen Unendlichkeit zu ergreifen sucht dasjenige, was er selbst, immer und ewig und allgegenwärtig, ist und bleibt.« 72 Wie aber kommt nun – derart in die Mannigfaltigkeit gebannt – das Dasein zu seiner Einheit mit dem Sein? Des »Seins Tragen und Halten seiner Selbst in dem Dasein, ist, seine Liebe zu sich; die wir nur nicht als Empfindung zu denken haben, da wir sie überhaupt nicht zu denken haben«. 73 Diese Liebe tritt im Dasein neben der Reflexion als Gefühl zutage: »Das Eintreten dieses seines sich selbst Haltens neben der Reflexion, d. h. die Empfindung dieses seines sich selbst Haltens, ist, unsere Liebe zu Ihm«, bzw., wie Fichte sich beeilt zu sagen: »nach der Wahrheit, seine eigne Liebe zu sich selber, in der Form der Empfindung; indem wir ihn nicht zu lieben vermögen, sondern nur er selbst es vermag, sich zu lieben in uns«. Dennoch er»Durch sein eigenes – Dasein, und zufolge des innern Wesens desselben, stößt Gott zum Teil, d. h. inwiefern es Selbstbewußtsein wird, sein Dasein aus von sich, und stellt es hin, wahrhaftig selbständig und frei« (66). Bei dieser Gelegenheit: Die Analyse der Freiheit bei Fichte ist deshalb so schwierig, weil es neben der Depotenzierung der Freiheit zur bloßen Erscheinung des Lebens des Absoluten immer wieder auch genau so entschiedene Behauptungen von Freiheit und Selbststand gibt. Dies ist nur dann nicht selbstwidersprüchlich, wenn man folgenden Verstehensschlüssel anlegt: Wenn Fichte die Freiheit betont und stark macht, spricht er vom wirklichen Anschein der Wahrheit der Freiheit in der Erscheinung. Nur, wenn die Erscheinung sich in ihrer Freiheit erlebt, erfüllt sie ihr Wesen. Wenn er ihre Freiheit negiert, dann spricht er von der Wahrheit jenseits des Anscheins, und die besteht darin, dass die Freiheit, sosehr sie sich als sie selbst wähnt, in Grund und Boden Leben eines Anderen ist, und sie sich erst dann versteht, wenn sie diesen Realitätstransfer (an-)erkennt (bzw. korrekt formuliert: dieses Anerkennen in ihr vollzogen wird). 72 AzsL, GA I/9, 169. 73 Ebd., 166. 71
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Fichte
scheint sie eben als Liebe zwischen Dasein und Sein: »nicht die seinige, noch die unsrige, sondern diese erst uns beide zu zweien scheidende, so wie zu Einem bindende, Wechselliebe«. 74 Sie gibt der Reflexion das Materiale ihrer Welt 75, und treibt sie ins Unendliche über jedes Produkt hinaus von diesem zum nächsten. 76 Sie führt über die Welt der Reflexion hinaus zum Begriff Gottes 77 und gibt diesem seine Gewissheit. 78 Sie ist das Prinzip aller Sittlichkeit 79 und Quelle der Wissenschaft. 80 Zugleich aber lebt sie auf den unteren Standpunkten des Selbstund Weltverständnisses 81 als »Sehnsucht nach dem Ewigen«, 82 Ebd. »Dieser – Gehalt und Stoff der Liebe nun – ist es, welchen die Reflexion des Lebens […] zu einem stehenden, und objektiven Wesen macht« (ebd., 167). 76 Was »ist es, das die Reflexion nirgends stillstehen lässt, sondern sie unaufhaltsam forttreibt von jedem reflektirten, bei dem sie angekommen ist, zu einem folgenden, und von diesem zu seinem folgenden? Die unaustilgbare Liebe ist es, zu dem, der Reflexion nothwendig entfliehenden, hinter aller Reflexion sich verbergenden, und darum notwendig in alle Unendlichkeit hinter aller Reflexion aufzusuchenden, reinen und realen Absoluten; diese ist es, welche sie forttreibt durch die Ewigkeit, und sie ausdehnt zu einer lebendigen Ewigkeit« (ebd.). Siehe auch: Reden an die Deutsche Nation, GA I/10, 137 f. 77 »Was ist es denn, das uns hinausführt über alles erkennbare, und bestimmte Daseyn, und über die ganze Welt der absoluten Reflexion? Unsere, durch kein Dasein auszufüllende, Liebe ist es. Der Begriff tut dabei nur dasjenige, was er eben allein kann, er deutet, und gestaltet diese Liebe, rein ausleerend ihren Gegenstand, der nur durch ihn zu einem Gegenstande wird, von allem, was diese Liebe nicht befriedigt, nichts ihm lassend, als die reine Negation aller Begreiflichkeit, nebst der ewigen Geliebtheit« (AzsL, GA I/9, 167). 78 »Was ist es denn, das uns Gottes gewiß macht, außer die schlechthin auf sich selbst ruhende, und über allen, nur in der Reflexion möglichen, Zweifel, erhabene Liebe?« (Ebd.). 79 »Das Handeln ist gar nichts an und für sich selbst, und es hat kein eignes Prinzip; sondern es entfließt still und ruhig der Liebe, so wie das Licht der Sonne zu entfließen scheint« (AzsL, GA I/9, 169 f.). 80 In ihr erfasst sich die Reflexion als »Liebe des Absoluten«, dieses »als schlechthin über alle Reflexion hinausliegend« und wird dadurch fähig, »die Reflexion, die sich ihr vorher noch immer mit der Realität vermischte, rein auszuscheiden, und aufzufassen, und alle Produkte derselben an der Realität, erschöpfend aufzustellen, und so eine Wissenslehre zu begründen. – Kurz, die zu göttlicher Liebe gewordene, und darum in Gott sich selbst rein vernichtende, Reflexion ist der Standpunkt der Wissenschaft« (ebd., 168). 81 Fichte entwickelt in der Anweisung eine fünfgliedrige Matrix möglicher Standpunkte: 1) Naiver Realismus bezüglich der Existenz der Sinnenwelt wie der eigenen Person. 2) Legalismus. 3) Höhere Moral. 4) Religion. 5) Wissenschaft. Auf dem dritten Standpunkt vollzieht der Mensch rein seine Bestimmung, was er auf dem vierten 74 75
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Liebe bei Fichte
»Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden, und zu verschmelzen«, und damit als »innigste Wurzel alles endlichen Dasein [s]«, die »in keinem Zweige dieses Daseins ganz auszutilgen [ist], falls nicht dieser Zweig versinken soll in völliges Nichtsein«. 83 Als solche lässt sie den sinnlichen Menschen nirgends zu Ruhe kommen »als in seines Vaters Hause«. 84 Das sind tief reichende Beschreibungen der Liebe, aber in ihrer Wurzel bestätigt sich doch exakt das, was wir schon in der Bilduntersuchung gesehen hatten; was sich da als Ich und zwar als Gott liebendes Ich erfährt, ist nicht eigentlich ein solches, sondern ist hier die Weise, wie das Absolute sich zu sich selbst verhält. War bei Platon die bedürftige Liebe des Menschen zum Göttlichen der Dreh- und Angelpunkt (während die Liebe Gottes zu den Menschen nur eine in der Neidlosigkeit des Demiurgen anklingende Möglichkeit darstellte), und war bei Thomas dieser Liebe des Menschen zum Göttlichen die gütige Liebe Gottes begründend zuvorgekommen, so dass nun die Liebe Gottes zum Menschen sowie die Liebe des Menschen zu Gott behandelt werden musste (woraus sich sehr unterschiedliche Kennzeichen ergaben), so kann man beim mittleren Fichte das Kapitel einfach »Gottesliebe« nennen, ohne die Funktion des Genitivs angeben zu müssen: Gott ist zugleich Subjekt und Objekt der Liebe. Der Mensch ist für beides die Vermittlung: in ihm liebt Gott sich selbst. Festzuhalten ist noch, dass Fichte diese Konzeption des Verhältnisses von Absolutem und Erscheinung wieder fallengelassen hat. Die Gottesliebe begegnet in den letzten vier Jahren nicht mehr. 85 Wohl aber die Nächstenliebe, als Forderung der Sittlichkeit. Dazu nun.
Standpunkt als Erscheinung und Erscheinen Gottes versteht. Auf dem Standpunkt der Wissenschaft kann er die ganze Wirklichkeit in ihren notwendigen Strukturen als Erscheinung Gottes konstruieren. 82 Im Text kursiv. 83 AzsL, GA I/9, 59 f. 84 Ebd., 61. »So sehnen sie, und ängstigen, ihr Leben hin; in jeder Lage, in der sie sich befinden, denkend, wenn es nur anders mit ihnen werden möchte, so würde ihnen besser werden, und nachdem es anders geworden ist, sich doch nicht besser befindend; an jeder Stelle, an der sie stehen, meinend, wenn sie nur dort, auf der Anhöhe, die ihr Auge faßt, angelangt sein würden, würde ihre Beängstigung weichen; – treu jedoch wiederfindend, auch auf der Anhöhe, ihren alten Kummer« (60 f.). 85 Nur in der WL-1807, der »Königsberger«, taucht sie in dieser Form noch einmal auf dem Katheder auf (II/10, 167 f., 177 f.). In den faszinierenden privaten Reflexionen über Probleme der WL Seit dem 1. April. 1808. ringt Fichte ein letztes Mal mit dem
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Fichte
4.2.2
Nächstenliebe
Im Untersuchungszeitraum begegnet sie vor allem in der Sittenlehre von 1812. 86 Es geht um die Gemeinde der Iche. Der actus concentrationis et individuationis, in dem sich die Erscheinung im Gegenüber zur Welt als ihrer Verwirklichungssphäre auf einen konkreten Punkt »kontrahiert« um der Möglichkeit willen, auf »diesen durch die Kontraktion gegebenen Punkt zu reflektiren, und die von ihm aus mögliche Kausalität nach dem Gesetze der Bedingtheit zu berechnen«, 87 findet nicht bloß in einem Ich statt, sondern in einer Fülle von Ichen. Diese Vielheit ist der terminus a quo, der als Gegenteil der Einheit das Begreifen derselben ermöglicht. Das Wissen »muß sich begreifen als Eins, wie es in der That ist. Aber es muß selbst wieder begreifen sein Begreifen dieser Einheit: dieses als ein zusammenziehen des Denkens zur Einheit aus der Mannigfaltigkeit. Das Wissen muß drum, vor dem sich begreifen als Eins, u. als Bedingung dieses Begreifen[s][,] sich vorfinden, als ein mannigfaltiges von Ichen. Dieses Finden muß vollendet seyn: also als eine geschloßne Welt, ein System von Ichen«. 88 Weil die eine göttliche Erscheinung Gottes (das Sittengesetz) nur im Individuum da ist und wirkt, und weil sie nach dem Modus einer organischen Einheit ihrem Inhalt nach in je unterschiedlichen Manifestationen in den Individuen lebt, 89 ist der Einzelne fundamenGedanken (II/11, 201 f., 212, 216 f.), danach verschwindet er gänzlich. Vgl. Widmann 1982, 242 f. 86 GA II/13, 305–392. 87 TdB-1810/11, GA II/12, 98. 88 Rechtslehre 1812, GA II/13, 201. Janke: »Absolute Einheit verlangt absolute Mannigfaltigkeit und unendliche Vielheit als das gegenteilige Woher ihrer Genesis. Und wie nun das Großgewordensein am gegenteiligen Woher, dem Kleinseienden, erscheint, so zeigt sich das einig gewordene Selbstbewusstsein an der Mannigfaltigkeit wirklicher Iche« (1993, 372). Vgl. WLiU, GA I/10, 341 f.; WL-1812, GA II/13, 173; TdB-1813, GA II/15, 113 f. Vgl. Loewe 1976 [1862], 96; Schmid 1995, 113; Baumanns 1990, 332, 419 (dort ergänzt er, die Mannigfaltigkeit der »Natur-Iche« diene dazu, »als Ansatzpunkte des prinzipiierenden Wirksamwerdens dieser [einen] Ichheit dieses Prinzipiieren selbst zu pluralisieren«). 89 Denn die Vielheit der Subjekte bedeutet, dass jeder seinen ihm eigenen Anteil an dem einen Begriff hat, und diese Anteile als ein organisches Ganzes zusammenhängen: »Der absolute Begriff, d. i. der eigentl. qualitative Inhalt der Erscheinung, das unmittelbare wahrhafte reine Bild Gottes, tritt nicht heraus in einem Gesammtbewußtseyn, weil es ein GesamtBewußtseyn nicht giebt, sondern nur im individuellen Bewußtseyn! Wie verhält sich nun dieses Bild in jedem individuellen Bewußtseyn
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Liebe bei Fichte
tal auf die Gemeinde angewiesen und in diese gesendet: »Alle individuelle[n] Bilder sollen erhoben werden zur Einheit, u. Gemeingültigkeit, und nur aus dieser heraus soll gewirkt werden«. 90 Ohne den Austausch mit der Gemeinde kann er nicht zur Kenntnis des Sittengesetzes in seiner Gesamtheit kommen, 91 und in diesem Austausch kann er nichts hinzugewinnen ohne die Sittlichkeit der Glieder. Das aber heißt: erst durch die Sittlichkeit aller kann das Sittengesetz den aufgetragenen Zustand der Welt in seiner Gänze zur Kenntnis bringen. Und dies wiederum bedeutet: Bevor der Begriff materialiter weltbegründend werden kann, drängt er zur Durchsetzung der Möglichkeitsbedingung solcher materialen Weltbegründung: zur vollendeten Sittlichkeit aller Glieder der Gemeinde. 92 Die hiesige Welt gewinnt vor solchem Hintergrund allen folgenzum wahrhaftigen, u. einigen Bilde. Offenbar[,] es ist ein Bild jenes Bildes, u. zwar das jedes besondern Individuum von denen aller übrigen unterschieden nach dem Gesetze der organischen Einheit eines Begriffs aus allen. Wenn alle diese individuellen Bilder durch einander begriffen werden: ihre Einheit, u. ihre specifische Differenz aus Einem Princip klar wird, dann ist das allen zu Grunde liegende wahrhafte Bild begriffen« (Sittenlehre 1812, 364). TdB-1813 erklärt diese Verschiedenheit der Teilhabe an dem einen Begriff durch die Verschiedenheit der individuellen Standpunkte: Das individuelle Ich sieht »die Welt an aus seinem Standpunkte, u. dieser Standpunkt giebt ihm eine Ordnung der Auffassung der Welt, die nur ist für diesen Standpunkt, u. durchaus für keinen andern: jeder hat seinen besondern. Da nun das Ideal sich anschließt an die einem jeden gegebne Ordnung und diese fort bestimmt, so ist insofern klar, daß schlechthin in jedem das Ideal sich anders gestalte, indem eben die aus seinem Standpunkte fließende gegebene Ordnung ja ein Glied der Bestimmung ist; daß drum insofern jeder habe sein eignes Ideal« (II/15, 120). 90 TdB-1813, GA II/15, 120. 91 »Weit davon entfernt […] einfach die ›Faktizität‹ des Wissens vorauszusetzen […], deduziert Fichte als Möglichkeitsbedingung absoluten Wissens aus der ursprünglichen unbedingten Evidenz des Wissens die Notwendigkeit von intersubjektiver Kommunikation in einer Radikalität, zu der kein Sozialtheoretiker vorzudringen imstande ist, der nicht die Herkunft individueller Freiheit aus dem Erscheinen des Absoluten thematisiert« (Verweyen 1975, 258). 92 Von dieser ist der Sittliche im Bezug sowohl auf die gelingende Umsetzung seiner Erkenntnis als auch auf die vollständige Kenntnis der hiesigen Anforderung des Begriffes abhängig: »Er, im innern vollendet, u. selbstständig durch seinen absoluten Willen, recht zu thun, ist im äussern bedürftig, u. abhängig vom ganzen Menschengeschlechte. Ihrer sittlichen Bildung bedarf er; jeder Mangel derselben betrübt ihn innig, jede Erscheinung derselben freut ihn, als befriedigend sein innigstes Bedürfniß« (SL 1812, GA II/12, 375). Der Vorwurf der Verhinderung von Sittlichkeit »trift durchaus nicht die Natur: diese lässt den Menschen immer frei: sondern die Gesellschaft. Freier Wille andrer schlie[s]st die Freiheit in Fesseln« (Diarium-I, GA II/15, 255). »Wäre nur Natur, so wäre die Sache durchaus einfach« (ebd.).
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Fichte
den Welten gegenüber die Einzigartigkeit, dass sie die Bildungsstätte des sittlichen Willens ist. Es wird in ihr noch nicht der Weltzustand gefordert, der der Abdruck des Begriffes wäre, sondern die Vollendung des Wissens um den Begriff: »Das gegenwärtige Leben ist, Vorbereitung; es ist in ihm gar nicht gegeben der eigentliche weltschöpferische Begriff, sondern es ist nur aufgegeben sein Bild. Nicht das Objekt ist aufgegeben, sondern lediglich die Bildung des Subjekts zum Werkzeuge«. 93 Kurz: Der Wille des Begriffes ist »hienieden […] die Sittlichkeit aller, u. die Mittel dazu«. 94 Gefordert wird damit »Liebe, allgemeine Menschenliebe«. 95 Nun hat sich der sittliche Mensch ja schon von seiner Person als einem Selbst verabschiedet, indem er sich in der Preisgabe allen Eigenwillens als das reine Durch des Erscheinens Gottes begreift. Ebenso wenig kann er natürlich den Nächsten als personales Selbst auffassen. Die Nächstenliebe geht auf das Werkzeug-Sein der Anderen und ist der innige und tätige Wille, dass sich dieses in ihnen realisiere. Der Sittliche, in sich vollendet, bleibt doch nach außen hin bedürftig, und er strebt nach dem Gut, das ihm fehlt: die Sittlichkeit aller. 96 Diese Liebe gilt jedem, und sei er noch so unsittlich, denn sein Bestehen belegt seine Bestimmung. 97 Dabei will sie in all ihrem Wirken die Sittlichkeit des Anderen nie anders als auf sittliche Weise, d. i. so, dass sie aus Einsicht und – dem inneren Wahrnehmen nach – frei entsteht. »Man liebt das, in Beziehung auf welches u. um dessen Willen man Alles will, was man will, das stehende, u. bleibende GrundObjekt unsers Willens, was drum alles unser Denken u. Wollen allgegenwärSittenlehre 1812, 359. Ebd., 380. »Mit Klarheit Klarheit wollend. – . Alles andere will mechanisiren: ich will befreien« (Diarium-I, GA II/15, 295). 95 Sittenlehre 1812, 373. 96 »[…] und vermittelst derselben die Seeligkeit aller« (ebd.). 97 »Er gibt drum keinen auf der menschl. Angesicht trägt, wie er auch erscheinen möge. Solange die Natur einen duldet im Leben, die ja der Ausdruk des Begriffs ist, solange duldet er ihn, u. glaubt, u. hofft« (ebd., 374). Von hierher ergibt sich auch – nicht als ein Bürgerrecht, welches stets auf Gegenseitigkeit ruht, sondern als ein aus der allgemeinen Pflicht resultierendes Menschenrecht – das Verbot der Tötung auch von Schwerverbrechern: »Also, sein Menschenrecht, das ihm zwar nicht durch sein Recht [welches er durch seinen Vertragsbruch verwirkt hat], wohl aber durch die Pflicht aller andern zu Theile wird, ist zu schonen. – Was sagt dies: er kann frei, u. dem zufolge sittlich werden. Sein Leben ist dazu die Bedingung; also sein Leben ist zu schonen. […] Die Lebensstrafe ist in keinem Falle zuläßig« (Rechtslehre 1812, GA II/ 13, 277). 93 94
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Liebe bei Fichte
tig uns vor den Augen erhält. Dies ist bei dem unsittlichen sein Ich: beim sittlichen die gesammte Menschheit, und ins besondre, diejenigen Glieder derselben, mit denen er in Beziehung kommt, für die er schon gehandelt, u. gewirkt hat, u. sie in seinen 98 bestimmten Planen umfaßt: der Nächste, um dies mit einem biblischen sehr paßenden Ausdruke zu bezeichnen.« 99 Daraus ergibt sich aber nicht, dass dem Mitmenschen als einem Selbst zu dienen wäre. Ihm als einem Selbst hieße: ihm als einem Anderen, weil Selbstsein bedeutet, niemals und unter keinerlei Hinsicht ein Anderer zu sein als eben man selbst und damit radikal ein Anderer zu jedem Selbst, das nicht man selbst ist. Dafür kann es bei Fichte keinen Raum geben, weil es letztlich individuelle Personen nicht gibt, und so heißt es folgerichtig: »Auf diesem Gebiete thut überhaupt keiner etwas für den andern, indem auch keiner etwas für sich thut. Die Individuen sind da garnicht da.« 100 »Iche ausser ihm werden ihm solche Objekte (…) lediglich, inwiefern sie als unsittlich, und nur in dieser Rüksicht mit einem Selbst begriffen werden, u. zur Sittlichkeit gebildet, d. i. das Selbst an ihrem Platze in der gesamten Erscheinung ausgetilgt werden soll«. 101 Fichte wird zu Recht als Begründer der philosophischen Intersubjektivitätstheorien angesehen. Hier aber zeigt sich, dass er seinem Sujet letztlich nicht gerecht geworden ist. Das Gespräch ist am Ende immer nur ein Selbstgespräch der Einheit unter einer Fülle von Masken. Ein Wort noch zur Aufforderungslehre, aufgrund derer Fichte – trotz seines schwachen Personbegriffs – als Vater der Interpersonalund Dialogphilosophie gilt. 102 Sie tritt als Interpersonalitätsableitung Gemeint ist wohl: »seinem«. Sittenlehre 1812, 373. 100 Rechtslehre 1812, GA II/13, 215 – mit Bezug auf den Standpunkt der Sittlichkeit. 101 Sittenlehre 1812, GA II/13, 370. Schon J. H. Loewe hat bezüglich der »Idee des Wohlwollens« bei Fichte resümiert, dass »für den transscendentalen Idealismus das Individuum gar nicht ist im eigentlichen Sine des Wortes, indem er für den grössten Irrthum, ja für den Grund aller Irrthümer, welche mit dem Zeitalter ihr Spiel treiben, erklärt, wenn einer sich einbildet, ein Selbstständiges, Denkendes, Wirkendes zu sein, während er doch nur Gedachtes, nur Bild ist, und daher wie alles im Umkreise der Bildlichkeit Erbaute, purer Schemen, ein Schatten des Schattens, ein Nichts des Nichts, dass es demnach, wo es nirgends eine lebenswarme Person gibt, auch kein lebenswarmes Gefühl der Liebe geben kann, so wenig für Andere wie für sich« (Loewe 1976 [1862], 152 f.). 102 McEvoy weist daraufhin, dass es Intersubjektivitätstheorien durchaus schon in der 98 99
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Fichte
im Spätwerk eigentümlich hinter dem vorgeführten Gedanken der Begründung aus dem terminus a quo zurück. 103 Allerdings – und das macht sie für das hier Monierte unerheblich – war sie auch in Jena keineswegs eine Lehre vom Wohlwollen im Sinne des uninteressierten Der-Eine-für-den-Anderen. Treffend formuliert Jacobs: »Weil die Liebe das eigentlich Selbständige ist und sein soll, muß aus ihr deduziert werden. (…) Liebe kann nur sein, wenn eine Person eine andere liebt, also gibt es Individuen […]. Fichte dagegen entfaltet die Interpersonalität von daher, daß ein Ich nur zum Bewusstsein erwachen kann, wenn es durch ein anderes Ich aufgerufen ist. Das Du ist insofern als eine Bedingung des Ich abgeleitet, nicht als eine der Liebe«. 104 Dass Person Letztinstanz ist, hat Kant in der dritten Formulierung des kategorischen Imperativs unvergesslich ins Gewissen der Philosophie gelegt: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«. 105 Wie aber soll der Einzelne Zweck sein, wenn sein Wesen darin aufgeht, »Vehikulum« 106 zu Antike und im Mittelalter gegeben hat, und zwar in der Ethik unter dem Stichwort Freundschaft. Diese war, wie er rechtens anmerkt, keineswegs Randthema, sondern ein ganz genereller Topos für soziales Zusammenleben überhaupt. Wenn er allerdings dann behauptet, dass es im Gefolge der cartesischen Cogito-Herrschaft dazugekommen wäre, »that the theory of friendship and intersubjectivity suffered an eclipse in philosophy, one which continued until quite recent times« (2002, 19), so wird man das für die Freundschaft im klassischen Sinne wohl noch akzeptieren können, bezüglich der Intersubjektivität ist es – nicht bloß mit Blick auf Fichte und Feuerbach – schlicht falsch. Vielmehr wird bei einer Fülle von Denkern die Intersubjektivitätstheorie gerade fundamental aufgewertet, indem sie aus ihrer Regionalisierung in der praktischen Philosophie zu einem Hauptthema der Erkenntnislehre, Anthropologie, Religionsphilosophie, ja, schließlich der Ontologie wird. Sofern dies für die klassische Zeit einer christlichen Philosophie kaum der Fall war, und andererseits das jüdisch-christliche Welt- und Gottverständnis ein durch und durch interpersonales ist, muss man sich wohl Max Schelers Diagnose anschließen: »Es gibt […] und gab nie eine ›christliche Philosophie‹, sofern man unter diesen Worten nicht, wie üblich, eine griechische Philosophie mit christlichen Ornamenten, sondern eine aus der Wurzel und dem Wesen des christlichen Grunderlebnisses durch selbstdenkerische Betrachtung und Erforschung der Welt entsprungenes Gedankensystem versteht« (Scheler, Liebe und Erkenntnis, in: 1963 [1922], 87). 103 Vgl. von Manz, 120. Dementiert wird sie freilich nicht: Sie taucht als Gebot, wie gezeigt, in der SL-1812 wieder auf. Vgl. auch die Spurensuche Düsings in der Staatslehre (1995, 80 ff.). 104 Jacobs 1967, 175. 105 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe IV, 429. 106 WL-1810, GA II/11, 334 f.
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Resümee
sein? Woher unverrechenbare Würde, wenn die Person ausschließlich Funktion ist? Fichte würde antworten, dass der Eine den Anderen nicht zum Mittel machen darf, weil sich nur der Andere selbst (bzw. die göttliche Erscheinung in ihm ihn) zum Mittel machen kann. Zweck aber heißt Letztzweck, sonst wird er zum Zwischenzweck zur Erlangung eines anderen Zweckes, also zum Mittel. 107 Wenn die Triebfeder in allem die Selbstentdeckung des einen Erscheinungslebens als Erscheinung des Absoluten ist, dann kann von diesem Fundament aus gar nicht die Dynamik des reinen Umdes-Anderen-willen erreicht werden. 108 Dann aber auch nicht der Adel und das Glück echten Für- und Miteinanders.
4.3 Resümee Mit Fichte haben wir einen neuzeitlichen Philosophen untersucht, der im Zuge seiner Arbeit am Begriff der Freiheit, nach einer Zeit der Emphase ihrer Selbstursprünglichkeit, in der Mitte der Freiheit 107 Staatslehre 1813, GA II/16, 46: »In der wahren Ansicht geht die Erkenntniß über die Wahrnehmung des Lebens, schlechthin über alles erscheinende und zeitliche Leben hinaus auf das, was in allem Leben erscheint, und erscheinen soll, auf die sittliche Aufgabe. – das Bild Gottes. – Hierzu das Leben bloßes Mittel. […] Die nothwendige Beschaffenheit des Lebens, falls es seyn soll Mittel für seinen Zweck, ist die: dass es frei sey, dass es absolut selbstständig und aus sich selbst sich bestimme, ohne allen äusseren Antrieb oder Zwang. […] 1) Die sittliche Aufgabe, das göttliche Bild. 2) Das Leben in seiner Ewigkeit, das Mittel dazu; ohne allen Werth, ausser inwiefern es ist dieses Mittel. 3) Die Freiheit, als die einzige und ausschliessende Bedingung, dass das Leben sey solches Mittel, darum – als das Einzige, was dem Leben selbst Werth giebt.« 108 Vgl. Rivera de Rosales’ Kritik: Fichtes »Individuum ist Werkzeug eines Werkzeugs, und nur das. […] Lieben wir jemanden wahrhaftig, wenn wir ihn nur als Werkzeug lieben? Nicht einmal die ästhetische Betrachtung tut das! Jemanden zu lieben, bedeutet, seine Individualität zu lieben (freilich nicht im Gegensatz zu anderen, sondern innerhalb der allgemeinen Ordnung und Beziehungen). Kant dachte, weder wir noch Gott dürften ein vernünftiges Wesen bloß als Mittel benutzen. […] Das Individuum ist nicht nur einmaliger Teil eines Ganzen; es bewährt als solches, als Leben, als Bewusstsein und als Tätigkeit eine gewisse Ursprünglichkeit angesichts des Prinzips seiner Bildung, seiner Schaffenskraft, seiner Zurechnungsfähigkeit und Verantwortung, seines Todes und des Sinnes seines Daseins. Aber das bedeutet, wir sollten die Mannigfaltigkeit oder Pluralität der Individuen auch im Sinne ihrer ontologischen Ursprünglichkeit verstehen […]. Jene soll nicht vernichtet, sondern auf demselben Boden behauptet werden wie die Ursprünglichkeit des Seins. Die Behauptung jedes Individuums im Rahmen der Behauptung aller […] wäre das Gute« (Rivera de Rosales 2003, 55 f.).
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Fichte
ein Absolutes findet, das nicht die Freiheit ist, und sich doch in ihr zeigt. Ihm gegenüber ist alle Wirklichkeit bewusster Freiheit – und eine andere Wirklichkeit kennt Fichte nicht – Bild. Soll sich aber in diesem Bild wirklich und nur das Absolute zeigen, muss dem Bild jede eigene Realität abgesprochen werden. Die Erscheinung des Absoluten wird damit zum Grab des Individuums. Damit drängt sich die Frage auf: Wenn hier, wie zu zeigen versucht, das Bild in der Fülle seiner Möglichkeit gedacht und in einem solchen System der Mensch zum Medium wird, folgt dann nicht daraus, dass Bildlichkeit und Würde des Menschen Antagonisten sind, dass sie anders, als oft behauptet, einander nicht stützen, sondern negieren? Die Analyse des Liebesbegriffs hat zutage gebracht, dass Fichte die Liebe als Bejahung des Anderen als solchen unbekannt ist. Von dorther hält er das Absolute schon für absolut, wenn es einfach nur sich vollzieht (esse in mero actu). Unter einem solchen Stern lässt sich dann natürlich auch für die Erscheinung kein anderer Sinn finden als Behauptung einer Einheit, die jede Legitimät echter Personalität zerstört. Gesetzt aber, das Absolute selbst wäre die Güte, würde sich dann nicht ein ganz anderer Sinn der Erscheinung ergeben, ohne dass das Bild in irgendeinem Maße weniger streng und genau Bild wäre als bei Fichte? Der systematische Teil der Untersuchung wird versuchen, dies zu zeigen. – Zunächst aber zum letzten Teil der historischen Untersuchung. In ihm geht es um einen Denker, der das Ergebnis der Fichteschen wie – für ihn vorrangig – der Hegelschen Philosophie im Bezug auf das Individuum nicht akzeptieren wollte und meinte, den einzigen Ausweg aus der Vernichtung des Endlichen im Unendlichen in der Negation des Absoluten finden zu können.
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5 Feuerbach
5.1 Einleitung Mit Feuerbach geht es nun exemplarisch um einen Denker, der in der Gottbildlichkeit des Menschen den Hauptgrund seiner fundamentalen Entwürdigung sieht, und zwar aufgrund der Spannung, die die Medialität zur Personalität hat, und der dies nicht durch eine neue Synthese aus Selbst- und Bildhaftigkeit, sondern durch ein kühnes Durchschlagen des Knotens meint auflösen zu können. Es handelt sich um eine Revolte im Namen der Liebe gegen das Bild bzw. gegen jene absolute Wirklichkeit, von der her alles andere als ihr Bild bestimmt wird. Auch Feuerbach kann man nur gerecht werden, wenn man von seinem Wofür und nicht seinem Wogegen ausgeht. Dass der Mensch ein durch und durch interpersonales Wesen ist, hat niemand vor ihm in dieser Radikalität gesehen. 1 Dass es kein Ich ohne ein Du geben kann, ist die Erkenntnis, die das Eingangstor zu seiner Philosophie darstellt, und sein – immer wieder grob unfairer – Kampf gegen das Christentum bzw. allen Gottesglauben hat seine Größe darin, dass er ursprünglich – zumindest auch 2 – die Ehre der geliebten anderen Person verteidigen will. Gerade im Sinne dieses Anliegens aber ist zu fragen, ob der Abschied von einem den Menschen transzendierenden Absoluten diesem gerechter wird. Wenn es hier also darum gehen soll, Feuerbach als einen humanistischen Denker an seinem eigenen Anspruch zu messen, dann kann darauf verzichtet werden, gleichzeitig eine Apologie des ChrisVgl. Buber 1971 [1948], 58 ff.; vgl. Grandt 2006, 305. Dass es andere Beweggründe geben mag, muss uns hier nicht beschäftigen. Es geht in dieser Untersuchung nicht darum, Feuerbach zu überführen, sondern darum, von ihm und schließlich auch »gegen ihn« zu lernen. Letzteres aber gelingt nur, wenn man »in die Kraft des Gegners eingeh[t] und sich in den Umkreis seiner Stärke stell[t]« (Hegel, Wissenschaft der Logik II. Werke in zwanzig Bänden, Bd. VI, 249).
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Feuerbach
tentums durchzuführen. Deshalb dazu eine Bemerkung vorab: Den Vorwurf, den man Feuerbach machen muss, hat er selbst, anscheinend ohne dessen Bumerang-Qualität zu bemerken, gegen seine Kritiker (hier Emil August von Schaden) gerichtet: Sie seien getrieben von »ihrem Eifer, den Schriftsteller nicht zu begreifen, sondern zu widerlegen, [so dass sie] den Schein für das Wesen nehmen, […] Partikuläres zum Charakteristischen, Zeitliches zum Bleibenden, Relatives zum Unbedingten machen, nicht Zusammengehörendes verknüpfen, notwendig Verbundenes aber trennen, kurz, willkürlich alles kunterbunt durch- und untereinanderwerfen und daher der Antikritik keine philosophische, sondern nur eine philologische Zitatentätigkeit überlassen«. 3 »Wenn daher der Leser, sei es nun aus Stumpfsinn oder Tadelsucht […,] den Autor nicht selbsttätig ergänzt, wenn er nur gegen, aber nicht für ihn Geist und Verstand hat, so ist es kein Wunder, dass die ohnedem wehr- und willenlose Schrift von der kritischen Willkür jämmerlich zugrunde gerichtet wird« (VWR, 390). Was er damals nicht gesehen zu haben scheint, ist die frappierende Ähnlichkeit dessen, was er bei seinen Gegnern kritisiert, mit der ihm eigenen Weise, das Christentum bzw. den Gottesglauben zu behandeln. An kaum einer Stelle behandelt er die Religion auf ihrem eigenen Niveau. Dies aber aufzuweisen kann – von En-passant-Bemerkungen in den Fußnoten abgesehen – nicht Aufgabe dieser Arbeit sein. 4 Vorlesungen über das Wesen der Religion (1851 – Abk.: VWR), Gesammelte Werke VI, 389. 4 Verwiesen sei hierfür auf die von S. P. Tjahjadi 2008 vorgelegte Feuerbach-Untersuchung, die von einer großen Wertschätzung gegenüber Feuerbach und einem alles andere als aggressiven, aber dafür genauen Nachfragen aus christlicher Perspektive geprägt ist. Weiterhin auf das Feuerbach-Kapitel in Gollwitzer 1977; sowie auf Casper 1974, Enders 2004 und Negel 2014. Zu nennen ist überdies Karl Barths FeuerbachAufsatz, der wohl zum Größten gehört, was christlicherseits zu Feuerbach gesagt worden ist; und dies sowohl in der Anerkennung von Feuerbachs Größe sowie der Fragen, die dieser einer anthropozentrierten (16 f.), spiritualisierten (17 f.) und für herrschende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten blinden (19 f.) Theologie mit gutem Grund stellt, als auch in der Radikalität von Barths Antwort auf die »Plattheit« des Feuerbachschen Anthropozentrismus: »[…] aller richtigen oder unrichtigen Deutung der religiösen Erfahrung vorausgehend« hat bei Feuerbach »die Anschauung festgesessen […], dass der Mensch das Maß aller Dinge nicht nur, sondern der Inbegriff, der Ursprung und das Ziel aller Werte sei […]. Hier steckt seine Plattheit, aus der sich die Plattheit seiner Religionserklärung erst ergibt. Und wer hier nicht in der Lage ist, ihm einfach ins Gesicht zu lachen, der wird mit weinerlicher oder entrüsteter Kritik seiner Religionserklärung niemals beikommen« (Barth 1976 [1927], 22). 3
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Einleitung
Will man Feuerbachs Schaffen in Perioden einteilen, so kann man von einem »frühen« Feuerbach sprechen, der sich von 1828 bis 1840 vom Hegel-Schüler und -Adepten zu einem seiner entschiedensten Kritiker entwickelt. 5 Diese Phase haben wir in dieser Arbeit unberücksichtigt gelassen – aus ökonomischen Gründen, die gleichwohl inhaltlich vertretbar sind, da die zweite Phase des gereiften »mittleren« Feuerbach als Ergebnis dieses Weges in sich verständlich ist, und wir erst in ihr ausdrücklich die These finden, um die es uns zu tun ist: Abschaffung Gottes im Namen der Würde des Menschen. Diese mittlere Periode Feuerbachs währt von der Veröffentlichung von Wesen des Christentums (1841) 6 bis zur Abfassung seiner Schrift Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers (1844) 7. Der späte Feuerbach ließe sich sodann vom Erscheinen der Schrift Das Wesen der Religion (1846) 8 bis zu seiner wohl letzten, posthum erschienenen und fragmentarisch gebliebenen Schrift Zur Moralphilosophie 9 (1868) datieren. Zwischen dem mittleren und dem späten Feuerbach gibt es nun inhaltliche Differenzen, die seit jeher in der Feuerbach-Forschung diskutiert werden. Dabei wird gefragt, ob hier wirkliche inhaltliche Unterschiede oder bloße Akzentverlagerungen vorliegen, und ob gegebene Unterschiede eher in gedanklicher Kontinuität als Konsequenzen aus dem mittleren Denken folgen oder aus einer Wende oder gar einem Bruch resultieren. 10 Wir können diese Diskussion, Vgl. Winiger 2011, 171. Gesammelte Werke, Bd. V, Abk.: WC. 7 Gesammelte Werke, Bd. IX, 353–412. 8 Gesammelte Werke, Bd. X, 3–79. Abk.: WR. 9 Hier zitiert nach ihrem Titel in Sämtliche Werke, Bd. X: Der Eudämonismus (Sigle: E). 10 Röhr z. B. sieht eine folgerichtige Entwicklung von WC zu WR, indem er die gesamte »Anthropologie« als »Kritik einer Anthropozentrik« (203) versteht. Die Abschaffung des Göttlichen ist nach ihm radikal zu lesen, womit die Formulierungen des mittleren Feuerbachs, die die Göttlichkeit des Menschen ins Wort heben, zumindest missverständlich sind. Statt einer Verunendlichung des Menschen gehe es um radikale Verendlichung, um Verunendlichung aber nur in dem Sinne, dass das Individuum seine Grenzen auf den natürlich seinerseits begrenzten Anderen hin überschreite: »Dezentrierung« (vgl. 121 ff.). Rawidowicz sieht einerseits »eine radikalere Erweiterung und Weiterbildung des religionsphilosophischen Standpunktes des ›Wesen des Christenthums‹« »vom Anthropologismus zum radikaleren Naturalismus« (163), andererseits ein »Schwanken« »zwischen der Ableitung der Religion aus der Naturabhängigkeit und der aus dem sozial-moralischen Wesen des Menschen« (166). Vgl. auch zum »Richtungswechsel« Arroyo 2006 (58 ff.): »[D]ie im Atheismus Feuer5 6
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Feuerbach
abgesehen von einigen Hinweisen in den Fußnoten, nicht im Einzelnen nachzeichnen. Unsere These, die sich im Folgenden erhärten sollte, lautet, dass Feuerbachs Lehre eine dramatische Wende nimmt, die jedoch insoweit in Kontinuität mit dem Vorhergehenden steht, als dass dort mit der Proklamation der Göttlichkeit des Menschen eine Theorie eingeführt wurde, die von ihrem theoretischen Unterbau nicht dauerhaft gestützt werden konnte. Die Konsequenzen hat der spätere Feuerbach gesehen und gezogen, ohne vielleicht erkannt zu haben, wie weit ihn dies von seinem ursprünglichen Vorhaben weggeführt hat. Dass er diese Wende so nicht angezeigt, ja, bisweilen verschleiert hat, sollte darüber nicht hinwegtäuschen. 11 Für die Interpretation werden wir zunächst das Wesen des Christentums in den Mittelpunkt stellen (4.2 – 4.6). 12 Dabei werden auch spätere Werke hinzugezogen, sofern sie die betreffenden Gedanken weiter vertreten. Für die weitere Entwicklung Feuerbachs bedeutet das Wesen der Religion (1845) eine Scheide, insofern der Stellenwert des Menschen hier eine zunehmende Relativierung erfährt, die für unsere Fragestellung von entscheidender Bedeutung ist. Diese Entwicklung wird unter Einbezug der maßgeblichen weiteren Werke des späten Feuerbachs in Kapitel 5.8 analysiert.
5.2 Feuerbachs Entdeckung: Konstitutive Interpersonalität Zunächst also zur Interpersonalität, für deren Entdeckung als originärer Gegenstand der theoretischen Philosophie (und nicht bloß der bachs hervorscheinende Negation des Anthropozentrismus [wird] begleitet von einer Repositionierung des Menschen im Rahmen der physischen Natur: der Mensch ist kein von der Natur abgetrenntes Wesen, auch kein übernatürliches Wesen, sondern hat vielmehr in der Natur seine authentische und einzige Wohnstätte, in ihr liegen Ursprung und Zweck des Menschen beschlossen« (61). – Unglücklich ist es, wenn Autoren – zumal Feuerbach gegenüber kritisch eingestellte – diesen für seinen Humanismus entscheidenden Wandel nicht einmal nennen (etwa der ansonsten äußerst lesenswerte Artikel Enders 2004). Man kämpft dann gegen eine Position, die ihr Verfechter selbst aufgegeben hat. 11 Es ist wohl nicht bloß Eitelkeit, wenn Diskontinuitäten im Werk eines Autors von diesem weniger wahrgenommen werden, als von seinen Lesern. Denn, was von Buch zu Buch dem Leser wie ein Bruch erscheinen mag, ist für den Autor eben ein kontinuierlicher Denkprozess. 12 Das Wesen des Christentums (WC) wird nach der dritten und letzten von Feuerbach besorgten Ausgabe (1849) zitiert (in GW 5 die Version »C«).
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Feuerbachs Entdeckung: Konstitutive Interpersonalität
Ethik) es natürlich, vor allem mit Fichte und Hegel, Vorläufer gibt. Keiner aber hat sie so ins Zentrum der Philosophie gerückt, und keiner hat den Menschen so radikal relational verstanden wie Feuerbach. Der Mensch ist nicht »auch« und »hin und wieder« mit anderen Menschen befasst. Nur von ihnen her erwacht er zu sich selbst; nur auf sie hin entfaltet und vollzieht er sein Wesen; nur gemeinsam gibt es Wirklichkeitserkenntnis; nur gemeinsam Ethik. Diese Herkünftigkeit vom Anderen stellt für Feuerbach das Fundament dar, von dem aus er proklamieren kann: »So ist der Mensch der Gott des Menschen. Dass er ist, verdankt er der Natur, dass er Mensch ist, dem Menschen« (WC, 166). Gnoseologisch vorgängig zur Erkenntnis der naturalen, nichtpersonalen Welt ist der andere Mensch: »Erst stählt das Ich seinen Blick in dem Auge eines Du, ehe es die Anschauung eines Wesens erträgt, welches ihm nicht sein eignes Bild zurückstrahlt. Der andere Mensch ist das Band zwischen mir und der Welt. […] Der erste Gegenstand des Menschen ist der Mensch« (WC, 165). 13 Erst von ihm her kommt er reflexiv zu sich: »[…] nur wo der Mensch mit dem Menschen spricht, nur in der Rede, einem gemeinsamen Akte, entsteht die Vernunft. Fragen und Antworten sind die ersten Denkakte. Zum Denken gehören ursprünglich zwei. Erst auf dem Standpunkt einer höhern Kultur verdoppelt sich der Mensch, so dass er jetzt in und für sich selbst die Rolle des andern spielen kann«. 14 Erst zu zweit kommt es zur Wirklichkeitserkenntnis: »nur das existiert, was für mich und den andern zugleich ist, worin ich und der andere übereinstimmen, was nicht nur mein – was allgemein ist«. 15 Ebenso ist erst der andere Mensch die Begegnung mit dem ethischen Anspruch: »Der andere ist mein gegenständliches Gewissen: er macht mir meine Fehler zum Vorwurf, auch wenn er sie mir nicht ausdrücklich sagt: er »Ein Objekt, ein wirkliches Objekt wird mir […] nur da gegeben, wo mir ein auf mich wirkendes Wesen gegeben wird, wo meine Selbsttätigkeit […] an der Tätigkeit eines anderen Wesens ihre Grenze – Widerstand findet. […] nur da, wo ich aus einem Ich in ein Du umgewandelt werde, wo ich leide, entsteht die Vorstellung einer außer mir seienden Aktivität, d. i. Objektivität« (Grundzüge der Philosophie der Zukunft [1843 – Abk.: GPZ], Gesammelte Werke, Bd. IX, 264–341, 316). Vgl. Braun 1971, 103. 14 WC, 166 f. Vgl.: »[…] zwischen mir und dem andern findet daher ein wesentlicher, qualitativer Unterschied statt. Der andere ist mein Du – ob dies gleich wechselseitig ist –, mein anderes Ich, der mir gegenständliche Mensch, mein aufgeschlossenes Innere – das sich selbst sehende Auge« (WC, 277). 15 GPZ, 304. »Was ich allein sehe, daran zweifle ich; was der andere auch sieht, das erst ist gewiss« (ebd., 324; vgl. 334). 13
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Feuerbach
ist mein personifiziertes Schamgefühl. Das Bewusstsein des Moralgesetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit selbst ist nur an das Bewusstsein des andern gebunden« (WC, 277). 16 Der Anspruch des Anderen aber besteht darin, um seiner selbst willen geliebt zu werden. »Wir sollen den Menschen um des Menschen willen lieben. Der Mensch ist dadurch Gegenstand der Liebe, dass er Selbstzweck […] ist« (WC, 341). Hier aber stößt Feuerbach an das Gottesproblem.
5.3 Problem: Gott Der Gottesglaube steht dieser Liebe zum Anderen um seiner selbst willen im Wege. Der Andere verliert seine Selbstzwecklichkeit an Gott und verschwindet als Geliebter: Im christlichen Bewusstsein, so wie Feuerbach es rekonstruiert, hat »die Tätigkeit für andere […] nur eine religiöse Bedeutung, hat nur die Beziehung auf Gott zum Grund und Zweck – ist im Wesen nur eine Tätigkeit für Gott – Verherrlichung seines Namens, Ausbreitung seines Ruhmes« (WC, 280). 17 Verschwindet so der Andere als selbstzwecklich Geliebter, so auch als Liebender, als Selbst. Denn an seiner Stelle handelt Gott. »Der Religion zufolge wirkt […] Gott vermittelst anderer Dinge und Wesen auf den Menschen. Aber Gott ist doch allein die Ursache, allein das handelnde und wirksame Wesen. Was dir der andere tut, das tut dir im Sinne der Religion nicht der andere, sondern Gott. Der andere ist nur Schein, Mittel, Vehikel, nicht Ursache« (WC, 323). Dies aber bedeutet das Ende der Dankbarkeit: 18 »Die wirkliche »So sehr ist das Bild des Anderen in mein Selbstbewusstsein, mein Selbstbild eingewoben, dass selbst der Ausdruck des Allereigensten und Allerinnerlichsten, das Gewissen, ein Ausdruck des Socialismus, der Gemeinschaftlichkeit ist; dass ich selbst in den geheimsten, verborgensten Winkel meines Hauses, meines Ichs, mich nicht zurückziehen und verstecken kann, ohne zugleich ein Zeugniss von dem Dasein des Anderen ausser mir abzugeben« (E, 282 f.). »Heteronomie, nicht Autonomie, die Heteronomie als Autonomie des Heteros, des Anderen, ist mein Gesetz« (E, 288). 17 »[…] der Glaube an Gott, als die notwendige Bedingung der Tugend, ist der Glaube an die Nichtigkeit der Tugend für sich selbst« (WC, 344). »Was getan wird, geschieht nicht, weil es gut und recht ist, so zu handeln, sondern weil es von Gott befohlen ist. Der Inhalt an sich selbst ist gleichgültig; was nur immer Gott befiehlt, ist recht« (WC, 354). 18 Für die Feuerbach einen Sinn hatte wie kaum jemand sonst. Er fordert sie selbst gegenüber der »natürlichen Qualität des Brotes und Weines« (WC, 454). 16
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Problem: Gott
Ursache wird zum selbstlosen Mittel, eine nur vorgestellte, eingebildete Ursache zur wahren, wirklichen Ursache. Der Mensch dankt Gott für die Wohltaten, die ihm der andere selbst mit Opfern dargebracht. Der Dank, den er seinem Wohltäter ausspricht, ist nur ein scheinbarer, er gilt nicht ihm, sondern Gott. Er ist dankbar gegen Gott, aber undankbar gegen den Menschen« (WC, 446). 19 Das »Verhältnis zum Menschen [wird] dem Verhältnis zu Gott auf[ge]opfert« (WC, 447). Damit stehen Gottes- und Nächstenliebe gegeneinander. Die erste widerspricht »dem natürlichen Gefühl und Sinn des Menschen, welcher die Wesen, von denen er Wohltaten empfängt, auch als die Ursache derselben betrachtet, sich daher zu Dank, Liebe und Verehrung gegen sie verbunden fühlt. Wir sehen, wie sich Gott und Natur, Gottesliebe und Menschenliebe widersprechen, wie sich Gottes Wirkung und Natur- oder Menschenwirkung nicht, außer durch Sophistik, vereinigen lassen. Entweder Gott oder Natur!« (WC, 182 f.). Man kann nicht zwei Herren dienen: »Wer einmal einen Gott liebt, der kann keinen Menschen mehr lieben; […] aber auch umgekehrt: Wer einmal den Menschen liebt, wahrhaftig von Herzen liebt, der kann keinen Gott mehr lieben« (VWR, 334). »[…] die Liebe ist der praktische Atheismus, die Negation Gottes im Herzen, in der Gesinnung, in der Tat«. 20 Dem gescheiterten Versuch, Gottes- und Nächstenliebe zu vermitteln, setzt Feuerbach programmatisch gegenüber: »Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muss zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige, zuverlässige Macht. Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muss auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist
Vgl. VWR, 182: »wie soll ich die Menschen ehren, wie mich denen verbunden fühlen, durch die mir Gott Gutes erwies? Es ist ja nicht ihr Verdienst; Gott hat sie mir geneigt gemacht, nicht ihr eigenes Herz, ihr eigenes Wesen; Gott hätte mir ebensogut durch andere, selbst mir übelwollende Menschen oder durch andere als menschliche Wesen, ja hätte mir auch durch sich selbst ohne Mittel helfen können. Das Mittel ist ganz gleichgültig, ganz wesenlos, ganz unfähig, Gesinnungen der Dankbarkeit, der Verehrung, der Liebe gegen sich zu erwecken, so wenig als es der Topf ist, vermittelst welchen man mir, wenn ich am Verdursten bin, einen Trunk Wasser reicht.« 20 Über das »Wesen des Christentums« in Beziehung auf Stirners »Der Einzige und sein Eigentum« (Replik), Gesammelte Werke, Bd. IX, 427–441, 439. 19
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Feuerbach
der oberste praktische Grundsatz –, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte« (WC, 444). 21 Anstatt dass der Mensch Bild einer Wirklichkeit wäre, vor der er zur bloßen Virtualität herabsinkt, muss er die Wirklichkeit selbst sein. Dafür aber gilt es zu zeigen, dass diejenige Wirklichkeit, als deren Bild der Mensch traditionell gedacht wurde, ihrerseits rein virtuell ist.
5.4 Gründe der Nicht-Existenz Gottes 5.4.1
Feuerbachs Sensualismus
Feuerbachs Hauptargument gegen die Existenz Gottes liegt in seinem Sensualismus begründet. Wahr ist nur, was sich mit den Sinnen wahrnehmen lässt. Gott als reines Geistwesen kann per definitionem kein Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung sein. Wie so oft bei Feuerbach treffen wir auf einen Obersatz, dessen programmatisch-proklamatorische Wucht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seiner kritisch-rationalen Ausgewiesenheit steht. Fragen wir dennoch nüchtern nach den Gründen für den Pendelumschlag vom Geist zur Materie, als »schlage eine Übersättigung mit Geist, ein Überdruss an der Erhebung in die Abstraktion ins andere Extrem um«, 22 wie er sich bei Feuerbach vollzieht, so stoßen wir an einen Grund, der, allen Vulgaritäten und Banalitäten, die natürlich auch daraus folgen, zuvor, wieder in Feuerbachs Stärke zu finden ist: der Priorität des Interpersonalen. 5.4.1.1 Vom Anderen weiß ich nur durch die Sinnlichkeit. Denn die Sinnlichkeit zur zweitrangigen, minderwertigen oder gar wertlosen Erkenntnisquelle erklären kann nur derjenige, dem die Erkenntnis der anderen Person zweitrangig, minderwertig oder gar wertlos ist, bzw. der, der nicht begriffen hat, dass es keine Erkenntnis vom Anderen, damit aber auch keine Ethik, ohne die Sinnlichkeit geben kann. »Im Denken bin ich absolutes Subjekt, ich lasse alles 21 »Heilig ist und sei dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst« (WC, 445). 22 Gollwitzer 1977, 49.
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Gründe der Nicht-Existenz Gottes
nur gelten als Objekt oder Prädikat von mir, dem Denkenden, bin intolerant: in der Sinnentätigkeit dagegen bin ich liberal, ich lasse den Gegenstand sein, was ich selber bin – Subjekt, wirkliches sich selbst betätigendes Wesen. Nur der Sinn, nur die Anschauung gibt mir etwas als Subjekt«. 23 Für die Liebe ist das Sinnliche, als Anzeiger der Existenz, nicht ein unerheblicher Zusatz zum Wesen, sondern entscheidend: »Nur in der […] Liebe hat ›Dieses‹ – diese Person, dieses Ding –, d. h. das einzelne, absoluten Wert, ist das Endliche das Unendliche – darin und nur darin allein besteht die unendliche Tiefe, Göttlichkeit und Wahrheit der Liebe. […] Das empfindungs- und leidenschaftslose abstrakte Denken hebt den Unterschied zwischen Sein und Nichtsein auf, aber der Liebe ist dieser dem Gedanken verschwindende Unterschied eine Realität. Lieben heißt nichts anders als diesen [!] Unterschied innewerden. Der Schmerz der Liebe ist, dass das nicht in der Wirklichkeit ist, was in der Vorstellung ist«. 24 Wem es um das Individuum ist, dem muss es um die Sphäre sein, in welcher einzig Individuen angetroffen werden können: »Sensualismus und Individualismus ist identisch« (SM, 142). Damit gewinnt die Räumlichkeit einen primär inter-personalen Sinn. Der Raum ist nicht bloße »Erscheinungsform«, sondern Ort des realen Unterschiedes von Ich und Du (GPZ, 326 f.). »Es ist ein Außereinander, das sein soll, das der Vernunft nicht wider-, sondern entspricht« (GPZ, 328). 25 5.4.1.2 Nur was sinnlich ist, ist wahr Dass daraus nun wird, dass es nur das gibt, was sinnlich wahrzunehmen ist, ist natürlich keineswegs die sich mit der von Feuerbach insinuierten Notwendigkeit ergebende Folge aus einer solchen Entscheidung zur Sinnlichkeit als Erkenntnisort von Interpersonalität. 26 Es GPZ, 304; vgl. ebd., 317. GPZ, 317. Vgl. Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit [1866 – Abk.: SM], Gesammelte Werke, Bd. XI, 53–186, 110. 25 Vgl. Röhr 2000, 169 f. 26 »Was Feuerbach Beweis nennt, ist […] gar nichts anderes als die konsequente methodische Anwendung einer und nur einer These zur Interpretation einer vielschichtigen und komplexen Problematik« (Sass 1978, 71). Alles Beibringen von Beispielen, dem sich Feuerbach in immer größeren Zitatschlachten gewidmet hat (vom Wesen des Christentums, über Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers [1844] bis zur Theogonie aus den Quellen des Classischen, hebräischen und christlichen Altertums [1857]), kann prinzipiell nicht einen Beweis ersetzen. »Feuerbach war so sehr von 23 24
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Feuerbach
handelt sich um eine denkerische Entscheidung, die wie ein Salto rückwärts aus der cartesischen Meditation anmutet: Während sich das »Denken der Scholastik« als »grund- und bodenlos« und sich ihr Gott als »nur gedachte[s] Wesen« erwiesen hat, besann sich die »neuere Philosophie« vom Gedachten auf das Denkende: »Bezweifelbar ist die Existenz Gottes, bezweifelbar überhaupt das, was ich denke; aber unbezweifelbar ist, dass ich bin, ich, der ich denke, der ich zweifle« (GPZ, 320). Aus dieser Ich-Gewissheit ist aber wieder ein abstrakt Gedachtes geworden, so dass Feuerbach dagegen nun das Unmittelbare der Sinneserkenntnis setzt: »Allein das Selbstbewusstsein der neuern Philosophie ist selbst wieder nur ein gedachtes, durch Abstraktion vermitteltes, also bezweifelbares Wesen. Unbezweifelbar, unmittelbar gewiss ist nur, was Objekt des Sinns, der Anschauung, der Empfindung ist« (GPZ, 320). »[…] sonnenklar ist nur das Sinnliche« (GPZ, 321). Die Frage nach dem Unterschied von Sein und Denken, will sagen, nach der Existenz des Gedachten, mag »im Kopf« ein Problem sein; »aber in der Wirklichkeit ist [es] längst gelöst, freilich nur auf die der Wirklichkeit, nicht deinen Schulbegriffen entsprechende Weise, und zwar gelöst durch nicht weniger als fünf Sinne« (VWR, 363). 27 »Das wesentliche Merkmal einer objektiven Existenz außer dem Gedanken oder der Vorstellung ist die Sinnlichkeit.« 28 seiner Projektionsthese überzeugt, dass er nicht überblicken konnte, wie wenig die Beispiele zum Beweis seiner Erklärung dienten, wie sie höchstens Plausibilisierungen lieferten für etwas, das man entweder so annahm, wie es behauptet wurde, oder nicht annahm« (ebd., 74; vgl. Gollwitzer 1977, 52). Ähnlich Wartofsky: »Religion and theology are shown to be ›nothing but‹ anthropology, by virtue of the possibility of such an interpretation. But to show that such an interpretation is possible is not the same as to show that such an interpretation is true« (268). Siehe auch die hilfreiche Zusammenfassung der logisch-formalen Kritikpunkte an Feuerbach bei Gagern 1970, 309– 315; vgl. Givsan 2006, 69–73. – Ermüdung durch Beispiele beklagt auch Richard Dawkins in The God Delusion mit Blick auf ein Magazin der Zeugen Jehovas zum Thema Evolution oder intelligent design. In der Tat, aber hier unterscheidet er sich weder von den Zeugen Jehovas noch von seinem Vorgänger Feuerbach. Für alle drei gilt, was er dem Gegner entgegenhält: »the repetition of example after example gets us nowhere« (2006, 146). 27 Vgl. SM, 204: »Meine nur auf das Evangelium der fünf Sinne […] gestützte Philosophie«. 28 GPZ, 269. Vgl.: »Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinnliches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen, nur die Sinnlichkeit Wahrheit und Wirklichkeit« (GPZ, 316). Einen Rekonstruktions-
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Bedingung für die Realität eines Subjektes ist somit sein Leib: »Der Leib ist der Grund, das Subjekt der Persönlichkeit. Nur durch den Leib unterscheidet sich die wirkliche Persönlichkeit von der eingebildeten eines Gespenstes. 29 Was wären wir für abstrakte, vage, leere Persönlichkeiten, wenn uns nicht das Prädikat der Impenetrabilität inhärierte, wenn an demselben Orte, in derselben Gestalt, worin wir sind, zugleich andere sich befinden könnten? Nur durch die räumliche Ausschließung bewährt sich die Persönlichkeit als eine wirkliche« (WC, 177). Wenn Gott wirkliches Subjekt wäre, müsste er sinnlich sein – »nicht bloß Glaube, Gefühl, Gedanke, sondern auch ein vom Glauben, Fühlen, Denken unterschiednes, wirkliches Sein. Aber solches Sein ist kein andres als sinnliches Sein« (WC, 340). Von ihm aber gilt: »Gott wird nicht gesehen, nicht gehört, nicht sinnlich empfunden. […] geistiges Sein ist eben nur Gedachtsein, Geglaubtsein«. 30 Die reine Geistigkeit, die ursprünglich seinen Adel ausmachte, bedeutet nun seinen Tod: »die Leugnung eines persönlichen Gottes wird so lange wissenschaftliche […] Wahrheit sein, als man nicht mit klaren, unzweideutigen Worten ausspricht und beweist, erstens a priori, aus spekulativen Gründen, dass Gestalt, Örtlichkeit, Fleischlichkeit, Geschlechtlichkeit nicht dem Begriffe der Gottheit widersprechen, zweitens a posteriori – denn die Wirklichkeit eines persönlichen Wesens versuch des Feuerbachschen »sensationism or his empirical realism« (365), der von ihm »not in the form of argument, but of assertion« (367) präsentiert wird, leistet Wartofsky, 365–368. »The result is less than systematic, but more than eclectic« (376). »For all the vagueness, the lack of rigorous and constructive analysis of sensation and thought, for all the poetizing rhetoric into which the argument dissolves at crucial points, there is a hard core of theory to be salvaged. (…) In brief summary, it is this: Sensibility is the mode of direct encounter with what lies beyond the I of consciousness. It is the mode of consciousness that has its object in a real other, and not simply consciousness itself taken as its own other. But this direct encounter is attested to not in reflection upon it, in which it too becomes an idea or a thought, but rather in practice – that is, in this-worldly, bodily activity. The locus of this activity is not at some sharply demarcated border between I and it, between consciousness and being, but rather is the original locus of being itself, a spatiotemporal here and now, a concrete being here now, a Dasein« (376). Freilich kann auch er mit dem Hinweis, das Vorgehen sei eher »heuristic than demonstrative« (369), die von ihm selbst gestellte, entscheidende Frage nicht beantworten: »Can one derive the truth about the senses from the senses?« (368). Siehe zu Feuerbachs Sensualismus auch – allerdings weniger problembewusst – Braun 1971, 94 ff. 29 Vgl. WC, 257. 30 WC, 341; vgl. VWR, 100 f.
