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German Pages 342 [340] Year 2017
Lars Oberhaus, Christoph Stange (Hg.) Musik und Körper
Musik und Klangkultur
Lars Oberhaus, Christoph Stange (Hg.)
Musik und Körper Interdisziplinäre Dialoge zum körperlichen Erleben und Verstehen von Musik
Diese Publikation und die vorangegangene Tagung kamen mit freundlicher Unterstützung der Friedrich Stiftung, des Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst sowie des Instituts für Musik der Universität Oldenburg zustande.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Thomas Robbers, Oldenburg 2016 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3680-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3680-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 7 Zur musikalischen Bildung des Körpers. Ein pädagogisch-anthropologischer Zugang
Jörg Zirfas | 21 Veräußern und verinnern – Bewegen um zu hören? Die Methode Jaques-Dalcroze als musikpädagogisches Lehrstück
Daniel Zwiener | 41 Sichtbares Erleben. Bewegungsaufgaben im Musikunterricht im Lichte der Neuen Phänomenologie
Frauke Heß | 53 Denken mit den Beinen, spüren mit dem Kopf, tanzen mit der Seele. Zum Potenzial des Körpers für das Verstehen von Musik
Christoph Stange | 71 Vom Wissen des Körpers und seinen Bildungspotenzialen im Sport und im Tanz
Antje Klinge | 91 Was der Körper nicht lernt, lernt der Kopf nimmermehr ... Lerntheoretische Überlegungen zur Bedeutung der Leiblichkeit des Lernens
Wilfried Gruhn | 105 Schwere und Leichtigkeit im Fluss der Bewegung. Metrisches Verstehen und Klangerleben im Streichinstrumentalspiel
Julia von Hasselbach | 121 Musik als nicht-repräsentationales Embodiment. Philosophische und kognitionswissenschaftliche Perspektiven einer Neukonzeptionalisierung von Musik
Jin Hyun Kim | 145
Quälende Qualia. Argumente gegen die Reduktion sinnlicher Erfahrungen auf körperliche Zustände
Lars Oberhaus | 165 Auf der Suche nach verlorenen Bewegungsspuren. Eine Sacharoff-Interpretation aus verschiedenen Perspektiven künstlerischer Forschung
Ursula Brandstätter, Rose Breuss & Julia Mach | 187 Komposition – Choreo-Graphie – Choreographie. Erinnern mit dem Körper. Betrachtungen am Beispiel von Nijinskys L’Après-midi d’un Faune
Claudia Jeschke & Ulrich Mosch | 207 Musik erleben und verstehen durch Bewegung. Zur Körperlichkeit des Klanglichen in Choreographie und Performance
Stephanie Schroedter | 221 Creative Embodiment als erweiterte Interpretation von Musik. Theoretische Rahmungen und zwei Beispiele aus einem interdisziplinären Practice-as-Research-Projekt
Sara Hubrich | 245 Die Geburt der Musik aus dem Geiste des Körpers. Aspekte musikalischen Embodiments von der kommunikativen Musikalität der frühen Kindheit bis zur komplexen musikalischen Körperlichkeit
Wolfgang Rüdiger | 269 Körper, Leib, rauhe Klänge. Gibt es eine musikalische Art brut?
Peter Röbke | 295 Wo steckt der Beat? Konditionierung und Rekonditionierung der auditiv-motionalen Wahrnehmung in afrikanischen Kulturen
Gerhard Kubik, Moya A. Malamusi & Sinosi Mlendo | 309 Autorinnen und Autoren | 333
Einleitung L ARS O BERHAUS & C HRISTOPH S TANGE
Unbestritten ist der Körper mit allen seinen Facetten eines der „konstitutiven und evidenten Elemente der menschlichen Existenz“ (Marzano 2013, 7). Entsprechend wurde er in den letzten Jahren zunehmend zum Bezugspunkt verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen (z. B. Fischer-Lichte 2011; Gallagher 2005; Wulf 2013; Brinkmann 2012; Dreyfus & Taylor 2016). Diese interdisziplinäre ‚Renaissance des Körpers‘ führte bis hin zur Ausrufung eines body turn (Gugutzer 2006). Umso erstaunlicher ist es, dass dem Körper in der Vergangenheit in Bezug auf den Umgang mit Musik nur punktuell disziplinäre Aufmerksamkeit gewidmet wurde und folglich der Stellenwert in musikalischen Kontexten bis heute allenfalls eine randständige Rolle spielt (Rüdiger 2007; Lessing & Hiekel 2014). Neue Erkenntnisse wären zu erwarten, wenn jene wissenschaftlichen Disziplinen miteinander ins Gespräch gebracht werden, die in je eigener Weise das Wechselspiel von Musik und Körper thematisieren. Insofern erscheint es vielversprechend, in diesem Band Wissenschaftler1 aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Tanzwissenschaft und Tanzpädagogik, Musikwissenschaft und Musikpsychologie, allgemeiner Musikpädagogik und Instrumentalpädagogik sowie anthropologischer Bildungswissenschaft und Musikethnologie zu versammeln. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass das körperliche Erleben und Verstehen von Musik für verschiedene Disziplinen relevant erscheint, da durch das Wechselverhältnis von Musik und Körper spezifische wissenschaftliche Fragestellungen evoziert sowie Bildungsprozesse initiiert werden können. In den Beiträgen der unterschiedlichen Fachvertreter ist dabei zwangsläufig ein dis-
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In den Texten dieses Bandes wird für Personen der verschiedenen Geschlechter die männliche Form verwendet. Dies geschieht ausschließlich aus Gründen der Lesbarkeit. Die anderen Geschlechter gelten dabei immer als gleichwertig eingeschlossen.
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ziplinärer Fokus angelegt. Die Summe der verschiedenen Sichtweisen ist jedoch geeignet, historische gewachsene Perspektiven neu zu durchdenken, um weiterführende Dialoge zwischen den Disziplinen anzustoßen. Die im Titel dieses Bandes gewählten Begriffe ‚erleben‘ und ‚verstehen‘ sind zweifelsohne begriffsgeschichtlich nicht unproblematisch (z. B. ideologischer Missbrauch in verschiedene Strömungen der Reformpädagogik; Steins 2007: 150ff.). Unabhängig davon sind sie jedoch für alle körperbezogenen wissenschaftlichen Disziplinen bedeutsam, da in ihnen das Wechselverhältnis von praktisch-konkreter Darstellung und theoretisch-abstrakter Reflexion thematisiert wird (Körper/Geist-Interaktion; Leib/Seele-Dualismus). Der Begriff Erleben ist wesentlicher Bestandteil der Psychologie und thematisiert die rezeptive Seite der Interaktion von Mensch und Umwelt. In der phänomenologischen Tradition meint Erleben, dass das Subjekt intentional „auf etwas ausgerichtet ist, in dem man bestimmte Gegenstände des Erlebens fokussiert“ (Gumbrecht 2012: 335). Es setzt voraus, „dass der bloß physiologische Akt der ‚Wahrnehmung’ bereits stattgefunden hat und [... die] Interpretation von Welt erst noch folgen wird“ (ebd.). Insofern ist das Erleben unmittelbar an den anderen im Tagungstitel gewählten Begriff des Verstehens geknüpft. Auch der Begriff ‚Verstehen‘ hat eine lange und wandlungsreiche Geschichte, die v. a. in der Hermeneutik als Theorie über das Verstehen dokumentiert ist (Dilthey 1973). Zweifelsohne ist der Stellenwert des Begriffs v. a. im Bereich der Bildung und Wissenschaft stark verankert, wobei kontrovers diskutiert werden kann, inwiefern ein ‚Verstehen von Musik mit dem Körper‘ überhaupt möglich bzw. legitimierbar erscheint. Der Verstehensprozess geht über die rein kognitive Auseinandersetzung mit dem Werk (Musikverstehen) hinaus und umfasst zusätzlich einen Erkenntnisgewinn über das sinnlich-körperliche Subjekt (Selbstverstehen) (Vogt 1997; Heß 2003; Heß 2013; Brandstätter 2013; Richter 2012).
F ORSCHUNGSSTAND
UND
F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN
Bewegungserinnerungen – Bewegungsdiskurse Ein zentrales und umfassendes interdisziplinäres Bezugsfeld findet sich im Bereich Tanz, da sich dort pädagogische, historisch-kulturelle, sportliche, psychologische und musikalische Forschungsansätze überschneiden. „Dance historians of all persuasions would benefit from an ability to understand and to position themselves in relation to the larger intellectual communities of scholarship in the
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arts and humanities, and for this reason alone it is important to think through the possible relationship of dance history to cultural studies“ (Koritz 1996: 89).
Allerdings scheint die fachliche Zuständigkeit für den Bereich Tanz, im Sinne der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Musik und Körper, weder in der Musik- bzw. Tanzwissenschaft noch in der Musik- bzw. Tanzdidaktik eindeutig geklärt zu sein. Während in der Musikwissenschaft die Auseinandersetzung mit Musik oftmals den Bewegungsbezug (etwa bei Ballettmusik) lange Zeit außer Acht gelassen wurde, scheint auch in der Tanzwissenschaft die Beschäftigung mit Musik – aufgrund des bis heute anhaltenden Bemühens, Tanz als eigenständige Kunst zu etablieren – kaum eine nennenswerte Rolle zu spielen. Allerdings lassen sich in den letzten Jahren einige innovative Neuansätze verzeichnen (siehe dazu die Beiträge von Claudia Jeschke und Ulrich Mosch sowie von Stephanie Schroedter in diesem Band). In der Tanzwissenschaft wird dabei davon ausgegangen, dass der Körper für Tänzer als Medium stets gegenwärtig erscheint. Ihm wird ein „Reservoir an Erinnerungen“ (Brinkmann 2012: 167) zugesprochen, das auch als „Tanzwissen“ bezeichnet wird (Klein 2007: 32). Tanz fungiert demnach als eigenständige Wissenskultur (Huschka 2009). Dabei wurde bislang nur rudimentär behandelt, inwiefern der Körper nicht nur in allgemeiner Form historisch-kulturelle Muster als ästhetisch-soziale Praxen durch Bewegungen ‚erinnert‘ und ‚versteht‘, sondern auch daran geknüpfte konkrete Bezugspunkte wie z. B. Atmosphären oder musikbezogene Erlebnisse. Weitere neue Sichtweisen ergeben sich darüber hinaus durch Bezugnahmen auf anthropologische, phänomenologische und poststrukturalistische Denkweisen, die überholt erscheinende dualistische Modelle erkenntnistheoretischer Annahmen im Bereich der Tanzwissenschaft ablösen (Morris 1996). Brücken zum Tanz werden seit einiger Zeit auch wieder von einigen Musikwissenschaftlern geschlagen. Nach der durch den lange herrschenden Primat der absoluten Musik verursachten Körper- und Tanzabstinenz (Schmidt 2012) wird in der Musikwissenschaft z. B. die Bedeutung des Balletts reflektiert, und es werden dramaturgische, choreografische sowie musikalische Aspekte bis hin zu den Auswirkungen dieses ästhetischen Diskurses auf die Darstellungspraxis in Theater- und Gesellschaftstanzformen herausgearbeitet (Jeschke 2001; Woitas 2004). Allerdings wird die Eigenwahrnehmung des Körpers im Rahmen der Perzeption (noch) nicht reflektiert, so dass die Körperlichkeit nur als Körperlichkeit anderer wahrgenommen wird und somit auf der abstrakten Ebene des Ikonographischen verbleibt (Berger 2006: 119ff.).
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Körperbezogene Wirkungsforschungen von Musik Zum Stellenwert des Körpers im Rahmen der Entwicklung musikbezogener Fähigkeiten liegt eine ganze Reihe von Untersuchungen aus musikpsychologischer Sicht vor (Gruhn 2014; Clark 2008). Es finden sich z. B. zahlreiche empirische Befunde zur Entwicklung rhythmisch-körperlicher Fähigkeiten, die in Zusammenhang mit der rhythmisch-musikalischen Entwicklung stehen (Bruhn 2005 sowie der Beitrag von Wilfried Gruhn im vorliegenden Band). Ferner erfolgt beispielsweise der Prozess der physiologischen Reifung parallel zu musikbezogenen und sprachlichen Entwicklungen. Insbesondere die junge Disziplin der Musikphysiologie und Musiker-Medizin widmet sich den gesundheitlichen Aspekten von Musikern (Spahn et al. 2010). Auch gibt es mittlerweile zahlreiche Studien zum Instrumentalspiel, die den Zusammenhang von körperlichen Voraussetzungen einerseits und Spieltechniken andererseits herausheben (von Hasselbach et al. 2011 sowie der Beitrag von Julia von Hasselbach im vorliegenden Band). Auffallend ist in diesem Kontext, dass in musikpsychologischen Studien auffallend wenige empirische Ergebnisse über das Verhältnis von Musik, Bewegung und Erleben bzw. Verstehen vorhanden sind. Hingewiesen werden soll auch auf die breite, aber noch immer unabgeschlossene interdisziplinäre Kontroverse, die das Postulat von musikbezogenem Lernen als Erwerb formaler oder figuraler Repräsentationen nach sich gezogen hat (Gruhn 1998), wobei „the concept of musical embodiment as another type of representation, which might be called corporeal representation“ (Gruhn 2012, 8). Bilden mit dem Körper Verschiedene kritische Stellungnahmen zur Entsinnlichung des Lernens, die eine körperbewusste Seinsweise forderten (Rumpf 1980, Kamper & Wulff 1982), sind seit den 1980er Jahren kaum weiter verfolgt worden (siehe dazu den Beitrag von Jörg Zirfas im vorliegenden Band). Das dort beanstandete institutionell geprägte Misstrauen gegenüber dem sinnlichen Körper hat eine lange Tradition (Fingerhut et al. 2013: 19ff.) und führte im schulischen Rahmen zu einer starken Reglementierung körperlicher Bewegungen, insbesondere im Bereich Tanz. Bis heute konnte er sich „weder als eigenständiger Unterrichtsinhalt noch als Fach dauerhaft etablieren“ (Vogel 2004: 357) – und spielt deshalb in der ästhetischen Erziehungspraxis kaum eine Rolle. Das steht quer zum pädagogischen Konsens, dass Kinder gerne tanzen und der Bewegung im Unterricht mehr Beachtung geschenkt werden sollte.
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Grundsätzlich fällt auf, dass das Potenzial körperlich-musikalischer Bildung bislang nur rudimentär von einzelnen Fachdidaktiken konkret aufgegriffen und systematisch entfaltet wurde. Dies gilt sowohl für die Sport- als auch für die Musikdidaktik. Insofern erscheint bislang unklar, wer für den Bereich Musik und Körper primär zuständig zeichnet – oder ob eine solche Hierarchisierung überhaupt sinnvoll ist. Jedenfalls könnte diese Leerstelle manche Irritation erklären, etwa dann, wenn ‚im Windschatten‘ populärer medialer und normiert-choreographischer Körperinszenierungen (populärstes Beispiel: Rhythm is it (2004)) Tanzprojekte von externen Tänzern an Schulen durchgeführt werden, diese in der Regel jedoch eher weniger den „musikalischen Körper“ (Rüdiger 2007) und dessen individuelle Ausdruckspotenziale im Hinblick auf Musik (z. B. Tanzimprovisation) berücksichtigen. Gleichwohl ließen sich mit Blick auf die Erkenntnisse des jeweils anderen Faches Perspektiven für kooperative Konzepte entwickeln (siehe dazu auch den Beitrag von Antje Klinge in diesem Band). Für die Musikpädagogik kann die ‚Körpervergessenheit‘ in der Vergangenheit als nahezu konstitutives Element des Faches betrachtet werden. Von dem mit der Wissenschaftsorientierung (Günther 1975: 44) verbundenen einseitigen Bemühen, musikalische Strukturen und Elemente zu erfassen (Antholz 1975: 35), hat sie sich letztlich bis heute nicht richtig erholt. Allerdings gab es auch einzelne Ansätze für eine erneute Beschäftigung mit der Sinnlichkeit und der körperlichen Expressivität des Menschen. Sie bezogen sich vor allem auf das Musiktheater (Polyästhetische Erziehung; Roscher 1976) und szenische Zugänge zu Musik (Szenische Interpretation von Musik; Stroh 1982).2 Allerdings wurden dabei der Körper und sein Stellenwert im Rahmen der Musikvermittlung kaum explizit thematisiert. Dabei dürfte insbesondere die ästhetische Transformation von Musik in Bewegung (und umgekehrt) eine zentrale Methode sein, um den Erwerb ästhetischer Erfahrungen auch für Bildungsprozesse nutzbar zu machen (Brandstätter 2008). Die Ambivalenz verstärkter Einbeziehung des Körpers bei gleichzeitig mangelnder theoretischer Fundierung gilt in besonderem Maße für die Verwendung von Popchoreographien, die im Zuge der Hinwendung zu jugendkulturellen Musikpraxen seit den 1990er Jahren verstärkt in den Unterricht einbezogen werden,3
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„Szenisches Spiel ist eine Bezeichnung für alle Arten der pädagogisch inszenierten Darstellung von Inhalten – mit und ohne Musik – unter wesentlicher Zuhilfenahme der Elemente des Körper- und Bewegungsausdrucks sowie der Körpersprache“ (Kosuch 2013, 182).
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Bezeichnend dafür ist die Dominanz von DVD-Lehrmaterialien, die ohne jegliche didaktische Reflexion auskommen, siehe z. B. Ohligschläger 2011.
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ohne dabei jedoch in überzeugender Weise Relevanz im Hinblick auf musikalische Bildungsprozesse entfalten zu können (Vogel 2004). Erst in jüngster Zeit erfahren etwa die Körper von Jugendlichen gesonderte Aufmerksamkeit: So zeigen Yvonne Niekrenz und Matthias Witte die anhaltende Randständigkeit des Themas Körper im Bereich der Jugendforschung auf (Niekrenz & Witte 2011: 11). Forschungserkenntnisse aus Bereichen frühkindlicher Bildung (Amrhein 2000; Zimmer 2007) lassen sich als wichtige Impulse auffassen, um in wissenschaftlich fundierter Form etwa an fachbezogene Erkenntnisse der Rhythmik anzuknüpfen und deren Konzepte für aktuelle Lehr- und Lernfelder zu aktualisieren. Dabei könnte die kaum zu überschauende Anzahl von Lernzielen, die gleichermaßen auf „emotionale und rationale, körperliche und seelische, soziale und psychische, ästhetische und künstlerische Dimensionen, Bedürfnisse, Möglichkeiten etc.“ (Noll 1988, 609) abheben, systematisiert und der spezifische Eigenwert des Körpers bzw. seine (inter-)medialen Qualitäten insbesondere im Bezug auf Musik herausgestellt werden. Dabei sollten auch Untersuchungen zu körperbasierter Musikvermittlung in außereuropäischen Musikpraxen aufgegriffen werden (Ott 1995; Kugler 1986; siehe dazu auch den Beitrag von Gerhard Kubik, Moya Malamusi und Sinosi Mlendo in diesem Band). Ähnliches gilt für den musikpädagogischen Ansatz von Emile Jaques-Dalcrozes, der bislang noch nicht überzeugend in neuere musikdidaktische Konzeptionen integriert wurde (Zwiener 2008; siehe dazu auch den Beitrag von Daniel Zwiener im vorliegenden Band). Das aus der Tradition der Instrumentalpädagogik erwachsene akademisch geprägte Üben und Musizieren am Instrument reduziert den Körper oftmals auf ein Werkzeug, das lediglich zur technischen und möglichst virtuosen Ausführung des Musiziervorganges notwendig ist (Gellrich 1990); als Aspekt des Ausdrucks kommt er nur selten vor (Richter 1994). In letzter Zeit wies Andreas Doerne einen Weg zur Integration des Körpers. Demnach gehen die äußerlich sichtbaren Spielbewegungen auf den innerlich verorteten Ausdruckswillen zurück und das Zusammenspiel beider führt zur Erzeugung von Klängen (Doerne 2010: 17f.). Auch Wolfgang Rüdiger zielt darauf ab, Körper und Klang im Sinne erfüllten Musizierens und Interpretierens zu einer Einheit zusammen zu führen: „Der Körper wird Klang und der Klang Körper“ (Rüdiger 2007: 69; siehe auch seinen Beitrag im vorliegenden Band). Verkörperung & Embodiment Angelehnt an die lange philosophische Tradition der Auseinandersetzung mit dem Körper bzw. der Körper/Geist-Interaktion wird in letzter Zeit auch der Be-
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griff der Verkörperung von der Philosophie verstärkt aufgegriffen und diskutiert (Fingerhut et al. 2013). Gleichzeitig spielt er auch in anderen Disziplinen eine wichtige Rolle. Als Embodiment ist Verkörperung ein Untersuchungsfeld der Kognitionswissenschaft, wobei Kognition als ein Prozess aufgefasst wird, der in einem engen Zusammenhang mit körperlicher Bewegung steht (Gallagher 2005; siehe dazu den Beitrag von Wilfried Gruhn im vorliegenden Band). Kognitive Prozesse können ohne Berücksichtigung ihrer physischen Realisierung nicht angemessen erklärt werden: „Kognition ist nur embodied zu haben – realisiert in einem Körper“ (Stenzel 2010, 21). Diese Sichtweise wird aus philosophischer Sicht (Philosophy of Mind) unter Verweis auf Argumente gegen die Reduktion sinnlicher Erlebnisse auf körperliche Zustände kritisiert (Chalmers 1996, siehe die Beiträge von Jin Hyun Kim und Lars Oberhaus im vorliegenden Band). Im Bereich der Kulturwissenschaften versteht Thomas Csordas den Begriff Embodiment als „existential ground of culture and self“ (Csordas 1994, 6), um gelebte Erfahrung zu stärken. Die Grundannahme „culture is grounded in the human body“ (ebd.: 6) führt zu einer Aufwertung des körperbezogenen Handels im sozialen Umfeld.4 Christoph Richter beschreibt Verkörperung in musikpädagogischer Absicht als ‚Doppelspiel‘ von Bewegung und Bewegtheit (Richter 1987; Richter 1994). Während die Bewegung den Menschen als ein physisches Wesen bestimmt, veranschaulich die Bewegtheit sein subjektives Ausdrucksvermögen. Mittels dieses Wechselverhältnisses soll das Verstehen musikalischer Sinnzusammenhänge einen größeren Stellenwert erhalten. Damit griff Richter letztlich einen schon länger existierenden Diskurs auf. Seit den 1930er Jahren nämlich wurden verschiedene Theorien mit anthropologischen, phänomenologischen und psychologischen Schwerpunkten entworfen, die Körper/Geist-Dualismen zu negieren und ganzheitliche Formen leibbezogenen Erlebens zu etablieren suchten (Straus 1978 [1935]; Buytendijk 1955; Schmitz 1967; siehe dazu auch die Beiträge von Frauke Heß und Peter Röbke im vorliegenden Band). Allen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie (ästhetische) Bewegungen als individuellen Akt leiblich expressiver Erlebnisse beschreiben (pathische Leiblichkeit) und ein mechanisches Körperverständnis kritisieren. In diesem Kontext gilt es auf die phänomenologische und poststrukturalistische Leibforschungen zu verweisen (Merleau-Ponty 1966), die
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Auch aktuelle soziologische angloamerikanische Untersuchungen untersuchen, „how the body contributes to cultural learning and another how abstract cultural concepts and reasoning are grounded in sensorimotor experience, perception, and inner somatic states“ (Kimmel 2013: 300).
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nur vereinzelt auf musikbezogene Bereiche übertragen wurden (Oberhaus 2006). Während der Leib insbesondere in der Phänomenologie schon länger eine bedeutende Rolle spielt (Waldenfels 2000; Böhme 2003), hat der Körper in den letzten Jahren eine erneute Aufwertung erfahren (Alloa et al. 2012). Eine besondere Stellung nehmen die Überlegungen von Jean-Luc Nancy ein, der einerseits an Konzepte zur Leiblichkeit anknüpft, gleichzeitig sich aber auch davon absetzt, indem er den physischen, sichtbaren Körper zum Angelpunkt seiner Überlegungen macht (Nancy 2000; siehe auch den Beitrag von Christoph Stange im vorliegenden Band). Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen überwiegend auf eine interdisziplinäre Tagung zum Thema Musik erleben und verstehen mit dem Körper zurück, die im März 2016 im Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst stattfand. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass es neben den klassischen Referaten und Diskussionen auch Lectures gab – letztlich mit dem Ziel, nicht nur über körperliches Erleben und Verstehen zu reflektieren, sondern – darüber hinausgehend – das körperliche Erleben und Verstehen anhand von lebendiger künstlerischer Praxis auch sinnlich wahrnehmbar werden zu lassen und auf diese Weise die Diskussionen mit einem hohen Grad an Vergegenwärtigung des Tagungsthemas zu fundieren. Auf diese Lectures gehen die hier im Band abgedruckten Beiträge von Ursula Brandstätter, Rose Breuss und Julia Mach sowie Gerhard Kubik, Moya Malamusi und Sinosi Mlendo zurück. Sie wurden videographiert und mit freundlicher Genehmigung der Performer mittels der in den Fußnoten der Artikel eingefügten Links im Internet verfügbar gemacht. In den Beiträgen wurde – trotz aller interdisziplinärer Bemühungen – deutlich, dass die Hürden zur Überwindung fachspezifischer Sichtweisen und daran gebundener spezifischer Argumentationsfiguren groß sind und nicht so leicht abgebaut werden können. So findet sich auf der einen Seite ein abstrakter theoretisch-begrifflicher Diskurs zu den Begriffen Leib, Körper, Leibkörper, Verkörperung, Leiblichkeit, der sich kaum in einer einheitlichen Begrifflichkeit bündeln lässt, auch wenn die Zielrichtung aller Definitionsversuche weitestgehend identisch ist, sofern es um die Überwindung eines funktionalen Körperverständnisses geht. Neben diesen abstrakt-theoretischen fachterminologischen Beiträgen gibt es – auf der anderen Seite – tanztheoretisch und musikwissenschaftlich dominierte Beiträge, die konkrete Praxisbezüge beinhalten, indem Ausführungen insbesondere aus der Tanzwissenschaft immer auch veranschaulicht und in einem größeren Kontext eingebunden wurden. Abschließend sei ausdrücklich den zahlreichen Helferinnen und Helfern gedankt, welche die Tagung und die vorliegende Publikation ermöglichten. Hierzu
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gehört Marthe Oeß, in deren Händen die Organisation und Koordination für die Formatierung der Beiträge lag. Die studentischen Hilfskräfte Eva Sachse, Christopher Stolz und Niklas Stolz haben die Texte und Bilder dem Verlagslayout angepasst. Zudem möchten wir herzlich Frau Dorothe Poggel vom HanseWissenschaftskolleg in Delmenhorst (HWK) danken, die die Tagung bestens organisierte. Frau Christine Wichmann vom transcript-Verlag stand für wertvolle Ratschläge zur Gestaltung des Layouts der Texte zur Verfügung. Das schöne Bildmotiv, das auf dem Cover des vorliegenden Bandes zu sehen ist, stammt von Thomas Robbers. Arne Burhop und Leander Roessler haben uns bei der Lichtund Filmtechnik unterstützt. Finanziell ist diese Publikation durch die FriedrichStiftung, das Hanse-Wissenschaftskolleg und das Institut für Musik an der Universität Oldenburg ermöglicht worden. Die Abbildungen im vorliegenden Beitragsband fungieren ausschließlich als wissenschaftliche Zitate, die Rechte an den Bildern liegen bei den angegebenen Verlagen. Unser besonderer Dank gehört – last but not least – den Autorinnen und Autoren, die sich einem interdiziplinären Themenfeld mit großer Offenheit und hohem Engagement angenähert haben.
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Zur musikalischen Bildung des Körpers Ein pädagogisch-anthropologischer Zugang J ÖRG Z IRFAS
E INLEITUNG Im Folgenden argumentiere ich als Laie auf dem Gebiet der Musikwissenschaft und der Musikpädagogik. Und ich schreibe für musikalische Professionelle, die weit besser als ich wissen, wie eng der Zusammenhang von Körperlichkeit und Musik ist. Aus dieser Verlegenheit soll mir der Rekurs auf eine pädagogischanthropologische Perspektive auf den musikalischen Körper verhelfen (Wulf & Zirfas 2014). Dieser soll nun wiederum im Anschluss an Plessners Differenzierung von Körper haben und Leib sein, an Günther Bittners Trias des menschlichen Sinnen-, Werkzeug- und Erscheinungsleibes und an Jürgen FunkeWienekes Erweiterung durch die Kategorien des Symbol- und des Sozialleibes in den Blickwinkel der musikalischen Bildung kommen (Bittner 1990; FunkeWieneke 1995).1 Die hierbei thematisierten Körper- bzw. Leibkategorien sind als analytisch-heuristische, teilweise ergänzende und teilweise sich überschneidende Kategorien zu verstehen, die immer einen bestimmten Aspekt des musikalischen Körpers beleuchten (Lohwasser & Zirfas 2014).
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Im Folgenden wird die (Plessnersche) Differenzierung von ‚Körper (haben)‘ und ‚Leib (sein)‘ nicht ganz trennscharf durchgeführt. Mit dem Begriff ‚Körper‘ ist in den einschlägigen Diskursen in der Regel das dingliche Phänomen einer begreifenden Außenwahrnehmung und mit dem Begriff ‚Leib‘ das Phänomen einer spürenden Innenerfahrung verbunden. Diese beiden Begriffe sind hier mit Bezug auf den ‚musikalischen Körper‘ immer mit zu bedenken.
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Ich vernachlässige und übergehe insofern eine historische Perspektive auf die Musik, die die vielfältigen Verwicklungen von Körper und Seele – in der Spannbreite von der naiven Identifikation von Körper und Klang über die Instrumentalisierung des Körpers oder von Körperteilen und die Entkörperlichung von Musik in der deutschen Romantik bis hin zur aktuellen Diskussion von Einheit von Geistigkeit und Körperlichkeit – nachzeichnen könnte (Ammon & Böhm 2011; Roch 2014). Und ich nivelliere im Folgenden auch die intraartifiziellen Unterschiede der musikalischen Gattungen, etwa das Singen, die Orchestermusik, die Tanzmusik, die Filmmusik etc. Auch nicht zur Sprache kommt die Perspektive der musikalischen Instrumente. So können diese als mechanisierte Fortsetzungen des Körpers oder auch Körper als Fortsetzungen von Instrumenten betrachtet werden; und deren verschiedenartige körperlich-instrumentelle Zwischenleiblichkeiten könnte man wiederum an den vielfältigen Instrumenten – von der Flöte bis zum Computer – rekonstruieren. In diesem Zusammenhang von Körper und Instrument ergeben sich, so lässt sich vermuten – über die unterschiedlichsten Konstellationen hinweg – jeweils unterschiedliche klangliche, kulturelle und anthropologische Resonanzund Emergenzphänomene. Der Körper wiederum als Instrument oder Teil eines Instrumentes hat nun sein Gegenstück beim Ohr, das als Resonanzkörper selbst wie ein Instrument funktioniert. Und eine Geschichte oder Phänomenologie des Hörens könnte in diesem Zusammenhang die akustischen Phänomene dieses „Instrumentes“ wiederum näher beleuchten (Sloterdijk 1993; Flusser 1997).1 Und schließlich wäre es auch reizvoll, die metaphorischen Körpervorstellungen der Musik zu diskutieren, die ‚kurzen‘ und ‚langen‘ Töne, die ‚großen‘ und ‚kleinen‘ Intervalle, die ‚Tonschritte‘, ‚Läufe‘, ‚Sprünge‘, ‚Passagen‘, ‚Figuren‘, ‚Gestalten‘, ‚Glieder‘, ‚Gesten‘, ‚Artikulationen‘, ‚Stimmen‘ einer Partitur usw. Damit zusammenhängend könnte man zum einen der Frage nach spezifischen Körperteilen in der Musik nachgehen (dem Auge, der Hand, den Beinen etc.) (Rüdiger 2014) und zum anderen könnte man der Frage nachgehen, wie weit sich der Körper eines Musikers oder Komponisten in sein Werk einschreibt – d. h. man könnte versuchen zu klären, ob und inwieweit man deren spezifische
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Die grundlegende These von Peter Sloterdijk (1993: 307) lautet, dass man beim Musikhören nie ganz von dieser Welt ist, sondern sich entweder auf sie zu oder von ihr weg bewegt; Vilém Flusser fokussiert etwas anders und spricht von einem Selbst, das beim Musikhören selbst zur Musik wird, sowie davon, dass mit dem Musikhören ein Selbstfinden ohne Weltverlust möglich ist, indem der Musikhörende „sich selbst als Welt und die Welt als sich selbst findet“ (1997: 155).
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Körperlichkeit in Form und Inhalt eines musikalischen Werkes wiederfinden kann. Doch nun zu meinem Argumentationsgang: Im Folgenden gehe ich vor allem vom Musiker-Körper und nicht vom Hörer-Körper und auch nicht vom musikalischen Körper aus, der als eine Art Synthese von Musiker und Hörer-Körper verstanden werden kann.2 Und ich gehe von einem Bildungsverständnis aus, das unter Bildung sehr allgemein eine Transformation von grundlegenden habituellen Strukturen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns zu einer differenzierten Wahrnehmung, zu einem reflexiveren Denken und zu größeren Handlungsspielräume versteht. Diese Transformation kommt nur dann in Gang, wenn Individuen sich mit etwas auseinandersetzen, das ihnen fremd ist, das sich ihnen widersetzt und entzieht. Erst in der Auseinandersetzung mit dem ‚anderen‘ in den unterschiedlichen Facetten vollzieht sich Bildung (Zirfas 2011a). Mit Blick auf den musikalischen Sinnenleib soll der Zusammenhang zwischen der sinnlichen Erfahrung, der Entwicklung der Sinne und der Ausdifferenzierung von Selbst- und Weltverständnissen thematisch werden. Musikalische Bildung ist zentral Bildung des Selbstgefühls im Kontext von Musik. Hierbei spielen alle Sinne – und nicht nur etwa das Hören – eine wichtige Rolle. Dabei wird eine Sensibilität entwickelt, die über die Musik und das Musizieren weit hinausgeht.3 Beim Werkzeugleib geht es um das praktische Musikmachen, um die Verkörperung eines Könnens. Der Körper des Musikers soll intentional verfügbar
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Der musikalische Körper tritt dann hervor, wenn der „Spieler-Körper seine ihm innewohnende leiblich-seelische Musikalität mit Hilfe seines Instruments so zur Präsenz bringt, dass umgekehrt die vermöge dieser Präsenz hervorgebrachte Musik als eine körperhafte und expressiv-mimetisch geformte Äußerung erfahrbar wird und sich in eben dieser Äußerung einem Dritten – einem Hörer-Körper – zuwendet“ (Lessing 2014: 45).
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Siehe auch die anthropologischen Thesen von Werner Pütz und Rudolf zur Lippe. „Der emotionale Ausdruck von Musik wurzelt tief im Leiblichen – musikalische Gesten korrespondieren weitgehend mit körperlichen und das Hören und Erleben von Musik gehen einher mit intensiven innersensorischen, auch physiologisch nachmeßbaren Körperempfindungen und -gefühlen“ (Pütz 1990: 9). „Grundlegend für die Musikalität aus dem Leibe heraus scheint mir [...] das rhythmische Geschehen im Leibe über die ,Organuhr‘ bis zur Atmung und das rhythmische Erleben der Weltvorgänge mit Tages- und Jahreszeiten, Begegnungen und Alleinsein“ (zur Lippe 1990: 51).
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werden; er muss daher geübt werden. Intendiert wird eine souveräne, spielerische Geschicklichkeit im Umgang mit der Stimme oder dem Instrument. Der Erscheinungsleib des Musikers fokussiert die performative und darstellerische Seite. Hier geht es um die Wirkungen und Effekte, die mit dem Erscheinungsbild und dem Auftreten des Musikers verknüpft sind. Der symbolische Leib betrifft zentral die Möglichkeit, sich als Ausdrucksorgan von Gedanken und Empfindungen zu präsentieren und somit Inneres äußerlich zu machen. Dabei sind körperlich-mimetische Prozesse von entscheidender Bedeutung. Und schließlich lässt sich auch noch die sozialleibliche Körperlichkeit benennen, die mit den Beziehungen zu anderen und der Durchlässigkeit des eigenen Körpers mit Bezug auf den anderen verbunden ist. So befindet sich z. B. bei der Aufführung der Musiker nicht nur mit seinen Mitspielern, sondern auch mit den Zuhörern in einem besonderen Verhältnis, das durch den musikalischen Rahmen geprägt ist.
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Warum ist die Kunst in der Bildung der Sinne so wichtig? Otto Friedrich Bollnow ist dieser Frage phänomenologisch nachgegangen. Er schreibt: „Die in der menschlichen Leibesorganisation gegebenen Sinnesorgane […] werden […] erst durch die menschliche Arbeit, worunter hier vor allem die Werke der Kunst zu verstehen sind, zu eigentlich menschlichen Sinnen. Erst durch das Hören der Musik wird das Ohr zu einem für die Schönheit der Musik empfindlichen Organ“ (Bollnow 1988: 31).
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Oder allgemeiner: „Erst durch die Beschäftigung mit den Werken des objektivierten Geistes, in diesem Fall mit den Werken der Kunst als Erzeugnissen menschlicher Gestaltung, werden die Sinne zu
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Bollnow paraphrasiert hier Karl Marx (Marx 1968: 541f.) „[E]rst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschliche Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt […]. Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.“
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Organen einer differenzierten Auffassung, [...] und so leben wir in einer Welt, wie die Kunst uns sie zu sehen gelehrt hat“ (Bollnow 1988: 31).
In dieser knappen Formulierung – „Wir leben in einer Welt, wie die Kunst uns sie zu sehen gelehrt hat“ – ist ein höchst komplizierter Verweisungszusammenhang eingefangen, der nicht nur das phänomenologische Glaubensbekenntnis umfasst – wir leben eben nicht in einer Welt, wie sie ist, sondern in einer Welt, wie wir sie sehen und die sich damit, als unsere, von allen anderen Welten unterscheidet –, sondern zugleich auf überraschende Weise den Lehrmeister eingrenzt: Nicht der Alltag, nicht die Arbeit, nicht die Wissenschaft gibt hier den Lehrmeister, sondern die Kunst. Die menschliche Entfaltung der Sinne kann nur in der Auseinandersetzung mit der entfalteten Kunst gelingen. Die Entwicklung der Sinne, der Sinnlichkeit, ist kein bloßes Naturereignis, das natürlichen Entwicklungsgesetzen folgt, sondern die Entwicklung der Sinne ist ihrerseits kulturell konstituiert. Das Auffassungsvermögen entsteht und entwickelt sich erst in der Begegnung und der Auseinandersetzung mit den kulturellen und künstlerischen Objektivationen. Ästhetische, respektive musikalische Bildung zielt insofern auf eine spezifische Wahrnehmungsfähigkeit, eine ästhetische Sensibilität und daher eine ästhetische Wahrnehmungsschulung (Zirfas 2012). Musikalische Bildung zielt hier nicht primär auf rationalistische Urteilsbildung, sondern auf die Verbesserung von Aufmerksamkeits- und Spürensqualitäten, auf die Bildung von Aufmerksamkeitsrichtungen und auf Formen, Intensitäten und Auswirkungen des affizierten Gefühlslebens, kurz: auf musikalisch-ästhetische Wahrnehmungen und Erfahrungen (Rolle 1999). Im Vorherrschen der Vollzugorientierung in der ästhetischen Wahrnehmung wird einerseits die Wahrnehmungstätigkeit selbst zum Zweck der Wahrnehmung; andererseits rückt im Verweilen der Wahrnehmung auch ihr Objekt stärker in den Fokus und drittens sind mit der sinnlichen Wahrnehmung auch emotionale Wahrnehmungsprozesse und leibliche, propriozeptive Spürensqualitäten verknüpft. Mit dem Verweilen in der Gegenwärtigkeit der Wahrnehmung ist primär keine Theoretisierung der Leistungen, Bedingungen und Implikationen dieser Wahrnehmung, sondern ein anderer Erfahrungshorizont von Welt, Anderer und Ich verbunden. In und mit ästhetisch-musikalischen Wahrnehmungen kann es Menschen gelingen, ihre Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, und vor allem ihr nichtpropositionales Wissen neu zu bilden. Das nichtpropositionale Wissen der sinnlichen Wahrnehmung ist metaphorischer und bildhafter als das propositionale Wissen. Es ist nicht unbedingt auf Kommunikativität und Falsifizierbarkeit angelegt, somit wesentlich individueller und stärker leiblich gebunden. Das nichtpropositionale Wissen der Sinne ist
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durchzogen von individuellen Bedeutsamkeiten und Prägnanzen, es ist fragmentarischer, pointierter und ereignishafter als das propositionale Wissen und es bietet diesem gegenüber auch ein höheres individuelles Maß an ästhetischen Präferenzen sowie an kaum hinterfragten normativen Orientierungen auf. Die Sinne machen also immer schon Sinn: Sie verleihen Bedeutungen, schreiben Werte zu, konstituieren Strukturen und etablieren Ordnungen. Dabei haben diese Bedeutungen aber eine leibliche, emotionale, tentative und offene Grundierung. Sie reklamieren einen Eigensinn, der nicht in den kulturellen, artifiziellen und kognitiven Codierungen des propositionalen Wissens aufgeht. Andererseits ist die Bedeutung der Sinne natürlich abhängig vom historischkulturellen Umfeld; und sie (re-)präsentieren dementsprechend eine je historisch-kulturelle Hörweise, Sichtweise, Riechweise etc. von Selbst und Welt (Bourdieu 1979). So lernen Kinder i. d. R. genau jene Wahrnehmungs- und Geschmacksmuster, die in ihrer individuellen sozio-kulturellen Umwelt Gültigkeit besitzen (Liebau 2007).
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Das Können lernen lässt sich hier mit einer künstlerischen Pragmatik oder auch mit artistischen Techniken in einen Zusammenhang bringen. In musikalischen Übungs- und Bildungsprozessen geht es zentral um Leibesübungen, d. h. um eine verkörperlichte Handlungsfähigkeit.5 Pädagogisch betrachtet werden hier Übungs- und Trainingsprozesse, leibliches und imaginatives Lernen, Spielen, Experimentieren, Suchen etc. relevant. Hierzu formuliert Plessner unmissverständlich: „Musik deuten heißt Musik machen. Ihr Sinngehalt lässt sich von ihrer Realisierung nicht trennen“ (Plessner 2003b: 471). Die hermeneutische Ästhetik konvergiert mit einer praktischen, die rezeptive mit einer produktiven Kunst. Plessner begründet diesen Sachverhalt vor allem leiblich. Nur derjenige, der eine Kunst handelnd ausübt, kann sie auch
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Dass das Umgehen mit sich und der Welt sich in hohem Maße körperlichen Fähigkeiten und auch Verkörperungen verdankt, ist die zentrale Einsicht der neuen Philosophie der Verkörperung (Fingerhut et al. 2013). Damit rücken Fragen nach der Intellektualität von Gestik und Mimik, verkörperten (Handlungs-)Schemata und einer Körperintelligenz in den Fokus der Betrachtung. Der Körper wird in diesem Sinne nicht zum Erkenntnisobjekt oder zum Vehikel des Geistes, sondern zum zentralen Ort der Erfahrung, der Handlung und der Hervorbringung.
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körperlich nachvollziehen. Oder anders: Kunst verstehen heißt, sie körperlich ausdrücken zu können: „Töne haben gefühlsmäßige Wirkungen, weil sie Impulswerte für Haltung und Motorik unseres leibhaften Daseins besitzen. Deshalb werden wir von einer taktmäßig betonten Folge von Tönen mitgenommen und in ihren Rhythmus hineingezogen. Sie gehen durch und durch“ (Plessner 2003a: 190).
Plessner macht die praktische Bedeutung des Kunstausübens noch einmal an der Differenz zwischen den körperlichen Kompetenzen des Musikers und seinem leiblichen Verstehen auf der einen und dem unmusikalischen Laien auf der anderen Seite deutlich. Der Unmusikalische „kann sich dem zwingenden Zug der Klänge, ihren nach Lösungen drängenden Spannungen, dem Spiel überraschender Umwege und Stauungen nicht überlassen. Er ,kommt nicht hinein‘ und deshalb ,sagt es ihm nichts‘. Er sucht nach Gründen und rational bzw. sprachlich mitteilbaren Motiven, wo zwar Motivationen, aber keine Motive und Gründe sind; er sucht etwas hinter den Tönen, statt auf die Töne zu hören“ (Plessner 2003a: 191).
Wenn auch vielleicht nicht in dieser Absolutheit, machen die Aussagen von Plessner auf verkörperlichte Handlungsmuster, hier auf habituelle musikalische Schemata aufmerksam, die für musikalisch-ästhetische Bildungsprozesse enorm bedeutsam sind. Die These, dass „das, was wir hörend erkennen, [...] wir mit unserem ganzen Körper [erkennen]“ (Kaiser 1988: 30), gilt auch für das Musizieren, das wir mit unserem ganzen Körper betreiben. Hierbei kann man – durchaus leistungs- und kompetenzbezogen – von einer immanenten Steigerungslogik der artistischen Pragmatik sprechen: von dem (durchaus mechanischen) Einstudieren von Praktiken, etwa von grundlegenden Bewegungsübungen über das ordentliche Beherrschen von Techniken und Werken, bis hin zum kreativen und experimentellen Umgang mit diesen selbst. Letztlich zielt das Lernen der Kunst auf eine Virtuosität, in der nicht nur eine natürliche Selbstverständlichkeit, sondern auch die spielerische Leichtigkeit zum Ausdruck kommt. Musik macht Arbeit, braucht Übung, muss mithin gelernt werden. Dieses übende Lernen betrifft nicht nur den Gegenstand, oder den Lernenden selbst, sondern auch im Besonderen die Methode des Lernens. Und Musik ist dann gekonnt, wenn sie mühelos erscheint. Genauer muss man hier unterscheiden zwischen einem Können Lernen für die Musik, einem Können Lernen in der Musik und einem Können Lernen durch die Musik. Am Beispiel des Singens etwa bedeutet diese Differenzierung, dass
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man, um singen zu können, zunächst einige körperliche Übungen vollzogen und internalisiert haben muss: Hier lernt man für das Singen etwa Atmen, Intonieren, Stehen usw. Wenn man dann singt, muss man ggf. gemeinsames Singen vor Zuschauern proben und einstudieren und lernt somit im Singen Formen des inszenierten Singens mit den Mitspielenden und Formen der Kommunikation mit den Zuhörern. Und schließlich kann man durch das Singen etwas für das Leben lernen, etwa sich im Alltag und Beruf besser zu präsentieren oder gemeinsam ein Projekt zu verwirklichen. Mit dem Körper des Musikers sind sinnlich-leibliche, sozio-rituelle, technisch-regelhafte sowie stilistisch-inszenatorische Dimensionen verknüpft, die gelernt werden müssen und insofern mit künstlerischen Übungs- und Bildungsprozessen einhergehen. In musikalischen Übungs- und Bildungsprozessen geht es zentral um Leibesübungen, d. h. um eine verkörperlichte Handlungsfähigkeit, um einen artistischen Habitus (Brinkmann 2012). Hierbei kann man das Training von Übung unterscheiden: Während das Training einen verordneten, fremdbestimmten Charakter hat, gehorchen Übungen einem autonomen Bedürfnis. Insofern haben diese einen unendlichen Steigerungscharakter, der sich sowohl auf die spielerischen Wahrnehmungen als auch auf die spielerischen Aktivitäten und Techniken beziehen lässt.6 Das Üben des musikalischen Körpers hat einen unendlichen und kaum abschließbaren Charakter, im Erlernen von Grundtechniken, im Lernen von künstlerischen Praktiken und im Erlernen der Anwendung von Künsten in vielfältigen sozialen Situationen. Und es hat vielfach auch einen eminent unpraktischen Charakter, der kaum in den Alltag integrierbar erscheint. Dazu noch einmal Plessner „Musik bedeutet dem Leib, seine von ihr geweckte und angesprochene Motorik zu unterlassen und die Lösung der durch sie gesetzten dynamischen [...] Spannungen den Klanggebilden selbst zu überlassen“ (Plessner 1982: 198). Musikalisches Üben ist für den Körper häufig eine Zumutung. Wer immer die Möglichkeit hatte, Musiker beim Einüben eines Stückes zu beobachten bzw. wer selbst
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Dass die Zurichtungs- und Disziplinierungstechniken des Körpers in der Geschichte der Musikpädagogik eine sehr bedeutende Rolle spielen, muss hier nicht eigens betont werden. Die Vulnerabilitäten des musikalischen Körpers wäre ebenso ein Thema wie die Frage nach den spielerischen körperlichen Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten sowie die Frage nach den je spezifischen Erfahrungen der eigenen Bewegungsqualitäten und -gesetzmäßigkeiten oder auch der Frage nach den je spezifischen Sinnlichkeiten, Wahrnehmungen und Aufmerksamkeiten im musikalischen Üben und Spielen (Lessing 2014).
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diese Proben am eigenen Körper erleben durfte, weiß, wovon die Rede ist (Zirfas 2011b). 7
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Nun lässt sich das Musizieren auch unter einem performativen Blickwinkel betrachten, d. h. inwiefern es um das leibliche Verkörpern musikalisch zu transportierender Bedeutungen geht, inwiefern es einen Ereignis- bzw. einen Aufführungscharakter besitzt, inwiefern es rituellen oder inszenierten Charakter hat, inwiefern es ästhetisch aufgeladen ist, inwiefern diese Handlungen auf symbolische Sachverhalte verweisen, inwiefern mit ihnen konkrete Effekte verbunden sind, oder inwiefern in ihnen subjektive Anähnlichungen an (objektive) Körperbilder verbunden sind. Die Perspektive des Performativen fokussiert zunächst einmal, „weniger Tiefer- bzw. Dahinterliegendes als [...] das phänomenale Geschehen, weniger [...] die Struktur und die Funktionen als [...] den Prozess, weniger [...] Text oder Symbol als [...] die Herstellung von Wirklichkeit“ (Klepacki & Zirfas 2008: 67). Der tatsächlich sich ereignende Handlungsvollzug und damit die Frage nach dem modus operandi der musikalischen Handlungen werden hier in das Zentrum der Betrachtungen gerückt. Die Momente der Körperlichkeit bzw. der Leiblichkeit, der Referentialität, der Flüchtigkeit, der Kreativität, der Darstellung, der Emergenz sowie die Frage nach der Wiederholbarkeit sind dann verstärkt von Interesse für eine Beschreibung der performativen Situativität des Musizierens. Ausgehend von einer Pädagogik des Performativen (Wulf & Zirfas 2007) können nunmehr musikalische Situationen unter drei Aspekten betrachtet werden: erstens unter dem Aspekt der leiblichen Gebundenheit des musikalischen Geschehens, zweitens unter den Aspekten des Inszenatorischen und des Präsentativen, und drittens unter dem Aspekt der mimetischen Aneignung kulturellsozialer Wirklichkeiten (Göhlich 2007). Zunächst geht es dann pädagogisch um Performance-Bildung, d. h. um die Ausbildung im Hinblick auf die Darstellung musikalischer Praktiken vor Zuschauern und Zuhörern. Damit ist auch schon eine grundlegend soziale Dimensi-
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Speziell für den Tanz gilt: „Den Körper einsetzen zu können, um musikalische Erfahrungen zu machen und den Körper als Ausdrucksmittel musikalischer Erfahrung benutzen zu können, setzt voraus: Körperbewußtsein, Körperbeherrschung, Bewegungstechnik, Bewegungsrepertoire, Bewegungsideen (Kreativität)“ (Müller 1990: 229). Cum grano salis gelten diese Voraussetzungen aber für jedes musikalische Spiel.
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on von musikalisch-leiblicher Bildung angesprochen. Es geht aber auch um Ereignisbildung als Anknüpfung und Wiederholung an vergangene musikalischperformative Voraussetzungen und Traditionen, um die Etablierung einer gegenwartsbezogenen Präsenz im Musizieren und um eine zukunftsbezogene Erprobung von anderen musikalischen Darstellungsformen. Es geht drittens um Inszenierungsbildung als eine Auseinandersetzung mit der Semiotisierung und Performierung der musikalischen Darstellung. Hierbei rückt die musikalische Inszenierung als ein artifiziell konstruiertes Zeichensystem in den Blick , die als textungebundene Musik zunächst einmal selbstreferentiell ist: Sie bringt ihre Themen hervor, indem sie sich auf sich selbst bezieht. Die Musik kann aber auch als ein signifikantes Zeichensystem verstanden werden, das über ein Thema spricht und insofern auf ein Signifikat bezogen ist – vielleicht am prägnantesten in der Oper; musikalisches Handeln ist intentional präsentatives Handeln. Und könnte hier auch die Spielbildung als individuelles und gemeinsames Experimentieren im Umgang mit musikalischen Formen, Stilrichtungen, Präsentationsweisen usw. noch hinzunehmen. Wolfgang Lessing fasst, hierzu passend, die ‚Performancetheorie‘ von Eduard Hanslick wie folgt zusammen: „Virtuosität erscheint [bei Hanslick, JZ] vor allem als ein performatives Ereignis, das nicht allein den Aspekt der spektakulären Fingerfertigkeit, sondern ebenso auch den einer eindringlich ,überredenden‘ und in vielen Fällen wahrscheinlich genau im Voraus kalkulierten Zur-Schau-Stellung des elegisch mit-empfindenden, des heroisch-titanenhaften oder des souverän-gebietenden Virtuosenkörpers mit umfasst“ (Lessing 2014: 27).
In diesem Sinne dienen die Körperbewegungen etwa beim Lied- und vor allem beim Opernsänger vor allem der Unterstützung der musikalischen Performanz. Gerade Opernsängern wird gewöhnlich von Opernregisseuren viel Körperlichkeit in der Darstellung abverlangt. Der musikalische Ausdruck selbst soll im musikalischen Kunstwerk verinnerlicht werden. Und nur dann, wenn sich der Musiker ganz auf sein Spiel oder seinen Gesang konzentriert, kann er die komplexen Anforderungen der Kunstmusik auch bewältigen (Roch 2014). Das wohlgeformte Werk, das dann zum Ausdruck gebracht wird, wird als vollkommener Körper vorgestellt. Die Idee, die Seele, der Gehalt eines Kunstwerkes erscheint dann in seiner präsentativ-symbolischen Form. Musiker gewinnen ein handlungsleitendes performatives Wissen von musikalischen Praktiken und Situationen durch mentale und körperliche Aneignungsprozesse, deren mimetischer Charakter im körperlichen Verhalten, in Bewegungen, in Mimik und Gesten seinen Ausdruck findet. Musikalisches Handeln ist insofern mimetisch-performativ, als es in seinem Vollzug auf seine Herkunft ver-
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weist, als es eine körperliche Durch-, Aus- und Aufführung ist und als es schließlich die musikalisch-körperliche Wirklichkeit in einer spezifischen Form hervorbringt und gestaltet (Wulf et al. 2001: 20). Die performativ-musikalischen Handlungsvollzüge basieren daher auf einem praktischen Wissen, das im Kern mittels mimetischer Lernprozesse erworben wird. Dabei geht Mimesis weit über bloße Aneignung und Reproduktion hinaus. Vielmehr handelt es sich um Abläufe einer kreativen Anähnlichung an andere (Körper-)Welten (Wulf 2007). Mimetische Prozesse sind sinnlich-körperliche Prozesse der kreativen Anverwandlung, die als Bewegungen auf andere Bewegungen Bezug nehmen, dabei einen darstellenden und zeigenden Aufführungscharakter haben und sowohl eigenständige als auch als Bezugnahmen auf andere Akte oder Intentionen ermöglichen. Das Resultat ist damit keine Form der blanken Imitation, sondern etwas inszenatorisch Neues, und es ist auf diese Weise nicht nur anthropologisch, im Sinne der herausgehobenen menschlichen Fähigkeit zur Nachahmung, geprägt, sondern vor allem auch ästhetisch-darstellerischen Kriterien geschuldet.8 Insofern müsste eine Betrachtung des musikalischen Körpers auch den Körper des Musiklehrers bzw. der -lehrerin mit thematisieren.
D ER
SYMBOLISCHE
L EIB
Schon von früher Kindheit artikuliert der Mensch seinen Körper in den unterschiedlichsten Situationen, etwa um Gefühle zum Ausdruck zu bringen, um seine Intentionen zu verfolgen oder um mit anderen zu kommunizieren. Bei diesen Artikulationen muss es sich nicht immer um künstlerische Tätigkeiten handeln, sondern diese können sich durchaus auch auf andere Lebenssituationen beziehen. Menschen wachsen in kulturell symbolischen Zusammenhängen auf und sie entwickeln und bilden sich in ihnen. Dazu gibt es Sprachen, Bilder, Töne und Symbole einer Kultur, die zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Innen und Außen, aber auch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermitteln. Das zentrale Prinzip der Kultur ist Symbolisierung. In künstlerischen resp. musikalischen Zusammenhängen können wir von ästhetischen Zeichen als bedeutungsvollen kulturellen Zeichen sprechen. Tonfolgen, Tanzschritte, Opernszenerien lassen sich als mediale Formen musikalischer
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„Mimesis [darf] nicht als bloße Nachahmung im Sinne der Herstellung von Kopien verstanden werden. Vielmehr bezeichnet Mimesis eine kreative menschliche Fähigkeit, mit deren Hilfe Neues entsteht“ (Wulf 2014: 247).
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Zeichen verstehen, die für die Produzenten Dokumente ihrer ästhetischen Erfahrungen und für die Rezipienten Anlässe für ästhetische Erfahrungen sind (Mollenhauer 1993: 22). Mollenhauer versteht den Zusammenhang der ästhetischen bzw. der musikalischen Verweisungszusammenhänge mit dem, was sie bezeichnen, als problematischer als konventionelle Symbollogiken, die – wie etwa Piktogramme – mehr oder weniger eindeutige Bestimmungsrelationen aufweisen. Er schlägt vor, die Bedeutung eines ästhetischen Symbols so zu verstehen: Dieses bringe „die leib-seelische Erfahrung eines Menschen auf dem Weg über die Konzentration auf die dabei sich einstellende Empfindung zum Ausdruck [...], und zwar auf eine vorbegrifflich, irrationale Weise“ (Mollenhauer 1980: 450). Auch hierbei spielt die Mimesis eine große Rolle als Prinzip für die Kontexte der Hervorbringung und des Ausdrucks. Mimesis kennzeichnet – anthropologisch, aber auch ästhetisch betrachtet – eine doppelte Bewegung: eine von innen nach außen, in der z. B. Phantasien zum Ausdruck gebracht werden und eine Bewegung von außen nach innen, in der man sich etwa die Eigenschaften einer Musik oder ihre Bedeutung zu eigen macht. Vilém Flusser geht hier sogar weit zu sagen, dass das „Musikhören eine Geste [ist], bei der durch die akustische Massage der Körper zu Geist wird. [Und eine Geste, JZ], in der sich der Körper auf die mathesis universalis einstellt“ (Flusser 1997: 157f.). Neben diesen Anpassungsbewegungen – des Körpers an die Musik und der Musik an den Körper – gibt es noch eine Bewegung zwischen Performativität und Semiotik. Die doppelte Geprägtheit musikalischer Handlungen durch eine performative Handlungs- und eine semiotische Bedeutungsdimension liegt im Sachverhalt des schwellenhaft-oszillierenden Handelns begründet. Die physischen Praktiken des Musizierens kann nur der Musiker selbst vollziehen. Diese sind immer real. Die mit den körperlichen Bewegungen einhergehenden leiblichen Bedeutungserzeugungen können sich jedoch tendenziell davon ablösen und eine eigene artifizielle Wirklichkeit konstituieren. Musikalische Handlungen verweisen also aufgrund ihrer artifiziellen symbolischen Inszeniertheit auf etwas, das jenseits ihrer Tatsächlichkeit angesiedelt ist. Dies führt zu einem ganz besonderen ästhetischen Modus der Selbst-Wahrnehmung und der Selbst-Konzeption. Der Musiker beginnt unweigerlich, sich gedoppelt wahrzunehmen: Als Körper, der die physischen Bewegungen trägt, und als artifizieller Leib, der die musikalischen Bedeutungen hervorbringt. Insofern kann man von einer Differenz zwischen den real vollzogenen Körperbewegungen und der erklingenden leiblich grundierten Bedeutung ausgehen, bzw. die These aufstellen, dass diese Differenz die musikalische Sinnerzeugung erst möglich macht (Mollenhauer et al. 1996: 242). Dazu kommt noch ein weiteres Moment: Erst wenn der Musiker sich körperlich anders verhält und leiblich anders erfährt als im Alltäglichen, entsteht ein
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Sinn für die Musik; man muss sich auf Musik ‚einstellen‘. Mollenhauer spricht hier im Hinblick auf den Leib von einer „Differenzerfahrung“ (Mollenhauer 1996: 243) und im Hinblick auf das musikalische Entstandene von einer „Sinnerfahrung“ (ebd.), von einer durch den Leib vermittelten Erfahrung musikalischen Sinns. Die von der Musik verkörperte Sinnhaftigkeit und Symbolik steht wiederum mit körperlichen Vorgängen von Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung, Nüchternheit und Rausch in einer engen Wechselbeziehung. Hierzu schreibt Susanne Langer: „Die Sinnbeilegung ist ein immer wechselndes, kaleidoskopisches Spiel, das vermutlich unterhalb der Bewusstseinsschwelle, sicherlich außerhalb der diskursiven Vernunft vonstatten geht. Die von der Musik respondierende Imagination ist persönlich, assoziativ und logisch, gefärbt mit Affekten, durchdrungen vom Rhythmus des Körpers und von Träumen. [...] [Die bleibende Wirkung der Musik besteht darin, JZ], daß Dinge begreifbar, nicht daß Aussagen gespeichert werden. Nicht zur Kommunikation, sondern zur Einsicht verhilft uns die Musik, zum Wissen darum, was es, schlicht gesagt, ,mit den Gefühlen auf sich hat‘“ (Langer 1984: 239).
Dabei haben wir es wohl vor allem mit den Basisgefühlen: Freude und Traurigkeit, Angst und Zorn sowie Liebe und Mitleid zu tun.
D ER S OZIALLEIB Folgt man den Hinweisen aus verschiedenen Sozial- und Humanwissenschaften, dann wird deutlich, wie wichtig die leiblich-sozialen Beziehungen für Menschen sind. Dies wiederum hängt damit zusammen, dass die sozialen Erfahrungen lebensgeschichtlich ursprünglich sind. So wird etwa von der Säuglingsforschung schon seit einigen Jahrzehnten konstatiert, dass Säuglinge im hohem Maße Interaktionen initiieren und aktivieren, dass sie verschiedene affektive Zustände und Aufmerksamkeiten gezielt im Hinblick auf wechselnde Umwelten verwenden und schon recht früh eine aktive, intelligente und durchaus lustvolle und nicht nur durch Versagung gekennzeichnete Beschäftigung mit der Umwelt pflegen. Zum anderen konnte diese Forschungsperspektive auch nachweisen, dass die sich entwickelnde Selbstbeziehung fundamental von sozial-leiblichen Beziehungen abhängig ist; hierbei geht es um elementare Erfahrungsgehalte, die ein späteres Selbstverhältnis überhaupt erst ermöglichen.
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Auch das Musikmachen bietet fundamentale sozialleibliche Situationen an – etwa im gemeinsamen Musizieren und Singen. Bedeutsam erscheint die Musik vor allem dann, wenn sie, wie etwa im Singen, gemeinsam erzeugt wird. Zunächst kommen, anthropologisch betrachtet, dem Singen wichtige Bedeutungen zu. Singen ist eng verbunden mit Leiblichkeit und Emotionalität, aber auch mit unbewussten Aspekten der Persönlichkeit. Im gemeinsamen Singen findet eine besondere Form der Vergemeinschaftung statt, die die beteiligten Menschen leiblich in ein symbolisches Universum des jeweilig Gesungenen integriert. „Diese Vereinigung geschieht im Medium der Leiblichkeit, aber anders als in der sexuellen Begegnung bleibt die Distanz zwischen den beteiligten Menschen erhalten. Im gemeinsamen Singen erweitern sich die Ich- und die Gruppengrenzen, ohne daß, wie in den obsessiven Erlebnissen der Ekstase, das Bewußtsein ausgelöscht wird. Singen ist ein Verhalten mit transzendenter Tendenz“ (Josuttis, zit. n. Bubmann 2008: 62f.). Gerade weil das Singen heute in spezifische Bereiche des alltäglichen Lebens ‚verbannt‘ erscheint – im Kindergarten, im Chor, im offenen Singen, im Fußballstadion oder Popkonzerten, bei Vereinen und Verbänden und natürlich auch im kirchlichen Gesang – etabliert das gemeinsame Singen wohl aktuell eine besondere Form von Identität und Intimität, es schafft einen gemeinsamen, kollektiven oder einen Klang-Körper (Eine Bezeichnung, die ja auch für ein Orchester verwendet wird).9 Unterstreicht man den performativen Charakter des gemeinsamen Singens, so wird nicht nur Innerliches expressiv formuliert, sondern gemeinsam performiert, d. h. hervorgebracht. Durch kollektiven Gesang erzeugt man eine besonders innige, körperliche Form der Vergemeinschaftung. Singen kann Alltagssorgen ausblenden, Stress abbauen, Stimmungen heben und dem Leben eine Struktur geben. Es ist zugleich Ausdruck von Innerlichkeit, wie kommunikative Handlung, performatives In-Szene-Setzen sowie Selbst- und Transzendenzerfahrung. Das gemeinsame Singen etabliert eine besondere soziale Situation und birgt eine Fülle von Bildungsperspektiven (Antwerpes 2014). Das Singen kann einerseits traditionelle und erinnernde und andererseits zukunftsweisende und utopische Dimensionen enthalten.
10 Vgl. den für die Musikpädagogik wichtigen Begriff der ‚sozialen Musikpraxis‘, der über die Performativität des Singens und Musizierens hinaus auch das produktive, rezeptive und interaktive Ganze einer Musikkultur (etwa eines musikalischen Genres wie die Popmusik) umfasst: Krause (2010) und Wallbaum (2013).
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„In der Verschmelzung von Fremden und Eigenem wächst Identität, die keiner nur aus sich selbst bezieht, sondern immer auch in Anknüpfung an seine Herkunft, und sei’s in Abgrenzung. Tradition ist das Reservoir unserer Identität. Singen ist deshalb immer auch Rollenhandeln, mit dem wir etwas uns Heutigen Fremdes darstellen, etwas repräsentieren, das zurück- oder vorausliegt“ (Leube 2005: 18).
Insofern ist gerade auch das religiöse Singen ein „Medium des Überschreitens und Transzendierens“ (Bubmann 2008: 62) zu einem anderen, nicht alltäglichen Zustand. In der Religion und in religiösen Kontexten kommt dem Singen noch einmal eine andere, besondere Bedeutung zu. Hier wird ein kollektiver Körper erzeugt, der einen (heiligen) Ort der Zeremonie akustisch markiert, der heilige Atmosphären herstellt oder religiöse Texte transportiert und insofern ein Transzendenzversprechen beinhaltet (Bubmann 2008.: 70). Insofern bildet das Singen hier eine besondere Form der performativen Herstellung einer leiblichen Gemeinschaft. Man kann die Perspektive des Sozialleibs über das Singen hinaustreiben und hervorheben, dass jede musikalische Praxis ein „Miteinander“ ist (Feige 2014: 91). Jeder Musiker bezieht sich auf andere Formen des Musikspielens – etwa seiner Lehrpersonen – und damit auf eine bestimmte Tradition der Verkörperung. „Man gelangt nur zu einer eigenen Artikulation, indem man sich mit der Artikulation anderer auseinandersetzt“ (ebd.: 105). So lässt sich gerade im Jazz besonders explizit machen, wie stark die eigenen Artikulationen immer davon abhängen, dass man „in gewisser Weise seine Stimme vorher anderen Sprechern schon einmal geliehen hat“ (ebd.: 132): Man tritt in einen ‚Dialog‘ mit anderen Artikulationen ein, wird in ein musikalisches ‚Gespräch‘ verwickelt, in dem man etwas über den anderen, die Musik und sich selbst erfährt. Und bei diesem Gespräch sollte man auch die Zuhörer nicht vergessen.
S CHLUSSBETRACHTUNGEN Der musikalische Körper ist ein Körper in der Bewegung, der als Sinnenleib in die Wechselspiele von Sinnlichkeit und Sinn, als Werkzeugleib in Disziplinierungs- und Versuchsübungen, als Inszenierungsleib in Aufführungspraktiken, als Symbolleib in Semiotisierungsprozesse und schließlich als Sozialleib in vielfältige Bezugnahmen zu anderen Körpern eingespannt ist. Besonders intensiv sind die Musikerfahrungen deshalb, weil sie uns – bedingt durch die akustische Beschaffenheit des Menschen – durch ihre Präsentati-
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on unmittelbar zum Nachvollzug auffordern.10 Denn das Hören erlebt man nicht außerhalb, sondern innerhalb des eigenen Leibes und zwar so, dass die Trennung von Subjekt und Objekt tendenziell aufgehoben erscheint (Brandstätter 2004: 151). Die Selbstbewegung geht hier mit der Fremdbewegung und der Mitbewegung zusammen, die eine gemeinsame musikalisch-bewegte Zwischenleiblichkeit erzeugt. Und wer sich bewegt, ist niemals ganz Herr seiner Bewegung (Waldenfels 2010: 233). Das gilt auch für das Hören und Waldenfels spricht hier von einer „Hörbewegung“; Hören bedeutet „leibliches Sichbewegen, Erregung, Aufschrecken, Mitgerissenwerden, Mitgehen“ (Waldenfels 2010: 170). In der Hörerfahrung, in der wir etwas als Musik hören, klingt auch Unhörbares im Hörbaren an. In dieses Hören gehen somit auch Fremdheitserfahrungen mit ein, die mit dem Innenraum und der Eigenleiblichkeit zu tun haben. Die Folgerungen für eine praktische pädagogische Umsetzung liegen vor dem Hintergrund dieser Überlegungen auf der Hand: Es gilt, Menschen mit Hilfe der Musik die Möglichkeiten zu bieten, ihre Wahrnehmung zu schulen, eine Deutungs- und Symbolisierungskompetenz zu erlangen, Inszenierungs- und Darstellungstechniken zu erproben, ein performatives Wissen zu gewinnen, Ausdrucks- und Stilisierungsprozesse anzustoßen, Mitgestaltungsfähigkeiten zu vergrößern und Perspektivismus- und Kommunikationsmöglichkeiten zu entwickeln, um musikalische und ästhetische Übersetzungsleistungen zu gewährleisten (Zirfas 2004; Liebau & Zirfas 2009). Im pädagogisch-anthropologischen Blickwinkel wird mithin deutlich, dass der Körper des Musikers ein Körper in Bewegung ist: in zirkulären mimetischen Strukturen, in unendlichen, selbsttranzendierenden asketischen und experimentellen Anstrengungen und Versuchen, in fixierenden oder dekonstruierenden Vorstellungen und schließlich im Überschreiten von körperlichen Grenzen und im Zurückkommen auf körperliche Gegebenheiten. „Das Wunder der leiblichen Bewegung liegt gerade darin, daß eine Phantasie sich organisiert, eine Inkohärenz funktioniert, eine Unordnung Wirkung entfaltet und daß aus einer ,Kakaphonie von Ursachen und Wirkungen‘ (Valéry) eine Gesamtbewegung entsteht“ (Waldenfels 2010: 212f.). Der Musiker setzt seinen und andere (Klang-)Körper in Bewegung; und er wird wiederum von seinem Körper und von anderen (Klang-)Körpern in Bewegung versetzt. Die Musik erscheint insofern als der Ort, an dem diese leiblichen Bewegungen in besonders ausdrücklicher Weise gebildet und diszipliniert, in-
11 In anthropologischer Zuspitzung lesen wir bei Flusser: „Die mathematische Schwingung der Haut beim Musikhören, die sich dann auf die Eingeweide, aufs ,Innere‘ überträgt, ist ,Ekstase‘, ist das ,mystische Erlebnis‘“ (Flusser 1997: 158).
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szeniert und reflektiert, transformiert und erforscht werden. Kinesis, Aisthesis, Poiesis und Theoria sind im Körper des Musikers verschränkt. Der Körper stellt letztendlich den zentralen Bezugspunkt für jede musikalische Artikulation des Menschen dar, da er diesen – seien es die Hände, der Mund oder sei es der ganze Körper, der in Bewegung gesetzt wird – für jede Handlung und Erfahrung mit der Musik und sich selbst einsetzt. Erst durch den sich bewegenden und den in Bewegung gesetzten Körper-Leib wird der Musiker zum Musiker.
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Veräußern und verinnern – Bewegen um zu hören? Die Methode Jaques-Dalcroze als musikpädagogisches Lehrstück D ANIEL Z WIENER
Als das Ballets Russes am 29. Mai 1913 Strawinskys Sacre auf die Bühne brachte, ereignete sich einer der größten Theaterskandale der Geschichte. Die Zuschauer gingen verbal und handgreiflich aufeinander los, denn was die einen als Beleidigung von Auge und Ohr empfanden, war den anderen eine Offenbarung. Was war geschehen? Musik und Tanz hatten zu einer Synthese gefunden. Die perkussive Musik Strawinskys wurde in Tanzbewegungen sichtbar, welche die gewohnte Künstlichkeit und Leichtigkeit des klassischen Balletts vollkommen vermissen ließen. Diese Verknüpfung aus Musik und Bewegung war unter anderem das Ergebnis einer künstlerischen Auseinandersetzung des Choreographen Vaclav Nijinksy mit der als musikpädagogische Konzeption gedachten Methode des Schweizer Komponisten Emile Jaques-Dalcroze. In dessen Schule in der Reformsiedlung Hellerau bei Dresden hatte Nijinsky mehrfach geweilt, weil ihn die Übertragung von Musik in Bewegung interessierte. Gemeinsam mit der Dalcroze-Schülerin und Mitarbeiterin Marie Rambert hatte er dann begonnen, das Ballett aus dem Geiste der Musik neu zu denken.1
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In der Tat erscheint die Theaterreform im Umkreis der Hellerauer Bemühungen um eine Verbindung von Musik und Bewegung wie eine Inkarnation der NietzscheVision von einer Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Auch die Methode Jaques-Dalcroze als Ganzes legt ihre Anlehnung an idealisierte Vorstellungen antiker Musik-, Bewegungs- und Vermittlungspraxis nahe.
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Denn die Tanzbewegungen wurden nicht mehr nur lose auf die Musik montiert, sondern geradezu aus ihr heraus gewonnen, besonders im Bereich von Metrum und Rhythmus (Erstic et al. 2004: 152f.). Die Methode Jaques-Dalcroze ist ein interdisziplinäres Phänomen – das ist ihr Verdienst, aber zugleich auch ihr Problem. Von Anfang an war Dalcroze in Erklärungsnöten, hatte sich zu rechtfertigen, wurde missverstanden und musste zeitweise sogar im Geheimen arbeiten. Denn Bewegung im Musikunterricht, wie Dalcroze sie praktizierte, galt aus fachlichen und moralischen Gründen als unanständig (Zwiener 2002). Dennoch: der charismatische Jaques-Dalcroze fand begeisterte Anhänger und Unterstützer. Aus ihren Reihen finanziert wurde 1910 die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze errichtet – ein Vorhaben und ein Bau mit für heutige wie damalige Verhältnisse unvorstellbaren Dimensionen. Abb. 1: Festspielhaus Hellerau als Herzstück der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze
Quelle: Seidl 1913: Blatt II1
Das Gebäudeensemble bildete das neue Zentrum der Gartenstadt Hellerau, in der anstatt einer Kirche nun eine Schule an buchstäblich höchster Stelle stand – eine Musik-, Bewegungs-, Theater- und – wie sie weithin wahrgenommen wurde – eine Lebensschule. Den großen Innenhof flankierten Übernachtungsmöglichkeiten für die Studierenden; links und rechts der Mitte befanden sich Unterrichtsund Übungsräume, sowie Wasser-, Luft- und Lichtbäder. In der Mitte aber erhob sich der als Festspielhaus titulierte expressionistische Theaterbau. Methode und
2 Sofern keine Quellen angegeben werden, handelt es sich um eigene Darstellungen.
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Bildungsanstalt in ihrem Wollen und Werden sind nur im Kontext der Lebensreformbewegung erklärbar. Denn diese europäische Bewegung mit ihren Bemühungen zu Veränderungen in Gesundheits-, Ernährungs-, Wohnkultur- und Kleidungsfragen bereitete den Nährboden für die Wiederentdeckung des Körpers im musikpädagogischen Kontext wie auch im wörtlichen Sinne den Baugrund für die Bildungsanstalt auf dem Heller. Der ganze Ort Hellerau ist aus dem Geist der Lebensreform geboren, denn der Möbelfabrikant Karl Schmitt hatte sein Werk und die als Gartenstadt gestaltete Arbeitersiedlung auf unbebauten Grund bauen lassen. Dieser Ansatz genügte der lebensreformerischen Sehnsucht nach Luft und Licht, denn die Architektur der Fabrik verlegte die Arbeitsplätze ans Fenster und der genossenschaftliche Ansatz der Siedlung ermöglichte den Arbeitern, in kleinen Einfamilienhäusern mit Garten anstatt in Mietskasernen zu wohnen. Zu den Utopien der Lebensreform gehörte die Vorstellung von einer tiefgreifenden kulturellen Bildung der Masse und von einer Ästhetisierung ihres Alltages. In diesem Sinne war Emile Jaques-Dalcroze 1910 nach Hellerau berufen worden, für dieses Ziel war seine Bildungsanstalt finanziert und 1911-12 errichtet worden. Schwerpunkt seines Wirkens wurde hier allerdings die Weiterentwicklung seiner Methode, nicht die Heranbildung einer neuen Menschengeneration. Greifbar, aber auch angreifbar wurde die Methode zunächst durch ihre Veröffentlichung im Jahr 1906 und 1916.
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Abb. 2: Methode Jaques-Dalcroze in der Edition von 1916-17
Quelle: Jaques-Dalcroze 1916-17: Einband2
Die Printwerbung zur Methode von 1916-17 macht zweifellos deutlich, dass hinter dem, was verkürzt als Rhythmische Gymnastik bezeichnet wurde, ein breit angelegter musikpädagogischer Bildungsplan stand, in dem es darum ging, dem Lernenden Musik einzuverleiben; von Tanz ist allerdings nicht die Rede. Die Musik war und blieb das zentrale Element in der Methode und auch auf der Hellerauer Bühne. Sie bestimmte sowohl den Gestus, als auch die Art, Richtung und Größe der Bewegung. Mit Musik und Bewegung begegneten sich hier zwei Me-
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Die Abteilungen IV und V sind nicht erschienen, die Abteilung VI nur in französischer Sprache.
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dien, denen bei allen Ähnlichkeiten doch auch entscheidende Unterschiede zugeschrieben wurden: Musik wurde in der Zeit der Jahrhundertwende zu einem Modell für Kunst überhaupt, denn in ihr schienen zwei Phänomene beispielhaft verwirklicht: Zeitlichkeit und Abstraktion. „Musik vermochte sich als Modell offenbar dadurch zu empfehlen, daß in ihrer Erscheinung zwei zentrale Desiderate der Epoche – Abstraktion und Zeitlichkeit – vereinigt zu sein schienen“ (Emons 2000: 3).
Die Besonderheit des Tanzes dagegen wurde darin gesehen, dass er viel stärker noch als Musik dem Zuschauer subjektiviert vermittelt wird. Im Tanz würde demnach die Form „durch das Medium (Mensch) aufs stärkste subjektiviert [...]; es ist nicht anders möglich, als daß ein jedes Tanzkunstwerk eine ganz unmittelbare Beziehung von Mensch zu Mensch schaffe, d. h. vom Tänzer zum Zuschauer“ (Havlik 1984: 27).
Stärker als in der Musik (vom Gesang einmal abgesehen), wird im Tanz die Künstlerperson erfahrbar gemacht; die Musik dagegen wird im Allgemeinen durch ein außerhalb des Musikers existierendes Instrument vermittelt. Abstrakte Musik und subjektivierende Bewegung verband Dalcroze miteinander, indem er den Körper als Musikinstrument einsetzte. Die Musik wurde – als sichtbare Bewegung – dem Übenden und später auch dem Zuschauer in gewisser Weise ‚vermenschlicht‘; sie war Musikvermittler.3 Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen beiden Medien ist ihre zeitliche Organisation, der Rhythmus. In diesem Sinne ist auch der Begriff Rhythmik zu verstehen, der in den Dalcrozeschen Veröffentlichungen entwickelt und später verallgemeinert für Disziplinen in aller Welt verwendet wurde, die in der Nachfolge von Dalcroze stehen. Es ging mit Rhythmik zunächst darum, elementare musikalische Phänomene zu vermitteln, die auch über die Ebene des Rhythmus weit hinausreichten, was beispielsweise die Berichte beweisen, nach denen die Dalcroze-Schüler chorisch singend Generalbasssätze mehrstimmig improvisieren konnten (Zepler 1907: 333; Hammer 1906: 362-363; Seidl 1913: 45 f.). Zum Synonym für den künstlerischen Anwendungsbezug der Methode Jaques-Dalcroze ist jener Teil der Methode geworden, den Dalcroze als Plastique Animée bezeichnete. War die Rhythmik der persönlichen Erfahrung von
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Diesen Begriff benutzt Dalcroze in seinem Aufsatz Musik und Bewegung (1932).
