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German Pages [297] Year 2014
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VERLAG KARL ALBER
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Ausgehend von einer Analyse zentraler Begriffe wie »Musik«, »Expressivität«, »Emotion«, »ästhetische Erfahrung« und »Ethik« unternimmt die Studie eine Interpretation der Interaktionen zwischen den ästhetischen und den ethischen Dimensionen von Musik. Ihr Herzstück besteht in der Präsentation, Verteidigung und Illustration zweier eng verknüpfter Thesen. Erstens: Die ethische Dimension von Musik kann einen Beitrag zu ihrer ästhetischen Wertschätzung leisten. Als besonders fruchtbar erweist sich dabei ein weiter Begriff von »Ethik«, der über einen engen Begriff von »Moral« hinausweist; selbst »amoralische« oder »unmoralische« Musik kann somit ethische Vorzüge und aus diesem Grund auch ästhetische Qualitäten aufweisen. Zweitens: Umgekehrt kann die ästhetische Erfahrung von Musik ihrerseits eine ethische Bedeutung annehmen. Sie kann die emotionale Phantasie des Hörers beflügeln und so auch eine Spiegelung des Selbstverständnisses des Menschen ermöglichen. In einem letzten Kapitel wendet sich der Autor dem Verhältnis von Musik und politischer Ethik zu: Sein Interesse gilt insbesondere der Frage, ob und wie Musik zur Artikulation und Kultivierung von Emotionen (Freiheitsliebe, Hoffnung, Toleranz und Mitgefühl) beitragen kann, die für die politische Kultur einer liberalen Demokratie wichtig sind. Zahlreiche Beispiele aus der Musik – und aus anderen Künsten wie Literatur und Malerei – veranschaulichen die Gedankenführung.
Der Autor: Peter Rinderle, geboren 1963 in Seeg (Allgäu), promoviert 1995 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, habilitiert 2002 am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen; Lehraufträge an der FU und HU Berlin, Vertretungsprofessuren an den Universitäten Kassel und Hamburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Ethik, Politische Philosophie, Musikästhetik.
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Peter Rinderle Musik, Emotionen und Ethik
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musik M philosophie Band 3
Herausgegeben von: Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main) Lydia Goehr (Columbia, New York) Frank Hentschel (Gießen) Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt) Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Dorschel (Graz) Bärbel Frischmann (Erfurt) Georg Mohr (Bremen) Albrecht Riethmüller (Berlin) Günter Zöller (München)
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Peter Rinderle
Musik, Emotionen und Ethik
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48450-0 (Print)
ISBN 978-3-495-86017-5 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Meiner Mutter Rosa Rinderle
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Inhalt
Vorwort
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1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Von der Expressivität zur Ethik . . . Die Kernthese und das Argument . Musik und ihre Expressivität . . . Emotionen und ihr Ausdruck . . . Ethik in einem weiten Sinne . . . . Inhalte der ästhetischen Erfahrung
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2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Kunst, Moral und gutes Leben . . . . . . . Zur Vermessung des Terrains . . . . . . . Drei Gründe für eine Trennung . . . . . . Das Argument der verdienten Antwort . . Die Integrität des Kunstwerks . . . . . . . Das Verdienst unmoralischer Einladungen Ästhetische Vorzüge unmoralischer Musik
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. 68 . 72 . 78 . 83 . 93 . 103 . 116
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Exakte emotionale Phantasien . . . Musik als lustvolles Erlebnis . . . Musik als Quelle von Wissen . . . Die ethische Kraft der Musik . . . Probefühlen ohne Handlungsdruck Herz- und hirnlose Gefühlchen . . Risse, Brüche, Fragmente . . . . .
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124 127 139 148 154 165 178
4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Spiegelungen des Selbst . . . . Reflektierte Emotionen . . . . Musikalischer Humor . . . . . Musikalische Tragik . . . . . . Musik und religiöse Emotionen Das Selbst in der Gemeinschaft
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188 190 193 205 220 234
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11 15 17 22 34 46 52
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Inhalt
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237 238 246 255 261 266 270
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Musik für eine liberale Demokratie . . . Interaktionen von Musik und Politik . Kernwerte des politischen Liberalismus Die Affirmation von Freiheit . . . . . Die Artikulation von Toleranz . . . . . Die Kultivierung des Mitgefühls . . . Drei Einwände und ein Fazit . . . . . .
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Vorwort
Mit diesem Buch möchte ich eine Lücke in der philosophischen Ästhetik schließen. Auf der einen Seite gibt es in den letzten Jahren nämlich neue Erkenntnisse zum allgemeinen Verhältnis von Ethik und Ästhetik, wobei sich vor allem Autoren wie Martha Nussbaum oder Berys Gaut um die Analyse der Interaktionen zwischen den moralischen und ästhetischen Dimensionen von Kunst verdient gemacht haben. Allerdings bleiben ihre Beispiele weitgehend auf die Literatur und die Malerei beschränkt; die Musik wird in diesem Kontext bislang eher stiefmütterlich behandelt. Auf der anderen Seite gibt es in jüngster Zeit eine intensive Debatte zum Problem der Expressivität von Musik: Denn daß die Musik in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen steht, würde kaum noch jemand bestreiten. Aus welchen Gründen und auf welche Weise wir die merkwürdigen Geräusche, die wir mit besonders präparierten Gegenständen wie Klavieren und Saxophonen, Kontrabässen und Schlagzeugen produzieren, aber als Ausdruck bestimmter Emotionen wahrnehmen und mit expressiven Eigenschaften ausstatten, bleibt unter Autoren wie Stephen Davies, Jerrold Levinson, Peter Kivy, Jenefer Robinson und Roger Scruton bis heute umstritten. Interessanterweise läßt sich in der jüngeren Musikästhetik nun ein paralleles Defizit ausmachen, denn auch dort spielt die Klärung des Verhältnisses von Musik und Ethik bislang keine besonders große Rolle. Die Ergebnisse dieser nebeneinander her verlaufenden Diskussionen bleiben jedoch für eine Untersuchung des Verhältnisses von Musik, Emotionen und Ethik relevant, und deshalb möchte ich mich meinem Thema aus zwei verschiedenen Richtungen annähern. Zum einen kann man dieses Verhältnis ja als speziellen Anwendungsfall des allgemeinen Verhältnisses von Ethik und Ästhetik verstehen und die Resultate einer Debatte, die sich vor allem um das Verhältnis von Ethik und Literatur dreht, auch auf die Musik übertragen. Allein auf diese Vorgehensweise zu setzen, verbietet sich indes schon deshalb, weil wir die Eigenarten der abstrakten, manchmal »autonom« genann11 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Vorwort
ten Instrumentalmusik nicht übersehen dürfen. Was für die Literatur und eventuell die Malerei richtig sein mag, muß nicht notwendig auch für die Musik gelten. Deshalb ist es zum anderen erforderlich, die spezifischen Merkmale der Kunstgattung Musik zu berücksichtigen, hier vor allem das Phänomen ihrer Expressivität im Auge zu behalten und auf dieser besonderen Grundlage eine Theorie des Verhältnisses von Musik und Ethik zu entwickeln. Aber auch dabei sollten wir uns vor voreiligen Schlüssen hüten: Schließlich dürfen wir bei einem solchen Unternehmen doch die spezifisch ästhetische Dimension von Musik, den Umstand also, daß eben auch Musik eine Kunst ist und wie Werke der Literatur und Malerei eine ästhetische Erfahrung ermöglichen kann, nicht zu schnell aus dem Blick verlieren. Es bietet sich daher an, es mit einer Kombination dieser beiden Vorgehensweisen zu versuchen. Wir wollen zunächst die Eigenarten der Musik berücksichtigen und für die Klärung von deren besonderem Verhältnis zur Ethik fruchtbar machen; darüber hinaus haben wir auch ein Interesse daran, mögliche Antworten auf diese Fragen in eine allgemeine Bestimmung der Interaktionen von Ethik und Ästhetik einzubetten. Mit dieser Beschreibung des methodischen Vorgehens der vorliegenden Studie ist zugleich ihr Entstehungskontext gut charakterisiert: Zunächst habe ich in den vergangenen Jahren mehrere Lehrveranstaltungen zum Verhältnis von »Ethik und Ästhetik« durchgeführt und zahlreiche Kongreßvorträge zu Einzelfragen aus diesem Themenkreis gehalten; darüber hinaus schließe ich mit diesem Buch aber unmittelbar an meine vor kurzem erschienene Untersuchung der »Expressivität von Musik« an. Besondere Vorkenntnisse setze ich für die Lektüre aber nicht voraus; alle Grundlagen und -begriffe werden noch einmal Schritt für Schritt eingeführt und anhand konkreter Beispiele erläutert. Wissenschaftliche Forschung ist sicherlich in hohem Maße auf Freiheit und Einsamkeit angewiesen, wichtige Impulse für meine Arbeit gingen aber auch von institutionellen Pflichten, Zwängen und Zufällen, sowie vor allem von angenehmer Geselligkeit mit Kollegen, Studenten und Freunden aus. An erster Stelle möchte ich meinen Dank gegenüber Berys Gaut und Jerrold Levinson zum Ausdruck bringen; in zahlreichen Gesprächen und E-Mails habe ich von ihnen viele hilfreiche Anregungen und Klarstellungen erhalten. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin meinen Studenten an der Universität Tübingen, die ich über mehrere Semester hinweg mit unausgereiften Ideen 12 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Vorwort
traktieren konnte. Vor allem die Teilnehmer des Workshops »Ästhetik und Ethik der Musik« mit Jerrold Levinson im Frühjahr 2009 wie auch die Teilnehmer meines Hauptseminars »Musik, Emotionen und Ethik« im Wintersemester 2009/10 haben mir mit vielen Rückfragen bei der Arbeit geholfen. Ganz besonders aber möchte ich Mario Gotterbarm für viele wertvolle Kommentare und Einwände danken. Für Anregungen, Kritik und Unterstützung bedanke ich mich darüber hinaus bei Maria Jose Alcaraz, Michael Bordt, Rodrigo Duarte, Susan Feagin, Hans-Georg Flickinger, Martin Gessmann, Felix Heidenreich, Hans Maes, Corinna Mieth, Catrin Misselhorn, Jana und Thomas Osterkamp, Francisca Pérez-Careno, Ilse und Klaus Rinderle, Nikolaus Schneider, Aaron Smuts sowie vor allem bei meiner Korrektorin Helga Meyer-Rath und meinem Verleger Lukas Trabert. Einige meiner Ideen konnte ich, wie schon gesagt, in Vorträgen auf verschiedenen Konferenzen ausprobieren: beim Internationalen Kongreß »Estéticas do deslocamento« in Belo Horizonte, auf dem XVII. Internationalen Kongreß für Ästhetik in Ankara, auf dem 6. Europäischen Kongreß für Analytische Philosophie in Krakau, an der Hochschule für Philosophie in München, am IZKT Stuttgart, beim 66. Jahrestreffen der »American Society for Aesthetics« in Northampton (Mass.) sowie zuletzt bei der Konferenz der »European Society for Aesthetics« in Udine. Ohne die Finanzierung meines Projekts zur Erforschung der »Expressivität von Musik« durch die Fritz Thyssen Stiftung hätte ich die vorliegende Arbeit gar nicht erst in Angriff nehmen, geschweige denn beenden können. Sowohl die Fritz Thyssen Stiftung als auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben es mir durch die Finanzierung zahlreicher Kongreßreisen außerdem ermöglicht, in einen anregenden und nützlichen Austausch von Ideen mit vielen Fachleuten aus aller Welt zu treten. Ein großer Dank von ganzem Herzen geht an meine Familie: Meine Frau Sabine und meine Töchter Sophie und Paula haben mir während des Projekts große Freiheiten für viele, sowohl physische als auch mentale Absenzen geschenkt, gleichzeitig aber immer meine emotionale Präsenz eingefordert und beharrlich darauf bestanden, über dem Nachdenken über Musik das gemeinsame Singen, Trommeln und Tanzen nicht zu vernachlässigen. Berlin, im Januar 2011 P. R. 13 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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1. Von der Expressivität zur Ethik
Kann Musik einen moralischen Einfluß auf Menschen ausüben, kann sie etwa auch für die Erziehung von Kindern verwendet werden? Können wir etwas von der Musik lernen? Kann die Musik uns vielleicht sogar intelligenter machen? Oder kann sie eventuell in sittlicher und intellektueller Hinsicht auch schädliche Wirkungen haben? Kommt ihr – einer Droge vergleichbar – das Vermögen zu, Menschen in einen Rauschzustand zu versetzen und sie dann von ihren Pflichten und Verantwortlichkeiten anderen Menschen und sich selbst gegenüber abzulenken? Stellt sie deshalb eine große Gefahr dar, weil sie eher die dunklen Seiten unserer Existenz, die irrationalen und unkontrollierbaren Bedürfnisse und Triebe wecken und stärken kann? Oder kann Musik dazu beitragen, Gemeinschaftsgefühle zu wecken und auf diese Weise etwa eine Verbundenheit mit unseren Mitmenschen zu kultivieren? Und was hat ihre mögliche ethische Bedeutung mit unserer ästhetischen Wertschätzung von Musik zu tun? Gibt es eine enge Verbindung zwischen dem Guten und dem Schönen? Oder muß man eher von der Existenz eines tiefen Grabens zwischen diesen beiden Ideen ausgehen? Dieser Cocktail von Fragen beschäftigt die Philosophie zwar seit ihren Anfängen, gleichzeitig war die Musik seit jeher ein Anlaß nicht nur zur Verwunderung, sondern auch zur Beunruhigung: Sie blieb ein Terrain, das ihr häufig fremd und unzugänglich, ja unheimlich oder gar bedrohlich erschien. Da den Philosophen die Entwicklung und Ausübung unserer Fähigkeit zum Denken und Sprechen oft als höchstes Gut erschien, mußte ihnen die Produktion und Rezeption von Musik als höchst suspekt erscheinen – im Unterschied etwa zur Literatur, die sich ja der Sprache als eines Mediums zur Artikulation bestimmter Gedanken und Gefühle bedient. Der Übergang zwischen beiden – man denke an Platon auf der einen Seite oder Robert Musil auf der anderen – ist deshalb häufig fließend. Die Bedeutung von Musik und ihren Gesten entzieht sich dagegen einer begrifflichen Fixierung. Im vorliegenden Kontext ist dabei von besonderem Interesse, daß 15 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Von der Expressivität zur Ethik
musikalische Gesten diese Eigenschaft mit dem Gesicht des Menschen teilen. So insistiert der Literaturwissenschaftler Peter von Matt (2000, 112) etwa auf dem Prinzip, »daß ein Gesicht, insofern es einmalig ist, individuell eben im strengen Sinn, nicht sprachlich vermittelt werden kann […]«. Wir müssen nun nicht darüber streiten, ob musikalische Gesten nun den expressiven Reichtum eines Gesichtsausdrucks übertreffen können oder immer hinter ihm zurückbleiben werden. Entscheidend bleibt mit Theodor W. Adorno (2005, 237; meine Hervorh.): »Musik ist mimisch insofern, als bestimmte Gesten, ein bestimmtes Spiel der Gesichtsmuskulatur an sich notwendig musikalischen Klang ergibt, Musik ist gewissermaßen die akustische Objektivation des Mienenspiels […].« Unstrittig ist jedenfalls, daß auch Musik in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen steht, ein differenziertes Instrumentarium zum Ausdruck unserer Gefühle ist, dabei aber doch mit ganz anderen Mitteln und Medien operiert als die Philosophie oder die Literatur. Wenn ich die gerade genannten Fragen zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung machen möchte, so hege ich nicht den Ehrgeiz, das Geheimnis der Musik zu lüften, ihre besondere Bedeutung in ein ihr fremdes Medium zu übersetzen und auf den Begriff zu bringen. Das bedeutet indes nicht, daß die Philosophie sich vor ihrer besonderen Kraft zu fürchten hätte, ihrem Charme und ihrer Anziehungskraft erliegen und darüber ihre eigenen Stärken vergessen müßte. Der Philosoph kann sich für manche Fragen interessieren, die das Phänomen der Musik aufwirft, ohne sich dabei der Musik entweder selbst anzuverwandeln oder aber der Versuchung zu erliegen, die Bedeutung von Musik auf den Begriff zu bringen und der Musik ihre Besonderheit zu rauben. Auch auf dem Gebiet der Musikästhetik, meine ich, kann die Philosophie einen Beitrag zur Klärung einiger grundlegender Fragen und Begriffe leisten. In einem ersten, einleitenden Kapitel möchte ich zunächst die Hauptthese und das zentrale Argument des Buchs in einer Kurzfassung vorstellen (1.1). Nach und nach sollen dann die zentralen Begriffe der vorliegenden Untersuchung eingeführt und erläutert werden: Was verstehen wir überhaupt unter »Musik«, und wie sollen wir uns den engen Zusammenhang vorstellen, der zwischen einem Musikstück und bestimmten Emotionen wahrgenommen wird (1.2)? Was sind eigentlich Emotionen, wie können wir sie gegenüber anderen mentalen Zuständen abgrenzen? In welchem Verhältnis stehen sie zu den vielfäl16 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Die Kernthese und das Argument
tigen Gestalten und Formen, in denen wir sie zum Ausdruck bringen (1.3)? Welche Bedeutung hat der Begriff »Ethik«, und worin besteht der Unterschied zwischen der »Ethik« und der »Moral«? Und in welchem Verhältnis stehen diese Begriffe zu den mentalen Zuständen, die wir »Emotionen« nennen (1.4)? Abschließend möchte ich die Frage aufwerfen und beantworten, was unter der ethischen Bedeutung eines Musikstücks zu verstehen ist. Was hat diese mit der ästhetischen Erfahrung bzw. dem ästhetischen Wert eines Werks zu tun (1.5)?
1.1 Die Kernthese und das Argument Eine vollständige Antwort auf die eingangs genannten Fragen würde umfangreiche Anstrengungen auf den Gebieten der Psychologie, der Soziologie, der Musikwissenschaft und der philosophischen Ethik und Ästhetik erfordern. Und während es in den letzten Jahren intensive Bemühungen um Ansätze zu möglichen Antworten gibt, sind wir noch weit von gesicherten und gut begründeten Ergebnissen entfernt. Aber selbst wenn sich nicht immer leicht Grenzen zu benachbarten Disziplinen ziehen lassen, versteht sich dieses Buch in erster Linie als ein Beitrag zur Erforschung eines Bereichs, den sowohl die allgemeine Ästhetik als auch die Philosophie der Musik in jüngster Zeit stark vernachlässigt haben. Schon unsere Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Ethik im allgemeinen bzw. von Musik und Ethik im besonderen kann auf verschiedene Weise verstanden werden. Beginnen wir daher mit einer Unterscheidung verschiedener Möglichkeiten, nach dem allgemeinen Verhältnis von Kunst und Ethik zu fragen. Eine erste Möglichkeit wäre es, von einem kausalen Zusammenhang auszugehen: Es könnten die empirischen Umstände der Produktion oder der Rezeption eines Kunstwerks sein, die seinen ethischen Gehalt festlegen. Die reale Intention des Künstlers oder der empirische Einfluß eines Kunstwerks auf den Rezipienten könnten also die ethische Bedeutung von Kunst bestimmen. So berichtet etwa Friedrich Nietzsche im Fall Wagner (KSA Bd. 6, 14) über seine Begegnung mit Bizets Oper Carmen: »[…] ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet. Auch ein besserer Musikant, ein besserer Zuhörer.« Ein Musikstück kann zweifelsohne bestimmte empirische Wirkungen entfalten, und diese Wirkung kann dann auch moralisch bewertet werden. Mit einer ästhetischen Erfah17 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Von der Expressivität zur Ethik
rung und Wertschätzung von Musik haben diese aber nicht notwendig etwas zu tun. Eine weitere Möglichkeit könnte darin bestehen, nach philosophischen Gemeinsamkeiten und Differenzen bei der Bedeutung und den Geltungsansprüchen moralischer und ästhetischer Urteile zu suchen (dazu: Reicher 2005, III. Ästhetische Eigenschaften, ästhetische Werturteile und ästhetische Gegenstände, v. a. 63 ff.). Ethische und ästhetische Urteile könnten etwa, so die Annahme der Vertreter einer antirealistischen oder anti-kognitivistischen Position in der Metaethik, die Gemeinsamkeit haben, lediglich aus Projektionen des Betrachters oder seinen subjektiven Urteilen hervorzugehen und deshalb auch weder wahr noch falsch zu sein. Eine vom Rezipienten unabhängige Grundlage für solche Urteile gibt es dieser Auffassung zufolge nicht. Ein metaethischer Kognitivist würde umgekehrt behaupten, daß sowohl ethische als auch ästhetische Urteile bestimmte Überzeugungen ausdrücken, die sich auf unabhängig vom Betrachter existierende Tatsachen beziehen und deshalb auch wahr oder falsch sein können (vgl. Miller 2003, 1.2 Cognitivism and Non-Cognitivism). Da ich mich hier für die Interaktion zwischen den ethischen und den ästhetischen Dimensionen der Musik interessiere, muß ich mich mit der Frage nach der Bedeutung von ethischen und ästhetischen Urteilen und eventuellen Parallelen zwischen ihnen nicht beschäftigen. Auch mit einer weiteren Frage sollte man das Problem der ethischen Bedeutung expressiver Musik nicht verwechseln. Man könnte etwa die Möglichkeit von Konflikten zwischen den Ansprüchen der Kunst und den Ansprüchen der Moral untersuchen: Handelte der Maler Paul Gaugin nicht unmoralisch, als er seine Familie verließ, um sich auf Tahiti, umgeben offenbar von vielen hübschen Mädchen, nur noch seiner Kunst zu widmen? Ist seine Handlungsweise vielleicht sogar zu rechtfertigen, obwohl sie unmoralisch war (vgl. Williams 1981, 2. Moral Luck)? Gibt es einen allgemeinen Vorrang der Moral gegenüber allen anderen Werten, sind also Pflichten gegenüber unseren Mitmenschen wichtiger als ästhetische Werte und Ideale? Oder ist umgekehrt die Kunst der höchste Wert des menschlichen Lebens, der dann alle anderen Werte – und mit ihnen auch die Moral – in ihre Schranken verweisen könnte? Obwohl diese Fragen wichtige Fragen der Philosophie sind, kommt ihnen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung doch nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Ihr Hauptaugenmerk soll sich vielmehr auf das Problem mög18 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Die Kernthese und das Argument
licher Interaktionen von Musik und Ethik richten. Wenn Musik als eine Manifestation und Artikulation von Emotionen wahrgenommen werden kann, dann liegt auch eine unmittelbarere ethische Relevanz der Produktion und Rezeption von Musik auf der Hand. Mit dem Ausdruck unserer Emotionen fordern wir unsere Mitmenschen in der Regel zur Anteilnahme auf. Wir laden sie zum Mitgefühl ein, wir möchten unsere Freuden und Leiden mit ihnen teilen. Mit unserer Gestik und Mimik geben wir anderen Personen zu verstehen, wie uns zumute ist; und die Kommunikation solcher Zustände ist auch ein wesentliches Anliegen vieler Kunstwerke. Zwar sollte die Expressivität eines Kunstwerks bzw. eines Musikstücks nicht als ein Emotionsausdruck einer realen Person verstanden werden; aber selbst expressive Gesten imaginärer Personen können als eine Aufforderung zu einer entsprechenden Anteilnahme an diesen Emotionen verstanden werden. Berys Gaut hat mich in einer persönlichen Mitteilung darauf hingewiesen, daß es trotz häufiger faktischer Koinzidenzen einen begrifflichen Unterschied zwischen der Expressivität eines Werks und der Aufforderung zur emotionalen Anteilnahme gebe: Eine Horrorgeschichte könne den Leser etwa zu einer Emotion der Furcht auffordern, ohne eine Emotion des »Horrors« oder der »Furcht« auszudrükken; schließlich, so Gaut, könne der Autor doch nicht vor seinen eigenen Kreaturen Angst empfinden. Überzeugt hat mich dieser Hinweis nicht. Die reale Emotion des Autors ist wohl keine notwendige Bedingung für eine entsprechende expressive Qualität eines Kunstwerks, das ja auch die Emotion eines imaginären, fiktiven Autors ausdrücken kann. Da mein Argument aber ohnehin nicht von einer begrifflichen Identifikation abhängt, kann ich mich mit der Annahme häufiger faktischer Konvergenzen von emotionaler Einladung und Expressivität begnügen (zum engen Zusammenhang zwischen Expressivität und Empathie vgl. auch Green 2007, 211; 2008, 117; Currie 2010, 7.6. Empathy). Immerhin scheint es eine kulturübergreifende Relation zwischen der Expressivität eines Gesichtsausdrucks und der Erregung von Empathie zu geben. So schreibt Martin Hoffman (2000, 278 f.): »[…] anyone in any culture who attends to a victim’s facial expression of distress will feel empathic distress […]. Mimicry, conditioning, and direct association must therefore be universal empathy-arousing processes, although cultures vary in how often these processes operate, owing to likely cultural variations in the extent to which different types of distress are experienced.« Auch mit der Präsentation
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Von der Expressivität zur Ethik
eines Gesichts in einem literarischen Werke, so Peter von Matt (2000, 229), wird »in der Mehrzahl aller Fälle […] ein ziemlich unverblümtes Sympathieoder Antipathiemuster geliefert […], über welches der Leser dann Taten und Leiden der Figur verfolgt und beurteilt und begrüßt und betrauert […]«.
Und wegen dieses engen Zusammenhangs zwischen der Wahrnehmung der Expressivität einer Geste und der Ausbildung einer Fähigkeit zur Empathie kann gerade auch expressive Musik eine ethische Bedeutung erlangen. Die Frage, die ich hier aufwerfen und beantworten will, zielt speziell auf diese ethische Dimension von Kunst: Können wir von Kunstwerken in ethischer Hinsicht auch etwas lernen? Können uns Kunstwerke ein praktisches Wissen vermitteln? Kann Musik dann auf unsere Lebensführung Einfluß nehmen? Kann sie einen Beitrag zur Stabilisierung oder Subversion politischer Institutionen leisten? Und vor allem stellen sich im Anschluß daran Fragen wie: Spielen ethische Aspekte auch bei der ästhetischen Erfahrung von Kunst eine Rolle, sind ethische Kriterien für die ästhetische Beurteilung von Kunstwerken relevant? Ist also die ethische Bedeutung eines bestimmten Musikstücks ein Gesichtspunkt, der bei der Beurteilung seines ästhetischen Werts berücksichtigt werden muß? Und wenn ja, auf welche Weise? Sicher wird man sich dabei zunächst Klarheit verschaffen müssen, was genau unter der »ethischen Bedeutung« eines Musikstücks zu verstehen ist; doch selbst Vertreter unterschiedlicher Auffassungen darüber, was es für ein Musikstück heißen mag, »ethisch bedeutsam« zu sein, können darin übereinstimmen, daß diese Qualität zu einem ästhetischen Vorzug eines Musikstücks beitragen kann (vgl. Kapitel 2). Diese Frage stellt sich natürlich nicht nur für die Philosophie der Musik, und deshalb muß in diesem Zusammenhang auch das allgemeine Verhältnis von Ethik und Kunst angesprochen werden. Es könnte schließlich sein, daß für die besondere Gattung Musik nicht gilt, was für andere Gattungen der Kunst zutrifft. In diesem Fall sollte es jedoch möglich sein, die Gründe für eine solche Sonderstellung der Musik zu benennen. Gibt es allerdings keine guten Gründe für eine Sonderstellung, dann wird für die Musik wohl gelten, was für die Kunst im allgemeinen gilt. In einem solchen Fall mag zwar die spezifische Art der ethischen Bedeutsamkeit von Musik von der ethischen Bedeutsamkeit von Kunstwerken anderer Gattungen abweichen. Die Literatur könnte sich beispielsweise eher für die Artikulation des Gerechtigkeitsgefühls 20 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Die Kernthese und das Argument
eignen, die Musik dagegen eher für eine Förderung des Einfühlungsvermögens mit anderen Menschen zuständig sein (vgl. Abschnitt 5.4). Auch diese Unterschiede sollten im Rahmen einer allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses von Musik und Ethik zur Sprache kommen. Dennoch sollten wir uns einiger Argumente bedienen können, die ganz allgemein für diese oder jene Sicht auf das Verhältnis von Kunst und Ethik sprechen. Was diese spezielleren Fragen angeht, die ich gerade angeschnitten habe, muß ich den Leser ohnehin noch um etwas Geduld bitten. Verraten sei an dieser Stelle bereits die zentrale philosophische These, die ich in diesem Buch präsentieren, näher erläutern, qualifizieren und gegen tatsächliche und mögliche Einwände verteidigen möchte. Denn meine Antwort auf die Ausgangsfrage nach einer möglichen ethischen Bedeutung von Musik lautet zu guter Letzt: Ja, man kann Musik eine ethische Bedeutung zuschreiben; und es gibt folglich auch gute Gründe für die Vermutung, daß Musik einen Einfluß auf die private und politische Orientierung des Menschen nehmen kann. Zur Begründung dieser These möchte ich jetzt einen dritten Grundbegriff ins Spiel bringen, der für die vorliegende Untersuchung gleichsam eine Scharnierfunktion einnimmt: den Begriff der »Emotionen«. Mein zentrales Argument für meine Hauptthese lautet nämlich, daß die ethische Bedeutung von Musik auf ihre expressiven Eigenschaften zurückgeführt werden kann. Die Bedeutung von Musik geht sicher nicht in ihrer Expressivität auf, und auch andere Eigenschaften der Musik können ethisch bedeutsam werden. Ich meine aber, daß ihre Expressivität die naheliegendste und die wichtigste Grundlage für die ethische Bedeutung der Musik ist. Die Frage, ob man auch von einer ethischen Bedeutung von Musikstücken sprechen kann, die keine expressiven Eigenschaften aufweisen, liegt jenseits des Horizonts der vorliegenden Untersuchung.1 Diese Begrenzung ist in meinen Augen aber insofern nicht besonders folgenreich, als ich mit vielen anderen Autoren annehSchon der formalen Dimension von Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen wird manchmal eine ethische Bedeutung zugeschrieben (vgl. Savile 1993, 7. Music; Walhout 1995, 14; Bordt 2009). Eine formalistische Kunst- bzw. Musikauffassung, die für eine Trennung zwischen emotionaler Rezeption und ästhetischer Wertschätzung von Musik plädiert, führt daher nicht zwangsläufig auch zu einer Separation von Ethik und Ästhetik! Gerade das Schöne wird ja traditionell in einem engen und teilweise sogar apriorischen Zusammenhang mit dem Guten gesehen (vgl. Nehamas 2007, 127). In ihrer starken, apriorischen Variante übersieht diese traditionelle Sicht jedoch, daß die 1
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Von der Expressivität zur Ethik
me, daß die Expressivität von Musik ein typisches und zentrales Merkmal eines großen Teils dessen ist, was wir als Musik ansehen.
1.2 Musik und ihre Expressivität Die Frage nach einer möglichen ethischen Bedeutung von Musik setzt zunächst eine klare Vorstellung des Begriffs »Musik« voraus. Was haben so unterschiedliche Werke wie Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier, Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni, Anton Bruckners 9. Symphonie, Igor Strawinskys Le sacre du printemps, Pierre Boulez’ Le marteau sans Maître, Brown Sugar von den Rolling Stones und Archeologia del telefono von Salvatore Sciarrino gemeinsam? Und worin unterscheiden sie sich – um wahllos einige Phänomene zu nennen, die wir nicht als Musik bezeichnen würden – vom Klingelton eines Telefons, von der Umlaufbahn eines Planeten, oder auch von Donatellos David, der im Museo del Bargello in Florenz steht? Diese Fragen teilen mit anderen philosophischen Fragen das Schicksal, auf den ersten Blick höchst künstlich zu erscheinen. Zum einen gibt es jedoch zahlreiche Grenzfälle, bei denen wir uns nicht mehr sicher sein können: Kann man John Cages berühmtes Stück 4’33’’ noch als Musik bezeichnen (dazu: Davies 2003, 1. John Cage’s ›4’33’’‹ : Is It Music?; Gann 2010; Kania 2010)? Und zum anderen mag es selbst bei unstrittigen Fällen unterschiedliche Begründungen für die Bezeichnung eines Gegenstands als »Musik« geben. Was also sind die Inhalte des Begriffs »Musik«? Läßt sich eine klare Grenze ziehen zwischen Phänomenen, die wir diesem Begriff zuordnen würden, und anderen Phänomenen, die wir nicht unter ihn subsumieren würden? Sehen wir uns einige Vorschläge von Musikern und Musikwissenschaftlern an: Viele Komponisten kennen keine philosophischen Skrupel und sind erfrischend unbekümmert. Karlheinz Stockhausen behauptet einfach, Musik sollte »vor allem klanggewordener Strom der überbewußten kosmischen Elektrizität« sein (zitiert nach Eggebrecht 1985, 22); und Wolfgang Rihm schreibt: »Musik ist Freiheit, auf die Zeit gesetzte Klang-Zeichen-Schrift« (zitiert nach Eggebrecht, ebd.).
Schönheit auch die Quelle einer besonderen Lust ist, damit verführen und deshalb in einen Konflikt mit dem »Guten« treten kann (ebd., 137).
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Eine »schöne« Definition der Musik gibt auch Marcel Duchamp (1992, 202): »Musik, das ist Kutteln gegen Kutteln – die Eingeweide antworten dem Katzendarm der Geige.« Und Duchamp kommt daher auch zu einer negativen Bewertung der Musik: »Es gibt eine so auf die Sinne bezogene Art von Lamentation, von Trauer und Freude, die genau der retinalen Malerei entspricht, vor der mir graust.« (Ebd.) Manche Musikwissenschaftler muß man im Vergleich dazu als übervorsichtig und denkfaul, wenn nicht gar als feige bezeichnen. Carl Dahlhaus (1985, 10 f.) zum Beispiel bezeichnet »einen universalen, einheitlichen Musikbegriff« als prekär und fragwürdig; er verhindere wichtige Differenzierungen zwischen der Zwölftonmusik und den »Produkten der musikalischen Unterhaltungsindustrie«; wichtiger als Gemeinsamkeiten seien Differenzierungen zwischen verschiedenen Arten von Musik (ebd., 16). Auch Christian Kaden (2004, 20) wendet sich gegen die »oberbegrifflichen Verallgemeinerungen« eines Musikbegriffs, und Hans Heinrich Eggebrecht (1985, 26) meint, es könne »eine voraussetzungsfreie, eine ungeschichtliche Antwort auf jene Frage nicht geben«. Große Erkenntnisfortschritte lassen sich mit diesen Ansätzen freilich nicht erzielen: Bei den Verlautbarungen vieler Komponisten kommt regelmäßig der Verdacht auf, daß sie zuletzt nur ihre eigene Musik im Sinn haben. Damit aber droht die Gefahr, daß der Begriff »Musik« nur noch einen stark eingeschränkten Phänomenbereich bezeichnet. Vielen Musikwissenschaftlern muß man dagegen vorwerfen, daß ihnen gar nicht mehr an einer klaren Abgrenzung des Gegenstands ihrer Wissenschaft gelegen ist. So schreibt Claus-Steffen Mahnkopf (2006, 243) zum gemeinsamen Buch Was ist Musik? von Eggebrecht und Dahlhaus ganz richtig: »Dessen Frage wird gerade nicht beantwortet. Es ist, als ob vor der Geschichte kapituliert würde.« Gewiß: Wir müssen zwischen verschiedenen Arten von Musik unterscheiden, aber der Begriff »Musik« erlaubt schließlich selbst eine wichtige Differenzierung, auf die wir nicht verzichten können. Unvorstellbar wäre es, der Forderung Dahlhaus’ nachzukommen und den Begriff »Musik« einfach ganz aus unserem Vokabular zu streichen! Wir sollten deshalb versuchen, sowohl die Skylla des Fundamentalismus mancher Komponisten (»Allein meine eigene Musik ist wirklich Musik!«) als auch die Charybdis des Relativismus vieler Musikwissenschaftler (»Die Vorstellungen von Musik sind zu unterschiedlich, als daß man sie auf einen einzigen Nenner bringen könnte!«) zu umschiffen, und uns um eine undogmatische und offene Analyse des Begriffs »Musik« be23 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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mühen, die dennoch den Anspruch einer allgemeinen Reichweite ihres Ergebnisses nicht scheut. Ihr Begriff sollte auf der einen Seite nicht zu exklusiv sein: Auch fremde und unverständliche Musik, ja sogar schlechte Musik kann man als Musik bezeichnen. Er sollte auf der anderen Seite aber auch nicht zu inklusiv sein: Es gibt bestimmte Gegenstände, die wir nicht mehr als Musikstücke ansehen können und wollen. So ist die Bewegung des Planeten Venus auf seiner Umlaufbahn kein akustisch wahrnehmbares Phänomen und deshalb wohl kaum ein Phänomen, das wir als Musik bezeichnen würden. Und wenn es zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen einen Dissens über den Anwendungsbereich des Begriffs »Musik« geben sollte, so kann man nicht kategorisch ausschließen, daß sich die eine oder andere Seite im Irrtum befindet. Auch die Inhalte der Moral sind umstritten, dennoch ist dieser Umstand kein guter Grund, auf einen Versuch zur Klärung des Begriffs der Moral zu verzichten. Vor allem ist er kein überzeugendes Argument für einen moralischen Relativismus, der alle moralischen Wertungen gelten läßt. Da einer Definition des Begriffs »Musik« nicht das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung gilt, nehme ich der Einfachheit halber eine Abkürzung und präsentiere einen Vorschlag von Jerrold Levinson: Er definiert Musik als »sounds temporally organized by a person for the purpose of enriching or intensifying experience through active engagement (e. g., listening, dancing, performing) with the sounds regarded primarily, or in significant measure, as sounds« (Levinson 1990, 273). Dabei sei der Begriff »sounds« in einem sehr weiten, »sounds and silences« umschließenden Sinne zu verstehen (ebd., 270 FN. 3; meine Hervorh.; vgl. auch Kania 2010, 348). Rainer Cadenbach (1978, I. Kapitel: Analyse und Definition der Begriffe »Musik«, »musikalisch«) macht einen ähnlichen Vorschlag, demzufolge Musik erstens ein akustisches Phänomen, zweitens ein vom Menschen gestaltetes Artefakt ist, das drittens einen spezifischen, von sprachlichen Zeichen unterschiedenen Sinn hat, bei dem »jedweder musikalische Inhalt mit seinem hörbaren Substrat koinzidiert.« Zum Begriff »Musik« siehe ferner Hamilton (2007, 2. The Concept of Music), Bicknell (2009, 10 ff.) und Kania (2010).
Werfen wir einen genaueren Blick auf drei Elemente von Levinsons Vorschlag. Musik ist erstens ein hörbares Phänomen, ihre Materialien sind Klänge, und diese Klänge erscheinen uns um ihrer selbst willen interessant. Diese Bestimmung ist nicht so selbstverständlich, wie sie klingen mag, denn als »Musik« wurden zu bestimmten Zeiten auch akustisch nicht wahrnehmbare Phänomene wie etwa die Bewegungen 24 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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der Himmelskörper bezeichnet. Noch Theodor W. Adorno (2005, 11; meine Hervorh.) spricht von einem »Ideal stummen Musizierens« und meint, »das ›Machen‹ von Musik« sei vielleicht »ebenso infantil wie lautes Lesen« (ebd., 13); und Charles Rosen macht in diesem Zusammenhang auf interessante Veränderungen des Musikbegriffs aufmerksam: »Das Musikverständnis hatte sich seit Bachs Zeiten radikal gewandelt. Für Mozart war es eine absolute Selbstverständlichkeit, daß die Musik in ihrer Ganzheit hörbar sein mußte, während dies für Bach noch schlicht irrelevant war.« (Rosen 2000, 21 f.) »Dem Gedanken des absolut Unhörbaren in der Musik konnte man zur Zeit der Wiener Klassik, als jede musikalische Linie tatsächlich oder doch wenigstens in der Vorstellung hörbar sein müßte, nichts abgewinnen. Mit Schumann aber trat er wieder nachdrücklich auf den Plan.« (Ebd., 23) Dennoch würden wir heute wohl daran festhalten wollen, daß die akustische Wahrnehmbarkeit ein unverzichtbares Element des Musikbegriffs ist. Musik beinhaltet zweitens, daß wir uns für zeitlich organisierte Klänge um ihrer selbst willen interessieren. Sicher können wir uns für Klänge auch um anderer Dinge willen interessieren, dann aber haben wir es eben nicht mehr mit Musik zu tun. Die gesprochene Sprache wäre ein Beispiel für eine Aufeinanderfolge von Klängen, die uns nicht um ihrer selbst willen interessieren, denn sie kann in aller Regel sehr leicht durch eine schriftliche Mitteilung ersetzt werden. So schreibt Eduard Hanslick (1989, 88): »Der wesentliche Grundunterschied besteht aber darin, daß in der Sprache der Ton nur ein Zeichen, d. h. Mittel zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden ist, während in der Musik der Ton eine Sache ist, d. h. als Selbstzweck auftritt.« Hans Heinrich Eggebrecht (1996, 546) meint ähnlich: »Der Ton der Musik ist zum Hören des Tons als Ton gemacht und in dieser Bestimmung frei von allem sonst.« Er fährt dann aber mit der strittigen und meines Erachtens falschen Behauptung fort: »Das zuallererst ist das Schöne an ihm beziehungsweise die Voraussetzung dafür, daß er das Element des Schönen sein kann. […] Was an ihm das Schöne ist: die Freiheit, nur zum Hinhören bestimmt zu sein und in dieser Daseinsbestimmung seine Erfüllung zu finden, gilt […] für die Musik im abendländischen Sinn.«
Musik wird drittens von Menschen gemacht, indem sie das jeweilige Klangmaterial auf eine bestimmte Art und Weise formen und organisieren (vgl. Blacking 1973, 11 f.; Floros 2000, 22); und sie wird außerdem von Menschen auf eine bestimmte Weise wahrgenommen und 25 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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rezipiert, denn Musik ist wesentlich immer auch auf Kommunikation angelegt. Man kann sie »als Nachricht vom Menschen für Menschen« (Lachenmann 1996, 72) verstehen und wird daher nicht jedes beliebige Geräusch – nicht jedes Zwitschern eines Vogels oder jedes Stottern eines Motors – als Musik bezeichnen. Geräusche können von einem Komponisten sicherlich in ein Musikstück mit aufgenommen werden. Selbst John Cage zieht eine klare Grenze zwischen den Geräuschen, die als Teile seines Stücks 4’33‚ anzuhören sind, und den Geräuschen, die nicht mehr dazu zählen. Im ersten Fall haben wir es eben nicht mehr nur mit einem reinen »Alltagsgeräusch«, sondern mit einem akustischen Phänomen zu tun, das in einem zeitlich organisierten Gebilde eine bestimmte Bedeutung annehmen kann. Wir haben demnach gute Gründe, an einer Unterscheidung zwischen bloßen Alltagsgeräuschen und akustischen Ereignissen mit einer musikalischen Bedeutung festzuhalten (vgl. Eggebrecht 1996, 547; Hamilton 2007, 4. The Sound of Music; Kania 2010, 348 f.). 2 Levinsons Definition wird meines Erachtens nun genau den beiden Kriterien gerecht, die ich oben für eine angemessene Bestimmung des Begriffs der Musik aufgestellt habe: Sie weist eine gewisse Offenheit auf, ist also nicht zu exklusiv und fundamentalistisch, so daß wir mit ihr zahlreiche Produkte anderer Kulturen ganz unproblematisch der Musik zuordnen können. Auch Menschen in anderen Kulturen produzieren und rezipieren zeitlich organisierte Klänge, die ihnen – und uns! – um ihrer selbst willen interessant erscheinen können. Gleichzeitig zwingt uns diese Definition nicht zum Verzicht auf eine allgemeingültige Unterscheidung zwischen Musik und Nichtmusik, sie nötigt uns also nicht zu einem Verzicht auf Differenzierungen und führt nicht zu einem begrifflichen Relativismus. Levinson (1990, 268) räumt durchaus ein, daß er zunächst nur »unseren« Begriff von Musik Siehe ferner Mahnkopf (2007, 67) über den Ausdruck des Unmenschlichen mittels musikalischer Geräusche: »Das Unmenschliche, das In-Humane, bedarf freilich eines anderen Klangmaterials, eines, das die Fremdheit, die von außen kommende Feinseligkeit, die Bedrohlichkeit seitens einer unbekannten Macht, auszudrücken vermöchte. Eine Möglichkeit sehe ich in Geräuschen, und zwar in harten und schmerzhaften, und darin, sie mit Mitteln der fortgeschrittenen Elektronik zu entstellen.« Dabei sollte man nicht vergessen, daß es nur allzu humane Geräusche – das Pochen des Herzens, den menschlichen Atem – gibt, die ein hohes Potential an Expressivität aufweisen. Bei Salvatore Sciarrino und Beat Furrer etwa spielen musikalische Nachahmungen solcher Geräusche eine wichtige Rolle.