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Feuerbach
stützt sich nur auf empirische Gründe – was für eine Gestalt Gott hat, wo er existiert – etwa im Himmel – und endlich, welchen Geschlechtes er ist, ob ein Männlein oder Weiblein oder gar ein Hermaphrodit« (WC, 179). Etwas jenseits der Sinnlichkeit anzunehmen, ist reine Einbildung: »Gegenstand der Religion ist nur etwas, inwiefern es […] ein Objekt des Glaubens ist; denn eben weil der Gegenstand der Religion, wie er ihr Gegenstand, nicht in der Wirklichkeit existiert, mit dieser vielmehr im Widerspruch steht, ist er nur ein Objekt des Glaubens. […] Glauben heißt sich einbilden, dass das ist, was nicht ist«. 31
5.4.2
Projektionen: Nur gleich und gleich erkennen sich
Wenn es nun aber Gott nicht geben kann, weil er nicht sinnlich ist, dann kann er offensichtlich auch nicht der Grund dafür sein, dass der Mensch an ihn glaubt. Der Grund dafür ist vielmehr der Glaubende selbst – in einer Weise, die Feuerbach als Projektion beschreibt. 32 Da nur Gleiche Gleiches erkennen können, 33 hat der Erkennende letztlich sich selbst zum Gegenstand. »[…] der Gegenstand, auf welchen sich ein Subjekt wesentlich, notwendig bezieht, ist nichts andres, als das eigne, aber gegenständliche Wesen dieses Subjekts« (WC, 33). Ist im Gegenstandsbewusstsein »das Bewusstsein des Gegenstandes wohl unterscheidbar vom Selbstbewusstsein«, weil der Gegenstand ja »außer dem Menschen« (WC, 45) ist; so hat das religiöse Bewusstsein einen inneren Gegenstand und ist deshalb reines Selbstbewusstsein. »[…] hier gilt daher ohne alle Einschränkungen der Satz: der Gegenstand des Menschen ist nichts andres als sein gegenständliches Wesen selbst« (WC, 45 f.). 34 Damit hat sich das genetische Verhältnis umgedreht. Am Anfang steht nicht Gott, der den Menschen nach WR, 75; vgl. VWR, 246, 256 f., 260, 338 f. Wenngleich er sie in seinem »umfangreiche[n] Werk an keiner einzigen Stelle« so genannt hat (Negel 2014, 36 – eine lesenswerte theologische Arbeit zu Sinn und Unsinn des Projektionsargumentes). Der Gedanke der Projektion ist keineswegs neu, wohl aber wird man Feuerbach attestieren dürfen, dass ihn niemand vor ihm mit solcher Radikalität durchgeführt hat (vgl. Wartofsky 1977, 197). 33 Zu diesem klassischen Theorem und Feuerbachs Verwendung sehr informativ: Enders 2004, v. a. 127 f. 34 »Wesensbestimmung seiner Gattung, dass der Mensch kein andres Wesen als absolutes, als göttliches Wesen denken, ahnden, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das menschliche Wesen« (WC, 444). 31 32
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Gründe der Nicht-Existenz Gottes
seinem Bild schafft, sondern der Mensch schafft Gott nach seinem Bilde, welches virtuelle Wesen dann zum Grund jener Virtualität wird, als die sich der Mensch missversteht. Das scheinbar Wirkliche ist virtuell und das scheinbar Virtuelle wirklich: »Das Erste ist gerade der Mensch, das Zweite das sich gegenständliche Wesen des Menschen: Gott. […] Erst schafft der Mensch ohne Wissen und Willen Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott mit Wissen und Willen den Menschen nach seinem Bilde« (WC, 215; vgl. VWR, 212 f.). So wie dieser Gedanke vom Wesen des Vorstellenden auf das Wesen des Vorgestellten schließt (wenn der Mensch der Vorstellende ist, muss das Vorgestellte letztlich menschlich sein), präsentiert Feuerbach zu Beginn des Wesen des Christentum auch den umgekehrten Schluss. Wenn das Vorgestellte göttlich (unendlich) ist, dann muss der Vorstellende göttlich (unendlich) sein. Nur ein Unendliches kann auf ein Unendliches bezogen sein; kann es denken, fühlen, wollen: »wie das Subjekt, so das Objekt« (GPZ, 322). Wenn der Mensch aber Unendliches und Vollkommenes denken kann, dann ist er selbst unendlich und vollkommen; und dann kann es keinen Gott neben ihm geben. »In dem unendlichen Wesen ist mir nur als Subjekt, als Wesen Gegenstand, was ein Prädikat, eine Eigenschaft von mir selbst ist. Das unendliche Wesen ist nichts als die personifizierte Unendlichkeit des Menschen, Gott nichts als die personifizierte, als ein Wesen vorgestellte Gottheit oder Göttlichkeit des Menschen« (WC, 461). 35 Alles, was von Gott geglaubt wird, ist eine Projektion des Menschlichen in ein anderes Wesen: »es soll hier das Leben eines andern von uns unterschiednen Wesens aufgeschlossen werden, und es wird doch nur unser eignes Wesen aufgeschlossen, aber zugleich wieder verschlossen, weil es das Wesen eines andern Wesens sein soll« (WC, 176). 36 Vgl. WC, 29 f.; Amengual 1994, 26 f.; Casper 1974, 22 ff.; Enders 2004, 109 ff. »Wo das Bewusstsein Gottes, da ist auch das Wesen Gottes – also im Menschen« (WC, 385). 36 »Die Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem eignen Wesen – darin liegt ihre Wahrheit und sittliche Heilkraft –, aber zu seinem Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem andern, von ihm unterschiednen, ja entgegengesetzten Wesen –, darin liegt ihre Unwahrheit, ihre Schranke, ihr Widerspruch mit Vernunft und Sittlichkeit, darin die unheilschwangere Quelle des religiösen Fanatismus, darin das oberste, metaphysische Prinzip der blutigen Menschenopfer, kurz, darin der Urgrund aller Greuel, aller schaudererregenden Szenen in dem Trauerspiel der Religionsgeschichte« (WC, 334; vgl. Casper 1974, 27 f.). 35
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Feuerbach
5.4.3
Wunschdenken
Warum aber projiziert der Mensch in ein anderes, was er selbst ist? Weil er sich im Projizierten jenseits seiner Schranken anschaut. »Alle auch noch so positiven Religionen beruhen auf Abstraktion« – nämlich auf der Abstraktion von alledem, was aus Sicht des Menschen besser nicht wäre. »Die Abstraktion drückt ein Urteil aus – ein bejahendes und verneinendes zugleich, Lob und Tadel. Was der Mensch lobt und preist, das ist in Gott; was er tadelt, verwirft, das Ungöttliche« (WC, 185). 37 Alle Widrigkeiten enthaltend ist für den Menschen die Natur, weil sie ihn in seiner Geistigkeit und Freiheit einschränkt, und so ist es vor allem sie, von der er abstrahiert, wenn er Gott denkt. 38 Hier liegt auch die Motivation für die Lehre von der Schöpfung aus Nichts: Depotenzierung der Natur. Was willkürlich gewollt ist, ist nicht notwendig und damit nichtig. 39 Noch einmal scharf das Motiv: »Im innersten Grund deiner Seele willst du, dass keine Welt sei; denn wo Welt ist, da ist Materie, und wo Materie, da ist Druck und Stoß, Raum und Zeit, Schranke und Notwendigkeit« (WC, 203; vgl. VWR, 261 f.). 40 Hierher rührt auch »In der Religion befreit sich der Mensch von den Schranken des Lebens; hier lässt er fallen, was ihn drückt, hemmt, widerlich affiziert; Gott ist das von aller Widerlichkeit befreite Selbstgefühl des Menschen; frei, glücklich, selig, fühlt sich der Mensch nur in seiner Religion, weil er nur hier seinem Genius lebt, seinen Sonntag feiert« (WC, 186). 38 »[…] was nicht Person, ist tot, ist Nichts; nur persönliches Sein ist Leben und Wahrheit; die Natur ist aber unpersönlich, also ein nichtiges Ding. […] Die Persönlichkeit von Gott aussagen, heißt nichts andres, als die Persönlichkeit für das absolute Wesen erklären; aber die Persönlichkeit wird nur im Unterschiede, in der Abstraktion von der Natur erfasst« (WC, 187 f.). Erst der späte Feuerbach wird die theogonische Rolle der Natur als Lebensgrund des Menschen behandeln (vgl. unten 192 ff.). 39 »Wie die Ewigkeit der Welt oder Materie nichts weiter bedeutet als die Wesenhaftigkeit der Materie, so bedeutet die Schöpfung der Welt aus Nichts weiter nichts, als die Nichtigkeit der Welt. […] Ihr Sein oder Nichtsein hängt nur vom Willen ab. Der Wille, dass sie ist, ist in einem der Wille, wenigstens der mögliche Wille, dass sie nicht ist. Die Existenz der Welt ist daher eine momentane, willkürliche, unzuverlässige, d. h. eben nichtige Existenz« (WC, 190 f.). Dazu Amengual 2009 – sieht man von der wunderlichen (in ihrer Unausgewiesenheit besonders ärgerlichen, weil offenbarend, dass man meint, derartige agnostische Kulturimperialismen nicht einmal begründen zu müssen) Behauptung ab, dass »die Kreation eben keine philosophische Idee« (13) sei, ein interessanter und ausgewogener Artikel zur Frage der Angemessenheit der Feuerbachschen Schöpfungsrekonstruktion. 40 Vor diesem Hintergrund ist »Essen […] der feierlichste Akt oder doch die Initiation der jüdischen Religion. Im Essen feiert und erneuert der Israelite den Kreationsakt; im 37
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die Leibfeindlichkeit des christlichen Glaubens: Der Christ »betrachtet den Leib als einen Makel und Schandfleck, der seinem Adel, seiner Ehre, an sich ein geistiges Wesen zu sein, von Geburt anklebt, als eine nur zeitlich notwendige Herablassung und Verleugnung seines wahren Wesens, als einen schmutzigen Reisekittel, als ein pöbelhaftes Inkognito seines himmlischen Staates« (VWR, 291). – Dass der Christ eine leibliche Auferstehung glaubt, widerspricht dem nicht; denn der erhoffte Leib ist in all seiner Schmerz-, Lust- und Bedürfnislosigkeit »ein Leib, der in Wahrheit kein Leib ist« (VWR, 292). »Die Grunddogmen des Christentums sind erfüllte Herzenswünsche« (WC, 247). Deshalb auch der Glaube an die Allmacht Gottes und die Kraft des Gebetes: »Gott ist der in das Tempus finitum, in das gewisse selige Ist verwandelte Optativ des menschlichen Herzens« (WC, 220; vgl. WR, 39). »[…] im Gebete vergisst der Mensch, dass eine Schranke seiner Wünsche existiert, und ist selig in diesem Vergessen« (WC, 223). In dieser Logik ist sodann der Glaube an die Rechtfertigung des sündigen Menschen durch den Gottessohn der erfüllt geglaubte Wunsch nach Glückswürdigkeit: »so befriedigt der Erlöser, der Versöhner, der Gottmensch im Gegensatz zur moralischen Selbsttätigkeit des natürlichen oder rationalistischen Menschen unmittelbar die innern moralischen Bedürfnisse und Wünsche, indem er den Menschen der Vermittlungstätigkeit seinerseits überhebt. Was du wünschest, ist bereits ein Vollbrachtes. Du willst dir die Seligkeit erwerben, verdienen. Die Moral ist die Bedingung, das Mittel der Seligkeit. Aber du kannst es nicht – d. h. in Wahrheit: Du brauchst es nicht. Es ist schon geschehen, was du erst machen willst. Du hast dich nur leidend zu verhalten, du brauchst nur zu glauben, nur zu genießen« (WC, 249). 41 Essen erklärt der Mensch die Natur für ein an sich nichtiges Ding« (WC, 209). Gegen das Essen setzt Feuerbach die »Anschauung«, deren »kindliche […] religiöse Form« die Anbetung ist (WC, 213). »Was ich anschaue, vor dem demütige ich mich, dem weihe ich das Herrlichste, was ich habe, mein Herz, meine Intelligenz zum Opfer« (WC, 213; vgl. Thesen, 254; GPZ, 326). »Was der vertilgungssüchtige Egoismus dem Tode weiht, das gibt die liebevolle Theorie dem Leben wieder« (WC, 212). Historisch wohl kaum zu bestätigen, folgert Feuerbach: »Die Wissenschaft entsteht daher, wie die Kunst, nur aus dem Polytheismus, denn der Polytheismus ist der offne, neidlose Sinn für alles Schöne und Gute ohne Unterschied, der Sinn für die Welt, für das Universum« (WC, 210). 41 Zugleich gilt: »Das Geheimnis der Gnadenwahl ist […] das Geheimnis oder die Mystik des Zufalls« (WC, 321). »Die Gnade ist die beliebige Liebe – die Liebe, die
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Feuerbach
Die Weise, wie Projektion geschieht, ist also die wunschinduzierte Einbildung und Phantasie: »Was der Mensch wünscht, notwendig wünscht – notwendig nach dem Standpunkt, worauf er steht –, das glaubt er. Der Wunsch ist das Verlangen, dass etwas sei, was nicht ist; die Einbildungskraft, der Glaube stellt es dem Menschen als seiend vor«. 42 Dies gilt freilich nur von den wesensnotwendigen Wünschen, die als Wunsch eine zwingende Realität im Menschen sind und nur so zwingend zu Virtualitäten außerhalb seiner führen. 43 Dass der Wunsch dies vermag, liegt darin begründet, dass der Wünschende sich bereits vorstellen muss, was er noch zu haben erstrebt. »Was ich zu haben wünsche, das habe ich ja in der Einbildung, was ich zu sein wünsche – gesund, reich[,] vollkommen –, das bin ich ja wirklich in der Einbildung; denn indem ich mir Gesundheit wünsche, stelle ich mich als gesund vor. […] alle nur immer wünschenswerten Kräfte und Gaben schüttet [der Wunsch] aus dem Füllhorn der Phantasie über mich aus«. 44 nicht aus innerem Wesensdrang handelt, sondern was sie tut, auch nicht tun, ihren Gegenstand, wenn sie wollte, auch verdammen könnte –, also die grundlose, die unwesentliche, die willkürliche, die absolut subjektive, die nur persönliche Liebe« (WC, 576). Dagegen fordert Feuerbach die Rechtfertigung des Menschen nur durch sich: »[…] wie sich jetzt die Schmiede und Feuerkünstler überhaupt, ohne einen besondern Gott zu ihrem Schutzpatron zu haben, auf ihr Handwerk verstehen, so werden auch einst die Menschen sich auf die Kunst verstehen, ohne einen Gott moralisch und selig zu werden« (VWR, 238). 42 VWR, 274. »Der Gott, die Religion ist aber nichts als der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb, Glückseligkeitswunsch des Menschen« (VWR, 276. Vgl. SM, 134; Theogonie nach den Quellen des klassischen, hebräischen und christlichen Altertums [1857 – Abk.: Th], Gesammelte Werke, Bd. VII, 7–91). Aller asketischer Verzicht auf die Erfüllung von Wünschen dient nur der Erfüllung des Großwunsches ewiger Seligkeit (VWR, 277 f.). 43 Vgl. VWR, 284; Th, 37 ff. 44 VWR, 281. Auch wenn es Phänomene erfolgreicher Autosuggestion geben mag, wird man doch fragen dürfen: Ist es wirklich so einfach, sich etwas vorzustellen, dass man dann sicher zu haben meint? Ist der Wunsch, und gerade je stärker er ist, nicht bei aller Antizipation des Erstrebten vor allem davon gezeichnet, das Antizipierte noch nicht zu haben? Und ist es nicht so, dass alle bloße Einbildung des Ersehnten das Verlangen eher verstärkt als es zu stillen? Unmittelbar intuitiv ist es also nicht, anzunehmen, »die Einbildungskraft verwandel[e] das Subjektiv in Objektives, das Vorgestellte in Wirkliches, das ›O, wär’ ich! O, hätt’ ich!‹ in das ›Ich bin, ich habe‹, das Wunschwesen in Tatwesen« (VWR, 282). Zudem muss man sich Gollwitzers Frage mit Blick auf das göttliche Gericht und »Erlebnisse des mysterium tremendum« anschließen, ob wirklich alle Glaubensinhalte des Christentums in das »Schema der Wunschprojektion« (60) passen. (Feuerbach hätte im Bezug auf das Gericht die –
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Gründe der Nicht-Existenz Gottes
Indem der Mensch nun aber dasjenige in Gott hineinprojiziert, was ihm wünschenswert und gut scheint, beraubt er sich selbst dessen: »weil das Positive, das Wesentliche in der Anschauung oder Bestimmung des göttlichen Wesens allein das Menschliche [ist], so kann die Anschauung des Menschen, wie er Gegenstand des Bewusstseins ist, nur eine negative, menschenfeindliche sein. Um Gott zu bereichern, muss der Mensch arm werden; damit Gott alles, der Mensch nichts sei« (WC, 64 f.). 45 So seines Reichtums entäußert, erhofft er denselben von Gott zu erhalten: »Der Mensch – dies ist das Geheimnis der Religion – vergegenständlicht sein Wesen und macht dann wieder sich zum Gegenstand dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt, eine Person verwandelten Wesens; er denkt sich, ist sich Gegenstand, aber als Gegenstand eines Gegenstands, eines andern Wesens« (71). Damit ist aller Theozentrismus ein bloß vermeintlicher, weil versteckter Anthropozentrismus: »So bezweckt der Mensch nur sich selbst in und durch Gott. Allerdings bezweckt der Mensch Gott, aber Gott bezweckt nichts als das moralische und ewige Heil des Menschen, also bezweckt der Mensch nur sich selbst« (72). 46 Dem Wunschdenken kommt bei Feuerbach also die Funktion zu, den Grund der Projektion zu stellen. Bisweilen fungiert der Nachweis des Wunschdenkens aber auch als direkter Beweis der Unhaltbarkeit des Theismus. »Der klarste, unwidersprechlichste Beweis, dass der Mensch in der Religion sich als göttlichen Gegenstand, als göttlichen freilich unausgewiesene – Antwort parat, dass der Glaube die Hölle »nur für die Ungläubigen […] erfunden« [Th, 47] habe). 45 E. Schoenfeld 1987 hat gegen dieses Theorem der »self-alienation« in einer empirischen Erhebung gezeigt, dass »the integrative rather than the alienative view dominates the human perception of the God-people relationship« (226). Natürlich haben beide Konzepte ihren Sitz in den Religionen, aber die erstere, nach der »a positive view of God is more likely to be associated with a positive view of human nature« (232) scheint deutlich zu überwiegen. 46 »Die Christen verspotteten die heidnischen Philosophen, weil sie statt an sich, an ihr Heil, nur an die Dinge außer ihnen gedacht hätten. Der Christ denkt nur an sich« (WC, 92; vgl. WC, 316 f.). »Der Mensch verneint sich, aber nur um sich wieder zu setzen, und zwar jetzt in verherrlichter Gestalt. So verwirft er auch das Diesseits, aber nur um am Ende es als Jenseits wieder zu setzen. Das verlorne aber wiedergefundne und in der Freude des Wiedersehens um so heller strahlende Diesseits ist das Jenseits. […] Und die himmlischen Freuden sind dieselben, wie hier, nur befreit von den Schranken und Widerwärtigkeiten dieses Lebens. Die Religion kommt so, aber auf einem Umweg, zu dem Ziele, dem Ziele der Freude, worauf der natürliche Mensch in gerader Linie zueilt« (WC, 310 f.; vgl. VWR, 303).
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Feuerbach
Zweck anschaut, 47 dass er also in der Religion nur zu seinem eignen Wesen, nur zu sich selbst sich verhält – der klarste, unwidersprechlichste Beweis ist die Liebe Gottes zum Menschen, der Grund und Mittelpunkt der Religion« (WC, 115). Wenn er den Menschen liebt, dann bedeutet dies, dass der Mensch sein Höchstes ist. Wo dein Schatz ist, dort ist dein Herz: »Liebt also Gott den Menschen, so ist der Mensch das Herz Gottes […,] der Inhalt des göttlichen Wesens das menschliche Wesen […,] der Satz: ›Gott liebt den Menschen‹ ein Orientalismus – die Religion ist wesentlich orientalisch –, welcher auf Deutsch heißt: Das Höchste ist die Liebe des Menschen« (WC, 116). 48 An dieser Stelle zeigt sich in großer Klarheit ein Problem des Projektionsargumentes: Solange es aus der Wünschbarkeit eines religiösen Inhaltes sein bloßes Gewünschtsein schließt, überzieht es seinen Kredit. Denn zwar »ist es ganz richtig, dass darum etwas noch nicht existiert, weil man es wünscht, aber es ist nicht richtig, dass darum etwas nicht existieren könne, weil man es wünscht. […] Wenn die Götter Wunschwesen sind, so folgt daraus für ihre Existenz oder Nichtexistenz gar nichts.« 49 Es zeigt sich aber zugleich an dieser spezifischen Stelle, dass die postulierte Herrlichkeit des Menschen massiv ins Wanken gerät, wenn die Behauptung der Religion, er sei von Gott geliebt, ein Beweis Vgl. WR: »alles ist nur Mittel für mich. […] Gott ist die Ursache, der Mensch der Zweck der Welt« (72). »Sich, sich nur dient der Mensch, indem er Gott dient« (Ergänzungen und Erläuterungen zum Wesen der Religion [Abk.: EWR], Gesammelte Werke, Bd. X, 83). Das schließt übrigens die »Verehrung Gottes um seinetwillen« nicht aus: »Das nützlichste Wesen ist eben als das nützlichste auch das an sich selber herrlichste und verehrungswürdigste Wesen« (EWR, 83). Das ist jenes Um-seinetwillen, dem wir schon bei Platon und Thomas begegnet waren: Letztziel, aber nicht Letztzweck. 48 Vgl.: »[…] er will, dass ich selig werde; aber dasselbe will ich auch; mein eignes Interesse ist also das Interesse Gottes, mein eigner Wille Gottes Wille, mein eigner Endzweck Gottes Zweck – die Liebe Gottes zu mir nichts, als meine vergötterte Selbstliebe« (WC, 196). »Dass Gott ein andres Wesen ist, das ist nur Schein, nur Einbildung. Dass er dein eignes Wesen, das sprichst du damit aus, dass Gott ein Wesen für dich ist. Was ist also der Glaube anders als die Selbstgewissheit des Menschen […], dass sein eignes subjektives Wesen das objektive, ja absolute Wesen, das Wesen der Wesen ist« (WC, 229; vgl. WC, 349 ff., 521 f.; VWR, 65). 49 Eduard v. Hartmann nach Gollwitzer 1977, 62. Vgl.: »Die Möglichkeit, d. h. formale Widerspruchsfreiheit und damit Theoriefähigkeit dieser kausalanalytischen Erklärung des religiösen Gottesverhältnisses ist m. E. unbestreitbar; inhaltlich hat allerdings ihr […] Täuschungsvorwurf die Beweislast auf seiner Seite« (Enders 2004, 114). 47
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Die Religion verstehen
ihrer Unwahrheit sein soll. Dieses Argument schließt nämlich nur dann, wenn es widersinnig wäre, dass jemand den Menschen liebt. Das wäre dann aber doch das gerade Gegenteil von dem, was Feuerbach behaupten will.
5.5 Die Religion verstehen Der Religiöse ist nun genau derjenige, der sich der Herkunft des Glaubens aus Projektion und Wunschdenken nicht bewusst ist; »der Mangel dieses Bewusstseins begründet eben das eigentümliche Wesen der Religion« (WC, 46). »Das geheime Wesen der Religion ist die Einheit des göttlichen Wesens mit dem menschlichen – die Form der Religion aber oder das offenbare, bewusste Wesen derselben der Unterschied. Gott ist das menschliche Wesen; er wird aber gewusst als ein andres Wesen« (WC, 410). 50 An die Stelle der Theologie als Wissenschaft vom Absoluten tritt die Anthropologie als absolute Wissenschaft und begründet somit einen Anthropotheismus: »Der Anthropotheismus ist die selbstbewusste Religion – die Religion, die sich selbst versteht«. 51 Insofern geht es Feuerbach nicht um eine einfache Opposition zur Religion, sondern um ihre Korrektur in Aufklärung des eigentlich von ihr Gemeinten, Heimgang aus der Entfremdung. 52
5.6 Die Liebe ist Gott Während der Verstand einen abstrakten Gott hervorbringt, 53 der Wille einen moralischen, so geschieht das für die Religion Entscheidende in der Liebe, die diesen Gott als liebenden setzt. Die Menschlichkeit Gottes kulminiert in seiner Liebe, deren Kulminationspunkt ihrerseits folgerichtig die Menschwerdung ist. Das Geheimnis der Vgl. VWR, VI, 24: »Die Theologie ist Anthropologie […] Der Gott des Menschen ist nichts andres als das vergötterte Wesen des Menschen«. Vgl. GPZ, 265. 51 Thesen, 256; vgl. GPZ, 265. 52 Damit geht es »nicht um eine radikale Ausmerzung der schädlichen Religion, sondern um die Reduzierung der sich in ihr artikulierenden Prätentionen, um ihre Zurückführung auf und Reintegration in die Sphäre menschlicher Verhältnisse« (Röhr 2000, 106). 53 Vgl. GPZ, 266 ff. 50
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Feuerbach
Menschwerdung ist für Feuerbach das Offenbarwerden des Menschseins Gottes bzw., was dasselbe ist, der Göttlichkeit des Menschen. 54 Die Liebe fasst Feuerbach im Wesen des Christentums noch ganz agapeisch: »[…] wenn es auch eine eigennützige Liebe unter den Menschen gibt, so ist doch die wahre menschliche Liebe, die allein dieses Namens würdige, diejenige, welche dem andern zuliebe das Eigne aufopfert« (WC, 108 f.). 55 Allein dieses Um-des-anderen-willen verdient den Namen Liebe. Und es ist eben diese Liebe, die in Gott projiziert wird: »Wäre sonst nicht die Liebe vielleicht teuflische Liebe? Der Teufel liebt ja auch den Menschen, aber nicht um des Menschen, sondern um seinetwillen, also aus Egoismus, um sich zu vergrößern, seine Macht auszubreiten. Aber Gott liebt, indem er den Menschen liebt, den Menschen um des Menschen willen, d. h., um ihn gut, glücklich, selig zu machen« (WC, 108). Zur Göttlichkeit der Liebe gehört sodann das »Mysterium der Dreieinigkeit« (WC, 130). 56 Zwar ist sie auch eine Abschattung der Dreifaltigkeit menschlicher Kräfte 57 bzw. – Augustinus klingt an – seines Selbstverhältnisses 58 und der Denknotwendigkeit des Unterschiedes, 59 aber vor allem geht es in ihr um die Darstellung der Interpersonalität des Menschlichen: »Die Religion aber ist das Bewusstsein des Menschen von sich in seiner lebendigen Totalität, in welcher die Einheit des Selbstbewusstseins nur als die beziehungsreiche, erfüllte Vgl. WC, 101–104; 395 f; VWR, 303 ff.; Casper 1974, 28; Braun 1972, 99. Die Liebe »bewährt sich durch Leiden« (WC, 117) – weshalb der Glaube den Gott der Inkarnation als leidenden behauptet (vgl. WC, Kap. VI, 117–127). 56 Vgl. Braun 1971, 120. 57 »Sowenig ein Gott ohne Empfindung, ohne Leidensvermögen dem Menschen als einem empfindenden, leidenden Wesen genügt, sowenig genügt ihm auch wieder ein Wesen nur mit Empfindung, ein Wesen ohne Verstand und Willen. Nur ein Wesen, welches den ganzen Menschen in sich trägt, kann auch den ganzen Menschen befriedigen. Das Bewusstsein des Menschen von sich in seiner Totalität ist das Bewusstsein der Trinität« (WC, 130 f.). 58 »Gott denkt, Gott liebt, und zwar denkt er, liebt er sich; das Gedachte, Erkannte, Geliebte ist Gott selbst. Die Vergegenständlichung des Selbstbewusstseins ist das erste, was uns in der Trinität begegnet. […] Das göttliche Selbstbewusstsein ist nichts andres als das Bewusstsein des Bewusstseins als absoluter oder göttlicher Wesenheit« (WC, 132). 59 »Wenn ich den Unterschied aus Gott entferne, so gibt er mir keinen Stoff zum Denken; er hört auf, ein Denkobjekt zu sein; denn der Unterschied ist ein wesentliches Denkprinzip. Und wenn ich daher Unterschied in Gott setze, was begründe, was vergegenständliche ich anders, als die Wahrheit und Notwendigkeit dieses Denkprinzipes?« (WC, 170). 54 55
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Die Liebe ist Gott
Einheit von Ich und Du existiert«. 60 Erst so ist wirklich die Liebe und nicht bloß die Ratio in Gott abgebildet: »Denken kann man allein, lieben nur selbander« (WC, 135). Das interpersonale Geschehen der Liebe ist nun strikt dualistisch, weshalb die dritte Person in Gott bloß die »Einheit des Sohnes und Vaters, der Begriff der Gemeinschaft [ist], widersinnig genug selbst wieder als ein besondres, persönliches Wesen gesetzt« (WC, 137). 61 Es gilt, »dass dem strengen Begriffe der Liebe das Zwei genügt. Zwei ist das Prinzip und eben damit der Ersatz der Vielheit. Würden mehrere Personen gesetzt, so würde nur die Kraft der Liebe geschmälert; sie würde sich zerstreuen« (WC, 138). Ist der Primat der Liebe erst erkannt, so kommt alles darauf an, ihre der Projektion entspringende Personalisierung zurückzunehmen. Wo gesagt wird: »Gott ist die Liebe«, sind Subjekt und Prädikat noch geschieden: »Die Liebe wird so zurück- und herabgesetzt durch den dunklen Hintergrund[:] Gott. […] Solange die Liebe nicht zur Substanz, zum Wesen selbst erhoben wird, so lange lauert im Hintergrunde der Liebe ein Subjekt, das auch ohne Liebe noch etwas für sich ist, ein liebloses Ungeheuer, ein dämonisches Wesen, dessen von der Liebe unterscheidbare und wirklich unterschiedne Persönlichkeit an dem Blute der Ketzer und Ungläubigen sich ergötzt – das Phantom des religiösen Fanatismus!« 62 So wie der Gott der Religion in der Inkarnation seine Gottheit aufgegeben hat »aus Liebe, so sollen wir auch aus Liebe Gott aufgeben; denn opfern wir nicht Gott der Liebe auf, so opfern wir die Liebe Gott auf, und wir haben trotz des Prädikats der Liebe den Gott, das böse Wesen des religiösen Fanatismus«. 63 WC, 132; vgl. GPZ, 339 f. Vgl. WC, 259 f.; 391. In dieser Reduzierung der trinitarischen Drei-Personalität auf eine Zwei-Einheit folgt er Hegel (vgl. Splett 1965, 145–148). 62 WC, 106 f. »Im Prädikat betätige ich die Liebe, im Subjekt den Glauben. Die Liebe füllt nicht allein meinen Geist aus: Ich lasse einen Platz für meine Lieblosigkeit offen, indem ich Gott als Subjekt denke im Unterschied vom Prädikat« (ebd., 436). »Die Liebe ist an sich ungläubig, der Glaube aber lieblos. Ungläubig aber ist deswegen die Liebe, weil sie nichts Göttlicheres kennt als sich selbst, weil sie nur an sich selbst, als die absolute Wahrheit glaubt« (ebd., 338). 63 WC, 109. Daraus ergibt sich, wie Feuerbach gelegentlich der Ausführungen zum »leidenden Gott« darlegt, die folgende Struktur der Rückübersetzung von Religion in Wahrheit: »Was […] in der Religion Prädikat ist, das dürfen wir nur immer […] zum Subjekt, was in ihr Subjekt, zum Prädikat machen, also die Orakelsprüche der Religion umkehren, gleichsam als contre-vérités auffassen – so haben wir das Wahre. Gott leidet – Leiden ist Prädikat – aber für die Menschen, für andere, nicht für sich. Was heißt das auf Deutsch? Nichts andres als: Leiden für andere ist göttlich; wer für andere 60 61
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Feuerbach
Neben der agapeischen Füllung des Liebesbegriffes gibt es zwei weitere Bedeutungsfelder, die uns nicht eigens beschäftigen müssen, der Vollständigkeit halber aber erwähnt seien. 1) Eine eher sexuelle Begriffslinie, wenn nämlich die Liebe in der Dichotomie von Geist und Natur auf die Seite der Natur geschlagen und dieser damit Superiorität zugesprochen wird: »können wir uns einen lebendigeren, einen realeren Gegensatz denken, als den Gegensatz von Denken und Lieben, von Geist und Fleisch, von Freiheit und Geschlechtstrieb« (WC, 176). »Wo kein Du, ist kein Ich; aber der Unterschied von Ich und Du, die Grundbedingung aller Persönlichkeit, alles Bewusstseins, ist nur ein wirklicher, lebendiger, feuriger als der Unterschied von Mann und Weib. Das Du zwischen Mann und Weib hat einen ganz andern Klang, als das monotone Du zwischen Freunden« (WC, 178). 64 Sowie 2) eine emotionale Linie, nach der in der göttlichen Liebe das menschliche Gemüt über die bloße Vernunft die Oberhand gewinnt: »Gott ist die Liebe – d. h., das Gemüt ist der Gott des Menschen, ja Gott schlechtweg, das absolute Wesen«. 65
5.7 Göttlichkeit des Menschen »Das absolute Wesen, der Gott des Menschen ist sein eigenes Wesen« (WC, 35). Was gibt dem Menschen das Gewicht, aufgrund dessen er prinzipiell um seiner selbst willen geliebt werden soll? Wenn der Mensch in sich trägt, was er seit Urzeiten in Gottheiten projiziert, 66 woher kommt ihm der Eindruck der eigenen Endlichkeit, der ihn allererst dazu bringt, die Unendlichkeit eben nicht in sich, sondern außer sich zu wähnen? Dies liegt in seiner Individualität begründet, die leidet, seine Seele lässt, handelt göttlich, ist den Menschen Gott« (WC, 120; vgl. dazu Enders 2004, 117). 64 »Mann und Weib berichten und ergänzen sich gegenseitig, um so vereint erst die Gattung, den vollkommnen Menschen darzustellen« (WC, 273). Vgl. E, 269 ff. Löwith hält (mit F. Engels) dafür, dass die Geschlechtlichkeit der einzige Ort sei, wo der bei anderen derart massiv auf Konkretion drängende Feuerbach selbst anthropologisch konkret werde (Löwith 1941, 334 f.; vgl. zur Kritik F. Engels Grandt 2006, 316 ff.). 65 WC, 220. Vgl. ebd., 226: »Allmacht der Güte […] in Wahrheit nichts andres als die Allmacht des Herzens, des Gefühls, welches alle Verstandesschranken durchbricht, alle Grenzen der Natur überflügelt, welches will, dass nichts andres sei als Gefühl, nichts sei, was dem Herzen widerspricht.« 66 »Sind die Bestimmungen des göttlichen Wesens menschliche, so sind ja die menschlichen Bestimmungen göttlicher Natur« (WC, 385).
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Göttlichkeit des Menschen
im Gegensatz zum »Wesen« 67 oder der »Gattung« tatsächlich gewissen Einschränkungen unterworfen ist. »Der Gegensatz des Göttlichen und Menschlichen« ist mithin nichts anderes »als der Gegensatz zwischen dem menschlichen Wesen und dem menschlichen Individuum« (WC, 66). 68 Das Ich ist endlich, also auch sein Du. Vollkommenheit hat erst das »Ich und Du«. Ihre »vereinte Kraft unterscheidet sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ von der vereinzelten. Einzeln ist die menschliche Kraft eine beschränkte, vereinigt eine unendliche Kraft« (WC, 166). Das Christentum, wie Feuerbach es rekonstruiert, hat genau hier die Spur wahrer Menschlichkeit verloren. Es hat über dem Individuum die Gattung vergessen; es geht ihm um den Einzelnen, und darin dem Einzelnen um sich, um seine Rechtfertigung, seine Auferstehung etc. So auf sich fixiert aber erfährt sich der religiöse Mensch vor allem in seinen individuellen Schranken, die er zugleich zu überwinden trachtet im Glauben an einen unbeschränkten Gott. Dagegen gilt es, die Gattung in den Blick zu nehmen. In ihr sind die individuellen Grenzen überwunden. Die Schranken eines Menschen sind nicht die Schranken der Gattung. »Unbeschränkt ist […] die Gattung, beschränkt nur das Individuum« (WC, 268). Es gilt, »dass die Menschen erst zusammen den Menschen ausmachen, die Menschen nur zusammen das sind und so sind, was und wie der Mensch sein soll und sein kann« (WC, 273). 69 Schließlich: »Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); der Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du – ist Gott« (GPZ, 339). Deshalb sei auch die Sündhaftigkeit des Menschen nicht das Drama, das das Christentum in ihr sieht. Das »Lamento über die Sünde kommt nur da an die Tagesordnung«, wo sich das Individuum Wesen wird – v. a. in den Überarbeitungen der dritten Auflage – inkonsequent verwandt, häufig bedeutet es auch einfach Existenz bzw. Substanz/Subjekt in Abhebung von bestimmenden Prädikaten (vgl. z. B. WC, 44 ff.). 68 Vgl. Wartofsky 1977, 276 ff. 69 »Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich, weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt« (GPZ, 338 f.). 67
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Feuerbach
verabsolutiert, »und deswegen seine Sünden, seine Schranken, seine Schwächen zu allgemeinen Sünden, zu Sünden, Schranken und Schwächen der Menschheit selbst macht« (WC, 276 f.). Auf die Gattung gesehen werde dagegen die Untugend des Einen durch die Tugend der Anderen aufgehoben: »Es ergänzen sich also auch im Moralischen, wie im Physischen und Intellektuellen, gegenseitig die Menschen, so dass sie im Ganzen zusammengenommen so sind, wie sie sein sollen, den vollkommenen Menschen darstellen« (WC, 273). 70 Sieht man auf diese Bedeutung der Gattung für den Wert des Einzelnen, steht Feuerbachs Liebe zum Einzelnen als ihm selbst in der sehr konkreten Gefahr, zu einem Vollzug der Gattung zu werden und um der Gattung willen zu geschehen. So ist die Liebe »die Verwirklichung der Einheit der Gattung auf dem Wege der Gesinnung« (WC, 338). »Die Liebe kann sich nur gründen auf die Einheit der Gattung, der Intelligenz, auf die Natur der Menschheit; nur dann ist sie eine gründliche, im Prinzip geschützte, verbürgte, freie Liebe, denn sie stützt sich auf den Ursprung der Liebe« (WC, 338 f.). Diese Spannung zwischen unvermittelter Liebe von unrückführbarem Ich und Du und Wesensvollzug der Gattung in den Individuen beherrscht das Wesen des Christentums, wie besonders der folgende Absatz zeigt, indem Feuerbach permanent zwischen beidem schwankt: »Wir sollen den Menschen um des Menschen willen lieben. Der Mensch ist dadurch Gegenstand der Liebe, dass er Selbstzweck, Vgl. EWR, 99; Röhr 2000, 115 f. Barth hat mit Hans Ehrenberg Feuerbach einen »Verkenner des Bösen« genannt (1976 [1927], 22). Dass Arroyo 2006 ihn von diesem Vorwurf mit dem Hinweis auf die Rückabwicklung des Anthropozentrismus und auf die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit und Abhängigkeit im späteren Werk (63) »mit einem klaren Nein« (64) meint freisprechen zu können, offenbart seinerseits eine Unkenntnis dessen, was der Begriff des Bösen meint (denn dieser meint statt Endlichkeit und Abhängigkeit gerade deren Ablehnung und den Versuch ihrer Überwindung aus Stolz oder Angst). Dagegen hält im selben Band Hassan Givsan Feuerbach vor, dass er bloß die positiven, aber nicht die negativen/diabolischen Elemente des Religiösen in Anthropologie aufgelöst habe (deren »wesentliche[s] [Z]usammengehören« [75] hier nicht problematisiert sei). Das folgende Jahrhundert habe die Naivität der Verklärung des Menschlichen bewiesen, bewahrheitete es doch vor allem das von Feuerbach geleugnete »Homo homini diabolus est« (79). »[H]ätte Feuerbach den Satan, das Satanische nicht vergessen, hätte er erkennen müssen, dass ›Ich und Du‹ und die ›Liebe‹ die Höllenpein sein und heißen können und nicht selten sind und heißen. […] Dabei muss man nicht an die Liebesbranche, an die Folterkammern und an die KZs erinnern, denn schon diesseits davon ist die Höllenpein des ›Ich und Du‹ in allen Bereichen und in allen Beziehungsformen anzutreffen« (82).
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Göttlichkeit des Menschen
dass er ein vernunft- und liebefähiges Wesen ist. Dies ist das Gesetz der Gattung, das Gesetz der Intelligenz. Die Liebe soll eine unmittelbare Liebe sein, ja, sie ist nur als unmittelbare Liebe wirklich Liebe. Schiebe ich aber zwischen den Andern und mich, der ich eben in der Liebe die Gattung verwirkliche, die Vorstellung einer Individualität ein, in welcher die Gattung schon verwirklicht sein soll, so hebe ich das Wesen der Liebe auf, störe die Einheit durch die Vorstellung eines Dritten außer uns; denn der Andere ist mir dann nur um der Ähnlichkeit oder Gemeinschaft willen, die er mit diesem Urbild hat, nicht um seinetwillen, d. h. um seines Wesens willen Gegenstand der Liebe. […] Die Liebe ist die subjektive Existenz der Gattung, wie die Vernunft die objektive Existenz derselben. Die Liebe ist aber, wie gesagt, nichts andres als die Betätigung, die Verwirklichung der Einheit der Gattung durch die Gesinnung. Die Gattung ist kein bloßer Gedanke; sie existiert im Gefühle, in der Gesinnung, in der Energie der Liebe. Die Gattung ist es, die mir Liebe einflößt. Ein liebevolles Herz ist das Herz der Gattung. […] Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt, wer sich zur Liebe der Gattung erhebt, zur universalen, dem Wesen der Gattung entsprechenden Liebe, der ist Christ, der ist Christus selbst. Er tut, was Christus tat, was Christus zu Christus machte. Wo also das Bewusstsein der Gattung als Gattung entsteht, da verschwindet Christus, ohne dass sein wahres Wesen vergeht; denn er war ja der Stellvertreter, das Bild des Bewusstseins der Gattung.« 71 Man sieht die Spannung: Die Unmittelbarkeit des liebenden Ich wie des geliebten Du wird auf das Schärfste eingefordert, und deshalb die Vermittlung in Christus abgelehnt, zugleich aber werden sowohl der Liebende als auch der Geliebte als auch die Liebe zwischen beiden als Erscheinung und Vollzug der Gattung beschrieben. Die Forschung hat mit Recht in diesem hypostasierten Gattungsdenken einen idealistisch-hegelschen Rest ausgemacht. 72 Sosehr WC, 341 f. Vgl. auch Braun 1971, 122. Röhr 2000 (106–120) sieht schon in WC eine deutliche Abkehr von der »Hypostasierung des Menschen« am Werk, gibt allerdings zu, dass dies von Feuerbach »nicht in allen Passagen mit der wünschenswerten Klarheit herausgestellt wird« (118 f.). Rawidowicz 1964 urteilt schärfer und m. E. angemessener, »[d]ass Feuerbachs Fassung des Gattungsbegriffs [in WC] von den Spuren der absoluten Identitätsphilosophie nicht ganz frei ist« (106), ja, dass selbst »in den späteren Auflagen des ›Wesen des Christenthums‹ […] seine auch jetzt noch nicht ganz überwundene Abhängigkeit von Hegel, an vielen Stellen durchbricht und dadurch die Entfaltung der bewusst beabsichtigten neuen Tendenz [gegen den »Hegelschen Identitätsgedanken« {ebd.} und »Intellektualismus« {90}] häufig hemmend beeinflusst« (104). Wartofsky 1977
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Feuerbach
Feuerbach seinen Lehrer Hegel seit Ende der 1830er Jahre überwinden will, 73 so schwer fällt es, sein Vorhaben ganz vom Hegelschen Theorieüberbau abzutrennen. Max Stirner hat 1844 in seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum dieses göttliche Wesen des Menschen als erneute Transzendenz über dem Individuum beklagt. 74 Feuerbach sage, »Wir hätten Unser eigenes Wesen nur verkannt und darum es im Jenseits gesucht, jetzt aber, da Wir einsähen, dass Gott nur Unser menschliches Wesen sei, müssten Wir es wieder als das Unsere anerkennen und aus dem Jenseits in das Diesseits zurückversetzen. Den Gott, der Geist ist, nennt Feuerbach ›Unser Wesen‹. Können Wir Uns das gefallen lassen, dass ›Unser Wesen‹ zu Uns in einen Gegensatz gebracht, dass Wir in ein wesentliches und ein unwesentliches Ich zerspalten werden? Rücken Wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück, aus Uns selbst Uns verbannt zu sehen?« 75 »Ich bin weder Gott, noch der Mensch, weder das höchste Wesen, noch Mein Wesen, und darum ist’s in der Hauptsache einerlei, ob Ich das Wesen in Mir oder außer Mir denke.« 76 Feuerbach antwortet 1845 mit dem Aufsatz Über das ›Wesen des Christentums‹ in Beziehung auf den ›Einzigen und sein Eigentum‹. Darin versucht er zu zeigen, dass sein Wesensbegriff keineswegs das Individuum transzendiere, – dies allerdings mit großen Problemen. Es gehe gerade um »die Gottheit des Individuums«, 77 aber eben nicht nur um das Eine, weil eben keines ein einziges sei. Die »profane sinnliche Anschauung« zeige zwar »seinen individuellen Unterschied, aber auch zugleich, unverkennbar, unverleugbar seine Identität mit den anderen Individuen, seine Gemeinheit«. 78 Es geht um den Einzelspricht von »difficulties, if not outright contradictions, in Feuerbach’s notion of species being as this universal itself, that is, to the objective existence of species being as self-consciousness, realized not as an independently existing ›real‹, but as constituted by the species awareness of individuals, in what may be regarded as an (Aristotelian) conceptualist position on the questions of universals. The critique of Feuerbach from the ›left‹ (e. g., by Stirner, Marx, and Engels) rests squarely on this issue, in the charge that Feuerbach’s individuals are not concrete enough, that his species being is too abstract, and that his humanism, therefore, remains an abstract humanism« (341 f.). 73 Rekonstruiert in Gagern 1970, 23–148; Wartofsky 1977, 135–195, und Arndt 1994. 74 Vgl. Wartofsky 1977, 423 ff.; Braun 1972, 114; Gagern 1970, 343 ff. 75 Max Stirner 2011, Der Einzige und sein Eigentum, 34. 76 Ebd., 35. 77 Gesammelte Werke, Bd. IX, 430. 78 Ebd., 432.
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Göttlichkeit des Menschen
nen, denn die Gattung ist ein Abstractum, das nur im Einzelnen existiert und überhaupt nur eine Weise ist, die einzelnen Menschen in ihrer Gesamtheit zu benennen – jedoch immer in einer Gesamtheit Einzelner. Sie ist »nicht ein abstractum, sondern nur, dem einzelnen, für sich selbst fixierten Ich gegenüber, das Du, den andern, überhaupt die außer mir existierenden Individuen«. 79 Gattung bedeutet also jeder. Aber muss für dieses Jeder nicht doch irgendeine Wesentlichkeit benannt werden, die in allen identisch ist? 80 Letztlich zerbricht die Gattung als Wesen an Feuerbachs Sensualismus und seinem Programm reiner Diesseitigkeit, und sie liegt ab dem Wesen der Religion endgültig hinter Feuerbach. 81 Dennoch: Setzen wir statt der Gattung das konkrete »Ich und Du«, so haben wir ein ähnliches Problem. Der Einzelne ist nicht göttlich, sondern erst mit dem Anderen. 82 Woher aber dann sein unendlicher Liebeswert, wenn doch seine Unendlichkeit erst mit dem Anderen gegeben ist? Wird dann das Du nur geliebt um des Ergebnisses willen: dem göttlichen Ich-Du? Dann ist das Individuum nicht minder verzweckt. 83 Auch wenn Feuerbach sich diese(r) Frage nie stellt, kann sie subkutan zu der Entwicklung weg von der Unbedingtheit des Menschen beigetragen haben.
Ebd., 434; vgl. E, 249 f.; Amengual 1994, 27 f. Wartofsky bringt die größtmögliche Konsistenz in das Gattungsdenken des mittleren Feuerbachs (sogar wohl mehr, als bei Feuerbach vorfindlich ist). Die Gattung sei, wie die Aristotelische Form, nur in den Individuen aktualisiert und keine Wirklichkeit für sich, aber eben so, dass sie gerade als Gattung, also als verbindend Gemeinsames, individualisiert sei. »For Aristotle, the individual is ontologically prior, the species dependent on and existing only in and through individuals. So too for Feuerbach, except that the individual is individuated only as a species being. The human individual, by nature, is human just in being a species being qua individual – never a bare particular, a this, but always a this such; not by virtue of participating in or expressing a prior universality, (…) but as constituting the species, by this human individual’s very mode of being« (Wartofsky 1977, 423; vgl. 426). 81 Vgl. Röhr 2000, 137 f.; Gollwitzer 1977, 57 f. Vgl. auch Feuerbach an Julius Duboc, 6. April 1861, Gesammelte Werke, Bd. XX, 339 f. 82 »[…] das Ich, welches das Relat der kommunizierenden Bewegung ist, muss selbst als Gegensatz von Ich und Du verstanden werden« (Arndt 1994, 80). 83 Ist nicht hier schon grundgelegt, was spätere und radikalere Linkshegelianer mit dem sich der Gemeinschaft entziehenden Einzelnen anzustellen wissen? 79 80
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Feuerbach
5.8 Der späte Feuerbach. Abschied von der Göttlichkeit des Menschen Für unser Thema sind es vier relevante, organisch zusammenhängende Punkte, in denen Feuerbachs Lehre eine Wende nimmt. Das Erste (5.8.1) ist eine deutliche Aufwertung der Natur, sodann (5.8.2) die Verendlichung des Menschen, die Egozentrierung der Liebe (5.8.3) und schließlich das Ende der Freiheit (5.8.5).
5.8.1
Die Natur als Grund des Menschen
Feuerbach bekennt, dass die Natur im Wesen des Christentums zu kurz gekommen sei. Dies sei allerdings in der Naturvergessenheit des Christentums begründet (VWR, 26), dem es mehr um die »moralischen« als die »physischen« Eigenschaften Gottes (VWR, 28) gehe. Die Schrift Das Wesen der Religion und die dazugehörigen etwas später gehaltenen Vorlesungen über das Wesen der Religion 84 wollen die Bedeutung der Natur für die Religion nun nachliefern. 85 Freilich wird das, was Feuerbach im Wesen der Religion zur Natur zu sagen hat, im Wesen des Christentums bereits begonnen. Schon hier versucht er, die Faktizität des Naturalen dem Verdacht des Kontingenten zu entheben. Was ist, ist notwendig. »Warum ist überhaupt etwas, warum die Welt? Aus dem einfachen Grunde, weil, wenn nicht Etwas existierte, das Nichts existierte, wenn nicht die Vernunft, nur Unvernunft wäre – also darum ist die Welt, weil es ein Unsinn ist, dass die Welt nicht ist. In dem Unsinn ihres Nichtseins findest du den wahren Sinn ihres Seins, in der Grundlosigkeit der Annahme, sie sei nicht, den Grund, warum sie ist« (WC, 86). »Ich kann die Welt immer nur aus sich selbst ableiten.« 86 Vier Jahre nach Erscheinen von Wesen des Christentums verfasst Feuerbach die Schrift zum Wesen der Religion (1845, veröffentlicht 1846). Vom Dezember des Revolutionsjahres 1848 bis März 1849 hält er am Leitfaden dieser Schrift im Hause Christian Kapps in Heidelberg Privatvorlesungen (vgl. Winiger 2011, 234 ff.), woraus dann ein eigenständiger Text, die Vorlesungen über das Wesen der Religion, wird (erstmals publiziert 1850). 85 Vgl. Rawidowicz 1964, 164; Wartofsky 1977, 387. 86 WC, 168. Vgl.: »Aus dem Dasein auf die Notwendigkeit und Wesenhaftigkeit eines Gegenstandes schließen, ist doch gewiss weit vernünftiger und sicherer, als aus der Notwendigkeit eines Wesens auf sein Dasein schließen; denn diese Notwendigkeit, die Notwendigkeit, die sich nicht auf das Dasein gründet, kann eine nur subjektive, nur 84
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Der späte Feuerbach. Abschied von der Göttlichkeit des Menschen
Dieser logisch zweifelhaften Behauptung der Notwendigkeit des Faktischen als Faktischen tritt zur Seite das existentielle Argument, dass die Welt in ihrer ästhetischen Selbstrechtfertigung keines Woher bedarf. »Die Frage: woher ist die Natur oder Welt? setzt eigentlich eine Verwunderung darüber voraus, dass sie ist, oder die Frage: warum sie ist. Aber diese Verwunderung, diese Frage entsteht nur da, wo sich der Mensch bereits von der Natur abgesondert und sie zu einem bloßen Willensobjekt gemacht hat. […] Wem die Natur ein schönes Wesen ist, dem erscheint sie als Zweck ihrer selbst, für den hat sie den Grund ihres Daseins in sich selbst, in dem entsteht nicht die Frage: warum ist sie?« (WC, 206). Die Natur ist »herrlich« 87 und verbietet aus dem Status solcher Selbstrechtfertigung die Frage nach ihrem Woher. 88 Im Wesen der Religion zieht Feuerbach diese naturale Linie seines Denkens weiter aus, indem er die Natur nun ausdrücklich neben den Menschen stellt; als seinen Ursprung überragt sie ihn und wird gleichzeitig – als bloße Natur – von ihm, dem ihr Entsprungenen, qualitativ überragt. »Das bei mir dem Menschen vorausgesetzte Wesen, das Wesen, welches die Ursache oder der Grund des Menschen ist, welchem er seine Entstehung und Existenz verdankt, das ist und heißt bei mir nicht Gott – ein mystisches, unbestimmtes, vieldeutiges Wort –, sondern Natur, ein klares, sinnliches, unzweideutiges Wort und Wesen. Das Wesen aber, in dem die Natur ein persönliches, bewusstes, verständiges Wesen wird, ist und heißt bei mir der Mensch. Das bewusstlose Wesen der Natur ist mir das ewige, unentstandene Wesen, das erste Wesen, aber das erste der Zeit, nicht dem Rang nach, das physisch, aber nicht moralisch erste Wesen; das bewusste menschliche Wesen ist mir das zweite, das der Zeit nach entstandene, aber dem Range nach erste Wesen« (VWR, 29). Die »Natur [ist] ein ursprüngliches, erstes und letztes Weeingebildete sein« (VWR, 162). Was Feuerbach hier versucht, ist die Überführung der logischen Notwendigkeit des Nichtwiderspruchsprinzips in eine ontologische. Es gilt notwendig: Wenn A, dann A. Nun aber A, also A. Daraus folgert Feuerbach: Weil A nicht nicht sein kann, wenn es ist, kann es schlechterdings nicht nicht sein. A aber ist im Unterschied zur Formel »A = A« eben nicht in sich notwendig, sondern abhängig von der Bedingung A. 87 WC, 179, 207, 220, 239, 325, 332. 88 Dem liegt unausgesprochen das schon in der Negation Gottes um des Menschen willen mitgehende Axiom zugrunde, nach dem daraus, dass etwas um seiner selbst willen existiert, folgt, dass es deshalb auch aus sich selbst existieren muss.
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Feuerbach
sen […], über das wir nicht hinausgehen können« (VWR, 97). Den Kritikern, die seinen Naturbegriff unklar heißen (VWR, 104), versucht er in immer neuen Anläufen Präzisionen des Begriffes entgegenzuhalten. Nimmt man diese zusammen, ergeben sich folgende Elemente: Gnoseologisch ist entscheidend ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit, 89 ontologisch ihre sinnlich-stoffliche, d. h. nicht-geistige Existenz, die ihren An-sich-Status begründet, 90 ihre Aseität 91 und ihre Determination 92. Der »Inbegriff aller sinnlichen Kräfte, Dinge und Wesen […] – nichts weiter, nichts Mystisches, nichts Nebuloses, nichts Theologisches […]. Ich appelliere bei diesem Worte an die Sinne. […] Natur, sage ich, ist alles, was du siehst und nicht von menschlichen Händen und Gedanken herrührt« (VWR, 104). 90 Das Sinnliche ist »das Erste im Sinne des Unableitbaren, des durch sich selbst Bestehenden und Unableitbaren. […] Der Wahrheit und Wesenhaftigkeit […] entspricht daher die Wahrheit und Wesenhaftigkeit der Sinne« (VWR, 100). 91 »[…] dass die Natur keine Wirkung eines von ihr unterschiedenen Wesens, sondern […] Ursache ihrer selbst, dass sie kein Geschöpf, kein gemachtes oder gar aus nichts geschaffnes, sondern ein selbständiges, nur aus sich zu begreifendes, nur von sich abzuleitendes Wesen sei« (VWR, 197). 92 »[…] ich verstehe überhaupt unter Natur […] [das] nach der Notwendigkeit seiner Natur wirkende Wesen, aber es ist mir nicht […] ein Gott, d. h. ein zugleich wieder übernatürliches, übersinnliches, abgezogenes, geheimes, einfältiges, sondern ein vielfältiges, populäres, wirkliches, mit allen Sinnen wahrnehmbares Wesen« (VWR, 104; vgl. WR, 4). Es ist ungeheuer schwer, Feuerbachs Naturbegriff kohärent nachzuzeichnen. Denn es bleibt ihm nicht erspart, um der Natur, die doch »mit allen Sinnen wahrnehmbar« sein soll, überhaupt eine »Wirk«-lichkeit zu geben, immer wieder Denkformen heranzuziehen, die so nicht sichtbar sind. So im selben Abschnitt: »Natur ist das Wesen oder der Inbegriff der Wesen und Dinge, deren Erscheinungen, Äußerungen oder Wirkungen, worin sich eben ihr Dasein und Wesen offenbart und besteht, […] in astronomischen oder kosmischen, mechanischen, chemischen, physischen, physiologischen oder organischen Kräften oder Ursachen ihren Grund haben« (VWR, 105). Von vier Ebenen ist die Rede: 1) von »Erscheinungen, Äußerungen oder Wirkungen«; 2) von »Kräften oder Ursachen«; 3) von der Natur »als Wesen oder Inbegriff« der 4) »Wesen und Dinge«, deren Erscheinung, Äußerungen oder Wirkungen (1) in (2) ihren Grund haben. Es dürfte ersichtlich sein, dass das einzig eindeutig sichtbare (1) ist, und dass sowohl die zu ihrer Erklärung herangezogenen Kräfte (2) als auch die sich in (1) offenbarenden Wesen und Dinge (4) als auch der Inbegriff dieser Wesen, die Natur (3), als solche nicht sichbar sind. Damit aber ist jedoch schon (1) nicht als »Erscheinung, Äußerung oder Wirkung«, sondern bloß als factum brutum sichtbar. So aber erweist sich, dass Sensualismus und Materialismus schon von vorneherein überstiegen sind in einen Szientismus, der als Erklärung für das Sichtbare einzig die »sogenannten realen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften« (GPZ, 285 f.) für zuständig hält – was er freilich, wenn gefragt, weder aus den Naturwissenschaften noch aus den bloßen sensual erkannten Fakten ableiten könnte, und dessen Umkippen in einen erkenntnistheoretischen Positivismus bloß 89
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Der späte Feuerbach. Abschied von der Göttlichkeit des Menschen
Der qualitative Unterschied von bloßer Natur und Mensch besteht in dessen Rationalität: »die Natur ist blind und verstandlos; sie ist, was sie ist, und tut, was sie tut, nicht absichtlich, nicht mit Wissen und Willen, sondern notwendig, oder, wenn wir den Menschen, wie sich gehört, zur Natur rechnen – er ist ja auch ein Naturwesen, ein Naturgeschöpf –, sie hat ihren Verstand nur im Verstande des Menschen«. 93 Dieser Natur gegenüber weiß sich der Mensch abhängig, und sein Abhängigkeitsgefühl 94 wird nun zum vorherrschenden Motor der Religionswerdung, in der der Mensch versucht, die Mächte der Natur sich wohlgesonnen zu stimmen.
5.8.2
Der Mensch: Krönung der Natur, aber nicht göttlich
Diese stärkere Gewichtung der Natur im Prozess der Religionswerdung und in der Wertehierarchie stellt die eine Seite der Schwerpunktverschiebung beim späteren Feuerbach dar. Verbunden damit ist eine Entwicklung, die nicht mehr bloß als Umgewichtung beschrieben werden kann, sondern einen offenen, aber nicht eingestandenen Widerspruch zum Wesen des Christentums darstellt: die Entgöttlichung und Verendlichung des Menschen. Feuerbach hat die Verve, mit der er den Menschen auf den freigewordenen Thron des als Wunschbild entlarvten Gottes gesetzt hat, im Laufe seiner Arbeiten nicht aufrechterhalten können. »So wenig ich im Wesen des Christenthums, wie man mir thörichter Weise vorgeworfen, den Menschen vergöttert, d. h. zu einem Gotte im Sinne des theologisch religiösen Glaubens, welchen ich ja eben in seine menschlichen, antitheologischen Elemente auflöse, gemacht wissen will, wenn ich ihn als das Ziel des Menschen bestimme, so wenig will ich die Natur im Sinne der Theologie oder des Pantheismus vergöttert wissen, wenn ich sie als den Grund der menschlichen Existenz, als das Wesen, von dem sich der Mensch abhängig, von dem er sich unzertrennlich wissen soll, bestimme. So gut ich ein menschliches Individuum verehren und lieben kann, ohne es deswegen zu vergöttern, ohne selbst desweeine Frage der Zeit ist (vgl. die vorsichtigen Anfragen bei dem Feuerbach wohlgesonnenen, aber kritisch-wachen Wartofsky 1977, 401 – von allen gesichteten Versuchen, Feuerbach zu systematisieren, trägt seiner mit Abstand am Weitesten). 93 VWR, 193 f.; vgl. VWR, 227. 94 Bzgl. der Querverbindungen zu Schleiermacher, s. Röhr 2000, 120–144; Braun 1972, 124 f.
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Feuerbach
gen seine Fehler und Mängel zu übersehen, so gut kann ich auch die Natur als das Wesen, ohne welches ich Nichts bin, anerkennen, ohne deswegen ihren Mangel an Herz, Verstand und Bewusstsein, die sie erst im Menschen bekommt, zu vergessen, ohne also in den Fehler der Naturreligion und des philosophischen Pantheismus zu verfallen, die Natur zu einem Gotte zu machen«. 95 Der Gläubige denkt also nicht bloß zu gering von sich, indem er das, was eigentlich das Seine ist, in Gott projiziert, er will zugleich zu hoch hinaus: »Der Christ will nicht Mensch, er will unendlich mehr, er will ein göttliches, ein moralisch vollkommnes Wesen, d. h. ein ideales, gedachtes, kein wirkliches, ein abstraktes, kein sinnliches, Wesen sein; denn das moralisch vollkommne Wesen, der Gott, den der Christ als sein Urbild, als das Ziel seines Strebens sich vorsetzt, ist nichts andres als das abgezogene Wesen der Moral, das Wesen des Menschen, inwiefern er ein moralisches Wesen ist, aber gedacht ohne alle ›menschliche Schwachheiten‹ und Mängel, gereinigt von den Blutflecken der Sinnlichkeit, befreit von den Schranken überhaupt, die den Menschen verhindern, ein vollkommenes moralisches Wesen zu sein« (EWR, 108). Die Unendlichkeit des Menschen ist nicht mehr Wesensbestand von Ich und Du bzw. der Gattung, sondern die prinzipielle Unersättlichkeit seines Strebens und Begehrens: »der unendlich, der vollkommen sein wollende Geist des Menschen«, sein »Alles-wissen-Wollen«, sein »unendliche[r], durch kein Gut, kein Glück der Erde befriedigte[r] Glückseligkeitstrieb«, sein »Verlangen nach vollkommener, durch keine sinnlichen Triebe befleckte Moralität« VWR, 36; vgl. 103. Erst durch die Entkleidung eines Gegenstandes von seinem Nimbus »tritt er in seine wahre, selbsteigene Würde ein […], denn so lange ein Ding oder Wesen ein Gegenstand religiöser Verehrung ist, so lange schmückt es sich mit fremden Federn, nämlich mit den Pfauenfedern der menschlichen Phantasie« (VWR, 47). – Dazu gibt es zweierlei zu sagen: 1) Feuerbachs Behauptung, es sei ein »thörichter Vorwurf«, wenn man ihm nachsage, er habe im Wesen des Christentums den Menschen vergöttert, ist schlicht nicht haltbar. Dass er ihn nicht im Sinne der Theologie zum Gott erklärt hat, stimmt zwar, ist aber auch trivial. Im Sinne der Theologie ist Gott Gott; im Sinne Feuerbachs ist der Mensch, Ich und Du, Gott. Natürlich können auf diesen neuen Gotteskandidaten nicht mehr alle Attribute des alten Gottes passen. So fallen einleuchtenderweise seine Transzendenz, seine reine Geistigkeit, und vieles mehr weg. Was aber blieb, ist seine Unendlichkeit, Vollkommenheit und Erhabenheit, und die hat Feuerbach durchaus und zwar mit großem Pathos vertreten (Das menschliche »Leben ist überhaupt in seinen wesentlichen Verhältnissen durchaus göttlicher Natur« [WC, 445; vgl. oben Kap. 5.7]).