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Musik durch Bewegung gewidmet, sollte die Plastique animée als die „höchste Äußerung“ (Gorter 1914: 9) der rhythmischen Gymnastik eine künstlerische Ausdrucksform für einen Zuschauerkreis auf der Basis der Rhythmik sein. Während der Rhythmiker primär für die eigene Erfahrung agierte, ging der Plastiker, so Dalcroze, „bewusst darauf aus, sein Empfinden auf das gesamte Publikum zu übertragen“ (Jaques-Dalcroze 1919: 167). Interessant ist, dass in den Exercices de Plastique animée erstmals von ‚Interpretation‘ der Musik gesprochen wird (ebd. 1916: 48). Übertragung musikalischer Qualitäten bedeutet hier nicht mehr nur Entsprechung oder Kontrapunktierung musikalischer Parameter, sondern Interpretation, denn der Bewegungsausdruck wurde maßgeblich durch die ‚inneren Quellen‘ des Interpreten gespeist – ein Phänomen, welches Peter Röbke in seinem Ideal vom authentischen Musizieren auch vom Instrumentalisten und Sänger fordert (Röbke 2000). Die künstlerischen Ansätze in Hellerau waren daher nicht als Verdoppelungen von Musik gedacht, was ihnen häufig vorgeworfen wurde, sondern als interpretatorische Übertragungen in ein anderes Medium: in Bewegung (unterstützt von Kleidung, Licht und Raum). Die kanonisierten Bewegungen wurden nicht schematisch ausgeführt, sondern dienten als Material, das individuell und in Abhängigkeit von der Musik interpretiert und überformt wurde. Abb. 3: Kanon im 5/4-Takt, unten mit Ausdruck überformt
Quelle: Jaques-Dalcroze 1911, Band 1: 40
Wie genau die Musik in Bewegung übertragen wurde, ist an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden (Zwiener 2008). Wichtiger erscheint, in aller Kürze
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die Tendenz zur künstlerischen, heil- und allgemeinpädagogischen Überhöhung der Methode Jaques-Dalcroze darzustellen, weil darin Entwicklungen zum Vorschein kommen, die im musikpädagogischen Diskurs bis heute bedeutsam sind. Abb. 4: Bühnenbild für den zweiten Akt von Glucks „Orpheus“
Quelle: Durth 1996: 38
Schon beim Blick ins Festspielhaus der Dalcroze-Schule in Hellerau wird deutlich, dass die Protagonisten mehr wollten, als im Unterrichtsprozess Musik zu vermitteln. Der Name des Gebäudes war Programm, denn hier fanden im Sommer 1912 und 1913 die berühmten Schulfeste statt – zunächst zur Präsentation der Unterrichtsergebnisse, doch im Grunde auch um künstlerisches Neuland zu betreten. Die vielbeachteten Hellerauer Bühnenaktionen waren über Jahre vorbereitet worden, vor allem in Zusammenarbeit zwischen Emile Jaques-Dalcroze und Adolphe Appia. Beide träumten in Kritik an den bestehenden Verhältnissen im Musik- und Tanztheater der Zeit von einer Erneuerung der Bühnenkünste. Der Theaterreformer Appia war stark beeinflusst von der Theaterästhetik Richard Wagners. Dessen Entwurf des Musikdramas sah nicht nur eine Bindung der Künste unter Leitung der Musik vor, sondern auch eine deutliche Aufwertung der visuellen Darstellungsebene, sie forderte eine Bildung des Publikums und postulierte eine gesellschaftliche Wirksamkeit der Bühnenkunst. Appia und Dalcroze wurde schließlich nachgesagt, die von Wagner nicht realisierten Visionen in Hellerau zu verwirklichen. Das schloss ein, dass in zeitgenössischen Besprechungen Ähnlichkeiten der für Wagner und Dalcroze errichteten Festspielhäuser – in Bayreuth und Hellerau – thematisiert wurden. Für beide gelte, dass
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sie „auf entrückte Kunstsammlung und erhebende Freude“ gerichtet und auf „freier Anhöhe, in frischer Luft, mit landschaftlich anziehenden Fernblicken“ errichtet worden seien (Seidl 1913: 3). Aber die Parallelen reichten bis in eine allgemeine Kunstästhetik hinein. Zum Einen stellt Wagner die Kunst ins Zentrum einer Gesellschaftsidee – die Existenz der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze gründet sich genau auf diesen Gedanken; zum anderen forderte Wagner vom Zuhörer ein spezifisches Verständnis von Musik und musikalischer Bewegung – Dalcroze versuchte dies zu realisieren. „Gemeint ist mit ‚Verstehen‘ eine doppelte Forderung, nämlich dass einerseits der Hörer die tönende Logik nachkomponierend begreifen und dass er andererseits den musikalischen Ausdruck – der die Substanz der dramatischen Handlung bildet [...] – einfühlend erfassen müsse“ (Dahlhaus 1994: 95). Dieser von Carl Dahlhaus formulierte doppelte Anspruch von Verstehen und Erfühlen ist gerade in Bezug auf die Hellerauer Realisationen außerordentlich bemerkenswert.4 Denn er zeigt, welche ästhetische Bedeutung der Bewegung zugedacht war: Sowohl Wagner (mit der Orchestermelodie) als auch Dalcroze (mittels Körperbewegung) versuchen die Rolle des Chores in der antiken Tragödie zu adaptieren. Sie fungieren als kommentierende und vermittelnde Brücke zwischen dem Geschehen auf der Bühne und dem Publikum. Dieser Prämisse folgte auch Appias Innenraumgestaltung des Hellerauer Festspielhauses: indem er auf eine Guckkastenbühne verzichtete und abstrakte Bühnenbilder erstellte, die nur noch aus Flächen und Treppen bestanden. Hinzu kam die innovative Beleuchtungsanlage. Der gesamte, also auch der den Zuschauer umgebende Raum, war mit Stoffbahnen bespannt, hinter denen tausende von dimmbaren Glühlampen einen dynamischen Raum schufen. Die verwendete Bühnenkleidung entsprach der Unterrichtskleidung – in einer Zeit, in der das Korsett noch verbreitet war, traten die Akteure mit nackten Armen und Beinen, in schwarze oder weiße Trikots gekleidet, auf. Appia erklärt, warum: „Bis jetzt hat man vom Publikum nur Ruhe und Aufmerksamkeit verlangt. Um es dazu zu ermutigen, bietet man ihm bequeme Sitzgelegenheiten und scheucht es in ein Halbdunkel, das den Zustand völliger Passivität begünstigt, [... so] dass wir hier wie sonst versuchen, uns so weit wie möglich vom Kunstwerk zu entfernen: wir haben uns zu ewigen Zuschauern gemacht. Gerade diese passive Haltung wird die rhythmische Gymnastik umstürzen. Indem uns der musikalische Rhythmus durchdringt, wird er sagen: du selbst bist das Kunstwerk“ (Appia 1988: 182).
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Das Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Einfühlung steht im Zentrum der Ausführungen zu den künstlerischen Anwendungen der Methode Jaques-Dalcroze in der Dissertationsschrift von Zwiener 2008.
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Die Ästhetik dieser Vorführungen ist sehr bemerkenswert. Der Idee der Plastique Animée folgend, übersetzte die Bewegung ohne Darstellung narrativer Elemente musikalische Strukturen in den Raum und überformte sie auf der Grundlage des energetischen und emotionalen Erlebens der Akteure. Aus „tönend bewegten Formen“ (Hanslick 1854: 32) wurden tönend bewegte Räume (Begriff erstmals von Hans Brandenburg, zit. nach Jaques-Dalcroze 1913/1914: 22). Im Sinne einer Wirkungsästhetik versuchte man die Körperbewegung als Vermittler zwischen Musik und Publikum zu montieren: „Beim Anhören des Tonwerkes muss der Hörer sich sagen ‚Die Musik, das bist du!‘ und er kann eine solche Mitarbeit am Werke, das er anhört nur dann erleben, wenn dieses sich in der Tat an ihn richtet [...]“ (Jaques-Dalcroze 1916, 1921, 1988: 126). Nach Dalcroze sei das nur möglich, wenn alle Seiten, also Komponist, Interpret und Publikum, körperlich rhythmisch geschult seien. Mittel und Ziel des Dalcrozeschen Wirkens war also nichts anderes als das, was im Untertitel dieses Bandes formuliert steht: körperliches Erleben und Verstehen von Musik. Für die Plastique Animée in Hellerau lässt sich dieses Ansinnen mit der Ästhetischen Theorie des Hellerau nahestehenden Nietzsche-Forschers und Philosophen Alfred Worringer verdeutlichen, der künstlerische Prozesse als Abstraktions- und Einfühlungsprozesse zu erklären versucht (Worringer 1908). Beide sind die entscheidenden Vorgänge, die bei der Übertragung von Musik in Bewegung ablaufen und wiederum bei der Vermittlung für das Publikum vonnöten sind: Der Abstraktion dienten die Vorschrift der Gesten, der Bühnenaufbau, die Lichtregie und die Choreografie. Diese griffen jeweils Teilaspekte aus dem musikalischen Komplex auf, vereinfachten, reduzierten ihn auf das Wesentliche – sie abstrahierten. Dies sollte es dem Publikum erleichtern, sich in den Gegenstand einzufühlen. Nach Carl Gustav Jung, der die ästhetische Theorie Worringers untersuchte, ist diese Einfühlung dadurch gekennzeichnet, dass der Rezipient im Wahrnehmungsobjekt ein Stück von sich selbst wieder erkennt, sich selbst im Kunstgegenstand empfindet (Jung 1921: 408). Erkenntnisse aus der Neuropsychologie, beispielsweise über Spiegelneuronen, die dafür verantwortlich sind, dass sich der Betrachter ähnlich aktiviert fühlt wie der real körperlich Aktive, stützen die intuitiven Annahmen der Hellerauer Protagonisten, dass die Körperbewegungen der Akteure dies erleichtert. Hat Dalcroze vor 100 Jahren mit seiner Methode von Abstraktion und Einfühlung mit dem Körper also gefunden, was wir heute als ‚Verstehen und Erleben mit dem Körper‘ immer noch suchen? Denn immerhin wurde mit dieser Methode versucht, auf kognitiver und sinnlicher Ebene eine Auseinandersetzung mit dem Werk als ästhetische Erfahrung zu evozieren, die eine persönliche Erfahrung des Selbst immer einschließt.
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Bei näherem Hinsehen und intensiverer Auseinandersetzung mit der Methode offenbaren sich aber Widersprüche und Widerstände. Die Reformsiedlung Hellerau war zunächst ein Nährboden für die Dalcroze-Schule. In der Folge stellte sich allerdings heraus, dass Dalcroze und seine Mitarbeiter sich von der Lebensreformbewegung allzu sehr vereinnahmen ließen, die Erwartungen an die Wirkkräfte in der Bildungsanstalt auf dem Heller stiegen ins Uferlose. Was als eine Konzeption zu musikalischer Bildung gedacht war, geriet zu einer diffusen ideologischen Menschenbildungsidee durch Musik und Tanz: Die Rhythmische Gymnastik sei, so Dalcroze, „eine Kraft wie die Elektrizität oder eine andere große chemische oder physikalische Naturkraft: sie ist eine Energie, ein radioaktives Agens mit der Wirkung, uns [...] der Kräfte der Menschheit bewusst werden zu lassen“ (Jaques-Dalcroze 1916/1917 : 3). •
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Die Dalcroze-Methode stieß im Bereich der Reformpädagogik und in der Jugendmusikbewegung auf breite Resonanz. Neben musikpädagogischen wurden hier insbesondere bewegungspädagogische, soziale, allgemein- und heilpädagogische Wirkungen beschworen. Diese intentionale ‚Verfransung‘ machte die Methode und ihre Protagonisten letztlich unglaubwürdig und angreifbar. Hinzu kam, dass die Bildungsanstalt unter hohem finanziellem Druck stand, was vermehrt zu einer engagierten Öffentlichkeitsarbeit zwang. Die Aufführungen mochten nur unzureichend vermitteln, dass es sich meist um Unterrichtsergebnisse handelte, dass nicht das Ergebnis, sondern der Vermittlungsprozess im Mittelpunkt der Bemühungen stand. Dalcroze war Musiker und kein Bewegungsspezialist oder gar Tänzer; seine Methode hatte einen musikpädagogischen Kern und war kein neuer Tanzstil. Da die Hellerauer Aufführungen aber oft als Tanz wahrgenommen wurden, ist der Vorwurf tänzerischen Dilettantismus’ verständlich; die z. T. verzerrte Rezeption vor allem im Bereich der Tanzwissenschaft ist aber dennoch bedauerlich. War es auf der einen Seite das Anliegen der Protagonisten, Musik zu vermitteln, so dürften die körperbewegten Ereignisse auf der Bühne trotz aller Abstraktionsversuche vom Klanggeschehen ablenken. Dafür sprechen auch die Rezensionen der damaligen Aufführungen: die Rezensenten berichten darin fast ausschließlich über die Choreografien, nicht aber über die gehörte Musik. Auch muss musikalische Bewegung für die Bühne immer einen hohen Grad visueller Orientierung implizieren, weil sie gesehen werden will. So werden auditiver und kinästhetischer Zugang als genuin musikalische Sin-
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neskanäle überlagert, dem Sehenden teilen sich somit verstärkt Äußerlichkeiten mit. Auch der Rhythmik-Unterricht beanspruchte in hohem Maße den Gesichtssinn, z. B. durch die Arbeit mit Notationen oder Fotografien und Figurinen. Visuell einstudierte Haltungen dienten als Bewegungsziele, Handlungen wie Beobachten, Visualisieren, Imaginieren, Imitieren orientierten auf das Sehen, ebenso wie Gruppenübungen und Gruppen- oder sogar Massenchoreographien. Ebenso zielten Dirigierübungen oder der Transfer musikalischer Strukturen in den Raum in starkem Maße auf den Gesichtssinn. Es drängt sich die Frage auf, wie die kinästhetische Wahrnehmung im Zusammenhang mit dem Hören stärker in den Fokus gerückt werden kann. Kritiker warfen der Methode vor, die Musik zu intellektualisieren, sie auf ihre Strukturen zu reduzieren, was in den Aufführungen den Anschein erweckt haben mag, in den ästhetischen Schriften von Dalcroze aber entkräftet wird.
So sind die Methode Jaques-Dalcroze und der nur vierjährige Aufenthalt ihres Erfinders in Dresden-Hellerau ein Lehrstück fachüberschreitender Musikpädagogik, denn der didaktische Kern, dem Lernenden Musik zu verinnerlichen, wurde durch Veräußerung konterkariert.
L ITERATUR Appia, Adolphe (1988): Die Rhythmische Gymnastik und das Theater, in: Marie Louise Bablet-Hahn (Hg.), Adolphe Appia: Oevres complètes, Band 3, Lausanne: Âge d’Homme. S. 182-186. Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze (1911): Der Rhythmus. Ein Jahrbuch. Leipzig: Spamersche Buchdruckerei. Dahlhaus, Carl; Deathridge, John (1994): Wagner, Stuttgart: J. B. Metzler. Durth, Werner (Hg.) (1996): Hellerau. Stand Ort Bestimmung, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. Emons, Hans (2000): Musik des Lichts. Tonkunst und filmische Abstraktion, in: Josef Kloppenburg (Hg.), Musik multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen. Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Band 11, Laaber: Laaber. Erstic, Gregor; Schuhen, Tanja; Schwan, Marijana (Hg.) (2004): Avantgarde. Medien. Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster, Bielefeld: transcript. Goldstein, E. Bruce (1997): Wahrnehmungspsychologie. Eine Einführung. Berlin: Springer.
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Gorter, Nina (1914): Die Gehörsbildung, die Improvisation und die Rhythmische Gymnastik, in: Berichte der Bildungsanstalt 1-2/1914. Hanslick, Eduard (1965 [1854]): Vom Musikalisch-Schönen, Reprint, Leipzig: Breitkopf & Härtel. Hammer, Heinrich (1906): Eine Demonstration der Methode Jaques-Dalcroze, in: Der Klavierlehrer, S. 362-363. Havlik, Adolf (1984): Tanz und Musik. Ein Beitrag zur Festschrift der Tanzfestspiele 1934 der Deutschen Tanzbühne. Leitung: Rudolph von Laban, in: Verband der Theaterschaffenden der DDR (Hg.), Beiträge zur Theorie und Praxis des sozialistischen Theaters: Tanz und Musik. Beiträge zu ihrem Wechselverhältnis, (=Material zum Theater, 175; Reihe Bühnentanz, Heft 17), Berlin: Verband. Jaques-Dalcroze, Emile (1913): Die Presse über die Schulfeste 1913, in: Emile Jaques-Dalcroze, Heft 3/1913, Leipzig: Spamersche Buchdruckerei. Jaques-Dalcroze (1916): Exercises de Plastique animée. Lausanne: Jobin & Cie. Jaques-Dalcroze, Emile (1916-17): Die Rhythmik. Unterricht zur Entwicklung des rhythmischen und metrischen Instinktes, des Sinnes der plastischen Harmonie, des Gleichgewichtes der Bewegungen, und zur Regulierung der Bewegungsgewohnheiten, Lausanne: Jobin & Cie. Jaques-Dalcroze (1919): Rhythmik und bewegte Plastik, in: ders., Rhythmus, Musik und Erziehung, Basel: Kallmeyer’sche Verlagsbuchhandlung. Jaques-Dalcroze, Emile (1932): Musik und Bewegung, in: Die Musik 9/1932, S. 650-654. Jaques-Dalcroze, Emile (1988 [1921] [1916]): Der Rhythmus und die schöpferische Einbildungskraft, in: ders., Rhythmus, Musik und Erziehung, Basel: Kallmeyer’sche Verlagsbuchhandlung. Jung, Carl G. (1921): Psychologische Typen, Zürich: Rascher. Röbke, Peter (2000): Vom Handwerk zur Kunst, Mainz: Schott. Seidl, Arthur (1913): Hellerauer Schulfeste und die Bildungsanstalt JaquesDalroze, Regensburg: Bosse. Worringer, Wilhelm (1908): Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Dresden: Verlag der Kunst. Zwiener, Daniel (2002): Mensch und Musik. Zur Bedeutung und Rezeption von Emile Jaques-Dalcroze als Musikpädagoge, in: Diskussion Musikpädagogik 13/2002, S. 56-75. Zwiener, Daniel (2008): Als Bewegung sichtbare Musik. Zur Entwicklung und Ästhetik der Methode Jaques-Dalcroze in Deutschland als musikpädagogische Konzeption, Essen: Die Blaue Eule.
Sichtbares Erleben Bewegungsaufgaben im Musikunterricht im Lichte der Neuen Phänomenologie F RAUKE H ESS
Musik verstehen und erleben mit dem Körper – im Titel der Tagung, die dieser Band dokumentiert, werden zwei Rezeptionsmodi angesprochen: Kognitive Durchdringung von Musik hier und unvermittelte direkte Wahrnehmung dort. Die inhärente Frage nach dem Verhältnis zwischen sinnlichem Erleben und theoretischer Beschäftigung mit Musik ist traditionsreich und wird nicht nur in Musikwissenschaft und -pädagogik seit Jahrzehnten diskutiert, sondern in grundlegender erkenntnistheoretischer Perspektive auch in der Philosophie, insbesondere hermeneutischer und phänomenologischer Ausrichtung. Angeregt durch den Tagungstitel fädele ich mich in diesen theoretischen Diskurs ein und knüpfe dabei an empirische Daten an, die im Rahmen der von mir durchgeführten Studie FEIN erhoben wurden.1 Im Zentrum stand eine Unterrichtssequenz zur Transformation von Musik in Bewegung. Der Umgang pubertierender Jugendlicher der Jahrgangsstufen acht und neun mit der von uns gestellten Bewegungsaufgabe eröffnete weitreichende musikdidaktische Fragen (Heß & Voss 2016), deren Beantwortung nur zum Teil empirisch möglich ist. So etwa die Frage, welchen Stellenwert körperbasiertes Erleben einerseits und objektorientiertes ‚Verstehen‘ andererseits im transforma-
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Der vollständige Titel lautet: Musikunterricht im Spannungsfeld von femininem Fachimage und instrumentellem Geschlechtsrollen-Selbstbild. Eine videobasierte Untersuchung zu performativen Verhaltensweisen im Musikunterricht der Sekundarstufe I.
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tiven Arbeiten haben. Oder noch grundsätzlicher: Kann individuelles Erleben kommuniziert werden oder ist jede Form der Artikulation (Verbalisierung oder Visualisierung) notwendig bereits Objektivierung? Um diesen theoretischen Fragen nachgehen zu können, verlasse ich in diesem Beitrag die empirische Ebene der Studie weitgehend.2 Damit keine Missverständnisse aufkommen, sei vorangeschickt, dass der Fokus im Folgenden auf individuellen Wahrnehmungs- und Verstehensprozessen liegt. Obwohl Gruppenaspekte für Unterrichtsforschung ohne Zweifel zentral sind und daher in den bisherigen Publikationen zu FEIN im Mittelpunkt standen, konzentriert sich die hier verfolgte Frage nach dem Erleben und Verstehen von Musik auf das Subjekt. Leitend für meine Überlegungen ist die Philosophie Hermann Schmitz’, die er selbst als Neue Phänomenologie bezeichnet.
A USGANGSMATERIAL FEIN untersucht eine eigens für die Studie entwickelte Unterrichtssequenz, deren Gegenstand eine Formanalyse durch Bewegung war. Im Rahmen des regulären Musikunterrichts bekamen Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 8 und 9 die Aufgabe, ein Werk3 so in eine Bewegungsabfolge zu transformieren, dass dessen formale Struktur sichtbar wird. Dazu arbeiteten die Jugendlichen ohne Anleitung sowohl in geschlechtshomogenen als auch geschlechtsheterogenen Gruppen. Die Ergebnisse einer Jungen- und einer Mädchengruppe aus einer 9. Gymnasialklasse bilden den Hintergrund für die im Folgenden entwickelte Fragestellung. Beide Gruppen entschieden sich, den 4. Satz aus Hindemiths Bläserquintett zu transformieren. Die Mädchengruppe präsentierte nach einer 45minütigen unangeleiteten Arbeitsphase eine tänzerisch konnotierte Bewegungsabfolge, die Jungen eine Art Verfolgungsszene. Die Form des Hindemith-Satzes, ein Rondo, wurde durch beide Bewegungsfolgen deutlich veranschaulicht: Sich wiederholende Bewegungen kennzeichneten die Ritornelle und variierende Aktivitäten die Couplets (Abb. 1-4).
2
Grundlegende Informationen zum Projekt und den Publikationen lassen sich auf meiner Homepage einsehen (http://k-urz.de/2C41). Eine detaillierte Auswertung der Daten in Genderperspektive findet sich in Heß & Voss 2016.
3
Zur Wahl standen: Paul Hindemith, Kleine Kammermusik op. 24, 2 für Bläserquintett, 4. Satz und Giacinto Scelsi, Konx-Om-Pax, 2. Satz.
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Abb. 1: Mädchengruppe – Ritornelle Ein Mädchen läuft von einem Tanzpaar zum nächsten
Abb. 2: Jungengruppe – Ritornelle Gruppe läuft vor dem Verfolger weg
Abb. 3: Mädchengruppe – Couplets Tanzpaare mit jeweils neuen Bewegungen
Abb. 4: Jungengruppe – Couplets Jeweils andere Gruppe wird Opfer der Verfolgung
Zusammenfassend finden sich in den gleichermaßen gelungenen Visualisierungen folgende Unterschiede hinsichtlich der Bewegungsqualitäten: •
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Während die Jungen vorrangig Alltagsbewegungen wie Laufen und Rennen nutzten, arbeitete die Mädchengruppe mit tänzerisch konnotierten Bewegungen. Während die Jungen raumgreifend agierten, fiel der Bewegungsradius der Mädchen relativ eng aus. Während die Gesamtpräsentation der Mädchen sich als eher abstrakt charakterisieren lässt, erzählten die Jungen szenisch eine Geschichte.
Dass sich in der narrativen Ausrichtung der Jungen-Präsentation eine Distanz zum Tanzen ausdrückt, ist naheliegend (Heß 2013). Aber weniger rasch lässt sich beantworten, ob die unterschiedlichen Bewegungsformen aus verschiedenen Erlebensintensitäten resultieren oder sich in ihnen gar unterschiedliche Verstehensformen oder Hörzugänge zeigen. Könnte es sein, dass tänzerisch-expres-
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sives Bewegen insbesondere auf den musikalischen Ausdruck und eine handlungsorientierte Darstellung eher auf Strukturmerkmale reagiert? Dieser Frage werde ich mit Hilfe der von Hermann Schmitz seit den 1960er Jahren ausgearbeiteten Neuen Phänomenologie nachgehen. Da sein Ansatz in der Musikpädagogik bislang kaum rezipiert wurde4, zeichne ich seine Argumentation zunächst detailliert nach. Schmitz’ Theorie nutze ich zur Untersuchung individueller Wahrnehmungsvollzüge, da sie sich systematisch mit Wahrnehmungsphänomenen befasst und dabei die Frage der Unmittelbarkeit des Erlebens thematisiert.
S UBJEKTIVITÄT
ALS PRIMÄRES
H INGERISSENSEIN
Hermann Schmitz’ Philosophie zeichnet sich durch ihre klare Terminologie und strenge Systematik aus. Die so entstehenden modellhaften Erklärungen, gepaart mit einer Hermetik des Denkens, sowie der apodiktische Duktus seiner Schriften führen zu einer außergewöhnlich kontroversen Rezeption: Während einerseits eine seinem Schaffen und dessen Verbreitung gewidmete Gesellschaft für Neue Phänomenologie existiert (www.gnp-online.de), gibt es andererseits genauso vehemente Kritik an Schmitz, bspw. vonseiten des Phänomenologen Bernhard Waldenfels an den erkenntnistheoretischen Prämissen und insbesondere an Schmitz’ Leibbegriff (Waldenfels 2000: 265-284). Diese kritische Rezeption werde ich später aufgreifen, zunächst jedoch die Neue Phänomenologie in ihren Grundzügen wertfrei nachzeichnen.5 Wie die traditionelle Phänomenologie wendet sich Schmitz gegen positivistische, genauer physiologische Wahrnehmungslehren. Sie sind für ihn in mehrfacher Weise problematisch.
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Eine Ausnahme bildet Lars Oberhaus’ Aufsatz Hier tanzt der Leib (2010).
5
Mir erscheint eine Auseinandersetzung mit der Neuen Phänomenologie in musikpädagogischen Zusammenhängen von Interesse, da sie dem leiblichen Spüren einen fundamentalen Wert für Erkenntnis zuschreibt, ohne dabei eine – wie auch immer geartete – Instanz transzendentalen Bewusstseins einführen zu müssen. Durch ihre Phänomen-Nähe lädt die Theorie zu einer konkretisierenden Anwendung ein. Explizite anwendungsorientierte Bezugnahmen existieren u.a. in der Medizin (z. B. Langewitz 2008), der Genderforschung (z. B. Landweer 2014) oder der Humangeographie (z. B. Hasse 2010).
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Die Vertreter physiologisch grundierter Theorien müssen in ihren Argumentationen neben den Sinnesorganen die Existenz einer inneren Instanz (etwa die Seele oder die Psyche) annehmen, die der Verarbeitung von Wahrnehmungsdaten dient. Schmitz zieht keineswegs in Zweifel, dass die von den ‚Sinnesorganen‘ empfangenen Eindrücke nach bestimmten Schemata physisch verarbeitet werden, wendet sich aber gegen den „Salto mortale einer naiven Metaphysik“ (Schmitz 1978: 7), der darin besteht, aus empirischen Beobachtungen phantastische Konsequenzen zu ziehen. Des Weiteren hält Schmitz es nicht für angemessen, Sinnesorgane als „Schleusen der Wahrnehmung“, die den Zugang zu den Dingen vermitteln, aufzufassen. Die Sinnesorgane sind notwendige Bedingung, nicht aber Ursache der Wahrnehmung.
„Die physiologistische Umdeutung der Bedingungsfunktion von Körperteilen und dort sich abspielenden Prozessen zu einer Vermittlungs- oder Schleusenfunktion hat die Abdrängung des Wahrnehmens in die abstrakte Rolle einer Gattung des Sehens, Hörens, Riechens und verwandter einzelner Sinnesfunktionen verschuldet. Sie verführt nämlich zu dem Glauben, […] Wahrnehmung überhaupt sei nicht mehr als das so entstehende Netz von Kanälen“ (ebd.: 5f.).
Und schließlich lehnt er es ab, aus der Fokussierung auf einzelne Sinnesorgane abstrakte Gattungen der Wahrnehmung abzuleiten, also etwa eine Gattung des Sehens, des Hörens, des Riechens etc. Die Unzulänglichkeit dieses ‚separatistischen Sensualismus‘ verdeutlicht Schmitz an Beispielen klimatisch-optischer Atmosphären: Wenn wir bspw. eine fahle Abendstimmung wahrnehmen, zergliedern wir diese nicht in ihre optischen und klimatischen Bestandteile, sondern gelangen allein im gemeinschaftlichen „Einsatz des Sehens und klimatischen Spürens“ (ebd.: 14) zur Wahrnehmung dieser Atmosphäre. 6
6
In Schmitz’ eigenen Worten lautet die skizzierte Argumentation wie folgt: „Gemäß dem Gesagten verfällt einer irreführenden und nicht sachlich begründbaren Suggestion, wer mit der herrschenden Meinung annimmt, dass wir ,mit‘ den Augen oder Ohren oder dem Gehirn oder ‚durch‘ diese oder andere Körperteile etwas wahrnähmen, und dass irgendjemandem auf solche Weise Informationen zuflössen, die etwa von Wellen oder Teilchenschauern, die ihrerseits von entfernten Gegenständen der Wahrnehmung ausgehen, angestiftet und nach oder bei Informationsempfang z. B. in einer Seele oder einem Bewusstsein zu einer Wahrnehmung verarbeitet würden. Damit will ich aber nichts gegen die vielleicht gut belegbaren Thesen vorbringen, dass wirklich solche Wellen oder Teilchenschauer von Gegenständen ausgehen und Augen oder Oh-
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Mit der Abgrenzung von einer reduktionistisch-physiologischen Betrachtung menschlicher Wahrnehmung geht bei Schmitz zwangsläufig eine Aufwertung unvermittelter, auf jede Form des Körper-Geist-Dualismus verzichtende Wahrnehmung einher, da die Instanz des Geistigen keine Erklärungsmacht besitzt, weil sie immer ‚zu spät‘ kommt: Eine Person muss „schon mit sich bekannt sein […], um sich etwas zuschreiben zu können“ (Schmitz 2009: 44). Diesen Status (vor der distanzierenden theoretischen Selbstidentifizierung) kennzeichnet 7 Schmitz mit dem Terminus präpersonaler Bewussthaber. Als präpersonaler Bewussthaber ist der Mensch im Leben aus primitiver Gegenwart mit sich selbst bekannt. „Wenn ich z. B. Schmerzen habe, weiß ich sofort, dass ich leide, ohne einen Gequälten finden zu müssen, dem ich Identität mit mir zuschreibe. Ferner gibt es fassungslose Zustände […] – z. B. rasenden Zorn, panische Angst, Massenekstasen bei Festen […] – Zustände, in denen der Bewussthaber sich gar nicht mehr als Relat einer Identifizierung zur Verfügung steht und sich dennoch in der Intensität der Erregung oder Umnachtung deutlich spürt, viel stärker als bei gleichgültigen Verrichtungen im Alltag“ (ebd.: 30).
Ein Mensch identifiziert sich im Leben aus primitiver Gegenwart mit sich selbst, ohne dass diesem Akt Selbstbewusstsein vorangehen muss. Vielmehr bedarf das identifizierungsfreie Selbstbewusstsein des affektiven Betroffenseins. Das, was
ren pp. treffen, worauf in diesen und von ihnen ‚angesteckten‘ anderen Körperteilen (Nerven) Prozesse in Gang kommen, die regelmäßig so geprägt sind, dass bestimmte Typen von ihnen bestimmte Typen von Wahrnehmung entsprechen, die nach Maßgabe gründlicher Beobachtung ohne jene unvermeidlichen Begleiter nicht zu Stande kommen, wohl aber, wenn die betreffenden physiologischen Prozesse sich abspielen. Alle diese Annahmen sind vielmehr für viele Fallgruppen gründlich erprobt und obendrein lohnende Richtlinien fruchtbarer, auch praktisch nutzbringender psychologischer Forschung. Gegen diese etwas einzuwenden, liegt mir fern. Ich wende mich nur gegen den Salto mortale einer naiven Metaphysik, die aus solchen empirischer Sicherung fähigen Tatsachen die phantastische Konsequenz des Physiologismus zieht, an denen, wenn sie nicht aufgedeckt würden, die erst noch zu leistende unbefangene Phänomenologie der Wahrnehmung verkümmern müsste“ (Schmitz 1978: 7). 7
Schmitz operiert mit einer Vielzahl spezifischer Termini, deren Kenntnis nötig ist, um seine Argumentation nachvollziehen zu können. Ein von mir erstelltes grafisches Schema soll den Nachvollzug seines ‚Wahrnehmungsmodells‘ erleichtern (Abb. 5, S. 63, Die intendierte Übersichtlichkeit zieht allerdings eine Komplexitätsreduktion der Argumentation zwangsläufig nach sich.)
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mich affektiv betrifft, was mir nahegeht, was mich etwas angeht, nennt Schmitz 8 eine subjektive Tatsache, über die nur der Betroffene selbst sprechen kann. Meine Schmerzen, meine unbändige Wut oder meine lähmende Angst sind von blutvoller Lebendigkeit und dringlich wirklich (Schmitz 1992: 78). Durch die Einführung eines präpersonalen Bewussthabers und eines identifizierungsfreien Spürens grenzt sich die Neue Phänomenologie von der Vorstellung ab, es gäbe einen Ort, der das gesamte Erleben eines Menschen beherbergt (in entsprechenden Konzeptionen dann als Seele, Psyche oder Geist bezeichnet). Um nun aber das, was in dualistischen Ansätzen im Geistigen aufgehoben ist, abbilden zu können, rückt Schmitz den Leib ins Zentrum seines Denkens. „Ich spreche, wenn ich ‚leiblich‘ sage, nicht vom sichtbaren und tastbaren Körper, sondern vom spürbaren Leib als dem Inbegriff solcher Regungen wie z. B. Angst, Schmerz, Wollust, Hunger, Durst, Ekel, Frische, Müdigkeit, Ergriffenheit von Gefühlen“ (Schmitz 2009: 34f.). Leibliches Spüren ist für den präpersonalen Bewussthaber Realität. Somit bildet, nach Schmitz, der Leib, und nicht etwas Seelisches oder Geistiges die Basis des Menschseins, das sich im Spüren natürlich nicht erschöpft. „So wesentlich die primitive Gegenwart […] als Stützpunkt des Orientiertseins demnach auch ist, so wenig kann sie das Leben füllen, wenn sie sich nicht entfaltet“ (Schmitz 2006: 19). Diese Entfaltung des Menschen zur Person, sein Eintritt in die Welt vollzieht sich im Wechselspiel mit einer zweiten Gegenwartsdimension, der entfalteten Gegenwart. Erst hier wird der Mensch zum personalen Bewussthaber, der sich selbst als einzelnes Subjekt neben anderen identifiziert. Nicht mehr bloß in affektiv-direkten Äußerungen (Rufe des Erschreckens, Schmerzschreie etc.), sondern durch satzförmige Rede spricht die Person über Sachverhalte, die sie nicht mehr direkt betreffen, die ihr nicht unter die Haut gehen. Nicht länger sind es subjektive Tatsachen, die dem Menschen widerfahren: Der personale Bewussthaber verständigt sich mit anderen über objektive Tatsachen (synonym verwendet Schmitz neutrale Tatsachen). Damit verabschiedet sich Schmitz von der gebräuchlichen Vorstellung, alle Tatsachen seien objektiv. „Vielmehr gibt es nicht nur viele Tatsachen, sondern auch viele Tatsächlichkeiten, nämlich je eine subjektive pro Bewussthaber und eine objektive, die allen gemeinsam ist und durch Abfallen der Subjektivität für jemanden entsteht“ (Schmitz 2009: 32).
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Die Termini subjektive Tatsachen und primitive Gegenwart sind in keiner Weise pejorativ konnotiert, sondern umschreiben im Gegenteil den höchsten denkbaren Grad an Wirklichkeit.
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Wie und wodurch vollzieht sich nun dieser Umschlag von der primitiven zur entfalteten Gegenwart? Um diesen Übergang zu charakterisieren, benennt Schmitz zunächst folgende fünf Momente der primitiven Gegenwart, in denen die Entfaltungsrichtungen bereits impliziert sind: hier, jetzt, sein, dieses sowie ich. In primitiver Gegenwart sind die fünf Dimensionen noch nicht entfaltet, sondern ununterscheidbar miteinander verschmolzen. Wenn ich bspw. erschrecke, geschieht das plötzlich; es geschieht sozusagen im absoluten Augenblick und an einem absoluten Ort. Es gibt in dieser Betroffenheit, die sich in leiblicher Engung9 ausdrückt, keinen bestimmbaren Raum oder Zeitpunkt, kein distanziertes Erleben und erst recht kein sich mit sich identifizierendes Ich. Da die Merkmale in primitiver Gegenwart binnendiffus bleiben, zeichnet sich „die Fünfzahl erst im Rückblick von der Entfaltung her ab“ (Schmitz 2006: 19). In der Entfaltung der fünf Merkmale etabliert sich der personale Bewussthaber. Es vollzieht sich ein Übertritt von der primitiven Gegenwart in die entfaltete Gegenwart, somit in die Welt. Zwei Prozesse sind dafür charakteristisch: •
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Vereinzelung: „Der absolut identische Bewussthaber wird, indem er sich durch Selbstzuschreibung als Fall einer Gattung versteht, zum einzelnen Subjekt, das die Zahl der Subjekte um 1 vermehrt“ (Schmitz 2009: 101). Neutralisierung: Während im Leben aus primitiver Gegenwart alle Bedeutungen für jemanden subjektiv sind, werden in der entfalteten Gegenwart einzelne Bedeutungen dieser subjektiven Bedeutung enthoben: Durch diese Neutralisierung entsteht für das einzelne Subjekt etwas Neues, das ihn nicht mehr unmittelbar betrifft, das ihm fremd ist.
Vollzieht sich diese Neutralisierung unabhängig von der Vereinzelung, spricht Schmitz von übergreifender Neutralisierung: Über einen einzelnen Sachverhalt wird eine Gattung als Ganze neutralisiert. In unserem Kontext könnte das z. B. bedeuten, dass eine Person ein musikalisches Genre in Gänze ablehnt, nachdem es sich negativ gegenüber einem Einzelwerk dieses Genres positioniert hat. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass sich das Person-Sein als ein beständiges Doppelleben in entfalteter und in primitiver Gegenwart vollzieht. Die sich in ständiger Wandlung befindliche Entfaltung einer Persönlichkeit vollzieht sich in der persönlichen Situation. Um diesen beständigen Wechsel beschreiben zu können, führt Schmitz die Termini personale Emanzipation und
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Engung und Weitung (wie auch Spannung und Schwellung) sind zentrale Konstrukte der Neuen Phänomenologie. Sie stellen die Pole dar, zwischen denen sich die leiblichen Regungen bewegen.
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personale Regression ein, zwei Bewegungen des Subjekts, die einander bedürfen. Durch personale Emanzipation gelingt es, ausgehend vom Eigenen „neue Wurzeln zu schlagen“, Stellung zu beziehen und sich vom leiblichen Spüren zu distanzieren. Personale Emanzipation ist somit kennzeichnend für die Entfaltungssituation. Zugleich muss es Raum für eine beständige Re-Subjektivierung geben, die dem Menschen erlaubt, sich auf das Eigene zurückziehen zu können. Dieser „Rückzug“ in die primitive Gegenwart geschieht durch personale Regression. Personales Leben ist somit immer ein Zusammenwirken von Emanzipation und Regression. Abb. 5: Schema des Wahrnehmungsprozesses nach Schmitz
V ERSTEHEN UND E RLEBEN ODER : S UBJEKTIVE T ATSACHEN IN PÄDAGOGISCHEN K ONTEXTEN Auch wenn dieser begriffsorientierte Parforceritt die Neue Phänomenologie um einige Dimensionen beschneidet, beende ich die Paraphrasierung hier, um mich vor diesem Hintergrund musikpädagogischen Überlegungen zum Erleben und Verstehen von Musik widmen zu können. Dazu möchte ich die anfangs erwähnte Unterrichtssequenz aus der Studie FEIN innerhalb des Systems der Neuen Phänomenologie verorten: Die Unterrichtssequenz zielte darauf ab, individuelles
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Musikerleben Einzelner durch Bewegung sichtbar und damit kommunizierbar zu machen. Mit der gerade eingeführten Terminologie ließe sich also formulieren, dass es um leibliches Spüren und damit um subjektive Tatsachen gehen sollte, oder in anderen Worten: um vorprädikatives Erleben. Allerdings steht diese musikdidaktische Intention in einem Spannungsverhältnis zur gewählten Aufgabenstellung, die eine Formanalyse forderte, so dass mit dieser ‚objektiv‘ beschreibbaren Struktur des Satzes zwangsläufig eine neutrale Tatsache in den Aufmerksamkeitsfokus der Jugendlichen rückte. Affektives Betroffensein des Einzelnen, das u. U. in der ersten Hörbegegnung virulent war, wurde damit in der Bearbeitung der Aufgabe zurückgedrängt – zugunsten einer Verständigung über musikbezogene Sachverhalte. Auch wenn sich diese Verständigung in Teilen nonverbal vollzog, agierten die Jugendlichen in einem System von Daten und Orten, das sie vom Musikhören distanzierte, so dass während der Gruppenarbeit quasi automatisch ein Übertritt in entfaltete Gegenwart stattfand. Obgleich sich mit dem Begriffsinstrumentarium der Neuen Phänomenologie also sowohl Zieldimension als auch Bearbeitungsweg abstrahierend kennzeichnen lassen, steht weiterhin die Antwort aus, worin der Beitrag dieser elaborierten Beschreibung für musikdidaktische Positionierungen besteht. Dazu möchte ich zunächst die normative Frage verfolgen, ob leibliches Spüren Zieldimension von (Musik-)Unterricht sein kann und soll, indem ich grundlegende musikdidaktische Ziele expliziere. Es dürfte konsensfähig sein, dass Musikhören im Unterricht nicht intendiert, eine Präferenz für ein bestimmtes Genre oder einen Stil zu vermitteln. Es geht nicht darum, dass Kinder und Jugendliche bspw. Kunstmusik oder Musik fremder Regionen mögen, sondern darum, eine Haltung zu etablieren, die erlaubt, Musik offen zu begegnen, ganz gleich wie ungewöhnlich diese erscheinen mag. Schülerinnen und Schüler sollen im Musikunterricht lernen, jede Musik – zumindest beim ersten Hören – ‚an sich heran zu lassen’. Oder in Schmitz’ Terminologie: Leibliches Spüren in primitiver Gegenwart ist notwendig, damit das Klangphänomen dem Wahrnehmenden als subjektive Tatsache nahe kommen kann. Damit behaupte ich keineswegs, dass leibliches Erleben in primitiver Gegenwart notwendige Voraussetzung für prädikative Zugänge, also für ein distanzierteres Verstehen ist, sondern dass es sich um einen Weg handelt, sich mit Ungewohntem auseinanderzusetzen. Schmitz würde wahrscheinlich weiter gehen und behaupten, dass diese Selbstbezüglichkeit ein nicht hintergehbares Moment jeglicher Erfahrung ist – ein Punkt, an dem sich übrigens Waldenfels’ Kritik entzündet, wie ich ausführen werde. Doch zunächst bleibe ich noch bei Schmitz. Da in dessen Leibtheorie der Selbstbezug dem Fremdbezug (also der Begegnung mit
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Welt, mit dem Anderen, mit Fremden etc.) vorangeht, ist der von Schmitz als übergreifende Neutralisierung gekennzeichnete Prozess ebenfalls relevant für die Begegnung mit Musik: In der sinnlichen Beschäftigung mit Musik entstehen zunächst subjektive Bedeutsamkeiten. Diese überträgt der Hörende in der Entfaltung seiner Persönlichkeit zumeist auf das gesamte durch das Werk oder den Song repräsentierte Genre. Insofern es sich um eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber dem Genre handelt, kann sich das Doppelleben in entfalteter und primitiver Gegenwart problemlos vollziehen: Die personale Emanzipation, als eine Richtung übergreifender Neutralisierung, erlaubt, über diese Musik nun auch als objektive Tatsache zu sprechen. Zugleich bietet sich positiv erlebte Musik in besonderem Maße an für personale Regression, dem zweiten Moment übergreifender Neutralisierung.10 Anders verhält es sich bei Musik, die im leiblichen Spüren nicht auf positive Resonanzen trifft und so zu einer Ablehnung des Genres in Gänze führt: Hier dürfte dem kognitiv-distanzierten Sprechen über diese Musik (personale Emanzipation) zwar ebenfalls nichts im Wege stehen, jedoch dürfte personale Regression nicht gelingen: Hören wir Musik, die wir willentlich und wissentlich ablehnen, über die wir in satzförmiger Rede zu berichten wissen, dass sie uns nichts sagt, dann verschließen wir uns dem Erleben.11 Das führt mich zu einer musikbezogenen Besonderheit, die die musikpsychologische Forschung bereits hinlänglich beschrieben hat, indem sie herausgestellt hat, dass musikalische Präferenzbildung einen Beitrag zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben der Pubertät leistet. Im Rückgriff auf die Neue Phänomenologie lässt sich diese Beschreibung aber noch einmal anders wenden: Schmitz erläutert in einer ausführlichen Argumentation die Beobachtung, dass sowohl bewegte als auch unbewegte Objekte häufig als Gestaltverläufe wahrgenommen werden. So kann beispielsweise ein Bauwerk eine fließende Bewegung suggerieren, die leiblich spürbar ist. Dann überträgt sich das Fließen als Gestaltverlauf auf den Wahrnehmenden, ohne dass der Gestaltverlauf „zum Wahrgenommenen hinzugebracht“ werden muss, da er so „unmittelbar und geradezu wie Schälle oder Gerüche wahrnehmbar“ (Schmitz 1978: 41) ist. Schmitz nennt derartige Gestaltverläufe Bewegungssuggestionen und weist ihnen eine Schlüsselstellung in der Wahrnehmung zu. Sie vermögen eine Brücke zwischen dem Wahrgenommenen
10 Insbesondere für pubertierende Jugendliche ermöglicht Musikhören einen Rückzug in die persönliche Eigenwelt. 11 Eine Ausnahme könnte es u. U. im Fall einer äußerst extremen Aversion geben, die ebenfalls zu direktem affektivem Betroffensein führt. Allerdings ergäbe sich dann wohl eine leibliche Regung, die der des Ekels nicht unähnlich ist.
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und dem leiblichen Befinden (und umgekehrt) zu schlagen (ebd.: 43). In besonderem Maße gilt das fürs Musikhören: „Die Musik ist das eigentliche Königreich der Bewegungssuggestionen, die sich z. B. in der spontan solidarische Einleibung stiftenden Wirkung des Gesangs oder in der Inspiration von Bewegung durch Tanzmusik erweisen. Diese spontane Verleiblichung gelingt so glatt, weil Bewegungssuggestionen Brückenqualitäten sind, die ebenso an Gestalten wahrgenommen wie am eigenen Leib gespürt werden“ (Schmitz 2006: 23).
Über die Bewegungssuggestionen wird erklärbar, warum die Wahrnehmung von Musik zu leiblicher Ergriffenheit führen kann (ohne dass Musik selbst ein leiblicher Zustand ist) und warum das Bewegen zu Musik in unterrichtlichen Zusammenhängen hilft, übergreifende negative Haltungen gegenüber Musik (Neutralisierungsprozess) auszublenden oder zumindest nicht dominant werden zu lassen. „Weil die Bewegungssuggestion einer Bewegungsgestalt mit der einer Klanggestalt übereinzustimmen vermag, kann man nach der Musik tanzen, voll in deren Führung sich einschmiegend, nicht etwa nur Signale für zeitliche Gliederung und Akzentsetzung daraus ablesend“ (Schmitz 1978: 40).
D AS E IGENE UND DAS F REMDE – W ALDENFELS ’ K RITIK AN DER N EUEN P HÄNOMENOLOGIE Die Kritik von Bernhard Waldenfels Kritik an Schmitz entzündet sich vor allem daran, dass Schmitz dem leiblichen Selbst eine Vorrangstellung im Wahrnehmungs- und Erkenntnisvollzug zuschreibt und somit davon ausgehen muss, dass es einen inneren Selbstbezug vor allem Fremdbezug gibt (siehe in diesem Text die Erläuterungen zum präpersonalen Bewussthaber, S. 60). Im Innen, hält Waldenfels Schmitz entgegen, muss es jedoch notwendig ein Außen geben, damit sich das Selbst abgrenzend definieren kann: „Selbstbezug ist nur im Fremdbezug zu fassen. Und umgekehrt: der Leibbezug ist zu fassen als innerer Entzug“ (Waldenfels 2000: 266). Durch seine Prämisse des Vor der Selbsterfahrung als unmittelbares Innesein überspielt Schmitz, argumentiert Waldenfels weiter, die Differenz von eigenem und fremdem, so dass die Erfahrung des Fremden als Fremden verschwindet (Waldenfels 2000: 273). Waldenfels bestreitet damit keinesfalls die Existenz vorprädikativer Erfahrungen oder zieht das phänomenologische Konstrukt der Leiblichkeit als nicht hintergehbare Verfasstheit des Subjekts in Zweifel. Er beanstandet vielmehr Schmitz’ Prämisse, dass die Auseinan-
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dersetzung mit diesen Erfahrungen im leiblichen Spüren ansetzt. In Anknüpfung an Husserl heißt es bei Waldenfels: „Wenn ich über Erfahrungen spreche, so tue ich dies in Form der Aussage, nicht indem ich singe, strahle oder sonst etwas tue. […] Wir können entweder nur schweigend empfinden, oder wir sprechen auf indirekte Weise und sagen: es gibt ‚davor‘ noch mehr, es ist etwas voraus-gesetzt. Husserl hält sich an die zweite Möglichkeit: Es gibt ein leibliches Erleben, das noch nicht in Sprache gekommen ist, aber ich kann darüber nur sprechen, indem ich darauf zurückgehe oder zurückblicke“ (Waldenfels 2000: 278).
Waldenfels’ Argumente sollen hier nicht entkräftet werden, denn ohne Frage ist Sprechen als symbolische Praxis auf ein überindividuelles Außen sowie das distanzierte Zurück-Blicken auf die eigenen Erfahrungen angewiesen. Bis hierher schließe ich mich Waldenfels’ Kritik also an. Seine Argumentation verliert aber an Triftigkeit, wenn es um menschliche Ausdrucksbereiche jenseits der Sprache geht, denn ästhetisch ausgerichtete Erlebensmodi sind keineswegs diskursiv verankert und müssen auch nicht so bearbeitet werden. Gerade darin liegt die spezifische Differenz ästhetischer Wahrnehmung gegenüber alltäglicher Wahrnehmung, worauf nicht allein Wahrnehmungstheorien, sondern auch kunstphilosophische Ansätze seit langem hinweisen. Hier sei exemplarisch Erwin Straus’ Psychologie der Menschlichen Welt (1960) herangezogen, da diese u. a. in der Tanztheorie aufgegriffen wurde. Straus definiert das spezifisch Ästhetische, also die ästhetische Differenz, ähnlich wie Schmitz und kennzeichnet Hören und auch Tanz als präsentisches Erleben, das eines pathischen Miterlebens bedarf. „Wenn wir uns im Tanz drehen, bewegen wir uns von Anfang an in einem gegenüber dem Zweckraum bereits völlig veränderten Raum, aber die Veränderung der Raumstruktur vollzieht sich nur in einem pathischen Miterleben, nicht in einem gnostischen Akt des Denkens, Anschauens, Vorstellens; d. h. wohlverstanden: das präsentische Erleben verwirklicht sich in der Bewegung, es wird nicht durch die Bewegung bewirkt“ (Straus 2013: 173).
Präsentisches Erleben wird in diesem Zitat von Straus mit solchen Merkmalen nicht entfalteter Gegenwart beschrieben, wie Schmitz sie zur Kennzeichnung des affektiven Betroffenseins nutzt. Wenn Straus betont, dass sich präsentisches Erleben in der Bewegung verwirklicht (und nicht durch sie bewirkt wird), impliziert dies, dass es möglich ist, selbstbezügliches Erleben aus dem Innen hinauszuführen und zum Ausdruck zu bringen – etwa in Bewegungen. Diesen Gedanken greift Ursula Fritsch in ihrem tanzpädagogischen Ansatz auf. Im Tanzen,
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heißt es bei ihr, transformieren Menschen Widerfahrnisse in „ästhetische Gestalten. In dem Transformationsvorgang eigenen sich Menschen ihre Welt an, indem sie sich ausdrücken. Ausdruck und Aneignung von Welt fallen zusammen. […] Man muss sich noch anrühren lassen können, um an den Dingen ‚mehr‘ wahrzunehmen, man muss Betroffenheiten noch spüren, die den Impuls für eine Aneignung seiner Welt in ästhetischer Formgebung allererst bilden“ (Fritsch 1988: 232f.). Obwohl Fritsch von einem „Transformationsvorgang“ spricht, geht es ihr keineswegs um ein zweistufiges sukzessives Geschehen, in dem zunächst Welt angeeignet und dann in Ausdruck übersetzt wird, sondern um die Simultanität des Geschehens. Dies wird im Folgesatz deutlich, wenn es heißt, dass „Ausdruck und Aneignung von Welt [zusammen] fallen“. Während sich bei Waldenfels, wie bereits dargestellt, in Das leibliche Selbst (2000) eine Abgrenzung vom selbstbezüglichen Umgang mit Erlebten vollzieht, nähert er sich in Sinne und Künste im Wechselspiel (2010) dieser Erfahrungsweise an. Um sinnvoll über Modi ästhetischer Erfahrung (so der Untertitel des Werks) schreiben zu können, muss er diesen Charakteristika zuweisen, die sie von anderen Erfahrungsmodi abgrenzen. Ein solches Merkmal ist für das Hören und Tanzen das Moment des leiblichen Erfahrens. In meiner Lesart des Textes von Waldenfels, zeigt sich hierin eine Nähe zur Denkfigur des präsentischen Erlebens. Er schreibt: „Der hörende Leib ist kein bloßes Registriergerät, sondern ein mitschwingender Resonanzkörper. Hören bedeutet von vornherein mehr als die Tatsache, dass unsere Hörorgane kausalen Einwirkungen unterliegen, es bedeutet leibliches Sichbewegen […] Aisthesis und Kinesis begegnen sich in Form einer Kinästhese“ (Waldenfels 2010: 170).
Dass bei Fritsch und Waldenfels für Musik und Tanz die leibliche Verfasstheit des Menschen von besonderer Bedeutung ist, dürfte mit deren semantischer Offenheit zusammenhängen. In materialitätsorientierten Künsten (wie etwa auch Lautpoesie oder Performance) muss es zwar einen sinnlich anwesenden ‚Sinn‘ geben, dieser lässt sich aber noch nicht einmal ansatzweise auf einen anderen Ausdrucksträger übertragen (wie es für Literatur etwa in Übersetzungen in eine andere Sprache zumindest auf der Inhaltsebene denkbar ist). Dieser ‚sinnlich anwesende Sinn‘ lässt sich nur in der dem Medium eigenen Qualität erleben. In anderen Worten: Für das Musikhören ist pathisches Miterleben (oder eben affektives Betroffensein) ein basaler Zugang.
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M USIKDIDAKTISCHES F AZIT Kommt eine derartige kunstphilosophische Prämisse aber nicht einer didaktischen Bankrotterklärung gleich, die Mollenhauer auf die häufig zitierte Formel der ästhetischen Wirkungen als Sperrgut in der pädagogischen Kiste brachte (Mollenhauer 1990: 484)? Wie soll pathisches Miterleben einen Platz im Musikunterricht finden, wenn dieser eine Verständigung über Musik und intersubjektiven Austausch anstreben muss? In dieser Fragestellung komme ich abschließend auf den anfangs vorgestellten Unterrichtskontext zurück, denn die vorangegangenen theoretischen Überlegungen ermöglichen nun, die konkrete Unterrichtssituation der Studie differenzierter und zugleich kritischer zu reflektieren. Die gewählte Aufgabenstellung, Transformation von Musik in Bewegung, fordert eine non-verbale Beschäftigung der Schülerinnen und Schüler mit Musik und dürfte eine pathische Auseinandersetzung mit der Musik begünstigen. Da weder Erarbeitungsstrategie noch Bewegungsstil vorgegeben waren, bestand für die Gruppe der Freiraum, eine ihrem Erleben gemäße Darstellung zu entwickeln, so dass sowohl abstrakt-tänzerische Bewegungen als auch aus Alltagsroutinen bekannte Bewegungen in der Präsentation vorgestellt wurden (S. 56). Obwohl eine Gruppenarbeit durch die Kommunikation zwischen den Mitgliedern zwangsläufig zu einer sich selbst-distanzierenden Verständigung über das individuelle Erleben führt (und führen soll), zeigen die Videoaufnahmen der Erarbeitungsphasen mehrfach unvermittelte Bewegungsreaktionen (Schütteln der Schulter, Erschlaffung des Körpers, eckige Laufbewegungen….). Mit aller gebotenen Vorsicht lassen sich darin zarte Momente „responsiver Selbstbewegung“12 (Waldenfels 2010: 2015) identifizieren, worin eine Stärke des Unterrichtsarrangements liegt. Dennoch müssen auch zwei kritische Aspekte erwähnt werden. Eine erste Hürde für das leibliche Erleben besteht darin, dass die von uns formulierte Transformationsaufgabe auf eine ‚bewegte Formanalyse‘ abhebt,13
12 In seiner Auseinandersetzung mit leiblicher Bewegung im Tanz versteht Waldenfels unter „responsiver Selbstbewegung“ anormale Bewegungen, die uns als leibliche Antwort widerfahren, die aus dem Pathos hervorgehen und daher mit Kontingenz behaftet sind. Darin, dass sie vorgegebene Ordnung erschüttern und Neues auftauchen lassen, grenzen sie sich von normalen Bewegungen ab, welche sich ihrerseits auf vorgegebene Ziele hin bewegen (Waldenfels 2010: 214f.). 13 Diese bewegungsbasierte Formanalyse steht im Zusammenhang mit der geschlechterbezogener Fragestellung der Studie FEIN, die hier nicht thematisiert wird. Es sei aber zumindest darauf hingewiesen, dass sich die analytische Ausrichtung sowie die Offenheit der Aufgabenstellung vor allem für die Jungengruppen als positiv erwiesen.
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die eine Einleibung von Bewegungssuggestionen, um noch einmal Schmitz zu bemühen, naheliegender Weise hemmt. Selbst wenn die Erarbeitung dieser Bewegungsfolge (als Veranschaulichung musikalischer Form) ihren Ausgang in nicht entfalteter Gegenwart nehmen kann, muss präsentisches Erleben im weiteren Arbeitsprozess notwendig überschritten werden, da musikalische Form eine ‚neutrale Tatsache‘ ist. Eine zweite kritische Analyse richtet sich auf den grundsätzlichen Umgang mit Transformationsaufgaben im Musikunterricht, wie die in diesem Band dokumentierte Tagung nachdrücklich vor Augen geführt hat. Als musikdidaktische Umgangsweise wird die Transformation von Musik in andere Ausdrucksbereiche vor allem darüber legitimiert, dass Eindruck non-verbal in Ausdruck überführt werden kann und dass die Erarbeitung des „Produkts“ (gleich ob es sich um ein Bild, Bewegung, Szene oder einen Text handelt) aufmerksames Hören begünstigt (allein schon dadurch, dass ein Musikstück mehrfach gehört werden muss). All dies ist richtig und wichtig, vernachlässigt jedoch den Umstand, dass es in den genannten Ausdrucksbereichen spezifischer Fertigkeiten bedarf, um die Komplexität des Musikerlebens angemessen visualisieren zu können. Vollkommen zu Recht fragte am Ende der Tagung eine Tänzerin, wieso die Musikpädagogik davon ausgehe, dass Schülerinnen und Schülern über ein derartig ausdifferenziertes Bewegungsrepertoire verfügen, dass Bewegung oder Tanz quasi automatisch in den Dienst präsentischen Musikerlebens gestellt werden könne. Damit legte sie einen Finger in eine Wunde, die musikdidaktisch noch nicht ausreichend reflektiert ist. In der von uns untersuchten Unterrichtssequenz greifen die Jugendlichen aller Gruppen auf prototypische Bewegungen zurück, die ihnen aus ihrer Alltagswelt bekannt sind. Sie reichen von standardisierten Tanzbewegungen bis zu filmischen Bewegungsstereotypen der Verfolgung oder des Fallens und unterscheiden sich durch ihre impliziten klischeehaften Konnotationen nicht so deutlich von der symbolischen Praxis des Sprechens, wie ich es in meinen theoretischen Betrachtungen ausführte. Verallgemeinernd muss also kritisch reflektiert werden, inwieweit Bewegungstransformationen im Unterricht dazu beitragen, das individuelle Bewegungsrepertoire zu erweitern und inwieweit sie Bewegungen semantisieren und u. U. instrumentalisieren. Um die leibliche Kraft der Musik für einen Transformationsakt nutzen zu können, in dem im Sinne Fritschs Ausdruck und Aneignung von Welt zusammenfallen, sind verfeinerte Bewegungserfahrungen vonnöten. In einer phasenweisen Zusammenarbeit mit Tänzern könnten basale Bewegungsstudien den Weg dafür bereiten. Dass tänze-
Sie konnten so bewegt agieren und sich zugleich von dem für sie feminin konnotierte Tanzen abgrenzen (Heß & Voss 2016).
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rische Professionalität dabei nicht den Zielhorizont bilden soll und dass es auch nicht um die Vermittlung neuer ‚Bewegungsvokabeln‘ geht, die pathisches Miterleben wiederum hemmten, steht außer Frage. Dennoch dürfte eine Ausdifferenzierung des Bewegungsrepertoires die transformative Auseinandersetzung mit musikalischen Widerfahrnissen begünstigen und so Handlungsspielräume eröffnen. Im Idealfall unterstützen solche Spielräume Versuche, mit ungewöhnlichen Bewegungen den expressiven Momenten der Musik nahezukommen.
L ITERATUR Fritsch, Ursula (1988): Tanz, Bewegungskultur, Gesellschaft. Verluste und Chancen symbolisch-expressiven Bewegens, Frankfurt/Main: AFRA. Hasse, Jürgen (2010): Zur heimlich erziehenden Wirkung schulischer Lernräume, in: Jürgen Hasse (Hg.), Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, München: Albunea, S. 47-58. Heß, Frauke; Voss, Christiana (2016): Analyse durch Bewegung. Transformationsaufgaben als Herausforderungen für einen geschlechtersensiblen Musikunterricht, in: Jens Knigge; Anne Niessen (Hg.), Musikpädagogik und Erziehungswissenschaft, Münster: Waxmann, S. 191-208. Landweer, Hilge (2014): Betroffenheit als Widerstand. Phänomenologie und Geschlechterforschung, in: Anne Fleig (Hg.), Die Zukunft von Gender. Begriff und Zeitdiagnose, Frankfurt/Main: Campus, S. 186-219. Langewitz, Wolf (2008): Der Ertrag der Neuen Phänomenologie für die Psychosomatische Medizin, in: Michael Großheim (Hg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie, Freiburg & München: Alber, S. 126-140. Merleau-Ponty, Maurice (1974 [1966]): Phänomenologie der Wahrnehmung. (=Phänomenologisch-psychologische Forschungen, Band 7), Berlin: De Gruyter. Mollenhauer, Klaus (1990): Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit, in: Zeitschrift für Pädagogik 36, S. 465-467 u. 481-494. Oberhaus, Lars (2010): Hier tanzt der Leib! Wie sich Körper- und Leiberleben im Tanz unterscheiden, in: Zeitschrift für ästhetische Bildung 1, S. 1-14. Schmitz, Hermann (1978): System der Philosophie. Die Wahrnehmung. 3. Band: Der Raum, 5. Teil, Bonn: H. Bouvier. Schmitz, Hermann (2006): Leibliche Bewegung auf dem Grund der Zeit, in: Miriam Fischer; Mónica Alarcón (Hg.), Philosophie des Tanzes. Denkfestival. Eine interdisziplinäre Reflexion des Tanzes, Freiburg: fwpf, S. 15-26.
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Denken mit den Beinen, spüren mit dem Kopf, tanzen mit der Seele Zum Potenzial des Körpers für das Verstehen von Musik C HRISTOPH S TANGE
Aus dem Titel dieses Beitrages scheint ein Begriff herauszufallen. Er ist nicht ohne weiteres wissenschaftlich fassbar, und tendenziell entzieht er sich den Versuchen, ihn dingfest zu machen. Gemeint ist die Seele, dieses immaterielle Etwas, das über die Jahrtausende und in verschiedenen Kulturen immer wieder neuen Bedeutungszuschreibungen ausgesetzt war – Bedeutungen, denen man nur mit historischen Rekonstruktionen auf die Spur kommt (Wulf 2013: 121). Häufig ruft ‚Seele‘ Assoziationen hervor, die auf Transzendentes bzw. auf Jenseitiges, jedenfalls auf etwas über den Menschen Hinausgehendes verweisen. Anders verhält es sich bei Jean-Luc Nancy, in dessen Philosophie die Seele nicht auf die eben angesprochenen Aspekte verweist. Sie steht bei ihm dafür, dass „der Körper der Spürende“ ist (Nancy 2000: 113). Oder anders: „Der Körper spürt, und er wird gespürt“ (ebd.). Die Seele erscheint hier also als Metapher für etwas absolut Diesseitiges, nämlich Sinnlich-Spürendes. Mit diesem Verständnis von Seele sind in der Überschrift dieses Beitrages drei verschiedene Dimensionen menschlichen Daseins vereinigt: körperliche Bewegung, rationales Denken und sinnliche Wahrnehmung. Und ganz offensichtlich ist, dass diese Dimensionen nicht messerscharf getrennt und einzeln seziert werden, sondern Verbindungen miteinander eingehen. Dabei ist es nicht der diese Dimensionen verbindende Ort – nämlich der Körper – der unser Denken provoziert, sondern die Art und Weise der Verbindung: Denn mit den Beinen verbinden wir in erster Linie Bewegung (oder eben Tanz), nicht jedoch das Denken, das wir eher dem Kopf zuordnen, während das im Beitragstitel dem Kopf zugeordnete Spüren eher der Seele zugehörig ist. In jedem Fall sind in allen drei
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Wortverbindungen Elemente enthalten, die wir dem sichtbaren Körper zuordnen: Beine, Kopf, Tanz. Nur verlassen sie eben die gewohnten, letztlich auf Platon, René Descartes (Marzano 2013) und auch Helmuth Plessner (Plessner 1970: 162) zurückgehenden Bahnen, die den Menschen in sichtbare und unsichtbare, in instrumentelle und expressive Anteile zergliedern, und in der eine Dualität aufscheint, die im Körper letzten Endes eine geformte physikalische Masse sieht, zu der additiv Vorgänge des Denkens und der sinnlichen Wahrnehmung hinzutreten. Unterschwellig pflegen Musikpädagogen jedenfalls häufig mechanistisch zu denken, etwa wenn beim Poptanz oder auch beim Menuett (womit die wichtigsten Arten von Tanz im Musikunterricht auch schon benannt wären) die Motorik als zusätzliches, letztlich aber separates Modul der hörenden Wahrnehmung gleichsam zugeschaltet oder doch zumindest nicht auf Interdependenz abgehoben wird (Kuntzsch 2010; Vogel 2010). Dem ist entgegenzuhalten, dass Wahrnehmung auch körperliche Aspekte hat. Zudem kann Reflexion durchaus auch mit dem Körper erfolgen, und zwar als eine „Reflexion im Vollzug“ bestimmter Handlungen, die von einer „Reflexion über den Vollzug“ abzugrenzen ist (Klinge 2008: 56). Insofern gibt es von vornherein eine Verschmelzung jener Anteile des Körpers, die zu Untersuchungszwecken gern auseinanderdividiert und säuberlich portioniert werden, die aber in der Realität ineinander verschränkt sind statt nebeneinander zu existieren (allenfalls wendet sich unsere Aufmerksamkeit sukzessive mal dem einen, mal dem anderen Aspekt zu). Das macht es erforderlich, ein anderes Verständnis von Verstehen zu entwickeln – eines Verstehens, das nicht allein im Denken angesiedelt ist, sondern das im gesamten Körper wurzelt. Schon Maurice Merleau-Ponty hielt es für „unbestritten evident […], dass man nicht denken kann, ohne auf irgendeine Weise zu sehen oder zu empfinden, und dass alles uns bekannte Denken einem Fleisch zukommt“ (Merleau-Ponty 1986: 191). Diese Verschränkung verschiedener menschlicher Dimensionen begegnet uns insbesondere in Form der Mimesis, bei der es darum geht, sich nach und nach einem Vorbild anzugleichen, wobei das Nachahmen nie dazu führt, dass das Nachgemachte bis ins letzte Detail dem Vorbild entspricht. Typisch für den Prozess der Mimesis ist, dass er „‚jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt‘ und daher unkommunizierbar“ ist. Das, was wir uns mimetisch aneignen, „befindet sich, als ‚zu Körpern gemachte Werte‘, auf einer Ebene unterhalb von Sprache und Bewusstsein“ (Gebauer 2004: 29). Ähnlich wie hier ist im Zusammenhang mit Mimesis häufig in einer Weise vom Körper die Rede, die eine Verbindung mit anderen menschlichen Dimensionen nahe legt. Dies wird jedoch nicht oder kaum näher ausgeführt (Wulf 2013), und so bleibt offen, wie man sich beispielsweise das Verhältnis des Körpers zu einem vorsprachlichen Bereich
D ENKEN MIT DEN B EINEN , SPÜREN MIT DEM K OPF , TANZEN MIT DER S EELE
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vorstellen kann, oder welche Faktoren es ermöglichen, dass mit Bewegungen auch Bedeutungen angeeignet werden. Mir scheint es deshalb lohnend zu sein, sich auf die Philosophie von JeanLuc Nancy zu beziehen, die ein Ineinander von Körper, Geist und Seele nahelegt. Diese Auffassung vom Körper soll zunächst skizziert werden, und im Anschluss daran kann das Wesen der Mimesis umso deutlicher hervortreten. Es ermöglicht, Musikverstehen auch anders als eine vorrangig auf Sprachlichkeit angewiesene Form zu denken. Der Körper spielt dabei eine wichtige Rolle. Mehr noch: Mittels des sich bewegenden Körpers werden Verbindungen zur Musik hergestellt, es entstehen Prägungen im Körper von der Musik. Dabei liegt das Hauptaugenmerk im Folgenden auf tänzerischen Bewegungen zur Musik. Meinen Ausführungen liegt somit die Überlegung zugrunde, dass sich Musikverstehen bei tänzerischer musikbezogener Bewegung als Ineinander von Körper, Geist und Seele ereignet.
K ÖRPER , G EIST
UND
S EELE
ALS I NEINANDER
Der Ansatz von Jean-Luc Nancy läuft darauf hinaus, den Körper insofern als Kristallisationspunkt unserer Existenz als Menschen zu bestimmen, als er weit mehr ist als das, was sich aufgrund seiner physikalische Beschaffenheit oder seiner bloßen Sichtbarkeit über ihn aussagen lässt. Nancy beschreibt den Körper als sinngenerierend, weil er eben nicht nur ein Objekt ist, ein Ding. Vielmehr können ihm auch geistige und seelische Qualitäten zugesprochen werden, da er in einer unauflöslichen Verbindung mit Seele und Geist steht. Nancy legt ein weitgehendes Ineins-Sein von Geist, Seele und sichtbarem Körper nahe und schreibt: „Daher ergibt es keinen Sinn, von Körper und von Denken als voneinander losgelöst zu sprechen, als ob jeder für sich irgendeinen Bestand haben könnten: Sie sind nur ihr gegenseitiges Berühren, die Berührung ihres Einbruchs voneinander und ineinander“ (Nancy 2000: 35). Auch die Seele wird über den Körper erreichbar und zeigt sich mittels des Körpers. Noch einmal Nancy: „Körper meint ganz genau die Seele, die spürt, dass sie Körper ist. Oder: die Seele ist die Bezeichnung für das Spüren des Körpers“ (ebd.: 119). Besonders eindrücklich lässt sich das an der Geste beobachten, die in ihrer häufig unbewussten Ausführung voller Ausdruck ist (Wulf 2010). Bewegung wird, obwohl erst einmal nur als etwas rein Äußerliches sichtbar, zu etwas Sinnvollem. Das steht in gewisser Weise quer zu der traditionellen Sicht, wonach Sinn aufgrund seiner immateriellen Beschaffenheit rein innerlich und damit allem Äußeren entzogen wäre. Diese Auffassung lässt sich deshalb nicht halten,
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weil sich ihr zufolge das Seelische im Körperlichen lediglich zeigen würde, zum Beispiel wenn die Psyche somatische Reaktionen hervorruft. Unschwer lässt sich hierbei eine Abstufung erkennen, derzufolge Geist und Seele höher-, der Körper jedoch niederrangig ist – eine Ansicht, die einer langen Tradition folgt. Deren Spuren finden sich nicht nur bei Descartes, sondern auch schon in der Antike bei Platon oder auch im Mittelalter, wobei die Vertreter dieser Sichtweise die Annahme einer Interaktion bzw. eines Dualismus’ von Körper und Geist eint. Als pointierter Ausweis dieser Sicht lässt sich das Traktat De miseria humanae conditionis des späteren Papstes Innozenz III. aus dem Jahr 1194 anführen, in dem es heißt „der Kerker der Seele ist der Körper“ (de Segni 1990: 59) – eine Aussage, die an Franz von Assisi erinnert, der seinen Körper als ‚Esel‘ betrachtete, den man schlagen und züchtigen müsse, damit die Seele frei werde (wobei Franz von Assisi die Seele natürlich im christlichen Sinne verstand). Statt dieser wertenden Hierarchie von gutem Innen und schlechtem Außen ist ein Miteinander, ein ‚Verwobensein‘ jenseits aller Dualität in den Blick nehmen. Bernhard Waldenfels schreibt: „Ausdruck bedeutet nicht einfach ein Nachaußentreten dessen, was ich innerlich bereits habe, sondern der Ausdruck ist die Realisierung des Sinnes; er bedeutet nicht das äußerliche Sichtbarwerden eines Sinnes, der innerlich schon vorhanden wäre“ (Waldenfels 2000: 222). Sinn äußert sich am und mit dem Körper, der unauflöslich mit Geist und Seele verbunden ist. Das, was sich körperlich zeigt, ist somit nicht etwas aus dem Inneren nach außen Gebrachtes (wozu das Gegenstück der Eindruck wäre, der sich nach innen bewegt), sondern im Körperlichen zeigen sich gleichermaßen auch Seelisches und Geistiges. Diese verschiedenen Dimensionen verbinden sich derartig eng, dass sie letztlich gar nicht mehr voneinander zu trennen sind. Im Körper sind Geist und Seele inkludiert. Bernhard Waldenfels drückt das so aus: „das Ausgedrückte realisiert sich im Ausdruck selbst, es inkarniert sich, es ist ein verkörperter Sinn und keine äußere Kundgabe“ (ebd.: 224). Körperliche Bewegungen sind somit nie rein mechanische Bewegungen, sondern ‚durchtränkt‘ von Geist und Seele. Der Mensch hat mittels des Körpers einen Zugang zum Sein. Der Körper ist die Stätte, in und an der sich Sinn manifestieren kann. „Der Körper ist das Sein der Existenz“ (Nancy 2000: 18). Shaun Gallagher schildert, wie sich Kinder die Welt über Bewegung aneignen und dabei ihre Fähigkeiten kennenlernen. Das kann beispielsweise über Mimik geschehen (Gallagher 2005: 74). Gallagher beschreibt das Phänomen, wie bereits Babys Grimassen oder auch ein Lächeln imitieren. Über das Nachahmen wird der Versuch unternommen, den mit der Mimik einhergehenden Sinngehalt zu verstehen. Dazu interagiert das Kind mit seinem Gegenüber. Mittels Spiegelneuronen werden nicht nur die Bewegungen des Gegenübers derart nachgeahmt,
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dass sich der eigene Muskeltonus und die Richtung der eigenen Bewegungen denjenigen des Gegenübers angleichen (ebd.: 223). Zugleich wird auch die damit verbundene Bedeutung erfasst, sie wird wahrgenommen „in der Bewegung und im Ausdruck des Körpers eines anderen Menschen“ (ebd.: 228; Übers.: C. S.). In der Interaktion werden somit Bedeutungen hervorgebracht bzw. angeeignet. Insofern hilft das Imitieren dabei, die eigenen Möglichkeiten des Umgangs mit der Welt zu erweitern und zu differenzieren (ebd.: 247). Das gilt umso mehr, als sich imitierte Handlung und Bedeutung zunehmend von ihrer Entstehungssituation emanzipieren und nur noch auf die eigenen, neu gewonnenen Fähigkeiten – etwa ein erweitertes Bewegungsrepertoire – verweisen. Wird die Bedeutung anfangs noch auf die konkrete Handlung bezogen, so löst sie sich später zunehmend davon ab und wird auch unabhängig von der speziellen Aneignungssituation auf die Bewegung bezogen (ebd.).
M IMETISCHE P ROZESSE Die Parallelität der Aneignung von Bewegung und Bedeutung verweist auf das von Nancy beschriebene Ineinander von sichtbarem Körper, Geist und Seele. Der zutage tretende Prozess lässt sich als Mimesis beschreiben. Mimetische Prozesse weisen weit über den Zeitpunkt ihres Entstehens hinaus. Sie haben Langzeitwirkung und werden immer wieder um neue mimetische Prozesse ergänzt. Insofern lässt sich davon sprechen, dass wir in unserem Jetztsein wesentlich mimetisch geprägt sind. Zwar gibt es auch eine dynamische Entwicklung unseres Bewegungsrepertoires im Laufe der Lebensspanne, die sich jenseits mimetischer Prozesse ereignet, etwa wenn unsere körperlichen Möglichkeiten durch Unfälle oder Krankheiten abnehmen bzw. wenn sie durch Training oder körperliches Wachstum zunehmen. Doch wird man daneben mimetischen Prozessen einen besonderen Stellenwert einräumen müssen. Gut beobachten lässt sich das nicht nur an Jugendlichen, die sich bspw. in ihrem Gestenrepertoire an ihrer Peergroup orientieren (Niekrenz & Witte 2013: 244), oder die nicht nur im Kleidungsstil und ihren Sprechgewohnheiten, sondern auch mit ihren Bewegungen Idolen nacheifern (und das ist keinesfalls nur auf Michael Jacksons Moonwalk beschränkt, sondern kann bspw. auch jemandem gelten, der Breaking lehrt). Auch bei Erwachsenen lassen sich noch charakteristische Bewegungen von deren Eltern erkennen, wie z. B. geschürzte Lippen im Moment des skeptischen Zuhörens oder ein Zupfen am Ohrläppchen beim Überlegen. Wir scheinen also als mimetisch Agierende all das, was wir „von der Welt empfangen haben, [... in
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unseren] eigenen [körperlichen] Aktionen“ zu formen, und das heißt gleichermaßen nachformen wie auch umformen (Gebauer & Wulf 2003: 7). Mimesis heißt, sich anzugleichen, ohne dabei je das Original in einer 1:1Kopie darstellen zu können (ebd.: 8). Deshalb lässt sich Mimesis auch als Anähnlichung bezeichnen. Anähnlichung heißt, der Vorlage möglichst nahe zu kommen. Sie erweitert die bisherigen Gewohnheiten, Deutungen und Bewegungsfolgen um Neues, denn „in der Anähnlichung an [… einen] Anderen werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren“ (Wulf 2010: 240). Die Erweiterung des eigenen Deutungs- und Bewegungsrepertoires, das Hinausschieben der eigenen Grenzen, findet somit mit Hilfe des Anderen, mit Hilfe seiner „körperliche[n] Darstellungs- und Ausdruckswelt“ statt (ebd.). Zu einer Deckungsgleichheit mit dem Anderen kommt es jedoch nicht, weil immer ein wenig vom Eigenen in das Übernommene hineinragt und widerständig wirkt. Diese Beimischung von Eigenem in den mimetischen Prozess verweist auf mehr als nur auf Differenz, sie verweist letzten Endes auf Originalität. Vergleicht man das Ergebnis eines mimetischen Prozesses mit der Vorlage, so lässt sich etwas Unverwechselbares konstatieren, das sich jedoch nicht durch strikte Abgrenzung von eben dieser Vorlage auszeichnet, sondern im Gegenteil durch Bezugnahme darauf. Diese Bezugnahme findet nun wiederum auf mehreren Ebenen statt, und zwar simultan, denn gleichzeitig mit den Bewegungen werden etwa Bedeutungszuschreibungen angeeignet – wobei weniger von aneignen als vielmehr von anverwandeln zu sprechen wäre. Vorfindliches wird geformt, aber eben nicht als Abdruck, der als Statthalter des Originals fungieren könnte, sondern als unverwechselbar Eigenes. Es griffe nämlich zu kurz, das Augenmerk nur darauf zu richten, dass wir als mimetisch Agierende umgeformt werden. Aufgrund unserer Vorstruktur betreiben wir das mimetische Nachformen nämlich auch als Anpassung an uns – als Anverwandlung – so dass auch die Bewegungen und die Dinge umgeformt werden, auf die wir mimetisch Bezug nehmen. Hier wird schon deutlich: Mimetische Prozesse beziehen sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Dinge, von denen wir umgeben sind und mit denen wir umgehen.
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Abb. 1: Mimesis zwischen Anähnlichung und Anverwandlung
Wenn wir beispielsweise ein Musikinstrument erlernen, dann ähnelt sich unser Körper mittels Übung dem Instrument und seinen Erfordernissen an – häufig auch mit Hilfe eines menschlichen Modells (oder mehrerer), etwa eines Lehrenden. Schon allein die Herausforderung, die etwa die linke Hand beim Spiel auf der Geige, auf dem Schlagzeug oder auch auf dem Saxophon zu bewältigen hat, ist sehr verschieden, und ihr lässt sich letztlich nur durch stetige Übung begegnen. Gleichzeitig gibt es insofern eine Anverwandlung, weil die Haltung und Spielweise trotz aller zu beherzigenden Grundprinzipien letztlich doch sehr individuell ist und an die Möglichkeiten des eigenen Körpers, aber auch an Klangvorstellungen etc. angepasst wird. Anähnlichung an etwas und Anverwandlung von etwas – das sind die beiden Leitlinien, die den mimetischen Prozess prägen und die miteinander verwoben sind – wobei mal das Moment der Anähnlichung und mal das Moment der Angleichung dominiert. Dieser mimetische Prozess ist nicht denkbar ohne das eingangs beschriebene Ineinander von Körper, Geist und Seele.
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KÖRPERLICH FORMEN
Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Musik körperlich geformt wird, und zwar mittels tänzerischer musikbezogener Bewegung. Die Musik wirkt hier als Orientierungsgröße. Sie regt zu Bewegungen an und hilft, diese zu fokussieren.
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Eine Verbindung zwischen Bewegung und Musik lässt sich auf verschiedene Weise herstellen. Schon wenn man sich nur auf den Parameter Zeit bezieht, sind mehrere Möglichkeiten von Bewegung denkbar: zeitlich synchrone und zeitlich asynchrone, fokussierende – also eine musikalische Komponente in den Blick nehmende und übertragende Bewegung – und kontrapunktierende – eine auf die Musik Bezug nehmende, gleichwohl im Gestus entgegengesetzte Bewegung (Stange 2015). Abb. 2: Musikbezogene Bewegung
Innerhalb dieses Rahmens wird im Folgenden aus Gründen der leichteren Nachvollziehbarkeit nur auf die synchron fokussierende Bewegung abgehoben. Es werden in der Beschreibung Bewegungsabläufe ausgespart, die kontrapunktisch bzw. asynchron zur Musik geführt sind, die aber in beiden Choreographien vorkommen und prinzipiell zum Repertoire musikbezogener tänzerischer Bewegung gehören sollten – auch in pädagogischen Kontexten. Das erste Beispiel bezieht sich auf den Song Limit to your love von James Blake und entstand ebenso wie das darauf folgende Beispiel mit einer 10. Klasse.1 Man sieht eine menschliche Mauer, die mit dem Rücken zum Betrachter steht und innerhalb derer sich einige bewegen. Aus dieser Wand lösen sich mit Beginn jeder neuen Strophe einzelne Tanzende heraus, um ihre jeweils eigene Bewegungsfolge vorn am Bühnenrand auszuführen. Die Bewegungen wirken versunken, manchmal minimalistisch, manchmal überzeichnet, häufig verlangsamt, immer jedoch ohne nachvollziehbaren Bezug zur musikalischen Form, zum Metrum o. ä.
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Das Video dazu ist zu finden bei Stange 2013a.
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Abb. 3: Choreographie zu James Blake, Limit To Your Love
Die Bewegungen sind absolut individuell. Sie erwuchsen aus der persönlichen Auseinandersetzung mit der Atmosphäre des Songs. Sie wurden aus eigenen Gedanken, Geschichten, Emotionen entwickelt, die sich nach wiederholtem Hören der Musik entspannen. Kleinste Ausschnitte daraus wurden mittels des eigenen, vielfach alltäglich anmutenden Bewegungsrepertoires transformiert. Aufgrund dieser starken Bindung an das alltägliche Bewegungsrepertoire ließe sich in diesem Fall von einer zumindest leichten Betonung des Momentes der Anverwandlung sprechen. Das zweite Beispiel entstand zum 1. Satz von Johann Sebastian Bachs 2. Brandenburgischem Konzert, das sich durch ein phantasiereiches Spiel mit der Idee des Ritornellkonzertes und den darin entwickelten musikalischen Motiven auszeichnet.2 Zentral ist dabei das Ritornell, das anfangs in voller Länge erscheint.
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Das Video dazu ist zu finden bei Stange 2013b.
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Abb. 4: J. S. Bach: 2. Brandenburgisches Konzert, 1. Satz, Ritornell
Im Verlauf der insgesamt 30 Takte, auf die ich mich hier beziehe, erscheint aus dem Ritornell noch mehrfach der Teil a, zum Ende noch einmal die Teile b bis d. Unterbrochen und begleitet wird das Ritornell von einer Vielzahl anderer Motive. Es gibt in der Bachschen Komposition vier Soloinstrumente, adäquat agieren vier farblich differente Tanzgruppen. Drei Instrumente spielen das Ritornell unisono, während die Trompeten mit einem anderen Motiv beschäftigt sind. Die Gruppen orientieren sich mit ihren Bewegungen an den Motiven. Zu jedem Ritornellteil, aber auch zu den Umspielungen und den anderen Motiven, wurde eine eigene Bewegungsfolge entwickelt. Damit findet, aufbauend auf der Motivik des Stückes, eine Orientierung an der musikalischen Form statt. Immer dann, wenn ein Motiv wieder erklingt, wird auch die zugehörige Bewegungsfolge wieder aufgenommen. Dabei bezieht sich jede Gruppe auf ‚ihr‘ Instrument – die ‚Grünen‘ auf die Geigen, die ‚Blauen‘ auf die Oboen etc. Die Tanzenden vollziehen somit in der gezeigten Sequenz den motivischen Verlauf ‚ihres‘ Soloinstruments durch die Bewegungen ihres Körpers nach. Aufgrund der starken Orientierung der Bewegungen an der Musik scheint das Moment der Anähnlichung gegenüber dem der Anverwandlung etwas zu überwiegen.