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expliziere und damit beschreibe, wie wir – Personen, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur sozialisiert wurden – über Musik denken: »The concept to be explicated will […] be that possessed by twentieth-century Westerners, but it is one intended to have application to phenomena all over the world.« Der Umstand jedoch, daß wir von einer bestimmten Kultur geprägt sind, muß uns nicht an einer Offenheit gegenüber kulturellen Phänomenen aus anderen Kulturen hindern. Die unleugbaren Schwierigkeiten der Bestimmung eines universellen Begriffs von Musik müssen uns also nicht von der Klärung unseres eigenen Verständnisses von Musik abhalten, und es ist auch nicht ausgeschlossen, daß sich dieser aus unserem Selbstverständnis entwickelte Begriff auch zur Bezeichnung bestimmter Phänomene aus anderen Kulturkreisen eignet. Manche Phänomene sowohl in unserer eigenen Kultur als auch in anderen Kulturen würden wir nicht als Musik bezeichnen, und es ist keine kulturimperialistische Haltung, wenn man auf der grundsätzlichen Möglichkeit einer solchen Unterscheidung besteht. Allein der von einer alternativen Definition des Begriffs »Musik« ausgehende Hinweis, eine bestimmte Aktivität von Mitgliedern anderer Kulturen zähle auch zur Musik, kann nicht als echter Einwand gelten. Man kann nämlich immer die Rückfrage stellen: Wie sieht diese »alternative Definition« genau aus? Und sobald diese alternative Definition dann vorliegt, bleiben nämlich zwei Möglichkeiten offen: Wir könnten uns entweder veranlaßt sehen, unsere eigene Definition entsprechend zu modifizieren oder zu erweitern, um einen neuen Aspekt von Musik zu berücksichtigen; oder aber wir kommen zum Schluß, diese »Alternativdefinition« beziehe sich nicht mehr nur auf »Musik« in unserem Sinne, sondern gebe uns vielleicht einen Begriff von »Nusik« oder »Pusik« an, der nurmehr teilweise mit unserem Begriff von »Musik« übereinstimme. Wir selbst würden dann daran festhalten können, daß diese besondere Aktivität eben nicht mehr als »Musik« bezeichnet werden sollte. Dabei muß mit dieser begrifflichen Ausgrenzung übrigens durchaus kein (negatives) ästhetisches Werturteil verbunden sein! Im Gegenteil: Es könnte auch viele interessante und wertvolle »Nusik-« oder »Pusikstücke« geben. Ausgehend von diesem allgemeinen Begriff »Musik« können und müssen wir sicherlich mehrere Differenzierungen innerhalb des mit ihm abgegrenzten Bereichs vornehmen. Es gibt überhaupt keinen Grund für Dahlhaus’ Annahme, der Kollektivsingular »Musik« stehe 27 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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diesen Unterscheidungen im Wege oder schließe sie aus. Sinnvollerweise sollte man deshalb zwischen einem allgemeinen Begriff »Musik« und verschiedenen Konzeptionen von »Musik« unterscheiden (dazu in einem anderen Zusammenhang: Rawls 1975, 26 f.). Ihr Begriff erlaubt es uns, bestimmte Phänomene der »Musik« zuzurechnen und von anderen Phänomenen abzugrenzen; die verschiedenen Konzeptionen von Musik geben uns an, welche Arten von Musik es geben kann und aus welchen Gründen wir die eine oder andere Art eher als Musik ansehen würden (vgl. Levinson 1990, 277). An erster Stelle sollte man den Unterschied zwischen reiner Instrumentalmusik und Vokalmusik ansprechen. Dieser Unterschied ist für die vorliegende Untersuchung insofern wichtig, als sich die Frage nach der ethischen Bedeutung dieser beiden Musikarten unter unterschiedlichen Vorzeichen stellt: Der Text eines Liedes kann unmittelbar bestimmte moralische oder ethische Themen ansprechen, und wir werden uns sicherlich sehr viel leichter tun, von der ethischen Bedeutung eines Liedes als der eines Streichquartetts zu sprechen. Die ethische Bedeutung der Vokalmusik kann – zum Teil! – mit der ethischen Bedeutung von Literatur verglichen werden. Doch auch ein Lied fällt unter unsere Definition von Musik. Die musikalische »Begleitung« eines Textes wird uns eben nicht nur als Mittel zu einem ihr fremden Zweck erscheinen, wir werden uns vielmehr auch bei Liedern für musikalisch organisierte Klänge um ihrer selbst willen interessieren. Warum singen wir beispielsweise eine Gratulation zum Geburtstag und begnügen uns nicht mit einem verbalen Ausdruck unserer Glückwünsche? Könnten wir mit Worten unsere Wünsche für das Geburtstagskind nicht sehr viel präziser benennen? Ebenso geben wir anderen Gelegenheiten wie Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen oft einen »musikalischen Rahmen«. Offenbar bringt die Musik hier eine neue Dimension ins Spiel, die der Sprache allein abgeht, und offenbar involviert die Musik unsere Emotionen auf eine Art und Weise, die über verbale Äußerungen weit hinausreicht. Nicht selten reagiert die Musik dabei mit ihren eigenen, spezifisch nonverbalen Mitteln auf die verbalen Aussagen eines Liedes und kommentiert die expliziten Aussagen des Textes in ihrer eigenen »Sprache«. 3 Diese Reaktionen und Kommentare der Musik können dann auch eine eigenständige ethische 3 Vgl. Kinderman (1986, 66) und Kramer (1998, 48 f.) über Schuberts Erlkönig sowie Ford (1991, 187 f.) über Dorabellas halbherzigen Widerstand gegenüber Guglielmos
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Bedeutung über den Text hinaus annehmen, sie können die Bedeutung des Textes verstärken oder diese auch konterkarieren. Selbst wenn im Falle der Instrumentalmusik die Frage nach der ethischen Bedeutung von Musik klarer fokussiert erscheinen mag – wir werden nicht durch einen Text von den zeitlich organisierten Klängen »abgelenkt« –, so stellt sich unser Hauptproblem doch auf gleiche Weise wie für Exemplare der Vokalmusik. Oft wird zwar der sogenannten »absoluten Musik«, der »reinen Instrumentalmusik«, ein höherer Stellenwert eingeräumt. »[…] nur was von der Instrumentalmusik behauptet werden kann«, schreibt Eduard Hanslick (1989, 33), »gilt von der Tonkunst als solcher. […] Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es, denn nur sie ist reine, absolute Tonkunst.« Dazu kann man stehen, wie man möchte; jedenfalls schließt unser Begriff der Musik die Vokalmusik nicht aus (zur Kritik der allseits grassierenden »Autonomania« in der Musikphilosophie vgl. Ridley 2004, Introduction: Music from Mars und 169), und daher gibt es keinen guten Grund, nicht auch nach dem spezifischen Beitrag der »Begleitmusik« zu einer eventuellen ethischen Bedeutung dieser Werke zu fragen. Weiterhin wird häufig zwischen der ernsten Musik und der sogenannten Unterhaltungsmusik unterschieden; und auch diese Unterscheidung ist für unsere Untersuchung insofern von großer Bedeutung, als viele Autoren den jeweiligen Exemplaren dieser Sparten unterschiedliche expressive Eigenschaften, ethische Bedeutungen und ästhetische Qualitäten zuschreiben. Carl Dahlhaus (1985, 11; meine Hervorh.) spricht sogar von einer Realität, »die von der Dichotomie zwischen E- und U-Musik bestimmt wird«. Dagegen muß man einwenden, daß die Rede von einer »Dichotomie« zwischen diesen beiden Sparten heute als überholt gelten kann. Zwar erfüllt auch diese begriffliche Unterscheidung einen sinnvollen Zweck und hat deshalb ihre begrenzte Berechtigung; dennoch sind die Übergänge in der Realität fließend. Helmut Lachenmann (1996, 70) spricht zwar von »der schwachsinnigen Behauptung von der unzulässigen Unterscheidung von ernster und Unterhaltungsmusik«. Er schreibt: »Das Wort von der Unterschiedslosigkeit von Eund U-Musik gehört zur Strategie der Blödmacherei.« Vollkommen richtig: Avancen in Mozarts Così fan tutte: »When Dorabella said ›no‹ to Guiglielmo […], the music made it perfectly clear that she really meant ›yes‹.«
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Unterschiede sind die unverzichtbare Voraussetzung für klares Denken; aber dennoch rechtfertigt nicht jeder Unterschied die Rede von einer »Dichotomie« bzw. von zwei radikal getrennten Sphären. Sicherlich wird man einräumen müssen, daß es zwischen seichter, kommerzieller Gebrauchsmusik, »die sehr bewußt der Nachfrage nach Glücks-Versprechen dient, und die wider besseres Wissen ein intaktes Ich setzt, einfach, um freundlich Du sagen zu können«, und anspruchsvoller Kunstmusik, »in welcher das Subjekt sich ausdrückt, das heißt: sich einschließlich seiner Widersprüche und seiner Utopien erfahrbar macht« (ebd.), einen tiefen Graben gibt. Die Musik Heinos oder Richard Claydermans hat also schwerlich den gleichen künstlerischen Rang wie die Musik Helmut Lachenmanns oder Enno Poppes. Gleichzeitig sind die Grenzen aber zumindest durchlässig geworden. Die Lieder Bob Dylans und Neil Youngs wird man nicht auf eine Ebene mit den Liedern Heinos stellen können (für weitere Beispiele künstlerisch anspruchsvoller Unterhaltungsmusik vgl. Scruton 1997, 469); und umgekehrt sind einige Werke des Minimalismus nicht ohne weiteres der E-Musik zuzurechnen. Richard Taruskin (2009, 11; meine Hervorh.) sagt ganz richtig: »Whatever one may think of it […], the music of Glass and Reich represents a style that is undeniably at once avant-garde and popular.«
Auch was die Bewertung einzelner Werke aus diesen beiden Sparten angeht – und oftmals dienen die Abgrenzungen zwischen E- und U-Musik ausschließlich entsprechenden Auf- oder Abwertungen –, sollte man sich vor pauschalen und voreiligen Urteilen hüten: Es gibt auf der einen Seite gute Rocksongs von den Rolling Stones, Jimi Hendrix oder Deep Purple sowie wunderbare Jazzimprovisationen von Dexter Gordon, Sonny Rollins oder Branford Marsalis; und auf der anderen Seite gibt es absolut unverständliche und sterbenslangweilige Avantgarde-Kompositionen, die wirklich keinen besonderen ästhetischen Wert für sich in Anspruch nehmen können. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung möchte ich jedenfalls davon ausgehen, daß sich die Frage nach einer ethischen Bedeutung und einem ästhetischen Wert – wenn auch auf unterschiedliche Weise – sowohl für Werke der ernsten Musik als auch für Werke der Unterhaltungsmusik stellt. Innerhalb der Kategorie der sogenannten E-Musik wird heute zusätzlich oft zwischen Alter Musik, klassischer Musik und Neuer Musik unterschieden: Die Musik aus der Zeit zwischen ca. 1600 und 1945 bezeichnet man als klassische europäische Kunstmusik. Grob gesprochen wird man den Beginn dieses Zeitalters auf die ersten Opern Claudio Monteverdis und sein Ende auf die ersten seriellen Kompositionen von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen datieren können. Musik 30 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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– man müßte genauer sagen: eine bestimmte Form von Musik – nach 1945 wird dagegen häufig als Neue Musik bezeichnet 4 ; und Musik vor 1600 wird dann gerne als Alte Musik bezeichnet. Über den genauen Verlauf der Grenze müssen wir uns hier nicht streiten: Denn zum Teil wird man den Beginn von Neuer Musik bereits um 1910 mit den ersten atonalen Kompositionen von Arnold Schönberg ansiedeln wollen, und zum Teil wird man auch noch bis ins 17. Jahrhundert hinein von Alter Musik sprechen können. Wesentliches Merkmal für die europäische Kunstmusik in dem genannten Zeitraum bleiben jedenfalls die Tonalität und die Funktionsharmonik. Da diese Merkmale vor allem in der seriellen Musik nach 1945 zunächst radikal in Frage gestellt wurden, konnte man zunächst von einem radikalen Bruch ausgehen – obwohl sich die Wogen inzwischen wieder etwas geglättet haben, die Übergänge fließend geworden sind und die Tonalität längst kein Tabu mehr ist. Im Abstand von nun 100 Jahren werden zunehmend wieder die Gemeinsamkeiten der Neuen Musik der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit der klassischen europäischen Kunstmusik wahrnehmbar (vgl. Taruskin 1997, 369). Selbst wenn man die Rede von einem »Bruch« als gerechtfertigt ansieht, spielt aber auch die Unterscheidung zwischen »klassischer Musik« und »Neuer Musik« für die vorliegende Untersuchung nur eine marginale Rolle: Zum einen ist die sogenannte U-Musik – sieht man von Einflüssen Neuer Musik auf Jazz und Pop ab – von diesem Bruch kaum berührt; und zum anderen gibt es zunächst gar keinen Grund, warum man nicht auch von einer ethischen Bedeutung der Neuen Musik sprechen können sollte. Tatsächlich mag man mit einer »Krise« der musikalischen Expressivität in der Neuen Musik ihre Möglichkeiten zur Artikulation von »Subjektivität« und im Anschluß daran ihre ethische Bedeutung in Frage gestellt sehen. Zur Selbstthematisierung der Subjektivität in der Musik der Moderne siehe insbesondere Albrecht v. Massow (2001, 78 ff. und 257 ff.) sowie Walter Bühl (2004, 126 ff.); und zur Konstruktion eines bürgerlichen, zugleich autonomen und sensiblen Subjekts im 1. Satz von Mozarts Prager Symphonie siehe die Analyse von Susan McClary (1994). Siehe außerdem Lawrence Kramer (1995, 21): »[…] music participates actively in the cultural construction of Zur Fragwürdigkeit des Begriffs »Neue Musik« siehe allerdings schon Schönberg (1992, 41 ff.). Er spricht von einem bloßen »Schlagwort«, einem »Kampfruf« und meint, alle wahre Kunst sei letztlich »Neue Kunst« und alle Musik »Neue Musik«.
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subjectivity.« Aus diesem Grund, so Helmut Lachenmann (1996, 111), unterscheide sich die abendländische Musik, »in der sich das Ich als Individuum, als eigenwilliger Geist zu erkennen gibt, indem es sich in die Ungeborgenheit der Reflexion vorwagt« auch »von Grund auf von der Musik anderer Kulturen, wo sie – durchweg kultisch gebunden – ihre magische Rolle beibehalten hat«. Ohne hierfür gute Belege anführen zu können, wage ich doch, an dieser allzu simpel wirkenden Gegenüberstellung ein Fragezeichen anzubringen.
Dennoch möchte ich vor voreiligen Verallgemeinerungen warnen: Es kann nicht als ausgemacht gelten, daß die Neue Musik und mit ihr die Abwendung von der Tonalität und der traditionellen Funktionsharmonik zu einer allgemeinen Krise des expressiven Potentials von Musik geführt haben – und allein dieses ist für meine weiteren Überlegungen entscheidend. Wenn diese Fähigkeit in der Neuen Musik nur noch in abgeschwächter Form vorliegen oder ganz verschwunden sein sollte, wäre damit zumindest eine Grundlage ihrer ethischen Bedeutung in Frage gestellt. Doch zu dieser Annahme gibt es in meinen Augen keine Veranlassung. Sowohl der Vokal- als auch der Instrumentalmusik, sowohl der sogenannten E-Musik als auch der sogenannten U-Musik wird man expressive Eigenschaften zuschreiben können; und auch Werke der Neuen Musik bilden hier keine Ausnahme. Umstritten ist heute, wie die Rede von emotionalen Eigenschaften eines Musikstücks erklärt oder verstanden werden soll: Einem Musikstück kann man schließlich keine Emotion der Freude oder der Trauer zuschreiben. Doch daß viele Musikstücke expressive Eigenschaften haben und daß die Wahrnehmung dieser Eigenschaften auch für ein angemessenes Verständnis und eine entsprechende Wertschätzung von Musik wesentlich sind – das jedenfalls wird heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. 5 Strittig bleibt zudem, ob die Anwesenheit expressiver Eigenschaften auch ein notwendiges Element für jede Art von Musik ist. Hans Heinrich Eggebrecht (1985, 41) scheint das zumindest für die Musik im »europäischen Sinne« anzunehmen: »Musik im europäischen Sinne Selbst wenn viele »Musikwissenschaftler und Ästhetiker«, so Gustav Falke (1997, 62), »nicht müde [werden], die Ausnahmestellung der Musik zu behaupten« und die Auffassung vertreten, »Noten und Töne könne man nicht ansehen, was sie ausdrücken«, so redet »in Wahrheit […] jeder ganz selbstverständlich davon, daß ein Stück heiter oder melancholisch sei«. Falke fügt auch ganz richtig hinzu: »Daß man sich über den Ausdruck streiten kann, wäre kein Einwand. Musik ist eben interpretierbar und interpretationsbedürftig […].« (Vgl. auch Rosen 2010, 5.)
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ist mathematisierte Emotion oder emotionalisierte Mathesis.« »Musik im abendländischen Sinne ist geprägt durch rationalisierte Emotion und emotionalisierte Rationalität.« (Eggebrecht 1996, 40 f.) Diese Annahme läßt sich aber in zweierlei Hinsicht in Frage stellen: Zum einen scheint sie mir viel zu weit, denn sicherlich gibt es »mathematisierte Emotionen« auch in anderen Künsten; und zum anderen ist diese Definition viel zu eng, denn auch zeitlich organisierte Klänge, denen entweder das emotionale Element (z. B. serielle oder aleatorische Musik) oder das mathematische Element (z. B. romantische Musik) abgeht, kann man noch als Musik bezeichnen. Was dann ihre Erklärung angeht, lautet mein eigener Vorschlag, daß sich die Expressivität von Musik als das Resultat der ein- und mitfühlenden Imagination des Hörers, d. h. als das Produkt der emotionalen Phantasie eines aufmerksamen Rezipienten verstehen läßt. Der Hörer stellt sich dieser Auffassung zufolge eine mehr oder weniger deutlich individuierte Person vor, die ihre Emotionen in dem betreffenden Musikstück zum Ausdruck bringt. Das ist der Kerngedanke der sogenannten Persona-Theorie der musikalischen Expressivität (vgl. Rinderle 2010, 5. Gesten einer imaginären Person …), bei der die Phantasie des Hörers eine zentrale Bedeutung hat. Obwohl die emotionale Erregung oder Assoziation des Hörers nicht die Grundlage der Zuschreibung von expressiven Eigenschaften bilden, ist eine emotionale Resonanz beim Hörer dennoch eine wichtige Begleiterscheinung bei der Wahrnehmung expressiver Musik (vgl. Rinderle 2010, 6. … und emotionale Antworten des Hörers). Die expressiven Eigenschaften eines Musikstücks sind nicht nur beliebige Eigenschaften, die wir zur Kenntnis nehmen können oder auch nicht, sondern tragen zum Verständnis und zum ästhetischen Wert eines Musikstücks bei. Und wenn dessen ästhetische Vorzüge unter anderem von seinen ethischen Eigenschaften abhängig sein können, dann gibt es auch eine Interaktion der ethischen und ästhetischen Dimensionen von Musik (vgl. Kapitel 2). Halten wir den Zwischenstand unserer Überlegungen fest: Die Ausgangsfrage lautet, worin eine mögliche ethische Bedeutung von Musik bestehen könnte. Zum einen habe ich diese Frage bereits auf expressive Musik eingeschränkt, ohne doch kontroverse Vorannahmen in bezug auf das expressive Potential verschiedener Musikarten vorauszusetzen. Zum anderen habe ich vorgeschlagen, die expressiven Eigenschaften von Musik als Resultat der ein- und mitfühlenden Phantasie des Hörers und seiner Imagination einer musikalischen persona 33 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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zu verstehen. Mit diesen Annahmen können wir unsere Frage bereits etwas präzisieren: Welche ethische Bedeutung kommt der Annahme zu, ein Musikstück lade dazu ein, sich eine fiktive Person vorzustellen, die dort ihre Emotionen zum Ausdruck bringt? Daß die Begegnung mit einer sei es realen, sei es fiktiven Person, die durch bestimmte Gesten auch ihre Emotionen zum Ausdruck bringt, eine bestimmte ethische Bedeutung haben kann, wird sehr viel weniger merkwürdig klingen als nur die ungenaue und vieldeutige Rede von einer ethischen Bedeutung von Musik. Nach wie vor bleibt an dieser Stelle aber offen, warum denn »Emotionen« und ihr »Ausdruck« in irgendeiner Weise ethisch bedeutsam sein sollen. Schon die Begriffe »Emotion« und »Ethik« schillern in zahlreichen Facetten und lassen sich unterschiedlich verstehen.
1.3 Emotionen und ihr Ausdruck Es gibt unterschiedliche Arten von Musik, und die Eigenschaften, die diese Arten trotz aller Unterschiede gemeinsam haben, garantieren nicht, daß alle Menschen den gleichen Zugang zu den verschiedenen Musikstilen und -richtungen haben. Viele Werke der Neuen Musik entziehen sich einer leichten Konsumierbarkeit, und auch eine neue Einspielung der Streichquartette von Joseph Haydn oder der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven wird nicht die gleichen Verkaufszahlen erzielen wie – um drei der meistverkauften Tonträger des Jahres 2008 in Deutschland zu nennen – die neuen Alben Back to Black von Amy Winehouse, Black Ice von AC/DC oder Death Magnetic von Metallica. Wesentlich ist dabei jedoch die Tatsache, daß ein großer Teil der Musik, über alle Unterschiede zwischen verschiedenen Musikarten hinweg, den Hörer in emotionaler Hinsicht anspricht. Gerade im Vergleich zur Malerei oder zur Literatur scheint die Musik die Emotionen ihrer Rezipienten in sehr viel stärkerem Maße zu berühren. Dieser Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen ist der Philosophie seit langer Zeit bekannt, und er ist seit kurzem auch Gegenstand intensiver Forschungen in der empirischen Musikpsychologie (vgl. Juslin/Sloboda 2001; Scherer/Zentner 2001; Rötter 2005; Sloboda 2005; Juslin/Västfjäll 2008). Unklar bleibt bisher, wie er zu erklären ist: Stehen akustische Reize in einem engeren Zusammenhang mit unseren Emotionen als visuelle Reize? Oder steht die Musik in einem 34 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Emotionen und ihr Ausdruck
besonders engen Zusammenhang mit unserem Willen? Arthur Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 2, Kap. 39, 574; Hervorh. i. O.) meint dazu: »Wie die Musik nicht gleich allen andern Künsten die Ideen oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d. i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht oder auch umstimmt.« Schon der Erzformalist Hanslick (1989, 103) räumt ein: »Musik wirkt auf den Gemütszustand rascher und intensiver als irgend ein anderes Kunstschöne. Mit wenigen Akkorden können wir einer Stimmung überliefert sein.« Um uns unserem Ziel Schritt für Schritt anzunähern, sollten wir uns zunächst um ein klares Verständnis der Begriffe »Emotionen« und »Ausdruck« bemühen. Beginnen wir mit einigen Selbstverständlichkeiten: Emotionen sind ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens. Wir können uns recht leicht vorstellen, wie ein Leben ohne emotionale Beteiligung der betroffenen Person aussehen würde. Mr. Spock, der Erste Offizier des Raumschiffs Enterprise, verfügt über einen äußerst scharfen Verstand, den Gefühlsausbrüchen seines temperamentvollen Kollegen, des Chefarztes Dr. McCoy (»Pille«), kann er aber nur mit einer Mischung aus Verwunderung und wohl auch einer kleinen Prise Arroganz begegnen. Spock mag sich über die Kraft der Emotionen wundern, übersieht dabei jedoch, daß sie für die Orientierung unseres Handelns unverzichtbare Dienste leisten. So konnte der Psychologe Antonio Damasio beobachten, daß Personen, die nicht (mehr) emotional auf bestimmte Ereignisse reagieren können, unter einer eklatanten Entscheidungsschwäche leiden. Mit ihren Emotionen haben diese Menschen anscheinend auch die Fähigkeit verloren, Ereignisse zu bewerten und sich um eine Veränderung ihrer Situation bzw. die Verfolgung bestimmter Ziele zu bemühen. Sie können zum Beispiel gefährliche Situationen zwar als solche erkennen, zeigen aber keine emotionalen Regungen und sind deshalb auch nicht zu »normalen« Reaktionen motiviert (Damasio 1999, 67). Interessant ist darüber hinaus, daß die Fähigkeit zur eigenen Empfindung von Emotionen unmittelbar mit der Fähigkeit zur Wahrnehmung und Identifikation der expressiven Qualitäten der Gestik und Mimik anderer Personen verknüpft zu sein scheint:
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»Nehmen wir bei anderen Schmerz oder Ekel wahr, so werden dieselben Bereiche der Großhirnrinde aktiviert, die beteiligt sind, wenn wir selbst Schmerz oder Ekel empfinden.« (Rizzolatti/Sinigaglia 2008, 15; meine Hervorh.) Verschiedene Daten deuten darauf hin, »daß das Empfinden von Ekel und das Wahrnehmen von Ekel bei anderen ein gemeinsames neurales Substrat haben« (ebd., 182) und »daß die Unfähigkeit, die emotionalen Reaktionen der anderen zu erkennen, eng mit der Unfähigkeit zusammenhing, diese selbst zu empfinden« (ebd., 185). Auch Antonio Damasio (1999, 61 f.; meine Hervorh.) schreibt: »[…] the amygdala, which sits in the depth of each temporal lobe, is indispensable to recognizing fear in facial expressions, to being conditioned to fear, and even to expressing fear.« Aus einer anderen Perspektive spricht Martin Dornes (2005, 26) auch von einem »Intersubjektivitätsdefizit« von Autisten, die mit der Unfähigkeit einhergeht, Emotionen und deren Ausdruck bei anderen Personen zu erkennen. Und Michael Tomasello (1999, 75 f.; meine Hervorh.) schreibt über den Entwicklungssprung von Kleinkindern im Alter von acht bis neun Monaten: »When they begin understanding themselves as intentional agents […], that is how they understand other persons as well. […] My hypothesis is simply that children make the categorical judgment that others are ›like me‹ and so they should work like me as well. There is no claim that in specific situations children can gain conscious access to their own mental states more easily than they can discern what another person’s specific mental states might be; they simply perceive the other’s general manner of functioning via an analogy to the self […].«
Nach einer vollständigen Klärung des Begriffs des »emotionalen Ausdrucks« werden uns diese Phänomene nicht mehr überraschen können. Wir werden nämlich sehen, daß der Ausdruck einer bestimmten Emotion in der Gestik und Mimik einer Person als ein integraler Bestandteil dieser Emotion verstanden werden muß. Eine emotionale Inkompetenz wird daher nicht nur mit einer expressiven Inkompetenz einhergehen, sondern darüber hinaus auch ein Defizit empathischer Fähigkeiten zur Folge haben. Diese spezifische Inkompetenz mancher Personen geht darüber hinaus mit einem gravierenden Problem einher. Dem »normalen« Menschen kann seine Freude an dem Bestehen einer Prüfung etwa signalisieren, daß sich sein Arbeitsaufwand gelohnt hat; seine Trauer über den Verlust eines Freundes kann ihm auch eine Auskunft über seine große Wertschätzung dieser Person geben; und seine Angst vor einem wilden Löwen kann es ihm ratsam erscheinen lassen, sich so schnell wie möglich nach Möglichkeiten zur Flucht umzusehen. Ohne die Fähigkeit zu diesen emotionalen Reaktionen würde sich die Bedeutung dieser Szenarien jeweils in einem anderen Licht präsentieren, und ein wesentlicher Aspekt dieser Situationen würde uns so verborgen 36 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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bleiben. Man kann deshalb auch von einer welterschließenden Funktion der Emotionen sprechen: Sie versorgen uns mit bestimmten Einsichten, die uns auf andere Weise gar nicht zugänglich wären. Wenn wir uns nun einer Bestimmung des Begriffs »Emotion« zuwenden, müssen wir wieder darauf achten, daß wir ihn weder zu eng noch auch zu weit ansetzen. Sicher sollten wir dabei unseren analytischen Ehrgeiz im Zaum halten, denn er könnte an den Rändern vage und »ausgefranst« sein. Dennoch sollten wir zum einen in der Lage sein, die wichtigsten typischen Phänomene, die wir zu den Emotionen rechnen, mit unserer Begriffsklärung zu erfassen; zum anderen sollten wir gleichzeitig eine Emotion von anderen, womöglich ähnlich erscheinenden Phänomenen unterscheiden können. Da ich hier keine Rekonstruktion der gegenwärtigen Philosophie der Emotionen (dazu: Solomon 1993; Goldie 2000 und 2010; Roberts 2003; Döring 2009) leisten kann, werde ich wieder einen Vorschlag aufgreifen, dem heute viele Autoren zustimmen würden. Eine Emotion, so lautet der Kerngedanke, ist ein mentaler Zustand, der sich aus einer Kombination von kognitiven, affektiven und motivationalen Komponenten zusammensetzt (vgl. Levinson 1990, 312 f.): Sie bezieht sich auf einen Sachverhalt und nimmt eine Bewertung dieses Sachverhalts vor; das ist ihre kognitive Komponente. Sie umfaßt darüber hinaus bestimmte Empfindungen oder Gefühle, die mehr oder weniger angenehm bzw. lustvoll sind; darin besteht ihre affektive Komponente. Und eine Emotion kann uns nicht zuletzt auch zu einer bestimmten Handlung bewegen; das ist ihre motivationale Komponente. Zwei weitere, sehr prägnante Formulierungsmöglichkeiten sollen noch angeführt werden, die in eine ähnliche Richtung weisen, dabei aber jeweils einen anderen Aspekt besonders hervorheben: Zum einen gilt eine Emotion als ein Gedanke, der von einem Gefühl der Lust oder der Unlust begleitet wird. Malcolm Budd (1985, 5) versteht eine Emotion in diesem Sinne »as a thought experienced with pain or pleasure«. Und das bedeutet: »Two episodes will be instances of the same kind of emotion only if they involve the same thought and the same form of pleasure or pain.« Zum anderen werden Emotionen von Autoren wie Rosalind Hursthouse (1999, 111), Martha Nussbaum (2001, 1. Emotions as Judgements of Values) und David Pugmire (2005, 16) auch als Wahrnehmungen von Werten oder praktischen Gründen verstanden; Berys Gaut (2007, 224) schreibt etwa, »emotions involve evaluative thoughts«, und Christine Korsgaard (2009, 112) bezeichnet Emotionen als »perceptions of reasons«.
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Mit dieser allgemeinen Charakterisierung einer Emotion ist eine doppelte Abgrenzung möglich: Auf der einen Seite sind Emotionen mehr als bloße Überzeugungen und Gedanken. Der Kognitivist Robert Solomon (1993, 126) schreibt zwar: »A change in my beliefs […] entails […] a change in my emotion […].« Würde man aber eine Emotion auf diese Weise auf ihre kognitive Komponente begrenzen, wären manche Phänomene, die man als das Resultat einer kognitiven Widerspenstigkeit von Emotionen verstehen muß, völlig unverständlich (vgl. Goldie 2000, 76 und 110 f.; Moran 2001, 54). Zum Beispiel: Auch wenn eine Person nicht der Überzeugung ist, daß Fliegen gefährlich ist, kann sie sich in manchen Fällen nicht von ihrer Angst vor dem Fliegen befreien. Rein kognitiv läßt sich diese Angst nicht mehr verstehen oder erklären; das affektive Moment einer Emotion kann gleichsam ein Eigenleben führen, eine »charakteristische Trägheit« aufweisen und sich der »Kontrolle« durch das rein intellektuell-kognitive Moment entziehen (vgl. Hursthouse 1999, 110; DeSousa 2009, 29). Daher ist die etwas ungenaue und klärungsbedürftige Rede von einer irrationalen Seite der menschlichen Emotionen zuletzt nicht ganz unzutreffend. Und insofern sich Emotionen auf diese Weise einer vollständigen Kontrolle und Steuerbarkeit entziehen, sind übrigens auch dem »Selbstmanagement« der Gefühle enge Grenzen gesetzt. Daß sie dann genau aus diesem Grund – weil sie sich eben nicht vollständig instrumentalisieren und etwa für ihnen eigentlich fremde Zwecke vor den Karren spannen lassen – heute vielfach »das Stigma eines psychischen Krankheitssymptoms« (vgl. Neckel 2005, 425) erhalten, ist noch einmal eine andere Frage, der ich hier nicht nachgehen kann. Auf der anderen Seite gehen Emotionen aber nicht in bloßen »Affektprogrammen« auf und sind mehr als nur völlig arationale und unerklärliche Reaktionen auf bestimmte Ereignisse oder Situationen. Schließlich ist es ja nicht völlig irrational, sich vor dem Fliegen zu fürchten. Emotionen, und das ist ihre kognitive Dimension, beziehen sich immer auf bestimmte Gegenstände. Manchmal spricht man in diesem Zusammenhang auch von einem »intentionalen Objekt« der Emotion: Eine Person freut sich über das Bestehen der Prüfung, sie hat Angst vor einem wilden Löwen, und sie trauert über den Verlust eines Freundes. Diese Reaktionen sind nicht nur Affekte, sie haben ihren guten Grund und resultieren aus der Wahrnehmung von Situationen, die wir als »gut« oder »schlecht« bzw. »gefährlich« bewerten. Und da Emotionen solche Bewertungen vornehmen, erlauben sie gleichzeitig 38 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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eine Wahrnehmung von praktischen Gründen, die sich auf unser Handeln und Fühlen beziehen. Insofern praktische Gründe dann zur Motivation des menschlichen Handelns beitragen können, haben Emotionen zusätzlich einen mehr oder weniger direkten Einfluß auf das menschliche Handeln. Auf diese Weise lassen sich Emotionen ihrerseits wieder bewerten, und man kann daher durchaus zwischen rationalen und irrationalen Emotionen unterscheiden. Im Rahmen seiner spezielleren Diskussion, ob es rational ist, mit realen Emotionen – etwa des Mitleids mit dem Leid des Helden einer Tragödie – zu reagieren, schlägt Gaut (2007, 220 ff.) drei allgemeine Kriterien für die Rationalität einer Emotion vor. Diese drei Kriterien finden ihre Grundlage in den drei Hauptbestandteilen einer Emotion und lassen sich auf ihre kognitiven, ihre motivationalen und ihre affektiven Bestandteile anwenden: Die Rationalität einer Emotion bemißt sich zuerst daran, ob der Gegenstand einer Emotion tatsächlich die Eigenschaft besitzt, die ihm durch eine Emotion zugeschrieben wird. Es gibt gute Gründe, sich vor einem gefährlichen Löwen zu fürchten; da eine Maus nicht wirklich gefährlich ist, wäre es nicht rational, sich vor ihr zu fürchten. Im Gegensatz zum Löwen verdient die Maus es nicht, daß wir auf ihr plötzliches Erscheinen mit einer Emotion der Angst reagieren. Aber die Erfüllung der kognitiven Bedingung reicht noch nicht aus, um eine Emotion als rational zu bezeichnen. Es könnte zweitens das motivationale Kriterium verletzt sein: Eine Emotion wäre demzufolge dann irrational, wenn das betreffende Subjekt keine für die Handlungsmotivation relevanten Überzeugungen besitzt. So mag es zwar gute (kognitive) Gründe dafür geben, den Helden einer Tragödie zu bemitleiden, doch sicherlich gibt es für den Theaterbesucher keine (motivationalen) Gründe dafür, auf die Bühne zu steigen, in das Geschehen einzugreifen und das drohende Unheil abzuwenden. Jede Emotion beinhaltet darüber hinaus eine affektive Dimension, und mit ihr kommt ein drittes Rationalitätskriterium für Emotionen ins Spiel, mit dem auch die Irrationalität von Phobien und Neurosen erklärt werden kann. Angenommen eine Person fürchtet sich aus guten (kognitiven) Gründen davor, ihren Job zu verlieren; rational mag auch ihre (motivationale) Disposition sein, etwas dagegen zu unternehmen; irrational wird ihr Zustand aber dann, wenn sie zu grübeln beginnt, sich in ihre Furcht hineinsteigert, aus diesem Grund dann unerträglich leidet – und womöglich ihren Job gerade wegen dieses, ihrer Arbeit nicht sehr förderlichen 39 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Von der Expressivität zur Ethik
Umstandes verliert. Der affektive Zustand dieser Person ist hier aus dem Ruder gelaufen, ohne daß die kognitiven oder motivationalen Komponenten dafür verantwortlich gemacht werden können. Um die Einzelheiten dieser Diskussion müssen wir uns nicht weiter kümmern, denn wichtig ist hier nur, daß wir anhand differenzierter Kriterien zwischen rationalen und irrationalen Emotionen unterscheiden können (vgl. auch Hursthouse 1999. 5. Virtues and the Emotions; DeSousa 2009) und Emotionen nicht pauschal als irrational bezeichnen müssen. Diese Kriterien der Rationalität von Emotionen lassen immer noch verschiedene Fragen offen. Erstens: Wie sollen wir uns das Verhältnis zwischen der kognitiven und der affektiven Dimension vorstellen? Wie genau sind die einzelnen Teilkomponenten einer Emotion miteinander verbunden? Zweitens: Musik, so unsere Ausgangsannahme, drückt Emotionen aus. Das wirft die allgemeine Frage auf, wie denn die Rede von einem Ausdruck von Emotionen ganz allgemein zu verstehen ist und in welchem Verhältnis der Ausdruck bestimmter Emotionen zu diesen Emotionen steht. Drittens: Ich habe im vorigen Abschnitt bereits kurz auf das Problem der musikalischen Expressivität hingewiesen und einen Vorschlag gemacht, wie der musikalische Ausdruck von Emotionen erklärt werden kann. Dennoch bleibt dabei immer noch die zentrale Frage offen, wie wir, ausgehend von ihrem expressiven Potential, die Annahme einer ethischen Bedeutung von Musik genau verstehen sollen. Die erste Frage wird in der jüngeren Philosophie der Emotionen kontrovers diskutiert. Die meisten Autoren sind sich zwar einig darüber, daß sich Emotionen aus kognitiven, affektiven und motivationalen Elementen zusammensetzen, doch die Art und Weise des Zusammenspiels insbesondere der ersten beiden Komponenten ist noch ungeklärt. Einige Autoren nehmen an, es handle sich einfach um heterogene und völlig separate Komponenten einer Emotion: Bei der Emotion der Freude hat dann beispielsweise die Überzeugung, daß ich die Prüfung bestanden habe, nichts mit dem angenehmen Gefühl zu tun, das diese Emotion ebenfalls ausmacht. Im Prinzip wären dieser Auffassung zufolge beide Komponenten voneinander abtrennbar; daher ist heute auch von einer »Komponententheorie« der Emotion (Döring 2009, 31) bzw. einer Position des »Komponentialismus« (DeSousa 2009, 67) die Rede. Man kann diese beiden Elemente aber auch in einem sehr viel engeren Verhältnis sehen und ein direktes Wechselspiel zwischen den kognitiven und affektiven Dimensionen einer Emo40 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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tion annehmen. So könnte sich etwa die Freude, eine Prüfung bestanden zu haben, auf ganz andere Weise »anfühlen« als die Freude darüber, einen alten Freund wiederzusehen. Das für die Emotion der Freude charakteristische Gefühl würde in diesem Fall nicht mehr von dem spezifischen Gegenstand dieser Emotion abzutrennen sein. Der für die Emotion konstitutive Gedanke wäre dann gleichsam affektiv imprägniert, und die affektive Komponente einer Emotion hätte ihrerseits einen Anteil an ihrer intentionalen Ausrichtung auf einen Gegenstand. Peter Goldie (2000, 58 ff.) spricht deshalb von gerichteten Gefühlen (»feeling towards«), Robert Roberts (2003, 68 f.) von intentionalen Gefühlen (»intentional feelings«), bei denen die genannten Bausteine nicht mehr nur unvermittelt nebeneinander stehen, sondern eng miteinander verknüpft sind. Spannend ist diese Frage nicht nur um ihrer selbst willen, sie spielt auch für die vorliegende Untersuchung eine wichtige Rolle. Der Einwand nämlich, die reine Instrumentalmusik könne uns keine vollständige Beschreibung des Gegenstands einer Emotion geben, mag ganz zu Recht bestehen. Doch mit der Annahme, ein Musikstück könne uns zumindest eine genaue Vorstellung der affektiven Dimension einer Emotion vermitteln, sind zumindest zwei verschiedene Möglichkeiten gegeben, auf diesen Einwand zu reagieren. Wenn ich die Auffassung der Anhänger der Komponententheorie vertrete und affektive und kognitive Dimensionen als zwei separate Bestandteile einer Emotion ansehe, so kann ein Werk der Instrumentalmusik bestenfalls immer nur Schrumpfformen einer Emotion »ausdrücken«. Wegen ihrer Defizite bei der hinreichend genauen Repräsentation von bestimmten Gegenständen wird sie dem Hörer nur allgemeine Affekte vermitteln können, die keinen bestimmten Gegenstandsbezug haben. Lehnt man aber die Komponententheorie ab und geht von einer engen Verschränkung der affektiven und kognitiven Dimensionen einer Emotion aus, so mag die affektive Dimension der Musik in einem sehr viel engeren Bezug zu den kognitiven Elementen einer Emotion stehen. Wir hätten in diesem Fall auch die Möglichkeit, von einem sehr viel größeren Potential der Musik beim Ausdruck von Emotionen auszugehen: Musik würde uns nicht nur in angenehme oder unangenehme Zustände versetzen können. Über die möglichst genaue Ausleuchtung und Ausdeutung dieser affektiven Zustände könnte sie uns auch eine – wenn auch recht allgemeine und unbestimmte – Vorstellung sowohl von den möglichen Gegenständen dieser Zustände als auch 41 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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vom Verhältnis, in dem sie zu bestimmten Sachverhalten stehen, vermitteln. Es steht also einiges auf dem Spiel, denn je nachdem, wie wir Emotionen verstehen wollen, werden sich auch Konsequenzen nicht nur für die Frage nach der Möglichkeit eines musikalischen Ausdrucks von Emotionen ergeben. Letztlich wird davon die Antwort auf die Frage nach einer ethischen Bedeutung von Musik abhängen, und deshalb wird darauf noch zurückzukommen sein. Auch die zweite Frage nach dem Begriff des »Ausdrucks« von Emotionen berührt einen zentralen Gegenstand dieser Untersuchung. Wie soll man menschliche Gesten verstehen? Und in welchem Verhältnis steht etwa die Mimik eines Menschen zu seinen mentalen Zuständen? Grundsätzlich kann man zwei diametral entgegengesetzte Auffassungen unterscheiden (vgl. ausführlich Rinderle 2010, 1.4 Das Problem der Expressivität): Man kann die (cartesianische) Annahme vertreten und mentale Zustände als »innere«, »unsichtbare« Phänomene ansehen, die von ihren äußerlichen Manifestationen strikt getrennt sind. Zwar mag es dann einen kausalen Zusammenhang zwischen »inneren Zuständen« und »äußerlichen Gesten« geben, und der Gesichtsausdruck eines Menschen kann etwa als ein Symptom für eine Emotion verstanden werden; doch darüber hinaus wird dann keine weitere Verbindung zwischen diesen Bereichen angenommen. Die entgegengesetzte (behavioristische) Position nimmt an, es gebe keine innere, private Welt der Emotionen, die einer direkten Wahrnehmbarkeit entzogen ist. Emotionen gehen dieser Position zufolge vielmehr in ihren äußerlichen Manifestationen auf: Die Trauer eines Menschen besteht dieser Position zufolge in einem traurigen Gesichtsausdruck und in einer entsprechenden Körperhaltung; sobald sich Gestik und Mimik eines Menschen ändern können, verändern sich entsprechend auch dessen Emotionen. Gegen diese beiden reduktionistischen Sichtweisen würde ich eine komplexere und vermittelnde Auffassung vorschlagen: Emotionen und ihr Ausdruck in der Gestik und Mimik eines Menschen sind nicht vollständig voneinander abzutrennen, sie sind aber auch nicht völlig identisch. Weder die Annahme einer vollständigen Identität noch auch die Auffassung einer strikten Differenz helfen hier also weiter. Der äußerliche Ausdruck einer Emotion wird vielmehr als ein Teil dieser Emotion gelten können, ohne den eine Emotion unvollständig bleiben wird. Der Trauer eines Menschen fehlte eine wesentliche Komponente, würde er seinen Gefühlszustand nicht auch etwa mit Tränen oder anderen Ver42 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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haltensweisen auf eine mehr oder weniger angemessene Weise zum Ausdruck bringen. Roger Scruton (1997, 361) schreibt dazu sehr treffend: »[…] our states of mind are brought into being with the means for their expression. It is the Entäußerung of feeling in dialogue and social life that endows us with the higher emotions: emotions that exist in and through their social expression, and which are brought to conscious completion in works of art.« Ohne eine Gelegenheit zum Ausdruck unserer mentalen Zustände, so betont vor allem Axel Honneth (2005, 89 ff.), bliebe uns somit wohl auch die Möglichkeit zur Ausbildung einer authentischen Selbstbeziehung verschlossen.