95
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Der späte Feuerbach. Abschied von der Göttlichkeit des Menschen
(VWR, 293 f.). Wenn aber aus dieser Unendlichkeit des Strebens der »psychologische« Gottesbeweis die Existenz eines aktual Unendlichen schließen will, so liegt eine Verwechslung von Unbeendbarkeit und Unendlichkeit vor (vgl. VWR, 294). Es ist vielmehr so, dass der Mensch seine eigene Unendlichkeit erstrebt (v. a. im »Wunsch der Wünsche«, d. i. jener nach dem ewigen Leben) 96 und dafür ein schon Unendliches als Garant seiner Wünsche erträumt, nämlich Gott (vgl. VWR, 299 f.), während er doch die Grenzen des Endlichen zwar weiter hinausschieben, niemals aber prinzipiell überwinden kann. Indem der Mensch sich einen göttlichen Vater erdenkt, behauptet er seine göttliche Abkunft (vgl. VWR, 306) bzw. eigentlich seine Göttlichkeit (denn die Abkunft ist ja bloß Fiktion). »Gott ist der personifizierte Gattungsbegriff des Menschen, die personifizierte Göttlichkeit und Unsterblichkeit des Menschen« (307). Dies kann aber seinen Grund nur darin haben, dass der Mensch um diese seine Hoheit innerlich schon weiß: »[…] wie kann ich an die Notwendigkeit der Erfüllung meiner Wünsche, welche der Grund der Notwendigkeit eines Wunscherfüllers, eines Gottes ist, glauben, ohne an mich, ohne an die Wahrheit und Heiligkeit meines Wesens zu glauben? […] Der Glaube an Gott ist daher nur abhängig von dem Glauben des Menschen an die übernatürliche Hoheit seines Wesens« (VWR, 307). 97 Diese übernatürliche Hoheit ist nun falsch gefasst, wenn sie als Göttlichkeit im Sinne der Unendlichkeit verstanden wird. Der Mensch ist kein Infinitum, aber ein Indefinitum, und er macht aus seinen indefiniten Möglichkeiten eine infinite Wirklichkeit: a) »In der göttlichen Allwissenheit« erfüllt er seinen »Wunsch«, alles zu wissen; oder vergegenständlicht die »Fähigkeit des menschlichen Geistes, in seinem Wissen nicht auf diesen oder jenen Gegenstand beschränkt zu sein, sondern alles zu umfassen«. b) »In der göttlichen Allmacht verwirklicht er nur den Wunsch, alles zu können«; bzw. »vergöttert der Mensch nur sein Allvermögen, seine unbeschränkte Fähigkeit zu allem«. c) »In der göttlichen Seligkeit und Vollkommenheit verwirklicht der Mensch nur den Wunsch, selbst selig und vollkommen, folglich auch moralisch vollkommen zu sein« (VWR, 307 f.).
»[…] dieser Wunsch ist der letzte und höchste Wunsch des Menschen, der Wunsch aller Wünsche, wie und weil das Leben der Inbegriff aller Güter ist« (VWR, 302). 97 Vor diesem Hintergrund diagnostiziert Röhr, dass der »die menschlichen Wünsche ins Unendliche überhöhende Anthropozentrismus […] nicht im anthropologischen Atheismus, sondern im Theismus beheimatet« sei (142). 96
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Feuerbach
Die Aufklärung des späten Feuerbachs besteht nun darin, das Infinite nicht mehr in den Menschen zu setzen, sondern als Wunschtraum zu entlarven. Einerseits wird an die Stelle des Infiniten das Indefinite gesetzt, Hegels »schlechte Unendlichkeit« also geradewegs als die gute bezeichnet. 98 Damit wird das iterierende Hinausschieben der Grenzen des prinzipiell Endlichen zum vollwertigen Ersatz der aktualen Unendlichkeit, ja, die wahre Erfüllung, hinter der die »gute« Unendlichkeit nur ein fliehender Schatten ist. Andererseits ist der Unmöglichkeit, im Indefiniten an ein Höchstes zu gelangen, eben nicht zu begegnen durch Flucht in den Wunschtraum eines Infiniten, sondern in einer Selbstbescheidung, die der Gegenpol zu aller Erweiterung sein muss. 99 Denn prinzipiell sind die wahrgenommenen Schranken keine Beschneidungen, sondern »notwendige Bestimmungen des Menschen« (VWR, 310). Die Wünsche nach Schrankenlosigkeit sind also gar keine Wünsche, die auf ihre Erfüllung aus sind: »Es gibt viele Wünsche des Menschen, die man missversteht, wenn man glaubt, sie wollten verwirklicht werden. Sie wollen nur Wünsche bleiben, sie haben ihren Wert nur in der Einbildung«. Im Gegenteil, »ihre Erfüllung wäre die bitterste Enttäuschung des Menschen« (VWR, 311). So das ewige Leben. Denn »alles bekommt man zuletzt satt, selbst das Leben, und der Mensch wünscht daher endlich auch den Tod« (VWR, 311). So sei der Mensch auch keineswegs darauf aus, alles zu wissen, sondern nur das, »wozu er eine besondere Vorliebe und Neigung hat« (VWR, 312). Er strebe nicht danach, alles zu können, »sondern nur nach einer bestimmten, begrenzten Vollkommenheit, nach der Vollkommenheit innerhalb einer bestimmten Sphäre« (ebd.). Denn zu dem Trieb, immer weiter zu gehen, komme der »Trieb, zu rasten, auf dem einmal gewonnenen, der Bestimmtheit seines Wesens entsprechenden Standpunkt zu beharren« (VWR, ebd.). Ja, selbst sein »Glückseligkeitstrieb«, wenn er nicht »phantastisch« wird, geht nur zu Endlichem: Er »geht nicht über das Wesen des Menschen, über das Wesen dieses Lebens, dieser Erde hinaus; er will nur die Übel, die Beschrän-
»Der Standpunkt der Individualität ist der Standpunkt der Unendlichkeit […], im Sinne des dünkelhaften und neidischen Begriffs allerdings der ›schlechten‹, im Sinne des Lebens aber sehr guten, weil allein schöpferischen und zeugungskräftigen Unendlichkeit« (VWR, 400; vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke in 20 Bänden, Bd. V, 261 ff.). 99 Andolfi 2006, 47 ff. 98
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Der späte Feuerbach. Abschied von der Göttlichkeit des Menschen
kungen aufheben, die wirklich aufzuheben, die nicht notwendig sind, nicht zum Wesen des Lebens gehören« (VWR, 314). 100 Diese aber »finden auch innerhalb der menschlichen Gattung, im Laufe der menschlichen Geschichte ihre Erfüllung« (VWR, 314): an die »Stelle des Jenseits über unserem Grabe im Himmel« tritt »das Jenseits über unserem Grabe auf Erden, die geschichtliche Zukunft, die Zukunft der Menschheit« (VWR, 315). 101
5.8.3
Egozentrierung der Liebe
Was in VWR noch ein wenig erratisch daherkommt, arbeitet Feuerbach in der Mitte der 60er Jahre in seiner letzten, unvollendet gebliebenen Schrift Zur Moralphilosophie weiter aus: Eine Ethik, die auf egoistischen Prinzipien beruht.
100 Zu den Glücksgütern gehören »freilich nicht Reichtum, Luxus, Üppigkeit, Pracht, Glanz und anderer Tand, sondern nur das Notwendige, nur das, ohne was der Mensch nicht menschlich existieren kann« (VWR, 315) – zur Selbstbescheidung auf »einen niedrigeren, bescheidnen, dem Menschen erreichbaren« Grad des Glücks »durch Erfahrung gewitzigt« (Th, 81). 101 Die Frage, wie es dann mit den bereits Gestorbenen stehe, beantwortet Feuerbach einerseits mit dem Hinweis darauf, dass sie in der Tat nichts von dem nach ihnen Errungenen haben, aber andererseits ebenso wenig von einem erdichteten Jenseits: »Die Liebe, welche das Jenseits erzeugt hat, welche den Leidenden mit dem Jenseits vertröstet, ist die Liebe, welche den Kranken heilt, nachdem er gestorben, den Durstenden labt, nachdem er verdurstet, den Hungernden speist, nachdem er bereits verhungert ist. […] Lassen wir also die Toten und kümmern uns nur um die Lebendigen!« (VWR, 319). – Zur Hoffnung auf eine menschlichere Welt im Zeichen des Abschiedes von Gott hat Jaeschke 1978 notiert, was man gerne an den sogenannten Neuen Atheismus weiterreichen würde: »Als Irrtum erwiesen hat sich Feuerbachs Hoffnung, dass man das bislang auf die Pflege des Jenseits verschwendete Quantum Energie lediglich auf das Diesseits umzudirigieren brauche. Dass die Aktivität, die bisher auf Gott gerichtet war, gewissermaßen automatisch auf den Menschen gelenkt würde, wenn erst die Negation des Menschen negiert sei. Dass die Menschen anfingen, Menschen zu sein, wenn sie nur aufhörten, Christen zu sein. […] Und heute ist der Verdacht nicht mehr schlechtweg abzuweisen, dass der Versuch, dieses Postulat auf direktem Wege zu verwirklichen, weiter vom Ziel abführen könnte als der frühere Umweg. Zumindest kommt solcher Vermutung mehr inneres Recht zu als der bloßen Wiederholung des selbst illusionären Programms einer Rückholung der projizierten Illusion« (226; s. a. ders. 1990).
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Feuerbach
5.8.3.1 Streben nach eigener Glückseligkeit »Wollen ist Wohlwollen, zunächst und zwar nothwendiger Weise gegen sich selbst« (SM, 111). »Ich will, heisst: ich will glücklich sein«. 102 Diesen Egoismus will Feuerbach nun recht verstanden wissen. Er versteht »darunter nicht den Egoismus des Menschen dem Menschen gegenüber, den moralischen Egoismus, nicht den Egoismus, der bei allem, was er tut, selbst scheinbar für andere, nur seinen Vorteil im Auge hat« (VWR, 60). Was aber ist er dann? Er ist 1) jene »Liebe des Menschen zu sich selbst, d. h. die Liebe zum menschlichen Wesen«, die sich in einem 2) »notwendigen« und »unerlässlichen« 3) »Sich-selbst-Geltendmachen, Sich-selbst-Behaupten des Menschen«, »Selbsterhaltungstrieb« 103 manifestiert, 104 der 4) nicht »moralisch« das Gegenteil einer sozialen Gesinnung, sondern »metaphysisch [ist], d. h. im Wesen des Menschen ohne Wissen und Willen begründet«. 105 Die Natur wird verehrt, insoweit ich mich verehre: »denn wenn ich mich nicht zuerst liebe, nicht verehre, wie kann ich lieben und verehren, was mir nützlich und wohltätig ist?« (VWR, 62 f.). Was aber ist dieses an ihm, das er am meisten, über alles liebt? »[…] sein Leben«, »denn dieses befasst ja alles in sich« (VWR, 63). Es kann ihm wertlos werden, weil ihm integrale Bestandteile (etwa die Freiheit) fehlen, 106 aber »im gesunden, gesetzmäßigen Zustande und wenn unSM, 112. Vgl. Th, 77 ff.; E, 232. »[…] der selbst im Organismus, in der Aneignung der assimilierbaren, der Ausscheidung der nicht assimilierbaren Stoffe liegt« (VWR, 61). 104 »Leben heißt andere Wesen als Mittel zu seinem Besten verwenden, heißt andern Wesen zum Trotz sich geltend machen, heißt ein sich nur auf sich selbst beziehendes, ein absolutes Wesen sein. Leben ist Egoismus. Wer keinen Egoismus will, der will, dass kein Leben sei. […] Wodurch unterscheidet sich aber der religiöse Egoismus von dem natürlichen? Nur durch den Namen. In der Religion liebt sich der Mensch in Gottes Namen, außer der Religion in seinem eignen Namen« (EWR, 82). Der Begriff Wesen hat nun jede Schärfe verloren. Er meint nun meist schlicht das Individuum, wie sich anhand der Zitate dieses Abschnittes unschwer erkennen lässt, wenngleich – die Interpretation erschwerend – bisweilen Relikte einer hypostasierten Gattung zumindest im Sinne einer allen Menschen gemeinen Washaftigkeit begegnen. 105 »[…] der Sinn, der allen menschlichen Trieben, Bestrebungen, Handlungen zugrunde liegt, ist die Befriedigung des menschlichen Wesens, die Befriedigung des menschlichen Egoismus« (VWR, 91). 106 Vgl. SM, 93. Dort zeigt sich in der Reflexion auf Gründe für den Selbstmord eine solche Menge an Elementen, deren Fehlen das Leben nicht mehr lebenswert erscheinen lassen, dass man fragen kann, was überhaupt am Leben rein als solchem lebenswert sein mag, ja, ob Leben letztendlich nicht mehr als die prima substantia verschie102 103
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Der späte Feuerbach. Abschied von der Göttlichkeit des Menschen
ter dem Leben der Inbegriff aller wesentlich zum Menschen gehörenden Güter verstanden wird, ist das Leben, und zwar mit vollem Rechte, das höchste Gut, das höchste Wesen des Menschen«, 107 »der ursprüngliche Gott des Menschen« (EWR, 81). 108 Vollendete Glückseligkeit ist »der Zustand, wo ein Wesen die zu seinem individuellen, charakteristischen Wesen und Leben gehörigen Bedürfnisse oder Triebe ungehindert befriedigen kann und wirklich befriedigt. Wo ein Wesen einen [solchen] Trieb […] nicht befriedigen kann, da ist es unzufrieden, missmuthig, traurig, unglückselig« (E, 231). 109 5.8.3.2 Selbstliebe im Anderen Dennoch sei dies kein moralischer Egoismus, der sich gegen den Anderen durchsetzt, sondern ein metaphysischer, in dem auch eine altruistische Haltung Platz haben soll. Feuerbach selbst scheint es mit seinem Egoismus nicht ganz wohl zu sein. Zumindest versucht er denster akzidenteller Annehmlichkeiten und Sinnerfahrungen ist, die als solche bloß in sich des Sinnes entbehrt, der sich gleichwohl nur an ihr ergeben kann. 107 VWR, 64. Vgl. 227; E, 231. 108 Was immer an Tendenzen der Selbstkasteiung und -vernichtung sich in der Religion finden mag (Feuerbach zählt mit Genuss eine Fülle solcher Riten v. a. aus dem hinduistischen Bereich auf [vgl. VWR, 74 ff.]), letztlich dienen sie der Erfüllung der Wünsche des Selbst: »Der Mensch verneint sich also nicht, um sich zu verneinen […] er verneint, wo wenigstens der Mensch bei menschlichen Sinnen ist, um durch diese Verneinung sich zu bejahen« (VWR, 79. Vgl. 336). Ähnliches gilt für den Suizid: Wenn schon nicht die Glückseligkeit, so erreicht der Unglückliche auf diese Weise zumindest das Ende seiner Unglückseligkeit (vgl. E, 234–239). Dass der Glückseligkeitstrieb vieler Menschen gänzlich in die Irre zu gehen scheint, der Mensch oftmals ein »Heautontimorumenos, ein Selbstquäler oder Selbstpeiniger« ist, indem er sich durch Maßlosigkeit körperlich zugrunde richtet oder durch »Ehrfurcht, Eifersucht, Neid, Hass, Rachsucht« sich selbst »vergiftet« (E, 247 f.), erklärt sich durch die individuellen charakterlichen Unterschiede. Aus ihnen folgen individuell unterschiedliche Bedingungen für Glückseligkeit: »Es ist wahr, sagt die Kröte, in meinem Adern pulsirt nur das tödtliche Gift des Neides, der Bosheit, der Rachsucht; aber dieses Gift ist für mich, die giftige Kröte, Ambrosia, ich bin glücklich, wenn ich durch das Gift, womit ich mich tödte, nur auch den Anderen tödte« (E, 252). Dennoch behauptet Feuerbach einen qualitativen, quasi moralischen Unterschied zwischen wahren und scheinbaren Gütern. Man muss aufs »schärfste […] unterscheiden zwischen stumpfsinniger und scharfsinniger […], dummer und gebildeter, kothbefleckter und kothgereinigter Glückseligkeit« (E, 264). 109 Geht es um das Befriedigtsein des Triebes oder den Prozess der Befriedigung? Dem »Krätze«-Dilemma Platons (Grg. 494c) hat Feuerbach sich nicht gestellt.
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immer wieder zu zeigen, dass und wie ein solcher Egoismus aus sich heraus auch altruistisch sein müsse. Wie aber kommt der Andere in den Egoismus hinein? Zunächst, indem es zum Selbstinteresse des Menschen gehört, sich für die Gattung einzusetzen. So führt Feuerbach die Vaterlandsliebe und die Bereitschaft, sich für das Vaterland zu opfern, ohne Umschweife auf den Egoismus zurück: »in normalen Zuständen ist […] mein und der andern Wohl innigst verbunden« (VWR, 90). 110 Dieser Form der praktischen Selbstliebe im Einsatz für die Anderen als Gewährsleute des eigenen Wohl- und Überlebens tritt eine theoretische Selbstliebe in der Betrachtung seiner selbst im Anderen zur Seite: »selbst von der allgemeinen Menschenliebe ist nicht die Selbstliebe ausgeschlossen; denn ich liebe ja in den Menschen mein Wesen, mein Geschlecht; sie sind ja Fleisch von meinem Fleisch und Blut von meinem Blut« (VWR, 91). Diese Wertschätzung meiner im Anderen wird mitunter sogar als die primäre Form des Egoismus dargestellt: »ich verstehe unter dem Egoismus die Liebe des Individuums zu Individuen seines Gleichen; – denn was bin ich ohne sie, was ohne die Liebe zu Wesen meines Gleichen? – die Liebe des Individuums zu sich selbst nur insofern, als jede Liebe eines Gegenstandes, eines Wesens eine indirekte Selbstliebe [ist]; denn ich kann ja 110 Das Selbstopfer ist dagegen außerhalb der Norm: »Nur in außerordentlichen Unglücksfällen muss sich der einzelne dem Allgemeinen, d. h. der Majorität, opfern« (VWR, 90). »Was der Mensch im Grunde seines Herzens wünscht, das ist die einzige Regel und Pflicht seines Lebens und Tuns« (VWR, 280). »Es gibt […] Fälle im Leben, wo die Pflichten und der Glückseligkeitstrieb im Menschen in Widerspruch geraten, wo man seiner Pflicht selbst sein Leben opfern muss; aber solche Fälle sind tragische, unglückliche oder überhaupt besondere, außergewöhnliche Fälle« (VWR, 279). Hier gilt für Feuerbach, (was er an anderer Stelle, nämlich im Bezug darauf, dass der Mensch nicht bloß des Menschen Gott, sondern ausnahmsweise auch dessen Wolf sein könne, statuiert hat): »[…] überall können wir uns nur nach der Regel richten und urteilen, wenn anders unser Urteil nicht selbst ein regelwidriges, abnormes, verkehrtes sein soll« (EWR, 100; vgl. VWR, 311). Was aber, wenn das, was nicht zur Regel zu passen scheint, gar nicht sein könnte, wenn die Regel gelten würde? Dann steht doch die Regel selbst in Frage, und dann muss man entweder sagen, das Individuum darf/soll seinen Glückseligkeitstrieb auch gegen das Wohl der Anderen aufrechterhalten und man hat die Theorie des absoluten Egoismus gerettet, oder man verlangt die Aufopferung des Individuums für die Allgemeinheit und hat einen Kollektivismus oder Kommunismus, der aber kein Egoismus mehr ist. Es sei denn, man bezeichnete ihn als Egoismus der Gattung, welche Lösung Feuerbach allerdings unmöglich gemacht hat, indem er der Gattung kein Ego, ja, überhaupt keine Wirklichkeit außerhalb der Individuen zuerkannt hat.
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nur lieben, was meinem Ideal, meinem Gefühl, meinem Wesen entspricht« (VWR, 61). 111 5.8.3.3 Der Egoismus strebt nach der Glückseligkeit anderer Aber es bleibt nicht bei solcher Sich-bejahung in der Bejahung des Anderen. Die Selbst-Liebe strebt bei Feuerbach aus sich heraus auch nach der Glückseligkeit des Anderen. Feuerbach versucht dies an der für ihn »innigste[n] und vollkommenste[n] Form der Liebe« zu zeigen: der geschlechtlichen. 112 Das Streben nach Befriedigung des Bedürfnisses ist gerade Signum einer »wahren, wirklichen Liebe« (WR, 110). »Ich kann nicht lieben ohne Verlangen nach dem Gegenstand meiner Liebe, und ich kann ihn nicht erlangen, nicht erfassen, meine Liebe also nicht äußern, nicht bewahrheiten, ohne mein Verlangen zu stillen, also ohne Lust zu empfinden. Ich kann folglich die Geliebte nicht um ihrer selbst willen verlangen, ohne zugleich – nolens volens – die Befriedigung meines Verlangens zu verlangen, nicht suchen, ohne zugleich, selbst unwillkürlich, meine Lust zu suchen« (EWR, 110). Damit zeigt sich zunächst nur so viel: Lieben und Bedürfnisstillung gehören zusammen. Dass dies nun mit dem »Um-ihrer-selbstwillen« verbunden sein soll, dürfte uns nicht mehr verunsichern: Es ist nicht das Um-willen eines Selbstzweckes, sondern das Um-willen eines Letztzieles. Ich schätze ein Gut wert, will es haben und dieses Haben bedeutet Befriedigung. 113 Aber Feuerbach geht weiter: Der Andere kann gar nicht erlangt werden, wenn er nicht seinerseits meiner bedarf und dieses Bedürfnis im Beisammensein stillt. »Bedürfte das Weib des Mannes nicht, so könnte es auch nicht des Mannes Bedürfnis stillen. Nur dadurch befriedigt es den Mann, dass es in seiner Befriedigung sich selbst befriedigt« (EWR, 112). Insofern der Andere nur erlangt werden kann, indem er empfangen wird – also aufgrund seines eigenen Strebens zu mir – ist mein Bedürfnis abhängig von seinem Bedürfnis, und nur In einem Brief an Familie Kapp: »Was ich Ihnen bin, das bin ich Ihnen nur durch Sie selbst […] so ist auch das Wesen, als welches ich Ihnen erscheine, nur ein Widerschein Ihres eignen Wesens. Ich bin daher leicht zu ersetzen. Seien Sie irgendeinem andern dasselbe, was Sie mir sind, so wird jeder andre dasselbe für Sie sein, was ich Ihnen bin« (Gesammelte Werke, Bd. XVIII, 247). 112 SM, 116. »[…] das Geschlechtsverhältniss kann man geradezu als das moralische Grundverhältniss, als die Grundlage der Moral bezeichnen« (E, 270). 113 Vgl. oben 182, Anm. 47. 111
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weil sich das seine befriedigt, kann sich das meine befriedigen et vice versa. Im Liebesakt verdichtet sich dieses Geschehen zu der denkwürdigen Struktur, dass der Eine sich befriedigt, indem er den Anderen befriedigt, bzw. umgekehrt. Es gibt also einen »zwei- und gegenseitigen Glückseligkeitstrieb« (E, 271; vgl. 279), nach dem der Eine nur glücklich sein kann mit dem Anderen. Aber fragen wir auch hier kritisch: Inwieweit herrscht hier schon Güte? Was ist hier das movens? Die eigene Befriedigung. A stillt B’s Begierde, um so seine Begierde zu stillen. 114 Aber noch einmal geht Feuerbach weiter in seinem Versuch, Egoismus als Quell echter Güte zu beweisen. Erwiesen war: Der Egoismus kann nicht nur nach der eigenen Beglückung streben, denn ich kann Beglückung nur erfahren, wenn ich selbst beglücke. Nun kommt hinzu: Beglücken kann ich jemanden nur, wenn dieser weiß, dass mich dieses Ihn-beglücken meinerseits beglückt. »Die Liebe beglückt ein andres Wesen, aber wie kann ich es beglücken, wenn ich ihm nicht das Gefühl, das Bewusstsein gebe, dass ich, indem ich in seinem Interesse, zugleich in meinem eigensten Interesse handle, indem ich ihm wohltue, mir selbst die größte Wohltat erweise?« (EWR, 112) Damit tritt ein neuer Gedanke auf den Plan. B kann von A nicht beglückt werden, wenn B nicht weiß, dass solches Beglücken A beglückt. Was sagt es nun über B, dass ihn A’s Glück im B-Beglücken beglückt? Es beweist, dass B ein Glück am Glück des Anderen hat, dass es also nicht mehr bloß um eigenes Glück mit dem Glück des Anderen geht, sondern um Glück am Glück des Anderen. Es ist nicht leicht, sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden. Wenn es hier nicht mehr um faktische Beglückung des Anderen als notwendige Bedingung für die eigene Beglückung, sondern um gewollte Beglückung des Anderen als ihm selbst geht, dann ist die Rede vom Egoismus hier an sein Ende gekommen. Denn ich kann zwar auch dieses Glück des Anderen um meinetwillen, also egoistisch – nämlich um meines Glückes am Glück des Anderen willen – erstre»[…] man kann hier nicht sich selbst beglücken ohne zugleich, selbst unwillkürlich, den anderen Menschen zu beglücken, ja, je mehr wir den Anderen, desto mehr beglücken wir uns selbst« (SM, 116; vgl. E, 271). Braun: »Er ist nie an sich selbst zu befriedigen, ohne zwangsläufig [Hervorhebung FH] auch die Befriedigung des Mitmenschen zu bewirken« (Braun 1971, 112). Wie wunderlich, dass hier nicht gesehen wird, dass eine Zwangsabgabe um der eigenen Befriedigung willen in der Liebe keinen Pfifferling wert ist. Denn in ihrer Dimension ist das Entscheidende an der empfangenen Gabe die Intention des Gebenden. 114
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ben, aber dieses Glück am Glück des Andern kann ich nicht mehr egoistisch begründen. Damit aber zeigt sich, dass Feuerbach, sofern er den Egoismus proklamiert, jenseits der Güte steht, und sofern er aus ihm die Güte ableiten will, dies, wenn er konsequent bleibt, missglücken muss oder in versteckter Inkonsequenz ein Sprung stattfindet in einen vom Egoismus nicht mehr gedeckten Altruismus (, der durch die Freude an ihm wieder egoistisch eingeholt, nicht aber begründet werden kann). Ein Sprung, der Feuerbach freilich deshalb immer seltener unterläuft, weil in seiner Profanisierung des Menschen zugleich die Selbstevidenz eines Lebens für den Anderen ihren Hut genommen hat. Es stehen letztlich unvermittelt nebeneinander der Egoismus, der sich beglücken will, und als Rest der früheren Hingabe an das Du eine gewisse Höflichkeit oder Gutmütigkeit, die dies nicht ohne den Anderen will. 115
5.8.4
Ableitung der Moral aus dem Egoismus
Das Wollen der Glückseligkeit des Anderen ist für Feuerbach das Wesen der Moral: »Gut und Moralisch ist dasselbe. Gut ist aber nur, wer Anderen gut ist«. 116 »[D]ie Moral kennt keine eigene Glückseligkeit ohne fremde Glückseligkeit, kennt und will kein isolirtes, von dem Glück der Anderen abgesondertes und unabhängiges, oder gar mit Wissen und Willen auf ihr Unglück gegründetes Glück, kennt nur eine gesellige, gemeinschaftliche Glückseligkeit« (E, 273). »Das Gewissen ist, kurz gesagt, als gutes nichts weiter als Freude über die einem Anderen gemachte Freude, als böses nichts weiter als Schmerz, als Leiden, über das ihm aus Missverstand oder Fahrlässigkeit oder Leidenschaft zugefügte Leid« (E, 286). »Nur das unbedingte Gutsein dem Menschen ist Gutsein« (E, 293). Hier muss es bewegen, wie stark Feuerbach die Moral als ein Für-den-Anderen konzipiert. »Heteronomie, nicht Autonomie, die Heteronomie als Autonomie des Heteros, 115 »[…] dass ich, indem ich mich selbst beglücke, zugleich das andere Ich beglücke, dass ich nur in Uebereinstimmung mit seinem Glückseligkeitstrieb den meinen befriedigen will« (SM 116). Gemessen an der Emphase der Liebe im Wesen des Christentums – Ich für Dich –, ist das allenfalls noch das Zugeständnis eines gutartigen Galans: Es geht mir um meine Lust – aber Madame werden auch auf ihre Kosten kommen. 116 E, 270. Vgl. E, 273.
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des Anderen, ist mein Gesetz« (E, 288). 117 Wie aber soll dieser hohe Anspruch durch den Egoismus als Ur-Prinzip im Menschen begründet werden? Feuerbachs Antwort lautet: Durch den Egoismus der Anderen. Die Verpflichtung, den eigenen überschießenden oder fehlgehenden Glückseligkeitstrieb zu begrenzen, geht vom Glückseligkeitstrieb des Anderen aus. Die Moral ist also kein Argument gegen den Primat der Selbstliebe, weil sie ebenso aus Selbstliebe entspringt – nämlich der des Anderen. Die Pflicht beinhaltet in der Tat »Selbstverleugnung, die aber nur die Selbstliebe der Anderen mir gebietet« (SM, 114). 118 »Ich will, sagt mein eigener [Glückseligkeitstrieb]; Du sollst, der Glückseligkeitstrieb des Anderen« (SM, 113). Insofern ist die Glückseligkeit und nichts anderes »Princip der Moral«, »aber nicht die in eine und dieselbe Person zusammengezogene, sondern die auf verschiedene Personen vertheilte, Ich und Du umfassende, also nicht die einseitige, sondern die zwei- oder allseitige«. 119 »Nichts ist […] grundloser als die […] Furcht, dass mit den Göttern auch der Unterschied zwischen Recht und Unrecht, gut und böse sich aufhebe. Dieser Unterschied besteht und wird bestehen solange, als ein Unterschied zwischen Ich und Du besteht, denn nur dieser Unterschied ist der Quell der Moral und des Rechts. Wenn auch mein Egoismus mir den Diebstahl erlaubt, so wird doch der Egoismus des andern sich ihn aufs strengste verbitten; wenn auch ich aus mir selbst nichts von Uneigennützigkeit weiß und wissen will, so wird doch stets der Eigennutz der andern mir die Tugend der Uneigennützigkeit vorpredigen … […] kurz, wenn es auch mir gleichgültig ist, ob ich gut oder schlecht bin, so wird es doch nie dem Egoismus der andern gleichgültig sein« (VWR, 340). »Woher stammt denn […] das Gesetz
117 Vgl. Röhr 2000, 114 f. Zu »Autonomie und Heteronomie bei Feuerbach« s. Andolfi 1994. 118 Und selbst – dies ein interessanter Einwurf in Richtung Kant – wenn die Moral auf den eigenen Glückseligkeitstrieb Verzicht leisten wollte, käme die Glückseligkeit doch umgehend erneut ins Spiel – nämlich in der Frage nach dem, was den Anderen glücklich macht. »Die Moral kann daher nicht von dem Glückseligkeitsprincip abstrahiren; verwirft sie auch die eigene, so muss sie doch die fremde Glückseligkeit anerkennen, widrigenfalls fällt der Grund und Gegenstand der Pflichten gegen Andere, fällt selbst die Praxis der Moral weg: denn wo kein Unterschied zwischen Glück und Unglück, zwischen Wohl und Wehe, da ist auch kein Unterschied zwischen Gut und Böse« (SM, 114; vgl. Th, 140; E, 275–277, 287). 119 SM, 113; vgl. Grandt 2006, 314 f.; Röhr 2000, 190 f.; Lefèvre 1994, 132 ff.
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und folglich die Pflicht, nicht zu töten? Aus dem ›kategorischen Imperativ‹. Ja; aber dieser kategorische Imperativ lautet: Ich mag nicht sterben, ich will leben, und was ich will, das sollst du, nämlich mich leben lassen.« 120 Wie dieses Wollen des Anderen allerdings für mich Verbindlichkeit gewinnt, 121 zeigt Feuerbach mit keinem Worte. Wenn die »Stimme des Gewissens« als »ein Echo von dem Racheruf des Verletzten« (SM, 119) bestimmt wird, dann ist damit vielleicht etwas über seine Herkunft, aber doch rein gar nichts über seine Geltung gesagt. 122 Denn was macht denn den Glückseligkeitstrieb des Anderen »wohlberechtigt« 123, wenn das Prinzip allen Handelns der Egoismus ist und von anderswo entliehene moralische Werte nicht ins Spiel gebracht werden dürfen? Feuerbach unterscheidet zwischen gutem und schlechtem Egoismus. »Macht was ihr wollt – ihr bringt nimmermehr allen und jeden Egoismus vom Menschen los; aber unterscheidet, ich kann nicht oft genug daran erinnern, zwischen bösem, unmenschlichem, herzlosem, und gutem, teilnehmendem, menschlichem Egoismus; zwischen unwillkürlicher, argloser, in der Liebe zu Anderen, und willkürlicher, absichtlicher, in der Gleichgiltigkeit oder gar Bosheit gegen Andere sich befriedigender Selbstliebe« (E, 277 f.). 124 Nach wel120 VWR, 395. Woraus sich ergibt: »Allerdings ist der Egoismus die Ursache alles Übels, aber auch die Ursache alles Guten« (VWR, 341). 121 Und zwar bis zum Selbstopfer: »Die Tugend ist die eigene Glückseligkeit, die aber nur im Bunde mit fremder Glückseligkeit sich glücklich fühlt, die selbst bereit ist, sich aufzuopfern, aber nur weil und wenn es das Unglück so fügt, dass das Glück der Anderen, die mehr sind als ich, mir mehr gelten als ich mir selbst allein, nur von meinem eigenen Unglück, das Leben nur von meinem eigenen Tode abhängt« (E, 288). Wie aber soll man so etwas erklären? Etwa damit, dass es um eine Glückseligkeit geht, die zwar nicht die des tugendhaften Menschen ist, »die aber der Selbstaufopferer wenigstens in der Vorstellung und Hoffnung mitgeniesst« (E, 288)? 122 Seine Herkunft ist nicht Gott, der »Retter«, sondern der Mensch als »Rächer« (SM, 119; vgl. Th, 135 ff.) oder, wie Feuerbach in seiner Eudämonismus-Schrift den Gedanken weiterentwickelt: Der Andere rächt sich an mir in mir, indem ich sein Urteil vollziehe: »in meiner Gewissenspein vollstrecke ich nur aus Sympathie, aus, leider! erst nach der That erwachtem Mitgefühl, Mitleid, das Urtheil, das er über mich, seinen Verletzer, gefällt« (E, 281). 123 E, 280. Vgl. Braun 1971, 116. 124 Vgl. zum Moralisieren des späten Feuerbachs auch seine Antwort auf die Frage, wieso man als Egoist eine böse Tat unterlassen werde, die nicht gesehen wird: »bist du ein boshafter, rachedurstiger Mensch, so wirst du trotz deines Gottesglaubens und trotz deiner Gottesfurcht die Schandtat begehen, denn der günstige Moment, die Lei-
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chen Kategorien aber geschieht diese Wertung? 125 Es zeigt sich wieder, wie schon in der Liebesphilosophie des späten Feuerbachs: Ohne einen gleichursprünglichen Altruismus lässt sich der Ort, den Feuerbach nicht preisgeben will, nicht halten. Rein aus den Prinzipien des Egoismus lässt sich »Bosheit gegen Andere« nicht verurteilen – zumindest nicht als Bosheit, höchstens als Dummheit. 126 »Das Recht aus einer besondern Kraft, einem von dem Grundtriebe des Menschen unterschiedenen ›Rechtssinn‹ oder einer besondern ›Rechtsvernunft‹ ableiten, das Recht vom Egoismus und ›Utilismus‹ absondern, zu einem Ding an sich machen heißt[,] die Hecke, die denschaft reißt dich mit sich fort; bist du aber das Gegenteil, bist keine gemeine, sondern edle Natur, bist du wirklich ein Mensch, keine Bestie, so wirst du auch ohne Gottesfurcht und Menschenfurcht genug Gründe in dir finden, die dich von einer Schandtat abhalten« (VWR, 343 f.). Woher plötzlich Begriffe wie Bosheit, Schandtat, Edelmut? 125 Braun, der die Egoismus-Ethik Feuerbachs positiv darstellen will, bezeichnet die »Moral« als »internes Regulativ innerhalb des im menschlichen Dasein waltenden Glückseligkeitstriebes.« Ihre Aufgabe bestehe darin, »den Glückseligkeitstrieb des Ich mit dem des Du in Übereinstimmung, in Einklang zu bringen« (Braun 1971, 111). Wie aber soll sie dann zugleich vom Glückseligkeitstrieb »begründet« (112) sein? 126 Sehr deutlich wird dies an einer Stelle im 19ten Kapitel der Theogonie. Hier entwickelt Feuerbach den Gedanken, dass in der Übertragung meines Egoismus auf die Gesinnung der Anderen eine Verinnerlichung von deren Zwecken stattfindet. Wie von einem anderen Stern fällt dann allerdings die Rede vom »Recht« dieser Egoismen in die Argumentation: »Einseitig, d. h. für mich, anerkenne ich ja unbedenklich die Unverletzlichkeit des Rechts, des Eigentums; welch ein fühlbarer Zwiespalt, welch ein empörender Widerspruch nicht auch auf seiten des andern dieselben anzuerkennen!« (140 f.). Weil diese Kategorie aber nicht aus der Sphäre des praktischen Interesses kommen kann, fügt er sogleich hinzu: »Und sagt mir denn nicht schon selbst die kurzsichtigste Klugheit, dass ich den andern anerkennen und respektieren muss, wenn ich selbst anerkannt und respektiert sein will?« (141) Und damit ist er wieder bei der bloßen Klüglichkeit des gesellschaftsvertraglichen Handelns: »die durch die Anerkennung der Selbstliebe anderer sich selbst Anerkennung, Geltung verschaffende und sichernde Selbstliebe des Menschen« (141). In aller Klarheit hält der Feuerbachs Moral sehr zugetane Lefèvre fest: »Es ist nicht schwer zu erkennen, was der wechselseitigen Verschränktheit der Glückseligkeitstriebe zugrundeliegt. Es ist Hegels ›System der Bedürfnisse‹, nicht aber eine altruistische oder solidarische oder dialogische Wesensverfassung des Ich« (1994, 135; vgl. Hegel, Werke in 20 Bdn., VII, 345 ff.). Daraus ergibt sich die kluge Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen, aber eben nicht die Anerkennung der Geltung seines Glückseligkeitsstrebens. – »Our love will be reciprocated if we heed these words, and a society where love is the rule will be pacific. Good advice, of course. But such instrumental readings of an obligation fail adequately to anchor its normativity: We can see why one might wish to live in peace or even harmony with others. But that does not explain why it is worthwhile that we, or anyone, should do so« (Goodman 2008, 13).
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ich zum Schutze um den Lustgarten meines Rechts ziehe, aus einem besondern Heckensinn ableiten, heißt die Hecke aus einem Ding für den Garten zu einem Ding für sich selbst, zum Selbstzweck machen« (Th, 141 f.). »[…] nicht das uninteressierte, bedürfnislose Wesen der Gottheit, sondern der interessierte Mensch will, und zwar mit derselben Notwendigkeit, mit der er sich, sein Leben, sein Glück will, also aus innerstem Naturgrund, aus Selbstliebe, dass eine ›moralische Ordnung‹ sei« (Th, 146). Wenn sich aber ein Sollen nicht ermitteln lässt, dann wird die Zuflucht zur Natur nicht helfen. »Der wahre sittliche Mensch ist sittlich nicht aus Pflicht, aus Willen – dies wäre eine Schöpfung der Sittlichkeit aus Nichts – sondern von und aus Natur. Er ist es mit Willen zwar, aber der Wille ist nicht der Grund, der Quell seiner Sittlichkeit. Der Wille ist nur der Gehilfe, nicht der Meister der Seligkeit« (E, 289). 127 Diese Zuflucht zur Natur in Ablehnung des Pflichtbegriffs kann deshalb die moralische Frage nicht beantworten, weil der Mensch erstens nicht derart von der Natur durchgeprägt ist, dass er einfachhin wäre, was ihm vorgegeben ist, und weil sich zweitens die Entscheidungsfragen, die dieser Spielraum aufwirft, gerade nicht mehr mit einem Verweis auf die Natur, die ja ihre Omnipotenz verloren hat, beantworten lassen. Von der Balance der Egoismen verspricht sich Feuerbach auch jede gesellschaftliche Veränderung zum Guten: »das Gute ist nichts andres, als was dem Egoismus aller Menschen entspricht, das Böse nichts andres, als was dem Egoismus einzelner Menschenklassen, folglich nur auf Kosten anderer entspricht und zusagt, aber der Egoismus aller, oder auch zunächst nur der Majorität, ist immer mächtiger als der Egoismus der Minorität.« 128 Lassen wir auf sich beruhen, dass für Feuerbach eine Gesellschaft »anscheinend undenkbar« ist, »in der die Realisation der Glückseligkeit des einen nicht sachlich über die der Glückseligkeit anderer vermittelt wäre und in der es deswegen zu keiner Respektierung der fremden Glückseligkeit käme, wie
127 Die Moral braucht deshalb im Normalfall den Altruismus gar nicht zu gebieten; »uns zu beschränken in unseren Lebensbedürfnissen, wenn sie nur zum Nachtheil und Verderben der Anderen befriedigt werden können, das thut der wahre, mustergültige Famlienvater von selbst, aus eigenem Antreib [sic]; denn das mit den Seinigen getheilte Stück trockenen Brotes schmeckt und bekommt ihm besser, als das allein für sich genossene, saftigste Bratenstück« (E, 274). 128 VWR, 345.
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sie in der Goldenen Regel ausgesprochen ist.« 129 Und gehen wir davon aus, eine Balance der Egoismen wäre möglich und führte sogar dazu, dass ein jeder versorgt sei, so erhebt sich um nichts weniger die Frage, ob dafür auch nur ein Quäntchen »Um-des-anderen-willen« gegeben sein muss. 130 Das Um-des-Anderen-willen, das das edelste Motiv der Gotteskritik Feuerbachs war, ist auf solcher Grundlage nicht mehr einholbar. Selbst wenn all dies nicht auf »die gewaltsame und rücksichtslose Durchsetzung der ›scharf abgeschnittenen Umrisse‹ eines solus ipse und seiner idiosynkratischen Wünsche und Phantasien« hinausliefe, so ist der »sozio-sensibl[e] Anspruch auf eine glückliche Existenz in der Gemeinschaft von prinzipiell Gleichen« 131 auf die Herkunft seiner Sozio-Sensibilität zu befragen, und als solche sehe ich hier letztlich keine andere als die aus dem aufgeklärten, aber kein Stück weniger selbstzentrierten – und damit jedes echte, weil gemeinte, Füreinander vergiftenden – Glückskalkül des Einzelnen.
5.8.5
Ende der Freiheit
Wir haben zu Beginn gesehen, wie Feuerbach gegen die Vermittelbarkeit von Allmacht und Freiheit polemisierte und sein Angriff auf das Gottesbild gerade auch im Namen der Freiheit des Menschen geschah. So heißt es auch noch mittwegs der Vorlesungen über das Wesen der Religion, in einem ernstgenommenen Theismus sei kein Platz für geschöpfliche Freiheit. »Gott und Welt zugleich sein und wirken lassen wollen, das führt auf die ungereimtesten Widersprüche, auf die lächerlichsten Sophismen und Kniffe, wie dies die Geschichte der Theologie in der Lehre vom sogenannten concursus dei, dem Mitwirken Gottes namentlich in den freien Handlungen der Menschen sattsam bewiesen hat« (VWR, 181). 132 Dass die Freiheit vom Christentum (und zuvor schon in den griechischen und römischen Poly-
Lefèvre 1994, 138. Kant jedenfalls hielt einen derartigen Gesellschaftsvertrag auch für unter Teufeln möglich (vgl. Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, 366). 131 Röhr 2000, 143. 132 »Welch eine unwürdige Vorstellung […], wenn man einmal einen Gott glaubt, ihm die Allmacht, wenigstens der Tat nach, abzusprechen, ihm die Macht der Natur und des Menschen beizugesellen und zu dieser seine Zuflucht zu nehmen!« (VWR, 189). 129 130
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theismen) trotzdem behauptet wird, ist eine Inkonsequenz, die der Abendländer »durch seinen eingeborenen Hang zu verständiger Selbsttätigkeit« (VWR, 180) begeht (im Gegensatz zum muslimischen Orientalen, der »den Konsequenzen des Glaubens an Gott keine Schranken entgegensetzt« [VWR, 180]). Doppelt inkonsequent wird dann die Behauptung, Gott, der allein ursächlich für alles Gute sei, sei dagegen unschuldig am Bösen des Menschen. Überraschenderweise stellt Feuerbach dem nun nicht eine volle Breitseite der Freiheitsbehauptung entgegen, sondern räumt in der 18. Vorlesung ein, dass in der Tat der Mensch in seinem Willen mehr fremd- als selbstbewegt sei: »ich bin, was ich von Natur, was ich ohne Willen bin, zugleich mit Willen; ich kann nichts andres sein wollen, als ich bin, d. h., im Wesentlichen oder dem Wesen nach bin. Meine gleichgültigen Beschaffenheiten kann ich mir anders denken, kann ich ändern wollen, aber nicht mein Wesen; mein Wille ist von meiner Natur, meinem Wesen, aber nicht meine Natur von meinem Willen abhängig; mein Wille richtet sich auch ohne[,] dass ich es weiß und will, nach meinem Wesen, aber mein Wesen, d. h. die wesentliche Beschaffenheit meiner Individualität, richtet sich nicht nach meinem Willen, wenn ich auch noch so sehr mich anstrenge und überbiete« (VWR, 185). Wenn er dann im Folgenden immer wieder einmal Formulierungen wählt, die weiter eine Selbstbewegung des Willens nahelegen, 133 dann muss er sich fragen lassen, wo diese ihre Grundlage haben. 134 Im Spätwerk Ueber Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit 135 verstummt die bis dahin zumindest rhetorisch noch hier und da aufblitzende Freiheitsproklamation angesichts der Übermacht der Natur gänzlich. Dass Handlungen nicht notwendig sind, kann Feuerbach nur noch in dem Sinne gelten lassen, dass dieselben Umstände bei verschiedenen Menschen zu unterschiedlichen Konsequenzen führen. Grundsätzlich aber ist der Mensch das Opfer des stärksten Triebes und habe allenfalls im Bereich des vom Trieb Offengelassenen so etwas wie Freiheit. Er un-
133 Etwa: »Mit der Natur reimt sich daher wohl die vernünftige Freiheit, die Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Menschen, der individuellen Wesen überhaupt, aber nicht mit einem allmächtigen, alles wissentlich und absichtlich vorausbestimmenden Gotte« (VWR, 186 f.). 134 Zur Feuerbachschen Kritik eines reinen Willen vgl. Weckwerth 2002, 117 ff. 135 Siehe oben 173, Anm. 24.
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Feuerbach
terscheidet »zwischen dem […] mein Wesen erschöpfenden, von mir ununterscheidbaren, nothwendigen Beweggrund oder Willen, womit ich die Gattung eines Gegenstandes will, und dem durch andere Beweggründe ersetzbaren und eben deswegen von mir ablösbaren, nicht nothwendigen oder nur bedingt nothwendigen, an sich gleichgiltigen unwesentlichen Beweggrund oder Willen, mit dem ich gerade diesen Gegenstand wähle« (SM, 127). 136 Zwar gibt es die Möglichkeit, dass mich andere Triebe als der gerade herrschende bestimmen können (vgl. SM, 129), zumal wenn der erste Trieb sich befriedigt hat. Dann kann es zur Reue kommen, 137 aber nun herrscht eben ein neuer Trieb; und ohne den hätte ich mein Handeln nicht ändern können. 138 Eine wirkliche Freiheit ist beim späten Feuerbach schließlich nicht weniger Wunsch als zuvor schon das Dasein Gottes. »Der Mensch wünscht […] ungebunden und unbedingt zu sein, also glaubt er, es zu sein, weil oder wenigstens indem er es wünscht« (SM, 134). 139 Damit ist nun aber nach dem Menschen als Selbst-Geliebtem auch der Mensch als Selbst-Liebender verschwunden. Denn da, wo mal ein Ich geliebt hat, herrscht jetzt unfehlbar der jeweils stärkste Trieb.
136 Sein Beispiel: »Einen Rock muss ich haben und anziehen […]; ob ich aber den grauen oder den grünen oder den schwarzen Rock anziehe, das ist zufällig […] das ist Sache der Freiheit […]. Frei fühlt sich überhaupt der Mensch und frei im gewöhnlichen Sinn ist er auch wirklich nur in bedeutungslosen, gleichgiltigen Lagen und Handlungen, aber nicht in solchen, wo es sich um sein Interesse, sein Wohl und Wehe oder gar um Sein oder Nichtsein, wenn auch nur ein bestimmtes Sein oder Nichtsein, handelt« (SM, 127). 137 Womit Feuerbach neben seiner sozialen Genesis des Gewissens noch en passant eine triebpsychologische anbietet: »Diese Protestation, diese vorwurfsvolle Einrede eines unterdrückten Triebes gegen seine Unterdrückung, ist das Gewissen« (SM, 130). 138 Insofern ist auch der Hinweis, dass körperliche Askese, Training, Veränderung uns von unerwünschten »Gemüthszuständen […] gegen uns und unsere Nächste […] befreien« können (»durch unseren Körper [sind wir] nicht nur Sklaven, sondern auch Freiherrn der Natur«), nicht weiterführend (SM, 150). Denn wie sollte das geschehen ohne entsprechenden Trieb? 139 Ganz sicher scheint sich Feuerbach seiner Sache allerdings nicht gewesen zu sein. Vgl. SM, 91, wo er bekennt der »frohe[n] Zuversicht« beraubt zu sein, »dass man seines Gegenstandes Meister geworden ist«, weil sich keine Frage »so sehr einer entschiedenen Bejahung oder Verneinung […] entzieh[e], als die Willensfreiheit.«
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Und das Bild?
5.9 Und das Bild? Über das Bild haben wir nun schon implizit viel gelernt. Die Philosophie Feuerbachs ist ein ursprünglicher Bildersturm. Allerdings in umgekehrter Richtung. Nicht die Bilder werden zerschlagen um des Unsichtbaren willen, sondern das Unsichtbare wird zerschlagen durch Proklamation seiner Nicht-Existenz. Damit werden zugleich die Bilder als Bilder zerstört. Nicht aber durch Zerschlagen, sondern durch die äußerste Idolatrie: Die Bilder zeigen nichts als sich und sind deshalb keine Bilder, sondern letzte Wirklichkeit, die kein Bild braucht, weil das Sichtbare wirklich und das Wirkliche sichtbar ist. Schauen wir – nun mit einem hier zulässigen Verzicht auf Periodisierung – auf Feuerbachs dies weiter ausführende Bemerkungen zum Bild. Die christliche Religion hat, so Feuerbach im Wesen des Christentums, ihr Wesen in der Fokussierung auf die zweite Person der Gottheit. In ihrer Menschwerdung zeigt sich die Menschlichkeit Gottes, die eigentlich die Göttlichkeit des Menschen ist. Der Gottmensch wird zum Mittler, welche Mittlerschaft die abstrakte, weil »herzlose« erste Person weiter in den Hintergrund rücken lässt. 140 Hier begegnet nun die erste Reflexion über den Bildbegriff. Christus als »Ebenbild des Vaters« ist die hypostasierte menschliche Phantasie: »kein gemachtes, kein willkürliches Bild; denn es drückt die Notwendigkeit der Phantasie aus, die Notwendigkeit, die Phantasie als eine göttliche Macht zu bejahen. Der Sohn ist der Abglanz der Phantasie, das Lieblingsbild des Herzens; aber eben deswegen, weil er, im Gegensatz zu Gott, als dem personifizierten Wesen der Abstraktion, nur der Phantasie Gegenstand, ist er nur das gegenständliche Wesen der Phantasie« (WC, 154). Das göttliche Sich-Abbilden wirkt zugleich, dem Bilderverbot zum Trotz, als Legitimation des menschlichen Gott-Abbildens: »Wenn Gott ein Bild von sich hat, warum soll ich kein Bild von Gott haben? Wenn Gott sein Ebenbild wie sich selbst liebt, warum soll nicht auch ich das Bild Gottes wie Gott selbst lieben« (WC, 157). 140 »[…] der Gott hinter dem Mittler ist nur eine abstrakte, müßige Vorstellung, die Vorstellung oder Idee der Gottheit im allgemeinen; und nicht, um sich mit dieser Idee zu versöhnen, sondern um sie zu entfernen, zu verneinen, weil sie kein Gegenstand für die Religion ist, tritt der Mittler dazwischen. Der Gott über dem Mittler ist nichts andres als der kalte Verstand über dem Herzen – ähnlich dem Fatum über den olympischen Göttern« (WC, 150 f.).
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Feuerbach
»Wenn es kein Aberglaube, dass das Bild, welches sich Gott von sich macht, kein Bild, keine Vorstellung, sondern Wesen, Person ist, warum soll es denn Aberglaube sein, dass das Bild des Heiligen das empfindende Wesen des Heiligen selbst ist?« (Ebd.) 141 Ohne weitere Herleitung heißt es nun axiomatisch: »das Bild tritt […] notwendig an die Stelle der Sache. Die Verehrung des Heiligen im Bilde ist die Verehrung des Bildes als des Heiligen« (WC, 155). Wenn aufgeklärte Theologen Glaubensinhalte, wie etwa den Himmel, zu bloßen Bildern erklären, um so Glaube und Ratio zu versöhnen, schaffen sie sie damit in Wahrheit ab: »Das, was die irreligiös religiöse Reflexion nur zum bekannten Bilde einer unbekannten, aber dennoch gewissen Sache macht, das ist im Ursprung, im ursprünglichen wahren Sinn der Religion nicht Bild, sondern die Sache, das Wesen selbst. […] Mit dem Bild fällt die Sache – eben weil das Bild die Sache ist« (WC, 304 f.). »Das Wesen im Bilde ist das Wesen der Religion. Die Religion opfert die Sache dem Bilde auf. Das Jenseits ist das Diesseits im Spiegel der Phantasie – das bezaubernde Bild, im Sinne der Religion das Urbild des Diesseits: dieses wirkliche Leben nur ein Schein, ein Schimmer jenes geistigen, bildlichen Lebens. Das Jenseits ist das im Bilde angeschaute, von aller groben Materie gereinigte – verschönerte Diesseits« (WC, 311). Hier findet sich auch der Unterschied zwischen Kunst und Religion begründet. Der Kunst ist ihr Bild ein Bild: »sie gibt [den] Schein der Wirklichkeit nicht für die Wirklichkeit aus« (VWR, 207). Der Religion ist ihr Bild die Sache selbst »denn sie gibt den Schein der Wirklichkeit für Wirklichkeit aus« (VWR, 207). Somit ist jede Reli-
141 Welches letztere nun freilich völlig an der Sache, wie sie im Christentum geglaubt wird, vorbeigeht. Denn die Pointe des Personsein des Bildes besteht ja gerade darin, dass sie in ihrer Person nicht die versichtbarte Wirklichkeit ist, sondern deren Bild; nicht der Vater, sondern der Sohn, und dennoch – ja gerade so – diesen zeigt: als Sohn. Es liegt hier also genau jene unendliche Differenz vor, die nichts gemein hat mit der Idolatrie, in der ein Bild für das Dargestellte genommen wird. Das gleiche Missverständnis begegnet in den Reflexionen über das »Wort«: »Das Wort Gottes soll sich dadurch vom menschlichen unterscheiden, dass es kein vorübergehender Hauch, sondern mitgeteiltes Wesen selber ist. Aber enthält denn nicht auch das Wort des Menschen das Wesen des Menschen, sein mitgeteiltes Selbst, wenn es wenigstens ein wahres Wort?« (WC, 161). In der Tat enthält ein wahres Wort das mitgeteilte Selbst des Menschen; es offenbart, wie/wer er ist, aber doch nicht so, als wäre sein Wort nun seinerseits Mensch. Es ist als »vorübergehender Hauch« Erscheinung des Menschen; von Gottes Wort wird dagegen geglaubt, dass es selbst Person ist.
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Und das Bild?
gion Götzendienst – Verehrung eines Bildes als Sache-selbst, 142 und die Anforderung der Religion an die Kunst widerspricht deren Wesen. Sie will von ihr Götzen, wo es doch ihre Aufgabe ist, Bilder zu schaffen: 143 »Durch die Kunst, notabene die religiöse Kunst, will der Mensch dem Existenz geben, was keine Existenz hat« (VWR, 218). 144 Entsprechend kann Feuerbach sein Programm, gerade weil es Gegenständen der Religion keine Realität zuspricht, sondern sie als bloße Bilder entlarvt, als weder »mystische Pragmatologie […] noch als Ontologie […] sondern als psychische Pathologie« 145 bezeichnen. Damit aber hat Feuerbach im Feld der behandelten Denker den mit Abstand schwächsten Bildbegriff. Bild ist entweder trügerischkranker Schein oder – bestenfalls – getreues künstlerisches Abbild. Es gibt nur das Sichtbare und dessen möglichst exakte Kopie in der sinnlichen Erkenntnis, der theoriebildenden Wissenschaft und der abbildenden Kunst. Aber es gibt kein Unsichtbares, das erst im Bild da wäre. In EWR persifliert Feuerbach »eine wahrhaft fromme, nur dem lieben Gott ergebne Seele«, die sogar in gekaufte Bücher hineinschreibt »erhalten durch die Gnade des Herrn«. Sie ruft gegen die Ungläubigen aus: »Was für euch ein kalter, gefühlloser Sonnenstrahl ist, das ist für uns ein Liebesblick der Gottheit«! (EWR 103 f.) Sosehr der Vorwurf des Narzissmus in solchem »gottseligen Selbstgefühle« ernst zu nehmen ist, so muss man andererseits doch zurückfragen, ob mit dem Abschied von aller Bildlichkeit nicht genau die Sinnebene verloren geht, aufgrund derer Feuerbach, zu Recht, auf dem Wert des Konkreten gegen seine Auflösung ins Ideale und Allgemeine bestanden hatte. »Der religiöse Ausdruck und Begriff für Nützlichkeit ist Wohltätigkeit; denn nur die Wohltätigkeit, aber nicht die Nützlichkeit flößt mir die Empfindungen der Dankbarkeit, der Verehrung, der Liebe ein« (VWR, 62). »Wegen ihrer Wohltätigkeit, religiös oder poetisch, wegen ihrer Nützlichkeit, irreligiös, gemein oder prosaisch, wegen ihrer Notwendigkeit, ihres Ohne-sie-nicht-sein-Könnens, Vgl. VWR 211. Freilich: des im Feuerbachschen Sinne Realen. Denn »die Kunst kann […] nur das Wahre, Unzweideutige darstellen« (GPZ, 248). 144 Vgl.: »[…] nur solche Bilder, welche keinen Kunstwerth haben, sind Bilder im Sinne und Geiste des echten Katholicismus, eben deswegen, weil sie bloss religiöse, aber keine Kunstbedeutung haben […]« (Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit, Gesammelte Werke, Bd. IV, 13). 145 WC, 6; vgl. Wartofsky 1977, 255. 142 143
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Feuerbach
philosophisch ausgedrückt, wird die Natur überhaupt, werden auch die Pflanzen und Tiere insbesondere verehrt« (ebd.). 146 Es ist eine eigentümliche Tragik, dass ausgerechnet Feuerbach, der Nestor dialogischen Denkens, nicht gesehen hat, wie arm die Welt wird, wenn sie nicht mehr in sich Bild der Wohltätigkeit ist, sondern jeder wesenhaft interpersonalen Bedeutung beraubtes bloß materielles Dieses-da. Selbst wenn er dies mit Notwendigkeit aus seinen Prämissen hervorgehen sah, hätte man bei seinem Gespür für Dankbarkeit hoffen können, dass ihm der Abschied von der Welt als Sakrament des Wohlwollens nicht gar so schmerzlos von der Hand gegangen wäre. Im Gegensatz zu Nietzsche wusste er nicht, was er preisgab.
5.10 Zusammenfassung Fassen wir zusammen: Feuerbach tritt an, um den Menschen als liebenden und geliebten in sein Recht zu setzen. Dessen Bezogensein auf Gott bedeutet die reine Entfremdung. Denn als Abbild des Göttlichen ist der Geliebte im Verhältnis zu Gott unendlich nachrangig. Die Liebe aber will seinen Vorrang. Der Liebende selbst erleidet keine geringere Entfremdung als der Geliebte. Allmacht und Alleinwirken Gottes sind für Feuerbach dasselbe. Der Liebende ist dann aber immer nur Ort eines Geschehens, das sich zwar in ihm, das aber nicht er vollzieht. Demnach erlaubt erst die Negation Gottes die Wiedereinsetzung von Geliebtem und Liebendem als je selbsthafte Wirklichkeit. Deren über die bloße Existenz hinausgehende »Herrlichkeit« kann dann aber nicht von anderswo herkommen. Das Göttliche wird beim mittleren Feuerbach nicht einfachhin gestrichen, sondern findet sich im Menschen wieder. Allerdings nicht im Menschen als Individuum, als »Ich« (bloß als solch ein Einzelner könnte er gar nicht sein), sondern im Menschen als »Ich und Du«. Feuerbach verlegt also die Rechtfertigung des Menschen in seine gelingenden Beziehungen. Er verlangt unendlichen Respekt, weil der Mensch im »Ich und Du« unendlich, göttlich ist. 147 Vgl. auch EWR, 84. Vgl. WC, 30. Wir lassen hier auf sich beruhen, dass das, was unbedingten Respekt verlangt, gar nicht der andere Mensch wäre, sondern die Liebenden als Paar – und damit auch die Frage, wie es zu einem solchen soll kommen können, wenn dasjenige, 146 147
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Zusammenfassung
Feuerbach hat die Göttlichkeit des Menschen nicht bewiesen, sondern bloß proklamiert. 148 Schon deshalb könnten wir uns der Aufgabe entheben, zu zeigen, dass der Mensch die Glorie, die Feuerbach ihm attestiert, nicht nur – aufgrund von Verfehlungen – de facto nicht hat, sondern als prinzipiell endliches Wesen nicht haben kann. Wir können es aber mehr noch deshalb, weil Feuerbach selbst im weiteren Verlauf seines Werkes begonnen hat, die Göttlichkeit des Menschen rückabzuwickeln. Nun ist der Mensch zwar noch das Höchste, was es gibt, aber eben doch endlich. So aber ist er dann auch nicht mehr des totalen Seins-für würdig. Die Liebe verliert ihre agapeische Ausrichtung und schlägt – unkommentiert – um in ihr Gegenteil: Sie wird Egoismus. Auch wenn Feuerbach versucht, zu zeigen, dass und wie zum Egoismus auch das Streben nach der Glückseligkeit des Anderen gehört, sind diese Versuche zum einen wenig überzeugend und zum anderen würden sie, selbst wenn sie gelängen, allenfalls zu einem instrumentellen Wohlwollen im Dienste der eigenen Lebensqualität führen. 149
auf das die Liebe unbedingt zielt, der einzelne Mensch, bloß für sich diesen unendlichen Liebeswert gar nicht hat. 148 »Was aber diesen Menschen zum Menschen macht, was den Gehalt der emanzipierten und verselbständigten Humanität eigentlich ausmacht, das vermochte Feuerbach mit seinem abstrakten Prinzip vom konkreten Menschen über sentimentale Redensarten hinaus nicht zu entwickeln« (Löwith 1941, 334). Seine »Kritik führt zurück auf eine mehr oder weniger begriffslose Anthropologie« (359). 149 Röhr versteht Feuerbachs Entwicklung als Denkweg einer sich ihrer selbst immer klarer werdenden Kritik sämtlicher Verabsolutierungen. Es geht nicht bloß um die Kritik an einem Theozentrismus. Den hat Feuerbach schnell als Anthropozentrismus entlarvt. Aber gerade dieser wird dann nur scheinbar von Feuerbach vertreten. Das Programm heißt »Dezentrierung« und un-endlich bedeutet in diesem Zusammenhang: nicht geschlossen. »Wird in diesem Kontext auf Unendlichkeit abgehoben, dann ist damit in erster Linie die dialektisch nicht einholbare Spannung zwischen Endlichkeit und Dezentrierung gemeint, wobei letztere sowohl für das Offene, Überschießende und Kontingente in Erfahrung, Sprache und Wissen stehen kann als auch für das Angegangen-Werden durch ein Inkommensurables […]. Ein solcher Begriff von UnEndlichkeit impliziert keine Totalitätsansprüche, sondern ist geradezu ein Remedium gegen sie« (Röhr 2000, 27). Wenn aber schon Jaeschke recht zu geben war, dass die Abschaffung der Gottesliebe nicht zwangsläufig zu mehr Menschenliebe führt (vgl. 199, Anm. 101), um wieviel mehr muss sich Röhr dann fragen lassen, ob die Auflösung der Anthropozentrik in eine Dezentrierung hinein schon von sich aus zu jener Dezentrierung führen soll, die das der Eine-für-den-Anderen ist. Klar: Wenn es nicht mehr um den Menschen geht, dann auch nicht mehr – individualistisch – um mich. Aber wieso dann andererseits um Dich?