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Abb. 5: Choreographie zu Johann Sebastian Bach, 1. Satz aus dem 2. Brandenburgischen Konzert
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DER
A NDEREN
Es ist für Lernende häufig ein Problem, Bewegungen zu einer Musik zu generieren, besonders dann, wenn sie über keine Bewegungserfahrungen mit der Musik verfügen (allein die Vorstellung, Barockmusik könne bewegungsauslösend sein, finden Jugendliche häufig schon völlig abwegig). Diese Einsicht gibt einen über Erwägungen zur Gestaltung der Choreographie hinausgehenden Hinweis darauf, warum die Umsetzung der Komposition von Bach in Gruppen und nicht individuell erfolgte und warum sich die Bewegungen bei dem Song von Blake derartig in ihrem Charakter ähneln. An dieser Stelle kommt der bzw. die Andere ins Spiel. Das Beziehungsgefüge, das bislang nur aus zwei Beziehungspolen bestand, nämlich auf der einen Seite der Mensch und auf der anderen Seite die Musik, wird damit zu einer Trias erweitert. Abb. 6: Mensch-Musik-Anderer
Tatsächlich hat die soziale Welt auf die Relation von Mensch und Musik einen Einfluss – aber nicht in einer abstrakten, allgemeinen Weise, wie es beispielsweise bei Michel Foucault oder auch Pierre Bourdieu der Fall ist (Gebauer
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1997), sondern in Form konkreter anderer Menschen, die in der gleichen Situation agieren, wie das etwa in – mikrosoziologisch auffassbaren – Gruppen innerhalb einer Schulklasse der Fall ist. In einem solchen Rahmen entfaltet sich Individualität nicht autonom, sondern als „relationaler Zusammenhang aus Selbst-, Welt- und Anderenverhältnissen“ (Balzer & Künkler 2007: 83). Die Bewegungsfindung kann man sich als Prozess des Aushandelns in den Gruppen vorstellen. Bei Aushandlungsprozessen werden die Bewegungen anderer Gruppenmitglieder übernommen und durch wiederholte Übung dem eigenen Körper eingeschrieben. Während solche Formungen des Körpers etwa von Michel Foucault kritisch gesehen werden, sind sie auf der Ebene der Mikrosoziologie und in Bezug auf Musik eher als Bereicherung zu betrachten. Es werden dabei nicht einfach nur mechanisch Bewegungen übernommen, sondern auch die daran geknüpfte Auffassung, etwa von einem bestimmten musikalischen Motiv. Indem der Bewegungsvorschlag nachgeformt wird, prägt auch die an die Bewegung gekoppelte Wahrnehmung der Musik die Körper derer, die sich mimetisch anähneln, und zwar mit jedem Übedurchgang mehr (Gebauer 1997: 513). Die an die Bewegungen geknüpften Wahrnehmungen und Bedeutungen sind nicht deckungsgleich mit dem Original, weisen aber viele Berührungspunkte auf. Aus der mimetischen Aneignung tänzerischer Bewegungen ergibt sich somit eine veränderte Wahrnehmung der Musik. Bei dem Song von Blake spielten die Mittänzer eine andere Rolle. Sie waren in diesem Fall nicht wichtig, um Bewegungen zu generieren, denn das hatte jeder für sich allein getan. Ihre Rolle hatte sich dahingehend geändert, dass sie sich nun auf den Charakter der Bewegungen bezog. Es fällt ja auf, dass viele der eigentlich aus alltäglichen Zusammenhängen stammenden Bewegungen stark verlangsamt bzw. überzeichnet erscheinen. Im Üben der eigenen Bewegungen zur Musik nahmen die einzelnen Lernenden auch die Bewegungen der anderen wahr und damit auch deren Charakter. Im Abgleich mit der Wahrnehmung der Musik wurden verschiedene Varianten ausprobiert und am Ende, nach mehreren mimetischen Schleifen, die am meisten passende gewählt – und als das besonders Passende scheint sich für die Mehrheit die Verlangsamung und Überzeichnung herauskristallisiert zu haben. Ob nun mit oder ohne Bezugnahme auf die Anderen: Entscheidend ist in jedem Fall, dass die eigene Musikwahrnehmung eine körperliche Transformation erfährt. Musik (bzw. die eigene Wahrnehmung davon) wird nachgeformt, sie wird körperlich noch einmal erschaffen und zwar in ganz eigener Weise. Dabei werden Bezüge zu dem hergestellt, was an der Musik wahrnehmbar wird. Wie sich aus den Beispielen ersehen lässt, kann dieses Nachformen auf direktem Wege geschehen, indem einzelne Elemente der Musik körperlich nachgebildet
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werden. Es kann aber auch indirekt geschehen, indem die körperliche Bewegung eines anderen Menschen zu dessen Musikwahrnehmung mimetisch nachgeformt wird. Dabei wird anfangs nur die expressive Körperbewegung nachgeformt und erst im Nachgang auch deren Bedeutung übernommen (und mit eigenen Bedeutungsanteilen versehen).
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MIT DEM
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VERSTEHEN
In allen dargestellten Fällen wird Musik (bzw. die eigene Auffassung davon) körperlich. Sie formt den Körper mit, indem durch sie körperbezogene Einstellungen, Gedanken und Phantasien (Röhricht 2005: 34), aber auch Bewegungsabläufe um- oder neu geformt werden. Musik wird dadurch zu einem Teil des Körpers. Das kann nicht nur zu einer Änderung von Bewegungsabläufen oder zur Erweiterung des Bewegungsrepertoires beitragen, das dann für den Umgang mit anderer Musik zur Verfügung steht. Vielmehr liegt darin das grundsätzliche Potenzial, sich in anderer als der bislang bekannten Weise zur Musik zu verhalten, neue Einstellungen zu entwickeln und auf diese Weise Verbindungen herstellen zu können. Nun empfängt der Körper jedoch nicht nur wahrnehmend Musik, sondern er teilt die eigenen Wahrnehmungen mittels Bewegungen auch wieder der Umwelt mit. Wir haben es hier also mit einer „wechselseitigen Durchdringung“ von Musik und Körper zu tun, die „chiastisch miteinander verschränkt“ sind (Wulf 2013: 31). Musik wird also nicht einfach – als etwas passiv zu Erduldendes – dem Körper eingeschrieben, sondern der Körper selbst wirkt auch sinnbildend (Stange 2017). Dieses Anverwandeln geht aus von der „körperlichen Konkretheit“ (Klinge 2001: 246) des Einzelnen, seiner körperlichen Vorstruktur. Der Körper weist dem Eingeschriebenen Bedeutung zu, indem er es sich anverwandelt. Das heißt: Der Körper muss sich exponieren und dabei gleichermaßen seine vorfindliche Struktur einbringen wie auch das Neue verarbeiten und formen, um Musik eine Bedeutung zuschreiben zu können. In der Gestaltung tänzerischer Bewegung zeigt sich somit das Verhältnis zu und die Auffassung von der Musik, auf die sie sich bezieht. Die Bewegung ist nicht zu trennen von dem, wodurch der Körper geformt wurde und wie er geformt hat. Es gibt eine strukturelle Ähnlichkeit der Musik auf der einen und deren körperlicher Nachprägung auf der anderen Seite (Klinge 2008: 54). Herausgestellt werden soll das Moment der Bezogenheit, das in der chiastischen Verschränkung von Körper und Musik seine Ausprägung erfährt. Damit gibt es eine Verbindung zum Verstehensbegriff, den Sabine Ammon herausgear-
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beitet hat, und der all jene Vorgänge einschließt, mit denen wir „Einsichten gewinnen, Probleme lösen, Sachverhalte aufklären, [vor allem aber] Zusammenhänge stiften, Beziehungen knüpfen“ wollen. Auch nach Auffassung des Philosophen Wilhelm Schmid (Schmid 1998: 194) entsteht Sinn dadurch, dass Zusammenhänge hergestellt werden. Zusammenhangloses wird verbunden und dadurch geordnet. Indem Beziehungen zwischen vormals Unverbundenem gestiftet werden, erwächst aus dem Unübersichtlichen und Chaotischen sukzessive Übersicht für den Einzelnen, und das eigene Leben erscheint eingewebt in ein Netz voller Beziehungen. Beziehungen herzustellen und Zusammenhänge zu stiften zielt auf ein Verstehen, das sich nach den bisherigen Überlegungen und im Hinblick auf tänzerische musikbezogene Bewegung kaum auf der rationalen Ebene verorten lässt. Es ist nicht mit einer theoretischen Anstrengung verbunden, sondern wohl eher auf das Ineinander von Körper, Geist und Seele zu beziehen. Es ist also kein diskursives Verstehen gemeint, und schon gar kein duales Verstehen, das in Polaritäten wie richtig – falsch oder ja – nein mündet und bei dem der normative Aspekt dominant ist. Dagegen spricht schon, dass der Gegenstand Musik ein abgeschlossenes Verstehen, das Voraussetzung für solch ein duales Denken wäre, aufgrund seiner Deutungsoffenheit nicht zulässt.3 Mit Nancy ließe sich davon sprechen, Tanz sei ein „Denken-im-Körper“ (Nancy 2000: 99). Auch Pierre Bourdieu spricht von einem „Verstehen mittels des eigenen Körpers“ (Bourdieu 1992: 205). Der Körper selbst erweist sich demnach als Verstehender, und das in einer Weise, die sich der Sprachlichkeit (ohne sie auszuschließen) häufig entzieht, die dafür aber unabdingbar Sinnlichkeit einschließt. Das hier gemeinte und sich mit dem ganzen Körper vollziehende Verstehen entzieht sich dem logischen Denken (bzw. verhält sich komplementär dazu), und dürfte eher als analoges Verstehen zu verorten sein (Brandstätter 2013: 22ff.). Mit analogem Verstehen sollen hier verschiedene Verstehensqualitäten bezeichnet werden. Diese gehen aus mimetischen Prozessen hervor. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer mimetischen Genese auf die jeweilige Musik bezogen sind, die Prozesse der Anähnlichung und der Anverwandlung jedoch aufgrund der heterogenen Bewegungsbiographien der Tanzenden sehr verschieden ablaufen. Es kann deshalb keine vollkommene Übereinstimmung geben – weder der Tanzenden untereinander und schon gar nicht der Tanzenden zur Musik. Eine Verstehensqualität bezeichnet somit nur einen Punkt in einem prinzipiell unendlichen Feld von Verstehensmöglichkeiten.
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Die Vielschichtigkeit bzw. Problematik des Verstehensbegriffes im Hinblick auf Musik wurde immer wieder erörtert, etwa in Faltin & Reinecke 1973 oder Heß 2003.
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Von Verstehen im Singular zu sprechen bedeutet also automatisch, Verstehen als Plural mitzudenken. Besonders deutlich wird das bei Limit To Your Love, bei dem die Individualität der Bezugnahme ganz besonders augenfällig wird. Selbst die Sequenz, in der ein Tänzer im Laufschritt die menschliche Mauer umkreist und damit die Dominanz zurückgenommener Bewegungen durchbricht, lässt sich als eigene Verstehensqualität auffassen – eine Verstehensqualität freilich, die einen Kontrapunkt zur Musik setzt. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auf die von Vertretern des Konnektionismus vorgetragene Idee neuronaler Netzwerke zu verweisen. Dabei wird davon ausgegangen, dass das „Verhalten von Menschen […] nicht auf computerähnlichen Symbolverarbeitungsprozessen, sondern auf den flexiblen Strukturen neuronaler Netze“ beruht (Beckermann 1999: 285). Die neuronalen Netze zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus verschiedenen Blöcken oder Einheiten bestehen, die nicht fest miteinander verbunden sind, vielmehr variable Verbindungen miteinander eingehen. Auch diese Verbindungen sind nicht vorgegeben. Die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Blöcken sind nach oben offen, da sich neuronale Netze dadurch auszeichnen, dass sie lernfähig, also veränderbar im Sinne eines zunehmend variableren Zusammenspiels sind (ebd.: 285f.). In diesem Sinne sind auch Verstehensqualitäten nicht als etwas Abgeschlossenes zu betrachten, vielmehr als eine Möglichkeit unter vielen anderen, die gleitend ineinander übergehen. Tatsächlich können wir auf „viele richtige Weisen verstehen“ (Ammon 2009: 87). Indem eine Verstehensqualität erreicht wird, bleiben gleichzeitig viele andere unerreicht. Gerade innerhalb von Gruppen kann deutlich werden, welche anderen Verstehensqualitäten es noch geben kann. Diese Möglichkeiten bei den Mittänzern wahrzunehmen kommt einer Einladung gleich, was anzuvisieren sich über den eigenen erreichten Stand hinaus noch lohnen würde. Verstehen von Musik durch den Körper ist somit absolut individuell aufzufassen, es geht weniger um dessen „abstrakt-diskursive“, als um dessen „personalisierte“ Seite (Klein 2012: 7). Insofern ist in den Verstehensqualitäten immer auch das Nicht-Verstehen angelegt, und zwar in dreifacher Weise. Zum ersten werden gerade dadurch, dass eine Verstehensqualität erreicht wird, viele andere Qualitäten nicht erreicht. Es sind andere Möglichkeiten, Musik zu verstehen, die man selbst nicht realisiert hat, und über die man möglicherweise noch nicht verfügt. Insofern fordern andere körperliche Wahrnehmungen von Musik dazu heraus, „unsere Hör- und Denk-Kategorien zu erweitern und uns über sie hinauszuführen“ (Mahrenholz 2012: 12). Andere Verstehensqualitäten anzuvisieren heißt, den eigenen Radius zu erweitern, innerhalb dessen Beziehungen zu Musik mittels körperlicher mimetischer Prozesse gestiftet werden. Zum zweiten zeichnen
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sich mimetische Prozesse dadurch aus, dass die daraus resultierenden Bewegungen nicht identisch sind mit dem, worauf sie sich beziehen. Bei allem Bemühen um eine Anähnlichung bleibt immer ein widerständiger Rest, der die mit dem Verstehensprozess einhergehende Suche nach „Ähnlichkeiten und Unterschieden, […] Verbindungen und Unterbrechungen“ (Ammon 2009: 87) in eigener, unverwechselbarer Weise prägt. Zum dritten schließlich ist in der eigenen Körperlichkeit von vornherein auch Fremdheit angelegt, denn von Anbeginn unseres Lebens sind wir „schon mit Fremdheit durchsetzt“ (Waldenfels 1999: 51), und zwar allein deshalb, weil wir in vielfältigem Austausch mit anderen Menschen stehen, so „dass in die Genese des Ichs der Andere in vielfältiger Form eingeht und sich in ihm festsetzt“ (Wulf 2013: 101). Das aber, was uns an uns fremd bleibt, erschließt sich nicht dem Verstehen, sondern bleibt unverstanden. Dieses Nicht-Verstehbare an uns selbst erleben wir besonders dann, wenn wir uns körperlich exponieren, denn hier tritt Fremdes sicht- und fühlbar zu Tage. Mimetisches Verhalten ist aufgrund der sich dabei zeigenden Originalität durchaus schöpferisch aufzufassen. „Werden die Verstehensprozesse als Prozesse der ‚Erzeugung‘ aufgefasst, wird deutlich, dass sie ein aktiver Vorgang sind. […] Schaffensvorgänge sind gestaltend, sie formen und verändern. Etwas Neues entsteht, etwas, das vorher noch nicht da war; das, was war, durchläuft im Prozess eine Veränderung“ (Ammon 2009: 93). Im Prozess des Verstehens von Musik bleibt der Körper nicht, wie er war. Er wird anders, neu geformt, er wird partiell überschrieben. Insofern lässt sich mit Blick auf das Verstehen sagen: „Etwas erschaffen heißt, etwas zu verstehen; etwas zu verstehen heißt, etwas zu erschaffen“ (ebd.: 92). Verstehen von Musik mittels tänzerischer Bewegung erwächst also nicht aus einem Wissen über, sondern aus der Bezugnahme (Brandstätter 2007: 43f.). Reflexiv wird auf Musik Bezug genommen, und zwar mittels des Körpers in seiner Ganzheit von sichtbarem Körper, Geist und Seele. Und in dieser Bezogenheit von Körper und Musik liegt körperliches Musikverstehen begründet.
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Vom Wissen des Körpers und seinen Bildungspotenzialen im Sport und im Tanz A NTJE K LINGE
„Die Abspaltung des Denkens und Fühlens von den Bewegungen des Körpers muss in einem zwangvollen Lernprozess geübt werden und kann nicht vollständig gelingen, weil unser Denken an unsere Körper gebunden ist. Tänzer haben das schon immer gewusst. Nun folgt ihnen die Wissenschaft in dieser Erkenntnis“ (Völckers 2007: 11).
Dass sich im Tanz ein Wissen des Körpers zeigt, davon gehen Tänzer und Tänzerinnen und solche, die sich mit Tanz beschäftigen, offensichtlich immer schon aus. 2006 trafen sich unter dem programmatischen Kongressthema „Wissen in Bewegung“ in Berlin Tanzpraktiker, Künstler, Choreographen, Kultur-, Theater-, Sozial- und Erziehungswissenschaftler, um sich in neuen Formaten wie Lecture-Performances und Demonstrations, Laboratorien oder Salons über Tanz als Wissensform auszutauschen (Gehm et al. 2007). Dieses Wissen verweist auf ein anderes Wissen, das neben dem an Sprache gebundenen Wissen existiert und eine andere Aneignung von Wissen und Erkenntnis, eine „andere Vernunft“ (Franke 2003: 29) zu versprechen scheint. Im Tanz – so Brandstetter – könne dieses Wissen sichtbar werden (Brandstetter 2007). Es zeigt sich auch im Sport. Der Körper weiß genau, wann er wie den Tennisball nehmen muss, um einen besondere Drall zu erwirken; er weiß, was er tun muss, um im Lauf die Hürde zu überwinden. Würde der Sportler darüber nachdenken, ob er den Schläger mehr öffnen oder besser schließen soll, oder wann er
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das sogenannte Nachziehbein anheben soll, hätte er schon „verspielt“ (Gebauer & Wulf 1998: 64). Von einem expliziten Wissen des Körpers wird im Sport allerdings selten gesprochen. Eher von Fertigkeiten und Automatismen, die durch Üben und Trainieren erworben werden, um sie wie im Schlaf vollziehen zu können (Näheres dazu in Klinge 2016). In pädagogischen Kontexten, in denen im und durch Sport oder Tanz die Aneignung von Wissen vornehmlich praktisch, nicht-sprachlich erfolgt, geht es um mehr als den durch Wiederholung angeeigneten Bewegungsvollzug. Hier geht es auch um personale, soziale und materiale Erfahrungen, die mit dem Bewegungsvollzug, der körperlichen Auseinandersetzung mit sich und der Welt verbunden sind. Solche Erfahrungen schlagen sich als ein Wissen nieder, das das Wahrnehmen, Denken und Handeln des Menschen beeinflusst und auch nachhaltig prägen kann. Sportpädagogische Überlegungen, die den Körper und die Bewegung – und weniger den Sport als kulturelle Objektivation und historische Realisierungsform möglicher Bewegungen (Prohl 1999: 183) – als Medium von Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen, setzen hier an (z. B. die bildungs- und bewegungstheoretisch fundierten Ansätze von Beckers 2007; Bietz et al. 2005; Franke 2005; Prohl 1999). Die Tanzpädagogik, die keine eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist, sondern sich eher als pädagogisches Handlungsfeld etabliert hat und wissenschaftssystematisch zwischen allgemeiner Pädagogik, Kunst- und Theaterpädagogik, Sport- und Bewegungspädagogik zu verorten ist, nimmt für sich den Begriff der ästhetischen Erfahrung in Anspruch. Dabei orientiert sie sich an der Leitidee der Ästhetischen Erziehung sowie Kunst- und Bildungstheorien (Fritsch 1989). Mit der Einbindung von Tanz in die Curricula des Schulsports im Laufe der 1970er Jahre hat der Tanz als pädagogisches Handlungsfeld Einzug in die Schule erhalten, nimmt dort jedoch bis heute nur eine marginale Position ein. Dies – so meine These – weil der Tanz bzw. die Tanzpädagogik von einem Körperwissen ausgeht, das sich weder sportwissenschaftlich noch sportpädagogisch-praktisch ‚disziplinieren‘ lässt. Die Ambivalenz des Körperwissens zeigt sich hier besonders: das im Körper liegende Wissen kann durch Bewegungen hervorgeholt werden und neue, un- oder außergewöhnliche Erfahrungen eröffnen; es kann gleichermaßen als einverleibtes Gewohnheitswissen solche Erfahrungen auch be- und verhindern. Hier zeigt sich sein bewahrendes wie erneuerndes Potenzial. Diesen Zusammenhang und damit verbundene Bildungspotenziale bzw. -grenzen möchte ich im Folgenden herausarbeiten, indem ich erstens aus körpersoziologischer Sicht den Körper als Speicher und Träger von Wissen darlege (Meuser 2004) und herausarbeite, wie dieses Wissen als eine Art stumme oder „stille Pädagogik“ (Bourdieu 1997: 128) quasi im Hintergrund wirkt, zweitens
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auf den aktiven Beitrag des Körpers an der Hervorbringung von Wissen eingehe und damit den Körper nicht nur als Speicher und Träger von Wissen, sondern auch als Agens auslege, ihn darüber hinaus drittens als Reflexions- und Erkenntnisorgan kennzeichne, an dem sich Lernen vollzieht und schließlich viertens an Beispielen aus dem Sport und dem Tanz diese Reflexivität anschaulich mache und Bildungspotenziale aufzeige.
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ALS
S PEICHER
UND
T RÄGER
VON
W ISSEN
Wo vom Wissen des Körpers oder Körperwissen die Rede ist, da wird auch vom Erfahrungswissen oder praktischen Wissen, vom impliziten oder einverleibten Wissen gesprochen. Betont wird eine andere Wissensform, die nicht von Rationalität und Sprache dominiert wird, sondern von den Erfahrungen, die sich in den Lebenswelten der Akteure, in ihren Praxen versammelt haben und als sedimentierte Erfahrungen im Körper niederschlagen. Solches Erfahrungs- oder praktisches Wissen (Bourdieu 1997) äußert sich in Routinehandlungen des Alltags wie des Sports, in denen nicht sichtbare Regeln wie selbstverständlich befolgt werden. In ihnen zeigen sich die legitimen Umgangsweisen mit dem Körper1, nämlich sich so zu verhalten, wie es den gesellschaftlichen Erwartungen und kulturellen Vorstellungen entspricht. Durch Beobachtung, mimetisches Angleichen an die Bewegungs- und Handlungsvollzüge anderer lagern sich die Strukturen des Sozialen im Körperlichen ab und bilden die Schemata des Wahrnehmens, Denkens und Handelns aus – Bourdieu spricht von der „Inkorporierung sozialer Strukturen“ (Bourdieu 1997: 126) und der Funktion des Körpers als „Gedächtnisstütze“ (Bourdieu 1997: 126). Das Wissen des Körpers ist in dieser kultursoziologischen Perspektive als ein habituelles, inkorporiertes Erfahrungswissen zu verstehen, das handlungsbezogene, sinnliche Erfahrungen umfasst, die man hat und die man macht (Meuser 2004; Hirschauer 2008). Bourdieu hat seine Habitustheorie u. a. mit Beobachtungen aus dem Sport angereichert und anschaulich gemacht (Bourdieu 1994, 1997, 2001). Der Sport
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Bourdieu führt 1994 den Begriff des ‚legitimen Körpers‘ ein und bezeichnet damit den dominanten Geschmack einer Gesellschaft, Kultur oder sozialen Klasse, der als Maßstab für den jeweils richtigen, angemessenen Umgang mit dem Körper gilt. Die Vorstellungen von einem „durch kostspielige Ausrüstungen und strenge Disziplin kultivierten Körper, einen schlanken, muskulösen, zu jeder Jahreszeit sonnengebräunten und von den Stigmata des Alterns befreiten Körper“ (Bröskamp 1994: 150) können dabei als derzeit legitime Körper betrachtet werden.
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erweist sich demnach als ein Feld, in dem die Einübung des Körpers in die kulturellen Muster und sozialen Gebrauchsweisen des Körpers besonders gut gelingen kann. Hier werden nicht nur die sportspezifischen Bewegungsfertigkeiten und -fähigkeiten gelernt, sondern mit ihnen die sozialen Muster und Normen, die diesen Techniken zugrunde liegen. Die spezifische Ausstattung der Sporträume, Hallen und Plätze samt ihrer Anordnung von Geräten unterstützt diesen impliziten Charakter des Einübens in den ‚richtigen‘ Umgang mit dem Körper und der Bewegung. Lernen im Sport erfolgt vornehmlich innerhalb solcher festgelegten, vorstrukturierten und vorstrukturierenden Räume. Während die Einverleibung dieser Spielregeln die Teilnahme am Sport, an der Gemeinschaft und an der sozialen Welt erst ermöglicht, werden gleichzeitig mit ihr andere Möglichkeiten des Umgangs mit dem Körper ausgegrenzt. Der Körper hat damit eine vor-strukturierende Funktion, die das Lernen steuert und zwar in einer „stummen, von Körper zu Körper erfolgenden Kommunikation“ (Gebauer & Wulf 1998: 51). Denken Sie einmal an die Laufbahn in einem Stadion oder einer Sporthalle und die Bewegungen, v. a. Bewegungsrichtungen, die hier typisch sind. Die Menschen laufen links herum, nicht kreuz quer und vor allem nicht rechts herum. Dieser leichtathletische Linkskreis ist auch typisch für den Beginn von Sport-, Trainings- oder Spielstunden: Ohne dass dazu aufgefordert wird, ist die Laufrichtung klar - das macht man eben so. Diese heimliche Macht der Praxis zeigt sich in einer gewissen Hartnäckigkeit und Beharrungstendenz von Gewohnheiten. Lernen im Sinne einer Um- oder Neudeutung bislang gültiger Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster (MeyerDrawe 1982) wird hier nicht angestiftet, sondern eher verhindert. In diesen Räumen des Sports bildet sich ein fachspezifischer Habitus heraus, der vor allem von den Erfahrungen der Praxis des Sports geprägt ist. Als heimliches Körperwissen manifestiert es sich hinter den Potenzialen, die die Begegnung mit Körper und Bewegung für die Auseinandersetzung des Subjekts mit sich und der Welt bieten. Es erzeugt eine gewisse Resistenz gegenüber Reflexionen und Veränderungen mitgebrachter Einstellungen. Diese Diskrepanz ist auch zwischen sportpädagogischer Theorie und sportpädagogischen Praxis festzustellen – eine besondere Spezifik des Faches. Die Praxis des Sports, die einverleibten sportiven Muster und Wissensformen unterlaufen damit die besonderen Erfahrungen, die dem Sport von Sportpädagogen immer wieder zugeschrieben werden – wie z. B. seine prinzipielle Offenheit, die Erfahrbarkeit von Authentizität, die vielfältigen Interaktionen sowie ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten (Neuber 2011: 145). Schaut man sich einmal eine andere Anordnung sportpraktischen Tuns an, dann erhält man eine Ahnung davon, wie vertraute Muster nicht mehr so ohne
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weiteres funktionieren und andere Bewegungsmöglichkeiten und Perspektiven eröffnen. Abb. 1 und 2: Räume und alternative Anordnungen von Geräten
Quelle: http://www.loa–fonden.dk/projekter/2010/gymnastik-ogmotorikhal-i-aarhus/
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D ER K ÖRPER
ALS
A GENS
UND
P RODUZENT
VON
W ISSEN
Welches Potenzial der Körper als Agens und Produzent von neuem Wissen hat, lässt sich erahnen, wenn wir uns vorstellen, wie sich die Körper in diesen ungewohnten räumlichen Anordnungen bewegen (s. Abbildung 1 und 2). Der Kreislauf heimlicher, unterirdischer Wirkungen praktischen Wissens kann hier durchbrochen werden. Und die Potenziale des Körpers werden konstruktiv genutzt. Der späte Bourdieu (Bourdieu 2001) hat diese Umkehrungsmöglichkeiten v. a. im Sport, in der Musik und im Tanz gesehen: „Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik oder des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen ‚Intelligenz‘, die eine Veränderung, ja Umkehrung der gültigen Hierarchien herbeiführen kann“ (Bourdieu 2001: 185).
Hier kommt der Körper als sinnlicher Leib, handelndes Medium und Werkzeug in Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen ins Spiel. Er ist nicht mehr nur passives Objekt und Träger sozialer Strukturen, sondern selbst aktiv beteiligt an der Hervorbringung und Gestaltung von neuen Ordnungen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze verschmelzen hier mit phänomenologischen Denktraditionen und verweisen auf die leibliche Dimension und Fundierung von Lernen.
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ALS
R EFLEXIONS -
UND
E RKENNTNISORGAN
Die Chancen einer Mobilisierung des Körperwissens sind im Feld des Sports und des Tanzes gegeben. Einverleibtes, stummes Wissen wird mit Hilfe der Sinne aufgestöbert, in Bewegung gesetzt, mit den Möglichkeiten des Körpers aktualisiert. Er ist dabei nicht nur Gegenstand reflexiver Auseinandersetzungen, sondern wird selber zum Reflexionsorgan. Franke (2005) spricht von reflexiver Körpererfahrung und verweist auf den „Erkenntnischarakter des Sinnlichen“ (Franke 2005: 192). Am Körper, im praktischen Tun wird sinnlich nachvollziehbar, wie charakteristische Körperroutinen verlaufen, wie sie sich entwickelt haben und welche Sicherheiten, aber auch Einschränkungen sie mit sich bringen. Mit den Mitteln des Körpers ist eine Art kinästhetische Empathie verbunden, ein empathisches Verstehen, noch bevor Sprache das Verstandene artikulieren kann. Um das implizite Wissen für Lern- und Bildungsprozesse zugänglich machen zu können, sind Irritationen des Habitus, der Sicherheiten und Selbstverständ-
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lichkeiten notwendig. Erst in der Distanzierung, der Erfahrung von Differenz wird Reflexion möglich, werden Bildungs- und Erkenntnisprozesse in Gang gesetzt (Schürmann 2008: 54f.). Anlässe oder Anstöße reflexiver Körpererfahrungen setzen damit an Praktiken des Körpers an, indem der Prozess der Erzeugung und Hervorbringung des Körperwissens aufgegriffen und als Zugang konstruktiv genutzt wird. Praktiken, die sich von der Wahrnehmung leiten lassen, Differenzen oder Widerstände, die erspürt und nicht überwunden werden wollen, eröffnen solche Zugänge und initiieren ästhetische Prozesse. Der Pädagoge Gottfried Bräuer formuliert sie als „generative Prinzipien“ (Bräuer 1989: 52), die im Bereich der Kunst, im Schauspiel, Tanz, in Prosa, Poesie, Film oder Architektur wie auch im kindlichen Spiel besonders am Werk sind.2 Die Tanz- und Sportpädagogin Ursula Fritsch nimmt den Gedankengang für die tanzdidaktische Theoriebildung auf und spricht von „Übungen für den Erwerb ästhetischen Artikulierens“ (Fritsch 1989: 11).
R EFLEXIONSFORMEN
DES
K ÖRPERS
Solche Übungen oder Modi der Hervorbringung ästhetischer Erfahrungen bezeichne ich als Reflexionsformen des Körpers: Sie liefern verschiedene, nicht immer trennscharfe Anlässe und Zugänge zum Lernen und Verstehen mit dem Körper. Dazu greife ich hier in Anlehnung an Bräuers Prinzipien (Bräuer 1988) die Wiederholung, die Nachahmung, das Spielen und die Verfremdung auf. Wiederholen Wiederholen ist ein Noch-einmal-Tun, das nicht zur selben Zeit stattfindet. Einverleibtes Wissen kann aufgestöbert, durch bestimmte Körperhaltungen aus den Spuren des Gewohnten hervorgeholt werden, wie ein Geruch, der an eine vergangene Situation erinnert. Es wird das „in die Gegenwart zurück(geholt), was schon einmal da war und nie vollständig verschwunden ist, weil es in den Körpern der Subjekte vorhanden bleibt“ (Gebauer 2002: 135). Moshé Feldenkrais (1996), Physiker und Judolehrer, hat mit dem Prinzip der Wiederholung gearbeitet, indem er in seinen Übungen und der nach ihm benannten Methode die Auf-
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Bräuer nennt sechs Prinzipien: das Ausgrenzen und Ordnen, Rhythmisieren, Kontrastieren und Polarisieren, Sich-Ausdrücken, Verändern und Verfremden sowie das Finden (Bräuer 1988: 52 ff.).
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merksamkeit auf den Bewegungsvollzug – in langsamer, zeitlupenartiger Ausführung – richtet, wodurch z. B. unnötige Kraftanstrengungen in den eigenen Bewegungsmustern spürbar werden. Die Wiederholung macht Bewegungen für Empfindungen durchlässig, „die Aufmerksamkeit für das, was sich in, an oder mit den verschiedenen Sinnen ereignet“ (Mollenhauer 1988: 41) wird gesteigert. Im Wiederholen können „Kenntnis und Wissen über die Beschaffenheit und Ordnung der Dinge“ (Ehni 1985: 17) verknüpft oder in dem Beispiel von Feldenkrais muskuläre und knöcherne Verbindungen wahrgenommen und erkannt werden. Nachahmen Sich-ähnlich-Machen, Anpassen, Nachahmen oder Nachmachen verweisen auf das grundsätzlich mimetische Vermögen des Menschen, über Nachahmung zu lernen und sich zu entwickeln (Gebauer & Wulf 1998). Im Prozess des Nachahmens wird das Fremde zum Eigenen, der Unterschied zwischen dem Vertrauten und dem Anderen, Fremden bewusst. Das vermeintlich Unbekannte wird bekannt gemacht, mit der Folge, dass „ich das Vorbild anders ‚lese‘ als vorher“, schreibt der Sportpädagoge Funke-Wieneke (Funke-Wieneke 2008: 120). Mollenhauer (Mollenhauer 1988) hat drei Stufen bzw. Dimensionen der mimetischen Bezugnahme herausgearbeitet, die sich nach dem Grad der Veränderung der Vorlage unterscheiden, und sie als „Selbstbildungsbemühungen“ (Mollenhauer 1988: 70) bezeichnet. Das imitierende Nachgestalten, das Umgestalten und das neu Gestalten. Damit hebt er die reflexive und konstruktive Mitarbeit des Akteurs im Prozess der Nachahmung hervor. Die mimetische Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der aktuellen wie historischen Kontexte ist von daher auch immer eine reflexive. Ein Beispiel dafür ist die Vermessung von Räumen und typischen Geräte-Anordnungen des Sports mit den Mitteln des Körpers: Mit Hilfe der Arme, Beine oder des gesamten Körpers die Länge einer Wand- oder Torseite oder die Umrisse und Freiflächen eines Sportgeräts vermessen. Räume und Artefakte werden in der mimetischen Nach- oder auch Umgestaltung im Körper präsent und verweisen auf ihre impliziten, stummen Aufforderungen und impliziten Bildungswirkungen. Spielen Als vom „‚Ernst des Lebens‘ entlasteter Raum“ (Alkemeyer 2012: 118) bietet das Spielen im Sport und im Tanz ein besonders geeignetes Feld für ästhetische Erfahrungen. In der Sphäre von Zweckfreiheit können sinnliche Erlebnisse und
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Erfahrungen erprobt und vertieft werden. Das Spielen bildet die Basis dafür, andere Wirklichkeiten, „neue Assoziations- und Beziehungsordnungen“ (SuttonSmith 1987: 89) zu erfahren, Veränderungen wahrzunehmen und das Kunstförmige von der sozialen Wirklichkeit zu unterscheiden. Sanktionen sind nicht zu befürchten, Um- und Irrwege erlaubt, Verunsicherungen und Grenzerfahrungen ebenso möglich wie Zufälliges und vermeintlich Fehlerhaftes ausdrücklich erwünscht sind. Der zeitgenössische Tanz ist in diesem Sinne Spielen. In der bewussten Brechung mit vorhandenen Formen und Traditionen sucht er nach neuen, ungewohnten Bewegungswegen und -qualitäten (Odenthal 2005; Clavadetscher & Rosiny 2007; Diehl & Lampert 2011). Er bietet damit vielfältige Gelegenheiten für die Entgrenzung bestehender Ordnungen, die Erprobung neuer Möglichkeitsräume und die Entdeckung bislang unbekannter Themen. In der Improvisation, dem Spiel mit der Bewegung, dem Körper im Raum, in der Zeit werden diese Möglichkeiten ästhetisch erforscht und erprobt. Die spielerische Auseinandersetzung mit der Bewegung im Tanz, die grundsätzlich auch im Sport möglich ist, liefert das „Experimentier- und Lernfeld des Handelns unter Unsicherheit“ (Alkemeyer 2012: 118), in dem die Widerständigkeit, die in den Dingen liegt, wahrgenommen werden kann. Neue Qualitäten des Miteinanders oder Gegeneinanders, des Artistischen oder Artifiziellen, des Kraftvollen oder Kämpferischen treten neben etablierte Formen von Bewegung – ob im klassischen Ballett, im Gesellschaftstanz oder im Sport. Verfremden Schließlich ist die Verfremdung ein weiteres Prinzip zur Erzeugung von Aufmerksamkeit. Mit dem Verfremdungs-Effekt sollen Irritationen provoziert, Widerstände aufgeladen und Neugierde am Unbekannten ausgelöst werden. Statt des schnellen Einordnens und Erledigens, des leichten Wiedererkennens und konventionellen Blicks – so der Schulpädagoge Horst Rumpf (Rumpf 1987) – ist das Verfremden des Vertrauten ein Verfahren der erschwerten Form – ein Begriff, den Rumpf von dem russischen Formalisten Viktor Sklovskij übernommen hat. Es ist ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert. Die Wahrnehmung soll erschwert werden, um Wahrnehmungsgewohnheiten zu ‚entautomatisieren‘: Schnelle Bewegungen in Zeitlupe, Alltagsbewegungen in Zeitraffer oder Bewegungen aus gewohnter Umgebung an ungewöhnlichen Orten ausführen. Ziel ist es, zu provozieren, Erfahrungen „gegen den Sog der Erledigung, Beherrschung, Zurücklegung“ (Rumpf 1987: 152) wieder zu ermöglichen. Das Bewegungstheater, das Darstellende Spiel, der Tanz bieten sol-
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che Verfahren der Entroutinisierung. Bekanntes, Selbstverständliches wird somit als etwas Gemachtes bzw. Konstruiertes bewusst.
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VON
S PORT
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Während sich zum einen am Körper die Muster des Sozialen in Form von Gewohnheiten, Routinehandlungen und Selbstverständlichkeiten niederschlagen und eine gewisse Hartnäckigkeit gegenüber Veränderungen aufweisen und damit möglichen Bildungsprozessen entgegenstehen, können zum anderen solche Selbstverständlichkeiten am Leitfaden des Körpers auch wieder irritiert und verflüssigt werden und zu neuen, ungewöhnlichen Erfahrungen führen. Dass sich der Sport im Vergleich zum Tanz solchen Experimenten eher entgegenstellt, kann als Beleg der Bourdieuschen These der Inkorporierung des Sozialen ausgelegt werden. In seiner zeitgenössischen Ausprägung setzt der Tanz ganz bewusst an diesem inkorporierten Wissen an, indem er nach den individuellen körperlichen Voraussetzungen und Gegebenheiten sucht, sinnliche Hierarchien und gängige Körperkonzepte in Frage stellt und damit Ressourcen freisetzt. Diese Potenziale des Umlernens, der Re-Organisation und Neu-Befähigung des Wahrnehmens, Empfindens, Denkens, Erkennens und Beurteilens sind grundsätzlich auch im Sport angelegt, aber – so sollte deutlich geworden sein – schwer zu erreichen.
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Was der Körper nicht lernt, lernt der Kopf nimmermehr ... Lerntheoretische Überlegungen zur Bedeutung der Leiblichkeit des Lernens W ILFRIED G RUHN
„The brain evolved not to think or feel, but to control movement“ (Wolpert 2011).
D IE S INNE
DENKEN :
K OGNITION
UND
W AHRNEHMUNG
Dass die Sinne mit dem Körper verbunden sind, ist eine offenkundige Tatsache und in der Wahrnehmungspsychologie von weitreichender Bedeutung. In welchem Maße jedoch körperliche Aspekte den Wahrnehmungsprozess beeinflussen, ist erst durch neurobiologische Befunde erhärtet worden. In der Musik hängt die Erkenntnis des ästhetisch Vermittelten vornehmlich von der auditorischen Vorstellungs- und Wahrnehmungsfähigkeit des Hörers ab. Georg Picht hat davon gesprochen, dass „die Sinne denken“ (Picht 1986: 336) und damit den wahrnehmenden Sinnen einen eigenen Erkenntnischarakter zuerkannt. Inwieweit sinnliches Empfinden und körperbezogenes Wahrnehmen aber als phänomenale Tatsache gegeben und der Empirie zugänglich sind, wird im Folgenden zu zeigen sein, und dies insbesondere im Hinblick auf ihre Wendung ins Pädagogische. Denn was im Unterricht und als Gegenstand von Unterricht gelernt wird, hängt in hohem Maße von der körperlich sinnlichen Erfahrung ab. Denn „wahr und lebendig ist […] nur, was sinnlich ist und den Bedingungen der Sinnlichkeit gehorcht“ (Wagner 1983 [1849]: 45) Für das Kunstwerk bedeutet dies – so
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Wagner weiter –, dass es erst „in dem Momente seiner leiblichsten Erscheinung“ aus der Vorstellung in die Realität tritt und so „die Befreiung des Gedankens in der Sinnlichkeit“ (ebd.: 13) ermöglicht. Lernen bedeutet dann die Umkehrung dieses Vorgangs, nämlich durch sinnliche Erfahrung und leibliche Vergegenwärtigung den Gedanken, das Denken erst zu ermöglichen. Lernpsychologisch gewendet hat Hans Aebli in Anlehnung an Jean Piaget diese ursprüngliche Einheit von Tun und Denken zum Ausgang seiner handlungsorientierten Lernforschung gemacht und betont, dass das Denken eine Funktion des Tuns darstellt (Aebli 1980). Auf die Problematik einer Pädagogik, die viele Jahrhunderte lang den Körper beim Lernen ruhig stellte oder ganz ausschaltete, hat Horst Rumpf hingewiesen (Rumpf 1981). Wenn die Sinnlichkeit bei der Erfahrung verdrängt und übergangen wird, kann sich auch das Lernen nur sehr eingeschränkt entfalten, weil das Lernsubjekt dann auf einen bloßen Wissensspeicher reduziert würde. Nachhaltiges, tiefes Lernen schließt nicht nur die sinnliche Erfahrung ein, sondern setzt sie voraus.
D IE S INNE
HANDELN :
E NTRAINMENT
Eine Stunde musikalischer Früherziehung: Mütter und Kinder sitzen im Kreis und deklamieren gemeinsam einen Rhythmus. Dem kleinen Lukas, ca. 8-9 Monate alt, wird es offenbar zu langweilig; er krabbelt in eine Ecke, in der ein attraktiver Lautsprecher steht. Während das Kind – von der Gruppe abgewandt – an den Knöpfen des Lautsprechers dreht, bewegt er sein rechtes Bein genau im Metrum des deklamierten Rhythmus. Das Tempo wechselt, und Lukas passt seine Bewegung sofort an das neue Tempo an. Diese scheinbar triviale Beobachtung weist auf ein erstaunliches Phänomen hin. Das Kind hat keinerlei Blickkontakt zu seiner Mutter oder zu der Gruppe, aber es klopft präzise im Metrum und reagiert unmittelbar auf einen Tempowechsel, d. h. die Steuerung seiner Bewegung erfolgt allein über das Ohr! Die Koordination der eigenen Bewegung mit der der anderen wird dabei ausschließlich auditiv gesteuert, nicht durch Imitation der Bewegung, die das Kind sieht. Das „Ohr“ sagt also dem „Bein“, dass und wie es sich bewegen soll. Das ist schon ein erstaunliches Phänomen, das in der Neurobiologie Entrainment genannt wird. Es beruht auf einer neuronalen Verbindung von Hörarealen (primärer auditorischer Cortex) mit den Bewegungsarealen (prämotorischer Cortex), die der sensomotorischen Integration und Bewegungsplanung dienen und dafür verantwortlich sind, dass ein extern wahrgenommener Rhythmus intern eine
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synchrone Bewegung auslöst. Dem liegt eine kognitive Leistung zugrunde, weil der Grundpuls, in dem der Fuß klopft, erst aus einem gehörten Rhythmus oder dem Tempo der Melodie abgeleitet werden muss. Die metrische Synchronisation zweier gleichzeitiger Bewegungen stellt eine kognitive Dimension der sinnlichen Wahrnehmung dar und findet alltäglich beim Chorgesang, beim Tanzen oder Marschieren statt, wenn Menschen ihre Bewegungen mit der Musik koordinieren. Dieser auch als auditory-motor loop bezeichnete Mechanismus bildet eine wesentliche Grundlage für musikalisches Lernen. Denn wenn man eine bestimmte Tonhöhe nachsingen möchte, muss man der eigenen Lautproduktion zuhören und kontrollieren, ob die Spannung der Stimmlippen so eingestellt ist, dass die Intonation sauber gelingt. Die Hörinformation korrigiert dann die Bewegungen im Kehlkopf solange, bis das Resultat uns zufriedenstellt, d. h. der gehörte Klang mit dem produzierten übereinstimmt. Physiologisch beruht dies auf einer Handlungsschleife, die Hören und Bewegen (Muskelaktivität) miteinander verbindet. Und das geschieht immer, wenn Menschen musizieren und mit Instrumenten Töne erzeugen. Es geht dabei immer um wahrnehmungsgesteuerte Handlungen, bei denen Hören und Tun ganz eng aufeinander bezogen sind.
E NTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE A SPEKTE Diese Zusammenhänge treten offen zutage, wenn man das Verhalten kleiner Kinder beobachtet. Die Wahrnehmung neugeborener Säuglinge hat der Psychologe René Spitz als viszerale Leibempfindung beschrieben, die ihr Zentrum im autonomen Nervensystem hat, und sich zu einer diakritischen Organisation mittels der peripheren Sinnesorgane entwickelt, die kortikal gesteuert wird und sich in kognitiven Prozessen manifestiert (Spitz 1980). Die früheste Form der Organisation der Wahrnehmung nennt er coenästhetisch (ebd.: 62). Sie ist leibsinnlich und geht von elementaren Bewegungen aus. Dies lässt sich bis in die fötale Entwicklung zurückverfolgen. Sobald der Fötus sich im Fruchtwasser zu bewegen beginnt, setzt ein Austausch zwischen vestibulärer Empfindung von Lageveränderungen mit der Wahrnehmung der Körperorientierung ein. Und sobald das cochleare Hörsystem ausgebildet ist (ab ca. der 25. Schwangerschaftswoche), reagiert der Fötus auf Klangveränderungen der Lautstärke und des Tempos mit verstärkten Bewegungen und der Herzfrequenz (Parncutt 2009). Dabei werden dann erste propriozeptive Reaktionen auf auditive Reize erkennbar. Zentner und Eerola konnten in einer Säuglingsstudie (Alter: 5-24 Monate) beobachten, dass sich die Kinder signifikant häufiger zu Musik als zu Sprache
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bewegen und dabei auch eine größere Sensibilität gegenüber Tempoveränderungen zeigen (Zentner & Eerola 2010). Man kann hier also bereits von einer musik-induzierten Bewegung sprechen: der Körper antwortet mit Bewegungen auf Musik, die er wahrnimmt.
Abb. 1: Bewegungen zu Musik im Vergleich zur Sprache in zwei verschiedenen Kohorten von Kindern aus verschiedenen Europäischen Kulturkreisen
Quelle: Zentner & Eerola 2010: 5769
Wie stark die Wahrnehmung an Bewegung gekoppelt ist, konnte Jessica SilverPhillips zeigen, die Mütter ihre sieben Monate alten Säuglinge auf den Armen wiegen oder schaukeln ließ, und zwar entweder im geraden Zweiermetrum (march) oder im ungeraden Dreiermetrum (waltz). Nach einem über längere Zeit erfolgenden wöchentlichen Training stellte sie fest, dass die Kinder, die im Marschrhythmus bewegt worden waren, diesen auch beim Hören bevorzugten, während die, die im Walzerrhythmus gewiegt worden waren, diesen auch statt des Marschs länger hören wollten (Philips-Silver & Trainor 2007). Dies bedeutet, dass kleine Kinder Rhythmen maßgeblich über die Bewegung erfahren und erst dadurch rhythmische Repräsentationen gebildet werden können. Dabei spielt offenkundig das vestibuläre System (Gleichgewichtsorgan), das sich zusammen mit dem cochlearen System im Innenohr befindet und so schon physiologisch den Zusammenhang von Bewegung und Hörwahrnehmung veranschaulicht, eine entscheidende Rolle. Denn dieser Effekt stellte sich nur dann ein, wenn der Kopf der Kinder mitbewegt wurde, nicht jedoch, wenn alleine die Beine im entsprechenden Rhythmus schaukelten (Philips-Silver & Trainor 2008). Damit ist zugleich der Bereich musikalischen Lernens angesprochen. Eine Beobachtungsstudie bei Vorschulkindern (2-5 Jahre) konnte nachweisen, dass eine hohe positive Korrelation der Bewegungskoordination und des Bewegungs-
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flusses der Kinder mit deren melodischen und rhythmischen Fähigkeiten besteht (Gruhn 2002). Abb. 2: Korrelationen zwischen Ergebnissen der Bewegungserhebung (motor scores) und eines Begabungstests (Gordons Primary Measures of Music Audiation, PMMA) MOT scores coordination fine motor abilities balance motor control
PMMA scores PR rhythm r =.608** p = .001 r =.714** p = .000 r =.635** p = .000 r =.527** p = .004
PR tonal .495** .009 .616** .001 .615** . 001 .510** .007
PR total .581** .001 .726** .000 .636** .000 .628** .000
Quelle: Gruhn et al. 2012: 94
In einer anschließenden Untersuchung wurde dieser Sachverhalt noch einmal empirisch überprüft. Dazu wurden Vorschulkinder einem standardisierten Bewegungstest (Motortest für 4-6jährige Kinder) und dem Begabungstest PMMA unterzogen. In einem split-half Verfahren wurden die Kinder mit den besten motorischen Leistungen (obere Leistungsgruppe) hinsichtlich ihrer Leistungen im musikalischen Begabungstest untersucht. Dabei zeigte es sich, dass obere und untere Leistungsgruppe in beiden Tests übereinstimmten (Abb. 3).
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Abb. 3: Leistungsgruppen mit hohem (1) und niedrigem (2) Motorquotienten im Begabungstest
Quelle: Gruhn et al. 2012, 94
N EUROBIOLOGISCHE E RKLÄRUNGEN Der Neurowissenschaftler Daniel Wolpert, dessen Forschung darauf gerichtet ist zu erkennen, wie das Gehirn motorische Körperfunktionen steuert, kommt zu dem Schluss, dass der einzige Grund für die Entwicklung eines Gehirns in der Bewegungssteuerung liegt (Wolpert et al. 2011). Denn nur durch Bewegung können wir mit der Umwelt interagieren. Alle biologischen Entwicklungsfortschritte einschließlich des Denkens, Erkennens und Erfindens beruhen auf Bewegung, auf realen oder erinnerten, auf konkreten körperlichen Handlungsvollzügen oder nur imaginierten. Auch die Artikulation von Gedanken, die Entwicklung und Durchführung von Plänen muss hierzu gezählt werden. Daher stellt Bewegung auch eine zentrale Kategorie des Lernens dar. Dass gerade auch musikalisches Lernen eng mit körperlichen Erfahrungen und aktiven Körperbewegungen verbunden ist, ist offenkundig und zeigt sich insbesondere beim frühkindlichen Lernen, aber keineswegs nur dort. Dem liegen neurobiologische Vorgänge zugrunde, die experimentell überprüfbar und empirisch nachweisbar sind. Daraus ergeben sich dann wichtige pädagogische Konsequenzen für das körperbezogene und bewegungsorientierte Lernen.
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Die Verbindung auditiven Lernens mit gestischen Bewegungen wurde für das Sprachlernen von Manuela Macedonia und Thomas Knösche nachgewiesen. Dies betrifft aber im Wesentlichen das Gedächtnis für neu gelernte Wörter, das dann signifikant besser ist, wenn das Lernen der Wörter mit symbolischen Gesten verbunden wurde (Macedonia & Knösche 2011). Wird das Sprechen der Wörter mit körperlichen Gesten verbunden, entsteht ein dichteres Netz neuronaler Verknüpfungen infolge der gleichzeitigen Aktivierung verschiedener somatosensorischer und visueller Areale. So entsteht eine Verkörperlichung (enactment) des Sprechakts. Das neuronale Netz bleibt dagegen deutlich reduziert, wenn die neu zu lernenden Wörter nur audiovisuell dargeboten werden (Abb. 4).
Abb. 4:Unterschiedliche neuronale Vernetzung bei der Verbindung neuer Wörter mit Gesten und bei rein audiovisueller Darbietung
Quelle: Macedonia 2013: 34
In Fortführung dieses Ansatzes beim Sprachlernen haben Mei-Ying Liao und Jane Davidson überprüft, inwieweit körperliche Aktivitäten sich auch auf die Intonation beim Singen von 10-11-jährigen Jugendlichen auswirken. Dazu wurden drei Gruppen gebildet, die unterschiedliche melodische Übungen ohne Bewegung (Gruppe 1), in Verbindung mit Gesten (statischen Haltungen der oberen Körperhälfte, Gruppe 2) und in einer Kombination von Gesten und Körperbewegungen im Raum (Gruppe 3) einübten (Liao & Davidson 2016). Dabei zeigte sich ein deutlicher Vorteil des Singens in der Verbindung mit Gesten und Bewegungen (Abb. 5).
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Abb. 5: Verbesserung der Intonation bei fünf melodischen Aufgaben in drei Gruppen
Quelle: Liao; Davidson 2016: 13
Diese Phänomene erscheinen plausibel, weil Lernen auf molekularer Ebene auf der Änderung neuronaler Verbindungen beruht, die im präfrontalen Kortex verstärkt oder gehemmt werden. Die Frage ist dabei, wie Pädagogen Zugang zu diesen neuronalen Prozessen im Kortex erhalten. Die Antwort ist prinzipiell denkbar einfach, im konkreten Einzelfall dann aber doch höchst anspruchsvoll und komplex; denn der Zugang zu Prozessen im Kortex erfolgt allein und ausschließlich über den Körper, also über die afferenten und efferenten Nervenbahnen des Rückenmarks (Abb. 6). Abb. 6: Schematische Darstellung des Aufbaus von Hirnstamm, Kleinhirn (Cerebellum), Basal Ganglien mit dem Limbischen System bis zur Hirnrinde (Kortex)
Quelle: http://thebrain.mcgill.ca/flash/i/i_06/i_06_cr/i_06_cr_mou/i_06_cr_html (12.03.2017)
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Damit wird das Stammhirn, in dem auditorische und motorische Reize gemeinsam verarbeitet werden, zum entscheidenden Eingangstor für musikalische Lernerfahrungen. Was immer ein Kind lernt, lernt es mit und über den Körper; Körperwahrnehmung (Propriozeption) und muskuläre Motorik der Stimmartikulation stellen die entscheidenden Mechanismen bereit, über die genuin musikalische Phänomene wie Tonhöhenbeziehungen und metrische Verhältnisse, regelmäßiger Puls und tonale Unterschiede kortikal repräsentiert werden. Pädagogisch relevant wird dann die Frage, mit welchen Aktionen, Spielen, Bewegungserfahrungen die einzelnen musikalischen Inhalte vermittelt werden können. Insbesondere metrische (regelmäßiger Puls und seine Unterteilungen) und rhythmische Phänomene (Auftakt, Synkope etc.) können zunächst nur über körperliche Aktionen und physische Bewegungen erfahren werden. Aber auch bei den Tonhöhenbeziehungen hat man versucht, sie über Gesten und Handzeichen körperlich darzustellen und so innerlich zu repräsentieren. Das System der Handzeichen, das ursprünglich auf John Curwen zurückgeht, beruht auf dem Prinzip der motorisch auditorischen Koppelung (auditory motor link). Denn es gibt eine unmittelbare neuronale Verbindung zwischen Hörreizen und ihrer motorischen Umsetzung in Bewegung. Ein professioneller Pianist „hört“ die Töne, die er greift, selbst bei stummer Bewegung der Finger, d. h. nicht nur motorische, sondern auch auditorische Areale zeigen eine deutliche Ko-Aktivierung (Bangert & Altenmüller 2003) (Abb. 7). Abb. 7: Überlappung (c) auditorischer und premotorischer Areale beim Spielen einer Melodie (a) und beim stummen Bewegen der Tasten (b)
Quelle: Zatorre et al. 2007: 552
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Man kann davon ausgehen, dass auch bei Kindern, die gelernt haben, Tonhöhen mit Handzeichen darzustellen, eine auditorische Reaktion erfolgt, dass also möglicherweise über die Bewegung die Tonvorstellung angeregt wird. Die bedürfte allerdings noch einer experimentellen Überprüfung durch eine EEG oder MRT Studie, die es bislang noch nicht gibt. Demgegenüber wurde der enge Zusammenhang zwischen einer rezeptiven Tonhöhenunterscheidung und der akkuraten stimmlichen Tonproduktion mehrfach experimentell nachgewiesen. Pfordresher und Brown konnten schon 2007 zeigen, dass das Problem der „Brummer“ (poor pitch singer), also der Menschen, die einen Ton nicht genau nachsingen können, nicht im „falschen“ Hören begründet liegt, sondern darin, dass die Fehler in mangelnder Bewegungskontrolle des Stimmapparats zu suchen sind (Pfordresher & Brown 2007). Denn es besteht eine unmittelbarer neuronale Verbindung zwischen auditorischer Repräsentation und der Zuordnung dieser Vorstellung zu kontrollierten motorischen Aktivitäten im Stimmapparat. Brummer sind demnach nicht in der Lage, ihre rezeptive Repräsentation eines Tons (auditory imagery) auf eine abgemessene Bewegung ihres Stimmapparats zu übertragen (Pfordresher et al. 2015: 228). Die Tatsache, dass auditorische und motorische Nervenverbindungen so eng miteinander verbunden sind, ist für das musikalische Lernen von grundlegender Bedeutung, weil die Verschaltung von Hörreizen mit neuronalen Bewegungsplänen die Bildung mentaler Repräsentationen erst möglich macht. Und dies trifft in ganz besonderem Maße für das frühe Lernen in der Kindheit zu, wenn Wissen noch nicht über kognitive Vorstellungen aufgebaut werden kann, sondern alle Erfahrungen körperlich sinnlich erworben werden müssen.
B IOMECHANISCHE P ROZESSE Mit Biomechanik verbindet man meist physische Prozesse im Sport und bei anderen mechanischen Bewegungsabläufen. Es geht also um Physik, nicht um Musik. Und doch spricht nichts dagegen, auch Bewegungsabläufe beim Instrumentalspiel unter biomechanischen Gesichtspunkten zu betrachten, insbesondere dann, wenn Bewegungsstörungen zu Verspannungen und Fehlhaltungen führen, die eine unmittelbare Auswirkung auf die Klanggestaltung haben. So hat Julia von Hasselbach in verschiedenen Studien das biomechanische Hebelsystem bei der Bogenführung von Streichern untersucht. Durch dynamische Bewegungsmessungen konnte sie eine komplementäre Schwingungsbewegung der beteiligten Hebelarme bei Geigern verschiedener Professionalitätsgrade feststellen, die dazu dienen, die Masseträgheit in der Bogenführung zu minimieren (von Hassel-
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bach 2016). Hier greifen augenscheinlich körperliche Aspekte der Bogenführung in die Tonbildung und Klangästhetik des Geigenspiels ein; Biomechanik kann so zur Hilfsdisziplin der Streicherpädagogik werden. Den unmittelbaren Zusammenhang zwischen biomechanischen Prozessen und der musikalischen Entwicklung deckte eine empirische Studie mit Vorschulkindern auf, die am Freiburger Institut für Sportwissenschaft durchgeführt wurde (Gruhn et al. 2012). Dabei zeigte sich ein auffälliger Zusammenhang zwischen der jeweils ausgeprägten Fähigkeit zur Bewegungssteuerung und Bewegungskoordination sowie zu den Leistungen in einem musikalischen Begabungstest. Es besteht offenbar eine lineare Progression der Messergebnisse der motorischen und musikalischen Fähigkeiten, d. h. je besser die Werte in dem MotorikTest sind, desto höher liegen die Werte im Musikalitätstest (siehe Abb. 8), und zwar unabhängig von besonderer Übung durch Mitwirkung in einem Turnverein oder durch Instrumentalunterricht oder Teilnahme an einem Kinderchor.
Abb. 8: Der lineare Anstieg motorischer und musikalischer Kompetenzen in der Freiburger Bewegungsstudie 2012
Quelle: Haußmann 2012
Dieser zunächst überraschende Befund erscheint aber dann durchaus plausibel, wenn man diese Ergebnisse in einen entwicklungspsychologischen Zusammenhang stellt. Kinder, die früh selbständig zu laufen gelernt haben, zeigen auch höhere Werte der gemessenen Bewegungssensibilität. In der hier beschriebenen Untersuchung wurde die Aktivierung verschiedener Beinmuskeln gemessen (Elektromyographie, EMG). Dazu standen die Kinder auf einem Bein auf einer frei beweglichen, schwankenden Platte (Posturomed), während die Muskelspannung beim Ausgleich der Schwankbewegungen und die Schwankwege (Abwei-
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chungsweite nach vorne und hinten und nach rechts und links) aufgezeichnet wurden. Aus dem EMG und dem Mittel der Schwankwege errechnet man dann einen Quotienten (proprioceptive amplification ratio, PAR), der die Bewegungssensibilität ausdrückt. In Studien zur Bewegungsentwicklung bei frühkindlichen Laufbewegungen (newborn stepping), der Balance beim aufrechten Stehen (stance balance) und der Beinarbeit beim Laufen (children’s gait) konnte gezeigt werden, dass Kinder zunächst eine antagonistische Aktivierung ihrer Beinmuskeln aufweisen und erst allmählich eine bessere Koordination im Sinne einer sich gegenseitig unterstützenden reziproken Aktivität entwickeln (Berger et al. 1984; Okamoto et al. 2003). Wichtig sind dafür die propriozeptiven Signale der Muskulatur, die beim Berühren des Bodens von Ferse und Zehen kortikal verarbeitet werden. Kinder, die früh laufen lernen, verfügen demnach über eine bessere kortikale Bewegungssteuerung, und diese ist auch beim musikalischen Lernen von erheblichem Vorteil. Dass die Feinsteuerung der einzelnen Bewegungsabläufe beim Instrumentalspiel eine unverzichtbare Voraussetzung darstellt, leuchtet unmittelbar ein. Dass Bewegungskoordination und Bewegungsentwicklung aber auch ein Indikator musikalischer Fähigkeiten sein können, ist von der Musikpädagogik noch zu wenig rezipiert worden, wenn man einmal von Dalcrozes Bemühungen um eine rhythmische Bewegungserziehung und die vielfältigen Ansätze der musikalischen Rhythmik absieht. Bewegung als Modus der Wahrnehmung und des Lernens bietet ein Desiderat musikpädagogischer Forschung und ein zentrales Anliegen, das weit über die elementare Musikerziehung und den frühkindlichen Bereich, wo das Thema allgegenwärtig ist, hinausweist.
Z USAMMENFASSUNG Will man unser Thema unter verschiedenen Blickwinkeln zusammenfassen, so ließe sich feststellen, dass anthropologisch gesehen es keine rigide Trennung der Wahrnehmungskanäle gibt. Nicht das Auge sieht oder das Ohr hört, sondern es ist immer der ganze Mensch mit all seinen vitalen Bedürfnissen, der hört, sieht, schmeckt, fühlt und lernt. Aus lerntheoretischer Sicht geht vorsprachliches Lernen (non-verbal learning) immer mit körperlicher Aktivität einher. Propriozeptive Signale gelangen vom Körper über den Hirnstamm zum Kortex. Diese Signale bewirken auf molekularer Ebene neuronale Veränderungen der synaptischen Verschaltung. Neurobiologisch erhält dabei der auditory motor loop eine zentrale Bedeutung für alle Formen vokalen Lernens. Schließlich decken die Befunde biomechanischer Forschung eine unmittelbare Interaktion zwischen motorischer Entwicklung und Bewegungssteuerung einerseits und der Entwicklung musikali-
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scher Kompetenzen andererseits auf. Wo der Körper (d. h. Motorik und Sensorik) nicht am Lernen beteiligt ist, gerät der Kopf (d. h. die Kognition) für sich allein in Schwierigkeiten. Denn das Ziel der Kognition besteht gerade darin, die Struktur eines erworbenen, d. h. gelernten Handlungsablaufs zu sichern (Aebli 1980). Insofern stellt Kognition gewissermaßen einen Modus leiblicher Erfahrung dar. Daher sei schließlich noch einmal an Richard Wagners Feststellung der Befreiung des Gedankens in der Sinnlichkeit erinnert (Wagner 1949). Damit aber der Gedanke in der Sinnlichkeit befreit werden kann, muss Pädagogik den Weg zurückgehen und die Sinnlichkeit durch die Erfahrung des Körperlichen an den Anfang stellen, damit der Gedanke, also die kognitiv erfassbare Lebenswirklichkeit erfahren werden kann. Kognition und Sensorik, Leiblichkeit und Geistigkeit sind im Lernen unauflöslich miteinander verbunden.
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Schwere und Leichtigkeit im Fluss der Bewegung Metrisches Verstehen und Klangerleben im Streichinstrumentalspiel J ULIA VON H ASSELBACH
„Der Takt […] ist […] die Seele der Musik“ (Mozart 2007:62).1
Eine Musik ohne erkennbare Metrik ist selten und insbesondere Musik, die Zuhörende körperlich mitreißt, zeichnet sich durch starke metrische Gestaltung aus, sei es in Klassischer oder in Populärer Musik. In einem Popsong wie Astronaut2 , der im vermeintlich schlichten 4/4 Takt konzipiert ist, verstehen es die Komponisten beispielsweise, die metrischen Effekte und Möglichkeiten so differenziert und geschickt einzusetzen, dass sich bei Zuhörenden im schwebenden Zurücknehmen der ansonsten gleichbleibend stark pulsierenden Metrik der Eindruck von etwas Atemberaubendem vermitteln kann, was den Puls flacher werden lässt, so dass Zuhörende sich beim sanften Wiedereinsetzen der stärker pulsierenden Metrik plötzlich ganz besonders lebendig fühlen und es spätestens beim wuchtigen Refrain im emotionalen und körperlichen Mitschwingen quasi kein Halten mehr gibt. Natürlich spielen alle musikalischen Parameter zusammen, um
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Im Faksimile-Reprint der 1. Auflage Mozart 1995: 27.
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Der Song Astronaut – komponiert von Andreas Bourani, Simon Müller-Lerch, Paul Neumann, Marek Pompetzki, Cecil Remmler und Paul Würdig (Sido) – erhielt u.a. den Deutschen Musikautorenpreis für das Erfolgreichste Werk 2015.
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ergreifende Wirkungen der Musik zu erzielen, aber das Metrum und insbesondere die Vermittlung metrischer Gestaltungsfertigkeiten im Streichinstrumentalunterricht sollen hier im Folgenden fokussiert betrachtet werden. Bereits Leopold Mozart betonte zu Beginn seiner berühmten Gründlichen Violinschule die Wichtigkeit des Erlernens metrischer Gestaltung: „Der Takt [...] ist [...] die Seele der Musik. […] Es ist also an dem musikalischen Zeitmaße alles gelegen und der Lehrmeister hat seine größte Mühe mit Geduld dahin anzuwenden“ (Mozart 2007: 62). In pädagogischer Hinsicht bediente er sich einer Differenzerfahrung durch Hilfeleistung3 und Nachvollzug: „Dazu wird sehr dienlich sein, wenn der Lehrmeister öfters dem Schüler die Hand zum Takte führet, alsdann aber […] den Lehrling den Takt ganz allein dazu schlagen lässt“ (Mozart 2007: 65). Für diese dirigierende Herangehensweise mag von Einfluss gewesen sein, dass Leopold Mozart sein Violinspiel vermutlich weitgehend autodidaktisch erlernt hat. Jedenfalls ist nicht bekannt, wer sein Geigenlehrer war. Als Lehrmeister kommt ein befreundeter Domorganist in Frage, der jedoch sicherlich mehr musikalisches Grundwissen vermittelte als instrumentaltechnische Fertigkeiten (Mozart 2007: 14). Wenn also Leopold Mozart zu Beginn des ersten Standardwerks in der Geschichte der Fachdidaktik des Violinspiels der metrischen Schulung so großen Wert beimisst, mag es doch verwundern, wie wenig methodisch er im Weiteren darauf eingeht, und dass auch in heute gängigen Violinschulen das Erlernen metrischer Gestaltung ebenfalls nur weitgehend implizit enthalten ist. Es obliegt somit weitestgehend der jeweiligen Lehrkraft das Erlernen metrischer Gestaltung nach bestem Wissen und Gewissen instrumentalpädagogisch zu unterstützen. Weshalb gerade beim Verstehen metrischer Inhalte die Lehrenden bzw. akustisch erlebbare Vorbilder so wichtig sind, liegt auf der Hand: die Notenschrift bietet hierzu nur wenig Informationen. In Klassischer Musik hilft zuweilen noch eine disziplinierte Beachtung von Taktarten und Taktstrichen zur metrischen Orientierung, aber spätestens im Jazz oder im Folk sind charakteristische metrische Eigenheiten überhaupt nicht mehr notiert. Ein folkiger BackbeatGroove beispielsweise (eine kurze Schwere auf jeder ‚und‘-Zeit in schneller Folge) ist m. E. nur über ein hörendes und körperlich nachvollziehendes metri-
3
Der aus dem Kontext von Sportunterricht geläufige Begriff ‚Hilfestellung‘ erscheint mir zu punktuell konnotiert. Da es sich hier um ein bewegendes Helfen der Lehrkraft handelt, bei dem nicht nur für einen kurzen Moment ein bestimmtes Drehmoment verstärkt wird, sondern vielmehr alle relevanten Parameter über die gesamte Dauer der Ausführung beeinflusst werden, bevorzuge ich den Begriff ‚Hilfeleistung‘.
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sches Erleben zu verstehen, insbesondere wenn die Schwere nicht mit einem neu angestrichenen und somit leichter differenziert zu artikulierenden Ton zusammenfällt, sondern es in einer gebunden gestrichenen Tonfolge oder gar mitten in einem klingenden Ton kurz schwer wird. Dirigier-Schemata ähneln in ihren abstrakten Standard-Formen nur im 2/4 Takt den Bewegungen des Bogenarms im Streichinstrumentalspiel. Im 4/4 Takt genügt jedoch ein leichtes Abweichen vom ‚sterilen‘ Eins-Schlag auf einen Punkt durch ein lockeres Mitschwingen des Oberarms – und schon ist die Bewegung nahezu identisch mit einer streichenden Bewegung. Das kann nicht nur in der Arbeit mit Jugendorchestern eine zuweilen sinnvolle unterstützende Geste ermöglichen. Erfahrene Dirigenten gehen z. B. im schnellen Dreivierteltakt gerne weg vom erlernten Grundschema und schwingen sich in eine mehr kreisend pendelnde Bewegung ein (dem 2/4 Takt ähnelnd, aber mit einer 2 zu 1 Einteilung von Hin- und Rückschwung), die einer streichenden Bewegung sehr entgegenkommt. Metrische Schwere und Leichtigkeit können somit im Fluss einer elegant schwingenden Bewegung des Arms besser verdeutlicht werden. In diesem Beitrag soll der Möglichkeit von körperlichen Hilfeleistungen im Streichinstrumentalunterricht nachgegangen werden, die ein metrisches Verstehen und Klangerleben in besonderer Intensität fördern. Auch wenn Lernende im Moment der Hilfeleistung noch nicht selbst über Kenntnisse und Fertigkeiten hoher Expertise verfügen, ihren Klang mit metrischer Schwere und Leichtigkeit im Fluss der Bewegung ihres Bogens zu versehen, so sollte doch der spontan ermöglichte körperlich-klangliche Mitvollzug und die deutlich fühlbare und hörbare Differenz zum bisherigen eigenen Bemühen die Annäherung an einen erfolgreichen Nachvollzug deutlich unterstützen können. Zum besseren Verständnis der schließlich anhand eines konkreten Beispiels vorgestellten möglichen körperlichen Hilfeleistungen folgen zunächst allgemeine Überlegungen zu metrischen Tongestalten sowie eine tiefer gehende Betrachtung der zu diesen Hilfeleistungen nötigen Kenntnisse über das Streichinstrumentalspiel. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf eine empirische Studie zur Relevanz von Masse balancierenden Hebelschwingungen im professionellen Geigenspiel, denn zur effektiven Hilfeleistung in der vorgestellten Art sind Akzeptanz und Kenntnis der Hebelschwingungen im Streichinstrumentalspiel erforderlich, die auf nachvollziehbaren biomechanischen und klangphysikalischen Erfordernissen beruhen.
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M ETRISCHE T ONGESTALTEN
IN
T HEORIE
UND
P RAXIS
Das ‚metrische Tongewicht‘ wird zwar theoretisch nur als ‚ideeller Wert‘ betrachtet, „der einem Ton durch seine rangmäßige Beziehung zu mindestens einem weiteren Ton zukommt“, aber in der Praxis des Musizierens werden die ideellen metrischen Positionen eines Tons zu klingender Realität mit Auswirkungen auf die vermeintlich genauen Parameter ‚Tondauer‘, ‚Lautstärke‘ und ‚Klangfarbe‘. Jeder Ton hat einen individuellen Verlauf, eine artikulierte Gestalt aufgrund des Zusammenwirkens dieser Parameter. Die Lautstärke muss in ihrer Entwicklung mit entsprechenden Klangfarben harmonieren und jeder Ton muss eine sprechende, singende oder wie auch immer packende ‚groovende‘ Artikulation haben. Eine solche ‚Tongestalt‘ erstreckt sich theoretisch auf eine klar definierte Zeit – bestimmt durch Rhythmus und Tempo – aber sie kann bereits ins ‚Niente‘ einer nicht notierten metrisch sinnigen Klangpause übergegangen sein, bevor der nächste Ton beginnt. In der Notenschrift vermeintlich genau festgelegte Tonund Pausenlängen werden also metrisch relativiert. Theoriegeleitete Visualisierungsversuche metrischer Relationen mit Hilfe abstrakt quantifizierender Gewichtungsgrade sind eine der Gewichtung des Tastenanschlags im Klavierspiel nahekommende Konstruktion, aber noch um einiges von der Praxis des Streichinstrumentalspiels entfernt. Abb. 1: Visualisierungsversuch metrischer Relationen über quantifizierende Gewichtungsgrade, J.S. Bach, Französische Suite Nr. 5, BWV 816, Gavotte, Takt 1-2
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Metrum_(Musik) (04.03.2017)
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Während nach einem Tastenanschlag am Klavier die schwingenden Saiten ihrer physikalisch vorgegebenen Dämpfung unterliegen4 und somit eine zwangsläufig geformte Tongestalt erzeugen, ist ein Streicherklang theoretisch jederzeit noch durch den Bogen in seiner Entwicklung beeinflussbar, somit leider auch jederzeit störbar. Es ist ein charakteristisches Merkmal der Kunst des Streichinstrumentalspiels, diesen Einfluss minimieren bzw. bedarfsgerecht steuern zu können. Ausgehend von Barockmusik ist es beispielsweise notwendig, der Saitenschwingung nach dem initialen schweren oder leichten Energieimpuls eine passende, klanglich abgerundete Dämpfungskurve anzuschließen. Im Verlauf eines Musikstücks sind die Impulse sowie die zugehörigen Dämpfungskurven in ihrer Stärke und Ausprägung den Gewichtungsgraden entsprechend metrisch in Relation zueinander zu setzen. Die metrische Gestaltung eines jeden Tons in seiner Beziehung zu anderen Tönen stellt Musiker aller Genres vor die Aufgabe, die erforderlichen Übergänge von schwer nach leicht und umgekehrt je nach Musikstil adäquat auf ihrem Instrument zum Klingen zu bringen. Die metrische Struktur eines Musikstücks und somit die klangliche Gestaltung der Töne im Verhältnis zueinander muss zunächst ‚verstanden‘ werden. Dazu scheint insbesondere in der Klassik das Taktsystem einen stets gleich bleibenden Takt vorzugeben. Die Musik entwickelt sich jedoch lebendig über melodiöse Phrasen hinweg, durch harmonische Entwicklungen hindurch und bildet größere Sinneinheiten. Bei solcher Komplexität kann es helfen, zunächst von der grundlegenden metrischen Unterscheidung von Schwere und Leichtigkeit auszugehen. Wie können auf dem jeweiligen Instrument schwere und leichtere Klänge hervorgebracht werden? Wenn im Anschluss daran die Gewichtungsgrade unter Einbindung in Taktarten und Musikwerke nach und nach weiter ausdifferenziert werden können, sollte für Lernende schließlich besser zu erfassen sein, was unter dem Konstrukt ‚Metrum‘ in der jeweiligen Musikpraxis verstanden werden kann oder sollte. Jeder Ton entsteht schon im Kopf und im Körper bevor er erklingt. Je nachdem wie viel Energie und in welcher Art Energie im Vorfeld bereitgestellt wird, resultieren unterschiedliche Klangergebnisse. Je weiter der Arm z. B. im Aufstrich an der Spitze zum Schwung ausholt, desto höher wird die Geschwindigkeit – und somit die erzeugte Lautstärke – des über die Saiten ‚fliegenden‘ Bogens sein, da der Pendeldruck umso höher ist, je näher der Arm zuvor der Waagerechten war, bevor er dem nahezu freien Fall aufgrund der auf der Erde wirkenden
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... sofern sie nicht durch kunstvolle Arten des Loslassens der Taste zusätzlich gedämpft werden.
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Gewichtskraft überlassen wird (Mantel 2011: 169). Und je tiefer entspannt – also mit möglichst wenig hemmender Muskelaktivität – die Masse des Arms ihre Energie in das Streichinstrument abgeben kann, desto ‚schwerer‘ wirkt die Masse in die Tiefe einer Saite hinein und erzeugt somit ‚dunklere‘ Klangfarben. Natürlich kommt der artikulatorische Einfluss von willkürlichen muskulären Impulsen noch künstlerisch gestaltend hinzu, aber eine gelingende Energieübertragung des Grundmusters aus dem Körper in das Instrument ist von entscheidender Bedeutung. Im Folgenden konzentrieren sich die Betrachtungen noch detaillierter auf das Streichinstrumentalspiel, in der Hoffnung, dass es dennoch auch ‚fachfremde‘ Lesende anregt die Ideen und Prinzipien im Ansatz nachzuvollziehen, und dass es sogar gelingen möge, einen gedanklichen Transfer auf Instrumente und Erfahrungsbereiche anzustoßen, die den Lesenden vertrauter sind.
M ETRISCHE T ONGESTALTEN UND IM S TREICHINSTRUMENTALSPIEL
IHRE
B EWEGUNGEN
„Die Muskulatur, die den Arm trägt, wird um den Druck entlastet, der auf die Saite wirkt; je lauter der Ton, desto entspannter diese Muskulatur“ ( Mantel 2011:145).
Die hier beschriebenen Bewegungen beziehen sich auf ein System hebelgesetzmäßig organisierter schwingender Masseanteile von Bogen und Arm, wie es August Eichhorn5 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für das Streichinstrumentalspiel entwickelt hat (Hasselbach et al. 2012a/b; Mantel 2011). Eichhorns Spielsystem könnte als ‚Gegenschwungtechnik‘ bezeichnet werden, während das muskulär aufwändigere Pendant dazu ‚Parallelführungstechnik‘ heißen könnte, da die Masse des Arms dabei vielmehr parallel zur Bogenbewegung auf und ab bewegt wird.
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1899-1980, Solocellist am Gewandhaus Leipzig, u.a. Professor von Gerhard Mantel und Josef Schwab.
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Abb. 2: Schematische Darstellung von August Eichhorns Theorie schwingender Hebel in einer Testsituation. Drei Ultraschall-Marker übermitteln hier die Bewegungsdaten zum Computer
In der Gegenschwungtechnik werden – von der augenscheinlichen quasi ‚horizontalen‘6 Spielebene abgesehen – weniger gut sichtbare Bewegungsebenen in Arm und Bogen kombiniert, welche quasi lotrecht zur Spielebene verlaufen. In diesen lotrechten Ebenen werden vergleichbar große Masseanteile um einen Drehpunkt in repetitive Schwingungen versetzt und miteinander ausbalanciert. Diese Bewegung ist vergleichbar mit der Alltagsbewegung beim Streuen von Salz aus einem Salzstreuer auf ein Ei. Diese Bewegung wird dem Ganzbogenstrich in der Spielebene in einer Großform an jeder Stelle überlagert und kann auch (für kleine schnelle Striche) jederzeit und überall in Kleinform repetiert werden – als wenn man das Salz den ganzen Weg entlang weiterstreut, vom Ei vor dem eigenen Körper (am Frosch) bis hin zum Ei auf dem Nachbarteller (an der Spitze). Dabei wird nach dem Prinzip einer Wippe die Masseträgheit zweier komplementär schwingender Masseanteile minimiert. Darüber hinaus ist noch eine mehr muskuläre anstoßende Impulsgebung mit Hilfe der Unterarmrollung in der transversalen Ebene des Instruments von Bedeutung. Allerdings müssen die Masseanteile nicht immer gleichmäßig um den Drehpunkt verteilt sein. Um im Bild einer Alltagserfahrung zu bleiben: Je nachdem
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‚Horizontal‘ ist hier relativ zu verstehen und meint die jeweiligen Spielebenen auf den Saiten eines Streichinstruments, auch wenn diese unterschiedlich zu einer absoluten Horizontalen positioniert sind.
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wie die Masseanteile um den Drehpunkt einer Wippe auf dem Kinderspielplatz verteilt werden und wie groß der zusätzliche anstoßende Impuls ist, kann die Schwungstärke und die Größe des Kraftimpulses, der im Moment des Aufkommens einer Wippenseite auf dem Boden abgegeben wird, beeinflusst werden. Im Falle des Streichinstrumentalspiels wird auf diese Weise die Energie dosiert, die auf einer Saite des Streichinstruments z. B. im Moment des Bogenrichtungswechsels abgegeben wird. Um möglichst verständliche Worte zu benutzen nannte August Eichhorn die am auffälligsten lotrecht zur Spielebene schwingende Bewegung des Bogenarms ‚Längshebel‘, die sich quer zur Bogenstange transversal drehende Unterarmrollung ‚Querhebel‘ und die Bewegungsachse des Bogens ‚Bogenhebel‘7. Der Längshebel stellt aufgrund der großen darin enthaltenen Arm-Masse (von der Schulter bis zur Hand) in der Regel die größeren Kräfte bereit, während der Querhebel (vom Ellbogen bis zu den Fingerspitzen) mehr für die Feinarbeit und die Kraftübertragung zuständig ist. Die Funktionen und Wirkungen des Bogenhebels sollen hier zur Vereinfachung weitgehend unberücksichtigt bleiben. Vom Handgelenk bis zu den Fingerspitzen befindet sich allerdings genau betrachtet noch eine Art ‚Kupplung‘, ein Verbindungshebel zum Bogen, der in der Regel die Höhenunterschiede des schwingenden Längshebels ausgleicht. Bei Stricharten, in denen der Bogen ‚gelüftet‘ wird, ‚erstarrt‘ der Verbindungshebel jedoch zur Verlängerung des Längshebels und überträgt die Höhenunterschiede in den Bogen. Längshebel, Verbindungshebel, Querhebel und Bogenhebel schwingen miteinander verbunden und können dies nur tun, wenn alle Hebel um ihre Drehpunkte beweglich sind. Ist ein Hebel blockiert, können auch die anderen nicht mehr frei genug schwingen. Diese Hebel sind organisch gesehen teilweise miteinander identisch, unterscheiden sich jedoch funktional aufgrund ihrer Bewegungsrichtung und der sie antreibenden Muskulatur. Künstlerische Klanggestaltung auf Streichinstrumenten ist eine komplexe Kombination aus Bewegungen dieser Hebel in wechselnden Anteilen. Wie diese Bewegungen nun zur Formung metrischer Tongestalten kombiniert werden können, setzt die Kenntnis voraus, wo sich die Enden zweiarmiger Hebel befinden, an denen Kraftanstöße gegeben werden können und in welche Richtung die Kraftanstöße gehen sollten, so dass klanglich wirkungsvolle Schwingungen angeregt werden.