Dennoch würden wir aber natürlich nicht sagen wollen, eine Emotion gehe in ihrer äußerlichen Manifestation völlig auf. Denn in manchen Fällen kann man zwar nicht die Emotion selbst, doch zumindest ihren Ausdruck unterdrücken. Aber wir würden deshalb nicht gleich der entgegengesetzten Position beipflichten und das Verhältnis zwischen Emotionen und ihrem Ausdruck als ein rein äußerliches, kausales Verhältnis beschreiben wollen. Wir können also Emotionen unmittelbar in der Gestik und Mimik einer Person wahrnehmen, ohne dabei dem Irrtum erliegen zu müssen, eine Emotion gehe schon in ihrer äußerlichen Manifestation auf. Die Trauer eines Menschen kann man sicher nicht einfach mit seinen Tränen gleichsetzen und auf diese beschränken. Wichtig ist diese Klärung des Begriffs »Ausdruck« wieder für ein richtiges Verständnis dessen, was mit der Rede von einem musikalischen Ausdruck von Emotionen gemeint sein kann. Wir können anhand einer musikalischen Geste in unserer Phantasie ein relativ genaues Bild vom emotionalen Zustand einer musikalischen persona malen. Aber wir müssen deshalb nicht annehmen, in dem betreffenden Musikstück sei schon die ganze Emotion enthalten, die es zum Ausdruck bringe. Umgekehrt brauchen wir auf diese Weise nicht mehr davon auszugehen, eine musikalische Geste sei als bloßes Symptom zu deuten, das uns einen Schluß auf das Vorliegen eines entsprechenden emotionalen Zustands erlauben würde. Da sich Emotionen und ihre äußerlichen Manifestationen nicht in einem äußerlich-kausalen Verhältnis befinden, erlaubt uns auch eine musikalische Geste die direkte Wahrnehmung eines emotionalen Zustands einer musikalischen persona, die bei der Rezeption von Musik in der Phantasie des Hörers entsteht (vgl. Rinderle 2010, 5.2 Eine offene Frage). Wir haben schon gesehen, daß sich die kognitiven und affektiven 43 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Von der Expressivität zur Ethik
Dimensionen einer Emotion in einem komplexen Interdependenzverhältnis befinden. Mit den »inneren« Zuständen und den »äußeren« Manifestationen einer Emotion verhält es sich ganz ähnlich: Weder ist das eine Element vollständig auf das andere Element zu reduzieren, noch sind diese Elemente strikt voneinander abzutrennen. Jedem Element kommt eine spezifische Bedeutung und Funktion zu; dennoch können diese Elemente ihre Bedeutung erst im Zusammenspiel mit den anderen Elementen voll entfalten. Ich halte deswegen den Vorschlag für attraktiv, die verschiedenen Teile einer Emotion als Bausteine eines übergreifenden narrativen Kontextes zu verstehen. Eine Emotion ist immer auch in einen zeitlichen Ablauf verschiedener Ereignisse eingebettet, und die vollständige Identifikation einer Emotion sowie deren Abgrenzung gegenüber anderen Emotionen macht daher die Rekonstruktion ihres narrativen Kontextes erforderlich (vgl. Goldie 2000, 13; Roberts 2003, 49 ff.). Sowohl kognitive als auch affektive und motivationale »Komponenten« einer Emotion finden darin ihren Platz, und die jeweilige Gestik und Mimik, mit denen sich Emotionen »äußerlich« manifestieren, können in diesem Kontext entsprechend berücksichtigt werden. Was die dritte Frage anbelangt, muß ich den Leser noch um etwas Geduld bitten. Die ethische Bedeutung musikalisch artikulierter Emotionen ist das zentrale Problem dieses Buches, und eine Lösung müssen wir uns Stück für Stück erarbeiten. An dieser Stelle kann ich aber noch einmal darauf verweisen, daß Emotionen auch Handlungsmotive enthalten (Goldie 2000, 154 f.). Sicher: Nicht jede Emotion wird uns auch einen Anlaß geben, eine Handlung auszuführen, denn manche Dinge stehen gar nicht erst in unserer Macht. Dennoch wird uns eine Emotion in aller Regel auf die eine oder andere Weise zu bestimmten Handlungen veranlassen. Wir sind traurig über den Tod eines Freundes, und selbst wenn wir dieses Ereignis nicht rückgängig machen können, gibt uns diese Emotion – diese unangenehme Wahrnehmung des besonderen Werts, die dieser Freund für uns hatte – einen Grund, den Freund in Erinnerung zu behalten und diese Erinnerung in den entsprechenden Gesten zu manifestieren. Nur falsche oder oberflächliche Emotionen werden keine Handlungsmotive enthalten; auf das besondere Phänomen der Sentimentalität werde ich noch ausführlich eingehen (vgl. Abschnitt 3.4). Halten wir den Stand der Diskussion wieder in einer kurzen Zwischenbilanz fest: Wir schreiben Musik bestimmte expressive Eigen44 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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schaften zu, weil wir uns als Hörer eine musikalische persona vorstellen, die in der Musik ihre Emotionen zum Ausdruck bringt. Diese persona statten wir, angeleitet von der Gestik und der formalen Gestalt eines Musikstücks, in unserer Phantasie mit bestimmten Emotionen aus. Die reine Instrumentalmusik kann uns zwar kein klares, eindeutiges Bild der Gegenstände dieser Emotionen liefern, und deshalb bleibt die kognitive Dimension dieser Emotionen in einem gewissen Grade unterbestimmt. Der Text eines Liedes kann uns andererseits natürlich ein genaueres Bild einer Emotion vermitteln, aber auch hier kann die Musik dem Text in manchen Fällen gleichsam »ins Wort fallen« und zum expressiven Charakter eines Liedes beitragen. Zum einen wird uns die Musik dabei eine relativ genaue Vorstellung der affektiven Komponente der Emotionen der musikalischen persona vermitteln können, und zum anderen wird sich dem Hörer – und zwar gerade über diese affektive Komponente – zumindest ein formaler Gegenstand in seiner Vorstellung eröffnen (vgl. DeSousa 2009, 204 ff.). Worüber sich die persona eines Musikstücks nun genau freut, über welchen Gegenstand sie trauert, mag dann offen bleiben: Daß es sich im Finale von Beethovens 7. Symphonie aber ganz allgemein um eine Emotion des Triumphs und im Marcia funebre seiner 3. Symphonie um eine Emotion der Trauer handelt – das jedenfalls wird dem verständigen Hörer, und zwar auch ohne daß er genauere Informationen über die betreffenden Gegenstände dieser Emotionen besitzt, nicht entgehen können. Wenn es außerdem richtig ist, Emotionen als Wahrnehmungen von Werten und praktischen Gründen zu verstehen, dann erhalten wir über expressive Musikstücke die Möglichkeit, gleichsam die Wertvorstellungen einer musikalischen persona kennen zu lernen. Sollte es sich um relativ komplexe und neuartige Synthesen von verschiedenen emotionalen Zuständen handeln – und unsere Wertschätzung von Musik wird nicht zuletzt in unserem Interesse an der Bereitstellung und Erfahrung genau dieser neuartigen Synthesen von Emotionen begründet sein –, dann verfügen wir auf diese Weise auch über einen Zugang zu den entsprechenden Wertgebilden. Über die Anregung unserer emotionalen und ethischen Imagination kann uns expressive Musik somit die Vorstellung neuer Wertehaltungen und Handlungsgründe zugänglich machen. Man kann deshalb durchaus auch von einem utopischen Potential der Musik in emotionaler Hinsicht sprechen: Sie macht uns »emotionale Möglichkeiten« zugänglich, die wertvolle Dienste zur Reflexion unserer realen, alltäglichen Emotionen leisten können. 45 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Von der Expressivität zur Ethik
1.4 Ethik in einem weiten Sinne Auch der Begriff »Ethik« taucht in vielerlei Kontexten auf und kann sehr unterschiedlich gebraucht und verstanden werden. Gemeinsam ist diesen Verwendungsweisen aber, daß sie etwas mit Handlungen, Institutionen und eventuell auch Emotionen, also mit der menschlichen Praxis im weitesten Sinn dieses Begriffs zu tun haben. Die Ethik hat es mit einer Erforschung der grundlegenden Werte des menschlichen Lebens zu tun und untersucht, welche Gründe für bestimmte Handlungen, Gefühle, Wünsche, Seinsweisen oder politische Institutionen sprechen (Darwall 1998, 5). Ganz allgemein könnte man sagen, ihre Aufgabe ist die Klärung der Grundlagen und Inhalte der Idee der praktischen Normativität. In der aktuellen Diskussion wird der Begriff »Ethik« nun aber in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Sehr oft wird die Ethik als der Teil der Philosophie angesehen, der sich mit einer Begründung und inhaltlichen Bestimmung der Moral beschäftigt. Ernst Tugendhat (1993, 13) schreibt etwa, die »grundlegende Frage« seiner Vorlesungen über Ethik sei die Frage, »ob es eine von den religiösen Traditionen unabhängige Einsichtigkeit von moralischen Normen gibt«. Deshalb möchte er den Begriff »Ethik« als Bezeichnung für »die philosophische Reflexion auf die Moral« verstanden wissen (ebd., 39). Was verlangt die Moral von uns? Aus welchen Gründen haben moralische Forderungen einen Anspruch auf Befolgung? Auf diese Fragen gibt die Ethik in einem ersten, engeren Verständnis dieses Begriffs eine Antwort. Was einerseits ihre Grundlagen angeht, so unterscheidet man im Rahmen einer modernen Moralbegründung zwischen einer utilitaristischen und einer kontraktualistischen Ethik (ebd., 321); und was andererseits ihre Inhalte angeht, so fordert uns die (moderne) Moral zur Beachtung der Rechte und Interessen anderer Personen auf (Gaut 2007, 45 f.). Die Moral bezeichnet somit die Sorte von praktischen Gründen, die bestimmten Ansprüchen entspringen, die andere Menschen uns gegenüber anmelden können. Etwas seltener wird der Begriff »Ethik« in einem weiteren Sinn für die Untersuchung aller möglichen Werte verwendet: Schließlich gibt uns nicht nur die Moral gute Gründe, bestimmte Handlungen auszuführen oder bestimmte politische Institutionen einzurichten. In aller Regel räumen moralische Forderungen dem Menschen zwar einen gewissen Spielraum ein, das eigene Leben nach den eigenen Vorstellun46 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Ethik in einem weiten Sinne
gen zu gestalten. Da moralische Forderungen aber keine erschöpfende Auskunft über die Lebensführung geben können, wird man neben ihnen die Existenz nichtmoralischer Werte annehmen müssen: Ob ich meine Zeit in erster Linie meiner Familie und meinen Freunden widme oder mich für die Ideale von Kunst und Wissenschaft einsetze – das ist eine Frage, die mit den Inhalten eines guten Lebens zu tun hat und mit moralischen Erwägungen nicht hinreichend beantwortet werden kann. Der Begriff »Ethik« in diesem zweiten und weiteren Verständnis bezieht sich also auf alle Werte, die eine allgemeine Orientierung für das menschliche Leben bieten können. Jürgen Habermas (1991, 103 ff.) meint, die Ethik ziele auf Fragen des guten Lebens, auf existentielle Grundentscheidungen und das Selbstverständnis des Menschen (vgl. ähnlich Williams 1985, 6; Darwall 1998, 14). Auch Tugendhat (2007, 50 f.) hat sich jüngst dieser Verwendungsweise des Begriffs »Ethik« angeschlossen und unterscheidet heute zwischen Fragen des guten Lebens und den Forderungen der Moral. Und John Deigh (2010, 7 und 198) schreibt: »Ethics is the philosophical study of morality. It is a study of what are good and bad ends to pursue in life and what it is right and wrong to do in the conduct of life. […] Its primary aim is to determine how one ought to live and what actions one ought to do in the conduct of one’s life.« »Ground-level questions of ethics include not only questions about right and wrong but also questions about values.«
Aus zwei Gründen möchte ich den Begriff »Ethik« hier in diesem weiten Sinn verwenden: Zum einen interessiert mich nicht nur das Verhältnis von Musik und Moral, denn auch die umfassendere Frage einer möglichen Bedeutung der Musik für ein gutes und gelingendes Leben soll hier berücksichtigt werden. Gerade die ethische Bedeutung von Emotionen erschöpft sich ja nicht in ihrer Relevanz für die »Moral«. Zum anderen sprechen grundsätzlichere Erwägungen für eine möglichst weite Fassung des Begriffs: Niemand wird wohl bestreiten wollen, daß moralische Forderungen nicht das gesamte Spektrum der menschlichen Praxis abdecken. Die meisten Autoren sind sich heute darüber einig, daß das gute Leben eine mit der Moral teils konvergierende, teils konkurrierende Quelle von praktischen Gründen bildet. Würden wir nun den Begriff »Ethik« auf die Untersuchung der Grundlagen der Moral beschränken, so bräuchten wir für die Untersuchung des Bereichs der menschlichen Praxis, der über die Moral hinausreicht, eine neue Bezeichnung; der Begriff »Ethik« wäre dann gleichsam schon »besetzt« oder »vergeben«. Wenn wir die Untersuchung der Moral 47 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Von der Expressivität zur Ethik
aber der »Moraltheorie« überlassen, dann können wir den Begriff der »Ethik« für die Untersuchung des gesamten Spektrums von Werten und praktischen Gründen verwenden und dabei das Verhältnis von moralischen Gründen und anderen praktischen Gründen offen lassen. Denn im Rahmen dieses erweiterten Begriffs der Ethik ist die Moral nur noch eine Quelle praktischer Normativität, und die Gewichtung moralischer Gründe gegenüber anderen Handlungsgründen ist eine offene Frage, die im Rahmen der Ethik beantwortet werden muß (vgl. Rinderle 2007, 8. Vorrang der Moral?). Die Ethik hat es also mit allen Werten und praktischen Gründen zu tun, die für die Lebensorientierung von Individuen und Gesellschaften einschlägig sind. Die Moral bezeichnet nur einen Teilbereich dieser Werte, der es mit der »Regelung interpersoneller Handlungskonflikte« zu tun hat, »die sich aus gegensätzlichen Interessenlagen ergeben« (Habermas 1991, 106). Moralische Gründe – und vor allem Gründe der Gerechtigkeit – entspringen den berechtigten Ansprüchen einzelner Personen gegenüber anderen Personen; und wenn wir in der Folge auch von »politischer Moral« und »politischer Ethik« sprechen wollen, können wir an diesem Begriffsgebrauch festhalten: Mit dem Begriff »politische Moral« können wir die Anwendung moralischer Gründe auf politische Institutionen bezeichnen, und unter dem Titel »politische Ethik« können wir zusätzlich Fragen des guten, gemeinschaftlichen Zusammenlebens ansprechen – und davon ausgehend dann das Verhältnis von expressiver Musik, politischer Gerechtigkeit und kollektiver Identität zu einem zusätzlichen Thema unserer Untersuchung machen (vgl. Kapitel 5). Nachdem wir das Begriffsfeld abgesteckt haben, können wir uns einigen Inhalten zuwenden, die insbesondere das Verhältnis von Emotionen und Ethik betreffen. Wir haben schon gesehen: Wenn wir emotional auf bestimmte Ereignisse reagieren, nehmen wir gleichzeitig eine Bewertung dieser Ereignisse vor. Wir haben Angst vor dem wilden Löwen, weil er eine Gefahr für unser Leben ist; wir trauern um den Tod eines Menschen, weil wir einen wertvollen Freund verlieren; und wir reagieren mit Empörung auf eine Gewalttat, weil wir hier eine Verletzung der elementaren Rechte eines Menschen feststellen. Eine Emotion der Empörung besteht ja nicht nur in der mehr oder weniger unbeteiligten Feststellung, es liege ein Unrecht vor; sie wird darüber hinaus eine mehr oder weniger starke affektive Dimension beinhalten, deshalb auch unangenehm bzw. schmerzhaft sein und nicht zuletzt Motive für 48 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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bestimmte Handlungen oder Unterlassungen enthalten. Emotionen kommt also von Hause aus eine ethische Bedeutung zu, weil sie immer auch einen Bezug zu bestimmten moralischen und nichtmoralischen Werten aufweisen. Emotionen können aus genau diesem Grund aber auch kritisiert und in Frage gestellt werden. Dabei möchte ich nicht bestreiten, daß Emotionen sich nur begrenzt kontrollieren lassen und teilweise dem Einfluß von Überzeugungen entzogen sind. Ich mag etwa wissen, daß einem anderen Menschen ein Unrecht geschehen ist, kann aber dennoch kein Gefühl der Empörung verspüren. Dieser Umstand einer Trägheit und begrenzten Steuerbarkeit von Emotionen bedeutet indessen nicht, daß sie jeder Kritik entzogen wären; er bedeutet auch nicht, daß man Emotionen – etwa mit Hans Heinrich Eggebrecht – als »irrational« bezeichnen kann: »In ihrer individuellen Subjektivität und unauslotbaren Nuancierung, ihrer seelischen Innerlichkeit und eruptiven Gewalt ist Emotion der Widerpart von Rationalität, ihr Gegenteil – das schlechthin Irrationale.« (Eggebrecht 1996, 40) Alle Teile dieser Aussage scheinen mir falsch: Emotionen sind nicht bloß individuelle Phänomene; es gibt auch kollektive Emotionen (vgl. Abschnitt 5.1). Sie sind nicht unauslotbar nuanciert; es gibt recht einfache, primitive Emotionen – etwa die Angst vor einer unmittelbar lebensbedrohenden Gefahr –, die wir mit praktisch allen Menschen teilen. Emotionen sind auch nicht nur innerliche Phänomene; sie können sich in der Gestik und Mimik eines Menschen äußern und dort Gestalt annehmen. Außerdem kann man nicht allen Emotionen eine eruptive Gewalt zuschreiben; schließlich dürfte hinlänglich bekannt sein, daß auch stille Gewässer manchmal sehr tief sein können. Man könnte einem Menschen unter Umständen durchaus den berechtigten Vorwurf mangelnder Sensibilität machen, wenn ihn das Unrecht, das einem anderen Menschen geschieht, ganz und gar »kalt« läßt. Auch die fehlende Angst vor einer Gefahr oder die ausbleibende Trauer angesichts des Verlustes eines Freundes oder Familienmitglieds können der Kritik ausgesetzt sein. Die Kultivierung der emotionalen Sensibilität wird man genau aus diesem Grund als einen wesentlichen Bestandteil der Erziehung eines Menschen ansehen können. Aristoteles sagt in seiner Nikomachischen Ethik (1106b21–24), daß das Ziel der Erziehung in der Ausbildung der Tugend bestehe, und diese sei als eine Disposition zu verstehen, mit jeweils angemessenen Emotionen auf bestimmte Situationen zu reagieren: »Zum Beispiel kann man Furcht, 49 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Mut, Begierde, Zorn, Mitleid und allgemein Lust und Unlust ebenso zu viel wie zu wenig empfinden, und beides ist nicht die richtige Weise. Dagegen sie zu empfinden, wann man soll, bei welchen Anlässen und welchen Menschen gegenüber, zu welchem Zweck und wie man soll, ist das Mittlere und Beste, und dies macht die Tugend aus.« Kehren wir aber zum Hauptstrang unserer Überlegungen zurück und fragen uns nach der Tragweite dieser begrifflichen Vorüberlegungen für den weiteren Verlauf unserer Untersuchung. Meine Ausgangsannahme lautete, Musik besitze ein expressives Potential und erlaube den Ausdruck von Emotionen. Nachdem sich nun gezeigt hat, daß Emotionen gleichsam als eine bestimmte Art der Wahrnehmung von Werten beschrieben werden können, und nachdem sich außerdem gezeigt hat, daß Werte der Gegenstand der Ethik im weiten Sinne sind und uns eine Orientierung im Leben anbieten können, läßt sich schon folgender Schluß ziehen: Ihres expressiven Potentials wegen kann Musik den Hörer zur Wahrnehmung bestimmter, eventuell ganz neuer Werte einladen und damit einen Beitrag zur Orientierung seines Lebens leisten. Diese These wird sicherlich noch an ausgewählten Musikbeispielen zu erhärten sein (vgl. Kapitel 4); doch im Augenblick kommt es mir allein darauf an, der Rede von einer »ethischen Bedeutung« der Musik einen möglichst klaren Sinn zu verleihen. Die Musik spricht eine »Einladung« an den Hörer aus; mit der Rede von ihrer »ethischen Bedeutung« ist also nicht nur eine kausale »Kraft« angesprochen (vgl. Abschnitt 3.3). Mit der Musik verfügen wir vor allem nicht einfach über ein universal einsetzbares Instrument, um, wie der Musikwissenschaftler Alfred Christlieb Kalischer (1888, 4 f.) Ende des 19. Jahrhunderts schreibt, »auf die sittliche Erziehung des Menschengeschlechts einen gedeihlichen Einfluß auszuüben«, um den Menschen in moralischer Hinsicht pflichtbewußter oder in ethischer Hinsicht glücklicher bzw. glücksfähiger zu machen. Kalischer geht davon aus, daß Musik »als die durch das Medium der Töne hervorgebrachte Seelensprache« zu verstehen sei und daß wir »Moral als das vom Stofflichen, Selbstischen befreite, oder vielmehr zu befreiende Seelenleben ansehen«. Und so stehe die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Moral »klar vor unserem Geistesauge«: »Ist die durch Töne erzeugte Seelensprache geeignet, unsere Seele zu reinigen, zu läutern, sie mehr und mehr vom Stofflichen (Egoistischen) zu befreien?«
Zwar gibt es keine klaren Belege für diese überaus optimistische Annahme. Dennoch sind dergleichen Wirkungen auch nicht kategorisch 50 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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auszuschließen, zumal man manche Einladungen, gerade wenn sie auf eine ansprechende Weise formuliert sind, schwerlich ausschlagen kann. Wenn sich ein Hörer also auf eine neue Wahrnehmung von Werten einläßt, so ist es nicht unmöglich, daß von der Musik eine vorteilhafte Wirkung auf sein Leben ausgeht. Wenn also eine Erziehung unserer Emotionen den Erwerb einer Fähigkeit zum Ziel hat, an den richtigen Dingen auf angemessene Weise emotional Anteil zu nehmen und auf sie mit Lust bzw. Unlust zu reagieren, dann kann die Musik einen Beitrag dazu leisten. Da es aber nicht nur moralisch gute, sondern auch unmoralische und böse Musik gibt (vgl. Abschnitt 2.6), kann Musik unter Umständen auch einen negativen Einfluß ausüben und zu einer Abstumpfung der Emotionen sowie zu einer Verrohung der Sitten führen. Weil sie die Fähigkeit zum Ausdruck von Emotionen hat, kommt der Musik auch ein besonders starker Einfluß auf unser Gemüt zu. Eine plausible Deutung der Expressivität von Musik liefert die sogenannte Persona-Theorie: Der musikalisch artikulierte Gestus eines Musikstücks lädt uns zur Imagination eines fiktiven Protagonisten ein, der in dem betreffenden Musikstück seine Emotionen ausdrückt, artikuliert und eventuell auch reflektiert. Da man Emotionen außerdem als Wahrnehmungen von Werten verstehen kann, läßt sich expressive Musik auf diese Weise als der Ausdruck und die Artikulation einer bestimmten Wahrnehmung von Werten verstehen. Bei der aufmerksamen Wahrnehmung von Musik machen wir daher eine Erfahrung, die sich mit der Begegnung mit einem anderen Menschen vergleichen läßt. In unserer Phantasie entsteht eine Person, die uns in musikalischer Form auch Aufschluß über ihre affektiv gefärbte Wahrnehmung von Werten gibt. Eine solche Begegnung mit einer anderen Person, die uns auf diese Weise mit einigen Grundfragen unserer privaten und politischen Existenz konfrontiert, wird uns nicht nur zu einer sachlichen Feststellung etwaiger Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit unseren eigenen Werten veranlassen. Die imaginäre Person wird uns vielmehr zu einer emotionalen Reaktion einladen oder auffordern: Wir können auf ihr Leid etwa mit einer Emotion des Mitleids reagieren, quittieren ihr Selbstmitleid vielleicht aber auch nur mit Spott und Ironie. Die Musik mag daher keine Quelle von theoretischen Einsichten sein, uns aber dennoch einen Zugang zu neuen Erfahrungen verschaffen, die aus der Begegnung mit dem Charakter einer in ihr wahrzunehmenden persona resultieren. 51 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Darin besteht auch die ethische Bedeutung der Musik, denn unsere emotionalen Reaktionen, mit denen wir auf diese Wahrnehmung einer persona reagieren, enthalten ihrerseits bestimmte Wertungen, und sie werden uns in den entsprechenden Umständen ihrerseits zu bestimmten Handlungen veranlassen. Auch der Umgang mit anderen Menschen färbt schließlich ab: Viele Eltern haben ein Interesse daran, daß ihre Kinder nicht in schlechte Gesellschaft geraten, denn sie nehmen an, daß der Umgang mit bestimmten Personen einen Einfluß auf die Entwicklung ihrer Kinder haben wird. Auf ähnliche Weise wird man wohl auch auf die unterschiedlichen Charaktere zweier Personen schließen dürfen: Eine Person, die den ganzen Tag nur heitere Streichquartette von Joseph Haydn hört, wird wohl zu einer anderen Lebenseinstellung disponiert sein als eine Person, die sich den ganzen Tag nur die düster-aggressiven Lieder der Gruppe Rammstein zu Gemüte führt. Nun könnte jemand einwerfen, man dürfe die empirische Wirkung (eine musikalische Vorliebe) nicht mit der Ursache (eine bestimmte Charakterausprägung) verwechseln: Nicht die Musik präge den Charakter, sondern der Charakter einer Person führe zu bestimmten musikalischen Vorlieben. Trotz der Berechtigung dieses Einwands darf man kein allzu vereinfachtes Bild der Verhältnisse zeichnen. Schließlich kann die Wahrnehmung von Musik immer wieder neue, überraschende Erfahrungen zur Folge haben und somit einen Anstoß für das Experimentieren mit neuen Emotionen geben. Plausibler als eine rein monokausale Relation zwischen dem Charakter einer Person und ihrem Musikgeschmack erscheint deshalb die Möglichkeit eines Einflusses in beiden Richtungen. Natürlich bestimmt der Charakter einer Person auch deren musikalische Vorlieben; aber die Musik, die sie hört, kann umgekehrt wieder auf ihren Charakter abfärben. Der Musikgeschmack wird nicht nur einen bestehenden Charaktertyp abbilden, man wird darüber hinaus annehmen dürfen, daß Musik zur Befestigung oder aber zur Erschütterung bestimmter Charakterzüge führen kann (vgl. Abschnitt 3.3).
1.5 Inhalte der ästhetischen Erfahrung Wir könnten uns nun einigen Detailfragen zuwenden, gäbe es nicht noch einen gewichtigen Einwand, den wir bisher noch nicht berücksichtigt haben. Ein Verfechter dieses Einwands müßte die Möglichkeit 52 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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eines Einflusses der Musik auf den menschlichen Charakter gar nicht in Frage stellen. Er würde aber darauf beharren, daß die ethische Dimension von Musik nichts mit ihrer eigentlichen Bedeutung, ihrem wahren Wert zu tun habe. Die Möglichkeit ihrer Instrumentalisierung für ethische oder politische Zwecke muß er durchaus nicht anzweifeln. Dennoch kann er die berechtigte Frage aufwerfen, was diese »ethische Bedeutung« eines Musikstücks mit dessen »ästhetischem Wert« zu tun habe: Ist die Kunst nicht ein Selbstzweck? Gründet der wahre Wert der Musik nicht in der Tatsache, daß sie weder kognitiven noch ethischpraktischen Zwecken untergeordnet wird? Geht eine echte, am Ideal des »interesselosen Wohlgefallens« orientierte Erfahrung von Kunst nicht mit der Annahme einer Irrelevanz ihres ethischen Gehalts einher? Mit anderen, prägnanteren Worten: Sind Ästhetik und Ethik nicht zwei Paar Stiefel? Zum Teil sind diese Fragen sicherlich verständlich, zum Teil beruhen sie meines Erachtens aber auch auf falschen Vorannahmen. Am Beispiel der Überlegungen, die Martin Seel zum Begriff der ästhetischen Erfahrung anstellt, möchte ich in diesem Abschnitt zunächst auf diese Vorannahmen eingehen. Im nächsten Kapitel möchte ich dann direkt für eine enge Verzahnung von ethischen und ästhetischen Dimensionen der Wertschätzung von Kunst im allgemeinen und von Musik im besonderen plädieren. Sehen wir uns zunächst den grundlegenden Einwand gegen die Thematisierung der ethischen Bedeutung von Musik etwas näher an: An der Bestimmung des allgemeinen Begriffs und der Reichweite der ästhetischen Erfahrung interessiert, spricht Martin Seel nicht direkt über die ästhetische Erfahrung von Musik. Er wirft vielmehr die umfassende Frage auf, »wie der Stellenwert der ästhetischen Erfahrung im Haushalt menschlicher Orientierung einzuschätzen ist« (Seel 2007, 56). Eine Antwort darauf sollte auch für die ästhetische Erfahrung eines Exemplars der Kunstgattung »Musik« relevant sein. Für die vorliegende Untersuchung ist jedenfalls die spezielle Frage einschlägig, wie nun der Stellenwert der ästhetischen Erfahrung von Musik »im Haushalt menschlicher Orientierungen« einzuschätzen sein wird. Einer ersten und recht allgemeinen These Seels wird man sicher zustimmen können. Sie lautet, »dass die ästhetische Erfahrung ihre Subjekte mit einer Art der Bewusstheit versorgt, mit der sie keine andere Erfahrungsweise versorgen kann« (ebd.). Es wird jetzt aber darauf ankommen, mit welcher besonderen Art der Bewußtheit die ästheti53 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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sche Erfahrung ihre Subjekte versorgen kann. Seel entwickelt seine Überlegungen in fünf Schritten, von denen für unsere Zwecke vor allem die beiden ersten von besonderem Interesse sind. Zunächst behauptet Seel, die »ästhetische Wahrnehmung« bestehe »in einer Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem«, d. h. eine Aufmerksamkeit dafür, »wie etwas hier und jetzt für unsere Sinne anwesend ist« (ebd., 57; vgl. ausführlich Seel 2000, 43 ff. und 156 ff.). Eine ästhetische Erfahrung, das ist sein zweiter Schritt, sei eine solche Wahrnehmung dann, wenn letztere zum »Ereignis« werde: »Ästhetische Erfahrung […] ist ästhetische Wahrnehmung mit Ereignischarakter.« (Ebd., 58) Ganz allgemein sei für ästhetische Phänomene charakteristisch, daß »die Form der Wahrnehmung von der des hierbei Wahrgenommenen nicht zu trennen« sei (ebd., 60). Die Besonderheit der ästhetischen Erfahrung von Kunst bestehe drittens darin, »dass sie nicht von irgendwelchen, sondern von Darbietungsereignissen ausgelöst wird« (ebd., Hervorh. i. O.). Ein Kunstwerk führt dem Rezipienten also etwas vor, es ist das Resultat einer bewußten Präsentation, es geht aus einer Performance – im weitesten Sinne dieses Begriffs – hervor, und »mit dem Sinn der Darbietung« werde dabei »zugleich der Sinn des Dargebotenen unsicher« (ebd., 61). Mit einem vierten Schritt verweist Seel auf eine »immanente Verschränkung der Künste«, auf »die Tatsache, dass es klare Grenzen zwischen den Künsten nicht gibt und nie gab« (ebd., 63 f.). Und mit seinem fünften Schritt kommt er schließlich zu der Annahme, »die Erfahrung von Kunst zehrt von der Erfahrung außerhalb der Kunst« (ebd., 66). Man könne nicht bei den Künsten stehen bleiben, »so als seien sie die eigentliche Erfüllung ästhetischer Erfahrung«. Die besondere Reichweite der ästhetischen Erfahrung bestehe mithin darin, dass sie »am Bestimmten das Unbestimmte, am Realisierten das Unrealisierte, am Faßlichen das Unfaßliche kenntlich werden« lasse (ebd.). Bei meiner Auseinandersetzung mit diesen Thesen möchte ich nun – wenn man das so sagen kann – rückwärts vorgehen, denn entscheidend sind die Weichen, die Seel mit den ersten beiden Thesen stellt. Die fünfte These besteht aus zwei Teilen, und ihr erster Teil ist wohl richtig: Die Erfahrung von Kunst und auch die Erfahrung von expressiver Musik stehen in einem engen Zusammenhang mit der Erfahrung von realen Personen und alltäglichen Situationen. Der Umgang mit Kunstwerken kann zweifellos zu einer Veränderung unserer Wahrnehmung anderer Gegenstände führen. Offen ist nur die Frage, 54 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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ob die ästhetische Erfahrung von Kunst zu einer Ästhetisierung der Wahrnehmung anderer Gegenstände beitragen kann und soll. Oder anders formuliert: Ist es möglich oder gar wünschenswert – diese beiden Fragen müßte man separat untersuchen –, daß die ästhetische Erfahrung von Kunst zu einem Modus der Wahrnehmung von Alltagssituationen beiträgt, der insbesondere – um Seels Begriff des »Ästhetischen« aufzugreifen – die Art und Weise ihres Erscheinens in den Fokus nimmt? Wenn ich ihn richtig verstehe, scheint sich Seel ganz allgemein für eine Ästhetisierung aller unserer Wahrnehmungen aussprechen zu wollen, bleibt für diese umstrittene und meines Erachtens falsche Auffassung aber gute Gründe schuldig. Der zweite Teil der fünften These scheint mir das Resultat einer unzulässigen Verallgemeinerung zu sein: Eine ästhetische Erfahrung hat schließlich nicht immer nur eine Erfahrung des Unbestimmten und Unfaßlichen zum Inhalt. Aber den Begriff des »Ästhetischen« werden wir uns ohnehin noch etwas genauer ansehen müssen. Ob die vierte These richtig ist, ob es also »klare Grenzen« zwischen der Musik und der Malerei gibt, kann ich hier offen lassen. Offensichtlich gehen wir in unserer Rezeption von Kunstwerken jedenfalls davon aus, daß es bedeutsame und relativ klare Unterschiede zwischen den verschiedenen Künsten gibt. Salman Rushdies Roman Mitternachtskinder zählt sicherlich zu einer anderen Kunstgattung als John Scofields Album A Go Go oder Anselm Kiefers Skulptur Zweistromland, und unter Umständen könnten die ästhetischen Erfahrungen dieser Werke jeweils besondere Eigenarten aufweisen, die man nicht ohne weiteres über einen Kamm scheren kann und die auch bedeutsam genug sind, um eigene Betrachtungen der mit ihnen jeweils einhergehenden Spielarten der »ästhetischen Erfahrung« zu rechtfertigen. Der Begriff »Kunst« bezeichnet schließlich einen komplexen und vielfach differenzierten Phänomenbereich, und den Unterschieden zwischen den verschiedenen Kunstgattungen tragen wir eben mit besonderen Begriffen wie »Literatur« und »Malerei«, »Bildende Kunst« und »Architektur«, »Schauspiel« und »Musik« Rechnung. Wer behaupten wollte, diese Begriffe hätten nichts mit der Praxis unserer Produktion und Rezeption von Kunstwerken zu tun, müßte entweder ein alternatives Begriffsschema vorschlagen oder aber auf ein differenziertes Nachdenken über »Kunst« verzichten. Mit seiner dritten These bestimmt Seel die besondere ästhetische Erfahrung von Kunst, und abgesehen davon, daß die »Darbietung« von 55 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Kunstwerken bei unterschiedlichen Kunstgattungen eine unterschiedliche Bedeutung haben wird – gerade bei der Musik wird die »Darbietung«, also die Aufführung und Interpretation eines besonderen Stücks, viel wichtiger sein als etwa bei der Rezeption eines literarischen Werks –, kann man diese nähere Bestimmung der ästhetischen Erfahrung eines Kunstwerks gelten lassen. Sie ist meines Wissens auch nicht umstritten, nur hätte man, statt von einer Darbietung zu sprechen, ein Kunstwerk einfach als Resultat einer besonderen Tätigkeit bezeichnen können (vgl. Abschnitt 1.2). Von besonderer Bedeutung sind nun vor allem die ersten beiden Schritte, die die ästhetische Wahrnehmung zunächst als »Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem« und die ästhetische Erfahrung dann als eine »ästhetische Wahrnehmung mit Ereignischarakter« bestimmen: Was heißt das genau, was versteht Seel unter »Ereignissen« und einem »Erscheinen von Erscheinendem«? Und sind diese Annahmen richtig? Führt Seel überhaupt Argumente für sie an? Ereignisse, so Seel, seien »Risse in der gedeuteten Welt«, sie seien »Unterbrechungen des Kontinuums der biografischen und historischen Zeit« (ebd., 59). Damit kann zweierlei gemeint sein: Zum einen kann damit die triviale Tatsache angesprochen sein, daß wir etwa ein Musikstück jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Situation hören. In diesem Sinn »unterbricht« die Rezeption von Musik in aller Regel zweifelsohne den gewöhnlichen Tagesablauf eines Menschen – wenn er denn nicht das Radio bereits zum Frühstück einschaltet. Doch allein eine solche »Unterbrechung« kann eine ästhetische Wahrnehmung sicher noch nicht zu einer ästhetischen Erfahrung machen. Zum anderen könnte damit aber gemeint sein, daß die ästhetische Erfahrung immer eine Veränderung bestehender Sichtweisen beinhalten müsse und vor allem auf eine Infragestellung und Revision – und niemals nur eine bloße Affirmation – etwa des Selbstverständnisses eines Individuums hinauszulaufen habe. Von einem Ereignis im emphatischen Sinn wird mithin immer ein Anstoß zu einer Neuausrichtung des Selbst- und auch des Weltverständnisses einer Person ausgehen. Diese Auffassung mag für bestimmte Erfahrungen einiger Kunstwerke richtig sein, als allgemeine Aussage über das Wesen der ästhetischen Erfahrung wird man sie allerdings zurückweisen müssen. Seel postuliert eigentlich nur seine eigene Auffassung, ohne auch nur anzudeuten, daß sie in der aktuellen Debatte umstritten ist, geschweige denn Argumente für sie anzuführen, auf mögliche Ein56 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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wände einzugehen und die Existenz alternativer Auffassungen anzuerkennen. Problematisch ist bereits Seels erster Schritt. Mit ihm werden bereits die Weichen für eine meines Erachtens verfehlte, weil unzureichende Bestimmung des Begriffs der ästhetischen Erfahrung gestellt. Die ästhetische Wahrnehmung, so Seel, bestehe in einer »Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem«. Wir seien primär nicht daran interessiert, das wahrzunehmen, was etwas ist, wir seien vielmehr daran interessiert, »wie es in der Fülle seiner Aspekte und Bezüge anwesend ist«. Die ästhetische Wahrnehmung läßt ihren Gegenstand »ohne weiteres sein, nämlich erscheinen« (ebd., 57); sie will ihn nicht bestimmen, denn die »Bestimmung« eines Gegenstands scheint für Seel immer mit einem Versuch seiner »Beherrschung« einherzugehen. (Dabei ist an dieser Stelle weder klar, warum und in welcher Weise die Bestimmung eines Gegenstandes der Wahrnehmung zu dessen Beherrschung führen sollte, noch auch ist verständlich, was überhaupt mit der »Beherrschung« eines Gegenstands gemeint sein könnte.) Der entscheidende Einwand gegen diese Auffassung lautet: Wenn wir uns nicht für die besonderen Eigenschaften eines Musikstücks interessieren, wenn uns Seels Begriff der ästhetischen Wahrnehmung eine »Bestimmung« der Gegenstände dieser Wahrnehmung verbietet, dann steht damit auch in Frage, warum wir uns bei der Rezeption von Kunst überhaupt für die Rezeption verschiedener Kunstwerke interessieren sollten. Eine bloße Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem, die Ausübung der Fähigkeit, einen Gegenstand für die Dauer der Wahrnehmung erscheinen zu lassen, erfordert, so scheint es mir, zuletzt gar kein Interesse mehr für die Wahrnehmung unterschiedlicher Gegenstände. Für einen Musikliebhaber sollte es dann ausreichen, sich Tag für Tag Ludwig van Beethovens 3. Symphonie anzuhören. Er kann auf diese Weise eine ästhetische Wahrnehmung im Sinne Seels vollziehen, er kann dann »für das Erscheinen von Erscheinendem« aufmerksam sein, hat aber keinen rechten Grund, bei Gelegenheit möglicherweise auch einer Aufführung von Helmut Lachenmanns Pression beizuwohnen. Da wir dieser absurden Schlußfolgerung kaum zustimmen können, müssen wir wohl die Ausgangsthese korrigieren. Diese Korrektur läßt sich mit Hilfe eines erweiterten Begriffs der ästhetischen Erfahrung durchführen, der in der internationalen Dis57 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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kussion heute breite Zustimmung findet. Dieser erweiterte Begriff der ästhetischen Erfahrung erlaubt auch eine Berücksichtigung einer möglichen ethischen Bedeutung von Kunst im allgemeinen und von Musik im besonderen. Er setzt nicht bei einer besonderen Art und Weise der Erfahrung von bestimmten Gegenständen an. Es ist damit also auch nicht nur die spezifische Qualität des Erlebens, sondern es sind auch die Inhalte, die eine bestimmte Erfahrung zu einer ästhetischen Erfahrung machen. Diesem erweiterten Verständnis des Begriffs zufolge ist die ästhetische Erfahrung eine Wahrnehmung von ästhetischen Eigenschaften bestimmter Gegenstände; und ästhetische Eigenschaften sind dann ihrerseits all die Eigenschaften, die bei der Wahrnehmung und Kritik von Kunstwerken eine besondere Rolle spielen (vgl. Levinson 2006, 20. What Are Aesthetic Properties?). An dieser Stelle erscheint es hilfreich, Berys Gauts Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Begriff des »Ästhetischen« aufzugreifen (Gaut 2007, 26 f.). In einem engeren Sinn bezieht sich eine ästhetische Erfahrung ausschließlich auf die Schönheit eines Gegenstandes und geht mit einer angenehmen Empfindung einher, und Seel (2007, 56) scheint mir von dieser engen Bedeutung Gebrauch zu machen: »Dass ästhetische Erfahrung eine schöne Sache ist, wird vermutlich niemand bestreiten.« Hätte sich Seel, statt nur die etwas bequeme Vermutung anzustellen, alle Welt teile seine Auffassung, in der einschlägigen, rezenten Fachliteratur umgesehen, so hätte er schnell feststellen können, daß seine Vermutung in die Irre führt: Viele Autoren bestreiten heute tatsächlich und ausdrücklich, daß die ästhetische Erfahrung »eine schöne Sache« ist und sich auf eine »Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem« beschränkt. In einem weiten Sinn des Begriffs kann sich der Begriff »Ästhetik« nämlich auf alle Eigenschaften beziehen, die ein Kunstwerk für den Rezipienten interessant und wertvoll erscheinen lassen. 6 Insbesondere zählen auch die expressiven Eigenschaften eines Kunstwerks zu dessen ästhetischen Eigenschaften. Eine Tragödie ist nicht nur – wenn diese Bezeichnung überhaupt angebracht ist – schön, Zur Diskussion eines derart erweiterten Begriffs der »ästhetischen Erfahrung« siehe Budd (1995, 1. Artistic Value), Levinson (1996, 1. What is Aesthetic Pleasure?), Carroll (1999, 4. Art and Aesthetic Experience; 2001, I. Beyond Aesthetics), Reicher (2005, II. Das ästhetische Erlebnis und die ästhetische Einstellung), Gaut (2007, 2. Aesthetics and Ethics: Basic Concepts) und Rinderle (2007, 7. Die Erfahrung von Kunst).