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Feuerbach
Die totale Immanenz um der Herrlichkeit von Ich und Du willen führt nicht bloß zum Verblassen dieses Glanzes, sondern, wie gezeigt, auch zum Ende der Freiheit. Am Ende ist es die blinde Natur, die regiert. Als Quintessenz ergibt sich, dass das Konzept der Menschheit als göttlich-unendliche Wirklichkeit, die im Abschied von seiner Bildlichkeit und der in ihm gezeigten Wirklichkeit ermöglicht wurde, an ihrem eigenen Anspruch zugrunde gegangen ist. Soll die radikale Immanenz aufrechterhalten bleiben, findet ein Menschenopfer unter areligiösen Vorzeichen statt: Der Abschied von der Sphäre des Unbedingten, Absoluten, Transzendenten fordert, wenn er standhaft bleiben soll, zugleich den Abschied von der unbedingten Würde des Menschen – wenn Klarsicht und Nüchternheit erst einmal zutage gebracht haben, dass er sie aus sich selbst niemals begründen kann. 150 Noch einmal vom Bild aus betrachtet: Das, was die Religion für Bild hält, ist in Wahrheit die Sache selbst. Das aber, was sie für die Sache selbst hält, ist in Wahrheit deren Bild. So ist nicht das Diesseits Bild des Himmels, sondern das Jenseits Bild der Erde. Was es gibt, ist nur die Erde. Der Mensch nicht Bild Gottes, sondern Gott Bild des Menschen. Was aber ist die bilderzeugende Macht im Menschen? Es ist der Wunsch nach Entgrenzung. Das Bild ist ein Traumgebilde. Als solches entfremdet es von der Wirklichkeit und ist als bloßes Bild zu entlarven. Gott ist das Bild, an das der Mensch sein eigenes Wesen verliert. Der mittlere Feuerbach gewinnt das Wesen zurück, indem er den Schein des Gottesbildes aufdeckt. Beim späten Feuerbach zeigt sich, dass das Bild nicht nur bzgl. der Frage »Wer« gelogen hatte, sondern auch bzgl. der Frage »Was«. Es gibt nicht nur nicht Gott, es gibt auch keine Göttlichkeit. Das Bild wird damit zum doppelten Schein, jegli150 Es sei denn, man würde in ihm etwas annehmen, das ihn überragt (»interior intimo meo« [Augustinus, Confessiones, Lib. III, C. 6, PL 32/688]). Es geht hier nicht darum zu behaupten, dass jeglicher Nicht-Theismus bei einem Versuch, die Menschenwürde zu erklären, versagen muss. Allerdings stehen wir vor folgendem Problem: Ein Endliches soll unendlichen Wert haben (das genau meint ja Würde: keinen Preis haben [vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, 434]). Wenn sich der Weg des mittleren Feuerbachs, das Endliche zum Unendlichen umzudeuten, als Sackgasse erweist, weil man beim besten Willen über die Endlichkeit des Menschen wie der Menschheit nicht hinwegkommt, dann braucht es eben doch eine Dimension der Transzendenz und diese als Ort einer – wie auch immer zu denkenden – Unendlichkeit und unbedingten Geltung. Das muss man nicht Gott nennen, aber ein reiner Immanentismus verliert zwingend, was er schützen wollte.
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Spekulatives Potential der Güte
cher ontologischen Funktion beraubt und in den eng umgrenzten Raum des Nützlichen verbannt: Abbilden für ästhetische und wissenschaftliche Zwecke. Damit aber ist genau jene Kategorie verloren gegangen, in der sich in einer Wirklichkeit mehr zeigen kann als diese Wirklichkeit selbst – was gerade der Wirklichkeit erlaubt, mehr zu sein, als sie ist. In Bezug auf die Würde erweist sich der »oftmals gerühmte ›Boden der harten Tatsachen‹ wirklich als ein schwankender Grund«. 151
5.11 Spekulatives Potential der Güte Vielleicht lässt sich gerade mit Blick auf Feuerbachs Religionskritik zeigen, von welcher spekulativen Sprengkraft der Begriff der Liebe als Güte ist. Es ist, als habe Feuerbach für einen Moment den Schlüssel in der Hand gehalten, der einerseits das Unwesen der Religion richten und andererseits die Widersprüche, die Feuerbach im Theismus am Werk gesehen hat, vermitteln kann, und als habe Feuerbach nach Erledigung des Ersten am Zweiten kein Interesse mehr gehabt und den Schlüssel verlegt. In der Liebe als Güte lässt sich ein Großteil der theologischen, antipodischen Begriffe vermitteln, die Feuerbach für widersprüchlich hält. Es lohnt, dies im Vorgriff auf die nun folgenden systematischen Kapitel zumindest grob zu umreißen. 1) Gott soll einerseits in-sich und andererseits für-uns sein. »Ein Gott, der sich nicht um uns kümmert, unsere Gebete nicht erhört, uns nicht sieht und liebt, ist kein Gott; es wird also die Menschlichkeit zum wesentlichen Prädikat Gottes gemacht; aber zugleich heißt es wieder: Ein Gott, der nicht für sich existiert, außer dem Menschen, über dem Menschen, als ein andres Wesen, ist ein Phantom; es wird also die Un- und Außermenschlichkeit zum wesentlichen Prädikat der Gottheit gemacht« (WC, 359). Weit entfernt davon, dass das eine Widerspruch des anderen ist, stellt sein In-sich vielmehr eine Möglichkeitsbedingung seines Füruns dar. Denn ohne Unterschiedenheit von Gott und Mensch kann es gar keine Güte geben, sondern nur Selbstaffirmation. 152
151 152
Pieper 1996, 327. Vgl. Amengual 2009, 24.
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Feuerbach
2) Damit ließe sich dann auch die Antinomie auflösen, die Feuerbach meint, in der Trinitätslehre aufweisen zu können. »Die Forderung der Realität der Personen ist die Forderung der Irrealität der Einheit und, umgekehrt, die Forderung der Realität der Einheit die Forderung der Irrealität der Personen«. 153 Zumindest müsste Feuerbach in seiner Doppelbestrebung nach echter Individualität des Einzelnen und Einheit von Ich und Du dem Trinitätsbekenntnis attestieren, dass es eine Formel beinhaltet, die genau dieses beides auf die Spitze treibt: als Personen wirklich unterschieden und doch eines. Nicht dieselben, aber dasselbe: Liebe. 3) Wenn Feuerbach die Einheit Gottes als Argument gegen die Mannigfaltigkeit von Natur und Mensch ins Feld führt, 154 wäre mit dem Vorhergehenden schon das Wesentliche dazu gesagt. Ein monolithisches Absolutes kann in der Tat nicht Prinzip der Mannigfaltigkeit sein, wohl aber ein Drei-eines. 4) In der Güte ließe sich auch der vermeintliche Widerspruch zwischen Gott als vollkommenem Wesen und Gott als Schöpfer vermitteln: »Wenn ein vollkommenes Wesen ist, […] wozu ein unvollkommenes? Hebt denn nicht das Dasein eines vollkommenen Wesens die Notwendigkeit, den Grund eines unvollkommenen Wesens auf […] wie kann ich aus dem höchsten Wesen, wenn ich anders bei Sinnen bin, ein unter ihm stehendes, ein niedriges Wesen ableiten?« 155 Ganz recht, ableiten lässt sich daraus gar nichts. Das klassische Schöpfungsdenken hat dergleichen allerdings auch nie behauptet. Die Gottesbeweise führen ja nicht von Gott zum Geschöpf, sondern umgekehrt von diesem zu jenem. Die Notwendigkeit des Schaffens ist damit aufgehoben, so aber und nur so ist die Möglichkeit einer Schöpfung aus Liebe gegeben. Nur ungenötigt kann es reine Güte geben. 5) Womit auch geklärt wäre, dass die Nicht-Notwendigkeit des Menschen seiner Würde nicht im Weg steht, 156 sondern sie allererst WC, 388 ff. (Auflage A und B, in C gestrichen). »Sowenig man aus dem monotheistischen Gott als einem wesentlich von der Natur unterschiedenen Wesen die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Natur überhaupt, sowenig kann man aus ihm die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der menschlichen Natur […] ableiten« (VWR, 371). 155 VWR, 161; vgl. ebd., 181; WC, 384; SM, 189. 156 »Wenn ich nicht notwendig bin, nicht als notwendig mich fühle, so fühle ich, dass es eins ist, ob ich bin oder nicht bin, dass also meine Existenz eine wertlose, nichtige ist. Ich bin nichts und ich bin nicht notwendig – ist im Grunde einerlei« (WC, 510). 153 154
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Spekulatives Potential der Güte
ermöglicht. Wäre er dazu da, einen Mangel Gottes auszugleichen, so wäre er nicht um seinetwillen, sondern ein Mittel Gottes. Würde heißt aber: ganz und gar Zweck sein. 6) Zuletzt ließe sich auch zeigen, dass göttliche Allmacht und menschliche Freiheit nicht die Antagonisten sind, die Feuerbach in ihnen sieht. Denn wenn die Allmacht Macht der Güte ist und es ihr als absoluter zu eigen ist, alles zu gönnen, dann wird sie auch ihr Höchstes gönnen: Gönnen. Das aber gibt es nur frei. Spitze der Macht wäre dann nicht, alles Mögliche zu können, und in jedem Gekonnten, wie das Voilà des Zauberers, auf sich selbst zu weisen, sondern zu können, dass ein anderer kann, und ihm zu gönnen, – selbst – zu gönnen.
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6 Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Mit diesen historischen Überblicken und Ergebnissen im Rücken können wir jetzt unsere systematischen Überlegungen zur Liebe beginnen. Vorab allerdings einige Vorbemerkungen zur philosophischen Rede von Gott in dieser Untersuchung.
6.1 Vorbemerkung zum Gottesbegriff Zwar hatten wir bisher bei allen Autoren bis auf Feuerbach mit Denkern zu tun, die die Transzendenz eines in irgendeiner Weise Absoluten als wesentlich für die Wirklichkeit ansahen. Aber nun, wo wir zum systematischen Teil übergehen, bedarf es einer Erklärung, wie nun hier, ohne den bequemen Deckmantel des Philosophiegeschichtetreibens, weiter von Gott gesprochen wird. Die akademische Philosophie unserer Tage hat sich weitgehend von Gott als Gegenstand affirmativen philosophischen Redens verabschiedet. Dies zumeist nicht in Form eines entschiedenen Atheismus, sondern in agnostischer Selbstbescheidung auf die Themen, die uns mehr oder weniger unmittelbar zugänglich sind. In einer solchen post-theistischen Atmosphäre steht philosophisches Reden von Gott nicht erst aufgrund der Qualität seiner Argumente in der Kritik, sondern schon sein Gegenstand scheint es für das Gespräch der Fachleute zu disqualifizieren. Eine erstaunliche Entwicklung, bedenkt man, wie wenige der großen Philosophen unter solchen Vorzeichen bei heutigen Disputen überhaupt eine Chance hätten, ernst genommen zu werden. 1 – Allerdings kann man sich in der Philosophie ebenso wenig auf die Gegenwart wie auf die Vergangenheit der Zunft berufen. Weder ist etwas wahr, weil es früher vertreten wurde, noch, weil es heute Trend ist. Gültig ist einzig das Argument, und dies nicht nach seinem Stel1
Vgl. Gerhardt 2014, 14 f.
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Vorbemerkung zum Gottesbegriff
lenwert in der community, sondern je jetzt im Nachdenken und Diskutieren. Deshalb nun ein kurzer Paragraph zur Frage, vor welchem theoretischen Hintergrund hier Gott als nicht nur legitimer, sondern ureigentlicher Gegenstand der Philosophie behauptet wird. Der Ort, an dem hier 2 »Gott ins Denken einfällt« 3, ist nicht die Kosmologie, sondern die sich auf ihren Grund zurückführende praktische Vernunft. Von der Dimension der Natur gilt das KierkegaardWort: »Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts.« 4 Oder mit Newman: »Wenn ich in einen Spiegel blickte und darin mein Gesicht nicht sähe, so hätte ich ungefähr dasselbe Gefühl, das mich jetzt überkommt, wenn ich die lebendige, geschäftige Welt betrachte und das Spiegelbild ihres Schöpfers nicht in ihr finde […] Wäre es nicht diese Stimme, die so deutlich in meinem Gewissen und in meinem Herzen spricht, ich würde bei der Betrachtung der Welt zum Atheisten, Pantheisten oder Polytheisten.« 5 Die Wirklichkeit, die im Gewissen erscheint, kann im Gegensatz zum Kosmos, dem Reich der Fakten, nicht vor den Richterstuhl des Sinnes, des Guten, der Wahrheit gezogen werden, weil es allein sie ist, in deren Licht jede Beurteilung einer Wirklichkeit als gut oder schlecht, im normativen Sinne wahr oder unwahr, sinnvoll oder sinnwidrig geschieht. Alles wird in ihrem Licht gerichtet; nur sie selbst ist selbstgerechtfertigt – mit dem religiösen Begriff: heilig. Das Gute im Modus des Erscheinens ist Gegenstand des Gewissens, dieses deshalb vor jeder anderen Möglichkeit der Vernunft das Zentralorgan für Wahrheit. Denn von jeder theoretischen Wahrheit lässt sich fragen: Ist es gut, dass es sich so verhält? Von einer praktischen Wahrheit nicht. Ihr Gelten erheischt zugleich die Zustimmung und vereint so Freiheit und Erkenntnis. Im Gewissen aber erscheint nicht bloß die Güte des Guten, sondern auch seine Allmacht. Wenn nämlich einerseits gilt, dass Allmacht nicht primär heißt, alles Mögliche zu können, sondern Möglichkeit zu schaffen, also Freiheit hervorzubringen (Macht der Macht,
Im Anschluss an so unterschiedliche Denker eines Primates der Ethik wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Sören Kierkegaard, John Henry Newman, Emmanuel Levinas, Jörg Splett. Näheres hier: Heereman 2018a, 219–222. 3 Vgl. den Titel von Levinas 1986 [1982]: »De Dieu qui vient à l’idée«. 4 Kierkegaard, Die Wiederholung, 2005 [1843], 411. 5 J. H. Newman, Apologia pro vita sua, 1951 [1865], 278 f. 2
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Können des Könnens), 6 und wenn andererseits gilt, dass Freiheit nur unter dem Sittengesetz Freiheit sein kann, 7 dann ist das absolut Gute zugleich die absolute Macht. Dann aber kann auch die Natur kein Gegenprinzip sein, sondern ist ihrem Wesen nach »Sphäre für die Freiheit«. 8 Jörg Splett hat als Ergebnis eines solchen Denkweges einen Gottesbegriff geprägt, der zwar nicht eben handlich, andererseits aber exakt und umfassend ist und wohl um keines seiner Elemente zu kürzen sein dürfte: Gott ist das »Wovon-her unseres unbedingt Gutsein-sollen(-dürfens)«. 9 Wen diese, hier bloß angerissenen Gründe nicht zu überzeugen vermögen, der wird hoffentlich zumindest in der Durchführung eines philosophischen Monotheismus im Blick auf die Begriffe Bild und Liebe und ihr Verhältnis zueinander gelten lassen, dass dieser nicht von vorneherein als philosophisch weniger satisfaktionsfähig als Atheismen oder Agnostizismen angesehen werden sollte – so als würde hier gedacht, dort aber bloß gefühlt oder fabuliert. Dies nämlich zu insinuieren, gehört zu jenem Mundtotmachen des Gegners durch Gruppendruck, das zu verachten eine der Grundbedingungen des Philosophietreibens ist. Wer ernsthaft proklamiert, dass wir seit Kant oder wem immer in dieser oder jener philosophischen Grundfrage unverrückbar dies oder jenes wissen (zu welchem vermeintlich unerschütterlichen Wissen natürlich auch und vor allem gehören soll, genau zu wissen, was wir nicht wissen können), der weiß wenig über die Philosophie (z. B. nämlich nicht, dass es in ihr keine Lehr-Auto»Das Höchste, das überhaupt für ein Wesen getan werden kann, höher als alles, wozu einer es machen kann, ist, es frei zu machen. Eben dazu gehört Allmacht (…). Die Allmacht bleibt nicht liegen in einem Verhältnis zum andern, denn da ist nichts anderes, zu dem sie sich verhält, nein, sie kann geben, ohne doch das mindeste ihrer Macht aufzugeben, nämlich: sie kann unabhängig machen. Dieses ist das Unbegreifliche, dass die Allmacht nicht bloß das Imposanteste von allem hervorbringen kann: der Welt sichtbare Totalität, sondern das Gebrechlichste von allem hervorzubringen vermag: ein gegenüber der Allmacht unabhängiges Wesen. Dass also die Allmacht, die mit ihrer gewaltigen Hand so schwer auf der Welt liegen kann, zugleich so leicht sich machen kann, dass das Gewordene Unabhängigkeit erhält« (Kierkegaard, Eine literarische Anzeige [Anhang], Ges. Werke, Bd. XII, Abt. 17, 124). 7 »Ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen ist einerlei« (Kant, Grundlegung, Akademie-Ausgabe, IV, 447). 8 Fichte, AzsL, GA I/9, 109. 9 Z. B. Splett 2011, 48; die jüngste Ausarbeitung des Gedankens findet sich in Splett 2012a. 6
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Terminologie: Das Liebenswerte an der Liebe ist die Güte
ritäten geben kann und dass ein Trend in diesem Fach eher zu Skepsis als dahin führen sollte, sich ihm anzuschließen). Sieht man, wie blutleer die akademische Philosophie geworden ist und wie wenig sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, könnte man meinen, dass ihr die Ausklammerung Gottes nicht bekommen ist. Der Größte ihrer Väter jedenfalls meinte, dass ausgerechnet allein eben dieses Thema »allen seligen Ernstes wert« (Nom. 803c) sei.
6.2 Terminologie: Das Liebenswerte an der Liebe ist die Güte Zunächst einige Klärungen zur – nicht bloß terminologischen – Frage, ob und wie sich in der verwirrenden Fülle der Bedeutungen des Wortes Liebe eine gemeinsame Begriffslinie findet, bzw. welche der amalgierten Bestandteile des Liebesbegriffes hier im Fokus stehen sollen. 10 Die philosophische Literatur zur Liebe ist äußerst umfangreich und heterogen. Die Werke, die sich für das hier Versuchte als wichtige Impulsgeber erwiesen haben, werden in den Fußnoten diskutiert. An dieser Stelle nur eine Anmerkung zu hilfreichen Übersichten. Grundsätzlich ist Horn recht zu geben: »Die umfassende Geschichte der philosophischen Liebeskonzeptionen verdient erst noch geschrieben zu werden« (Horn 2008, 54). Die umfassendste historische Untersuchung zum Liebesbegriff verdanken wir Irving Singer 1984. Sein dreibändiges The Nature of Love präsentiert die Entwicklung des Liebesbegriffes von Platon bis Sartre. Dass er dabei eine eigene (mir nur begrenzt einleuchtende) Theorie der Liebe als »bestowal of value« (1995, 134 ff.) entwickelt, gibt der Sache zugleich jene systematische Würze, ohne die eine bloß historische Untersuchung in öder Gelehrsamkeit ersticken würde. 2011 hat Simon May einen ähnlich weiten Wurf gewagt und damit eine neuerliche historische Untersuchung in systematischer Absicht vorgelegt, die der Arbeit Singers in nichts nachsteht. Ja, man wird ihr attestieren dürfen, dass sie insofern die Debatte bereichert, als sie entschiedener argumentiert als Singer, der es sich zum Ethos macht, mehr zu beschreiben als zu werten. Mays Kernthese: Was Liebe eigentlich will und erstrebt, ist Heimat, Verwurzelung im Umfassenden: »ontological rootedness« (6). Dies gelte es, neu durchzuführen, denn »love has increasingly filled the vacuum left by the retreat of Christianity. Around that time the formula ›God is love‹ became inverted into ›love is God‹, so that it is now the West’s undeclared religion – and perhaps its only generally accepted religion« (1). »This divinization of human love is the latest chapter in humanity’s impulsive quest to steal the powers of its gods, and the longestrunning such attempt to reach beyond our humanity. Like the others it must fail; for the moral of these stories is that the limits of the human can be ignored only at terrible cost« (5). Dagegen seine Forderung: »My overall theme is that, especially in
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Der Begriff der Liebe meint einerseits in der Regel die qualitativ höchstwertige, affirmative, bewusste (oft personale) Beziehung zu einer (oft ihrerseits bewussten oder personalen) Wirklichkeit. Auf der anderen Seite sind die Werte (z. B. emotionaler, ästhetischer, sittlicher Natur), aufgrund derer diese Hoch- oder Höchstschätzung geschieht, und die Weise, diese Beziehung auszulegen und zu verstehen, so unterschiedlich, dass die jeweilige konkrete Füllung des Begriffes allenfalls Schnittmengen mit konkreten anderen Füllungen hat. Freilich ist es eine »Chance, ständig durch die Sprache selber dazu aufgefordert zu sein, das dennoch Einheitliche in allen Gestalten der Liebe nicht aus dem Blick zu lassen und dies Gemeinsame, allem einengenden Missbrauch zum Trotz dem Bewusstsein präsent zu hala secular age, we should model human love not on how God is said to love us but on how we are commanded to love God« (13) – nämlich nicht als unbedürftige, rein altruistische Wesen, sondern in der bewussten Annahme unserer Bedürftigkeit, im Haben-Wollen bei gleichzeitiger Dienstbereitschaft (»the intimacy of possessing another and the intimacy of making ourselves unreservedly available to them« [13]), in Zusammengehörigkeit der Liebenden bei unaufhebbarer Differenz (vgl. 244). Einen umfassenden Überblick über die zeitgenössische, angelsächsische Diskussion bietet Helm 2013. Dort konzentriert man sich allerdings sehr auf die romantische Liebe, die hier nicht im Fokus steht. (Nozick definiert sie sehr prägnant: »[…] the romantic desire is to form a we with that particular person and with no other. In the strong sense of the notion of identity involved here, one can no more be part of many wes which constitute one’s identity than one can simultaneously have many individual identities« [2006, 82].) Eine prominente Ausnahme bildet Harry G. Frankfurt, der folgendermaßen begründet, warum er in der romantischen Liebe nicht das Modell für Liebe überhaupt sieht: »For one thing, those relationships generally include a number of confusing elements – for instance, various powerful emotions – that do not belong to the essential nature of love but are so vivid and distracting that they make a sharply focused analysis nearly impossible. Furthermore, the attitudes of romantic lovers toward their beloveds are rarely altogheter disinterested, and those aspects of their attitudes which are indeed disinterested are generally obscured by more urgent concerns that are conspicuously or covertly self-regarding« (1999, 166; vgl. 2004, 43). Sein bevorzugtes Modell ist dagegen »the loving concern of parents for their infants or small children« (1999, 166). – Zur Liebesdiskussion in Frankreich: Wolf 2006. Dass die französischen Autoren – abgesehen von Levinas – nicht behandelt werden konnten, ist ein echtes Manko dieser Arbeit. Anknüpfungspunkte finden sich zuhauf bei Autoren wie Paul Ricoeur, Jacques Derrida, Michel Henry und JeanLuc Marion, zumal die in Frankreich omnipräsente und hierzulande vielfach aufgegriffene (einen guten Einblick bietet der Sammelband Hoffmann/Link-Wieczorek/ Mandry 2016) Gabe-Thematik offensichtliche Verbindungslinien zu dem hat, was hier über das Bild als Gegenwart von Güte zu sagen versucht wird. Diese Auseinandersetzung mit der französischen Gegenwartsphilosophie wird in späteren Auswertungen des Ertrags dieser Arbeit nachzuliefern sein.
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Terminologie: Das Liebenswerte an der Liebe ist die Güte
ten«. 11 Aber es ist der Sprache nicht bloß eigen, zu offenbaren, sondern auch zu verstellen. Die Philosophie sollte sich des einen bedienen und das andere kritisch klären. Dies a fortiori im Blick auf die Liebe, die einerseits ein anthropologischer wie theologischer Spitzenbegriff ist, und andererseits nicht bloß im erwerbsorientierten Sexmilieu Phänomene meint, die mit solcher Höhe nicht nur nichts zu tun haben, sondern geradewegs in die ihr konträre Tiefe menschlicher Abgründe gehören. 12 Nennt man statt solcher Unterscheidung jegliches beherzte Wollen Liebe, muss man mit Augustinus sagen: »Ex amore suo quisque vivit, vel bene vel male«. 13 Was aber soll dann noch an der Liebe
Pieper 1996, 300. Deshalb ist es nicht »fragwürdig«, sondern Aufgabe der Philosophie, »die lebendige Sprache sozusagen in Regie nehmen zu wollen und ihre vermeintliche ›Armut‹ durch eine gezielte Korrektur zu überwinden« (Pieper 1996, 302; vgl. Wald 2012, 88 f., 109 f.) – Oder wollte man z. B. auch noch den Begriff der ›käuflichen Liebe‹, der ›Liebesdame‹, der ›Knabenliebe‹ oder der ›Biastophilie‹ als Zeichen der »Vielgestaltigkeit menschlicher Liebe« (Wald, 109) verstehen und nicht als schlichte Lüge (»only masks for other passions, including jealousy and the desire for possession and control« [White 2001, 4])? Kann es nicht genau an dieser Unlust zur Unterscheidung innerhalb der vielfachen Anwendungen des Liebesbegriffes liegen, dass Wald und Pieper so leicht eine »Konvenienzthese« vertreten können, in der Geben-Wollen und HabenWollen einfach deshalb zusammenfallen, weil man sie von vorneherein unter derselben Vokabel hat firmieren lassen (»Nicht bloß die selbstvergessene ›Hingabe‹, ›die nicht das Ihre sucht[‹], sondern auch die ›Regung‹, ›die aufs Haben und Genießen aus ist‹, beides bezeichnen wir mit demselben Wort ›Liebe‹« [Wald, 89; Zitate aus Pieper 1996, 314])? Vgl. Fishers entschiedene Gegenkonzeption: »I do not believe much is to be understood about love from a scrutiny of the way people commonly use such words as love and like. Common usage is various, idiosyncratic, vague and slapdash. Even if we only want to describe the phenomena of love we have to propose distinctions which common usage does not mark. Clarification is not the only reason for such proposals. Saying clearly what love is cannot be sharply demarcated from saying what it is at its best« (Fisher 1990, 12). – Die in den Fußnoten geführte Diskussion mit Pieper und Wald knüpft an die Kontroverse in Möllenbeck & Wald 2012 (Hg.) an. Berthold Wald hatte dort die Artikel von Verf. (72–86) und Jörg Splett (45– 71) einer massiven Kritik unterzogen (87–114). Splett hat im Folgeband (Möllenbeck & Wald 2014 [Hg.]) auch in meinem Namen eine kurze Erwiderung veröffentlicht (28–30). Ich nehme in diesem Kapitel die Gelegenheit wahr, noch einmal meinerseits vor dem erarbeiteten Hintergrund auf einige Argumente Walds einzugehen. 13 Augustinus. Contra Faustum Lib. V, Cap. 11; PL 42/228. Sie muss dann, so Pieper, »›in Ordnung‹ sein […], damit der Mensch im Ganzen ›richtig‹ sei und gut« (Pieper 1996, 317). Für diese Ordnung aber kann nicht erneut die Liebe die richtende Kategorie sein. Wie aber kann sie dann aber als sie selbst »Erfüllung des Gesetzes« (Röm 13,8; Gal 5,14) sein? Vgl. auch Spletts Kritik, 1990, 99 f. 11 12
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
preiswürdig sein? Sie ist dann bloß ein anderes Wort für Wollen und damit nicht nur überflüssig, sondern unfähig, das zu beschreiben, was sie nicht bloß in der christlich-jüdischen Tradition vor allem gemeint hat, sondern, wie ich meine, im heutigen Sprachgebrauch, wo jemand das Wort in seinem vollen Ernst ausspricht, immer noch vor allem meint: Dass nämlich jemand es mit einem anderen gut meint. 14 Nun ist es andererseits eben eine Tatsache, dass, aufgrund der philosophischen wie alltagssprachlichen Differenzen im Sinn des Wortes »Liebe«, diesem Wort – auch und gerade dort, wo es noch als ein Begriff gehandelt wird – so viele Ambivalenzen innewohnen, dass es kaum mehr in der Lage ist, genau das zu bezeichnen, was es bezeichnen sollte, sofern es weiterhin als Name für die ethische (und religiöse) Spitzenwirklichkeit gelten können soll. Da es aber hier um genau diese Bedeutung der Liebe geht, und der Term »Liebe« sich offensichtlich auf diese Bedeutung nicht mehr festlegen lässt, werde ich einen anderen Terminus dafür verwenden. 15 Zur Bestimmung des Liebenswürdigen an der Liebe ist es nötig, den Liebesbegriff in die üblicherweise in ihm amalgierten Elemente zu zerlegen. Denn es ist eben deren Verhältnis, das zu unterschiedlichen Verständnissen dessen, was Liebe ist, führt. Die Elemente, mit denen wir zu tun haben, sind: Wertschätzung, Begehren und Wohlwollen. Der hier vertretene Standpunkt lautet, dass das Wohlwollen 16 der innere Kern, notwendige wie hinreichende Bedingung für liebevolle Liebe ist. Ohne das Wohlwollen sind weder das Begehren noch das Wertschätzen von ethischem Wert. Begehren und Wertschätzen 14 Ein »liebevoller« Mensch ist voll mit solcher Liebe und gerade deshalb »liebenswürdig« und »liebenswert«. Wenn im Folgenden das Wort Liebe in diesem Sinne verwendet wird, wird es (wie die Diskussion zeigt: nicht tautologisch) mitunter als »liebevolle« bzw. »liebenswürdige« Liebe präzisiert. 15 Ohne das vorher zum eigentlichsten Sinn des Wortes Liebe Gesagte zurückziehen zu wollen, geht es mir nicht primär darum, dem Liebesbegriff eine Eindeutigkeit zu verleihen, die ihm mehr noch als vielen anderen Grundbegriffen zu fehlen scheint. Ich lasse diese Frage auf sich beruhen (als unbeantwortbar: denn letztlich ist es eine sprachliche Setzung, ob »lieben« auf Wackelpudding, Dackel und Freunde gleichermaßen angewendet werden darf oder nicht), um ungestört über dasjenige an der Liebe sprechen zu können, was allein ihr sittlichen Wert verleiht. – Vgl. Fisher: »People can use words as they like, of course, and I am not trying to legislate about language. If these other things are going to be called love, so be it. (…) I favour awarding the term ›love‹ as an honorific title to the best candidate, but if it is to be shared around the others I shall still try to establish that my candidate is the best« (Fisher 1990, 40 f.). 16 Ich verwende diesen weithin üblichen Begriff hier als Provisorium. Im Weiteren wird er aus noch zu zeigenden Gründen durch den Begriff der Güte ersetzt.
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Terminologie: Das Liebenswerte an der Liebe ist die Güte
ohne Wohlwollen sind bestenfalls ethisch indifferent, wenn sie nicht genau zum Gegenteil sittlicher Interpersonalität werden. Wertschätzung ist zunächst »Wertantwort« 17, und die steht einfach erst einmal an – aus Wahrhaftigkeit. Das heißt, sie ist als Wertschätzung noch nicht Liebe. 18 Sie kann in Verbindung stehen mit interesselosem Wohlgefallen, mit Neid oder gar mit Gier. Diese Haltungen sind aber (noch) nicht liebenswerte Liebe – nicht das reine Schauen interesselosen Wohlgefallens 19; und schon gar nicht sind dies die Missgunst des Neides oder das Begehren der Gier. Menschliche Wertschätzung antwortet gegenüber dem Nächsten, wie gegenüber Gott, auf einen Wert. Ihn zu übersehen wäre Dummheit, Stumpfheit, Borniertheit oder Ignoranz aus Narzissmus, so wie es umgekehrt einer gewissen Größe bedarf, Größe zuzugestehen. Von liebevoller Liebe aber kann man erst da sprechen, wo die Bewunderung eines Wertes mit dem Gönnen desselben einhergeht. Den Wert des Anderen nicht nur zugeben, sondern zustimmen zu seinem Wert als seinem. Nun zum Wohlwollen im Begehren. Begehren beinhaltet natürlich Wertschätzung. Aber hier geht es nun um das Haben-Wollen des Wertgeschätzten. Soll man dieses nun schon Liebe nennen? Wenn es auf das Richtige geht, ist es erst einmal schlicht klug. 20 So ist Poros, der Vater des Eros, ursprünglich keineswegs, wie oft übersetzt, der Reichtum, sondern die ursprüngliche Bedeutung lautet: Weg, Durch17 D. v. Hildebrand, Das Wesen der Liebe, Gesammelte Werke, Bd. III (1971), 31–63. Was freilich nicht für die göttliche Liebe gilt, ihre Wertschätzung ist nicht Antwort, sondern Herausruf. Sie geschieht aus Güte. Eine Wertschätzung allerdings, aus der ein wirklich eigener Wert im Geschaffenen resultiert, die mithin eine Wertschenkung ist, die von Gott nicht zurückgenommen wird – ja, der er nun selbst wertschätzend entspricht: cum magna reverentia, wie Pieper den Aquinaten zitiert (2000 [1953], 52/ ScG 3, 112). 18 So auch Pieper: »Liebe[n]swertfinden und Lieben sind zwei Dinge. Und der Schritt von einem zum anderen muss keineswegs getan werden« (1996 [1972], 344). 19 Denn die Abwesenheit von Eigeninteresse reicht nicht. Wenn wir im Blick auf den Wertgeschätzten keine bloßen Eigeninteressen verfolgen dürfen, heißt dies nicht, dass wir interesselos sein sollen, sondern erst recht interessiert – an seinem Wohlergehen. Mit Levinas gesagt: »Nicht-Indifferenz – Non-in-différence« (Levinas 1989/1972, 5/14, 99/97). Das soll heißen: Nicht das Gegeneinander derer, die Differenzen haben, aber auch nicht Indifferenz gegenüber Wohl und Wehe des Anderen, sondern die Aufhebung beider Haltungen ins entschiedene Interesse an seinem Wohlergehen. 20 George MacDonald: »weder gemein noch edel (…), sowenig Hunger gemein noch edel ist« (Lewis/MacDonald, 148). Lewis hat sein Abweichen von der Meinung seines Lehrers in diesem Punkt eigens erwähnt (vgl. Lewis 2002, 2).
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gang, Mittel, Findigkeit. Eros ist also nicht eigentlich Sohn der Armut und des Reichtums, sondern der Armut und der Findigkeit. 21 Wir sind arm und müssen herausfinden, wie wir das Loch, das wir sind, füllen können. Das ist klug – aber was daran ist sittlich preiswürdig, gar in der Lage, Wesentlichstes über Gott zu sagen? Menschliches Begehren wird nur dann nicht zur reißenden Gier nach den Gütern des Anderen bzw. diesem selbst, wenn es sich gerade als Begehren noch einmal dem Anderen gönnt. Aber kann Begehren überhaupt ein gegönntes Geschenk sein? Ja, denn zum einen ist die eingestandene Sehnsucht nach dem Anderen eines der größten Komplimente, das Menschen einander machen können (cantus firmus aller Liebespoesie). Zum anderen ist gerade die Bedürftigkeit ein Geschenk an den Anderen, denn sie bedeutet seine Befähigung zum Dasein-für, das die Spitze des Menschlichen ist. Erst so sind Brauchen und Begehren von sich als bloßer Not befreit und in die Grenzen eines Gutes für den Anderen gewiesen, 22 auf ihrem Boden schimmert der Goldgrund der Güte, die, indem sie – unausweichlich und doch, weil übernommen und bejaht, frei – den Anderen braucht, ihm wohlwill, weil er so zum Wohlwollen befähigt und ermächtigt wird. 23 Kurz: Wertschätzen und Brauchen sind nur im Verein mit dem Wohlwollen liebenswerte Liebe. Wertschätzen und Brauchen benötigen Wohlwollen, um liebevoll zu sein, nicht aber umgekehrt. 24 Dies Vgl. oben 36 f. Die Gier nicht bloß abweisend, weil der Missbrauch die Quelle zum Versiegen bringen könnte, sondern weil auch mein Den-Anderen-Brauchen ein Gut für ihn sein soll, und von dorther sein Maß und seine Grenze erhält. 23 Meister Eckhart entwickelt dies sogar als Gabegeschehen von Geschöpf zu Gott. Hier »empfängt der Gebende sein Geben, der Nehmende gibt sein Nehmen […]. Beide ›arm‹, beide ›reich‹, in nichts einander ›voraus‹. Eher ist sogar Gott der ›Arme‹, denn es gehört zur ›Armut‹ der göttlichen Kraft, dass sie sich eben ihr eigenes Gabesein geben lassen muss und es gegen die Freiheit des Menschen nicht von ihm erzwingen kann. […] Daher ist der Gebende nach Eckhart ohnmächtig ohne den Empfangenden, dem in dem gesamten Vorgang eine geheimnisvolle Macht der Entbindung des Reichtums Gottes eignet« (Gerl-Falkovitz 2013, 181 f.). 24 Wie sich nicht erst in Bezug auf Gott zeigt, der weder brauchen noch wertschätzen kann, was nicht ist, und deshalb vom reinen Wohlwollen angetrieben sein muss, wenn er schafft (wenngleich er ihm, dem Geschaffenen, in diesem Schaffen Wert verleiht – dem er [s. o.] cum magna reverentia begegnet, und zugleich in gewisser Weise ein freiwilliges Brauchen schenken mag), sondern schon interpersonal: Denn ein Fürden-Anderen gibt es auch dann und dort, wo der Wert des Anderen gänzlich verdunkelt ist und eben nichts Brauchbares mehr an ihm erscheint – sofern es einem nicht um den absoluten »Wert« des nackten Selbst geht, den aber zu erkennen und als 21 22
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Terminologie: Das Liebenswerte an der Liebe ist die Güte
erweist das Wohlwollen als das eigentlich Liebenswerte an der Liebe. Da aber, wie gesagt, auch bloßes Wertschätzen oder Brauchen Liebe genannt werden, und dies zu permanenten Missverständnissen führen kann, verwende ich für dieses eigentlich Liebenswerte in der Liebe nicht den Term Liebe. Dessen Hof ist für eine solche Präzision zu groß geworden, so groß, dass das Prinzip, dem der Hof zugehörig ist, außer Sicht geraten kann. Stattdessen verwende ich einen terminus technicus, der allerdings nicht wie bis hierhin »Wohlwollen« heißen soll, sondern – in Anlehnung an Levinas – Güte (»bonté«). 25 Warum? Es geht um die Schließung einer subtilen Lücke, die im Wohlwollen offensteht und dessen Liebenswürdigkeit in gefährlicher Zugluft stehen lässt. Wohlwollen bedeutet: Ich will jemandem wohl. Ich will, dass es ihm gut geht. Der finis operis ist damit klar benannt, unklar aber ist der finis operantis; was ich will, ist klar, unklar aber, weshalb. Die Motive dafür, dass ich ihm Gutes will, können unterschiedlicher Art sein. So kann sein Wohlergehen einzig wegen des damit einhergehenden Wohlergehens meinerseits gewollt sein. Anders bei der Güte: Ein gütiger Mensch will nicht bloß dem Anderen Gutes, sondern er will es ihm zuliebe. Deshalb kann die Güte sich nicht nur »an der Zufriedenheit anderer, sofern sie ihr Werk ist, ergötzen«, 26 sondern auch dann und dort, wo der Gütige gar nicht der Gebende ist: Zustimmung dazu, dass der Andere ein Gut hat oder von einem Dritten erhält, wegen des ihm um seinetwillen gewünschten Wohles, das ihm daraus wird. 27 Das dazugehörige Verb nenne ich »gönnen«: Wollen, dass der Andere das seinem Wohlergehen Förder-
solchen zu bejahen gerade Wohlwollen ist (als solches = als für-sich, das prinzipiell für-sich und nicht für-mich zu haben ist, es sei denn, es bestimmte sich in seinem Fürsich als Für-mich). Dies gilt so sehr, dass gerade solche Situationen zum Lackmustest für die Liebe werden, nicht weil sie dort besser wäre als im Verein mit entzücktem Wertschätzen und entbranntem Ersehnen, sondern weil ihr Vorliegen erst hier bewährt und bewiesen werden kann (nicht umsonst ist das Gleichnis vom Samariter ein zentrales Bild des hier Gemeinten und die Feindesliebe wohl die Spitze des Liebesgebotes). 25 Vgl. TuU, 56 f./17, 136 f./70; JS (Register). 26 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, 398. 27 Das nicht zu können oder wollen, ist laut Werther der Kern der Übellaunigkeit: »wir sehen glükliche Menschen[,] die wir nicht glüklich machen, und das ist unerträglich!« (Goethe, Die Leiden des jungen Werther, 291).
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liche hat bzw. erhält – um seinetwillen; Zustimmung zu seinem Wohl als seinem Wohl. 28 Damit entscheide ich mich zugleich gegen die Verwendung des Begriffs »Agape«. Zwar ist dies das Wort, mit dem das Christentum jene Liebe benannt hat, die das Wohl des Anderen um seinetwillen erstrebt und die es als die in Jesus Christus offenbar gewordene bedingungslose Liebe Gottes bekannte und zugleich zum Maß der Nächstenliebe machte. Aber sosehr es ideengeschichtlich stimmt, dass der Entdeckungszusammenhang dieser Liebe die biblische Offenbarungsgeschichte ist, 29 sosehr gilt es hier andererseits, Genese Leibniz hat die Liebe definiert als »delectatio in felicitate alterius« (z. B. AA VI/4, 1357 f., 2793, 2797, 2892) und darin die Lösung für den Streit um den amour pur zwischen Bossuet und Fenelon gesehen (vgl. dazu Spaemann 1990; darin zu Leibniz, 210–236). Die Definition trifft etwas Richtiges – nämlich das Zustimmen zum Wohlergehen des Anderen – und springt doch zu kurz. Denn erstens – subjektseitig – muss es Liebe auch ohne Freude geben können, anderenfalls sie ein Sklave der Emotion und nicht höchste Tugend wäre; zweitens reicht – objektseitig – die Freude am Glück des anderen nur dann hin, wenn es sich nicht an Falschem entzündet (vgl. Scheler 1973 [1926], Wesen und Formen der Sympathie, 17; Nozick 2006, 68). Beide Punkte auf sich beruhen gelassen (man könnte ihnen ja antworten, es ginge um echte delectatio, die auch ohne Gefühle gegeben sein kann; und um echte felicitas, die sich an nichts Falschem entzünden könne), reicht es aus einem noch gewichtigeren Grund für die liebenswerte Liebe, die Fenelon im Blick hatte, nicht hin, sich an der Freude des Geliebten zu erfreuen. Denn das kann viele selbstische Gründe haben. Die liebenswerte Liebe freut sich an seiner Freude um seinetwillen – also insofern es ihm selbst in ihr wohlergeht und weil es ihm selbst wohlergeht. – Ähnlich grenzt Frankfurt seinen Begriff der »disinterested love« vom bloßen »concern for the well-being or flourishing of something« ab. »An interest in seeing to it that some object is in good shape may not be disinterested at all. On the contrary, it may be grounded in an ulterior expectation that the object will otherwise be incapable of providing various goods or benefits to which the lover aspires. The concern I have in mind is not instrumental in this way. In characterizing it as disinterested, I mean that it is a concern in which the good of the beloved is desired for its own sake rather than for the sake of promoting any other interests« (1999, 165; vgl. 2004, 48). Was dort aus meiner Sicht fehlt, ist der Aspekt des Selbstverhältnisses des geliebten Objektes (Leibniz: Freude), auf welches das Gönnen zielt. Das ist wohl der Tatsache geschuldet, dass Frankfurts Liebesbegriff auch den Bezug auf nicht-personale Objekte umfassen soll (1999, ebd.; 2004, 41 f.). 29 »›Gott ist Liebe‹, knapper und präziser, als es im Ersten Johannesbrief gleich zweimal geschieht (1 Joh 4,8.16), kann man den christlichen Glauben nicht formulieren. Es ist der Spitzensatz Biblischer Theologie, alttestamentlich grundiert, neutestamentlich pointiert« (Söding 2008, 66). Vgl. auch Warnach 1951. Irving Singer, der vielleicht gelehrteste unter den Liebes-Forschern und selbst kein Christ, zieht die Summe: »Whatever Christians may have done to others or themselves, theirs is the only faith in which God and love are the same« (1984, Bd. I, 159). »Religious love is mainly a product of the Judaeo-Christian tradition. Although much of Buddhist and Hindu 28
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Terminologie: Das Liebenswerte an der Liebe ist die Güte
und Geltung auseinanderzuhalten. Denn erstens beinhaltet Agape eine religiöse Aufladung, 30 die in unserem Kontext nicht hilfreich wäre – es geht ja zunächst ganz schlicht um eine Form der Liebe, thought deals with noble sentiments not unrelated to love, Eastern religions have scarcely developed the concept as we know it. Only Christianity, with its roots in Judaism, defines itself as the religion of love. By this I do not mean to say that members of the Catholic or Protestant churches have been more loving than other people. The history of the Western world, which was largely enacted by believers in Christ, is hardly the story of love triumphant. But what distinguishes Christianity, what gives it a unique place in man’s intellectual life, is the fact that it alone has made love the dominant principle in all areas of dogma« (ebd.). – May stellt in seinem großen Buch über die Liebe die Bedingungslosigkeit der christlichen Liebe entschieden in Frage. Das Christentum gelte zwar als Religion der »unconditional love«, bei näherem Hinsehen aber zeige sich, dass dies vielleicht von Gottes Liebe gelten könnte (deren Bedingungslosigkeit allerdings einerseits keineswegs Universalität heiße – die nämlich werde durch die Gnadenwahl massiv gestört [110 f.] – und andererseits untergraben werde durch die Auflagen für das Erreichen eschatologisches Heiles [114 ff.]), aber sicher nicht von der christlich geforderten Liebe des Menschen. Der nämlich liebe Gott als seine ontologische Heimat, den Anderen aber unter Bedingungen, wie z. B. den Glaubensbruder mehr als die Heiden (112 ff.). Letzterer Vorwurf (248 f.) trifft ganz sicher in die Mitte des Schattens christlicher Mentalität (beschämend die Anwendung auf die verhaltene Reaktion von Christen auf die Shoa: »This is why many Catholics and Protestants had little difficulty despising Nazism – a pagan creed to which ethnic and cultural belonging were paramount – while remaining ambivalent, at best, about their obligations towards Jews and others who lay beyond the borders of their faith« [114].) Zugleich kann man May schon vorwerfen, dass es ihm in seinen originellen und immer auch von großer Achtung geprägten Analysen des Christentums bisweilen an hermeneutischem Wissen fehlt: So wäre zur Hölle zunächst einmal zu sagen, dass sie kein Gegenargument gegen die universelle Liebe ist, sondern deren Möglichkeitsbedingung – insofern sie nicht Liebe wäre, wenn sie den Anderen nicht zur Widerliebe freigäbe. Zu solcher Freiheit aber gehört die reale Möglichkeit, sich endgültig zu verschließen (deshalb, so C. S. Lewis, sind die Tore der Hölle von innen geschlossen – 2001 [1940], 130). »Die Seinen, die in der Welt waren« (122 – Joh 13,1), dürfte man heute wohl auch nicht mehr exklusiv verstehen, geht es doch um Gottes Mensch- nicht Christwerdung; und dass er die als Brüder, Schwestern etc. bezeichnet, die »Gottes Wort hören und befolgen«, ist auch kein Beweis einer Bedingung stellenden Liebe [ebd.], wohl aber einer Gemeinschaftlichkeit, deren Zustandekommen trotz der Bedingungslosigkeit auf Seiten Gottes unter der Bedingung des Zustimmens der Freiheit steht. Wenn May Gal 6,10 als Beweis dafür nehmen will, dass die Liebe nicht bedingungslos sei (111), dann ist die Beweisdecke äußerst porös, geht es doch darum, »allen« Gutes zu tun, »am meisten« aber den Glaubensgenossen. Dies scheint mir genau der ordo amoris zu sein, der nicht nur erlaubt, sondern aufträgt, das unmittelbare Umfeld in anderer Weise zu bedenken als das fernere (weswegen es für das Ordensleben auch kein Beweis einer nur unter Bedingungen geltenden Nächstenliebe ist, wenn der Bruder einen anderen Stellenwert hat als diejenigen extra muros [112]). 30 Für den »deutschen Begriff ›Liebe‹ hat das Neue Testament aus dem griechischen
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
von der behauptet wird, dass wir ihr tatsächlich (und nicht bloß in der Bibel oder »bei Gott«) als von uns und uns gegenüber (hoffentlich) verwirklichter und (sicher) gesollter begegnen. Zweitens wurde der Begriff Agape oftmals in einer radikalen Gegnerschaft zum Eros konturiert – und bringt so das zusätzliche Problem mit sich, dass das Fürden-Anderen durch ein Nicht-für-mich definiert ist. 31 Anstatt das Wortfeld von ἀγάπη usw., ἔρως usw., στοργή usw., συμπάθεια usw., φιλία usw., nach der Vorgabe von LXX [i. e. Septuaginta] (hb = ἀγαπ-) den griechischen Stamm ἀγαπ- ausgewählt, der, anders als die bekannteren Vokabeln ἔρως, φιλία, συμπάθεια, nur allgemein Zufriedenheit, Zuneigung, Verbundenheit ausdrückt. Einzig φιλία usw. im Sinne von ›freundschaftlicher Verbundenheit‹ spielt neben ἀγαπ- noch eine untergeordnete Rolle im Neuen Testament« (Wischmeyer 1994, 139). Gerade die Bedeutungsblässe des im Griechischen vorgefundenen Wortes erlaubte es, dieses gewissermaßen als terminus technicus für die in Christus offenbar gewordene Wesensart göttlicher Liebe zu verwenden (vgl. Lotz 1971, 21 f.). Insofern »trägt schon der Ausdruck ›Agape‹ einen spezifisch christlichen Charakter an sich und erweist sich als ein echtes Offenbarungswort« (Warnach 1951, 18; vgl. 85 ff.). 31 Höhepunkt dieser Bewegung stellt Anders Nygrens wirkmächtiges Werk Eros und Agape (1930) dar (siehe dazu auch die gute Zusammenfassung und Kritik bei White 2001, 127 ff.). Während es dem erotisch Liebenden um den Vorteil und Genuss geht, den er sich vom Erreichen des Geliebten erhofft, geschieht Agape »spontan und unmotiviert« (Nygren 1955 [1930], 45), indem sie sich auf Wesen richtet, die an sich auf keine Weise die Liebe rechtfertigen und nur in dieser Liebe Wert haben. Der Wert wird ihnen auf keine Weise inhärent: »Agape liebt und verleiht dadurch Wert. Der von Gott geliebte Mensch hat keinen Wert an sich; was ihm einen Wert gibt, ist gerade dies, dass Gott ihn liebt« (47). (Ausschlaggebend für diese Einschätzung ist wohl die Ausblendung des Schöpfungsgedankens um des reinen Umsonst der Erlösung willen, die nichts von Schöpfungs wegen Liebenswertes und deshalb Motivierendes im Menschen vorzufinden vermag [48 f.]). Weder trägt der Geliebte in sich einen Wert, der seine Gutheißung rechtfertigen würde, noch hat der Liebende irgendeinen Vorteil von ihm zu erwarten (dagegen Singer 1995, 139 ff.). Daraus ergibt sich dann zwingend, dass die Agape einzig und allein diejenige Liebe ist, mit der Gott den Menschen liebt. Erwidern kann der Mensch sie nicht, denn hier kommt ihm der Wert Gottes und das persönliche Heil als Motiv der Liebe in die Quere. »Seine Hingabe an Gott ist nur eine Antwort. Auch wenn sie am größten ist, ist sie doch nur ein Reflex seiner Liebe und durch sie motiviert. Sie ist also ein Gegensatz zu spontan und schöpferisch; es fehlen ihr alle wesentlichen Kennzeichen der Agape« (82). Wenn ihm aufgetragen ist, sie seinem Nächsten zu erweisen (wirklich diesem »in seiner konkreten Lage und in seiner konkreten Beschaffenheit […,] nicht ›Gott im Nächsten‹« [62]), dann gelingt dies nur da, wo er restlos zum Kanal der Liebe Gottes wird: »Im Agapeleben ist der Mensch nicht selbst das Subjekt. Gott, Gottes Geist, Christi Geist, Christi Agape sind das Subjekt« (84, mit Verweis auf Gal 2,20; vgl. 577 ff.). Wie sehr Nygrens Buch das Verständnis von Agape bestimmt hat, zeigt sich noch darin, dass Bennett Helm in seinem Beitrag zur Liebe in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (2013) Nygrens Rede von der spontanen und unmotivierten Liebe als Definition für Agape überhaupt anführt (und es damit auch schon auf sich beruhen lässt: »Given the focus
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Aufweis des Primates der Güte
Für-dich einfachhin als menschliche Möglichkeit aufzuzeigen, wird es mit einem Gegen-mich schattiert (»lieben heißt, sich selbst hassen« 32), das all die angesprochenen Verdächtigungen der spätthomistischen und/oder eudaimonistischen Fraktion hervorruft, welche dann ihrerseits aus solcher Frontstellung heraus das Für-dich als menschliche Möglichkeit überhaupt in Frage stellt. Jenseits solcher Frontverläufe soll es hier um die Möglichkeit einer Liebe gehen, die sich nicht erst als Gegen-sich verstehen und vollziehen muss, um wahrhaft für den Anderen zu sein. Einer für den Anderen – das gibt es, und das ist, wovon der Mensch lebt (als Einer wie als Anderer). Was das für das Selbstverhältnis mit sich bringt, muss natürlich bedacht werden, aber dies immer schon in die Definition aufnehmen wollen, bedeutet – selbst da, wo diese den Altruismus proklamiert – schon wieder ein Verfangen in der ewigen Selbstumkreisung. Das Für-Dich gewinnt nichts, wenn ihm ein Gegen-mich injiziert wird.
6.3 Aufweis des Primates der Güte Aber mit welchem Recht wird hier das Für-den-Anderen gefordert? Ist dies nicht, wo ich es als Für-mich vom Anderen einfordere, eine narzisstische Selbstüberhebung, die weit über die Kreditwürdigkeit meines tatsächlichen Wertes hinausgeht, und da, wo ich meine, sie mir selbst als Haltung gegenüber Anderen zu eigen machen zu sollen, eine heillose, ja, krankmachende, weil den »gesunden Egoismus« zerstörende, Überforderung? Wenn sie nicht überhaupt unmöglich ist, ist sie dann nicht zumindest eine überaus seltene Daseinsspitze, die sich nicht zur Regel machen lässt? Wenn die Güte hier als das höchste Gut behauptet wird, höher als Sein, Leben, Vernunft, die als integrale Aspekte zu ihr gehören, ohne doch je für sich oder miteinander diese Dimension erreichen zu können, so stellt sich die Frage: quo iure? Was gibt ihr den Primat über Sein, Leben und Vernunft? Wie soll man das beweisen, wenn es sich nicht zeigt? Die Antwort lautet: Leider kann man das nicht. Denn sie aus dem Sein abzuleiten hieße, sie auf dessen Niveau here on personal [!] love, Christian conceptions of God’s love for persons (and vice versa) will be omitted« [Kap. 1]). 32 Vgl. Nygren 1955 [1930], 559 ff.
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
herabzuziehen. So ließe sich sagen, sich mitteilende Fülle sei ein Mehr an Seinsfülle gegenüber einem simplen In-sich-bleiben. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht um eine Fülle, die so voll ist, dass sie überströmt, sondern um eine Motivation, die nicht aus der eigenen Fülle resultiert, sondern aus dem Interesse an der Existenz einer Wirklichkeit, die das Sein bloß als solches niemals in dieser Differenz stehen lassen kann: die des Anderen. Ähnliches ergibt sich bei der Ableitung der Güte als dienlicher Funktion des Lebens: Kooperation, Arterhaltung statt Selbsterhaltung, Dienlichkeit für das Leben. Das mag alles stimmen, aber nicht deshalb geschieht sie, sondern umgekehrt: wir leben, damit sie ist. Und schließlich die Ableitung aus der Vernunft: Nur am Anderen kommt sie zu sich. Auch das mag sein, aber nicht deswegen geschieht Güte, sondern allein ihretwegen. Genauer, wegen desjenigen, um den es ihr geht: den Anderen. Die Güte hat ihre Würde nicht von ihrer Vernünftigkeit her, sondern andersherum: die Vernunft hat ihre Würde darin, das Verstehen der Güte zu sein. Mit einem großen Wort von Levinas: Nicht Liebe zur Weisheit, sondern »Weisheit der Liebe«. 33 Die Güte aus einer anderen Wirklichkeitsdimension als der ihren abzuleiten (also aus Sein, Leben, Bewusstsein etc.), hieße, sie zu einer Struktur zu machen, in der eine andere Dimension ganz zu sich kommt. Das ist nicht falsch, aber es ist nicht ihr Sinn. Diesen kann man nicht ableiten, ohne ihn zu verlieren. Aber: man kann versuchen, ihn zu zeigen (was in den vier folgenden Unterkapiteln geschehen soll). Wenn sich diese Schau des Primates der Güte aber nicht ergibt, dann besteht ein eigentümliches Patt, denn derjenige, der Güte für keinen oder allenfalls einen relativen Wert hält, könnte ihre Werthaftigkeit ja nur in ihrer Dienlichkeit für einen anderen Zweck sehen, würde damit aber eben gerade nicht ihren Primat, ihre eigentümliche Hoheit erkennen, sondern in ihr nur ein Mittel sehen, das ihm verhilft, etwas anderes zu erlangen – mit dieser Absicht aber wäre es schon nicht mehr die Güte. Und umgekehrt wird der, der in der Güte die höchste Wirklichkeit sieht, nicht ausgerechnet diese nun einklammern, um – abseits von »Anthropomorphismen«, »Privatismen« oder »Mystizismen« – »reine« Philosophie zu betreiben. So stehen wir hier also an einer Wegscheide, an der sich zwei Wege fundamental 33
»[…] sagesse l’amour au service de l’amour« (JS, 353/207).
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Aufweis des Primates der Güte
trennen? Ja. Aber solche Wegscheiden gibt es an vielen Stellen in der Philosophie. Sie ist eigentlich nur eine Verschärfung der Situation, die in ethischen Diskussionen immer dort entsteht, wo der eine die Sittlichkeit für einen oder den Wert an sich hält, während der andere ihren Wert nur in der Dienlichkeit für außersittliche Werte sehen kann. Kommt man in einer Diskussion an diese Scheide, an der einfach stehen zu bleiben dem zu Bedenkenden nicht gerecht würde, kann man einander nur noch Lebewohl sagen, denn von dort an fehlen für das Gespräch zweier ausgeführter Philosophien die gemeinsamen Grundlagen. Man wird immer wieder zu diesem Scheideweg zurückkommen können und dort diskutieren, aber man wird die Systeme in ihrer dimensionalen Verschiedenheit nicht mehr miteinander vermitteln können. Dabei geht es nicht um einen irrationalen Sprung. An die Stelle der Deduktion tritt die Intuition: Das Erfasstsein von einer Wirklichkeit, deren Höhe nicht abgeleitet ist, sondern aus ihr selbst hervorgeht, und zwar dergestalt, dass die Frage nach dem Warum ihrer Höhe nicht mit Gründen, sondern nur mit einem weiteren Versuch des Zeigens beantwortet werden kann. Um einen nicht-theistischen Zeugen zu zitieren: »Wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blass und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. […] [Sie ist] mit jeder anderen Vollkommenheit inkommensurabel«. 34 Aber wie und wo zeigt sich die Güte in ihrem unübersteigbaren Rang? Sie begegnet: 1) in der Sinnerfahrung als realisierte, 2) ex negativo im Schmerz ihres Ausbleibens, 3) im Gewissen als gesollte, 4) im Begriff der Menschenwürde.
6.3.1
Sinnerfahrung in der Begegnung mit realisierter Güte
»Affluence in the industrial countries had led millions to believe that the good things in life can be attained through pleasures and activities that do not require the risk or personal involvement that love demands.« 35 Singers Analyse liegt nahe und hat ihr Recht, und doch ist es so, dass die Staubschicht, unter der das Wissen um die Güte als den A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Sämtliche Werke (A. Hübscher), Bd. III, 261 f. 35 Singer 1995, 14. 34
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letzten Sinn verborgen liegt, hauchdünn und, wenn man sich die Mühe macht, leicht wegzublasen ist. Was den Menschen leben lässt, ist, dass es Menschen um seinetwillen gut mit ihm meinen; und er erfährt darin nicht bloß etwas Angenehmes, sondern etwas, das er in Deckung erfährt mit dem ihm eigentlich immer schon zukommenden Status seiner Würde als einer Wirklichkeit, die ganz und gar bejaht zu werden hat, welchen Status – unbeschadet seiner unbedingten Gültigkeit – er nicht hätte erkennen können ohne diese konkrete Begegnung mit der Güte eines anderen Menschen. 36 Wenn der Mensch auf Güte stößt, dann kann ihn das Staunen machen, aber dieses Staunen ist kein Sich-wundern über Unpassendes, sondern umgekehrt über etwas so rein Passendes, dass es in einer Welt, in der so wenig zu passen scheint, auffällt. Alle Güter, die er sich selbst besorgen könnte, werden in eine höhere Dimension transformiert, wenn ihre Herkunft nicht das eigene Streben ist, sondern das ungeschuldete Geschenk. Es kann kein höherer Sinn auf einem Gegenstand liegen, ganz gleich, was er vermag, darstellt und kostet, als sein Status als gegönntes Geschenk. Aber es ist nicht bloß die sich uns selbst zukehrende Güte, die uns ihren Letztsinn erweist. Auch die Güte, deren Zeugen wir als unbeteiligte Dritte werden, zeigt sich in ihrer inkommensurablen Superiorität. Denn die Bewunderung, die wir für einen gütigen Menschen hegen, ist von anderer Qualität als die Bewunderung für Menschen, die irgendetwas besonders gut können. Natürlich werden die einen wie die anderen bewundert, aber mit einer Bewunderung anderer Art – und nur die erste trifft die Person als Person. Im Rahmen der zweiten lässt sich immer noch sagen: Ein guter Fußballer, aber kein guter Mensch. Im Rahmen der ersten gibt es diese Möglichkeit nicht: Ein gütiger Mensch – das ist ein guter Mensch. 37 – Selbst die immer Was »wir über das bare Existieren hinaus überdies noch brauchen, ist: von einem Menschen geliebt zu werden. Eine erstaunliche Sache, wenn man es näher bedenkt. […] Doch wird dies zunächst ›Erstaunliche‹ hundertfach bestätigt durch die hangreiflichste Empirie, durch Erfahrungen, die jedermann Tag für Tag macht« (Pieper 1996, 323; zu diesen Erfahrungen folgen ebd. sehr lesenswerte Ausführungen). 37 »Der Beweis, dass unsere wohlwollenden oder sanftmütigeren Gefühle schätzenswert sind und dass sie immer die Billigung und den guten Willen der Menschheit hervorrufen, darf vielleicht als ein überflüssiges Unternehmen angesehen werden. Die Attribute gesellig, gutmütig, menschlich, gütig, dankbar, freundlich, großzügig, wohltätig oder deren Entsprechungen sind in allen Sprachen bekannt, und sie drücken universell das höchste Verdienst aus, das die menschliche Natur zu erreichen fähig ist. […] Höchste Begabung, unbezwingbarer Mut, großer Erfolg können einem Helden 36
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Aufweis des Primates der Güte
noch anzutreffende Verehrung massenmordender Diktatoren von links wie rechts gelingt doch nur, weil sie mit der Vorstellung verbunden ist, dass es dem Tyrannen nicht um sich gegangen sei, sondern er in seinem »Dienst« ganz für die Seinen da war (die Rasse, die Arbeiterklasse, etc.). Eine Weise, die so oft verschüttete Ordnung der Werte 38 wieder zum Vorschein zu bringen, ist die bekannte Frage, was man auf seiner eigenen Beerdigung im Nachruf hören möchte. Was immer das sein mag, intuitiv zeigt sich, dass, was immer die Stärken, die dort gerühmt, und das Erreichte, das dort gefeiert wird, auch sein mögen, dies alles lauter Spreu wäre, wenn nicht zugleich – mindestens in einem Bereich – der Verstorbene als ein gütiger Mensch beschrieben wird, der für das Wohl anderer gesorgt hat – und dies nicht, weil er damit Geld verdienen oder sich andere Vorteile sichern konnte. Das Nichtvorliegen solch anderer handlungsleitender Gründe ist dabei entscheidend. Würden diese im nächsten Satz nachgereicht, wäre die für den objektiven Sinn 39 eines Lebens schlechterdings unverzichtbare Notration von Güte schon verdorben. Wenn sich nichts in dieser Art vom Verstorbenen sagen ließe, so wäre sein Leben letztlich als gescheitertes anzusehen – und so wird man kaum je einen gut gemeinten Nachruf lesen, in dem die Dimension des Sein-für nicht angesprochen würde. 40 oder einem Politiker vielleicht nur den Neid und die Feindschaft der Öffentlichkeit einbringen, aber sobald das Lob von Menschlichkeit und Wohltätigkeit hinzukommen, wenn Beispiele von Nachsichtigkeit, Milde oder Freundschaft aufgezeigt werden, dann wird der Neid still oder schließt sich dem allgemeinen Ausdruck von Billigung und Beifall an« (David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 2003 [1777], 11). 38 Welche Ordnung nicht ein langsames Ansteigen von immer Sinnvollerem ist, sondern ein Absolutismus, in dem es nur einen Herrscher, nämlich die Güte, gibt, und jeder Fürst allein von ihr her seine, und sonst eben keine Legitimität hat. 39 Denn um einen solchen objektiven Sinn geht es ja in dem, was am Ende eines Lebens die Zurückbleibenden darüber zu sagen wissen, durchaus. Dass jemand sich treu geblieben ist, seinen Weg gegangen ist etc., ist zwar ebenfalls ein gerne herangezogener Topos für die Würdigung Lebender und Verstorbener, aber sinnvollerweise doch nur dann, wenn diese Treue zu sich und zum eigenen Weg die Bindung an einen Sinn bedeutet, der auch objektiv – will sagen: von den Anderen – als solcher erkannt wird; sonst ist sie bestenfalls Drolligkeit, wo nicht Sturheit, Egozentrismus oder Wahn. 40 Ähnlich bei May: »If we hear at a funeral that the deceased was a great statesman or inventor or artist or writer but sense that he never loved or was loved we are filled with unease – convinced that something was fundamentally lacking in his life that can
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
6.3.2
Ex negativo: Die umfassende Katastrophe des Ausbleibens der Güte
Und nun ex negativo. Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist, nie geliebt worden zu sein. Alle personal-traumatischen Erlebnisse haben in der ein oder anderen Form damit zu tun, dass der Betroffene zum bloßen Mittel für das vermeintliche Wohlergehen eines Anderen degradiert wurde. 41 Von der Verhätschelung, in der sich Elternliebe allein an sich selbst sättigen will, über Förderung, deren vorrangiger Zweck Elternstolz ist, bis zum Missbrauch 42, in dem der Andere – oder, schlimmer noch, seine Qual – zum reinen Mittel des Lustgewinns wird, bis zur finalen Form der Verzweckung, in der der Andere schlicht im Weg steht und deshalb sein einziger Gebrauch in seiner totalen Vernachlässigung oder schlicht Auslöschung besteht. Es sind diese Fälle der Verletzung der Selbstzwecklichkeit anderer Personen, die in uns Grauen hervorrufen. In größter Essenz im Blick auf die Shoa. Der Schock, der uns angesichts der Bilder von zu Tode geschundenen Menschen erfüllt, kann nicht bloß darin begründet liegen, dass hier der Gesellschaftsvertrag gebrochen wurde, oder sich die Täter an ihrer eigenen Eudaimonia vergangen haben. Ja, noch nicht einmal die Tatsache, dass die goldene Regel verletzt wurde, reicht aus, um die Abgrundtiefe des Schreckens und der Trauer zu erklären, die die Dokumentation dieser Geschehnisse bis zum heutigen Tage in denen hervorruft, die sich darauf einlassen. Die Fallhöhe ist eine doppelte: Im Grauen offenbart sich nicht bloß, dass der Mensch dem Anderen nichts zufügen soll, das er selbst nicht angetan bekommen will. Dass er gegen diese Regel verstößt, wo er mordet und quält, wäre nur die halbe Fallhöhe. Nein, die Tiefe des Grauens ist doppelt: Er hätte nicht nur nicht der Mörder des Anderen sein dürfen, sondern sein Beschützer sein sollen. Seine Bestimmung ist be made good in no other way. If, by contrast, we hear that the dead man loved greatly but otherwise did little with his life we might be saddened by what was left undone, but we don’t feel that it casts a shadow over his whole life – for love gives it an overriding value that can never be lost or reassessed« (81 f.). 41 Erdrückende Beweise der Notwendigkeit des Geliebtseins für das Gedeihen von Leib und Seele liefert die Hospitalismus-/Deprivationsforschung und die Bindungstheorie (vgl. Hellbrügge & Brisch 2003 (Hg.); Spitz 1980; Langmeier/Matejcek 1977). 42 Ein Begriff, in dem sich wieder einmal zeigt, auf welche Abwege die Sprache kommen kann: Oder wäre Missbrauch wirklich der falsche Gebrauch von Personen?