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Laut mündlicher Überlieferung seines Schülers Prof. Josef Schwab, HfM ‚Hanns Eisler‘ Berlin.
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In der Thesis8 (Schwere) übernimmt der Längshebel (Armgewicht) den aktiveren Part der Energiezufuhr in die Saite hinein für die dunklen tief und schwer wirkenden Klangfarben in Kombination mit größerer Lautstärke, während der Querhebel hilft, die Kräfte gut dosiert zu übertragen und aus der Saite heraus in die Leichtigkeit überzugehen, für die der Bogen mehr und mehr von Armgewicht und letztlich sogar von Bogengewicht befreit (‚gelüftet‘) wird und dabei die helleren leicht wirkenden Klangfarben entstehen: Im Abstrich von Froschnähe aus wird also die Arm-Masse von der entspannten Schulter her zunächst ein wenig Richtung Boden gesenkt und dann sofort weiter wie ein Pendel vom Körper weg seitlich in die Höhe aufgeschwungen. So beginnt der Ton mit satter Schwere (ohne zu ‚kratzen‘) und endet elegant in Leichtigkeit. Zum Ende der Thesis hin – die zwar schwer beginnt aber leicht endet – wird also das Eigengewicht des Bogens über den Querhebel9 in Verbindung mit einer günstig gerichteten Fliehkraft der schwingenden Arm- und Bogenmasse reduziert. Umgekehrt wird bei ‚satter‘ Schwere im Aufstrich in der oberen Bogenhälfte beginnend die aufgespeicherte Lageenergie (der Pendeldruck) des ganzen Arms wieder schwungvoll abgegeben. Die zuvor im Abstrich aufgeschwungene Masse des Arms sinkt im Aufstrich in nahezu freiem Fall zum Körper hin zurück und ‚nur die Hand‘ begleitet den Bogen in komplementärer Bewegung weiter aufwärts.10 Während im Abstrich häufig schon das sich zur Spitze hin weniger stark auf die Saite auswirkende Bogengewicht und der Wegfall des Armgewichts ausreichen um die Tongestalt zu formen, braucht es gegen Ende eines Aufstrichs ein
8
Da im Rahmen von Dichtung vokal gesehen eine Akzentuierung mit einer höheren Tonlage verbunden war, wurden die antiken Begriffe Thesis (Senkung) und Arsis (Hebung) vertauscht. In der Instrumental- und Vokalmusik jedoch blieb die metrische Gestaltung tonhöhenunabhängig, so dass ein seinem metrischen Rang nach „schwerer“ Ton weiterhin Thesis und ein „leichter“ Ton Arsis genannt wird.
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Der Querhebel (von F.A. Steinhausen „Doppelhebel“ genannt, Steinhausen 1928: 69) hat die Eigenschaft in zwei Richtungen wirken zu können. In diesem Falle ist die Seite der Supination gemeint, bei der sich Elle und Speiche bei Rechtshändigkeit im Uhrzeigersinn umeinander drehen.
10 Hier unterscheidet sich das Violinspiel z. B. vom Cellospiel, denn bei der kleinen Geige genügt es fast, dass der Ellbogen immer tiefer sinkt während die Hand steigt. Beim sehr viel größeren Cello hingegen wird der Arm mitsamt Ellbogen der Hand noch ein Stückchen weiter hinauf bzw. hinüber zur Instrumentenmitte hin folgen müssen um ganz bis zum Frosch zu gelangen.
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Äquivalent, das nicht nur stark genug ist, das zum Frosch hin sich stärker auswirkende Bogengewicht auszugleichen, sondern welches überdies geeignet ist das Bogengewicht auch noch weiter zu reduzieren bis hin zum völligen Verlassen der Saite. Hierzu dient eine Hebelwirkung des ganzen Arms vom Schultergelenk aus, auch bezeichnet als sekundäre Supination (Mantel 2011). Damit ist eine passive Bewegung des Unterarms mitsamt Hand und Bogen durch eine aktive Drehung des Oberarms gemeint – nichts anderes als die Verwendung des Längshebels. In der Arsis (Leichte) hat meist der Querhebel (als Pronationsimpuls11) den aktiveren Part bei der Energiezufuhr in die Saite hinein, während der Längshebel die Dosierung und Formung der Tongestalt durch Mitnehmen des Bogens von der Saite weg unterstützt. Töne, die metrisch gesehen ‚leicht‘ sind, haben im Grunde eine vergleichbare Tongestalt wie ‚schwere‘ Töne. Sie beginnen nur mit einer leichteren Schwere und gehen schneller ins Nichts eines (fast) vollständigen Ausschwingens der Saite über. Hierzu ist eine ‚tupfende‘ Bewegung des Querhebels geeignet, ein quer zur Bogenstange hin wirkender Pronationsimpuls. Dieser wird aufgrund der Elastizität des Systems Bogenstange-Bogenhaar-Saite wie auf einem Trampolin umgekehrt und befördert den Bogen mit supinativer Unterstützung des Arms12 wieder von der Saite weg. Dadurch wird der Bogendruck Richtung Nullniveau reduziert oder der Bogen wird sogar darüber hinaus temperamentvoll in die Höhe ‚katapultiert‘ – um danach umso schwungvoller in die nächste Schwere zu sinken. Die Massen von Oberarm und Unterarm zuzüglich Bogen dienen dabei als pendelnde Gegengewichte. Unterhalb des Masseschwerpunkts des Bogens genügt der Längshebel mit seiner sekundären Pronation und Supination des ganzen Arms aus der Schulter heraus, um zarte ‚Tupfer‘ des Bogens auf die Saite auszuführen. Auch hier dient
11 Hier wird der Querhebel impulshaft zur Seite der Pronation genutzt, d. h. Elle und Speiche werden bei Rechtshändigkeit zunächst gegen den Uhrzeigersinn umeinander gedreht bevor sie im Uhrzeigersinn wieder zurück in die muskulär entspannte Ausgangslage schwingen. 12 Im Abstrich ist dies eine primäre Supination der Unterarmrollung, die der automatischen sekundären Pronation im Abstrich aufgrund der ausschwingenden Oberarmbewegung entgegenwirkt, im Aufstrich hingegen wird die primäre Supination durch die automatische sekundäre Supination im Rückschwung des Oberarms unterstützt. Hierin ist u.a. der Grund zu sehen, weshalb eine schnelle Folge von gebundenen StaccatoStößen im Abstrich aufwändiger ist als im Aufstrich, denn im Aufstrich summieren sich primäre und sekundäre Supination, so dass die nötige schnelle Abfolge von Entlastungen zwischen den einzelnen Pronationsimpulsen leichter gelingt.
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die Masse des Oberarms als Gegengewicht zu Bogen und Unterarm, um mit minimaler Muskelkraft Bewegungen auslösen zu können. Je besser ausbalanciert die Masseanteile dabei um einen Drehpunkt gelagert sind, desto kleinere muskuläre Impulse sind nötig, um das Sinken und Steigen des Bogens über der Saite zu bewirken. Die Bewegungen sind also einerseits große gut sichtbare Schwungbewegungen des ganzen Arms vom Körper weg bzw. wieder zurück (Thesis) und andererseits kleine weniger sichtbare ‚Miniaturen‘ des Ganzarmschwungs (Arsis). Das quantitative Maß der Pronationsimpulse im Querhebel hängt davon ab, wo der Auflagepunkt des Bogens sich auf der Saite gerade befindet – ob mehr in Froschnähe oder mehr in Richtung Spitze –, denn Gewichtskraft und Elastizität des Bogens stellen an jeder Bogenstelle andere physikalische Bedingungen. Aber auch die Musik verlangt unterschiedlich starke Impulse bzw. unterschiedlich klangvolle Anschwingvorgänge (Amplitudenbildung der Saitenschwingung) und Ausschwingvorgänge (Dämpfungskurve), so dass die gewünschten klanglichen Parameter der Musik über die nötigen Größen von Querhebel-Impuls und Längshebel-Schwung entscheiden. Der ‚Miniatur‘-Schwung kann im Prinzip sogar die Größe eines vollen Ganzarmschwungs über die gesamte Bogenlänge hinweg annehmen. Ob dabei eine Thesis oder eine Arsis erklingt, entscheidet sich über Quantität und Dauer des Einsatzes von Arm-Masse im Sinne von Krafteinwirkung in die Tiefe der Saite. Mit Hilfe der hier dargestellten Hebelschwingungen lassen sich sämtliche Möglichkeiten eines klanglichen Kontinuums in der metrischen Dimension zwischen Schwere und Leichtigkeit realisieren, wobei Lautstärkeverlauf und Klangfarbenverlauf im Fluss der Bewegung zu charakteristischen Tongestalten verschmelzen.
K ÖRPERLICHE H ILFELEISTUNG ALS M ETHODE ZUM V ERSTEHEN UND E RLEBEN METRISCHER T ONGESTALTEN IN DER M USIK Die nonverbale körperliche Hilfeleistung kann ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu metrischem Verstehen und Klangerleben sein. Dieser Schritt mag sowohl zu Beginn eines Lernprozesses stehen als auch immer wieder zirkulär das Verstehen anregen. Insbesondere im Wechselspiel mit theoretischen Erläuterungen und modellhaftem Vorspielen kann ein künstlerisch hochwertiges Erleben unter Hilfeleistung für das Verstehen förderlich sein. Dabei wird der Körper des Schülers als Reflexions- und Erkenntnisorgan genutzt im Sinne eines ‚stummen‘
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Lernens von Körper zu Körper, lediglich begleitet von metrisch sinnhaften musikalischen Tongestalten. Unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit körperlicher Hilfeleistungen ist der Ausgang von der Existenz streichinstrumentaler ‚Idealbewegungen‘ im Sinne eines Technikleitbilds. Je konkreter dieses Leitbild ist, desto besser kann körperliche Hilfeleistung gewährt werden. Das biomechanisch und klangphysikalisch begründete wissenschaftlich fundierte System schwingender Hebel nach Eichhorn erscheint dafür besonders geeignet. Lernende nähern sich den mittels körperlicher Hilfeleistungen erlebten Idealbewegungen über selbstständige Versuche an. Charakteristisch für die hier vorgestellte Hilfeleistung ist zumindest zu Beginn des Lernprozesses eine möglichst große regelgeleitete Beeinflussung der Parameter Gelenkwinkel, Schwingungsrichtung, Impulsstärke/Drehmoment und Bewegungsgeschwindigkeit über die gesamte Dauer der Tongestalten. Der körperlich-klangliche Mitvollzug soll schließlich den erfolgreichen eigenständigen Nachvollzug auslösen. Dabei wird von zwei Seiten in den Steuerungs-Regelkreis von „Zielvorstellung, Bewegung und Bewegungsempfindung“ (Mantel 2011: 14, Abb. 3) eingegriffen: Einerseits können unter dem Einfluss von Hilfeleistung die zu erlernenden Bewegungen im eigenen Körper selbst mit ihren Bewegungsempfindungen erlebt und abgespeichert werden und andererseits werden über das Hören der zugehörigen Tonergebnisse im eigenen Instrument die musikalischen Zielvorstellungen gebildet und erweitert. Das Bewegungslernen kann zusätzlich durch die Vermittlung von relevanten biomechanischen und klangphysikalischen Aspekten des Streichinstrumentalspiels kognitiv unterstützt werden. Detaillierte Kenntnisse über Eichhorns Theorie auf Seiten der Lernenden sind dabei jedoch nicht zwingend notwendig. Diese Hilfeleistung ist also insbesondere bei Kindern unter 6 bzw. 11 Jahren sehr sinnvoll, deren kognitive Reife noch kein tiefergehendes physikalisches und physiologisches Verständnis erlaubt. Auf Seiten der Lehrkraft ist die Kenntnis des theoretischen Hintergrunds jedoch unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Hilfeleistung, denn ohne zu wissen, an welcher Stelle die helfenden Impulse gegeben werden können, um das Arm-Bogen-Hebelsystem in Schwingung zu versetzen, wird nicht das gewünschte Klangergebnis entstehen. Kritisch muss gesehen werden, dass diese Art der Hilfeleistung im ersten Schritt nur einen passiven Mitvollzug verlangt. Dieser sollte nach und nach methodisch z. B. durch anregende Bilder wie „tief ins Wasser eintauchen“ und „wie ein Pendel durchschwingen“ oder konkretere Erklärungen und Beschreibungen zum Zusammenhang zwischen Bewegungen und musikalischen Klanggestalten ergänzt werden, damit der zunächst sehr passive Mitvollzug sich immer weiter
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einem aktiveren Mitvollzug und schließlich dem gelungenen eigenständigen Nachvollzug annähert. Während im ersten Stadium des passiven Mitvollzugs sogar im Vordergrund stehen kann, hemmende muskuläre Verspannungen und ungünstige vorhandene Bewegungsvorstellungen bewusst zu machen und abzubauen, geht es im Weiteren darum, ein Gefühl für das rechte Maß an Schwung, Masseeinsatz und Hebelkräften zu erarbeiten, um Klanggestalten in der gewünschten Form und Lautstärke zu erhalten (Prelle 2015). Abb. 3: Gliederung des Spielgeschehens "
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Quelle: nach Mantel 2011: 14
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DER
D REIVIERTELTAKT
Wird ein Laienspieler gebeten die metrische Figur ‚Schwer-leicht-leicht‘ zu spielen wie sie in Menuetten und Walzern vorkommt, also die basalen metrischen Tongestalten eines Dreivierteltaktes, erklingen die Tongestalten in der Regel zunächst wenig ausgeprägt geformt im Sinne von ‚bauchiger‘ Tiefe und ‚organischem‘ Verklingen. Die eher ‚flachen‘ Tongestalten werden meist durch ein Stoppen des Bewegungsflusses voneinander getrennt und dadurch vielmehr im Parameter Tondauer unterschieden als in Lautstärke und Klangfarbe. Daraufhin kann Hilfeleistung angeboten werden. Die folgende detaillierte Beschreibung biomechanischer Abläufe kann als Vorlage dienen, dies bei genügend Vorerfahrungen und Vorstellungskraft selbst auszuprobieren:
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In einer vorbereitenden Phase wird die Lage der beteiligten Gliedmaße optimal eingestellt und die Arbeitsspannung der Muskulatur auf ein mitschwingfähiges Minimum gesenkt, d. h. alle Hebel des Bogenarms sowie der Bogen selbst werden zunächst in eine zum klangvollen Losschwingen geeignete Grundstellung gebracht: • • • • •
entspannte Aufhängung des Arms in der Schulter, tiefe entspannte Lage des Ellbogens, weich nach oben gerundetes Handgelenk, weiche runde Finger im Kontakt mit der Bogenstange, so dass das Bogengewicht weitgehend auf der Saite ruht und kaum Muskelkraft den Bogen hebt, alle Gelenke bewegungsfreudig entspannt und passend eingestellt für eine Bogeneinstellung im rechten Winkel zur Saite. Es können bereits vorbereitend kleine einschwingende Bewegungen versucht werden um sicher zu gehen, dass nicht allzu viel Muskulatur bewegungshemmend angespannt ist.
Dann folgt der Moment des Anschwingens aller Hebel durch geeignete Energieimpulse für eine Thesis im Abstrich: •
•
am Ellbogen: ein wenig in die Schwere nach unten Ziehen und dann weit nach außen vom Körper weg Schwingen des Oberarms, wobei sich das Ellbogen-Scharniergelenk in der Folge öffnet und die Massen von Unterarm und Bogen im Schwung weiter ‚fliegen‘, am Bogen: im Übergang in die Leichtigkeit Unterstützung des Querhebels (Supination, die den Bogen von der Saite lüftet) durch Hochdrehen des Bogenhebels.
Zum Anschwingen der Arsis im Aufstrich in der oberen Bogenhälfte: •
•
am Bogen: leichter Pronationsimpuls (Querhebel) über die Bogenstange in die Saite hinein und Unterstützung des Zurückfederns des Bogens (Supination im Querhebel) durch leichtes weiter Hochdrehen des Bogenhebels, am Ellbogen: Nachgeben des Längshebels in die Entspannung und somit Unterstützung der Supination im Querhebel durch sekundäre Supination im Längshebel.
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Zum Anschwingen der Arsis im Abstrich in der oberen Bogenhälfte: •
•
am Bogen: leichter Pronationsimpuls (Querhebel) über die Bogenstange in die Saite hinein und Unterstützung des Zurückfederns des Bogens (Supination im Querhebel) durch leichtes wieder Hochdrehen des Bogenhebels, am Ellbogen: leichtes sekundär pronatives Hinein- und dann weiter Hochschwingen des Längshebels (Abstrich-Thesis-Miniatur).
Zum Anschwingen der Thesis im Aufstrich: •
•
•
am Ellbogen: starker Impuls zum Lösen des zuvor hoch aufgeschwungenen Arms aus seiner Haltemuskulatur hinein in einen schwungvollen ‚freien Fall’ in Richtung Boden und Körpermitte, am Bogen: Unterstützung der sekundären Supination im Längshebel und der Supination im Querhebel durch Hochdrehen des Bogenhebels im Übergang in die Leichtigkeit. am Ellbogen, aber mit Wirkung am Handgelenk (sofern nötig): unterstützender ‚Kick‘ (mit dem Daumen) an der Elle zum besseren Einstellen der Gelenkwinkel und weichen Nachgeben des Handgelenks (während die übrigen Finger weiterhin den Ellbogen führen)
Zum Anschwingen der Arsis im Abstrich in der unteren Bogenhälfte: •
am Ellbogen und Bogen gleichzeitig: Umkehr der Bewegungsrichtung des Längshebels durch gleichzeitige Impulse an den komplementären Ansatzpunkten, Einsatz des Längshebels für einen leichten sekundären Pronationsimpuls auf die Bogenstange und ein nur leichtes Durchschwingen (Abstrich-Thesis-Miniatur), Unterstützung des Hochfederns des Bogens durch leichte sekundäre Supination des Längshebels.
Zum Anschwingen der Arsis im Aufstrich in der unteren Bogenhälfte: • •
am Ellbogen und Bogen gleichzeitig: leichtes Zurückschwingen des Längshebels zur Saite hin für einen Energieimpuls mittels sekundärer Pronation, schwungvolle Umkehr der Bewegungsrichtung des Längshebels im Fluss der weiter aufwärts gehenden Bogen-/Armbewegung und leichtes Durchschwingen (Aufstrich-Thesis-Miniatur) bis in die Leichtigkeit hinein (unter Ausnutzung der Gleichheit von Schwingungsrichtung des Längshebels im Aufstrich und sekundärer Supination des Längshebels).
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Zur Realisierung der zwei basalen metrischen Tongestalten ‚schwer‘ und ‚leicht‘ sowie nochmals ‚leicht‘ im Metrum des Dreivierteltakts sind also in Abhängigkeit von den streichinstrumentalen Gegebenheiten und Anforderungen in diesem Beispiel sechs unterschiedliche Bewegungskombinationen nötig bevor der Turnus wieder mit einer Thesis im Abstrich von vorne beginnt. Diese Ausführung mit einem taktweisen Wechsel der Thesis vom Abstrich zum Aufstrich ist eine der beiden gängigsten Arten, den Bogen im Dreivierteltakt zu führen. Die andere, vermutlich häufigere Art den Bogen zu führen ist eine Ausführung der zweiten Arsis in der unteren Bogenhälfte: Dazu wird nach den ersten beiden Tongestalten (Thesis im Abstrich und Arsis im Aufstrich) die letzte Ausführung der leichten Tongestalt kombiniert, so dass nach dem Anschwingen der Arsis im Aufstrich in der unteren Bogenhälfte der Turnus bereits wieder von vorne beginnt mit nur drei Bewegungskombinationen. Sind mögliche und nötige grundlegende Bewegungskombinationen zur metrisch ausdifferenzierten Gestaltung von Musik bekannt, können Kraft sparende und Komplexität reduzierende Abfolgen in der Bogenführung gewählt werden. Die Freiheiten der Interpretation lassen in der Regel so viel Spielraum für die individuelle strichtechnische Einrichtung eines Werks, dass die Nutzung oder Nichtnutzung eines spieltechnischen Systems, wie das von Eichhorn entwickelte, großen Einfluss auf die Wirkung der musikalischen Gestaltung wie auch auf die Belastung des Körpers durch das Streichinstrumentalspiel haben kann.
S TUDIEN ZUR R ELEVANZ M ASSE BALANCIERENDER S CHWINGUNGEN IN DER B OGENFÜHRUNG PROFESSIONELLER G EIGER Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit eines ‚gültigen‘ Technikleitbilds, das eine zu vermittelnde Idealbewegung im Rahmen der Hilfeleistung ermöglicht, ist die Frage mehr als gerechtfertigt, inwieweit z. B. das System Masse balancierender Schwingungen nach Eichhorn tatsächlich eine anzustrebende künstlerisch hochwertige Expertise darstellt. Seit 2008 beschäftigt mich als empirisch forschende Wissenschaftlerin die Frage, inwieweit Geiger tatsächlich messbar schwingende Hebel in der Bogenführung nutzen. Eine Pilotstudie an Berliner Hochschulen ergab signifikante Unterschiede in der Ausprägung der Nutzung von Längshebelschwingungen im Violinspiel zwischen Studierenden der Schulmusik (Ø , der Instrumentalpädagogik (65%) und des künstlerischen Hauptfachs (Ø 82%) (Hasselbach et al.
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2010). Masse balancierende Schwingungen in der Bogenführung gelten somit als tauglicher Indikator für Expertise. 2010 konnte eine Trainingsstudie mit Kindern (Hasselbach et al. 2011) verdeutlichen, auf welch niedrigem Niveau an Expertise im Bereich der Längshebel-Schwingungen sich Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 14 Jahren im Durchschnitt noch befinden (& & . Das Merkmal erwies sich über einen Zeitraum von 15 Wochen bereits als sehr gut trainierbar, so dass viele der Kinder mit Hilfe des Trainings Werte erreichen konnten, die deutlich in den Bereich professioneller Expertise hineingehen (nach 5 Wochen: & "%& ! !"& #!&, während die Kontrollgruppe nur geringe Reifungseffekte über die Zeit der Trainingsstudie zeigte (von 23% auf $&. 2014 erfolgte schließlich die Messung Masse balancierender Schwingungen bei erwachsenen professionellen Geiger, die in deutschen Orchestern erfolgreich ein Probespiel absolviert hatten. Das Design der Studie sah vor, jeweils sieben Orchestermitglieder aus zwei unterschiedlichen Orchestern zu untersuchen, darunter jeweils zwei Konzertmeister, zwei Stimmführer und drei Tuttisten. Die zentralen Fragen waren 1., ob die Ausprägung an Masse balancierenden Schwingungen in der Bogenführung einen Zusammenhang zur erreichten Position in einem Orchester zeigt und 2., ob sich die Werte der Mitglieder eines Orchesters sehr hohen internationalen Renommees von den Werten der Mitglieder eines eher nur im städtischen Rahmen bekannten Orchesters unterscheiden sowie 3., ob ein Zusammenhang zur individuellen Gesundheitsbiographie besteht. Die Messungen zeigen, dass der Faktor „Position im Orchester“ nicht durch die Ausprägung an Masse balancierenden Schwingungen aufgeklärt werden kann. Darüber hinaus gibt es keine signifikanten Unterschiede in den Mittelwerten zwischen den Orchestern unterschiedlichen Renommees. Dennoch hat die Studie bestätigt, dass Masse balancierende Schwingungen ein zentraler Bestandteil von Expertise im Geigenspiel sind. Im Rahmen dieser Studie lag der durchschnittliche Einsatz von Längshebelschwingungen der professionellen Orchestergeiger bei 60%. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Lebensalter bzw. dem Eintrittsalter ins Orchester und der Ausprägung an Masse balancierenden Schwingungen ließ sich im Rahmen dieser Studie nicht zeigen. Um dieses Ergebnis weiter zu stützen bzw. in Frage zu stellen wurden 2014 nochmals zwei Konzertmeister eines dritten Orchesters untersucht. Das Ergebnis änderte sich jedoch nicht. Schließlich hätte auch die aktuelle Fitness und die Nähe zum kritisch begleiteten Üben im Studium eine Rolle spielen können. Des-
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halb wurden drei junge Akademisten der Berliner Philharmoniker untersucht, da diese erst wenige Jahre zuvor in einer bundesweiten bzw. quasi weltweit zugänglichen Audition als die hoffnungsvollsten Nachwuchs-Orchestermusiker/innen für Stipendien ausgewählt worden waren. Aber auch diese Geiger/innen ( 26 Jahre) zeigten mit einer Ausprägung von 68% an Masse balancierenden Schwingungen keine statistisch signifikant höheren Werte gegenüber den im Mittel älteren Orchestergeiger (48 Jahre). Abb. 4: Probanden-Design der Studie zu Masse balancierenden Schwingungen in der Bogenführung professioneller Geiger
Wo sind jedoch die Geiger zu finden mit vergleichbar hohen Werten wie die Studierenden in der Pilotstudie 2008? Eine Recherche ergab, dass einer der beiden Probanden, die damals an der Pilotstudie als Studierende des künstlerischen Hauptfachs teilgenommen hatten, inzwischen arrivierter Solist geworden ist mit einem Pensum von ca. 30 Solokonzerten im Jahr13. Die weitere Messung einer
13 Ermittelt aus den Angaben auf den offiziellen Websites der Solisten. Dies waren als Student 2008 Iskandar Widjaja und aktuell als Solistin Sophia Jaffé, die beide einer Veröffentlichung ihrer Identität zugestimmt haben. Der weitere studentische Proband bleibt anonym und befindet sich noch im Konzertexamen an einer Musikhochschule. Bereits errungene Erste Preise bei Wettbewerben lassen jedoch in Zukunft ebenfalls eine hochkarätige Konzerttätigkeit erwarten.
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bekannten Solistin mit einem ähnlich hohen Konzertpensum konsolidierte die Vermutung: lediglich Geiger mit Solokarriere zeigen Werte von 80% und somit eine signifikant höhere Ausprägung an Masse balancierenden Schwingungen als professionelle Orchestermusiker im Durchschnitt. Interessant ist, dass die Unterschiede zwischen den Orchestergeigern/innen zum Teil sehr groß waren. Der Durchschnittswert aus der Summe der Werte aller Orchestermusiker scheint also weniger aussagekräftig zu sein als die individuellen Werte eines jeden Einzelnen. Dies führt in einem weiteren Analyseschritt zur Enthüllung individueller Bewegungsprofile. Abb. 5: Prozentualer Anteil an Masse balancierenden LängshebelSchwingungen in individuellen tempoabhängigen Bewegungsprofilen
Quelle: von Hasselbach 2014
Die Testaufgabe bestand wie in allen vorangegangen Studien in einer G-DurTonleiter über zwei Oktaven, wobei jeder Ton viermal pro Schlag wiederholt wurde. Während die Probanden sehr unterschiedlich in langsamem Tempo starten, nähern sich doch alle Linien in höheren Tempi mit automatisierten Bewegungen bei ca. 160-180bpm einem Bereich, der sich um 60% herum abzeichnet. Alle individuellen Wege führen also zu einer letztlich ökonomischen Bewegungsweise mittels Masse balancierender Schwingungen, ohne die ein höheres Tempo offenbar nicht erreicht werden kann. Der Mittelwert von 60% ist insofern wenig aussagekräftig, als dass sich unter ihm Fälle von wenig über 40 % bis Fälle von nahezu 80% subsummieren. Dazwischen besteht jedoch ein extrem großer Unterschied.
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Abb. 6: Pultnachbarn und ihre unterschiedlichen Ausprägungen an Masse balancierenden Schwingungen in hohem Tempo von ca. 160-180bpm
Während die Orchestergeiger mit über 70% schon deutlich solistisches Potential zeigen, laufen jene mit unter 50% bereits Gefahr langfristig gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erleiden, denn die 50%-Marke stellt einen kritischen Wert dar, ab dem sich bei professioneller stetig hoher Belastung die Wege von ‚gesund‘ und ‚krank‘ trennen können. Sinkt der Einsatz von geschwungenem Armgewicht deutlich unter 50% in Richtung 40% lassen sich vermehrt schwere gesundheitliche und künstlerische Beeinträchtigungen in den Biographien finden. Erstrebenswert erscheint also im Rahmen von streichinstrumentaler Ausbildung ein Wert von 60% bis 70%, der nur von wenigen Ausnahmebegabungen nochmals in Richtung 80% überschritten werden kann. Interessant ist zu betrachten, welche Faktoren zur Ausbildung der unterschiedlichen Bewegungs-Typen mit ihren charakteristischen Bewegungsprofilen führen können. Hierzu lieferte die Inhaltsanalyse der Interviews mit den Probanden einige plausible Hinweise, denen in einer weiteren Studie gezielt nachgegangen werden sollte. Beispielsweise kann der ‚Spitzenreiter‘ in den Werten der Orchestergeiger auf eine langjährige intensive Arbeit mit Dispokinesis verweisen und zeigt ein Bewegungsprofil vom Typus Solist, während dem Typus Entfesselt mit konsequenter Feldenkrais-Arbeit eine sehr effektive Kontrolle im niedrigen sowie mittleren Tempo gelingt und deshalb erst in sehr hohem Tempo die hohe Kontrolle aufgegeben wird.
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Welche Vorteile die Eigenheit hat, sich schnell lösen zu können und in Masse balancierende Schwingungen zu verfallen, liegt auf der Hand: biomechanisch gesehen ist die Verwendung Masse balancierender Schwingungen auch in langsameren Tempi ökonomischer und künstlerisch gesehen kann stressfreier musiziert werden. Andererseits hat die Eigenheit sehr genau kontrollieren zu können ebenfalls Vorteile, die mehr im künstlerischen Bereich zu suchen sind. Nicht ohne Grund erscheint deshalb das Profil Solist als eine Kombination aus höchster muskulärer Kontrollfähigkeit und einer Fähigkeit, bereits frühzeitig in mittleren Tempi loslassen zu können und die biomechanisch ökonomischeren Abläufe wie Hebelschwingungen für sich spielen zu lassen. Theoriegeleitet entsteht bei der Ausführung der Testaufgabe eine hoch ansetzende und leicht absinkende Kurve14, da in steigenden Tempi die Sauberkeit der Ausführung von Bewegungen – wie auch in der Kurve Solist erkennbar – sinkt, wenn auch dort erst in viel höheren Tempi. Das mit Theoriegeleitet fast identische Profil Inuitionist erscheint tatsächlich auch bei Orchestergeigern, ohne dass bei Überprüfung Kenntnisse über Eichhorns Theorie bestanden. Wenn die Kurve bereits in mittlerem Tempo drastisch sinkt, so sind einsetzende Hebelblockaden für den Typus Festwerdend charakteristisch. Sind die Hebel bereits in langsamen Tempi blockiert, so kann von einem Typus ausgegangen werden, der dauerhaft in den Hebelschwingungen Gehemmt ist. Ob dabei ein Bewegungsdefizit die Ursache für eine Erkrankung ist oder die Erkrankung als Ursache für ein Bewegungsdefizit anzusehen ist, lässt sich nicht ohne Weiteres aufklären.
F AZIT Welches Technikleitbild auch immer den persönlichen Streichinstrumentalunterricht prägen mag, können der Körper mit seiner spürbaren Bewegung und die mit körperlicher Bewegung verbunden erlebbaren Klänge als unabdingbare Parameter in einem hermeneutischen Prozess des Verstehens von Musik, hier am Beispiel metrischer Tongestaltung dargestellt, verstanden werden. Dabei kann eine körperliche Hilfeleistung vor dem Hintergrund der Definierbarkeit von Idealbewegungen, welche zum Teil empirisch bezüglich ihrer Relevanz untersucht wurden, den Lernprozess intensivieren und möglicherweise beschleunigen. Eine musiktheoretische kognitiv-intellektuelle Fundierung des Verstehens und eine
14 Ausgewertetes Bewegungsprofil der Autorin dieses Beitrags, Julia von Hasselbach, die ein Studium des künstlerischen Hauptfachs Violine absolviert hat und ihre Technik theoriegeleitet weiterentwickelt hat.
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emotionale Verankerung bleiben jedoch unverzichtbare Antriebskräfte einer Musizierbewegung. Im bewusst reflektierten Zusammenspiel von Schwerkraft, Hebelkräften, Drehmomenten, muskulär angeregtem Masseschwung, Raum, Zeit und Klang wird das metrische Verstehen jedoch im Fluss der Bewegung manifest und gleichzeitig klanglich wie körperlich erlebbar.
L ITERATUR Hasselbach, Julia von (2009): 100 Jahre Physiologic Turn in der Streichinstrumentalpädagogik. Eine Bestandsaufnahme, in: Norbert Schläbitz (Hg.), Interdisziplinarität als Herausforderung musikpädagogischer Forschung, Essen: Die Blaue Eule, S. 239-262. Hasselbach, Julia von; Gruhn, Wilfried; Gollhofer, Albert (2010): Mass balancing oscillations. An indication of expertise in the bowing of violinists. A quantitative micromotion study, in: Steven M. Demorest; Steven J. Morrison; Patricia S. Campbell (Hg.), Proceedings of the 11th International Conference on Music Perception and Cognition (ICMPC 11), Seattle: University of Washington, S. 388-393. Hasselbach, Julia von; Gruhn, Wilfried; Gollhofer, Albert (2011): Effects of training on mass balancing oscillations in the bowing of (pre)teen violin students. A quantitative micromotion study, in: Arts BioMechanics, volume 1, number 1, New York: novapublishers, S. 1-14. Hasselbach, Julia von (2012 a): Für lebendige und beziehungsfähige Töne im Streichinstrumentspiel. Eine Reaktion auf Peter Röbkes Einleitung zu Das Musizieren und die Gefühle, in: Martina Krause; Lars Oberhaus (Hg.), Musik und Gefühl. Interdisziplinäre Annäherungen in musikpädagogischer Perspektive, Hildesheim: Olms, S. 67-88. Hasselbach, Julia von (2012b): For lively and intensely related tones in bowed string instrumental performance. A response to Peter Röbke’s introduction to Das Musizieren und die Gefühle, in: Arts BioMechanics, volume 1/issue 2, New York: novapublishers, S. 115-130. Hopfer, Margarete (1941): Die Klanggestaltung auf Streichinstrumenten. Das Naturgesetz der Tonansprache. Kurze Einführung in Die gestaltende Dynamik der Bogenmechanik von August Eichhorn. Leipzig: Kistner und Siegel. Mantel, Gerhard (1999): Cello üben. Eine Methodik des Übens nicht nur für Streicher, ergänzte Auflage, Mainz: Schott. Mantel, Gerhard (2011): Cellotechnik. Bewegungsprinzipien und Bewegungsformen, überarbeitete Neuauflage, Mainz: Schott.
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Mozart, Leopold (2007): Gründliche Violinschule, Erstausgabe der zweiten Auflage von 1769 in moderner Schrift und angepasster Rechtschreibung, hg. von Matthias Michael Beckmann, Salzburg: Kulturverlag Polzer. Mozart, Leopold (1995): Versuch einer gründlichen Violinschule, FaksimileReprint der 1. Auflage 1756, hg. von Greta Moens-Haenen, Kassel: Bärenreiter. Prelle, Ulf (2015): Leichtigkeit. Eine ergänzende Streichermethodik zur Befreiung der rechten und linken Hand, Mainz: Schott. Steinhausen, Friedrich Adolf; von Reuter, Florizel (1928): Die Physiologie der Bogenführung auf den Streich-Instrumenten, 5. Auflage, Leipzig: Breitkopf & Härtel.
Musik als nicht-repräsentationales Embodiment Philosophische und kognitionswissenschaftliche Perspektiven einer Neukonzeptualisierung von Musik 1 J IN H YUN K IM
M USIK ALS V ERKÖRPERUNG : R EPRÄSENTATION NICHT - REPRÄSENTATIONALES E MBODIMENT ?
ODER
Die bislang vorliegenden unterschiedlichen Ergebnisse der Musikwissenschaft – sei es zur Geschichte westlicher Kunstmusik oder ethnologisch und kulturvergleichend ausgerichtet – weisen darauf hin, dass es in Geschichte und Gegenwart Phänomene und Verhaltensweisen gibt, die sich in unterschiedlichen Kulturen mit den jeweiligen ihnen entsprechenden Begriffen als ‚musikalisch‘ beschreiben lassen. Wodurch zeichnen sich diese Phänomene und Verhaltensweisen aus? Dienen sie der Repräsentation dessen, was sie selbst nicht sind, das durch sie in Erscheinung tritt, wie der Philosoph und Medientheoretiker Dieter Mersch die Repräsentation als eine Relationalität kennzeichnet, „deren Kern eine Negation ausmacht“ (Mersch 2004: 51) – mit anderen Worten: Lassen sie sich auf hinter ihnen stehende
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Dieser Artikel wurde vom Hanse-Wissenschaftskolleg, vom koreanischen Bildungsministerium und von der National Research Foundation of Korea gefördert.
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Ideen und Intentionen zurückführen und als deren Realisierung und Ausdruck charakterisieren? In der Historischen Musikwissenschaft, deren Hauptuntersuchungsperspektive sich auf die Geschichte von Werken richtet, wird ein im Kontext westlicher Kunstmusik meistens mit seiner Partitur identifiziertes Werk von dessen Realisierungen unterschieden, wobei den musikalischen Aufführungen nur ein nachrangiger oder nachgängiger Status zugesprochen wird (vgl. etwa Cook 2014; Cook & Pettengill 2013). Dabei wird das durch musikalische Performance zum Erklingen gebrachte Werk als die Realisierung und Interpretation vorgängiger und vorrangiger kompositorischer Ideen und Intentionen betrachtet. Dagegen wird in neueren Forschungen wie z. B. den Performance Studies und spezifischen musikethnologischen Ansätzen der musikalischen Performance oder Praxis2 der primäre Status eingeräumt. Dabei wird in Bezug auf die westliche Kunstmusik die Textualität als gleichrangig mit der musikalischen Performance betrachtet; es wird also von einer „horizontalen“ Beziehung statt von einer „vertikalen“ Hierarchie ausgegangen (Cook 2012: 186). So kann eine musikalische Performance nicht als die Verkörperung des Notierten verstanden werden, auch wenn in vielen Fällen auf das Notierte Bezug genommen wird, sondern als eine Form von Embodiment, die nicht „im Sinne von ‚verkörpern von‘“ (Seifert & Kim 2012: 84), sondern als „‚verkörpert sein‘“ gedacht wird (ebd.: 85). Obwohl mit der ersten Bedeutungsvariante von Embodiment die Relevanz der Körperlichkeit und Materialität musikalischer Performance oder Praxis Aufmerksamkeit findet, so kommt ihr hier doch ein sekundärer Status zu. Die zweite Bedeutungsvariante lässt dagegen ‚Verkörperung‘ „im Hinblick auf einen Anfangs- und Ausgangszustand und nicht als Ergebnis eines aus einer Aktion resultierenden Endzustands“ (ebd.) denken. Berücksichtigt man darüber hinaus jene Musikkulturen, die nicht auf Textualität und der Idee des Meisterwerkes basieren, rückt jedweder Akt musikalischen Embodiments, in dem (neuer) musikalischer Sinn erst generiert wird, in den Fokus der Musikforschung. Dabei wird von einer musikalischen Praxis ausgegangen, die nicht notwendigerweise mit Bezug auf eine vorgängige und vorrangige Entität ausgeführt wird. Es eröffnet sich damit
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Der Terminus ‚musikalische Praxis‘ wird verwendet, um jene Praxis mit einzuschließen, die sich zumindest im Kontext der westlichen Musikwissenschaft als musikalische Performance nicht bezeichnen ließe wie z. B. außereuropäische Ritualkulturen und vorsprachlich-musikalische Interaktion zwischen Kleinkind und Mutter.
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die Möglichkeit, einem interdisziplinären Forschungsansatz nachzugehen, mit dem Musik weniger im Sinne eines Kunstwerks oder Objektes, sondern vielmehr als eine Grundfähigkeit des Menschen verstanden wird, die beispielsweise mit der menschlichen Sprachfähigkeit verglichen werden kann (Rebuschat et al. 2011; Arbib 2013; Honing et al. 2015). Unter Berücksichtigung dessen, dass Sprache weitgehend Repräsentationalität zukommt, rückt in diesem Artikel die Frage in den Fokus des Forschungsinteresses, ob Musik, deren Sinn im Akt des Embodiments entsteht, sich als nichtrepräsentational charakterisieren ließe – ungeachtet dessen, ob das Notierte als ein Bezugspunkt dient oder nicht. Repräsentation wird dabei im philosophisch-zeichentheoretischen wie kognitionswissenschaftlichen Sinn verwendet, also als Bezeichnung für die Vergegenwärtigung des (mentalen) Gegebenseins in Bezug auf sinnlich wahrgenommenen Gegenstand (Schildknecht 1995: 590), bei der „die Zeichenstruktur der Gegenstandsstruktur korrespondiert“ (Oestermeier 1995: 591). Außerdem involvieren Repräsentationen Korrektheitsbedingungen (Detel 2014: 50). Dies bedeutet: Repräsentationen können korrekt oder inkorrekt sein. Da Musik aber weder korrekt noch inkorrekt sein kann, ist nicht zu erwarten, dass Musik sich als repräsentational erweisen würde. Im Folgenden werden philosophisch und kognitionswissenschaftlich orientierte Perspektiven musikalischer Grundlagenforschung diskutiert, für die nicht-repräsentationales Embodiment zentral ist und die eine Neukonzeptualisierung von Musik implizieren (könnten).
M USIKALISCHER S INN : N ICHT - REPRÄSENTATIONALES E MBODIMENT , C HRONIZITÄT UND DER T ÄTIGKEITS W AHRNEHMUNGSZYKLUS Bewusstseinsphilosophisch betrachtet, ist der musikalische Gestaltungsprozess eine Leistung bzw. eine Funktion des Embodiments, die zwar für die Sinneswahrnehmung zugänglich, aber auf abrufbare sensorische Daten nicht zurückzuführen ist. In Anknüpfung an Augustinus‘ Confessiones werden verstreute Momente in der sinnlichen Wahrnehmung von Musik in musikalischer Aisthesis – um dies unter Rückbesinnung auf die Bedeutung des altgriechischen ‚αισθησις‘ auszudrücken – im Zuge der zeitlich irreversiblen Sukzession des musikalischen Gestaltungsprozesses durch den Akt der memoria, der das vergangene Jetzt und das zukünftige Jetzt in der Gegenwärtigkeit verbindet, miteinander verknüpft, so dass eine Einheit ästhe-
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tischer Erfahrung von Musik entsteht: Erfahrung ist nach Immanuel Kant „nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich“ (Kant 1974 [1787]: B 218). Der Geist, der sich als Tätigkeit begreift, wird dabei erst durch diesen Akt der memoria konstituiert (Kreuzer 2012). Die Verwendung des Terminus ‚Ästhetische Erfahrung von Musik‘ an dieser Stelle schließt jene sinnlich wahrnehmbaren musikalischen Phänomene ein, die sich anhand eines Werkkonzeptes kaum beschreiben lassen, deren Erfahrung aber, ausgehend von musikalischer Aisthesis, charakterisiert werden kann. Die Zeitgebundenheit, durch die sich die den Geist als ein Subjekt der ästhetischen Erfahrung von Musik konstituierende Tätigkeit des verkörperten Geistes auszeichnet, rückt dabei in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Musikalische Momente, die in der zeitlich irreversiblen Sukzession verlaufen und anscheinend verstreut bleiben, werden durch den Erinnerungsakt des sich als Tätigkeit begreifenden Geistes gegenwärtig und zur ästhetischen Erfahrung vereint. Musikalischer Sinn, der sich im Zuge solch einer Erfahrung ergibt, ist – um mit dem Philosophen Andreas Luckner zu sprechen – ein nicht „hyperchron“ (Luckner 2007: 46), d. h. „überzeitlich“ (ebd.) bzw. „jenseits der Zeit“ (ebd.: 48), sondern chronizitär,3 d. h. „zeitimmanent, zeitgebunden“ (ebd.: 47) gegebener Sinn. Ein Sinn, der jenseits der Zeit gilt, lässt sich als repräsentational beschreiben: Ein Sachverhalt, der repräsentiert wird, kann zwar in der Zeit ausgedrückt, aber gleichzeitig aus der Zeit herausgelöst werden. Musik kommt aber eine untergeordnete repräsentierende semantische Funktion zu – mit anderen Worten: Musik weist kaum eine repräsentationale Bezugnahme auf die Welt auf.
3
Luckner verwendet hinsichtlich der Zeitgebundenheit den Terminus ‚isochron‘ (ebd.: 45 und 47). Da dieser aber in aktuellen Diskursen zu Rhythmus und Metrum in der Musikforschung einen periodischen Prozess von Einheiten, die über die gleiche Dauer verfügen, bezeichnet, könnte die Verwendung von ‚chronizitär‘ statt ‚isochron‘ vorgeschlagen werden. Die Prägung des Adjektivs ‚chronizitär‘ sowie Nomens ‚Chronizität‘ verdankt sich einem Feedback des Philosophen Christian Grüny auf meinen Vortrag, der im Januar 2016 auf dem Symposium Gesten gestalten – Spielräume zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit in Leipzig gehalten wurde, sowie einem Gespräch mit dem Philosophen Matthias Vogel im Rahmen eines Treffens der HWK Study Group Schlüsselthemen musikalischer Grundlagenforschung: Interdisziplinäre Musikforschung und Musikphilosophie heute, das im April 2016 am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst stattfand.
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Musikalische Elemente sind nicht voneinander abgekoppelt, sondern aufeinander bezogen. Erst durch solch eine innermusikalische Bezugnahme entsteht ästhetische Erfahrung von Musik. Um mit Nelson Goodman zu sprechen, denotiert Musik nicht, sondern exemplifiziert musikalische Strukturen und Eigenschaften wie z. B. rhythmische Strukturen und Eigenschaften, durch die dann die Erfahrung reorganisiert wird, „indem sie [die exemplifizierten Strukturen und Eigenschaften] normalerweise nicht miteinander verknüpfte Handlungen miteinander in Beziehung setzen oder andere, gewöhnlich nicht differenzierte, voneinander unterscheiden“ (Goodman 1997 [1976]: 70). Musikalischer Sinn wird im Zuge der Herausbildung einer Einheit ästhetischer Erfahrung von Musik – wie z. B. einer Phrase – chronizitär etabliert, so dass die Antizipation darauf folgender musikalischer Ereignisse möglich ist. Nach dem amerikanischen Philosophen, Psychologen und Pädagogen John Dewey involviert Antizipation das Zusammenspiel zwischen Tätigkeit und Erfahrung, das konstitutiv für ästhetische Erfahrung ist (Dewey 1934: 48 ff.).4 Diese Kopplung von Handlung/Tätigkeit und Wahrnehmung wird in jüngeren kognitionswissenschaftlichen Ansätzen, die als embodied oder situated cognition bezeichnet werden (Clark 1997; Calvo & Gomila 2008; Robbins & Aydede 2008), als ein Kognition unterliegender Mechanismus charakterisiert. Im Gegensatz zu traditionellen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen, wie Kognitivismus oder Konnektionismus, in denen die Trennung von sensorieller Perzeption und motorischer Aktion unterstellt wurde, wird in postkognitivistischen Ansätzen der Kognitionswissenschaft (Calvo & Gomila 2008) zum einen eine aktive Natur der Perzeption, zum anderen die Emergenz der Kognition aus periodisch wiederkehrenden sensomotorischen Mustern angenommen, die durch die Perzeption begleitete Aktionen ermöglichen (Varela et al. 1991: 173).5 Unter Berücksichtigung der Tätigkeit des verkörperten Geistes, die die ästhetische Erfahrung von Musik durch Chronizität ermöglicht, lässt sich die zeitlich-rhythmische Organisation von Klangereignissen als eine der zentralen Charakteristiken von Musik beschreiben. Diese dient als Fundament anderer musikalischer Charakteristiken, wie z. B. melodische und harmonische Organisationen: Ein Tonhöhen- und harmonischer Verlauf kann nur zeitgebunden im Rahmen einer innermusikalischen Logik gefasst werden. Einem Akkord, wie z. B. einem aus der Zeit herausgelöst betrach-
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Für eine ausführliche Diskussion siehe Kim 2013.
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Für eine ausführliche Diskussion siehe Leman 2007 und Kim 2012: Kap 4.3.
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teten C-Dur-Akkord, wird keine eindeutige Funktion zugeschrieben, wie dieser beispielsweise im Kontext der C-Dur-Tonalität als Tonika fungiert, aber im Kontext von F-Dur-Tonalität als Dominante. Solch eine innermusikalische Logik entfaltet sich im Zuge der zeitlich irreversiblen Sukzession des musikalischen Gestaltungsprozesses. Ein zeitlicher Verlauf von Klangereignissen wird u. a. durch die sich durch Zählen charakterisierende Tätigkeit des Geistes erfasst: Der Rhythmus wird nicht durch die Zeit gezählt, sondern dient eher dazu, das sich im sukzessiven Verlauf der Zeit kontinuierlich verändernde Phänomen zu zählen (Augustinus 2002). Durch Rhythmus werden zeitliche Sinneinheiten strukturiert (Wulf 2012), so dass das gegliederte Ganze erlebt wird, wie der Philosoph Richard Hönigswald Rhythmuserlebnisse in seiner Schrift Vom Problem des Rhythmus: Eine Analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie (1926) charakterisiert. Eine rhythmische Struktur, die musiktheoretisch als eine objektive Eigenschaft von Musik betrachtet wird, ist demnach ein erlebtes Phänomen. In neueren kognitionswissenschaftlich orientierten musiktheoretischen und -psychologischen Untersuchungen zum Rhythmus und Metrum wird auf den Einfluss des Metrums auf die Rhythmuswahrnehmung aufmerksam gemacht. Nach deren Ergebnissen lässt sich ein Metrum, das als Betonungsstruktur von schwer und leicht akzentuierten, aufeinanderfolgenden Schlägen verstanden wird, nicht auf die physikalisch messbare Unterscheidung der Stärke einzelner Grundschläge zurückführen. Vielmehr wird Metrum als ein Perzept betrachtet (Large 2008: 189ff.; London 2004: 9ff.), das auf einem der zeitlich-rhythmischen Gruppierung von Klangereignissen unterliegenden Prozess beruht. Nach der Dynamic Attending Theory (Jones & Boltz 1989; Drake et al. 2000), eine der so genannten Oszillatortheorien, unterliegen der Wahrnehmung intern generierte Pulsierungen, bei denen durch die aufmerksam wahrgenommenen Gleichmäßigkeiten Erwartungen über folgende Ereignisse gebildet werden. Interne periodische Oszillationen werden mittels zeitlicher Erwartungen zu der externen zeitlichen Sequenz synchronisiert, und deren Überlagerung wird dann als ein metrischer Cluster wahrgenommen (Jones 2011: 84). Ein der Metrumwahrnehmung unterliegender Prozess lässt sich aber nicht mit einer abstrakten, von einer Handlung abgekoppelten Repräsentation gleichsetzen, sondern ist als ein die Kopplung von Handlung bzw. Tätigkeit und Wahrnehmung involvierender kognitiver Prozess zu verstehen, der – wie oben erwähnt – in neueren Ansätzen der Kognitionswissenschaft, d. h. der embodied oder situated cognition, untersucht wird. Je nach der
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Verkörperungsbedingung der Metrumwahrnehmung wie z. B. der Gewohnheit der körperlichen Bewegung eines Menschen wird aus einem gleichen akustischen Stimulus dessen Rhythmus metrisch nicht einheitlich interpretiert. Metren werden also auf Grundlage der Interaktion von Gehör und körperlicher Bewegung konstituiert.6 Die geistige Tätigkeit, in der nacheinander folgende Elemente mittels einer durch den Rhythmus ermöglichten Zeiterfahrung aufeinander bezogen werden, ist durch den auf der Chronizität basierenden memoria-Akt verkörpert, der nicht nur als intramental zu betrachten ist, sondern mit der körperlichen Handlung gekoppelt zu sein scheint, wie sich das oben angeführte Beispiel der Metrumwahrnehmung zeigt. Musik wird auf Grundlage dieser geistigen Tätigkeit gestaltet und rezipiert. Dabei wird u. a. eine rhythmische Gestalt erlebt, die sich nicht auf ihre einzelnen Elemente zurückführen lässt. Diese Gestalt weist keine repräsentationale Bezugnahme auf die Welt auf, sondern wird im Zuge von deren Gestaltung und Mitgestaltung als eine Einheit des Erlebens konstituiert, die die Menschen ‚Belebung spüren‘7 lässt und von der sie bewegt und ergriffen werden können.
I MPLIZITES MUSIKALISCHES W ISSEN : K ÖRPERSCHEMA , P ROPRIOZEPTION UND K ÖRPERLICHKEIT Musikalisches Wissen besteht aus explizitem und implizitem Wissen. Unter explizitem musikalischem Wissen wird musiktheoretisch vermitteltes oder durch Musikanalyse zugängliches und geformtes Wissen verstanden (Davies 1994: 349). Dieses explizite Wissen beinhaltet u. a. musiktheoretische Begriffe (Debellis 1995), so dass beispielsweise einer Person, die über dieses Wissen verfügt, die Benennung von Tonhöhen, Intervallen und Akkorden sowie der musiktheoretisch fundierte Nachvollzug des harmonischen
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Empirische Evidenz hierfür liefern die experimentellen Studien der kognitionswissenschaftlich orientierten Musikforscher Jessica Phillips-Silver und Laurel J. Trainor (2005, 2006), die in Abschnitt 3 diskutiert werden.
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Ein Ausdruck des Oldenburger Philosophen Johann Kreuzer in einem Gespräch, das im Rahmen des Vortreffens der HWK Study Group Schlüsselthemen musikalischer Grundlagenforschung: Interdisziplinäre Musikforschung und Musikphilosophie heute im März 2015 am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst stattgefunden hat.
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Verlaufs eines Werkes möglich ist.8 Zum implizitem musikalischem Wissen zählt beispielsweise die Befähigung der Wahrnehmung der (tonalen) Orientierung oder des klangfarbe-bezogenen Merkmals eines Musikstückes (Margulis 2014: 168), aber auch der Metrumerkennung und der Koordination von musikalischem Rhythmus und körperlicher Bewegung, welche in der jüngeren entwicklungspsychologischen Musikforschung empirische Evidenz findet (Trainor & Trehub 1992; Winkler et al. 2009; Marcus 2012). Säuglinge erwerben dieses Wissen während der Interaktion mit ihrer Umwelt beiläufig ohne explizite Vermittlung (Bigand et al. 2003). Die Rolle des dem Embodiment impliziten musikalischen Wissens wird in zunehmendem Maße erforscht. Beispielsweise untersuchten Jessica Phillips-Silver und Laurel J. Trainor an sieben Monate alten Kindern die Frage, ob Propriozeption, d. h. Körperstellungs- und Körperlagewahrnehmung, die auditive Wahrnehmung beeinflusst. Zunächst wurden Kleinkinder trainiert, ein auditiv mehrdeutiges rhythmisches Pattern zu hören. Dabei waren die Versuchspersonen in zwei Gruppen unterteilt, die auf jedem zweiten bzw. dritten Grundschlag gewippt wurden. Im Anschluss daran wurde entweder ein Zweiertakt oder ein Dreiertakt bevorzugt (Phillips-Silver & Trainor 2005). Das Ergebnis ihrer Untersuchung deutet stark darauf hin, dass die Körperwahrnehmung in Form von Körperbewegungen und -stellungsänderungen eine zentrale Rolle für die Entwicklung der Rhythmuswahrnehmung spielt (Phillips-Silver & Trainor 2005, 2006). Wie diese für die Rhythmuswahrnehmung als Basis dienende Körperlichkeit genauer zu verstehen ist, kann anhand des Begriffs des Körperschemas (body schema) präzisiert werden, mit dem sich der Philosoph Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (1976 [1945]) auseinandersetzt und der in der aktuellen Kognitionswissenschaft z. B. von Shaun Gallagher (Gallagher 2005; Gallagher & Zahavi 2008) dem des Körperbildes (body image) gegenübergestellt und diskutiert wird.
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Bemerkenswert ist allerdings, dass dabei Musiktheorie im Sinne einer als Kompositionslehre dienenden musikalischen Handwerkslehre verstanden wird. Unter Berücksichtigung der aktuellen Forschung systematischer oder kognitiver Musiktheorie (Lerdahl & Jackendoff 1983; Seifert 1993), deren Hauptuntersuchungsperspektiven sich auf die Grundlagen des musikalischen Wissens und die musikalischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen richten, wird Musiktheorie nicht notwendigerweise als zu vermittelndes Wissen – mit anderen Worten: als explizites Wissen – aufgefasst, sondern teilweise als implizit erlernbares Wissen (Rohrmeier & Rebuschat 2012).
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Allgemein wird die Ansicht vertreten, dass Merleau-Ponty in seinen philosophischen Arbeiten eine der relevantesten phänomenologischen Theorien des Embodiments entwickelt hat. In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung diskutiert er die Form eines nicht selbst-reflexiven, körperlichen Wissens, die sich nicht auf irgendein Bewusstseinsvermögen zurückführen lässt, sondern nur als körperlicher Habitus zu fassen ist. Demnach beruhen körperliche Aktionen nicht auf einem reflexiven, expliziten Wissen. Stattdessen werden sie auf der Grundlage von Imitation erlernt und durch Wiederholung habitualisiert. Solche habitualisierten, sich wiederholenden körperlichen Aktionen dienen dazu, die Wahrnehmung zu stabilisieren, und gehen der Emergenz der Kognition voraus.9 Einen Mechanismus für habitualisierte körperliche Aktionen stelle das Körperschema dar.10 Durch das in einem Körperschema verkörperte Potenzial, das sich als nicht-reflexiv, vor-bewusst und prä-intentional charakterisieren lässt, findet ein Subjekt Zugang zur Welt und wird dadurch mit der Welt gekoppelt und von ihr ununterscheidbar. Dieses Subjekt ist nach Merleau-Ponty allerdings der Körper selbst (Merleau-Ponty 1974 [1945]: 243):11 Dies aber nicht im Sinne eines aus externer Beobachterposition her beobachtbaren Objekts des Bewusstseins (Wild 1963 [1942]: xv). Der Philosoph Shaun Gallagher, der sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts der phänomenologischen Untersuchung des Embodiments menschlichen Geistes widmet, hebt die Unterscheidung zwischen Körperschema (body schema) und Körperbild (body image) hervor. Er definiert Körperschema als das quasi-automatische sensomotorische „System der Prozesse, die zur intentionalen Handlung dienende Körperbewegungen und Haltungen ständig regulieren“ (Gallagher & Zahavi 2008: 146). Damit hebt Gallagher die Einbindung des Körperschemas in eine „extraintentionale Operation“ hervor (Gallagher 1995: 228), die prä-reflexiv und vor oder außerhalb einer „objektivierenden Körper-Bewusstheit“ (Gallagher & Zahavi 2008: 146; siehe auch Gallagher 2005: 24f.) durchgeführt wird. Körper-
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Merleau-Ponty führt das Spiel eines Musikinstrumentes als ein Bespiel habitualisierter körperlicher Aktionen an (Merleau-Ponty 1974 [1945]: 175f.). Beim Instrumentalspiel wird ein ‚körperliches‘ Wissen der Hand, der Lippen etc. nur dann zugänglich, wenn körperliche Anstrengungen vorausgehen (ebd.: 174; siehe auch Kim 2010).
10 Zum Konzept des Körperschemas Merleau-Ponty 1974 [1945]: 123f. 11 „Wir [sind] dieser Leib“, das heißt, „wir [sind] zur Welt […] durch unseren Leib und [nehmen] mit ihm sie [wahr] [...]“ (ebd.: 243).
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schematische Prozesse sind sensomotorische Funktionen, die ohne perzeptuelles Monitoring für die motorische Steuerung verantwortlich sind und habitualisierten körpermotorischen Aktionen unterliegen (Gallagher & Zahavi 2008: 146). Das Körperschema charakterisiert den Körper als „eine Art infraempirische [...] Basis für intentionale Operationen“ (Hansen 2006: 39). Hingegen konstituiert das Körperbild den Körper als „ein Objekt oder einen Inhalt des intentionalen (oder noetischen) Bewusstseins“ (ebd.). Unter Körperbild, dem Gallagher eine intentionale Veranlagung einräumt,12 versteht man ein System von Wahrnehmungen, Erfahrungen, Haltungen, Überzeugungen und Bewertungen bezogen auf den eigenen Körper, der durch „die [involvierte] bewusste körperliche Selbstwahrnehmung“ (Krois 2011: 258) das Objekt solcher intentionalen Zustände bildet (Gallagher & Zahavi 2008: 146). Sinnlich wahrnehmbare Erscheinungen des eigenen Körpers haben mannigfaltige sinnliche Modalitäten. Nur auf Grundlage des Körperschemas bildet sich ein komplexes Körperbild heraus, in dem verschiedene Perspektiven vereinheitlicht werden (Krois 2011: 258). Beispielsweise liegt dem musikalischen Körperbild, das sich im ständigen, durch auditive, propriozeptive und teilweise haptische Sinne begleiteten, reflexiven Monitoringprozess auf eigene musikalische Körperbewegungen herausbildet, das Körperschema zugrunde. Während das Körperbild in den Hintergrund tritt, wenn der Status der Habitualisierung erreicht wird, begleiten prä-reflexive, sensomotorische Prozesse sowohl die im musikalischen Gestaltungsvorgang eingesetzten musikalischen Körperbewegungen als auch den musikalischen Rezeptionsvorgang ständig (Kim 2010: 111). So können auch Kleinkinder, die noch kein Ich-Bewusstsein ausgebildet haben, (nicht explizit vermitteltes) musikalisches Wissen erwerben.
K OMMUNIKATIVE M USIKALITÄT : V ORPRÄDIKATIV MULTIMODALE I NTERAKTION UND E NTRAINMENT Die menschliche Fähigkeit, sich rhythmisch und expressiv zu bewegen, scheint nach der jüngeren kognitionswissenschaftlich orientierten entwicklungspsychologischen Forschung bereits im Ausdrucksverhalten des Säug-
12 „Ein Körperbild besteht aus einem System der Erfahrungen, Haltungen und Überzeugungen, in denen das Objekt solcher intentionalen Zustände sein eigener Körper [ist]“ (Gallagher & Zahavi 2008: 146).
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lings vorhanden zu sein. Die Entwicklungspsychologen Stephen Malloch und Colwyn Trevarthen bezeichnen diese als ‚kommunikative Musikalität‘ (communicative musicality), die mit der vorprädikativen Kommunikation zwischen Kleinkind und Mutter in Verbindung gebracht wird (Malloch & Trevarthen 2009). Ontogenetisch betrachtet, hat diese Form der Musikalität eine kommunikative Funktion, insbesondere in Bezug auf soziale Koordination und Interaktion, die nicht notwendigerweise sprachlich vermittelt sind und sich eher als vorsprachlich beschreiben lassen. Aufgrund der kommunikativen Musikalität sind wir imstande, eine Vielzahl zeitlicher Narrative zu verstehen und zu erschaffen (ebd.: 4). Kommunikative Musikalität ist nach Malloch und Trevarthen nicht auf den auditiven Bereich beschränkt, sondern multimodal vermittelt. Säuglinge reagieren auf Veränderungen der Klangereignisse – insbesondere deren Dauer und Lautstärke – sowie auf rhythmische Gesichts- und andere körperliche Bewegungen (Murray & Trevarthen 1985). 3-6 Monate alte Kleinkinder interagieren mit der Bezugsperson anhand ihrer synchronisierenden Körperbewegungen (Trevarthen & Malloch 2000; Haslbeck 2004) und können mit einer Tonhöhe ‚singen‘, die dem gesungenen Ton der Bezugsperson entspricht (Wendrich 1981). So wird Musikalität mit der Möglichkeit in Verbindung gebracht, zeitliche Erlebnisse mit anderen zu teilen und dabei die darauf folgenden Ereignisse zu antizipieren (Malloch & Trevarthen 2009: 4f.). Zusammenfassend zeichnet sich die kommunikative Musikalität durch Multimodalität und Interaktivität aus. Die bereits erwähnten empirischen Studien weisen also darauf hin, dass Kleinkinder imstande sind, unter Zuhilfenahme ihrer Musikalität mit ihrer Bezugsperson multimodal zu interagieren. Insbesondere weist ihre Interaktion rhythmische Formen synchronisierter Koordination auf. Es wäre anzunehmen, dass das Körperschema, das die eigenen Bewegungen vereinheitlicht, solcher Interaktion unterliegt, wobei es auch ohne das Hören – mit anderen Sinnesmodalitäten – auskommen könnte,13 dennoch als eine Basis für eine vorsprachlich-musikalische Interaktion dienen würde, wie verschiedene empirische Studien zeigen. Multimodale Musikalität könnte somit als eine Grundfähigkeit des Menschen verstanden werden, aufgrund derer Kleinkinder lernen, in Interaktion mit
13 Der Philosoph Michael Krois hat bereits in Bezug auf die Bildwahrnehmung diskutiert, dass der Sehsinn keine notwendige Bedingung für das der Bildwahrnehmung unterliegende Körperschema sei. Nach ihm lässt sich Bildlichkeit nicht auf das Sehen zurückführen (Krois 2011: 259 ff.)
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der Umwelt und den Mitmenschen die Anderen zu verstehen, ohne sprachlich zu kommunizieren. Unter Berücksichtigung der auf kommunikativer Musikalität basierenden vorsprachlich-musikalischen Interaktion ist das Entrainment, das solch einer Interaktion unterliegt, von Bedeutung. Entrainment bezeichnet einen Prozess, bei dem ein endogener Oszillator mit externen rhythmischen Stimuli synchronisiert oder zwei oder mehrere autonome rhythmische Oszillatoren mittels einer schwachen Kopplung interagieren und sich synchronisieren (Pikovsky et al. 2001: 8; Clayton et al. 2005: 2; Lucas et al. 2011: 75; Clayton 2012: 49). Entrainment ist also als eine Interaktion von zwei oder mehr voneinander unabhängigen rhythmischen Prozessen zu verstehen, bei der sich eine entweder gleiche oder zueinander in Relation stehende rhythmische Periodizität ergibt.14 Das Phänomen des Entrainments in der Musik, das erst in jüngeren neurokognitiven und ethnologischen Studien zur Musikwahrnehmung und musikalischen Interaktion in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, wird auf Grundlage eines metrischen Entrainments erklärt (London 2004), das als ein psychisches Phänomen entsteht, während eine Person, der innere Pulsierungen unterliegen, bei der Musikwahrnehmung auf eine musikalischrhythmische Sequenz aufmerksam macht. Bei einer musikalischen Interaktion wird neben metrischem Entrainment ein Prozess interpersonalen Entrainments angenommen, aufgrund dessen mehrere Personen rhythmisch synchron musizieren und miteinander gemeinsame musikalische Spannungen und Entspannungen gestalten können (Clayton et al. 2005; Lucas et al. 2011). Da Musik meistens von mehreren Musikern zusammen aufgeführt wird, kann davon ausgegangen werden, dass interpersonales Entrainment eine wesentliche Rolle beim Musizieren spielt und dabei gemeinsame Stimmungen entstehen lässt. Im Rahmen empirischer Untersuchungen zum Entrainment in der koreanischen schamanischen Ritualmusik, die von der Autorin in Kooperation mit der koreanischen Musikwissenschaftlerin Mikyung Lee durchgeführt wurden, wurde darüber hinaus festgestellt, dass der Trancezustand, zu dem
14 Das Phänomen des Entrainments wurde auch in physischen Systemen beobachtet: Der holländische Physiker Christiaan Huygens (1629-1695) hat im Jahr 1665 entdeckt, dass zwei Pendeluhren, die auf einer gemeinsamen Stütze platziert sind, sich im Verlauf der Zeit synchron bewegen, auch wenn deren Pendel ursprünglich eine voneinander getrennte Periodizität gezeigt haben, und dieses Phänomen als „die Sympathie der Uhren“ bezeichnet (Clayton et al. 2005: 3).
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vor allem die Schamanin aber auch die an dem Ritual Beteiligten gelangen können, sich dem Erleben des Entrainments verdankt. Dabei spielt sowohl das Selbst-Entrainment der Schamanin, die beim Trommeln oder Tanzen den musikalischen oder tänzerischen Rhythmus – je nach der eigenen, von der entsprechenden rituellen Atmosphäre evozierten Stimmung – variiert, als auch interpersonales Entrainment zwischen der Schamanin und den Musikern eine Rolle. – Letzteres führt meistens auch zum kollektiven Entrainment, das die Transzustände aller an dem Ritual Beteiligten mit sich führen kann.15 Abb. 1: Das Koreanische schamanistische Ritual Seoul-Gut
Das Entrainment zeigt sich zwar auch im Kontext sprachlicher Kommunikation, in dem das Turn-taking16 zwischen Gesprächspartnern als ein Interaktionsmodus des Gesprächs im Vordergrund steht. Beispielsweise gibt es empirische Evidenz zur Rolle des Entrainments eines Hörers in Bezug auf den Rhythmus und die Dauer des Sprechens von seinem Sprechpartner für das Turn-taking (Wilson & Wilson 2005; Benus 2009; Levitan 2015; Levitan et al. 2015). Im Fall einer nonverbalen, nicht auf dem Austausch seman-
15 Analysen der entsprechenden Audio- und Interviewdaten werden in Kürze erscheinen. 16 Der Begriff ‚Turn-taking‘, der in der Linguistik geprägt wurde, bezeichnet den Akt des Sprecherwechsels, der im Gespräch mit zwei oder mehr beteiligten Personen auftritt. – Der Begriff ‚turn‘ bezeichnet eine Sprecheinheit (Sachs et al. 1974; Wilson et al. 1984)
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tischer Informationen basierenden Interaktion, der das Entrainment unterliegt, können gemeinsame Stimmungen durch Entrainment erzeugt werden. Dabei stützt sich eine Interaktion eher auf eine Einfühlung in die sich im Zuge der nicht-repräsentationalen – wie z. B. rhythmischen – Gestaltung der Interaktionsmedien ergebende Spannung und Entspannung sowie auf eine Einstimmung in die Stimmungen der Anderen sowie der gesamten Situation, die in der irreversiblen sukzessiven Zeit entstehen, variieren und vergehen.
K ONKLUSION
UND
S CHLUSSBEMERKUNG
Musik lässt sich, wie in den Abschnitten zwei, drei und vier gezeigt wurde, insofern als nicht-repräsentationales Embodiment konzeptualisieren, als 1) ihr Sinn nicht in Bezug auf das, was sie selbst nicht ist, sondern im Akt des Embodiments chronizitär generiert wird; 2) ihr implizites Wissen ohne explizite Vermittlung auf Grundlage des Körperschemas erworben wird; und 3) sie auf multimodaler und interaktiver Musikalität basiert, die sich bereits in vorsprachlicher und nicht repräsentationalistisch orientierter Koordination zwischen Kleinkind und Mutter beobachten lässt, und der das Entrainment unterliegt, das dazu dient, gemeinsame Stimmungen durch ein als Embodiment fungierendes Ausdrucksverhalten zu erzeugen. Mit dieser Konzeptualisierung von Musik kann musikalische Praxis als zentraler Gegenstandsbereich der Musikforschung etabliert und somit die Musikforschung im Vergleich zu der zwischen den Zweigen der traditionellen Musikwissenschaft – wie z. B. Musikethnologie, Historische Musikwissenschaft, Systematische Musikwissenschaft und Popmusikforschung – Grenze ziehenden, und sich derzeit zum Teil gegenseitig ausschließenden musikwissenschaftlichen Forschung geöffnet werden. So können alle möglichen Phänomene und Verhaltensweisen, denen das Prädikat ‚musikalisch‘ zugeschrieben werden kann, in der Musikforschung gleichberechtigt wissenschaftlich behandelt werden. Denn musikalische Praxis umfasst jene Produktions- und Rezeptionsprozesse von Musik, die je nach ihrer soziokulturellen Einbettung unterschiedliche musikalische Phänomene erschaffen und berücksichtigen sowie zum Teil voneinander verschiedene musikalische Verhaltensweisen involvieren. Es ist dabei allerdings nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Forschungsmethoden und -ansätze für die eine oder die andere Musikkultur bevorzugt werden, was durch die je nach der Kultur und Gesellschaft unterschiedlichen soziokulturellen Faktoren be-
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dingt ist. In der Musikforschung wird es aber nicht um die Frage gehen, ob der eine oder andere Forschungsansatz der richtige wäre, sondern darum, welche Rolle Musik spielt und ob sie für den Menschen notwendig ist, auch wenn sie keine repräsentationale Bezugnahme auf die Welt aufweist. Die Untersuchung dieser Frage, die in der gegenwärtigen interdisziplinär ausgerichteten internationalen Musikforschung eine zunehmende Aufmerksamkeit findet, würde zu einer weiter verfeinerten Konzeptualisierung von Musik führen.
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Quälende Qualia Argumente gegen die Reduktion sinnlicher Erfahrungen auf körperliche Zustände L ARS O BERHAUS
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Gehirn befindet sich, voll funktionsfähig, aber abgetrennt vom Körper in einem Behälter, der an einen Computer angeschlossen ist und das Gehirn künstlich mit elektrischen Impulsen versorgt, so wie es ein realer Körper tun würde. Kann das Gehirn feststellen, ob es in einer realen Umgebung, also einem realen Körper, oder in einer simulierten Realität steckt? Stehen dem Körper alle relevanten neurobiologischen Daten zur Verfügung, die für Bewusstseinsinhalte relevant erscheinen? Kann das Subjekt Musik erleben und verstehen? Kann es ästhetische Wahrnehmungen machen? Ein zweites Gedankenexperiment, das mit dem vorigen in enger Verbindung steht: „Mary is a brilliant scientist who is, for whatever reason, forced to investigate the world from a black and white room via a black and white television monitor. She specializes in the neurophysiology of vision and acquires, let us suppose, all the physical information there is to obtain about what goes on when we see ripe tomatoes, or the sky, and use terms like ‚red‘, ‚blue‘, and so on. She discovers, for example, just which wavelength combinations from the sky stimulate the retina, and exactly how this produces via the central nervous system the contraction of the vocal cords and expulsion of air from the lungs that results in the uttering of the sentence ‚The sky is blue‘. [...] What will happen when Mary is released from her black and white room or is given a color television monitor? Will she learn anything or not“ (Jackson 1986: 130)?
Was auf den ersten Blick wie der Beginn einer Horrorgeschichte erscheint, sind zwei bekannte Gedankenexperimente aus dem Bereich der Philosophie des Geis-
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tes (Philosophy of Mind). Das erste Brain in Vat-Experiment stammt von Daniel Dennett (Dennett 1978), das zweite Mary-Experiment von Frank Jackson (Jackson 1982). Beide haben eine breite Kontroverse nach sich gezogen (Lodge 2001; Ludlow & Nagasawa 2004; Metzinger 2006). Dabei findet sich auch eine Übertragung auf eine musikbezogene Umgebung, in der ein tauber Wissenschaftler, dem alle neurobiologischen Grundlagen des Hörens zur Verfügung stehen, plötzlich hören kann. „Imagine that a deaf scientist should become the world’s leading expert on the neurology of hearing. Thus, […] we can imagine that he knows everything that there is to know about the physical processes involved in hearing, from the ear-drum in. It remains intuitively obvious that there is something which the scientist will not know, namely what it is like to hear” (Robinson 1982: 4).
In den Gedankenexperimenten geht es zum einen um die Frage, ob es einen Unterschied macht, sinnliche Wahrnehmungen zu erleben oder sie zu kennen bzw. zu verstehen. Zum anderen wird hinterfragt, ob individuelle sinnliche Wahrnehmungserlebnisse auf neuronale Gehirnzustände zurückgeführt, reduziert, mit ihnen gleichgesetzt und physikalisch erzeugt werden können oder ob sie an einen sinnlich sich in einer Umwelt befindenden bzw. situierten Körper gebunden sind. Es scheint in diesem Zusammenhang kein Geheimnis zu sein, René Descartes als Urvater des Gedankenexperiments auszumachen, der mit ‚cogito ergo sum‘ die Außenwelt (res extensa) angezweifelt und nur dem Denken selbst (res cogitans) absolute Gewissheit zugesprochen hat (Descartes 1961 [1641]). Die Folge ist ein bekannter Körper/Geist- oder Leib/Seele-Dualismus, der nicht nur in der Philosophie für Kopfzerbrechen gesorgt hat.1
Q UALIA ODER ZU HABEN
W IE
ES IST , MUSIKALISCHE
E RFAHRUNGEN
Die in den Gedankenexperimenten thematisierten Fragen kreisen um den Stellenwert und die physikalische Beweisbarkeit sinnlicher Wahrnehmungen, die
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Der Dualismus verweist auf ein bestimmtes Körperbild, das funktionalistisch im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas gedacht ist und deterministisch bestimmte Sinnesreize zu Erfahrungen verarbeitet.
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auch als Qualia bezeichnet werden.2 Qualia sind mentale Zustände (individuelles Erleben, Ich-Zustände, Subjektivität, Bewusstsein), die einen bestimmten phänomenalen Gehalt besitzen (Horowitz 1998) wie etwa Farb- und Tonwahrnehmungen oder auch emotionale Befindlichkeiten. Solche sinnlichen Wahrnehmungen sind als ‚pures Erleben‘ (raw feel) nur der Person zugänglich, die diese Erlebnisse hat. Es fühlt sich auf eine bestimmte Art und Weise an, in diesem Zustand zu sein, wie Thomas Nagel in seinem berühmten Aufsatz What it is like to be a bat (1974) formuliert hat. Dieses ‚wie es ist‘ (how it is like to be) ist der phänomenale Gehalt des Qualia-Erlebens. So ist es völlig undenkbar, einem Tauben zu erklären, was Jazzmusik ist: „You ask: What it is like that philosophers have called qualitative states? I answer, only half in jest: As Louis Armstrong said when asked what Jazz is: If you got to ask, you ain’t never gonna get to know“ (Block 1978: 281).
Diese erste Person Perspektive – auch innerer oder epistemischer Zugang genannt – wirft eine Reihe von Problemen auf. Die Grundfrage lautet, ob Qualia ausschließlich subjektiv zugänglich sind und/oder neurophysiologischen Gesetzen unterliegen. Deren Beweisbarkeit stellen das „hard problem“ (Chalmers 1995: 1) des Bewusstseins dar. Solche Qualia gelten als „Lieblingskinder der Bewusstseinsphilosophen“ und es gibt „kaum noch einen Hirnforscher, der das Wort ‚Qualia‘ nicht kennt“ (Metzinger 1996: 43). Zwischen beiden Ansätzen gibt es neben Annäherungen aber auch deutliche Abgrenzungen, wobei „oftmals nicht die empirischen Daten, sondern die (metaphysischen) Schlussfolgerungen Anlass zum Diskutieren geben“ (Spät 2010: 8; siehe auch Dennett 1993). Qualia sind sowohl für die Philosophie des Geistes als auch für die neurobiologische Bewusstseinsforschung (Kognitionsforschung und Wahrnehmungspsychologie) von großer Bedeutung. Allerdings bestehen deutliche Unterschiede in der Annahme von deren ‚Beweisbarkeit‘. Während sich die Neurophysiologie mittels empirischer Verfahren‚ also von außen, auf den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns (und der Verarbeitung von Sinneseindrücken) konzentriert, besteht das ‚philosophische Projekt‘ darin, die Beziehungen zwischen
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Der Begriff Qualia geht auf Charles S. Peirce zurück und wird als Fachterminus erstmals 1929 durch Clarence I. Lewis in Mind and the World Order eingeführt (Lewis 1956). Bereits im Universalienstreit der Antike wurde diskutiert, ob Allgemeinbegriffe (wie z. B. rot) ontologische Relevanz besitzen. Aus musikpädagogischer Perspektive siehe auch Kaiser 2014.
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Innen- und Außenwelt zu hinterfragen, um Begründungen für oder gegen eine mental-physikalische Verknüpfung zu finden. Zu dem Mary-Gedankenexperiment finden sich unterschiedliche Stellungnahmen. Sie sind für die Thematik des Erlebens und Verstehens von Musik mit dem Körper bedeutsam, da unterschiedliche Strategien angeführt werden, äshetische Erfahrung an bestimmte Körperzustände zu binden und zu funktionalisierten.
A RGUMENTE GEGEN F UNKTIONALISMUS
DEN
R EDUKTIONISMUS
UND
Frank Jackson geht davon aus, dass Mary durch den Eintritt in eine Farbumgebung eine neue Tatsache (Wissen oder Erfahrung) lernt (Knowledge-Argument), da sie diesen phänomenalen Charakter von Farbe vorher nicht kannte. Daraus schließt er, dass der Physikalismus im Sinne der Gleichsetzung physikalischer Eigenschaften mit ästhetischen Erfahrungen (mentalen Zuständen) falsch ist. „It seems just obvious that she will learn something about the world and our visual experience of it. But then it is inescapable that her previous knowledge was incomplete. But she had all the physical information. Ergo there is more to have than that, and Physicalism is false“ (Jackson 1982: 130).
Andere Positionen heben hervor, dass Mary kein neues Wissen, sondern eine neue Fähigkeit (Ability-Argument) oder einen neuen Zugang (AcquaintanceArgument) zu bereits vorhandenem Wissen erwirbt (Lewis 1983 sowie Ryle 1949). Über diese klassischen Argumente hinaus gibt es Versuche, die Kritik am Physikalismus über so genannte invertierte (inverted) und fehlende (absent) Qualia zu beweisen. Bei invertierten Qualia werden Sinnesempfindungen ‚umgekehrt‘ wahrgenommen. Insofern – in Form eines Gedankenexperiments – zwei physiologisch identische Individuen unterschiedliche Qualia besitzen, ist der Physikalismus falsch. Trotz einer gewissen Ad-Hoc-Plausibilität scheinen alle Gedankenexperimente an der Akzeptanz der Prämissen zu scheitern. Der Mensch ist nicht in der Lage, sich jemanden wie Mary vorzustellen, die ‚vollständiges Wissen‘ besitzt (Dennett 1993: 399). Zudem beinhaltet das Gedankenexperiment eine Erklärungslücke (explanatory gap), die es unmöglich macht, den qualitativen Gehalt sensorischer Zustände durch Rekurs auf deren physikalische Eigenschaften zu erklären (Levine 1983).
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B EGRÜNDUNGSSTRATEGIEN P HYSIKALISMUS – E PIPHÄNOMENALISMUS – D UALISMUS Die verschiedenen Sichtweisen auf Qualia lassen sich in drei Argumentationslinien zusammenfassen.3 Physikalismus Der Physikalismus geht davon aus, dass Qualia mit physikalischen Zuständen identisch sind (Dretske 1995; Beckermann 1995;Tye 1995). Ein strenger Physikalismus unterliegt demnach dem Identitätsgesetz, welches die Gleichsetzung von mentalen mit neuronalen Zuständen beschreibt. So wie Wasser mit H2O identisch ist, ist auch ein mentaler Zustand mit einem Gehirnzustand identisch. Eine derzeit weit verbreitete und abgeschwächte Form des Physikalismus ist der Repräsentationalismus. Sinnliche Wahrnehmungen stehen für etwas, d. h. sie repräsentieren einen Inhalt (repräsentationaler Inhalt; propositionaler Gehalt; Levine 1997; Kim 1999). „The Representational Thesis identifies the qualities of experience – qualia – with the properties objects are represented as having“ (Dretske 1995: 65).