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sie bringt auch Mitleid mit dem unverdienten Unglück ihres Helden zum Ausdruck; und Jane Austens Romane sind nicht nur Gegenstände einer »ästhetischen Wahrnehmung« im Seelschen Sinne dieses Begriffs, sie laden ihren Leser zu einer emotionalen Reaktion, zu einer heiteren, mitfühlenden Ironie gegenüber ihren Protagonisten ein. Darüber hinaus kann man sicherlich auch die formalen Eigenschaften eines Kunstwerks zu seinen ästhetischen Eigenschaften zählen (Gaut 2007, 31). Ohne Zweifel: Wir interessieren uns nicht nur für die Gegenstände, die etwa ein Gemälde oder ein Roman darstellt, sondern auch für die Form, die Art und Weise ihrer Darstellung. Aber allein darin erschöpft sich die ästhetische Erfahrung eben nicht, und oft gilt unser besonderes Interesse dem Verhältnis zwischen dem dargestellten Gegenstand und der Art und Weise seiner Darstellung. Im nächsten Kapitel werde ich noch ausführlich auf das Wechselspiel insbesondere von expressiven Eigenschaften und der formalen Gestalt in der ästhetischen Erfahrung von Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen eingehen. Wichtig ist mir an dieser Stelle lediglich, auf die unterschiedlichen Konsequenzen dieser beiden Konzepte für die Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik hinzuweisen: Der enge Begriff des »Ästhetischen« führt nämlich dazu, daß wir einem Kunstwerk – insofern wir uns für Kunst qua Kunst interessieren – keine ethischen Qualitäten zuschreiben können, sondern uns ausschließlich für die Schönheit insbesondere der formalen Qualitäten bestimmter Gegenstände interessieren. Wenn wir aber den Begriff des »Ästhetischen« erweitern, so eröffnet sich mit der Möglichkeit einer Zuschreibung von expressiven Eigenschaften auch die Möglichkeit einer ethischen Bewertung von Kunstwerken. Denn wir können uns auf dieser Grundlage fragen, ob das Mitleid, das uns eine Tragödie ansinnt, wirklich angemessen ist; wir können uns darüber streiten, ob die Ironie, zu der Austens Romane ihren Leser einladen, wirklich eine berechtigte Reaktion auf das Verhalten ihrer Protagonisten ist. Manchmal, das habe ich oben bereits kurz angesprochen, wird dagegen eingewendet, Kunst würde auf diese Weise für Zwecke instrumentalisiert, die von ihrer echten Wertschätzung ablenken. Die ästhetische Erfahrung von Kunst sei ein Selbstzweck, und eine echte Wertschätzung von Kunst müsse von allen ihr fremden kognitiven und praktischen Zwecken absehen. Einem Kunstwerk komme ein intrinsischer Wert zu, und das Interesse an seiner Schönheit dürfe nicht 59 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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einem Interesse an der Erweiterung unseres Wissens oder etwa der Verbesserung unserer Sitten untergeordnet werden. Martin Seel (2000, 44 f. und 57; Hervorh. i. O.) schreibt etwa: »In einer Situation, in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen wird, treten wir aus einer allein funktionalen Orientierung heraus. Wir sind nicht länger darauf fixiert (oder nicht länger allein darauf fixiert), was wir in dieser Situation erkennend und handelnd erreichen können. Wir begegnen dem, was unseren Sinnen und unserer Imagination hier und jetzt entgegenkommt, um dieser Begegnung willen.« »Die ästhetische Anschauung […] zeichnet […] sich durch einen Abstand von einer ausschließlichen Zweckverfolgung und eine Wachheit für eine disfunktionale Präsenz der Phänomene aus. Immer geht es ihr um das Vernehmen ihrer Objekte, auch wenn das Handeln darüber hinaus den Weg der kognitiven oder instrumentellen Aneignung geht.«
Interessanterweise schließt Seel eine »funktionale Orientierung« gar nicht kategorisch aus. Er sagt lediglich, wir träten aus einer allein funktionalen Orientierung heraus. Welche Rolle kommt dann aber der funktionalen Orientierung bei der ästhetischen Wahrnehmung eines Kunstwerks zu? Kann sie eventuell selbst zum Teil der ästhetischen Wahrnehmung werden? Wie soll das nach Seel möglich sein? Oder haben wir es zuletzt gar nicht mit zwei verschiedenen Sphären zu tun? Seel schreibt, wir könnten uns »ästhetisch und pragmatisch verhalten« (ebd., 65; Hervorh. i. O.). Wie aber ist das möglich, wenn »die Bedingung der ästhetischen Wahrnehmung« doch »ein Abstand von diesen [pragmatischen] Interessen oder zumindest von ihrer ausschließlichen Verfolgung« ist (ebd., 61; meine Hervorh.)? Während Seels Bestimmung des Verhältnisses von ästhetischer Wahrnehmung und funktionaler Orientierung also einige Defizite und Ungereimtheiten aufweist, beruht der generelle Einwand der Instrumentalisierung von Kunst meines Erachtens jedoch zunächst auf einem Fehler und in der Folge dann auch auf einem Mißverständnis. Der Fehler besteht darin, ausgehend von einem zu engen Verständnis des Begriffs »ästhetisch«, die Erfahrung von Kunst auf eine lustvolle Wahrnehmung des »Schönen« zu verkürzen. In Kunstwerken werden auch existentielle Erfahrungen des Menschen zum Gegenstand einer durchaus auch emotional eingefärbten Reflexion gemacht, und infolgedessen wird man Kunstwerke sicher nicht immer nur »schön« nennen können. Vor allem sollte man nicht den Fehler machen und ein »häßliches« Kunstwerk nur deshalb »schön« nennen, weil wir es als ein gutes, gelungenes Kunstwerk bezeichnen wollen. 60 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Inhalte der ästhetischen Erfahrung
»The ugly«, schreibt Arthur Danto (2003, 107), »does not become beautiful just because the ugly art is good.« Vor allem besteht die Möglichkeit eines pervertierten Gebrauchs der Schönheit: »If beauty is internally connected to the content of a work, it can be a criticism of a work that it is beautiful when it is inappropriate for it to be so.« (Ebd., 113; siehe auch Nehamas 2007, 21 f. und 97) Danto (2003, 114 f.) räumt jedoch auch einen legitimen Gebrauch von Schönheit in der Kunst ein und nennt Henri Matisse and Robert Motherwell als Beispiele. Auch Roger Scruton (1997, 373) plädiert für eine Trennung von Schönheit und ästhetischer Wertschätzung: »We often praise works of art that we deny to be beautiful.« Gerade in der Musikästhetik steht die Kategorie des »Charakteristischen« übrigens seit jeher in einem Spannungsverhältnis zur Kategorie des »Schönen«; vgl. Ruiter (1989, 235): »Ein Vorherrschen des Charakteristischen verträgt sich nicht mit dem klassizistischen Ideal des schönen, in sich geschlossenen und organisch gestalteten Kunstwerkes. In ihrer extremen Form kann die Ästhetik des Charakteristischen als eine betont antiklassizistische Kunsttheorie und als eine der historischen Voraussetzungen der späteren Realismustheorie sowie der Ästhetik des Hässlichen betrachtet werden.« Zudem macht Leo Tolstoi (1993, 30 f.) darauf aufmerksam, daß man im Russischen nur das »schön« nennt, »was dem Auge gefällt«: »Wenn wir von einem Gegenstand, der nach seinem Aussehen geschätzt wird ›gut‹ sagen, so sprechen wir damit zugleich aus, daß dieser Gegenstand schön ist; aber wenn wir ›schön‹ sagen, so bedeutet das durchaus nicht, daß dieser Gegenstand gut sei.«
Wollen wir den Begriff des »Schönen« also nicht überstrapazieren und damit zur Bedeutungslosigkeit verurteilen, so sollten wir uns die systematische Option offenhalten, daß uns manche Kunstwerke, ohne doch schön zu sein, eine wertvolle Gelegenheit zu einer ästhetischen Erfahrung verschaffen können. Das Mißverständnis, dem dieser Einwand aufsitzt, beruht meines Erachtens in der Annahme, daß das Interesse an einer Erweiterung unseres Wissens oder einer Reflexion unserer Emotionen notwendig mit einer Instrumentalisierung und Herabwürdigung von Kunst einhergehen müsse. Ein Kunstwerk muß aber seinen intrinsischen Wert nicht verlieren, wenn wir uns für dessen kognitive und ethische Qualitäten interessieren. Wir können es durchaus um seiner selbst willen schätzen, obwohl wir doch gleichzeitig einen kognitiven oder moralischen Gewinn von ihm erwarten. Die Anerkennung eines intrinsischen Werts von Kunst zwingt uns daher nicht zu der Annahme, ein Kunstwerk müsse von allen »gewöhnlichen« menschlichen Interessen und Bedürfnissen absehen. Die Erfahrung von Kunst kann eine Erweiterung und Verfeinerung unseres Selbst- und Weltverständnisses 61 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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beinhalten, moralisch bedeutsame Einsichten und eine »imaginative identification with a sympathetic form of life or point of view that is not one’s own« (Budd 1995, 7) befördern. Und diese Vorteile kann man als inhärente Aspekte einer ästhetischen Erfahrung verstehen, die nicht nur für sie selbst konstitutiv sind, sondern sie auch intrinsisch wertvoll machen. Sie sind nicht nur äußerlich-empirische Konsequenzen einer solchen Erfahrung, deren Substitution durch andere Mittel oder Instrumente vorstellbar wäre. Kunst, wenn wir sie in diesem erweiterten Sinn des Begriffs »ästhetisch« wahrnehmen und erfahren, kann auf diese Weise einen Beitrag zur ethischen Selbstverständigung des Menschen leisten, ohne daß sie dadurch für äußerliche, ihr selbst fremde Zwecke instrumentalisiert und zu einem bloßen Mittel herabgewürdigt würde. Dabei müssen wir sorgfältig zwischen einer (berechtigten) Zurückweisung eines nur didaktisch-erzieherischen Zwecks und einer (unberechtigten) Ablehnung einer allgemeinen ethischen Bedeutung von Kunst unterscheiden. Schon Friedrich Nietzsche hat diese Einsicht deutlich auf den Punkt gebracht: »Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschen-Verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l’art pour l’art – ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst – ist. ›Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck!‹ – so redet die blosse Leidenschaft. Ein Psycholog fragt dagegen: was thut Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie nur gewisse Werthschätzungen. […] Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehen?« (KSA Bd. 6, 127; Hervorh. i. O.).
Manchmal wird in diesem Zusammenhang von der Gefahr einer »Funktionalisierung« der Musik gesprochen. Soweit ich sehe, bleiben dabei allerdings meist zwei Fragen unbeantwortet. Erstens: Was ist unter einer »Funktionalisierung« genau zu verstehen? In welchem Verhältnis steht dieser Begriff zum Begriff der »Instrumentalisierung«? Und zweitens: Worin besteht überhaupt genau der Einwand? Was spricht dagegen – vorausgesetzt dieser Begriff hat erst einmal eine klare Bedeutung –, Musik mit einer bestimmten Funktion auszustatten? Seit ihren Ursprüngen war Musik und ihre Rezeption schließlich immer auch in soziale Kontexte eingebettet, und der Aufführung eines besonderen Werks war in sehr vielen Fällen auch eine bestimmte Funktion zugeordnet. Es widerspricht dabei gar nicht der ästhetischen Er62 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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fahrung von Musik, wenn die Hörer nicht nur »das Erscheinen von Erscheinendem« aufmerksam registrieren, sondern auch an den sozialen Aktivitäten, bei denen die Musik eine zentrale Rolle spielt, partizipieren. Im Gegenteil: Die ästhetische Wertschätzung von funktionaler Musik wird immer den Kontext ihrer Entstehung und ihrer Rezeption zumindest mit berücksichtigen müssen. Jerrold Levinson (2009, 416; Hervorh. i. O.) macht darauf aufmerksam, daß »much music has as part of its basic conception the fulfilling of certain functions, such as religious, patriotic, celebratory, or memorial ones, and has clearly been designed with such functions in mind. In such cases, proper appreciation of the music as music, and thus, aesthetic appreciation of it, must involve some attention to the manner and degree to which the music, through its formal, aesthetic and expressive properties, answers to the aims integral to the kind of music in question.«
Ohne Gefahr zu laufen, sie für externe Zwecke zu instrumentalisieren oder sie einer externen Funktion unterzuordnen, kann Helmut Lachenmann (1996, 109) die Kunst daher durchaus mit (inneren) Funktionen ausstatten: Er spricht von ihrer »Funktion der Verweigerung des Gewohnten und des Verdinglichten«, ihrer »Funktion der Bewußtmachung des bürgerlichen Widerspruchs«. Fraglich ist dabei, ob diese Funktionen die einzigen Funktionen von Kunst sind und ob Musik notwendig immer nur negativ, aufklärerisch und subversiv sein muß! Anthony Savile (1982, 294) kritisiert deshalb mit Recht Adornos Gleichsetzung von affirmativen »Kunstwerken« mit schlechten bzw. korrupten Kunstwerken und negativ-subversiven Kunstwerken mit bewundernswerten Kunstwerken: Zum einen, so Savile, sei es sehr leicht, Gegenbeispiele gegen diese Gleichsetzung zu finden, und zum anderen sei es ein hoffnungsloses Unterfangen, ein überzeugendes Argument für sie zu finden. Ja, sogar die sogenannte »autonome Musik«, so Hans Heinrich Eggebrecht (1996, 586), sei, »auch wenn sie sich noch so sehr als a- oder antifunktional versteht, keineswegs frei von Funktionen. Dies würde bedeuten, daß sie jenseits der Gesellschaft angesiedelt ist; eine nicht gesellschaftlich determinierte und eingebundene Art von Musik aber gibt es nicht.« Liefe das nun nicht nur auf eine bloße Wortklauberei hinaus, könnte man mit Eggebrecht an einer strikten Unterscheidung zwischen dem ästhetischen und dem funktionalen Wert der Musik festhalten: Der ästhetische Wert betrifft Eggebrecht zufolge »die rein 63 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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musikalische Qualität nach den Maßstäben etwa der Sinnhaltigkeit, des Ausdrucksreichtums, der formalen Stimmigkeit, der in sich selbständigen Schönheit«. (Man beachte, daß Eggebrecht einen relativ weit gefaßten Begriff des »Ästhetischen« verwendet, der neben der formalen Stimmigkeit von Musik auch ihre Sinnhaltigkeit und ihre Expressivität umfaßt.) Und funktionale Musik weiß sich dagegen »im Dienst von etwas ihr Vorgegebenem, und es ist ihre Absicht, ihre Intention, sich diesen Dienst zu ihrer Aufgabe zu machen: Sie ist intentional funktional.« Auch in diesem Fall würde der Funktionalismus-Einwand nicht greifen, denn die ethische Bedeutung von Musik ist unmittelbar mit ihrer Sinnhaltigkeit und ihrem Ausdrucksreichtum verknüpft und erschließt sich keinesfalls allein aus der subjektiven Intention oder der bloßen Absicht, einen vorgegebenen Zweck wie etwa die Manipulation von Emotionen anderer Personen zu erreichen. Da manche Gegenstände – denken wir an soziale Institutionen – aber eine Funktion haben können, ohne daß dies bei ihrer »Produktion« subjektiv beabsichtigt gewesen wäre, möchte ich an meinem weiteren Begriff der »Funktion« festhalten, der einen ästhetischen Wert auch von Gebrauchsmusik nicht ausschließt. Auch Eggebrecht (ebd., 587) schreibt zunächst zwar: »Die Musik, die im Zeichen des (rein) ästhetischen Werts geschaffen, rezipiert und beurteilt wird, ist beabsichtigt afunktional; es ist die intentional (von Funktionen) freie Musik, die in jüngerer Zeit auch autonome Musik genannt wird: Sie ›gibt sich selbst das Gesetz‹ ihres Kunstdaseins, das sich in dem Sinne wertvoll zu machen versucht, daß es dem reinen, dem selbstvergessenen Hinhören sich verschreibt.« Er lenkt aber in der Folge gleich wieder ein: Selbst die sogenannte »autonome Musik« – die Absichten des Komponisten sind dafür irrelevant – sei »keineswegs frei von Funktionen« (ebd.). Zuletzt lasse sich daher eine strikte Trennung von absoluter Musik und funktionaler Musik gar nicht aufrechterhalten. Denn »wie die funktionale Musik, indem sie ihre Funktion zu erfüllen trachtet, auch rein ästhetisch gut sein kann, so kann die autonom konzipierte Musik rein ästhetisch schlecht (unstimmig, epigonal, langweilig und nichtssagend) sein«. Kritisch zum »Mythos« bzw. »Dogma« der musikalischen Autonomie siehe insbesondere auch Taruskin (2009, 3 ff. und 339).
Halten wir als erstes Ergebnis dieser Überlegungen fest: Wir können ein besonderes Vergnügen an einem Musikstück haben, wir können ein Musikstück aber auch als ein Medium für eine nicht immer nur vergnügliche Reflexion unserer Emotionen und, umfassender, für eine 64 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Spiegelung unseres Selbstverständnisses verwenden (vgl. Kapitel 4). Musik bleibt dabei immer noch ein Selbstzweck, denn diese Aspekte ihrer ästhetischen Erfahrung können uns um ihrer selbst willen wertvoll erscheinen. Zudem verhält sich die Musik in diesen Fällen nicht nur wie ein Instrument, das in einer rein äußerlich-kontingenten Verbindung mit diesem Zweck steht und beliebig durch andere Instrumente ersetzt werden könnte. Ohne das betreffende Musikstück wäre uns ein bestimmtes ästhetisches Vergnügen nämlich gar nicht zugänglich, und auch eine Reflexion mancher Emotionen ist womöglich auf eine bestimmte Form von Musik angewiesen. Die emotionale Empfänglichkeit für Musik steht also der von einer intrinsischen ästhetischen Wertschätzung geforderten Suspension unmittelbarer praktischer und persönlicher Belange nicht im Wege. Mit anderen Worten: Musik kann eine besondere interne Funktion haben, ohne deshalb notwendig für beliebige externe Zwecke instrumentalisiert zu werden. Funktionale Musik kann um ihrer selbst willen geschätzt und ästhetisch erfahren werden, und nur eine externe Instrumentalisierung von Musik läßt sich nicht mit dem intrinsischen Wert ihrer ästhetischen Erfahrung vereinbaren. Zweifelsohne wird man eine externe Instrumentalisierung von einem Interesse an einer echten ästhetischen Erfahrung von Musik unterscheiden müssen. Bedenklich erscheint erst die Möglichkeit, die Bedeutung und Wertschätzung von Musik auf diese instrumentelle Verwendungsweise hin einzuschränken. Wird Musik nur noch als Mittel zum Zweck der Beeinflussung der eigenen Emotionen oder der Emotionen anderer Menschen verstanden und geschätzt, so geht eine wichtige Dimension ihrer möglichen Wertschätzung verloren: das spezifisch ästhetische Vergnügen nämlich und die Möglichkeit einer echten emotionalen Resonanz als Antwort auf ihre inhärenten expressiven Eigenschaften. Das wäre tatsächlich ein herber Verlust. Doch allein der Umstand, daß ich die ethische Bedeutung von Musik zum Thema meiner Untersuchung mache, bedeutet eben nicht notwendig, daß damit der Unterschied zwischen verschiedenen Typen der Funktionalisierung von Musik übersehen werden müßte. Wir können daher die ethischen Dimensionen von Musik bejahen, ohne dabei den Charakter der Musik als eines ästhetischen Selbstzwecks bzw. eines intrinsischen Werts aus dem Auge verlieren zu müssen. Genauer kann man den Unterschied zwischen dem intrinsischen Wert eines Musikstücks und den Möglichkeiten einer äußerlichen 65 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Instrumentalisierung mit der Unterscheidung zwischen seiner internen und einer externen Funktion umschreiben (Levinson 2009, 416). Mit dieser Unterscheidung verfügen wir auch über eine Möglichkeit, die Ungereimtheiten von Seels Bestimmung des Verhältnisses von ästhetischer und pragmatisch-funktionaler Orientierung bei der Rezeption eines Kunstwerks aus dem Weg zu räumen. Das ästhetische Interesse wird dabei allein der internen Funktion eines Musikstücks gelten; schon das Verstehen des betreffenden Werks wird sich wesentlich auf diese interne Funktion beziehen müssen. Ein pragmatisches Interesse an einer Instrumentalisierung für Zwecke, die dem Musikstück selbst fremd oder eben äußerlich sind, für Strategien der Selbst- bzw. Fremdmanipulation wird man nicht mit diesem ästhetischen Interesse gleichsetzen dürfen; jedes Kunstwerk kann natürlich für verschiedene Zwekke instrumentalisiert werden, mit einer ästhetischen Erfahrung läßt sich dies aber nicht mehr vereinbaren. Sicher kann ein Musikstück, das etwa eine Einladung zur Nachempfindung einer religiösen Emotion ausspricht (vgl. Abschnitt 4.4), unterschiedliche Funktionen erfüllen: Manche Menschen werden es sich zur Entspannung anhören, andere Menschen spielen es ihren Freunden vor, um sie mit ihrer eigenen Kultiviertheit zu beeindrucken. Das sind alles externe Zwecke bzw. Funktionen, die der inneren ethischen Bedeutung des Stücks nicht entsprechen. Religiöse Musik selbst kann darüber hinaus aber einen ganz anderen und eigenständigen Anspruch an den Hörer herantragen. Dem betreffenden Musikstück kann eine interne Funktion zugeschrieben werden, wenn es dem Hörer eine seinem expressiven Gehalt entsprechende emotionale Reaktion ansinnt. Eine zentrale interne Funktion von Kunstwerken mit besonderen expressiven Qualitäten besteht etwa darin, uns bestimmte Emotionen und Stimmungen zugänglich zu machen und uns so in die Lage zu versetzen, die Emotionen und Stimmungen anderer Menschen besser zu verstehen (Green 2008, 118). Sicherlich ist das eine ganz andere Art und Weise der »Verwendung« eines Musikstücks, und sicherlich wird man nicht bezweifeln, daß diese zweite Verwendungsweise der Möglichkeit einer echten ästhetischen Wertschätzung des betreffenden Musikstücks nicht entgegensteht, sondern vielmehr als ein unverzichtbarer Teil einer solchen Wertschätzung angesehen werden muß. Davon wird später allerdings noch in verschiedenen Zusammenhängen ausführlich die Rede sein. An dieser Stelle kommt es mir allein auf den Nachweis an, daß die 66 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Inhalte der ästhetischen Erfahrung
Anerkennung einer ethischen Bedeutung von Musik die Möglichkeit ihrer ästhetischen Wertschätzung zumindest nicht ausschließen muß. Wie man sich diese Verbindung von Ethik und Ästhetik im einzelnen vorstellen kann, bedarf einer genaueren Untersuchung. Vor allem besteht die vor uns liegende Aufgabe darin, Argumente für die Möglichkeit einer Interaktion von ethischen und ästhetischen Dimensionen bei der Wahrnehmung von Kunst zu finden. Im nächsten Kapitel möchte ich zu diesem Zweck einen Begriff des integren Kunstwerks entwikkeln, der auf die ästhetische Bedeutung der ethischen Dimension eines Kunstwerks anspielen soll. Mit dieser Klärung des allgemeinen Verhältnisses von Ethik und Ästhetik soll die Grundlage für eine Analyse einzelner Aspekte unseres Problems gelegt werden. Die Frage ist ja doch, welche spezifische ethische Bedeutung die Musik für ihre Hörer haben kann. In Kapitel 3 gehe ich zunächst auf die Frage nach der Bedeutung expressiver Musik für die Kultivierung einer Fähigkeit zur exakten emotionalen Phantasie ein, in Kapitel 4 werfe ich die spezielle Frage nach der speziellen ethischen Bedeutung von humorvoller, tragischer und religiöser Musik auf, und in Kapitel 5 wende ich mich der Bedeutung expressiver Musik für die politische Kultur einer liberalen Demokratie zu.
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2. Kunst, Moral und gutes Leben
Die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik wurde in der Geschichte der Philosophie lange Zeit nicht kontrovers diskutiert. Zwar gab es unterschiedliche Auffassungen, was unter den Begriffen »Ethik« und »Ästhetik« zu verstehen sei, doch an der nahezu allgemein geteilten Auffassung, daß »das Gute« und »das Schöne« auf innige Weise miteinander verbunden seien, wurde nur sehr selten gerüttelt. Von Platon und Aristoteles über Augustinus bis mindestens zu Hume, Rousseau und Schiller galt trotz vieler Differenzen im Detail: Die Kunst übt einen großen und mitunter gefährlichen Einfluß auf die Lebensführung des Menschen aus, spielt eine wichtige Rolle bei der sittlichen Erziehung des Menschen und kann einen großen Einfluß auf das Zusammenleben der Menschen ausüben. Aus diesem Grund, so die Vertreter dieser Tradition, bedürfe es einer sorgfältigen Auswahl von Kunstwerken, denn unter Umständen könnten sie großen Schaden anrichten. In seiner späten Erzählung Kreutzersonate nimmt Leo Tolstoi (2001, 184 f.) Ludwig van Beethovens gleichnamige Violinsonate zum Anlaß für eine pauschale Verurteilung der Musik: »Die Musik überhaupt ist etwas Schreckliches. […] Man sagt, die Musik wirke erhebend auf die Seele. Unsinn! Lüge! Sie wirkt auf die Seele, schrecklich wirkt sie – ich spreche von mir selbst – durchaus nicht erhebend. […] Die Musik bewirkt, daß ich mich selber, meine wirkliche Lage vergesse; sie versetzt mich in eine andere Lage; unter der Einwirkung der Musik glaube ich etwas zu empfinden, was ich in Wirklichkeit nicht empfinde, etwas zu verstehen, was ich nicht verstehe, etwas vollbringen zu können, was ich nicht vollbringen kann. […] In China steht die Musik unter Staatsaufsicht. Und so muß es auch sein. Darf man etwa gestatten, daß jeder, der Lust dazu hat, einen anderen oder mehrere in künstlichen Schlaf versetzt und dann mit ihnen macht, was er will? Und vor allem, daß dieses der erste beste sittenlose Mensch tut?«
Im Laufe des 19. Jahrhunderts und spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich diese Situation grundlegend geändert: Die Anhänger 68 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Kunst, Moral und gutes Leben
formalistischer Kunsttheorien stellen den traditionellen Konsens über einen engen Zusammenhang zwischen dem »Guten« und dem »Schönen« in Frage und plädieren für eine klare Trennung von Ethik und Ästhetik. Kants Kritik der Urteilskraft und vor allem Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen kann man zu den Vorläufern einer solchen formalistischen Kunsttheorie zählen (speziell zur Genese des musikalischen Formalismus vgl. Subotnik 1996, 150 f.; Kivy 2009, I. The Founding of Formalism). Denkt man jedoch an Philosophen wie Hegel, Schopenhauer, J. St. Mill, Tolstoi oder Nietzsche, so sieht man, daß auch das 19. Jahrhundert noch von der allgemeinen Überzeugung eines engen Zusammenhangs von Ethik und Ästhetik geprägt war. Die Romantik sah zwar die Kunst in einem neuen Licht: Kunst wurde nicht mehr als Nachahmung einer äußeren Wirklichkeit, nicht mehr als Mimesis verstanden, sie galt jetzt als ein Ausdruck des Innenlebens des Menschen. In den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders bezeichnen Wilhelm Wackenroder und Ludwig Tieck (2001, 46) Kunst als »Blume menschlicher Empfindungen«. Doch ihr Verhältnis zur Lebensführung des Menschen wurde damit nur noch sehr viel enger: Ein wirklich gutes Leben muß ein Leben sein, das der Kunst gewidmet ist. Im Zuge der Abwendung von einer romantischen Auffassung der Kunst und im Zuge neuerer Entwicklungen in den einzelnen Künsten setzen sich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts endgültig formalistische Theorien der Kunst durch. Folgende Zitate können diese Position sehr gut veranschaulichen: »Der Inhalt der Musik«, schreibt Eduard Hanslick (1989, 59), »sind tönend bewegte Formen.« »Die allen Werken der bildenden Kunst eigene gemeinsame Eigenschaft« ist Clive Bell (1922, 18) zufolge »bedeutsame Form«. Bell spricht dabei zwar vor allem von der Bildenden Kunst, geht aber auch kurz auf die Musik ein: »Ich verstehe Musik zu wenig, als daß sie mich weit hinwegtragen könnte in das Reich der rein ästhetischen Ekstase. Aber für Augenblicke genieße ich sie als rein musikalische Form, als Töne, die nach den Gesetzen einer geheimnisvollen Notwendigkeit verbunden sind, als reine Kunst mit einer fabelhaften Bedeutsamkeit in sich, ohne irgendwelche Beziehung zum alltäglichen Leben.« (Ebd., 29 f.) Dem Formalisten zufolge ist die Kunst weder nur als ein Abbild der Wirklichkeit noch auch als ein Ausdruck des Selbst zu verstehen, und mit dieser Auffassung mußte sie auch ihre ethische Bedeutung verlieren. Zwar wäre es sicher ein Mißverständnis, die traditionelle 69 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Kunst, Moral und gutes Leben
Sicht als eine instrumentalistische Auffassung zu deuten: Kunst galt in ihr sicher nicht nur als Mittel zum Zweck der moralischen Verbesserung des Menschen. Dennoch konnten die Formalisten behaupten, ihre Auffassung erlaube eine Emanzipation der Kunst von allen ihr fremden Zwecken und damit auch erst die Möglichkeit eines Interesses an Kunst, das ihrem intrinsischen Wert gerecht werde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren nicht nur die philosophische Ästhetik und (zu einem gewissen Teil) die Künste selbst, sondern auch die Kunstgeschichte, die Literatur- und Musikwissenschaften im 20. Jahrhundert von dieser formalistischen Auffassung geprägt. Seit nunmehr mindestens 20 Jahren zeichnet sich in der Philosophie der Kunst jedoch eine Renaissance der traditionellen Sichtweise ab. Im Anschluß vor allem an Aristoteles und Hume heben Theoretiker unterschiedlichster Couleur heute wieder den engen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik hervor (vgl. Ricoeur 1990, 6.3 Les implications éthiques du récit; Nussbaum 1998; Eaton 2001; Gaut 2007; Hagberg 2008). Es erscheint daher sinnvoll, eine Untersuchung der ethischen Bedeutung von Musik durch eine Klärung des systematischen Verhältnisses von Kunst und Ethik vorzubereiten. Nachdem die jüngere Debatte inzwischen relativ weit verzweigt und unübersichtlich ist, möchte ich in einem ersten Abschnitt ihr Terrain vermessen und einen Überblick über die wichtigsten systematischen Optionen geben (2.1). Anschließend gehe ich auf die zentralen Argumente zugunsten einer strikten Trennung von Kunst und Ethik ein und weise auf deren Schwächen hin (2.2). In einem dritten Abschnitt möchte ich zunächst zu zeigen versuchen, auf welche Weise die Expressivität von Kunst ethisch bedeutsam werden kann, und in diesem Zusammenhang auf Berys Gauts Argument der verdienten Antwort eingehen (2.3). Gaut vertritt die Auffassung, daß die ethische Bedeutung expressiver Kunst in einem engen Zusammenhang mit einer angemessenen ästhetischen Wertschätzung von Kunst steht. Da Gauts Argumentation aber einige Lücken aufweist, möchte ich eine Modifikation dieses Arguments vorschlagen: Vor allem die Bedeutung der formalen Gestaltung für den expressiven Charakter eines – in meiner Diktion: integren – Kunstwerks soll dabei herausgearbeitet und unterstrichen werden (2.4). Anschließend gehe ich auf die Herausforderung der sogenannten Immoralisten ein, die im Gegensatz zu den Moralisten die Möglichkeit einräumen, daß ein ethisches Defizit durchaus eine besondere ästhetische Qualität eines Kunstwerks aus70 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Kunst, Moral und gutes Leben
machen könne. Ich werde an dieser Stelle für eine vorsichtige Erweiterung der ethizistischen Position Gauts plädieren und die These vertreten, daß ein Kunstwerk in ästhetischer Hinsicht manchmal sogar von unmoralischen Eigenschaften profitieren kann (2.5). Zuletzt wende ich mich wieder der Musik zu und präsentiere einige Beispiele für unmoralische Musikstücke, die dennoch – und zwar gerade aufgrund ihrer ethischen Qualitäten – ästhetische Vorzüge aufweisen können (2.6). Meine Abschlußthese lautet: Nicht jede unmoralische Einladung verdient es, ausgeschlagen zu werden, denn unter bestimmten Bedingungen kann sie sogar besondere ästhetische Qualitäten aufweisen. Noch eine Vorbemerkung zum Stellenwert der nachfolgenden Diskussion: Obwohl in den meisten Beiträgen ganz allgemein von »Kunst« bzw. »ästhetischer Erfahrung« die Rede ist, wird das Verhältnis von Ethik und Ästhetik meist ausschließlich mit Bezug auf die Literatur diskutiert (vgl. Palmer 1992; Nussbaum 1998; Gaut 2007). Das Verhältnis von Ethik und Musik wird dabei regelmäßig vernachlässigt, und auch Beiträge zur ethischen Bedeutung der Malerei bilden eher die Ausnahme (vgl. Budd 1995, 2. The Art of Pictures; Robinson 2005, 279 ff.; Schama 2006; Nehamas 2007; Gaut 2007, 1.4 Two Bathshebas und 103 ff.). Wenn man trotz aller Unterschiede an einigen zentralen Gemeinsamkeiten von verschiedenen Künsten festhalten kann, dann lassen sich viele Erkenntnisse, die sich aus der Untersuchung des Verhältnisses von allgemeiner Ästhetik und Ethik gewinnen lassen, aber auch auf das Verhältnis von Musikästhetik und Ethik übertragen und anwenden. Dabei müssen sicherlich die Eigenheiten verschiedener Künste beachtet werden (Budd 1995, 44; Kivy 1997, x), denn die ethische Bedeutsamkeit von Musik (oder Malerei) könnte einige Besonderheiten gegenüber der ethischen Relevanz von Literatur aufweisen. Peter Kivy (2009) hat Literatur und Musik jüngst sogar als »antithetische Künste« bezeichnet. Insofern aber beide Gattungen nach wie vor als »Künste« gelten – und das stellt auch Kivy nicht in Frage –, sollte man trotz aller Unterschiede auch bestimmte Gemeinsamkeiten angeben können; und insofern auch Kivy die Möglichkeit von Vokalmusik als einer Kombination von Literatur und Musik nicht in Frage stellt, scheint es sogar Möglichkeiten zur Überwindung dieser Antithese zu geben. Daher kann man nach wie vor auch ein Interesse an der Beschreibung und Vermessung eines Terrains haben, das ganz allgemein von den ethischen und ästhetischen Dimensionen der Kunst umschlossen wird. 71 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Kunst, Moral und gutes Leben
2.1 Zur Vermessung des Terrains Wie also verhalten sich die ethischen Dimensionen eines Kunstwerks zu dessen ästhetischen Dimensionen? Gibt es hier die Möglichkeit einer Interaktion? Kann die moralische bzw. ethische Qualität eines Kunstwerks einen Beitrag zu seiner ästhetischen Wertschätzung leisten? Oder sind Moral und Ästhetik zuletzt nicht zwei verschiedene Paar Stiefel? 1 Schon die Rede von einer »moralischen Qualität« eines Kunstwerks erscheint klärungsbedürftig. Die primären »Gegenstände« einer moralischen Beurteilung sind schließlich bestimmte Handlungen, aber auch den Charakter von Personen sowie politische Institutionen bezeichnen wir manchmal als unmoralisch. Dabei möchte ich möglichst neutral gegenüber konkurrierenden Moraltheorien bleiben: Den Anhänger einer deontologischen Moral wird vor allem eine Übereinstimmung von Handlungen mit moralischen Regeln interessieren; das Augenmerk eines Utilitaristen wird in erster Linie den Konsequenzen einer Handlung gelten; und ein Vertreter der Tugendethik wiederum wird den moralischen Charakter einer Person in den Blick nehmen. Aber auch für einen Tugendethiker sind die Handlungen des Menschen wichtig, und sowohl die Anhänger einer deontologischen Moral als auch Utilitaristen können sich für dessen Charakter interessieren (dazu: Hursthouse 1999, Introduction, 1. Right Action und 120; Foot 2004, 27 ff.). Was also sollte gemeint sein, wenn von der unmoralischen Qualität etwa eines Romans, eines Gemäldes oder einer Klaviersonate gesprochen wird? Die Antwort lautet, daß wir bei der Rezeption eines Kunstwerks die Erfahrung der Begegnung mit einer (imaginären) Person machen können, die eine Art Charakter hat und gleichsam beIm Gegensatz dazu interessiert sich Früchtl (1996, 21) offenbar nur für die Frage, welchen Beitrag die Ästhetik für eine philosophische Ethik leisten kann, und unterscheidet in der Folge verschiedene Antwortmöglichkeiten. Auch Bohrer (2004, 247 ff.) scheint sich nur um die ethische Bedeutung einer bestimmten ästhetischen Einstellung zu kümmern. Mit zahlreichen Autoren, die man eher der analytischen Ästhetik wird zurechnen können, geht es mir dagegen um die Auswirkungen der (in einem weiten Sinn) ethischen Qualitäten eines Kunstwerks für dessen ästhetische Wertschätzung. Diese Frage spricht Früchtl (z. B. 1996, 41) nur einmal kurz am Rande an; und Bohrer beschäftigt sich mit ungleich bedeutenderen Problemen: der »Tiefendimension des Ästhetischen« (2004, 251) etwa oder der Frage, ob »die philosophische Metaphysik« »das metaphysische Bedürfnis des Ästhetischen« (ebd., 253) noch erfüllen kann.
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Zur Vermessung des Terrains
stimmte Handlungen ausführt. Eine Tragödie kann den Zuschauer etwa zum Mitleid gegenüber dem unverdient leidenden Helden auffordern; das ist zweifelsohne eine – einer fiktiven Person zuzuschreibende – Handlung, der eine moralische Qualität zukommen kann. Und eine Karikatur kann zum Beispiel ihren Spott über das unverdiente Leid eines Menschen ausschütten; wir würden dann vielleicht von einem zynischen Charakter dieser Karikatur sprechen. Auch Musikstücken spricht man ja oft einen bestimmten Charakter zu (vgl. Körner 1964; Ruiter 1989), und dieser kann dann wiederum die Grundlage für eine moralische oder ästhetische Bewertung eines Werks bilden. Colin Radford (1991, 425 f.) meint beispielsweise, Ravels Bolero und auch Jazz werde von manchen (puritanistischen) Hörern als dekadente, unmoralische Musik bezeichnet; und Rock’n’Roll werde manchmal als subversiv und zügellos angesehen. Über die moralische Bewertung dieser Eigenschaften läßt sich nun sicherlich streiten, und Radford selbst schreibt über den Rock’n’Roll: »I not only enjoy its subversiveness but believe it to be a force for good.« An dieser Stelle soll es aber allein auf die Tatsache ankommen, daß sich Radford und seine puritanistischen Freunde zumindest hinsichtlich der Möglichkeit einer moralischen Bewertung der Musik einig sind. Wir müssen also gar keinen Konsens über die Inhalte der Moral voraussetzen – das tun wir bei der moralischen Beurteilung von Handlungen realer Menschen ja auch nicht –, um doch an der Auffassung festhalten zu können, daß man Kunstwerken moralische Qualitäten zuschreiben kann. Sehr sorgfältig sollte man dabei zwischen dem »moralischen Charakter« und einer »moralisierenden« Haltung eines Kunstwerks unterscheiden. Auch dieser Unterschied ist uns aus dem Alltagsleben geläufig: Manche Personen »predigen« zwar die Moral, sind aber allein deswegen noch keine »moralisch guten« Personen. Oft liegt sogar eher der Verdacht nahe, daß sie hinter ihren Predigten bestimmte Laster verstecken. Ähnliches gilt für Kunstwerke: »Moralisierende« – in einem durchaus pejorativen Sinne dieses Begriffs – Kunstwerke, die ihrem Rezipienten nur eine moralische Lektion erteilen oder sich selbst einen besonderen moralischen Anschein geben möchten, können einen moralischen Defekt und gerade aus diesem Grund auch ein ästhetisches Defizit aufweisen (Gaut 2007, 104). Wenn ich also von einem »moralischen« Charakter oder einer »ethischen« Bedeutung eines Kunstwerks spreche, so meine ich damit immer die »echte« oder »wahre« Haltung des Kunstwerks, nicht einen besonderen Anschein, den es bei 73 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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seinem Rezipienten erwecken möchte. Allein aus der Annahme, daß Kunstwerke einen moralischen Charakter haben können, lassen sich allerdings noch keine weitreichenden Schlußfolgerungen hinsichtlich des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik ziehen. Kommen wir also zu unserer Hauptfrage nach den möglichen Interaktionen zwischen den ethischen und den ästhetischen Dimensionen von Kunst zurück. Aus einer systematischen Perspektive kann man zwei Positionen unterscheiden: Der Moralist behauptet, unsere Wertschätzung von Kunst sei unter anderem auch von einem ethischen oder moralischen Interesse geleitet. Sicherlich muß der Moralist die Kunst nicht vollständig für moralische Zwecke instrumentalisieren, er muß sich also nicht auf die Position festlegen, der Wert der Kunst gehe darin auf, nur ein Mittel zum Zweck der Verbesserung des Menschen zu sein. Der Moralist vertritt also keine reduktionistische Position. Er mag die Kunst auch als Mittel zum Zweck der moralischen Verbesserung ansehen, dabei allerdings nicht den möglichen intrinsischen Wert der Kunst in Frage stellen. Der Umstand, daß sich manche Werte in einer engen Relation zu unseren alltäglichen Interessen befinden – man kann von relationalen oder extrinsischen Werten sprechen –, bedeutet nicht, daß es sich dabei um rein instrumentelle Werte handeln muß, die nur Mittel zur Realisierung dieser Interessen sind (vgl. Budd 1995, 1. Artistic Value; Rinderle 2007, 7. Die Erfahrung von Kunst). Der Separatist hält dagegen an einer vollständigen Autonomie des Wertes der Kunst gegenüber allen rein äußerlichen, epistemischen und ethischen Interessen fest. 2 Verwendet man ein Kunstwerk zur Gewinnung neuer Einsichten oder zur moralischen Verbesserung des Menschen, begeht man in den Augen des Separatisten geradezu ein Sakrileg. Dabei ist der Separatismus in der Geschichte der Philosophie der Kunst meist Hand in Hand mit einer formalistischen Auffassung von Kunst gegangen; und in der Musikästhetik vertreten etwa Eduard Hanslick und heute wieder Peter Kivy separatistische Positionen auf formalistischer Grundlage. Bei letzterem haben wir es dabei mit dem interessanten Fall zu tun, daß er zwischen einem orthodoxen, extremen Formalismus und einem neuen, erweiterten Formalismus unterIn der angelsächsischen Debatte hat sich für die Bezeichnung dieser Position inzwischen der Begriff »autonomism« eingebürgert; aus ästhetischen Gründen vermeide ich aber unschöne Begriffe wie »Autonomist« bzw. »Autonomismus« und verwende die Begriffe »Separatist« bzw. »Separatismus« (vgl. auch Eaton 2001).
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scheidet und damit – im Gegensatz gerade zu Hanslick – auch ein expressives Potential von Musik einräumen kann, weiterhin aber nichts von einer ethischen »Bedeutung« von Musik wissen möchte (vgl. Kivy 2009, 60 und Abschnitt 3.3). Soweit ich sehen kann, sollte man das Verhältnis zwischen dem Moralismus und einer Auffassung, die die Form als wichtiges Merkmal eines Kunstwerks versteht, jedoch nicht als einen strikten Gegensatz verstehen. Obwohl sich der Separatist oft auf einen formalistischen Kunstbegriff stützt, ist ein adäquat formulierter Formbegriff mit der moralistischen Position, die ich unter dem Etikett »erweiterter Ethizismus« selbst verteidigen möchte, nicht nur vereinbar, sondern für eine solche sogar ganz und gar unverzichtbar. Wir müssen nun freilich aufpassen, den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Fragen nicht aus dem Auge zu verlieren. Zum einen: Hat die Kunst, hat die Musik auch eine ethische Bedeutung? Ist eine Interpretation und Wertschätzung bzw. eine Kritik eines Kunstwerks legitim, die genau auf einer solchen ethischen Bedeutung beruht? Und zum anderen: Ist diese ethische Bedeutung eines Kunstwerks auch von ästhetischer Relevanz? Können ethische Vorzüge also ästhetische Qualitäten eines Kunstwerks begründen? Und haben ethische Defekte oder Mängel eines Kunstwerks ästhetische Defizite zur Folge? Der Separatist könnte, wie gesagt, die erste Frage positiv beantworten und dennoch auf einer negativen Antwort auf die zweite Frage beharren. Bevor ich mich den Argumenten für eine moralistische Position zuwende, erscheint es deshalb sinnvoll, das Spektrum verschiedener Positionen noch etwas genauer zu differenzieren. Heute wird nämlich zusätzlich zwischen radikalen und moderaten Versionen des Moralismus und des Separatismus unterschieden (vgl. Carroll 2000, 374; Gaut 2007, 4. Autonomism). Meine eigene Position, die ich nach und nach in der Auseinandersetzung mit alternativen Positionen entwickeln und begründen will, wird sich eng an eine moderate Version des Moralismus anlehnen, in mehrfacher Hinsicht dann aber über diese hinausgehen. Der radikale Separatist lehnt nicht nur eine moralisch-ethische Kritik von Kunstwerken als illegitim und irrelevant ab, sondern bestreitet darüber hinaus die Existenz einer – wie auch immer zu verstehenden – ethischen Bedeutung von Kunst. Der moderate Separatist räumt im Gegensatz dazu die Legitimität einer moralischen Kritik von Kunstwerken ein, hält aber an einer strikten Trennung zwischen der ethischen und der ästhetischen Bewertung eines Kunstwerks fest 75 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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(vgl. Anderson/Dean 1998). Radikale Separatisten, die die Möglichkeit einer ethischen Bedeutung von Kunstwerken vollständig ablehnen, sind heutzutage so gut wie ausgestorben. Daß man etwa Leni Riefenstahls Dokumentarfilm Triumph des Willens über den Nürnberger Reichsparteitag von 1934 oder de Sades Roman Die Geschichte Juliettes aus einem moralischen Blickwinkel rezipieren und kritisieren kann, das würden selbst viele Separatisten nicht mehr bestreiten wollen. Ein moderater Separatist könnte aber, wie gesagt, die ethische Bedeutung eines Kunstwerks einräumen, ohne dieser Bedeutung eine ästhetische Relevanz zuzugestehen. Der moderate Moralist vertritt dagegen die Auffassung, daß sich ethische Vorzüge bzw. Defekte eines Kunstwerks auf dessen ästhetische Beurteilung auswirken. Im Unterschied zum radikalen Moralisten bleibt der moderate Moralist jedoch ein Pluralist: Unabhängig davon, welche Reichweite er der moralischen Kritik einräumt, kann es dem moderaten Moralisten zufolge nämlich ästhetische Kriterien für die Beurteilung eines Kunstwerks geben, die nichts mit dessen ethischer Qualität zu tun haben. Man kann zusätzlich zwei Spielarten des moderaten Moralismus unterscheiden: Ein bescheidener moderater Moralist wird behaupten, daß die ethische Dimension eine ästhetische Auswirkung haben kann; die moralische Kritik ist dieser Position zufolge nur manchmal von ästhetischer Relevanz. Ein ehrgeiziger moderater Moralist würde dagegen behaupten, daß die moralische Kritik eines Kunstwerks immer von ästhetischer Relevanz sein wird, und zwar selbst dann, wenn sie nicht die vollständige Bedeutung eines Kunstwerks umfaßt. Diese letztere, ehrgeizigere Position wird in der gegenwärtigen Debatte von Berys Gaut unter der Bezeichnung »Ethizismus« vertreten. Gauts zentrale These lautet: Die ethische Dimension eines Kunstwerks ist ein pro tanto Grund für einen größeren ästhetischen Wert dieses Kunstwerks. Und dabei unterscheide ich hier noch nicht zwischen möglichen ethischen und moralischen Qualitäten eines Kunstwerks (vgl. Abschnitt 1.4 und Abschnitte 2.5 und 2.6), denn für die meisten Moralisten wie auch für den Ethizisten Gaut sind mit den ethischen Eigenschaften einfach die moralischen Eigenschaften von Kunst gemeint. Sollte also ein Kunstwerk einen ethischen Vorzug besitzen, der seinerseits von ästhetischer Relevanz ist, dann weist dieses Werk immer auch einen ästhetischen Vorzug auf; und sollte ein Kunstwerk einen ethischen Mangel haben, der seinerseits von ästhetischer 76 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Relevanz ist, dann weist es auch in ästhetischer Hinsicht einen Mangel auf (Gaut 2007, 52). Die Einschränkung nun, daß ein ästhetisch relevanter ethischer Vorzug immer ein pro tanto Grund für einen ästhetischen Vorzug ist, läßt die Möglichkeit offen, daß andere Qualitäten eines Werks – etwa rein formale Qualitäten – dessen umfassenden ästhetischen Wert wieder schmälern. Nicht allen Werken mit einer unbestreitbar großen ethischen Qualität kommt daher notwendig auch ein sehr hoher ästhetischer Wert zu. Die Position des Ethizisten sollte also nicht mit der Position eines radikalen Moralisten verwechselt werden, demzufolge die ästhetische Bedeutung eines Kunstwerks in seiner ethischen Bedeutung aufgeht, moralische Kritik daher auch alle anderen Aspekte ausschließt und den ästhetischen Wert eines Kunstwerks ganz allein bestimmt. Für den radikalen Moralisten gibt es neben den ethischen Qualitäten eines Kunstwerks keine weiteren ästhetischen Maßstäbe für die Beurteilung dessen Werts, für den Ethizisten ist die ethische Qualität eines Kunstwerks dagegen nur ein Kriterium seines Werts neben anderen. Zusätzlich finden sich in der Debatte heute Positionen, die eine generelle Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Ethik ablehnen und für eine Differenzierung zwischen verschiedenen Künsten plädieren. So könnte man etwa eine moralistische Position für die darstellenden Künste wie Literatur oder Malerei und gleichzeitig eine separatistische Position für die abstrakte Kunst der Instrumentalmusik vertreten und dann von einem partiellen oder selektiven Separatismus sprechen, der die Trennung von ästhetischer und ethischer Bewertung eben nur für einen Teil der Künste – und zwar insbesondere für die abstrakten Künste wie die Instrumentalmusik – fordert. Peter Kivy (2009) dürfte der prominenteste Vertreter einer solchen Position sein. Für die vorliegende Untersuchung ist diese systematische Option insofern von großer Bedeutung, als die Bestimmung des Verhältnisses von Musik und Ethik nicht mit dem Hinweis auf die mannigfaltigen Interaktionen zwischen Ästhetik und Ethik bei gegenständlichen Künsten (wie Literatur oder Malerei) begründet werden kann. Schließlich muß man immer mit der Möglichkeit rechnen, daß sich die abstrakte Kunstform »Instrumentalmusik« dem Versuch einer verallgemeinernden moralistischen Auffassung für alle Kunstgattungen entzieht. Daher ist es notwendig, für eine moralistische Perspektive auf das Verhältnis von Musik und Ethik eigene Argumente ins Feld zu führen. Kehren wir nach diesem Überblick über das Spektrum möglicher 77 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Positionen wieder zu unserem grundlegenden Problem zurück. Für unser spezielles Problem einer Bestimmung des Verhältnisses von musikalischer Expressivität und Ethik stehen wir jetzt vor einer doppelten Aufgabe: Zunächst müssen wir ein Argument gegen den radikalen Separatisten liefern; wir müssen also zeigen, daß expressive Musik überhaupt eine ethische Bedeutung haben kann. Darüber hinaus schulden wir dem moderaten Separatisten ein Argument für unsere moralistische These, daß diese ethische Bedeutung von Musik nicht strikt von einer ästhetischen Wertschätzung zu trennen ist und die ethische Dimension somit ein integraler Bestandteil der ästhetischen Erfahrung von Musik ist. Der ersten Aufgabe wende ich mich ausführlich im nächsten Kapitel zu, wobei ich vor allem auf die Kunstgattung der Musik eingehen möchte. Den übergeordneten Zusammenhang zwischen ethischer und ästhetischer Wertschätzung von Kunst möchte ich in den nächsten Abschnitten genauer herausarbeiten.