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Aufweis des Primates der Güte
nicht Toleranz, sondern Güte. Ein Zahlenbeispiel mag helfen: Es handelt sich hier nicht um den Abstand einer negativen Zahl zum Nullpunkt, sondern um deren Abstand zu ihrem positiven Pendant (also nicht die Differenz zwischen –5 und 0, sondern zwischen –5 und 5). Einfache Fallhöhe: Statt Toleranz Hass. Doppelte Fallhöhe: Statt Güte Hass. Die Stärke des seelischen Aufpralls in der Konfrontation mit der Shoa oder ähnlichen Gräueln offenbart die Höhe unserer Bestimmung. Im Schock über den Mörder zeigt sich die eigentliche Bestimmung des Menschen: »Hüter seines Bruders« zu sein. Der Schock, wenn Eltern ihr Kind morden, ist nur graduell verschieden von dem angesichts jedes anderen Mordes, denn nie ist es nur die aufgehobene Toleranz dem Anderen gegenüber, sondern die Verantwortung für sein Wohlergehen um seinetwillen, die verletzt wird, und in dieser Hohlform zeigt sich die Hoheit der Güte. 43
6.3.3
Erscheinung der Güte im Sollen
Damit aber sind wir bei der dritten und unabweisbarsten Manifestation der Herrschaft der Güte. Wenn man auch bestreiten mag, ihr jemals in ihrer Verwirklichung begegnet oder von ihrem Fehlen berührt worden zu sein, so kann man nicht bestreiten, dass man ihr als gesollter begegnet. Genauer: man kann es, aber man darf es nicht, und dieses »Können, aber Nicht-dürfen« ist der Ort, wo sich erweist, dass die praktische Vernunft den Primat über alle rein theoretische Vernunft hat. In der Theorie meldet sich das Sein im Modus der Faktizität, die ihren Höhepunkt in der Unmöglichkeit hat, es sinnvoll zu bestreiten; aber dies ist alles um eine Dimension weniger als jenes Sich-zeigen des Sollens. Zwar ist das Sollen für die Negation anfälliger als alle faktische Evidenz, aber diese Schwäche ist seine Stärke. Was seine Geltung ausmacht, ist nicht die Unmöglichkeit, diese zu verneinen; sie kann verneint werden; ihre Autorität ist von der Art, dass sie nicht verneint werden darf. Die Güte manifestiert
So lässt sich zeigen, dass der vielleicht größte Durchbruch der Menschenrechte, die »Allgemeine Erklärung der Menschrechte« durch die Vereinten Nationen, mit der Erfahrung ihrer schlimmsten Missachtung in der Shoa und dem zweiten Weltkrieg in unmittelbarem Zusammenhang steht (vgl. Joas 2011, 109–118).
43
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sich im Modus des herrschaftlichen Anrufes an Freie – daher ihre Macht und ihre Verletzlichkeit. Sie meldet sich nun nicht bloß als Forderung, seinen Egoismus an dem des anderen zu begrenzen. Über solche Gerechtigkeitsvorstellungen, die aufgrund eines Nutzenkalküls die eigene expansive Freiheit dort enden lässt, wo die expansive Freiheit des anderen beginnt, gilt das harte Pascal-Wort: »Nach Kräften hat man sich der Begehrlichkeit bedient, um sie dem Allgemeinwohl dienstbar zu machen. Doch nur zum Schein, ein verfälschendes Bild der Liebe: denn im Grunde ist es nichts als Hass.« 44 Näher kommt dem Gesuchten die »Unparteilichkeit«, von der Bruno Schüller redet, 45 nach der ich die Zwecke der Anderen nicht weniger als die meinen zu berücksichtigen habe. Sie ist der Sinn der goldenen Regel, und es stünde besser um die Welt, wenn solche Unparteilichkeit allgegenwärtiges Prinzip menschlichen Handelns wäre. Es geht hier nicht mehr um das berechnende Kalkül, dass meine Interessen nicht ohne wechselseitige Rücksichtnahme zu erreichen sind, sondern wie Lenn E. Goodman in seinem beeindruckenden Buch über die Nächstenliebe aus rabbinisch-jüdischer Perspektive schreibt, »to focus our concerns and direct our actions toward the interest of our fellow human beings, not merely as useful allies or potential enemies to be won over but as moral counterparts, deserving a regard commensurate with all that we ask or aspire to. […] it urges us to see and act on the recognition that others too have goals, needs, hopes, fears that matter not just to them but objectively in the same way ours do«. 46 Aber solche Gerechtigkeit in der Gleichbehandlung meiner und der Anderen ist noch nicht das Letzte und Höchste, was Menschen für einander sein können und sollen. Es geht in diesem Letzten und Höchsten vielmehr paradoxerweise um Ungleichheit, um eine spezifische Ungerechtigkeit, jene Ungerechtigkeit, in der das Ich sich hintanstellt, nicht weil es gegen sich wäre, sondern weil es nur so dem Anderen Après-vous sagen kann. Die Güte meldet sich als Forderung eines Für-den-Anderen, in der das Ich über seine Rolle als Hüter der
»On s’est servi comme on a pu de la concupiscence pour la faire servir au bien public. Mais ce n’est que feindre et une fausse image de la charité, car au fond ce n’est que haine« (Pensées, [Brunschwicg], 451). 45 Schüller 1980, 88. 46 Goodman 2008, 14. 44
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Aufweis des Primates der Güte
Gleichheit, die in der Dimension der Gesellschaftlichkeit ihr volles Recht behält, hinweggehoben wird in eine entschiedene Parteilichkeit: Für-Dich. Wer damit das für eine gerechte Gesellschaft fundamentale Prinzip der Gleichheit in Gefahr sieht, warnt zu Recht. Gerechtigkeit basiert auf Gleichheit, und sie muss es in der Tat geben, aber nicht, weil es im letzten um Ausgleich von Interessen geht, sondern weil der ordo amoris eine Abflachung des Vollzuges der Güte fordert, die an ihrem Ende, das schnell erreicht ist, in die Ebene der Gleichheit mündet. 47 Die Berufung zu einem radikalen Für-den-Anderen zusammengenommen mit dem Faktor der Endlichkeit ergibt, dass nicht jeder dieser Andere sein kann. Es ist der Ernst der Güte, der sie als tätige Handlung (was nicht heißen darf: als Haltung) begrenzt auf die und den Nächsten. 48 Kurz: Das Gewissen offenbart unsere Verantwortung für den
Levinas: »Es ist äußerst wichtig zu erkennen, ob die Gesellschaft im üblichen Sinn das Ergebnis einer Beschränkung des Prinzips, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, darstellt oder ob sie im Gegensatz dazu aus der Beschränkung des Prinzips, dass der Mensch für den Menschen da ist, hervorgeht. – Il est extrêmement important de savoir si la société au sens courant du terme est le résultat d’une limitation du principe que l’homme est un loup pour l’homme, ou si au contraire elle résulte de la limitation du principe que l’homme est pour l’homme« (EU, 61 f./74 f.). 48 Vgl. Spaemann 1989, 141–156. »Das Wohlwollen in seiner Universalität muß sich für endliche Lebewesen in eine Struktur gliedern, die der Endlichkeit ihrer Perspektive ebenso wie der Endlichkeit der Gegenstände des Wohlwollens entspricht. Mit anderen Worten: Es gibt das, was Augustinus den ordo amoris genannt hat. Jeder hat im ordo amoris des Anderen einen eigenen Ort« (145). Zu den/dem Nächsten: Zentral sind es diejenigen, die eine besondere Nähe zum eigenen Herzen haben (Lebenspartner, Kinder, Freunde), sodann die, die de facto in meiner räumlichen oder durch andere Umstände entstandenen Nähe mehr oder weniger dauerhaft leben und schon nicht mehr gewählt sind (Familie, Nachbarschaft, Kollegen), und schließlich jeder Beliebige, dessen physische Nähe mich unmittelbar zur Hilfe verpflichten kann (dies die Pointe der Geschichte vom barmherzigen Samariter: »Der Samariter ist ein Fremder, der durch Zufall zu einem Menschen, der der Hilfe bedarf, in die Situation der Nähe gerät. Diese Situation setzt nicht etwa den ordo amoris außer Kraft, sondern sie ist ein Fall seiner Anwendung« [ders., 148]). Die Konzentration der Nächstenliebe auf den Nächsten und ihr Ansatz beim unmittelbaren Umfeld macht übrigens keineswegs zwingend »the life of charity easier, it may, in fact, make it harder by not allowing us to flee the more challenging demands of love for imagined neighbors elsewhere« (Wadell 2014, 385). Welcher Ferne darüber hinaus Adressat tätiger Güte werden kann, lässt sich nicht kasuistisch beantworten. Entscheidend hierfür sind die persönlichen Möglichkeiten und Not-Erfahrungen, verbunden mit der Gewissenserfahrung eines nicht verallgemeinerbaren, konkreten, je eigenen Sollens. 47
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Anderen. Mensch sein heißt, diesen Anruf ablehnen zu können, aber mit ihm leben zu müssen.
6.3.4
Güte und Würde
Wenn unsere westeuropäische Welt dem Göttlich-Absoluten auch keinen Raum mehr im Selbstverständnis der Gesellschaft einräumt, so kennt sie gleichwohl etwas von absoluter Geltung: die Würde des Menschen. Es gibt kein aktual Unendliches mehr, wohl aber ein Endliches, dem unendlicher, will sagen: inkommensurabler Wert beigemessen wird. Die Maxime unseres Zeitalters ist die »Sakralität der Person«. 49 Wenn Würde Selbstzwecklichkeit bedeutet, dann sind alle Haltungen unterhalb der Güte nicht hinreichend, dieser zu entsprechen. Denn es geht ja ausdrücklich nicht bloß um die goldene Regel, welche eben »nicht den Grund […] der Liebespflichten gegen andere [enthält,] (denn mancher würde es gerne eingehen, dass andere ihm nicht wohltun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen)«, 50 sondern darum, dass der Umgang mit einem Selbstzweck bedeutet, dass »dessen Zwecke […], so viel möglich, meine Zwecke sein« 51 sollen. Geht das zu weit? Ist das nicht eigentlich christliches Sondergut oder zumindest ein supererogatorisches Kann statt normatives Soll? Nein, die Pflicht zur Nächstenliebe ergibt sich mit Notwendigkeit aus der Menschenwürde, wenn sie nicht nebulös als irgendwie besonders hohe Wertigkeit, sondern streng als Selbstzwecklichkeit gefasst wird. Was nämlich als es selbst ein Zweck ist, ist als es selbst von jedem zu wollen. Deshalb greifen zwei Haltungen zu kurz: 1) Es geht nicht bloß darum, nicht zu behindern, sondern darum, zu befördern. Der Wille zum Sein des Anderen hat nicht bloß zu achten, was ist, sondern Sorge zu tragen für die Möglichkeit dieses Seins. Und weil Sein bei Personen Freisein heißt 52: Er hat der Ermöglichung seiner Freiheit zu dienen. 53 2) Es geht nicht bloß um pflichtgemäßes Handeln, sonJoas 2011, 82–107, in Anknüpfung an Durkheim 1986 [1898]. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe IV, 430. 51 Ebd. 52 So wie bei Lebewesen Sein Leben ist (vgl. Aristoteles, De anima, II, 4 [415b13]). 53 F. Ricken formuliert als »Grundsatz der inhaltlichen Selbstzwecklichkeit«: »Handle so, dass Du durch dein Handeln die (positive) Entscheidungs- und Handlungsfreiheit 49 50
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Selbstverleugnung?
dern um ein Handeln aus Pflicht. Ein Zweck wird als solcher nur dann anerkannt, wenn er nicht bloß dem äußeren Handeln nach berücksichtigt wird, sondern Aufnahme in den Willen des Handelnden findet – und zwar, denn das heißt eben ein Selbstzweck sein, um seiner selbst willen. Es fehlt hier der Raum, diesen Bezug von Güte und Würde tiefer zu behandeln, 54 aber es zeigt sich doch immerhin so viel, dass die Frage nach der Güte sozial- und staatsphilosophische Brisanz hat – auch wenn es in der Dimension der Güte nicht die gesellschaftliche Relevanz ist, die einen Gegenstand erst des Nachdenkens wert macht. Der Güte geht es um den Einzelnen in seiner Einzigkeit bzw. um die konkrete Interpersonalität. Das Gesellschaftliche und Politische ist demgegenüber nachrangig und hat einzig dem Schutz und der Ermöglichung konkreter, freier Interpersonalität zu dienen. Von daher gilt das asymmetrische Verhältnis, dass eine Reflexion über die Güte ihrem Gegenstand auch dann gerecht werden kann, wenn sie ganz auf die Einzelnen fokussiert ist und Staat und Gesellschaft kaum oder gar nicht thematisiert, während Reflexionen über Staat und Gesellschaft nur dann gutgehen können, wenn sie in keinem Moment den Einzelnen vergessen. Werte gibt es in vielen Systembezügen und Dimensionen und lassen sich miteinander verrechnen, Würde hat nur der Einzelne. 55
6.4 Selbstverleugnung? Der gängigste Vorwurf an eine solche Liebeskonzeption des Für-denAnderen-ihm-zuliebe lautet, dass in ihr das Selbst des Liebenden verleugnet werde. In der Tat, wir haben bis hierhin noch gar nichts darüber gesagt, was die Güte mit dem Gütigen macht. Aber müssen wir das jetzt schon? Gerät nicht die Realität der Güte, deren Existenz zu der von deinem Handeln Betroffenen nicht grundlos einschränkst und dass du sie in dem Ausmaß, als die anderen auf dich angewiesen sind und es dir möglich ist, förderst« (Ricken 2013, 235). 54 Zu (v. a. romantischer) Liebe und Würde: Velleman 2008. 55 »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, 434). Vgl. Helm 2013, 4.1.; Heereman 2018b.
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
leugnen präzise das Wesen der Undankbarkeit ausmacht, immer wieder deshalb sofort aus dem Blick der Philosophie, weil sie sich umgehend auf die Frage des besorgten Ich nach seinem Verbleib wirft und es mit allerlei Nutzen der Uneigennützigkeit tröstet? Es ist bis hierhin nur so viel gesagt: Wenn Menschen davon leben, dass es jemand um ihretwillen gut mit ihnen meint, dann muss es, wenn das Leben des Menschen nicht zur Absurdität verdammt sein soll, möglich sein, dass das Ich Zwecke verfolgt, mit denen es nicht primär sein eigenes Wohl im Blick hat. 56 Damit ist weder gesagt, dass es sich damit verleugnet, noch, dass es nicht auch Akte geben kann, in denen es sich direkt auf sich als Selbstzweck richten kann und soll. Entschieden damit gesagt ist jedoch, dass eine Ethik, die allein im Selbstverhältnis die Motivation für jedes Außenverhältnis finden zu können meint, immer schon daran gescheitert ist, die Güte zu denken. Eine solche Ethik sei im nächsten Abschnitt genauer untersucht.
6.5 Eudaimonismus? Der Eudaimonismus in seiner allgemeinsten Form besagt, dass in allem Handeln des Menschen das Glück oder Wohl des Handelnden das movens ist. Gleich welches der finis operis ist, der finis operantis ist das Wohl des Handelnden selbst. Was er erstrebt, erstrebt er um seinetwillen. 57 Wir werden zudem »finden, dass die Hypothese eines uneigennützigen, von der Selbstliebe verschiedenen Wohlwollens in Wirklichkeit einfacher ist und auch in größerem Einklang mit der Analogie der Natur steht als jene Hypothese, die vorgibt, alle Freundschaft und Humanität in das Prinzip der Selbstliebe aufzulösen. [141] […] Eine derartige Philosophie ähnelt mehr einer Satire als einer wahren Analyse und Beschreibung der menschlichen Natur. Sie mag eine gute Grundlage für paradoxen Witz und Spott sein, aber sie ist sehr schlecht für ernsthaftes Folgern und Denken« (David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 2003 [1777], 143). 57 »Dieses von Schöpfungs wegen in uns wirkende Verlangen nach Existenzerfüllung ist wirklich im Grunde ›Selbstliebe‹. Sie ist in der Tat nicht nur die früheste, alles Weitere fundierende und ermöglichende, sondern zugleich auch die uns von innen her vertrauteste Gestalt der Liebe« (Pieper 1996, 375 f.). Pieper selbst hat für seine Theorie nicht den Begriff des Eudaimonismus verwandt, den er an anderer (nicht überzubewertender, da solitärer) Stelle mit der »Angst ums Glück« definiert, der er »die christliche Hoffnung« entgegenstellt: die »Richtung des Menschen auf die seinshafte Vollendung, auf die Wesenserfüllung, also auf die letzte Verwirklichung, auf die Fülle des Seiens (der dann allerdings auch die Fülle des Glückes oder vielmehr der 56
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Eudaimonismus?
Da »Glück« a) zu beliebig und b) zu emotional klingen mag, hat man vorgeschlagen, anstatt von der Glückseligkeit als Strebeziel vom »gelungenen Leben« zu sprechen. 58 Gutes Handeln bestehe darin, gemäß der richtigen Vorstellung vom gelungenen Leben zu handeln. Wie auch immer man das Erstrebte nennen mag, es geht im Kern darum, dass das Ich nach einer wünschenswerten Verfassung seines Lebens strebt und dass eben die richtige Weise dieses Strebens Sittlichkeit bedeutet. Dabei empfiehlt die klassische eudaimonistische Argumentation natürlich nicht ein primär egoistisches Verhalten. Im Gegenteil, es lässt sich schnell zeigen, dass das gelungene Leben auch und gerade mit einer wertschätzenden, vielleicht sogar wohlwollenden oder gar ekstatischen Beziehung zum Anderen zu tun hat. 59 Darin aber behauptet der Eudaimonismus seine moralische Legitimation 60 zu besitzen: der vermeintliche Egozentrismus führt geradewegs zum ekstatischen Wohlwollen. 61 Wohlwollen macht glücklich – und deshalb ist es gut, sich Zwecke des Anderen zu eigen zu machen. Glückseligkeit entspricht)« (Pieper 2000 [1936], 114). Leider geht aus dem Kontext nicht hervor, wovon genau Pieper sich damit absetzen wollte. Wenn Eudaimonismus allerdings erst einmal nur sagt, dass der Mensch in allem, was er tut, nach seinem Wohl strebt, und das sittlich gute Handeln darin besteht, dazu die richtigen Mittel zu wählen, dann gilt dieser Begriff vollumfänglich auch für Pieper. 58 Spaemann 1989, 21; vgl. 28; ders. 1996, 217. 59 »Waren die ›uneigennützigsten Augenblicke‹, an die beim Worte ›Liebe‹ selbst der Klügste und der Gemeinste denkt, nicht zugleich auch die glücklichsten (weil es die uneigennützigsten waren)?« (Pieper 1996, 380). 60 Denn die Frage nach dem Anderen ist die moralische Frage par excellence, vor der sich jede Ethik zu verantworten sucht. 61 Wenn »das Lieben, die einfache ›Gut‹-heißung, selber etwas Geliebtes ist, dann muss ja gleichfalls wahr sein, dass unser Glücksverlangen gerade durch solche, den anderen meinende Bejahung, durch ›uneigennützige‹ Liebe also, zu stillen ist« (Pieper 1996, 381). »An genau diesem Punkt zeigt sich […] die Möglichkeit der Verknüpfung, eine Möglichkeit jedenfalls, sich deutlich zu machen, wie jener Schritt von der Selbstliebe zur ›selbstlosen‹ Liebe zu denken sein könnte« (ebd., 380). – Nicht unterschlagen sei, dass Pieper selbst am Ende seines großen Buches Über die Liebe bekennt, »die Verklammerung von Eros und caritas bestehe zwar durchaus, sie sei aber schwer zu beschreiben« (414), und letztlich davor zurücktritt, die Vollendung des Eros durch die Caritas zu fassen. Zwar räumt er ein, dass die Caritas »nicht einfach ein weiterer Schritt auf dem Weg des Eros« (413) sei, und hält für möglich, »dass der Eros, wofern er seinen ursprünglichen Impuls durchhalten und wirklich Liebe [Selbstliebe?] bleiben […] will, sich von Grund auf wandeln muss und dass diese Verwandlung vielleicht dem Hindurchschreiten durch eine Art Sterben gleicht«, will aber als »Lehrling [, der] keine konkrete Vorstellung davon haben kann, wie die Vervollkommnung zur
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Dazu aber ergeben sich zwei Fragen: 1) Was ist das Prinzip, aufgrund dessen es glücklich macht, gütig zu sein? Kann es wieder mein prinzipielles Streben nach Glück sein, oder muss hier nicht etwas hineinkommen, das quer dazu steht? Man sieht, dass wir hier mit dem Appetitus-Denken nicht weiterkommen. Denn aus der Tatsache, dass ich immer nach der Vervollkommnung meines Lebens strebe, folgt überhaupt nicht, dass es zu dieser Vervollkommnung gehört, nach der Vervollkommnung deines Lebens zu streben. Damit aber ist der Eudaimonismus eine unvollständige Theorie. Er kann dann zwar auch noch das Glück an der gelebten Güte in seine Theorie eingemeinden, indem gesagt wird, dass wir eben um dieses Glückes willen für den Anderen sind, aber die Existenz dieses Glückes folgt nicht aus seinen Prämissen, sondern nagt an deren Gültigkeit. Das »auf die Stillung des tiefsten [wohlgemerkt: eigenen 62] Durstes gerichtete Verlangen« kann nicht der »gar nicht zu überspringende Beginn aller Vollendung in der Liebe« 63 sein. Wenn Liebe eigentlich Bedürfnis ist, dann kann man zwar noch behaupten, wir liebten die Anderen, »[w]eil wir es lieben zu lieben«, 64 nur hat man dann mit einer Äquivokation die Konvenienzthese gerettet. Im ersten Fall nämlich bedeutet Liebe Bedürfen und im zweiten Fall Wohlwollen. Wir bedürfen es, wohlzuwollen. Wir bedürfen es also gerade, Meisterschaft von innen aussieht« (414), nicht weiter gehen. Das ist einerseits beeindruckende Bescheidenheit, andererseits lässt sich schon fragen, warum dann das ganze Buch über mit solcher Verve die Herkunft aller Liebe aus der Selbstliebe behauptet wurde (bei Wald 2012 fehlt dieser Hinweis dann auch vollständig). 62 Wir selber sind es, »die da, aus dem Herzen unseres Herzens (sozusagen), nach Glückseligkeit verlangen, nach unserer eigenen Glückseligkeit, natürlich« (Pieper 1996, 375. Hervorh. FH). 63 Pieper 1996, 365. Unabhängig von der hier im Zentrum stehenden Frage nach dem Primat der Selbstliebe, kann man begründete Zweifel daran haben, dass die Selbstliebe wirklich so selbstverständlich und ungebrochen in jeder Person gegeben ist, wie Pieper mit Thomas annimmt: »Gut, dass es dich gibt – sagen wir das, vor aller Reflexion, in bezug auf irgend jemanden sonst in der Welt mit so unbeirrter Herzhaftigkeit wie in bezug auf uns selbst, sogar dann, wenn wir uns, auf Grund kritischer Selbstprüfung, durchaus, nicht sonderlich liebenswert finden sollten? Die spontane Antwort auf diese Frage ist, scheint mir, so eindeutig, dass man sie gar nicht erst zu formulieren braucht« (Pieper 1996, 376; Thomas, vgl. oben S. 179 Anm. 179; ähnlich Frankfurt 1999, 168; ders. 2004, 82). Von der Schrift (Hiob 3) über Kierkegaard, Dostojewski, Bernanos bis zur Psychologie und der Alltagserfahrung, wonach Menschen mindestens so begabt zum Selbst- wie zum Fremdhass sind, weist alles daraufhin, dass eine solche Vorstellung von der Ungebrochenheit der Selbstliebe schlicht naiv ist. 64 Pieper 1996, 368.
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nicht zu bedürfen, sondern zu gönnen. Wie aber soll das Nicht-bedürfen im Bedürfen gründen? 2) Es ergibt sich ein zweites Problem. Solange die »bedürfende Liebe […], die auf die eigene Erfüllung zielt«, als »der Kern und Beginn« vor der Klammer »all unsere[s] Lieben[s] sonst« 65 steht, kann das Glück, das im gütigen Wohlwollen liegt, prinzipiell nicht erreicht werden. Denn so hehr der finis operis auch sein mag, er wird dementiert durch den finis operantis, der ja per definitionem des Eudaimonismus nur mein gutes Leben sein kann. Alles »Du« steht in Klammern hinter dem grundlegenden »meinetwegen« und ist so nie ohne einen egopetalen Doppelboden um seiner selbst willen gemeint. Damit ist aber die Erreichung des eigenen Glücks nur möglich, wenn man die Jagd nach ihm ganz aus den Augen verliert, ja, vergisst. D. h. das Programm eines die Güte nahelegenden Eudaimonismus – Selbstvergessenheit um der eigenen Glückseligkeit willen – ist erst dann umsetzbar, wenn niemand mehr Eudaimonist ist und zwar weder privat-persönlich noch theoretisch-philosophisch, führt doch die permanente akademische Erinnerung an das Wovonher unseres Willens zur Güte je und je zu seiner Verunmöglichung und damit auch zum Platzen jenes Glückes, das der Eudaimonist als Ziel allen Handelns ausgerufen hatte. 66
Pieper 1996, 364. In anderem Zusammenhang – nämlich in Bezug auf das Verhältnis von Arbeit und Muße macht Pieper selbst darauf aufmerksam, dass das primäre Anstreben der Nebenfolge einer Handlung, die diese Nebenfolge nur erzeugt, wenn sie um ihrer selbst willen vollzogen wird, natürlicherweise zum Ausbleiben derselben führen muss: »Sosehr es etwa richtig ist, dass, wer am Abend zu beten pflegt, besser einschläft, so kann doch niemand um des Einschlafens willen das Abendgebet sprechen wollen. Ebenso wird niemand, der etwa um der bloßen ›Erholung‹ willen sich der Muße hingeben wollte, ihre eigentliche Frucht, die wie in tiefem Schlaf gewonnene Erquickung erfahren« (Pieper 1999, 26). Wald versucht des Problems Herr zu werden, indem er statuiert, das desiderium naturale nach der »eigene[n] Vollkommenheit und Erfüllung« sei eine »vorbewusste Richtung« (Wald 2012, 106), und deshalb auch nicht in der Lage, die bewusste Ausrichtung auf einen anderen selbstisch werden zu lassen. Dazu die Rückfrage: Vorbewusst mag die behauptete Determination des Willens auf die eigene Erfüllung sein, insofern er diese Ausrichtung nicht wählt, sondern immer schon als »Impuls« vorfindet, aber gerade insofern ist sie ihm bewusst. Wenn nämlich diese Tendenz selbst unbewusst wäre, was könnte sie überhaupt zum Willen, der doch sicher eine bewusste Funktion ist, beitragen? – Wenn die Selbstliebe gar nicht auf den Willen durchschlägt, was hat sie dann überhaupt zu einer Theorie über personales – und d. h. bewusstes – Lieben beizutragen?
65 66
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»The appearance of conflict between pursuing one’s own interests and being selflessly devoted to the interests of another is dispelled once we appreciate that what serves the self-interest of the lover is nothing other than his selflessness.« 67 Da hat Frankfurt recht, aber damit gilt zugleich: Solange das Eigeninteresse erstwichtig sein soll, kann es prinzipiell seine Erfüllung nicht erreichen. Diese Problematik spiegelt sich noch in einem Satz wie: Der Liebende »cannot hope to fulfill his own interest in loving unless he puts aside his personal needs and ambitions and dedicates himself to the interests of another.« 68 Tut er das, dann kann er erst recht nicht mehr für sich hoffen, denn dann hofft er für den Anderen. Es stimmt, dass nur im selbstvergessenen Dasein-für das Eigeninteresse Erfüllung findet, dann aber kann es weder am Anfang noch am Ende stehen. Seine Erfüllung kann nur eine gerne angenommene Nebenfolge sein. Wie aber dieses Problem umgehen, solange es doch stimmt, dass einzig die Liebe das gelungene Leben ist – muss dann nicht das eigene Glück immer wieder motivational die Oberhand bekommen?
6.6 Der-Eine-für-den-Anderen Emmanuel Levinas hat den Knoten kühn durchschlagen. Um der Desavouierung der Güte durch den Egoismus zu entgehen, zerschneidet er jegliches Band von Güte und Wohlergehen. Worum es eigentlich und einzig geht, ist die Güte – und das nicht, weil der zur Güte verpflichtete Mensch selbst irgendetwas davon hätte. Aufbruch zum Anderen ohne Hoffnung auf Wiederkehr. »Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verlässt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.« 69
Frankfurt 2004, 61. Ebd. 69 »Au mythe d’Ulysse retournant à Ithaque, nous voudrions opposer l’histoire d’Abraham quittant à jamais sa patrie pour une terre encore inconnue et interdisant à son serviteur de ramener même son fils à ce point de départ« (SpA, 215 f./191 f.); vgl. SF, 19 f./25. 67 68
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Die Liebe zum Anderen ist kein Fund auf der Suche nach dem Glück, sondern steht gerade quer zu dessen Wollen – als Sollen. Das Antlitz gebietet und nimmt mich in die Verantwortung: »Die Nacktheit des Antlitzes ist Not, und in der Direktheit, die auf mich zielt, ist es schon inständiges Flehen. Aber dieses Flehen fordert. In ihm vereinigt sich die Demut mit der Erhabenheit. Und dadurch kündigt sich die ethische Dimension der Heimsuchung an.« 70 Eine Verantwortung, die ich nicht erst zu wählen hätte, sondern, die mir »an-archisch« begegnet als immer schon aufgetragene – ohne Anfang, an dem ich gefragt worden wäre, ob ich gefragt werden will. 71 Sie befasst sich nicht mit meinem Geschick, sondern mit dem des Anderen. Freilich kennt Levinas auch das Streben nach dem eigenen Wohl, er nennt es besoin. Es ist das egozentrierte Streben, in dem das Ich alles auf sein Interesse ausrichtet. 72 »Selbst in sublimierter Form, als Heilsbedürfnis, ist es noch Nostalgie, Heimweh.« 73 Auch der Wille zu Sein und Wohl des Anderen ist ein Streben, denn er will etwas erreichen und verwirklichen, das noch aussteht. Allerdings ist er von ganz anderer Natur als besoin. Levinas nennt ihn désir. Ein Wollen anderer Art. Es geht ihm nicht um Güter, sondern um die Güte, aber nicht aus besoin, weil damit dies und jenes Gut verbunden wäre, sondern eben aus désir, d. h. aus dem tätigen Gewilltsein zu Sein, Leben, Wohl und v. a. zu eigener Güte dessen, dem die Güte gilt. Die Güte enthält nichts, was besoin nutzen könnte. In Beziehung zu besoin ist die Güte ein Luxus, weil in den Kategorien des besoin nutzlos. 74 »La nudité du visage est dénuement et déjà supplication dans la droiture qui me vise. Mais cette supplication est une exigence. L’humilité s’unit en lui à la hauteur. Et par là s’annonce la dimension éthique de la visitation« (SpA, 222 f./195). »Das Antlitz ersucht mich und gebietet mir. – Le visage me demande et m’ordonne« (EU, 73/94). 71 Vgl. JS, 219–243/125–139. Ich bin immer schon »im Verzug – en retard« (GP, 111/ 120). 72 »Das Bedürfnis öffnet sich auf eine Welt, die für mich ist, es kehrt zu sich zurück. […] Das Bedürfnis ist die Rückkehr selbst, die Angst des Ich um sich, die ursprüngliche Form der Identifikation, die wir Egoismus genannt haben. Das Bedürfnis ist die Angleichung der Welt mit dem Ziel der Koinzidenz mit sich selbst oder des Glückes. – Le besoin s’ouvre sur un monde qui est pour moi – il retourne à soi. […] Le besoin est le retour même, l’anxiété du moi pour soi, forme originelle de l’identification que nous avons appelée égoïsme. Il est assimilation du monde en vue de la coïncidence avec soi-même ou bonheur« (SpA, 218/192). Vgl. zu Liebe, Heimkehr und Aufbruch May 2011, 244 ff. 73 »Même sublime, comme besoin du salut, il est encore nostalgie, mal du retour« (SpA, 218/192). 74 Vgl. SpA, 218 ff./192 ff.; TuU, 146/76. 70
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Weil aber das Ziel des désir immer der Andere und damit ein radikales Außen und der Weg dorthin Entäußerung ist, die immer dem bleibend Anderen in seiner Andersheit, und das heißt seinem Entzogensein, begegnet 75 – und damit ja nicht scheitert, sondern sich als Wille zum Anderen als ihm selbst erfüllt, ist ihre Sättigung die Zunahme des Hungers. 76 »Das wahre Begehren ist dasjenige, das durch das Begehrte nicht befriedigt, sondern vertieft wird. Es ist
Genauer: nicht-begegnend begegnet. Levinas’ bevorzugtes Bild für diese Beziehung mit der Andersheit des Anderen als solcher ist die Haut. Sie ist der Ort, an dem der Andere da ist und sich zurückzieht in das unerreichbare Sich-innesein seines Selbstseins. Sie lässt sich spüren, aber eben nicht als das Spüren, das sie ist. A kann B berühren, aber nicht spüren, dass B die Berührung spürt. Berührung und Entzug sind hier zwei Aspekte desselben. Ich erreiche an der Haut des Anderen seinen Anfang, der mein Ende ist, ohne dass ich diesen Anfang in sein Bei-sich-sein weiterverfolgen könnte. Sein Anfang ist mein Enden, und genau dieses Enden ist Beziehung. »In der Berührung genau sind Berührendes und Berührtes getrennt, als entfernte sich das Berührte, das immer schon Andere, als hätte es mit mir nichts gemeinsam. – Dans le contact même, le touchant et le touché se séparent, comme si le touché s’éloignant, toujours déjà autre, n’avait avec moi rien de commun« (JS, 193/109). »Die Haut unter der Liebkosung ist nicht der Schutz eines Organismus, bloße Oberfläche des Seienden. Sie ist der quasi transparente Abstand zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren […]. […] in der Liebkosung wird das, was da ist, gesucht, als sei es nicht da, als sei die Haut die Spur ihres eigenen Rückzugs; eine Sehnsucht, die, als sei es eine Abwesenheit, das weiter sucht, was doch, so sehr es nur kann, da ist. – La peau caressée n’est pas la protection d’un organisme, simple surface de l’étant; elle est l’écart entre le visible et l’invisible […]. […] dans la caresse, ce qui est là, est recherché comme s’il n’était pas là, comme si la peau était la trace de son propre retrait, langueur quérant encore, comme une absence, ce qui, cependant est, on ne peut plus, là« (ebd., 201 f./113 f.). 76 »Eine solche Exteriorität offenbart […] das Ungenügen des getrennten Seienden, aber ein Ungenügen ohne mögliche Befriedigung. Nicht nur de facto ohne Befriedigung, sondern außerhalb aller Perspektive auf Befriedigung oder Nichtbefriedigung. Also würde die Exteriorität, die den Bedürfnissen fremd gegenübersteht, ein Ungenügen offenbaren, das nicht von Hoffnung erfüllt wäre, sondern von diesem Ungenügen selbst; es würde einen Abstand zeigen, der kostbarer ist als die Berührung, einen Nicht-Besitz, kostbarer als das Besitzen, einen Hunger, der sich nicht von Brot, sondern von dem Hunger selbst ernährt. – Une telle extériorité révèle donc l’insuffisance de l’être séparé, mais une insuffisance sans satisfaction possible. Non pas seulement sans satisfaction de fait, mais hors de toute perspective de satisfaction ou d’insatisfaction. L’extériorité, étrangère aux besoins, révèlerait donc une insuffisance, pleine de cette insuffisance même et non pas d’espoirs, une distance plus précieuse que la taction, une non-possession plus précieuse que la possession, une faim qui se nourrit non pas de pain, mais de la faim même« (TuU, 260/154; vgl. 37/4, 83/34 f.; vgl. SpA, 218 f./192 f.). 75
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Der-Eine-für-den-Anderen
Güte.« 77 Alle Näherung ist Näherung an einen Entzug: »eine Beziehung, deren Positivität darin liegt, dass die Ferne wächst«. 78 Als radikal Anderer entzieht sich der Andere immer um eine Unendlichkeit – denn keine Verbreiterung des Selbst kann den Abgrund, der Selbst und Selbst trennt, überwinden. Statt Gleichheit und Gemeinschaft herrscht hier Hierarchie und Entzug. »Verantwortung ohne Sorge um Gegenseitigkeit […]. Beziehung ohne Wechselbeziehung oder Liebe zum Nächsten, die Liebe ohne Eros ist.« 79 Und die Näherung als Entfernung verstärkt sich noch einmal im Gottesverhältnis: Ihm kann man sich schon gar nicht im direkten Zugriff nähern. Nicht bloß, weil er a fortiori er selbst ist – »keiner sonst« (Dt 4,39) –, nicht bloß, weil er als Unendlicher mehr ist, als wir in seiner Idee je enthalten könnten, 80 und nicht bloß, weil er – für Levinas – vergangen sein muss, wenn und wo ein Anderer ist als er 81 (das kabbalistische Zimzum, nach dem Schöpfung Sich-zurückziehen bedeutet, wirkt hier fort), sondern zuletzt und vor allem, weil er nicht das höchste Gut ist, in dem besoin zur Ruhe käme, sondern die Güte, und die kann man nicht anders haben, als indem man sie selbst vollzieht. Er biegt die Bewegung, die auf ihn hin geht, ab auf den Anderen hin. »Die Ethik ist nicht die Folge der Gottesschau, sie ist diese Schau selbst. […] Gott kennen, heißt wissen, was zu tun ist.« 82 Zu Gott
»Le vrai Désir est celui que le Désiré ne comble pas, mais creuse. Il est bonté« (SpA, 202/175). 78 »[…] rapport dont la positivité vient de l’éloignement« (TuU, 37/4). Zur Verdeutlichung: Je näher ich einem anderen Selbst als einem solchen komme, desto mehr (an)erkenne ich seine Ferne, weil Selbstsein eben bedeutet: allein dieser ist dieser, keiner sonst, nicht vermischbar, nicht teilbar (In-dividuum). Deswegen bricht sich das Ich am Du, wie eine Welle an einem Felsen, gerade in dem Maße, wie es dasselbe erreicht. Es trifft an der Grenze des Anderen auf diesen, und damit an ein Land, das es prinzipiell nicht betreten kann, sosehr seine Berührung bis ans Herz des Anderen reichen kann – sie ist dort nur für den Anderen gegenwärtig, in keiner Weise für das Ich. 79 »Responsabilité sans souci de réciprocité […]. Relation sans corrélation ou amour du prochain qui est amour sans eros« (GiD, 20/13). 80 Hauptthema von Levinas’ erstem Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit (vgl. ebd., 59 ff./18 ff.) 81 »Der Befehl, der mich dem Anderen weiht, zeigt sich mir nicht, es sei denn durch die Spur seiner Zurückgezogenheit, als Gesicht des Nächsten. – L’ordre qui m’ordonne à autrui ne se montre pas à moi, sinon par la trace de son anachorèse, comme visage du prochain« (JS, 308/179). 82 »L’éthique n’est pas le corollaire de la vision de Dieu, elle est cette vision même. […] Connaître Dieu c’est savoir ce qu’il faut faire« (SF, 29/37). 77
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kommt man nur im Abschied von sich und ihm: À-dieu = Adieu. 83 »Die Güte des Guten […] biegt die von ihr gerufene Bewegung ab, um sie vom Guten wegzudrängen und auf den Andern und so einzig auf das Gute hin auszurichten.« 84 Beziehung nicht durch Verschmelzung, sondern durch Entsprechung zu Ihm im Von-Ihm-weg. Dort aber, wo Er den Menschen hinsendet, ist nicht mehr Er, sondern eben Sein wie mein Anderer als er selbst, der, weil unauflöslich er selbst, eben nicht Gottes Maske sein kann, sondern Siegel Seiner Abwesenheit: Spur. 85 Weil er ein Selbst ist und nicht Maske Gottes, hat Gott den Platz geräumt; und weil Gott ihn zugleich meiner Obhut anvertraut hat, steht er nicht mehr in Seiner unmittelbaren Obhut – das ist der Ernst meiner Verantwortung: ich oder keiner. 86
6.7 Liebe Deinen Nächsten – Das bist Du Dieser Weg zum Anderen ohne Wiederkehr aber ist deshalb keine Entfremdung, weil der Mensch gerade so seinem Wesen entspricht – »als Verantwortlicher bin ich auf meine letztgültige Wirklichkeit zurückgebracht«. 87 Im Konzentrat findet sich der Gedanke in Levinas’ »Hingebung, die in ihrem Des-inter-esse gerade nicht ein Ziel verfehlt, sondern die – durch einen Gott, ›der den Fremden liebt‹ eher, als dass er sich zeigt – umgewendet wird hin zum anderen Menschen, für den ich verantwortlich zu sein habe. […] Fürden-anderen-Menschen und dadurch Zu-Gott! – Dévotion qui, dans son dés-interessement ne précisément aucun but, mais est détournée – par un Dieu ›qui aime l’étranger‹ plutôt qu’il ne se montre – vers l’autre homme dont j’ai à répondre. […] Pour-l’autre homme et par là à-Dieu!« (GiD, 20 f./12 f.). 84 »La bonté du Bien […] incline le mouvement qu’elle appelle pour l’écarter du Bien et l’orienter vers autrui et ainsi seulement vers le Bien« (GP, 106/116). Vgl. SpA, 258 ff./216 f. 85 SpA, 227 ff./197 ff. 86 »Das Rätsel des Unendlichen, dessen Sagen in mir, als Verantwortung, bei der niemand mir beisteht, zur Bestreitung des Unendlichen wird, aber zur Bestreitung, durch die alles nun mir obliegt, durch die daher mein Eintritt in die Pläne des Unendlichen erfolgt […]. – L’Enigme de l’Infini dont le Dire en moi, responsabilité où personne ne m’assiste, se fait contestation de l’Infini, mais contestation par laquelle tout m’incombe à moi, par laquelle, par conséquent se produit mon entrée dans les desseins de l’Infini« (JS, 337/196; vgl. SF, 32/40). 87 »[…] comme responsable je me trouve ramené à ma réalité dernière« (TuU, 259/ 153). »Die Verantwortung, die dem Ich seinen Imperialismus und seinen Egoismus austreibt – sei es auch Heilsegoismus – verwandelt es nicht in ein Moment der universalen Ordnung. Sie bestätigt es in seiner Selbstheit, in seiner Funktion als Träger des Universums. – La responsabilité qui vide le moi de son impérialisme et de son 83
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Liebe Deinen Nächsten – Das bist Du
unorthodoxer Übersetzung des Nächstenliebegebotes der Thora (Lev 19,18): »Liebe deinen Nächsten; dies alles bist du selbst; dieses Werk bist du selbst; diese Liebe bist du selbst.« 88 Du bist das Lieben. 89 Damit aber ist etwas Neues gewonnen. Denn es lässt sich nun nicht mehr sagen: Man liebt um eines gelungenen Lebens willen. Es gilt vielmehr hier, was Kant von der Pflicht sagt: Sie »ist etwas ganz anderes als das Leben, womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr, mit aller seiner Annehmlichkeit, gar keinen Wert hat.« 90 Vielleicht kann man sagen, eine Person, die nicht liebt, hat ein misslungenes Leben. Aber Liebe ist nicht eigentlich gelungenes Leben, sondern eben sie selbst, und Leben ist nur die Schwundstufe, die bleibt, wo eine Person nicht liebt. 91 Genauer: Liebe ist genau so geégoïsme – fût-il égoïsme du salut – ne le transforme pas en moment de l’ordre universel. Elle le confirme dans son ipséité, dans sa fonction de support de l’univers« (SpA, 224 f./196 f.). »[…] Unterbrechung der unumkehrbaren Identität, die dem sein zugehört, Unterbrechung dieser Identität in der Übernahme der Verantwortung, die mir aufgebürdet wird, unausweichlich, und in der die Einzigkeit des Ich erst einen Sinn annimmt; in der nicht mehr von dem Ich die Rede ist, sondern von mir. Das Subjekt, das nicht mehr ein Ich ist – sondern das ich bin –, ist nicht generalisierbar, ist nicht ein Subjekt im allgemeinen; was so viel heißt wie: überzugehen vom Ich zu mir, der ich ich bin und nicht ein Anderer. – […] interruption de l’identité irreversible de l’essence, dans la prise en charge qui m’incombe sans dérobade possible et où l’unicité du moi prend seulement un sens: où il n’est plus question du Moi, mais de moi. Le sujet qui n’est plus un moi – mais que je suis moi – n’est pas susceptible de généralisation, n’est pas un sujet en général, ce qui reviant [sic] à passer du Moi à moi qui suis moi et pas un autre« (JS, 47–48/16–17). 88 »Aime ton prochain; tout cela c’est toi-même; cette œuvre est toi-même« (GiD, 116/145). »Das Ich wird sich nicht nur der Notwendigkeit zu antworten bewusst, so als handele es sich um eine Schuldigkeit oder eine Verpflichtung, über die es zu entscheiden hätte. In seiner Stellung selbst ist es durch und durch Verantwortlichkeit oder Diakonie – Le Moi ne prend pas seulement conscience de cette nécessité de répondre, comme s’il s’agissait d’une obligation ou d’un devoir dont il aurait à décider. Il est dans sa position même de part en part responsabilité ou diaconie« (SpA, 224/196). 89 Vgl. May: »Loving involves a relationship of one’s own self to another’s in which every power of attention and affirmation comes into play. How could such an orientation possibly involve crushing the self? To submit to the laws of the other, whether it be God or another person; to favour and praise their unique existence; to desire them in the language that we have seen in the Song of Songs: this is the highest exercise of the will when purified of whatever destroys our capacity to attend to another being – and above all, of the obstructions created by pride« (May 2011, 26). 90 KpV, Akademie-Ausgabe, Bd. V, 157. 91 Letzte Haltestelle vor dem Nichts. Aus der Dimension der Güte betrachtet: weniger noch als Materie; denn während die bloß ist, was sie ist, kämpft das Leben um sich – und wäre damit mehr als das Unbelebte dem »conatus essendi suum esse persevare«
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
lungenes Leben, wie die Pieta ein komplexer Körper oder ein Gemälde eine farbige Fläche ist. Sie ist genau so Leben, wie in der erotischen Liebe der andere Mensch ein Körper ist. Er muss es sein, sonst könnte man ihn nicht auf diese Weise lieben, aber wer behauptet, es ginge um einen Körper, sagt etwas Richtiges, das dennoch falsch ist. Ähnlich hier: Von der Güte als gelungenes Leben zu sprechen, heißt schon einen Aspekt aus ihr isoliert zu haben, mit welchem sie zu identifizieren radikal ihr Wesen verdreht. Pascal spricht von unterschiedlichen Ordnungen, deren niedere nie durch Steigerung ihrer selbst in die höhere gelangen kann. »Aus allen Körpern zusammen könnte man nicht einen winzigen Gedanken gewinnen. Das ist unmöglich und steht in einer andern Ordnung. Aus allen Leibern und Geistern ließe sich keine Bewegung wahrer Liebe erzeugen, das ist unmöglich und gehört einer andern Ordnung an, der übernatürlichen.« 92 Vielleicht hilft es, von Dimensionen zu reden: So wie es aus der Geraden keinen Weg in die Fläche gibt und von der Fläche keine in den Raum, so eben auch nicht vom Sein zum Erkennen und vom Erkennen zur Liebe. Umgekehrt aber wird das Niedere aus dem Höheren erkennbar als Abstraktion aus diesem. Bezogen auf das Verhältnis von Liebe und Leben: Leben ist eine Abstraktion aus der Liebe. Es handelt sich um jene bei-sich-seiende Selbstbewegung, die ein integraler Bestandteil der Liebe ist: denn die Liebe liebt selbst. Aber es hieße auf dieser – an sich sinnarmen – Dimension stehen bleiben, wenn man die Liebe für notwendig hielte, damit jene intakt sei. Wir lieben nicht, um zu leben, wir leben, um zu lieben. Und deshalb geht es nicht um gelungenes Leben, sondern um vollzogenes Lieben, ja, noch nicht einmal darum, sondern um den, den die Liebe liebt. 93 Fragt man aber, wie in diesem Absatz geschehen, (Spinoza, Eth. III, prop. 6–9 [Spinoza Opera, Bd. II, 146 ff.], vgl. Levinas, JS, 26 f./4 f. und Index), dem Sein als Selbstbehauptung verfallen. 92 »De tous les corps ensemble on ne saurait en faire réussir une petite pensée; cela est impossible et d’un autre ordre. De tous les corps et esprits on n’en saurait tirer un mouvement de vraie charité; cela est impossible, et d’un autre ordre surnaturel« (Pascal, Pensées, [Brunschwicg], 793). 93 Frankfurt hat diese Mittel-Zweck-Beziehung zwischen Lieben und Geliebtem sehr schön herausgearbeitet. Es geht dem Liebenden wirklich um den Geliebten und nicht um das Lieben, und genau deshalb und dann kann es ihm um das Lieben gehen: Lieben (ebenso wie Arbeiten) ist »inherently valuable not simply in addition to being instrumentally valuable but precisely because of their instrumental value« (1999, 178). »Thus, paradoxical as it may seem, final ends necessarily possess instrumental value just by virtue of their terminal value as ends, and means are inherently impor-
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Über Levinas hinaus: Güte jenseits meiner
nach dem Verbleib des Liebenden, welche Frage für den gütig Liebenden zwar sekundär ist, aber dennoch – denn auch er ist ein Jemand – ihr Recht hat, dann lautet die Antwort: Auch wenn und gerade weil es ihm nicht vornehmlich darum geht, kommt der Liebende in sein Eigenstes: Seine Liebe – das ist er.
6.8 Über Levinas hinaus: Güte jenseits meiner Aber muss man für die Möglichkeit echter Güte den Preis zahlen, den Levinas entrichtet? Schauen wir ihn genauer an.
6.8.1
Güte des anderen Menschen
Die einzige Form der Güte, die bei Levinas in den Blick fällt, ist die Güte des Ichs. Es trägt die Verantwortung für den Anderen, und verbietet sich konsequent den Gedanken, dass der Andere seinerseits Verantwortung für das Ich trägt, bzw. es erlaubt sich den Gedanken an die Verantwortung des Anderen nur in der Form, dass es selbst noch einmal für seine Verantwortlichkeit verantwortlich ist. 94 Aber tant to us as final ends just by virtue of the instrumental value that they possess as means« (ebd., 222; vgl. 2004, 51–62). 94 Vgl. GP, 114 ff/122 ff. »Verantwortlichkeit für den Anderen – für sein Elend und seine Freiheit – Responsabilité pour autrui – pour sa misère et sa liberté« (ebd., 116/ 123). Nur wenn und nur weil mindestens ein Dritter hinzukommt, muss es, das weiß Levinas, einen Ausgleich geben: »Der Dritte ist anders als der Nächste, aber auch ein anderer Nächster und doch auch ein Nächster des Anderen und nicht bloß ihm ähnlich. […] Von selbst findet nun die Verantwortung eine Grenze, entsteht die Frage: ›Was habe ich gerechterweise zu tun?‹ […] Es braucht die Gerechtigkeit, das heißt den Vergleich, die Koexistenz, die Gleichzeitigkeit, das Versammeln, die Ordnung, das Thematisieren, die Sichtbarkeit der Gesichter und von daher die Intentionalität und den Intellekt. – Le tiers est autre que le prochain, mais aussi un autre prochain, mais aussi un prochain de l’Autre et non pas simplement son semblable. […] C’est, de soi, limite de la responsabilité naissance de la question: Qu’ai-je à faire avec justice? […] Il faut la justice c’est-à-dire la comparaison, la coexistence, la contemporanéité, le rassemblement, l’ordre, la thématisation, la visibilité des visages et, par là, l’intentionalité et l’intellect« (JS, 343/200)«. Damit werde auch ich zu einem »Anderen[n] wie die Anderen – autre comme les autres« (JS, 345/201; vgl. 350/205). Die Gefahr besteht darin, diese zweite Ebene für die Erste zu halten. »In dieser Vergessenheit ist das Bewusstsein bloßer Egoismus. – Dans cet oubli, la conscience est pur égoïsme« (ebd., 285/165; vgl. EU, 67 f./83 f.). »Die Gegenseitigkeit ist eine Struktur, die auf einer ursprünglichen Ungleichheit beruht. Damit die Gleichheit in die Welt Einzug halten
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
selbst wenn meine Verantwortung für den Anderen mir nicht erlauben würde oder mir zumindest nicht die Zeit ließe, »mich um die Verantwortung des Anderen für mich zu kümmern«, 95 so hat sie mich sehr wohl zu kümmern, insofern andere dieser Verantwortung mir gegenüber bereits entsprochen haben oder gerade entsprechen. Was – in welch erschütternd geringem Maße auch immer – mit größter Wahrscheinlichkeit 96 der Fall ist, weil ich sonst kaum überlebt, geschweige denn eine Ahnung vom Glanz der Güte hätte, die wir nicht schmerzlich vermissen könnten, wenn wir sie nicht – woher immer – kennen würden. Begegnende Güte nämlich ist nicht bloß eine Annehmlichkeit, die man in überschießendem Pflichtgefühl übersehen darf, ihr entspricht eine nicht minder ernste Pflicht: Anerkennung, Annahme und Dankbarkeit. Und es gehört gerade zur Achtung des Anderen, diese seine in seiner Güte begründete Größe in mindestens so hohen Ehren zu halten wie seine Bedürftigkeit und Wehrlosigkeit. 97 kann, müssen die Menschen imstande sein, mehr von sich selbst zu fordern als vom anderen, spüren, dass sie eine Verantwortung tragen, von der das Schicksal der Menschheit abhängt, und sich in diesem Sinn von der Menschheit absetzen – La réciprocité est une structure fondée sur une inégalité originelle. Pour que l’égalité puisse faire son entrée dans le monde, il faut que les êtres puissent exiger de soi plus qu’ils n’exigent d’autrui, qu’ils se sentent des responsabilités dont dépend le sort de l’humanité et qu’ils se posent, dans ce sens, à part de l’humanité« (SF, 35/43). 95 »[…] m’occuper de la responsabilité d’autrui à mon égard« (GiD, 20/13). »[…] das ist seine Sache – c’est son affaire« (EU 74/95). 96 Es ist hier ein Punkt, an dem man nicht pauschal behaupten kann, jedem Menschen wäre schon einmal die gütige Tat eines anderen Menschen begegnet. Es mag Menschen geben, die rechtens behaupten, so etwas noch nie erlebt zu haben. Darüber hat der Einzelne nichts zu entscheiden, aber er sollte sich sehr genau überlegen, ob er dies allen Ernstes von sich sagen kann. Auf jeden Fall kann man sich nicht mit dem Hinweis auf andere Übergangene aus der eigenen Dankespflicht stehlen. 97 So dass die Rechnung einfach nicht aufgeht, wenn die »radikale Großmut des Selben – générosité radicale du Même« nur möglich ist durch die »Undankbarkeit des Anderen – ingratitude de l’Autre« (SpA, 216/191). »Die Dankbarkeit wäre gerade die Rückkehr der Bewegung zu ihrem Ursprung – La gratitude serait précisément le retour du mouvement à son origine« (ebd.)? Keineswegs, denn sie ist – erstens – Bewegung des Anderen zu mir (Ankunft deiner bei mir statt Rückkehr meiner zu mir), und – zweitens – ist solche Annahme des Anderen in seiner Dankbarkeit nicht bloß erlaubt, sondern Pflicht. Güte, die die Unsittlichkeit des Anderen voraussetzt, kann nicht ursprünglich sein. Dazu Bernanos: »Wie es keine Schlacht ohne Tote gibt, so kein Martyrium ohne Menschenmord, und eine arme Tochter des Karmel sollte wissen, dass, wenn es nicht unbedingt sein muss […], der Ruhm armer Dienerinnen, wie wir es sind, viel zu hoch bezahlt ist, wenn er das ewige Heil ihrer Henker kostet …« (Bernanos 1951, 92; vgl. 122).
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Über Levinas hinaus: Güte jenseits meiner
Dann aber muss ich auch anders von mir denken. Denn, wenn ich den Anderen in seiner Güte mir gegenüber achte, dann heißt das doch: seine Zwecke zu den meinen machen, was wiederum heißt: mich als seinen Zweck annehmen – welchem Zwecksein ich gerade nicht genüge, wenn ich meine, mir meinen Platz an der Sonne verdienen zu müssen, anstatt ihn mir gegönnt sein zu lassen. Ich ist immer jemand, der, noch bevor er Verantwortung trägt, beschenkt ist – an-archischer als meine Verpflichtung zur Güte ist die Güte, die mich meint. Und würde dieser Empfang nicht genau jene Diastole sein, die nicht bloß deshalb sein muss, weil ich sonst nicht Systole sein kann, 98 sondern weil die Güte kein Einmannstück sein will, vielmehr ihr volles Wesen erst im Miteinander Gütiger erreicht und alles Gewappnetsein für ein Nicht-Erwidern der Güte doch niemals verdecken darf, dass die Güte auch im Anderen Güte erhofft? Dann schmeckt das Brot nicht nur, damit das Weggeben mein »Für-sich unterbrechend« schmerzt, 99 sondern damit es mir schmeckt, wenn es mir geschenkt wird; auf welcher Linie alles, was besoin gerne hätte, seinen Sinn nicht darin findet, der Selbsterhaltung und -erfüllung zu dienen, und doch auch nicht bloß das für die wahre Entäußerung des Ich notwendige Material seines aufzubrechenden glückseligen Beisichseins ist, sondern Material des Füreinanders – potentielle Gabe (und im Rahmen des Schöpfungsdenkens immer schon aktuale Gabe, die zu nehmen immer ein Empfangen bedeutet).
Vgl. JS, 241/138. JS, 134/72. »Das Für-den-Anderen der Sensibilität zählt erst, wenn man so sagen kann, vom Genießen und vom Auskosten her. – Le pour-l’autre de la sensibilité joue à partir du jouir et du savourer, si on peut s’exprimer ainsi« (ebd.). »[…] das Geben hat nur Sinn als ein Sich-selbst-Entrissenwerden-wider-Willen und nicht lediglich ohne mich; und das Sich-selbst-Entrissenwerden-wider-Willen hat nur Sinn als ein demSich-in-sich-selbst-Gefallen-des-Genießens-Entrissenwerden; sich das Brot abringen, das man gerade verzehrt. Erst ein essendes Subjekt kann Für-den-Anderen sein […]. Die Passivität der Verletzung – das ›Bluten‹ für den Anderen – ist das Abringen des Bissens Brot vom Munde dessen, der es gerade genüsslich verzehrt. […] le donner n’a de sens que comme un arracher à soi malgré soi et non seulement sans moi; mais s’arracher à soi malgré soi n’a de sens que comme s’arracher à la complaisance en soi de la jouissance; arracher le pain à sa bouche. Seul un sujet qui mange peut être pourl’autre […]. La passivité de la blessure – l’›hémorragie‹ du pour-l’autre – est l’arrachement de la bouchée de pain à la bouche qui savoure en pleine jouissance« (ebd., 168/ 93; vgl. 149/81, 175/97).
98 99
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
6.8.2
Güte Gottes
Und nun weiter in unserer Diskussion des Preises, den Levinas für den Primat der Güte meint entrichten zu sollen: Gibt es Gott nur im Modus der Abwesenheit, 100 als Jener, 101 als immer schon »passiert«/ »passé«? 102 Wenn das Gebot sein Gebot ist, die Weise, wie er ins Denken kommt, 103 dann ist er doch, auch wenn – oder gerade weil – er mich auf den Anderen anstatt auf sich verweist und mir die Verantwortung gibt (anstatt sich selbst als Handelnden zu präsentieren), gerade in diesem Verweisen auf den Anderen nicht abwesend, sondern da. Diesen Ruf, hierin besteht Einigkeit mit Levinas, kann das Subjekt nicht – als Selbstgespräch – aus sich selbst haben. Vielmehr verdankt es sich diesem; dann aber kann es vom ursprünglich Rufenden nicht so abgekoppelt sein, wie Levinas um der Unentgeltlichkeit der Ethik und der Anfangslosigkeit der Verpflichtung willen vertritt. 100 »Ablehnung von Gegenwart und Anwesenheit, die sich umkehrt zu meiner Anwesenheit als Anwesender, das heißt als Geisel, der dem Anderen ausgeliefert ist als Gabe. – Refus de présence qui se convertit en ma présence de présent, c’est-à-dire d’otage livré en don à l’autre« (JS, 332/193). »Das Rätsel des Unendlichen, dessen Sagen in mir, als Verantwortung, bei der niemand mir beisteht, zur Bestreitung des Unendlichen wird, aber zur Bestreitung, durch die alles nun mir obliegt, durch die daher mein Eintritt in die Pläne des Unendlichen erfolgt – L’Enigme de l’Infini dont le Dire en moi, responsabilité où personne ne m’assiste, se fait contestation de l’Infini, mais contestation par laquelle tout m’incombe à moi, par laquelle, par conséquent se produit mon entrée dans les desseins de l’Infini« (JS, 337/196). 101 »Das ›Du‹ wie die gegenständliche Thematisierung ausschließend, indiziert der nach den Pronomina il oder ille gebildete Neologismus Illeität [›illeité‹] eine Weise, mich anzugehen, ohne eine Verbindung mit mir einzugehen. – Exclusive du ›tu‹ et de la thématisation de l’objet, l’illéité – néologisme formé sur il ou ille – indique une façon de me concerner sans entrer en conjonction avec moi« (JS, 45 f./15). 102 Das Unendliche geschieht, indem es passiert – also vorübergeht. Es passiert als immer schon passiert (vgl. JS, 323 f./187, 330/192). Inwieweit Levinas’ Lehre von der Abwesenheit Gottes auch nur ansatzweise mit den Erfahrungen Israels, wie sie im Alten Testament dargestellt werden, zusammenstimmt, kann hier nicht beurteilt werden. Allerdings genügen schon laienhafte Kenntnisse von Israels Hoffnung auf die Gegenwart und die intervenierende Macht Gottes, um Zweifel aufkommen zu lassen. 103 »Der Satz, in dem Gott zum ersten Mal ins Wort kommt, heißt nicht ›ich glaube an Gott‹. Die jeder religiösen Rede vorausgehende religiöse Rede ist nicht der Dialog. Sie ist das ›sieh mich, hier bin ich‹, das ich zum Nächsten sage, dem ich ausgeliefert bin, das ›sieh mich, hier bin ich‹, mit dem ich den Frieden, d. h. meine Verantwortlichkeit für den Anderen, verkünde. – La phrase où Dieu vient se mêler aux mots n’est pas ›je crois en Dieu‹. Le discours religieux préalable à tout discours religieux n’est pas le dialogue. Il est le ›me voici‹ dit au prochain auquel je suis livré et où j’annonce la paix, c’est-à-dire ma responsabilité pour autrui« (GP, 118/124; vgl. JS, 327/190).