Das Gehirn ist demnach ein repräsentationales System, das Sinnesdaten verarbeitet und auf einer übergeordneten Ebene repräsentiert. Dieses Verständnis relativiert insofern das Identitätsgesetz, da es sich um funktionale Zuschreibungen handelt. Ein Metronom ist z. B. eine Art System, das auf dem Zeigerblatt bestimmte Zustände darstellt, welche Informationen über eine Eigenschaft (Tempo) liefern. Der Informationsgehalt des Metronoms repräsentiert das Tempo, aber nicht die Zahl der Pendelschläge, da es die Funktion besitzt, welche die Konstrukteure des Metronoms ihm zugewiesen haben. Es handelt sich also um eine normative Festlegung, da es einen bestimmten Zweck erfüllt. Das gilt auch für das Gehirn als repräsentationales System.
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Siehe das so genannte Bieri-Trilemma in Bieri 1981: 9.
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Dualismus Der Dualismus gliedert sich in einen Substanz- und einen Eigenschaftsdualismus. Nach dem Substanzdualismus gibt es getrennte voneinander unabhängige materielle (Körper) und immaterielle Entitäten (Geist). Ein interaktionistischer Substanzdualismus geht davon aus, dass das Physische das Mentale, und umgekehrt das Mentale das Physische beeinflusst. Ein Haupteinwand gegen diese Grundannahme lautet, dass durch Interaktionen das Gesetz der Energieerhaltung verletzt werden würde, da Energie entweder dem Nichts entstehen (Geist auf Körper = mentale Verursachung) oder eine Art Überschuss bilden müsste (Körper auf Geist). Eigenschaftsdualisten gehen dagegen von einer Entität aus, die körperliche und geistige Eigenschaften besitzt. Nach dem idealistischen Eigenschaftsdualismus existiert der Geist ohne Körper, aber der Körper nicht ohne Geist. Nach dem materialistischen Eigenschaftsdualismus existiert der Körper ohne den Geist, aber der Geist nicht ohne Körper. Weitestgehend wird heutzutage ein materieller Eigenschaftsdualismus vertreten, indem das Gehirn als materieller Träger mentale Erlebnisse bereitstellt. Epiphänomenalismus Für den materialen Eigenschaftsdualismus gibt es derzeit viele Varianten, die zur Diskussion stehen. Der Epiphänomenalismus geht davon aus, dass mentale Zustände zwar durch physikalische Zustände verursacht werden, diese aber umgekehrt keinen kausalen Einfluss auf die physikalische Welt ausüben. „Epiphenomenalism is true – the view that mental states are caused by physical states, but have no causal effects on the physical world“ (Chalmers 1996: 192).
Thomas Huxley, Begründer des kausalen Epiphänomenalismus, bezeichnet Qualia daher als Töne der Dampfpfeife einer Lokomotive, die vom physischen Mechanismus erzeugt werden, selbst aber keine Arbeit leisten (Huxley 1978). Qualia sind somit „geistige Sackgassen“ (Schröder 2004: 41) und Begleiterscheinungen (Epiphänomene) mit keinerlei Wirkung auf die physische Realität. Folglich sind auch körperliche Symptome nicht Folgen von phänomenalen Wahrnehmungen (z. B. Schreien durch Schmerzen), sondern zugrunde liegende Gehirnzustände. Der kausale Epiphänomenalismus ist in den letzten Jahren zu einem nicht-kausalen Epiphänomenalismus weiter entwickelt worden und wird auch als Supervenienz (von lat. super ‚über‘ und venire ‚kommen‘) bezeichnet. Physische
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Eigenschaften legen geistige fest, ohne sie zu verursachen. Zugleich sind die geistigen Eigenschaften nicht kausal wirksam (Chalmers 1995).
V ON
DEN
Q UALIA
ZUM
E MBODIMENT
Was haben diese Überlegungen, in denen die Qualia, welche als Bewusstseinszustände ja die Nicht-Körperlichkeit repräsentieren, mit dem Erleben und Verstehen von Musik mit dem Körper zu tun? Wie bereits oben angeführt hat dies erstens mit einem Körperverständnis zu tun, das die ‚Ganzheitlichkeit‘ sinnlichkörperlicher Erfahrungen zur Musik auf einen physikalischen Prozess reduziert, der primär im Gehirn abläuft bzw. vom Gehirn als Verarbeitungsinstanz dominiert wird. Der Stellenwert des Körpers wird reduziert und erscheint im Bereich der Verarbeitung von Sinnesdaten vorgeordnet. Ästhetische Erfahrungen, wie Musik erleben und verstehen, werden zweitens durch neurophysiologische Prozesse erklärbar (funktionalisiert). Demnach ‚korreliert‘ die (erlebte) Bewegung zur Musik zumindest ansatzweise mit der Aktivierung neuronaler Areale bzw. sie wird repräsentiert. Drittens werden die Umwelt und die begegnenden Subjekte ‚ausgeblendet‘ und es entsteht ein Solipsismus, da nur das Gehirn für sich alleine die Erfahrungen repräsentiert. Viertens geht es in den Gedankenexperimenten auch darum, neurobiologische Forschungen (voreilig) als ein Schreckensgespenst zu verurteilen, weil die Angst besteht, durch einen ‚Blick in das Gehirn‘ ästhetische Erfahrungen und die Eigenständigkeit des Musikerlebens beweisen und verallgemeinern zu können. Entscheidend ist, dass es in letzter Zeit verschiedene Versuche in den Kognitionswissenschaften gegeben hat, diese aus dem Qualia-Experiment abgeleiteten Intentionen und Folgen, die letztlich immer auch auf einen Dualismus zurückzuführen sind, zu überwinden. Es handelt sich dabei um Forschungen zum Bereich Embodiment. Zahlreiche aktuelle Studien gehen davon aus, dass der Körper in der ‚traditionellen Kognitionswissenschaft‘ unzureichend berücksichtigt wurde. „In general, dominant views in the philosophy of mind and cognitive science have considered the body as peripheral to understanding the nature of mind and cognition. Proponents of embodied cognitive science view this as a serious mistake. […]. Embodiment Thesis: Many features of cognition are embodied in that they are deeply dependent upon characteristics of the physical body of an agent, such that the agent’s beyond-the-brain body plays a significant causal role, or a physically constitutive role, in that agent’s cognitive processing“ (Wilson & Foglia 2015: 1).
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Aus Sicht des Embodiments wird ein erweitertes Verständnis von Kognition angenommen, das auch sensomotorische Bereiche sowie den gesamten Spielraum von Verhalten in der Umwelt (environment) mit berücksichtigt.4 Embodiment wird daher auch als situierte (situated), erweiterte (embedded) oder geerdete (grounded) Kognition verstanden (Wilson & Foglia 2015 sowie Barsalou 2008).
T RADITIONELLE A NSÄTZE IN DER K OGNITIONSWISSENSCHAFT : M ODULARITÄT
DES
G EISTES
Zu Beginn der kognitiven Wende, die stark von den Erkenntnissen der Informatik und Computertechnik geprägt war, entstanden formale Modelle der Wissensrepräsentation, die auf der kognitiven Verarbeitung körperbezogener Reize basierten. Jerry Fodor geht von einer Zuordnung von geistigen Fähigkeiten zu abgrenzbaren neuronalen Strukturen aus (Fodor 1983). Diese Module können in abgrenzbaren Regionen des Gehirns lokalisiert werden. Unter Bezugnahme auf die Schädellehre (Phrenologie) beschreibt er auch die Praxis eines Musikers und verortet Wahrnehmung, Urteilsvermögen und Tongedächtnis in unterschiedlichen Gehirn-Modulen. „Take the musician. He would not be a musician if he did not perceive the relation of tones, if he had no memory of music, if he could not judge of melody and harmony. […] Thus attention, perception, memory, judgment and imagination are nothing else than different modes of action of every one of the fundamental capacities. We have to discover the fundamental powers of the mind, for it is only these that can have separate organs in the brain” (Franz Joseph Gall, zit. nach Fodor 1983: 238).
Musikalische Wahrnehmungen stehen demnach in Verbindung zur Modalität des Gehirns und sind im Gehirn lokalisierbar. Aktuelle Forschungen im Bereich Embodiment kritisieren diese Sichtweise und heben explizit hervor, dass Kognitionen von sich körperlich aktiv und direkt in der Umwelt bewegenden und wahrnehmenden Subjekten abhängig sind (Clark 2008). Mentale Repräsentationen sind aus dieser Sicht multimodal. Symbolische (z. B. linguistische) Repräsentationen und nicht-symbolische (z.B. perzeptuelle) Repräsentationen haben das gleiche Format (bzw. finden sich gleichzeitig in unterschiedlichen Gehirnarealen). Mentale Repräsentationen, die bei der Verarbeitung von Sprache eine
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Siehe auch den Beitrag von Kim im vorliegenden Band.
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Rolle spielen, korrelieren mit den Repräsentationen, die bei der sinnlichen Wahrnehmung entstehen. Aus Sicht der Embodiment-These besitzt das Gehirn nur wenige angeborene Fähigkeiten und lernt insbesondere durch Interaktion mit der Umwelt.
A KTUELLE KOGNITIONSPSYCHOLOGISCHE A NSÄTZE M ULTIMODALITÄT UND E MBODIMENT Ecological Perception Der von James Gibson entwickelte Ecological Approach (ökologische Ansatz) stellt Zusammenhänge zwischen Wahrnehmungsprozessen und der Spezifik der arteigenen Lebenserhaltung her. Die natürliche oder kulturelle Umwelt stellt für jedes Lebewesen unterschiedliche Angebote (affordances) zum Handeln bereit. „Unter den Angeboten (affordances) der Umwelt soll verstanden werden, was sie dem Lebewesen anbietet (offers), was sie zur Verfügung stellt (provides) […] Zum Ausdruck bringen soll es die Komplementarität von Lebewesen und Umwelt“ (Gibson 1982: 137).
Ein Angebot ist zugleich ein Faktum der Umwelt als auch eines des Verhaltens. Es ist sowohl etwas Physisches als auch etwas Psychisches, und doch keines von beiden. Ein Angebot weist in beide Richtungen, auf die Umwelt und zum Beobachter (ebd.: 139). „Wenn ich also davon ausgehe, dass die Wahrnehmung der Umwelt direkt ist, meine ich, daß sie nicht durch Netzhautbilder, neuronale Bildmuster oder geistige Vorstellungsbilder vermittelt wird. Direkte Wahrnehmung geht aktiv darauf aus, Informationen aus der umgebenden Lichtanordnung zu finden“ (ebd.: 159).
Eine Maus stellt als Beute für eine Katze ein anderes Angebot dar als für einen Menschen. Insofern ergibt sich eine aus der in der Umgebung lebender Lebewesen begründete spezifische Orientierung. Insbesondere Forschungen zur visuellen Wahrnehmung verdeutlichen deren Eingebundenheit in die menschliche Umgebung. Damit wird der kognitivistische Versuch der Beschreibung menschlicher Umwelt als unspezifische physikalische aufgegeben. Wahrnehmung basiert auf der Möglichkeit die Angebote einer Situation d. h. die Möglichkeiten zu handeln zu erkennen. Dies hat auch Konsequenzen für das Verständnis des Kör-
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pers, denn man muss motorisch gelernt haben zu sehen (Kopfbewegungen etc.), damit man überhaupt das sehen kann, was man sehen will. „Tiere und Menschen verhalten sich zuerst, und danach bestimmt sich der Aufbau der sensorischen Welt“ (Roth 1996: 320).5 Abb. 1: Veränderung der visuellen Wahrnehmung durch Bewegungsveränderungen
Quelle: Gibson 1982: 54.
Enactive Approach In The Embodied Mind (1991) haben Francesco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch eine Theorie entwickelt, die auf leibphänomenologischen, kognitionspsychologischen und buddhistischen Ansätzen beruht. Sie thematisiert die Aufhebung des traditionellen Dualismus im Sinne der Trennung zwischen einer externen Außenwelt und internen symbolischen Repräsentationen. Das kognitive System ist eingebunden bzw. benötigt ein Feedback von verkörperlichten Aktionen eines situierten Subjekts. Der Begriff ‚Enaktivismus‘ umschreibt diese direkte Kopplung einer ‚brain-body-world‘. Lebewesen interagieren durch den situierten Körper (situated living body) als ‚complete agents‘ körperlich mit der
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Im Rahmen dieser Theorie lassen sich Untersuchungen von George Lakoff und Mark Johnson im Bereich der Metapherntheorie anführen. Demnach sind Metaphern durch visuelle und körperliche Schemata fundiert und werden im Laufe des Lebens inkorporiert (Lakoff & Johnson 1980).
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Umwelt. Kognition ist also ein dynamischer Prozess, basierend auf einer sensomotorischen Grundlage, indem die Welt ‚erfahren‘ und nicht nur neuronal verarbeitet wird. „Consequently, cognition is no longer seen as a problem solving on the basis of representations; instead, cognition in its most encompassing sense consists in the enactment or bringing forth a world by a viable history or structure“ (Varela et al. 1991: 5).
Der Enaktivismus versteht Kognition als Merkmal lebendiger Organismen, das erst in der aktiven Interaktion autonomer und adaptiver Systeme mit ihrer Umgebung hervorgebracht (enacted) wird. Höherstufige kognitive Leistungen sind demnach Weiterentwicklungen jenes grundlegenden Prozesses einer Sinnstiftung (sense-making), durch den einfachste Lebewesen die sie umgebende Welt perspektivisch in einen Ort von subjektiver Bedeutung und damit in eine Umwelt im eigentlichen Sinne transformieren. Hierdurch wird die sogenannte ‚Kontinuitätsthese von Leben und Geist‘ (continuity thesis of life and mind) hervorgehoben, wonach lebendige Systeme kognitive Systeme sind und der Prozess des Lebens ein Prozess der Kognition ist (Maturana & Varela 1980). Hinter dieser zunächst eigenwillig erscheinenden Gleichsetzung steht die Überlegung, dass sich Kognition als Prozess der Sinnstiftung aus der Interaktion von Systemen mit ihrer Umgebung ergibt und lebendige Organismen immer schon im entsprechenden Sinne autonom und adaptiv sind. Kognition ist für den Enaktivismus also eine verkörperlichte Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt und hat ihren Platz mithin nicht ausschließlich im Gehirn. Aktuelle Vertreter des sensomotorischen Enaktivismus, wie z. B. Alva Noë, gehen davon aus: „Perception is not something that happens to us, or in us. It is something we do“ (Noë 2004: 1). In Bezug auf den Körper bedeutet dies: „To see as we do, you must have a sensory organ and a body like ours“ (ebd.: 112). Diese Verbindung von Wahrnehmen und Handeln spiegelt sich auch in der alternativen Bezeichnung sensorimotor approach wieder. „By using the term embodied we mean to highlight two points: first that cognition depends upon the kinds of experience that come from having a body with various sensorimotor capacities, and second, that these individual sensorimotor capacities are themselves embedded in a more encompassing biological, psychological and cultural context“ (Varela et al. 1991: 172f.).
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Grounded Cognition In jüngster Zeit wurde auch auf empirischer Basis in der Grounded Cognition (geerdete Kognition) eine wechselseitige Beeinflussung von mentalen Zuständen und bestimmten Körperzuständen angenommen (Barsalou 2008). Auch hier wird auf multimodaler Basis davon ausgegangen, dass Kognition auf Simulationsprozessen beruht, wobei auf neuronalem Weg das sensomotorische System benutzt und reaktiviert, d. h. der gesamte Körper mit einbezogen wird. Die Simulation bezeichnet die Wiederherstellung perzeptiver, motorischer und introspektiver Zustände (Erlebnisse; qualia), die bereits in situierten Situationen erworben wurden. „Simulation is the reenactment of perceptual, motor, and introspective states acquired during experience with the world, body, and mind. As an experience occurs (e.g., easing into a chair), the brain captures states across the modalities and integrates them with a multimodal representation stored in memory (e.g., how a chair looks and feels, the action of sitting, introspections of comfort and relaxation). Later, when knowledge is needed to represent a category (e.g., chair), multimodal representations captured during experiences with its instances are reactivated to simulate how the brain represented perception, action, and introspection associated with it“ (Barsalou 2008: 618f.).
Alle drei Ansätze verdeutlichen, dass keine strikte Unterscheidung, Wertigkeit und Ordnungshierarchie zwischen mentalem Zustand und Körpererleben gemacht wird. Der Wahrnehmungsprozess selbst hängt von der Beschaffenheit des Körpers und seiner spezifischen Interaktion mit der Umwelt ab, so dass „mentale Prozesse nicht auf ihre neuronalen Korrelate“ reduziert werden können (Gruhn 2014: 94). Das Gehirn ist vielmehr ein „Sozialorgan“ (Hüther 2002), das sich im wechselseitigen Austausch mit dem eigenen Körper steht und ein bestimmtes von der Umwelt bereitgestelltes ‚Betriebsklima‘ benötigt.
B EZÜGE
ZUR MUSIKBEZOGENEN
B EWEGUNGSFORSCHUNG
Traditionelle Vorstellungen im Bereich der neurobiologischen Grundlagen zur Musik-Wahrnehmung gehen davon aus, dass sinnlich-ästhetische Erfahrungen auf gegebenen Reizen basieren, wie sie auf der Hörschnecke (Cochlea) abgebildet und dann neuronal verarbeitet werden. Einzelne Körperteile auf dem somatosensorischen Kortex finden eine ‚Entsprechung‘ (Homunculus). Der Vorgang
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beruht also „auf neurobiologischen Grundlagen“ und „folgt psychoakustischen Gesetzen“ (Gruhn 2014: 31). Entscheidend insbesondere für das Verstehen von Musik erscheint der bereits angesprochene Begriff Repräsentation. Er verdeutlicht das Übertragen sinnlicher Wahrnehmungen in neuronale Aktivierungsmuster. Lernen vollzieht sich somit „durch Aufbau und Änderung von Repräsentationen“ (Gruhn 2014: 65). Im Bereich der Wissensrepräsentation unterscheiden Neuropsychologen zwischen einem expliziten (deklarativen) Wissen über verschiedene Sachverhalte und einem prozeduralen Wissen als Handlungswissen (knowing that und knowing how). Letzteres bezieht sich dabei auf „motorische Fähigkeiten und einfache Wahrnehmungsleistungen“ (ebd.), wobei deklaratives Wissen codiert gespeichert wird. In Bezug auf diese Unterscheidung sowie Untersuchungen von Jeanne Bamberger lassen sich zwei unterschiedliche Typen musikalischer Vorstellung unterscheiden, die als figural und formal bezeichnet werden. Figurale Vorstellungen basieren auf konkreten Handlungsfolgen, die auf körperlich vollzogenen Aktionen beruhen. Durch Automatisierungsprozesse vollzieht sich eine andere Qualität der Vorstellungen, die nun auch ‚innerlich‘ vorgestellt werden können im Sinne einer „inneren Reproduktion als Struktur“ (ebd.). Die Fähigkeit, Musik unabhängig von ihrer realen Dauer und körperbezogenen Produktion zu verstehen, wird unter Bezugnahme auf Edwin Gordon als Audiation bezeichnet und aus lerntheoretischer Sicht auch als höherwertige Stufe einer formalen Repräsentation verstanden (Gordon 2003 [1980]). Interessant erscheint bei diesem Ansatz, dass der Stellenwert des Körpers als sekundär und hierarchisch nachgeordnet betrachtet wird, da er die relevanten Reize im Gehirn zur Verfügung stellt. Die figurale Repräsentation basiert auf sensomotorischem Wissen und die formale Repräsentation auf neuronalem symbolischem (deklarativem) Wissen. Hierdurch erfolgt eine Aufwertung des SachWissens (deklaratives Wissen, knowing that) gegenüber musikbezogenen Tätigkeiten (prozedurales Wissen, knowing how) und ein Verschwinden des Körpers: „Audiation takes place when we hear and comprehend music for which the sound is no longer or may never have been physically present“ (Gordon 1993: 13). Aus neurobiologischer Sicht ist hierbei die Frage relevant, ob sich für figurale und formale Repräsentationsbildungen bestimmte neuronale Korrelate finden lassen. Musik verstehen ist dann die Aktivierung oder Veränderung einer mentalen Repräsentation in der Wahrnehmung von etwas als etwas. Musik- und körperbezogenes Erleben führt also in Prozessen der Umcodierung zur Bildung mentaler Repräsentationen und zum Verstehen. Dieser Prozess wird auch als „Sprung“ (Gruhn 2008: 91) bezeichnet.
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Lernen geschieht also durch Reorganisation und Rekonstruktion bereits erworbener Repräsentationen im Sinne des „Einschleifens von Wahrnehmungsspuren“ (ebd.: 13), denn nur was „neuronal bereits repräsentiert ist, kann im Kognitionsvorgang aktiviert werden“ (ebd.: 95). Ein Ziel der neurobiologischen Forschung ist es folglich, regelgeleitete Strukturen von Musik im neuronalen Netzwerk zu erkennen und als Basis für weitere festigende, verdichtende oder kategorisierende ‚Verstehensleistungen‘ zur Verfügung zu stellen. Die musikbezogene Repräsentationstheorie ist (insbesondere in der Musikpädagogik) intensiv diskutiert worden.6 Gleichermaßen hat sich das Modell bis heute gehalten und nicht zuletzt einen nachhaltigen Niederschlag in bestehenden Lehrplänen oder didaktischen Ansätzen gefunden. Kritiker berufen sich implizit auf das Argument der Erklärungslücke in der Qualia-Diskussion, da Repräsentationen keinen Kausalzusammenhang zur ästhetischen Erfahrung aufweisen. Es sei unklar, ob mit Repräsentationen „ein rein neurobiologisches Faktum oder ein phänomenales Korrelat angesprochen werden soll“ (Kaiser 2004: 21). Repräsentationen werden „lediglich postuliert bzw. spekulativ erschlossen“ (Flämig 2004: 102). Der Nachweis neuronaler Aktivitäten in Form bildgebender Verfahren (CT; MRI etc.) ist noch kein Grund zur Annahme musikalischen Verstehens. Wie neuronale Aktivitäten miteinander im Einzelnen ‚verrechnet‘ werden, „um zu einer einheitlichen Wahrnehmung zu führen, ist noch nicht völlig geklärt“ (Spitzer 2006: 173). Ziel der Argumentation ist, den Selbstwert von Qualia (auch ohne den Körperbezug) hervorzuheben: Individuell-sinnliche Erfahrungen (in Sinne von Qualia) sind „mentale Akte, die für sich stehen“ (Kaiser 2004: 30). Das Musikwerk „ist ein Singulare Tantum, dem man in seiner Einzigartigkeit in der ästhetischen Erfahrung begegnen muss“ (Vogt 2004: 60). Oder ganz deutlich: „Wir erleben keine physikalischen Schallwellen oder neuronale Erregungsmuster, sondern erleben phänomenal einen Bewusstseinszustand, der nur zum Teil versprachlicht bzw. verbildlicht werden kann“ (Hartogh 2005: 39). An diese Argumente schließen sich im Übrigen neurobiologische Forschungen an, die einen Kausalmechanismus strikt von sich weisen. „However, we must consider that in no means can we assume the presence of a causal connection between some neural activation and a particular phenomenal quality. Rather, we must acknowledge that the qualitative dimension of learning cannot be read from brain activation“ (Gruhn & Rauscher 2008: 269).
6
Kritisch zur musikalischen Repräsentationstheorie siehe Flämig 2004; Kaiser 2004 und Vogt 2004.
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In aktuellen Veröffentlichungen führt Gruhn den Begriff Embodiment in Bezugnahme auf körperliche Repräsentation („corporeal representation“ (Gruhn 2012: 8)) ein, die den Transformationsprozess figuraler in mentale Zustände umschreiben. Letztlich ist der Begriff unklar, da mentale Zustände ja entkörperlicht bzw. inkorporiert sind und die für den Bereich Embodiment direkt verfügbare Umwelt ausgeblendet wird. „Therefore, we would like to introduce the concept of musical embodiment as another type of representation, which might be called corporeal representation. Whatever we do and however we act, all of our motions engrave traces in the brain. This determines the process of how we can develop mental and neural representations“ (Gruhn 2012: 8).
Auffallend ist, dass sich Gruhn, der das Modell in die Musikpädagogik eingeführt hat, nicht zu diesen Kritikpunkten geäußert hat, so dass die Auseinandersetzung nicht zu Ende geführt wurde. Bemerkenswert ist allerdings, dass er jüngst ein Buch zur musikalischen Bewegungsforschung verfasst hat, das sich explizit mit dem Stellenwert des Körpers im Musizieren auseinandersetzt (Gruhn 2014). Dies ließe sich auch als Aufwertung des Körpers im Bereich des Erwerbs mentaler Repräsentationen interpretieren.
E MBODIMENT IM B EREICH MUSIKBEZOGENER W AHRNEHMUNGS - UND P RODUKTIONSPROZESSE Im Bereich musikbezogenen Embodiments kann zunächst festgehalten werden, dass der Körper als Medium der Musikproduktion und -rezeption unverzichtbar ist. Jede erklingende Musik verweist auf menschliche Bewegungen, die diese produziert oder hervorgebracht haben. Das enge Verhältnis zwischen Musik und Körper wird aus wissenschaftlicher Sicht insbesondere im Bereich der Musikermedizin deutlich, wie z. B. bei Musikererkrankungen. Unterschiedliche musikwissenschaftliche Ansätze heben hervor, dass musikalischer Ausdruck unmittelbar mit der körperlichen Ausführung zusammen hängt.7 Der Mensch verkörpert sich durch Musik. In diesem Zusammenhang wird herausgestellt, dass Wahrnehmung (perception) in engem Bezug zum Handeln (Bewegung, action) steht.
7
Siehe z. B. die von Theodor Lipps eingeführten Begriffe ‚Ausdrucksbewegung‘ und ‚Einfühlung‘ in Lipps 2005 [1903].
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Marc Leman verdeutlicht aus musikalischer Sicht die Beziehung zwischen körperlicher Gestaltung und sinnlicher Wahrnehmung anhand eines actionreaction-cycles. Abb. 2: Action-Reaction-Cycle.
Quelle: Leman 2007: 53.
Die körperbezogene Tonproduktion erzeugt Schwingungen, die gehört werden und wiederum das Bewegungsspiel beeinflussen. So einfach dieses Modell auch gehalten sein mag, verdeutlicht es ein fundamentales Wechselverhältnis: „Thus, the action-reaction-cycling provides a dynamic model of how action and perception interact with the physical and cultural environemts (Leman 2007: 56). Das Modell verweist darauf, dass Körperbewegungen der Spieler sich in Einklang mit den musikalischen Phrasen, ihrer Artikulation und dem expressiven Gehalt der Musik befinden. Musik (ihre Agogik und Dynamik) wird in den Bewegungsgesten der Musiker direkt widergespiegelt bzw. verkörpert (Plessner 1980; Richter 1987). Durch die Darstellung von Ausdrucksgesten entsteht ein Interaktionsvorgang, so dass Gesten als ‚Erlebnisgesten‘ intersubjektiv nachvollzogen und als kulturspezifische Codes auch verstanden werden (Gruhn 2014: 100; Juslin & Sloboda 2010). Aber auch der Höreindruck evoziert musikgebundene Handlungen und daran gebundene Inszenierungen (z. B. Marschmusik): Solche kinematischen Gesten tragen somit zu einer „motorischen Kognition“ bei (Gruhn ebd.: 100; siehe auch Jeannerod). Der Begriff umschreibt treffend, inwieweit körperliche Darstellungen von Musik selbst ‚Verstehenspotenziale‘ beinhalten.
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Deutlich wird ein neues bzw. anders gelagertes Lernverständnis, indem das ‚Verstehen‘ als innerer Vollzug musikimmanenter Gesten aufgefasst wird. Da der Wahrnehmungsprozess selbst von der Beschaffenheit des Körpers und seiner spezifischen Interaktion mit der Umwelt abhängt, lassen sich mentale Prozesse nicht auf ihre neuronalen Korrelate reduzieren. Demnach ist der grundlegende imitatorische Erwerb von Handlungsschemata über Nachahmung im Bereich Musiklernen von großer Bedeutung (Spiegelneuronen). Ganz im Sinne der multimodalen Theorien verdeutlichen zahlreiche Studien die Aktivierung unterschiedlicher Hirnregionen gleichzeitig. Bei der Verarbeitung von Musik ist das Broca-Areal beteiligt, eines der beiden Sprachzentren, das Auswirkungen auf die kognitive und emotionale Entwicklung hat. Zudem sind Hirnareale, in denen die Hörverarbeitung stattfindet (auditorischer Kortex), zusammen mit solchen, in denen die Bewegung gesteuert wird (motorischer Kortex), aktiv, selbst dann, wenn er nur auf einer stummen Tastatur gespielt wird oder Töne gehört werden (‚bewegen ohne zu hören‘ bzw. ‚hören ohne sich zu bewegen‘). Weitreichendere Bezüge zwischen Körper und Musikerfahrung lassen sich im Zusammenhang zwischen Bewegungskoordination (motorischer Kontrolle) und musikalischen Fähigkeiten (bzw. einem Musikalitätstext) erkennen. Bereits die Tonvorstellung zeigt eine Reaktivierung der Einstellung von Stimmlippen auf. Die phonologische Schleife beruht auf audio-motorischen Verbindungen. In einer Langzeitstudie wurde aufgezeigt, dass vokale Fähigkeiten von Kindern (Tonhöhe und Rhythmus) in Bezug zu ihren motorischen Fähigkeiten stehen (Gruhn 2002). Musikbezogene Reaktionen sind an körperliche Expressionen gebunden, die nicht ausschließlich durch die Aktivierung neuraler Prozesse erfolgen, sondern in einem gesamtkulturellen Kontext eingebunden erscheinen (Juslin & Sloboda 2010). Forschungen im Bereich der musikalischen Gestik (Godoy & Leman 2010) ‚Somästhetik‘ (Shusterman 2008) verdeutlichen, dass Musikerleben und -verstehen an spezifische körperliche Vollzugsformen gebunden sind. „Music making and listening become entirely embodied activities. Moreover, music as an emotional and corporeal expression causes mental and somatic activations. Consequently, one cannot limit music learning and understanding to mental processes and representational changes alone. Although this is extremely important, it only reflects one aspect“ (Gruhn 2012: 8).
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F AZIT – W IE
DER
K ÖRPER M USIK
ERFÄHRT
Die Art und Weise, wie der Körper Musik erfährt, wie er sich gegenüber seinen Mitmenschen verhält, wie er sich in musikbezogenen Handlungsvollzügen zeigt und ausdrückt, verdeutlicht ein Verständnis von Erleben und Verstehen, das weder als mentaler Akt, unabhängig von einer körperlich-physikalischen Bezugnahme noch als physikalisch-kausaler Prozess der Übertragung sinnlicher Daten in Gehirnaktivitäten aufgefasst werde darf. Erleben ist körperbezogen und auch das Verstehen nimmt Bezug auf eben diese Erlebnisse. Noch pointierter formuliert: Die spezifische Situiertheit des Körpers (als Subjekt) und seinen Aneignungspotenzialen durch die Umgebung (Handeln) ist mitverantwortlich für das Verstehen von Musik. Entscheidend ist der Stellenwert von Erleben und Verstehen von Musik als einer dynamischen Gesamtorganisation von Gehirn, Körper und Umwelt, in der Kognition nicht nachgeordnet erscheint, sondern mit dem handelnden Wesen des Complete agent verbunden ist. Sofern motorische Kognition in Bezug zum phänomenalen Erleben steht, ergibt sich ein anderes Verständnis von Verstehen von Musik. Das körperbezogene Musikerleben ist konstitutiver Bestandteil des Verstehensvorgangs. Der Körper ist mehr als nur die Bedingung der Möglichkeit musikbezogenen Verstehens: Er eröffnet handelnd im Vollzug die musikalische Welt.
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Auf der Suche nach verlorenen Bewegungsspuren Eine Sacharoff-Interpretation aus verschiedenen Perspektiven künstlerischer Forschung U RSULA B RANDSTÄTTER , R OSE B REUSS & J ULIA M ACH
Im Zentrum des folgenden Textes steht die tänzerische Umsetzung der Pavanne in fis-moll von Louis Couperin (Manuscrit Bauyn, Bibliothèque Nationale Paris, Rés. Vm7 674-675, f.73), einer Komposition für Clavecin, entstanden ca. 1660. Ausgangspunkt für die Choreografie sind die kinästhetischen Ideen des Tänzers Alexander Sacharoff, dessen Pavane Royale (basierend auf der Musik Couperins) in die Geschichte des Tanzes eingegangen ist. Das Re-enactment wird aus drei unterschiedlichen Perspektiven untersucht: aus der Perspektive der Tänzerin Julia Mach, aus der Perspektive der Choreografin Rose Breuss und aus der Perspektive der Rezipientin Ursula Brandstätter.1
P ERZEPTIONEN – B LICKE
AUF DEN
T ANZ
VON INNEN UND
AUSSEN Aus der Perspektive der Tänzerin (Julia Mach) Die Augen schließen. Ganz im Hier und Jetzt ankommen.
1
Die gemeinsame Performance-Lecture, die diesem Beitrag zugrunde liegt, ist im Internet abzurufen unter: http://bit.ly/2mEDUUg.
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Lauschen. Nein, nicht der Musik – noch ist es ruhig draußen. Nach Innen lauschen. Das Handgelenk. Wie weich kann ein Handgelenk sein? Wie durchlässig, wie fließend können Finger atmen? Wie rund kann eine Hand sich bewegen, welch komplexe Schleifen und Spiralen kann sie vollführen auf kleinstem Raum? Der kleine Finger. Nicht den kleinen Finger vergessen, er führt die Bewegung – hier, im letzten Ende, im letzten und feinsten Glied sitzt die Kraft, die den Körper in Bewegung bringt... Dann, als Pendant dazu, der Fußknöchel, so zart, so fragil – auch hier schwingt es, vom Knöchel aufwärts ... Bis der ganze Körper oszilliert, ein Schütteln durch den Körper geht, das an Eigendynamik gewinnt und sich aufwärts arbeitet. Dann die Seite. Es muss sich öffnen, der Raum möchte sich ausdehnen, er will Größe spüren und Breite. Er dehnt sich aus. Man muss daran arbeiten, den Raum erobern, die Seite wachsen lassen ... Der Rücken. Auch er will nicht vergessen werden, er meldet sich, will gespürt und präsent sein, will den Raum ausfüllen. Er füllt den Raum. Die Hände oszillieren weiter, beide sind es schon, das Schütteln setzt sich fort – es bahnt sich seinen Weg und auch der Brustkorb muss es zulassen, lässt es sein. Der Kopf fällt – er fällt nach hinten, ich sehe ... Eine seltsame Welt, alles verkehrt. Ein bisschen lässt es sich noch aushalten, ein wenig noch – und dann zu viel, dann muss es kippen, es dreht sich und landet wieder da, wo es begonnen hat, jedoch erweitert. Es hat kein Ende. Noch nicht. Einmal bricht es. Der Boden tut sich auf und empfängt mich zart, fast liebevoll. So viel Fläche, so viel Ebene – eine horizontale Welt, eine neue Sicht, vielleicht ein neuer Entwurf. Hier lässt es sich bleiben. Hier ist es sicher. Tiefer kann man nicht fallen. Und doch wieder aufwärts. Es schwingt, es will wieder schwingen und größer werden; es will sich artikulieren, will Form und drängt auf Linien. Da sind sie schon – hier und wieder gebrochen, sie können nicht bleiben, oder doch? Ein wenig. Sie künden sich an und brechen wieder in sich zusammen. Vielleicht ein starker Stoß? Ein Laut? Etwas, das sie bestehen lässt? Und dann: eine Linie im Raum, eine Diagonale, eine Horizontale. Ein Blick nach vorne: wer sieht mich an? Was sagen mir diese Gesichter, wie sprechen sie mit mir? Ich spreche zurück, aber leise, unhörbar. Ich atme nur, das erlaube ich mir. Ich atme und lasse sie wissen: ich bin da. Heute halte ich mich nicht zurück, heute dürft ihr mir begegnen mit allem, was ich bin.
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Aus der Perspektive der Rezipientin (Ursula Brandstätter) Der Körper der Tänzerin aufrecht vor dem Publikum: gleichermaßen entspannt und konzentriert. Minimale Bewegungen der rechten Hand und des rechten Unterarmes. Wann haben sie begonnen? Zunächst nicht mehr als ein Oszillieren, das in ein behutsames Abtasten des die Hand und den Arm umgebenden Luftraums, in ein Schütteln und schließlich in ein Schwingen übergeht. Erst jetzt setzt die Musik ein. Eine Energie, die noch vor der Musik da ist, sucht ihren Weg von innen nach außen. Mit Eintritt des ersten Klanges wird sie auch hörbar. Sie durchströmt den Körper der Tänzerin und erfasst immer mehr Teile: die Arme, die Schultern, den Rumpf, die Beine. Die Bewegungen werden ausgreifender, sie erforschen den gesamten Raum. In Sprüngen wird die Vertikale ausgelotet. Horizontal schwingende Bewegungen folgen. Der Raum wird als Umraum erfahrbar: ausgehend vom Körper der Tänzerin und ihren Bewegungen in die Seite, nach vorne und nach hinten. Immer wieder gehen die von unsichtbaren inneren Impulsen bzw. von der Musik geleiteten Bewegungsfolgen in klassische Ballettbewegungen über. Sprünge, Drehungen, die man aus der klassischen Ballettsprache kennt. Immer wieder aber brechen sie ab, stürzen gewissermaßen in sich selbst zusammen. Energie, die sich aufbaut und wieder in sich zusammenbricht. Energie tritt in vielen verschiedenen Gestalten auf. In oszillierender, schwingender Gestalt bleibt sie in gewisser Weise auf sich selbst bezogen. Als gerichtete Energie erscheint sie kanalisiert und gebündelt in klassischen Bewegungsfolgen, die aber immer wieder in ein elementares Pulsieren der Energie zurückgeführt werden. Im Wechselspiel zwischen ungerichteter und gerichteter Energie entfaltet sich der Tanz. Dem tastenden Suchen und Erforschen von Bewegungsmöglichkeiten folgt ein Finden, das sich jedoch wieder verliert. Ist es die Bewegungssprache von Alexander Sacharoff, die hier immer wieder neu tänzerisch erforscht wird? Die vergebliche Suche nach einer Sprache, die sich in der Vergangenheit verliert? Auf der Suche nach verlorenen Bewegungsspuren ... Der Tanz endet, wie er begonnen hat: ohne Musik, in Bewegungen, die sich in sich selbst zurückziehen. Und gerade in diesen Momenten, da keine Musik mehr hörbar und schließlich auch keine Bewegung mehr sichtbar ist, schwingt die Energie in besonders intensiver Weise hörbar und spürbar im Rezipienten nach.
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K ONZEPTIONEN
UND I NTERPRETATIONEN
Entstehungsgeschichte, Struktur und Konzept (Rose Breuss) Sich den Tänzen Alexander Sacharoffs choreographisch und tänzerisch, in tanzpraxeologischen Studien anzunähern, bedeutet ein über ihn existierendes Archiv mit historischen und zeitgenössischen Materialien zu dekodieren. In der Auseinandersetzung mit Sacharoffs Biographie, seinen Tänzen, seinen Schriften über Tanz und zeitgenössischen bzw. heutigen Rezensionen über sein künstlerisches Schaffen dominiert vorerst der Blick auf den Reichtum der Tanzphotographien und die von ihm gezeichneten bzw. gemalten Kostümbilder. Der Blick fällt auf phantastische Oberflächen, präzise Figurationen, theatrale Hüllen, raffinierte Gesten und eine provokant wirkende Körperlichkeit (siehe Abbildung 1).2 Mit verschiedenen Materialien über Alexander Sacharoff kam ich 2013 durch Claudia Jeschke in Berührung. Sie erarbeitete mit der Filmemacherin Stella Tinbergen im Auftrag des tanzfonds der deutschen Bundeskulturstiftung den Tanzfilm Sacharoff Projekt und näherte sich mit dem Tänzer Rainer Krenstetter verschiedenen Tänzen der Sacharoffs an. Diese Annäherungen lassen sich als ‚embodied scores‘ bezeichnen, d. h. als visualisierte tänzerische Materialien in den kulturellen und ästhetischen Zwischenräumen zwischen Historie, Gegenwart und Zukunft.3 Die von der Tänzerin Julia Mach und mir ausgearbeitete Tanzstudie wurde wesentlich von Claudia Jeschkes Auseinandersetzung mit Fragen zur Rekonstruktion der Tänze und der Suche nach (nur wenig offensichtlichen) kinetischen, motorischen Aspekten der Tänze motiviert. Sie ermöglichte uns den Zugriff auf die ihr verfügbaren Materialien (teilweise auf noch unveröffentlichte Schriften).
2
Alexander Sacharoff (1886 – 1963) kreierte vor allem Solotänze und Duos in Zusammenarbeit mit seiner Frau und Tanzpartnerin Clothilde von Derp. Die beiden tourten mit ihren Tanzprogrammen von München aus sehr erfolgreich durch die Welt. Sacharoff provozierte und faszinierte sein Publikum mit einer „damals als riskant empfundenen Auseinandersetzung mit Cross Gender, seinem spektakulären Kunstwillen und seiner utopistischen und ästhetisierten Spiritualität [...]“ (Jeschke 2017).
3
Ausschnitte des Filmes sind einzusehen auf: http://tanzfonds.de/en/project/documentat ion-2012/sacharoff-research-project (12.8.2016).
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Abb. 1: Alexander Sacharoff: Pavane fantastique, Kostümentwurf um 1916/17
Quelle: Peter & Stamm 2002: 235
Auf der Suche nach den kinetischen/kinästhetischen Spuren, nach Tanzbewegungen und Bewegungskompositionen bietet sich die Möglichkeit der Imitation und Interpretation des visuell erschließbaren Materials. Tanzbewegungen werden beispielsweise im Griechischen Tanz aus den gezeichneten Stellungen bzw. Posen wie aus einer Bilderschrift ablesbar. Die „ruhigen Stellungen“ des Körpers deutete Sacharoff als Bewegung – als eine „gleichsam erstarrte Bewegung“ (Peter & Stamm 2002: 46). Er unterschied zwischen „Zweckbewegungen, wie Lau-
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fen, Fassen, Tragen usw.“ und „Ausdrucksbewegungen, die ein Seelisches durch die Gebärde unmittelbar versinnlichen“ (ebd.: 46). Abb. 2: Ausschnitt aus dem „Griechischen Tanz“
Quelle: Peter & Stamm 2002: 53
Im Rahmen der von der Tänzerin Julia Mach und mir erarbeiteten Tanz- und Bewegungsstudie wurde der Versuch unternommen, nicht das Bewegungspotenzial des Bildmaterials zu erschließen, sondern alternierende Materialien, Ideen bzw. Ausgangspunkte für die (in unserem Fall nicht Rekonstruktion, aber) Konstruktion von Tanz aus dem verfügbaren Material zu suchen. Dem streifenden, die tänzerische Physis motivierenden Blick auf das bestechende Bildmaterial wurde ein emotives bzw. emotivierendes, nach Bewegung suchendes Lesen des Textmaterials über Sacharoff gleichgestellt. Die Wirkungen der Worte, ihre Musikalität und ihr assoziiertes Bewegungspotential führten zu kinetischen und motorischen Versuchsanordnungen in den Movement Research Prozessen. Einige Sätze blieben wie fragmentarische Textspuren im Proberaum ‚hängen‘. Sie wurden zum ‚Bewegungsmaterial‘ in der syn- und kinästhetischen experimentellen Praxis des Tanzens und Choreographierens.
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Dekodierungsspur 1 – Synästhesien aus Textfragmenten Satz 1: Dekodierung durch Verschlucken „[..] ein Gedicht, das sich sozusagen verschlucken lässt und dann tanzen“ (Rilke 1987: 1472).4
Satz 2: Dekodierung eines getäuschten Stiftes „Die Kronen-Naht des Schädels […] hat – nehmen wirs an – eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenden rotierenden Cylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, [..] über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes [..] eben (z. B.) die Kronen-Naht wäre –: Was würde geschehen?“ (Rilke 1987: 1089-1090).
Satz 3: Dekodierung durch Hören: Ohr, Retina, Epidermis hören. Hören beschreibt der Musikkritiker und Sacharoff-Biograph Emile Vuillermoz5 als einen Vorgang, der über das Ohr, das Trommelfell hinaus mit dem ganzen Körper stattfinde. Unser Organismus sei „un appareil récepteur“ (Vuillermoz 1933: 74), eine Art Empfänger-Einheit: Die Frequenzen der uns umgebenden Welt würden nicht nur durch das Ohr, sondern auch die Retina bzw. die Epidermis eingefangen. Das Leben der Sinne sei eine Symphonie von Vibrationen. Die Sinne teilten sich die Arbeit (1933: 74ff.). Den Tanz, der über die syn- und kinästhetischen, experimentellen Prozesse mit diesem Textfragmenten entstand, machte Andreas Kurz in einem experimentellen Kurzfilm sichtbar.6
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Dass Rainer Maria Rilke mit Sacharoffs Frau und Tanzpartnerin Clothilde Sacharoff in Verbindung stand, brachte uns zur Lektüre einiger Rilke-Texte. In unserer Auseinandersetzung mit Sacharoffs künstlerischem Schaffen suchten wir nach Ideen, Bildern, Formulierungen für Übersetzungsvorgänge und fanden in Rilkes sinnlichphysischen, zwischen verschiedenen Materialitäten changierenden Übertragungen einen Ausgangspunkt für experimentelle Herangehensweisen mit Dekodierungsprozessen. Dekodierungstechniken anzuwenden könnte heißen, den Medienwechsel nicht zu vollziehen und synästhetisch vorzugehen. Fragen nach Dekodierungsmitteln und -techniken standen hier im Mittelpunkt.
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Emile Vuillermoz (1878-1960), Musik- und Filmkritiker und Sacharoff-Biograph.
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https://www.youtube.com/watch?v=g3rGQG4fgH8 (12.03.2017)
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Dekodierungsspur 2 – Musikalische Muskeln/Pavane Royal Im zweiten Versuch arbeiteten wir mit Textpassagen von Alexander Sacharoff und Emile Vuillermoz, in denen die Tänze der Sacharoffs besonders im Hinblick auf musikalische Analysen, Bemerkungen, Aspekte thematisiert sind.7 Emile Vuillermoz beobachtete und beschrieb die Tänze der Sacharoffs vor allem anhand musikalischer Parameter. Der ,aufzeichnende Stift‘ wurde in dieser Ver, suchsanordnung über jene Textpassagen – insbesondere über Vuillermoz musikalisch inspirierte Beschreibung der Choreographie Pavane Fantastique – ‚gelenkt‘ und in eine experimentelle Tanznotation übertragen. Die Tänzerin Julia Mach benutzte diese Notate im Generieren und Komponieren des Bewegungsmaterials.
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Alexander Sacharoff sah in der Musikalität des Tanzens die Möglichkeit „die ganze Fülle der Bewegungen zurückzugewinnen […]: „Bei einem Tanz, der nichts anderes sein will als der körperliche Ausdruck der Musik, tritt eine Verarmung ein“ (Peter & Stamm 2002: 46).
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Abb. 3: Labanotation von Rose Breuss8
Ausgewählte Bestandteile der Notation: 1. Bestimmte Körperteile sind laut Vuillermoz bei Sacharoff akzentuiert und wirken in seinem Tanz wie „elektrifiziert“ (Vuillermoz 1933: 49). Die Notation übernimmt und variiert eine Auswahl, u. a. Oberflächen von rechtem und linken Knie, rechtem und linken Knöchel, Nacken, linkem kleinen Finger, Schulterblättern, rechtem Mittelfinger.
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In der Tanznotation sind Zeichen aus der Labanotation verwendet. Dieses Notationssystem sieht eigentlich eine Verwendung der Zeichen in einem bestimmten Zeilensystem vor. Hier ,hängen‘ die Zeichen aneinander. Sie determinieren Raum und Zeit nicht als quantitative Größe.
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Abb. 4: Notation der Oberflächen
2. Sacharoff tanze rhythmisch ungenau und widerstehe der gewohnten Arithmethik der Zeit, in der alle Bewegungsabläufe in 4 und 8 geteilt sind. Er reagiere nicht auf die Schwerzeiten der Takte, sondern seine Muskeln greifen auf kleinste Triolen, auf Synkopen, Vorschläge, Grupetto, Arpeggi zu. (1933: 43) Die Kreise in der Tanznotation markieren einen bestimmten, von der Tänzerin zu wählenden Ort. Der Ort kann im Raum auftauchen oder an einen Körperteil gebunden sein, er kann sich vergrößern und verkleinern. So wie Arpeggi, Vorschläge, Nachschläge usw. einen bestimmten Ton umgeben, umspielt die Tänzerin bestimmte Orte. Abb. 5: Notation der Umspielung bestimmter Orte
3. Umspielungen ,wiederholen‘ gewissermaßen diesen Ort. Wiederholungszeichen werden zur konstruktiven Struktur der Notation.
Die Tanznotation konkretisiert weder Zeit noch Raum. In einer konventionellen Darstellung von Bewegung legt ein bestimmter Körperteil einen in Raum und Zeit beschreibbaren Weg zurück. Die Bewegung figuriert eine Raum- und Zeit-
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linie. Sie fusioniert Raum und Zeit.9 Die experimentelle Tanznotation beschreibt Bewegung nur fragmentarisch. Indem die Tänzerin mit den Fragmenten operiert, decodiert sie Raum und Zeit im Tanz. Deutlich wird die Lücke zwischen dem, was in der Tanznotation festgehalten wurde, und dem, was die Tänzerin in der Performance kreiert. Der räumliche Verlauf der Bewegungen und die durch das Fehlen eines Metrums ,schwerelose‘ Zeit bilden eine Leerstelle. In dieser ereignet sich der Tanz; in der Erschließung des Raumes und im Einschreiben von Zeit inszeniert die Tänzerin ihre Körperund Tanzpraxis als komplexe kognitive Operationen.10 Musik und Tanz im Wechselspiel (Ursula Brandstätter) Die tänzerische Umsetzung der Pavane bricht mit den gängigen Erwartungen an eine Choreografie in mehrfacher Hinsicht. Weder handelt es sich um eine klassische Umsetzung der Pavane im Sinne des 17. Jahrhunderts, noch wird der Versuch unternommen, die Pavane Royale im Sinne Alexander Sacharoffs zu rekonstruieren. Darüber hinaus verzichtet der Tanz in weiten Teilen auf eine direkte Umsetzung der Musik. Vielmehr scheint der Fokus darin zu liegen, mit Differenzen zwischen Musik und Tanz zu spielen. Sie sind es, die dem Tanz besondere ästhetische und erkenntnisfördernde Qualitäten geben. Schreittanz versus Schwebetanz Die Pavane des 16. und 17. Jahrhunderts ist als höfischer, feierlich-gravitätischer Schreittanz zu charakterisieren. Zwei Einzelschritte und ein Wechselschritt folgen aufeinander. Die tänzerische Idee des feierlichen Schreitens ist bereits in der musikalischen Gestaltung der Pavanne von Louis Couperin künstlerischmusikalisch transformiert. Noch deutlicher wird die ästhetische Transformation des ursprünglich funktionell gedachten, repräsentativen Tanzes auf der tänzerischen Ebene. Die Tänzerin scheint bewusst die Schwerzeiten zu vermeiden. An die Stelle von metrisch gegliederten Tanzbewegungen treten schwebende Bewegungen. Der Tanz ist gewissermaßen von Schwerpunktlosigkeit bzw. von Schwerpunkten an unerwarteten Stellen geprägt: etwa wenn sich die Tänzerin mitten in einem Taktgefüge mit dem Fuß oder mit der Hand vom Boden abstößt
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Siehe dazu den experimentellen Kurzfilm über Bewegungsparameter von Rose Breuss und Andreas Kurz: www.youtube.com/watch?v=btt4Ck-6asI vom 18.8.2016.
10 In diesem speziellen Verfahren wurde die Musik zur Choreographie ‚umgebaut‘.
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und damit dem Fluss der Musik – auch akustisch – einen Kontrapunkt entgegensetzt. So wie in der Musik ein festes harmonisches Fundament es einzelnen Stimmen erlaubt, sich mit Arpeggien, Verzierungen und Floskeln improvisatorisch darüber hinwegzusetzen, so improvisiert auch die Tänzerin gleich einem selbstständigen Instrument über den Fluss der Musik hinweg. Schreiten und schweben, gliedern und fließen, feste Fügungen und freies Spielen prägen in ihrem Spannungsverhältnis sowohl die Musik als auch den Tanz. Immaterialität versus Materialität Im Vergleich der Künste untereinander wird die Musik immer als die immateriellste Kunstform bezeichnet. Der Klang der Musik vergeht in der Zeit, er lässt sich nicht festhalten, die aufeinander folgenden klanglichen Eindrücke werden nur in der Vorstellung des Hörers zu einem größeren Ganzen zusammengesetzt. Mit der Musik teilt der Tanz den Charakter der Zeitlichkeit. Auch er vergeht in der Zeit, eine Bewegung geht in die andere über, ohne dass irgendein Moment auf Dauer festgehalten werden könnte. Allerdings tritt der Tanz – im Unterschied zur Musik – körperlich in Erscheinung. Die körperliche Präsenz der Tänzerinnen und Tänzer im Raum macht eine wesentliche Wirkung von Tanzaufführungen aus. In der Pavane Royale nun treffen die immaterielle Musik und die materielle Präsenz des Körpers der Tänzerin aufeinander. Aber ist die Zuordnung dieser beiden Erscheinungsweisen von Kunst wirklich so eindeutig? Wird nicht die Musik durch die tänzerische Transformation intensiv körperlich erlebbar? Und verleiht nicht andererseits die Musik dem Tanz einen immateriellen Charakter? Die Idee der Dematerialisation des Körpers spielt für Alexander Sacharoff eine wichtige Rolle. Sie steht in Zusammenhang mit seinem Interesse für Themen der Spiritualität und Transzendenz. So ist es wohl kein Zufall, dass in Kritiken das Tänzer-Paar Clothilde und Alexander Sacharoff als „ambassadeurs de l’invisible“ (Maulnier: 1964), als Botschafter des Unsichtbaren, charakterisiert wurden. Im Tanz von Julia Mach wird dieses Immaterielle und Unsichtbare direkt erlebbar. Das Unsichtbare (die Musik) wird gewissermaßen im Tanz sichtbar, so wie umgekehrt durch die Musik und ihre tänzerische Interpretation der Körper immateriell zu werden scheint.11
11 Detailliertere Überlegungen zu den Besonderheiten der Kunstformen und ihrem Wechselspiel sind nachzulesen in Brandstätter 2008: vor allem 119-192 (Kapitel 5:
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Der Einbruch von Atem und Stimme Der Atem verbindet Musik und Tanz: sowohl Musik als auch Tanz sind vom Atem getragen. In beiden Kunstformen wird der Atem jedoch künstlerisch transformiert. In der Musik wird der Atem – am direktesten beim Singen oder beim Spielen eines Blasinstrumentes – in Tönen gestaltet und damit musikalisch hörbar gemacht. Im klassischen Tanz hingegen muss der Atem sublimiert werden; das Training zielt darauf ab, den Atem und damit auch die körperliche Anstrengung unhörbar zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Aufführungstradition des Tanzes überrascht es, dass Julia Mach nicht davor zurückscheut, den Atem hörbar zu machen. Der Rezipient wird unmittelbar mit der körperlichen Anstrengung der Tänzerin konfrontiert. Atem- und Stimmlaute brechen in die ästhetische Welt der musikalischen und tänzerischen Stilisierungen herein. Etwas Archaisches, Elementares sucht sich seinen Raum und kontrapunktiert damit die Welt des elaboriert künstlich Gestalteten. Geht es hier möglicherweise um die Gegenüberstellung verschiedener Erscheinungsformen von Energie? Von ungerichteter, ästhetisch noch nicht überformter Energie (wie sie in den Atem- und Stimmlauten direkt erlebbar wird) auf der einen Seite und ästhetisch gerichteter, gefasster Energie (wie sie in den musikalischen Phrasen und tänzerischen kontrollierten Bewegungen zu Tage tritt) auf der anderen Seite? Das Spannungs- und Differenzfeld eröffnet nicht nur gedankliche Räume für vielfältige Interpretationen, sondern auch Erfahrungsräume für ein intensives energetisches Erleben sowohl des Tanzes als auch der Musik.
R EFLEXIONEN Improvisation und Performance – Momentaufnahmen (Julia Mach) In der Improvisation bin ich. Es ist mir alles erlaubt, und doch habe ich eine Struktur; brauche etwas, woran ich mich festhalten kann. In der Sacharoff-Studie ist das vor allem Sacharoff selbst, oder das, was ich mir unter Alexander Sach-
Was unterscheidet die Künste? Die Medienspezifik der Künste sowie Kapitel 6: Transformationen).
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aroff eben vorstelle. Es ist vor allem seine geistige Haltung, die mich inspiriert; es sind seine Ideen über das Künstlerische und über das Spirituelle, die mir in Auseinandersetzung mit meiner Choreographin Rose Breuss Strukturen vorgeben. Da ist einerseits die Linie der Choreographie – inspiriert von peripheren Körperteilen: Handgelenk, kleiner Finger, Sprunggelenk – dann weiter zu den zentraleren Gelenken des Körpers: Kniegelenk und Hüfte, Ellbogen und Schulter, Nacken. Das Schwingen und Oszillieren ist ein Ausdruck der Lebenskraft an sich – Leben als Bewegung. Das, was Alexander Sacharoff als das ‚Transzendente‘ bezeichnet, muss wohl das Immaterielle sein, der Atem, der alles durchdringt und alles lebendig erhält. Heute wissen wir, dass es Bewegung ist, die das Lebendige auszeichnet und vom ‚Nicht-Beseelten‘ oder Nicht-Lebendigen unterscheidet. Es ist Bewegung auf atomarer oder vielmehr subatomarer Ebene, vielleicht ganz einfach der Wellenaspekt des Welle-Teilchen-Dualismus oder wie auch immer Physiker unserer Zeit dieses Phänomen gerne umschreiben möchten.12 Jedenfalls ist es Bewegung, die eine lebendige Zelle von einer toten unterscheidet,13 oder im Sinne der Lebenskraft könnten wir sagen: es ist Bewegung, die das Sein aus dem Nicht-Sein heraushebt. So muss also das Sacharoffsche Streben nach Transzendenz oszillieren und ein rhythmisches Schwingen finden, bevor es sich in größere Raumstrukturen ausbreitet. Es nimmt einen Impuls vom kleinen Finger und einen vom Fußknöchel, um sich in die seitliche Dimension auszubreiten und seinen Raum in einen Umraum zu öffnen; es lässt den Nacken sich durchbiegen und den Kopf nach hinten fallen, um neue Perspektiven zu eröffnen – dem Zuschauer wie mir als Tänzerin. Es verlangt eine bodennahe Choreographie, um auch die horizontale, die schwere Dimension umfassend auszuloten. Und es lässt sich ein auf Vokabular aus dem klassischen Ballett, wo es so etwas wie Heimat findet. Hier, im klassischen Tanz kann man, wenn man möchte, mitteleuropäischen Bühnentanz geschichtlich verorten, ihm so etwas wie eine zeitliche Dimension geben. Man kann ihn auferstehen lassen und wieder in diese Geschichte versenken. Man kann ihn spielen lassen und zitieren, Erinnerungen aufkommen lassen an große Zeiten und Hoffnung auf noch größere, die folgen könnten. Im klassischen Tanz darf eine geschichtlich gewachsene Ästhetik für Augenblicke brillieren, bevor wir etwas Ursprünglicherem wieder seinen Raum geben. Das Archaische, die
12 Inspiration im Bereich der Quantenphysik war in diesem Kontext beispielsweise Zeilinger 2003. 13 Von Interesse in diesem Kontext war beispielsweise Lipton 2015, siehe insbesondere 32 ff. zum Thema „How Proteins Create Life“.
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Lebenskraft bricht immer wieder ein und verlangt nach ihrem Platz. Der Atem und manchmal ein Laut geben ihm diesen.14 Die Musik ist dabei Impulsgeberin, Partnerin, Gegenspielerin. Ich lasse mich auf sie ein und nehme sie vorweg; ich höre ihr zu und setze mich über sie hinweg; ich gehe ihr nach und lasse sie wieder sein. Ich bin Solistin über die Musik, eine eigene musikalische Stimme und dann wieder Teil der Melodie. Ich lasse die Musik an mir vorüberziehen und laufe ihr nach mit der Verspieltheit eines Kindes, das Schmetterlinge fangen will. Sacharoff erlaubt mir einen solch unbedarften Zugang, denn sein Verhältnis zur Musik war eigenwillig, wie zeitgenössische Kritiker berichten. Sein Lauschen war wohl ein durch die Musik Hören und in den eigenen Körper und dessen Ausdrucksformen. Im Tanz fand er die Imperfektion, mit der er sich dem Transzendenten annähern wollte, das er darin hoffnungslos zu fassen suchte. Der Tanz zwischen Erde und Himmel, schwer und leicht, innen und außen hat ihn angetrieben. Vielleicht war es die Sehnsucht, in etwas Größerem aufzugehen. Movement Research (Rose Breuss) Julia Mach verschränkt die Konzeptualisierungen der Tanzbewegungen mit den senso-motorischen Erfahrungen ihrer Tanzpraxen. Sie operiert zwischen tänzerischen Routinen und Suchrouten. Die Auseinandersetzung mit der Körperlichkeit des Tänzers kommt als Faktor in den operativen Prozessen des Tanzens zur Wirkung. Der (tanzende) Körper ist wesentlich an Denkprozessen beteiligt. Er operiert nicht „als Grundgröße […], noch als passive Einschreibe-Instanz“ (Stenzel 2010: 37). In der tänzerischen Verkörperung „überkreuzen sich die kontinuierlich und stetig ablaufenden biologischen, neuronalen Vorgänge mit komplexen Programmen des Performativen“ (Jeschke & Breuss 2010: 29). TänzerInnen konzipieren in den zeitgenössischen Tanzpraxen Suchrouten in mannigfaltige (Bewegungs-)Prozesse. Sie experimentieren in Movement Research-Praxen mit Potentialen des Körpers und orten nicht realisierte Potentiale in Bezug auf ihr Körper- und Bewegungswissen, auf künstlerische Fragestellungen und theoretische Wissensgebiete. Der Tänzer bzw. die Tänzerin benutzt in Movement Research Prozessen gespeicherte Bewegungs- und Tanztechniken, deren Bewegungsformen er aktivie-
14 Inspirationen zum Archaischen kommen aus theoretischer wie auch praktischer Auseinandersetzung mit schamanischen Techniken wie z. B. beschrieben in: Harner 1980: 2013.
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ren und aktualisieren kann. Das im Tanzkörper gespeicherte, verfügbare Bewegungsrepertoire wird nicht (nur) eingesetzt, um es zu reproduzieren. Es wird in den Forschungsprozessen als Instrumentarium benutzt und verweist auch auf den tanzenden Körper selbst. Sein Potential wird in Movement Research Prozessen anders aktualisiert. Der Tänzerkörper ist gleichzeitig zum einen Archiv, und Speicher und zum anderen ermöglicht er Abweichungen, Unterscheidungen, Umwege, Aufschub, Nachträglichkeit und Temporalität in den tänzerischen Routinen. Ausgearbeitet wurde diese Tanz- und Movement-Research-Studie im IDA Dance Lab der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Dort werden u. a. Methodiken gesucht, die eine gleichzeitige Präsenz von Tänzern und Theoretikern ermöglichen sowie zulassen, Forschung „im Modus des Erlebens zu praktizieren“ (Gumbrecht 2004: 149), in einem „Intervall zwischen der physischen Wahrnehmung eines Objektes und der (endgültigen) Sinnzuschreibung“ (2004: 149). Es geht uns hier um ein Intervall, einen Raum oder Zwischenraum für praktisch-theoretische Studien über die operativen und performativen Prozesse des Tanzens. In unseren tanzpraxeologischen Studien über den Tänzer Alexander Sacharoff wurde ‚embodiment’ – das unbewusste (Körper-)Wissen – zum (interdisziplinären) Relais. Medienwechsel, die Verschiebung der Begriffe und Parameter bedeuten auch Wechsel in den bewussten und unbewussten Denkprozessen der Tänzer. Sie stimulieren mentale Operationen im Vollzug des Tanzens. Die Suchprozesse erfolgen auch über unbewusstes Assoziieren; Verknüpfungen werden geändert, neue Fährten gelegt und die Verschaltungen für die Tanzbewegung verändert. Sacharoff verwendete den Ausdruck „techniques de synthèse“ (Vuillermoz 1933: 58) – die physische Fähigkeit des Tänzers zu synthetisieren. Synthesen, Verknüpfungen ereignen sich nicht ohne ,Zuschaltungen‘ der Denkprozesse. Die Tänzerin Julia Mach experimentierte mit Sacharoffs ‚techniques de synthèse‘, indem sie Sinneseindrücke aus Licht, Farbe, Kälte, Wärme, Tönen ,hörend‘ in ihrem Tanz subsumierte. Wahrnehmen und Verstehen (Ursula Brandstätter) Was passiert, wenn in der Rezeption Musik und Tanz aufeinandertreffen? Wie verändert sich die Wahrnehmung? Wie beeinflussen sich die Eindrücke auf den unterschiedlichen Sinneskanälen (den akustischen, visuellen, somatosensorischen) wechselseitig? Um auf diese Fragen mögliche Antworten zu fin-
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den, ist es zunächst notwendig, sich über grundlegende Mechanismen der Wahrnehmung Klarheit zu verschaffen. Wahrnehmung ist Bezugnahme Wann immer wir ,etwas als etwas‘ wahrnehmen, so beruht dieser Vorgang auf der Zusammenfassung vieler einzelner Eindrücke zu einem größeren Ganzen, einem Sinnzusammenhang. Schon die visuelle Wahrnehmung einer Blume bedarf der analytischen Wahrnehmung vieler Einzelheiten, wie der Wahrnehmung der Kontur, der Farbe, der Materialität, der Form, der Proportionen etc. Alle einzelnen Wahrnehmungsereignisse werden aufeinander bezogen und zu einer Gesamtwahrnehmung bzw. einer Wahrnehmungserkenntnis (,dies ist eine Rose‘) zusammengefasst. In diesem Sinne beruht Wahrnehmung auf beziehendem Denken. Die Prozesse des Analysierens und Synthetisierens verlaufen weitgehend unbewusst und automatisiert. Sie bedürfen nicht unbedingt der Verbalsprache, auch wenn diese eine wichtige Folie für die Kategorisierung von Wahrnehmungen darstellt und sie sowohl begleitend wie auch im Nachhinein zumindest zum Teil sprachlich artikuliert werden können. Wechselseitige Projektion von Wahrnehmungskategorien Was passiert nun, wenn in der Wahrnehmung verschiedene Sinneskanäle gleichzeitig angesprochen werden? Grundsätzlich nehmen wir immer aus der Einheit der Sinne heraus wahr, das heißt Wahrnehmungsereignisse auf der akustischen, der visuellen, der olfaktorischen Ebene werden immer aufeinander bezogen. Trotzdem können jene Wahrnehmungssituationen, in denen – wie etwa im Tanz - mehrere Sinneskanäle bewusst angesprochen werden, als Sonderfall bedacht und analysiert werden. Akustische, visuelle und kinästhetische Wahrnehmungseindrücke treffen aufeinander und beeinflussen sich wechselseitig. Zum einen werden in diesen Wahrnehmungssituationen übergreifende, nicht an einen einzelnen Sinn gebundene Kategorien der Wahrnehmung verstärkt wirksam. Dazu gehören z.B. Kategorien der Energie, der Kraft, der Zeit, des Raumes, die in einem übergeordneten Sinn sowohl auf die Bewegung der Musik als auch auf die Bewegung des Tanzes bezogen werden können. Zum anderen kommt es aber auch zur wechselseitigen Projektion von sinnesspezifischen Kategorien. Etwa dort, wo Kategorien der körperlichen Bewegung, wie schreiten und schweben auf die Musik übertragen
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werden, oder wo umgekehrt musikalische Kategorien wie z.B. Arpeggien und Verzierungen tänzerisch-körperlich interpretiert werden. Der Bereich der wechselseitigen Projektion von Wahrnehmungskategorien eröffnet ein weites Feld von neuen Erfahrungsqualitäten. Gerade dort, wo Wahrnehmungsgewohnheiten durchbrochen werden, wo also Automatismen plötzlich nicht mehr greifen, da überraschende Wahrnehmungsereignisse aufeinandertreffen, entsteht Raum für Neues – sowohl für die Tänzerin/den Tänzer als auch für die Rezipienten. Mimetisches Verstehen Der Begriff der Mimesis blickt auf eine lange Geschichte philosophischen Nachdenkens zurück.15 Mimesis hat eine doppelte Wortbedeutung: Zum einen meint der Begriff den Vorgang des Nachahmens, Sich-ähnlich-Machens, zum andern steht er aber auch für grundsätzliche Möglichkeiten des Darstellens und Ausdrückens. Im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags steht vor allem der performative Charakter der Mimesis im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im mimetischen Weltzugang ähneln wir uns der Wirklichkeit an – die darin enthaltene körperliche, performative Komponente bleibt auch dort wirksam, wo sich das Mimetische in den Bereich der mentalen Vorstellung zurückzieht. Wenn Musik und Tanz aufeinandertreffen, wird in beide Richtungen eine mimetische Beziehung hergestellt. Musikalische Prozesse werden körperlich nachvollzogen, der Körper der Tänzerin ähnelt sich der Musik an. Dies kann so weit gehen, dass der Körper selbst immaterielle, musikalische Dimensionen zu bekommen scheint. Umgekehrt ähnelt sich die Musik dem Tanz an. Das körperhafte Moment der Musik, das ihr immer schon innewohnt, wird durch die tänzerische Umsetzung verstärkt und ins Sichtbare transformiert. Beide Formen der Verkörperung können ihrerseits wiederum als Angebot für den mimetischen Nachvollzug durch den Rezipienten verstanden werden. Möglicherweise unterstützt durch die (in den Neurowissenschaft inzwischen nachgewiesene) Wirkweise der Spiegelneuronen, vollzieht der Rezipient sowohl die mimetischen Gesten des Tanzes als auch jene der Musik innerlich nach. Über die nicht-verbalsprachliche, im Körper bzw. in der inneren Vorstellung des Körpers verankerte ästhetische Wahrnehmung bekommt der Rezipient einen intensiveren Zugang zu seinen Emotionen und zum Unbewussten.
15 Zu den ästhetischen Implikationen des Begriffs siehe z. B. Gebauer & Wulf 2003 oder auch Brandstätter 2013: 32-43.
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Das mimetische Welt-Erleben stellt einen sehr ursprünglichen Zugang zur Welt dar – im Aufeinandertreffen von Tanz und Musik erfährt es eine ästhetische Vertiefung.
L ITERATUR Brandstätter, Ursula (2008): Grundfragen der Ästhetik. Bild – Musik – Sprache – Körper, Köln u.a.: Böhlau. Brandstätter, Ursula (2013): Kunst und Erkenntnis. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation, Köln u.a.: Böhlau. Gebauer, Gunter; Wulf, Christoph (2003): Mimetische Weltzugänge. Soziales Handeln – Rituale und Spiele – ästhetische Produktionen. Stuttgart: Kohlhammer. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Harner, Michael (1980): The Way of the Shaman. New York: Harper & Row. Harner, Michael (2013): Cave and Cosmos. Shamanic Encounters with Another Reality. Berkeley: North Atlantic Books. Hutchinson Guest, Ann (1991): Labanotation. The System of Analyzing and Recording Movement, New York: Theatre Arts Books. Jeschke, Claudia (2017): Anverwandlungen und Übergänge – Die Sacharoffs, in: Irene Brandenburg; Nicole Haitzinger; Claudia Jeschke (Hg.), Kaleisdoskope des Tanzes, in: Tanz & Archiv: ForschungsReisen, Heft 7, München: epodium, im Druck. Jeschke, Claudia; Breuss, Rose (2010): Embodiment – Choreografie – Komposition, in: Gisela Nauck (Hg.), Positionen. Texte zur aktuellen Musik, Heft 83, S. 29-32. Lipton, Bruce H. (2015): The Biology of Belief. Unleashing the Power of Consciousness. Matter & Miracles. London: Hay House. Maulnier. Thierry (1965): Les Sakharoff, poètes de la danse, précurseurs de la danse moderne, in: La Recherche en Danse 4/86-87, S. 70. Peter, Frank Manuel; Stamm, Rainer (Hg.) (2002): Die Sacharoffs: zwei Tänzer aus dem Umkreis des Blauen Reiters, Köln: Wienand. Rilke, Rainer Maria (1989): Werke VI, Malte Laurids Brigge, Prosa 1906-1926, Frankfurt/Main: Insel. Stenzel, Julia (2010): Der Körper als Kartograph? Umrisse einer historischen Mapping Theory. München: epodium.
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Vuillermoz, Emile (1933): Clothilde et Alexandre Sakharoff, Lausanne: Editions Centrales. Zeilinger, Anton (2003): Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik. München: Goldmann.
Komposition ‒ Choreo-Graphie ‒ Choreographie: Erinnern mit dem Körper Betrachtungen am Beispiel von Nijinskys L’Après-midi d’un Faune C LAUDIA J ESCHKE & U LRICH M OSCH
Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen ist das Erinnern in einer speziellen Form, nämlich mit dem Körper. Vaclav Nijinsky, Choreograph und Protagonist der ersten Produktion des Balletts L’Après-midi d’un Faune nach der Musik des Prélude à l’Après-midi d’un Faune von Claude Debussy, hielt seine Choreographie nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Uraufführung am 29. Mai 1912 schriftlich fest, sondern erst drei Jahre später, als er als Angehöriger einer feindlichen Nation 1915/16 im damals noch österreichischen Budapest für längere Zeit unter Hausarrest gestellt war. Das Besondere dieses Falles einer Niederschrift allein aus der Erinnerung, ohne dass Nijinsky einen Probensaal geschweige denn eine Balletttruppe zur Verfügung gehabt hätte ‒ allerdings, wie man von Fotos weiß, immerhin ein Klavier ‒, wirft einige interessante Fragen auf im Hinblick auf die Überlieferung dieses choreographischen Werkes. Was stand dem Choreographen als musikalische Grundlage zur Verfügung? Und ‒ da es damals keine Aufnahme gewesen sein konnte, sondern nur eine Partitur ‒ welche Partitur? Die Orchesterpartitur oder einer der drei damals bereits existierenden unterschiedlichen Klavierauszüge? Des Weiteren: Wie muss man sich ein Erinnern vorstellen, das sich weder auf eine schriftliche Aufzeichnung noch auf eine aktuelle Aufführung stützen konnte, sondern nur auf die musikalische Partitur und allenfalls einige Fotos? Und inwieweit repräsentiert die Notation post festum, was 1912 auf der Bühne tatsächlich zu sehen gewesen war? Inwieweit kann sie es überhaupt repräsentieren?
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Trotz dieser wohl nicht durchweg zu beantwortenden Fragen dürfte unbestritten sein, dass sich Nijinsky (auch) mit Hilfe seines tanz- und notationsgeschulten Körpergedächtnisses an das Ballett erinnerte. Es ist gleichermaßen davon auszugehen, dass die Arbeit mit der musikalischen Partitur für die ReVisualisierung der Bewegungen und deren Transfers in eine tanzschriftliche Partitur eine entscheidende Rolle gespielt hat, zumal Nijinskys Partitur wesentlich auf der tänzerischen Anwendung bzw. Verhandlung musikalischer Notationsprinzipien beruht.
N IJINSKYS N OTATION
UND
P ARTITUR
Nijinskys Notation seines ersten Balletts L’Après-midi d’un Faune, die erst in den 1980er Jahren von Ann Hutchinson Guest und Claudia Jeschke entziffert und in Labanotation übersetzt wurde (Hutchinson Guest & Jeschke 1991)1, lässt sich als ein spezifischer choreographischer Text begreifen, zeigt er doch aus tanzwissenschaftlicher Sicht sowohl den autonomen Zugriff auf die musikalische Komposition – hier von Claude Debussy – als auch den ebenso innovativen wie souveränen Umgang mit den Problemen der Bewegungsanalyse. Notation war Teil des Curriculums der Marinsky-Schule in St. Petersburg, wo Nijinsky vor allem in der sogenannten Stepanov-Methode ausgebildet worden war – einer Tanznotation, die Musiknoten als Bewegungszeichen verwendete (Hutchinson Guest & Jeschke 1991: 7).2 Das Interesse an Tanzschrift intensivierte und systematisierte er in den Jahren 1915-1919, also im Anschluss an seine Hoch-Zeit als Tänzer und Choreograph. Nijinsky entwickelte die Prinzipien der Stepanov-Notation entsprechend seinen choreographischen Bedürfnissen weiter. Er platzierte die Musiknoten als Bewegungszeichen pro Tänzer auf drei Systemen mit je fünf Notenlinien; das untere Liniensystem erfasst die Aktivitäten der Beine, das mittlere System bildet die Bewegungen der Arme ab und das
1
Ein kritischer Vergleich der beiden tanzschriftlichen ‚Versionen‘ des Werks (Nijinsky und Laban) steht noch aus – ein Vergleich, der aufgrund der unterschiedlichen Schriftprogramme weitere Interpretationen des ‚Erinnerns mit dem Körper‘ im Fall Nijinsky erlauben würde. Und zwar deshalb, weil Nijinskys Ballett bislang nur als ‚Übersetzung‘, d. h. in der Labanotation-Version publiziert ist.
2
Dokumente im Nachlass von Bronislava Nijinska, der Schwester Nijinskys, die ebenfalls an der Marinsky-Schule ausgebildet wurde, zeigen, dass der Notationsunterricht umfassender war und außer Stepanov noch weitere Tanzschriften behandelte (Nijinska Collection, Library of Congress, Washington).
K OMPOSITION – C HOREO -G RAPHIE – C HOREOGRAPHIE
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obere System stellt die Aktionen von Körper und Kopf dar. Später, 1917/18 in St. Moritz, experimentierte er mit Schriftentwürfen, die auf der Kombination von Musiknoten und nur drei Linien basieren. Diesen Plan verfolgte er auch noch zu Beginn des Jahres 1919, als er seinem ebenso in St. Moritz verfassten Tagebuch 15 Seiten Tanzschrift hinzufügt (Nijinsky 1995; Acocella 2006). Abb. 1: Bewegungen und zeitliche Konstellationen der Tänzer in Nijinsky’s Faune
Quelle: Hutchinson Guest & Jeschke 1991: 142
In beiden Schriften vermittelt Nijinsky Körperlichkeit jenseits der realen Erscheinungsform des Körpers. Die Anordnung der einzelnen Körperteile ist hierarchisiert und mechanistisch, indem ihre Bewegungsrichtungen und Artikulati-
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onen von der Konzeption des zentral gesetzten Rumpfes bestimmt werden. Der Körper selbst wird zum Bewegungsraum, zur Bühne; Verweise auf den architektonischen Bühnenraum behandelt Nijinsky als untergeordnete Informationen. Vor allem in seiner Notation von 1915/16 konzentriert sich Nijinsky auf die abstrakte Transformation von Bewegung und erreicht dabei eine ungewöhnliche Systemgenauigkeit und Vollständigkeit. Er erarbeitet detaillierte Analysen – als Material dienen ihm zum einen die traditionellen Exercises de danse d’école, wie er sie im täglichen Ballett-Training praktizierte und ebenso schriftlich dokumentierte, und, neben anderen Skizzen (Jeschke 2001), die vollständige Choreographie zu seinem Erstlingswerk von 1912. Die Bewegungen und zeitlichen Konstellationen der Tänzer notierte Nijinsky nach den Prinzipien einer musikalischen Partitur (Abb. 1), wobei die Situierung im Bühnenraum in Form von graphischer Repräsentation der Bodenwege, wie gesagt, nur eine nachgeordnete Rolle spielte. Er übernahm dazu die gesamte metrische Ordnung der musikalischen Partitur, inklusive aller metrischen Wechsel und (fast) aller Doppelstriche,3 des Weiteren die Tempo- und die agogischen Bezeichnungen und ‒ erstaunlicherweise ‒ an einigen Stellen auch dynamische Bezeichnungen, denen ja, anders als bei Metrum, Rhythmus und Tempo, in der Zeitkunst Tanz nichts entspricht oder allenfalls in einem übertragenen Sinne. Da die moderne musikalische Notation sowohl auf der Ebene der Tonhöhen als auch auf jener des Rhythmus auf diskreten Elementen beruht ‒ im einen Falle auf Halbtönen, im anderen auf einer Unterteilung der globalen Dauer in auf einen Grundpuls bezogene gleiche Werte ‒ arbeitet auch Nijinsky zwangsläufig mit solchen diskreten Einheiten. Seine Partitur, festgehalten auf durch Akkoladeneinteilung für ein Soloinstrument oder Gesang mit Klavierbegleitung vorbereitetem Papier, sieht daher auf den ersten Blick wie eine musikalische Partitur aus.
M USIKALISCHE P ARTITUR
UND
T ANZPARTITUR I
Eine ganze Reihe von Indizien in Nijinskys choreographischer Partitur erlaubt eindeutig zu identifizieren, welche musikalische Partitur des Prélude à l’Aprèsmidi d’un Faune er damals in den Händen gehabt haben muss. Da in jener Zeit Tonträger noch nicht zur Verfügung standen und daher zwangsläufig mit Klavier, also auf der Basis eines Klavierauszuges geprobt wurde, konnte von der Hypothese ausgegangen werden, dass Nijinsky nicht auf der Grundlage einer
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Zweimal übernahm Nijinsky, wohl aus Versehen, die Doppelstriche aus dem Klavierauszug nicht: nach Takt 4 und nach Takt 82 (= Takt 84 in seiner Partitur).
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Orchesterpartitur gearbeitet hatte. Es war daher nur die Frage: welcher Klavierauszug? Der Klavierauszug von Debussy selbst für zwei Klaviere von 1894 (Debussy 1894), derjenige von Maurice Ravel für Klavier vierhändig von 1910 (Debussy 1910) oder derjenige von Leonard Borwick für Klavier zweihändig von 1914 (Debussy 1914)? Weitreichende Übereinstimmungen auf der Ebene der Tempovorschriften, der dynamischen Bezeichnungen sowie der metrischen Vorzeichnungen lassen keinen anderen Schluss zu, als dass Debussys eigener, 1894 zeitgleich mit der Partitur entstandener Auszug für zwei Klaviere die Grundlage von Nijinskys choregraphischer Partitur bildete; ein Klavierauszug, der, was Tempobezeichnungen und Dynamik betrifft, ein Stadium vor der definitiven Ausarbeitung der Orchesterpartitur repräsentiert und daher in manchen Details von dieser abweicht. Der eingehende Vergleich zwischen Tanzpartitur und Klavierauszug fördert indessen zusätzlich noch einige bemerkenswerte Abweichungen zu Tage: •
•
4
Nijinskys Partitur ist um vier Takte länger als jene der Musik: Zwei davon sind am Ende angefügt, offenbar um die sich nicht verändernde Position des Fauns bei fallendem Vorhang lang genug vorschreiben zu können. Bei den beiden anderen Takten ‒ in Nijinskys Partitur die Takte 79 und 80 ‒ dürfte es sich einfach um ein Versehen handeln, da weder ein einleuchtender Grund auszumachen ist für diese Dehnung, die zur Asynchronität alles darauf Folgenden im Verhältnis zur Musik führen würde, noch anzunehmen ist, dass Nijinsky es gewagt hätte, in Debussys Notentext einzugreifen. Dass dieser Fehler unbemerkt blieb, dürfte dem Umstand zuzuschreiben sein, dass der Choreograph nie Gelegenheit hatte, sein Ballett auf dieser Grundlage neu einzustudieren.4 An zwei Stellen in der Tanzpartitur finden sich Charakter- beziehungsweise Tempobezeichnungen, die in keiner der Nijinsky im Prinzip zugänglichen Partituren anzutreffen sind: in den Takten 24 »mosso« und 25 »ritenu[to] ‒ Tempo I« sowie in den Takten 28 erneut »mosso« und 29 »Tempo I«. Sie rühren mutmaßlich aus dem Uraufführungskontext her. Inwieweit diese Bezeichnungen dem 1912 tatsächlich Aufgeführten entsprechen, was anzuneh-
In der Übertragung von Nijinskys Partitur in Labanotation wurden die Bewegungsinhalte der beiden zusätzlichen Takte in den Takten 82-85 kondensiert. Da diese Bewegungsinhalte zweimal in Folge auftauchen (zwei plus zwei Nymphen, N 6+1 und N 3+7, ‚schelten‘ den Faun wegen seines Verhaltens) und klare rhythmische Bezüge zu einer – ebenso wiederholten – musikalischen Phrase (Takt 83 und 84) aufweisen, erschien diese Lösung sinnvoll.