2.2 Drei Gründe für eine Trennung Welche Argumente sprechen für eine separatistische Auffassung? Und welche Argumente lassen sich für die moralistische Gegenposition ins Feld führen? Sehen wir uns zu diesem Zweck noch einmal die Ausgangskonstellation an: Zwar war die Tradition der philosophischen Ästhetik von Platon über Hume bis zu Nietzsche von einer moralistischen Haltung geprägt; seit nunmehr etwa 100 Jahren beherrscht aber die separatistische Position nicht nur die verschiedenen Einzelwissenschaften, sie hat sich auch in weiten Kreisen der philosophischen Ästhetik etabliert. Selbst wenn man in den letzten 20 Jahren von einer Rückkehr des Moralismus sprechen kann, hat der Moralist in dieser Auseinandersetzung die Beweislast zu schultern. Ganz so einfach, wie es sich Alfred Christian Kalischer (1888, 3) vorstellt, läßt sich das Verhältnis von Musik und Moral wohl kaum noch denken: »Und doch kann für den denkenden und zugleich naiv empfindenden Menschen kaum etwas klarer und unumstößlicher nachzuweisen sein, als daß Musik und Moral von jeher aufs innigste zusammengestellt gewesen sind und auch so in der Gegenwart zusammenhängen und für alle Zeiten in Harmonie bleiben müssen.« Ohne überzeugende Argumente für den Moralismus wird der Separatismus zunächst also die Standardantwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik bleiben. 78 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Drei Gründe für eine Trennung
Ich möchte nun in zwei Schritten vorgehen: Zunächst betrachte ich in diesem Abschnitt die Argumente, die für den Separatismus angeführt werden. Erst im nächsten Abschnitt wende ich mich dann einer direkten und positiven Argumentation für den Ethizismus zu. Für den Separatismus werden in der Regel drei Argumente angeführt (vgl. Carroll 2000, 351 ff.): das Argument des gemeinsamen Nenners, das Argument der kognitiven Trivialität und das antikonsequentialistische Argument. Ziel der folgenden Ausführungen wird es sein, die Überzeugungskraft dieser Argumente zu überprüfen und in Frage zu stellen. Ich denke, der Moralist kann diese Argumente nicht nur mit triftigen Einwänden zurückweisen; eine Modifikation dieser drei Argumentationstypen kann ihm sogar zu einer Begründung seiner eigenen Position verhelfen. Das erste Argument des Separatisten ist das Argument des gemeinsamen Nenners. Es geht von der allgemeinen Prämisse aus, daß die verschiedenen Künste einen gemeinsamen Nenner hätten, eine eventuelle ethische Bedeutung somit auch für alle Kunstwerke gelten müsse. Aus der zusätzlichen Annahme, daß es abstrakte Kunstformen wie die Instrumentalmusik, die abstrakte Malerei oder die Architektur gebe, die keine Sachverhalte repräsentieren und die schon aus diesem Grund keinen Bezug zur Ethik aufweisen könnten, folge, daß Kunst nie eine ethische Bedeutung haben könne. Sowohl die erste als auch die zweite Prämisse dieses Arguments erscheinen fragwürdig. Eventuell mag es verschiedene Wertmaßstäbe für unterschiedliche Kunstgattungen geben; der Umstand aber, daß abstrakte Kunst keinen Bezug zur Ethik aufweist, schließt durchaus nicht aus, daß etwa der ästhetische Wert der griechischen Tragödie von einer ethischen Dimension abhängen könnte. Doch auch die zweite Prämisse dieses Arguments erscheint mir falsch. Die ethische Bedeutung eines Kunstwerks hängt nämlich dann nicht notwendig von einem repräsentativen Potential ab, wenn man einen expressiven Inhalt von abstrakter Kunst anerkennen kann, der nicht an eine Repräsentation von Sachverhalten gebunden ist. Jerrold Levinson (1990, 288) meint etwa, Brahms’ Sonate für Violine und Klavier in d-Moll, op. 108 könne eine wilde, gewaltsame Leidenschaft ausdrücken – und zwar auch ohne uns eine klare Vorstellung vom Gegenstand dieser Leidenschaft zu geben: »Granted, musical works typically lack a representational content. […] However, musical works have other sorts of content, in particular expressive content.« (ebd., 280) Stephen Davies (2006, 215)
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meint ähnlich: »It is not true that abstract art is without content, since it can be expressive of emotion. It can be about the emotions expressed in it, given that it is designed by the artist to take the expressive form it does.« Das gilt etwa auch für abstrakte Bauwerke ohne repräsentationalen Inhalt, denn sowohl eine gotische Kathedrale als auch das Jüdische Museum in Berlin können als Ausdruck von Emotionen verstanden werden. Und selbstverständlich wird man die Möglichkeit der Expressivität von abstrakter Malerei anerkennen müssen; Arthur Danto (2003, 110) schreibt über Robert Motherwells Bilderserie Elegie auf die Spanische Republik: »The Spanish Elegies […] express, in the most haunting forms and colors, rhythms and proportions, the death of a political ideal, whatever the awful realities that may historically have been part of it.« Gegen »eine abstrakte Entgegensetzung von ›gegenständlich‹ und ›ungegenständlich‹« wendet sich übrigens schon Hans Georg Gadamer (1960, 97 FN. 174).
Eine stärkere Variante dieses ersten Arguments identifiziert dann die ästhetische Erfahrung als den gemeinsamen Nenner aller Kunstwerke. Wenn der Wert eines Kunstwerks in seiner ästhetischen Erfahrung begründet ist, die ihrerseits allein von der formalen Gestaltung des betreffenden Kunstwerks abhängt, so kann der Wert von Kunstwerken nicht in ihrer ethischen Bedeutung begründet sein. Aber auch diese stärkere, positive Variante des Arguments des gemeinsamen Nenners wirft gravierende Probleme auf: Denn abgesehen einmal davon, daß die geradezu inflationäre Verwendung des Begriffs »ästhetische Erfahrung« gerade im deutschen Sprachraum in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dessen Klarheit zu stehen scheint, setzt dieser Begriff doch bereits voraus, was erst zu zeigen wäre: daß nämlich die ästhetische Erfahrung von Kunst keine besondere ethische Dimension aufweisen kann. Ein zweites Argument für die Separationsthese verweist auf die kognitive Trivialität eines Kunstwerks. Manche Moralisten nehmen an, daß uns die Kunst ein ethisch bedeutsames Wissen vermitteln kann. Der Separatist wendet dagegen ein, aus diesem Grund allein könne uns ein Kunstwerk wahrlich nicht als wertvoll erscheinen, denn ein solches Wissen sei doch trivial: Auch ohne Shakespeares King Lear gesehen zu haben, wissen wir, daß Kinder ihren Eltern gegenüber undankbar sein können; wir müssen nicht den Macbeth gesehen haben, um zu erfahren, daß Macht den Charakter eines Menschen verderben kann; und auch ohne Tolstois Anna Karenina oder Fontanes Effi Briest gelesen zu haben, haben wir schon einmal davon gehört, daß man in einer bürgerlichen Ehe unglücklich werden kann. Alle diese Einsichten, 80 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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so der Separatist, könnten wir sehr leicht auch anderen Quellen entnehmen. Daraus folge, daß der Wert eines Kunstwerks nicht in seinem Beitrag zu einem ethisch bedeutsamen Wissen gründen könne. Auch dieses Argument überzeugt nicht, denn seine zweite Prämisse ist falsch. Wir mögen bereits wissen, daß Kinder oft undankbar sind. Doch der Moralist kann sagen, er meine nicht dieses Wissen in einem engen, propositionalen Sinn. Die Erkenntnisse, die uns die Kunst – und insbesondere die Musik – vermitteln könne, seien vielmehr nichtpropositionaler Natur: Kunst könne uns zum Beispiel ein besonderes Verstehen zugänglich machen, wie sich die Undankbarkeit von Kindern anfühlt. Bei diesem nichtpropositionalen Wissen geht es um ein Vertrautsein mit dem inneren Zustand anderer Personen; etwas pathetischer und romantischer könnte man auch von der »Weisheit des Herzens« sprechen (vgl. Palmer 1992, 204 ff.; Scruton 1997, 362; Carroll 2000, 363 und, speziell auf Musik bezogen, Carr 2006, 109 ff.). Bei der Verteidigung meiner These einer ethischen Relevanz von Musik werde ich mich vor allem auf dieses Wissen als Vertrautsein stützen (vgl. Abschnitt 3.2). Das dritte Argument des Separatisten gegen den Moralisten führt die Unmöglichkeit ins Feld, eine empirische Verbindung von Kunst und moralischer Verbesserung der Rezipienten nachzuweisen. Man kann von einem antikonsequentialistischen Argument sprechen: Der Moralismus setze voraus, daß wir die ethischen Konsequenzen von Kunst empirisch nachweisen könnten. Doch unsere Erfahrung widerspreche dieser Annahme, denn schließlich hätten auch böse Menschen unter Umständen viele Lieder (vgl. Kivy 2009, 216 über Reinhard Heydrich sowie Carr 2006, 105 und Scruton 2007, 41 ff. über »böse Ästheten« wie Lenin, Hitler, Stalin und Mao). Daraus lasse sich der Schluß ziehen, daß die ethischen Folgen nicht die Grundlage für den Wert von Kunst sein könnten. Der Moralist kann nun einräumen, daß die zweite Prämisse richtig ist. Doch er wird die erste Prämisse in Frage stellen: Er muß schließlich kein Behaviorist sein, er muß nicht die Illusion hegen, man könne Menschen durch Kunst quasi zum moralisch richtigen Verhalten konditionieren. Viele Moralisten mögen zwar bis heute in die konsequentialistische Falle tappen und das berechtigte Ziel eines antikonsequentialistischen Einwands werden.
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So spricht etwa Simon Schama (2006, 9) den Gemälden von Michelangelo Caravaggio bis Pablo Picasso und Mark Rothko eine kausale Wirkung oder doch wenigstens eine gut gemeinte Intention zu: »They are works that seek to change the world.« Der russische Dichter Joseph Brodsky (1998, 70) äußert in seiner Nobelpreisrede im Jahr 1987 die Überzeugung, »daß es für einen, der Charles Dickens gelesen hat, problematischer ist, seine Mitmenschen im Namen einer Idee zu töten, als für einen anderen, der nichts von Dickens gelesen hat.« Er räumt zwar ein, Lenin, Stalin und Hitler seien durchaus belesen gewesen. Dennoch gelte: »Was diese Männer miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß ihre schwarzen Listen länger waren als ihre Lektürelisten.« Zuletzt behauptet er deshalb, jede neue ästhetische Erfahrung habe das ethische Bewußtsein der Menschen geschärft: »Denn die Ästhetik ist die Mutter der Ethik« (ebd., 66). Ähnlich optimistisch sagt der Komponist Karlheinz Stockhausen (1989, 552) in einem SPIEGEL-Gespräch: »Die Menschen, die heute die politischen Geschicke bestimmen, würden bei regelmäßigem und konzentriertem Hören guter Musik andere Menschen. Sie würden dann Entscheidungen treffen, die anderer Natur wären. […] Sie wären nicht länger so verkrampft, durch intellektuelle Schemata blockiert, sondern könnten polyphon denken, empfinden, sie wären sensibler, humorvoller, religiöser.«
Ein Moralist muß diese Position aber nicht teilen: Er muß die ethische Bedeutung von Kunst nicht an den empirischen Konsequenzen der Rezeption von Kunst festmachen, und er muß auch nicht die (optimistische) Auffassung vertreten, die Kunst könne den Menschen in sittlicher Hinsicht verbessern, um doch an seiner These einer ästhetischen Relevanz der ethischen Qualität eines Kunstwerks festhalten zu können. Immerhin gewinnen wir durch dieses Argument des Separatisten und die Replik des Moralisten ein wenig mehr Klarheit darüber, wie unsere Ausgangsfrage genau zu verstehen ist. Denn wenn der Moralist von einer ethischen Relevanz von Kunst spricht, meint er nicht, daß Kunst die Menschen notwendig auch zu moralisch besseren Menschen mache (vgl. Carroll 2000, 370; Gaut 2005, 431). Auch die empirischen Umstände bei der Produktion eines Kunstwerks (v. a. die Intentionen des Künstlers) sind für die ethische Bewertung des Inhalts bzw. der Bedeutung eines Kunstwerks weitgehend irrelevant (vgl. Eaton 2001, 57 ff.). Peter von Matt (2007, 239 ff.) warnt insbesondere vor einer »biographischen Falle im Umgang mit der Literatur«: Zwar dürfen wir vom Werk auf den Menschen schließen, doch »im Schluß vom Menschen auf das Werk […] steckt die biographische Falle« (ebd., 242). Die ethischen Qualitäten eines Romans oder eines Klavierkonzerts hängen also nicht von den ethischen Qualitäten des Schriftstellers oder des Komponisten ab. Ähnlich schreibt schon Eduard Hanslick (1989, 97 f.; meine Hervorh.): »Da schon den
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einzelnen musikalischen Elementen ein charakteristischer Ausdruck eignet, so werden vorherrschende Charakterzüge des Komponisten: Sentimentalität, Energie, Heiterkeit usw. sich durch die konsequente Bevorzugung gewisser Tonarten, Rhythmen, Übergänge recht wohl nach den allgemeinen Momenten ausdrücken, welche die Musik wiederzugeben fähig ist. Einmal vom Kunstwerk aufgesogen, interessieren aber diese Charakterzüge nunmehr als musikalische Bestimmtheiten, als Charakter der Komposition, nicht des Komponisten. […] Streng ästhetisch können wir von irgendeinem Thema sagen, es klinge stolz oder trübe, nicht aber, es sei ein Ausdruck der stolzen oder der trüben Gefühle des Komponisten. Noch ferner liegen dem Charakter eines Tonwerkes als solchem die sozialen und politischen Verhältnisse, welche sein Zeit beherrschen.«
Der Moralist nimmt lediglich an, eine angemessene Rezeption von Kunst durch einen kompetenten Rezipienten könne ethische Auswirkungen haben, und räumt insbesondere ein, daß eine Imagination von Emotionen empirische Wirkungen beim Rezipienten zeitigen kann (Gaut 2007, 11). Gaut plädiert statt dessen für »a kind of philosophically circumspect humanism« (ebd., 14), der die moralische Wirkung von Kunst zwar nicht ausschließt, aber nicht das Hauptgewicht auf sie legt. Worin diese Auswirkung genau bestehen soll, bleibt an dieser Stelle – zugegeben – noch sehr vage. Nur sollte man dem Moralisten nicht einfach einen behavioristischen Konsequentialismus unterstellen, demzufolge die Rezeption eines moralischen Kunstwerks unausweichlich auch immer positive moralische Folgen zeitigen müsse. Wir sehen also, und damit möchte ich ein erstes Fazit ziehen: Der Moralist kann die Einwände des Separatisten zurückweisen. Zwar habe ich bisher, sieht man von meinem Hinweis auf die Möglichkeit eines Wissenserwerbs durch Kunst in Forme einer nichtpropositionalen Vertrautheit ab, noch keine positiven Argumente für eine moralistische Position geliefert. Im Augenblick spricht aber zumindest nichts gegen die Möglichkeit einer ethischen Relevanz von Kunst. Die wichtigsten separatistischen Einwände gegen den Moralismus können relativ leicht entkräftet werden.
2.3 Das Argument der verdienten Antwort Gibt es auch Argumente für eine moralistische Position? Wie gesagt, der Moralist muß heute die Beweislast schultern und zeigen können, 83 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Kunst, Moral und gutes Leben
daß die ethische Bedeutung eines Kunstwerks von ästhetischer Relevanz sein kann. Der moderate Separatist stellt die Legitimität einer ethischen Bewertung von Kunst gar nicht in Frage; er behauptet nur, sie sei von einem ästhetischen Standpunkt aus gesehen irrelevant. Anhand zweier Überlegungen möchte ich nun zeigen, daß diese separatistische Auffassung falsch ist. Mit der ersten Überlegung stelle ich zunächst nur eine Annahme des Separatisten in Frage. Da diese Annahme übrigens auch von einem moderaten Moralisten geteilt werden kann, wird mich ihre Zurückweisung auch zu einer Kritik des moderaten Moralismus veranlassen. Im Rahmen meiner zweiten Überlegung möchte ich ein Argument von Berys Gaut für eine moralistische Sicht auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik präsentieren und einer kritischen Überprüfung unterziehen. Genau genommen führt Gaut drei – wie er sagt: a priori – Argumente für seine Position des Ethizismus ins Feld: Das erste, der philosophischen Tradition entnommene Argument der Schönheit des moralischen Charakters (vgl. Gaut 2007, 6.2 Moral Beauty und 6.3 Moral Beauty and Works of Art) hat nichts mit den expressiven Eigenschaften eines Kunstwerks zu tun und steht daher nicht im Fokus der vorliegenden Untersuchung. Dennoch werde ich an manchen Stellen auf dieses Argument zu sprechen kommen, und zwar insbesondere dann, wenn ich auf die möglichen ethischen Implikationen einer formalistischen Auffassung von Kunst aufmerksam mache. Gauts zweites Argument nimmt von der These seinen Ausgang, daß die Kunst uns ein besonderes Wissen zur Verfügung stelle (ebd., 7. The Cognitive Argument: The Epistemic Claim); auf dieses Argument werde ich noch einmal bei meiner Auseinandersetzung mit Peter Kivys separatistischer Position zurückkommen (Abschnitt 3.2). Im Mittelpunkt meiner eigenen Überlegungen soll aber sein drittes Argument stehen, das Argument der verdienten Antwort (ebd., 10. The Merited Response Argument). In diesem Abschnitt möchte ich dieses Argument zunächst ausführlich präsentieren, es im nächsten Abschnitt kritisieren und korrigieren, um im übernächsten Abschnitt meine eigene, neo-formalistische Variante einer ethizistischen Auffassung zu formulieren. In den beiden letzten Abschnitten dieses Kapitels werde ich für eine Erweiterung dieser Position plädieren und anhand einiger Beispiele ihre Anwendbarkeit auf die Musik illustrieren. Zunächst lautet meine kritische Rückfrage an den Separatisten, was er denn genau unter einer rein ästhetischen Wertschätzung eines 84 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Das Argument der verdienten Antwort
Kunstwerks verstehen möchte? Eine mögliche Antwort darauf wäre der Hinweis auf das Vergnügen oder die Lust an einer gelungenen formalen Gestaltung eines Werks. Man könnte die innere Einheitlichkeit und innere Stringenz eines Musikstücks auf diese Weise zum Gegenstand einer von allen epistemischen und ethischen Interessen abgesonderten Wertschätzung machen. Die Möglichkeit einer solchen Absonderung möchte ich gar nicht in Frage stellen, nur würde ich gleichzeitig bestreiten, daß ein Hörer Beethovens Marcia funebre oder Arnold Schönbergs Transkription von Johann Strauss’ Rosen aus dem Süden auf angemessene Weise versteht, wenn er dort nicht zugleich eine Einladung zu einer bestimmten emotionalen Reaktion wahrnimmt. Für diese emotionale Reaktion sind Lust- bzw. Unlustempfindungen ein unverzichtbarer Bestandteil. Wir haben in Abschnitt 1.3 gesehen: Emotionen sind mentale Zustände, die mit spezifischen Lustund Unlustgefühlen einhergehen, und daher erscheint auch die Annahme plausibel, daß die Wahrnehmung einer bestimmten formalen Gestalt eines Kunstwerks immer auch mit Lust- und Unlustgefühlen verknüpft ist. Doch ich denke, diese Empfindungen lassen sich nicht vollständig von den betreffenden Emotionen abtrennen, deren Bestandteil sie sind – zumindest nicht in einer angemessenen ästhetischen Erfahrung, die dem Anspruch eines Kunstwerks gerecht werden will. Verspürt ein Hörer des letzten Satzes von Beethovens 7. Symphonie lediglich eine ästhetische Lust an den formalen Qualitäten der Musik und nimmt dort nicht gleichzeitig eine Affirmation von Freude, ja eine Geste des Triumphes wahr, dann hat er diesen Satz wahrscheinlich nicht richtig verstanden. Mit dieser ersten Überlegung ist freilich erst eine Kritik eines moderaten Separatismus geleistet. Zum Zweck einer direkteren Verteidigung einer moralistischen Position möchte ich auf das Argument der verdienten Antwort zurückgreifen, das Berys Gaut entwickelt hat. Sehen wir uns die fünf Schritte dieses Arguments im einzelnen an: (1) Ein Kunstwerk manifestiert immer eine bestimmte Einstellung gegenüber einem Gegenstand. Gaut macht dabei deutlich, daß es ihm nicht um die Einstellung geht, die der Protagonist etwa in einem Roman an den Tag legt. Es geht ihm vielmehr um die Einstellung, die das Werk als solches gegenüber bestimmten Protagonisten oder Situationen manifestiert. Es geht also um die umfassende Haltung, die das betreffende Werk selbst gegenüber einer bestimmten Thematik ein85 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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nimmt (Gaut 2007, 230). 3 Entnehmen läßt sich diese Einstellung vor allem aus der Art und Weise der Präsentation des jeweiligen Gegenstands. (2) Die ästhetische Erfahrung von Kunst besteht unter anderem in einer angemessenen Antwort auf diese Einstellung, die in einem Kunstwerk manifest wird. Der Rezipient, der ein authentisches Verständnis eines Kunstwerks realisiert, nimmt die Einladung, die von dem betreffenden Kunstwerk ausgeht, an, er macht sich die Einstellung, die es an ihn heranträgt, zu eigen und versucht damit, dem spezifischen Anspruch des Kunstwerks gerecht zu werden. (3) Das Ansinnen einer bestimmten Einstellung, die ein Kunstwerk manifestiert und an seinen Rezipienten heranträgt, ist nicht immer erfolgreich: Manche Komödien versuchen, dem Zuschauer eine humorvolle Sicht der Dinge anzusinnen, doch das Geschehen, das sich vor dem Auge des Zuschauers abspielt, ist einfach nicht komisch. Auch mancher tragische Held verdient kein Mitleid des Zuschauers. Dabei geht es nicht um eine empirische Wirkung des betreffenden Kunstwerks. Die Frage ist also nicht, wie ein Rezipient tatsächlich reagiert bzw. was er tatsächlich empfindet; die Frage ist vielmehr, ob der Rezipient die vom Kunstwerk ausgehende Einladung zu einer emotionalen Reaktion auch annehmen soll. Die entscheidende Frage ist also, ob das Kunstwerk die emotionale Reaktion, die es seinem Rezipienten ansinnt, auch verdient. (4) Einige der Kriterien, die für die Beurteilung des Erfolgs eines Einen Begriff von Booth (1961; 1988) aufnehmend, spricht Gaut (2007, 74 f.) von der ethischen Haltung eines impliziten Autors. Zwar mögen bestimmte Informationen über den empirischen Autor die Identifikation der ethischen Haltung des impliziten Autors erleichtern; dennoch können wir begrifflich zwischen diesen beiden Figuren unterscheiden. Wichtig ist an dieser Stelle aber, daß diese »innere Haltung« eines Werks nicht das Resultat einer direkten Beschreibung oder Repräsentation ist und daher auch ungegenständlich-abstrakte Kunstwerke eine solche Haltung manifestieren können. Siehe Gaut (2007, 68, Hervorh. i. O.): »[…] even for representational artworks, the object of ethical assessment is not as such a work’s content […] What matters for the ethical assessment of even a representational works is the attitude that the work manifests towards the characters and situations, which it represents […].« Gaut räumt zwar ein, daß eine Haltung einen bestimmten Inhalt voraussetze, auf den sie sich richten kann, »but the content need not be anything as determinate as particularised characters or situations. It may be an attitude towards life in general, the rather indeterminate object being supplied by the viewer or listener’s imagination under the work’s guidance. And that is the kind of object at which abstract paintings and absolute music may well be able to hint.« (Ebd., meine Hervorh.) 3
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Das Argument der verdienten Antwort
Kunstwerks eine Rolle spielen, sind ethischer oder moralischer Natur. Der Protagonist eines Dramas, der selbst die alleinige Verantwortung für sein Unglück trägt, verdient unser Mitleid nicht und ist daher auch kein echter tragischer Held. (5) Daraus folgt: Sollte ein Werk zu einer emotionalen Reaktion einladen, die es aus ethischen Gründen nicht verdient, dann hat dieser ethische Defekt des Kunstwerks auch Konsequenzen für die ästhetische Bewertung dieses Werks. Ein ethischer Defekt steht der Möglichkeit einer bestimmten ästhetischen Erfahrung im Weg; umgekehrt kann eine emotionale Antwort, die ein Kunstwerk aus ethischen Gründen verdient, als ein ästhetischer Vorzug dieses Werks angesehen werden (Gaut 2007, 233). 4 Ein Separatist könnte gegen dieses Argument einwenden, daß die vierte Prämisse falsch ist. Er könnte zwar einräumen, daß ein Kunstwerk eine bestimmte Einstellung gegenüber einem Gegenstand zum Ausdruck bringt, und er könnte darüber hinaus einräumen, daß dieser Ausdruck eng mit der Art und Weise der Präsentation des betreffenden Gegenstands verknüpft ist. Doch er könnte gleichzeitig die Frage aufwerfen, aus welchem Grund für den Erfolg dieses Kriteriums ethische Kriterien eine Rolle spielen sollen? Setzt der Moralist damit nicht schon voraus, was eigentlich erst zu zeigen wäre? Und warum sollte man sich nicht mit »innerästhetischen« Kriterien – ästhetischen Maßstäben in einem engen Sinn, die sich allein auf die schöne Präsentation eines Gegenstands beziehen – begnügen? Abgesehen davon, daß dieser Einwand ebenfalls voraussetzt, was gerade strittig ist – nämlich die Irrelevanz ethischer Kriterien für den ästhetischen Erfolg eines Kunstwerks –, scheint er mir aus zwei Gründen nicht besonders triftig: Er geht zum einen von der (in meinen Augen: falschen) Annahme aus, daß uns allein die Schönheit von Kunstwerken und das spezifisch ästhetische Vergnügen daran interessieren können. Von einem sehr großen Teil der Kunst von der antiken Tragödie bis zur Neuen Musik des 20. Jahrhunderts wird dieses Interesse allerdings nicht nur gar nicht oder allenfalls höchst unzureichend beUm dafür ein Beispiel aus der Musik anzuführen: Ridley (1995, 144) macht im 1. Satz, Largo, der 6. Symphonie von Schostakowitsch einen ethischen Mangel aus und meint deshalb, dieses Stück verdiene die emotionale Antwort nicht, die es dem Hörer ansinne. Auch in ästhetischer Hinsicht müsse es deshalb unbefriedigend bleiben.
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friedigt. Es ist auch nicht einsichtig, daß sich unser Interesse für Kunst darin erschöpfen sollte. So schreibt Arthur Danto (2003, 35): »The mistake was to believe that artistic goodness is identical with beauty and that the perception of artistic goodness is the aesthetic perception of beauty.« Auch der Komponist Helmut Lachenmann (1996, Zum Problem des musikalisch Schönen heute, 104 ff.) bringt seine Skepsis gegenüber einem »bürgerlichen« Schönheitsbegriff zum Ausdruck: »Der Ruf nach Schönheit heute […] verdient mehr dann je unser Mißtrauen. […] Es wird höchste Zeit, daß der Schönheitsbegriff den Spekulationen korrupter Geister entzogen und dafür in eine umfassende Theorie des ästhetischen Denkens und des Komponierens so einbezogen wird, daß er sich nicht mehr für die billigen Prätentionen der Avantgarde-Hedonisten, der Klangfarbenköche, der Meditations-Exoten, der gewerblichen Nostalgiker […] eignet.« So habe etwa zum Beispiel unsere »Liebe zum Abgeklärt-Schönen, etwa zum Werk Mozarts« mit »der subjektiven Haltung dieser Musik gar nichts zu tun«: »nämlich die eigene verzweifelte Sehnsucht nach einer intakten Welt angesichts einer äußerlich und innerlich tief gestörten Wirklichkeit.« (Ebd., 168) Bemerkenswert finde ich allerdings, daß Lachenmann der Musik Mozarts hier eine »subjektive Haltung« zuschreibt. Und sicherlich erlaubt diese Annahme die Anschlußfrage, ob diese Haltung von dem betreffenden Werk auch überzeugend artikuliert wird und es so dem Ideal der Integrität gerecht wird.
Zum anderen erlaubt dieser separatistische Einwand keine scharfe Abgrenzung mehr zwischen der Möglichkeit einer ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken und der Möglichkeit einer ästhetischen Erfahrung der Natur. Da ich meine, daß auch ein Separatist ein Interesse an einer solchen Unterscheidung haben sollte, können wir den Wert von Kunst nicht anhand eines rein an hedonistischen Zwecken orientierten Ideals der Schönheit begründen. Das Argument der verdienten Antwort liefert somit eine solide Grundlage für die Annahme der Möglichkeit einer Interaktion zwischen der ethischen Bedeutung und dem ästhetischen Wert eines Kunstwerks. Ohne ganz streng zwischen der radikalen und der moderaten Variante einer moralistischen Sichtweise zu unterscheiden, verwendet Kendall Walton (1994) ein ähnliches Argument für ihre Verteidigung. Ihm geht es insbesondere um die Frage, ob ein ethischer Defekt eines Kunstwerks nicht ein Hindernis bilden könne, das einer ästhetischen Wertschätzung dann im Wege stünde. Die Abwesenheit solcher Defekte scheint also zumindest eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Vorliegens eines ästhetischen Werts zu sein. Dagegen garan88 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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tiere allein die Anwesenheit eines ethischen Vorzugs noch nicht die Möglichkeit einer ästhetischen Wertschätzung. Vor allem bei ethischen Defekten kommt Walton zufolge das enge Ineinandergreifen von ethischen und ästhetischen Kriterien ins Spiel. Der springende Punkt ist nun der folgende: Kunstwerke – auch Walton spricht eigentlich nur von literarischen Werken – laden den Rezipienten zu einem Akt der Imagination ein. Dabei haben wir in aller Regel keine größeren Schwierigkeiten damit, uns eine andere Welt vorzustellen: Ein Sciencefiction-Film fordert uns beispielsweise auf, uns Ereignisse vorzustellen, die, wie etwa Reisen in die Vergangenheit oder in die Zukunft, den uns bekannten Naturgesetzen widersprechen. Bei der Imagination von moralischen Positionen, die unseren eigenen Vorstellungen auf eklatante Weise widersprechen, könnte jedoch ein Widerstand auftreten, uns auf diese Position einzulassen. 5 Manchmal sind bestimmte Haltungen so unmoralisch, daß wir sie uns nicht einmal vorstellen können. Walton behauptet nicht, daß wir uns keine Bösewichte und Scheusale vorstellen könnten. Er behauptet nur, wir könnten uns nicht vorstellen, die sich in einem Roman manifestierende Haltung zu übernehmen, wenn diese das Tun und Lassen der Bösewichte aus einem verständnisvollen Blickwinkel betrachte und zuletzt sogar noch gutheiße. In Übereinstimmung mit David Hume (1993, 151) meint Walton, es gebe einen grundsätzlichen Unterschied zwischen unserer mehr oder weniger unbegrenzten Bereitschaft, uns auf die Vorstellung auch falscher Tatsachen einzulassen, und unserer – stark beschränkten – Bereitschaft, uns auf die Vorstellung von Wertvorstellungen einzulassen, die unseren eigenen Vorstellungen widersprechen. Wie läßt sich diese merkwürdige Asymmetrie erhellen? Warum interessieren wir uns für Science-Fiction, nicht aber für »Moral-Fiction«? Warum interessieren wir uns für Zeitreisen oder die Technik des Beamens auf der Enterprise, begegnen aber Werken, die uns wie Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten zur Einfühlung einer uns, gelinde gesagt, fremden moraWalton bezieht sich hier auf eine Passage aus David Humes Essay Of the Standard of Taste (1993, 152; meine Hervorh.): »[…] where vicious manners are described, without being marked with the proper characters of blame and disapprobation, this must be allowed to disfigure the poem, and to be a real deformity. I cannot, nor is it proper I should, enter into such sentiments; and however I may excuse the poet, on account of the manners of his age, I can never relish the composition.« Zum sogenannten Paradox des imaginativen Widerstands siehe ferner Goldie (2003, 63 ff.), Walton (2008, 4. On the (So-Called) Puzzle of Imaginative Resistance) und Currie (2010, 6. Resistance).
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lischen Welt einladen, mit gewissen moralischen Vorbehalten? Die spontane Antwort scheint zunächst einfach: Sich die Welt aus der Perspektive eines Nazis vorzustellen, ist widerlich und ekelhaft. Doch damit ist das Rätsel noch nicht gelöst. Die Frage ist gerade: Warum finden wir es ekelhaft, eine solche Wertehaltung zu imaginieren? Walton, ohne selbst eine Antwort auf diese Frage geben zu können, ist hauptsächlich darum bemüht, dieses Phänomen eines imaginären Widerstands näher zu beschreiben. Er muß dieses Phänomen gar nicht erklären können, um jedenfalls an seiner Auffassung festzuhalten, daß es der Rezeption und deshalb auch der Wertschätzung mancher Kunstwerke im Wege stehe. Der wesentliche Unterschied zu Gauts Argument der verdienten Antwort besteht darin, daß Walton von einem psychologischen Widerstand, einer empirischen Unfähigkeit, sich auf ein Kunstwerk einzulassen, ausgeht, Gaut sich dagegen für normative Fragen des Verdienstes einer vom Kunstwerk ausgehenden Einladung interessiert. Sicher könnte man diese beiden Positionen aufeinander beziehen und die These vertreten, daß der Rezipient eine bestimmte Antwort gar nicht erst haben könne, gerade weil er sie nicht haben sollte, der psychologische Mechanismus eines Menschen also nicht völlig unabhängig von normativ-moralischen Überlegungen sei. Das ist eine einschlägig bekannte Auffassung der Tugendethik, die uns nahelegt, eine Disposition zum richtigen Handeln und Fühlen, eine Fähigkeit zur emotionalen Reaktion an bestimmten (moralischen) Urteilen zu kultivieren. Wenn wir Lust nur noch bei der Wahrnehmung von wertvollen Gegenständen oder der Ausübung von guten Tätigkeiten verspüren, so kann das moralische Sollen einen unmittelbaren Einfluß auf das psychologische Sein ausüben. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, daß eine bestimmte emotionale Antwort eines Rezipienten ihrerseits eine Tugend oder ein Laster manifestieren und ausdrücken kann und die betreffende Manifestation dann ein echter Teil einer solchen Handlungsdisposition ist. Das (teilnehmende und mitfühlende) Vergnügen an der Darstellung eines Rassisten manifestiert etwa eine Mißachtung gegenüber anderen Rassen. Eine lustvolle Reaktion auf die Intoleranz oder Unterdrückung anderer Menschen ist also keine ganz unschuldige und harmlose Reaktion – und zwar selbst dann, wenn es nur um eine fiktive Darstellung der Intoleranz oder Unterdrückung geht. Aber alle Details dieser Diskussion müssen uns gar nicht interessieren. Wichtig sind allein die Konsequenzen, die sich daraus für das 90 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Verhältnis von Ethik und Ästhetik ableiten lassen. Da wir uns – aus welchen Gründen auch immer – einer Einladung widersetzen, die uns ansinnt, uns eine unmoralische Haltung zu eigen zu machen, scheitert ein Kunstwerk, das eine solche Einladung ausspricht. Wenn diese These richtig ist, dann haben wir ein Argument für eine Position, die sich zumindest in einer Hinsicht in die Richtung eines radikalen Moralismus bewegt. Ein gravierender ethischer Defekt ist dann nämlich nicht mehr nur ein ästhetischer Defekt, sondern er steht auf diese Weise grundsätzlich der Möglichkeit einer ästhetischen Wertschätzung im Wege, die sich eventuell auf andere Kriterien beziehen würde. Ein Kunstwerk, das dem Rezipienten eine unmoralische Perspektive ansinnt, scheitert dann als Ganzes; es läßt keine Wertschätzung zu, die sich etwa allein auf seine Form beziehen würde. Dem Widerstand, den wir gegenüber bestimmten Einladungen verspüren, kommt damit gleichsam eine Art Veto-Funktion zu. Er hindert uns an der Wertschätzung moralisch fragwürdiger Kunstwerke. Wenn ein (imaginärer) Autor mit seinem Versuch scheitert, uns eine bestimmte, sei es auch fiktive Auffassung anzusinnen, dann führt das zu einem Defizit seines gesamten Werkes. Das bedeutet nicht, daß umgekehrt das Gleiche gilt und allein schon die Abwesenheit eines solchen Widerstands den ästhetischen Wert eines Kunstwerks garantieren kann. Selbst die moralische Attraktivität einer Einladung, die ein Kunstwerk ausspricht – es könnte uns beispielsweise das Angebot machen, für einige Stunden in die Haut von Mutter Teresa zu schlüpfen –, ist noch kein Garant für einen besonderen ästhetischen Wert des Werks. In diesem Fall muß der Moralist dann wohl zusätzliche Kriterien anführen, und in meinen Augen müssen das wohl Kriterien sein, die vor allem mit der formalen Gestaltung des Kunstwerks zu tun haben. Wir können uns dieses Argument anhand der folgenden Analogie noch einmal verdeutlichen (dazu: Walton 1994, 43 f.; Jacobson 1997, 172; Carroll 2000, 375 f.; Gaut 2007, 10.3 Humour): Einen ähnlichen Widerstand verspüren wir nämlich auch bei manchen Witzen. Wenn sie uns zur Übernahme einer unmoralischen Perspektive einladen, dann sind viele Witze nicht mehr lustig oder amüsant. Dabei wären die Prädikate »lustig« bzw. »amüsant« dann die Parallelbegriffe zum Prädikat »ästhetisch wertvoll«! Die Debatte über Filme wie Mein Führer von Dani Levy oder Das Leben ist schön von Roberto Benigni können hierfür als Beispiel dienen. (Es geht dabei, das ist wichtig, nicht um 91 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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die ästhetischen, sondern allein um die humoristischen Qualitäten dieser Filme! Es geht also nicht um die Interaktion zwischen den humoristischen und den ästhetischen Qualitäten, sondern um die Interaktion zwischen den ethischen und den humoristischen Qualitäten eines Werks.) Unabhängig nämlich vom ästhetischen Erfolg dieser Filme – und in ästhetischer Hinsicht gibt es zweifelsohne große Unterschiede zwischen ihnen – kann man sich mit guten Gründen fragen, ob sich die Darstellung mancher Ereignisse aus der Nazi-Zeit überhaupt als Stoff für eine Komödie eignet, ob also ein bestimmter Inhalt nicht der humoristischen Qualität im Wege steht. Darüber hinaus gibt es sogar einen Unterschied im Hinblick auf ihre humoristischen Qualitäten: Denn Benignis Film ist nicht nur eine Komödie, man kann ihn, gerade dann, wenn der Vater im Film die Ereignisse im KZ von der komischen Seite nimmt, auch als sehr traurig bezeichnen. Gerade dieses subtile, reflexive Verhältnis verschiedener Emotionen macht wohl seinen besonderen ästhetischen Wert aus. Claus-Steffen Mahnkopf (2006, 177) vertritt eine andere Meinung: »[…] das Problem bleibt, daß Benigni als Komiker, der er als Schauspieler ist, so dominiert, daß die komischen und ironischen Momente nicht ins Tragische und Erstickende umzuschlagen vermögen.« Obwohl mir dieses Urteil ein wenig zu hart erscheint, stimme ich Mahnkopf zu, wenn er den Film Train de vie des Regisseur Radus Mihaileanu als eine gelungenere »filmische Lösung der (UN-)Darstellbarkeit der Shoah« (ebd., 178) ansieht. Doch die Frage, in welchem Zusammenhang eine humorvolle oder eine tragische Perspektive mit dem ästhetischen Wert eines Kunstwerks steht, soll ohnehin nicht mein Thema sein; es geht lediglich darum, ob Humor und ästhetischer Wert als eine rein äußerliche Analogie verstanden werden können.
Mit dieser Analogie zwischen dem ästhetischen Wert von Kunstwerken und dem humoristischen Wert von Witzen ist natürlich noch kein eigenständiges Argument für eine moralistische Sichtweise auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik gewonnen. Zudem könnten Separatisten in bezug auf das Verhältnis von Ethik und Humor die These vertreten, man könne sehr wohl zwischen guten und schlechten – und das bedeutet an dieser Stelle: mehr oder weniger lustigen – Hitler-Witzen unterscheiden. Ein Moralist à la Walton würde entsprechend die These vertreten, ein Hitler-Witz könne niemals lustig sein, denn der imaginäre Widerstand für eine amüsierte Reaktion sei in diesem Fall unüberwindlich. Und moderate Moralisten à la Carroll oder à la Gaut 92 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Die Integrität des Kunstwerks
würden sagen, die »Unperson« Hitler schade zwar notwendig – in humoristischer Hinsicht – jedem Witz, doch besonders gut konstruierte Witze könnten dieses »Defizit« eventuell ausgleichen und aus anderen, gewichtigeren Gründen unterm Strich dann doch recht lustig sein. Letztlich kann ich mich aber mit dieser halbherzigen Position nicht anfreunden und plädiere – sowohl bei der Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Humor als auch bei der Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik – für eine Position, die zwischen einem moderaten und einem radikalen Moralismus angesiedelt ist. Auch bei der Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Humor scheint mir übrigens die Realisierung eines angemessenen Verhältnisses von Form und Inhalt eines Witzes die entscheidende Rolle zu spielen (vgl. Abschnitt 4.2). Den Umstand, daß der Humor dann selbst eine ethische Bedeutung haben kann, habe ich noch gar nicht angesprochen: Er kann uns etwa helfen, unsere Selbstzentrierung zu überwinden oder zumindest zu relativieren und damit eine Sensibilität für die Bedürfnisse anderer Menschen zu kultivieren. Die humoristischen Qualitäten eines Kunstwerks können somit zu seinen ethischen Qualitäten beitragen, und über diesen Umweg können auch die humoristischen Qualitäten etwa einer Komödie einen Beitrag zu deren ästhetischem Wert leisten.
2.4 Die Integrität des Kunstwerks Nehmen wir nach diesem Exkurs zur Interaktion von Ethik und Humor unseren roten Faden wieder auf und kehren zu Gauts Argument der verdienten Antwort zurück. Dieses Argument war zwar ein erster Schritt in die richtige Richtung, doch es führte uns noch nicht zum Ziel. In dreifacher Hinsicht bleibt es meines Erachtens unbefriedigend und bedarf einer Korrektur: Gaut bekennt sich erstens zwar zu einer ethizistischen Auffassung, möchte aber dennoch nicht ausschließen, daß es neben ethischen Kriterien noch andere Maßstäbe für die Bewertung von Kunstwerken gibt. Diese vorsichtige Haltung scheint zwar auf den ersten Blick recht vernünftig zu sein, wirkt bei genauerem Hinsehen aber dennoch merkwürdig halbherzig. Sollte unsere Erfahrung eines Kunstwerks wirklich einem heterogenen Gebilde gleichen, das sich aus unterschiedlichen, unverbunden bleibenden Bausteinen zusammensetzt? Sagen wir wirk93 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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lich: Auf der einen Seite, also in ethischer Hinsicht, sei Sophokles’ Antigone oder Beethovens Eroica durchaus gelungen, auf der anderen Seite hätten diese Werke aber zusätzlich und davon unabhängige ästhetische Vorzüge oder Defekte? Nehmen wir dann, einem Buchhalter ähnlich, gleichsam eine Kalkulation der ästhetischen Gesamtbilanz des Werks vor? Oder verwenden wir nicht immer das Ideal eines Kunstwerks als eines geordneten Ganzen, dessen verschiedene Teile sich zu einer Einheit fügen? Gaut zeigt ja selbst ein Interesse an einer umfassenden Bewertung eines Kunstwerks und schreibt, Leni Riefenstahls Triumph des Willens oder Richard Wagners Ring der Nibelungen hätten zwar ethische Fehler, dennoch könne man sie als »artistic successes« bezeichnen, da ihre ästhetischen Meriten diese Fehler letzten Endes doch überwiegen würden (Gaut 2007, 65). Doch wie soll das möglich sein, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was den ästhetischen Erfolg oder Wert eines Kunstwerks insgesamt ausmacht? Hier benötigen wir also ein Kriterium, das nicht mehr nur die pro tanto Dimensionen der Bewertung eines Kunstwerks auflistet, sondern eine Gewichtung dieser Gesichtspunkte in einem umfassenden Urteil erlaubt. Der Separatist mag einwenden, daß man bessere Beispiele für die Möglichkeit eines Auseinanderdriftens von ethischen und ästhetischen Dimensionen finden kann. Doch schon die Tatsache, daß wir Sophokles und Beethoven als Beispiele für eine gelungene Einheit von Form und Inhalt anführen, spricht für sich, denn nicht umsonst gelten sie als paradigmatische Beispiele für das, was eine ästhetische Erfahrung im Idealfall enthalten und umfassen kann. Im Idealfall setzt sich die ästhetische Erfahrung also nicht aus unterschiedlichen Bausteinen – hier die Lust, dort der kognitive Gewinn und zuletzt der ethische Gehalt – zusammen. Sophokles’ und Beethovens Werke scheinen vielmehr gute Beispiele dafür, daß die kompetente Rezeption eines integren Kunstwerks aus einem einheitlichen Guß ist. Bei manchen Gedichten Stéphane Mallarmés oder manchen Kompositionen Pierre Boulez’ mögen die inhaltlichen Bezüge hinter einer brillant geschmiedeten ästhetischen Form zurückbleiben; und politisch engagierte Werke von Heinrich Böll oder Günter Grass mögen umgekehrt als Beispiel für eine Vernachlässigung der Form zugunsten des Inhalts gelten; siehe hierzu Karl Heinz Bohrer (2004, 56) über »moralisch-politische engagierte Romane, Erzählungen, deren Funktion vor allem in einer ganz bestimmten, metaphorisch zwar verstellten, aber immer sofort erkennbaren Form der säkularisierten Erbauung liegt«, wobei er in erster Linie eben an einen bestimmten Typus
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westdeutscher Nachkriegsliteratur denkt. In einem moralischen Sinne »gute« Literatur könne deshalb, und zwar nicht ihres moralischen Engagements, sondern vielmehr einer »Abstinenz ästhetischer Imagination« (ebd., 57) wegen, erhebliche ästhetische Mängel aufweisen.