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Über Levinas hinaus: Güte jenseits meiner
Selbst wenn das Zur-Güte-drängen des Unendlichen nur noch als Spur, als Echo des Urrufes, als Relikt eines Ursprünglichen im Subjekt sein sollte, 104 so würde es sich um nichts weniger auch als Echo dem Urruf verdanken und vor allem in seiner Geltung, die ja von der Alterung nicht betroffen ist, bruchlos die Herrschaft der Güte offenbaren. Wie soll sie sich verbergen (das Unendliche, »das als Illeität nicht erscheint, nicht gegenwärtig ist, das immer schon ›passiert‹ ist, weder Thema noch Telos noch Gesprächspartner«) 105, wenn sie ihre Herrschaft als »Frieden« 106 im Subjekt anbrechen lassen will? Noch einmal: Selbst wenn dieser Ruf immer schon vergangen sein sollte, es ist doch allein er, der in seinem Echo gegenwärtig ist, und was sich zeigt, ist eine Güte, die keineswegs vergangen ist, sondern gilt. Wenn sie mir aber darin den Anderen aufträgt, dann hat sie doch auch ihn nicht verlassen, sondern sorgt für ihn – durch ihre Beauftragten. Und wenn ein Anderer ihrem Ruf gefolgt ist, und mir gut war, dann ist sie doch als mein Beschützer und sein befähigender Befehlender ebenfalls da. Was bedeutet es denn, dass »für den Anderen Verantwortung zu übernehmen […] für jeden Menschen eine Art und Weise [ist], von der Herrlichkeit des Unendlichen Zeugnis abzulegen«, 107 wenn die Herrlichkeit des Unendlichen nicht die Vollkommenheit jener Grazie und Sinnfülle wäre, die sich im mitmenschlichen der Eine-für-denAnderen zeigt? 108 Wenn Gott also nicht selbst gütig wäre, das heißt: 104 Dato non concesso, denn gerade hier dürfte gelten, »dass dieselbe Kraft und Tätigkeit nötig ist, um ein Ding in den einzelnen Momenten seiner Dauer zu erhalten, als zu seiner Neuschöpfung erforderlich wäre, wenn es noch gar nicht existierte. Der Satz, dass Erhalten und Schaffen sich nur der Auffassung nach unterscheiden, gehört nämlich zu den durch das natürliche Licht offenkundigen Wahrheiten – eâdem plane vi & actione opus esse ad rem quamlibet singulis momentis quibus durat conservandam, quâ opus esset ad eandem de novo creandam, si nondum existeret; adeo ut conservationem solâ ratione a creatione differre, sit etiam unum ex iis quae lumine naturali manifesta sunt« (Descartes, 3. Meditation, Abs. 31 [AT] [1986, 129]). 105 »[…] l’Infini qui, illéité, n’apparaît pas, n’est pas présent, qui a toujours déjà passé, ni thème, ni telos, ni interlocuteur« (JS, 324/188). 106 Ebd., 362. 107 »[…] assumer la responsabilité pour autrui est pour tout homme une manière de témoigner de la gloire de l’Infini« (EU, 85/111); vgl. JS, 320/186. 108 Vgl. Kant: Das Subjekt »niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen. Diese Bedingung legen wir mit Recht sogar dem göttlichen Willen, in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt, als seiner Geschöpfe, bei, indem sie auf der Persönlichkeit derselben beruht, dadurch allein sie Zwecke an sich selbst sind« (KpV, Akademie-Ausgabe, Bd. V, 87).
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wenn er nicht als erster und auf unendliche Weise vollzöge, was er dem Ich befiehlt? 109 Damit aber wäre er nicht mehr die dritte Person (Illeité), aber auch nicht primär unser Du, sondern wir das Seine – der große Du-Sager. 110 Hineingenommen in sein Du-sagen zum Anderen aber wären wir in einer Einheit mit ihm, die weder jenseits der Sittlichkeit noch Person-auflösend wäre. Die Mit-Einheit: 111 »Zeigt sich als Grundhaltung von Liebe, jemandem etwas zu wollen, dann ist ihre Grundgestalt das Mit (Richard v. St. Victor). Mit Gott hat man hiernach dem andern wie sich selber gut zu sein; denn Gottes Ruf gibt uns vor jeder Abschätzung menschlichen Werts oder Unwerts personale Würde. Und mit dem Anderen uns gegenüber – nicht irgendwie durch ihn hindurch – hätten wir Gott zu lieben. Ein jeder in diesem ›Dreispiel‹ wäre so der ›Freund des Bräutigams‹ (Joh 3,29), dem an der Vereinigung der beiden anderen liegt, und jeder käme zugleich zur eigenen Hochzeit.« 112 109 … und zwar ihm wie dem Anderen gegenüber. Damit wäre es zugleich gütiges Gegenüber des Ich wie gütiger Gefährte im gemeinsamen Weg zum Anderen (vgl. May 2011, 18 f.). 110 Und dies schon in-sich. Absolute Güte, weil in sich nicht für sich, sondern Fürden-Anderen, welche personale Andersheit in Gott das Christentum als Dreifaltigkeit bekennt und welche immer wieder auch zum Gegenstand der Philosophie geworden ist. – Wenn Singer die theologische Rede von Gott als der Liebe für bloß metaphorisch hält, dann hat er insofern recht damit, dass »love cannot literally be a person« (Singer 1995, 41 f.), zeigt aber zugleich einen bemerkenswerten Mangel an Informiertheit. Klassisch-christlich ist die Rede von Gott als »supernatural person« (ebd., 117) ein Unsinn, denn eine einzelne Person kann nicht die absolute Wirklichkeit sein, besagt Person doch Relationalität und Gegenübersein. Vgl. zur philosophischen Denkbarkeit der Trinität, mehr noch, zu ihrer Notwendigkeit für ein Denken, das Gott als die Liebe denken will: Splett 1990, 62–90. Gefordert ist »eine erneute, vertiefte Lesart des Satzes ›Gott ist Liebe‹. Soll er wirklich so gelten, dass Gott sowohl Liebe wie Gott bleibt, dann kann Er nicht erst und allein die Schöpfung lieben. Gott muß als Einer gedacht werden, doch eben darin als innergöttliches – interpersonales ›Mit‹. Nur so bleiben nicht bloß die Freiheit der Schöpfung und das Personsein des Menschen, sondern zuvor die Göttlichkeit Gottes gewahrt« (63). 111 Die Jörg Splett bei Richard v. St.-Victor wiederentdeckt hat und zum Zentrum seines personal-dialogischen Denkens gemacht hat. Für ein personales Denken, das weder die Einheit der Liebe noch die Unterschiedenheit der Personen aufgeben will, ist dieses »Mit«, wie mir scheint, die einzige Struktur, die zwischen Verschmelzung und Entfremdung einen Weg bahnt. Eine Struktur, die nicht mühsam in einer dialektischen Logik entwickelt werden muss, die vielmehr – wenn auch kaum reflektiert – allgegenwärtig ist: Die interpersonale Einheit in der gemeinsamen Bewegung auf ein Drittes hin, die schon für jede gewöhnliche Freundschaft zentral ist, – und an Intensität in dem Maße zunimmt, wie jenes Dritte selbst personal ist. 112 Splett 1990, 61.
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Über Levinas hinaus: Güte jenseits meiner
Und ist nicht zuletzt sein Anruf, wie Levinas immer wieder zu denken gibt, nicht trotz, sondern wegen seiner rigorosen Verpflichtung auf das Wohl des Anderen zutiefst Geschenk, Gnade »meine[r] persönliche[n] Einmaligkeit, mein[es] Erstgeborenenrecht[es] und meine[r] Erwählung«? 113 »Er ist Gut in einem hervorragenden und sehr präzisen Sinn, nämlich: Er erfüllt mich nicht mit Gütern, sondern drängt mich zur Güte, die besser ist als alle Güter, die wir erhalten können.« 114 »Diese Last ist eine höchste Gnade des Einzigen.« 115 Dann aber muss ich sagen, dass er nicht nur die Güte befiehlt, sondern selbst die Güte, weil gütig, ist, und der gegenüber kann ich zwar auf eine Religion für Erwachsene pochen, 116 aber sollte ich wirklich ihm nicht gönnen, was er mir gönnt: zu gönnen? 117 »Vielleicht ist nur eine Menschheit dieses Trostes würdig, die sich seiner auch enthalten kann.« 118 Wie seltsam! Des Trostes muss ich mich enthalten, denn ich kann ihn mir selbst nicht geben. Es liegt beim Anderen, ihn zu spenden – in seiner Souveränität, seinem Maß und seiner Stunde. Und so auch nicht nach dem Maß meiner Würdigkeit. Seltsame Verabschiedung des Prinzips der »Gastlichkeit – hospitalité« 119 im Blick auf sich selbst: »In der Verantwortung für den Anderen ist mein Sein selbst zu rechtfertigen: heißt dasein nicht immer schon einem Anderen den Platz nehmen? Das Da des Daseins ist bereits ein ethisches Problem.« 120 In seinem unbestechlichen Bestehen auf der Verantwortlichkeit des Ich zur Güte dem Anderen gegenüber gönnt Levinas weder dem Anderen noch dem Unendlichen die Güte dem Ich gegenüber – wie eifersüchtig bedacht auf die totale Unentgeltlichkeit. 121 113 »[…] mon unicité personelle, ma primogéniture et élection« (GiD, 265/»De l’un à l’autre« [1983], 38). 114 »Il est Bien en un sens éminent très précis que voici: Il ne me comble pas de biens, mais m’astreint à la bonté, meilleure que les biens à recevoir« (GP, 107/117). 115 »Cette charge est une suprême dignité de l’unique« (EU, 76/97). 116 Vgl. das Kapitel in SF »Une religion d’adultes«, 21–37/27–46. 117 Ein Himmel der Güte kann nicht die Güte ins Interesse drehen: »Heaven offers nothing that a mercenary soul can desire. […] There are rewards that do not sully motives« (Lewis 2001 [1940], 149; ähnlich Spaemann 1996, 216). 118 »[…] n’est peut-être digne de ces consolations qu’une humanité qui peut aussi s’en passer« (EU, 90/117). 119 TuU 28 f./XV. 120 Levinas 1991/1987, 48/65; vgl. GiD, 250/»De l’un à l’autre« (1983), 31. 121 Für die er auf schon transzendental-logisch zu nennende Weise notwendige Strukturen ableitet. Etwa: »Um sich nicht in Sinn aufzulösen, muss die Geduld der Passivi-
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Fassen wir zusammen: Wie kein Philosoph vor ihm hat Levinas die Güte zum fundamentalen Prinzip erhoben – indem er in ihr das Wesen der Ethik offengelegt und diese als die erste Philosophie – fundamentaler als die Ontologie – erwiesen hat. Der Ort, an dem er das entfaltet hat, ist das Ich, dessen Subjekthaftigkeit nicht mehr von der Intentionalität her verstanden wird, sondern in ihrem Ursprung eine ihrerseits intendierte, angefragte, angeforderte ist. Der Sinn des Subjektes ist nicht Aneignung und Durchdringung des Anderen, sondern Gastlichkeit. Und doch bricht die Einsetzung der Güte als der letzten und eigentlichen Dimension des Daseins dort ab, wo das Ich über sich hinausdenkt (womit sich – ausgerechnet bei Levinas – die Monarchie des Ich unter anderen Vorzeichen noch einmal durchsetzt): denn weder wird der Andere bedacht als jemand, der mir gütig ist, und mir deshalb gütig über mich zu denken gibt, noch wird von Gott gedacht, dass er vollzieht, was er verfügt: vollkommenes Für-den-Anderen, was eben, wenn ich mich nicht als den blinden Fleck seiner universalen Güte denken darf, auch bedeutet: vollkommen für mich – und deswegen mir näher als je ein Mensch sein könnte. 122 Bei aller Priorisierung des Anderen, in der Levinas beinahe der gesamten Philosophiegeschichte ein Gegengewicht gegenüber gestellt hat, herrscht nicht selbst bei ihm in der Verantwortung, die immer bei mir liegt, noch die Struktur eines letzten Wortes des Ich vor, das nicht (immer) haben zu wollen, eigentlich zur Liebe gehört?
6.9 Anders als Streben und früher als Geben: Empfangen Damit aber ist nun in Auseinandersetzung mit Levinas gezeigt, dass der Güte gleichrangig zum Geben das Empfangen zugehört, weil ein tät immer erschöpft sein, überschritten werden durch ein sinnloses, ›vergebliches‹ Leiden, durch ein Leiden reinen Unglücks. – Pour ne pas se résorber en sens, la patience de la passivité doit être toujours à bout, débordée par une souffrance insensée, ßanffraßpour rienßanffrbß, par une souffrance de pur malheur« (JS, 335/195 – Hervorh. FH). Oder: »Um zu ertragen, ohne entschädigt zu werden, ist das exzessive und widerliche Geräusch und Gedränge des Es-gibt notwendig. – Pour supporter sans compensation, il lui faut l’excessif ou l’é-coeurant remue-ménage et encombrement de l’il y a« (ebd., 357/209). 122 Vgl. auch Claudia Welz’ Anfragen an Levinas bezüglich der Abwesenheit Gottes: 2016, 207–212, 260–272.
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Anders als Streben und früher als Geben: Empfangen
Geschöpf und ein Gezeugter gar nicht geben kann, ohne vorher empfangen zu haben, weil Güte ihre Annahme und Antwort in der Güte des Anderen erhofft und weil Güte nicht jener inkommensurable Wert sein kann, von dem hier die Rede ist, wenn sie nur als die meine wert und teuer wäre. 123 Das Motiv des Empfangens steht aber nicht nur quer zum deontischen Egozentrismus (ich, ich, ich bin zur Güte verpflichtet – keiner sonst), sondern auch – gleichsam am anderen Ende – zum eudaimonistisch zentripetalen Streben: Wenn der Mensch sich sein Glück nicht besorgen kann, dann kann das Streben nach der eigenen Vollkommenheit nicht die ursprünglichste Haltung des Menschen sein. Denn warum sollte der, für den immer schon gesorgt ist, diese Zuvorkommenheit der Güte damit beantworten, dass er nun selbst alles tut, sein Leben zu sichern und Vollkommenheit zu erringen – »ein einziges riesiges nach Stillung verlangendes Bedürfen«? 124 Für ein Geschöpf, und ein gezeugtes obendrein, kann Ausseinauf nicht das Erste sein. Es ist primär und fundamental beschenkt – mit sich, den Mitmenschen, der Welt und in alledem mit »der Präsenz des Gebers in der Gabe«. 125 Sollte die erste Antwort darauf sein: Aussein-auf, oder nicht vielmehr: dankbarer Empfang und antwortende Liebe? 126 Schon-nicht-mehr-Aussein-können-auf, weil ihm zuvorgekommen wurde. 127 Und dass jeder nach der Erhaltung und Vervollkommnung seines Seins strebt, ist schon eine schiefe Ebene – denn der tiefste Sinn eines Geschenkes ist nicht der Gegenstand, sondern sein Geschenktsein. Das aber kann man sich in keiner Weise selbst sichern, sondern nur entgegennehmen. 128 – Dann aber wäre WohlVgl. May 2011, 8. Pieper 1996, 361. 125 Franz v. Baader, SW, IX, 387. 126 Womit zugleich das höchste Geschenk angenommen und aktualisiert wäre: Güte mit Güte beantworten zu dürfen. Dankbarkeit: »… die reinste, von aller Gefahr versteckter Hybris freie Form des Wohlwollens« (Spaemann 1989, 247). 127 Dies scheint mir der zu rettende Kern in Nygrens Kritik am Eros zu sein: »Wenn Gott seine Liebe umsonst gibt, so bleibt für den Menschen durch seine Liebe zu Gott nichts zu gewinnen übrig. Sie verliert den Charakter einer Leistung […]. Und in diesem Bewusstsein richtet sie ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, dass Gottes Wille verwirklicht werde« (Nygren 1955 [1930], 60). 128 Es ist also gerade nicht so, als würde dieser Ansatz Natur und Gnade auseinanderreißen, indem die Gnade (»Für-den-Anderen«) von der Natur (»Für-mich«) abgesetzt würde (vgl. aber Wald 2012, 94; Pieper 1996, 360 f.). Aber die Annäherung geschieht eben – und dies ist der Unterschied zu Pieper und Wald – nicht dadurch, dass auch in 123 124
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
wollen auch nicht primär Assistenz für den Appetitus 129 des Anderen, sondern Gabe dessen, was auch er sich nicht nehmen kann. 130 Wenn die absolute Güte uns aber mit unserer eigenen Güte beschenkt, dann können wir sie auch ihr gegenüber hegen. Es bewährt sich hier, was oben gesagt wurde: Güte gönnt auch das, was nicht von ihr geschenkt wurde. 131 Wenn Reeve dafürhält, dass »our love for him [d. i. God] [is] mysterious. For how can any activity of ours (…) benefit someone whose … perfection puts him beyond benefit?«, 132 und Soble darauf antwortet: Love »need not succeed in benefiting the beloved to be love. The analysis of love’s benevolent disposition should be counterfactual, for example, ›X loves Y only if X would benefit Y if
der Gnadenordnung eine »Für-mich«-Struktur ausgemacht, sondern umgekehrt schon in der Natur des Menschen eine »Für-den-Anderen«-Struktur aufgewiesen wird. Anstatt also die Gnadenordnung zu naturalisieren, wird hier, ohne eine Gleichrangigkeit zu behaupten (denn Gottes Gabe und Gott als Gabe sind bleibend unterschiedliche Tiefendimensionen von Gnade), schon die Natur als Raum der Gnade behauptet, wenn anders Gnade bedeutet, unverdient beschenkt zu sein, und Schöpfung um der Gottheit Gottes und der Freiheit der geschaffenen Person willen nicht als notwendig gedacht werden kann. 129 »Aussein auf das, was für den Anderen das Zuträgliche ist, also das, was dessen eigenes Aussein-auf erfüllt, nennen wir Wohlwollen« (Spaemann 1989, 129). 130 Weswegen Sexualität eben unter ihren personalen Möglichkeiten bleibt, wenn es darum geht, »es zu machen«, wie es im Raum des Spaß-Sex sprechend heißt. »Es« (nämlich: den leiblichen Vorgang bzw. die mit ihm verbundene Lust) kann man machen, aber nicht die Zuwendung des Anderen. – Vor welchem Hintergrund es einen schon wundernehmen kann, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die jahrelang omnipräsente Plakatwerbung für den Gebrauch von Kondomen mit Zeitgenossen illustriert, die zum Besten geben, »es« auf diese oder jene Weise (frech, wild, klassisch) zu »wollen« (oder auch: zu »machen«) – als ginge es überhaupt nicht um eine andere Person (www.sozial.de/neue-machs-mit-Kampagne-der-Bundes zentrale-fuer-gesundheitliche-aufklaerung-informiert-ueber-hiv-und-andere-sexuell -uebertragbare-infektionen.html [abgerufen am 12. 02. 2020]). Martin Buber hat seinerzeit gefragt: »Wenn man von all der vielberedeten Erotik des Zeitalters alles abrechnet, was Ichbezogenheit ist, alles Verhältnis also, worin eins dem anderen gar nicht gegenwärtig, von ihm gar nicht vergegenwärtigt wird, sondern eins am anderen nur sich selbst genießt – was bliebe wohl?« (Ich und Du, Werke, Bd. I, 108). Heute, fast 100 Jahre später, scheint es, als habe ein Großteil derer, die das Thema professionell reflektieren und staatlicherseits mit »Aufklärung« betraut sind, gar nicht den Anspruch, dass da »mehr« bliebe. Die BZgA jedenfalls hat sich jüngst einen neuen Slogan überlegt: »LIEBESLEBEN. Es ist deins. Schütze es.« Kann man radikaler das Liebesleben seines relationalen Sinns berauben? 131 Vgl. 231 f. u. die Klärungen anlässlich der Gottesliebe bei Thomas: 97 ff. 132 Reeve 2005, 2.
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Anders als Streben und früher als Geben: Empfangen
X could‹«, 133 dann ist dies zwar richtig, aber noch zu kurz gesprungen: Wo man nichts Gutes tun kann, kann man Gutes gönnen (also z. B. Gott seine Gottheit). Dies erhebt jedes Gut zur möglichen Gabe der Güte eines jeden (nicht weil jeder es geben könnte, aber jeder kann es gönnen). Omnipotenz der Güte: Sie kann auch schenken, was sie nicht hat. Wo aber findet nun zwischen dieser Liebe zum Anderen (Gott und dem Nächsten) und dem dankbaren Empfang seiner Liebe die Selbstliebe ihren Platz? Biblisch erscheint sie im zweiten Teil des Doppelgebotes: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (Lev 19,18). Oft wird sie so gedeutet, als wäre die Selbstliebe Möglichkeitsbedingung der Nächstenliebe. Schaut man allerdings genauer hin, zeigt sich schon logisch-strukturell, dass die Selbstliebe nicht die Bedingung der Nächstenliebe sein kann, vielmehr gilt umgekehrt: Nur weil das Kind die Eltern (oder andere Bezugspersonen) liebt, kann es ihrer Liebe diejenige Wertschätzung entgegenbringen, die gegeben sein muss, damit das Kind dieser Liebe seinen (unendlichen) Wert glauben kann – und von dorther zur Selbstliebe befähigt wird. 134 »Da Liebe nur gegen Liebe entbrennt: so müsste die Selbstliebe sich lieben, eh’ sie sich liebte, und die Wirkung brächte die Ursache hervor, welches so viel wäre, als sähe das Auge sein Sehen«. 135 Soble 2008 [1998], 140. In Bezug auf die Liebesfähigkeit von Kindern liest man immer wieder unausgewiesene Restriktionen. So wiederholt bei Soble: »If the common ingredient [of all sorts of love] is that the lover cares for the well-being of the beloved, it would be nonsense to say that a child loves its mother. Children do not yet feel benevolence toward their parents« (Soble 2008 [1998], 130). In seiner Allgemeinheit ist dieses Argument nur absurd, was sich schon daran zeigt, dass es als spezifisches Urteil in Bezug auf ein einzelnes Kind infam wäre. – Und dies ist bei Soble keine Petitesse, sondern der beiläufige, aber einzig genannte Grund dafür, dass er in der »benevolence« nicht den »fine gold thread« sieht, der alle Fälle personaler Liebe miteinander verbindet: »Perhaps […] benevolence is love’s fine gold thread. But even if benevolence is not C [= the »central ingredient« of love {vgl. 147}] (at least because benevolence is absent from a child’s love for its parents), concern for the welfare of the beloved is plausibly a necessary feature of personal love« (Soble 2008 [1998], 152. »Necessary« ist natürlich nicht sinnvoll, wenn anders weiter von der nicht benevolenten Liebe eines Kindes die Rede sein soll.) – Dagegen mit Jean Paul: »Wesen, die der Moralität fähig sind, unterscheiden sich von denen, die es nicht sind, nicht im Grade, sondern in der Art; folglich kann kein nichtmoralisches mit der Zeit oder stufenweise in ein moralisches übergehen. Wenn nun Kinder in irgendeinem Alter völlige nichtmoralische Wesen wären: so könnten sie in keinem Jahre auf einmal anfangen, andere zu werden« (Siebenkäs, Werke II, 415). 135 Jean Paul 1959, Werke IV, 221. 133 134
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Aber ist Selbstliebe überhaupt das richtige Wort? Liebe ließe sich – unter der provisorischen Umgehung des Bezuges auf einen Anderen – verstehen als »jemandem gut sein«. Ein Jemand bin ich auch selbst. Und insofern kann ich mir selbst gegenüber gütig sein. Ja, mehr: Weil ich ein Jemand bin, soll ich mir gut sein – und dies gerade noch einmal aufgrund meiner Anerkennung der absoluten Güte und der Anderen, deren Zwecke, zu denen (hoffentlich) mein Wohlergehen zählt, ich zu achten habe. 136 Wenn ich also die Andersheit des Geliebten als konstitutiv für Liebe einklammere und zunächst nur von Personenliebe rede, darf ich mir selbst in keiner geringeren Weise Gegenstand der Liebe sein, als die Anderen es mir sein sollen. 137 Dies ist auch nicht unter dem Zeichen des Für-den-Anderen kleinzureden oder zu missachten. 138 Die Pflichten mir gegenüber gelten in vollem Maße, nur sind sie mehr als Pflichten zur Erhaltung meiner als Werkzeug von Pflichten: 139 136 Dabei zeigt sich umgehend in die umgekehrte Richtung, wie groß die Zerstörungskraft unserer wechselseitigen Angewiesenheit ist. Denn, wenn ich jemanden achte, dem ich gleichgültig bin oder der mich hasst oder der mich gerne als einen Anderen hätte als den, der ich bin, wird es – im Maße, wie mir der Andere wert und teuer ist – ein sehr Schwieriges, mich mit diesem Blick auf mich nicht zu identifizieren. Auch hier scheint es mir keine Alternative zu Gott zu geben, wenn restlose Anerkennung soll möglich sein (und etwas zu ersehnen, was prinzipiell unmöglich ist, ließe diese Sehnsucht absurd, ja, mehr noch: schlechterdings unverständlich sein, damit aber wäre nicht erst ihre Erfüllung, sondern schon sie selbst als bloße Sehnsucht prinzipiell unmöglich [vgl. Splett 2005, Kap. 4]). 137 Heutigentags scheint das Wort »Gönnen« gar primär im Bezug auf das Selbstverhältnis Anwendung zu finden. Denn wo begegnet einem das Wort »Gönnen« am häufigsten (abgesehen von seinem hämischen Gebrauch im Blick auf das Missgeschick anderer)? In der Formel »Man muss sich auch mal etwas gönnen«. 138 »Wo es um das eigene Wohl geht, hat man keine anderen Maßstäbe anzulegen als dort, wo es um das Wohl der anderen geht. Man hat dem zuerst beizustehen, der mehr als andere auf diesen Beistand angewiesen ist. Man hat die Aufgaben zu übernehmen, für die man besser als andere geeignet ist. Nun ist es eine unübersehbare Tatsache, dass in manchen Lebensbereichen jeder nur selbst oder doch besser als alle anderen dazu geeignet ist, für sein eigenes Wohl zu sorgen. Das begründet vorrangige Pflichten für seine eigene Person, was jedoch nicht das geringste mit einem Mehr an Selbstliebe gegenüber der Nächstenliebe zu schaffen hat« (Schüller 1980, 88). Vgl. Lotz 1971, 58. 139 Fichte erlaubt kein anderes Selbstverhältnis als das Bemühen um die Erhaltung und Bildung seiner selbst als Werkzeug des Sittengesetzes: »Die physische Selbsterhaltung der Person, als des allen bekannten Vehikels aller sittlichen Gesezgebung in dieser Stelle des Zusammenhangs der Erscheinung wäre gefährdet. So ist um aller andern Gebote willen, die ihm aufgetragen sind, oder werden könnten, das unmittelbare Gebot, diese zu sichern; nicht damit diese Person, an der als solcher nichts liegt,
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Anders als Streben und früher als Geben: Empfangen
Sie sind das Ankommenlassen der Güte, die mir gilt. Und dieser Auftrag ist nicht bloß passiv zu verwirklichen: Schon das mir zubereitete Essen landet nicht von alleine in meinem Bauch; ein Geschenk will ausgepackt und benutzt werden; der mir geschenkte Leib soll tätig besessen werden. Überall zeigt sich: Empfangen ist nicht eigentlich sterntalerhaftes, passives Stehen im Goldregen, sondern aktives Entgegennehmen, und es gehört zum Geschenk des Geschenkes, dass es meine Aktivität entfesselt, ja, u. U. erobert sein will (vielfach sichtbar im Liebesspiel, ja, im Spiel überhaupt, wo die Bereitschaft zu unterliegen sich so teuer wie möglich verkauft, in Achtung vor dem Gegenspieler). Insofern hat das Wort von der Selbstliebe seine Berechtigung. Aber können wir die Frage nach Identität oder Differenz der liebenden mit der geliebten Person bleibend als unerheblich einklammern? Müssen wir nicht vielmehr feststellen, dass es eben doch zur DNA der Liebe gehört, es mit einem Anderen zu tun zu haben? Liegt darin nicht ihr Zauber? Dass ein Jemand ganz engagiert ist für einen anderen Jemand, und dass der, der hier auf Symmetrie bedacht wäre, die Choreographie der Liebe zerstörte. Freilich gibt es Türen, die breit genug sind, dass beide gleichzeitig hindurchgehen, aber ist das der schönere Anblick? Das »Bitte nach Ihnen!« kann ich prinzipiell nicht zu mir sagen. Und ist nicht der einzige schöne Grund, als erster durch die Tür zu gehen, mich auf den Ehrenplatz zu setzen, mir das größte Stück vom Braten abzuschneiden der, dass ich dankbar annehme, was mir angeboten wurde? 140 Wenn, anders gesagt, zur Güte die Differenz gehört, ohne die der Austausch von Dein und Mein nicht möglich ist, wenn zu ihr gehört, dass der Eine das Seine und darin sich als Gebenden dem Anderen gibt, dann kann man von Selbstliebe nur in einem uneigentlichen Sinne reden. Es verhält sich damit umgekehrt wie bei Pieper/Thomas: sondern damit die Ausführung der an sie ergangnen Gebote gesichert werde. Als Werkzeug des Sittengesetzes soll der Mensch sich erhalten, denn eine andere Ansicht hat der sittliche gar nicht von sich« (Sittenlehre 1812, GA II/13, 372). 140 … und eben so die Großmut des Anderen ankommen lasse (, der sich zu verweigern im Verzicht auf die gastlich gewährten Privilegien, um selbst am Ruder des Gebens zu sitzen, gerade kein Sieg der eigenen Güte wäre – diese nämlich gönnt Gönnen, statt immer selbst der Schenker sein zu wollen). So wie der Gastgeber dem Gast sein Haus zur gütigen Heimat machen soll, so ist es die vornehme Aufgabe des Gastes, wirklich ein solcher zu sein, um so seinen Wirt einen möglichst vollkommenen sein zu lassen.
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Nicht die Nächstenliebe beruht auf der Selbstliebe, sondern, nur weil es Nächstenliebe gibt, hat »Selbstliebe« überhaupt eine, wenn auch bloß analoge Bedeutung. 141 Gleichzeitig ist hoffentlich klar geworden, dass solche Anführungsstriche um die »Liebe« in der Selbstliebe in keiner Weise als Einschränkung der nicht bloß erlaubten, sondern aufgetragenen prinzipiellen Gutheißung meiner selbst und der Verantwortung für mein Wohlergehen verstanden werden darf. Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass das, was Liebe eigentlich bedeutet, hier nicht möglich ist – aus dem ganz schlichten Grund, dass ich ich bin. Insofern sich in der Liebe eine Wirklichkeit mit einer anderen identifiziert, ist, »when a person loves himself, the identification of the lover with his beloved […] distinctively robust and uncurtailed«, 142 sagt Frankfurt, und begründet so, »that love of oneself is purer than other sorts of love«. 143 Nur ist die Liebe eben nicht die Affirmation der Identität dessen, was identisch ist, sondern die Identifizierung derer, die unterschieden sind, über die unaufhebbare Unterschiedenheit hinweg. 144 So wie die Augen sich nicht sehen können, so kann ich mir nicht zu einem Anderen werden. »Ich müsste zweimal da sein, damit das liebende Ich nicht ins geliebte zerflösse.« 145 Zu mir komme ich als Du eines Anderen und was daraufhin ansteht, hat Guardini als »Annahme seiner selbst« 146 beschrieben. Das ist es: grenzenlose Annahme meiner im vertrauenden Blick auf den mich Anschauenden; im Hören auf den gütigen Herausruf. Deswegen hat die Präferierung der Güte, wie sie hier geschieht, 141 Vgl.: »[S]ince the subject and object of this love are identical, self-love is not a dynamic relationship that involves self-transformation and growth. Self-love is only ›love‹ in a derivative and secondary sense. It does not involve a relationship to an other who challenges, enhances, or fulfills my sense of who I am« (White 2001, 12). – Splett hat es kaum widerlegbar auf den Punkt gebracht: »[I]st Liebe nicht ›eigentlich‹ (an ihren Höchstvollzügen abzulesen) ›ekstatisch‹ ? ›Ästhetisch‹ gesehen: Entzücken an jemand, ›ethisch‹ : Leben und gar Sterben für sie/ihn? Was wäre über jemanden zu sagen, der, entzückt von sich selbst, für sich selber lebte und stürbe?« (Splett 2009, 97). 142 Frankfurt 2004, 81. 143 Ebd., 80. 144 »Mit einem Schlag erschrack [!] A. und glaubte in großer Helligkeit zu sehen, dass gerade dies das Geheimnis der Liebe sei, dass man nicht eins ist« (Musil 1978, Bd. II, 1660). 145 Jean Paul, Werke (Miller) IV, 221. 146 Guardini 1960.
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Anders als Streben und früher als Geben: Empfangen
nichts zu tun mit dem Für-den-Anderen, das an einem Gegen-mich seine Eindeutigkeit gewinnen soll. So haben Nygren und Bultmann, im Anschluss an Luther, das »wie dich selbst« als Aufruf zur Umkehr gelesen. So wie Du als Sünder Dich liebst, sollst Du als Gerechtfertigter Gott und den Nächsten lieben (und Dich hassen). 147 Wenn mit diesem Selbsthass mehr gemeint sein soll als ein rhetorisch hartkantiger Aufruf zur Abkehr von allem verkrümmten Egoismus, ist er rundherum abzulehnen. Schwächer schon die Rede von der Selbstverleugnung, aber auch hier: Göttlich gesetzt, gegönnt, geehrt – und dann von sich selbst verleugnet? 148 Fenelon hat den Beweis der Möglichkeit des amour pur in der Tatsache gesehen, dass es Menschen gab, die Gott geliebt haben, obwohl sie sich ihrer ewigen Verdammnis sicher waren, und solche, die in sich die Bereitschaft verspürten, ihr persönliches Heil zu opfern für die Anderen. Sein Gegenspieler Bossuet, der auf der Heilsmotivation aller Liebe bestand, hat Fenelon mit einigem Recht vorgeworfen, dass sich aus solchen Absurditäten nichts folgern ließe. Denn wer Gott liebe, könne gar nicht seines ewigen Heiles verloren gehen. Fenelon selbst wusste, dass in der Sache das Opfer des persönlichen Heiles um der Liebe willen nicht möglich ist, betrachtete es aber als empirische Tatsache der Mystik, dass manche Menschen eine Nacht der Seele erleben, in der die eigene Verlorenheit Gewissheit und die Gottesund Nächstenliebe dennoch intakt, ja, besonders brennend ist. Wenn es aber auch nur einen Fall gibt, wo es aufgrund der psychologischen Konstitution ausgeschlossen ist, dass jemand um seines eigenen Heiles willen liebt, dann reicht dies, um zu beweisen, dass ein amour pur möglich ist. Der Rückweg zur persönlichen Hoffnung kann in einer solchen Seele nur aus Gehorsam angetreten werden. 147 »Das Gebot der Nächstenliebe ist so weit davon entfernt, die Selbstliebe in sich zu fassen, dass sie sie im Gegenteil zuletzt ausschließt und überwindet« (Nygren 1955 [1930], 64; vgl. 146 f.). Dort auch der Hinweis auf Bultmann: »Ja sie ist in der Tat vorausgesetzt, aber nicht als etwas, was der Mensch erst lernen muss, was von ihm ausdrücklich gefordert werden muss, sondern als die Haltung des natürlichen Menschen, die es eben zu überwinden gilt« (1926, 100). Vgl. Luther, Römervorlesung, WA, Bd. 56, 392 ff. 148 Schlecht vom Geschöpf denken, heißt schlecht von Gott denken. Sodann gibt es das nicht bloß logische, sondern ganz existentielle Problem, das in allen Programmen der Selbstbeziehung dieser Couleur steckt: Freilich, ich bin dann verleugnet, aber von wem? Von mir. Selbstbeherrscht? Ja, aber von mir, also immer noch herrschend. In jedem Versuch der reflexiven Egodezentrierung bestätigt sich das Selbst – bereichert um einen weiteren Jahresring verzweifelnder Autonomie.
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Das mögen wieder mystische Steilheiten sein, die das Gesicht der Güte in weitere Ferne rücken als es tatsächlich ist, aber – und deswegen wird der Gedankengang hier präsentiert – was Fenelon im spekulativen Durchgang durch den Verzicht auf jegliche Funktion des Für-sich als Motor des Für-den-Anderen gefunden hat, ist eine persönlichen Hoffnung, die geläutert ist von jeglicher Vorrangstellung meiner selbst: »Ich kann das Reich Gottes mit der gleichen Uneigennützigkeit für mich selbst erwarten und ersehnen – und das heißt: es erhoffen – wie für einen anderen.« 149 Entscheidend ist hier der Weg in die Freundschaft zu sich aus Liebe zur Liebe eines Anderen, die mich meint. Von ihr herkommend kann sich der Mensch endlich von aller Zentripetalität erlöst als nicht besseren oder schlechteren Freund, als er den Anderen sein soll, annehmen. 150 Mithilfe der Formel aus Mt 6,21: Annahme meiner selbst als schlechterdings gewollt und gutgeheißen und mir selbst geschenkt, ja, als Herz eines Anderen (denn wo sein Schatz ist, ist auch sein Herz), was mir deshalb so kostbar ist, weil er mein Schatz ist (der Ort meines ihm zugewandten Herzens).
6.10 Güte und Bild Wie ist nun die Liebe, die wir als Güte bestimmt und zu beschreiben versucht haben, mit dem Bild verknüpft? Zunächst: Sie opponiert gegen jede Verzweckung des Anderen und kommt damit in eine Spannung mit seinem Bildsein. Levinas hat das Problem am schärfsten gesehen: Alle Vermittlung des Göttlichen, die durch den Nächs149 Zit. nach Spaemann 1990, 106. Wenn Fenelon dann fortfährt: »Ich begehre es ausschließlich zu seinem Ruhm und damit sich sein gnädigster Wille, den er mir geoffenbart hat, erfülle« (ebd.), macht dies allerdings einen Einspruch nötig: Tatsächlich, alles, was aus Güte geschieht, mehrt den Ruhm der absoluten Güte, was stört (so wie das »nisi« des Augustinus [vgl. oben S. 105 f.]), ist das »ausschließlich«. Stattdessen: Wegen der Ehre Gottes nicht mehr und nicht weniger als wegen des Anderen oder meiner selbst – und eines im Maße des anderen. 150 Wie schon erwähnt: Dies kann und soll schon in der Beziehung zwischen Menschen geschehen und geschieht dort, wo einer den Anderen annimmt und der Andere dies annehmen kann. In dem Maße aber, wie der Mensch angenommen werden will und soll, wird dies wohl nur von Gott her möglich sein – womit sich wieder zeigt, wie überhaus erheblich es ist, ob wir in unseren Breiten einen neuen Zugang zu einem absoluten Grund finden werden, der unfehlbar, ohne Ende und gültig jeden ganz bejaht.
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Güte und Bild
ten geschieht, steht in der Gefahr, ihn zum Mittel zu machen. Wir waren dem in unterschiedlichen Gestalten begegnet: Als Abbild bei Platon erweckt der Mensch eine Bewegung, die letztlich an ihm vorbei auf das Original geht. Dies aber wird der Person des Geliebten nicht gerecht. Auch wenn man mit einigem Recht behaupten kann, dass die Entdeckung des Personbegriffs jüdisch-christlicher Provenienz sei, 151 ist doch ein breiter Strom christlichen Denkens zutiefst infiziert gewesen mit der Verzweckung des Nächsten für die Gottesbeziehung. Nicht, als habe allein dies schon zu Barbareien geführt. Liebe zum Nächsten aufgrund der Gegenwart Gottes in ihm mag allein schon für sich ein hohes Maß an Menschlichkeit sichern. Allerdings darf schon gefragt werden, ob diese Funktionalisierung des Anderen den Einzug von Barbareien im Namen des Christentums, wenn nicht mitbedingt, so doch auch nicht verhindert hat. Vom uti des Augustinus, nach dem Gott allein zu genießen sei, alles andere aber als Mittel zu diesem Zweck zu nutzen sei, und das – bei allen berechtigten Verteidigungen vor zu schneller Verurteilung – sich letztlich eben doch zutiefst mit der Selbstzwecklichkeit des Menschen reibt, 152 über Entgleisungen gegenüber allem, was nicht Gott ist im Reden der Heiligen und Mystiker, bis hin zur fortwährenden Versuchung in der Theologie, das Endliche der bloß endlichen Liebe anzuempfehlen: 153 der Theozentrismus begründet oft genug nicht die Letztzwecklichkeit des Menschen. 154 Vgl. Kobusch 1997 [1993]. Vgl. De Doctrina Christiana, Lib. I, C 33, PL 34/33. Zu seiner Verteidigung nebst weiterführenden Literaturangaben: Kruse-Ebeling 2009, 138 ff. 153 Für Bernhard Welte etwa besteht das Böse darin, »das Endliche unendlich wichtig zu nehmen« (1982, 172) – womit nicht erst im Erlösungsgeschehen, das das Christentum bekennt, sondern schon im philosophisch erreichbaren Schöpfungsdenken Gott der Böseste wäre – weil er nämlich uns unendlich ernst nimmt. 154 So vermessen sich »Letztzwecklichkeit« für jemanden anhören mag, der dem Gebot, Gott über alles zu lieben, Gültigkeit beimisst: Selbstzwecklichkeit heißt Letztzwecklichkeit; Zweck, der einen über ihn hinausgehenden Zweck weder braucht noch erlaubt. Das »Über alles« bedeutet nicht ein »Mehr«, sondern ein »Anders«. Im Licht der Güte ist der Mensch nicht weniger zu lieben als sie selbst, aber nicht auf die gleiche Weise. Denn nur der Güte selbst darf man seine Freiheit verschreiben, d. h. religiös: nur sie darf man anbeten, und ethisch: nur ihrem Anruf bedingungslos folgen. Deo parere libertas est (Seneca dial 7,15:7), alles andere wäre Sklaverei. – Kierkegaard hat mit dem ihm eigenen, seinem persönlichen Schicksal abgerungenen Scharfblick auf die Gefahr eines falschen Unterschiedes zwischen Gottes- und Nächstenliebe hingewiesen: »Wer sich einseitig einem mystischen Leben ergibt, der wird zuletzt allen Menschen so fremd, dass jede Beziehung, sogar die zarteste und innigste, 151 152
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Bei Thomas zeigt sich zwar prinzipiell, dass Gott nicht zu lieben ist, ohne die zu lieben, die er liebt, aber dennoch schwankt er im Verständnis des propter deum zwischen einer Liebe zum Nächsten als ihm selbst und einer Liebe, die nichts an ihm liebt als Gott in ihm. Hier, wie schon bei Platon, sahen wir die Grenzen des Abbild-Denkens. Der Nächste ist eine defiziente Kopie des Originals und nur solange von Belang, wie dieses nur in seinen Kopien sichtbar und habhaft ist. Bei Platon zeigte sich dies ex negativo darin, dass erst die Überflüssigkeit seines Bildseins angesichts der Idee des Schönen selbst echte Freundschaft (die gemeinsame Befiederung der Liebenden zur Schau des Schönen) 155 ermöglicht. Aber das heißt doch, solange er als Bild geliebt wird, wird nicht er, sondern das Abgebildete geliebt. Das verstärkte sich noch einmal bei Fichte, von dem wir lernen konnten, dass bildtheoretisch das Abbild am Wesen des Bildes letztlich vorbeigeht. Statt Kopie geht es um Versichtbarung, die wurde nun aber mit der totalen Entsubstanzialisierung bezahlt. Das Bildsein war in seine höchsten Möglichkeiten gekommen und hatte gerade so das Selbstsein verschluckt. Verständlich die Gegenbewegung Feuerbachs: Fort mit der Rede vom Bild! Das Antlitz des Menschen ist nicht beschienen, sondern leuchtet selbst. Leider musste nicht nur er in seiner Philosophie feststellen, sondern die folgenden Zeiten zeigten, dass solche Autarkisierung des Menschen keineswegs besser über seine Würde wachen konnte als theistische Weltanschauungen. Auch wenn die Leichenberge des 20. Jahrhunderts jedes bis dahin bekannte Ausmaß des Hasses auf den anderen Menschen weit hinter sich lassen, darf man sich hier nicht auf das Spiel der Greuelvergleiche einlassen. Das christliche Abendland hat seine eigenen Leichenberge. Dass sie kleiner sein mögen, sagt dabei wenig, und anstatt christlicherseits die Moderne immer wieder des »bloßen« Humanismus zu zeihen, sollte der Schulterschluss mit allen, die an der unzerstörbaren ihm gleichgültig wird. In diesem Sinne ist es nicht gemeint, dass man Gott mehr lieben solle als Vater und Mutter, so selbstsüchtig ist Gott nicht, auch ist er kein Dichter, der den Menschen mit den entsetzlichsten Kollisionen zu plagen wünscht, und es ließe sich wohl schwerlich eine entsetzlichere denken, als wenn wirklich eine Kollision bestünde zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen, zu denen er in unser eigenes Herz die Liebe gelegt hat« (Kierkegaard, Entweder – Oder, 2005 [1843], 809; vgl. zur Differenz von Gottes- und Nächstenliebe auch ders. Der Liebe Tun, Ges. Werke, Bd. 14/Abt. 19, 24). 155 Vgl. oben S. 47 ff.
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Güte und Bild
Würde des Menschen festhalten, gesucht werden. Denn auch wenn das Christentum kein bloßer Humanismus ist, ein Humanismus muss es um kein Gran weniger sein als derjenige, der aus der Aufklärung oder sonst woher kommt. 156 Nicht weil jüdisch-christlich der Mensch das Höchste und Letzte sei, aber weil er vom Höchsten und Letzten einen Rang zuerteilt bekommen hat, der das Maß, mit dem er geliebt zu werden hat, auf eine Stufe hebt mit dem Maß (nicht der Art) der Liebe, die Gott gebührt. Philosophisch jedenfalls ergibt sich, dass ein Bedingtes ohne die Dimension des Unbedingten keine unbedingte Würde haben kann. Diese muss nun nicht deduktiv von Gott her abgeleitet werden, sie kann sich unmittelbar zeigen – und vielleicht hat die Shoa uns auf die schlimmstmögliche Weise mit ihr konfrontiert: im Grauen vor der doppelten Fallhöhe, die ein Mensch durchmisst, wenn er vom Hüter zum Mörder seines Bruders wird, und im verzweifelten Erbarmen, das uns ergreift, wenn wir Zeuge davon werden, dass ein Mensch nicht nur in die Hände seiner abgefallenen Hüter gefallen, sondern weit und breit keiner ist, der seine Würde schützt. Wer so ex negativo oder – reicht nicht schon der Anblick eines Kindes? – ex positivo von der Sakralität des Menschen ergriffen wird, hat ein Unbedingtes gefunden, gleich welchen Namen er ihm gibt. Dass dieser Glanz aber nicht aus dem Menschen selbst scheinen kann, wird nicht erst dann klar, wenn wir auf Menschen schauen, deren Menschsein durch eigene Grausamkeiten unvorstellbarer Art bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde; es reicht ein nüchterner Blick auf sich selbst – was daran soll unendlich, unbedingt sein? »Die Person hat eine Sinnbedeutung, die ihr Seinsgewicht übersteigt.« 157 Also zeigt der Mensch, gerade wenn er als er selbst in den Blick kommt, doch etwas, was er nicht ist. Im Modus des Sollens: Du darfst mich nicht töten. 158 Ich verlange unbedingten Respekt, obwohl ich vielfach bedingt bin, genauer: nicht eigentlich ich fordere das, sondern es: das Gute, das sich in jedem Menschen zu Gehör bringt. 159 Vgl. Lotz 1971, 144–148. Guardini 1962 [1939], 143. Vgl. Gerhardt 2014, 50. 158 Vgl. SF 18–20/23–26. 159 Denn, bei allen kulturellen Unterschieden der Normengewissen, zum Prinzipiengewissen gehört durchgängig das Wissen, dass a) negativ – der Nächste nicht der eigenen Willkür unterliegen darf und b) positiv, dass der sittliche Wert eines Menschen damit zu tun hat, wie sehr er sich dem Wohlergehen der Anderen widmet. Die Unterschiede der Normen resultieren zu einem Großteil aus den Fragen, a) wer der 156 157
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
Der Mensch zeigt sich als gewürdigt vom Unbedingten. Im Endlichen zeigt sich das Unendliche. Dies hatte auch Levinas gesagt; aber von der Spur gesprochen. »Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selbst ist.« 160 Wenn dieser Ausweg der Abwesenheit Gottes, wie oben gezeigt, eine inadäquate Beschreibung ist, wie wäre dann Bildsein so zu denken, dass es den Menschen als Person nicht auslöscht, sondern gerade bestätigt, und zwar als zu liebendes Selbst wie als liebendes Selbst? Zunächst – Fichtisch – nicht als Abbild, sondern als Bild. Vergegenwärtigung und nicht Platzhalter. In aller Strenge: Dasein von. Nur so bleibt er bildtheoretisch selbst des Blickes würdig, anstatt zum bloßen Steigbügelhalter degradiert zu werden für eine himmelsstürmende Mystik, die alles verwirft, was nicht Gott ist. Bild und Gegenwart Gottes, aber eben nicht erkauft durch Entsubstanzialisierung, sondern verwirklicht durch Substanzialisierung. Gerade dadurch, dass der Mensch ein Selbst ist und nicht bloßes Medium, zeigt der Mensch Gott, nämlich – und hier schließt sich der Kreis zwischen Liebe und Bildbegriff – als die Güte. In der Güte, so hatten wir gesagt, geht es jemandem um Sein und Wohlergehen eines von ihm unterschiedenen Jemand um dessentwillen. D. h. nur da, wo ein Anderer ist als der gütig Liebende, kann dieser als gütig Liebender da sein. Nur da, wo der Mensch unaufhebbar ein Selbst ist, zeigt sich die Güte des Unbedingten, das ihm unbedingt einen Platz einräumt. 161 Allein sie Nächste ist (auf dem Weg zu einem Menschheitsuniversalismus bietet jede Öffnung auf die nächst größere Einheit immer auch die Möglichkeit zu einem neuen Inklusivismus) und b) was ihm förderlich ist. 160 »Le Dieu qui a passé n’est pas le modèle dont le visage serait l’image. Être à l’image de Dieu, ne signifie pas être l’icône de Dieu, mais se trouver dans sa trace. Le Dieu révélé de notre spiritualité judéo-chrétienne conserve tout l’infini de son absence qui est dans l’ordre personnel même« (SpA, 235/202). 161 Wenn sie dem Nihilismus entgehen kann, lässt »die Entdeckung der radikalen Unbezüglichkeit [im Sinne von »Nichtrelativität« {ebd.} Anm. FH] des endlichen Subjektes […] dieses Subjekt in einem Glanz erscheinen, der nicht sein eigener ist. Die Unmöglichkeit, es zu töten, die ja gar keine physische Unfähigkeit ist, entspringt der Einsicht, dass es das Unbedingte ist, nicht in der Weise der physischen Präsenz, sondern in der Weise der Repräsentation des Bildes. Ein Bild ist etwas, das nicht selbst ist, was es zeigt. Es ist ein physisches Objekt. Bild ist es nicht durch eine physische
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Güte und Bild
ist jene Wirklichkeit, die sich nicht in der Aufhebung des Anderen behaupten muss, sondern in seiner Ponierung da ist. 162 Und dann heißt, einen Menschen als Bild zu sehen, sein Selbst als absolut poniert durch die absolute Güte zu sehen und ihr zu entsprechen. Denn diese Ponierung begegnet im Modus des Anrufes, der mir den Anderen als meiner Willkür entzogen und, mehr noch, als in meine Hut gestellt präsentiert. Was aber für die geliebte Person gilt, gilt nicht weniger für die liebende: Auch hier muss das Absolute seine Absolutheit nicht in der Aufhebung der nicht-absoluten Person beweisen, vielmehr zeigt es sich gerade in der nicht dementierten Selbsthaftigkeit des Liebenden. Denn es ist die Unendlichkeit der Güte, dass sie nicht bloß etwas gönnt (das auch), sondern sich. Sie aber kann man nicht anders haben als im Gütig-sein, und gütig kann man nur sein im Selbst-gütigsein. 163 Gerade darin aber zeigt sich die Güte der Güte, dass sie sich, Existenz, sondern dadurch, dass es zeigt. Mit dem Bild des Unbedingten verhält es sich noch einmal anders. Bild des Unbedingten ist etwas gerade dadurch, dass es in einem emphatischen Sinne ist, durch seine Substantialität, die es dem Prozess des Werdens enthebt und seine ›Geltung‹ mit seiner Genesis inkommensurabel macht. Aber gerade dies ist nichts objektiv Antreffbares. Sein ist nicht Gegenständlichkeit. Sein ist Substantialität, Selbstsein, das aller Gegenständlichkeit zugrundeliegt. Der paradigmatische Fall solcher Substantialität aber ist Subjektivität. Für sie gilt, was Aristoteles von der Substanz sagt: Von ihr wird alles ausgesagt, sie selbst aber wird von nichts anderem ausgesagt. Sie ist nicht Eigenschaft eines Seienden, sondern ist schlechthin. Und gerade in diesem schlechthinnigen Sein ist sie Bild, sie ist das Absolute in der Weise des Bildes« (Spaemann 1989, 127 f.). 162 »Die Hegelische Philosophie hat die Rückgabe an Gott als Tod und den Tod […] als nothwendig gefasst. Allein es ist nicht einzusehen, warum jene Rückgabe an Gott Tod sein soll, da die Creatur ja im Momente ihrer Aufgabe und Rückgabe an Gott von ihm ponirt, bejaht oder gespeiset wird. […] wir haben glücklicherweise einen Gott, der nicht […], wie Saturn, vom Frasse seiner Kinder lebt« (Baader 1851 ff., SW, VIII, 103). Franz v. Baader, dieser »große Unzeitgemäße« (Koslowski 2001, 277), sollte ursprünglich ebenfalls in dieser Arbeit ausgewertet werden, leider fiel dies mittwegs den nötigen Beschränkungen des Projekts zum Opfer. Als »Professor der Liebe« (XV, 627. – »nur die Liebe hat wie das Leben, das sie selber ist, kein Warum, nichts, was früher als sie wäre, weswegen sie allein absoluter Zweck […] ist, dem alles andere sich als Mittel fügen muß« [X, 345]), der zugleich in seiner Spekulativen Dogmatik (SW, VIII, IX) den Beweis vorlegen wollte, dass sich die gesamte Philosophie aus dem einen Obersatz, dass der Mensch Bild Gottes sei, entwickeln lasse, hätte er Entscheidendes zu unserer Frage zu sagen. – Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. 163 Zu Recht hat Pieper hier in aller Schärfe gegen Nygren protestiert: »Wenn irgendwo und irgendwann, dann ist der Mensch gerade im Akt der liebenden Zuwendung nicht ›Kanal‹ und ›Leitungsrohr‹, sondern wahrhaft Subjekt und Person. Und auch in der ›übernatürlichen‹ Liebe, hieße sie nun caritas oder agape, und mag ihre Kraft sich
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Von der Liebe als Güte zur Person als Bild
ihr Wesen, einem anderen gönnt (nicht wie immer wieder behauptet, weil Gott selbst in dieser Welt nicht für die Seinen sorgen könnte, 164 sondern weil er seinen Freunden gute Taten überlassen will, die er genauso gut, vielmehr besser, selbst ausführen könnte – was schon Aristoteles als Freundesdienst gesehen hat 165). Hier im Liebenden wie dort im Geliebten zeigt gerade die Selbstheit der endlichen Person die unendliche Güte, die nur gegenwärtig sein kann in einer unwiderruflich gegönnten Selbsthaftigkeit, die nicht die ihre ist, welches unwiderrufliche Gönnen ebenso wenig notwendig ist wie ihr Erscheinen, sondern eben Güte. 166 Die Güte ist nur dort unbedingt gefordert und, wenn auch nur schattenhaft in ihrer menschlichen Verwirklichung, so doch zumindest in dieser Forderung gegeben, wo der Mensch Bild ist, denn der Mensch verlangt unbedingten Respekt, ohne selbst die Deckung dieser Forderung zu sein. Nur von anderswoher ist er, der vielfach Bedingte, unbedingt in seinem Sein-Sollen. Dieser Glanz auf seinem Antlitz, der uns leuchtet als »Du darfst mich nicht töten« 167, scheint von anderswoher – und jeder Versuch, das Antlitz selbst zur Lichtquelle zu machen, führt unabdingbar zu seinem Versiegen. Denn kein Mensch kann rechtfertigen, was ihm doch gebührt: Preislosigkeit,
auch speisen aus der ›Gnade‹ – auch da sind die Liebenden wir selbst« (Pieper 1996, 362 – vgl. gegen Nygren 1955 [1930], 577 ff.). 164 Was er nicht kann, ist: Machen, dass jemand hilft. Dagegen gibt es keinen zwingenden philosophischen Grund dafür, dass er selbst nicht sollte helfen können (und wenn Theologen solches behaupten, klingt es mit Blick auf die Offenbarungstexte noch verstiegener als bei den Philosophen). Nur ist dieses Selbst-helfen – durch Wunder und Eingriff – eben nicht mehr als die Hilfe durch den sichtbaren Nächsten, sondern weniger: Notbehelf. Das, worum es Ihm geht, Mitliebende – condiligentes (Duns Scotus. Opus Oxoniense III d. 32 q. 1 n. 6.), ist dadurch nicht erreicht, und vielleicht geschieht es deshalb derart selten (so dass eine Koalition aus »Rationalisten« und der Allmacht abholden Theologen es einfachhin für unmöglich erklären können). 165 Vgl. EN 1169a32–34. 166 Womit noch einmal nach dem Eros gefragt sei: Wenn er die Grundgestalt geschöpflicher Liebe wäre, dann wäre der Mensch schlicht nicht in der Lage, in seiner Liebe die Liebe Gottes zu versichtbaren. Zu behaupten, dass der Mensch wie Gott lieben könne (oder zumindest solle), aber bedeutet keineswegs, wie Wald meint, die einfache Univozität menschlicher und göttlicher Liebe (vgl. 2012, 110 f.). »Nicht zwischen Eros und Agape, sondern innerhalb letzterer haben wir die Konturlinie des Geschöpfs gegenüber dem Schöpfer zu suchen: von erweckter, hörend-vertrauender Liebe zu jener, welche – ihr sich zu- und anvertrauend – sie hervorruft« (Splett 1990, 111). 167 Vgl. EU 68/83.
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Güte und Bild
Unbezahlbarkeit, also Würde. Wer Würde will, braucht Bild. Dieses aber nun so, dass es nicht gleich wieder negiert, was es doch ermöglichen soll, sondern so, dass gerade sein Selbstsein, sein Nicht-dasAbgebildete-Sein das Sich-Abbilden des Abgebildeten ist. – Dies führt nun geraden Wegs zum nächsten Kapitel, der systematischen Auseinandersetzung mit dem Bildbegriff unter den Vorzeichen der Güte.