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men ist, ließe sich indessen nur definitiv klären, wenn Pierre Monteux’ Dirigierpartitur zugänglich wäre; diese befindet sich aber derzeit, wenn überhaupt erhalten, an unbekanntem Ort. Insgesamt lässt sich zum Verhältnis von Klavierauszug und Tanzpartitur Folgendes festhalten: Auf der Ebene der primären Tonsatzaspekte, soweit für die zeitliche Erscheinung von Bedeutung, das heißt auf der Ebene des Rhythmus und des Metrums,5 sind keine außer den erwähnten Abweichungen zwischen den beiden Partituren zu beobachten; wohl aber auf der Ebene der sekundären Aspekte: Tempo beziehungsweise Agogik und insbesondere Dynamik. Nun stellt sich die Frage: Haben die Abweichungen eine Bedeutung für die choreographische Umsetzung? Und, wenn ja, welche? Weniger die Tempo- und die agogischen Bezeichnungen spielen dabei ein Rolle, denn sie entsprechen mit den oben genannten beiden Ausnahmen Debussys Klavierauszug. Interessanterweise ist es aber gerade der von Nijinsky nur selektiv in seine Partitur übernommene und nach herkömmlicher Vorstellung sekundäre Tonsatzaspekt der Dynamik, welcher choreographisch bedeutsam wird. Wenn übernommen, dann ist dieser Aspekt von Bedeutung. Dynamische Bezeichnungen finden sich in Nijinskys Partitur an vier Stellen: in den Takten 15 bis 17 »crescendo« und gleich folgend in den Takten 19 und 20 »dim[inuendo]« und »più dim[inuendo] e riten[uto]«, in Takt 29 »dim[inuendo]«, in den Takten 59 und 60 »crescendo« sowie in der Schlusspartie in den Takten 106 und 107 (entsprechend den Takten 104 und 105 bei Debussy) »en diminuant beaucoup« und »dim[inuant] et retenu«. Nijinsky übernahm nur dann dynamische Bezeichnungen, wenn sie im Klavierauszug verbal erscheinen, also einen den ganzen Orchestersatz umfassenden Sinne haben; graphische Zeichen für die Dynamik dagegen blieben unberücksichtigt, und ebenso zweimal verbale Bezeichnungen in den Takten 44, 45 und 49. Was die erste Stelle betrifft, sind erhebliche Abweichungen zur auch von Pierre Monteux verwendeten Orchesterpartitur6 zu beobachten: Wie in Debussys Klavierauszug von 1894 setzt in Nijinskys Partitur bereits in Takt 15 auf den letzten beiden Achteln ‒ und nicht erst in Takt 17 wie in der Orchesterpartitur ‒ ein Crescendo ein, das genau mit den Aktionen des Faun zusammenstimmt. Der dynamische Aspekt der Musik ist hier choreographisch in eine zunehmende Be-
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Wenn man in Rechnung stellt, dass er ohne Zweifel Debussys eigenen Klavierauszug
6
Die Partitur lag damals nur in dem bei den Editions Durand erschienenen Erstdruck
seiner Partitur zugrunde gelegt hat. vor.
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wegungsdynamik übersetzt. Ob dies dem 1912 Erklingenden tatsächlich entsprach, ist allerdings ohne Konsultation von Monteux’ derzeit verschollener Dirigierpartitur nicht definitiv zu klären. Die von Nijinsky an vier Stellen ‒ auf den ersten Blick erstaunlich ‒ in die Partitur integrierten dynamischen Bezeichnungen lassen sich durchweg in Verbindung bringen mit dem, was auf der Körperebene beim Faun sich vollzieht. Nijinsky anverwandelte die Anweisungen ingeniös für seine Zwecke und setzte sie ein, um choreographische Vorgänge zu notieren, die sich anders nur schwer festhalten lassen. Dabei haben die dynamischen Zeichen jeweils eine unterschiedliche Bedeutung: In den Takten 15 bis 17 ist es eine zunehmende, in 19 und 20 eine abnehmende Bewegungsdynamik, welche mit dem Crescendo beziehungsweise Diminuendo bezeichnet wird, also etwas, das entäußert wird. In den Takten 29 beziehungsweise 59 und 60 hingegen ist es eine Dynamik der Körperspannung, also etwas Innerliches, das mit den Anweisung »diminuendo« beziehungsweise »crescendo« festgehalten wird. Und in den Takten 106 und 107 schließlich geht es mit der Anweisung »en diminuant beaucoup« um die zeitlich genau artikulierte Spannungsreduktion.
C HOREOGRAPHIE P ARTITUR
ALS
A NALYSE
DER MUSIKALISCHEN
An der Produktion der Uraufführung des Balletts Beteiligte berichteten über die enormen Schwierigkeiten bei der Einstudierung dieser Choreographie, die eine Unzahl von Proben erforderte (Nijinska 1981: 427). Und so stellt sich die Frage: Worin lagen die? Woran orientierte sich Nijinsky in der Musik? Oder ‒ weniger abstrakt gefragt ‒ waren etwa Wiederholung und Variation auf musikalischer Ebene für die Choreographie von Bedeutung? Und wie sieht das Verhältnis von Musik und Tanz allgemein aus? Inwieweit ist der Tanz unabhängig beziehungsweise abhängig von der Musik konzipiert? Sind der musikalische und der choreographische Text selbständige Texte, die einander nur an bestimmten Stellen genau entsprechen, an anderen jedoch divergieren? Bezüglich struktureller Entsprechungen von musikalischer Ebene und derjenigen des Tanzes sind verschiedene Fälle zu beobachten, von denen hier nur zwei gegensätzliche angeführt seien: •
Entsprechungen auf der Ebene der Tanz-Notation: Die Takte 1 (und 2) und 11 (und 12) in Nijinskys Partitur zeigen exakt die gleiche Konfiguration der Körperpositionen des Faun; diese wird also wiederholt. Was entspricht nun
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•
dem auf der musikalischen Ebene? In beiden Fällen ist das dominierende Element die charakteristische, einen Tritonus durchschreitende Flötenmelodie, im ersten Fall unbegleitet, im zweiten begleitet durch das Orchester und harmonisch in neues Licht gerückt. Nijinsky orientiert sich hier also nicht am musikalischen Moment der Variation, sondern daran, dass die Melodie unverändert wiederholt wird. Identität oder große Ähnlichkeit auf der Ebene der Choreographie: Die Takte 17 und 18 entsprechen choreographisch den Takten 102 und 103 weitgehend. Gibt es hier auf der Ebene der Musik Entsprechungen? Oder hat man es bei diesem Fall visuell mit einer Wiederholung zu tun, die sich aber zu einer vom ersten Erscheinen verschiedenen Musik vollzieht? Letzteres ist der Fall; es zeigt, dass Nijinskys Intention hier nicht ist, die strukturelle Verschiedenheit der Musik abzubilden, sondern umgekehrt Beziehungen über den Tanz herzustellen.
M USIKALISCHE P ARTITUR
UND
T ANZPARTITUR II
Nijinskys Übernahme der musikalischen Notationszeichen in die Tanznotation nähert die beiden Partiturformen einander zwar an, ohne dass die Tanzpartitur aber eine direkte Übersetzung der Musikpartitur wäre oder sein könnte. Mit einer weitgehend exakten Entsprechung hat man es bei den zeitgebundenen Aspekten zu tun, also dort, wo Musik und Tanz als Zeitkünste einander direkt berühren: bei Tempo und Agogik sowie hinsichtlich der durch die Partiturdarstellung ermöglichten exakten Synchronisierung gleichzeitiger Abläufe. Aber schon, was Rhythmus und Metrum betrifft, werden klare Differenzen sichtbar. Die rhythmisch-metrische Notationsweise, die auf Zweier- und Dreierproportionen und ihren entsprechenden Vielfachen oder Bruchteilen beruht, löst, was die Bewegung betrifft, kontinuierliche Verläufe in diskrete Stufen auf, in Positions- oder Konstellationswechsel, eine Darstellung sozusagen in ‚Momentaufnahmen‘, ähnlich Filmbildern in geringer Bildfrequenz. Die Distanz zwischen den jeweils notierten Positionen muss durch die Tänzer mit Bewegung gefüllt werden. Man hat es also nicht mit einem visuellen Rhythmus zu tun, der analog wäre zum musikalischen. Wie jede musikalische Partitur erlaubt auch Nijinskys Partitur, gleichzeitige Verläufe exakt zu synchronisieren, und zwar sowohl auf Ebene des Einzelkörpers als auch auf einer die einzelnen Körper transzendierenden Ebene. Die beiden Partiturformen unterscheiden sich jedoch grundlegend darin, dass die musikalische Partitur ‒ jedenfalls noch bei Debussy ‒ auf einen allen Stimmen oder
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Instrumenten gemeinsamen, durch die zugrundeliegende Tonleiter strukturierten Tonraum bezogen ist, in den sich jedes Instrument in seiner Registerlage einschreibt, dass es aber keinen dementsprechenden über den einzelnen Körper hinausgreifenden Körperraum gibt. Die Partiturdarstellung ist in Bezug auf den Tanz auf den Aspekt der Gleichzeitigkeit reduziert; es gibt keine Hierarchisierung, die dem Hoch-Tief und der inneren Organisation des Tonraums wenigstens grosso modo entspräche. Da die Partituranordnung keinen umfassenden Raum repräsentiert, bedarf es dazu separater Notation von Bodenwegen. Eine choreographische ‚Mehrstimmigkeit‘ als Analogon zu musikalischer Mehrstimmigkeit und musikalischem Kontrapunkt gibt es durchaus, aber ohne ein ‚harmonisches Gerüst‘, in das die Körper sich einfügten. Sie wäre daher eher einer atonalen, nicht durch eine alles umfassende Harmonik geregelten musikalischen Mehrstimmigkeit zu vergleichen. Durch die in der tanzschriftlichen Partitur praktizierte Bewegungsanalyse überträgt Nijinsky, so lässt sich spekulieren, den Tonraum der musikalischen Partitur auf die einzelnen ‚Körperräume‘ der jeweils agierenden Tänzer (Jeschke 2009: 58-89). Indem der Choreograph die körperlichen Aktionen in Musiknoten überträgt und so die Komplexität von Bewegungen und Gesten auch in der tanzschriftlichen Darstellung wie Klänge segmentiert, stellt er koordinativ und zeitlich äußerst komplexe Bezüge zwischen den einzelnen Körperteilen her – eine Zeitgenauigkeit und Rhythmisierung, die der menschliche Körper im Unterschied zu einem Musikinstrument nicht fähig ist auszuführen (Järvinen 2006: 78).7 Nicht nur Debussy sondern auch Nijinsky arbeitet mit diskreten Elementen, die die Tonhöhen und rhythmischen Gliederungen der Bewegungen explizieren, ohne dass sie in sichtbare Aktionen umgesetzt werden könnten. Allerdings verweist die Verwendung dieser Einheiten auf energetische, introspektive Qualitäten, die sich als kinästhetische Wirkungen vermitteln. In dieser – tanznotationalen – Über-Interpretation von Synchronizität bzw. Sukzessivität löst sich die Bewegung aus bis dato gültigen Mustern, eröffnet das Potential für ein neues, ein abstraktes Bewegungs-Repertoire. Durch die Bewegungsfindungen wird die Choreographie zu einem vielschichtigen bewegten Bild, fügt also der Szenographie, der Erzählung wie der Musik die visuelle, theatrale Komponente hinzu.
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1913 soll sich Nijinsky zu seinem choreo-graphischen Verfahren folgendermaßen geäußert haben: „I am forced to cry for a ‚partition of movements‘ where to place my instruments – which are the human bodies – in a manner that is in absolute accordance with a white canvas for Bakst or a group of violins for Debussy. My composition is even less simple because the human body does not possess just for strings but an infinite multitude of sensitive and expressive elements“ (Nijinsky, in Cahusac 1913).
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Bewegungen wie Positionen sollen wirken, präsentisch ‚schwingen‘ können; und Nijinsky beschreibt die Aktionen so, dass aufgrund seiner quasi ‚diskret musikalischen‘ Notierung motorische Phrasierungs-Bögen entstehen. Die Aktionen des Körpers verdichten sich zu ständig neu sich schichtenden, energetisch aufgeladenen Momenten. Zum andern werden den Tänzern mit den Phrasierungs-Bögen Atemlinien zur Verfügung gestellt, die so im Tanz noch nie thematisiert oder gar notiert worden waren; durch sie wird die performative Individualisierung der Tänzer denkbar und realisierbar. Im Vordergrund steht also ein neuer Blick auf die Konstruktion des Körpers, seiner Bewegungsmöglichkeiten, genauer: auf die sinnliche Produktion und Übertragung von Organischem, von realen physiologischen und motorischen Vorgängen.8 Dieser Blick verdankt sich – so lässt sich aus den Schriftbildern der beiden Partituren schließen – den strukturell-sinnlichen Entsprechungen zwischen Musik und Choreographie: den tänzerischen Reaktionen auf melodische Wiederholungen, die Nijinsky in seiner Partitur/Choreographie praktiziert, sowie den rein choreographischen Wiederholungen, die eher dramaturgisch wie choreographisch-visuell als melodisch begründet sind. Die korporale Synthese von Hören und Visualisieren wie deren Verbindung mit der musikalischen Dynamik als expressivem, narrativem choreographischem Element sind wesentliche Fähigkeiten, die den Körper und seine Bewegungen sowohl instrumentalisieren als auch die tanzende Person repräsentieren. Nijinsky hat mit seiner Notation eine Verschiebung der bis dato gültigen Tradition vorgenommen – eine Verschiebung weg vom formal Instrumentalen hin zur Priorisierung des individuell Instrumentalen. Und hat dabei die Möglichkeit geschaffen, dass sich eine formal wie inhaltlich eigenständige Deutung der Erzählung wie der Musik entwickelt. Nijinskys Statement lässt sich so formulieren: Die Aktionen und Reaktionen des Körpers und seiner Bewegungen sind ähnlich wichtige Ausdrucksmittel wie das Wort der Literatur oder der Ton der Musik; sie emanzipieren sich ebenso aktiv und unabhängig von der Tradition, ihre Wirkungskraft geht weit über die repräsentative Vermittlung schöner Bilder, über die Illustration einer Geschichte oder die Erfüllung bestehender musikalischer Konzepte hinaus. Mit ihrem Fokus auf den – in Hinblick auf Ausstattung, Narration oder die Musik – jeweils spezifisch bewegten und sinnlichen Körper ermöglichen sie die Wahrnehmung der Ereignishaftigkeit, des Präsentischen, des Situativen im Tanz.
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Zur rezeptionstheoretischen Interpretation der zentralen Position des Körpers in Nijinskys Werk siehe Järvinen 2006.
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E RINNERN
MIT DEM
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K ÖRPER
Nijinskys ‚Erinnerung‘ an sein erstes Ballet L’Après-midi d’un Faune erfolgt durch drei, sich miteinander verbindende körperliche Aktivitäten: •
•
•
die tänzerische Schulung und die für ihn damit verbundene Nähe zu einer weiteren physischen Aktion, dem auf Bewegungsanalyse basierenden Schreiben von Tanz (‚doing writing‘); den physischen, kinetischen Nachvollzug musikalischer, d. h. hier: der zeitgestaltenden Fakturen für die Analyse und Ausführung seines Tanzens (‚doing dancing‘), sowie die performative ‚agency‘, die in dem gestalterischen Zugriff auf seine an der Melodik orientierten Klangerfahrungen von, oder besser: seine Klangerinnerungen an Debussys Komposition sichtbar werden. Vor allem in diesem von der körperlichen Bühnenpräsenz bestimmten Bereich verweisen die angeführten (und sicher noch zu ergänzenden) Beispiele in Bezug auf die von Nijinsky selbst verkörperte Rolle des Faun und die Erzählung von dessen Geschichte auf die Selbständigkeit des choreographischen gegenüber dem musikalischen Text.
Ein weiterer Aspekt sollte in Bezug auf die Vielschichtigkeit des hier relevanten Erinnerns mit dem Körper bedacht werden: Aufgrund der Chronologie von Nijinskys Aktivitäten als Tänzer, Choreograph und Notator ist davon auszugehen, dass er – immer auf der Basis der in seinen Chroreographien praktizierten und in der Notation vermittelten revolutionären Fähigkeit zur Körperabstraktion – nicht nur seinen Umgang mit der Faune-Choreographie schriftlich fixiert, sondern auch seine motorischen und kinetischen Erfahrungen mit Jeux und vor allem mit Le Sacre du printemps (beide 1913) in seine (Tanz-)Schriften integriert – Erfahrungen, die seine Suche nach dem Zusammenhang zwischen Zeit, Rhythmus, Bewegung, Körper in Choreo-Graphie (notierter Darstellung) und Choreographie (tänzerischer Umsetzung) mit anderen kunstvoll-komplexen musikalischen Texten neu herausforderten.
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Tab. 1: Synopse der Tempobezeichnungen und der metrischen sowie dynamischen Bezeichnungen in Particell und Partitur sowie in den drei Klavierauszügen von Claude Debussy’s Prélude à l’Aprèss-midi d’un Faune.
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L ITERATUR Acocella, Joan (Hg.) (2006): The Diary of Vaslav Nijinsky (translated from the Russian by Kyril Fitz Lyon), Urbana: University of Illinois Press. Cahusac, Hector (1913): Debussy et Nijinsky, in: Le Figaro, May 14. Debussy, Claude (1894): Prélude à L’Après-midi d’un Faune, Réduction pour deux pianos, Paris: Éditions Fromont. Debussy, Claude (1910): Prélude à L’Après-midi d’un Faune, Transcription à quatre mains par Maurice Ravel, Paris: Éditions Fromont. Debussy, Claude (1914): Prélude à l’après-midi d’un Faune, Transcription pour piano par Leonard Borwick, Paris: Éditions Jobert. Hutchinson Guest, Ann; Jeschke, Claudia (1991): Nijinsky’s Faune Restored, Philadelphia u. a.: Gordon and Breach. Järvinen, Hanna (2006): Kinesthesia, Synesthesia and Le Sacre du Printemps: Responses to Dance Modernism, in: The Senses and Society, Vol. 1, 2006 (Nr. 1), S. 71-79. Jeschke, Claudia (2001): Das Opus Waslaw Nijinskys, in: Staatsoper Unter den Linden (Hg.), Le Sacre du Printemps, Berlin: o.V., S. 54-70. Jeschke, Claudia (2009): Russische Bildwelten in Bewegung. Bewegungstexte, in: Claudia Jeschke; Nicole Haitzinger (Hg.), Schwäne und Feuervögel. Die Ballets Russes 1909-1929. Russische Bildwelten in Bewegung, Berlin: Henschel, S. 58-89. Nijinska, Bronislava (1981): Early Memoirs, New York: Holt, Rinehart and Winston. Nijinsky, Vaslav (1995): Nijinsky Cahiers. Version non expurgée, Paris: Actes Sud.
Musik erleben und verstehen durch Bewegung Zur Körperlichkeit des Klanglichen in Choreographie und Performance S TEPHANIE S CHROEDTER
Körperliche Dimensionen von Musik als einer sich in Raum und Zeit vollziehenden, somit einer wenn auch nicht sichtbaren, so doch hörbaren Bewegungskunst treten in keiner anderen Kunstform ebenso eindringlich und plastisch nachvollziehbar zu Tage wie im Tanz, d. h. in der Interaktion mit choreographierten oder improvisierten Bewegungen. Auch jenseits von Musikvisualisierungen1 oder Musikillustrierungen2 durch physische Bewegungen, die spätestens seit der Postmoderne immer wieder dem Verdikt anspruchsloser Redundanz zum Opfer fielen, regt Musik in besonderem Maß zu einem körperlich bewegten, insbesondere tänzerischen Nachvollzug an, bei dem Motion und Emotion unmittelbar miteinander korrespondieren. Dabei wird vor allem populäre Musik unmit-
1
Zu dem auf das amerikanische Tänzerpaar Ruth St. Denis und Ted Shawn zurückgehenden Begriff choreographierter Musikvisualisierungen vgl. Jordan 2000: 5 sowie zu einer kritischen Diskussion dieses Terminus’ Jordan 2015: 3.
2
Der Begriff tänzerischer Musikvisualisierung und Musikillustrierung wird häufig synonym verwendet, obgleich Illustrationen von Tanz durch Musik (und ebenso umgekehrt: von Musik durch Tanz) zum Narrativen tendieren, während Visualisierungen zumeist auf eine Abstraktion bzw. Konzentration des musikalischen bzw. tänzerischen Geschehens abzielen, die vor allem dessen strukturelle Beschaffenheit hervorhebt. Es bietet sich an, diese beiden unterschiedlichen musikchoreographischen Verfahren auch terminologisch zu differenzieren.
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telbar in Bewegung hörend nachvollzogen, um sie besonders intensiv zu erleben, sich gleichsam einzuverleiben.3 Diesen Hörmodus, bei dem die Musikperzeption unmittelbar mit einer deutlich erkennbaren physischen Bewegung gekoppelt ist, die mit ihr kongruiert, weil der musikalische Rhythmus zu einem Bewegungsmotor avanciert (z. B. Schönhammer 2013: 229ff; Klein 2004 und 2005; Pfleiderer 2006; Thom 2014), umschreibe ich als ein kinetisches Hören. Dagegen muss bei einem kinästhetischen Hören, bei dem Musik ebenfalls sehr unmittelbar als Bewegung empfunden wird, die physisch resonierende Bewegung nicht zwangsläufig sichtbar sein und auch nicht unbedingt mit dem Gehörten kongruieren. Die Musik muss noch nicht einmal hörbar sein, um als Bewegung empfunden werden zu können – wie im Folgenden an den Konzertinszenierungen des französischen Tänzers und Choreografen Xavier Le Roy auf der Basis ausgewählter Kompositionen von Helmut Lachenmann aufzuzeigen sein wird. Zudem fällt bei einem kinästhetischen Hören neben dem Rhythmus auch der Melodie, Harmonie und Klangfarbe eine wesentliche Bedeutung zu, um Musik in ihrem Bewegungspotenzial wahrnehmen zu können. Schließlich kann die auditive (und auch visuelle) Wahrnehmung nicht nur mit dem Bewegungssinn, d. h. der Propriozeption bzw. Kinästhesie (u. a. Handwerker 2006: 215f.; Stewart et al. 2014: 183–218; oder aus einer tanzwissenschaftlichen Perspektive Batson & Wilson 2014: 87ff.), sondern durch die enge Verschaltung der Rezeptor- und Sinneszellen auch ebenso mit taktilen und haptischen Sensationen unmittelbar verknüpft sein, letztlich sensomotorische Leistungen im weitesten Sinn umfassen (z. B. Gründer 2015: 592ff.). An dieser Stelle ist der Übergang von einem kinästhetischen zu einem synästhetischen Hören (als einem sämtliche Sinne umschließenden Hören) fließend, so dass einmal mehr deutlich wird, wie wichtig es ist, gerade in Hinblick auf das Erleben und Verstehen von Musik zwischen unterschiedlichen Hörmodi zu differenzieren.
3
Das in jüngerer Zeit vieldiskutierte Konzept des Embodiment (Verkörperung bzw. Einverleibung/Verleiblichung) hat maßgeblich dazu beigetragen, körperliche, d. h. insbesondere sensomotorische Aktivitäten als wichtige Faktoren bei dem Prozess der Wahrnehmung und Erkenntnisbildung anzuerkennen. Wesentliche philosophische Voraussetzungen hierzu leistete die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys in der Nachfolge von Edmund Husserl. Hierzu u. a. Husserl et al. 1991 [1907]; MerleauPonty 1966; Lakoff & Johnson 1999; Varela et al 1991; Gallagher 2005; Waldenfels 2010; Fingerhut et al. 2013. Für kognitionswissenschaftliche Ansätze im Bereich der Musikwissenschaft soll an dieser Stelle auf die Arbeiten von Zbikowski (u. a. 2002 und 2012) sowie die jüngsten Publikationen von Cox 2016 und Leman 2016 verwiesen werden.
M USIK ERLEBEN UND VERSTEHEN DURCH B EWEGUNG
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Meine Perspektive für die folgenden Überlegungen ist ein spezifisch körperliches Bewegungshören – ein situiertes Bewegungshören bzw. Embodied Movement Listening –, das Musik in Bewegung, zu Bewegung und als Bewegung erlebt und versteht, wobei sowohl die Musik ebenso hörbar wie kaum noch oder nicht (mehr) hörbar beziehungsweise ausschließlich in einer inneren Vorstellung präsent, als auch die Bewegung ebenso sichtbar wie unsichtbar, d. h. imaginär, 4 sein kann.
M USIK IN B EWEGUNG , M USIK ALS B EWEGUNG
ZU
B EWEGUNG
UND
M USIK
Im Gegensatz zu einem unmittelbar mit eigenen körperlichen Bewegungen verbundenen Hörmodus – einem kinetischen Hören von Musik in Bewegung – werden im Musik- und Tanztheater, im Film oder auch in post-dramatisch ereignishaft angelegten Performances Musik, Klänge oder Geräusche zu sehr unterschiedlich gearteten und häufig auch hochgradig ausdifferenzierten Bewegungsgestaltungen gehört, wodurch die Zuschauenden/Zuhörenden (innerlich) bewegt, im Sinne von affiziert werden. Das hörbare Geschehen muss sich dabei nicht zwangsläufig an den sichtbaren Ereignissen orientieren und insbesondere nicht mit ihnen kongruieren, sondern kann auch sehr dezidiert Irritationen beim Hören und Sehen hervorrufen. Dabei kommt es während der Perzeption zu Bewegungen zwischen dem Hören und Sehen,5 die zu jenen Emergenzeffekten6 führen
4
Definitionen dieser Hörmodi eruierte ich zunächst im Kontext meiner Habilitationsschrift zu Bewegungs- und Klangräumen im Paris des 19. Jahrhunderts, in der ich unterschiedliche Ebenen tänzerischer/tanzmusikalischer Aktivitäten vor dem Dispositiv einer aufblühenden Großstadt der Moderne untersuchte (Schroedter 2015). Dennoch handelt es sich hierbei keineswegs um ausschließlich historische oder gar auf einen spezifischen Kulturraum bezogene Phänomene. Vielmehr galt es Tendenzen individuell, (sozio-)kulturell und nicht zuletzt auch (gesellschafts-)politisch, insofern historisch bedingter Hörgewohnheiten und ihre Konsequenzen für das Musik(er)leben zu eruieren.
5
Hierzu Schroedter 2012 mit Bezug auf unterschiedlichste Kunstsparten.
6
Das Hervorrufen von Emergenzeffekten im Zusammenspiel von Musik/Klang und Tanz/Bewegung wird vorzugsweise der Cage/Cunningham-Kollaboration zugeschrieben. Letztlich handelt es sich jedoch hierbei um ein sehr grundsätzliches Phänomen kognitiver Bedeutungsgenerierung, so dass sich die Frage stellt, ob nicht jedes Zu-
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können, bei denen aus der Summe der auditiven und visuellen, d. h. audiovisuellen Eindrücke mehr bzw. etwas Neues und gänzlich anderes entsteht, als die hörund sichtbaren Einzelbestandteile für sich genommen erahnen lassen. Schließlich kann auch Musik im Konzertsaal, d. h. eine nicht szenisch umgesetzte Musik aufgrund der ihr implizit innewohnenden, theatralen bzw. performativen Dimensionen als (imaginäre) Bewegung gehört werden – wie sich an Lachenmanns Musik sehr eindringlich nachvollziehen lässt (vgl. hierzu weiter unten). Besonders naheliegend ist dieses Phänomen bei einer konzertanten Darbietung von stilisierter Tanzmusik oder Ballettsuiten, die tänzerische Bewegungsmuster (vor allem bei einschlägigen Kenntnissen der entsprechenden Tanzformen oder Choreographien) quasi dem Ohr innerlich vor Augen führen kann. Unter dieser Voraussetzung nimmt die Musik körperhafte bzw. körperliche Konturen an7 bzw. schreibt sie sich insbesondere durch ihre Melodik und ihr Klangvolumen (mittels Instrumentation und Dynamik) in den Umraum des Hörenden ein, choreographiert geradezu den akustischen Raum. Dementsprechend muss Musik nicht zwangsläufig mit physisch sichtbaren, inszenierten, choreographierten oder improvisierten Bewegungen (d. h. von dem Instrumentalspiel unabhängige Bewegungskomponenten) verbunden werden, um sie ungeachtet ihrer unsichtbaren Körperlichkeit als Bewegung wahrnehmen zu können, d. h. zu erleben und zu verstehen – vorausgesetzt der Perzipierende vermag sie mit seinem Bewegungssinn zu erfassen. Das hierzu erforderliche und auch in einschlägigen Studien zum Hören8 bislang kaum untersuchte kinästhetische Hören bezieht sich somit auf das Zusam-
sammenspiel von hör- und sichtbaren Eindrücken zwangsläufig zu Emergenzeffekten führt. Hierzu u. a. Roth 1992. 7
Steffen Schmidt beschreibt mit seinem, an Roland Barthes Ausführungen „zum Körper der Musik“ (Barthes & Hornig 1990 [1982]) geschulten Konzept eines ‚KörperHörens‘ ein vergleichbares Phänomen, das er jedoch auf den Körper des Komponisten, der sich in seiner Musik manifestiert, zurückführt (Schmidt 2008 2012: 45ff.). Dagegen skizziert Holger Schulze im Kontext anthropologisch ausgerichteter Sound Studies ein „körperliches Hören“ bzw. „corporeal listening“, das vor allem von dem eigenen Körper als hörendes Wahrnehmungsorgan ausgeht und nicht zwangsläufig auch der Musik einen virtuellen Körper zuschreibt, der sich im Raum bewegt (Schulze 2008: insb. 149).
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Es ist hier nicht der Ort, auf die unterschiedlichen Ansätze der in jüngerer Zeit rapide aufblühenden Forschungen zum (musikalischen) Hören einzugehen. Hervorgehoben werden sollen an dieser Stelle allein zwei Autoren, bei denen ich Hinweise auf ein kinästhetisches Hören fand, das sich allerdings von meiner Definition unterscheidet.
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mentreffen von hör- und sichtbaren Bewegungen, aber auch unsichtbaren (imaginären) Bewegungen jenseits funktionaler Zusammenhänge (wie sie der Tanzmusik gerne zugeschrieben werden), wobei die im ursprünglichen Sinn audiovisuellen Bewegungen nicht zwangsläufig zeitlich synchron oder semantisch kongruent verlaufen müssen. Schließlich besteht die Herausforderung für die Wahrnehmung nicht nur in den bereits erwähnten Emergenzeffekten, bei denen sehr unterschiedliche Eindrücke miteinander verschmelzen, sondern auch in Momenten überraschender Differenz- und Interferenzerfahrungen, die eine Kluft zwischen dem Gehörten und Gesehenen markieren und auf diese Weise den aisthetischen Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Perzipierenden erweitern (vgl. hierzu weiter unten). Ein kinästhetisches Hören (und ebenso ein entsprechendes Sehen) ist somit ein dezidiert bewegungssensibles und idealerweise auch kritisch selbstreflektierendes Hören (respektive Sehen) – ein Hören (Sehen), bei dem Eigenbewegungen, d. h. die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Bewegungen durch Tiefensensibilität (Signale aus der Skelettmuskulatur, den Sehnen und Gelenken durch Propriorezeptoren), mit der Orientierung im Raum bzw. der Wahrnehmung von Menschen/Dingen und deren Bewegungen im Umraum des eigenen Körpers in Relation gesetzt wird. Die Tatsache, dass der im Innenohr lokalisierte Gleichgewichtssinn (Zenner 2006: 312ff.) maßgeblich an der Körper- und Bewegungsausrichtung im Raum beteiligt ist, erklärt die enge Anbindung des Bewegungssinns an den Hörsinn. Insofern ist bei einer primär hörenden Raumorientierung nicht entscheidend, ob der Raum bzw. Bewegungen im Raum auch sichtbar oder unsichtbar bzw. imaginär sind. Sehen mag hilfreich sein, ist aber für die hörende Bewegungswahrnehmung nicht unbedingt notwendig.9
So beschreibt David Huron mit einem kinästhetischen Hören einen Hörmodus, den ich als kinetisches Hören bezeichne und der bei ihm auch eine pejorative Konnotation erhält (Huron 2002: Punkt 20), während sich Ulrike Sowodnioks phänomenologisch und anthropologisch grundiertes Konzept eines kinästhetischen Hörens (2013: insb. 10ff.) auf eine freie Entfaltung des Stimmklangs richtet, sich somit vor allem auf körperlich situierte stimmliche Phänomene konzentriert. 9
Ein künstlerisches Projekt, das an eben diesem Phänomen kreativ ansetzt, wäre beispielsweise die ‚skulpturale Intervention’ Compass von Jannifer Allora und Guillermo Calzadilla (vgl. hierzu http://www.kurimanzutto.com/en/exhibitions/compass (16.9. 2016 sowie Bormann 2012; Mauksch 2017). Zudem wird dieser Sachverhalt bei Blinden sehr offensichtlich, von denen bekannt ist, dass sich mit der Abnahme des Sehvermögens der Hörsinn schärft, vgl. hierzu die Dokumentation von Nicolas Bellucci über die Arbeit des blinden ,Klangforschers‘ Wolfgang Fasser, der seine Erfahrungen
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Andererseits geschieht die Wahrnehmung akustischer Ereignisse nicht ausschließlich über den Hör-, sondern auch sehr maßgeblich über den Tastsinn. Begründen lässt sich dieses auch jenseits naturwissenschaftlich-physiologischen Forschungsinteresses (z. B. Goldstein & Gegenfurtner 2015: 258ff.) überaus faszinierende Phänomen durch die Tatsache, dass jeglichen auditiven Ereignissen Schallwellen als Schwingungen bzw. Vibrationen zugrundeliegen, die ebenso taktil, gleichsam als Berührung an der Hautoberfläche und somit letztlich mit dem gesamten Körper wahrgenommen werden können. Vor diesem Hintergrund erstaunt kaum, dass in der Contact Improvisation Berührungen des Tanzpartners als Listening bezeichnet werden – obgleich dabei nicht unbedingt etwas im herkömmlichen Sinn zu hören ist bzw. gehört werden muss: als Phänomene taktiler Wahrnehmung werden Hören und Berühren gleichgesetzt (Brandstetter 2012, 2013). Dieter Schnebel umschreibt diesen Sachverhalt sehr plastisch am Beispiel seines ‚ersten‘ Hörerlebnisses von Edgar Varèses Ionisation: „Beim ersten Hören der Musik von Edgar Varèse ist man ebenso bestürzt wie fasziniert von der Körperlichkeit des Klangs. Das, was Klang ist, nämlich vibrierende Luft, wird in Varèses Musik geradezu leiblich erfahrbar: man hört Schwingungen nicht nur, sondern man spürt sie auf der Haut, so daß man solche Musik eigentlich ohne Kleidung vernehmen sollte, um die Beschallung möglichst allseitig aufzunehmen; in die Klangfülle nicht nur mit den Ohren, sondern ganz einzutauchen“ (Schnebel 1978: 6).
Ebenso anschauliche und unmittelbar an künstlerischen Phänomenen nachvollziehbare Konturen nimmt dieser Sachverhalt bei der international überaus erfolgreichen, schottischen Schlagzeugerin Evelyn Glennie an, deren Hörvermögen sich ab ihrem Alter von 12 Jahren sukzessiv bis auf 20% verringerte – ein Umstand, der sie allerdings keineswegs daran hinderte, ihrer Musikleidenschaft weiter nachzugehen, sie stattdessen anspornte, eine professionelle Laufbahn als Konzertmusikerin einzuschlagen. An ihren Äußerungen sowie an den Filmaufzeichnungen ihrer Musikpraxis wird offensichtlich, dass sie die Musik bzw. deren Schallfrequenzen insbesondere als Vibrationen taktil wahrnimmt (Glennie 1990; Riedelsheimer 2004). Zudem sind generell für Musiker akustische Ereignisse häufig mit einer ausgeprägten haptischen Komponente verbunden, da die Klangerzeugung zumeist unmittelbar mit sensomotorischen Aktivitäten wie Drücken, Greifen, Streichen, Tasten etc. verbunden ist. Nach längerer Übung wird der motorische Vorgang
und sein Wissen mit einem beachtlichen, hör- und sichtbaren Erfolg vor allem in den musiktherapeutischen Bereich einbringt: Im Garten der Klänge (W-film 2012).
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zur Klangproduktion so eng mit dem aus ihm resultierenden Klangergebnis verschaltet, dass bereits durch die Bewegung eine Klangvorstellung ausgelöst bzw. der Klang imaginiert werden kann – und umgekehrt: spezifische Instrumentalklänge können bei routinierten Spielern unmittelbar Imaginationen von Bewegungen, virtuelle Bewegungsmuster, auslösen, die zur Klangproduktion erforderlich sind.10 Es handelt sich hierbei um einen konditionierten Lernprozess (Bouton 2007) im Verbund mit einem impliziten, nicht unbedingt verbalisierbaren Wissen (Polanyi 1966, zu einem aktuellen Überblick: Neuweg 1999, 2015) bzw. einem verkörperten, genaugenommen: einverleibten Wissen (Embodied Knowledge),11 das zunächst vor allem einer praktisch handwerklichen Könnerschaft, inbesondere haptischen und taktilen Fähigkeiten und Erkenntnisquellen entspringt, bevor es (zumeist nur rudimentär) rationalisiert werden kann. Musik wird hier wortwörtlich zunächst er-griffen und be-griffen, um sie audiovisuell und haptisch-taktil als (emotional) ergreifend erleben beziehungsweise (rational) begreifen zu können.
H ELMUT L ACHENMANNS AB - TASTENDES UND BE - GREIFENDES H INHÖREN Eben jenen körperlich erfahrbaren Aspekt einer taktilen und haptischen Wahrnehmung von Klangereignissen thematisiert Lachenmann sehr explizit in seiner Kompositionsmethodik und Hörästhetik (Utz & Gadenstätter 2008) und stellt ihn geradezu in das Zentrum seiner Kompositionspraxis, indem er mit dem musikalischen Gestaltungsprozess bereits bei der Klangerzeugung als einer sensomotori-
10 Vgl. Ligeti & Neuweiler 2007 zu der hieran maßgeblich beteiligten „motorischen Intelligenz“, die Neuweiler auch als „Schlüssel zur Menschwerdung“ (ebd.: 34) bezeichnet, da sich der Mensch vor allem durch diese Fähigkeit von Tieren unterscheide. 11 Hierauf berufen sich auch die in jüngerer Zeit verstärkt an Bedeutung gewinnenden, unmittelbar bei der künstlerischen Praxis ansetzenden Forschungen (Practice as Research bzw. Artistic Research), die nicht weniger bemüht sind, Wissen zu schaffen, konsequenterweise auch als Wissenschaft akzeptiert zu werden, und die somit den tradierten Wissensbegriff erweitern. Zu einem Überblick der vielfältigen Dimensionen eines Embodied Knowledge bzw. Körperwissen Renger et al. 2016, insbesondere zu tänzerischen Dimensionen dieses impliziten Wissen, siehe Brandstetter 2016: 327-332 sowie Quinten & Schroedter 2016.
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schen Aktivität ansetzt12 – und nicht von herkömmlichen Tonsystemen beziehungsweise standardisierten Artikulationen ausgeht. Entsprechende Verfahren entwickelte er modellhaft an Pression für einen Cellisten (1969/70), eine Komposition, für die er auch eigens eine Aktionsnotation entwarf (Lachenmann & Häusler 1996 [1972]: 381; zu einer entsprechenden Analyse Neuwirth 2008: 8392). So mag es auch kein Zufall sein, dass Xavier Le Roy diese Komposition in seine Konzertinszenierungen einbezog (Hierzu weiter unten). Abb. 1: Helmut Lachenmann: Pression für einen Cellisten
Quelle: Breitkopf & Härtel Wiesbaden, Leipzig, Paris 1980 (BG 865)
12 In Bezug auf Gran Torso (1971/72), jenem Streichquartett, das in erweiterter Instrumentalbesetzung auch Bestandteil von Xavier Le Roys Konzertinszenierungen war, betont Lachenmann, dass sich in seinen Kompositonen der „Materialbegriff […] von der Konvention zu lösen versucht, indem er statt vom Klang von den mechanischen und energetischen Bedingungen bei der Klang-Erzeugung ausgeht und von dort strukturelle und formale Hierarchien ableitet“ (Lachenmann & Häusler 1996 [1978]: 386).
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Die Betonung der Motorik beziehungsweise unterschiedlichster Bewegungsartikulationen zur Hervorbringung gänzlich neuer, subtil nuancierter Klangfarben führt zu jenem, im Vorangegangenen zunächst allgemein skizzieren Sachverhalt: Lachenmanns Musik muss – von den Interpreten wie (zumindest imaginär) von den Perzipierenden – zunächst er-tastet bzw. abgetastet und er-griffen werden, um sie begreifen, d. h. verstehen zu können. Lachenmann spricht dementsprechend auch von einem ‚Abtastprozess‘ (Hierzu auch Schroedter 2012: 74-88), dessen Bedeutungsradius Reinhart Meyer-Kalkus sehr pointiert zusammenfasst: „‚Abtastprozess‘ meint mithin ein Doppeltes: den Akt der materiellen Hervorbringung der Musik, bei der die materiellen Klangmöglichkeiten sukzessive wie in einem großen Arpeggio entfaltet werden; zugleich aber – auf Seiten der Zuhörer – der Prozess des Hineinhörens und Hinein-Imaginierens, der sich in diesen unbekannten Räumen tastend orientiert. […] Der Hörer wie auch die Instrumentalisten sind gleich Blinden, die sich taktil und akustisch in unbekannten Klangräumen zu orientieren versuchen und erst retrospektiv, in der Erinnerung, die Teilklänge zur Form zusammenfügen. […] [Es ist] der Versuch, den Begriff eines veränderten Hörens, eines verkörperten Hörens zu exponieren, das der Motorik des Hörens ebenso wie der synästhetischen Integration der Sinnesvermögen im Akt der Hörwahrnehmung gerecht wird. Akustische Erfahrungen aus dem Horizont haptischer Erfahrungen und Assoziationen zu erschließen, ist freilich alles andere als selbstverständlich. Wenn schon Musik synästhetisch verstanden wurde, dann zumeist aus dem Blickpunkt der visuellen Wahrnehmung. Messiaens Kirchenfensterpracht, Boulez’ kinetische Lichterspiele und Ligetis surrealistische Bilderrätsel sind Konfigurationen imaginären Sehens, übersetzt ins Akustische. Sonderbarerweise sind Lachenmanns Kompositionen eindrucksvoll und stark, obgleich sie unser visuelles Imaginäres nicht primär ansprechen“ (MeyerKalkus 2006: 104f.).
Somit ist zunächst ein originär körperliches Bewegungswissen in Form einer spezifisch taktil-haptischen Geschicklichkeit eine essenzielle Voraussetzung für den Verstehensprozess der Klangereignisse. Die ihnen zugrundeliegende Klangmotorik zielt wiederum nicht auf ein verständnisvolles ‚Zuhören‘ als Wiedererkennen von Bekanntem ab, sondern will ein selbstreflexives ‚Hinhören‘ schulen, das tradierte Hörgewohnheiten hinterfragt, um sich immer wieder mit ganzer Aufmerksamkeit Ungewohntem und Neuem öffnen zu können – wie auch Markus Neuwirth sehr prägnant formuliert: „Während das ‚Zuhören‘ auf die historisch präformierte und konventionell geprägte syntaktische Dimension der Musik gerichtet ist, zielt das ‚Hinhören‘ auf ihre akustischen und physikalischen Eigenschaften, auf die ‚Anatomie des klingenden Geschehens‘. Im erstge-
230 | S TEPHANIE S CHROEDTER nannten Wahrnehmungsmodus lässt sich der Hörer voll und ganz auf die vorgeprägten und bekannten Strukturen ein, wodurch ein Zustand der „Magie“ entsteht. Der zweite Modus, das ‚Hinhören‘, kommt dadurch zustande, dass aufgrund einer ‘Brechung‘ der Konvention – etwa durch Verfremdung oder Rekontextualisierung der Teilmomente – beim Hörer eine Irritation erzeugt wird. In diesem Fall erfährt der Hörer einen Zustand von ‚gebrochener Magie‘. Dieses Hören enthält aber zugleich auch eine reflexive Komponente, denn die Abweichung von der Konvention (etwa der instrumentalen Klangerzeugung) schafft ein erweitertes Bewusstsein beim Hörer. Dies führt letztendlich zu einer Art MetaWahrnehmung, die auf die Voraussetzungen des eigenen Hörens gerichtet ist. Hörer können in einer wahrnehmenden Auseinandersetzung mit Lachenmanns Kompositionen lernen, die Bedingungen der eigenen musikalischen Rezeption zu reflektieren, sich der Beschränkungen des eigenen Hörens bewusst zu werden und gegebenenfalls auf dieser Basis eine Veränderung der Wahrnehmung zu erreichen“ (Neuwirth 2008: 77ff., sämtliche in Anführungsstriche gesetzten Begrifflichkeiten stammen von Helmut Lachenmann).
C HOREOGRAPHIERTES H INHÖREN K ONZERTINSZENIERUNGEN
IN
X AVIER L E R OYS
Ein derart motorisch beziehungsweise körperlich geprägtes Musikkonzept, das eng mit einer kritisch reflektierenden Hörhaltung korrespondiert, kann von einem gleichzeitigen Hinsehen (aber nicht Zusehen – um Lachenmanns Unterscheidung von Hörgewohnheiten auch auf die visuelle Wahrnehmung zu übertragen) durchaus profitieren: durch den sehend-abtastenden Nachvollzug der sichtbaren (Spiel-)Bewegungen kann das Ohr geschärft, aber auch irritiert werden, um letztlich noch genauer hinzuhören. So beschreibt Gerald Siegmund, dass ihm die „Klangfarben der Töne und Geräusche“ von Pression als die „anderer Instrumente, […] einer Gitarre etwa oder gar eines Blasinstruments“ erschienen seien, woraus er ableitet: „Schon hier werden Hören und Sehen voneinander gelöst, wird unsere Wahrnehmung geweitet und an unser Vorstellungsvermögen appelliert, eine andere Szene zu imaginieren. Dieser Dynamik zwischen Spiel, Klang und dem Wahrnehmungsvermögen der Zuhörer ist daher zunächst in einem ganz konventionellen Sinn eine gewisse Theatralität eigen […]: Das Cello und sein Klangspektrum spielen Theater, weil es sich als etwas anderes maskiert, weil es im Bewusstsein des Zuhörers als etwas anderes vorstellig wird“ (Siegmund 2012: 254).
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Potenziert wird der Wechsel zwischen unterschiedlichen Hör-Szenen, wenn zu dieser musikimmanenten Theatralität – die sich jedoch in ihrer (auf paradoxe Weise) subtil zurückhaltenden Theatralik von jenen Inszenierungen des Musikmachens beziehungsweise Klangproduzierens deutlich abhebt, die sich seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als alternative Musiktheaterformen herausbildeten13 – eine weitere Theatralitätsebene hinzugefügt wird, wie es in Xavier Le Roys Konzertinszenierungen geschah. Geleitet von der Fragestellung, wie durch jeweils neue experimentelle Versuchsanordnungen des Konzertdispositivs Irritationen zwischen einem körperlich situierten, da abtastend begreifenden, letztlich kinästhetischen Hören (in der oben genannten Definition) und einem ebensolchen Sehen hervorgerufen werden, sollen sie im Folgenden vorgestellt werden. Vor diesem Hintergrund darf diese zwischen Konzert und Choreographie changierende Performance14 auch als ein inszenierter Artistic Research Process bezeichnet werden – zumal Le Roy seinen künstlerischen Arbeitsprozess kontinuierlich reflektierte und diese Reflexionen auch teilweise offenlegte.15 Seine erste „Inszenierung eines Konzertabends“ (so lautet der Untertitel) Mouvements für Lachenmann entstand 2005 anlässlich der Feier des 70. Geburtstags des Komponisten im Rahmen des Festivals Wien Modern. Zu Beginn war Lachenmanns Schattentanz für Klavier Nr. 7 aus Ein Kinderspiel (1980) zu hören und zu sehen, dargeboten von Marino Formenti – jenes Stück, bei dem Lachenmann laut eigener Aussage mit der ‚Provokation‘ des Hörens dort beginnt, wo sich der Rezipient am geborgendsten fühlt, nämlich bei Kinderliedern
13 Vgl. hierzu beispielsweise Mauricio Kagels Instrumentaltheater oder Dieter Schnebels experimentelle Stimmkompositionen, die Lachenmann „trotz großer Bewunderung auch als Produkte einer mit sich selbst kokettierenden und spielenden Scheinradikalität“ empfindet (Lachenmann & Häusler 1996 [1987]: 343). 14 Der Begriff der Performance umfasst hier sowohl eine Aufführung im ursprünglichen Sinn als Darbietung bzw. Interpretation einer textlichen oder graphischen Vorlage wie beispielsweise einer Partitur, als auch eine ereignishaft und insbesondere die Wahrnehmungs- und Erwartungshorizonte des Zuschauers adressierende und kritisch reflektierende, darstellende Kunstform (in der Nachfolge der in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierten Performance Art). 15 Hierzu Le Roy & Donin 2006. Dort betont Le Roy allerdings auch sehr nachdrücklich, dass die Konzertinszenierung selbstverständlich über einen experimentellen Charakter hinausgehen und ein „spectacle“ bzw. (in der englischen Übersetzung dieser Passage) eine ‚performance‘ bieten solle (hierzu bspw. seine Notizen vom 27. September 2005 in: Le Roy & Donin 2006: 128 bzw. die englische Version auf: http://inoui.ircam.fr– /596.html?L=1 (16.02.2017).
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und Tanzmodellen.16 Ihm folgte Lachenmanns Salut für Caudwell für zwei Gitarristen (1977), das auch im Zentrum der drei Jahre später uraufgeführten More Mouvement für Lachenmann als Weiterentwicklung der ersten Konzertinszenierung stand (2008), dort jedoch von Pression (1969/70) und Gran Torso (1971) gerahmt wurde, während die Mouvements für Lachenmann von 2005 mit Lachenmanns Mouvement (– vor der Erstarrung) (1982/84) endeten. Diese Komposition, die Lachenmann selbst als „Musik aus toten Bewegungen, quasi letzten Zuckungen“ bezeichnete (Lachenmann & Häusler 1984 [1996]: 395), hat zweifellos auch zur Titelgebung des Konzertabends beigetragen – vermutlich ohne einen direkten Bezug auf den Jubilar der Veranstaltung zu intendieren (wie man hieraus vielleicht schließen könnte). Die Mouvements für Lachenmann begannen damit, dass ein schwarz bekleideter Herr (man vermutet einen Bühnenarbeiter) die Bühne betrat und einen Nagel in den Boden schlug – womit das erste akustische Signal des Konzertabends prominent gesetzt wurde. Wenig später wurde ein Konzertflügel so weit auf die Bühnenfläche geschoben, dass nur der hintere Teil des offenen Instruments, also der eigentliche Klangkörper, zu sehen war – mit der Konsequenz, dass der Pianist nur hörbar, aber nicht sichtbar war. Bei einem aufmerksamen Hin-hören mag das Geräusch des Nagels, der mit einem Hammer in den Boden geschlagen wurde, noch zwischen den ersten Klavierklängen nachgehallt und Analogien zu Lachenmanns Kompositionen geweckt haben – anders gewendet: dem pianistisch hämmernden Kinderspiel wurde ein (im besten Sinn) kindlich anmutendes Spiel mit Assoziationen vorangestellt, das auf imaginäre Klanghorizonte der Komposition an-spielte, somit ein unverbindliches und gleichzeitig durchaus plausibles Hörangebot bereitstellte. Dem ersten Vortrag der Komposition schloss sich eine kleine Pause an, bevor der Pianist sein schwerfälliges Instrument sichtlich bemüht von der linken Bühnenseite über die Bühnenmitte zur gegenüberliegenden Seite schob, um das Stück ein zweites Mal von der rechten Seite der Bühne vorzuspielen. Da nun vor allem der vordere Teil des Flügels, also die Tastatur mit dem Spieler zu sehen war, konnten die Tasten-Klänge (zumindest von
16 Die harmonische Faktur besteht im Wesentlichen aus einer kleinen Sekunde (h c’), die im 12/8 Takt mit gelegentlichen kleineren rhythmischen Veränderungen hartnäckig insistierend wiederholt wird. Es handelt sich weitgehend um die Abfolge einer Viertel- und einer Achtelnote, die stellenweise durch die Abfolge einer punktierten Achtel mit nachfolgender Sechzehntel und abschließender Achtel aufgelockert oder auch durch Pausen unterbrochen wird. Dabei sind die dynamischen Angaben präzise ausdifferenziert: sie bauen sich permanent von einem piano zu einem dreifachen forte auf und werden durch minutiös angegebene Pedalisierungen nochmals nuanciert.
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den Hörern der vorderen Zuschauerreihen) auch durch einen visuellen AbTastprozess be-griffen werden. Wurde somit zu Beginn des ersten Teils des dreiteiligen Konzertabends eine Klangassoziation beziehungsweise eine Hörimagination inszeniert, so wurde zu seinem Abschluss der Blick auf die durchaus ernüchternd reale Szene der Klangproduktion freigegeben, die durch das zunächst unsichtbare beharrliche Hämmern auf den Klaviertasten und den mühevollen Klaviertransport auf offener Bühne gleichsam sukzessiv aus der Inszenierung herausgeschält wurde. Bevor ich auf das Salut für Caudwell als Herzstück sowohl der Mouvements für Lachenmann (2005) als auch der More Mouvements für Lachenmann (2008) näher eingehe, sollen zunächst noch die Rahmenteile der beiden Konzertabende beschrieben werden. So war im letzten Teil der Mouvements für Lachenmann ein weitgehend stummes Kammerensemble (Ensemble Neue Musik Berlin unter der Leitung von Peter Rundel) zu sehen, das ungeachtet seiner fehlenden Instrumente sichtlich kontrolliert zu Lachenmanns Komposition Mouvement (– vor der Erstarrung) agierte beziehungsweise gestikulierte. Die hierdurch entstehende Choreographie wurde durch den Umstand, dass alle Musiker schwarz gekleidet waren und über längere Strecken auch nur ihre Unterarme und Gesichter beleuchtet wurden, zu einem eindrucksvollen Spektakel (im ursprünglichen Wortsinn): Man sah geradezu entkörperte, nur aus Armen und (von ihnen scheinbar losgelöste) Gesichtern bestehende, hochgradig agile Wesen, die eine weitgehend nicht zu hörende Musik durch einen hochgradig musikalisierten Tanz graphisch abstrahierten, da ihre körperlichen Konturen – überspitzt formuliert – auf Striche und Zeichen reduziert wurden, die in einem dunklen Raum scheinbar ohne Ankerpunkte schwebten. Hierdurch wurde Unhörbares durch Sichtbares substituiert, aber auch (durch die zeitweise Abdunkelung des Saales bis auf die Partitur des Dirigenten) in Unsichtbares transferiert, um durch ein umso genaueres HinSehen (gerade weil fast gar nichts mehr zu sehen war) die Klangimagination anzuregen.17 An Pression, dem Eröffnungsstück von Le Roys More Mouvements für Lachenmann, fiel vor allem auf, dass es während der Aufführung über einen Zeitraum von circa drei Minuten sukzessiv zu einer völligen Abdunkelung des Saales kam, so dass nicht nur der Musiker nicht mehr zu sehen war, sondern auch er selbst nichts mehr sehen konnte und dem Experiment ausgesetzt war, seine eintrainierten Bewegungen gänzlich ohne visuelle Orientierung auszuführen, d. h. sich allein auf die Klangvorstellung und sein motorisches Gedächtnis verlassen zu müssen – vergleichbar einem erblindeten Tänzer, der aus seiner Erinnerung
17 Zu einer kritischen Besprechung dieses Stücks siehe Kaltenecker 2008: 124.
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eine Choreographie ausführt ohne etwas zu sehen, allerhöchstens die Musik zu seiner Orientierung zu hören. Nicht weniger wurde der Zuhörer/Zuschauer durch dieses Experiment herausgefordert: da nichts mehr zu sehen war, kann davon ausgegangen werden, dass die Klangereignisse und ebenso deren Wahrnehmung an Intensität gewannen, so dass wiederum die Klangimagination verstärkt angeregt wurde. Wieder eine andere Versuchsanordnung zeigte sich in Gran Torso für eine Streichquartett-Besetzung, die von Le Roy durch vier Gitarristen erweitert wurde. Nachdem das Spiel der Musiker sehr erwartungsvoll einsetzte, brach es nach wenigen Minuten abrupt ab, um den Interpretinnen und Interpreten ausgiebig Gelegenheit zu lassen, anstelle des Notentextes ihr Publikum zu studieren. Kurz darauf blätterten sie in ihrer Partitur weiter, um an einer späteren Stelle nochmals gemeinsam einzusetzen. Doch nur wenig später verstummten ihre Klänge wieder, um sich erneut des Publikums bzw. seiner Reaktionen auf diese durchaus ungewöhnliche Darbietung zu vergewissern. Nach circa zwölf Minuten teilte sich das achtköpfige Ensemble in vier spielende und vier gestikulierende Musiker, wobei erstaunlicherweise just die Gitarristen weiterspielten, während sich die eigentliche Stammbesetzung der Komposition, die Streicher, auf ein stummes Gestenspiel konzentrierten. Die Choreographie dieser Bewegungen orientierte sich wiederum sehr offensichtlich an musikalischen Qualitäten: Sie transferierten das Akustische in ein haptisch Imaginäres. Nach einer guten Viertelstunde verließen die vier spielenden Musiker das Feld – man hörte also nun quasi gar nichts mehr und doch war die Musik weiterhin präsent: Jetzt vornehmlich durch die Gesten der anderen vier Musiker vermittelt, die sich allerdings von den Klangvorstellungen, die ihrem Gestenspiel zunächst zugrunde lag, somit von dem stummen, allein haptisch er- und begreifbaren Körper der Musik insofern emanzipierten, als sie einen deutlicher aufeinander abgestimmten, gemeinsamen Gestencodex herausbildeten, durch den sie auch in kurze Interaktionen miteinander traten. Diese ungeachtet nicht mehr hörbarer Klänge zweifellos weiterhin hochgradig musikalisch durchdrungene Choreographie nahm durch mimische Momente der Musikerbewegungen zunehmend narrative Züge an und legte dabei außermusikalische Assoziationen nahe – möglich ist, dass sich diese Bewegungen auf alltägliche Situationen beispielsweise beim Autofahren oder in öffentlichen Verkehrsmitteln bezogen –, um das Konzert schließlich in einen Theaterabend beziehungsweise MusikTheater-Abend oder auch Bewegungs-Klang-Theater zu verwandeln (hierzu Schroedter 2011: 138 und 154ff.). Hierzu ein Zitat des Cellisten Andreas Lindenbaum [A.L.], der an Xavier Le Roys Konzertinszenierung mitwirkte:
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„Es war ganz wichtig zu entdecken, dass es [gemeint ist die Ausführung der Komposition, Anm. St. Sch.] auch ohne das akustische Transportmittel [das Instrument, Anm. St. Sch.] funktioniert. Bewegung, Körper und Geist haben einen so starken Anteil am Musikmachen, dass sie das Klingende quasi ersetzen können ohne dass wir als Musiker vollkommen verloren sind“ (aus dem Programmheft der Aufführung von More Mouvements für Lachenmann in Europäischen Zentrum der Künste 2009: 4f.).
Und dann im Dialog mit der Geigerin Annette Bik [A.B.]: „[A.B.] Wenn man auf der Bühne sitzt und ein Konzert spielt, spürt man, dass man zu einem großen Teil auch Mime ist. Man ist Schauspieler, stellt körperlich und gestisch das dar, was man gerade spielt. Ohne Instrument ist man nur Mime. Aber diese Erfahrung, diese Haltung kann man auch mit Instrument versuchen beizubehalten. Damit das Instrument nicht nur eine Krücke ist oder einen im Ausdruck hemmt. Das ist fürs Musikmachen gesund. [A.L.] Wobei es nicht so ist, dass der Mime über den Musiker hinausgeht, sondern innerhalb der Musik ist, den Kontext, sein Instrument, seinen Körper benutzt. Für mich war genau deshalb die letzte Geste dieses Abends – die einzige nicht-musikalische Geste – der schwierigste Moment, weil ich immer das Gefühl hatte, was ich dort tue ist nicht mehr musikalisch, sondern ganz plötzlich Schauspiel“ (aus dem Programmheft der Aufführung von More Mouvements für Lachenmann in Europäischen Zentrum der Künste 200: 4f.).
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob nicht jedes Konzert auch theatrale Facetten in sich birgt und wie sich diese Theatralität definieren ließe (Siegmund 2012: 251-262, insb. 260f.)? Und: Impliziert nicht jede Musik Performativität (hier in der Bedeutung von Bewegungsereignissen, die an unsere Wahrnehmung appellieren) – auch wenn ihr nicht ebenso eindringliche ‚virtuelle Bewegungsmuster‘ zugrunde liegen, wie Helmut Lachenmanns ‚Körpermusik‘, die uns über ihre unsichtbaren, dennoch deutlich hör- und (haptisch taktil) spürbaren Bewegungen einen unmittelbar körperlichen Zugang zu dem Gehörten verschafft: „Wir lassen uns von dem bewegen, was selbst bewegt ist […]. ,Musik ist innere Bewegung, sie fördert die Bewegungsphantasie‘, heißt es einmal lakonisch bei Robert Musil“ (Meyer-Kalkus 2006: 93f.).18 Ich komme abschließend noch zu dem Salut für Caudwell, das nicht ohne Grund im Zentrum der beiden dreiteiligen Konzertabende stand, da es die Fragen zum Hören und Sehen von Bewegungen nochmals sehr essentiell aufwarf,
18 Das Zitat ist aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, 2. Bd., Reinbeck 1978: 422 entnommen.
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gleichzeitig jenen Gesten der Entkoppelung (von Hören und Sehen) oder auch Gesten der Differenz und Interferenz19 (zwischen dem Hören und Sehen) besonders eindringliche Konturen verlieh, die ich als symptomatisch für ein postmodernes Verständnis hör- und sichtbarer, aber auch kaum noch oder nicht (mehr) hör- und sichtbarer Bewegungsinteraktionen in Choreographie und Performance erachte, wobei letztere (im Gegensatz zum Musik-/Tanz-Theater und Film) verstärkt auf Improvisationen zurückgreift. In Le Roys Inszenierung von Lachenmanns Salut für Caudwell spielten zwei Gitarristen ohne ihre Instrumente – quasi auf Luftgitarren – die Komposition, während die entsprechende Musik von zwei anderen Gitarristen, die sich hinter einem Paravant verbargen, erklang. Es blieb jedoch nicht bei dieser vergleichsweise schlichten Anordnung einer Entkoppelung des Hör- und Sichtbaren als gleichsam akusmatisches Dispositiv, sondern die sichtbaren Gesten wurden einerseits immer deutlicher erkennbar choreographisch verformt, andererseits pausierten die Spieler hinter den Paravants, während das stumme Spiel vor den Paravants weiterging, so dass sich die sichtbaren Ereignisse immer mehr von dem Hörbaren entfernten und das hinhörend/sehende Publikum zunehmend irritierten (irritieren mussten), da andere Bewegungen zu sehen waren, als jene, die zur Klangproduktion erforderlich gewesen wären. Kurzum: die Rezipienten/Perzipierenden hörten etwas anderes als sie sahen – und umgekehrt: sie sahen etwas anders, als sie hörten, und wurden durch diese Gesten der Differenz und Interferenz, die zwischen dem Hör- und Sichtbaren changierten, letztlich auf sich selbst zurückgeworfen, um zu reflektieren, was und wie sie wahrnehmen. Auf diese Weise transferierte Xavier Le Roy das von Lachenmann intendierte Hin-Hören als eine kritisch reflektierende Wahrnehmungsinstanz in ein sich dazu analog verhaltendes Hin-Sehen.
19 Mit einem leicht polemisierenden Unterton, gleichwohl historisch abgeleitet aus einem Theater „der Präsenz, das zum Ritual tendiert und zu einem musikalisch-sakralen Umfangen und Einbinden der Zuhörer (Nietzsche, Artaud); ein[em] symbolistische[n] Theater, das mit Subtraktion und Abstraktion arbeitet (Meyerhold, Bob Wilson); ein[em] didaktische[n] Theater (Brecht), das schockartig neue kritische Erkenntnisse produzieren will“, spricht Kaltenecker diesbezüglich von Phänomenen der „Subtraktion und Inkarnation“ (Kaltenecker 2008: 105).
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Abb. 2: Tom Pauwels und Günther Lebbing in Helmut Lachenmanns Salut für Caudwell, inszeniert von Xavier Le Roy.
Foto: Monika Rittershaus, Berlin.
Bemerkenswert sind aber auch die Konsequenzen, die für die Musiker aus diesen experimentellen Versuchsanordnungen resultierten. So beobachtete Le Roy: „Sehr interessant ist auch die spezifische Qualität der Bewegungen, die von euch als Musiker produziert wird. Tänzer könnten das überhaupt nicht. Man sieht, dass ihr im Unterschied zu Tänzern, die zwar dieselben Bewegungen machen könnten, genau wisst, wie diese Bewegungen klingen würden, welche Funktion sie hätten, wie stark ihr drücken müsst etc. Dieses Wissen gibt euren Bewegungen eine sehr besondere Qualität, die man als Zuschauer merkt“ (aus dem Programmheft der Aufführung von More Mouvements für Lachenmann, in: Europäischen Zentrum der Künste Dresden 2009: 4f.).
Dadurch, dass bei den Musikern Klangvorstellungen den eigentlichen Impuls zu den Bewegungsgestaltungen geben – und nicht Körper- beziehungsweise Bewegungstechniken (um ihrer selbst willen), geschweige denn kodifizierte Bewegungsgesten und Bewegungsfiguren – avancieren sie hier zu einer eigenen Spezies von Tänzern. Doch ebenso können Tänzer zu einer eigenen Spezies von Musikern avancieren, wenn sie sich in ihren Bewegungskreationen von musikalischen Impulsen anleiten, aber deshalb nicht zwangsläufig verleiten lassen. Beide Spezies verbindet ein kinästhetisches Hören, das Musik vor allem als hörbare, aber auch körperlich (taktil-haptisch) spürbare Bewegung wahrnimmt, um mit
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ihr – auf gleicher Augen- und Ohrenhöhe – in einen angeregten und anregenden, vielleicht sogar aufregenden, im Sinne von aufrüttelnden Dialog treten zu können.
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Creative Embodiment als erweiterte Interpretation von Musik Theoretische Rahmungen und zwei Beispiele aus einem interdisziplinären Practice-as-Research-Projekt S ARA H UBRICH
„The cook, however, usually remains unseen, and also a good waiter (actor/musician) is best when virtually invisible; present only as a transparent provider and medium for the food (work of art). This idea has a history in the classical music world“ (Roesner 2014: 46).
T HEORETISCHE R AHMUNGEN Zur Kritik einer entkörperlichten instrumentalen Aufführungspraxis im Bereich der abendländischen Musiktradition In der abendländischen Musiktradition reproduzieren Interpreten überwiegend (notierte) Musik und führen diese für ein Publikum auf. Solche traditionellen Interpretationspraktiken, in denen der Körper tendenziell eine passiv-funktionale Rolle übernimmt (Medium der Instrumentalpraxis), sind oft an spezifische Konventionen gebunden (normierte Spielvorschriften, Aufführungspraxen, Verhaltensregeln auch im Ensemble), die sich auf das im 19. Jahrhundert entstandene Format des Konzertes beziehen. Weitestgehend wird von Musikern im Interpre-
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tationsprozess „Transparenz, Unsichtbarkeit oder persönliche Negation“ (Goehr, zit. nach Roesner 2014: 46) erwartet. Dahinter steht laut Christopher Small eine Überbewertung des Werkbegriffs, demzufolge sich musikalische Bedeutung überwiegend aus ‚Notenreproduktion‘ und ohne nennenswerte Berücksichtigung ihrer körperlichen Realisation im Moment der Aufführung formiert. Er kritisiert das folgende, häufig anzutreffende Verständnis: „that musical meaning resides uniquely in music objects, […] that musical performance plays no part in the creative process, being only the medium through which the isolated, self-contained work has to pass in order to reach its goal, the listener; and [that performers] have nothing to contribute to it“ (Small 1998: 5).
Zum Potenzial einer körperbezogenen erweiterten Interpretationspraxis im Bereich der zeitgenössischen Musik Bei der Aufführung zeitgenössischer Musik lässt sich eine eher Offenheit beobachten, Interpretation nicht nur als Handwerk („action craft“) sondern auch als „creative Art“ und damit potentiell als interdisziplinäre Kunstform zu verstehen, um individuelle und damit auch leib-körperliche Anteile gestalterisch in den Prozess der Performance einzubinden (Godlovitch 1998: 71). Manche Kompositionen im Bereich der Neuen Musik erlauben einen weiten interpretatorischen Handlungsspielraum, weil szenische Aspekte explizit als Teil des Konzepts integriert werden (beispielsweise in Werken von Asphergis, Globokar, Goebbels, Häusermann, Kagel, Pritchard, Schnebel, Schwellenbach oder Walshe). Darin ist eine geradezu paradigmatische Bereitschaft zu erkennen, Raum- und Lichtgestaltung, visualisierte Musik, Videoprojektionen, Mimik und Gestik sowie Stimme, Rollenverständnis und mixed-media Kunst, also alle sich eignenden interdisziplinären Gestaltungsmittel in mise en scène, in Interpretationen zu integrieren. Christa Brüstle hat mit Konzert-Szenen (2014) detaillierte und facettenreiche Theorien und Diskussionen zur Signifikanz dieser Praktiken als Perspektiven in den Kompositionen der vergangenen zehn Jahre vorgelegt und sieht darin ein „unschätzbares Potential für neue musikalische Erfahrungen” (Brüstle 2014: 9). Dieser erweiterte Handlungsspielraum, der davon ausgeht, dass Kompositionen kreatives Potential ‚immer schon in sich tragen‘ und zur interdisziplinären Ausdifferenzierung in und durch Interpretation einlädt, fördert und fordert das
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körperliche Erleben und Verstehen von Musik.1 Daraus ergibt sich ein Einfluss der Musizierenden auf die Gestaltung des Werkes, die u. a. aus individuellen Darstellungs- und Verkörperungsweisen besteht. Kreativität und Kreative Interpretation Der Begriff Kreativität wird im Folgenden weniger als Kategorie des ideologisch vorbelasteten ‚schöpferischen Handelns‘ (z. B. Reckwitz 2012) verstanden, sondern als künstlerische Dimension, ‚innovative Ideen’ zu entwickeln, welche sich deutlich von vorhersehbaren oder durch Konventionen bestimmten Tätigkeiten abheben (Williamon, Thompson, Lisboa & Wiffen 2012: 165ff; Clarke 2012: 25). Kreative Interpretationen werden somit als individuelle Aktivitäten aufgefasst (Frith 2012: 70), die auf der Produktion unerwarteter Ideen und ihrer Realisation beruhen (Boden 2004: 1) und intersubjektives Erleben ermöglichen (Clarke 2010 und 2002). Zu den weiteren Merkmalen gehört auch deren Nachvollzug (durch das bzw. mit dem Publikum) sowie die Entfaltung individueller Ausdrucksweisen, die „zwischen Freiheit (der Gestaltung) und Anpassung (an ein formales System) stehen und von der individuellen Schaffenskraft geprägt sind“ (Oberhaus 2014: 40). Im Sinne einer Anwendung dieses so formulierten Kreativitätsverständnisses in interpretatorischen Vorgängen ist es denkbar, durch eine verstärkte Berücksichtigung interdisziplinärer Gestaltungsräume, traditionelle Konventionen der Aufführungspraxis zu relativieren. Zur Genese derartig kreativer Interpretationen bedarf es eines Umfelds, das dem Selbstausdruck innerhalb der individuellen musikalischen Gestaltungsräume einen hohen Wert einräumt und entsprechende Fähigkeiten wertschätzt und fördert (Frith 2012: 70). Dann können kreative Interpretationen entstehen, in denen Entscheidungen der Interpreten eine Differenz zu vorhersehbarem Verhalten erkennen lassen (Clarke 2012: 25). Kreativität kann sich sowohl auf klangliche als auch auf körperliche Aspekte der Interpretation beziehen, zu denen individuelle Ausdruckspotentiale zählen (z. B. Burnard 2013). Im Hinblick auf die zu Beginn dargestellten traditionellen wenig körperbetonten Aufführungs- und Interpretationsrituale im 19. Jahrhundert erschien Kreativität im Sinne eines erweiterten ‚mitschöpferischen Handelns‘ vonseiten der Interpreten nur in einem begrenzten Rahmen je nach Status und Rolle zulässig. Diese Aufführungspraxis werkgebundener Interpretation ist
1
Der Begriff eines „Handlungsspielraums“ oder „gestalterischen Spielraums“ wird in Bezug auf den englischen Ausdruck „Co-Creating“ verwendet (vgl. Petersen 2015: 267; Fischer-Lichte 2008).
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in der ‚klassischen Konzertkultur‘ weithin relevant und wird selten hinterfragt (Hill 2012: 101), denn „several extramusical, environmental, and sociocultural factors contribute to the enabling and restricting of musical creativity, including cultural conventions, pedagogy, institutional and state infrastructures, market demands, and copyright legislation, amongst others. (…) Differing cultural belief systems, values and attitudes (…) may restrict, encourage or liberate musical creativity“ (ebd., 87).
Solche musikbezogenen Körpervorschriften als ritualisierte Verhaltensszenarios verdeutlichen, dass Interpretationen mit kulturspezifischen Rahmungen in Verbindung stehen, der implizit festlegt, inwieweit Kreativität in musikalischer Aufführungspraxis erwünscht ist. So macht Simon Frith das soziale und kulturelle Umfeld als Bedingungen für kreatives Handeln verantwortlich (Frith 2012: 70). In der zeitgenössischen Musik lässt sich durch improvisatorisch-kollektive sowie szenische Darstellungen auch in der kompositorischen Anlage selbst ein anderes Verständnis des Körpers festmachen. Hierdurch verändert sich auch das Kreativitätsverständnis, das von der körperlichen Präsenz und Aktivität der Beteiligten hervorgebracht wird, und, je nach situativem Kontext und Vorerfahrungen der Ausführenden, mitbeeinflusst wird. Vor diesem Hintergrund wird ein erweitertes Interpretationsverständnis entworfen, das von einer veränderten Praxis her verstanden und entwickelt werden muss. Insbesondere die Körperlichkeit von Musizierenden führt zu entscheidenden Konsequenzen für eine kreativ akzentuierte und auf Interaktion und damit Kommunikation hin angelegte Interpretationsweise: „focusing on the body as the source of musical expression implies that musical expression is a means of communicating basic qualities of human nature to one another, qualities which emerge out of movements and which are translated and abstracted into musical forms“ (Davidson 2002: 145).
Angesichts der komplexen musikalischen, physischen und sozialen Anforderungen, die eine Interpretation an Musiker stellt, ist es also sinnvoll, neben notentextgebundenen und spieltechnischen Aspekten auch übergeordnete kreative und leib-körperliche Aspekte in Probenabläufen zu berücksichtigen.
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Creative Embodiment und Enactment In der Theaterwissenschaft haben sich die Begriffe Verkörperung und Embodiment im Zuge der Performance-Kunst und im Rahmen des Postdramatischen Theaters etabliert. Bis in das 20. Jahrhundert hinein wurde erwartet, dass Schauspieler ihre Individualität einer Rolle unterordneten und festgelegte Haltungen bzw. Spielanweisungen übernehmen. Eine andere Sichtweise entwickelte sich durch leibgebundene Ansätze (Maurice Merleau-Ponty), in denen der Körper als „existential ground of culture and self“ (Csordas 1994: 6) verstanden und das „Konzept […] der ‚gelebten Erfahrung’, des ‚Erlebens’“ hervorgehoben wird (Fischer-Lichte 2005: 381; Hervorhebung wie im Original). In dieser Auffassung wird das leibliche In-der-Welt-Sein als Grundbedingung für ästhetischperformative Prozesse aufgefasst. Diese Basis leibbezogenen Erlebens und Verstehens lässt sich z. B. durch eine oft zitierte Definition des ‚Embodied Knowledge‘ nach Francisco Varela verdeutlichen und veranschaulichen: „[by] using the term embodied we mean to highlight two points: first that cognition depends upon the kind of experience that comes from having a body with various sensorimotor capacities, and second, that these individual sensorimotor capacities are themselves embedded in a more encompassing biological, psychological and cultural context“ (Varela et al 1992: 172-173; in Nelson 2013: 43).2
Eric Clarke beispielsweise, einer der Gründer des Research Centre for Music Performance as Creative Practice (CMPCP), hat Varelas Sichtweise aufgegriffen und stellt Querverbindungen zur musikalischer Performance her, in der verschiedene Variationen von körperlicher Kreativität signifikant und nachweisbar sind. „Creativity in performance takes place at the interface between socially constructed musical materials and performance practices, the possibilities and constraints of the human bodies and instruments with which they interact, and the perceptual, motor, and cognitive skills of individual performers“ (Clarke 2012: 27; Hervorhebung wie im Original).
Ein solches Verständnis von körperlicher Kreativität (Creative Embodiment) erfordert, durch die verstärkte Einbindung szenisch-gestischer Elemente, von den
2
Der grundlegende Ansatz von Varela wurde im Bereich der „Enactive Cognition“ „Situated Cognition“ „Grounded Cognition“ weiter ausdifferenziert (Noë 2004; Lakoff and Johnson 1999; Varela, Rosch und Thompson 1992; Polanyi 1983).
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Interpreten eine besondere Akzentuierung der eigenen Wahrnehmung bezogen auch auf leibliche Empfindungen und Möglichkeiten und der Artikulation der eigenen Perspektive auf eine Komposition (Hiekel und Lessing 2014; Sloboda 2011; Rüdiger 2007; Davidson 2002; Csordas 1994) und wird im Folgenden explizit als Creative Embodiment gefasst. In diesem Kontext erhält der situative Kontext, in dem Klänge gespielt und wahrgenommen werden, einen wichtigen Stellenwert, denn es entwickelt sich ein Prozess, in dem musikalische Bedeutung konstituiert wird: „musical meaning can encompass both what is specified and the perspective on what is specified “ (Clarke 2005: 126). In dieser als Creative Embodiment verstandenen Praxis werden also die jeweilige Musiziersituation und der spezifisch leibliche Akt des Musizierens und Erlebens mit seinen vielfältigen Facetten zusätzlich zur Musik selbst in den Blick genommen. Ergiebig erscheint zudem eine Bezugnahme auf die Musicality of Theatre von David Roesner, der sowohl von einer buchstäblichen als auch symbolischen Realisation der „embodied quality of music“ (Roesner 2014: 14) ausgeht, die zum Verständnis und zur Erfahrung von Musik auf vielfältige Weise beiträgt (auch: Leonhardmaier 2014: 17; Hiekel & Lessing 2014; Rüdiger 2007). In dieser Hinsicht kann „Embodiment“ als spezifische Leibbezogenheit im gemeinsamen Musizieren aufgefasst werden, welche sich einerseits auf den Körper des wahrnehmenden Subjekts bezieht und andererseits auch in der leiblichlebendigen Präsenz und in den durch die Darstellung vermittelten körperlichen Aktionen eines musizierenden Menschen, verdeutlicht werden kann. Zusammenfassend unterstreicht Creative Embodiment das Gestalten mit und durch den Körper als leiblich-lebendiges Handeln und beleuchtet mögliche Konsequenzen für ein neues bzw. erweitertes Verständnis von Interpretation.3 Einen weiteren wichtigen Stellenwert erhält dabei der Begriff Enactment, der den konkreten Vollzug einer ‚embodied practice‘ umschreibt und sich v. a. im Verlauf eines interpretatorischen Vorgangs entwickelt. Im Enactment werden durch Ko-Präsenz und Ko-Erfahrung von Aufführenden und Publikum intersubjektive sinnliche Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume ‚geöffnet’ (Krueger 2006). Zu Interpretationen zählt dabei auch die Thematisierung der Verknüpfungen eines Werkes mit Aspekten des ihm zugrundliegenden Schaffensprozesses (z.B. Goffman 1990; Turner 1988). Diese Perspektive wird durch die hervorgehobene „körperliche Präsenz, Ereignishaftigkeit, Flüchtigkeit und das Momenthafte, sowie durch die Darstellung des Prozesses des Herstellens, Sich-Ereignens und Handelns in der leiblichen Ko-Präsenz von KünstlerInnen und Publikum“
3
Sofern nicht explizit vermerkt, werden die Begriffe Leib-Sein und Körper-Haben im Folgenden synonym verwendet (vgl. Plessner 1970: 43).
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greifbar und beschreibbar gemacht (Pfeiffer 2012: 213). In diesem Kontext lässt sich, basierend auf Aspekten mimetischen Nachvollzugs, auch die bisher noch nicht im vollen Umfang bestätigte Theorie der Spiegelneuronen anführen, welche den Nachvollzug (Mitempfinden) der Rezipienten erklärt (Keysers 2011). Max Hermann benannte diese Tendenzen der Empathie als geheimen Wunsch des Betrachters, die Aktionen der Ausführenden selbst zu erleben (Herrmann 1930: 153). Katalysiertes Erleben und Verstehen ergibt sich als ‚Enactment ‘ aus der Realisation und Darstellung einer individuellen Wahrnehmung und Erfahrung, die von anderen mit- und nachempfunden wird und zum beiderseitigen Erkenntniserwerb beiträgt (Krueger 2011: 87). Zu den im ‚Enactment ‘ konkretisierten Handlungen zählen daher sowohl musikimmanente Aktionen, d. h. von der Aufführung der Musik bestimmte Gesten oder funktionale Praktiken, als auch außermusikalische, die zur „Inszenierung“ einer Interpretation beitragen können.4 Embodiment und Enactment verweisen auf den kommunikativ-intersubjektiven Einbezug von Bewegungen, Gesten und anderen leiblichen Ausdrucksformen, welche über das v.a. durch Konventionen begrenzte Maß an ‚Spielvorschriften‘ hinaus gehen und auf diese Weise eine erweiterte Interpretation ermöglichen (Gruhn 2014: 97). „The choreography of a performer’s movements represents a potentially powerful and persuasive way to communicate with an audience “ (Clarke 2012: 25; vgl. Besse 2016: 3ff; Fischer-Lichte 2008: 99). Erweiterter Interpretationsbegriff Das so beleuchtete Verständnis von Creative Embodiment impliziert einen erweiterten Interpretationsbegriff, der explizit die Möglichkeit einschließt, Klang, Raum und Bewegung in Bezug auf ästhetische Wahrnehmungs- und Gestaltungsprozesse im Rahmen der Interpretation als Einheit aufzufassen. Das ergänzende Adjektiv ‚erweitert ‘ bezieht sich dabei sowohl auf einen erweiterten Musikbegriff als auch auf das Format erweiterter Interpretation („extended interpretation“ in Hubrich 2015: 22ff). Beide sind bislang in der instrumentalpädagogi-
4
Diese Phänomene sind in jeder Interpretation zu einem gewissen Grade präsent, so dass es eine nicht-inszenierte Interpretation gar nicht gibt (siehe Gruhn 2014; Platz 2013 und 2012; Behne 1994a und 1994b; Davidson 1993). Musikalische Gesten und musikbezogene (kreative) Bewegungen lassen sich als Konkretisierungen individueller Auffassungen seitens interpretierender Personen aufgefassen (Gruhn 2014: 99). Dieses Phänomen wurde beispielsweise von Marc Jeannerod als „motorische Kognition” bezeichnet (in: Gruhn 2014: 100).