Verselbständigt sich die Form gegenüber dem Inhalt oder umgekehrt der Inhalt gegenüber der Form, wird darunter immer auch die spezifische ästhetische Erfahrung leiden müssen, zu der das betreffende Kunstwerk seinen Rezipienten einlädt. Diesem Umstand haben wir in einer Theorie der ästhetischen Erfahrung angemessen Rechnung zu tragen. Im Gegensatz zu einem moderaten Moralisten kann ich daher keine pluralistische Position vertreten, die eine ästhetische Erfahrung von Kunstwerken als Resultat einer äußerlichen Addition einer Vielzahl verschiedener Komponenten ansieht. Gefordert scheint mir vielmehr ein einheitliches Kriterium, das uns eine Grundlegung des Wertes der ästhetischen Erfahrung erlaubt; und wie wir gleich sehen werden, kann eine angemessene oder gelungene Verbindung von Form und Inhalt eines Kunstwerks als ein solches einheitliches Kriterium angesehen werden. Das zweite Bedenken gegen das Argument der verdienten Antwort schließt sich unmittelbar daran an. Gaut läßt in meinen Augen die Frage offen, welchen Beitrag die formale Gestaltung eines Werks bei der Einladung zu einer emotionalen Antwort seines Rezipienten leistet. Zwar erkennt Gaut an, daß das Werk insgesamt eine bestimmte Einstellung zum Ausdruck bringt, doch berücksichtigt er meiner Meinung nach nur unzureichend, daß es gerade die formale Gestaltung eines Kunstwerks ist – die Art und Weise also, wie es einen bestimmten Gegenstand aus einer bestimmten Perspektive thematisiert und präsentiert –, die für dessen Expressivität den Ausschlag gibt. Es ist die gelungene Verknüpfung von Form und Inhalt, die den Erfolg einer Einladung zu einer ästhetischen Erfahrung ausmachen wird. Dabei kann die ästhetische Erfahrung viele unterschiedliche Inhalte annehmen, sie kann überaus komplex strukturiert sein und muß kein homogener Monolith sein (vgl. Abschnitt 1.5). Letztlich wird die besondere Wertschätzung eines Kunstwerks aber immer die je spezifische Kombination von Form und Inhalt zur Grundlage haben. Andernfalls müßte man verschiedene Erfahrungen – eine Erfahrung des Inhalts einerseits und eine Erfahrung der Form andererseits – nebeneinander stellen können und hätte zwei separate Bezugsgrößen. Mit meiner neo-formalisti95 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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schen Theorie der ästhetischen Erfahrung möchte ich in der Folge einen Ausweg aus diesem Dilemma aufzeigen. Drittens bleibt bei Gaut die Frage offen, was genau unter einem »ethischen« Kriterium – und anhand eines solchen Kriteriums möchte er den Erfolg der Aufforderung zu einer emotionalen Antwort messen – zu verstehen ist. Man hätte erwartet, daß er zumindest zwischen den potentiell divergierenden Kriterien »gutes Leben« einerseits und »moralische Haltung gegenüber anderen Personen« andererseits unterscheidet. Doch er unterläßt nicht nur eine Beschreibung des Inhalts möglicher ethischer Kriterien, sondern übersieht auch mögliche Probleme, die eine genauere Beschreibung solcher Inhalte aufwerfen würde. Für Gaut scheinen die Inhalte der ethischen Bewertung auf dem Tisch zu liegen. Soweit ich sehe, kann man sich aber durchaus in einem vernünftigen Dissens über die zentralen Inhalte der ethischen Bewertung nicht nur von Kunstwerken, sondern auch von Personen und ihrer Lebensführung befinden. Wir haben schon gesehen, daß Gaut für einen engen Begriff von Ethik plädiert und ihn mit dem Begriff »Moral« identifiziert. Gute Gründe dafür gibt es nicht. Ein Kunstwerk kann den Rezipienten unter Umständen zwar zu einer unmoralischen Antwort einladen, doch diese unmoralische Haltung kann unter Umständen sogar ethische Vorzüge aufweisen. Sie kann darauf verweisen, daß die Inhalte des guten Lebens nicht mit den Forderungen der Moral gleichzusetzen oder diesen gar unterzuordnen sind. Das betreffende Kunstwerk könnte auf diese Weise einen ethischen Vorzug haben, obwohl es gleichzeitig einen moralischen Defekt hat. Aber darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Diese drei Kritikpunkte bilden sicher keine hinreichende Grundlage für eine umfassende und grundsätzliche Zurückweisung der ethizistischen Position Gauts. Sie beziehen sich nur auf einige Details dieser Position, die daher einer partiellen Revision bedarf. Mit dieser Revision sollte dann aber ein überzeugendes Argument für eine neue, neo-formalistische Theorie der ästhetischen Erfahrung vorliegen, in deren Rahmen auch die enge Verbindung von ethischen und ästhetischen Maßstäben der Bewertung eines Kunstwerks sichergestellt wäre. 6 Die Möglichkeiten einer solchen Korrektur und die Modifikation Zum Begriff »Neo-Formalismus« vgl. Carroll (1999, 125 ff.); zur Idee eines neo-formalistischen Konzepts der ästhetischen Erfahrung siehe ferner Carroll (2001, 60) und Eldridge (1985, 311) sowie mit näherem Bezug zur Musik Scruton (1997, 155 ff.), Hat-
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des Arguments der verdienten Antwort habe ich bereits in meiner kritischen Besprechung vorweggenommen. In den folgenden Ausführungen geht es um drei Punkte, die sich in Gauts Theorie nur recht undeutlich erkennen lassen. Zunächst strebt eine neo-formalistische Theorie – in kritischer Abgrenzung sowohl gegenüber einem moderaten Moralismus als auch gegenüber einem moderaten Separatismus – das ambitionierte Ziel an, ein einheitliches Kriterium für die Wertschätzung von Kunst zu formulieren. Auf der Grundlage dieser Theorie möchte ich die These vertreten, daß der Wert von Kunstwerken auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen ist (vgl. Abschnitt 2.2). Tatsächlich mag der Wert von Kunst in verschiedenen Gattungen unterschiedlich ausgeprägt sein, dennoch haben wir ein Interesse an einem einheitlichen Begriff von Kunst, der es möglich macht, nach Parallelen zwischen verschiedenen Künsten zu fragen (dazu zum Beispiel: Boulez 1989, v. a. 21 ff.; Falke 2001, 89 f.). Mit dieser Annahme möchte ich durchaus keine fragwürdige Bestimmung des Wesens von Kunst vornehmen, denn es schiene mir problematisch, den Begriff von Kunst von einem bestimmten Wert abhängig zu machen. Die Frage also, ob ein Gegenstand ein Kunstwerk ist, hängt nicht von der Frage ab, ob dieses Kunstwerk auch ein gutes Kunstwerk ist. Auch ein schlechtes Kunstwerk bleibt schließlich immer noch ein Kunstwerk; es mag als Kunstwerk wertlos sein, doch das bedeutet eben nicht, daß es deshalb kein Kunstwerk wäre (vgl. Carroll 1999, 134). Zweitens, und das ist die entscheidende Neuerung, die ich hier einführen möchte, sollte das Ineinandergreifen von inhaltlicher Aussage und formaler Gestaltung des Kunstwerks in dieser Theorie eine angemessene Berücksichtigung finden. Es ist also das neo-formalistische Kriterium, das den Anspruch erhebt, einen einheitlichen Wertmaßstab für die Beurteilung einer besonderen ästhetischen Erfahrung bereitzustellen. Dieser starke Anspruch an ein einheitliches Kriterium ist durchaus mit einer Position vereinbar, derzufolge es eine Pluralität plausibler Interpretationen ein und desselben Kunstwerks geben kann. Mein neo-formalistischer Ansatz kann sich sogar zusätzlich auf die plausible Annahme stützen, daß sich selbst divergierende Interpretaten (2004, 10), Falke (1997, 81), Gabrielsson/Lindström (2001) und Robinson (2005, 329 f.); für überzeugende Analysen des Wechselspiels von musikalischer Form und expressivem Gehalt von Musik siehe insbesondere Rosen (2010).
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tionen eines Kunstwerks immer um eine überzeugende Lesart des Verhältnisses von Form und Inhalten dieses Kunstwerks streiten werden. Was drittens und zuletzt die Inhalte der ethischen Kriterien angeht, die ich an eine bestimmte ästhetische Erfahrung anlege, zeichnet sich meine neo-formalistische Theorie durch eine – im Vergleich zu Gauts enger, ethizistischer Position – sehr viel größere Liberalität im Hinblick auf das Spektrum praktischer Gründe aus. In einer gewissen Weise komme ich damit dem Etikett »Ethizismus« sogar sehr viel näher, als es Gauts eigene Position tut. Denn Gaut interessiert sich ausschließlich für das moralische Verdienst eines Kunstwerks: Damit schließt er die Möglichkeit eines Interesses an anderen, ethischen Qualitäten von Kunst zwar nicht aus, doch eine Berücksichtigung findet dieses Interesse im Rahmen seiner Position eben nicht. Im Grunde vertritt Gaut also lediglich eine neue und etwas strengere Position des moderaten Moralismus, die jede ethische Qualität eines Kunstwerks in einen Bezug zur ästhetischen Wertschätzung dieses Werks setzt. Erst meine Erweiterung dieser Position um die Möglichkeit ästhetischer Vorzüge unmoralischer Kunstwerke verdient daher eigentlich das Etikett »Ethizismus«. (In einer persönlichen Mitteilung hat Gaut mir gegenüber konzediert, daß »weite« ethische Qualitäten von Kunstwerken zu deren ästhetischem Wert beitragen könnten, der »Ethizist« diese umfassendere Frage aber nicht diskutiere. Dieses Eingeständnis wirft jedoch die Frage auf, ob Gaut hier nicht einen Begriff usurpiert, der für die Bezeichnung meiner erweiterten Position sehr viel besser geeignet wäre. Da sich Gaut aber natürlich sein Markenzeichen »Ethizismus« nicht nehmen lassen will, ich wiederum keinen Streit um Worte suche, werde ich meine Position als »erweiterten«, Gauts Position dagegen als »engen« Ethizismus bezeichnen.) Man mag sich nun darüber streiten, welche Bedeutung bzw. welches Gewicht diesen »ethischen« Qualitäten von Kunstwerken im Vergleich zu möglichen »moralischen« Qualitäten zukommen. Ich meine jedenfalls, man sollte die Bedeutung dieser umfassenden ethischen Qualitäten von Kunstwerken nicht unterschätzen und die Analyse der Interaktionen von Ethik und Ästhetik nicht einfach nur auf deren moralische Qualitäten verkürzen. Die Inhalte eines guten Lebens befinden sich in einem Widerstreit, und es ist vielleicht nicht die geringste Aufgabe der Kunst, einen Beitrag zur Artikulation, zur Reflexion und möglicherweise auch zur Elimination dieses Widerstreits zu leisten. Mein Argument für meine neo-formalistische Position in bezug auf 98 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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die Möglichkeit einer Interaktion von ethischen und ästhetischen Dimensionen insbesondere auch bei Musikstücken kann ich somit auf folgende Weise noch einmal kurz zusammenfassen; trotz der Korrekturen, die ich in diesem Abschnitt daran angebracht habe, lehnt es sich natürlich weiterhin sehr eng an Gauts Argument der verdienten Antwort an: Die weithin unumstrittene Ausgangsprämisse dieses Arguments lautet, daß zumindest ein sehr großer Teil von Musik expressive Eigenschaften aufweist. Dabei nehme ich zusätzlich an, daß es ein Wechselspiel zwischen den Inhalten und den Formen von Musik gibt, die formale Gestalt eines Musikstücks deshalb auch einen Beitrag zu dessen Expressivität leisten kann, expressive Qualitäten dann umgekehrt wiederum den ästhetischen Wert eines Stücks beeinflussen können. Eine zweite Prämisse meines Arguments besteht in der Annahme, daß expressive Musik den Hörer auch zu einer emotionalen Reaktion auffordert und genau aus diesem Grund auch ethisch bedeutsam sein kann. Zwar wird diese Annahme von vielen Formalisten abgelehnt, ausführlich habe ich für sie aber an anderer Stelle argumentiert (vgl. Rinderle 2010, 6. … und emotionale Antworten des Hörers). Zur Stützung einer letzten Prämisse kann ich mich des Arguments der verdienten Antwort bedienen: Der ästhetische Erfolg dieser Aufforderung hängt von ihrem Verdienst ab, und die Frage, ob sie verdient ist, läßt sich auch von einem ethischen Standpunkt aus beurteilen. Und aus diesen drei Prämissen läßt sich die Schlußfolgerung ableiten, daß die ethische Dimension eines Musikstücks auch ein Kriterium für dessen ästhetische Qualität bilden kann. Man kann hier folgenden Einwand erheben: Sicherlich hänge der Erfolg einer Aufforderung zu einer emotionalen Antwort immer von einem objektiven Kriterium des Verdienstes ab. In den darstellenden Künsten könnten wir nun relativ leicht feststellen, ob eine emotionale Antwort verdient ist. Die Musik könne uns diese Informationen aber eben nicht zur Verfügung stellen. Woher wollen wir etwa wissen, daß sich die musikalische persona, die wir uns bei der Wahrnehmung von Beethovens Marcia funebre vorstellen, nicht nur über eine recht belanglose Angelegenheit grämt? Fehlen uns nicht die entscheidenden Informationen, um von einer ethisch bedeutsamen Emotion sprechen zu können, die in expressiver Musik artikuliert wird? Dieser Einwand wird uns im Laufe dieser Untersuchung immer wieder begegnen, und eine vollständige Antwort kann ich erst nach 99 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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und nach – anhand vor allem auch verschiedener Beispiele – entwikkeln. Doch die allgemeine Idee, die meiner Replik dann zugrunde liegen wird, möchte ich hier kurz vorwegnehmend skizzieren: Die Instrumentalmusik, das ist ganz richtig, kann zwar keine Sachverhalte repräsentieren, sie kann uns also keine Auskunft darüber geben, ob etwa ein bestimmter Mensch gestorben ist. Daher kann sie auch nicht den Gegenstand einer bestimmten Emotion benennen. Doch eine bestimmte emotionale Haltung muß sich nicht notwendig auf einen spezifischen Sachverhalt beziehen; es kann sich einfach auch um eine allgemeine Einstellung gegenüber der menschlichen Existenz als solcher handeln. Gaut (2007, 68) schreibt selbst, es könne sich um eine allgemeine Einstellung etwa gegenüber dem menschlichen Leben handeln: »[…] one can hear the musical manifestation of attitudes, even in music that lacks an explicit programme, as in the defiant optimism that many have heard ringing out in the final movement of Beeethoven’s Fifth Symphony.« Jedenfalls kann Musik sicherlich unterschiedliche Gefühle – als affektive Komponenten einer Emotion – ausdrükken, und im vorliegenden Fall kann sie dann doch einen Unterschied zwischen zwei Zuständen zum Ausdruck bringen. Man wird in einigen Fällen sicher keine große Mühe haben, die Frage zu beantworten, ob die Emotion, die ein Stück zum Ausdruck bringt, echt ist, weil sie sich auf einen Sachverhalt aus der Umwelt einer Person bezieht – oder ob sie nur vorgetäuscht ist, weil in Wahrheit gar kein Interesse an dem betreffenden Sachverhalt vorhanden ist. Und es wird auch nicht schwer sein, die phänomenale Dimension der beiden Zustände in einem Musikstück zu unterscheiden: Eine weinerlich-rührselige Haltung unterscheidet sich schon in der Art und Weise, wie sie sich anfühlt, von einer Emotion der Trauer, die mit einer aufrichtigen Sorge um einen bestimmten Gegenstand einhergeht; und es ist nicht ausgeschlossen, daß man diesen Unterschied auch verschiedenen Musikstücken anhören kann (vgl. Abschnitt 4.3). Abschließend möchte ich meine neo-formalistische Theorie der ästhetischen Erfahrung noch gegen traditionelle Varianten des Formalismus einerseits sowie gegenüber anti-formalistischen Varianten des Moralismus andererseits abgrenzen. Der traditionelle Formalist vertritt eine Theorie der ästhetischen Erfahrung, die allein das Vergnügen an der Schönheit bestimmter Formen enthält. Letztlich ist er ein Hedonist – wobei dieses Etikett hier noch gar keine (negative) Wertung enthalten soll, denn selbstverständlich gibt es auch relativ anspruchsvolle 100 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Die Integrität des Kunstwerks
Varianten eines qualitativen Hedonismus. Der Genuß von Kunst muß für einen Formalisten auch nicht auf ein und derselben Stufe wie die pure Lust am Essen und Faulenzen stehen (dazu: Kivy 2009, 11. Empty Pleasure to the Ear). Der Neo-Formalist erhebt dagegen zwei Einwände: Zum einen verschaffen uns Kunstwerke nicht immer nur lustvolle Erfahrungen; auch die Unlust, das Unbehagen, ja sogar der Schmerz können Bestandteile einer ästhetischen Erfahrung sein. Und zum anderen entbehren die phänomenalen Qualitäten, die wir in jeder ästhetischen Erfahrung antreffen, nicht gänzlich einer Ausrichtung auf bestimmte imaginäre oder reale Gegenstände; sie können einen intentionalen Gehalt haben und damit auf bestimmte Inhalte verweisen. Im Gegensatz zum traditionellen Formalisten kann ein Neo-Formalist deshalb zugeben, daß ein Kunstwerk bestimmte kognitive und ethische Inhalte enthält. Manche Kunstwerke stellen uns ein nichtpropositionales Wissen zur Verfügung, sie machen uns mit Zuständen vertraut, wie es sich anfühlt, sich in dieser oder jener Situation zu befinden. Sie stellen uns eine Möglichkeit zur Verfügung, sich in die Lage realer oder imaginärer Personen zu versetzen, und können uns auf diese Weise das Innenleben anderer Menschen verständlich machen. Und daß diese Möglichkeit von großer ethischer Relevanz ist – und zwar sowohl im Hinblick auf die eigene Lebensführung als auch im Hinblick auf die Berücksichtigung der Interessen anderer Personen –, muß hier nicht noch einmal betont werden. Dennoch unterscheidet sich ein neo-formalistischer Ansatz von einer Auffassung, die die Kunst einfach nur in den Dienst von epistemischen oder ethischen Zwecken stellen möchte. Er erkennt den Eigenwert der ästhetischen Erfahrung an und nimmt gerade nicht an, daß dem Menschen bestimmte Einsichten auf direktem Wege und ohne den »Umweg« über eine entsprechende ästhetische Erfahrung zugänglich sein können. Auf diese Weise entgeht die neo-formalistische Position dem Einwand der kognitiven Trivialität (vgl. Abschnitt 2.2.). Erst durch eine ästhetische Erfahrung, die dem Anspruch eines Kunstwerks gerecht wird, stehen uns diese Einsichten zur Verfügung. Ein Kunstwerk hat einen intrinsischen Wert (zu diesem Begriff vgl. Budd 1995, 5; Rinderle 2007, 32 ff.), es ist nicht nur ein Mittel zum Zweck der Vermehrung unseres Wissens oder der moralischen Verbesserung des Menschen. Das Kunstwerk bedarf dabei aber einer Interpretation und Aneignung durch einen verständigen und kompetenten Rezipienten, und eine strikte Trennung von ethischen Inhalten und formaler Durch101 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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führung würde nicht nur das Ideal des integren Kunstwerks verletzen, sondern auch die ästhetische Erfahrung von Kunst beeinträchtigen. Der neo-formalistische Moralist teilt daher zwar die moralistische Grundauffassung, daß nämlich die ethische Dimension eines Kunstwerks eng mit dessen ästhetischer Dimension verbunden ist und eine Interaktion zwischen diesen Aspekten möglich ist. Er lehnt jedoch die tolerante Haltung des moderaten Moralisten gegenüber unabhängigen ästhetischen Kriterien ab. Wie der radikale Moralist vertritt er einen ästhetischen Monismus. Im Gegensatz zum radikalen und zum moderaten Moralisten fordert der neo-formalistische Moralist aber eine angemessene Berücksichtigung der Form eines Kunstwerks bei dessen ethischer Beurteilung. Es ist diese These, die den Neo-Formalisten zu einem besonders anspruchsvollen Moralisten macht. Eine neo-formalistische Theorie der Kunst macht den ästhetischen Wert eines Kunstwerks abhängig von einer gelungenen Verbindung einer formal gelungenen Artikulation mit einer Reflexion bestimmter ethisch bedeutsamer Inhalte. Levinson (2006, 199 f.; Hervorh. i. O.) schreibt, »what one finds intrinsically rewarding in the experience a good piece of music offers, and what perhaps most importantly determines its artistic value, is its very particular wedding of its form and content. That is to say, with a good piece of music one enjoys ›how it goes‹, to be sure – its individual, temporally evolving form – and again one enjoys ›what it conveys‹ – the attitudes, emotions, qualities, actions, or events it suggests – but above all, one enjoys and finds intrinsically rewarding the fusion of how it goes and what it conveys, the precise way in which what it conveys is embodied in and carried by how it goes.« Eine schwächere Auffassung, die von einer monistischen Position des Wertes von Kunst wieder abrückt, formuliert Levinson wenige Seiten später: »So if the experience a work offers possesses intrinsic value, this will be because the work is found inherently rewarding expressively, or configurationally, or in terms of its fusion of the expressive and the configurational, or in all three ways.« (Ebd., 203; meine Hervorh.) Speziell auf Musik bezogen meint auch Robert Hatten (2004, 177): »Interpreting the evolution of thematic gestures suggests that form is not an end in itself, but a vehicle for projecting expressive meaning.«
Zwar spricht Levinson nur vom Wert eines Musikstücks, doch er begrenzt die Geltung dieser Auffassung nicht auf die Kunstgattung Musik. Auch auf Werke der Literatur oder der Malerei kann eine neoformalistische Theorie der ästhetischen Erfahrung angewendet werden, denn auch Romane oder Gemälde können eine mehr oder weniger 102 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Das Verdienst unmoralischer Einladungen
gelungene Fusion von formaler Gestalt und ethischem Inhalt aufweisen. Eduard Hanslick (1989, 167) schränkt dagegen die neo-formalistische Position auf die Kunstgattung Musik ein: »In der Musik aber sehen wir Inhalt und Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen. Dieser Eigentümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu besitzen, stehen die dichtenden und bildenden Künste schroff gegenüber, welche denselben Gedanken, dasselbe Ereignis in verschiedener Form darstellen können.« Diese Auffassung darf allerdings als fraglich gelten, denn sicherlich wird man auch bei vielen literarischen Werken oder Gemälden von einer untrennbaren Verbindung von Form und Inhalt sprechen können.
2.5 Das Verdienst unmoralischer Einladungen Gehen wir nun einen Schritt weiter: Der Streit zwischen den Moralisten und den Separatisten dreht sich um die Frage, ob sich eine ethische Qualität eines Kunstwerks auch auf dessen ästhetische Wertschätzung auswirken kann. Wie schon der Moralist gibt auch der Immoralist auf diese Frage eine positive Antwort; wir dürfen den Immoralisten daher auch nicht mit einem Separatisten verwechseln. 7 Anders als der Moralist hält es ein Immoralist aber für möglich, daß ein ethischer Mangel den ästhetischen Wert eines Kunstwerks unter Umständen in einem positiven Sinn beeinflussen kann, eine unmoralische Einladung also eventuell einen besonderen ästhetischen Vorzug besitzen und eine entsprechende emotionale Antwort verdienen kann. 8 Wenn, wie Peter-André Alt (2010, 16; meine Hervorh.) schreibt, »das Böse mit Beginn der Moderne seine kulturelle Geltungsmacht als Feld [gewinnt], auf dem die Freiheit der Kunst von der Moral erprobt wird«, erlaubt dies doch nicht den Schluß, daß sich die Kunst damit von allen Fragen der Lebensführung emanzipiert habe, ihr ästhetischer Wert von ethischen Fragen abzutrennen und infolgedessen autonom sei. Der Immoralist mag für eine Befreiung der Kunst von der Moral plädieren, doch es bleibt – und zwar vor allem dann wenn man diese Begriffe in einem weiten Sinne versteht – die Möglichkeit einer Interaktion von ästhetischer Erfahrung und ethischen Inhalten von Kunstwerken. 8 Im Unterschied zu Bohrers (2004, 16 und 33) Rede vom »bösen Kunstwerk« ziehe ich den allgemeineren Begriff des »unmoralischen« Kunstwerks vor. Denn wahrscheinlich wird man jede »böse« Handlung bzw. jedes »böse« Kunstwerk auch als »unmoralisch«, umgekehrt aber nicht jede »unmoralische« Handlung als »böse« bezeichnen können. Im Gegensatz zu Bohrer scheint mir auch die bloße Existenz »unmoralischer« Kunstwerke 7
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Kunst, Moral und gutes Leben
Auch der Immoralist räumt also die Möglichkeit einer Interaktion von Ethik und Ästhetik ein; doch er stellt die herkömmliche Sichtweise nunmehr auf den Kopf: Gerade eine fragwürdige oder gar verabscheuungswürdige moralische Perspektive, so lautet seine Auffassung, könne ein Kunstwerk besonders interessant erscheinen lassen. In manchen Fällen könnten wir also ein Kunstwerk gerade deshalb ästhetisch besonders schätzen, weil es unmoralisch ist. Umgekehrt könnte man sich auch eine immoralistische Auffassung vorstellen, derzufolge eine positive moralische Qualität eines Kunstwerks eine negative Auswirkung in bezug auf dessen ästhetische Qualität hat. Der Roman Onkel Toms Hütte hat vielleicht einige moralische Vorzüge, doch diese Vorzüge könnten zuletzt seinen ästhetischen Wert auch schmälern. Zu den prominentesten Immoralisten zählen heute Daniel Jacobson (1997; 2006) und Matthew Kieran (2003; 2010); auch Peter Goldie (2003, 66) drückt, auf Mozarts Oper Don Giovanni und Jean-Luc Godards Film À bout de souffle verweisend, Sympathien für einen immoralistischen Standpunkt aus. Obwohl mich die Argumente insbesondere von Jacobson und Kieran letztlich nicht überzeugen, enthält die immoralistische Position zunächst doch einen wahren Kern. Ich möchte in diesem Abschnitt versuchen, diesen Kern herauszuarbeiten, zu qualifizieren und mit einem uns bereits bekannten Argument zu untermauern. Auch für die Frage einer ethischen Bedeutung von Musik ist diese Frage relevant. Denn obwohl sich die Debatte zwischen Moralisten und Immoralisten bisher auf die Kunstgattungen Literatur und Film beschränkt hat, gibt es zahlreiche Beispiele auch für unmoralische Musikstücke. Daher stellt sich auch für meine Untersuchung die Frage, wie der moralische Defekt eines Musikstücks mit seinem ästhetischen Wert zusammenhängt. Dabei möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich die Zuschreibung von moralischen Qualitäten an ein Musikstück nicht einfach von dessen empirischen Wirkungen auf seine Rezipienten abhängig mache. Mein primäres Interesse gilt immer den einem Musikstück innewohnenden moralischen Qualitäten (dazu: Walhout 1995, 6). nicht in Frage zu stehen. Ohne Zweifel gibt es unmoralische und böse Kunstwerke, interessant ist in meinen Augen lediglich die Frage, ob sie auch unsere (ästhetische) Wertschätzung verdienen. Bohrer würde möglicherweise entgegnen, jedes Kunstwerk – insofern es nämlich überhaupt ein Kunstwerk ist – habe einen ästhetischen Wert; dagegen würde ich an der Möglichkeit von »schlechter«, »ästhetisch wertloser« Kunst festhalten wollen.
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Das Verdienst unmoralischer Einladungen
Sehen wir uns die Argumente der wichtigsten Immoralisten im Detail an. Jacobson setzt seine Kritik an Gauts ethizistischer Position am Begriff des »Verdienstes« an und wirft Gaut vor, mit diesem Begriff einen wichtigen Unterschied zu verwischen: Die Frage nämlich, ob die angesonnene Emotion dem betreffenden Kunstwerk auch entspreche – und das sei allein ein epistemisches Problem –, dürfe man nicht mit der Frage gleichsetzen, ob es praktische Gründe für oder gegen eine bestimmte emotionale Reaktion auf ein Kunstwerk gebe. So könne es vorkommen, daß ein Kunstwerk wie de Sades Roman Juliette oder die Vorteile des Lasters eine unmoralische, sadistische Freude an der Grausamkeit in einem ersten, epistemischen Sinne »verdiene«, obwohl es gleichzeitig gute moralische Gründe gegen eine solche Reaktion gebe. Jacobson wirft nun die Frage auf, wie Gaut den Begriff »Verdienst« verstehen will? Folgt Gaut dem ersten, epistemischen Vorschlag, so kann auch ein unmoralisches Werk eine bestimmte (unmoralische) Antwort verdienen und damit ästhetisch erfolgreich sein. Diesen Schluß wird Jacobson selbst für seine Verteidigung des Immoralismus ziehen. Greift Gaut jedoch den zweiten, praktischen Vorschlag auf, so wird sein Argument zirkulär. Der Moralist muß dann voraussetzen – nämlich die moralische Dimension bei der Wertschätzung von Kunst –, was in der Debatte strittig ist: die Annahme nämlich, daß moralische Gründe ein Kriterium für das »Verdienst« einer bestimmten emotionalen Antwort sind. Dafür aber bedürfe es eines Arguments; voraussetzen könne man diese Annahme nicht. Gauts Argument, so Jacobsons Fazit, scheitere somit an einer Ambivalenz des Begriffs »Verdienst«. Kieran stellt eine eigenständige Überlegung für den Immoralismus zur Diskussion. Dabei bedient er sich einer Annahme, die er mit dem Moralisten teilt: der Annahme eines kognitiven Wertes von Kunst (vgl. Abschnitt 3.2): Ein Kunstwerk könne uns bestimmte Erfahrungen ermöglichen und damit zur Vermehrung unserer Erkenntnisse beitragen. Auch der Moralist nimmt ja an, daß wir ein besonderes Interesse am Erwerb bestimmter Kenntnisse zur Gestaltung unseres eigenen Lebens und des Umgangs mit anderen Menschen haben (vgl. Carroll 2000, 360 ff.; Gaut 2007, 7. The Cognitive Argument: The Epistemic Claim). Aber warum, so Kieran, sollte uns ein Kunstwerk diese Kenntnisse immer aus einer wertenden Perspektive präsentieren? Ist die Einladung zu einer bestimmten moralisch wünschenswerten Haltung tatsächlich eine notwendige Bedingung dafür, um aus einem Kunstwerk 105 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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einen kognitiven Nutzen ziehen zu können? Auch moralisch fragwürdige Erfahrungen, die Erfahrung etwa, wie es sich anfühlt, einen anderen Menschen zu foltern, können wertvoll sein; und deshalb können unmoralische Kunstwerke auch eine einzigartige Quelle solcher Erfahrungen darstellen. Obwohl mir diese Einwände letztlich nicht überzeugend scheinen, leisten sie doch einen wertvollen Beitrag zur Klärung einer moralistischen Position und verdienen es allein schon deshalb, ernst genommen zu werden. Jacobsons Einwand läßt sich leicht zurückweisen. Gauts Begriff des »Verdienstes« ist zwar relativ komplex, doch Jacobson kann daraus keine Vorteile ziehen, da es eher irreführend ist, zwischen epistemischen und praktischen Gründen für eine bestimmte emotionale Antwort zu unterscheiden. Denn die Tatsache, daß ein Werk tragisch ist, eine Emotion des Mitleids zum Ausdruck bringt und uns zum Mitleid auffordert, enthält beide Aspekte: Der kompetente Rezipient reagiert auf eine Weise, die der Wahrnehmung einer solchen expressiven Eigenschaft gerecht wird. Aber er sieht darin zugleich einen moralischen Grund für diese Reaktion. Der Umstand nämlich, daß uns ein Kunstwerk zum Mitleid mit einem unschuldig unglücklichen Menschen auffordert, ist ein guter moralischer Grund für diese emotionale Reaktion. Die Frage nach dem Vorliegen eines epistemischen Grundes läßt sich daher nicht strikt von der Frage nach dem Vorliegen eines praktischen Grundes trennen. Die Frage also, welche moralischen Gründe es für diese oder jene emotionale Antwort gibt, ist nicht unabhängig von der Frage, welche Einstellung sich in einem Kunstwerk manifestiert. Dagegen werden dann weitere moralische oder eigeninteressierte Gründe, die für den Rezipienten im Kontext der jeweiligen Rezeption des betreffenden Kunstwerks ebenfalls maßgeblich sein können, gleichsam nur von außen an ein Kunstwerk herangetragen. Sie sind aber vollkommen irrelevant, wenn es um die Beurteilung des moralischen Verdienstes der Einladung geht, die vom Kunstwerk selbst ausgeht. Im Rahmen des Arguments der verdienten Antwort geht es allein darum, ob bestimmte expressive Eigenschaften selbst gute Gründe für bestimmte Reaktionen sind. Machen wir uns das an einem Beispiel klar: Natürlich kann man sagen, es gebe eigeninteressierte Gründe, die Musik Bachs oder Brahms zu schätzen, etwa um sich als gebildeter und kultivierter Musikliebhaber auszugeben. Unter bestimmten (politischen) Umständen 106 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Das Verdienst unmoralischer Einladungen
mag es umgekehrt opportun erscheinen, die politisch geächtete Musik von Arnold Schönberg oder von Marlene Dietrich abzulehnen, weil man sich sonst vielleicht einer Gefahr für das eigene Leben aussetzen würde. Auch für die moralische Bewertung eines Kunstwerkes können solche Erwägungen eine Rolle spielen: So kann man die Musik etwa einer Band aus den Favelas Rio de Janeiros aus moralischen Gründen besonders schätzen, weil sie ein Ausdruck der sozialen Ungerechtigkeiten in Brasilien sind; und man könnte aus moralischen Gründen die Aufführung einer Beethoven-Symphonie durch die Berliner Philharmoniker ablehnen, weil das Geld zur Subventionierung dieser Aufführung an anderer Stelle sehr viel sinnvoller eingesetzt werden könnte. Ohne hier einen Streit über die Existenz bestimmter eigeninteressierter und moralischer Gründe anzuzetteln, wollen wir for the sake of the argument einmal annehmen, daß diese Gründe tatsächlich für die Beurteilung eines Musikstücks relevant sein können. Für die Auseinandersetzung mit der immoralistischen Gegenposition zu Gauts Ethizismus ist jedoch allein entscheidend, daß sich diese Gründe nicht auf die Qualitäten des betreffenden Stücks selbst beziehen. Wenn es um die Frage geht, ob ein Musikstück eine bestimmte Antwort verdient, sind diese Erwägungen allesamt irrelevant. Es ist eine falsche Art von Gründen, die plötzlich eine besondere Relevanz bei der Beurteilung des moralischen Verdiensts eines Kunstwerks für sich in Anspruch nimmt. Irrelevant bzw. falsch nenne ich diese Art von Gründen deshalb, weil sie nichts mit den eigentlichen, inneren Qualitäten eines Kunstwerks zu tun haben (allgemein zum sogenannten »wrong kind of reasons problem« vgl. Olson 2004; Rabinowicz/Rø´nnow-Rasmussen 2004). Auch Gaut möchte das Verdienst der Einladung, die ein Kunstwerk ausspricht, nur von relevanten, wahren Gründen abhängig machen. Deshalb wird Gaut auf Jacobsons Einwand erwidern können, daß die jeweils relevanten Gründe für eine bestimmte emotionale Antwort niemals bloß eigeninteressierte oder äußerlich moralische Gründe sind. Bei der Frage, ob ein Kunstwerk eine bestimmte Antwort verdient, geht es nicht um die Konsequenzen oder Wirkungen eines Kunstwerks oder bestimmte Interessen des Rezipienten. Es geht allein darum, ob die Antwort, die ein Kunstwerk seinem Rezipienten vorschreibt, auch gerechtfertigt ist. Es geht somit, schreibt Gaut (2007, 239), um »the cognitive-evaluative aspect of emotional rationality: […] What is wrong in taking pleasure in others’ pain is that this is not pleasurable, 107 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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in the proper, normative sense of that in which we ought to take pleasure. […] Likewise, someone who desires the bad is someone who desires what is not desirable. And to be amused by sadistic cruelty is to be amused by something that is not, in so far as it is sadistically cruel, amusing.« Gaut hat dabei kein besonderes Interesse daran, bestimmte Reaktionen – eine Reaktion etwa der Heiterkeit auf die lächerliche Darstellung von Brutalität und Grausamkeit in einem Film wie Pulp Fiction von Quentin Tarantino – als unmoralisch zu bezeichnen. Er möchte vielmehr darauf hinweisen, daß solche Reaktionen einer tragfähigen Grundlage entbehren. Diese Reaktionen können nicht mit den Werteigenschaften der betreffenden Objekte korrelieren: »[…] these responses are not warranted in so far as they are unethical, and the argument would go through with ›warrant‹ substituted for ›merit‹ throughout; and, likewise, the reasons appealed to are those concerned with warrant, not with any other kind of reasons.« (Gaut, ebd.; Hervorh. i. O.) Während Jacobsons Einwand also letzten Endes die ethizistische Position Gauts verfehlt, scheitert Kierans Argument für den Immoralismus an einer Ungenauigkeit: Zwar können wir uns vorstellen, wie es sich anfühlen mag, ein böser Mensch zu sein, und eine solche Erfahrung mag uns sicherlich wertvolle Kenntnisse für den Umgang mit solchen Menschen bereitstellen. Man kann deshalb auch Friedrich Schlegel (1967, 185) nur zustimmen: »Wenn man einmal aus Psychologie Romane schreibt oder Romane liest, so ist es sehr inkonsequent, und klein, auch die langsamste und ausführlichste Zergliederung unnatürlicher Lüste, gräßlicher Marter, empörender Infamie, ekelhafter sinnlicher oder geistiger Impotenz scheuen zu wollen.« Ein Kunstwerk, das uns solche Erfahrungen zur Verfügung stellt und etwa ausführliche Zergliederungen übler Machenschaften vornimmt, ist aber nicht per se schon unmoralisch, denn ob es uns auch dazu einlädt, die unmoralische Perspektive der betreffenden Menschen zu übernehmen, ist immer noch eine offene Frage, die sich nur auf der Grundlage der Art und Weise einer Darstellung, nicht auf der Grundlage des dargestellten Gegenstands beantworten läßt. Tatsächlich mag die Darstellung unmoralischer Personen und Situationen zu einem kognitiven Wert von Kunst beitragen – und auch der Moralist kann an einer Erweiterung seiner Menschenkenntnis interessiert sein –, doch hängt dieser Wert nicht davon ab, daß uns ein Kunstwerk zur Übernahme der von ihm dar108 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Das Verdienst unmoralischer Einladungen
gestellten unmoralischen Perspektive einlädt. Auch ein moralisches Kunstwerk kann uns ja detaillierte Kenntnisse über die Psychologie unmoralischer Personen verschaffen. Die Einladung zur Imagination unmoralischer Haltungen sollte also sorgfältig von der Einladung zur Übernahme und Affirmation einer unmoralischen Haltung unterschieden werden. Denn nur die letztere Einladung macht ein Kunstwerk zu einem unmoralischen Kunstwerk. Matthew Kieran (2010, 682 f.) meint zwar, von der Möglichkeit einer Asymmetrie unserer emotionalen Reaktionen auf reale Ereignisse einerseits und auf fiktive Ereignisse andererseits ausgehen zu können: »We often enjoy feeling emotions in responding to art that we would ordinarily be distressed to feel due to the morally relevant features of the situation or characters. […] The very things we might ordinarily respond to as fearful, horrific, or repugnant in real life may be ones we respond to with amusement, hope, or joy when engaging with art works.« Als Reaktionen auf reale Ereignisse mögen manche Emotionen zwar nicht angebracht sein, doch bedeute das nicht, daß sie nicht als Reaktionen auf fiktive Ereignisse angebracht sein könnten. Warum, so Kieran, sollte man für Fakten und Fiktionen die gleichen Kriterien anwenden? Kann einem Kunstwerk, das eine ein- und mitfühlende Imagination einer fiktiven Welt – etwa der Welt der Helden Homers – ermöglicht, nicht ein besonderer Wert zukommen? Meine Antwort lautet: Ja, einer solchen Imagination kann dann ein Wert zukommen, wenn sie uns Ideale oder Inhalte eines guten Lebens zugänglich macht, die mit der Moral in einem Konflikt stehen. Es ist aber nicht die unmoralische Dimension per se, die in diesem Fall zu einem ästhetischen Vorzug eines solchen Werks beiträgt. Allein der Umstand, daß die moralische Haltung eines Kunstwerks von unserer eigenen Haltung abweicht, dürfte dafür sicher nicht ausreichen. Nur der Umstand, daß ein Kunstwerk – neben den unmoralischen Qualitäten – zusätzliche, mit diesen vielleicht in einem engen Zusammenhang stehende Qualitäten aufweist, kann sich dann zu einem ästhetischen Vorzug auswachsen. Trotz alledem bleibt ein grundsätzlicher Unterschied bestehen, und Kierans Hinweis auf eine mögliche Asymmetrie unserer emotionalen Reaktionen ist daher auch keine Überlegung, die für eine immoralistische Position spricht: Ein Kunstwerk kann uns einerseits zur Imagination einer unmoralischen Haltung und zur zeitweiligen Suspension unseres Urteils einladen, und es kann uns andererseits zu einer 109 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Affirmation und Übernahme dieser unmoralischen Haltung einladen. 9 Um ein Beispiel anzuführen: Homers Ilias ist nicht schon deshalb unmoralisch, weil sie uns zur Imagination einer uns fremden Moral auffordert; sie ist unmoralisch, weil sie diese Moral auch affirmiert und uns zu einer echten emotionalen Reaktion auf fiktive Ereignisse auffordert. Das mag – hier gebe ich dem (engen) Ethizisten Recht – ihren ästhetischen Wert schmälern; wenn diese »Unmoral« jedoch mit anderen bewundernswerten Idealen zusammenhängt, mag das den ästhetischen Wert der Ilias wiederum erhöhen. Die erweiterte Version des Ethizismus kann diesem komplexen Sachverhalt also sehr viel besser gerecht werden als ein ästhetischer Immoralismus, der sich nur in einer scharfen Abgrenzung zum Ethizismus profilieren kann. Sicherlich sollte der Moralist die Inhalte der Moral nicht von bestimmten sozialen Konventionen abhängig machen. Er sollte vielmehr anerkennen, daß die Inhalte der Moral umstritten sind, die Moral auch eine kritisch-subversive Haltung gegenüber sozialen Konventionen einnehmen kann und daß der Begriff »unmoralisch« daher nicht nur zur Etikettierung und Abwertung abweichender Moralvorstellungen verwendet werden sollte. So genannte »unmoralische Kunst«, die die etablierten Moralauffassungen in Frage stellt und polemisch angreift, kann deshalb von einem zutiefst moralischen Interesse angeleitet sein. Kunst hat ja immer wieder die Grenzen der konventionellen Moral verletzt und in Frage gestellt. Der Komponist Wolfgang Rihm (2002, 227) schreibt ganz richtig: »Das, was wir heute dem Menschen angemessen empfinden, war zur Zeit seines ersten Erscheinens oft genug die Abweichung. Es galt zumindest als Streitfall. Das ist positiv zu sehen, weil es zuläßt, einen Lebensprozeß zu erinnern, der als Konflikt, Kampf und Gegnerschaft produktiv am Entstehen des Neuen beteiligt war.« Zum »Prinzip der Transgression«, das »die romantische mit der postmodernen Reflexion des Bösen verknüpft«, vgl. im Anschluß an Foucault auch Peter-André Alt (2010, 23 und 432). Allerdings wird man sorgfältig unterscheiden müssen: Eine Reflexion des Bösen – im Medium etwa der Kunst – Vgl. auch Bohrers (2004, 7 und 15; meine Hervorh.) Unterscheidung zwischen der »Darstellung des Bösen in der Literatur« und der »Möglichkeit einer bösen Darstellung«. Es geht auch Bohrer also nicht nur um die Frage, »warum Literatur und Kunst seit Anfang des 19. Jahrhunderts das Böse darstellen«, sondern ob sie »nicht selbst durch ihre spezifischen Formen Anteil an diesem Bösen haben könnten«. Bohrer sieht das Problem also sehr viel genauer als Kieran, bleibt dann aber ebenfalls ein Argument dafür schuldig, warum der »bösen Darstellung« eines Gegenstands ein besonderer ästhetischer Wert zukommen sollte.