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7 Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
7.1 Fragestellung und definitorische Präliminarien Aufgabe dieser Arbeit war es, Person so zu denken, dass sie selbst geliebt werden und selbst lieben darf, kann und soll. »Selbst« will heißen: als unaufhebbar eigene, unteilbare, unvermischbare und freie Wirklichkeit. Dafür wurde in lernendem und kritischem Ausgang von großen Denkern der westlichen Philosophie ein Liebesbegriff vertreten, der die Güte als die menschliche Grundtugend behauptet, weil sie dieses Selbst als ein solches bejaht und ihm um seinetwillen als einem letzten Zweck begegnet. Zugleich haben wir versucht zu zeigen, dass und wie der Bildbegriff in einem zugleich ermöglichenden wie gefährdenden Zusammenhang mit einer solchen Konzeption steht. Weil sich mehr und anderes im Menschen zeigt, als er selbst ist, kann gerade im Licht dieses Überschusses seine Endlichkeit unendlichen Wert erhalten. Genauso aber kann er als Weg und Durchgang zum Unbedingten gedacht und damit zum bloßen Mittel gemacht werden. Vor diesem Hintergrund wendet sich dieses Kapitel nun, wie das vorige der Liebe, historisch belehrt, systematisch dem Bildbegriff zu. Seine Frage lautet: Welcher Bildbegriff ist von Nöten, damit der Mensch Person und Bild sein kann? Ja, wenn beide Bestimmungen fundamental zum Menschen gehören sollten, so dass die eine nicht ohne die andere zu denken wäre: welcher Bildbegriff ist dann so, dass er notwendig mit unaufhebbar sein sollender Personalität verknüpft ist, und was an ›unaufhebbar sein sollender Personalität‹ zwingt uns, diese als Bild zu denken? Daneben soll uns ein Thema von nur scheinbar ungleich geringerem, weil bloß wissenschaftsinternem, Rang beschäftigen: Kann die Frage nach dem Bild »Person« Entscheidendes zur Diskussion der »Bildwissenschaft« beitragen (jener Hinwendung der Geisteswissenschaften zum Bild, die in den 90er Jahren in voneinander unabhängi280 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Fragestellung und definitorische Präliminarien
gen Untersuchungen als »pictorial turn« [W. J. T. Mitchell 1992 1] bzw. »iconic turn« [G. Boehm 1994 2] diagnostiziert wurde, und seither dem Bild größte Aufmerksamkeit beschert)? 3 Ihr zugrunde liegt die entscheidende Frage, ob es vielleicht allein die als Bild gedachte Person ist, in der das Bild in seine äußersten Möglichkeiten und in das vermittelnde Zentrum seiner Spannungsmomente kommt. Zwar hat der iconic turn zu einem Aufblühen der Reflexionen über das Bild geführt, den Bildbegriff aber zugleich je fachspezifisch Vgl. Mitchell 2008, 101–135; ders. 2009, 320–322. Sachs-Hombach zieht es vor, vom »visualistic turn« zu sprechen, »denn der besondere Gegenstand des neuen Paradigmas sollte nicht (nur) in der vielbeschworenen Bilderflut gesehen werden, sondern in der Annahme einer (wie auch immer konkret zu formulierenden) Unhintergehbarkeit des Bildhaften« (Sachs-Hombach 2013, 10), und hält mit guten Gründen diese Hinwendung zur Theorie des Bildhaften nicht für eine Ablösung des linguistic turn, sondern diesen wie jene für Elemente eines »semiotic turn«: »Der ›visualistic turn‹ sollte nicht als Alternative zum linguistic turn, sondern als seine Ergänzung um den nicht-wortsprachlichen Zeichengebrauch verstanden werden. Der ›visualistic turn‹ ist demnach ein Unternehmen, mit dem das unvollendete Projekt des ›semiotic turn‹ um die Untersuchung der sensuellen Formen der Welterschließung vervollständigt wird« (98). 2 Boehm 1994b, 13–17. 3 Sieht man von den trivialen Gründen ab (unter ihnen: dass die Bildwissenschaft natürlich auch von der spätestens seit Kant in den Geisteswissenschaften grassierenden Sucht nach immer schneller eintretenden ›kopernikanischen Wenden‹ sowie von den selbstreferentiellen Kumulationen von Forschungsgeldern auf Themen, die durch jede Förderung immer noch förderungswürdiger werden, in erheblichem Maß profitiert), ist die sachliche Grundlage für das Entstehen dieses breiten Interesses wohl vor allem darin zu sehen, dass durch die beständig wachsende Möglichkeit und Präsenz visueller und virtueller Medien das Thema Bildlichkeit das menschliche Leben so prägt wie noch nie, und damit die Frage nach dem Wesen der Bilder und ihrer Möglichkeit zur Erschließung, aber auch Verdeckung von Wirklichkeit immer drängender wird (vgl. zu den Gründen des Aufstiegs der Wissenschaft des Bildes, welches bislang »trotz zweieinhalbtausend Jahren europäischer Wissenschaft […] seltsam marginalisiert« war: Boehm 2007, 34 ff.). – Gute Einführungen in die zeitgenössische Bildtheorie/-wissenschaft sind: Pichler/Ubl 2014; Frank/Lange 2010. Gemessen an der Flut der Publikationen ist die Besinnung auf die Philosophiegeschichte des Bildbegriffes bemerkenswert unterrepräsentiert. Diesem Desiderat widmen sich mit äußerst hilfreichen Beiträgen die beiden Sammelbände Grave/Schubbach (Hg.) 2010 und Neuber/ Veressov (Hg.) 2010. Zusammenfassende Einblicke in die phänomenologische Bildphilosophie bietet Kapust 2009, in die analytische Steinbrenner 2009. Aus der Flut von Sammelbänden seien herausgehoben Boehm 1994 (Hg.) mit einer Fülle moderner Klassiker zum Thema (darunter Merleau-Ponty, Jacques Lacan; Hans Jonas; Bernhard Waldenfels und andere); sowie Sachs-Hombach 2005 (Hg.) mit Einführungen in alle denkbaren Disziplinen (23 an der Zahl – von Kognitionswissenschaft über Rhetorik und Semiotik zu Rechtwissenschaft und Werbungsforschung). 1
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
in seinem Umfang stark beschnitten. Er hat dabei auch in der philosophischen Debatte jene Tragweite verloren, die er bei den vorgestellten Philosophen und vielen anderen Protagonisten der DenkGeschichte hatte. Auch wenn wir uns von einer solchen Regionalisierung des Bildes in dieser Arbeit scharf unterscheiden, insofern hier Bildhaftigkeit als das Signum aller endlichen Wirklichkeit behauptet wird, in deren Mitte der Mensch als einziger unmittelbar sichtbarer Betrachter des Bildes als Bild 4 in eminenter Weise selbst Bild ist, wird sich doch im Folgenden zeigen, dass auch ein solches nicht-regionalisiertes Bild-Denken von den begrifflichen Erträgen der Bildwissenschaft in hohem Maße profitieren kann. Denn es liegt nun ein in der Beschäftigung mit Bildern im engen Sinne entwickeltes Vokabularium bereit, das Phänomene und Probleme auf Begriffe bringt, deren Linien sich ausziehen lassen in einen ontologisch-anthropologischen Bereich, in dem sich, wie ich behaupten möchte, allererst die eigentlichste, weil menschliche Existenz in ihrer Essenz betreffende Relevanz der verschiedenen Aspekte von Bildlichkeit zeigt, aber zugleich Möglichkeiten der Vermittlung dieser Aspekte erscheinen, die tatsächlich nahelegen, dass das, was auf der Ebene dinglicher oder mentaler Bildlichkeit aporetisch erscheint, erst im lebendigen Bild »Mensch« seine Lösung findet und ihn damit als das Bild im eminenten Sinne ausweist. Vorab eine terminologische Klärung. Es gilt dreierlei zu unterscheiden: Das Bildvehikel (auch: »Bildding« oder »Bildträger«) 5 ist diejenige sichtbare (im weiteren Sinne: wahrnehmbare) Wirklichkeit, in der sich das Bildobjekt (auch: »Bildinhalt«) zeigt. Der Bildreferent wiederum ist dasjenige, was sich im Bildobjekt zeigt bzw. auf was das Bildobjekt verweist 6 (wobei die Notwendigkeit des Referenten für die »Das Bild ist, was es ist, nur aufgrund eines Verhältnisses, das es zu uns, also zu es in seinem Bildsein wahrnehmenden Wesen hat; es ist daseinsrelativ auf uns« (Schweidler 2007, 27; vgl. Jonas 1994, 114 f.). Vgl. Welz 2016, 46 ff. 5 Pichler/Ubl (22 f.) weisen darauf hin, dass die Rede vom Bildträger (im Anschluss an Husserl 1912, 1–108) deshalb problematisch ist, weil in der Kunstwissenschaft der ›Bildträger‹ »jenes Material [bezeichnet], auf das die Malschicht eines Gemäldes oder die Markierungen einer Graphik aufgetragen wurden und das diesen Markierungen oder jener Malschicht Halt gibt« (22 f.). Auch wenn der kunstwissenschaftliche »Bildträger« für diese Arbeit keine bedeutungsvolle Rolle spielt, wollen wir hier im Sinne einer größeren Klarheit in der Bildtheorie diese terminologische Entscheidung weitgehend mitvollziehen. 6 Jonas: »Das Substratum [= Bildreferent] kann für sich betrachtet werden, das Bild für sich [= Bildobjekt], der Bildgegenstand [= Bildding] für sich: das Bild oder die 4
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Fragestellung und definitorische Präliminarien
Bildhaftigkeit eines Bildes z. B. im Hinblick auf abstrakte Kunstformen diskutabel ist) 7. Als Beispiel diene ein Porträtgemälde: Bildvehikel ist die gerahmte, bemalte Leinwand; Bildobjekt die darin anschaubare Person; Referent die Person als nicht-gemalte, also als sie selbst. Wenn hier einfachhin von Bild gesprochen wird, ist die Einheit von Bildvehikel und Bildobjekt gemeint. Es versteht sich, dass der Bildbegriff, der hier vertreten wird, ein weiter ist. 8 Klaus Sachs-Hombach unterscheidet »grob zwischen speziellen metaphysischen, linguistischen, ethischen, kognitionswissenschaftlichen, informations-technischen und ästhetischen Bildbegriffen […]. Die entsprechenden Phänomene, auf die sich diese Begriffe beziehen, könnten als ontische, sprachliche, ethisch-normative, mentale, informatische und materielle Bilder bezeichnet werden.« 9 Diese Fülle der Bildbegriffe birgt die Gefahr, dass die Bedeutung von »Bild« sich in eine Heterogenität auffächert, in der es allenfalls noch Familienähnlichkeiten gibt, aber der harte Kern einer gemeinsamen Bedeutung nicht mehr auszumachen ist. In seinem Bemühen um eine Grundlegung der Bildwissenschaft arbeitet Sachs-Hombach an einer Definition des Begriffes. Dafür ist aus methodischen Gründen zunächst von einem engen Bildbegriff auszugehen, den er an den exterBildähnlichkeit schwebt als eine dritte, ideelle Entität zwischen den beiden anderen, reellen Entitäten und verknüpft sie in der einzigartigen Weise der Repräsentation. Es ist diese zweifache Unterscheidung, oder dreifache Schichtung, die dem Bilde jene nicht-kausale Gegenwart ermöglicht, die es dem Zufall realen Geschehens entrückt« (Jonas 1994, 113). Inwiefern dieses Modell des Kunstbildes auch für das Bild, das der Mensch ist, gilt, wird das Folgende zeigen. – Eine hilfreiche schematische Darstellung der unterschiedlichen Bezeichnungen für die Eckpunkte des semiotischen Dreiecks findet sich in Sachs-Hombach 2013, 80. 7 Vgl. ders., 82 ff. 8 Die Diskussion hierzu ist äußerst reichhaltig. Pichler/Ubl 2014 gegen Theorien, die schon »Skulpturen und Plastiken aus dem Bereich der Bildtheorie implizit oder explizit ausschließen« (mit Verweis auf Imdahl 1994, 319: »Faktisch ist jedes Bild eine Fläche.«): »Statt aus der […] Differenz das Recht abzuleiten, eine ganze Klasse von Bildern aus dem Bereich der Bildtheorie zu verbannen, käme es darauf an, diese Differenz zum Gegenstand bildtheoretischer Untersuchungen zu machen« (32). Dabei gehen sie auch über eine Fixierung auf das Visuelle hinaus: »Wie schon Leonardo da Vinci bemerkt hat, kann man nicht nur beim Betrachten von fleckigen Mauern, sondern auch beim Hören gewisser Klänge, etwa einem Glockengeläut, etwas davon Verschiedenes erkennen; es gibt eben nicht nur ein Hineinsehen, sondern auch ein Hineinhören« (35; Da Vinci: »du findest in ihrem Schlagen jeden Namen und jedes Wort, das du dir vorstellst« [Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, 385/ Ms. A [Institut de France], 102v.]). 9 Sachs-Hombach 2013, 17.
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
nen, gegenständlichen Bildern festmacht. Ein »Gegenstand [ist] ein Bild im engen Sinne, sofern er (1) flächig, artifiziell sowie relativ dauerhaft ist und (2) visuell-wahrnehmungsnah rezipiert wird«. 10 Rezeption ist dabei als ein Verstehen oder Interpretieren gemeint: »Ein Gegenstand wird wahrnehmungsnah rezipiert, wenn er (A) auf Grund seiner intrinsischen Struktur und (B) relativ zu unserer Wahrnehmungskompetenz interpretiert wird«. 11 Wenn man von (1) dispensiert, hat man den Bildbegriff im weiteren Sinne: »Als solche Bilder im weiten Sinne können auch Skulpturen oder Wolkenbilder gelten. Die wesentliche Bedingung, die sie aber mit den Phänomenen des Kernbereichs teilen müssen, ist die wahrnehmungsnahe Rezeption.« 12 Dabei will Sachs-Hombach Wahrnehmung im Sinne von visueller Wahrnehmung verstehen. Sein Begriff ist damit schon weiter als ein auch oft vertretener rein ästhetischer Bildbegriff: »Es verdankt sich der Kunsttheorie der frühen Neuzeit und dem ästhetischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhundert, dass das als Kunstwerk verstandene Gemälde zum paradigmatischen Fall des Bildes aufrücken konnte«. 13 Dagegen plädieren Grave/Schubbach dafür, dass die nicht ästhetischen »operativen Einsätze des Bildbegriffs« in der Philosophiegeschichte »nicht vorschnell aus der Diskussion der Bildfrage ausgeschlossen werden. Eine solche Grenzziehung setzt nämlich einen durch die Ästhetik geprägten Bildund Kunstbegriff voraus, der als solcher zuallererst zur Diskussion zu stellen wäre. Mit ihr verbindet sich zudem die Gefahr, Aspekte von Bildlichkeit auszublenden, die unter ästhetischen Prämissen nicht fassbar oder allenfalls von geringem Interesse sind«. 14 Wie immer die Diskussionslinien im Einzelnen verlaufen, eines fällt deutlich auf: Bilder sind in aller Regel bewusst von Menschen fabriziert oder in Naturobjekte hineingesehen. Bilder, die von Natur aus Bilder sind, scheint es nicht zu geben. Damit hat das Bild, sosehr es in den letzten drei Jahrzehnten im Fokus eines stattlichen Teils der Philosophie stand, jene ontologische Reichweite verloren, der wir bei den untersuchten Denkern begegnet waren. Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, als dass es Bilder, die unabhängig von mensch-
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Sachs-Hombach 2006, 121; vgl. ders. 2013, 74 ff. Sachs-Hombach 2006, 122. Ebd. Grave/Schubbach 2010, 154. Ebd.
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Stellvertretung oder Erscheinung?
lichem Wirken bzw. menschlichen Rezeptionsgewilltheiten per se Bilder sind, natürlich nur dann geben kann, wenn in ihnen jemand etwas zeigt, der der Kommunikation fähig ist und doch kein Mensch. Die Beschäftigung mit diesem Gedanken aber würde ein affirmatives Reden über Transzendenz bedeuten, was in großen Teilen der Philosophie zu ihrem Schaden so überaus rar geworden ist. 15
7.2 Stellvertretung oder Erscheinung? Mit Platon vollzieht sich ein Übergang des Bildverständnisses von der magisch-kultischen Gegenwart, in der Bild und Abgebildetes zu einem verschmolzen sind, zur Ähnlichkeit von Original und differentem Abbild. 16 Eben dort wollen wir einsetzen, weil es seither zu dem wohl nächstliegenden Bildverständnis geworden ist. 17 Das eine Kind malt im Kindergarten die Mutter, und das andere Kind sagt: »Schlechtes Bild, sieht ja gar nicht aus wie die.« Ein Bild ist demzufolge desto vollkommener, d. h. desto mehr Bild, je mehr es der Sache ähnelt, die es darstellt. Platon selbst weist daraufhin, dass es hier eine Aporie gibt, denn eine perfekte Darstellung des Kratylos wäre ein zweiter Kratylos. 18 Mehr noch: In Perfektion nachgebildet würde er mit ihm verschmelzen – in der Kopie auch seiner Raumzeitstelle. Damit wäre das Bild kein Bild mehr, sondern selbig mit dem – nun nicht mehr abgebildeten – Original. »Die Vorstellung von einem total mimetischen, ›perfekten‹ Abbild hebt mit dem Begriff des Bildes sich selber auf.« 19 Vgl. Schmidingers Diagnose, dass, obwohl die imago dei auf das Gesamt der Ideengeschichte gesehen »vermutlich zur nachhaltigsten Aussage über den Menschen überhaupt avancierte« (2010, 21), »die Rede vom Menschen als (Ab)Bild Gottes heute kaum mehr vernehmbar ist – dies wiederum nicht erst seit kurzem, sondern wohl schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts« (ebd., 7). – In der Theologie hat es, vorrangig evangelischerseits, in den letzten 10 Jahren eine erfreuliche Wiederaufnahme des Themas im unmittelbaren Gespräch mit der Bildwissenschaft gegeben. Zu nennen sind vor allem Claudia Welz (2011a; 2016), Philipp Stoellger (2014) und Arne Grøn (2007). 16 »Nach der kultisch-magischen Auffassung ist der Bildreferent im Bild zugegen, nach der repräsentationalistischen Auffassung verweist das Bild auf ihn« (SachsHombach 2013, 33). 17 Vgl. Boehm 1994a, 327; Pichler/Ubl 2014, 18 f. 18 Vgl. Cra. 432b–c, sowie hier: 30 ff. 19 Schweidler 2007, 28; vgl. Jonas 1994, 108 f. 15
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
Also gehört wesentlich zum Bild eine nur scheinbar banale formale Bestimmung: Es ist nicht dasjenige, das es darstellt, sondern das »einem Wahren ähnlich gemachte Andere«, 20 dessen Andersheit für seinen Begriff wesentlich ist. Muss zum Zwecke dieser Differenz die Ähnlichkeit irgendwo künstlich unterbrochen werden? Der berühmte bewusst in den Orientteppich eingewobene Fehler, um Allah nicht die Vollkommenheit abspenstig zu machen? Nein, denn es geht nicht um einen zweiten Kratylos, sondern um das Dasein des Kratylos in einer anderen Dimension; um das Bewegte in der unbewegten Haltung des Standbildes; das Dreidimensionale umgelegt auf die zwei Dimensionen des gemalten Bildes; das Auseinanderliegende in der sinngeleiteten Kontinuität des Erzählten und von dort übertragen ins Zugleich des szenischen Bildes; 21 der Abwesende in der Vergegenwärtigung der Beschreibung. Damit aber löst sich neben der Selbstaufhebungstendenz ein zweiter Knoten der Ähnlichkeitstheorie, von dem nun zu sprechen ist: die Vorläufigkeit und sich in Überflüssigkeit vollendende Funktion des Bildes. Aus Schatten zum Licht gelangt, verlieren die Höhlenbewohner jegliches Interesse an den Bildern. Keiner, der bei Verstand wäre, würde freiwillig zurück in die Höhle gehen (ginge es nicht – wir haben es bei Platon gesehen – aus Verpflichtung gegenüber der polis um die Anderen) 22. Abbilder sind immer defizient gegenüber dem Original und als solche nach Möglichkeit gegen dieses einzutauschen. Wer hätte ein Interesse am Passbild des Geliebten, wenn dieser selbst anwesend wäre? 23 Sph. 240a. »Wenn – zum Beispiel – in der Miniatur der Gefangennahme die Figur Jesu eine szenische Konfigurationsfigur ist, dann verhalten sich die so konfigurierten Einzelszenen sämtlich in Gleichzeitigkeit und attributiv zu dieser Figur. Aber auch die das Bild beschreibende Sache muss die Einzelszenen sämtlich und nacheinander benennen. Ein Äquivalent für jene den besonderen Bildsinn stiftende szenische Konfigurationsfigur liefert die Sprache nicht« (Imdahl 1994, 310 – den Hinweis verdanke ich Schweidler 2007, 27). Und doch vollzieht sich das Nachdenken und Reden über Bilder unweigerlich auch sprachlich: »der Name dieser ›Wissenschaft der Bilder‹ [nämlich: »Iconology«] [trägt] die Narben einer antiken Trennung und eines fundamentalen Paradoxons […], die aus ihrer Arbeitsweise nicht getilgt werden können« (Mitchell 2008, 121 f.). 22 Vgl. 55 f. 23 Wobei sich die Frage wohl auch umdrehen ließe, wenn es so etwas wie ein perfektes Abbild gäbe: Wer hätte angesichts dessen noch Interesse an einem Original? Dies die 20 21
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Stellvertretung oder Erscheinung?
Dann könnte man Caspar David Friedrichs Kreidefelsen entsorgen, wenn man nach Rügen zöge, und die Mona Lisa, wenn man die Dame selbst kennenlernen würde? Verständlich, dass Künstler dagegen protestiert haben. Schon in der Abbildung von Sichtbarem geht es um anderes als Kopie, es geht um das Festhalten seines Erscheinens in der Je-Einmaligkeit der Umstände, aber v. a. in der Einmaligkeit des von der Sache sich ergreifen lassenden, schauenden und bildenden Blicks des individuellen Subjekts. 24 Was nach einer ästhetischen Petitesse klingt, einer Sorge, die sich Künstler machen, die aber sonst wenig mit dem Menschen zu tun hat, weist vielmehr auf jene anthropologische Grundfrage, auf die wir in dieser Arbeit Antwort suchen: Als Abbild des Absoluten ist der Mensch Platzhalter – einzutauschen gegen das Original, sobald dieses habhaft wird. Gegen das Schöne, gegen Gott. Die Rede vom Abbild wäre dann gegen seine Würde statt für sie zu sein; bzw. wollte man an der Würde festhalten, dann wäre sein Bildsein eine KonstituDiagnose Enno Rudolphs: »Das Bild ist zwar mehr denn je abhängig vom Original, das es bloß vermittelt, aber es ist mehr denn je in der Lage, die Abwesenheit des Originals zu kompensieren, obwohl es dieses nur vermittelt. ›Wir schalten jetzt direkt zu …‹ : die folgenden Bilder ›sind‹ die Welt – in der Wohnstube. Die Ambivalenz, dass für jedes Bild schon semantisch seine Defizienz mitgesagt und mitgegeben ist, dass es, wie getreu die Wiedergabe auch immer sein mag, immer ›nur‹ ein Bild bleibt, wird nicht erlebt. Im Gegenteil: das Bild vertritt nicht nur auf authentische Weise – es verdrängt es wie sein Über-Ich« (Rudolph 2012, 9). »[…] was wird aus dem Original, wenn die Kopie aufhört, eine Kopie zu sein? […] Was wird – in gleicher Weise – aus dem […] Zeichen, wenn der Referent aufhört, Referent zu sein? […] Das Zeichen, welches Zeichen zu sein aufhört, wird zum Ding unter Dingen« (Baudrillard 2006, 60). 24 »Die einzige wahre Reise, der einzige Jungbrunnen wäre für uns, wenn wir nicht neue Landschaften aufsuchten, sondern andere Augen hätten, die Welt mit den Augen eines anderen, von hundert anderen betrachten, die hundert verschiedenen Welten sehen könnten, die jeder einzelne sieht, die jeder von ihnen ist; das aber vermögen wir mit einem Elstir, mit einem Vinteuil und ihresgleichen, wir fliegen dann wirklich von Stern zu Stern« (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. V: Die Gefangene, 366 f.). »Durch die Kunst nur vermögen wir aus uns herauszutreten und uns bewußt zu werden, wie ein anderer das Universum sieht, das für ihn nicht das gleiche ist wie für uns und dessen Landschaften uns sonst ebenso unbekannt geblieben wären wie die, die es möglicherweise auf dem Mond gibt. Dank der Kunst sehen wir nicht nur eine einzige Welt, nämlich die unsere, sondern eine Vielzahl von Welten; so viele wahre Künstler es gibt, so viele Welten stehen uns offen: eine von der anderen stärker verschieden als jene, die im Universum kreisen, senden sie uns Jahrhunderte noch, nachdem der Fokus erloschen ist, von dem es ausging, ob er nun Rembrandt oder Vermeer hieß, ihr spezifisches Licht« (ders., Bd. VII: Die wiedergefundene Zeit, 301 f.).
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
ente, die nichts mit ihr zu tun hätte. Es wäre eine Funktion, ein Mittel-Sein, dem einschränkend von anderswoher zur Seite träte, dass er nie bloß als solches benutzt werden dürfe. Und damit wäre es keine Kategorie von gleichem Rang wie die Würde; der Mensch wäre so Bild, wie berufstätig – nützlicher Weise, aber aufgrund seiner Würde nie auf diesen Nutzen zu reduzieren. So hatten wir bei Platon gesehen, der die Selbstzweckformel noch nicht als Grenze des MittelDenkens kannte, 25 dass just der Wegfall der Bildfunktion Raum für das Miteinander schafft. »Der Liebe wegen« werden die zur Vollkommenheit gelangten, einander Liebenden zur gleichen Zeit in den Ideenhimmel entrückt. 26 Das Bild ist erst dort in die äußerste seiner Möglichkeiten gekommen, 27 wo es nicht Kopie, sondern Dasein einer – anders nicht ersichtlichen – Wirklichkeit ist. In seiner Spitze ist es nicht Abbild, sondern Erscheinung. Das Abbild-Denken erweist sich im Letzten als bildfeindlich, aber zugleich als zerstörerisch für die Würde des Men25 Noch Augustinus hatte keine Probleme, vom uti zu sprechen. Vgl. oben 273, Anm. 152. 26 Vgl. 48. – Was so dialogisch-anthropologischen Sprengstoff hat, impliziert zudem – dieser Exkurs sei erlaubt – ein theologisch-christologisches Großproblem: »Zeige uns den Vater, das genügt« (Joh 14,8). – Wird Jesus als Abbild gedacht, dann ist auch er vorläufig. Dem Vater ähnlich, aber ablösbar, wenn wir diesen von Angesicht zu Angesicht schauen. Und es gibt auch im christlichen Bereich mystische Wege, die an diesem Antlitz vorbei in die Tiefen Gottes zielen. Wie immer man das nennt, was dann ansichtig wird – Licht, Dunkelheit (aufgrund von Überhelle), Nichts, Alles –, es ist gestaltlose Einheit, in der sich personales Gegenüber- und Mitsein in All-einheit/ Allein-heit auflöst. Christus wäre dann eine Propädeutik. Anders, wenn er nicht als Abbild des Vaters, sondern als dessen vollkommenes Bild gedacht wird; dann gilt radikal »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen« (Joh 14,9). Das hieße zugleich, dass es kein Dahinter gibt, das seinerseits noch einmal anders, weil ursprünglicher, sichtbar wäre, und es also auch nicht um die »Ebenbildlichkeit« geht, die die meisten deutschen Bibelübersetzungen (in der Einheitsübersetzung heißt es seit der Überarbeitung 2016 endlich »Bild«) entgegen jeder Logik anbieten: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung« (Kol 1,15). Ein Unsichtbarer kann kein Ebenbild haben, wohl aber ein Bild. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Gottes, Offenbarung und Geheimnis, negative und positive Theologie finden erst im Zugleich dessen zusammen, »der in unzugänglichem Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch je zu sehen vermag« (1 Tim 6,16) und der doch in seinem Sohn ansichtig geworden ist. Vgl. Welz 2016, 255 f. 27 »Die historisch erfolgreichste und die verbreitetste Bildpraxis ist zugleich auch die schwächste: sie nimmt das Bild als Abbild in Gebrauch. […] Bilder erschöpfen sich nicht darin, das Reale visuell zu substituieren, sie bringen ein Zeigen eigenen Rechts zustande« (Boehm 2007, 43).
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Offenbarung und Geheimnis
schen. Das Abbild kann niemals proton philon sein, weil es aus sich nur Surrogat ist für eine Wirklichkeit, die prinzipiell an sich gesehen werden könnte (sonst könnte man sie nicht abbilden), und als solche, wenn habhaft, immer dem Abbild vorzuziehen ist. Anders mit der Erscheinung: Sie ist unhintergehbar eine vollgültige Sichtbarkeit des in ihr Erscheinenden. »Die Herrlichkeit Gottes ist der lebendige Mensch«. 28 – Gleichzeitig wissen wir freilich von Fichte, dass solches Erscheinungsdenken den Menschen ebenfalls und erst recht als Selbst zum Verschwinden bringen kann, wenn es nicht gelingt, Medialität und Selbstheit zu vermitteln. Dazu erst im übernächsten Abschnitt. Jetzt zu der Frage, ob das Bild die sich in ihm zeigende Wirklichkeit restlos entblößt, ob also das Bild das Ende des Geheimnisses ist.
7.3 Offenbarung und Geheimnis Wir hatten gesagt: Solange das Bild als ähnliches Abbild gedacht wird, ist es noch nicht in die Tiefe seiner Möglichkeit gekommen. 29 Es geht vielmehr um die Erscheinung einer Wirklichkeit in einer ihr anderen Dimension, und dies wird vollends dann klar, wenn wir nicht mehr über die Transposition eines sinnlich Gegebenen in eine andere sinnliche Daseinsweise reden, sondern von Erscheinung des Unsichtbaren im Sichtbaren. So schon in der Kunst: Kunst macht sichtbar – das ansonsten Unsichtbare. 30 Das Verhältnis, das dann herrscht, ist nicht mehr eines der Ähnlichkeit, sondern der Entsprechung. 31 Das Bild kopiert nicht eine Stimmung, sondern macht sie sichtbar. Die Musik drückt aus: in ihrem Feld, mit ihren Mitteln. Das Gedicht ähnelt nicht dem Gedichteten, sondern lässt es da sein.
»Gloria enim Dei vivens homo: vita autem hominis visio Dei« (Irenäus, Adversus Haereses IV, 20,7). 29 Vgl. Boehm 1994b, 16 f. 30 Auch auf der Ebene der Versichtbarung von bereits Sichtbarem ist es Kunst – statt leere Wiederholung oder bloßes Gebrauchszeichen – genau dann, wenn ein vorher Ungesehenes sichtbar wird. 31 Es sei noch einmal hingewiesen auf Spletts Beispiel des Verhältnisses eines Graphen zu der von ihm abgebildeten Formel: Er sieht nicht aus wie die Formel und versichtbart sie doch exakt – in jedem Punkt, der seinerseits wieder nicht der ganze Graph ist, aber auch nicht ein Bruchstück, sondern exakt das, was der Graph an dieser Stelle ist (vgl. Splett 2005, 119 f.). 28
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
In diesem umfassenden Symbolgeschehen zeigt sich diejenige Wirklichkeit, die stets den Ausdruck vom Unsichtbaren ins Sichtbare vermittelt, als das sichtbare Bild schlechthin: der Leib. Wie könnte er der Seele ähneln, ist diese doch gerade keine res extensa? 32 Und andererseits, was wüssten wir von ihr ohne den Leib? Was immer an Geist in der Welt sichtbar geworden ist, wurde vermittelt durch einen Leib. Und jede innerweltliche Beziehung zwischen Subjekten vollzieht sich leiblich. Der Leib ist das dem Anderen sichtbare, sich ihm offenbarende und/oder verbergende, ihm zugängliche und ihm gegenüber tätige Ich. Denn: »Worauf man nicht zeigen kann, ist […] mitnichten etwas, was sich nicht zeigen kann.« 33 – Unser Verhältnis zum Leib des Anderen vollzieht sich in jener lebendigen Spannung von Dasein von Sache und Nicht-die-Sache, von Entbergung und Bewahrung, die den ewigen Pendelschwung zwischen Annahme der Sache im Bild und Wissen um ihren Entzug ermöglicht. Die von diesem Pendel erreichbaren Extreme sind Ikonoklastik und Idolatrie. Erstere setzt das Geheimnis absolut und zerstört seine Bilder, letztere setzt die Gegenwart im Bild absolut, worüber ihm das Geheimnis, ja, jeglicher Entzug des Abgebildeten verlorengeht und das Bild zum Götzen wird. So kann über der Faszination für den Leib der Person ihr unsichtbares Selbst in Vergessenheit geraten. Es herrscht dann eine Absolutsetzung des Bildes, die sich entweder als quasi sakrale Idolatrie vollziehen kann, indem die Transzendenz ganz in die Immanenz gezogen wird: Vergötzung der Schönheit, der Erotik, der Athletik, der Körperbeherrschung, der Leistung. Oder sie vollzieht sich profan, indem das factum brutum und sonst nichts Gegenstand des Hinblickens wird: Instabile Fett-Eiweiß-Verbindung, der Geist als Computer, human ressource, Affe in der Hose, Verbraucher, Sex-Dienstleistung, Arbeitskraft. Oder: Aus dem Rückstoß, den der Leib – denn er ist nicht bloß Medium, sondern auch Obhut der Person 34 – für denjenigen bildet, »[…] sie ist der Inbegriff der Unsichtbarkeit des Menschen. Daher ist es auch so vergeblich, sie ›sehen‹ zu wollen – und so lustig, wenn man meint, sie sei nicht, weil sie nicht zu sehen sei« (Stoellger 2014, 150). Wenn hier Seele gesagt wird, dann ist damit nicht der terminus technicus der Scholastik gemeint, sondern ein Begriff gewählt, der die Einheit von Bewusstheit, Ratio, Individualität, Freiheit und Gewissen besser anklingen lässt als alternative Begriffe wie »Geist«, »Vernunft« oder »Subjekt«. Gemeint ist immer: ein Selbst, ein Jemand. 33 Stoellger 2014, 152. 34 »Es gibt auch eine Gnade der Unsichtbarkeit – gegenüber dem Gesetz der Sicht32
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Offenbarung und Geheimnis
der sich einer Person bemächtigen will, aus dem, was immer verschwiegen bleibt, aus der grundsätzlichen Möglichkeit des Betruges erwächst das Misstrauen in die Fähigkeit des Bildes. Es wird zum Schleier, hinter dem sich die Wahrheit verbirgt. »Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.« 35 Auch hier in profanen oder sakralen Spielarten: Sakral als die unerreichbare Geliebte, die tragisch ersehnte Einheit; der Leib ein Gefängnis der Seele. Oder profan: Was immer das Bild zeigt, es ist doch nur Schein und Trug eines dahinter liegenden seinerseits Nichtigen. Stattdessen hieße ein Leben in der schwingenden Balance des Pendels, in der Diastole und Systole des Bildlebens, in der »Fähigkeit, etwas zur gleichen Zeit als ›da‹ und als ›nicht da‹ zu sehen« 36 dankbarer Empfang eines Gebens, das – so großzügig und umfassend es auch sein mag – nie Verausgabung sein kann. 37 Denn, wie dem Wasser die Quelle, liegt jeder Gabe zuvor das Geben des Gebers, und so jeder Erscheinung das Erscheinen des Erscheinenden. Der Erscheinende aber kann nur erscheinen in Erscheinung; so wie sich der Gebende nur geben kann in der Gabe, ohne doch je radikal identisch mit der Gabe zu sein – sonst würde das Subjekt zum Objekt. 38 Die Balance glückenden Bildgeschehens liegt im dankbaren Empfang eines nie erschöpften Gebens, eines Geheimnisses, das sich offenbar macht und darin doch nie preisgibt. Freiheit (denn nur in Freiheit ist das Geben ein Geben anstatt eines Über- oder Ausfließens) erscheint, wie sie sich zeigt. Weil dieses Sich-zeigen jedem Gebarkeit und der bedrängenden Sichtbarkeitssucht. […] Der Mensch ist glücklicherweise auch unsichtbar. Denn seine ›Oberfläche‹, sein Leibkörper, ist einerseits die Bedingung seiner Sichtbarkeit, andererseits eine Bedingung seiner Unsichtbarkeit« (Stoellger 2014, 149). 35 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in 5 Bd., Bd. I, 313. 36 Mitchell 2008, 27; s. a. Welz 2007. 37 »Das Ikonische und das Idolische am Bild zeigen sich nicht als die Optionen einer Wahl, sondern die Momente einer Bewegung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, der als seiner eigentlichen Freiheit das Zeichensein des Menschen sich verdankt« (Schweidler 2007, 55). 38 »Freiheit kann sich als sie selbst […] nur an greifbarem konkretem Material realisieren, in Worten, Taten, bestimmten Vollzügen, vollzieht aber so nicht bloß diese Vollzüge, sondern an und in ihnen ihre transzendentale Wirklichkeit selbst. Damit ergibt sich aber eine Differenz-Identität von Selbst und Vollzug im Selbstvollzug […]. ›Univozität‹ wäre Ideologie der Magisierung, […] ›Äquivokation‹ wäre die Verzweiflung grundsätzlichen Misstrauens, ›Analogie‹ wird vertrauend […] erfahren im geglückten Bezug – oder doch im Protest gegen dessen Scheitern als das eigentlich Rechte gefordert« (Splett 2005, 123).
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
zeigten zugrundeliegt, ist es nie an sich selbst offenbar. Das An-sich gibt es nur im Modus des gnoseologischen Für-mich und zwar aufgrund seines personalen Für-mich, womit sich erneut die Liebe als älter denn alle Vernunft zeigt: »Die Emphase der Offenheit ist die Verantwortung für den Anderen bis hin zur Stellvertretung – wobei das Für-den-Anderen der Unverborgenheit, des Sich-dem-AnderenZeigens umschlägt in das Für-den-Anderen der Verantwortung«. 39 Ganz kurz mit Baader: »Nur die Liebe spricht.« 40 Wenn Freiheit Freiheit bleiben soll, kann sie sich nicht anders geben als im Bild. 41 Anderenfalls verwandelte sie ihre souveräne Selbsthabe in die totale Entfremdung eines restlos Vorhandenen und besiegelte damit das Ende ihres Sein-für mit dem Übergang in ein An-sich, dem es nicht mehr möglich ist, sich zu geben. Auch deshalb muss ein Denken des freien Selbst zugleich ein Denken des Bildes sein. Der Leib aber als das Bild der Freiheit ist noch nicht das letzte Wort über das Bildwesen Mensch und dadurch auch nicht das letzte Wort über das Bild überhaupt. Denn: Diese Einheit des Menschen – »Que l’emphase de l’ouverture soit la responsabilité pour l’autre jusqu’à la substitution – le pour l’autre du dévoilement, de la monstration à l’autre, virant en pour l’autre de la responsabilité« (Levinas, JS, 265/152). 40 Baader 1851 ff., SW, XII, 416. 41 Dann ist das Bilderverbot nicht, wie bisweilen insinuiert, Gottes Versuch, unsichtbar zu bleiben, sondern das Freihalten der Bühne für sein Sich-Zeigen – im Menschen, wie lange vor dem Christus-Ereignis schon das Alte Testament weiß (vgl. Boehm 1994a, 327 f.; ders. 2007, 57 ff.). Boehm weist dankenswerterweise auf die Spannung beider Pole hin. Schön wäre allerdings, wenn er dann nicht davon spräche, dass am »Anfang des Nachdenkens über Bilder […] ihr Verbot stehe« (2007, 54). Zwischen der Einsetzung des Gottesbildes Mann und Frau (Gen 1,26 f.) und dem Verbot kultischer Gottesbilder (Ex 20,4) liegen nicht bloß 19 Kapitel Erzählzeit, sondern mehrere Jahrtausende erzählte Zeit. Über die Spannung von Bilderverbot und Gottesbildlichkeit des Menschen im AT sehr lesenswert: Herring 2013. – »That humanity would be considered an extension or manifestation of divine presence fits well the polemical context of Genesis 1, where there is ›a deliberate demotion of gods associated with nature and cosmos‹ and an elevation of mankind. This is not, first and foremost, royal ideology, wherein humanity is given the title and role of king over the earth. It is more drastic than that: humanity is given the place primarily occupied by the statues of the gods in the ancient Near East and secondarily by kings and other temple officials« (124). Schmidinger sieht gleich vier Provokationen in Gen 1,26 f.: 1) Die Aussage der Gottbildlichkeit bezieht sich auf jeden Menschen gleich welcher sozialen Stellung. 2) Sie bezieht sich ausdrücklich auf Mann und Frau. 3) Der unsichtbare, unendliche Gott will sich sichtbar machen im Endlichen. 4) Der reale Mensch ist nicht so, wie er sein soll (2010, 9). 39
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Offenbarung und Geheimnis
Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit, Geist in Welt –, welche Einheit wir Person nennen können (denn es ist ja nicht so, als wäre die Seele / das Subjekt / das Ich schon eine abgeschlossene, in sich-stehende Entität ohne ihren Ausdruck in Leiblichkeit, ohne ihren Leib), wird nun in dieser Einheit 42 noch einmal als Bild verstanden. Das im höchsten unter den unmittelbar sichtbaren Bildern, dem Leib, sich zeigende Selbst ist selbst noch einmal Bild. Bild einer schlechthin unsichtbaren, weil in absoluter Souveränität nur von sich umfangenen Wirklichkeit: der Göttlichen. In bildtheoretischem Vokabular: Der Leib ist ein Bildvehikel, in dem sich das Bildobjekt »Person« zeigt. Dabei bleibt dieses Vehikel der Person allerdings nicht äußerlich, sondern gehört zu ihr. Zum Bildobjekt »Person« gehört gerade ihr Gegebensein im Leib. Im Gegensatz zu einer Leinwand, die zwar Bedingung der Möglichkeit eines Gemäldes ist, aber doch ins Bildobjekt nicht eingeht, sondern vor ihm verschwindet, ist der Leib jenes Vehikel, das selbst zum Bildobjekt gehört. Damit ist aber auch das Verhältnis von Bild und Referent kein äußerliches, sondern ein unmittelbar zusammengehöriges; der Referent ist nicht das Bild, und doch wäre er nicht ohne es, ist nur in ihm und nur in ihm tätig. Dieses Sein des Referenten wird nun aber mitsamt seinem Dasein im Bild noch einmal zum Bildvehikel, in dem sich ein neues Bild zeigt: Ein Bild Gottes. 43 Bevor wir mit Blick auf diese Bildhaftigkeit des ganzen Menschen noch einmal die Frage nach Offenbarung und Geheimnis stellen, soll es zunächst um die Weise dieses Erscheinens gehen, in welcher sich zwei weitere polare Aspekte von Bildlichkeit zeigen und vermitteln.
Nicht ohne Diskussionen im Christentum, ob der Leib zum Bild gehöre oder nicht; vgl. Peters 1980, 514. 43 Auch hier hilft eine Formel aus der Bildtheorie: »Die Unterscheidung des Bildobjekts vom Bildvehikel kann ins Unterschiedene, nämlich das Bildobjekt, aufs Neue eingetragen werden. […] Man denke etwa an eine Schachtel, auf der eine Kuh zu erkennen ist, an deren Ohr eine Schachtel hängt, auf der eine Kuh zu erkennen ist, an deren Ohr eine Schachtel hängt, auf der eine Kuh zu erkennen ist, und so weiter« (Pichler/Ubl 2014, 26; vgl. das »Metabild« bei Mitchell 2009, 324 ff.). Ähnlich hier: Das Bildobjekt, der ganze Mensch, ist seinerseits noch einmal Bildvehikel, in dem sich Gott zeigt. Freilich – wie noch zu zeigen ist – auf andere Weise als die iterierende Schachtel-Kuh. 42
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
7.4 Selbstsein und Medialität Erst hier in der Person als Erscheinung würde sich, wie zu zeigen ist, die Tragik des Bildes zwischen Selbstsein und Medialität lösen. Doch zunächst ist von dieser zu sprechen: Sie ist verschwistert mit der Frage nach dem Enthüllen oder Verbergen, nur vom anderen Ende her. Während dort gefragt wurde nach der Weise und dem Maße der Sichtbarkeit des Erscheinenden, geht es hier um das Wesen der Erscheinung an ihr selbst. Was ist das Bild an sich? Freilich, es ist ein durch und durch relationaler Begriff. Er weist von sich aus auf eine ursprüngliche Wirklichkeit, die das Bild zeigt. Ohne diese wäre der Begriff des Bildes schlechterdings nicht zu denken, 44 während umgekehrt das Sein sein Sich-zeigen nicht notwendig impliziert. Das Bild hängt vom Sein ab, das Sein aber nicht vom Bild: Es ist »von sich, in sich, durch sich«. 45 Aber diese notwendige Abhängigkeit und Relationalität des Bildes erübrigt nicht die Frage nach seiner ihm eigenen Seinsform. Als magisches Kultobjekt hat das Bild keinerlei Eigenstand; es ist Leib des Gottes – oder sogar dieser selbst. Denn, wenn und weil dieses Leibsein seitens des Gottes eben nicht vollzogen wird (er nicht handelt), verliert der kultische Leib seine vermittelnde Bedeutung und konkresziert mit der Transzendenz, deren Medium er sein sollte. Sichtbares Kultobjekt und unsichtbarer Gott konkreszieren zur identitas indiscernibilium. 46 Von dorther leuchtet mir nicht ein, wie man sinnvollerweise von autonomen Bildern soll sprechen können: »Ein Bild, das die Frage nach seiner Legitimation durch ein Original erübrigt, ist autonom« (Rudolph 2012, 11; vgl. Nöth: »selbstrepräsentatives Bild […] ein Zeichen, das eigentlich auf nichts anderes verweist als auf sich selbst« [244]). Autonom mag es sein, aber inwiefern dann noch Bild? 45 Fichte, WL-1804-II, GA II/8, 228. Als Erscheinendes ist es natürlich nicht ohne Erscheinung, aber als es selbst bedarf es dieser nicht – sosehr natürlich gefragt werden muss, ob es ein An-sich ohne ein Für-sich geben kann. Das Für-sich des absoluten Ansich aber kann sich nicht in der Kontingenz ereignen, denn diese könnte nicht um ein prinzipielles Semper-major wissen, wenn ihr endlicher Blick das einzige Maß der Offenbarkeit Gottes wäre. Schärfer: Diente das Erscheinen des Göttlichen seinem Zusichkommen und würde ein Beisichsein zur Göttlichkeit des Göttlichen gehören, könnte das Göttliche seinem Erscheinen gar nicht als ein Schon-Göttliches zugrundeliegen, also auch nicht als ein solches erscheinen. Das absolute Sein muss also schon in sich für sich sein. 46 Vgl. Schweidler 2007, 26; Schmidinger 2010, 9 f. Vgl. Assmann über »Altägyptische Bildpraxen und ihre impliziten Theorien«: Die göttliche Gegenwart im Götterbild ist »Einwohnung« durch »descensio« (83 f.). Dennoch neigt dieses Verhältnis zur 44
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Selbstsein und Medialität
Mit Platon befreit sich das Bild aus dieser Idol-Stellung und wird zum Abbild. Das Abbild ist nun von doppelter Differenz dem Sein gegenüber. Es ist ein Anderes und anders, und dies ist der Grund seiner Inferiorität gegenüber dem Abgebildeten – wie seines ontologischen relativen Selbststandes. Was aber geschieht, wo sich das Bildsein von der Repräsentanz in die Präsenz wandelt, in die reine Erscheinung? Wir hatten es bei Fichte gesehen: Es wird – nicht nach dem faktischen Anschein, wohl aber nach dessen Wahrheit – in seiner Selbständigkeit vernichtet und rein zum Erscheinen des Absoluten: genetivus objectivus wie subjectivus. 47 Notwendige Form, aber an sich selbst ganz und gar unerheblich, wie der Fernseher bei der Liveübertragung, wie der Spiegel beim Blick in denselben. Ergo: Etwas ist ein schlechtes Bild und dafür selbst eine Wirklichkeit, oder ein gutes Bild und im Maße dessen ein Nichts. Es scheint die Inakzeptabilität der letzteren Alternative gewesen zu sein, die der deutsche Idealismus noch weit über Begrifflichkeiten christlicher Mystiker hinaus getrieben hatte, die zum Zerreißen des Bildes geführt hat. Wir hatten es mit Bezug auf Feuerbach gezeigt, aber vielleicht kann man hier ein Hauptmotiv von Atheismen aller Art sehen. Und kommt hierher nicht auch der Aufstand in der Kunstwelt, die Emanzipation des Bildes, das im Abschied von allem Zeigen als es selbst gesehen werden will? 48 Dies zu schelten, hieße, nicht zu verstehen, wogegen hier opponiert wird, oder sich eben damit zufrieden zu geben (in knechtischer oder hybrider Selbstvernichtung 49), quantité négligeable zu sein, Erdenrest, getrocknete Farbe, die als solche zum Verschwinden gebracht werden muss, damit erscheinen kann, wessen Erscheinung zu dienen Identifizierung von Gott und Bild. Zumindest ist es »problematisch, zwischen ›Gott‹ und ›Bild‹ zu unterscheiden, obwohl der Begriff der Einwohnung eine solche Unterscheidung natürlich impliziert. In ägyptischen Texten wird jedenfalls das Götterbild meist als ›Gott‹ bezeichnet« (96). Vgl. Welz 2015, 251. 47 S. 142 f. 48 So als stünde das von Jean-Luc Nancy »nebenbei Bemerkte« eigentlich im Zentrum dieser Entwicklung: »Das Bild zieht sich somit als Bild von zurück, als Bild von etwas oder von jemandem, das oder der selbst kein Bild ist. Es verschwindet als Simulakrum oder als Abbild des Seins, als Schweißtuch oder Glorienschein Gottes, als Abdruck einer Matrix oder Ausdruck eines Unvorstellbaren. (Nebenbei bemerkt, verschwindet als erstes ein ganz besonderes Bild, das des Menschen als Ebenbild Gottes)« (Nancy 1999, 138). Zum Ikonoklasmus in der Kunst der Moderne: Boehm 2007, 60–71. 49 Dialektik der Demut eines reinen Mediums Gottes: Selbst ist man nichts, aber dafür ganz Er.
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
ihr einziger Daseinszweck ist. Wer wollte dann Bild sein? Der Mensch in der Regel nicht, und – wie man sieht – nicht einmal die Bilder. Und die, die es noch sein sollen, heißen denn auch Medien: Perfekte Übertragung oder perfekte Simulation, deren Perfektion darin besteht, zugunsten des Übertragenen oder des Simulierten überhaupt nicht selbst thematisch zu sein – wodurch sie in dialektischem Umschlag zwar zum Wirklichkeitsersatz werden können, aber wehe ihnen, wenn sie selbst ansichtig werden, weil sie nicht mehr funktionieren. Aber was, wenn die einzige Alternative solcher Selbstaufhebung in die vollkommene Bildhaftigkeit darin besteht, ein schlechtes Bild oder gar »ein Original« zu sein; wenn das, was dann dem Bild und dem Menschen noch übrig bleibt, der Versuch sein muss, aus sich eine Originalität hervorzubringen, 50 vermöge derer man, wenn schon nicht unbedingt bejaht, so doch zumindest der Rede wert sein soll? 51 Aber wie weit her ist es mit der Strahlkraft des Menschen der Immanenz? Es scheint, als wären die hohen Lieder auf den Menschen flächendeckend verstummt. Allenfalls Hollywood traut sich noch, den Menschen als einen Helden darzustellen. Nicht umsonst gilt es als »Traumfabrik«. Ansonsten – in Kunst, geisteswissenschaftlichem Diskurs, Medien und landläufiger Anschauung – erscheint der Mensch schon lange nicht mehr im optimistischen Glanz der Aufklärung. Er löst sich in seine Bedingtheiten auf. So aber wird er stumpf wie die Bilder, die nicht auf ewig sich selbst thematisieren können. Mensch wie Kunst: Wer immer nur sich selbst zum Gegenstand hat, wird öde. Der Mensch ohne einen Glanz, der auf ihm von Woandersher liegt, verblasst zum factum brutum. Was innerhalb der totalen Immanenz des Humanen noch bleibt, ist (nur noch, aber mit der Kraft zur Rettung) die Sehnsucht nach einer Tiefe, die von den sciences nicht erfasst und auf dem Markt nicht »Sich neu erfinden« heißt heutigentags das Programm, dem das zweifelhafte Verdienst zukommt, beide Arten der »Krankheit zum Tode« Kierkegaards in eins zu bringen: Verzweifelt nicht man selbst sein wollen, sondern ein Anderer, dessen Erfindung aber einem selbst obliegt, womit man erneut verzweifelt man selbst (nämlich Erfinder seiner selbst) sein will (vgl. Die Krankheit zum Tode, 2005 [1848], 31 ff.). 51 »Bilder, angesichts derer niemand auf den Gedanken käme, zu fragen, was sie darstellen, sind solche, die die Frage nach einem Original kraft ihrer Originalität obsolet machen. […] [Ein solches Bild] zeigt auf sich, nicht auf anderes, es ist in diesem Sinne intransparent« (Rudolph 2012, 11). Das gilt von Person unbedingt, insoweit als sie tatsächlich sich selbst bedeutet (und gerade so mehr als sich bedeutet, wie wir sehen werden), aber allein durch Originalität erringt sie keine Unbedingtheit, und der Versuch dessen endet mit Glück in Schrulligkeit, mit Pech in Narzissmus. 50
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Selbstsein und Medialität
bewertet werden kann, und diese als Signum einer Wirklichkeit, die man nicht missen könnte, wenn es sie nicht gäbe. 52 Haben wir bis hierhin ästhetisch über den Verlust der Herrlichkeit des Menschen gesprochen, sieht die Sache ethisch glücklicherweise anders aus. Hier herrscht ein weitgehender Konsens, auf dem zumindest nominell die globale politische Verständigung über die menschlichen Angelegenheiten aufruht 53 und dessen Aufkündigung der Aufgang der vollendeten Barbarei wäre: Es ist das Bekenntnis zur »Sakralität der Person«, 54 zur Menschenwürde. Die aber, so wurde hier zu zeigen versucht, lässt sich denkerisch nicht halten ohne dasjenige Unbedingte, das seine Unbedingtheit nicht geborgt, sondern aus sich hat. Ob der Glaube an die Menschenwürde auch ohne ein tragfähiges Verständnis ihres Fundamentes faktisch halten wird, bleibt abzuwarten (religiöse Menschen sollten sich auf jeden Fall zurückhalten, das Ende der Würde in säkularisierter Zeit vorherzusagen; die Vergangenheit lässt nicht viel dafür sprechen, dass die Zeiten allgemeiner Religiosität prinzipiell besser in der Lage gewesen seien, die Menschenrechte zu hüten) 55. Vielleicht ist die Tatsache, dass der Glaube an die Menschenwürde auch ohne eine tragfähige Begründung derselben heutigentags – trotz aller Verstöße und Inkonsequenzen – weitestgehend gemeinsamer Nenner ist, schon das Anzeichen für eine neue Begegnung mit dem Unbedingten vom anderen Menschen her, dessen Lektion nur noch nicht zu Ende gelesen ist. Aufgeschreckt von der verletzten und gerade so vertieft manifesten Würde im Gesicht des Leidenden und Gequälten gilt es, erneut den Menschen als Bild zu verstehen. Denn das Licht, in dem er als sakrosankt erscheint, hat er nicht aus sich. Ihm verdankt er nicht nur sein Gesehenwerden in Unantastbarkeit, sondern sein Sein. Denn die Unantastbarkeit besagt gerade, dass »[…] qui se trouve malheureux de n’être pas roi sinon un roi dépossédé? […] Qui se trouve malheureux de n’avoir qu’une bouche et qui ne se trouverait malheureux de n’avoir qu’un œil? On ne s’est peut-être jamais avisé de s’affliger de n’avoir pas trois yeux, mais on est inconsolable de n’en point avoir« (Pascal, Pensées, [Brunschwicg], 409). 53 Dass dieser Konsens häufig bloß in Lippenbekenntnissen lebt, ändert nichts an dem Siegeszug der Idee der Menschenwürde, denn die Heuchelei beweist noch einmal ihre ideelle Herrschaft – sowie Schamlosigkeit offene Aberkenntnis derselben ist. Dass die nun auch im Westen an höchster Stelle begegnet, ist neu und gibt Anlass zu ernster Sorge. 54 Vgl. S. 244 f. 55 Vgl. dazu die fairen Erwägungen in Joas 2011 sowie Angenendt 2007. 52
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
er nicht darin aufgeht, Produkt endlicher Faktoren zu sein. Die normative Unantastbarkeit des faktisch antastbaren Menschen offenbart sein Herkommen aus dem normativ wie faktisch unantastbaren, sich selbst rechtfertigenden Licht des Absoluten. Das »Erkennbare [hat] nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten, sondern auch das Sein und Wesen« 56 (Rep. 509b). In diesem Horizont der Schöpfung kommt es nun zu einer bis dahin unbekannten Autonomie des Künstlers. Ist im Timaios der Demiurg noch gebunden an das, was die Materie zulässt, so liefert erst der Gedanke einer radikalen Schöpfung aus Nichts den Hintergrund für eine absolute Bildlichkeit. Form wie Materie ganz und gar Wurf, Entwurf, Projekt des Absoluten, und insofern Bild in Vollendung. Hier kommt dann das scheinbar Unvermittelbare zusammen: Medialität und Substanz. Denn der Schöpfer zeigt sich nicht in einer flirrenden Fata Morgana seiner selbst, sondern einzig in Geschaffenem (so wie ein Musiker sich nicht zeigen kann, indem er sich als solchen bezeichnet, sondern in anderem, nämlich in Tönen, die nicht mehr er sind). Wirklich als Schöpfer zeigt er sich in der Wirklichkeit des Geschaffenen; je wirklicher das Geschaffene desto wirklicher der Schöpfer als Schöpfer. Insofern ist die Macht, Freiheit (also Macht) hervorbringen zu können, präzise Allmacht. Doch reicht die Ebene der Macht als Wovonher des Bildes, das der Mensch ist, noch nicht aus. 57 Die Macht nicht für das Höchste zu halten, ist vielmehr die notwendige Bedingung von Menschlichkeit überhaupt. So wie andererseits deren unbedingte Geltung den eschatologischen Glauben evoziert, dass ihr im Letzten nichts auf immer wird Widerstand leisten können, dass alle Macht also zuletzt Macht der Güte oder Ohnmacht sein wird. Gerade die Güte aber hat, noch einmal und diesmal unaufhebbar, die Wirklichkeit des Geschaffenen als Bedingung der Möglichkeit ihres Erscheinens. Denn was wäre eine Güte, die nicht Wirkliches gäbe – und zwar jemandem, der wirklich annehmen und erwidern kann? Wirklich, das heißt: selbst, in Freiheit. Güte »gibt frei (im Doppelsinn des Wortes)«. 58 Nur der ge-
»τοῖς γιγνωσκομένοις τοίνυν μὴ μόνον τὸ γιγνώσκεσϑαι φάναι ὑπὸ τοῦ ἀγαϑοῦ παρεῖναι, ἀλλὰ καὶ τὸ εἶναί τε καὶ τὴν οὐσίαν ὑπ’ ἐκείνου αὐτοῖς προσεῖναι« (Platon, Rep. 509b). 57 Genauso wenig wie die Kreativität schon die Spitze des Menschseins wäre, auch wenn man solches von Musenschelmen immer wieder einmal hören kann. 58 Kern 1967–69, 497. 56
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Selbstsein und Medialität
schenkte äußerste Selbststand kann Dasein der Güte sein. 59 Bild und Person, Dasein und Sein, Medialität und Substanz fallen im Menschen als Bild absoluter Güte in eins. Der Akt der Güte ist ein Gönnen, absolute Güte vollzieht sich in absolutem Gönnen. Was dies für ihr immanentes Leben bedeuten könnte, sei hier nicht erneut aufgegriffen, aber, wenn sie ins Nichts, also in den Raum ihres kontingenten Könnens, hinein gönnt, dann kann dieses Gönnen nur ein Schaffen und Erhalten des Geschaffenen um seinetwillen sein. Und dann ist die unaufhebbare Selbsthaftigkeit des Gegebenen das Siegel für das Dasein der Güte im Endlichen. Die »ikonische Differenz« G. Boehms meint den Unterschied zwischen Bildvehikel und Bildobjekt. Das eine mag bloß behauener Stein sein, das andere ein in tiefstes Denken versunkener nackter Mann. 60 Diese Differenz nimmt ihre am weitesten entfernten Pole ein im Menschen als Bild Gottes: Das Vehikel ein Endliches, das Bildobjekt ein Unendliches. Und doch gibt es zugleich erst hier die Versöhnung des bleibend Differenten, d. i. ein Zugleich der beiden folgenden konträren Möglichkeiten des Bildvollzuges: »In der spannungsvollen Beziehung, die sich im visuellen Grundkontrast zeigt, gibt es, wie wir sahen, die Möglichkeit, dass Bilder ganz selbstvergessen in der Illusionierung von etwas Dargestelltem aufgehen oder – umgekehrt – ihr bildliches Gemachtsein betonen«. 61 Beides endet in einem Ikonoklasmus: Denn die perfekte Illusionierung ersetzt das Dargestellte, zielt »auf bildlichen Realitätsersatz, zu dessen Kriterien seit jeher gehörte, die Grenzen der eigenen Bildlichkeit zu verschleiern«. 62 Das Bild aber, das nur auf sich weist, verliert seine BildInsofern lässt sich dann gerade hier einholen, was es bedeuten kann, dass ein Bild sich selbst darstellen kann – vgl. oben Anm. 44. »Das moderne Bild, die moderne Plastik wollen nicht Gebrauchsanweisungen für Illusionen, Eröffnungen der Sichtbarkeit für anderes sein; sie wollen selbst das und nichts weiter als das sein, als was sie sich darstellen« (Blumenberg 2001, 117). Person bedeutet in der Tat sich selbst, also genau dasjenige, was ihr Eigenname bezeichnet. Sie ist strenger als jede andere Wirklichkeit diese selbst und keine andere. (Das Antlitz »ist das einzig Bezeichnete, das sich im Zeichen selbst einstellt« [Strasser 1978, 100]). Aber gerade so und deshalb ist sie eben Bild nicht bloß ihrer, sondern des Absoluten, in dessen Licht sie diese unaufhebbare Selbstheit sein kann. 60 »Auf Oberflächen, im Schmutz der Farbe, in Stein, auf Holz oder Leinwand, auf lichtempfindlichen Trägern oder digitalen Schirmen zeigt sich stets auch etwas Anderes: eine Sicht, ein Anblick, ein Sinn – eben ein Bild« (Boehm 2007, 36 f.). 61 Boehm 1994b, 34. 62 Ebd., 35. 59
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
lichkeit nicht minder. Im einen Fall setzt sich das Bild in vollendeter Abbildung an die Stelle des Abgebildeten, im zweiten zeigt es überhaupt nichts anderes als sich selbst – in beiden Fällen ist das Bildsein aufgehoben. – Die Versöhnung von Bildvehikel und Bildobjekt kann erst dort stattfinden, wo das Bildobjekt im Maße des Selbstseins des Bildvehikels und das Selbstsein des Vehikels im Maße der Gegenwart des Bildobjekts gegeben ist. Damit aber ist die Ikone Gottes, die die Bibel benennt und die hier versucht wurde, als solche aufzuweisen, etwas ganz anderes als die gemalte Ikone: In letzterer nämlich »geht« alle »Ehre, die dem Bilde bezeigt wird, […] auf den Dargestellten über« 63, genau dies aber darf bei einer Person nicht passieren. Im Gegensatz zum Holz der Ikone ist die Person unendlich relevant. Sie selbst ist ontologisch etwas ganz Anderes als das bemalte Stück Holz, in dem sich ein Selbst zeigt: Sie ist selbst ein Selbst und nur so Gegenwart der ursprünglichen und unendlichen Selbsthaftigkeit, in deren Güte alle Selbste ihren Ursprung haben. Sosehr dieser alle Ehre gebührt, erscheint sie nicht dem das Bildvehikel durchschauenden Blick auf den jenseitigen Blick, sondern nur der vollen Aufmerksamkeit auf den Blick des Vehikels selbst. Denn nur dann fängt der Schauende auf, was das Dasein absoluter Güte ist: ein Selbst, das nicht diese selbst ist, und trotzdem um seinetwillen anzusehen ist (welches Trotzdem die Ungeheuerlichkeit ist, dass das Absolute die Absolutheit personaler Würde, die Preislosigkeit von Selbsthaftigkeit nicht für sich bewahrt hat). 64
Bauch 1994, 284 f. (vgl. Basilius v. Cäsarea, PG, Bd. 32, 149). Wenn allerdings Gott wie Geschöpf – weil Personen – voll angesehen werden wollen und sollen, ohne dass je einer außen vor ist (was in eine unheilvolle Konkurrenz von Weltflucht und Immanentismus führen würde), dann sehe ich, um es noch einmal zu sagen, keine Alternative zu einem trinitarischen Denken, in dem sich Gegenüber- und Miteinanderblick verschränken: Mit dem Mitmensch zu Gott, mit Gott zum Mitmensch – keiner muss außen vor bleiben. Mag es Bilder geben, »die eine in sich gedoppelte Sichtweise ermöglichen, dergestalt, dass auch während der Betrachtung des Bildobjekts ein Teil der Aufmerksamkeit beim Bildvehikel bleiben kann« (Pichler/Ubl 2014, 33, mit Verweis auf Wollheim 1987, 46–51), Mensch wie Gott jedenfalls gebührt die volle Aufmerksamkeit, und nur in der trinitarischen Struktur von Mit-und-Gegenüber kann die volle Aufmerksamkeit ohne Ausschluss des Dritten gedacht werden.