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schen Forschung wenig vertreten und sollen durch die Vielschichtigkeit der inszenierten musikalischen und körperbezogenen Interpretation eine wesentliche neue Prägung erhalten. Dieser Ansatz steht in Bezug zu dem von Hermann Danuser geprägten „aktualisierenden Modus“ der Interpretation.5 Dieser Modus hebt den gestalterischen Spielraum der Ausführenden hervor und berücksichtigt damit auch und multisensorische Ausdrucksfelder (Hubrich 2015; Brüstle 2014; Tröndle 2009), wie z. B. interdisziplinäre Arbeitsformen und insbesondere szenisch-performative Aspekte.6 In den Beziehungen der Instrumentalisten zum Werk, zum Komponisten und auch zu den Mitspielern und zum Publikum wird ihr Agieren zu einer für die Musik selbst bedeutsamen Ebene der Vermittlung, mit deren Hilfe die kompositorische Intention in Kombination mit spezifischen, interdisziplinär-interpretierenden und aktiv-kreativen Perspektiven umgesetzt wird (Globokar 1976: 107).7 Im Sinne dieser sich zwischen Perzeption, Rezeption und Produktion bewegenden Interpretationsauffassung bedient sich eine derartige Praxis in einer Theatralisierung von Musik den szenischen Ausdrucksmitteln wie Material, Zeichen, Symbol, Aktion und oszilliert zwischen Inszenierung, Performance, Korporalität und Wahrnehmung (Sting 2012: 218). Theatralität wird auf diese Weise realisiert durch die mit der „Inszenierung […] gestalteten Performance als Darstellungsereignis vor ZuschauerInnen, die durch Materialität und Korporalität ästhetisch hergestellt und durch die Wahrnehmung der ZuschauerInnen [inklusive der ebensfalls perzipierenden Performer] rezipiert und interpretiert wird“ (Sting 2012: 218).
5
Dieser erweiterte Interpretationsbegriff sieht für Interpreten eine individuelle Vermittlerrolle zwischen historischem Werk und Publikum vor und erlaubt gewisse Freiheiten (Danuser 1997: 13). Auch wenn Danuser sich vornehmlich auf die Vermittlung von historischem Musikverständnis zur Zeit der Komposition bei Aufführungen von Repertoire zu aktuellen Auffassungen von Musik bezieht, lässt sich dieses Verfahren auf aktuelle Ideen zur Performanz, Präsenz und interdisziplinärem künstlerischen Handeln anwenden.
6
In Gestaltungsprozessen in Gruppen birgt diese Öffnung weitere Potentiale wie zum Beispiel die gemeinsame künstlerische Autorität als „kollektive Kreativität“ (Kurzenberger 2009: 166), sowie die spezifische und individuell eingebrachte Expertise. Hierzu zählen auch die eher im englischsprachigen Raum geprägten Arbeitsweisen des „shared leadership/authority“, der „shared creativity“ und „shared expertise“.
7
Für Ausführungen zu „creative intentionality“ von KomponistInnen siehe Cook 2012: 14.
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Interpretation ist daher als Inszenierung und gewissermaßen als „reflektierte ästhetische Konzeption denkbar“, in welcher der Körperlichkeit und kreativen Betätigung von Interpreten ein erweiterter Spielraum geschaffen wird (Sting 2012: 18). Der Aktionsrahmen der gestalterischen Mitwirkung wird ‚ausgedehnt’, indem ein selbstbestimmter und kreativer Gebrauch von Körperlichkeit im Sinne von Gesten und Bewegungen, aber auch Stimme, mit hinzugezogen werden.
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Hintergrund – ‚Knowledge in Practice‘ Die interdisziplinäre Studie Creative Embodiment of Music (Hubrich 2015) zielt darauf, Interpretationspraxis im Bereich Musik (Instrumentalspiel; Ensemblespiel) durch Einbeziehung unterschiedlicher Künstler und interdisziplinäre Arbeitsweisen zu erweitern. Dabei werden Gestaltungsmöglichkeiten mit und durch den Körper sowie die Bewusstwerdung und Entwicklung individueller Gestaltungspotenziale eröffnet. In dieser Herangehensweise offenbart sich ein großes Potential, das auch in instrumentaldidaktischer Hinsicht neue Impulse geben könnte: Der intensivierte Umgang mit dem Körper, der beim Musizieren als Gestaltungsmittel erfahren wird, verhilft den Beteiligten zu ausdrucksstarker Präsenz und zur Weiterentwicklung eigener ‚körperlicher Kreativität’ (Creative Embodiment). Der Forschungshintergrund basiert auf dem oben theoretisch abgeleiteten Creative Embodiment als spezifischer Erlebens- und Verstehensprozess, der zur Aneignung von Erfahrung und Wissen im Rahmen einer musikbezogenen Praxis führt. Dabei finden im Zuge der praxisbezogenen Forschung die Begriffe embodied cognition, embodied knowledge und embodied practice im Rahmen der Ausdifferenzierung des angestrebten Erkenntnisgewinns Verwendung. Sie beziehen sich auf eine ‚Praxis’, die weder auf den ersten Blick offensichtlich ist, noch theoretisch nachvollzogen werden könnte. Denn aus kreativ-körperlicher Sicht ist sie mehrdeutig und bedarf explizit der subjektiven Perspektive der forschenden und praktizierenden Person (Nelson 2013; Barret und Bolt 2010; Leavy 2009).
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Forschungsmethode ‚Practice-as-Research‘ Für die Erforschung der erweiterten Interpretation bietet sich „Practice-asResearch“ als eine geeignete Methodik an. Hierin nimmt eine Person ihre Praxis zum Anlass für eine wissenschaftliche Studie, um insbesondere das subjektive Handlungswissen der forschenden Person der Allgemeinheit wissenschaftlich fundiert zugänglich zu machen. Dieses zählt zu den ‚praxis-basierten‘ Verfahren und ist im anglo-amerikanischen Bereich auch in der Musik, insbesondere in den Performance Studies anerkannt (Jacobshagen 2016; Crispin 2015; Nelson 2013: Leavy 2009; Noë 2004; Frayling 1997; Polanyi 1983).8 „As research activity is carried out through the medium of practitioner activity there are circumstances where the best or only way to shed light on a proposition, a principle, a material, a process or a function is to attempt to construct something, or to enact something, calculated to explore, embody or test it“ (Archer 1995: 11).
Zu den in den Performance Studies diskutierten Herangehensweisen zählt das multi-modale Modell Robin Nelsons, welches in der Auswertung der Studie Creative Embodiment of Music angewendet wurde (Nelson 2013: 37ff).9 Darin ist eine künstlerische Praxis integraler Bestandteil der Forschungsmethodik und Wissensgewinnung (Jacobshagen 2016: 64). Die zu erforschende Praxis als Mischung aus Wissen und Können zeigt sich daher als Gegenstand und Ergebnis der Forschung selbst: „knowing-doing is inherent in the practice and practice is at the heart of the inquiry and evidences it“ (Nelson 2013: 10). Die herkömmliche Distanz zwischen Subjekt und Objekt wird darin aufgehoben zugunsten der Erforschung einer „performative[n] Perspektive“ (Borgdorff 2012: 6): „Research in the arts hence seeks to articulate some of this embodied knowledge throughout the creative process and in the art object (Borgdorff 2012: 6). Dieser Ansatz deckt sich ein Stück weit mit grundsätzlichen Facetten fast jeder künstlerischen Arbeit. Von wissenschaftlicher Forschung kann erst dann gesprochen werden, sobald die Praxis, ihre Kontextinformationen und ihre Refle-
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Dieses Wissen, was durch eine rein theoretische Untersuchung nicht artikulierbar wäre, könnte man als „subjektives Handlungswissen“ beschreiben (vgl. Forneck 2015; Kaiser 2010; Dalhaus 2009: 48).
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Im multi-modalen Modell setzen sich die Forschungsergebnisse zusammen aus Können („know-how“),Wissen über und durch das Können („know-what“) und dem theoretischen Fundament beider Aspekte („know-that“) (Nelson 2013: 37ff, auch Polanyi 1983).
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xionen in einen „strengen methodologischen Rahmen“ eingebettet sind (Crispin 2015: 58ff). Ausgehend von spezifischen Forschungsfragen wird das jeweilige Forschungsdesign auf die Erfordernisse der zu untersuchenden Praxis ‚zugeschnitten’. In dem zyklisch verlaufenden Forschungsprozess werden theoretische Aspekte aus der Praxis ‚herausgefiltert’ und vertieft recherchiert. Neue Erkenntnisse fließen wiederum in die künstlerische Praxis ein. Im konkreten Fall der beschriebenen Studie wurden die Ergebnisse in Form von Herangehensweisen, Strategien und Techniken der Praxis als Praxisempfehlungen artikuliert und diskutiert (Hubrich 2015: 230ff). Diese entwickelten sich aus den Projektbeschreibungen, den Erlebnissen und Perspektiven der Beteiligten sowie den daraus gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnissen. Ablauf und Forschungskonzept Die Mitwirkenden entwickelten unter Anleitung und Mitwirkung der Forscherin musikalische Interpretationen in Kombination mit Tanz, Theater und Künsten weiterer Disziplinen und in Arbeitsweisen der ‚kollektiven Kreativität’ (Kurzenberger 2009: 166). Ein Kernaspekt dieser Praxis ist es, die Darstellung individueller Perspektiven der gemeinsam wirkenden Personen, die man unter dem Begriff Performer subsumieren könnte, im Rahmen der Aufführung insbesondere über leibliche Ausdruckspotenziale zur Geltung kommen zu lassen. Das ist einer der Gründe, die dazu geführt haben, die musizierenden Personen selbst in den Fokus des Forschungsinteresses an kreativen und erweiterten Interpretationsformen zu rücken. Die Herausstellung der erweiterten Interpretation auf Basis des Creative Embodiments waren das Ziel der Studie. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand die Frage: Wie können Instrumentalisten unter Berücksichtigung erweiterter Interpretationsformen und unter Möglichkeiten des „Embodiments“ über die spieltechnische Aufführung einer Komposition hinaus kreativ sein? Die Projekte der oben angeführten Studie wurden in Form eines Portfolios künstlerischer Arbeiten durch Fotos, Noten, Skripte und Videoaufnahmen dokumentiert und im Rahmen einer Practice-asResearch Studie ausgewertet (Hubrich 2015).10 Im Forschungsverlauf der Studie rückten im Hinblick auf Zugänge zur Interpretation die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung, der Körperlichkeit der Akteure und ihre spürbare körperliche Präsenz in der Gesamtheit von physischen, kognitiven und affektiven Qualitäten in den Vordergrund. Im Sinne der
10 Für eine umfassende Dokumentation in audio-visueller und schriftlicher Form siehe Hubrich 2015: Volume II.
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Methodologie des Practice-as-Research wurden die in der Studie enthaltenen Arbeiten von der Forscherin selbst als „Practitioner-Researcher“ und als Ausdruck ihrer individuellen Perspektive auf das jeweilige Musikstück initiiert, durchgeführt und auf der Basis ihres Forschungsdesigns analysiert. Auf diese Weise wurde eine künstlerische Praxis mit einem gezielten Erkenntnisinteresse in Verbindung gebracht und in Anlehnung an das Konzept der Ästhetischen Transformation weiter entwickelt (Brandstätter 2013). Anhand der folgenden zwei Beispiele soll der darin enthaltene Aspekt des Verstehens und Erlebens von Musik mit und durch den Körper näher beleuchtet werden. Beispiel 1: Entangled-Verstrickt Entangled-Verstrickt entstand aus einer Zusammenarbeit von der Verfasserin als Bratschistin mit der mixed-media Künstlerin Judith Egger im Rahmen des Mapmaking New Landscapes of Performance Projektes, das in 2002 vom Royal College of Art und der Guildhall School of Music and Drama initiiert wurde.11 Ausgangspunkt war die Interpretation des Präludiums aus Bachs 3. Cello Suite in C Dur (BWV 1009) in einem Arrangement für Viola. Ein gemeinsamer künstlerischer Anhaltspunkt bestand in der Annahme, dass es in den Solowerken für Violine und Cello von Bach möglich ist, an gewissen Stellen im Stück einen ‚falschen Ausgang’ zu nehmen bzw. an anderer Stelle weiter zu musizieren, weil in bestimmten Passagen des Werkes sehr ähnliche oder sogar identische Passagen auftauchen.12 Aus diesem aufführungspraktischen Phänomen wurde ein InterpretationsKonzept entwickelt, in dem absichtlich bestimmte Passagen wiederholt wurden (Loops). Aus dem Original entstand eine Art Arrangement, in dem zunächst große, dann aber zunehmend kleinere Abschnitte wiederholt wurden, bis sich schließlich ein einziger Viertelschlag im Loop befand und 42 Mal wiederholt wurde (Abb.1). Da „loop“ auch die Masche beim Stricken bedeutet, entwickelte sich die Idee, Elemente der Interpretation durch körperliche Handlungen des Strickens erlebbar und sichtbar auszudrücken. Die mixed-media Künstlerin platzierte sich im Publikum mit Blick auf die Bühne und „er-strickte“ sich im Verlauf der Performance eine Struktur, welche sie an einem bestimmten Punkt des
11 Die Videodokumentation dieses Stückes in der Version einer Videoinstallation ist unter dem link https://vimeo.com/185102926 verfügbar. Dies ist hingegen keine Wiedergabe der Konzertsituation, sondern zeigt das Stück in Form einer gezielt erstellten Videoinstallation. 12 Dieses Phänomen findet sich auch beinbekannten Künstlern im Bereich Lampenfieber.
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Stückes wieder löste. Ihre Hände wurden dabei live gefilmt und auf die Bühne projiziert. Im Licht der Projektion stand die Bratschistin im weißen Kleid und wurde selbst zur Projektionsfläche, so dass die Hände, die allmählich eine Struktur schufen, auf die Musikerin bzw. im übertragenen Sinne auch auf die Musik abgebildet wurden. In der Projektion entwarf die Musikerin einen sich bewegenden Schatten, sodass ihre körperliche Präsenz und Aktivität sich als Silhouette darstellten. In der Aufführung verfiel die Bratschistin in eine intensive Form des Drehens, als wollte sie durch das „Spinning“ sich aus der Verstrickung befreien oder noch tiefer verstricken. In diesem Sinne wirkten sowohl die Assoziationen des Strickens mit der Musik, als auch das Projizieren der Aktionen aufeinander im Zusammenhang mit der körperlichen Präsenz und Gestik der Künstlerinnen beziehungsstiftend und verwiesen auf weitere Ebenen möglicher Bedeutungszuschreibungen. Abb. 1: Entangled-Verstrickt: Loop-Abfolge
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Die entstehenden Strukturen in Form des Gestrickten und der Schatten in Kombination mit dem akustisch Erklingenden wurden zur interdisziplinären Grundlage. Damit gelang die Darstellung von Strukturen, die sich im Verlauf des Geschehens entwickelten, aber auch wieder sich in einen dem ursprünglichen Zustand zurück verwandeln konnten. Schließlich ist es möglich, sich im Stricken wie auch in der Musik zu ‚verheddern‘, Maschen zu verlieren und wieder aufzunehmen, musikalische Abschnitte zu ‚Loopen‘ und wieder zum Original zurückzukehren. Diese von strukturellem Entstehen und Vergehen und deren emotionale Aspekte kann beispielsweise als „embodied cognition“ aufgefasst werden und ermöglicht Musik körperlich zu erleben und zu verstehen. In EntangledVerstrickt konkretisiert sie sich als künstlerische Idee der ‚falschen‘ Ausgänge und verdeutlicht mittels der metaphorischen Bedeutung des Strickens auf die Realisation der musikalischen Struktur in Klang als Strickgeflecht. Beispiel 2: Sleeping Beauty’s Last Three Days In Sleeping Beauty’s Last Three Days werden Aspekte des Embodiments in Bezugnahme zum Instrumentalen Theater von Mauricio Kagel sowie zum „Butoh“Tanztheater unter Einbeziehung des jeweiligen Verständnisses von Körperlichkeit entwickelt.13 Beide Ausdrucksformen beziehen sich auf das Medium Theater und erweitern die Konventionen ihrer jeweiligen Disziplin durch das Lenken der Aufmerksamkeit auf prozesshafte und gestische Vorgänge. In diesen Ansätzen werden, womöglich als eine Form der Auflehnung, die Gestaltungsrahmen der jeweiligen traditionellen Aufführungspraxis von Musik bzw. des Tanzes erweitert. Sie eigneten sich daher auch aus inhaltlichen Gründen für dieses Projekt, denn diese Interpretation entstand als „Musik-Dramatische Performance“, die sich mit der Thematik eines nahen Todes, des Abschiedes und der aufkommenden Gefühle zwischen Notwendigkeit der Hingabe und Akzeptanz der Situation und ihrem Potential der Transformation auseinandersetzt. Im Raum oszillierten aus diesem Grund Gefühle wie innere Widerstände, Rebellion und Auflehnung sowie Ängste, Schmerz und Bitterkeit angesichts der Unausweichlichkeit des Geschehens. Im Zentrum der Umsetzung standen zwei musikalische Werke, die sich in die-
13 Butoh Tanztheater ist eine Form des Ausdruckstanzes, die sich insbesondere mit Prozessen des Übergangs befasst, wie z.B. vom Lachen zum Schreien, von Freude zu Angst und oft eher die dunkle Seite des Lebens betont (Nichols-Schweiger 2003).
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sem Spannungsfeld bewegen: die Trios für Violine, Horn und Klavier von György Ligeti und Johannes Brahms.14 Der Performance wurde eine dramatische Rahmung gegeben, die das biographische Spannungsfeld der Entstehung des Trios umreißt: Die Geschichte von Dornröschen wurde darin angedeutet und erfuhr die Abwandlung, dass die letzten drei Tage vor ihrem hundertjährigen Schlaf, gleichsam als gemilderte Form eines herannahenden Todes, erzählt wurden. Dabei wurden ihre Träume in Form der Trio-Werke ‚erzählt‘, während der Alltag in musikalischen Improvisationen realisiert wurde. Damit erfuhr der Märchenstoff eine Verlagerung einen bestimmten Punkt des unerwarteten Erlebens („Kurz vorher“; „Vor etwas Unerwartetem“). Diese Aspekte fanden ihren Ausdruck in der Kombination der erklingenden Musik mit szenischen Handlungen; dazu gehörten beispielsweise verbindende musikalische Improvisationen und Texte zwischen den als Träumen deklarierten Werken von Ligeti, Brahms und Ibert. Zu den Herangehensweisen des konkreten Vollzugs von Handlungen als Enactment zählte beispielsweise die direkte Ansprache des Publikums. Diese erfolgte während des ersten Satzes von Ligetis Horn Trio durch die nicht musizierenden Musiker: Sie besaßen jeder eine bestimmte Geste und einen Satz, den sie fortwährend wiederholten und einzelnen Mitgliedern des Publikums zuflüsterten (Abb. 2). Diese körperlcih-sprachlichen Aktivitäten entwickelten die Musiker aus ihren eigenen Motivationen und Interessen heraus während der Proben. Am Ende des 1. Satzes Andante con tenerezza von Ligeti stiegen die Musiker stimmlich in die musikalische Aufführung ein und verdoppeln den Rhythmus der unisono Passage (Takte 249-269; Videodokumentation 00:05:22-00:05:48).15
14 Das Horn-Trio von Brahms entstand in der Zeit, als dessen Mutter starb. Ligetis Werk war eine Auftragskomposition, die sich auf das Trio von Brahms beziehen sollte. Vielleicht als Akt der Rebellion bezog sich Ligeti in seiner Komposition nicht auf das Brahms-Trios sondern auf Beethovens Klavier-Sonate „Les Adieux“, die er darin vielfach zitiert. 15 Link zur Videodokumentation: Sleeping Beauty’s Last Three Days (2003) https://vimeo.com/187114310
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Abb. 2: Musiker äußern sich in Wort und Bild
Foto: Anja Beyer.
In einer späteren Szene verteilten dieselben Musiker im Publikum Rosen, die sie einzelnen Personen im Publikum überreichten, um das verfrühte Wachsen der Dornenhecke zu symbolisieren. Besonders deutlich wurde der individuelle, den körperlichen Ausdruck der Musizierenden fokussierende Handlungsspielraum in der Tutti Szene der improvisierenden Musikerinnen und Musiker (Abb. 3). Abb. 3: Individualisierte Handlungen der Musiker
Foto: Anja Beyer.
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Im letzten Satz des Horn-Trios von Ligeti (Lento) ist es die Violinistin, die Geige spielend das Wort ergreift, während die Tänzerin, die ihren Schatten verkörpert, sitzt und in den Noten liest (Videodokumentation 00:43:57 – 00:52:00). Darüber hinaus finden Aspekte wie Tod, Transformation, Übergang und Metamorphose eine räumlich-szenische Darstellung beispielsweise in der Aufführung des dritten und vierten Satzes aus dem Horn-Trio von Brahms. Im dritten befinden sich die Musiker als Symbol des Übergangs unter einem „Kokon“; die Geigerin ist unter dem Flügel (Abb. 4). Im Übergang zwischen drittem und viertem Satz wird das Tuch weggezogen und die Violinistin kommt unter dem Flügel hervor. Abb. 4: Pianist unter dem Kokon
Foto: Anja Beyer.
E RGEBNISSE UND K ONSEQUENZEN I NTERPRETATIONSPRAXIS
FÜR EINE ERWEITERTE
Der oben angeführte theoretisch vorgestellte Ansatz des Creative Embodiment als Erweiterte Interpretation von Musik wird auf unterschiedlichen Ebenen in dem Projekt deutlich. In den Erfahrungsberichten der Instrumentalisten wird eine Bewusstheit des körperlichen Ausdrucks und ein ‚beflügelnder‘ Einfluss auf ihr Spiel und ihr Spielgefühl auf der Bühne thematisiert. Auch als involvierte Spielleiterin war die Präsenz der beteiligten Musiker spürbar und ihre hohe Eigenmo-
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tivation zu erkennen. Im Beispiel wurde insbesondere die Perspektiven der erweiterten Interpreten durch die Einbindung räumlicher Aspekte (Lichtverhältnisse, Projektionen und Szenische Elemente) deutlich. Beide Beispiele verdeutlichen die Intention, Ebenen des gestalterischen Ausdrucks, die über das musikalische Werk hinausreichen, durch körperliche Aktivitäten (Embodiment; Enactment) sichtbar und spürbar zu machen. Erweiterte Interpretationen sind also Teil eines Beziehungsgeflechts intersubjektiv-musikalischer Gestaltungsarbeit, dessen Qualität und Intensität von den sich auf der Konzertbühne entfaltenden Beziehungen beeinflusst wird (Globokar 1976: 107). Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich folgende vertiefende Aspekte für weitere Forschungen herausstellen, die für eine detaillierte Analyse des Creative Embodiments auch für instrumentalpädagogische Fragestellungen relevant sind. •
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Eines der zentralen Ziele der erweiterten Interpretation ist, „Verkörperung“ von Musik zu ermöglichen, welche das Ineinandergreifen von rationalen und sinnlichen Erfahrungen bzw. das Erfahren von Differenz in vertiefender Weise ermöglicht. Musizierende sollten sich bereits während (oder auch vor) der Aufführungssituation in einer Weise ihres leiblichen Potentials bewusst sein, um kreativkörperbezogene Spielweise zu begünstigen.
„If the performer is prepared for this process a new state of psychological awareness can be achieved which allows the individual to become both highly task-focused and able to explore spontaneous thoughts and feelings in a creative manner“ (Davidson 2002: 149).
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In Bezug auf Community Musik lässt sich die grundlegende Tragweite körperbezogener erweiterter Interpretationen in der Vermittlung von Musik und auch in verschiedenen Kontexten hervorheben: „musical material is a far more social ‚substance’ than a cognitive view implies” (Clarke 2012: 26). Diese Ansicht versteht kreative und körperbezogene Produktion von Klängen als Basis und Katalysator für gemeinsam erlebte kulturelle Vielfalt (Renshaw 2011: 2012). Es wäre wünschenswert, dass Methoden zur verstärkten kreativen Betätigung Einzug in die Instrumentalpädagogik halten könnten. Eine Anwendung des Verkörperungs- bzw. Embodiment-Paradigmas in der Musikpädagogik hat kürzlich auch Ivo Berg vorgeschlagen (Berg 2017: 12ff). Seine These stützt sich sowohl auf deutschsprachige wie auch angloamerikanische Forschungen und Begriffsbildungen. Für eine gezielte Ausbildung in der instrumentalen
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Praxis wäre neben der Entwicklung erweiterter Interpretationsformen auch eine erweiterte Instrumentalpädagogik mit einem erweiterten Instrumentalunterricht zu initiieren.16 Es erfordert ein hohes Maß an Bewusstwerdung und Übung, sich insbesondere in werkgebundenen Interpretationen als Performer größere kreative Freiheiten zuzugestehen. Die interdisziplinären Arbeitsweisen verlangen von den Beteiligten erweiterte interpretatorische Fähigkeiten und Fertigkeiten, die mit Kreativität und Kommunikation in der Probenarbeit einher gehen. Hierzu gehören erweiterte Beziehungen zum Publikum in Form von KoPräsenz, Ko-Kreation und Partizipation (Enactment). Im professionellen ‚Probenalltag’ steht Musizierenden wenig gemeinsame Probenzeit hierfür zur Verfügung. Körpertechniken wie Alexander-Technik, Feldenkrais-Methode oder Dispokinesis werden häufig als Wege zur Prävention von Spielschäden betrachtet, obwohl ihnen durchaus auch künstlerische Aspekte innewohnen, die zur Entwicklung von erweiterten Interpretationen führen können. Erweiterte Interpretationen verlangen den Instrumentalisten ein hohes Engagement ab, können aber lebendiges Musizieren erheblich fördern (Rüdiger 2014).
Allen Forderungen ist gemein, dass zur gezielten Ausbildung eines erweiterten Interpretationsverständnisses auf Basis des Creative Embodiments in der instrumentalen Praxis zunächst der Umgang mit der eigenen Körperlichkeit und die Herausstellung von Kreativität einen wichtige(re)n Stellenwert erhalten müsste, als dies bislang im Unterricht realisiert wird. Instrumentalisten sollen Fähigkeiten erwerben, über bestehende Spielkonventionen hinaus ihr Körperbewusstsein in Bezug auf die notwendigen und durch kreative Ausgestaltung hinzugefügten Bewegungen und Aktivitäten künstlerisch und reflektiert einzusetzen (Clarke 2012: 25).
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16 Wolfgang Rüdiger sei an dieser Stelle für diese Anregung gedankt.
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Die Geburt der Musik aus dem Geiste des Körpers Aspekte musikalischen Embodiments von der kommunikativen Musikalität der frühen Kindheit bis zur komplexen musikalischen Körperlichkeit W OLFGANG R ÜDIGER
I. N OTEN UND E MBODIMENT – M USIKALISCHE I NTERPRETATION
ALS
K ÖRPERARBEIT
Bevor ich über das aktuelle Körperthema spreche, möchte ich als Musiker aus der „Sicht- und Sprechweise“ des eigenen Leibes (Waldenfels 1999: 50) von einem signifikanten Musiziererlebnis jüngster Zeit berichten, bei dem ich erfahren konnte, was Verstehen mit dem Körper bedeutet. Es handelt sich um die Proben für die Uraufführung des Trios E5.plus für Oboe, Klarinette und Fagott (2015) von Roland Breitenfeld. Beim ersten gemeinsamen Spielen erschloss sich das Stück uns nicht, wir wussten schlicht nicht, was es bedeuten sollte. Im weiteren Probenverlauf indes änderte sich das; es wurde schlagartig deutlich, welche entscheidende Rolle die kommunizierenden Körper der Musiker für den Form- und Ausdrucksgehalt von Musik spielen; Partiturbilder fungieren dabei nur als „Gesprächsangebote“ (Widmaier 2016: 74), auf die die Musikerkörper kreativ antworten.
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Abb. 1: Roland Breitenfeld: „E5.plus“ für Oboe, Klarinette und Fagott (2015)
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Quelle & Copyright: Roland Breitenfeld.
1. Beschreibung und Körper-Deutung der Musik In den ersten zwei Takten des Trios sehen wir einen Fünfviertel- und einen Dreivierteltakt mit vier verschiedenen, alternierend geschichteten Mehrklängen im Piano bis Mezzopiano – aber das klingt nach nichts, wenn man es so spielt. Was klingt und Sinn ergibt, ist das Kreieren einer amorphen Fläche oder KlangKulisse im Pianissimo voller Erwartung dessen, was da kommen mag – frei im Wechsel, quasi zeitlos, in der Haltung gebannt-gespannter, horchender Intensität beim Spielen. Und dann: ein Oboenlauf aufwärts, zwei Portamento-Achtel, Lauf abwärts, gefolgt von Staccato-Punkten im Fagott und Klarinette? Ja und nein; denn was sich hier erhebt, ist eine Stimme, ein Ruf in ‚sehnender‘ Gestik und Blickrichtung nach oben, konterkariert vom Fagott, das ab T. 4 der Oboe buffonesk in die Parade fährt und in T. 7 mit der Klarinette als dritter Person ein Wechselspiel eingeht, das sich zu einem musikalischen Stimmengewirr der drei Spieler verdichtet. Und wenige Takte später (T. 20f.): ein Mehrklang-Wechsel in der Oboe? Ja und nein; in Wahrheit, so interpretieren wir, Glockenschläge oder Gongs, die angeschlagen werden und musikalisch-körperlich schwingen, pendeln und pulsieren wie der Oboist, der dies mit kleinen instrumentalen Schwungbewegungen verkörpert und die Hörer ‚in eine neue Gegend lockt‘. Atmosphäre, Haltung, Gestik, Gestalten, Glockenklänge, Gegend, ein Hauch von Commedia dell’arte vielleicht – dies ist es, was die Musik ausmacht und zum Leben erweckt, und dies ist nur mit dem Körper erfahrbar und erschließbar. Mit dem Körper gehen wir dem Geist und Gehalt der Musik auf den Grund. Die mentalen Prozesse der Erarbeitung und Deutung der Musik bedürfen der körperlichen Interaktion, der kommunikativen Musikalität und wechselseitigen Inspira-
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tion der drei co-agierenden Interpretenkörper – basierend auf Erfahrung und begleitet von einem Schuss kalkulierter Resonanz, die die ‚zwischenleibliche‘ Kommunikation mit einem ‚impliziten Hörer‘ mitbedenkt (Lessing 2006: 320ff.). Klangvorstellung und Körperaktion, expressive Bewegungen und Blickrichtungen, reales Erleben und ‚leibbasiertes‘ Verstehen von Musik (Eberlein 2016: 217ff.) gehen Hand in Hand und aktualisieren sich in einer die Bedeutung der Musik allererst generierenden „korporalen Performanz“ (Böhler & Herzog & Pechriggl 2013). 2. Musik als klingende Körperpraxis und die vier E’s der Kognition Offenkundig wird in unserem Beispiel, dass beim Erleben und Verstehen von Musik als verkörperter Ausdrucksbewegung und Kommunikation mit Klängen („embodied expressive movement“ (Cross & Morley 2009: 67)) Körper, Geist und Umwelt bzw. Mitwelt zusammenspielen. Das hat Konsequenzen für das Verständnis kognitiver Leistungen wie dem Verstehen von Musik, die mit der Aktivierung mentaler Repräsentationen nicht hinlänglich zu erklären sind. „Ein Organismus repräsentiert nicht, er interagiert“ mit der Welt und mit Anderen und bringt damit Bedeutung allererst hervor – ‚sense-making‘ in Wechselwirkung von Körper, Geist und Umwelt (Fingerhut et al. 2013: 85). Kognition und Wahrnehmung sind „verkörperte Handlungen [embodied actions]“ (2013: 87). Genau dies hat unsere Probenarbeit gezeigt: Im musikalischen Handeln werden die sogenannten 4 E’s der Kognition (nach Mark Rowlands) aufs Anschaulichste wirksam und erkennbar (Antoniadis 2014: 190 ff.; Lessing 2015: 14ff.). Musik als soziale Praxis ist stets embodied (klingender Körperausdruck von Tonkonstellationen und Gefühlen), enactive (eine die Welt gestaltende, Sinn erzeugende Handlung), extended (ausgedehnt in vokal-instrumentale Klang- und Handlungsräume) und embedded (eingebettet in Situationen eines geteilten emotionalen Miteinanders). Und Noten stellen in diesem Sinne nichts anderes dar als geronnene kommunikative Klang-Körperlichkeit (symbolisch codierte Gesten, Gestalten, Affekte, Strukturen etc.), die auf Erweckung zum Leben, ‚auf Erlösung‘ wartet1 – wie jedes schriftlich ‚festgehaltene‘ Werk nichts anderes ist als ein ‚perpetuierter Au-
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In Anlehnung an Klaus Maria Brandauers Laudatio auf Thomas Hengelbrock anlässlich der Verleihung des Herbert-von-Karajan-Preises 2016: „die Noten warten auf Erlösung“ (in: Badische Zeitung vom 1.2.2016).
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genblick‘ ursprünglich liquider kommunikativer Gehalte, die beim gemeinsamen Musizieren „wieder ins Fließen gebracht“ werden (Domin 1993: 205f.). Die Körper der Interpreten und der Hörer leisten dies. Beim körperlich bewegten, sich der Musik körperlich-seelisch anähnelnden (mimetischen), auf Zwischenleiblichkeit und Resonanz angelegten Spielen, Hören, Erleben und (vielfältig differenzierten) ‚Verstehen‘ treffen und transformieren, lösen und erhalten Spieler und Hörer sich in einem ‚Dritten Körper‘ (Theweleit 2007). 3. Musikalisch-soziales Embodiment Im gemeinsamen Musizieren verwirklichen sich dabei mehrere „Arten von Verkörperungseffekten“, die Musik Machen und Erleben als eine Form von ‚Social Embodiment‘ ausweisen (Koch 2011: 52ff.). Das gemeinsame Ausprobieren, Vormachen und Nachmachen, Hören und Mitvollziehen verschiedener Haltungen und Spielbewegungen erzeugt eine Art wechselseitige Ansteckung der musikalisch-körperlichen Ausdrucksformen, die alle Mitwirkenden ‚infiziert‘ und verbindet (aber auch bewusste Abgrenzung und Eigenbewegung bei kontrastierenden musikalischen Rollen implizieren kann). Und die körperliche Darstellung musikalischer Ereignisse wie Hintergrund-Klangfläche (in gespannt unbewegter Spielhaltung) und Anheben zu einer musikalischen Rede (in geöffneter, aufwärts gewandter Spielbewegung) wirkt verstärkend auf das eigene emotionale Erleben, Verstehen und Spielen der Musik. „Eigene Körperzustände bewirken affektive Zustände“ (Koch 2011: 53). Der Körper moduliert Vorstellung und Gefühl, die wiederum auf die Körper der Spieler und Hörer zurückwirken. Dieses gegenseitige Entzünden von Körper und Seele bzw. Geist, Körperbewegung, ‚Gebärde‘ und Affekt gehörte bereits im späteren 18. Jahrhundert zum Grundbestand der Schauspieltheorie und -praxis mit signifikanten Auswirkungen auf die musikalische Vortragslehre, besonders bei Carl Philipp Emanuel Bach (Rüdiger 2007: 100ff.). Was damals „influxus corporis et animae“ genannt wurde, konnte in der Körperfeedback-Forschung als „Wechselwirkungen zwischen motorischem Verhalten und affektiv-kognitivem System“ (Koch 2011: 39) empirisch nachgewiesen und für verschiedene Anwendungsgebiete nutzbar gemacht werden. Die Befunde der Bodyfeedback-Forschung zeigen, dass „Körperpositionen, -haltungen und -bewegungen Emotionen und Kognitionen auslösen und verstärken können, dass also physiologisches afferentes Feedback der Skelettmuskulatur zum Kortex […] eine kausale Rolle in der Emotionserfahrung und Verhaltensregulation spielt“ (2011: 41; gleiches gilt für Gesichtsausdrücke und Lautbildungen, siehe Rüdiger 2014: 150f. und 158).
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Bildet dieser Zusammenhang von Körper und Seele einen Kernpunkt des Konzepts des „Musikalischen Körpers“ (Rüdiger 2007), so kann das Wechselspiel von Musikalität des Körpers und Körperhaftigkeit der Musik vor dem Hintergrund aktueller Forschungen untermauert und erweitert werden zur einer Theorie und Praxis ‚musikalischen Embodiments‘, das folgende Aspekte umfasst: • •
•
Die vorgeburtlich beginnende Einkörperung von Musik in den Menschen, die Entstehung symbolischer Musikformen aus leibkörperlichen Lautgesten, Körperbewegungen und Dialogformen sowie die Deutung von Musik als symbolische Körperlichkeit vom zeit- und kulturgeprägten Konzept des einzelnen Tons bis zum kulturbedingten Werkkörper, die Verkörperung von Musik als geist- und gehaltvolle, um- und mitweltbezogene, Affekt und Resonanz erzeugende Handlung durch musikalischmimetische Atmung, Haltung, Körperbewegung, Stimmklang, Mimik und Gestik in der alltäglichen Kommunikation und in der Kunstausübung mit Anderen und für Andere.
Halten wir dies vorläufig als ‚musikalisches Embodiment‘ fest und wenden uns zur tieferen Ergründung der Zusammenhänge einem weiteren Beispiel zu.
II. S CHUMANN K ÖRPER
ERLEBEN UND VERSTEHEN MIT DEM
Robert Schumann, Kind im Einschlummern Robert Schumanns Kind im Einschlummern ist ein Stück Atemmusik par excellence: In langsamen, wiegenden Vierteln – e-moll - H-Dur, aus - ein etc. – überträgt Schumann die ruhigen Atemzüge, die zum Einschlafen führen, sowie den tiefen Atem des Schlafes in Musik und bildet damit ein allgemeines körperlich-seelisches Erfahrungsmuster kunstvoll nach. Wie sehr das körperliche Erleben des Klavierstücks den ganzen Menschen betreffen und erschüttern kann, verdeutlicht das Protokoll einer psychoanalytischen Sitzung, in der eine von Schumanns Kinderszene stets zu Tränen bewegte Musikerin das Stück durch leises, ‚zerbrechliches‘ Singen und Summen nachvollzieht. Dabei steigt sie in ihr „Körper- und Seelengedächtnis“ hinab, „in dem die frühe Fast-Todeserfahrung ihrer eigenen schlimmen Kinderszene gespeichert und verschlossen“ war, nimmt „ihre tiefsten, frühesten Ängste“ wahr und vermag ihren musikalisch bewusst
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gemachten ‚Urschmerz‘ fortan in ihr Leben zu integrieren (Hoffmann-Axthelm 2007: 81). Dieses Beispiel eines seelisch folgenreichen ‚vor- und außersprachlichen‘ Erlebens und Verstehens von Musik, das eine frühe, aller „Subjektkonstitution vorgängige Ebene“ berührt (Eberlein 2016: 217ff.), macht deutlich, dass es nicht allein um Musikverstehen geht, sondern dass im Verstehen von Musik der ganze Mensch in seiner leibkörperlichen Existenz seiner selbst gewahr wird, sich neu versteht, ein anderer wird. Musik verstehen und erleben mit dem Körper bedeutet daher zugleich Körper verstehen und erleben mit Musik. In dieser Umkehrung offenbart sich die grundlegende Wechselbeziehung oder primordiale Verbundenheit von Musik und Körper. Indem wir aktiv Musik mit dem Körper machen, Musik wahrnehmen und auf elementarer oder künstlerisch elaborierter Ebene erleben, wird der Körper sich seiner selbst bzw. werden wir uns unseres Körpers auf besondere, nichtalltägliche Weise gewahr: als eines sich-bewegenden, sichempfindenden, sich-ausdrückenden, sich-hörenden Leibkörpers voll Nähe und Ferne, Fremdheit und Vertrautheit mit sich selbst (Waldenfels 1999: 21). Wenn in diesem Beitrag also von ‚Körper‘ die Rede ist, so ist damit immer der ‚Leibkörper‘ im Sinne einer vom Leib ausgehenden ‚Selbstdifferenzierung‘ und ‚Selbstverdoppelung‘ in einen spürenden Leib und einen materiellen Körper, als Verquickung von Selbstbezug und Selbstentzug, Eigenheit und Fremdheit gemeint (Waldenfels 2000: 248 ff., Waldenfels 2010: 222, 271, 326). Was aber bedeuten hier Körper und Musik? Wie kann diese aus jenem entstehen und umgekehrt, und was meint Geist dabei? Welches sind die Möglichkeitsbedingungen eines solch intensiven persönlichen, das Leben verändernden Musik Verstehens und Erlebens mit dem Körper wie im Schumann-Beispiel? Kann dies auf Musikhören, -erleben und -verstehen allgemein übertragen werden? Und wenn ja, wie lässt sich ein solch erfülltes, lebendiges, den ganzen Menschen in seinen Tiefenschichten und Höhenflügen ergreifendes Erleben und Verstehen von Musik anbahnen? Stichworte für die Suche nach möglichen Antworten auf diese Fragen finden wir bei Hoffmann-Axthelm (2007): Das spezifisch leiblich-körperliche Zusammenspiel von Mensch (Hörer, Sänger, Spieler, Komponist) und Musik ist es, das ein Erleben und Verstehen mit dem Körper möglich macht. Entsprechend widmen sich die folgenden Ausführungen zunächst dem menschlichen Körper als Ursprung und Umschlagstelle von Musik, um sodann den Blick auf Musik als Umschlagsort von Leib-Körperlichkeit zu lenken. Zum Schluss werden Ansätze einer erweiterten Idee und Praxis musikalischen Embodiments entwickelt, in der beide Seiten, die Musikalität des Körpers und die Körperlichkeit der Musik, zueinander finden können.
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III. D ER
MENSCHLICHE K ÖRPER ALS U RSPRUNG UND U MSCHLAGSTELLE VON M USIK
„Wir tragen in uns die gesamte Musik: sie ruht in den Tiefenschichten der Erinnerung. All das, was musikalisch ist, gehört zur Reminiszenz. In der Zeit, da wir noch keinen Namen besaßen, müssen wir wohl alles vorausgehört haben“ (Cioran 1988: 23).
Was der rumänische Dichterphilosoph Emile Cioran hier formuliert, findet seine Bestätigung in der prä- und postnatalen Psychologie, der Säuglingsforschung und der musikalischen Entwicklungspsychologie: dass die Erfahrungswelt des Menschen vor und nach der Geburt primär von Klängen und Höreindrücken, Bewegungen und musikalischen Dialogen geprägt und Musik von Anfang an in den Körper eingeschrieben ist. Der folgende ‚entwicklungsgeschichtliche‘ Streifzug veranschaulicht dies an fünf exemplarischen Stationen bzw. Aspekten der Verbindung von Musik und Körper. 1. Musik im Mutterleib – Pränatale Prägungen als Ursprünge von Musik Ab der 24. Woche der Schwangerschaft ist der Gehörsinn so weit entwickelt, dass der Fötus Klänge und Geräusche im Mutterleib und außerhalb des Mutterleibs wahrnehmen und mit Bewegungen, Herzschlagveränderungen und neuronalen Erregungsmustern darauf reagieren kann. Das heißt: Unsere frühesten Sinneserfahrungen sind auditiver Art, Klangwahrnehmung und Körperbewegung von Beginn an unlösbar miteinander verbunden. Die vorgeburtliche Klangerfahrung als primäres Medium unseres Lebens besteht aus einem polyphonen Zusammenspiel von Herzschlag (Puls), Atemgeräuschen, Stimmklängen (Sprach- und Gesangsmelodie), Bewegungsmustern (vor allem Schritten) und intrauterinen Nahrungs- und Verdauungsgeräuschen (Klangfläche). Hinzu kommen Klänge und Geräusche der Außenwelt: Sprechen, Singen, Instrumentalspiel, Umweltgeräusche aller Art, die gedämpft, in tieferen Frequenzen und wenig obertonreich wahrgenommen werden (Parncutt 2015: 206; Gruhn 2010: 22f.). Das bedeutet: Musik ist schon von Anfang an in unserem Körper vorhanden, sie körpert sich pränatal im Menschen als hörendes und Klänge erzeugendes Wesen ein (Stadler Elmer 2015: 6f.). Wir können es auch umgekehrt formulieren: Der Körper ist der Ursprung von Musik. Die ontogenetische Entwicklung ist durchwirkt von musikalischen Erlebnis- und Erfahrungsmustern, die sich vom Beginn des Lebens an im Leib inkorporieren; menschliche
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und musikalische Entwicklung sind von Anfang an miteinander verbunden. „Die erste Umgrenzung des Selbstgefühls ist eine ‚Lauthülle‘. […] Das Ungeborene ‚versteht‘ Musik, weil sie die Physiologie des Mutterkörpers nachbildet. Weil sein eigenes Pulsieren mit dem Pulsieren des Körpers, der ihn umfängt, entsteht“ (Theweleit 2007: 7f.). Und da sich mit der Stimme der Mutter auch Tonfall, Tempo, Intonationsund Bewegungsmuster, d. h. Ausdruck und Struktur der mütterlichen Sprache einschreiben, findet bereits im Mutterleib eine Verschränkung von differenzierter biologisch-organischer und kultureller Entwicklung statt. Genau dies meint der Titel ‚Die Geburt der Musik aus dem Geiste des Körpers‘: „Human infants are well-equipped with surprising musical perceptual capabilities […]. Vocal learning starts as early as during the third trimester of gestation […]. In newborns, traces of early imprinting processes are reflected in perceptual preferences for melodies and rhythms to which they were exposed prenatally” (Wermke & Mende 2009: 6).
2. Die Musik der Säuglingsschreie Mit ihrer ersten kulturuniversellen Lebensäußerung, dem Schrei, kommunizieren Neugeborene mit ihren Bezugspersonen von Anbeginn auf musikalisch ebenso effektvolle wie affektgeladene Weise. ‚Kompetente Partner‘ auf dem Weg ihrer musikalischen und sprachlichen Entwicklung, agieren Babys dabei ähnlich wie ‚Komponisten‘, die aus einfachem Material eine aussagekräftige „modulare Komposition immer komplexerer Schreilaute und deren Modifikation“ erzeugen (Wermke 2001: 1, 3). Bereits in der ersten Lebenswoche weisen Babyschreie spezifische melodische Muster auf: einfache Melodietypen (auf- und absteigend, gerade), die ab der 2. Woche kombiniert bzw. dupliziert und ab der 5. Woche zu komplexen Kombinationsmustern mit Rhythmen, Pausen, Lautstärkenunterschieden und Transpositionen ausgebaut werden. Die verschiedenen Schreimelodien geben Auskunft über die elementare Befindlichkeit des Säuglings. Ungefähr ab der achten Lebenswoche treten zu den Schreien einzelne exspiratorische Lautäußerungen bzw. Vokalisationen wie Gurr- und Babbel-Laute, die eine ebenso musikalisch emotionale, ganzkörperliche (motorische und mimische) Kommunikation in Gang setzen – ein Wechselspiel von Resonanz gebenden Bezugspersonen und mimetischen Aktionen-Reaktionen des Säuglings. Säuglinge und Erwachsene kommunizieren in Form musikalisch-improvisatorischer Dialoge mit dem ganzen Körper: mit Lautgebärden, Blicken, Mienenspielen und Bewegungen. Auf dieser präreflexiven Schicht elementarer Lebensäußerungen, einer Art „Urtext
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der Erfahrung“ (Merleau-Ponty, zit. nach Waldenfels 2000: 65), baut alles weitere musikalische Handeln und Erleben, Lernen und Verstehen auf. 3. Die Einheit der Sinne – Ganzkörperliches Erleben von Musik Die differenzierten ‚musikalischen‘ Schreie, mit denen Säuglinge ihre Befindlichkeit kundtun und mit ihren Bezugspersonen kommunizieren, können als akustischer Ausdruck einer „Organsprache (organ language)“ (Spitz 1976: 150 ff.) gedeutet werden, bei der der ganze Körper aktiv ist. Die ältere Säuglingsund Kleinkindpsychologie ging davon aus, dass dieser globalen ‚Organsprache‘ eine ebenso globale ‚coenästhetische Rezeption‘ aus der ‚Tiefensensibilität‘ des eigenen Körper heraus entspricht, einem undifferenzierten Gesamtbefinden gleich (Spitz 1976: 62ff., 152f.; Rumpf 1981: 32ff.). Wie die neuere Forschung nachweisen konnte, ist die „Lebenserfahrung des Säuglings“ (Stern 2003) indes keineswegs so global und undifferenziert, wie die ältere Generation vermutete. Vielmehr besitzt der Säugling bereits bei der Geburt eine hohe Differenzierungsfähigkeit im Wahrnehmen und Wirken. Dem entspricht ein ebenso reiches, sich stets verfeinerndes Gefühlsleben. „Der Säugling fühlt ebenso differenziert und reichhaltig, wie er wahrnimmt und interagiert“ (Dornes 1999: 16f., 39 ff., 106ff.). Alle Sinnessysteme spielen dabei zusammen. Die Welt des ‚kompetenten Säuglings‘ ist geprägt durch eine ‚kreuzmodale‘ bzw. ‚amodale Wahrnehmung‘ (Stern 2003: 74ff.; Dornes 1999: 43f.), die eine Übersetzung der Sinneserfahrungen von einem Medium in das andere ermöglicht. Wir sehen, was wir hören, und fühlen, was wir hören und sehen, und verknüpfen dies mit bestimmten Affekten. In dieser ursprünglichen Verkoppelung der Wahrnehmungsbereiche gründet die Möglichkeit des Transfers zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsmodi Hören, Sehen, Tasten etc. und zwischen den verschiedenen Kunstformen (Stern 2003: 218). Für das Verstehen und Erleben von Musik bedeutet dies, dass Musik grundsätzlich immer mit anderen Sinneswahrnehmungen in Verbindung steht und ganzkörperlich erlebt werden kann (zur Konsequenz einer transformativen Ästhetik Brandstätter 2008: 135, 141). 4. Die Musikalität der Eltern-Kind-Dialoge – Kommunikative Musikalität Indem Eltern oder Bezugspersonen auf die melodischen Schreie und expressiven Vokalisationen ihres Babys mit allen Sinnen reagieren, treten sie in einen prä-
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verbalen emotionalen Dialog ein, der als Frühform ‚kommunikativer Musikalität‘ das leibkörperliche Erleben von Musik und den zwischenmenschlichen Umgang lebenslang prägt und begleitet. In der Kommunikation mit ihren Kindern bringen Eltern die präsymbolischen Quellen ihrer ursprünglichen Musikalität jenseits aller Kontrollzwänge wieder zum Sprudeln. Indem Erwachsene und Kinder mit elementaren „wilden Lauten“ (Roman Jakobson, zit. n. Waldenfels 2017: XX) und melodischen Gesten unter Einsatz aller Sinne kommunizieren und improvisieren, öffnen sie sich für Frühformen und „unmittelbare Vorläufer des späteren Musizierens“, die die Basis allen leibkörperlichen Erlebens und Verstehens von Musik bilden (Lessing 2016: 123ff.). In diesen körpermusikalischen Interaktionen von Babys und ihren Bezugspersonen – Lautgesten, Blicken, Mienenspielen und Körperbewegungen – vollzieht sich eine wechselseitige „Affektabstimmung“ (Stern 2003: 198ff.), die für die Entwicklung des Gefühlslebens und des sozialen Kontakts in unserer Kultur von entscheidender Bedeutung ist. Einem „Thema mit Variationen“ gleich (Stern 2003: 109ff.), bei dem die Partner abwechselnd die Initiative übernehmen, besitzen die musikalischen Interaktionen einen „zyklischen Charakter der Aufmerksamkeit und der sie begleitenden Affekte“, mit denen „primär Beziehungen“ und nicht „isolierte Selbst- und Objektbilder“ internalisiert werden (Dornes 1999: 65). Die angeborene „primäre Intersubjektivität“ des Menschen, so können wir schlussfolgern, (Trevarthen, zit. nach Dornes 1999: 69) ist leibkörperlich und musikalisch verfasst. Und umgekehrt: Musik nistet sich als affektive Kommunikationsform von Anfang an im Körper ein. Für dieses melodisch, rhythmisch, dynamisch, klangfarblich, ja sogar formal differenzierte Kommunizieren mit dem ganzen Körper haben Stephen Malloch und Colwyn Trevarthen den Begriff „Communicative Musicality“ (2009) geprägt. Er bezeichnet nichts Geringeres als die unseren Körpern eingeschriebene Grundmusikalität, die uns miteinander verbindet; genauer: das angeborene, in frühkindlichen Ausdrucks- und Dialogformen sich entfaltende Potenzial, sich mit anderen Menschen auf musikalisch-gestische Weise in Beziehung zu setzen und zu synchronisieren. Drei Parameter prägen die kommunikative Musikalität: Puls, Qualität und Narrativität – Puls als regelmäßige Abfolge vokaler oder gestischer Verhaltensweisen, Qualität als variable Ausdruckskonturen von Vokalisationen und Körperbewegungen, Narrativität als Verbindung von Puls und Qualität zu kunstvollen Erzählungen voll Ausdruck und Intention. Und ähnlich wie Dornes‘ Analyse einer Interaktionssequenz (Dornes 1999: 62 ff.) weist auch das protokollierte Beispiel einer solchen musikalischen Erzählung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter eine geradezu ‚klassische‘ musikalische Form auf: „Introduction, Development, Climax and Resolution“.
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Der Verbund von Puls, Stimmklang und Körperbewegung als ‚große Erzählung‘ musikalischer Verbundenheit prägt nicht nur die vorgeburtliche und frühkindliche Entwicklung, sondern ist ebenso in strukturierten Musikstücken wie Liedern und Instrumentalwerken wiederzufinden. So verwirklicht sich in jedem gemeinsamen Liedersingen und bewegten Musizieren kommunikative Musikalität als Körperkommunikation mit ausdrucksvoll gestalteten Klängen, Gesängen, Instrumentalaktionen, im alltäglich Kleinen wie im Großen musikalisch geprägter Festlichkeiten (Dissanayake 2009: 17-30). Das ist soziales musikalisches Embodiment oder das Embodiment der Musik als soziale Praxis: ein verkörperter Klang-, Kommunikations- und Ausdrucksraum der Verständigung, Musik als „vollkommen verkörperte Aktivität von Menschen“ und Verständigung mit verkörperten Klängen (Cross & Morley 2009: 67, Übersetzung W.R.). „Hence, music might be defined […] as embodying, entraining, and transposably intentionalizing time in sound and action […] typically expressed by voices and instruments that articulate patterns in pitch, rhythm and timbre, and involving correlated gestural patterns of movement that may or may not be oriented towards sound production“ (2009: 69). 5. Singen mit Leib und Seele Enthalten die frühkindlichen Vokalisationen und Eltern-Kind-Dialoge als Formen kommunikativer Musikalität „bereits im frühen Säuglingsalter alle akustischen Eigenschaften, die für Musik grundlegend sind, nämlich Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe, Zeitstruktur“ (Stadler Elmer 2000: 35), so bildet dies die Grundlage für die Entwicklung des Singens und Sprechens. Spiel und Nachahmung sind die treibenden Kräfte dieser Entwicklung – „Spiel mit Klängen und Lauten“ und Nachahmen der Klangwelt, in der wir leben, ebenso aber auch Lieder erfinden und lernen in einem kreativen Prozess musikalisch-körperlicher Aktivitäten und Anpassungsleistungen. „Diesen Aktivitäten: Hören, Vokalisieren, Sich-Bewegen ist gemeinsam, dass sie körperlich sind. D. h., beim Musik-Erleben stehen das Sinnliche und Motorische im Vordergrund. Hinzu kommt, dass diese körperlich-sinnlichen Aktivitäten mehr oder weniger willentlich gesteuert werden können. Wir können entscheiden, dass und wie wir uns bewegen und ebenso, dass und wie wir unsere Stimme verwenden wollen. […] Die körpereigenen Mittel der Wahrnehmung und des Ausdrucks sind die Grundlage für das Erleben von Musik“ (Stadler Elmer 2000: 24 f.).
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Im expressiven Sprechen und Singen von Liedern mit Leib und Seele kommt der leibkörperliche Ursprung und Charakter der Musik auf ‚natürliche‘ Weise zum Ausdruck.
IV. M USIK ALS U MSCHLAGSORT VON L EIBKÖRPERLICHKEIT Konnte in den Abschnitten des vorangegangenen Kapitels gezeigt werden, dass Musik als primäres Medium des Weltbezugs bereits im Mutterleib sich im Menschen einkörpert und vom ersten Schrei an als Lautgeste und -antwort, Ausdrucksbewegung, Dialog und Lied unsere leibkörperliche, emotionale und soziale Entwicklung prägt, so kehren wir die Perspektive nun um und wenden uns den Erscheinungen unserer Musikkultur zu, in denen es von SpannungsEntspannungsmustern, Affekt- und Ausdrucksgesten, Bewegungs-, Dialog- und Erzählformen nur so wimmelt. Ihr Ursprung sind die leibkörperlichen Lautgesten und Verständigungsformen, welche geformte Musik in neuen „musikalischen Konfigurationen“ abbildet; sie gilt es „zu lesen, zu entziffern“ und „nachzuahmen“, um sie erleben und verstehen zu können (Adorno 2001: 244). Wir können dies als korporalen Zirkel des Musiklernens, -erlebens und -verstehens bezeichnen (bei fortschreitender Erkenntnis und Neuschöpfung eine Spirale). Die expressiven und strukturellen Eigenschaften der Musik, die wir in uns tragen und die sich durch Hören und musikalisches Handeln inkorporieren, finden sich in veränderter Gestalt und Gestaltung in den Erscheinungen unserer Musikkultur wieder – als symbolische Körperlichkeit notierter oder improvisierter Musik, die der Rück- bzw. Vorverwandlung in reale Klangkörperlichkeit bedarf. Der Weg, Musik zu erleben, zu erlernen und zu verstehen, führt über jene leibkörperlichen Ausdrucksquellen, aus denen die kulturgeprägten Musikformen hervorgehen und deren Züge sie tragen. Wir brauchen nur die musikalischen Ausdruckspotenziale unseres Körpers mit den leiblichen und gestischen Aspekten der Musik in Verbindung zu bringen, um Musik körperlich zu erleben, zu ‚verstehen‘ und lebendig zu gestalten. Denn Musik kommt aus dem Leben, wirkt auf das Leben, hat Folgen fürs Zusammenleben. So einfach dies erscheinen mag und so natürlich Kinder musikalisch agieren und kommunizieren, so sehr wird lebendiges Musik Machen und Erleben mit fortschreitender Sprachfähigkeit und Verschulung zum Problem. Warum? Gesellschaftliche, historische und kulturelle Gründe, besonders der Mangel an lebendiger musikalischer Kommunikation und Körperlichkeit in unserer Kultur, spielen hier zusammen (Rumpf 1981). Aus entwicklungs- und lernpsychologischer Sicht kann der Verlust unmittelbaren Erlebens und Verstehens von Musik
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damit erklärt werden, dass eine Kluft entsteht – oder ein Faden reißt –zwischen den präreflexiven musikalisch-körperlichen Ausdrucks- und Erlebnismustern der ersten ein bis zwei Lebensjahre und den mit dem Spracherwerb einsetzenden symbolischen Kultur- und Kommunikationsformen, die in der westlichen Welt oft einseitig rational, körper- und klangfern sind und die primären leibsinnlichen Formen des Weltzugangs in den Hintergrund drängen. In der Musik der Stimme, des Körpers, der Kommunikation mit anderen, in Gesängen und Festen jedoch überleben und manifestieren sich die ursprünglichen Lautgesten und Formen kommunikativer Musikalität ebenso wie in den Übergangsräumen gestalteter Kunst und Musik. Finden die frühen klanglichen Lebensäußerungen hier symbolischen Ausdruck bzw. Neugestaltung (Tenbrink 2000: 245f.), so muss es umgekehrt möglich sein, auch in kulturell geprägter Musik ursprüngliche Lautgesten wieder zu entdecken, einkomponierte Spannungsmuster und Ausdruckscharaktere zu erleben, in Kontakt mit unserem Affekt- und Gefühlsleben zu treten und tiefes leibkörperliches Erleben mit geistigem Verstehen von Musik zu verbinden. Dass dies möglich ist, hat das Schumann-Beispiel gezeigt. Die folgenden Ausführungen untersuchen, wo und wie der musikalisch verfasste Leibkörper in Gebrauchs- und Kunstmusik anzutreffen ist, in die seine frühen Lautgesten, Affektäußerungen und Bewegungsmuster in verwandelter Form Eingang finden – oder aber, wie manche Körper-Werke und -Konzepte der neuen Musik in ihrer archaisch wilden Gestalt zur Kunst werden, als reales Atmen, Schreien, Mimen, Gebärden etc., und Körperlichkeit als Kardinalthema jeder Musik und Referenzpunkt ihres Erlebens und Verstehens ausweisen. 1. Der Musikalische Körper von Liedern Als Singende erfahren wir am ehesten, was leibliches Erleben und Verstehen bedeutet. Volkslieder, Kinderlieder, Kanons, Choräle sind die besten Erfahrungsund Übungsstätten bewegten Musizierens und Musik Erlebens, am besten zusammen mit anderen. Als ‚Übergangsräume‘ zwischen frühkindlicher und kulturell vermittelter Artikulation (vgl. Figdor & Röbke 2008: 132; Lessing 2016: 123) sind sie vollgesogen mit musikalischer Körperlichkeit und kommunikativer Musikalität, die jener der frühen Kindheit ähneln (Malloch & Trevarthen 2009: 4 f.). So entspricht die gekonnte Einfachheit von Liedern wie Kleiner Tommy Tinker oder Sing, sing together dramaturgisch elementaren Eltern-Kind-Dialogen mit ihren Formteilen Introduktion (oder Exposition) – Entwicklung (Wiederholung eine Terz höher) – Klimax (in Tommy Tinker als Schrei, Ruf, Exclamatio) – Auflösung (Schlusswendung, bei Tommy Tinker z. B. in Form einer Anabasis,
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Rüdiger 2008: 10). Das Lied in dieser seiner leibkörperlichen Erzähl- und Verlaufsform zu erkunden, zu sprechen, zu schluchzen, zu schreien und zu singen, mit Blick, Bewegung, Geste, Klangfarbe und großer dynamischer Steigerung bis zum doppelten Aufschrei (Quart-Exclamatio mit vokalem Glissando abwärts) und zur resignierten Schlusskadenz, ggf. verbunden mit Texten, Bildern und instrumentaler Begleitung im Wechsel, dies wären Methoden, den ‚Körper‘ des Liedes zum eigenen, sich gleichsam ‚leib-eigen‘ zu machen. Auch zwischen den Tonfällen der kindgerichteten Sprechweise und Liedern verschiedener Kulturen besteht eine direkte Verbindungslinie. Die Melodien von Wiegenliedern z. B. setzen sich aus Tonhöhenkonturen zusammen, die denen der Ammensprache ähneln und die gleichen Affekte zum Ausdruck bringen und auslösen (Cordes 2005: 206). So können Wiegenlieder als musikalisches Embodiment der Beruhigung betrachtet werden, in dem zugleich der Saugrhythmus als „der erste Rhythmus, der den Körper des Kindes organisiert“ aufbewahrt ist – „alle Wiegenlieder haben einen oralen Saugrhythmus“ (Koch 2011: 82). Gründend in der Musik unseres Körpers, in der sich Affekte von Geburt an klanglich artikulieren, besitzt jedes Lied einen eigenen musikalischen Körper und realisiert ein spezifisches emotionales Embodiment zwischen Beruhigung und Aktivierung, Trauer und Freude, Angstlust (Hänschen klein), Wut und Übermut, das ganzkörperlich, mit entsprechendem Ausdruck in Stimme, Miene, Blick, Bewegung gesungen, gespielt, verkörpert werden will. 2. Atmen und Schreien Haben wir im Schumann-Beispiel oben bereits eine kompositorische Nachbildung ruhiger Atembewegungen erleben können, dessen singend-summender Nachvollzug den Weg in die tiefsten Schichten leibkörperlichen Verstehens zu bahnen vermochte, so ist die Musikgeschichte geradezu voll von Formen künstlerischer Mimesis in Bezug zum atmenden Körper. Sie alle bedürfen eines leibkörperlichen Mitvollzugs im Sinne mimetischen Atmens, das sich der Musik ebenso anähnelt, wie Musik aus Atem entsteht (Rüdiger 1999). Als integrale Brücke zwischen Körper und Kunst kann der Atem auch in seiner ‚natürlichen‘ Form zum Material und Sinn von Kunst werden, die ihre Körperhaftigkeit erkennt und zelebriert, so in den zahlreichen Atemmusiken des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Musik stülpt gewissermaßen ihre Innenhaut nach außen und offenbart den Körper als Fluchtpunkt und ‚große Vernunft‘ aller Kultur, Kunst und Philosophie. „Der Leib ist begeistert“ (Nietzsche 2005 [1908]: 341), der Atem im Werk wird zum Atem als Werk, der Körper zum musikalischen Gestaltungsmittel, Material und Sinn von Kunst.
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Als Beispiel unter vielen, Gegenpol zu Schumanns Kind im Einschlummern und heiter-ernste Erfahrung klanglich verfasster Zwischenleiblichkeit sei Howard Skemptons Improvisationsanleitung FISH TALK for any number of players von 1969 vorgestellt und zur Aufführung an jedem Ort, zu jeder Zeit empfohlen (Skempton 1971). Breathe in silently In breathing out, produce distortions Lips/tongue If appropriate, kiss
hard/soft long/short
Was für den Atem gilt, gilt auch für den Schrei, der die kommunikativmusikalische Primäräußerung schlechthin und vielfältig modulierbare Ausdruckskonstante von Kunst zugleich ist. Von den Schreikompositionen des Säuglings (im Ambitus bis zu einer großen Terz) über Rufe und Schreie in Liedern bis zu den mit den Mitteln der jeweiligen Zeit gestalteten Schreitypen in Werken von Gesualdo bis heute erstreckt sich die Palette der Expressionen: barocke Exclamatio, Lust-, Angst-, Wut- und Forderungsschrei (Johann Sebastian Bachs Barrabam), Verzweiflungsschrei (Wolfgang Amadeus Mozart KV 333, 3. Satz, Franz Schuberts B-Dur-Sonate (D 960)), Todesschrei (Alban Berg, Wozzeck und Lulu, 3. Akt, 12-töniger Schrei-Akkord, unentrinnbar symmetrisch geschichtet), Protestschrei in Luigi Nonos A floresta é jovem e cheia de vida, Selbstmörder-Zitat in Nicolaus A. Hubers Seifenoper, exzessive Schreie bei Jani Christou, Jans-Joachim Hespos, Heinz Holliger (Psalm), Gerhard Stäbler, Rainer Rubbert u. a., der übermütige Bläserschrei zu Beginn von Sándor Veress‘ Sonatina, die utopischen Klavierschreie am Ende von Sidney Corbetts only what disappears für Ensemble und viele mehr. Beim leibkörperlichen Mit- und Nachvollzug allein indes bleibt es nicht. Denn hier stellen sich grundsätzliche ästhetische Fragen wie: Schrei – in welchem Kontext? – wie komponiert? – wofür? – von wem? – in welcher Situation? – Fragen, die über das Erleben und Verstehen mit dem Körper hinausweisen in Richtung Funktion, Wirkung und Praxisrelevanz von Kunst. 3. Register des Musikalisch-Körperlichen Was für den Schrei gilt, das gilt auch für die vielfältigen ‚Register‘ des Musikalisch-Körperlichen (Waldenfels 1994: 17): von grundlegenden Haltungs- und Bewegungsformen wie Stehen, Gehen, Laufen, Springen – Aufstehen, Setzen – Weiten, Zusammenziehen – Wachsen, Schrumpfen etc. über körperliche Funktionen wie Atem, Puls, Herzschlag bis zur Vielfalt barocker Affektfiguren und
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klassischer Ausdrucksgesten, die sich auf leibkörperliche Phänomene zurückführen lassen und von kompositorischem Körperwissen zeugen. Bach, Telemann, die Bach-Söhne, Mozart, Beethoven, Schumann – sie alle waren eminente Körperkenner, ihre Werke belegen es, und vielfach, besonders in der gestischen Musik Mozarts, leben Formen frühkindlicher dialogisch-kommunikativer Musikalität auf (ausführlich in Rüdiger 2006, 2007, 2014; zu einem weiten und engeren Gestenbegriff Grüny 2014, 146ff.; auch Klein 2015). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzieht die dadaistische Revolte in Anprangerung der Brutalität des Krieges eine radikale Wendung vom Geist zum Körper, indem sie den bloßen Leib und seine Verrichtungen als Material und Sinn auf die Bühne stellt, auf krasse Weise z. B. in Schulhoffs anstößigen Körperstücken von 1919. In der Folge laden etliche Atem- und Mundmusiken von Kurz Schwitters, Dieter Schnebel, Josef Anton Riedl, Gerhard Rühm, Howard Skempton, Moritz Eggert u. a. zum Erleben des leibkörperlichen Ursprungs von Musik ein. Arnold Schönberg komponiert seinen eigenen Herzinfarkt und dessen Behandlung im virtuosen Streichtrio op. 45 (1946), John Cage führt Musik auf den Anfang in atmender Stille zurück, heißt jeden Körperklang willkommen und beeinflusst körpermediale Künstler wie Nam June Paik und viele andere; Mauricio Kagel inszeniert instrumentales Körpertheater, Mariano Etkin arbeitet sich sinnlich am „Fleisch der Klänge“ ab, die Fluxuskünstler feiern wahre KörperFeste, und unter den lebenden Komponisten sind es Dieter Schnebel, Vinko Globokar, Pauline Oliveros, Heinz Holliger, Hans-Joachim Hespos, Nicolaus A. Huber, Gerhard Stäbler, Uwe Rasch, Helmut Oehring, Annesley Black, Malika Kishino, Martin Schüttler, Alexander Schubert und andere, die Musik in subtiler bis radikaler Leibkörperlichkeit, zum Teil mit hybrider Erweiterung durch Medien, Interfaces, virtuelle Instrumente, an und über ihre Grenze führen (Hilberg 2000; Drees 2011; Kim 2010; in musikpädagogischer Absicht Oberhaus 2006). Der Körper in der Musik wird hier zum Körper als Musik – die indirekte, symbolische Einkörperung wandelt sich in eine direkte, die ein ebenso unmittelbares Erleben und Verstehen mit dem Körper intendiert und initiiert. Der Körper tritt hier aus sich selbst heraus, bricht aus und bricht aus sich heraus wie z. B. in der ekstatischen ‚Metapraxis‘ von Jani Christou oder in den rohen, keuchenden Artikulationen Helmut Oehrings. Embodiment als Inkorporation von Leibkörperlichkeit in Kunst wird zur Überschreitung von Kunst durch den Körper, mehr noch: zur Überführung des Körpers in sein Anderes – künstlerisches Entäußern, Entgrenzen, Transzendieren, Außer sich Geraten und Scheitern des Körpers an sich selbst. Erleben und Verstehen mit dem Körper und Irritieren, Provozieren, Erschüttern fallen hier zusammen.
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V. M USIKALISCHES E MBODIMENT – E RLEBEN V ERSTEHEN VON M USIK MIT DEM K ÖRPER
UND
Bezeichnen wir die vielgestaltige Verbindung von Musik und Körper mit dem Begriff Embodiment und übertragen damit eine aktuelle kognitionswissenschaftliche Theorie und Praxis der Geistes-, Kultur- und Kulturwissenschaft, Psychologie und Psychotherapie auf Musik, so ergeben sich mehrere Facetten und Konsequenzen für unser Thema. Embodiment zeichnet sich aus durch den Doppelcharakter einer Einschreibung von Musik in den Leibkörper und von Leibkörperlichkeit in geformte Musik. Diese doppelte Einkörperung potenziert sich in neuer Musik, die den Körper in der Vielfalt seiner Klänge und Verrichtungen zum Material und Thema von Kunst macht. Im potenzierten Embodiment offenbart sich der Körper als Musik und Musik als Körperkunst. Indem die Avantgarde, aber auch die popmusikalisch und interkulturell geprägte Body Music (die gesondert zu thematisieren wäre) den Ursprung von Musik im Körper aufdeckt, lädt sie zum Mit- und Nachvollzug, zur affektiven leiblichen Resonanz und zum Erleben und Verstehen mit dem Körper ein. Und sie verweist auf die kommunikative Musikalität, die uns (von pathologischen Fällen abgesehen) von Geburt an eingeschrieben ist und sich in jeder zwischenmenschlichen Begegnung, in alltäglichen Handlungen wie in Kunst, als Ausdruck ursprünglicher Verbundenheit aktualisiert. Eine praktische Komponente der affektiven Speicherung und Spiegelung von Musik im Körper und umgekehrt bildet die Wechselwirkung von Körperaktion und musikalischem Ausdruckserleben (was die Embodiment-Forschung als body-, facial- und vocal-feedback bezeichnet). Die Konsequenz davon ist folgende Forderung: Atme und bewege Dich beim Spielen, agiere die musikalischen Affekte und Klangkonstellationen. Versetze den Körper auf der Basis Deiner expressiven Alltagserfahrungen in die Ausdruckshaltung und -bewegung, die dem Ton konform und der Musik entsprechend ist, so wie Du sie auffasst, anfasst, verkörperst, als In-Kontakt-Treten Deines lebendigen Leibes mit dem Embodiment des Werks – und wandle, moduliere Deinen Körper entsprechend den Wandlungen, Bewegungen, Modulationen der Musik in Tonkörperlichkeit, Affekt und Ausdruck. Welches ‚Embodiment‘ aber dem Werk eingeschrieben ist bzw. welches es ausdrückt und wie es sich wandelt, muss bzw. kann selbst wiederum mit dem Körper herausgefunden, erkundet, erforscht, erfahren werden. Embodiment wäre hier eine Methode, ein experimentelles Verfahren, um dem Embodiment der
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Musik mit dem Körper auf die Spur zu kommen, der Seele der Musik gleichsam auf den Leib zu rücken. Dabei spielt ‚soziales Embodiment‘ eine entscheidende Rolle: Grundlage musikalischen Erlebens und Verstehens ist die zwischenleibliche Resonanz, die nur dann wirksam werden kann, wenn der Interpret die Musik (ihr Embodiment) tatsächlich in sein leibkörperliches Handeln (sein eigenes Embodiment) überführt und die Hörer zwanglos zu ihrem je eigenen körperlichen Mit- und Nachvollzug einlädt (der sich nicht in realer Mitbewegung äußern muss, sondern auch innerlich vollziehen kann, Cross & Morley 2009: 67) In der kommunikativen Musikalität von Kindheit und Alltag aber ist Embodiment in Reinform gegeben. Daran kann Verstehen und Erleben von Musik mit dem Körper anknüpfen, indem es Musik als soziale Interaktion mit Körperklängen, Blicken, Gesten, Mienen realisiert und kultiviert, von Anfang an und ein Leben lang. Artikuliert sich musikalisches Embodiment als Ein- und Verkörperung von Musik in einem mehrfachen Sinne: im Leibkörper des Menschen; im Formgehalt der Musik; im Leibkörper des Interpreten; im Leibkörper des Hörers (als MitSpieler); als korporale Performanz von Spielbewegungen, Ausdrucksgesten, Kommunikationsweisen; im ‚dritten Körper‘ des ‚medialen Raums‘ von Musik, Spielern, Hörern (Klaus Theweleit); als ‚differenzielles Embodiment‘ im Sinne von Musik körperlich erkundendem Üben und Proben (Widmaier 2016); so sind der Vielfalt des Verstehens immer Reste von Nichtverstehen, von Rätsel und Befremden beigesellt. Wie dem Leibkörper eignet der Musik die Doppelung von verstehendem Selbstbezug und Selbstentzug, wachsender Vertrautheit und Fremdheit. Besonders in neuer Musik tritt die Leibursprünglichkeit in die Helle des Tages und ins Dunkel des Entzugs zugleich, als Pro-Vokation, An-Ruf, AufRuf, Rätsel und Ereignis. Musikverstehen enthüllt sich hier als vielfältig differenziertes, brüchiges, vielstimmiges und vieldimensionales Geschehen, das stets von Nichtverstehen durchsetzt ist (Mersch 2011). Dies entbindet indes nicht von einer besseren musikalischen Ausbildung, die bei der jedem Menschen innewohnenden affektiven und kommunikativen Musikalität ansetzt und daraus Methoden einer ‚multimusikalischen‘ Übepraxis entwickelt: im variablen Erproben gestischer Hörweisen und agogisch freier, dynamisch weit gespannter, energiegeladener Musizierformen, in denen die Idee von Musik als eine existenzielle Aussage und sozial bedeutsame Handlung mit Leib und Seele sich erfüllt. Mit dem Körper Musik verstehen und erleben fordert dazu auf, unser Leben körperlicher und musikalischer zu leben, als geteiltes Leben in musikalischer Verbundenheit, und durch musikalisches Erleben verborgener, ggf. verschütteter
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Gefühle zu den Wurzeln unserer Menschlichkeit zu finden. Wenn wir uns mehr ‚taktvoll‘ bewegte Geschichten erzählten bzw. die Geschichten unseres Lebens musikalisch erzählten: singend, schwingend, in klingender Bewegung, und miteinander feiern, trauern, empfangen, antworten, schweigen2 – dann würden wir mit offenem Körper Musik und Andere besser verstehen und erleben. Dies aber löste so Manches in Geist und Gesellschaft – lösen im Sinne von befreien, auflösen (von Grenzen), auslösen wie der Anblick eines singenden Kindes: „Heiß ist der Reichtum. Denn es fehlet An Gesang, der löset den Geist. Verzehren würd’ er Und wäre gegen sich selbst Denn nimmer duldet Die Gefangenschaft das himmlische Feuer “ (Hölderlin 2008 [1806]: 330).
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2
Eines der ergreifendsten Beispiele kommunikativer Musikalität: Präsident Obama singt
Amazing
Grace;
https://www.youtube.com/watch?v=IN05jVNBs64
24.2.2017 (veröffentlicht am 26.06.2015).
vom
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Körper, Leib, rauhe Klänge Gibt es eine musikalische Art brut? P ETER R ÖBKE
Vor einigen Jahren schlenderte der renommierte Pianist Marino Formenti über den pittoresken und multikulturellen Brunnenmarkt in Wien-Ottakring und sprach wildfremde Passanten an: „Haben Sie nicht Lust, Schubert-Lieder mit mir zu erarbeiten?“ Und zur Begründung gab er an: „Ich möchte mit ganz normalen Menschen arbeiten – die Staatsopern-Sänger gehen mir auf die Nerven…“ Am Ende dieses Streif- und Fischzuges haben sich sehr unterschiedliche Menschen auf dieses Angebot eingelassen: Ein Geschäftsmann ebenso wie ein Musikkritiker, eine Künstlerin ebenso wie Studierende mit Migrationshintergrund. Der Film Schubert und Ich1 dokumentiert nun die Arbeit an Schuberts Liedern: Mit einem transportablen Klavier sucht Formenti die Wohnungen seiner Laiensänger auf und lässt sich jeweils auf eine Entdeckungsreise ein – durch die Schubertsche Liederlandschaft ebenso wie durch die Lebensgeschichten seiner musikalischen Partner, wobei es ihm darum geht, die Spiegelung biographischer Momente in der Singstimme zu erfahren. Und immer wieder entfährt es ihm: „Sing nicht so schön!“ oder auch „Lass das, das klingt ja wie bei einem Staatsopernsänger!“ Szenenwechsel: Probe des Berliner Chores High Fossility in der Neuköllner Musikschule, eines Chores, dem man dann angehören kann, wenn man über 60 Jahre alt ist, und dessen Existenz sich dem Bedürfnis seines Leiters Michael Betzner-Brandt verdankt, jenseits seiner Tätigkeit mit professionellen Chören an etwas anderem zu arbeiten als Schönklang, Verschmelzung und Ausgewogenheit: „Ich will die langen Lebensläufe haben. Persönlichkeiten statt Perfektion.
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http://www.schubertundich.at (20.02.2017).
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Ich will mit alten Menschen singen“ (Klinger 2014: 35). Und: „Es geht nicht darum, auf Tonhöhen zu kommen. Sondern um Klangfarben. Um starke Aussagen, um die Wahrheit“ (ebd.: 36). Und Nadja Klinger, die die Geschichte von High Fossility erzählt, resümiert: „Für Musik, aus Lebenserfahrung gemacht, will er das vermeintlich Schöne opfern“ (ebd.: 38). Dieses Singen rührt etwas in mir an, und ich frage mich: Was bewegt mich da, aber was fasziniert mich etwa auch • •
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an den frühreif singenden Kindern in der Dokumentation Growing into Music?2 an Markus, dem Wiener Rapper mit Down-Syndrom, der unter dem Künstlernamen OKMA auf eine grenzwertige Weise so agiert, dass es mir den Atem verschlägt?3 an Sängerinnen und Sängern wie Janis Joplin oder Joe Cocker, die doch in rein vokaler Hinsicht offensichtlich ein Problem haben? an Young@Heart4, einem amerikanischen Chor aus hochbetagten Menschen, dessen Arbeit mit dem Chorleiter Bob Salvini in einer Dokumentation mit dem gleichnamigen Titel vorliegt und dessen Interpretationen von Punkoder New Wave-Stücken die Gebrechlichkeit der Körper und die Brüchigkeit der Stimmen in eine bewegende Performance verwandeln?
Eines muss gleich gesagt zu sein: Ob ‚Sehnsucht nach dem Laien’ und Abneigung gegenüber dem ‚Professionellen’, ob Zurückweisung des nur Gekonnten und Zweifel an dessen Glätte, ob Anziehung durch eine ungeschönte vokale Art brut in welcher Form und durch welche Protagonisten auch immer: •
Es ist nicht das Nicht-Bewältigte, also nicht die nicht geleistete Beherrschung der Widerstände des Körpers gegenüber technischem Training, die mich fasziniert: Das würde mir auf die Nerven gehen und allenfalls Mitleid auslösen, meistens wohl auch – im Fall schwächlicher Imitation des Gekonnten – Belustigung und Spott: Florence Foster Jenkins also ist nicht in den oben beschriebenen Szenen zu verorten (auch die „Madame Marguerite“ des gleichnamigen Films ist ein bedauernswertes Opfer einer gigantischen Selbsttäuschung und nicht jemand, der ästhetisch zu neuen Ufern aufbricht).
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http://growingintomusic.co.uk/the-growing-into-music-film.html (05.02.2017).
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Z. B. die OKMA Attacke auf https://www.youtube.com/watch?v=HO0FkSKBt8U
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http://www.youngatheartchorus.com/ (05.02.2017).
(05.02.2017).
K ÖRPER , L EIB , RAUHE K LÄNGE
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Es ist wohl eher das Nicht-Zu-Bewältigende, also eine spezifische Art, Widerfahrnisse zuzulassen, unwiderlegbare, unausweichliche, unabwendbare Wider-Fahrnisse.5
Wenn somit in einem berührenden Feature des österreichischen Kultursenders Ö1 von „Sängern, die nicht singen können“, die Rede ist und der Bogen von Tom Waits bis Ringo Starr gespannt wird, dann geht es nicht um ein peinliches und klägliches Scheitern, sondern um eine Art souveräner Unvollkommenheit. Denn: Wenn die Frage gestellt ist, ob es eine Art brut in der Musik gibt, (und ich meine hier die Kunst der Aufführung, also des Wirklichkeit-Werdens von Musik durch die musikalischen Handlungen und Akte von Musizierenden),6 dann richtet sich die Frage nicht nur auf das Rohe, Unbearbeitete und somit Ungeschönte, sondern auch auf die Kunst selbst: Eine Art brut ist eine Art brut und eine Art brut. Das Scheitern an der Kunst wird es also nicht sein, was Faszination auslöst, sondern das Hervortreten und Sich-Ereignen einer Kunst, die dem Unverfügbaren und Unbeherrschbaren, eben dem Nicht-Zu-Bewältigenden Raum lässt, die sich mithin auch dem Einbrechen eines Anderen stellt und Risse im Wohlgestalteten zulässt, durch die etwas eindringen kann. Formentis Sängerinnen und Sänger singen mit Leib und Seele und entsprechend kann man von ihrer Musik sagen, dass diese leibt und lebt. Die Präsenz ihres Singens konfrontiert uns mit ihrem phänomenalen Leib und mit ihrer nackten Stimme: Nichts wäre sinnloser, als ihren Gesang nur als Gesang wahrzunehmen und nur als solchen zu beurteilen. Was uns fesseln und in Beschlag nehmen kann, ist etwas Eruptives, gewissermaßen ein Hervorbrechen des Singens aus der Leibeshülle. Ich lese in Helmuth Plessners Phänomenologie der Musik aus dem Jahr 1925: „Der Mensch gehört zu den Laut produzierenden Wesen. Was ihm gegenüber Licht und Farben versagt ist, vermag er bei Tönen. Er kann sich Luft machen im artikulierten Schrei wie im artikulierten Laut und geformten Ton. In dieser Äußerung, der Entladung einer inneren Spannung durch Bewegung, sprengt das Individuum die Schicht, in der es sich gegen eine fremde Außenwelt abgegrenzt findet. Etwas ringt sich aus ihm los und begegnet ihm als Ton wieder von außen; das ursprünglich Eigene kehrt zu ihm zurück als ‚seine‘ Äußerung“ (Plessner 1925 [2003]: 186).