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ist nicht nur nicht mit der Ästhetisierung des Bösen oder einer ästhetischen Lust am Bösen gleichzusetzen, sie wird letztere sogar ausschließen.
Selbst die Romane des Marquis de Sade sowie neuere Kompositionen von Heavy Metal Bands – die üblichen Verdächtigen für unmoralische Kunstwerke – werden heute manchmal aus einer moralistischen Perspektive interpretiert. Als Ethizist hat Gaut mit diesen Deutungen überhaupt keine Probleme, ausdrücklich erkennt er den moralischen Wert der Autonomie und der Reflexion von Konventionen an (vgl. Gaut 2007, 101 f.). Schließlich wird man das Gebot der Selbstreflexion und die eventuelle Revision ihrer Inhalte als einen essentiellen Bestandteil einer modernen Moral ansehen müssen. Vor dem Hintergrund dieser Position wird man es sogar als höchst bedauerlich ansehen müssen, daß viele Autoren, offenbar von einem tief sitzenden moralistischen Vorurteil ausgehend, immer wieder versuchen, den Stachel angeblich »unmoralischer« Kunstwerke möglichst schnell zu entfernen, um dann – auf der Grundlage eines unnötig engen Moralismus – deren außer Frage stehenden ästhetischen Wert zu retten. Simone de Beauvoir (1983, 22) spricht zum Beispiel von einem »moralischen« Anliegen de Sades: »[…] was ihn zur Grausamkeit trieb, war eigentlich das Verlangen, durch sie ganz bestimmte Menschen und sein eigenes Dasein als Bewußtsein der Freiheit und gleichzeitig als Fleischlichkeit zu erfahren«. Sie bezeichnet de Sade als »großen Moralisten« und hegt – in gewisser Weise gerade deshalb – Zweifel daran, ob er »als bedeutender Schriftsteller oder systematischer Philosoph« (ebd., 50) gelten könne. Und Heinrich Mann (1960, 37 f.) schlägt eine moralistische Lesart von Laclos’ Gefährlichen Liebschaften vor: »Die moralische Absicht darin ist zwar eher zu deutlich. Glücklich wird man nur durch Liebe. Nicht durch Stolz; nicht durch Spielen mit anderer Schicksalen; nicht durch Verstand: nur durch gütige Liebe. […] Laclos würde stutzen beim Anblick seiner Freunde. Er wollte versittlichen, und sie sind Immoralisten. Er dachte, zu der sanften Tourvel zu führen, und sie bewundern die ruchlose Merteuil.« Hans Mayer (1981, 22) merkt kritisch an: Heinrich Manns »Versuch, ein Meisterwerk der gesellschaftlichen Endzeit als Widerstandsliteratur und Vorwegnahme des bürgerlich-revolutionären Moralismus zu deuten, muß scheitern, wenn man Laclos ernstnimmt, und vor allem die wichtigsten Gestalten seines Romans: die Merteuil und Valmont.« »Der Roman lebt von der Ästhetisierung des Verrats.« (Ebd., 27; Hervorh. i. O.) Sogar die Musik der Heavy Metal Band Metallica wird inzwischen moralistisch interpretiert; ohne sich um einen Albumtitel wie Kill ’Em All zu kümmern, meint Niall Scott (2007, 218), sie als Ausdruck der Kernidee
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der Moralphilosophie Kants deuten zu können: »Kant and Metallica both conceive of the human as a being that deserves and demands respect and promotes reason.«
Dagegen meine ich, man sollte sowohl Romane wie die Gefährlichen Liebschaften oder Juliette als auch Heavy Metal Bands wie Metallica oder Slayer zunächst mit ihren unmoralischen Botschaften ernst nehmen. Schließlich kann es nicht von vornherein als ausgemacht gelten, daß die unmoralischen Dimensionen dieser Werke notwendig auch ein ästhetisches Übel sind. Wie gesagt: Die angestrengten Bemühungen einiger Vertreter moralistischer Deutung scheinen von der falschen Prämisse auszugehen, der unmoralische Charakter eines Werks sei ein gravierender ästhetischer Mangel. Hat man sich von dieser Auffassung erst einmal befreit, dann hat sich damit auch die manchmal recht zwanghaft anmutende Suche nach moralischen Inhalten von Kunstwerken schnell erledigt. Gaut hat neuerdings darauf hingewiesen, daß die inzwischen gängige Gegenüberstellung von Moralisten und Immoralisten verfehlt ist. Denn der moderate Moralist behauptet nur, ein ethischer Vorzug könne ein ästhetischer Vorzug – bzw. ein ethischer Mangel auch ein ästhetischer Defekt – sein. Er schließt dabei nicht aus, daß unter Umständen sogar ein ethischer Mangel zu einem ästhetischen Vorzug führen kann. Auch der Immoralist muß nicht ausschließen, daß ein ethischer Mangel in manchen Fällen ein ästhetischer Defekt sein kann. Betrachtet man diese Möglichkeiten, so wird plötzlich klar, daß unsere beiden Kontrahenten gar keine klaren, sich gegenseitig ausschließenden Alternativen bieten. Es scheint vielmehr alles auf den jeweiligen Kontext anzukommen. Ein ethischer Mangel kann also je nach Kontext in manchen Fällen als ein ästhetischer Vorzug und in manchen anderen Fällen als ein ästhetischer Defekt erscheinen. Gaut (2007, 53 ff.) schlägt deshalb vor, beide Positionen unter dem Begriff des »Kontextualismus« zusammenzufassen, um sie dann einfach seiner ethizistischen Position gegenüberzustellen und zurückweisen zu können. Zwar läßt dieser neue Vorschlag Gauts immer noch verschiedene Fragen offen. Ist es etwa sinnvoll, den moderaten Moralisten mit dem Immoralisten in einen Topf zu werden? Widerspricht das nicht doch einer Intuition, die wir nur ungern aufgeben wollen? Und kann es Gaut gelingen, seine eigene Position vom Kontextualismus abzugrenzen? Er selbst möchte ja an seiner eigenen Auffassung festhalten, nach der ein 112 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Das Verdienst unmoralischer Einladungen
ethischer Vorzug, sofern er jedenfalls ästhetisch überhaupt relevant ist, immer auch zur Vermehrung des ästhetischen Werts eines Kunstwerks beiträgt und ein ethischer Mangel diesen dann entsprechend verringert. Doch diese Fragen können hier offen bleiben, denn für den Fortgang dieser Untersuchung ist eine Antwort nicht von entscheidender Bedeutung. Ein Punkt scheint mir bisher aber noch nicht angemessen berücksichtigt worden zu sein. Gaut nimmt an, die Forderung, die ein Kunstwerk an seinen Rezipienten richtet, lasse sich unter anderem auch anhand von moralischen Kriterien bewerten. Eine unmoralische Forderung verdiene es nicht, entsprechend beantwortet zu werden, und dieser Umstand wirke sich dann negativ auf den ästhetischen Wert eines Kunstwerks aus. Doch die offene Frage bleibt: Ist das moralische Kriterium das einzige und das vorrangige Kriterium bei einer umfassenden ethischen Evaluation der emotionalen Antwort, die uns ein Kunstwerk ansinnt? Könnte man nicht sagen, es gebe durchaus vernünftige praktische Gründe, die sich in einer Konkurrenz zu den moralischen Gründen befinden? Einem weiten Begriff von »Ethik« zufolge mag es vernünftige Vorstellungen eines guten Lebens geben, die sich nur begrenzt mit den Forderungen der Moral in Übereinstimmung bringen lassen. Wir haben oben schon gesehen, daß es fraglich ist, ob die moralische Perspektive dann immer einen absoluten und kategorischen Vorrang für sich in Anspruch nehmen kann. Eudaimonistische Gründe stehen in einer potentiellen Konkurrenz zu moralischen Gründen, denn möglicherweise gibt es Werte, die in manchen Fällen eine Verletzung von moralischen Forderungen rechtfertigen können (vgl. Rinderle 2007, 8. Vorrang der Moral?); und wir sollten daher auch »nicht zu schnell jegliche Möglichkeit einer Verbindung von Bosheit und Glück zurückweisen« (Foot 2004, 112; Hervorh. i. O.). Dabei gehe ich nicht von einem spezifisch ästhetischen Interesse am Unmoralischen oder am Bösen aus. Im Gegensatz zu manchen Vertretern einer immoralistischen Position in der jüngeren Debatte zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik kann man mir aus diesem Grund keine »bürgerliche Übersättigung am Guten« (Musil 1978, 958) zum Vorwurf machen. Ich spreche vielmehr von einem Interesse am guten Leben, das sich nicht in der Moral erschöpft, von der Suche nach dem individuellen Glück, das sich nicht immer ganz einfach mit den Forderungen der Moral in Einklang bringen läßt. 113 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Während einerseits die Befolgung von moralischen Forderungen niemals als irrational erscheinen wird, ist andererseits doch denkbar, daß es gute Gründe für unmoralische Handlungen gibt und diese somit rational sind. Sicher gibt es unmoralische Handlungen, die unter allen Umständen als irrational erscheinen. So kann ich mir nicht vorstellen, daß es irgendeinen guten Grund gibt, Kinder einfach nur aus Spaß zu foltern. Dennoch sollte man die Möglichkeit der Rationalität einer unmoralischen Handlungsweise nicht kategorisch ausschließen. Und auch ein Kunstwerk kann uns eine moralisch fragwürdige Antwort ansinnen, die aus dieser umfassenden Perspektive immer noch als verdienstvoll eingesehen werden kann. Einem Kunstwerk kann also ein eudaimonistisches Verdienst zukommen, es kann uns zum Beispiel Einsichten in Formen des guten Lebens und des Glücks vermitteln – selbst wenn diese mit den Forderungen der Moral unvereinbar sind. Aus einer strikten ethizistischen Perspektive – im engen Sinn des Begriffs, den Gaut verwendet – kann man dann zwar nach wie vor von einem ästhetischen Defekt sprechen. Denn die Moral ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, und sie kann auch den Wert eines Kunstwerks beeinflussen. Dennoch können wir jetzt sagen: Obwohl uns die Wertschätzung eines solchen Kunstwerks also einen moralischen Preis abverlangt, mag es über besondere Qualitäten verfügen, die diesen Preis zuletzt rechtfertigen. Wir tun in einem solchen Fall auf der einen Seite gut daran, uns schuldig zu fühlen und ein schlechtes Gewissen zu haben. Schließlich sind wir nicht bereit, die Bedeutung der Moral für unser Leben radikal in Frage zu stellen. Auf der anderen Seite sind wir weder Helden noch Heilige. Das Leben enthält eben die eine oder andere Versuchung, und wer kann schon ernstlich und aufrichtig behaupten, er könne all diesen Versuchungen widerstehen? Die Moral ist einerseits nicht der einzige Quellgrund der guten und vergnüglichen Seiten des Lebens; andererseits ist dies aber kein guter Grund, uns leichtfertig über ihre Forderungen hinwegzusetzen. Ähnliches haben wir uns am Beispiel der Interaktion zwischen den ethischen und den komischen Qualitäten eines Witzes verdeutlicht: Ein Witz kann komisch sein, obwohl wir eines moralischen Defekts wegen Abstriche an seinen humoristischen Qualitäten machen müssen, mit gemischten Gefühlen reagieren und uns das Lachen dann im Halse stecken bleibt. Was ich nun für Kunstwerke im allgemeinen behauptet habe, gilt entsprechend auch für die unmoralischen Dimensionen von Musikstücken. Auch manche Musikstücke mögen uns bestimmte Möglich114 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Das Verdienst unmoralischer Einladungen
keiten des menschlichen Glücks erfahrbar machen, sie mögen uns zu einer Reflexion der Grenzen von moralischen Forderungen im menschlichen Leben einladen. Und das sind ethische Tugenden, die vielleicht nur ein unmoralisches Musikstück besitzen kann. Auch ihre Wertschätzung, die in der Annahme der Einladung zu einer entsprechenden emotionalen Reaktion besteht, wird also mit einem moralischen Preis einhergehen. In manchen Fällen mag uns dieser Preis zu hoch erscheinen; in manchen Fällen mögen wir aber bereit sein, ihn zu bezahlen. Sollten die umfassenden ethischen Qualitäten des betreffenden Stücks die moralischen Defizite auf diese Weise überwiegen, so kann man – im Sinne einer erweiterten Variante des Ethizismus – auch von einem positiven Beitrag zum ästhetischen Wert des Stücks sprechen. Dabei muß man diese Auffassung nicht mit dem Immoralismus gleichsetzen, denn es ist nach wie vor nicht die unmoralische Qualität, die zum ästhetischen Wert des betreffenden Werks beisteuert. Man nimmt in diesem Fall nur bestimmte unmoralische Qualitäten des Werks in Kauf, weil andere ethische Qualitäten dieses Werks durchaus die Wertschätzung und in der Folge dann die emotionale Antwort verdienen, die sie uns ansinnen. Meine erweiterte Version des Ethizismus kann sich also auf das Argument der verdienten Antwort stützen. Ziehen wir ein kurzes Fazit: Eine neo-formalistische Modifikation des Moralismus und eine Erweiterung der ethizistischen Position haben zu einer Position geführt, für die das Ideal einer Integrität des Kunstwerks den Dreh- und Angelpunkt bildet. Diese Position geht über einen moderaten Moralismus hinaus, denn sie macht das Ideal des integren Kunstwerks zum entscheidenden Kriterium für eine monistische Theorie des Wertes von Kunst. Sie geht damit aber gleichzeitig einen Schritt auf den Formalisten zu, denn es sind gerade bestimmte Lust- und auch Unlustempfindungen des kompetenten Rezipienten, die mit bestimmten ethischen Inhalten in einem engen Zusammenhang stehen. Auf diese Weise kann die Kunst zu einer Reflexion unserer Emotionen und zu einer Spiegelung unseres Selbstverständnisses beitragen (vgl. Kapitel 4). Gleichzeitig nimmt diese Position eine Erweiterung der ethizistischen Position Gauts vor: Unmoralische Kunstwerke können nicht nur eine attraktive Einladung aussprechen, sondern diese Einladung dann verdienen, wenn sie über besondere ethische Qualitäten verfügen, die zum einen eine Begrenzung oder Relativierung der Ansprüche der Moral enthalten und zum
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anderen auf angemessene Weise durch die formale Gestalt des Kunstwerks artikuliert werden.
2.6 Ästhetische Vorzüge unmoralischer Musik Wenden wir uns nun aber wieder der Musik zu: Was wollen wir aber unter der unmoralischen Qualität eines Musikstücks verstehen? Und warum kann ein moralischer Mangel als ästhetischer Vorzug angesehen werden? Man könnte zum einen die Auffassung vertreten, unmoralisch sei ein Musikstück dann, wenn es uns etwa zu einer Emotion des Mitleids auffordert, obwohl der Gegenstand diese Emotion nicht wirklich verdient und somit gar keine echte Grundlage für diese moralische Reaktion gegeben ist. Da es dem betreffenden Stück aber gar nicht um die Einladung zu einer echten Emotion des Mitleids geht, sondern nur das Interesse des Rezipienten am sentimentalen Selbstgenuß befriedigt werden soll, liege hier eine moralische Verfehlung vor (vgl. Abschnitt 3.4). An dieser Stelle interessiert mich eine andere Form der moralischen Verfehlung: Ein Kunstwerk kann uns, und zwar durchaus auf überzeugende Art und Weise, zu Emotionen einladen, die moralisch fragwürdig sind. Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaften, Gustave Flauberts Salammbô, Jean Genets Notre-Dame-des Fleurs und, um zwei aktuellere Werke aus der Musik zu nennen, Metallicas Album Kill ’Em All oder Slayers Album Diabolus in Musica mögen hier als Beispiele dienen. Von Sentimentalitäten sind diese Werke zwar alle gleich weit entfernt; aber sie erscheinen uns als unmoralisch, weil sie uns zu emotionalen Haltungen einladen, die mit einigen Forderungen der Moral nicht ganz leicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Auch Mozarts Opern Don Giovanni und Così fan tutte sind ja aus moralischer Sicht nicht ganz unproblematisch. Zwar erhält der Übeltäter Don Giovanni am Ende seine (verdiente) Strafe, aber die Musik ergreift dennoch streckenweise Partei für ihn. Nun kann man diese unmoralische Einladung zur Sympathie mit dem Übeltäter dann als verdient bezeichnen, wenn man ihr – etwa mit Bernard Williams – ethische Qualitäten zuschreiben kann, die die Forderungen der Moral eventuell übertrumpfen und ausstechen können:
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»Life without Giovanni will be life that has lost a very powerful and singleminded embodiment of qualities which are indeed human, even though he himself lacked several important aspects of humanity. The closing bars have to define the boundary between the extraordinary events of the drama […] and the world of everyone else, and it is fundamental that they define it in a way which does not exclude him from what makes ordinary life worth living. […] they recognise that any vitality that other people have must sustain the dream of being as free from conditions as his was.« Und daher: »Giovanni’s lofty refusal to repent when the statue demands that he should is not an ultimate offence to the cosmic order, but rather a splendidly attractive and grand refusal to be intimidated.« (Williams 2006, 21 f. und 39) Über die unmoralischen Qualitäten Don Giovannis – der Oper, nicht des Protagonisten – schreibt Charles Ford (1991, 121 f.) ganz ähnlich: »The brutality of Giovanni’s libertinage is celebrated musically throughout the opera […].« Und: »The overall sound of Don Giovanni is governed by the dynamic aggressive virility of its libertine hero, besides whom Ottavio’s sensitivity seems dull.« (Ebd., 132) Nicht zuletzt: »Both Anna and Alivera’s two first act arias […] leave us in little doubt that both women are being represented as old-fashioned, moralistic and ›frumpish‹, despite whatever feelings of sympathy we might feel for their distress.« (Ebd., 157; vgl. Floros 2000, 166 zu Kierkegaards Interpretation des Don Giovanni.)
Auch in Così fan tutte wird eine emotionale Haltung manifest, die nicht gerade von einer Gleichberechtigung der Geschlechter und der Hochachtung gegenüber Werten wie Liebe und Treue geprägt ist. Hans Mayer rückt sie deshalb in die Nähe der Gefährlichen Liebschaften: »Worin besteht die Gemeinsamkeit solcher Werke eines Ausklangs der Feudalwelt? Man kann sie als Vorgang einer Erotisierung und Ästhetisierung des Lebens interpretieren. […] Das Ancien Régime ist nicht unmoralisch im Sinne von Vorstellungen der bürgerlichen Tugend, weil Unmoral immer noch eine Bejahung der Moral voraussetzt. Die Welt des Ancien Régime hingegen lebte als Immoralismus. Erotischer Genuß und ästhetische Formvollendung sind an die Stelle einer Lebensperspektive getreten. Moralität ist nicht denkbar ohne Finalität. Das Ancien Régime besaß kein Ziel mehr, nur noch den Genuß. Man lebte in einer ewigen Gegenwart ohne Zukunft.« (Mayer 1981, 18; Hervorh. i. O.). Zur Così siehe ferner Bernard Williams (2006, 45): »The Romantic critics were correct in a feeling that the work is in a sense cynical, but quite wrong about what that sense is. […] What its cynicism consists in is rather the idea that emotions are indeed deep, indeed based in reality, but the world will go on as though they were not, and the social order, which looks to things other than those emotional forces, will win out.«
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Nun scheiden sich an der Deutung von Kunstwerken freilich gerne die Geister: Berys Gaut (persönliche Mitteilung) vertritt etwa die Auffassung, daß Don Giovanni am Ende der Oper schließlich seine verdiente Strafe erhalte, von einem moralischen Defekt der Oper also nicht die Rede sein könne. Obwohl mir diese Lesart mehr als fraglich erscheint, bleibt sie ein gutes Beispiel für eine Argumentationsstrategie, die das (häufige) Vorkommen unmoralischer Kunstwerke – und damit natürlich auch potentieller Beispiele, die für eine immoralistische Sichtweise angeführt werden könnten – in Frage stellt. Ohne hier einen Streit über die Deutung des Don Giovanni anzuzetteln, möchte ich eher daran zweifeln, ob sich der Ethizist mit dieser Annahme, es gebe keine oder sehr wenige unmoralische Kunstwerke, wirklich einen großen Gefallen tut. Sein Punkt ist doch, daß die unmoralischen Züge eines Kunstwerks für einen ästhetischen Defekt des betreffenden Kunstwerks verantwortlich sein können. Und darauf möchte ich hier antworten, daß die unmoralischen Qualitäten eines Kunstwerks – sobald wir uns auf die Existenz und den Begriff unmoralischer Kunst bzw. unmoralischer Musik sowie auf einige Beispiele für unmoralische Werke geeinigt haben – mit anderen, ethischen Qualitäten einhergehen können, die einen besonderen ästhetischen Vorzug des Werks begründen können. Der Ethizist müßte also zumindest einige Beispiele für unmoralische Musik nennen, bevor er überhaupt in eine Diskussion ihrer Mängel und Meriten eintreten kann. Um einige Vorschläge von meiner Seite zu machen: Friedrich Nietzsche schreibt im Fall Wagner (KSA Bd. 6, 12) über Bizets Carmen: »Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. […] Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch […].« Darüber hinaus sind manche Rocksongs (wie Sympathy for the Devil oder Highway to Hell) gute Beispiele für Musik mit unmoralischen Qualitäten (vgl. Pattison 1987, 175 ff.); sicherlich wird die Deutung »Kriegerethik« (Irwin 2007) der Musik Metallicas eher gerecht als die Deutung »Kantische Ethik«.
Nun könnte man immer noch einwerfen, ich hätte bisher nur von Werken der Vokalmusik gesprochen, und gegen die Möglichkeit einer moralischen Bewertung dieser Gattung gebe es auch nichts einzuwenden. In Frage stehe allein die Möglichkeit einer moralischen Bewertung der sogenannten »absoluten Musik«. Gegen diesen Einwand sind drei Erwiderungen denkbar. Erstens gibt es keinen Grund, die Vokalmusik aus unserer Untersuchung auszuschließen. Wir haben zweifellos ein Inter118 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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esse daran, die Möglichkeit einer Zuschreibung von moralischen Qualitäten an Opern oder Rocksongs zu untersuchen. Zweitens sollte man die eigenständige Macht der expressiven Qualitäten von Musik in Werken der Vokalmusik nicht unterschätzen. Denn die moralische Qualität der Begleitmusik kann in Werken der Vokalmusik von den moralischen Eigenschaften des Texts abweichen. 10 Drittens und letztens kann man sicher auch Werke der Instrumentalmusik als Beispiele für unmoralische Musik anführen: Igor Strawinskys Ballett Le sacre du printemps fordert den Hörer zur Teilhabe an der primitiven, barbarischen Opferung eines jungen Mädchens auf. Natürlich sollte für die Zwecke meiner Untersuchung möglichst wenig von strittigen Interpretationen abhängen. Doch was die unmoralische Dimension dieses Werks angeht, kann man sogar einen Konsens zwischen verschiedenen Autoren feststellen, die diese unmoralische Qualität aus einer ästhetischen Perspektive ganz unterschiedlich bewerten. »The ballet«, schreibt Richard Taruskin (1997, 386), »presents and even celebrates an absolute absence of compassion as the necessary correlate of the absence of ›psychology‹, of human subjectivity.« Und unter Bezugnahme auf Strawinskys Svadebka (auch als Les noces bekannt) spricht er von »Stravinsky’s lifelong antihumanism«, einer »celebration of the unquestioned subjection of human personality to an implacably demanding – and, by Enlightened standards, an unjust – social order« (ebd., 391). Siehe ferner Taruskin (2009, 208 f.) über Strawinskys Sympathien für einen »ästhetischen« Faschismus in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen sowie Adorno (1978, 133) über Strawinskys Ballett Petruschka: »Wohl fehlen ihm nicht subjektivistische Züge, aber die Musik schlägt sich eher auf die Seite derer, die den Mißhandelten verlassen, als auf dessen eigene […] Subjektivität nimmt bei Strawinsky den Charakter des Opfers an, aber – und darin mokiert er sich über die Tradition humanistischer Kunst – Musik identifiziert sich nicht mit diesem sondern mit der vernichtenden Instanz.« Zum »Objektivismus« in der Musik Strawinskys (z. B. im Ödipus Rex) siehe zudem Ernst Bloch (1974, 170): »Er ist betonte Entfremdung von aller Psychologie, doch 10 Williams (2006, 9) meint etwa, »the power of music to express feeling […] cannot be fully captured in words« und die besondere »Kraft« der Oper sei wesentlich auch ein Resultat ihrer dramatischen Form; es wäre daher abwegig, den Text als alleinigen Ursprung des Dramas anzusehen: »As anyone knows who has ever enjoyed an opera, music and words both provide the drama.« (Ebd., 6; meine Hervorh.) Auch Rosen (2010, 8) schreibt, »it is a fallacy of opera criticism to consider the literary text as primary and the music as an illustration or enhancement of the text«.
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auch von allem Menschlichen; er ist eine ästhetische Entfremdung, welche der wirklichen und unerträglichen des Betriebs, der Zwangsläufigkeit Musik und damit gutes Gewissen zu machen bestrebt ist. Nicht ohne daß Cocteaus lateinischer Text noch ganz andere, ja, fast rätselhafte Elemente von Fascismus hinzuließ […].«
Dabei ist die Frage nach der ästhetischen Bewertung dieser Musik immer noch offen. Denn ein Immoralist würde diesen unmoralischen Zügen gerade besondere ästhetische Qualitäten abgewinnen können. Außer Frage steht jedenfalls, daß wir es hier mit unmoralischen Werken der Instrumentalmusik zu tun haben. Taruskin (2009, 391) fällt allerdings ein sehr differenziertes Werturteil über die ästhetischen Qualitäten der Musik Strawinskys: »The anxious thrill of moral risk that attends the experience of Svadebka is one of the things that has kept it alive, and one of the marks of its creator’s fearful potency.« Milan Kundera (1994, 87 f.) kann Adornos Invektiven gegen die Musik Strawinskys überhaupt nicht nachvollziehen und stellt die Rückfrage: »Und das Glück, das diese Musik ausstrahlt? […] Das Glück, von dem ich spreche, steht […] im Zeichen des Humors; das unterscheidet es […] zum Beispiel vom romantischen Glück des Wagnerschen Tristan […]. (Ist Adornos fehlender Sinn für Humor daran schuld, daß er für Strawinsky so unempfänglich war?) […] Es gibt in der modernen Kunst Werke, die ein unnachahmliches Glück des Seins entdeckt haben, das Glück, das sich in der euphorischen Verantwortungslosigkeit der Phantasie äußert, in dem Vergnügen zu erfinden, zu überraschen, ja sogar durch eine Erfindung zu schockieren.« Das mag alles völlig richtig sein, dennoch bleibt die Frage offen, ob dieses Glück nicht mit der Moral kollidieren kann. Und nicht mehr allein um das Glück geht es spätestens dann, wenn Kundera etwas später zwischen der Darstellung der primitiven Barbarei im Sacre und einer Parteinahme für diese Barbarei unterscheidet (ebd., 90 f.). Adorno, so Kundera, habe diesen Unterschied einfach übersehen: »Vor Strawinsky hat die Musik es nie verstanden, barbarischen Riten eine große Form zu verleihen. Man konnte sie sich nicht in musikalischer Form vorstellen. Was bedeutet: man konnte sich die Schönheit der Barbarei nicht vorstellen. Ohne ihre Schönheit bliebe diese Barbarei unverständlich. […] Strawinsky gibt dem barbarischen Ritus eine starke, überzeugende musikalische Form, aber eine, die nicht lügt: hören wir uns die letzte Sequenz des Sacre an, den Opfertanz: das Gräßliche ist nicht weggezaubert. Es ist da. Nur um gezeigt zu
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werden? Nicht um angeprangert zu werden? Wenn es angeprangert, das heißt seiner Schönheit beraubt und in seiner Häßlichkeit gezeigt würde, wäre dies ein Betrug, eine Vereinfachung, eine Art ›Propaganda‹. […] Le Sacre du Printemps (insbesondere die rituellen Tänze) sind das apollinische Porträt der dionysischen Ekstase: in diesem Porträt werden die ekstatischen Elemente […] in große raffinierte Kunst verwandelt […]; dennoch verherrlicht die apollinische Schönheit dieses Porträts das Gräßliche nicht; sie läßt uns sehen, daß es auf dem Grund der Ekstase nur die Härte des Rhythmus, die strengen Schläge der Schlaginstrumente, extreme Gefühllosigkeit und den Tod gibt.« (Ebd., 91 f.; Hervorh. i. O.) Auch Pierre Boulez (1986, 349; 2005b, 374) bezeichnet übrigens Adornos (1978, 192 ff.) Gegenüberstellung eines progressiven Schönberg und eines reaktionären Strawinsky als eine grob vereinfachende, geradezu manichäische Auffassung, der jegliche Sensibilität für einen neuen Stil abgehe.
Kunderas Interpretation von Strawinskys Sacre stellt sicherlich eine interessante Alternative zu Adornos und Taruskins Deutung dar. Vielleicht geht es in diesem Stück wirklich nicht um eine Kritik der modernen Moral und bestimmter Ideen der Humanität; und vielleicht geht es tatsächlich nur um Fragen der Schönheit und des Glücks. Letztlich überzeugend finde ich seine Ausführungen aber dennoch nicht. Denn Kundera räumt zumindest ein, daß »das Gräßliche«, die »extreme Gefühllosigkeit« jedenfalls nicht kritisiert oder abgelehnt, sondern als »schön« oder sagen wir: »ästhetisch reizvoll« dargestellt werden. Nun ist aber die Ästhetisierung von Gewalt, Brutalität und Inhumanität immer eine gefährliche Angelegenheit, denn eine Einladung zur Ablehnung geht von einer rein ästhetischen Behandlung dieser Phänomene durchaus nicht aus. Sie werden vielmehr gleichsam instrumentalisiert, als legitime Mittel zum Zweck der Gewinnung von Schönheit und einer damit verbundenen Lust behandelt. Aus einer moralischen Perspektive mag man eine solche Neutralisierung der fragwürdigen moralischen Dimension als kritikwürdig ansehen. Der Ästhetizist, der die Brutalität und Inhumanität von Handlungen oder Institutionen allein nach ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt, setzt sich zuletzt einer berechtigten moralischen Kritik aus, ob diese Phänomene damit letzten Endes nicht verharmlost oder sogar gerechtfertigt werden. Kundera bringt zu Recht die Frage nach dem Glück ins Spiel, und ich habe selbst die Position vertreten, daß Forderungen der Moral eventuell nur ein schwacher Vorrang im Bereich der menschlichen Praxis zukommt. Aber im Gegensatz zu einer Ästhetisierung des Bösen geht es dabei nicht nur um eine Entgegen121 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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setzung von Ethik und Ästhetik; es geht um eine Interaktion von ethischen Kategorien wie Glück oder Moral und ästhetischen Kategorien wie Schönheit. Und unter bestimmten Bedingungen – sollten sie nämlich andere Vorzüge aufweisen – können sicher auch unmoralische Werke bestimmte ästhetische Vorzüge aufweisen. Sollten sie diese Bedingungen aber nicht erfüllen, d. h. sollten sie neben ihren unmoralischen Qualitäten keine zusätzlichen ethischen Vorzüge – in Form etwa eines Versprechens von Glück jenseits einer bestimmten Vorstellung von Moral – haben, so wird man einen moralischen Mangel auch als einen ästhetischen Mangel ansehen können. Um dafür ein Beispiel anzuführen: In seinem Essay Richard Strauss nimmt Theodor W. Adorno eine – sicherlich allzu pauschale – moralische Kritik der Musik dieses Komponisten vor, die dann auch durch keine ethischen Vorzüge mehr zu retten ist: Adorno (2003, 586) wirft ihr eine »bürgerliche Kälte, eine Teilnahmslosigkeit des ästhetischen Subjekts« vor, »in welcher die stumme Klage des So-ist-es nicht mehr auseinander zu halten ist von der durchs universale Konkurrenzprinzip verursachten, bereitwillig verinnerlichten Gleichgültigkeit gegen die anderen. Die ästhetische Attitüde wird zur interesselosen Betrachtung in einem von Kant nicht vorgesehenen Sinn. Verächtliche Äußerungen Straussens über sein Publikum bezeugen, daß er auch subjektiv dieses Geistes war. Er ist in seine kompositorische Verhaltensweise eingewandert und erlaubt es der Musik, anstandslos sich zu verstellen, zu dissimulieren. Kälte wird produktiv […]. Sie affiziert auch das Verhältnis des Subjekts zu sich; selten fehlt der Menschenverachtung der Hang zur Selbstverachtung.«
Wieder geht es mir nicht um die Frage, ob Adorno mit dieser Auffassung richtig liegt, sondern um die besondere Art und Weise seiner Argumentation. Er kritisiert nämlich eine besondere Form des Komponierens aus einer moralischen Perspektive. 11 Nun wäre es denkbar, daß in diesem Fall keine zusätzlichen Erwägungen zur ästhetischen Rettung der Musik Richard Straussens herangezogen werden können. Ihre moralischen Mängel könnte man infolgedessen als ästhetische Mängel bezeichnen, die nun von keinen umfassenderen, ethischen Meriten mehr auszugleichen sind. Mit dieser Einsicht weise ich auch auf
Zudem rückt Adorno die moralischen »Qualitäten« der Musik Richard Straussens in die Nähe der moralischen »Qualitäten« des empirischen Komponisten, schließt vom realen Charakter bzw. »Geist« des Menschen auf den Charakter bzw. »Geist« seines Werks und tappt damit in das, was Matt (2007, 242) die »biographische Falle« nennt.
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Ästhetische Vorzüge unmoralischer Musik
eine Grenze meiner zentralen These hin: Unmoralische Musik kann in manchen Fällen ästhetische Vorzüge aufweisen, aber es gibt auch unmoralische Musik, der man ästhetische Defizite zuschreiben kann. Das scheint nicht nur unmittelbar plausibel, sondern steht zudem im Einklang mit meiner ethizistischen Grundüberzeugung: Es gibt zum einen unmoralische Musik, der man bestimmte ästhetische Vorzüge zuschreiben kann; aber es gibt weiterhin unmoralische Musik, die gravierende ästhetische Mängel aufweist – und zwar gerade deshalb, weil sie unmoralisch ist. Halten wir das zentrale Resultat dieses Kapitels noch einmal fest: Auch für die Kunstgattung der Musik trifft die moralistische Auffassung zu, daß es zu Interaktionen zwischen ihren ethischen und ihren ästhetischen Dimensionen kommen kann. Von ihrer spezifischen Expressivität geht eine Einladung an den Hörer aus, sich mit bestimmten emotionalen Einstellungen zu identifizieren. In der Musik kann sogar besonders deutlich werden, was in anderen Kunstgattungen manchmal nur noch am Rand wahrgenommen wird, denn der expressive Charakter vieler Musikstücke macht die Einladung zu einer emotional gefärbten ästhetischen Erfahrung nur noch viel deutlicher. Sollte der Separatist immer noch an seiner Auffassung festhalten, so sollte zumindest das Spektrum der Alternativoptionen und ihrer Implikationen deutlich geworden sein. Wohl werden sich nicht alle Meinungsverschiedenheiten ausräumen lassen, es sollte aber wenigstens klar geworden sein, welche Inhalte sie haben und auf welche Annahmen sie zurückzuführen sind. Nachdem wir auf diese Weise eine allgemeine Grundlage gewonnen haben, um über die ethischen Gehalte von Musik und deren ästhetische Relevanz zu sprechen, möchte ich in der Folge nun der Frage nachgehen, worin genau die ethischen Inhalte von Musik bestehen sollen.
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3. Exakte emotionale Phantasien
Die Berliner Zeitung vom 5. August 2007 meldet: »Die BVG will in U-Bahnhöfen klassische Musik spielen, um Drogenhändler zu vertreiben.« Nach guten Erfahrungen in Hamburg und München verspreche man sich auch in Berlin einen Beitrag zur Sicherheit der Fahrgäste. Dabei, so eine Sprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe, kämen vor allem Ouvertüren italienischer Opern in Frage. Zunächst solle noch ein Test auf zwei Stationen durchgeführt werden; sollte er sich als erfolgreich erweisen, könne es bald auch auf anderen U-Bahnhöfen eine leise Dauerbeschallung geben. Sicherlich gibt man sich bei der BVG keinen großen Illusionen hin: Offenbar geht man dabei nicht von einer besonderen moralischen Kraft der Musik aus, die die Menschen in friedfertige Wesen verwandeln könnte. Vielmehr setzt man auf einen anderen, psychologischen Effekt: »Erfahrungen aus anderen Städten zeigen«, so die Berliner Zeitung, »dass eine Klangberieselung Drogenhändlern, Wohnungslosen und anderen, die unberechtigt oder zu lange in den Stationen verweilen, gehörig auf die Nerven geht. Meist mit der Folge, dass sie sich lieber woanders aufhalten […].« Zwar kann Musik auf diese Weise als Mittel für einen – wohl fragwürdigen – »moralischen« Zweck verwendet und in einem externen Sinn funktionalisiert werden. Doch hat dieser Gebrauch nichts mit ihrer internen ethischen Bedeutung zu tun und auch die emotionale Phantasie wird eine solche Verwendung von Musik schwerlich beflügeln können. Es besteht viel eher die Gefahr, daß eine solche Funktionalisierung der Musik zur Abstumpfung und Verkümmerung der Fähigkeit führt, deren Expressivität wahrzunehmen. Meine Frage lautet dagegen, ob sich das Verstehen von Musik auf unsere Lebensführung auswirken und ihre ethische Bedeutung dabei mit ihrem ästhetischen Wert interagieren kann. Expressive Musik lädt ihren Hörer immer zu einer emotionalen Antwort ein, und da man Emotionen als Wahrnehmungen von Werten verstehen kann, wird uns die Rezeption von Musik eventuell in die Lage versetzen können, 124 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Exakte emotionale Phantasien
gleichsam eine emotional geprägte Erfahrung von neuen Werten zu machen. Und da die Anerkennung von Werten ihrerseits eine Triebfeder des menschlichen Handelns bildet, kann die Musik unter Umständen einen Einfluß auf die Lebensführung des Menschen nehmen. Die Bedeutung einer gewissen Feinfühligkeit, einer Kultur der Emotionen für die Realisierung eines gelungenen Lebens ist unbestritten. Wenn nun aber die Musik auf diese Weise zur Kultivierung unserer Emotionen beitragen kann, so wird man ihr auch eine ethische Relevanz zuschreiben können. Darauf haben natürlich schon Platon und Aristoteles hingewiesen: »Beruht nun nicht eben […] das wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß und Wohlklang vorzüglich in das Innere der Seele eindringen, und sich ihr auf das kräftigste einprägen, indem sie Wohlanständigkeit mit sich führen, und also auch wohlanständig machen, wenn einer richtig erzogen wird, wenn aber nicht, dann das Gegenteil?« (Politeia 401d) Und Aristoteles schreibt, Musik mache »die Seele enthusiastisch, und der Enthusiasmus ist eine Modifikation des seelischen Charakters. Außerdem sympathisieren wir alle, wenn wir musikalische Darstellungen hören, auch ohne Tanz und Gesang. Fernerhin gehört die Musik zum Angenehmen, und es ist Sache der Tugend, sich richtig zu freuen, zu lieben und zu hassen. Also muß man nichts so sehr lernen und sich angewöhnen wie das richtige Urteilen und die Freude an anständigen Charakteren und an schönen Handlungen.« (Politik 1340a10– 18; meine Hervorh.). »Es ergibt sich daraus, daß in der Tat die Musik den Charakter der Seele zu beeinflussen vermag. Kann sie dies, so muß man auch die jungen Leute zu ihr hinführen und in ihr erziehen. Auch passt die Unterweisung in der Musik sehr in die Natur dieser Altersstufe. Denn die jungen Leute können bei ihrem Alter nichts freiwillig aushalten, wenn es nicht versüßt wird, und die Musik gehört ihrem Wesen nach zum Angenehmen.« (Politik 1340b10)
Da zum Verhältnis von Musik und Ethik in der Ideengeschichte der Musikästhetik bereits zahlreiche Untersuchungen (vgl. z. B. Murray/ Wilson 2004; Bundrick 2005; Malhomme/Wersinger 2007) vorliegen, gilt mein Augenmerk in diesem Kapitel der Verteidigung einer systematischen These, derzufolge die Musik eine ethische Bedeutung erlangen kann. Im Sinne meines weiten Begriffs »Ethik« sollen darunter Fragen fallen, die einerseits das gute Leben einer Person bzw. einer Gemeinschaft und andererseits den moralischen Umgang mit anderen Personen betreffen. Viele Autoren sprechen zwar allgemein von einer ethischen Bedeutung der Kunst, beschränken sich dann meist aber auf den Nachweis der ethischen Bedeutung von Literatur und allenfalls 125 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Exakte emotionale Phantasien
von Malerei. Unsere Aufgabe besteht deshalb darin, die ethischen Dimensionen von Musik herauszuarbeiten. Meine Kernthese lautet: Musik entfaltet eine ethische Bedeutung, weil sie uns in ein Reich der Imagination entführen kann und dabei unsere Vorstellungskraft schult. Man kann sogar von einem utopischen Potential der Musik sprechen: Sie kann uns in neue Gefühlswelten entführen, sie kann so ein Verständnis einer Vielzahl emotionaler Möglichkeiten wecken, und sie kann auf diese Weise dazu beitragen, das Bewußtsein unserer eigenen wie auch der Emotionen anderer Personen zu erweitern und zu schärfen. Musik kann unsere emotionale Phantasie schulen, und sie kann zur Herausbildung und Befestigung einer Fähigkeit beitragen, auf bestimmte Situationen mit den jeweils angemessenen Emotionen zu antworten. Oft wird diese These mit dem Hinweis in Frage gestellt, daß zumindest die reine Instrumentalmusik eine abstrakte Kunst sei und nicht das Vermögen zur Repräsentation von bestimmten Personen oder Situationen habe. Meine Argumentation geht zunächst von einer unbestrittenen ethischen Relevanz von Kunstgattungen wie Literatur und Malerei aus. Der entscheidende Schritt für das Postulat einer ethischen Bedeutung auch von Musik besteht dann in der Annahme, daß selbst die ethische Bedeutung der darstellenden Künste nicht unmittelbar von ihrem Vermögen zur Repräsentation bestimmter Personen oder Handlungsabläufe abhängt. Auch die Bedeutung von Werken der Literatur und der Malerei geht nicht in den Sachverhalten auf, auf die sie sich beziehen und die sie näher beschreiben. Entscheidend bleibt auch bei gegenständlichen Künsten vielmehr die jeweilige emotionale Haltung, die ein Roman oder ein Gemälde gegenüber diesen Sachverhalten an den Tag legen. Darin wurzelt auch ihre ethische Dimension. Da es weiterhin relativ unstrittig ist, daß die Musik über expressive Eigenschaften verfügt, ihre Bedeutung mithin nicht von ihrem Vermögen zur Repräsentation bestimmter Sachverhalte abhängt, kann man schließen, daß auch der Musik eine ethische Bedeutung insbesondere für die Ausbildung exakter emotionaler Phantasien zukommt. Überhaupt keinen Grund sehe ich daher übrigens für eine schroffe Entgegensetzung von Phantasie und Gefühl: »Behandelt man […] die Musik als Kunst«, schreibt Eduard Hanslick (1989, 8 f.; meine Hervorh.), »so muß man die Phantasie und nicht das Gefühl als die ästhetische Instanz derselben erkennen.« Die Phantasie bezeichnet er als »das eigentliche Organ des Schönen«, die Wirkung der Musik auf das 126 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Gefühl dagegen als »pathologisch«. Warum aber sollten nicht auch Emotionen und Gefühle zum Anwendungsbereich der künstlerischen Imagination zählen? Wir haben gesehen, daß Emotionen kognitive, affektiv-hedonische und motivationale Komponenten aufweisen. In einem ersten Abschnitt gehe ich daher auf einige hedonistische Aspekte der ethischen Bedeutung der Rezeption von Musik ein (3.1). Im Zentrum meiner Ausführungen steht dann die kognitiv-epistemische Dimension der Erfahrung von Musik (3.2). Im Anschluß daran wende ich mich den praktischen Auswirkungen der Erfahrung von Musik auf die Handlungen und den Charakter von Menschen, also der Möglichkeit einer »ethischen Kraft« von Musik zu (3.3). Im vierten Abschnitt soll die Kernthese näher erläutert werden, daß Musik einen wertvollen Beitrag zur Entfaltung und Feinjustierung unserer emotionalen Phantasie leisten kann (3.4). Daran anknüpfend gehe ich zunächst auf das Phänomen der Sentimentalität in der Musik ein (3.5) und werfe abschließend die Frage auf, ob Musik auch Erfahrungen der Gebrochenheit und der Fragmentierung vermitteln und auf diese Weise einer Instrumentalisierung zum bloß sentimentalen Selbstgenuß entgegenwirken kann (3.6).