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Entsprechung: Andersheit und Gleichheit
7.5 Entsprechung: Andersheit und Gleichheit Damit kehren wir noch einmal zur Frage von Ähnlichkeit und Differenz zurück. 65 Unsere erste Antwort darauf lautete: Es geht nicht um Kopie, sondern um Entsprechung des Abgebildeten in der Dimension des Bildes. Die »Seele« ist ihrem Leib nicht ähnlich, sondern sie ist in der Sphäre der Sichtbarkeit der Leib. Ohne dies zurückzunehmen, gilt es nun gleichwohl zu fragen: Inwieweit gleicht das Bild dem Abgebildeten? Was im Hinblick auf den Leib sinnlos ist, weil die Dimensionen von materiellem An-sich und bewusstem Für-sich derart inkommensurabel sind, ist in anderen Formen der Versichtbarung eine Frage, die noch nicht erledigt ist. Ein Bild ist zwar nicht dann gut getroffen, wenn es den Gemalten kopiert, sondern es muss ihn zum Ausdruck bringen, aber zu diesem Ausdrücken gehört eine wie auch immer geartete Ähnlichkeit, denn wie sonst sollte erkannt werden können, wer sich hier zeigt. Weshalb in diesem Fall nun doch die Frage nach dem Ähneln? Weil die Dimensionen nicht restlos unterschieden sind; hier wird Sichtbares sichtbar. Also meldet sich die Frage auch im Bezug auf den Menschen als imago dei. Denn hier zeigt sich Personalität in Personalität. Während sich der Schöpfer in der nicht-personalen Wirklichkeit im Modus der Gegenwart des Gebers in der Gabe zeigt, schafft er hier etwas, das sein Wesen nicht bloß indexikalisch, wie die Wirkung die Ursache, ausdrückt, sondern ihm nun selbst gleicht 66: Absolute Freiheit zeigt sich in endlicher Freiheit. Damit stellt sich nun die Frage erneut, inwiefern der Mensch als Gottes Bild diesem gleicht und inwiefern gerade nicht. Der Begriff der Ähnlichkeit fasst beides in sich: Gleichheit und Ungleichheit. Bei aller Ungleichheit zwischen zwei Entitäten gibt es im Falle ihrer Ähnlichkeit mindestens eine Eigenschaft, in der beide übereinkommen. Die Ähnlichkeit ist die Einfaltung dieses Verhältnisses von Gleichheit und Ungleichheit in einen Begriff, der sich prinzipiell auf das ihn bildende Verhältnis von Gleichheit und Unterschiedenheit wieder entfalten lassen können muss. Eine solche Ähnlichkeit hat die christliche Tradition nun auch für Mensch und Gott angesetzt. Um das Deus semper major nicht zu verletzen, war ihr allerdings die im ÄhnlichkeitsZur heiß umkämpften Ähnlichkeit in der Bildwissenschaft einführend: Pichler/Ubl 2014, 75 ff.; sowie Sachs-Hombach 2013, 127–154. 66 Thomas hatte unterschieden nach vestigium und imago. Vgl. oben 114 f. 65
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
begriff schon mitgegebene Ungleichheit nicht hinreichend. Stattdessen hat man von »Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit« 67 gesprochen. Nun fragt sich, wie das logisch möglich sein soll. Denn dass etwas nicht unter ein und derselben Hinsicht zugleich A und nicht A sein kann, also das Nichtwiderspruchsprinzip, ist eine Regel, die zu unterlaufen in einem Sprechen endet, das überhaupt nichts mehr aussagen kann. Wenn also gesagt wird, dass für jede Ähnlichkeit eine größere Unähnlichkeit gilt, dann hieße das im Beispiel: A ähnelt B, weil die Augenform gleich ist, auch wenn alles weitere anders ist, aber zugleich gilt, dass er ihm nicht ähnelt, weil noch nicht einmal die Augenform gleich ist. Logisch kann das kaum befriedigen. Geht es anders? Es herrscht in der Original-Bild-Relation von Gott und Mensch, so die These, 68 ein Zugleich von Gleichheit und Andersheit, das sich genauer fassen lässt als in der unklaren Verschmelzung beider im Begriff der Ähnlichkeit (a fortiori bei je größerer Unähnlichkeit). Es gibt im Feld des Bildes eine gleichende und eine gegenwendige oder konträre Entsprechung. 69 Die gleichende Entsprechung wäre etwa das Echo eines Rufes, die gegenwendige die Antwort. Das Echo von »Hilfe« ist ›Hilfe‹ ; ein Gleichen, das auch bloß partiell sein kann: ›..e‹. Die entsprechende Antwort auf »Hilfe« lautet, »ich komme« 70. Ein Kind kann seine Eltern zeigen durch Gleichen (ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten), aber damit ist noch nicht mehr als bloß die bio»[Z]wischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unhänlichkeit festzustellen wäre – inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda« (Die Allgemeine IV. Kirchenversammlung im Lateran [1215], Denzinger et al. 1991, Nr. 806, S. 361 f.). 68 Näher ausgearbeitet in Heereman 2014. 69 Das Bild, das der Mensch ist, ist also innerhalb der drei Zeichenklassen von Peirce sowohl Icon (= Zeichen durch Ähnlichkeit/Gleichheit) als auch Index (= Zeichen aufgrund von Relation). Ein Symbol (= Zeichen durch Gesetz, Gewohnheit oder Konvention) schien mir hier, da es sich um einen ontologischen Zusammenhang handelt, nicht vorzuliegen. Belehrt wurde ich im Laufe meiner Überlegungen von Claudia Welz, die in ihren theologischen Erwägungen zur Bedeutung des iconic turn für die imago Dei diese auffasst als »komplexes Zeichen […], das sowohl ikonisch, indexikalisch als auch symbolisch ist« (2011a, 490). Der Mensch ist deshalb auch Symbol, weil er sein Zeichensein nicht ohne symbolisch vermittelte Selbstauslegung zu Bewusstsein bringen kann (vgl. v. a. 179 f.). Zu Peirces Zeichentheorie: vgl. Nöth 2009, 241– 245. 70 Nicht-entsprechend wäre das Verweigern der Hilfe. 67
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Entsprechung: Andersheit und Gleichheit
logische Elternschaft gezeigt: Gleichen kann man auch einem Vater, der sich sofort nach der Zeugung verabschiedet hat, also einem bloß biologischen Vater. Zentral ist dagegen die konträre Entsprechung: indem es ihr Kind ist, ist es in radikaler Andersheit nicht die Eltern, und gerade in dem Maße, wie es sie nicht kopiert, sondern von ihnen frei in sein Eigenes gelassen wird, zeigt sich die Güte der freigebenden Eltern – also ihr wahres Elternsein, für welches die biologische Elternschaft nicht hinreichende (in geglückten Fällen von Adoption noch nicht einmal notwendige) Bedingung ist. So gibt es Bilder, die ganz dem Gleichen zugeordnet sind (etwa in der realistischen Malerei, der Film-Dokumentation oder bei den mentalen Erkenntnisbildern) und bei denen die Andersheit unthematisch ist (nämlich, dass das Foto oder die sinnliche Erkenntnis etwas ganz anderes ist als die abgebildete Sache). Und es gibt Bilder, die ganz der konträren Entsprechung zugeordnet sind: Das Gemälde kann eine Wirklichkeit an ihren Auswirkungen – bei völliger Abwesenheit ihrer selbst – zeigen (z. B. den Krieg in der Verwüstung einer Landschaft, die Qualität des Geschauten [das Schöne, das Schreckliche etc.] im Antlitz des Schauenden); der Gentleman zeigt sich, indem er nicht sich zeigt, sondern denjenigen, den er zuerst durch die Tür gelassen hat; der Lebensretter im Leben des Geretteten; die Erscheinung des Göttlichen in der Ehrfurcht der von ihm ergriffenen Person (und gerade nicht in deren Göttlichkeit) 71. Der Überbringer einer Botschaft steht im Dienst des radikalen Gleichens als radikal Anderer: Gegebene und überbrachte Botschaft haben sich auf das Genaueste zu gleichen und zugleich muss klar sein, dass er der Überbringer also radikal nicht der Absender der Botschaft ist. Und auch diese Verwicklung von Gleichheit und radikaler Verschiedenheit in Bildverhältnissen vollendet sich zum Gewebe im Bild »Mensch«. Als Geschöpf ist er radikal nicht der Schöpfer – und 71 Niemand – auch kein Projektionstheoretiker – kann »sagen Das ist erhaben und damit meinen Ich empfinde erhabene Gefühle. Selbst vorausgesetzt, dass Eigenschaften wie Erhabenheit einzig und allein durch unsere eigenen Empfindungen in die Dinge hineinprojiziert würden, diese die Projektion auslösenden Empfindungen bilden doch ein Korrelat und damit geradezu einen Gegensatz zu den projizierten Eigenschaften. Die Gefühle, die jemanden veranlassen, einen Gegenstand erhaben zu nennen, sind nicht erhabene Gefühle, sondern solche der Ehrfurcht. Will man Das ist erhaben überhaupt auf eine Aussage über die Gefühle des Sprechenden reduzieren, so hieße die richtige Übersetzung Ich habe demütige Gefühle« (Lewis 1979, 14 f.).
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
gerade so sein gegenstrebiges Bild. Wenn und insofern aber das Bild, das der Mensch ist, sein Selbstsein im Ja zu allem vollzieht, zeigt es gleichend seinen Grund, indem es selbst vollzieht, was sein Grund tut: alles in seinem Sein bejahen. Konträre Entsprechung (Bild 1.0): Nicht Er, sondern sein geschaffenes Gegenüber. 72 Gleichende Entsprechung (Bild 2.0): Das Bild ist hinsichtlich Seiner zentralen Eigenschaft mehr als ähnelnd, nämlich genau so wie der in ihm Erscheinende. Indem nämlich seine Antwort, also seine konträre Entsprechung, die Übernahme und Verlängerung des Liebens ist, also seine gleichende Entsprechung. Dieses Gleichen wird hier vertreten, weil es aufgrund der Güte der Güte keinen nicht-gesollten, bloß Gott überlassenen Rest der Güte gibt. Last und Herrlichkeit des gütigen Anrufes: Er dispensiert von keinem Gran der Güte (»Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist« [Mt 5,48]) und macht gerade so den Weg dafür frei (»Du kannst, denn du sollst« 73), dass das Bild wird, was der Abgebildete ist: Güte. 74 Restlose Angleichung an das Was des Absoluten im Nicht-absoluten. 75 Hier erfüllt sich in beidpoliger Radikalität: »das Bild ist dasselbe wie das Urbild, auch wenn es etwas anderes ist«. 76 Womit die Bedingung der Möglichkeit personal-dialogischer, statt monologischer Einheit gegeben ist: Ich bin nicht Er, und kann gerade so »sein« sein. Kafka hat auf diese erstaunliche Äquivokation (oder ist es gar keine?) hingewiesen: »Das Wort Sein bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihm-gehören« (Gesammelte Werke, Bd. VI, 181). 73 Vgl. I. Kant, KpV, Akademie-Ausgabe, Bd. V, 30. 74 Dass niemand diesen Anruf erfüllt, sagt etwas über uns, nicht über diesen. 75 Ein endliches Wesen hat im Gegensatz zum Unendlichen nur ein Endliches zu geben. Beide aber – und darin sollen sie übereinstimmen – können, wenn sie sich geben, »alles« geben. Weil aber genau darin die Liebe ihr Maximum findet, können Mensch und Gott (prinzipiell!) in vollkommener Liebe gleich vollkommen sein. Das Vollkommenheitsgebot bei Matthäus folgt unmittelbar aus dem Gebot der Feindesliebe. Johannes bringt dieses ὡς dann unmittelbar in Bezug auf die Liebe: »Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe« (15,12). Und beweist direkt im Anschluss die prinzipiell mögliche Übereinkunft im Selben: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben hingibt für die Freunde. Maiorem hac dilectionem nemo habet … (Joh 15,13)«, dies aber kann auch der Mensch. In diesem Sinne hat Descartes davon gesprochen, dass der Wille »größer nicht vorgestellt« werden könne und gerade deshalb das Bild Gottes im Menschen sei: »Sola est voluntas, sive arbitrii libertas, quam tantam in me experior, ut nullius majoris ideam apprehendam; adeo ut illa praecipue sit, ratione cujus imaginem quandam & similitudinem Dei me referre intelligo« (Descartes, 4. Meditation, Abs. 8 [AT] [1986, 147]). 76 38. Brief des Basilius v. Cäsarea (nun zugeschrieben seinem Bruder Gregor von 72
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Entsprechung: Andersheit und Gleichheit
Radikale (zumindest befohlene) Gleichheit – gut wie das absolut Gute –, die immer zugleich umfangen ist von der radikalen Andersheit, die zwischen Empfang und Ursprung, Antwort und Ruf herrscht. 77 Güte, die sich in der selbsthaften Güte eines Anderen zeigt, und so jedem Lieben um die radikale Transzendenz einer immer schon älteren, alles im Dasein haltenden Güte zuvorgekommen ist. Im Ziel wäre der Mensch nie nicht gleich: heilig wie Er. Und nie nicht anders: erwirkt = zuerst geliebt. 78 Bild 2.0 ist mehr als Ähnlichkeit: Gleichheit in der Güte. Bild 1.0 mehr als Unähnlichkeit: die radikale Differenz, in der das Geschöpf mit jeder Faser nicht sein Schöpfer, sondern eben geschaffen ist. Beides zusammen ergibt eine exakte Analogie (wenn man sie – wörtlich – mit »Entsprechung« übersetzt) 79. Statt ›Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit‹ schlage ich also vor: Der Mensch, wie er sein soll, 80 ist Gott, insofern dieser die Güte ist, restlos gleich, aber zugleich insofern restlos ungleich, als dass dasjenige, was in Gott ursprünglich ist, in ihm empfangen ist. Weil Gott der Geber ist, ist die Gabe nicht der Geber, aber weil Gott wirk-
Nyssa), zit. nach Schönborn 1984, 40. Gregor bezieht sich hier auf das Verhältnis von Gott-Vater und Gott-Sohn. Auch wenn das Verhältnis von Andersheit und Gleichheit zwischen den göttlichen Person von anderer Art sein wird als zwischen Gott und seinem endlichen Bild, passt die Formel auch hier. 77 Alles, was der Mensch hat, hat er von Gott, und dieser Ort radikaler Abhängigkeit ist zugleich, weil hier wirklich geschenkt und nicht geliehen oder nur vorgekaukelt wird, Ort der radikalen Unabhängigkeit. 78 Das bereits zitierte IV. Lateranense hat seine Formel von Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit selbst in Verbindung mit der Forderung aus Mt 5,48 gebracht (»Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist«) und hierfür unterschieden: »›Ihr sollt vollkommen sein‹ durch die Vollkommenheit der Gnade, ›wie euer himmlicher Vater vollkommen ist‹ durch die Vollkommenheit der Natur, jeder eben auf seine Weise – ›Estote perfecti‹ perfectione gratiae, ›sicut Pater vester caelestis perfectus est‹ perfectione naturae, utraque videlicet suo modo« (Denzinger et al. 1991, Nr. 806, S. 361). Damit ist der Unterschied genau (und nicht wieder nur ähnlich bei größerer Unähnlichkeit, denn dann wäre nichts gesagt) benannt: Hier Natur = Selbstursprünglichkeit, dort Gnade = Empfang. Was aber derart unterschieden ist, ist zugleich und gerade so dasselbe: Vollkommenheit in der Liebe, die größer nicht sein kann. 79 Vgl. oben 145. 80 Noch einmal: So ist er nicht, aber das heißt nicht, dass er nicht so sein soll. Wenn er aber so sein soll, dann kann er so sein; und dann ist der Grund seines »Elends«, dass sein »Begriff« und seine Wirklichkeit differieren: »misères d’un roi dépossédé« (Pascal, Pensées, [Brunschwicg], 409).
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
lich Geber ist, ist dasjenige, was er gibt, wirklich das, was er selbst ist: Geben – selbsthafte Güte.
7.6 Identität und Differenz Die Frage nach Medialität und Substanzialität ist eng verzahnt mit der Frage nach Identität und Differenz von Erscheinung und Erscheinendem. Um das Spannungsfeld von Identität und Differenz im Bereich des Bildes zu erschließen, wenden wir uns zunächst dem künstlerischen Bild zu. Hier ist das Bildvehikel eine irgendwie gestaltete Materie, die sich als solche untersuchen lässt. Sie hat als Erscheinung eine Eigenwirklichkeit in ihrer Dimension, sonst wäre das Erscheinende überhaupt nicht in dieser Dimension gegeben. Damit lässt sich das Bild aber auch als Wirklichkeit bloß dieser Dimension untersuchen – also gerade in Absehen von seinem Zeigen. So kann es für einen Spediteur oder Statiker bloß um Gewicht oder Größe eines Gemäldes gehen. Für einen Händler bloß um seinen Preis. Für einen Restaurateur bloß um die chemische Zusammensetzung. Für einen Kammerjäger um seine Geeignetheit als Mäusefutter. Für die Maus schließlich nur um Futter. Davon unterscheidet sich nun der Sinn des Bildvehikels – das Bildobjekt. Es ist auf der materiellen Ebene überhaupt nichts anderes als das Bildvehikel, aber im Blick des Künstlers wie des Betrachters entsteht in der Materie eine Bedeutung, die etwas ganz anderes versichtbart als diese Materie, in der sie erscheint. Man sieht in Farbflecken einen Löwen. Zwei Ebenen finden sich hier in einem und demselben Gegenstand, ohne doch identisch zu sein. 81 Das Bildobjekt ist etwas ganz anderes als das Bildvehikel, und trotzdem ist es in diesem zu sehen – und zumindest auf diese Weise nur in diesem (oder einer exakten Kopie) zu sehen. 82 Der erscheinende Löwe hat sein Er-
Richard Wollheim spricht von »the two-foldness of seeing-in« (1987, 46, 72). Diese Eigentümlichkeit zweier ontologisch verschiedener Dimensionen (Materialität und Bedeutung) lässt sich auch nicht dadurch auflösen, dass dem Gegenstand die Sinnabsicht des Rezipienten gegenübergestellt wird. Denn erstens existieren beide Ebenen für den Rezipienten – aber zweitens nur in diesem Bild. Er kann sich natürlich eine gemalte Fläche und einen Löwen darauf vorstellen, aber anschauen kann er beides nur in der Gegenständlichkeit des Gegenstandes, der demnach beides in sich hat –
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Identität und Differenz
scheinungssein nur in diesem Bildvehikel und ist dennoch etwas ganz anderes. 83 Wie verhalten sich nun Identität und Differenz von Referent und Bildobjekt? Ein kurzer Blick auf fünf Szenarien: 1) Der Referent kann ganz unabhängig vom Bild sein. Beim Porträt hängt das Sein des Porträtierten in keiner Weise vom Porträt ab (wenngleich es natürlich Rückwirkungen des Bildes oder seiner Zerstörung auf sein Schicksal geben kann). 2) Anders bei Bildern von konkreten Vertretern einer Art (Löwe, Tisch, Krug, Frau). Wenn es diesen in der Wirklichkeit nicht gibt, dann gibt es ihn nur als Bild, dann ist sein einziges Sein sein Dasein. Referent und Bildobjekt fallen in eins. 3) Fokussiert das Bild dagegen darauf, im Vertreter einer Art metonymisch die Art zu zeigen, so herrscht wieder Unabhängigkeit von Referent und Bildobjekt. Die Freundschaft z. B. existiert unabhängig von ihrer Versinnbildlichung (erst recht z. B. Krüge). 4) Phantasiedinge, wie ein Einhorn, sind nicht unbedingt abhängig von ihrem Bild. Sein Sein ist zwar rein virtuell, aber derartig tief verankert in der kollektiven Virtualität, dass das Entstehen oder Vergehen konkreter Einhorn-Bilder keine Auswirkungen hat. 5) Schließlich gibt es den Grenzfall, in dem ein Bild nichts weiter zeigt als sich. Hier sind Referent und Bildobjekt wieder eins. 84 Ja, es mag sogar sein, dass sie auch noch mit dem Bildvehikel zusammenfallen. Dann nämlich, wenn das Bild das Bildvehikel als solches zum Bildobjekt macht. Wie ist es nun mit dem Bild des Menschen, das der Leib ist? Das Bildvehikel ist der sichtbare Organismus; Bildobjekt die in diesem verwirklicht freilich nicht ohne die Fähigkeit des Rezipienten, im Einen das Andere zu sehen. 83 »Das im Bilde Dargestellte ist in ihm herausgehoben aus dem Kausalverkehr der Dinge und überführt in eine nichtdynamische Existenz, welches die Bildexistenz schlechthin ist – ein Existenzmodus, der weder mit dem des abbildenden Dinges noch mit dem der abgebildeten Wirklichkeit zu verwechseln ist. Die beiden letzteren bleiben in der Bewegung des Werdens. Wie die abgebildete Wirklichkeit in ihrem Gange fortfährt, so bleibt das Bild-Ding [Bildvehikel], seine eigene Geschichte beginnend, Teil der Kausalordnung, in deren Transaktionen es seine gegenwärtige Verfassung empfing: aber in seiner Bildfunktion betrachtet, hört es auf, für sich zu gelten. Seine Substantialität (von der nur gefordert ist, stabil zu sein, so dass sie das Bild bewahrt) taucht unter in seinem symbolischen Aspekt, und mit ihr taucht unter seine kausale Vorgeschichte. Die Aktivität, durch die es zustande kam, gehört der Vergangenheit an, von der die Bildgegenwart nicht mehr berichtet. Diese Gegenwart verleugnet den Status der Wirkung, die immer noch ihre Ursache impliziert« (Jonas 1994, 112). 84 Sofern man in diesen Fällen überhaupt noch von einem Referenten sprechen will: Vgl. Sachs-Hombach 2013, 82 ff.
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
gegenwärtige Person; Bildreferent die Person. So zumindest scheint es, aber die Sache ist verwickelter: Der Mensch ist ein Wesen, das ohne sein Bild nicht sein könnte, und in dem doch nicht Referent und Bild ineins fallen. Es gehört zum Menschen, einen Leib zu haben. Denn zu ihm gehört wesentlich sein Hineingelassensein in eine gemeinsame Welt, in der er anderen sichtbar ist und in konkreten Taten seine Freiheit verwirklicht. Der Referent wäre nicht ohne das Bildvehikel, ohne doch das Bildvehikel zu sein. Und umgekehrt: Das Bildvehikel geht nicht darin auf, Ausdruck von Freiheit zu sein. Es existiert in der Ebene der Materialität, und ist deshalb in seiner Bildfähigkeit für die Freiheit störanfällig, sperrt sich dem Anspruch der Freiheit, verführt sie, ragt ablenkend in sie hinein. Eine wechselseitige Trans-Immanenz: Ein jedes bildet eine echte Einheit mit dem Anderen und transzendiert ihn zugleich (der Leib die Seele in den Bereich bloßen An-sich-Seins, die Seele den Leib in ihr Für-sich-sein), aber eben wiederum so, dass ihr Einssein mit dem Anderen diesen gerade in der eigenen Dimension anwesend sein lässt. Der Leib ist für die Person in ihrem Bei-sich-sein als gefühlter. Die Person wiederum gelangt durch den Leib auf die Ebene der Materialität als Prinzip neuer Kausalketten innerhalb an sich unfreier Gegenständlichkeit. Wie aber steht es mit dem Bildobjekt? Es ist die Sichtbarkeit des Referenten im Leib. Auch diese fällt nicht mit einem der beiden anderen zusammen. Das Bildvehikel an sich zeigt noch nicht die Freiheit; deshalb kann eine szientistisch-materialistische Sicht auf den Menschen ihn auf seine Materialität reduzieren. »Das Faktische lässt sich als das, was es ist, anders sehen.« 85 Dieses »anders sehen« aber geschieht frei – oder frei nicht. Die Freiheit wird im Leib – und nur im Leib – gesehen, aber nur von Freiheit und frei. Und die Differenz beider zeigt sich noch einmal darin, dass das Vehikel bald besser, bald schlechter in der Lage ist, ein angemessenes Bild der Freiheit zu sein. 86 Boehm 2007, 52. Vieles, was wir wollen, können wir aufgrund der Grenzen unseres Leibes nicht. Manches davon prinzipiell nicht, anderes aufgrund von Krankheit und Behinderung, wieder anderes deshalb, weil wir nicht trainiert sind. Letzteres wiederum manchmal aus Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber dem Leib, anderes aufgrund der unvermeidlichen Weichenstellungen sich entscheidender Freiheit, die nicht zugleich Bratschespielen und Gewichtheben gleich gut lernen kann. Beides kann Leben retten, aber auch Retten geschieht arbeitsteilig. – Eine besondere Einschränkung der Fähigkeit des Leibes, Medium der Freiheit zu sein, sind Behinderungen der Kommunikationsfähig-
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Identität und Differenz
Und das Verhältnis von Referent und Bild? Auch hier herrscht ein eigentümliches Identität-Differenz-Verhältnis: Zum einen ist es nur das Bildobjekt, in dem Freiheit erscheint; zum anderen ist es keineswegs automatisch gegeben, dass die Freiheit so erscheint, wie sie will; 87 und auch nicht, dass sie so erscheinen will, wie sie ist. Der Körper ist das Bildvehikel, in dem der Leib als Bildobjekt konkret-individueller Freiheit erscheint. Die Einheit von Vehikel, Bildobjekt und Referent ermöglicht den Prozess des lebendigen Sichzeigens; die Differenz ermöglicht das Bewahrtsein der Freiheit an ihr selbst als Quelle allen freien Sichzeigens. Zugleich ist es eben diese Differenz, die die Verbergung und die trügerische Verstellung seitens des Sich-zeigenden – und den Irrtum seitens des Schauenden ermöglicht (aber eben auch die Diskretion und das Mehrsehen der Liebe). Sehen wir nun auf das Bild Gottes, das der Mensch ist. Bildvehikel ist hier der ganze Mensch in seiner leibseelischen Differenz-Einheit, Bildobjekt der erscheinende Gott, Bildreferent Gott, wie er fürsich ist. Wie verhält es sich hier mit Identität und Differenz? Dafür gehen wir nun vom unsichtbaren Ende aus. Gott als Gott denken bedeutet, ihn vollkommen zu denken. Er ist jene Vollkommenheit, die wir ›nicht begreifend berühren‹, 88 wenn uns die Unvollkommenheit jeder anderen Entität gewahr wird. Gegen alle Theorien, die einen Gott denken, der es nötig hat, 89 und damit nicht eigentlich Gott denken, sondern irgendein mythologisches Wesen, dessen Woher und Wohin nicht weniger rätselhaft ist als das unsere, sei hier nicht bloß mit der christlichen Philosophie aufrechterhalten, dass Gott nichts braucht. Denn das eben bedeutet Gottsein. Insofern ist die Bekeiten in Sprache und/oder Mimik. Dabei handelt es sich um ein Phänomen der Phänomenhemmung, welche Hemmung nach Kräften überwunden werden soll. Etwas ganz anderes ist das Phänomen der Phänomenverweigerung, wie es etwa die Burka darstellt. Im Hintergrund muss der Gedanke stehen, dass das In-Erscheinung-treten der verborgenen Frau von Übel sei. Das sagt allerdings nicht bloß etwas über den Stellenwert der Frau, sondern auch über den des Mannes, dessen moralische Integrität dieser Erscheinung nicht gewachsen sein soll. 87 Womit nun nicht mehr die Einschränkung des Vehikels gemeint ist, sondern die Einschränkung der Freiheit selbst, das rechte Wort, die rechte Geste zu finden – gerade, wenn sie es besonders gerne würde. – Feld der Tragik und der Komik. 88 »[…] illas perfectiones, quas ego non comprehendere, sed quocunque modo attingere cogitatione possum« (Descartes, 3. Meditation, Abs. 38 [AT] [1986, 135]). 89 »Freundlos« angewiesen auf »selige Spiegel seiner Seligkeit« (Schiller, »Die Freundschaft«, in: Sämtliche Werke in 5 Bd., I, 93) oder ohne diese die »absolute Form der absoluten Langeweile« (Heidegger 1971, 143).
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
ziehung zwischen Bildreferent und Bild prima facie eine äußerliche. Dem Bildreferenten fehlte nichts ohne sein Bild, und insofern gehört es nicht zu seinem Wesen. Während der Mensch im Leib seine Personalität allererst vollziehen kann, gehört für Gott die Versichtbarung in Welt und Menschheit keineswegs notwendig zu seiner Gottheit. 90 – Dennoch schafft er, und dieses Schaffen, weil es sich an Person richtet, ist zugleich ein Zeigen. Dieses sein Sichversichtbaren geschieht in allem, was er schafft; indexikalisch wie die Ursache in der Wirkung, ikonisch im selbst gütigen Menschen. Diese Anordnung konfrontiert uns nun zugleich sowohl mit einer unendlichen Identität als auch mit einer unendlichen Differenz von Bild und Exemplar. Wie dieses? Während Leib und Seele in unterschiedenen Dimensionen verortet sind, die jede ihre Eigenwirklichkeit hat, so ist in der Dimension des Geschöpfes nichts, was sich nicht ganz und gar dem Schöpfer verdankte. Wirklich Schöpfung denken heißt creatio ex nihilo denken, und das heißt denken, dass das Geschöpf eine creatio entis qua entis ist. Es ist Gott selbst, der Schöpfer ist. Das aber heißt: So wenig Schaffen notwendig ist, sosehr gehört es doch aufgrund der Einheit Gottes, wenn es geschieht, unmittelbar und ununterscheidbar zu seinem Sein. Sein Schaffen gehört zu seinem Leben. Er ist so, dass er in jedem ist – in der nicht überbietbaren Immanenz, mit der ein absoluter Grund im Begründeten wohnt, die zugleich für dieses eine Transzendenz nach innen darstellt: interior intimo meo. – Aber, und hier entsteht in dieser unendlichen Identität des Schöpfers mit seiner souveränen Schöpfung eine unendliche Differenz, die sich gerade jener Identität verdankt: Was er schafft, ist Wirklichkeit mit eigener Ursächlichkeit. D. h. die Gegenwart Gottes im Geschöpf ist gerade derart, dass das Geschöpf nicht Er, sondern es selbst ist. Und dies zuhöchst dort, wo es frei ist, d. h. »Anfangskraft« 91 hat, deren Ausübung allein bei ihm liegt. 92 Etwas anderes wäre die Frage, ob er in sich vollkommen sein könnte, wenn er nicht in sich sichtbar wäre. Dorthin gehören die Lehre vom innergöttlichen Wort und zugehörige philosophische Spekulationen. Vgl. oben Anm. 45 u. Tilliette 1998 [1990]. 91 Guardini 1956 [1948], 23. 92 »Allein die Allmacht kann sich zurücknehmen, indem sie sich hingibt, und dies Verhältnis ist ja eben die Unabhängigkeit des Empfangenden. Gottes Allmacht ist darum seine Güte. […] Die Allmacht ist nicht in einem Verhältnis zu andern gelegen, denn es gibt kein Anderes, zu dem sie sich verhält, nein, sie vermag zu geben, ohne doch das Mindeste von ihrer Macht preiszugeben, d. h. sie kann unabhängig machen« (Kierkegaard, Reflexionen über Christentum und Naturwissenschaft, Ges. Werke, Bd. XII, Abt. 17, 124). 90
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Identität und Differenz
Diese Synthese von Identität und Differenz, in der Aufrechterhaltung beider, vermag einzig die Güte zu bewirken. Sie ist genau dort verwirklicht, wo sie wirklich einen Anderen sein lässt. Dann nämlich ist sie im Bild ganz da, nicht obwohl, sondern weil das Bild ganz und gar nicht sie ist (so wie der Gastgeber sich nicht an sich selbst vollziehen kann, sondern nur im umsorgten Gast, der eben gerade nicht der Gastgeber ist). Das Bild 1.0 im Bild, das der Mensch ist, ist also dieses Selbstsein, dessen Begründetsein in absoluter Güte dieselbe offenbart (manifestiert als »Du darfst mich nicht töten«). In ihm ist der Widerspruch zwischen Identität und Differenz von Bild und Referent aufgehoben in ein Zugleich der radikalen Gültigkeit beider – und dies nicht unter der Oberherrschaft des einen der beiden (à la »Identität der Identität und Nichtidentität«), sondern unter dem Oberbegriff der Güte, die beide zugleich will: Wirklich Differente in einer Einheit, die gerade die wechselseitige Anerkennung der Differenz ist. Nun gibt es aber noch das Bild 2.0. Wir hatten es oben im Kapitel über die Ähnlichkeit besprochen. Es gibt eine gegenwendig-indexikalische und eine gleichend-ikonische Entsprechung. Die indexikalische Entsprechung der Schöpfung entsteht unausweichlich durch ihr Geschaffensein. Die gleichende geschieht nur frei, und d. h. dass die geschaffene Freiheit grundsätzlich dazu in der Lage ist, es beim Bild 1.0 zu belassen, welches sie andererseits nicht zerstören kann. Denn gerade in der Abkehr von der Verwirklichung des Bildes 2.0 bestätigt sich noch einmal Bild 1.0: Dass die Güte sogar ermöglicht, ihr nicht entsprechen zu wollen. Das Äußerste der Differenz (ist es wirklich ihr Äußerstes oder bloß ihre Karrikatur?) ist gerade noch einmal umfangen von der Güte und bestätigt diese nur noch einmal. Was aber geschieht dort, wo Bild 2.0 zustandekommt? Auch hier gelten Identität und Differenz zugleich und zwar noch einmal verdichtet: Während im Schaffen des Unpersönlichen das Schaffen gleichsam per Dekret geschieht, in einem Befehl, der sein Ziel erreicht, ohne vernommen werden zu können, ist das Schaffen von Freiheit gerade Ansprache. 93 Das Phänomen, das dies bezeugt, ist das
Die Person wird geschaffen »durch einen Akt, der ihre Würde vorwegnimmt und ebendamit begründet, nämlich durch Anruf. Die Dinge entstehen aus Gottes Befehl; die Person aus seinem Anruf« (Guardini 1962 [1939], 144). »Et audit te terra et hoc audire eius est fieri hominem – Und es hört dich die Erde und dieses ihr Hören ist das Werden des Menschen« (Nikolaus von Kues, De visione dei, Schriften, Bd. III, 136).
93
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
Gewissen. Sein Anruf ist der Aufgang von Heiligkeit (= unabsprechbares Selbstgerechtfertigtsein des Guten) und nur so die Ermöglichung von vernünftiger Freiheit, die nicht frei sein kann, wenn das, was sie will, nicht schlechthin bejahbar ist. Der Gewissensanruf ist mehr als bloß ratio cognoscendi, er ist zugleich die ratio essendi der Freiheit. Hier aber verschärft sich die Differenz nicht bloß, weil Rufer und Antwortender schlechthin unterschieden sind, sondern auch obendrein unterschiedlich: nicht bloß Andere, sondern anders. Hier der Befehlende, dort der Gehorchende. Hier das Heilige, hier das Vernehmende. Gerade in dieser radikalen Demut des Geschöpfes 94 bestätigen sich Identität und Differenz auch im Sinne der Qualität. Gerade dadurch, dass das Geschöpf sein Anderssein auf sich nimmt (Leinwand, nicht Maler, Ohr, nicht Ruf zu sein), wird es »wie« Er (indem es gehorsam, aber selbst verwirklicht, was sein Referent ist: die Güte). Und dort scheint dann auch Bild 1.0 nochmal in einer anderen Fülle auf als im Falle seiner bloßen Existenz oder gar der Verweigerung des freien Wesensvollzuges: 95 Denn es ist eben das Geschöpf selbst, das gütig handelt. Es geht also in der Beziehung zwischen Gott und seinem Bild um qualitative wie substanzielle Differenz bzw. Identität sowie um deren Zugleich-Gültigkeit. Somit ergeben sich sechs Aspekte: 1) Substantielle Identität (weil Gott selbst handelt und seine Handlung und er eins sind, ist er in allem). 2) Substantielle Differenz. Weil das Geschöpf eben genau diese Nicht-Andersheit seines Grundes nicht teilt, 96 wird es von diesem nach innen hin transzendiert. Personaler: Weil es als es selbst gemeint ist, ist es es selbst, und damit nicht sein Grund. Die Nicht-Andersheit Gottes kulminiert also gerade in seiner Nicht erst religiös vollzieht sich gelingendes Menschsein nur im Modus der Demut: erkennen, anerkennen und vollziehen, dass nicht der Mensch das Maß der Dinge ist, sondern die Wahrheit und das Gute. Dies geschieht sowohl in der Theorie als auch in der Ethik. Wer wirklich hier wie dort schlechthin autonom sein wollte, würde, wäre er konsequent, theoretisch zum Idioten und ethisch zum Despoten. 95 Wobei sich schnell zeigen könnte, dass die wertfreie Existenz eines freien Bildes eigentlich kaum zu denken ist. Denn gegenüber dem Anruf des Guten zunächst einmal neutral sein zu wollen, ist schon falsch (wenngleich noch nicht so falsch wie die entschiedene Verweigerung). 96 »Opportet […] omne aliud ab alio esse aliud, cum solum non-aliud sit non aliud ab omni alio – jedes Andere ist notwendig ein anderes von einem anderen, während nur das Nicht-Andere ein nicht-anderes von jedem Anderen ist« (Nikolaus von Kues, Propositiones de virtute ipsius non-aliud, Schriften II, 562). 94
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Rätsel, Freiheit und Geheimnis
Ganz-Andersheit (denn er ist dem Bild so immanent, dass diese Immanenz als ein Den-Menschen-Meinen sich erfüllt im Schaffen einer zugleich hervorgebrachten wie eingehaltenen Grenze: im Selbst des Geschöpfes). 3) Damit eben beides zugleich: Als der Nicht-Andere der Ganz-Andere und umgekehrt. 4) Qualitative Differenz, indem die Vernunft nicht die Wahrheit, das Gewissen nicht das Gute ist, das Angebetete nicht der Anbetende ist. 5) Qualitative Identität dann, wenn der Mensch tut, was er soll, weil Gott ihm schenkt, nicht weniger von ihm zu fordern, als er selbst ist. 6) Eins im Anderen, indem die Anerkenntnis der qualitativen Differenz die qualitative Identität ermöglicht; und umgekehrt die qualitative Identität erst die qualitative Differenz vollendet, weil im Gutsein des Guten, der nicht das Gute ist, die restlose Selbstunterscheidung, in der etwas ein Anderes als sich selbst zu seinem Maß macht, vollendet ist. – Es ist einzig die Güte, unter der all diese Spannungen vermittelt sind.
7.7 Rätsel, Freiheit und Geheimnis Nun gilt es dringend nachzuholen, was bisher umgangen wurde, und doch als permanent sich aufdrängender Einspruch die Legitimität der Rede vom Bildsein des Menschen in Frage stellte. Es ist nun davon zu reden, dass der Mensch nicht ist, was er sein soll, und dass sich genau darin sein Bildsein verzerrt: Soweit, dass er seinen Referenten mehr verstellt als zeigt. 97 Ist doch, anders als Thomas Payne in Büchners Dantons Tod postuliert, mehr noch als das malum physicum das malum morale mit seinen Folgen »der Fels des Atheismus«. 98 Die gleichende Entsprechung des Bildes, in der der Mensch als selbst liebender das unsichtbare Wesen des Gottes, der die Liebe ist, versichtbart, ist so selten zu sehen (und vielleicht nie in der Bedingungslosigkeit, die ihr aufgetragen ist). Sie ist vielmehr das eigentlich Unselbstverständliche, das vielerorts allenfalls noch als untergegangenes Theorem eines vorkritischen Zeitalters zitiert wird. 99 Und doch: Selbst abgesehen davon, dass bereits das bisschen Güte, dem wir hier begegnen, genügt, um sie als das Höchste des
97 98 99
Vgl. Schmidinger 2010, 38 f. Georg Büchner, Dantons Tod, Sämtliche Werke und Briefe [Meiner], III/1, 116. Vgl. Schmidinger 2010, 32 f.
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
Menschen zu erfahren, 100 zeigt sich die Herrschaft der Güte auch noch in der Verweigerung ihrer Manifestation. Dies ex negativo in der Tatsache, dass die Erbarmungslosigkeit der Welt als Widersinn erlebt wird, vor allem aber – und dies ist Beweis ihrer Unzerstörbarkeit als Güte – im Fortbestehen des gewissentlich Aufgerufenseins zu einem Sein für die Anderen. Wie immer unmenschlich ein Mensch geworden sein mag, er kann seiner Würde nicht verlustig gehen, weil dasjenige, was sie konstituiert, nicht von ihm kommt und auch nicht von ihm zerstörbar ist. Was immer er geworden ist, der Mensch soll gütig sein; und dies macht ihn bleibend zu einem Würdeträger und zu einem Bild jener absoluten Güte, die ihn aus Güte zur Güte verpflichtet und aus der Treue der Güte diese gütige Verpflichtung nie zurückzieht. Kainszeichen des Menschen, der immer noch sollen darf und als ein solcher Sollender der Willkür des Menschen entzogen ist. Sosehr unbeirrbar festzuhalten ist, dass diese Klammer seinen Bildstatus aufrechterhält, sosehr ist andererseits zuzugeben, dass das bloße Angerufensein sich verweigender Freiheit die unterste Stufe von Bildlichkeit 1.0 ist und das Ausbleiben der gleichenden Entsprechung (Bild 2.0) eine katastrophale Ruinierung des ganzen Bildes bedeutet, 101 so als würde man an einem Rembrandt bloß noch die Unterschrift erkennen, während alles andere der Zerstörung anheimgefallen wäre. 102 Vgl. oben 237 ff. Um der Klarheit willen noch einmal verdeutlicht: Es geht bei Bild 1.0 und Bild 2.0 nicht um den Unterschied von verweigertem und vollzogenem Bildsein, sondern um den Unterschied von gegenstrebiger und gleichender Bildlichkeit. Die gegenstrebige Bildlichkeit ist unzerstörbar, weil das Bild in seiner Geschaffenheit, die sich im Freiheit ermöglichenden Anruf des Gewissens manifestiert, den gütigen Schöpfer zeigt, der es zu diesem Selbst-sein, das Bedingung auch noch der Verweigerung ist, gütig befreit. Bild 2.0 allerdings kann nur im freien Mitvollzug des Bildes zustandekommen; denn der Güte gleichen kann das Bild nur im Selbst-gütig-sein. Dann vertieft sich aber auch wieder Bild 1.0, denn seine Identität und Selbsthaftigkeit wächst natürlich im Maße seines Gutseins (unzerrissen kann man nur das Gute wollen), und damit auch das Zeigen des großen Freigebers und Befreiers. 102 In der Theologiegeschichte hat man angesichts dieser Problematik eines Bildes, das sein Bildsein selbst zu vollziehen hat und deshalb darin fehlgehen kann, das »Bild (imago, ἐικών)« und die »Ähnlichkeit/Gleichnis (similitudo, ὁμοίωσις)« aus Gen 1,26 (»nach unserem Bild und Gleichnis«) unterschieden. Gemeint ist einerseits das Bild, das der Mensch von Natur aus ist, und andererseits Ähnlichkeit als dasjenige Bild, das er »aufgrund seiner Natur und seines Wesens werden soll bzw. dank der Erlösungstat Christi werden kann« (Schmidinger 2010, 20; vgl. Crouzel 1980, 500). Augustinus unterscheidet in capax dei und particeps dei (vgl. De Trinitate, Lib. XIV, Cap. 8, PL 100 101
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Rätsel, Freiheit und Geheimnis
Worauf es nun ankommt, ist, diese Verdunkelung des Bildes, in der sich der Bildsinn nicht zeigen will, strikt zu unterscheiden von jener Freiheit behütenden Funktion des Bildes, die Bloßstellung verhindert und freies Sich-zeigen ermöglicht. Während im Sich-Zeigen von Freiheit zugleich ihr unerschöpfliches Geheimnis nicht-sehend gesehen wird, ist ihr Sich-Verbergen in Trotz oder Trug nicht geheimnisvoll, sondern rätselhaft. 103 Die sich verweigernde Freiheit bleibt jene große Unverständlichkeit, die sich daraus ergibt, dass es eben letztlich keine guten Gründe für das Böse geben kann, es sich aber trotzdem nahelegt. Wer meint, gute Gründe für die Wirklichkeit des Bösen vorlegen zu können, liegt, noch bevor er sie nennt, daneben. Denn vom Bösen kann man sich nur dann etwas versprechen, wenn man nicht verstanden hat, dass alles, was wünschenswert wäre, seine ursprüngliche und eigentliche Gestalt im Guten hat. Allermeist rührt dieses Missverständnis daher, dass man das Gute mit dem Braven oder sonst irgendwie risikoscheuen Angepassten verwechselt. Dagegen gilt: Kein Wagnis, keine Grenzüberschreitung, die nicht ihre wahre Gestalt im Guten hätte. Gegen die Fülle des Guten ist das Böse schlechterdings leer und seine einzige Möglichkeit ist die »Gier nach
42/1044); Thomas, wie wir gesehen haben, in das Bild, das jeder Mensch aufgrund seiner Fähigkeit zur Gotteserkenntnis und -liebe ist, sodann in die imago per conformitatem gratiae und die eschatologische imago secundum similitudinem gloriae (vgl. oben 117; ähnlich Petrus Lombardus: Imago creationis [naturae] – recreationis [gratiae] – similitudinis [gloriae]; vgl. PL 191/88 [Kommentar zu Ps. 4]). Eng damit verbunden ist der konfessionelle Streit, wie weit der sündige Mensch noch imago sein kann ohne die Rechtfertigung in Christus (dazu: Welz 2011, 79 f.). – Er ist es, so die These hier, selbst bei einer möglichen Totalverweigerung zumindest insoweit, als sein Sollen nicht aufhört. 103 Geheimnis und Rätsel sind streng zu unterscheiden. Das Geheimnis ist die bleibende Transzendenz des Sich-Zeigenden, dessen Semper-major, weil sein Zeigen aufrichtig ist, das schon Gezeigte zwar überholen kann, aber nie aufkündigen wird, weshalb unser Nicht-Sehen Vertrauen sein kann. (»Vertrauen weiss [sic] auf die Weise, dass es dem Anderen Raum und Zeit offen hält. Dass der Andere sichtbar ist, heisst nicht, dass man damit fertig ist, ihn zu sehen (ihn gesehen hat), sondern die Zukunft steht noch aus. Im Vertrauen ist der Andere, den man sieht, auch sichtbar in dem Sinne: noch zu sehen, noch nicht gesehen, un-sichtbar« [Grøn 2007, 201]). Das Rätsel dagegen ist die schlechthinnige Sinnlosigkeit des Rückzugs der Freiheit auf sich und das Ihre. Ihre Außenhaut wird dann zum Abweis von Sinn und damit zum existenten Widerspruch eines Sichtbaren, das nichts zu sehen gibt, was nicht prinzipiell als nichtig zu durchschauen wäre. – »Le mystère éclate avec le grand jour, le mysterieux se confond avec l’obscurité« (Braque 1952, 21).
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
dem Nichts« 104 und der Versuch, ihr durch Zerstörung nachzukommen. Weder im Trug des vorgeblich sich Zeigenden noch im gierig sich aneignenden Zugriff des Schauenden gewinnt das Bildgeschehen etwas hinzu. Anstatt dass hier ein Geheimnis herrscht, wird alles banal. Das Zeichen verliert seinen Sinn. Es ist dann nur mehr Trugwerk oder es erstarrt unter dem Zugriff, der sich den Anderen zu eigen machen will, zur bloßen Fleischlichkeit. Während das Handeln der Person, die sich dem Bildgeschehen als sichtbare in Entzug und Betrug bzw. als den Anderen anschauende in Idolatrie oder gewaltsame Aneignung entzieht, Produkt ihrer zugelassenen Fremdbestimmung durch unkontrollierte Ängste und/ oder Triebe ist, herrscht im Geschehen sich gebender Freiheit jene unsichtbare Selbsthabe, in der etwas da ist, ohne preisgegeben zu sein. Sich gebend im Sichtbaren, so dass das Sichtbare ganz ihr SichZeigen ist, kristallines Zeugnis ihrer Aufrichtigkeit, und doch diese Aufrichtigkeit an ihr selbst als Bedingung allen Sich-Zeigens nicht eintritt ins – und damit aufginge im – Bild. Diese Struktur des Erscheinens vertieft sich nun, wenn die zweifache Erscheinung der imago dei, nämlich ihrer selbst und Gottes, mitgedacht wird, zu einer doppelten Offenbarung und einem doppelten Geheimnis: Doppelte Offenbarung, weil a) Gott sich zeigt im Menschen, und weil b) dieser Mensch selbst er selbst ist (und gerade und nur in solchem unaufhebbaren Selbststand Bild göttlich gönnender Güte) und deshalb in all seinem Tun, noch bevor er Gott zeigt, immer sich zeigt. Der Mensch zeigt sich und zeigt im Sichzeigen den diese Sichhaftigkeit unaufhebbar gründenden Gott – oder: Gott zeigt sich im Menschen, indem er ihm ermöglicht, sich selbst zu zeigen. Aber auch doppeltes Geheimnis, weil das im Leib gegebene Selbst des Bildes nur in dieser Vermittlung gegeben ist (denn das Unmittelbare wäre das Ende des Gebens), und weil das, was sich in eben dieser gegenwärtig-verborgenen Person zeigt, der um ein Unendliches transzendentere Gott ist, der sich zeigt in dem, was für immer nicht er ist (und zwar nicht bloß anders, wie der Leib anders ist als die Freiheit, sondern ein Anderer in jener unüberbietbaren Differenz, die nur Personen eignet). Doppeltes Geheimnis und doppelte Offenbarung also als a) leiblich vermittelte Gegenwart des an sich selbst nur von sich umgriffenen Geheimnisses von Person, in der sich b) in erneuter Transimmanenz ein Ganz-Anderer zeigt, dessen Differenz 104
»– ô soleil de Satan! – désir du néant« (Bernanos 1926, 257).
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Der Mensch: Das Bild schlechthin
wie Identität diejenige von Leib und Geist noch einmal übersteigt: Identität, weil restlos souveräner Künstler, dessen Bild so aussieht, wie er es will, und zugleich restlose Differenz, weil es zu seinem Sich-Abbilden gehört, das sein Bild Person ist. 105 Zur Person aber gehört es, strikt niemand zu sein als sie selbst. Und gerade in dieser unendlichen Diskretion Gottes vor seinem Bild (welchem »cum magna reverentia« das geschöpfliche »non lux sed testimonium de lumine« [Joh 1,8] entspräche), gerade in solchem Verbergen, das nicht »Ich« sagt, wo ein Anderer »ich« sagt, zeigt sich Gott als die Wirklichkeit, die sich beweist, indem sie nicht sich behauptet, sondern den Anderen: Après vous.
7.8 Der Mensch: Das Bild schlechthin In diesem Bild aber, das gilt es nun zusammenfassend zu zeigen, käme das Bild in die äußerste seiner Möglichkeiten und die innere Einheit aller Spannungen: 1) Es ist nicht abbildender Stellvertreter, sondern ganz und gar Erscheinung. Nicht einzutauschen gegen das Original, sondern bleibend dessen unaufhebbares Sich-zeigen, hinter dem es keine andere, »wahre« Ansicht gibt. So wie der Mensch anschaubar ist in seiner Leiblichkeit oder eben nicht, so Gott in der Weise, wie er sich zeigt, oder eben nicht. Seine Selbstheit an ihr selbst, also so, wie er für sich er selbst ist, kann uns noch weniger zugänglich sein als schon die einer Fledermaus; aber sie erscheint im doppelten Sinne für uns: Sich sichtbar machend für den Menschen und dieses um seinetwillen. 2) In ihm vermittelt sich der Gegensatz von Selbstsein und Medialität des Bildes. Als frei und bewusst ist das Bild, das der Mensch ist, wirklich ein Selbst oder gar (wenn man aufhörte, dahinter ein Klötzchendenken zu wittern): Substanz, Selbststand. Gerade so und nur so aber ist es ganz und gar Medialität, Zeigen, Erscheinen, denn es zeigt das Freigeben des Schöpfers. Als creatio ex nihilo ist es restlos Produkt und zeigt schon durch seine bloße Existenz je jetzt die creatio continua. Aber mehr noch: Es zeigt nicht bloß Gottes Können, sondern seine Güte. Nicht bloß ist der Mensch geschaffen von Allmacht, 105 … und deshalb ganz anders aussehen kann, als er will – welche Möglichkeit er offensichtlich will, weil anders nicht erscheinen könnte, was erscheinen soll: seine Güte, die nur dort ist, wo ein Jemand er selbst und d. h. frei sein darf.
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Höchstform von Bildhaftigkeit: Person als Bild absoluter Güte
sondern geheiligt in seinem Sein als ein unbedingt und um seinetwillen sein-Sollender (welches sich zeigt als Glanz auf seinem Angesicht, den man nur mit dem Herzen, nämlich mit dem Gewissen, sieht). Erst in diesem einen Anderen zeigenden Selbstsein der Person vollendet sich das »doppelt[e] Zeigen«, auf dem »Bilder ihrer eigenen Natur nach […] beruhen, nämlich etwas zu zeigen und sich zu zeigen.« 106 3) Im Bild, das der Mensch ist, vermitteln sich Identität und Differenz von Bild und Abgebildetem, indem beide zugleich und in vollem Umfang gelten. Insofern das Bild ganz und gar Produkt des Erscheinenden ist, findet er an ihm keine Grenze und ist selbst in ihm. Aber insofern das einzig ihm gemäße Bild selbst ein Selbst ist, ist es wirklich different, und zwar in der Differenz von Personen, die differenter als jede andere Differenz ist. Das Bild ist also ganz nach dem Maß und Willen des Sich-zeigenden, und dieser ist ihm restlos inne, aber, weil das Bild ein Selbst sein muß, um Güte zu zeigen, sein Selbstsein also strikt dem Willen des Erscheinenden entspricht, gilt hier in aller Strenge: Als der Nicht-Andere ist Gott der Ganz-Andere und umgekehrt. Durch sein Nicht-anders-Sein gründet er die radikale Andersheit personalen Gegenüberseins von Gott und Mensch. a) Er ist immanent, insofern sein Ausdruckswille zunächst an keine Grenze stößt und andersherum das Geschöpf nichts wäre ohne sein In-ihm-Sein vermöge des Schaffens. Die Folge dieses In-Seins ist aber gerade die Eigenwirklichkeit des Menschen. Weil Gott der Nicht-Andere ist, kann der Mensch ein Anderer sein. b) Er ist transzendent als derjenige, von dem sich das Geschöpf radikal unterscheidet, welche Unterscheidung nicht bloß – wie Thomas meinte – quoad nos gilt, sondern auch in se bzw. und entscheidend: quoad deum. Denn die radikale Unterscheidung, die geschieht, wenn jemand Du sagt, gilt a fortiori vom großen Freigeber. Aber dieses sein Du-Sagen als radikaler Grund meines unaufhebbaren Nicht-Gott-sondern-ich-Seins macht ihn zugleich zu jener Immanenz, die als immer Ganz-Andere der Grund meines Ich ist und damit nicht-anders. 4) Im Bild, das der Mensch ist, vermittelt sich zugleich die Spannung zwischen Offenbarung und Geheimnis. Denn einerseits offenbart es radikal als Bild eines absoluten Künstlers denselben, dessen Bildwillen nichts entgegenstehen kann (außer die Freiheit eben jener Wirklichkeit, die restlos und zwar mit dieser Möglichkeit sein Werk 106
Boehm 2007, 21.
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Der Mensch: Das Bild schlechthin
ist, und deren Verweigerung deshalb zwar eine Katastrophe ist, aber dennoch das Bild nicht zerstört). Andererseits ist es – aufgrund seiner Selbstheit – radikal nicht der Künstler (und hat es zudem in sich durch sein Sich-Zeigen in Leiblichkeit noch einmal eine Struktur von Offenbarung und Geheimnis). Person-Sein heißt absolut gewollt sein und ist damit radikal Äußerung eines absoluten Willens, und zugleich, weil dieser Wille eben sie selbst will, ist er schlechterdings »unter ihrer Wirklichkeit« verborgen (wie jemand, der unter Aufopferung des eigenen Lebens einen anderen Menschen gerettet hat und deshalb selbst radikal unsichtbar geworden ist, während der Gerettete bleibend des Retters Sichtbarkeit ist, und zwar weil er nicht dieser ist). 5) Zu guter Letzt kommen Verschiedenheit und Gleichheit von Bild und Exemplar in ihr Äußerstes, in dem wieder exakt beides gilt: Als Geschöpf ist der Mensch die radikalste Verschiedenheit zu seinem Grund. Radikal nicht aus-sich-seiend zeigt es den, aus dem es ist, und dessen Aus-sich-Sein (ohne welches das Geschöpf nicht aus ihm sein könnte). Aber nicht bloß dessen Aus-sich-Sein, also seine Macht, sondern vor allem diese als Macht keiner anderen Wirklichkeit als der Güte. Im Beschenkten zeigt sich der Schenker gerade aufgrund der abgründigen Verschiedenheit, mit der das Bedingende nicht das Bedingte ist. Indem aber das Geschenk in seiner Spitze die Befähigung zu jenem Schenken ist, das der Daseinsgrund des Beschenkten ist, erfüllt sich die Verschiedenheit von Bild und Exemplar im Gleichen des Bildes, und dies so, dass immer beides erhalten bleibt und sich wechselseitig bedingt. Im Kreuzungspunkt von substanzieller Medialität und medialer Substanzialität, Geheimnis und Offenbarung, qualitativer Andersheit und Gleichheit, substantieller Identität und Differenz – als Dasein-von und nicht Platzhalter-für – ist der Mensch Bild wie nichts sonst, und wäre der wahre iconic turn das Auffinden dieses Bildes, von dem her und auf das hin schlechthin alles Sichtbare als Bild erkannt und zum Bild gemacht werden kann: Erkannt als Bild einer absoluten Güte, uns anvertraut als Medium der je eigenen Güte, in der einer »für den Anderen« ist.
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Abkürzungsverzeichnis
Nähere bibliographische Angaben im Literaturverzeichnis AzsL E EU EWR GA GiD
GP GPZ JS SF SM SpA TdB Th TuU VWR WC WL WR
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Personenregister
Abaelard 75 Aertsen, J. A. 36, 64, 67, 81, 110, 112, 119 Ambuel, D. 28, 30, 32, 61 Amengual, G. 177–178, 191, 219 Andolfi, F. 198, 206 Angenendt, A. 297 Anselm v. Canterbury 74 Aristoteles 15, 20, 38–39, 52, 56, 60, 65–66, 68, 80, 82, 88, 92–94, 97, 101, 106, 108, 112, 125, 244, 277– 278 Arndt, A. 190–191 Arroyo, L. M. 167, 188 Asmuth, C. 136, 143 Assmann, J. 294 Augustinus 15, 65–66, 71, 74–75, 93, 95, 103–105, 107, 113–114, 116– 117, 132, 184, 218, 227, 243, 272– 273, 288, 315 Baader, F.v. 16, 265, 277, 292 Barth, K. 166, 188 Basilius v. Cäsarea 304 Bauch, K. 113, 269, 300 Baudrillard, J. 287 Baumanns, P. 148, 158 Beaurecueil, M.-J. 113 Bernanos, G. 248, 258, 316 Bertinetto, A. 143 Beyer, G. J. 104–105 Blumenberg, H. 299 Boehm, G. 144, 281, 285, 288–289, 292, 295, 299, 308, 318 Boethius 73 Bordt, M. 37, 51–53, 55, 60
Borsche, T. 35 Bossuet, J. B. 91, 232, 271 Brachtendorf, J. 74 Braque, G. 315 Braun, H.-J. 169, 175, 184, 189–190, 195, 204, 207–208 Brisch, K. H. 240 Brown, C. 128–129 Buber, M. 165, 266 Büchner, G. 313 Bultmann, R. 271 Burnaby, J. 65 Casper, B. 166, 177, 184 Christmann, H. M. 90 Ciria, A. 138 Cooper, J. 65 Crouzel, H. 315 Dander, F. 115 Dawkins, R. 174 Denzinger, H. 302, 305 Derrida, J. 226 Descartes, R. 162, 174, 261, 304, 309 Desclos, M-L. 28–29, 36 Dionysos, Pseudo-Areopagita 71, 81, 109, 120 Dörnemann, H. 85, 93, 107 Dostojewski, F. M. 248 Duboc, J. 191 Duns Scotus 278 Durkheim, É. 244 Düsing, E. 162 D’Alfonso, M. V. 138
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Personenregister Ebbersmeyer, S. 39 Ehrenberg, H. 188 Emery, G. 75 Enders, M. 166, 168, 176–177, 182, 186 Engels, F. 186, 190 Fenelon, F. 91, 232, 271–272 Ferrari, G. R. F. 36, 41–42 Feuerbach, L. 15, 21–22, 106, 162, 165–181, 183–196, 198–213, 215– 222, 274, 295 Fichte, J. G. 15, 20–21, 134–135, 138– 141, 143–157, 159, 161–164, 169, 223–224, 268, 274, 276, 289, 294– 295 Ficino, M. 27 Figal, G. 37 Fisher, M. 227–228 Flasch, K. 145 Frank, G. 281 Frankfurt, H. G. 129, 226, 232, 248, 250, 256, 270 Frede, D. 36, 42 Fuchs, E. 148 Gagern, M.v. 174, 190 Gauthier, R. A. 54 Geier, A. 52 Gerhardt, V. 222, 275 Gerl-Falkovitz, H.-B. 230 Givsan, H. 174, 188 Goethe, J. W. 231 Gollwitzer, H. 166, 172, 174, 180, 182, 191 Gonzales, F. J. 51 Goodman, L. E. 208, 242 Goris, W. 113 Gould, T. 37–38, 41–42, 48, 60 Grandt, J. 165, 186, 206 Grave, J. 30, 281, 284 Gregor der Große 107 Gregor von Nyssa 305 Greshake, G. 73–75 Grøn, A. 285, 315 Guardini, R. 270, 275, 310–311
Heereman, F.v. 134, 141, 143, 148, 150, 154, 223, 227, 245, 302 Hegel, G. W. F. 15, 21, 25, 164–165, 167, 169, 185, 189–190, 198, 208 Heidegger, M. 309 Hellbrügge, T. 240 Helm, B. 226, 234, 245 Henry, M. 226 Heraklit 45 Herring, S. L. 292 Hildebrand. D.v. 229 Hoffmann, V. 226 Horn, C. 46, 225 Hume, D. 239, 246 Ilien, A. 85 Imdahl, M. 283, 286 Irenäus 289 Irwin, T. 38, 42 Ivaldo, M. 141 Jacobi, F. H. 135, 149 Jacobs, W. G. 162 Jaeschke, W. 199, 217 Janke, W. 146, 158 Jean Paul 267, 270 Joas, H. 241, 244, 297 Johannes von Damaskus 120 Jolif, J. Y. 54 Jonas, H. 25, 281–283, 285, 307 Kafka, F. 304 Kant, I. 15, 22, 41, 162–163, 206, 210, 218, 223–224, 231, 244–245, 255, 261, 281, 304 Kapp, C. 192, 203 Kapust, A. 281 Kern, W. 72, 298 Kierkegaard, S. 223–224, 248, 273– 274, 296, 311 Knapp, M. 72 Knauer, P. 72 Kobusch, T. 273 Koslowski 277 Kosman, L. A. 36–37 Krämer, K. 113, 115, 117, 127 Kreft, N. 38, 50
338 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Personenregister Kruck, C. 17 Kruse-Ebeling, U. 39, 65, 273 Kuhn, H. 44–45, 52 Kwasniewski, P. A. 110 Lacan, J. 281 Lafont, G. 113 Lange, B. 281 Langmeier, J. 240 Lauth, R. 152 Lee, E. N. 28, 33–34 Lefèvre, W. 206, 208, 210 Leibniz, G. W. 232 Leonardo da Vinci 283 Levinas, E. 15, 22–23, 61, 223, 226, 229, 231, 236, 243, 250–254, 256– 257, 260, 263–264, 272, 276, 292 Lewis, C. S. 96, 229, 233, 263, 303 Link-Wieczorek, U. 226 Loewe, J. H. 158, 161 Lotz, J. B. 234, 268, 275 Löwith, K. 186, 217 Luther, M. 271 MacDonald, G. 129, 229 Malloy, C. J. 67, 93 Mandry, C. 226 Manz, H. G. 162 Marion, J.-L. 226 Marx, K. 190 Matatula, L. 16 Matejcek, Z. 240 Maxsein, A. 65 May, S. 225, 233, 239, 251, 255, 262, 265 McEvoy, J. 65, 72, 82–83, 85, 92, 109– 110, 161 Merleau-Ponty, M. 281 Merriell, D. J. 113, 117 Mertens, K. 86 Messina, P. 83 Mitchell, W. T. J. 281, 286, 291, 293 Möllenbeck, T. 227 Mouroutsou, G. 27–29, 32 Müller, J. 40 Musil, R. 270
Nancy, J.-L. 295 Negel, J. 166, 176 Neuber, S. 281 Nevsky, A. 28–29, 33 Newman, J. H. 223 Nichols, M. P. 51 Nicholson, G. 42 Nietzsche, F. 216 Nikolaus von Kues 21, 145, 147, 312 Nöth, W. 294, 302 Nozick, R. 41, 226, 232 Nussbaum, M. C. 42, 48–49 Nygren, A. 39, 56, 112, 234–235, 265, 271, 277–278 Otto, S. 113 Paimann, R. 154 Papadis, D. 65 Parmenides 30, 33 Pascal, B. 242, 256, 297, 305 Patterson, R. 27–28, 30–32, 35, 40 Paulus 103 Peirce, C. 302 Pelikan, J. 115, 117, 119, 128 Perkams, M. 36 Pesch, O. H. 76, 120, 131 Peters, A. 293 Petrus Lombardus 84, 315 Pichler, W. 281–283, 285, 293, 300– 301 Pieper, J. 219, 227, 229, 238, 246–249, 265, 269, 277–278 Platon 15, 19–21, 27–28, 30, 32–46, 48–57, 60–63, 65, 72, 88, 105, 124, 126, 144, 157, 182, 201, 225, 273– 274, 285–286, 288, 295, 298 Plotin 72 Price, A. W. 36, 40–45, 50, 53–54, 65 Proklos 72 Proust, M. 287 Rametta, G. 136 Rawidowicz, S. 167, 189, 192 Reeve, C. D. C. 266 Richard v. St.-Victor 74–75, 262 Ricken, F. 244–245
339 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .
Personenregister Rickmann, O. 114–115, 118 Ricoeur, P. 226 Ringbom, S. 30 Rivera de Rosales, J. 163 Robin, L. 44 Röhr, H. 167, 173, 183, 188–189, 191, 195, 197, 206, 210, 217 Rudolph, E. 287, 294, 296 Sachs-Hombach, K. 34, 281, 283–285, 301, 307 Saïd, S. 28 Sans, G. 16 Schaden, E. A.v. 166 Schäfer, C. 56 Scheler, M. 162, 232 Schiller, F. 291, 309 Schleiermacher, F. 44, 195 Schlund, A. 17 Schmid, D. 154, 158 Schmidbaur, H. C. 75–76 Schmidinger, H. 292, 294, 313–315 Schmidt, J. 16 Schockenhoff, E. 85, 92–93, 95–96 Schoenfeld, E. 181 Schönborn, C. 305 Schopenhauer, A. 15, 25, 237 Schubbach, A. 30, 281, 284 Schüller, B. 242, 268 Schweidler, W. 143, 282, 285–286, 291, 294 Sekimura, M. 28, 35 Sheffield, F. C. 36, 39–40, 42–43, 45– 46, 55 Sherwin, M. 99 Singer, I. 65, 225, 232, 234, 237, 262 Soble, A. 266–267 Söding, T. 64, 73, 232 Sokrates 36–37, 44, 46, 49–50, 52–53, 58, 130 Spaemann, R. 91–92, 232, 243, 247, 263, 265–266, 272, 277 Speer, A. 85–86 Spinoza, B.d. 256 Spitz, R. A. 240 Splett, J. 7, 16, 100, 132, 145, 185,
223–224, 227, 262, 268, 270, 278, 289, 291 Steinbrenner, J. 281 Stern-Gillet, S. 65 Stirner, M. 190 Stoellger, P. 66, 285, 290–291 Strasser, S. 299 te Velde, R. 122–124 Thomas von Aquin 15, 20–21, 64–87, 89–119, 122, 124, 126–128, 130– 133, 145, 157, 182, 229, 248, 266, 269, 274, 301, 313, 315, 318 Tilliette, X. 126, 310 Tjahjadi, S. P. 166 Tornau, C. 28 Ubl, R. 281–283, 285, 293, 300–301 Velleman, J. D. 245 Veressov, R. 281 Verweyen, H. 159 Vlastos, G. 38, 41–42, 46, 49, 52, 54, 58–59, 65, 89 Wadell, P. 104, 243 Wald, B. 227, 248–249, 265, 278 Waldenfels, B. 281 Wallacher, J. 16 Warnach, V. 64, 232, 234 Wartofsky, M. W. 174–176, 187, 189–192, 195, 215 Weckwerth, C. 211 Welte, B. 273 Welz, C. 264, 285, 291, 295, 302, 315 White, R. J. 93, 110, 227, 234, 270 Widmann, J. 158 Winiger, J. 167, 192 Wippel, J. F. 123 Wischmeyer, O. 234 Wolf, K. 202, 226, 243 Wollheim, R. 300, 306 Zaborowski, H. 16 Zöller, G. 149–150, 152
340 https://doi.org/10.5771/9783495823811 .