5
Zum Umgang mit ‚Widerständen‘ und ‚Widerfahrnissen‘ in der Instrumental- und Gesangspädagogik siehe Röbke 2016a.
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Zur Unterscheidung von musikalischen Handlungen und Akten siehe ebd.
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Die Rede ist also vom Leib, „den ich spüre, als der ich lebe“ (wie Gernot Böhme sagt) und eben nicht vom „Körperding, das dem ärztlichen [ich ergänze: dem vokalpädagogischem] Blick sich preisgibt“ (Böhme 1985: 115). Ich spreche hier vom ‚Corps vivant‘ bzw. dem ‚Corps propre‘ in der Diktion von Merleau-Ponty, jenem ganz eigenen und lebendigen Körper, als „Wahrnehmungsorgan, als Nullpunkt der Orientierung, als Weise des Weltzugangs“ (Alloa et al. 2012: 2). Und dieser Leib ist prinzipiell unverfügbar, er ist gegeben, eigentlich ein Geschenk, er ist der Inbegriff meines Seins, und ich kann mich daher zu ihm in kein Verhältnis setzen. Waldenfels spricht in Bezug auf den Leib von jener eigenartigen Mischung von Ich und Fremdem, von Aktion und Passion und stellt die Frage, ob es überhaupt möglich ist, ‚mein Leib‘ zu sagen: Ignoriere ich nicht mit dieser Redeweise die Verfügung des Leibes über mein Ich, das stolz und eigentlich illusionär das Possessivpronomen verwendet (Waldenfels 2004)? Die Feststellung, im Gesang der Laien bei Formenti spreche sich der Leib in all seiner unverfügbaren und unkontrollierbaren Fülle aus, indem er seine Außenschicht durchdringt, markiert aber noch keine prinzipielle Differenz zum Gesang der Experten: Jedes Singen ist leibgebunden, jedoch: Schon weiter oben habe ich die Vermutung geäußert, hier werde den leibgebundenen Widerfahrnissen mehr an Raum gewährt, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass Formentis Laien nie in Versuchung waren, sich in Hinsicht der Stimme auf ihre Körper zu konzentrieren und das heißt: ihre nackte, bloße Stimme stimmlichen Trainingsprozeduren zu unterwerfen. Im Projekt Schubert und Ich singen sie buchstäblich, wie ihnen ‚der Schnabel gewachsen ist‘, sie gleiten von der gewohnten stimmlichen Äußerung wie von ungefähr in ein Singen aus der Fülle ihres Seins hinein, ohne dass sich je ein Gedanke an das Wie der Ausführung dazwischen drängen würde. Anders gesagt: Nie haben sie sich zu ihren Körpern in ein instrumentales, also werkzeughaftes Verhältnis gesetzt (etwa in dem Sinne, wie auch die Instrumentalpädagogik gern davon spricht, dass der Körper das erste Instrument sei...). Das ist das Doppelte meiner Existenz, von der Plessner sprach: Ich bin Leib, und ich habe diesen Leib als Körper, und nur dieses Körper-Haben schafft die Voraussetzungen für alle Bestrebungen, den Körper für bestimmte Zwecke herzurichten und sein für bestimmte Ziele notwendiges Funktionieren unter Kontrolle zu bekommen – hoffentlich in ‚körperfreundlicher‘, ergonomischer Weise, ohne Schmerzen, aber wenn Gefolgschaft verweigert wird, notfalls auch mit Gewalt („und bist Du nicht willig…“): Die Geschichte der Instrumentalpädagogik ist auch eine von äußerer Bestrafung und innerer Disziplinierung, eine von
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realen Schmerzen und eine von unendlich vielen Vorschriften und Regeln (Gellrich 1990). Wenn das Leib-Sein Conditio Humana aller Singenden ist, so ist das KörperHaben vor allem für die Professionellen ein Thema und zwar deshalb, weil am Ende des entbehrungsreichen Trainingsweges ein professionell zugerichteter Körper stehen könnte, ein – wie Roland Barthes einst bemerkte – „unzulänglicher, dressierter, durch jahrelange Ausbildung oder Karriere, oder ganz einfach durch die Bedeutungslosigkeit, die Gleichgültigkeit des Interpreten ausgelöschter Körper“ (Barthes 1975: 302f.). Es könnte wohl quasi eine Gewinn- und Verlustrechnung in der professionellen Entwicklung erstellt werden: Was an Zugewinn in der technischen Umsetzung musikalischer Vorstellungen verbucht werden kann, kann zugleich ein Minus an persönlichem Sinn und leiblicher Präsenz darstellen, dann nämlich, wenn in der professionellen Ausbildung die grundsätzlich gegebene Verschränkung beider Ordnungen, die „merkwürdige Einheit von Sein und Haben“ zerreißt, wenn das „körperleibliche Dasein“ reduziert und deformiert wird (Plessner, zitiert nach Richter 1993: 74). Barthes Bemerkung fällt im Zusammenhang mit seinem Spiel der Schumannschen Kreisleriana: Barthes selbst sitzt am Klavier und erspürt, was diese Musik im Moment ihres Entstehens aufführt und was sie mit ihm, mit seinem Körper, anstellt. Er schreibt somit nicht über das Werk an sich oder dessen kompositorische Intention bzw. dessen motivisch-thematisches Substrat – im Gegenteil: „Abhandlungen über Kompositionstechniken sind ideologische Gegenstände, die den Sinn verfolgen, den Körper zunichte zu machen“ (Barthes 1990: 306). Denn das ist es, was Barthes im Spiel hört und spürt7: „Ich höre das im Körper Schlagende, das den Körper Schlagende oder besser: diesen schlagenden Körper“ (ebd.: 299). Es ist der in Musik transformierte Körper Schumanns, der musikalisch aussagende Körper, der durchaus rhythmisch-metrisch und tonal kodiert ist, der aber bei Schumann das Folgende tut, wenn er (musikalisch) aussagt: „Mein Körper stampft, mein Körper ballt sich zusammen, er explodiert, er schneidet sich, er sticht oder, ganz im Gegenteil und ohne Vorwarnung […], er streckt sich, er webt zart […]. Und mitunter – warum nicht – spricht er sogar, deklamiert er, verdoppelt seine
7
‚Hören‘ also im Sinne dessen, für was italienische Verb ‚sentire‘ steht: „Sento la musica“ bedeutet sowohl „Ich höre die Musik“ als auch „Ich spüre die Musik“.
300 | P ETER R ÖBKE Stimme: Er spricht, sagt aber nichts.“8 (ebd.: 305). Und zu wünschen wäre dann, dass diese Sprache des Körpers nicht von einem Virtuosen erstickt wird, der „die Plattheit seines eigenen Körpers ausbreitet, der unfähig ist zu ‚schlagen‘“ (ebd.)!
Spätestens hier wäre wiederum festzustellen, dass Barthes den Corps Vivant bzw. den Corps Propre, also den Leib meint, denn sein Körper widersetzt sich jeder Dressur, er agiert unregelmäßig, er hämmert eigentlich nicht, sondern schlägt, zuckt, explodiert: „Er ist ein ständiger Big Bang“ (ebd.: 301). Er kommt also unaufhörlich dazwischen. Ich verweise nun in vierfacher Hinsicht auf die Voraussetzungen der Bartheschen Sichtweise: •
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„Er spricht, sagt aber nichts“: Hier wäre Barthes Auffassung ins Spiel zu bringen, dass Musik zwar semantisch, nicht aber semiologisch zu betrachten wäre, somit alle Aufmerksamkeit auf den Referenten Körper zu richten wäre. Barthes differenziert in Aimer Schumann/Schumann lieben zwischen Musik, die sich in ihren Möglichkeiten primär im Hören und solcher, die sich vor allem beim Spielen entfaltet: Seine Liebe zu Schumann, dem Musiker „der abgeschiedenen Intimität, der liebenden und eingeschlossenen Seele, die zu sich selbst spricht“ (ebd.: 293), gründet darin, dass er sich von ihr als klavierspielender Amateur im Wortsinne, also als Liebender, als Begehrender am Klavier angesprochen fühlt: „In ihrem vollen Umfang hörbar wird die Musik Schumanns […] nur für den, der sie, selbst schlecht, spielt“ (ebd:
Michael Heinemann stellt aus musikwissenschaftlicher Sicht fest: „Was dieser Ansatz leistet, ist gar nicht wenig. Nicht nur, dass der eigene Standpunkt weit mehr als in vorgängigen Stadien der Rezeptionsgeschichte und der Interpretation Schumannscher Werke reflektiert und verortet wird; eindrucksvoll erscheint auch der Mut zu einem unkonventionellen Zugang: den Klängen der Musik Schumanns nachzuspüren, der Versuch in ihnen den Verfasser selbst zu spüren. Im Nachvollzug des Hörens (und Spielens) soll dessen Körperlichkeit erlebt, die ‚Schläge‘ empfunden, das Subjekt des Komponisten heraus-gehört, mithin seine Authentizität erfahrbar gemacht werden.“ Trotz dieser Verneigung unterbleibt nicht die Kritik an der mangelnden Reflexion der Verstehens- und Erfahrungskontexte bzw. -präformationen: „So attraktiv der pragmatische Zugang und das scheinbar naive Hörerlebnis auch sein mögen, um die individuelle Qualität eines Musikstücks zu erschließen, so vage bleiben die methodologischen Prämissen: neben der Suggestion eines invarianten Zeitindexes musikalischen Hörens auch die Unterschätzung der Virulenz von Rezeptionsmodellen, die auch ihrerseits einer historischen Evaluierung unterzogen werden müssten“ (Heinemann 2014: 94 f.).
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294). Beim Hören von Tonaufnahmen erscheint Barthes Schumanns Musik dagegen „auf geheimnisvolle Weise verarmt, unvollständig“ (ebd.: 294). „Das war, glaube ich, keine Anmaßung meinerseits. Dringt doch die Musik Schumanns weiter vor als bis ans Ohr: Sie drängt durch die Schläge ihres Rhythmus in den Leib, in die Muskeln und durch die Sinnlichkeit ihres Melos gleichsam in die Eingeweide: Man könnte meinen, das Stück wäre jedesmal nur für eine Person geschrieben worden, die, die es spielt: Der wahre Schumannsche Pianist bin ich“ (ebd.: 294).
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Und in diesem wahrhaftigen Pianist-Sein kann der Liebhaber Barthes auch nicht von jener ‚Virtuosengottheit‘ verdrängt werden, die nach der von Beethoven markierten kompositorischen Zeitenwende (das Aufkommen des Opus Absolutum, jenes integralen Kunstwerk, in dem nicht das kleinste Detail verändert werden darf, ohne dass der Gesamtbau einstürzt…) den Amateur verdrängt, jene Figur, die eine Musik macht, „die Sie und ich spielen können“, „weitab von jeder möglichen Theatralik, von der Verführung zur Hysterie“, eine „muskuläre Musik“, bei der „der Hörsinn nur eine sanktionierende Rolle spielt“, eine ganz eigene Musik, eine ‚Musica Practica‘. Und diese Musik, die man vor allem spielt und nicht in erster Linie hört, wird vom vollendeten Amateur hervorgebracht, der eine Rolle spielt, die „vielmehr durch einen Stil als durch technische Unzulänglichkeit definiert ist“ (ebd: 264f.). Man wird bemerken, dass hier meine anfängliche Unterscheidung von Nicht-Bewältigtem und Nicht-Zu-Bewältigendem anklingt. Schumann lieben erschien 1979, Rasch 1975; aber schon 1972 war Barthes auf den Körper in der Stimme gestoßen. Im Vergleich der beiden Sänger Dietrich Fischer-Dieskau und Charles Panzeras lässt der erstere ihn kalt: Nichts löst bei ihm Liebe zu dessen Stimme aus, nichts verführt zu Wollust und Genießen, erlaubt Begehren – der Vorgang der stimmlichen Hervorbringung steht dermaßen im instrumentellen Dienst von Artikulation, Interpretation und Kommunikation, dass alles Leibliche auf das Pumpen der Lunge reduziert ist, auf das Funktionieren „dieses blödsinnigen Organs, (Katzenfutter!), das nur schwillt, aber nicht straff wird“ (ebd.: 273).
Ergo: „Bei F.D. glaube ich nur die Lungen zu hören, niemals die Zunge, die Stimmritze, die Zähne, die Innenwände, die Nase. Die ganze Kunst Panzeras hingegen lag in den Buchstaben, nicht im Blasebalg […]. Man hörte ihn nicht atmen, sondern nur den Satz zerteilen“ (ebd.: 273). Panzeras kaut die Buchstaben, schmeckt die Vokale, artikuliert nicht (mit Fokus auf die Konsonanten), sondern spricht aus, und so hören und genießen wir lustvoll etwa „die gleichsam
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würzige Rauheit seiner Nasallaute“ oder „die freimütige und zarte Schönheit des a, des am schwersten zu singenden Vokals“ (ebd.: 283). Rauheit der Stimme – mit dieser Kategorie markiert Barthes die Differenz. „Die ‚Rauheit‘ ist der Körperteil in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand, im ausführenden Körperteil“ (ebd.: 277). Und Barthes hört diese Rauheit auch in den Fingerkuppen gewisser Pianisten und im Spiel von Wanda Landowska, das jedenfalls nicht in den Kategorien von Brillanz oder Respekt vor dem Geschriebenen zu fassen ist: „Ich höre mit Gewißheit – der Gewißheit des Körpers, der Wollust –, daß das Cembalo von Wanda Landowska aus ihrem Körperinneren kommt und nicht von dem kleinen Fingergestricke so vieler Cembalisten (und zwar so sehr, dass es zu einem anderen Instrument wird)“ (ebd.: 278).
Ob Panzeras oder Landowska: Barthes Referenzsänger und -instrumentalistin wirken wie seltsam aus der Zeit gefallen, sie sind herausgefallen aus Überlieferung und kulturellem Gedächtnis, aus dem interpretatorischem Mainstream, aus ästhetischen Konventionen. Ob es der Außenseiterstatus ist, der ein Stück weit immunisieren kann gegen den Sog hin zu „einer etwas eisigen Virtuosität, einer vollendeten (defektlosen, zufallsfreien) Leistung, die einwandfrei ist, aber nicht begeistert, nicht mitreißt: gewissermaßen weitab vom Körper“ (ebd.: 294)? Der Amateur, der „sich durch einen Stil, nicht durch technische Unzulänglichkeit definiert“, steht ohnehin außerhalb des Betriebes, in anderen Worten: Er steht eben nicht am Rande einer professionellen Community of Practice, als hoffnungsvoller Newcomer, den es Schritt für Schritt ins Herz der Community drängt und zieht. Er erweitert nicht peu a peu den Grad an Partizipation an den gemeinsamen Praxen, er verweigert vielmehr chronisch die Teilhabe, bleibt für sich und damit dauerhaft ‚outside‘. Wie die Ausstellung im Essener Folkwang Museum Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister gezeigt hat, sind die Grenzen zwischen zünftiger akademischer Kunst und idiosynkratischen, eigensinnigen Personalstilen, zwischen Autodidakten und formal Ausgebildeten, zwischen komplexem und ‚naivem Schaffen‘ durchlässig – und ich würde ergänzen: Gleiches gilt für Grenzziehungen zwischen der Kunst von Schizophrenen und psychisch gesunden Avantgardisten oder der Kunst von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen und solchen mit voller kognitiver Leistungsfähigkeit oder auch zwischen künstlerischen Äußerungen von Kindern und solchen von reifen Erwachsenen.
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Aber auch wenn wir nicht – wie Jean Dubuffet, der den Begriff prägte – darauf aus sind, die absolute Reinheit oder Authentizität einer Art brut herauszustellen9, also ihr Ganz-Anders-Sein10, so ist doch das Faktum von ‚rohen und ungeschönten‘ bzw. besonders ‚rauen‘ und ‚leibhaftigen‘ künstlerischen Hervorbringungen evident. Und eine Position außerhalb der Norm scheint dafür günstig zu sein, was nicht wirklich verwunderlich ist, denn der Outsider11 hat auch etwas von Outlaw an sich – für ihn gilt, dass das allgemeine Gesetz schwach oder wenigstens geschwächt ist, und vielleicht gilt es auch gar nicht. Es erleichtert wohl die Art brut, • •
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wenn die Zwänge und Regeln des Erwachsenenlebens noch nicht vollständig spürbar sind (ich spiele auf die Kunst von Kindern an), wenn das Ich nicht absolut den psychischen Apparat dominiert und das Es unter voller Kontrolle hat (ich verweise auf die Kunst von Schizophrenen, Navratil 1996), wenn die kognitiven Funktionen nicht auf eine Weise herrschen, dass sie die präsymbolischen, non-verbalen Wahrnehmungs- und Interaktionsweisen an den Rand drängen (ich erinnere an die Kunst von Menschen mit Down Syndrom, siehe oben OKMA), wenn die abendländische Kunst mit ihren Referenzsystemen, Wertehierachien und Beurteilungsmechanismen fern ist (ich erwähne die Kunst von Aborigines), wenn jemand aus dem Kunstbetrieb herausgefallen ist oder sich um dessen Konventionen und Sanktionsmöglicheiten im Falle von Verstößen wenig schert (ich denke hier etwa an die Kunst von Patricia Kopatschinska), wenn eine Art wildes Handwerk jenseits des etablierten Ausbildungssystems erworben wurde, also auch nicht die ‚Mikrojustiz‘ der Haltungsvorschriften
Einige Bestimmungen der Art brut in der Diktion Dubuffets nach Emmerling 1999: L’art de leur propre usage, de leur propre fonds, de ses propre impulsions, immediat et sans exercice, a son état pur. Es geht um eine inkommensurable, verborgene und geheime, ahistorische und akulturelle Kunst, um eine Verhaltenskunst, um eine art des actrices.
10 So verweigert etwa in einer gewissen Folgerichtigkeit die von Dubuffet begründete Art brut-Sammlung In Lausanne die Ausleihe der Werke für allgemeine Kunstausstellungen. 11 Der Terminus in der englischsprachigen Welt für Art brut ist Outsider Art (Cardenal 1972); Dubuffet war damit übrigens dezidiert einverstanden.
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vollständig zuschlagen kann (ich habe hier die Kunst von Laien bzw. von Autodidakten im Auge, z. B. das instrumentale Lernen bei El Sistema; Röbke 2016b). Gleichzeitig aber, bei bedrohter Geltung des allgemeinen äußeren Gesetzes, wirkt das innere Gesetz: Die beschriebenen Outsider sind wahrhaftig ‚Universes of One‘, singuläre Erscheinungen, die sich in ihren künstlerischen Hervorbringungen Ordnungen besonderer Art schaffen und darin zum Schöpfer und Gesetzgeber ganz eigener Welten werden: Mir fällt hier zu allererst die fantastische Welt des Gugginger Künstlers August Walla ein, der einen in sich stimmigen Kosmos aus Farben, Symbolen, biographischen Bezügen, spezifischen Proportionen und fixen Ideen erschafft und diesen bezeichnenderweise mit „Weltallendeland“ betitelt (Roth 2012: 56 ff.). Das also ist wohl die Pointe einer Art brut: die Erschütterung des allgemeinen Gesetzes, weil jemand außerhalb von diesem steht, eine Erschütterung, die dann das Rohe hereinbrechen lassen kann, das Wilde und Grobschlächtige, dessen man aber zugleich Herr werden muss – in der je individuellen Welterschaffung, in einer formalen ‚Bewältigung‘, die das ‚Barbarische und Unzivilisierte‘ allerdings weiter spüren lässt. Vertiefen wir diese Gedanken abschließend in Bezug auf den Laien (und wir haben ja auch zu klären, was der spezielle ‚Stil‘ ist, der ihn laut Barthes definiert). Im alltäglichen Sprachgebrauch wird mit ihm auf ähnlich abwertende Weise wie mit dem Amateur oder dem Dilettanten verfahren: Einst war der Liebhaber ebenso geachtet wie jener gesellschaftlich hochstehende, also adlige Musiker, der es sich erlauben konnte, nur aus Vergnügen die Musik zu betreiben: Nun hingegen sind Amateur, Dilettant und Laie mit dem Makel des Unbedarften behaftet, nun wird das Amateur- und Laienhafte oder das Dilettantische mit dem Begriff des Stümperhaften gleichgesetzt. Aber versuchen wir uns an einer Umwertung: Der Stümper arbeitet an der edlen Kunst mit stumpfen Werkzeugen, und dabei kann er sich so verletzen, dass er buchstäblich zum Blutigen Laien, zum blutenden Laien wird: Er blutet tatsächlich aus jenen Wunden, die im Kampf mit der Materie geschlagen wurden (Formentis SängerInnen husten sich heiser, geraten an ihre stimmlichen Grenzen). Und diesen Kampf hat er geführt, weil es ihm – und das ist eine zweite Auffassung des Blutigen – blutig ernst ist (das Adjektiv ‚blutig’ intensiviert nicht nur den Laienstatus, sondern auch die Motivation): Er ist zwar als Laie nicht der geistlich oder zünftisch Eingeweihte (daher kommt das Wort nämlich eigentlich: Es ist das Antonym zum Kleriker), aber es ist ihm um die Kunst blutig ernst. Und sein technisches oder handwerkliches Vermögen wird nicht tradi-
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tionell erworben und konventionell ins Spiel gebracht, sondern es entspringt einem Ringen mit der Materie, die vielleicht auch als Wildes Denken und Handeln zu bezeichnen wäre12. Christoph Khittl führt hierzu unter Bezug auf Levi-Strauss aus: „‚Bricolage‘ ist eine Art ‚Basteln‘ und ‚Werkeln‘, ein sinnennahes, mitunter zufallsbestimmtes Herstellen, Erproben und Verwerfen […] und zeichnet sich durch eine Ergebnisoffenheit und den unorthodoxen Einsatz der angewandten Mittel aus, wie er heute noch etwa beim Hobbybastler anzutreffen sei, der ‚mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu jenen das Fachmannes abwegig sind‘“ (Khittl 2014: 106).
„Herstellen, Erproben, Verwerfen; Ergebnisoffenheit und unorthodoxes Vorgehen“ – wieder deutet sich mehr ein ‚Stil‘ und weniger eine ‚Unzulänglichkeit‘ an, ein Umgang mit dem Nicht-Zu-Bewältigendem, ein Umgang, der als ‚Abwegiger‘ den je eigenen Weg geht. Wenn wir uns an Formentis Sängerinnen und Sängern erinnern: Mit diesen Worten könnte ihr Tun beschrieben werden, und es kommt ihren sängerischen Abwegen eine ‚gewisse Unvollkommenheit‘ zu, eine beinahe begrüßenswerte, eben eine ‚gewisse Unvollkommenheit‘, die auch im Singen und Musizieren von gewissen professionellen Musikerinnen und Musikern anzutreffen ist, vor allem bei jenem, die nie kalt lassen und dadurch auch polarisieren: „Der Perfektion fehlt zur Vollkommenheit ein gewisser Mangel“, sagt der Volksmusiker Salcheggger (Salchegger 2008), und darin ist der Laie bestimmten Außenseiter-Professionellen durchaus nahe: Es ist ein ‚gewisser Mangel‘ (an Technik, an Rationalisierung, an Bewältigung und Beherrschung), aber auch ein ‚chronisches Zuviel‘ , ein Zuviel an – in der Diktion von Dieter Mersch – „Leib und überraschender Nacktheit“ (Mersch 2010: 270) oder ein Zuviel an – wie Friedrich Schiller sagen würde – ‚Stoff‘, also an namen- und formlosem Affekt, an purer Sinnlichkeit, somit an Unsagbarem, Unverfügbaren, Nicht-ZuBewältigendem.
12 Vgl. die Rezeption von Richard Sennetts Buch Handwerk in Wolfgang Lessings Versuch über Technik: Wer sich einem zunächst ungesteuerten, ja chaotischem Ausprobieren überlässt, dessen Arbeitsprozess „muss dem ordnungsliebenden Geist etwas Unangenehmes abtun – er muss ihm zumuten, sich zeitweilig auf chaotische Zustände einzulassen, auf falsche Wege, verpatzte Anfänge und Sackgassen. Aber in Wirklichkeit ist dieses Durcheinander für den experimentierenden Handwerker in der Technik wie in der Kunst weit mehr als bloßes Chaos. Er produziert es, um seine Arbeitsverfahren besser zu verstehen“ (Sennett in Lessing 2014: 53f.).
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Für das, was in der Stimme jenes chronische Zuviel sein kann, das den gewissen Mangel an Dressur bedingt und legitimiert, hat Dieter Mersch beindruckende Worte gefunden: „Es gibt keine Stimme, die nicht zugleich kontrolliert, moduliert oder dressiert wäre, weil die Stimme stets öffentlich auftritt und sich aufführt und damit zur Schau gestellt wird; aber es gibt auch gleichzeitig keine Stimme, die vollständig stilisiert oder beherrscht wäre, weil in jedem Ton die Brüchigkeit oder Anstrengung mit hallt, worin sich Widerstände gegen die Dressur abzeichnen und sich ihre Sterblichkeit, die Möglichkeit des Verfalls, der Schmerz und ein künftiger Tod ausdrücken“ (Mersch 2010: 277, Hervorhebung PR).
Und jetzt bliebe eigentlich nur noch, sich der Stimme von Maria Callas auszusetzen…
L ITERATUR Alloa, Emanuel; Bedorf, Thomas; Grüny, Christian; Klass, Tobias Nikolas (Hg.) (2012): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck UTB. Barthes, Roland (1990 [1972]): Die Rauheit der Stimme, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main, S. 269-278. Barthes, Roland (1990 [1975]): Rasch, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main, S. 299-311. Barthes, Roland (1990 [1979]): Schumann lieben, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main, S. 293298. Barthes, Roland (1986): Die Musik, die Stimme, die Sprache, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main, S. 279-285. Barthes, Roland (1990): Musica practica, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main, S. 264-268. Böhme, Gernot (1985): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Cardinal, Roger (1972): Outsider Art, London: Littlehampton Book Services. Emmerling, Leonhard (1999): Die Kunsttheorie Jean Dubuffets, Heidelberg: Das Wunderhorn.
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Wo steckt der Beat? Konditionierung und Rekonditionierung der auditiv-motionalen Wahrnehmung in afrikanischen Kulturen G ERHARD K UBIK , M OYA A. M ALAMUSI & S INOSI M LENDO
„My fingers dance on the strings of the guitar“ (Daniel Kachamba).
Das interdisziplinäre Interesse an dem Thema Musik verstehen und Erleben mit dem Körper hat eine lange Geschichte. Im Jahre 1975 organisierte John Blacking an der Universität Belfast ein internationales Symposium unter dem Titel Anthropology of the Body, zu dem führende Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen eingeladen waren: Paul Ekman stellte die Forschungen seines Laboratory for the Study of Human Interaction and Conflict, University of California, vor (Ekman 1976; Ekman & Friesen 1969). Gilbert Rouget vom Musée de l’Homme, Paris präsentierte die ersten Forschungsergebnisse aus Dahomey und anderen Gebieten Westafrikas, die zu seinem Buch La Musique et la Trance (1980) führen würden; ich selbst sprach über meine Forschungen 1965 zur BewegungsKoordination bei Jungen in Ostangola während der Seklusionsperiode in einer mukanda-Initiationsschule und benutzte erstmalig zur Darstellung der Bewegungsabläufe ein auf intrakulturell konzeptualisierte Bewegungseinheiten basiertes Transkriptionssystem, ein Ansatz, der sich deutlich von Laban und BeneschNotationen abhebt. Gleichzeitig arbeitete in London John Baily an seinen Studien zu motorischen Strukturen und kognitiven Modellen bei Musikaufführung mit Instrumenten aus Afghanistan, und zu deren erlerntem, automatisierten Bewegungsablauf (Baily 1985; 1990). In Deutschland hatten sich bereits ab den 1960er Jahren Tanzwissenschaftler und Musikologen mit dem Thema des Bewegungsverhaltens bei afrikanischen
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Tänzern beschäftigt. Eine grundlegende Studie mit Entwicklung einer Terminologie, u. a. der Begriffe Polyzentrik, Isolation, Multiplikation etc. waren die Arbeiten von Helmut Günther. Auf sie baute auch Alfons M. Dauer seine Untersuchungen während seiner Tätigkeit am Institut für den Wissenschaftlichen Film, Göttingen, mit Ausrüstung zahlreicher Expeditionen durch das Institut und Aufbau der Encyclopedia Cinematographica. Dauer und Günther unterschieden zwischen sechs unterschiedlichen Tanzprovinzen südlich der Sahara, und es ist auch ihr Verdienst, ganz besonders dem binnenkörperlich konzeptualisierten Bewegungs-Repertoire in Zentralafrika, im Gegensatz zu Raum-ausholenden Bewegungen ihre Aufmerksamkeit gewidmet zu haben (Dauer 1969; Günther 1969 und die Arbeiten im Sammelband von Artur Simon 1982). Weniger bekannt, aber von psychologischer Tragweite waren die Arbeiten der Tanzwissenschaftlerin Sabine Haller und des Kulturanthropologen Manfred Kremser über Tanz und Psychotherapie bei den Azande im Nordostkongo; in dieser Forschungsthematik liegen auch die jüngeren Arbeiten von Moya A. Malamusi über die Heilpraxis in Südostafrika (Christine Korischek & Moya A. Malamusi and students 2014; Malamusi 2016). Unabhängig davon liefen in den 1960er Jahren in den USA zwei Projekte von Alan Lomax, Cantometrics, das sich der systematischen Erfassung von weltweiten Gesang-Stil-Arealen widmete, und daraus hervorgehend, das Projekt Choreometrics, mit dem Ziel der weltweiten Erfassung von Bewegungsstilen, welches zwar nie abgeschlossen wurde, aber doch wesentliche Erkenntnisse im Kulturvergleich gebracht hat. Alan Lomax betonte, es sei im weltweiten Vergleich auffallend, dass die meisten Völker im nördlichen Teil unseres Planten dazu tendieren, den Körper eher als ‚single block‘ einzusetzen, während er bei den Völkern entlang des Äquators, von Afrika bis Indien und Indonesien oft in verschiedene, unabhängig voneinander arbeitende Bewegungszentren aufgespalten wird (Lomax 1968, Lomax et al. 1969). Es ist offensichtlich dass diese Polyzentrik (Günther 1969) auch weitgehend den polyrhythmischen und polymetrischen Bewegungsabläufen in vielen Musiktraditionen Afrikas entspricht. Hier sollte man vielleicht beachten, dass Körper ein sehr weitläufiger Begriff ist und lernfähige Areale von der Pelvis bis zu den Fingern und zur Mundhöhle als körpereigenem Resonator umfasst. Der Körper ist zwar lern- und verständnisfähig, aber in diesem Verstehen sind neuronale Prozesse mit involviert. Es ist daher nicht überraschend, dass sich in jüngerer Zeit sowohl die Neurowissenschaften wie Kognitionspsychologie dieser Thematik angenommen haben. Michael Gazzaniga, ein Neurowissenschaftler, der lange Zeit am Dartmouth College, Kalifornien tätig war, wurde vor allem durch seine Forschungen und Experimente gemeinsam mit Roger W. Sperry über sogenannte split-brain pati-
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ents bekannt; Personen die unter Epilepsie litten und denen man das corpus callosum, die wichtigste neuronale Verbindung zwischen rechter und linker Gehirnhälfte durchtrennt hatte, um Anfälle zu vermeiden. Die beiden machten wichtige Entdeckungen über die Spezialisierung der beiden Gehirnhälften in verbale, formale und andererseits visuell-farbige und auditive Bereiche der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Aber in einem seiner Bücher, The Mind’s Past (1998) erklärte er kategorisch in seinem Vorwort: „Psychology itself is dead“. Er plädierte dafür, dass die Psychologie heute komplett durch Neurowissenschaften ersetzbar sei. Wir aus dem Bereich der Kulturwissenschaften, besonders auch in der Musik, sind nicht so kategorisch. Wir meinen, dass der Forschungsansatz der Neurowissenschaft und der im Sinne des subjektiven Erlebens eher psychologische Ansatz einander ergänzen und bereichern können. Wir werden also hier im Hörsaal keinen von uns in eine MRI-Röhre legen, um zu erfahren, welche Gehirnareale aufflackern, wenn er oder sie dieses und jenes komponiert oder improvisatorisch gestaltet.1 Wir wollen versuchen, die Ergebnisse unserer Beobachtungen und auch Selbst-Beobachtungen, soweit sie wiederholbar und daher reproduzierbar sind, in ihren auditiven und kinemischen Implikationen verbal zu beschreiben und zu deuten. Dabei geht es vor allem um die Frage, in welcher Weise ein bestimmtes Bewegungsverhalten des Menschen im Verhältnis zu Musik kulturell erworben, d. h. erlernt ist und wieder verlernt werden kann. Im Besonderen stellt sich die Frage der kinemischen Umdeutung (reinterpretation) in einer Situation von Kulturkontakt, also wenn Personen mit bestimmten, erlernten Bewegungsauffassungen nun mit einer Musik in Berührung kommen, die ein ganz anderes ‚Verstehen mit dem Körper‘ voraussetzt. Theoretisch wichtig ist es, die Begriffe Kinetik und Kinemik auseinanderzuhalten, analog zu Phonetik und Phonemik, wie es seinerzeit von Kenneth Pike (1954) in seiner emics/etics-Unterscheidung von Forschungsansätzen formuliert wurde. Kinetik befasst sich mit allen Möglichkeiten des Bewegungsverhaltens, die dem menschlichen Körper universell (also ungeachtet kulturellen Erlernens) zur Verfügung stehen. Wie komplex das Ganze ist, hat sich vor allem in der Roboter-Forschung gezeigt. Erst vor kurzem ist es gelungen, einen Roboter herzustellen, der gehen kann. Der Gang ist eine sehr komplexe Bewegung. Kinemik dagegen befasst sich mit bedeutungstragenden Formen des Bewegungsverhaltens, wie also auditive Stimuli (Musik etc.) in Bewegung umgesetzt, ‚verstanden‘ werden, wie sie vom Individuum auf Grund kulturell erlernter Schemata und Referenzstellen interpretiert werden. Bei den Maskentänzen in Südostangola, beispielsweise, erfolgt die kinemische Umset-
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Der Artikel greift den mündlichen Duktus des Vortrags auf.
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zung musikalischer Strukturen nach einem polyzentrisch organisierten Schema, bei gleichzeitigem Einsatz der Hüften, wie etwa bei mutenya, dem PelvisKreisen, oder kukoka, ruckartiger Hüftbewegung, der Schultern und Schritte. Ähnliches gilt für weibliche Initiationscriten (Rauter 1993).
I. Ich beginne mit einem kleinen Experiment, das auch jederzeit repliziert werden kann. Die Aufnahme auf der CD, die wir hören wollen, stammt von Donald Kachamba in Malawi, der in gewissem Sinne der Urheber jener Musik gewesen ist, die wir heute in unserer Heritage Jazzband spielen, wenn wir vollzählig, also vier Leute sind. Die Aufnahme machte ich im Juni 1973 in unserem damaligen gowelo (Haus unverheirateter Jungen) in Gulaye’s place, Nkata village/Chileka. Nur zwei Personen spielen: Donald Kachamba2, sechssaitige Lead-Gitarre und Josefe Bulahamu, sein Freund, fünfsaitige Rhythmus-Gitarre. Die Tanzbewegung dieser Musik nannte man simanje-manje. Der Terminus kam aus Südafrika und übersetzt sich mit ‚Dinge von heute‘, ‚Dinge von jetzt-jetzt‘. Meine Frage an Sie ist ganz einfach: Wie würden Sie sich dazu bewegen oder auch tanzen? Wo empfinden Sie ihre kinemischen Referenzstellen, oder – wenn Sie wollen – den Takt, die Eins?3 Das Ergebnis des Experiments erwies sich als analog zu früheren Versuchen mit Personen verschiedenster Prägung und Ausbildung, in Europa, Südamerika, Westafrika etc., auf unseren zahlreichen Vortrags- und Konzerttourneen in den 1970er und 80er Jahren und später. Die wohl überwiegend ‚klassisch‘ ausgebildete Zuhörerschaft in unserem Hörsaal am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst verhielt sich vorsichtig, etwas zurückhaltend und interessiert; aber ich konnte schon nach einmaligem Vorspielen der Aufnahme eine Person beobachten, die versuchte, mit den Händen auf ihren Knien den Takt zu identifizieren. Eindeutig hörte sie den Takt in die Konturen der Melodie-Gestalt des kurzen chromatischen Themas und in die Akzentstellen der Variationen hinein. Diese wurden somit zu Takt-Indikatoren in der bewegungsmäßigen Auslegung, wie dies völlig normal ist für Personen mit
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(1953-2001), Flötist, Gitarrist, jüngerer Bruder von Daniel Kachamba. Siehe auch Liste der CDs und DVDs.
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Simanje-manje (Komponist: Donald Kachamba), Orig.-Band L 82, Juni 1973. Sammlung: Culture Research Archive Kubik/Malamusi, Vienna; online verfügbar unter: http://bit.ly/2lSQPn8.
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Ausbildung im Bereich der abendländischen Musiktradition. Diese Gruppe von Personen hört Donald Kachamba’s Thema so:4
Ich erklärte darauf, dass Personen, die in der spezifischen simanje-manjeMusik/Tanz-Kultur der 1970er Jahre im südlichen Afrika aufgewachsen sind, bei dem Gitarren-Thema des Donald Kachamba und seinen Variationen ganz andere Bezugspunkte empfinden. Diese manifestieren sich dann in den Tanzschritten und dem binnenkörperlichen Mitschwingen in Relation zu einem inneren, ‚unerbittlichen‘ Zeitraster der Orientierung. Ich spielte nun die CD in Teilen mehrmals ab, um auch die Variations-Entwicklungen auf der Lead-Gitarre erfahrbar zu machen. Moya A. Malamusi kam mir spontan zu Hilfe, indem er – als ich den ‚richtigen Beat‘ auf der Rassel vorzeigte – nun die implizierte Bass-Stimme von simanje-manje in der Grundform und Variation auf seinem einsaitigen babatoni spielte, den wir mitgebracht hatten. Ich wies die Teilnehmer und Zuhörer an dem Experiment darauf hin, dass jeweils der zweite Schlag des Basses von ausführenden Musikern wie auch den Tänzern, die ihre Schritte darauf beziehen, als Bezugspunkt und Eins des Vier-vier Taktschemas empfunden wird. Die Melodie von Donald Kachamba’s simanje-manje-Thema in ihrer abfallenden Chromatik liegt in der auditiven Wahrnehmung der Teilnehmer völlig im off-beat; sie fällt zwischen die Tanzschritte und damit zwischen die innerpsychischen Bezugspunkte in der Wahrnehmung dieser Musik, in einem von den Ausführenden internalisierten, durch Konditionierung kulturell erworbenen Erwartungs-Verhältnis zwischen Metrik, Harmonieschema und Akzentuierungen. In der folgenden Notation nur des Themas, das von der Lead-Gitarre schon ganz am Anfang des zyklischen Stückes vorgestellt wird, habe ich dies durch Taktstriche und die Ziffern 1 bis 4 angedeutet.
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Die folgenden Graphiken werden in der per Hand notierten Original-Notation von Gerhard Kubik dargestellt ohne sie durch ein Notationsprogramm zu vereinheitlichen. Damit erübrigt sich häufig eine Abbildungs- und Quellenbeschriftung.
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So wie in Abb. 2 transkribiert, hören wir diese Musik! Und wenn man gelernt hat, von diesem Bezugssystem auszugehen, bewirkt dies eine Umorientierung, bei der auch die Variationen auf der Lead-Gitarre plötzlich einen anderen Sinn bekommen; sie schwingen und man beginnt den Körper dazu anders zu bewegen als zu Abb. 1. Ich erzähle manchmal bei Vorträgen ein Erlebnis, das wir mit unserer im Jahr 1972 noch von Daniel Kachamba geleiteten Musikgruppe auf der ersten Europa-Tournee hatten, als wir simanje-manje-Stücke spielten. Wir musizierten in verschiedenen Clubs junger Leute in Deutschland, u. a. in Stuttgart. Daniel Kachamba bemerkte sehr schnell, dass die Jungen und Mädchen zu seiner Musik falsch tanzten, weil sie die Akzente für den Takt hielten. Am Ende, als sich alle in dieser Weise rund um eine Säule bewegten, war Daniel so amüsiert, dass er sein Spiel unterbrach und neu ansetzte, um den Bewegungen der jungen Leute zu folgen, indem er das richtige Verhältnis zwischen seiner Musik und deren Tanzbewegungen herzustellen versuchte. Leider waren sie aber innerhalb von wenigen Sekunden schon wieder aus dem Beat heraus. Daniel seufzte und hatte dafür nur eine Erklärung: „It must be chamba (Marihuana)...“. Aber das war es nicht. Die Erklärung dieses metrischen Umkipp-Effekts bei Personen mit einer anderen musikalischen Enkulturation ist nicht schwierig. Der Effekt ist eigentlich parallel zu jenen ‚optischen‘ Illusionen, die durch den sogenannten Rubin-Pokal und andere figure-ground puzzles in der Wahrnehmungs-Psychologie bekannt sind. Dabei ist für diese Art von ‚Illusionen‘ – visuell oder auditiv – charakteristisch, dass man die Wahrnehmung willentlich steuern kann. In der auditiven Wahrnehmung ist das Umschalten schwieriger, aber trotzdem erlernbar. Man kann in relativ kurzer Zelt lernen, die simanje-manje-Komposition von Donald Kachamba intrakulturell richtig wahrzunehmen, und wenn dies gelungen ist, eröffnet
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sich ein völlig neuer Zugang zu dieser Musik und ihrer Bewegungsstruktur. Die Transkription, Abb. 2, mag dabei helfen. Die Bass-Linie ist charakteristisch für jene Musik in Südafrika, die heute meist mbaqanga genannt wird. Der Harmoniewechsel ist dabei antizipiert und fällt auf die Zählzeit Vier. Dies ist eine der Ursachen des DesorientierungsEffekts bei Personen, die mit dieser Musik noch nicht vertraut sind. Sie hören die Vier als die Eins des metrischen Schemas. Weitere Desorientierung erfolgt dann durch die Akzent-Setzungen in den melodischen Variationen der Lead-Gitarre. Personen, die in ihrer musikalischen Enkulturation seit der Kindheit gelernt haben, den Wechsel von Tonalitätsstufen bzw. Akkorden überwiegend mit der Eins (oder Drei) eines 4/4 metrischen Schemas zu verbinden – und dies trifft nicht nur auf jene mit ‚klassischer‘ Ausbildung zu, sondern interessanterweise auch auf viele Westafrikaner, wie unsere Experimente in Ghana und Nigeria gezeigt haben – neigen dazu, simanje-manje-Strukturen umzukippen. Bei Zuhörern mit traditioneller Musikausbildung kommt noch dazu, dass die europäische Musik klassischer Prägung auf präakzentuierten Metren beruht. Das mag bis zu den griechischen Vers-Maßen zurückgehen. Es gibt ‚schwere‘ und ‚leichte‘ Taktteile, Schemen die von Kindheit auf verinnerlicht werden, und der harmonische Wechsel folgt ihnen. Die afrikanische Musik beruht dagegen auf Metren, manchmal mehreren gleichzeitig, die nicht prä-akzentuiert sind. Kinemik und Melodie-Entwicklung folgen der in Kleinstwerten ablaufenden unbewussten Elementar-Pulsation als primärem Orientierungs-Raster. Akzente fallen auf Stellen der Elementarpulsation, die mit bis zu 600 M.M. völlig stumm, endopsychisch abläuft; sie können irgendwohin fallen, so wie es die Innenstruktur der oft verbalisierten MelodiePhrasen verlangt. Die metrischen Schemen sind Überbau und Indikator der Tanzschritte, wo es solche gibt. Sowohl die innere Wahrnehmung einer Elementarpulsation wie die Sicherheit in den Zyklen und ihrer Ausdehnung werden frühzeitig erworben, können aber auch später noch erlernt werden. Neben den harmonischen Antizipationen sind die Off-beat Akzente in Donald Kachamba’s Variationen auf der Gitarre vielfach so phrasiert, dass sie einen starken Sog auf die inneren Bezugspunkte in der auditiven Wahrnehmung ausüben. Personen, denen diese Musik noch nicht vertraut ist, werden aus dem richtigen Takt hinausgeworfen. Der Körper reagiert dann entsprechend, so wie in der (Fehl-)Darstellung dieser Musik in Abb. 1. Eine Pointe ist nun, dass in Donald Kachambas Heimatgebiet diese Musik inzwischen auch nicht mehr verstanden wird. Die jüngste Generation reagiert gleichfalls mit ‚Umkippen‘, denn musikalische Enkulturation erfolgt heute kaum noch durch Live-Performances, sondern beinahe ausschließlich durch die Medi-
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en, bei Gewöhnung an den überlauten, alles durchdringenden Elektro-Bass. Diese Generation, sagen wir oft, denkt einen ‚heavy beat‘ :di, di, di, di etc., und die Elementarpulsation in ihren kleinsten Referenzeinheiten ist als interner Raster unterentwickelt.
II. Wir machen nun einen Zeitsprung in afrikanische Musik komponiert im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Es handelt sich um die Hofmusik des Königreiches Buganda, einem der ältesten ostafrikanischen Staaten, wahrscheinlich bestehend seit dem 14. Jahrhundert. Hatte diese Kultur eine Notation? – Nein, damals noch nicht, aber die Kompositionen wurden tongetreu überliefert, und in den 1960er Jahren, als sie auf Grund politischer Ereignisse in Gefahr gerieten, für immer verloren zu gehen, von uns in einer geradezu ideal geeigneten Notationsform, der Ziffernnotation aufgeschrieben: 102 Kompositionen aus verschiedenen historischen Perioden sind reproduzierbar erhalten; etwa die Hälfte davon kommt aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In der alten Hofmusik von Buganda gab es mehrere unabhängige Ensembles in der Obhut verschiedener Totem-Clans, aber viele dieser Kompositionen wurden auch auf der achtsaitigen Harfe ennanga mit gesungenen Texten von Solisten gespielt, oder (ohne Texte) rein instrumental auf einem zwölfstäbigen Holmxylophon, genannt amadinda. Niemand geringerer als Györgi Ligeti war von dieser Musik sehr angetan, als unsere Entdeckungen nach und nach publik wurden. Die ungefähre Datierung der Kompositionen läßt sich anhand der Texte, der Vokalversionen, die sich auf spezifische historische Ereignisse beziehen, in Relation zur erhaltenen Genealogie der Könige durchführen, und der Tatsache, dass sie auf Grund interner struktureller Regeln sehr genau überliefert wurden. Die amadinda-Versionen sind so konstruiert, dass man bei den Stücken keinen einzigen Ton verändern kann, ohne dass die ganze Struktur zusammenbrechen würde. Das Tonsystem ist pen-äquipentatonisch, also ein temperiertes fünfStufen System, und außerdem muss jedes Stück durch die fünf temperierten Stufen transponierbar sein. Diese Transpositionen nennt man emiko (sing. omuko). Sie beruhen auf dem Prinzip der Versetzung von Melodie-Strukturen im äquipentatonischen System, nicht notwendigerweise unter Erhaltung einer MelodieGestalt, die oft verloren geht, weil manche Töne gleichzeitig oktavversetzt werden.
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Abb. 3: Spielareale und Sitzordnung an einer amadinda
Quelle: Kubik 2010: 60.
Unser Notationssystem für die 12-Platten amadinda (von links nach rechts wie in Abb. 3) ist wie folgt:
Identische Ziffern repräsentieren Oktaven. Die Ziffern für die tiefe Oktave sind unterstrichen, die für die zwei höchsten Töne überstrichen. Alle Intervalle sind gleichschwebend: ±240 Cents. Die Toleranzspanne beim Stimmen beträgt ca. ± 10 bis 15 Cents. Auch die Oktaven werden ‚unrein‘ gestimmt, um den sogenannten Verschmelzungseffekt herabzusetzen.
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Für die Ausführenden auf dem Xylophon teilte man den Gesamtzyklus einer Komposition aus meist 24, 36 oder 48 Elementarpuls-Einheiten in die Hälfte, in zwei verzahnte Tonreihen, die wie die Finger einer gefalteten Hand zwischen einander fallen. Die beiden Reihen werden von den zwei einander gegenüber sitzenden Musikern, Omunazi und Omwawuzi, in parallelen Oktaven (miyanjo) angeschlagen. Wie konzeptualisiert nun jeder der beiden Musiker seine Reihe? Als ich im Dezember 1959 anfing, diese Musik in Kampala zu lernen, machte ich zunächst einen schwerwiegenden Fehler. Als mir die Rolle des Omwawuzi, des zweiten Spielers zugeteilt wurde, derseine Reihe zwischen die des ersten, des Omunazi, fallen läßt, glaubte ich, ich müsse ‚synkopieren‘. Schon nach wenigen Sekunden war ich aber bei diesem Tempo ‚draussen‘. Eine Synkopen-Kette kann man in dieser Musik nicht konzeptualisieren. Ich musste nun lernen, im SekundenBruchteil während des Einsatzes so umzuschalten, dass ich meine Reihe als Basis empfinden würde, und die meines Gegenübers als dazwischen fallend. Ich entdeckte bald, dass es in dieser Musik sozusagen keinen gemeinsamen Beat gibt wie in der europäischen Musik oder auch im Jazz. Aber die folgenreichste Entdeckung kam später, als wir unser Spiel auf einem Tonband aufnahmen und ich meine Reihe nicht wieder finden konnte. Anstelle dessen hörte ich verschiedenste Patterns von denen ich sicher war, dass sie keiner von uns gespielt hatte. Es entstehen somit melodisch-rhythmische Gestalten in der Wahrnehmung, die zwar kompositorisch vorgesehen sind, aber als solche bewegungstechnisch nicht ausgeführt werden. Ich nannte das den i.p.effect (inherent pattern effect). Das tiefste Wahrnehmungs-pattern entsteht auf den zwei untersten Platten des Xylophons, und es ist die Aufgabe des dritten Musikers, es herauszuholen und zwei Oktaven höher zu imitieren, synchron nachzuspielen. Dies ist ein Beweis dafür, dass diese inhärenten Patterns kompositorisch vorgesehen sind. Wir standen bald in Bewunderung vor der KompositionsLeistung der alten Baganda-Hofkomponisten, deren Namen leider nicht überliefert sind, wie es ihnen gelingen konnte, Strukturen zu erfinden, zyklische Strukturen, so konstruiert, dass sie in der menschlichen auditiven Wahrnehmung in verschiedene komplexe Muster auf separatem Tonhöhen-Niveau zerfallen.5 Man hört also mindestens zwei Phantom-Patterns, eines im tiefen Register auf den sogenannten amatengezzi (den zwei tiefsten Platten) und eines im mittleren Register. Dieses Phänomen ist analog den Phantom-Figuren bei den opti-
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Ssematimba ne Kikwabanga gespielt von Albert Ssempeke und Partner auf der amadinda, aufgenommen in Kampala, November 1967, G.K. Orig. Band 113; online verfügbar unter: http://bit.ly/2lbBn7a.
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schen ‚Illusionen‘ wie sie etwa von Gaetano Kanisza, dem Psychologen aus Triest, kreiert wurden, seine Phantom-Ringe und Phantom-Dreiecke (Kanisza 1980). Im Gegensatz zum metrischen Umkipp-Effekt ist jedoch die Wahrnehmung der Phantom-Patterns, optisch oder auditiv, willentlich nicht steuerbar. Die inhärenten Patterns in der amadinda-Musik drängen sich der Wahrnehmung auf, sind im Prinzip ebenso unentrinnbar wie die Phantom-Ringe und -Dreiecke bei Gaetano Kanisza. Im Forschungszentrum in Malawi, dem Oral Literatur Research Programme, Chileka, konstruierten wir im vergangenen Jahr eine amadinda aus mulombwaHolz (bot. Pterocarpus angolensis), die ebenso schön klingt wie die aus lusambya-Holz (bot. Markhamia platycalyx) in Buganda. Ein Vorteil für uns war, dass das Instrument erhöht auf einem Gestell platziert ist und nicht auf Bananen-Stämmen auf dem Boden, vor denen man mit gekrümmtem Rücken sitzen muss. Nun konnten wir bequem auf Stühlen das Instrument spielen und uns aufs Neue ein Repertoire erarbeiten. Ein Stück, Ganga alula, im letzten Oktober (2015) von uns zu zweit gespielt, zeigt den Effekt noch deutlicher als wenn drei Personen spielen würden. Moya hat unser Spiel im Geheimen mit einem Mobiltelefon aufgenommen, das er in seiner Brusttasche versteckt hatte. Im oberen Klangbereich des Stückes bilden alle Töne 4 und 5 ein inherentes Pattern, das über eine Strecke hin die Abstände der Tanzschritte markiert, durch welche jeweils sechs Elementarpulseinheiten zusammengefasst werden. Das zweite Pattern, aus allen Tönen 1 und 2 auf den amatengezzi, den zwei tiefsten Platten, und ihrer Oktavverdoppelung, bildet eine komplexe melodisch-rhythmische Linie über 36 Pulse hinweg.6
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Ganga alula, gespielt von Moya A. Malamusi und Gerhard Kubik im Forschungszentrum Chileka, Malawi, 10.Oktober 2015; online verfügbar unter: http://bit.ly/2m7yfse.
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Moya’s Geheimaufnahme von unserem Spiel erwies sich als ein unerwartetes Geschenk für die Wissenschaft. Wir haben mit dieser Aufnahme bei unserer jüngsten Reise nach Uganda ein Experiment gemacht. Wir dachten, wenn es stimmt, dass wir das Stück authentisch spielten, dann müßte einer der letzten, bis jetzt aktiven Musiker der Hoftradition von Buganda in der Lage sein, die verborgenen Textpassagen aus unserer instrumentalen Version herauszuhören. Am 31. Dezember 2015 spielten wir die Aufnahme Albert Bisaso, Sohn des 2005 verstorbenen Hofmusikers Albert Ssempeke vor, wobei zu sagen ist, dass der junge Bisaso das Stück Ganga alula auf der Harfe ganz hervorragend interpretiert. Wir ließen nun gleichzeitig ein zweites Tonbandgerät laufen. Wir baten ihn, wenn er könne, mit der Originalaufnahme unseres Spiels mitzusingen. Das Ergebnis war frappierend. Albert Bisaso erkannte schon nach wenigen Sekunden die in der Instrumentalversion verborgenen Textmelodien und er sang bald den ganzen Text von Ganga alula synchron mit. Wir nahmen alles auf.7
III. Ein ganz anderer Bereich kinemischer Erfahrung eröffnet sich im Spiel von mund-resonierten Musikbögen, wie sie in Afrika einst weit verbreitet waren. (Kirby 1961; Rycroft 1982/83; Malamusi 2008). Diese Musik ist sozusagen ‚kopf-intern‘; was der Ausführende erlebt, dessen Mund als Resonator fungiert, kann von Zuhörern nicht direkt nachvollzogen werden, außer sie lernen das Instrument selber spielen. Moya A. Malamusi ist einer der letzten Experten des nyakatangali-Musikbogens aus dem Unteren Shire/Zambezi-Tal, Malawi und Moçambique. Ich übergebe ihm das Wort: I would like to introduce you to the techniques and kinemic implications of the playing of two mouth-resonated musical bows, the nkangala made from reed grass and the nyakatangali from bamboo with buzzers attached. The nkangala is only played by women, the nyakatangali only by men, but I will cross the taboo and exceptionally play the nkangala for you. I was still a boy when I became interested in these instruments, as I observed that many women in our area were playing the nkangala in loneliness. A woman may sit on the veranda of her house in complete solitude, not talking to anyone, playing her musical bow for
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Albert Bisaso singt den Text von Ganga alula zu der von uns gespielten amadinda Instrumentalversion; online verfügbar unter: http://bit.ly/2lpHjol.
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an hour or so. I did not understand why that should be. But soon I discovered that women use this instrument as a kind of therapy, in order get rid of painful thoughts of loneliness and problems, especially in cases where the husband is away from home for years, having inscribed himself at WENELA (Witwatersrand Native Labor Organization) for work in a South African mine. This was the fate of many women in the 1960s. Incidentally, the nkangala musical bow is also of South African origin, it came to Malawi with the invasion of the Angoni warriors in the mid-19th century, and then spread to all the areas around Lake Malawi, even to southwestern Tanzania, where we recorded it among women speaking Khipangwa. As a young boy I wanted to learn the nkangala, but one of my relatives told me that it was forbidden. Later, I managed to learn it, particularly after my young sister, Lidiya, who had learned it in the early 1980s, had suddenly died in the year 1989. She is co-founder of my research center in Malawi. Lidiya had used her nkangala on many tours to Europe; Germany, Finland, Austria and other places. I then first learned about its construction. One needs bango (reed grass, bot. Phragmites mauritanus), and for the only string sisal fibre to be twisted on one’s thigh. In performance, one end of the stick is pressed against the right corner of the mouth that serves as variable resonator. The other end is stabilized with the index finger of the left hand, while the second finger stops the string from time to time to obtain a different tone. In the right hand the player holds a plectrum to sound the string in a constant fast movement, up and down. The experience while playing this musical bow is centered in one’s head, because of the vibrations coming from the use of the mouth as a variable resonator. By slightly changing the size of the mouth’s cavity one reinforces different partials on top of the two fundamentals obtained in the open and stopped mode of the string. Usually the pentatonic melodies created by players in Malawi are formed through reinforcing any of three partials (4, 5 or 6) over the lower and any of two partials (4 or 6) over the higher fundamental. When one plays the nkangala, it is a unique experience that cannot be directly shared with audiences. Here, in this performance I am wearing a head-set with a microphone placed beneath my lips to further amplify the melody I produce, so that you in the hall can get an idea of the experience and technique.8 The effect is psycho-therapeutic. Worries, restlessness and the sad thoughts of a depression begin to disappear, even all the anger one may have accumulated in relation to others. Once I had a quarrel with someone in the village and was
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Aufführung durch Moya A. Malamusi on the nkangaia mouth-resonated bow, an original instrument from Malawi; online verfübar unter: http://bit.ly/2m7xAa5.
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very annoyed. I took the nkangala, and already after a few minutes of playing my anger had disappeared. I was becoming quiet, very quiet. The other musical bow is made of bambo (nsungwi). It has a small metal sheet with buzzers attached to the stave. This is the bow played by men.9 I have studied many different stringed instruments in Africa, most of which have now disappeared. I also learned to play a few songs on the kundi, fivestring harp of the Azande, a people in the Central African Republic. We do not know whether anyone today still plays this kind of harp, after all the armed conflicts in that country and the destructions. I play for you a song in Zande called Ngbadule o (name of a person) which was composed by a twelve-year old boy, Ouzana Samuel, in the year 1964. Zande harp music is very harmonious and it also embodies fascinating rhythmic structures. My fingers were taking a long time to understand the song's rhythmic structure which is based on a so-called asymmetric time-line. Gerhard will strike the pattern with two sticks while I am playing. The theme evolves over 24 pulse units.
IV. Das Spiel zweier Musikbögen und der Zande-Harfe hat uns vorgeführt, wie Fingertechnik und Vokalstimme sich zu einer gesamtkörperlichen Erfahrung ver-
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Short performance on the nyakatangali mouth-resonated musical bow by Moya A.
Malamusi; online verfügbar unter: http://bit.ly/2lya9nn.
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binden. Dies ist auch der Fall bei Musikinstrumenten, die im Gehen gespielt werden, wie etwa die box-resonierte likembe Zentralafrikas, mit acht bis zwölf Metallzungen, meist gestimmt in einem hexa- bis heptatonischen System (Kubik 1998; 2002). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitete sich dieser Lamellophontypus rasant mit Wanderarbeitern, die im Kongo zu den Kupferminen von Katanga zogen oder zu den Baustellen der Eisenbahnlinie von Brazzaville nach Pointe Noire, und in Angola zu den Kaffeeplantagen im Hochland von Viye. Auf den wochenlangen Fußmärschen diente das kleine, tragbare Instrument als Stimulator des Bewegungsablaufs beim Gehen und auch zum Vertreiben von Spannungen, von Langeweile und Müdigkeit. Kam man in ein Dorf, um zu rasten, fanden sich bald andere, die bereit waren, den likembe-Spieler mit einer time-line-Formel auf Schlagstäben zu unterstützen. Diese time-lineFormeln sind ein zentrales Element in vielen Musik-Genres der Region. Sie wurden auch in der ab 1950 sich verbreitenden Gitarrenmusik im Kongo von großer Wichtigkeit. Es gibt in West- und Zentralafrika zwei prominente asymmetrische time-line Formeln: die 12-er und die 16-er Formel. Mathematisch sind es optimale Lösungen der Verteilung von 7 oder 5 Schlägen über einen Zyklus von 12 Pulsen, beziehungsweise 9 oder 7 Schlägen über einen 16-Puls Zyklus. Evolutionsgeschichtlich sind sie ein einzigartiges Zeugnis dafür, wie sich im Gehirn des Menschen, im Sine von ‚unbenannten Zahlenerlebnissen‘ wie es Alfons M. Dauer (1983) genannt hat, unter bestimmten Umständen Prozesse vollziehen können, die ihn befähigen, mathematische Zusammenhänge und Gesetze non-verbal zu erkennen und mit dem Körper zu artikulieren. Diese Fähigkeiten zu entwickeln wurde in vielen afrikanischen Kulturen seit langem stimuliert. Wir wissen zwar nicht, wann die asymmetrischen timeline Formeln – mit großer Sicherheit zuerst in Westafrika – in der Musik auftauchen, aber eine Möglichkeit wäre, dass ihre Entwicklung im Zusammenhang mit den Anfängen des Eisenzeitalters stand, das bereits um 300 vor unserer Zeitrechnung in der sogenannten Nok-Kultur in Nigeria nachgewiesen ist; denn erst als man in Westafrika Eisengewinnung und Verarbeitung kannte, wurde es möglich auch Eisenglocken zu bauen. Diese sind bis heute an der westafrikanischen Küste das charakteristische Instrument zum Schlagen von time-line-Formeln und der Zusammenhang dürfte bei den I.A.4 (Kwa-sprachigen) Völkern (s. Greenberg 1966 zur Klassifikation der Sprachen) seit langem bestehen. Wir wissen auch, dass Musik, die mit diesen eintönigen Zeit-Markern reguliert wird, noch im 19. Jahrhundert auf die westafrikanische Küste, von Nigeria bis Côte d’Ivoire und auf Zentralafrika, also Kongo, Angola und Zambia konzentriert war, mit einem Ausläufer ins untere Zambezi-Tal und zum Nyasa. In Ostafrika waren die time-line-Formeln unbekannt und verbreiteten sich erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts mit Schallplatten af-
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rikanischer Populärmusik (vgl. etwa die Musik des Acooli-Gitarristen Faustino Okello, DVD African Guitar). Es ist auch offensichtlich, dass die Erfindung der asymmetrischen time-lineFormeln innerhalb symmetrischer Zyklen als Rahmen nur in Kulturen gelingen konnte, in denen die innere, unbewußte Wahrnehmung einer Elementarpulsation als zeitlicher Orientierungs-Raster frühzeitig in den Kindern entwickelt wird. Aus der Elementarpulsation, die im Prinzip völlig stumm ist und nur in einer Art inneren Präsenz existiert, formierten sich dann die prominenten Zyklen der afrikanischen Musik, 8, 12, 16, 24 und ihr Vielfaches. Um fünf oder sieben Schläge über einen Zyklus von 12 ElementarpulsEinheiten zu verteilen, gibt es insgesamt 66 Möglichkeiten, wie man sich mit den Methoden der Kombinatorik mühelos errechnen kann. Die folgenden drei Abbildungen, mathematisch und zeichnerisch, sollen das veranschaulichen (Abb. 6a, b, c). Die 66. Verteilung ist die am meisten ebenmäßige und sie bildet die berühmte 12-er time-line Formel in der afrikanischen Musik. Dieses Verteilungsproblem wurde in Westafrika offenbar schon vor mehr als zweitausend Jahren ohne mathematische Hilfs-Formulierungen praktisch gelöst. Wie dies möglich war und was bei solchen Operationen im menschlichen Gehirn vor sich geht, ließ sich bisher neuronal durch kein bildgebendes Verfahren lösen. Aber es könnte einmal gelingen, denn gerade in jüngster Zeit hat man in den Neurowissenschaften einen Weg entdeckt, zu klären, wie sich etwa die Arbeit an Steinwerkzeugen in der Evolution des Menschen auf die rasante Entwicklung kognitiver Fähigkeiten auswirkte (Stout & Kreisheh 2015; Stout 2016). In den alten afrikanischen Kulturen waren mathematische Einsichten grundlegend, vgl. auch die tusonaIdeogramme Ostangolas (Kubik 2006).
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V. Es ist vielleicht überraschend, dass in Afrika neben den mund-resonierten Musikbögen auch mund-resonierte Flötentechniken existieren, bei denen eine Schnabelflöte (flûte à bec) aus Metall so verwendet wird, dass die Mundhöhle ähnlich wie bei manchen Musikbögen als Resonator dient. Sinosi Mlendo ist vielleicht einer der letzten Vertreter dieser Technik und hat sich neben seiner Kompositionstätigkeit in unserer Musikgruppe ausführlich mit der Geschichte der südafrikanischen kwela-Musik beschäftigt, die mit dieser Art des Flötenspiels beinahe synonym ist. Ich übergebe ihm das Wort:
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The flute which I am playing in our performance group is associated with a kind of music called kwela, a South African jazz style. I was born in 1980 in the village of one of the most eminent exponents of the kwela flute jive tradition in southern Africa: Donald Kachamba, and I became his student in 1998 on guitar, just before he was invited to teach his art at the University of California, Department of Ethnomusicology, Los Angeles, in 1999, as an artist in residence. This type of metal flute was first manufactured by boys and youngsters in South Africa during the late 1940s in order to emulate the playing of saxophones in Swing Jazz. Some of these boys constructed their flutes from bicycle pumps or other suitable tubes. Later their invention was industrialized, notably by the Hohner Company in Trossingen, Germany, which used a model manufactured by a boy in Johannesburg, never identified by name. They sold up to 200,000 specimens every year, in the tunings B-flat, G and C in southern Africa during the l950s and early 1960s. The youngsters in South Africa roaming the streets of the cities with their mobile bands of usually two flutes, guitar and one-string bass, drew much of their inspiration from jazz records, including Glenn Miller’s In the mood, but also from visual inspiration showing American jazz musicians in pictures and in cinema, notably a picture of Lester Young playing tenor saxophone with a characteristic oblique head position. They imitated his posture and began to play those flutes not in a straight way, as children play the so-called pennywhistle in Europe, but in an inclined, oblique attitude. The difference in sound is remarkable, let me show you.10 If I hold the flute straight, with lips puckered, the sound is rather thin. But if I insert the mouth-piece deeper into my mouth, pointing it against the inside of the cheek, then the sound becomes full and loud. It is because the cavity of my mouth now functions as a resonator, just like in the playing of the nkangala in southern Africa. So I can do all sorts of sound modifications, even intonate blue notes. Let us give you a little performance.11 In addition to what Professor Kubik was explaining about rhythmic structures and body involvement in the performance of African music, I will now explain to you our sinjonjo rhythm. Sinjonjo is a specific type of dance movement,
10 Demonstration of the kwela embouchure in comparison to the straight playing and the resultant difference in sound by Sinosi Mlendo; online verfübar unter: http://bit. ly/2lWinXa. 11 Aufführung von (1) Jive, (2) Taxi Driver, (3) You can be a fool durch Sinosi Mlendo, Flöte, Gerhard Kubik, Gitarre, Moya A. Malamusi, One-string bass; online verfübar unter: http://bit.ly/2lbYlLa.
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probably very old in southern Africa under various names, but under the name sinjonjo it became popular in association with new styles of guitar music and banjo groups by adolescents during the 1950s. It is a movement pattern based on cycle number 12, and since you can divide the number 12 in various ways, the total movement is really a combination of multiples. My right hand holding the plectrum strikes the guitar strings in vamping style, which is what we call mokhwacha, up and down, in twos. But the implication is triplets. And in addition, this triple rhythm is shifted against the dance-beat marked by the bass and the rattle. It is anticipated by one pulse-unit. And all harmonic changes also start one pulse-unit before the dance beat. We have adapted the sinjonjo rhythm to go with the 12-bar blues form. You can see, my right hand goes up and down in twos, but the rattle plays ka-cha, ka-cha, kacha and so on, marking a triplet beat, and the chord changes also take place one pulse-unit before the beat. This is characteristic of sinjonjo. One of our compositions in which we have applied the sinjonjo rhythm to the 12-bar blues form is my song I walk up the mountain. The basic cycle is this: F F seven D minor seven A flat six, played on my five-string guitar. Now I show you how this cycle is integrated into the blues form and I will sing the song.12
S CHLUSSBEMERKUNG Wir glauben, dass unsere Forschungen in afrikanischen Kulturen – im Feld und experimentell – einen Beitrag zur theoretischen Abklärung des Themas Musik verstehen und erleben mit dem Körper erbracht haben. Der Körper ist aber in seinem Bewegungsverhalten und seiner Rezeption von Musik weitgehend von der kulturellen Umgebung her bestimmt; im Rahmen des kulturellen Lernens ist er wiederholten Prozessen der Konditionierung und Rekonditionierung ausgesetzt. Man versteht daher Klangkomplexe und ihre Kinemik immer vor dem Hintergrund des persönlichen und kulturellen Erfahrungsschatzes, des persönlichen Kulturprofils zum Datum der Begegnung mit dem jeweiligen Material. In Situationen des Kulturkontakts werden Stimuli aus dem anderen kulturellen System perzeptorisch und konzeptuell umgedeutet.
12 Aufführung des Songs I walk up the mountain in der Besetzung Sinosi Mlendo (Gitarre, Gesang), Gerhard Kubik (Klarinette), Moya A. Malamusi (One-string bass). Im Konzertteil wurden darauf zwei weitere Kompositionen gespielt: (1) Sunshine walk, (2) Try and you will find my name; online verfügbar unter: http://bit.ly/2lpWcad.
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Autorinnen und Autoren
Ursula Brandstätter, Studium in Wien und Berlin (Instrumentalpädagogik, Schulmusik, Romanistik); Lehrtätigkeit in unterschiedlichen institutionellen Kontexten (Gymnasium, Musikschule, Konservatorium und Musikhochschule), Promotion an der UdK Berlin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Musikpädagogik der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien; 2002 bis 2012 Professorin für Musikpädagogik an die Universität der Künste Berlin; seit 2012 Rektorin der Anton Bruckner Privatuniversität für Musik, Schauspiel und Tanz in Linz/Österreich. Arbeitsschwerpunkte: kunstspartenübergreifendes Lehren und Lernen, ästhetische Bildung und ästhetische Theorie sowie Hochschulmanagement. Rose Breuss, Tanz- und Bewegungsstudien an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Wien, Theaterschool Amsterdam, Temple University Philadelphia USA und Tanznotation (Labanotation) an der University of Surrey, Labanotation Institute. Ausgezeichnet mit dem Max Brand Preis für Experimentelle Musik, dem Theodor Körner Preis für Wissenschaft und Kunst und der Prämie des Bundeskanzleramtes für die Choreographie Drift. Seit 2006 Institutsdirektorin von IDA - Institute for Dance Arts an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, wo sie lehrt, 2005 habilitierte und seit 2014 eine Universitätsprofessur für Movement Research innehat. Wilfried Gruhn, emeritierter Professor für Musikpädagogik an der Musikhochschule Freiburg. Lehrtätigkeit an den Musikhochschulen in Saarbrücken, Essen und Freiburg. 1995-97 Präsident der Research Alliance of Institutes for Music Education (RAIME). 1996-2009 Leiter des Gordon-Instituts für frühkindliches Musiklernen (GIfM) Freiburg, 2009-2012 Vorsitzender der Internationalen LeoKestenberg-Gesellschaft (IKG) und Herausgeber der Kestenberg Gesamtausgabe. Arbeitsschwerpunkte: Historische Musikpädagogik; Kognitionspsychologie; musikalische Lerntheorie; neurobiologische Lernforschung.
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Julia von Hasselbach war nach ihrem Studium Violine/Orchestermusik (Folkwang UdK Essen) und Instrumentalpädagogik (UdK Berlin) Lehrbeauftragte in der Pädagogischen Ausbildung und von 2007 bis 2009 Gastprofessorin für künstlerische Transformationsprozesse an der UdK Berlin. Sie war u. a. Preisträgerin des internationalen Karl-Hofer-Preises der UdK Berlin. Neben zahlreichen Publikationen war sie auch als Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Sie ist Doktorandin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Sportwissenschaft/Biomechanik in den Künsten) und promoviert kumulativ mit bewegungsanalytischen Studien zur Bogenführung im Violinspiel. Frauke Heß, seit 2004 Professorin für Musikpädagogik am Institut für Musik der Universität Kassel. Nach Lehramtsstudium und Promotion an der Universität Essen, Referendariat und Lehrerin an Gesamtschule und Gymnasium Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: „Klassik“ im Unterricht, Musik erfinden und mit Klängen experimentieren (u.a. wissenschaftliche Begleitung des Projekts neue töne für junge ohren) sowie musikdidaktische Grundsatzfragen in kunstästhetischer Perspektive. Seit 2011 arbeitet sie darüber hinaus zu Genderfragen. Sara Hubrich, Vertretungsprofessorin für Musikalische Bildung an der Fachhochschule Bielefeld; Studium in Hannover und London (Violine und Viola in Instrumentalpädagogik/Orchestermusik/Musiktheater); langjähriges Mitglied des Musiktheater-Ensembles A rose is; Produktionen mit Ruedi Häusermann u. a. am Schauspielhaus Zürich, am Opernhaus Hannover und Staatstheater Stuttgart; Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität zu Köln und an der Fachhochschule Nordwestschweiz/PH Liestal; regelmäßige Konzerttätigkeit u. a. mit Concerto Köln, Basel Sinfonietta, Capella Lutilinburgensis sowie Trio Libero und dem Henosode Quartett. Claudia Jeschke, Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in München. 1979 Promotion. Von 1980 bis 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft an der Universität in München, 1994 Professorin am Institut für Theaterwissenschaft in Leipzig, dort Habilitation. 2000 Professorin für Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik in Köln, von 2004 bis 2015 an der Universität Salzburg. Gastprofessuren an europäischen, asiatischen und amerikanischen Universitäten. Claudia Jeschke arbeitet zudem als Dramaturgin, Choreografin, Ausstellungsmacherin und Autorin von Fernsehsendungen zum Tanz. Jin Hyun Kim ist Juniorprofessorin für Systematische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft an der Humboldt-
A UTORINNEN UND A UTOREN
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Universität zu Berlin; 2008 Dissertation zum Thema Embodiment in interaktiven Musik- und Medienperformances – unter besonderer Berücksichtigung medientheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Perspektiven; forschte u.a. am Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“ an der Universität zu Köln und am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ an der FU Berlin; Fellow in den Bereichen Neuro- und Kognitionswissenschaften am HanseWissenschaftskolleg (HWK). Antje Klinge ist ausgebildete Lehrerin für Sport und Erdkunde und hat nach mehrjähriger Tätigkeit als Lehrkraft für Gymnastik und Tanz in der Sportwissenschaft (in Düsseldorf, Dortmund und Gießen) zur Thematisierung von „Körper und Gewalt“ in der Sportlehrerausbildung promoviert. Im Rahmen ihrer Habilitation hat sie sich mit dem Stellenwert des Körperwissens in der Sportpädagogik auseinander gesetzt. Seit 2010 ist sie Professorin für Sportpädagogik und Sportdidaktik an der Fakultät für Sportwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Lehr- und Forschungsgebieten gehören die Bereiche Erziehung und Bildung im Medium von Körper, Bewegung, Sport und Tanz, Scham und Beschämung im Schulsport sowie Kulturelle Bildung und Vermittlung. Gerhard Kubik, Dr. phil. in Ethnologie (Kulturanthropologie) 1971, Habilitation Universität Wien 1980, erweitert 1994. Forschungsschwerpunkte: Kulturanthropologie, Ethnomusikologie und Ethnopsychoanalyse; Afrika, Europa, Nordund Südamerika, Japan. Feldforschungen in bisher 18 afrikanischen Ländern, in Brasilien, Venezuela, U.S.A. und Japan. Weltweite Konzert- und Vortragsreisen mit Jazzgruppe aus Singano/Chileka, Malawi. Lehrtätigkeit an europäischen, amerikanischen und afrikanischen Universitäten. 1996-1999 Professur für Ethnologie an der Universität Mainz. Gegenwärtig Lehraufträge an den Universitäten Klagenfurt, Wien und am C. G. Jung Institut Zürich. Julia Mach, Abschluss an der Ballettschule der Wiener Staatsoper, Studium der Philosophie und Fächerkombination an der Universität Wien, Bachelor of Arts in Bühnentanz bei Codarts- Rotterdam (NL), Master in Movement Studies and Performance an der Anton Bruckner-Universität in Linz. Zunächst arbeitete sie als Solistin am Opernhaus Graz, danach als freischaffende Tänzerin mit unterschiedlichen Choreographen, Medienkünstlern, bildenden Künstlern und Regisseuren. Verschiedene eigene Produktionen in Kollaboration mit dem Tänzer und Choreographen Filip Szatarski. Auftritte führten sie bisher in viele europäische Länder sowie nach Taiwan, Israel, USA, China und Mexiko. Moya A. Malamusi, Dissertation an der Universität Wien 2004 zu The Nyau Masking Tradition in Central and Southern Malawi. Gründete 1989 das Oral Li-
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terature Research Programme in Chileka, Malawi, mit dem angeschlossenen Jacaranda Museum of Ethnographic Objects. Ausgedehnte Feldforschungen zu Musik und Oralliteratur in den Ländern Ost- und Zentralafrikas, in Namibia, Brasilien und im Süden der U.S.A. War 1993 Research Fellow am Metropolitan Museum of Art, New York und 1997 mit einem Rockefeller stipend Research Fellow am Center for Black Music Research, Columbia College, Chicago. Instrumentalist auf verschiedenen alten Instrumenten Afrikas. Sinosi Mlendo, Flötist, Gitarrist und Komponist in der Tradition von Donald Kachamba (1953-2001). Internationale Tourneen mit eigenen Kompositionen seit 2004. Repertoire: Über 90 eigene Kompositionen im südafrikanischen JazzStil. Darüber hinaus auch Vorträge bei Symposien in Afrika und Europa. Ulrich Mosch, nach dem Abitur zunächst Studium der Schulmusik und Germanistik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater und der Universität in Hannover. Anschließend Studium der Musikwissenschaft an der Technischen Universität in Berlin (bei Carl Dahlhaus und Helga de la Motte-Haber), dort 1991 Promotion mit einer Arbeit zum musikalischen Hören serieller Musik. 2004 Habilitation und danach Privatdozent an der Universität Salzburg. 19861990 verschiedene Assistenzen. Von 1990 bis 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Paul Sacher Stiftung in Basel. Daneben Unterrichtstätigkeit. Seit Herbst 2013 Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Genf. Lars Oberhaus studierte Musik und Philosophie an der Musikhochschule in Detmold und der Universität Paderborn. Nach Promotion und Tätigkeit als Lehrer war er Juniorprofessor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten. Seit 2012 arbeitet er als Professor für Musikpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich musikpädagogische Lehr- und Lernforschung, Musik und Körper, Neue Musik, Philosophie der Musikpädagogik und frühkindliche musikalische Bildung. Peter Röbke studierte Schulmusik, Musikwissenschaft, Germanistik und Erziehungswissenschaft in Essen und Bochum. War Chor- und Orchesterleiter, Geigenlehrer an mehreren Musikschulen, Assistent an der Universität der Künste Berlin, zehn Jahre Direktor einer Musikschule in Berlin. Seit 1994 Professor für Instrumental- und Gesangspädagogik, seit 2006 Vorsitzender der Studienkommission für die Studienrichtung Instrumental- und Gesangspädagogik und seit Oktober 2010 Vorstand des Instituts für Musikpädagogik an der Wiener Musikuniversität.
A UTORINNEN UND A UTOREN
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Wolfgang Rüdiger, Studium der Schulmusik und Philosophie in Essen, Analyse und Komposition bei Nicolaus A. Huber; Künstlerisches Aufbaustudium Fagott bei Karl-Otto Hartmann und Promotionsstudium Musikwissenschaft bei Hans Heinrich Eggebrecht in Freiburg. Er ist Gründungsmitglied, künstlerischer Leiter und Fagottist des Ensemble Aventure, mit dem er international konzertiert und zahlreiche CDs eingespielt hat. 1998-2001 war er Professor für Musikpädagogik/künstlerisch-pädagogische Ausbildung an der Hochschule für Künste Bremen, seit 2001 ist er in gleicher Funktion an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf tätig. Stephanie Schroedter wurde am Institut für Musikwissenschaft der Universität Salzburg, Abteilung Tanz und Musiktheater, promoviert (Auszeichnung mit dem Tanzwissenschaftspreis Nordrhein-Westfalen 2001). Der Leitung eines DFGgeförderten Projekts am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth folgten mehrere Vertretungs- und Gastprofessuren sowie weitere Mitarbeiten an DFG- und SNF-geförderten Forschungsprojekten. 2015 habilitierte sie sich mit der Monographie Paris qui danse: Bewegungs- und Klangräume einer Großstadt der Moderne an der Freien Universität Berlin und erhielt die Lehrbefugnis für Tanz- und Musikwissenschaft. Christoph Stange vertritt derzeit die Professur für Musikpädagogik an der Universität Siegen. Davor war er Gast- bzw. Vertretungsprofessor an der Universität der Künste Berlin, an der Universität Bielefeld sowie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Darüber hinaus lehrte er auch an den Universitäten bzw. Hochschulen in Dresden, Leipzig und Oldenburg. Nach Studium und Referendariat war er viele Jahre als Studienrat tätig und initiierte innovative Formate der Musikvermittlung. 2011 Promotion an der Universität der Künste Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Musik und Körper, Kontextualisierung von Musik sowie Kooperationen mit außerschulischen Kulturpartnern. Jörg Zirfas lehrt Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie an der Universität zu Köln. Vorsitzender der Kommission Pädagogische Anthropologie (DGfE) und der Gesellschaft für Historische Anthropologie an der FU Berlin; Mitglied des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung (FAU Erlangen-Nürnberg). Studium der Philosophie, Germanistik und Pädagogik in Bonn und Berlin. Promotion zur Pädagogischen Anthropologie des Glücks (1993) und Habilitation zur Pädagogischen Ethik (1999) an der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie und Psychoanalyse, Pädagogische Ethnographie und Kulturpädagogik.
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Daniel Zwiener studierte Schulmusik an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden und promovierte an der Universität der Künste Berlin über die Methode Jaques-Dalcroze als intersensuelle musikpädagogische Konzeption. Er arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Lehrauftrag für Allgemeine Musikpädagogik an der Dresdner Musikhochschule sowie als Chorleiter im kirchenmusikalischen Bereich. Seit 2004 wirkt er als Schulmusiker in einer pädagogischen Provinz im südlichen Sachsen und leitet einen großen Jugendkonzertchor. Er publiziert und leitet Fortbildungen zu Fragen schulischer Musikdidaktik, zur Chorleitung und zu musikalischer Interpretation.
Musikwissenschaft Michael Rauhut Ein Klang – zwei Welten Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990 Juni 2016, 368 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3387-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3387-4
Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth, Anna Langenbruch (Hg.) Wissenskulturen der Musikwissenschaft Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen Juli 2016, 318 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3257-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3257-0
Mark Nowakowski Straßenmusik in Berlin Zwischen Lebenskunst und Lebenskampf. Eine musikethnologische Feldstudie April 2016, 450 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3385-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3385-0
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Musikwissenschaft Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige (Hg.) Musik und Narration Philosophische und musikästhetische Perspektiven 2015, 350 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2730-5 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2730-9
Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Speaking in Tongues Pop lokal global 2015, 218 S., kart., 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3224-8 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3224-2
Philipp Hannes Marquardt Raplightenment Aufklärung und HipHop im Dialog 2015, 314 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3253-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3253-2
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