3.1 Musik als lustvolles Erlebnis Die Produktion und die Rezeption von Musik können ein großes Vergnügen bereiten. Zunächst mag es daher sinnvoll erscheinen, einige hedonistische Aspekte der Wertschätzung von Musik anzusprechen. Obwohl ich mich im Rahmen dieser Untersuchung vorrangig auf die Fragen und Probleme der Rezeption von expressiver Musik konzentriere – schließlich setzt die Produktion von Musik immer zumindest die Möglichkeit ihrer Rezeption voraus (Jackendoff/Lerdahl 2006, 34) –, sollte man sicher auch die ethische Bedeutung der Produktion von Musik berücksichtigen. Auf jeden Fall wäre es verfehlt, von einer strikten Trennung des Komponisten und des Hörers auszugehen: Schon bei der Komposition muß der Komponist schließlich immer auch in die Rolle des Hörers schlüpfen; Beethoven wurde vom 5. Satz, Cavatina, seines Streichquartetts Nr. 15 in B-Dur, op. 130, offenbar selbst zu Tränen gerührt (vgl. M. Solomon 2003, 239). Umgekehrt kommt dem Hörer bei der Imagination einer musikalischen persona 127 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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aber ebenfalls eine schöpferische Aufgabe zu. Die ethische Bedeutung von Musik wird daher immer zugleich den Hörer und den Komponisten angehen. Nehmen wir nun die beiden entscheidenden hedonistischen Vorteile von Musik unter die Lupe: Sowohl der Ausdruck von Gefühlen als auch die Wahrnehmung eines solchen Ausdrucks in einer gelungenen formalen Komposition kann eine Quelle einer spezifisch ästhetischen Lust sein. Wir freuen uns darüber, wenn wir selbst singen und tanzen können; und wir genießen es, Lieder zu hören und Tänze zu betrachten. Auch traurige Lieder und Tänze können dabei zum Gegenstand einer ästhetischen Lust werden. Sowohl als Produzenten als auch als Rezipienten von Musik können wir also eine pure Lust an schönen Formen haben (vgl. Levinson 1996; Kivy 2009, 11. Empty Pleasure to the Ear); und schon auf diese Weise kann Musik natürlich einen Beitrag zu einem guten Leben des Menschen leisten (Walhout 1995, 13). Das darf man nicht falsch verstehen. Musik kann uns nämlich nicht nur vorübergehend Lust verschaffen, sie kann uns, und zwar zumindest für die Dauer ihrer Wahrnehmung, Zugang zu neuen Welten des emotionalen Erlebens verschaffen. Martha Nussbaum (2001, 265) meint, man könne die Reaktion des Hörers auf den expressiven Inhalt von Musik mit einer Art Traum vergleichen. Der graue, trübe Alltag erscheint aus dieser Perspektive weit entfernt, wir fühlen uns in dieser Welt frei und wie neu geboren. Sogar Peter Kivy, auf dessen Skepsis hinsichtlich einer epistemischen Bedeutung und einer ethischen Kraft von Musik ich noch ausführlich eingehen werde, schreibt der Musik eine ethische Bedeutung zumindest in diesem hedonistischen Sinne zu. Der abstrakten Kunstgattung der Musik, so Kivy, komme vor allem eine befreiende Kraft zu: »Music, alone of the fine arts, makes us free of the world of our everyday lives.« (Kivy 2002, 256; vgl. ausführlich Kivy 1997, 7. The Liberation of Music). Ähnlich schreibt schon Clive Bell (1922, 27): »Kunst trägt uns hinweg von der Welt mühseliger Geschäftigkeit hin zu einer Welt der Ekstasen. Für einen Augenblick sind wir losgelöst von allen menschlichen Interessen. Unsere Hoffnungen und Erinnerungen sind ausgelöscht. Wir schweben über dem Strom des Lebens.« Musik kann dieser Auffassung zufolge somit die Quelle eines ganz speziellen Vergnügens sein, das aus der Befreiung von den Mühseligkeiten des tristen, grauen Alltags resultiert. Dennoch sollte man zweierlei nicht vergessen: Erstens läßt sich dieses Vergnügen nicht speziell auf die expressiven Eigenschaften von 128 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Musik zurückführen; und zweitens – das ist meines Erachtens der gewichtigere Einwand – wird man zugeben müssen, daß der Wert eines solchen Vergnügens zumindest umstritten ist und keine vollständige Erklärung unseres Vergnügens an der Musik und ihrer Wertschätzung leisten kann. Gewiß, für einen Pessimisten vom Schlage Schopenhauers mag die Befreiung von der irdischen Not und Langeweile als das höchste Gut erscheinen: »[…] solange wir dem Drange der Wünsche, mit seinem steten Hoffen und Fürchten, hingegeben sind, solange wir Subjekt des Wollens sind, wird uns nimmermehr dauerndes Glück, noch Ruhe. […] Wenn aber äußerer Anlaß, oder innere Stimmung, uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt, […]: dann ist die auf jenem ersten Wege des Wollens immer gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, und uns ist völlig wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.« (Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 1, § 38, 280).
Sieht man freilich die Klärung und Kultivierung auch unserer ganz alltäglichen Emotionen als wichtigen Bestandteil eines guten Lebens an, so kann weder Kivys Hedonismus noch Schopenhauers Pessimismus ein Monopol für eine Grundlegung unserer Erfahrung und Wertschätzung von Musik in Anspruch nehmen. Zudem wird man die Rezeption von Musik nicht immer nur als ein reines, ungetrübtes Vergnügen ansehen können (vgl. Abschnitt 4.3). Es wäre daher ein Fehler, den Wert der ästhetischen Erfahrung von Musik nur in einem engen Sinn zu verstehen und allein auf ein besonderes ästhetisches Vergnügen einzuschränken. Kivy scheint einfach davon auszugehen, daß das höchste Interesse des Hörers von Musik – und damit seine Vorstellung vom guten Leben – darin bestehe, sich von den Sorgen und Plagen seines irdischen Daseins zu befreien. Doch die Inhalte eines guten Lebens werden in modernen, pluralistischen Gesellschaften kontrovers diskutiert. Deshalb muß man dieses Interesse an der Befreiung von unseren Alltagssorgen – das nun speziell Kivy und Schopenhauer an die Musik herantragen – nicht als vollständig unvernünftig zurückweisen, um dieser Auffassung mit einigen Vorbehalten zu begegnen. Kivy scheint der Meinung zu sein, die gewöhnlichen Emotionen – wie Freude, Trauer, Wut und 129 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Furcht – stünden der Verwirklichung eines guten Lebens im Wege. Das wichtigste Interesse des Menschen könne somit nicht darin bestehen, diese Emotionen zu kultivieren, sondern nur darin, sich von diesen Emotionen zu befreien. Dagegen gibt es nichts einzuwenden, fraglich bleibt nur, ob Kivys Ansatz die einzige Möglichkeit der Rezeption und der richtigen Form des Verstehens von Musik darstellt. Unabhängig von einer Antwort auf diese Frage kann man jedenfalls festhalten, daß der Musik auch für den Formalisten und ästhetischen Hedonisten Kivy eine allgemeine ethische Bedeutung zukommt: Sie hat für ihn zwar keinen ethischen Inhalt, denn für den Formalisten beschränkt sich der Inhalt der Musik immer auf tönend bewegte Formen. Dennoch stellt sie für ihn eine Quelle einer höheren Art von Vergnügen dar und kann ihn gleichsam zu einer »Welt der Ekstasen« transportieren. Dabei ist mit dieser Auffassung – pikanterweise – wieder die Gefahr einer Instrumentalisierung von Musik gegeben. Ursprünglich wollte uns der Separatist ja doch vor einer instrumentalistischen Reduktion des Wertes der Musik warnen und auf deren intrinsischen Wert aufmerksam machen. Der Moralist schwebte seiner Meinung nach immer in der Gefahr, diesen intrinsischen Wert von Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen zu verfehlen. Als Folge der gerade angestellten Überlegungen scheint es fast so, als stünde dieses Bild nun auf dem Kopf. Denn Kivy ist nun selbst nicht mehr weit davon entfernt, selbst die Todsünde des Moralisten zu begehen, Musik zu instrumentalisieren und sie nur als Mittel zu einem ihr vielleicht äußerlichen Zweck zu verwenden. Vor allem scheint er auch der Versuchung nicht widerstehen zu können, die Musik für seine privaten Zwecke zu instrumentalisieren und dabei über eine mögliche innere Bedeutung oder einen intrinsischen Wert der Musik hinwegzusehen – ganz im Gegensatz zum Anhänger einer moralistischen Position, der auf das Verstehen der inneren Bedeutung der Musik besonderen Wert legt und auf diese Weise der Gefahr einer externen Instrumentalisierung von Musik eher widerstehen kann als ein hedonistischer Separatist. Was also ursprünglich ein starkes Argument für die separatistische Position gewesen sein mag, erweist sich somit, in einer merkwürdigen Umkehrung der Verhältnisse, als ein gewichtiger Einwand gegen diese Position. Der mit echten Emotionen reagierende Moralist, so scheint es plötzlich, kann dem intrinsischen Wert der Musik sehr viel eher gerecht werden als ein Separatist, der nur an sein Vergnügen denkt. 130 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Fassen wir Kivys Argument und meine Kritik daran noch einmal prägnant zusammen: Nachdem, so Kivy, erstens die ästhetische Lust ein besonders wichtiger Wert im menschlichen Leben, und zweitens die reine Instrumentalmusik ein besonders gut geeignetes Instrument zur Erreichung dieses Werts seien, hätten wir, so der Schluß, einen guten Grund zur hohen Wertschätzung der Instrumentalmusik. Dagegen meine ich – ohne hier natürlich Kivys Schlußfolgerung anzuzweifeln –, daß beide Prämissen dieses Arguments strittig und letztlich falsch sind. Die erste Prämisse enthält einen fragwürdigen ethischen Grundsatz, die zweite Prämisse ist von fragwürdigen empirischen Annahmen abhängig. In manchen Fällen wird die Wahrnehmung von Musik auch negative Emotionen auslösen und eventuell sehr schmerzhaft sein. Damit soll nicht bestritten werden, daß Musik dem Hörer in vielen Fällen Lust verschaffen kann. Wir können Kivy durchaus folgen und in zweifacher Hinsicht einen Bezug der Produktion und Rezeption von Musik zur Ethik annehmen. Musik kann uns Lust verschaffen, und Musik kann zur Seelenruhe bzw. zur Befreiung von Alltagssorgen beitragen. Ein weit verstandener Begriff von Lust (vgl. ausführlich Rinderle 2007, 3. Die Freuden der Sinne) macht es möglich, diese beiden Vorteile unter einen einzigen Vorteil zu subsumieren: Nicht nur die angenehme Stimulation von Sinnesempfindungen, sondern auch die Seelenruhe, die Abwesenheit von Schmerz gilt in diesem erweiterten, sowohl die kinetische als auch die katastematische Lust umgreifenden Begriff als lustvoll. Kivy scheint sich allerdings des Unterschieds dieser beiden Dimensionen des Lustbegriffs gar nicht bewußt zu sein, denn er bezieht sich sowohl auf Platons Phaidon, wo Lust lediglich als kinetische, aus einer Veränderung bzw. einer Bewegung hervorgehende Lust begriffen wird (vgl. Platons Philebos 31b–32b und 42d), als auch auf Epikurs Begriff der Ataraxie, die demgegenüber auf einer katastematischen Vorstellung von Lust – einer Lust, die nicht nur aus einer Veränderung, aus der Beendigung eines schmerzlichen Zustandes hervorgeht, sondern durchaus ein dauerhafter Zustand sein kann – beruht. Um ein konkretes Beispiel anzuführen: Musik kann beim Zahnarzt wertvolle therapeutische Dienste leisten; sie vertreibt die Angst der Patienten und kann ihre Schmerzen lindern helfen (Spitzer 2003, 429). 1 Auf eine indirekte Weise wird dadurch gleichzeitig ein Beitrag 1
Vgl. kritisch aber Harnoncourt (2007, 85): »Wenn der Zahnarzt mir ein Mozart-Kla-
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für die von der Moral geforderte Berücksichtigung der Interessen anderer Menschen geleistet. Glückliche Menschen sind in der Regel eher zur Ausführung ihrer Pflichten bereit als unglückliche Menschen. Immanuel Kant schreibt in der Metaphysik der Sitten (AA VI, 388): »Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind große Versuchungen zu Übertretung seiner Pflicht.« Deshalb könne das Streben nach der eigenen Glückseligkeit oder Wohlhabenheit eine indirekte Pflicht sein: »Alsdann aber ist es nicht meine Glückseligkeit, sondern meine Sittlichkeit, deren Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich meine Pflicht ist.« Folglich haben wir also eine indirekte, abgeleitete Pflicht, unsere eigene Glückseligkeit zu befördern. In der Kritik der praktischen Vernunft (AA V, 93) heißt es dann: »Es kann sogar in gewissem Betracht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen: theils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichthum gehört) Mittel zu Erfüllung seiner Pflicht enthält, theils weil der Mangel derselben (z. B. Armuth) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten.« (Zur moralischen Bedeutung der ästhetischen Lust bei Kant vgl. Savile 1993, 148 f.; Walhout 1995, 13 ff.)
Wenn also auch die Musik die Menschen glückselig machen kann, trägt sie dazu bei, die Menschen zur Ausführung ihrer moralischen Pflichten zu veranlassen. Musik, könnte man sagen, schlägt auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe: Sowohl für das gute Leben als auch für die Moral mag sie wertvolle Dienste leisten. Die Bedenken und die Skepsis, die ich gegen diesen ersten Anlauf zur Bestimmung des Verhältnisses von Musik und Ethik äußern möchte, gehen gar nicht von der empirischen Fragwürdigkeit dieser Annahmen aus. Ich meine auch nicht, daß diese Gedankenführung auf einem konsequentialistischen Fehlschluß beruht. Denn die Komposition und Wahrnehmung von schönen, tönenden Formen setzt kompetente Künstler und Hörer voraus und kann nicht auf einen psychologischen Mechanismus zurückgeführt werden. Bestreiten möchte ich aber, daß die Wertschätzung von expressiver Musik in dieser Form des ästhetischen Vergnügens aufgeht. Daher muß ich die Möglichkeit eines besonderen ästhetischen Vergnügens gar nicht in Frage stellen, um zuletzt doch daran festzuhalten, daß Musik andere Formen der Wertschätzung zuläßt. Vor allem haben viele Kunstwerke eher die Aufgabe, unsere emotionalen Bindungen zu stärken als uns von diesen zu befreien. Jerrold Levinson (2006, 364) sagt ganz richtig: »[…] much art vierkonzert vorspielt, weil er denkt, ich hätte dann weniger Schmerzen, ist genau das Gegenteil der Fall: Die Schmerzen steigen ins Unerträgliche, weil ich das nicht aushalte – Musik zu hören, ohne zuzuhören. Da steh’ ich sofort auf.«
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appears designed to engage, rather than detach, our passionate or willing natures, even if still preserving some distance between art and life.« Einem moderaten Separatisten kämen diese Erwägungen sicherlich entgegen: Er hätte einen Ansatzpunkt für eine Form der Wertschätzung von Musik gefunden, die nichts mit einer internen ethischen Bedeutung von Musik zu tun hätte. Daß Musik nämlich bestimmte externe Funktionen übernehmen kann, stellt er nicht in Frage. Doch die – unbestrittene – ethische Relevanz von Musik wäre für ihn in ästhetischer Hinsicht irrelevant, denn mit der inneren Bedeutung von Musik hätte die ästhetische Lust an den schönen Formen ohnehin nichts zu tun. Dem Separatisten vermag ich durchaus ein Stück weit entgegenzukommen. Natürlich will ich nicht abstreiten, daß Musik eine Quelle von angenehmen Sinnesempfindungen sein kann. Wie schon gesagt: Ein Moralist kann ein ästhetischer Pluralist sein und muß nicht darauf beharren, daß der Wert der Kunst ausschließlich in ihrer moralischen Bedeutung begründet ist. An einem Punkt würde ich aber festhalten wollen: Wenn die Rezeption des Hörers (und die Arbeit des Komponisten) allein auf diese hedonistische Sichtweise eingegrenzt wird, ihre Bedeutung damit in dieser externen Funktion aufgeht, so hat man den Kern dessen, was expressive Musik in ethischer Hinsicht bedeuten kann, noch nicht einmal berührt. Die pure Lust an schönen Formen kann von vielen verschiedenen Dingen geweckt werden, mit der Expressivität eines Musikstücks steht sie höchstens in einem zufälligen Zusammenhang. Der hedonistische Aspekt der Wahrnehmung von Musik führt häufig viel eher dazu, die negativen Wirkungen von Musik hervorzuheben. Gerade weil die Musik bestimmte Emotionen erregen könne, so ein beliebter Einwand, müsse man vor allem ihre Gefahren im Auge behalten. Das ist eine systematische Position, die man bis auf Platon zurückverfolgen kann. Platon räumt durchaus ein, daß die Musik in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen steht. Aber genau in diesem Umstand seien die gefährlichen Wirkungen der Musik begründet. Ein skeptisches Argument könnte also lauten: Da (zumindest ein großer Teil von) Musik bestimmte Emotionen beim Zuhörer weckt, Emotionen aber der Realisierung eines guten Lebens sowie moralischer Beziehungen zu anderen Menschen nur im Wege stehen, stellt expressive Musik eher eine Gefahr als einen Gewinn für den Hörer dar. Um die Überzeugungskraft dieses Arguments zu bewerten, 133 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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kommt es zunächst auf eine Klärung der von der Musik erregten Emotionen an: Meint der Skeptiker, alle Emotionen, die die Musik errege, seien schädlich? Meint er, Emotionen stünden als solche der Verwirklichung eines guten Lebens und der zwischenmenschlichen Gerechtigkeit im Wege? (Viele Aussagen Platons im Phaidon, im Symposion oder im Phaidros deuten darauf hin, daß er diese starke Annahme vertritt.) Oder meint er nur, einige oder sogar viele Emotionen hätten diesen ethischen Defekt? (Einige seiner Aussagen deuten darauf hin, daß Platon gleichzeitig diese zweite, schwächere Annahme vertritt.) Die erste Möglichkeit erscheint mir vollkommen unplausibel, darum möchte ich hier nicht näher auf sie eingehen. Zum Zweifel braucht es schließlich immer gute Gründe, und ich sehe keinen guten Grund dafür, schon an der Möglichkeit einer positiven ethischen Bedeutung der Emotionen insgesamt zu zweifeln. Mit der zweiten Möglichkeit kann sich aber selbst ein Moralist anfreunden. Der Anhänger einer moderaten Spielart dieser Auffassung würde sicher nicht die These vertreten, daß alle Musikstücke immer eine positive ethische Bedeutung hätten. Schließlich sind nicht alle Emotionen ethisch wertvoll, und daher muß man differenzieren. Gerade wegen des engen Zusammenhangs von Musik und Emotionen kann man die Musik – darauf habe ich schon hingewiesen – zur Manipulation und zur Schädigung von Menschen verwenden. Empirisch erforscht und nachgewiesen wurde dieser Zusammenhang zwischen den emotionalen Wirkungen von Musik und ihren manipulativen Möglichkeiten jüngst etwa von Jamshed Bharucha et al. (2006, 146). Sogar zur emotionalen Selbstmanipulation, zur Regulierung etwa der eigenen Stimmung eignet sie sich (dazu Schramm 2005; Bharucha et al. 2006, 157). Kritisch zu dieser mit einer Verdinglichung des Selbst einhergehenden Strategie der emotionalen Selbstmanipulation siehe allgemein Solomon (1993, 169 f.), Moran (2001, 117 ff.), Honneth (2005, 91 f.) und Neckel (2005, 427 f.). Kritik an dieser externen Funktionalisierung speziell von Musik äußert insbesondere auch Eduard Hanslick (1989, 137) aus einem ästhetischen Blickwinkel: »Sobald die Musik nur als Mittel angewandt wird, eine gewisse Stimmung in uns zu fördern […], da hört sie auf, als reine Kunst zu wirken.« Siehe ferner Andy Hamilton (2007, 54): »Muzak is an evil because it is ubiquitous and so erodes people’s aesthetic capacities – their ability to listen actively to anything – and degrades their response to music.«
Diese manipulativen Verwendungsmöglichkeiten von Musik möchte der Moralist sicher nicht ausschließen. Er vertritt nur die These, daß 134 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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die richtige oder wirklich wertvolle Musik, wird sie von einem kompetenten, kultivierten Hörer wahrgenommen, auch eine positive ethische Bedeutung haben kann. Auf diese Weise gibt es dann gar keinen grundsätzlichen Dissens mehr zwischen dem platonischen Skeptiker und dem Moralisten. Levinson (2006, 188 f.) räumt die Gefahr eines Zirkels durchaus ein: Man müsse bereits eine gewisse moralische Empfindsamkeit entwickelt haben, um bestimmte Musik, die zur Kultivierung dieser Tugend führen könnte, überhaupt erst zu verstehen. Diejenigen, die diese Musik verstehen, können dann nicht mehr von ihr verbessert werden; und diejenigen, die sie nicht verstehen, können auch nicht von ihr verbessert werden. Das ist sicher richtig; dennoch hat diese Überlegung keine besondere Tragweite. Denn dieses Dilemma charakterisiert beispielsweise auch die Erziehung von Kindern, die aber – trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die ihre Erziehung in theoretischer und praktischer Hinsicht aufwerfen mag –, in vielen Fällen dennoch zu Personen heranwachsen, die mit einer gewissen moralischen Sensibilität ausgestattet sind. Es gibt also keinen Grund gegen die Annahme, daß auch die Musik dazu wird beitragen können, bestimmte Anlagen zu entwickeln oder bereits ausgebildete Tugenden zu stabilisieren oder zu erweitern. Der Skeptiker und der Moralist mögen sich nun weiter darüber streiten, welche Emotionen und welche Art von Musik welche ethischen Auswirkungen haben. Obwohl dieser Dissens eher empirischer Natur und für eine philosophische Analyse nur am Rande interessant sein wird, möchte ich kurz auf eine Merkwürdigkeit hinweisen, die nicht ganz frei von aller Ironie ist: Für Platon ist gerade die beste Musik – der Wertmaßstab ist hier wieder deren Expressivität – immer auch die gefährlichste Musik, denn sie wird eine besonders starke emotionale Stimulierung ihrer Zuhörer bewirken. Zeitgenössische Kulturkritiker wie Allan Bloom oder Roger Scruton, die an diese Auffassungen Platons anknüpfen, nehmen dagegen eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Musik vor (Bloom 1988, Musik 83 ff.; Scruton 1997, 15. Culture): Klassische Musik habe eine positive Wirkung auf den Charakter; ein großer Teil der Pop- und Rock-Musik könne dagegen den Charakter gerade von Jugendlichen nur korrumpieren. Klassische Musik aber höre heute nurmehr eine Minderheit.
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Wenn Bloom (1988, 83) von einer grassierenden »Musiksucht« unter den heutigen Studenten spricht, meint er nur die Popmusik: Sie verderbe den Charakter der heutigen Jugend und zerstöre »die Phantasie und Vorstellungskraft junger Menschen« (ebd., 98); sie habe »nur die eine, barbarische Absicht: an sexuelle Wünsche zu appellieren – nicht an die Liebe, nicht an den Eros, sondern an die unentwickelten und unverbildeten sexuellen Wünsche. […] Die jungen Menschen wissen, daß Rock den Rhythmus des Geschlechtsverkehrs widerspiegelt« (ebd., 90). Sie »ruft frühreife Ekstasen hervor und ähnelt in dieser Hinsicht den Drogen, mit denen sie verwandt ist. Sie erzeugt künstlich Hochstimmungen, die normalerweise mit der Vollbringung großer Leistungen verknüpft sind: dem Sieg in einem gerechten Krieg, erfüllter Liebe, künstlerischem Schaffen, religiöser Hingabe und der Entdeckung der Wahrheit« (ebd., 99).
Dabei schleicht sich jedoch eine Unklarheit in seine Argumentation ein. Denn zum einen knüpft Bloom an Platons allgemeiner Verurteilung der Musik als irrationaler Kraft an; zum anderen nimmt er vor allem die Popmusik ins Visier der Kritik und macht – ohne die Probleme einer solchen Unterscheidung zu beachten (vgl. Abschnitt 1.2) – für die klassische Musik kurzerhand eine Ausnahme und schreibt ihr gute sittliche Effekte zu: Zunächst zur allgemeinen Verurteilung von Musik: »Platos Lehre über die Musik läuft, einfach gesagt, darauf hinaus, daß Rhythmus und Melodie, begleitet vom Tanz, der barbarische Ausdruck der Seele sei. Barbarisch, nicht animalisch. […] Musik ist die primitive und ursprüngliche Sprache der Seele […]. Sie ist nicht nur unvernünftig, sie ist der Vernunft sogar feindlich gesonnen. Zivilisation oder – um dasselbe zu sagen – Erziehung bedeutet die Zähmung der rohen Triebe der Seele – nicht ihre Unterdrückung oder ihre Auslöschung, denn das würde der Seele ihre Kraft rauben, sondern ihre Formung und Ausbildung, wie Kunst es tut. Das Ziel, den begeisterungsfähigen, emotionalen Teil der Seele mit dem zu harmonisieren, was sich erst später entwickelt, ist mit der Vernunft vielleicht unmöglich zu erreichen. Aber ohne das kann ein Mensch niemals ein Ganzes sein.« (Ebd., 87; meine Hervorh.) Die klassische Musik fällt aber nicht unter dieses Verdikt: Denn »wenn ein Mann eine edle Tätigkeit ausübt und diese von der Musik begleitet wird, die das Edle zum Ausdruck bringt und zugleich eine Freude vermittelt, ist er innerlich heil, und es gibt keine Spannung in ihm zwischen dem Schönen und dem Guten. […] Deshalb steht für diejenigen, die an einer gesunden Seele interessiert sind, die Musik im Mittelpunkt ihrer Erziehung, sowohl um den Leidenschaften zu geben, was sie brauchen, als auch um die Seele für den ungehinderten Gebrauch der Vernunft vorzubereiten.« (Ebd., 88 f.; meine Hervorh.)
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Auf der einen Seite also eine Verteufelung der Musik als »Feindin der Vernunft«, und auf der anderen Seite eine Verherrlichung der Musik als Vorbereiterin eines rechten »Gebrauchs der Vernunft«! Paßt das zusammen? Oder sind diese Ungereimtheiten nicht letztlich selbst ziemlich unvernünftig? Thomas Mann (1993, 265) war sich dieser seltsamen Ambivalenz wenigstens bewußt; er schreibt, Musik »ist berechnetste Ordnung und chaosträchtige Wider-Vernunft zugleich […], die der Wirklichkeit fernste und zugleich die passionierteste der Künste, abstrakt und mystisch«; und, so Mann weiter, »abstrakt und mystisch, das heißt musikalisch, ist das Verhältnis des Deutschen zur Welt«. Bloom scheint sich die Wertschätzung verschiedener Musikrichtungen dagegen einfach so zurechtzulegen, wie es ihm für seine recht einfach gestrickte Kritik der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft am zweckmäßigsten erscheint. Obwohl Roger Scruton mit Blooms Ablehnung der gegenwärtigen Verhältnisse in vielerlei Hinsicht übereinstimmt und auch er die »character-forming force« (1997, 502) von Musik sehr ernst nimmt, geht er doch wesentlich differenzierter vor. Schon Adorno, so Scruton, kritisiert Pop und Jazz als Formen des »falschen Bewußtseins« im Spätkapitalismus. Adorno kann aber seine ideologischen Scheuklappen nicht ablegen und begeht daher den Fehler, ästhetisch wertvolle Musik von George Gershwin, Cole Porter, Louis Armstrong, Glenn Miller und Ella Fitzgerald mit wertlosen Produkten der »Musikindustrie« in einen Topf zu werfen. Was Bloom gegen grunge und Heavy Metal einzuwenden habe, könne aber die »melodious and sophisticated music of our parents and grandparents« (Scruton 1997, 497) nicht treffen. Adorno und Bloom machen daher in Scrutons Augen den gleichen Fehler: »Castigating all popular music is not merely counter-productive; it shows the very same atrophy of judgment as the surrounding popular culture.« (Ebd.) Scruton (ebd., 505; Hervorh. i. O.) spricht sogar von den »Monstern« der gegenwärtigen Popkultur, was natürlich mit der Selbstdarstellung einer Band wie z. B. Kiss gut übereinstimmt: »The cheerlessness of so much pop music is […] an acknowledgement that we live outside society, that we too […] have become monsters, and that a monster is an OK thing to be.« Obschon ich die Auffassungen dieser konservativen Kulturkritiker in bezug auf bestimmte Musikepochen und -stile nicht teilen kann, stimme ich in einem grundsätzlichen Punkt mit ihnen überein: Schon allein wegen ihrer hedonistischen Dimension kommt der Musik eine 137 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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wichtige Bedeutung für die Ethik zu. Mit ihrer spezifischen Expressivität hat diese hedonistische Dimension – sofern man diese Dimension von ihrer emotionalen und das heißt auch kognitivistischen Dimension auf diese Weise strikt absondert und den Zustand der Lust in solch einer reinen, abgesonderten Form betrachtet – jedoch nicht sehr viel zu tun. Bevor ich diesen Abschnitt beschließe und mich einer weiteren Dimension der ethischen Bedeutung von Musik zuwende, möchte ich noch auf einen interessanten Punkt für die Untersuchung des Zusammenhangs von Musik und ästhetischem Vergnügen hinweisen: Weil die Lust und das Vergnügen selbst als ein Teil des guten Lebens angesehen werden können, kommt bereits den hedonistischen Qualitäten von Musik eine ethische Bedeutung zu. Interessant ist nun die Auffassung, daß Musik nicht nur als eine Quelle von Lust fungieren und auf diese Weise zu einem guten Leben beitragen kann, sondern darüber hinaus den Wert der Lust kritisch hinterfragen oder positiv hervorheben kann. Der Wert der Lust ist umstritten und rivalisiert mit anderen Inhalten eines guten Lebens. Nicht jede Lust ist schließlich auch eine gute Lust, und nicht nur qualitative Hedonisten wie John Stuart Mill würden außerdem zwischen qualitativ unterschiedlichen Lüsten unterscheiden (vgl. Rinderle 2000, III. 1 Qualitativer Hedonismus). In seinem Buch Art and Knowledge macht James Young in diesem Zusammenhang auf ein besonderes Potential der Musik zur Reflexion des Stellenwerts verschiedener Lüste im menschlichen Leben aufmerksam. Über die Ouvertüre zu Così fan tutte und über das Klavierkonzert Nr. 23, KV 488 schreibt er: »The experience of such works is one of invigorating delight […]. In this manner, Mozart presents his audience with the perspective that pleasure can be something not at all trivial, but rather a valuable part of human life. He does more, however, than simply present this perspective. He also shows that it is right. When people listen to Mozart’s music they can feel for themselves that the delight they experience does not cloy, but is perpetually gratifying. Mozart’s music does not simply put listeners in a position to re-evaluate their past experience of pleasure. As they listen, their current experience shows them the rightness of a perspective.« »[…] many of Mozart’s compositions present a perspective on pleasure. In listening to these works one feels something like pure, invigorating delight. As such the music can be an introspective affective illustration of such an affect, and also provide a perspective on it. On this perspective, pure delight is to be thought of as something to be relished. When pleasure is viewed in this way, it is not trivial or something about
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which one ought to feel guilty. It is somehow essential to being human.« (Young 2001, 94 und 81; meine Hervorh.) Ähnlich schreibt auch Jerrold Levinson (1996, 20; Hervorh. i. O.): »[…] there is no denying that a lot of the music most of us know and love is pleasant in the most direct and immediate sense, for example, the Allegro of the Symphony no. 29, K. 201, by Mozart. Some music even seems to express pleasure, in addition to being pleasant, as the familiar opening of Debussy’s Prelude to the Afternoon of a Faun perhaps illustrates.«
Mit dem musikalischen Ausdruck von Lust wird dabei auch immer eine Einladung an den Hörer verbunden sein, diese positive Wertschätzung der Lust zu teilen und für sein eigenes Leben zu übernehmen. Die Lust ist dann nicht nur ein Teil des guten Lebens, mit einem Ausdruck von Lust können wir darüber hinaus auch ausdrücken, was es heißt, ein empfindungsfähiges Lebewesen zu sein, das nicht nur mit Vernunft und Sprache ausgestattet ist, sondern auf bestimmte Ereignisse eben auch mit besonderen Empfindungen der Lust oder des Schmerzes reagieren kann. Diese allgemeine Fähigkeit und diese besonderen Reaktionen können dann ihrerseits noch einmal zum Gegenstand besonderer Emotionen werden (vgl. Abschnitt 4.1). Unser Schmerz kann etwa zum Gegenstand einer besonderen Trauer und unsere Lust zum Gegenstand unserer Freude werden – einer Freude, die ein Wissen darüber einschließt, daß diese Freude eine angemessene emotionale Reaktion auf die lustvolle Empfindung ist. Nicht zuletzt könnte man sich daher auch vorstellen, daß sich die Musik über sich selbst und ihre Fähigkeit zur Erregung angenehmer Empfindungen freut. Diese Art eines musikalischen Selbstbewußtseins setzt freilich zusätzlich voraus, daß Musik auch zur Quelle einer besonderen Art des Wissens werden kann.
3.2 Musik als Quelle von Wissen Die Wahrnehmung von Musik kann ein lustvolles Erlebnis sein, und schon deshalb können wir von einer ethischen Bedeutung von Musik sprechen. Dennoch bleibt dieses Ergebnis unbefriedigend oder doch zumindest unvollständig. Auch Essen, Trinken und Sex können angenehme Formen des Zeitvertreibs sein, wir würden ihnen deshalb aber nicht die gleiche ethische Bedeutung zusprechen wie etwa der Lektüre von Platons Politeia oder Nietzsches Genealogie der Moral. Sicherlich können diese Tätigkeiten eine Quelle angenehmer Empfindungen sein, 139 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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doch hängen diese nicht von einer besonderen Verstehensleistung ab. Dagegen entfalten die Politeia oder die Genealogie der Moral ihre Bedeutung nur für kompetente Leser, die diese Werke mit einem gewissen Verständnis lesen. Aber wie wollen wir die Rede von einer ethischen Bedeutung von Musik nun genau verstehen? Ist sie nur die Quelle einer besonderen Art von Lust? Oder hat sie darüber hinaus eine Bedeutung, die man verstehen kann? Kann sie uns dann etwa ein praktisch bedeutsames Wissen vermitteln? Können wir vielleicht sogar etwas von der Musik lernen, das für unsere eigene Lebensführung und für unseren Umgang mit anderen Personen relevant ist? Weist Musik also auch eine kognitive bzw. epistemische Dimension auf? Beginnen wir mit einigen Bemerkungen zum allgemeinen Verhältnis von Kunst und Erkenntnis (vgl. auch Young 2001; Jäger/Meggle 2005): Kann uns ein Kunstwerk ein besonderes Wissen vermitteln? Ein Anti-Kognitivist hält dies schlicht für unmöglich. Ein ästhetischer Kognitivist hingegen hält dies nicht nur für prinzipiell möglich, er möchte zusätzlich die Auffassung vertreten, diese kognitive Dimension von Kunst interagiere mit ihrer ästhetischen Dimension. Kunst liefere also nicht nur triviale Erkenntnisse, derer wir auch auf andere Weise habhaft werden könnten; die epistemische Dimension eines Kunstwerks bilde auch die Grundlage für seinen ästhetischen Wert. Der Begriff des ästhetischen Kognitivismus bedarf allerdings in mindestens zweierlei Hinsicht der genaueren Klärung. Erstens: Was ist genau unter einer epistemischen oder kognitiven Bedeutung von Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen zu verstehen? Und zweitens: Wie weit reicht der ästhetische Kognitivismus? Umfaßt er tatsächlich alle Kunstgattungen? Oder müssen wir nicht zwischen verschiedenen Künsten unterscheiden? In bezug auf die erste Frage unterscheidet Gaut drei unterschiedlich starke Versionen des ästhetischen Kognitivismus (Gaut 2007, 138), wobei er zwar immer von der Kunst im allgemeinen spricht, die Musik aber auch nicht explizit ausschließt. Eine erste, minimale Version bezieht sich nur auf die Tatsache, daß ein Werk eine bestimmte ethische Bedeutung hat und manifestiert. Eine zweite, anspruchsvollere Version enthält darüber hinaus die These, daß uns ein Kunstwerk auch etwas zeigen und beibringen kann, wir also einen epistemischen Gewinn aus ihr ziehen können. Im Gegensatz zur minimalen Version geht diese anspruchsvollere Version also von einer kommunikativen Dimension von Kunst aus. Die dritte und stärkste Version des ästhetischen Kognitivismus enthält zusätzlich die Auf140 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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fassung, wir könnten etwas von einem Kunstwerk lernen. Gaut erkennt allein die Richtigkeit der ersten beiden Versionen an, rät aber zur Vorsicht gegenüber der dritten Version: Weder setze ein Lerneffekt die ersten beiden Versionen voraus, noch auch müsse der bloße Umstand, daß ein Kunstwerk eine ethische Bedeutung manifestiere oder kommuniziere, immer einen Lerneffekt zur Folge haben. Denn dieser Effekt mag durch kontingente Umstände behindert werden. Eine rein konsequentialistische Betrachtungsweise führt uns daher in die Irre, und die Manifestation und Kommunikation etwa einer Emotion des Mitleids mag schon ausreichen, um einen kognitiven und einen sich daraus ableitenden ästhetischen Wert einer Tragödie zu begründen. Was die zweite Frage – die Frage nach der Reichweite des ästhetischen Kognitivismus – anbelangt, tritt insbesondere Kivy für eine differenzierte Auffassung ein: In bezug auf die Literatur spricht er sich für einen ästhetischen Kognitivismus aus, während er in bezug auf die Musik für eine anti-kognitivistische Position plädiert. Ich habe diese Position bereits als selektiven oder partiellen Ästhetizismus bezeichnet (vgl. Abschnitt 2.1) und möchte hier Kivys Argument für diese Position vorstellen und einer kritischen Überprüfung unterziehen. Kivy (2009, 218) wirft zunächst die Frage auf, wie denn die Rede von einer möglichen »moralischen Kraft« (»moral force«) von Musik überhaupt zu verstehen sei. Dazu möchte ich von vornherein zwei kritische Anmerkungen zu seiner Terminologie machen: Zum einen reicht meine Frage nach der ethischen Bedeutung von Musik über ihre moralische Rolle im engeren Sinn hinaus; zum anderen ist Kivys Begriff der »Kraft« von Musik nicht identisch mit dem Begriff ihrer »Bedeutung«. Die »Kraft« eines Gegenstands wird immer etwas mit seinen empirischen Wirkungen zu tun haben, eine »Bedeutung« kann dagegen selbst einem Gegenstand zukommen, der keine besonderen »Kräfte« besitzt. Mir scheint nun, Kivy verkürzt das ethische Postulat von Musik in konsequentialistischer Manier auf deren »Kraft« und läuft somit Gefahr, über wichtige Dimensionen ihrer »Bedeutung« hinwegzugehen. Sehen wir uns die Argumente Kivys gegen die Annahme einer »moralischen Kraft« der Musik etwas näher an und folgen ihm darin, daß er drei Möglichkeiten unterscheidet: Die »moralische Kraft« von Musik kann erstens ihre Fähigkeit zur Vermittlung von moralischem Wissen bezeichnen; Kivy spricht auch von einer epistemischen Kraft. Sie kann zweitens ihr Potential zur moralischen Motivation bezeich141 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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nen und wird dann als »behavioral moral force« gekennzeichnet, was ich hier mit motivierender Kraft übersetze. Und sie kann drittens auf den positiven Einfluß von Musik auf den moralischen Charakter verweisen; Kivy spricht in diesem Zusammenhang von ihrer charakterbildenden Kraft. Dabei ist er sich dessen bewußt, daß diese drei Möglichkeiten natürlich eng miteinander verbunden sind. Eine besondere moralische Einsicht kann den Menschen im günstigen Fall zum Handeln motivieren; und auch ein tugendhafter Charakter wird einen Menschen in der Regel zum moralischen Handeln motivieren. Allerdings kann praktisches Wissen allein das ethisch bzw. moralisch wünschenswerte Handeln nicht garantieren, zumal man ja die Möglichkeit der Willensschwäche oder der Immoralität niemals ausschließen kann. In diesem Abschnitt werde ich nun zunächst die erste Frage behandeln, ob Musik eine Quelle von Erkenntnissen sein kann. Im nächsten Abschnitt gehe ich auf die zwei Fragen nach der ethischen Kraft der Musik in bezug auf die Motivation einzelner Handlungen und die Prägung unseres Charakters insgesamt ein. Kommt der Musik eine moralische Kraft in einem epistemischen Sinne zu? Kann uns die Musik ein moralisch relevantes Wissen vermitteln? Können wir Beethovens Symphonien oder Ligetis Klavieretüden mit Aristoteles’ Nikomachischer Ethik oder Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – Kivys Beispiele für philosophische Werke mit epistemischen Kräften – vergleichen? Kivy vertritt die anti-kognitivistische Auffassung, daß ein solcher Vergleich zwischen den Klassikern der Instrumentalmusik und den Klassikern der Moralphilosophie nicht möglich sei. Sein Argument lautet, daß Musik im Gegensatz zur Philosophie oder zur Literatur keine Propositionen ausdrücken könne. Wie schon gesagt: Er vertritt dabei nur einen partiellen Anti-Kognitivismus, der nicht die epistemische Kraft aller Künste in Frage stellt – nur eben die der Musik. Manche literarische Werke seien in der Lage, uns wichtige moralische Erkenntnisse zu vermitteln, wenngleich sie moralische Propositionen nur auf indirektem Wege ausdrücken könnten (Kivy 2009, 221). Damit wendet sich Kivy (1997, 5. The Laboratory of Fictional Truth) ausdrücklich gegen die These von Peter Lamarque und Stein Olsen (1994, 1), »that there is no significant place for truth as a critical term applied to works of literature«. Philosophischen, religiösen und literarischen Texten sei gemeinsam, daß sie relativ komplexe Propositionen auf mehr oder weniger systematische Weise darlegen könnten, 142 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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wobei diese Propositionen – ob wahr oder falsch – dem Leser neue Einsichten vermitteln könnten. Zudem sei es denkbar, daß diese epistemisch verstandene »ethische Kraft« literarischer Werke auch ihren ästhetischen Wert vorteilhaft beeinflussen könne. Im Gegensatz dazu sei absolute Musik nicht einmal zu einem indirekten Ausdruck moralisch gehaltvoller Propositionen in der Lage: »Absolute music is either totally impotent to express propositions of any kind; or, if it can express propositions at all, can do so only at the most primitive, banal level.« (Kivy 2009, 222) Kivy möchte also gar nicht ausschließen, daß absolute Musik bestimmte moralische Propositionen zum Ausdruck bringen könne. Entscheidend ist nur, daß diese Aussagen auf einem äußerst allgemeinen und vagen Niveau bleiben müßten. Damit wendet er sich gegen Jerrold Levinson (1990, 12. Truth in Music, 281) und dessen Ansicht, das Verhältnis einiger Elemente von Musik zur außermusikalischen Welt befinde sich zumindest in einer »schwachen Analogie« zum Verhältnis von gegenständlichen Kunstwerken zu bestimmten Sachverhalten. In einem gewissen Sinn könne man daher von einer Art propositionaler Wahrheit von Musik sprechen; Werke der ungegenständlichen Kunst korrespondierten zwar nicht mit Eigenschaften der realen Welt, doch erstere könnten einige Propositionen über die Welt zumindest suggerieren (»suggest«). Als Beispiel führt Levinson (ebd., 296 f.) die Möglichkeit der Aufeinanderfolge bestimmter Emotionen an und meint, in diesem Sinn könne ein Musikstück auch mehr oder weniger »wahr« oder »falsch« sein. Doch auch aus Musikstücken mit derart komplexen Gestalten der Expressivität, so erwidert Kivy, könnten wir bestenfalls die Lehre ziehen, daß das Leben aus Kämpfen und Konflikten bestehe. Eine bedeutende moralische Einsicht könne man diese Aussage – stelle man sie neben die Theorien, die Aristoteles’ oder Kants Werke enthalten – aber wirklich nicht nennen. Aus drei Gründen erscheint mir dieses Argument nicht überzeugend: Erstens verwendet Kivy den Begriff der »Moral« in einem ungenauen Sinn und kümmert sich nicht um die Tatsache, daß sich die praktische Relevanz eines Kunstwerks nicht in seiner moralischen Dimension erschöpft. So enthalten weder die Nikomachische Ethik noch auch Henry James’ Roman The Ambassadors nur Einsichten über die Moral im engeren Sinn, sondern darüber hinaus auch bestimmte Vorstellungen über die Möglichkeiten des Glücks und die Formen und Gestalten eines guten Lebens. Genauso könnte ein Musikstück somit eine 143 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Bedeutung für die Orientierung unseres guten Lebens und unseres Zusammenlebens mit anderen Personen besitzen, selbst wenn ihr eine epistemische Kraft in bezug auf moralisches Wissen abgeht. Gravierender ist ein zweiter Einwand, der Kivys Verkürzung moralisch relevanter Erkenntnisse auf propositionales Wissen betrifft. Meine Rückfrage lautet, ob nicht auch nichtpropositionale Erkenntnisse, insbesondere die Bekanntschaft mit bestimmten phänomenalen Zuständen, eine große Bedeutung für unsere Lebensführung im allgemeinen (Ethik) sowie die Berücksichtigung der Rechte und Interessen anderer Personen im besonderen (Moral) haben können. Soweit ich sehe, spricht vieles dafür, auch literarische Werke deshalb zu schätzen, weil sie uns einen Zugang zu solchen nichtpropositionalen Formen des Wissens verschaffen (vgl. Palmer 1992, 212; Young 2001, 93 ff.; Carr 2006, 109 f.; Green 2008). Gregory Currie (1998, 164) schreibt etwa, »moral knowledge may be, in part, practical rather than theoretical knowledge«. Die Werke von Jane Austen, Franz Kafka oder Samuel Beckett können etwa besondere kognitive, eng mit einer emotionalen Haltung verknüpfte Qualitäten enthalten, die sich nicht gleichwie in einer Interpretation »übersetzen« und auf einen Begriff bringen lassen. Im besonderen Maße gilt das in der Folge auch für die Musik: Werke der Instrumentalmusik enthalten vielleicht keine propositionale Wahrheit, aber sie können uns neue Erfahrungen über begrifflich nicht fixierbare Gemütszustände verschaffen. Und solche Erfahrungen uns bislang unbekannter mentaler Zustände sind dann auch für unsere moralische Praxis bedeutsam. An dritter Stelle muß man gegen Kivy einwenden, daß die absolute Musik zumindest unsere Phantasie anregen und auf diese Weise eine epistemische Kraft besitzen kann. In unserer von einem Musikstück angeregten Imagination können wir uns bestimmte Protagonisten und Handlungsverläufe ausmalen. Da ihr Wahrheitswert sekundär ist, mag man diese Vorstellungen vielleicht nicht mehr »Wissen« nennen; sie sind dennoch von unmittelbarer praktischer Relevanz. Unklar bleibt bei Kivy ohnehin, was man genau unter einem »indirekten« Ausdruck von Propositionen verstehen soll: Konkurriert Henry James’ The Golden Bowl mit Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und stellt – allerdings eben in einem indirekten Modus – bestimmte ethische Propositionen zur Diskussion? Ist es tatsächlich nur ein propositionales Wissen, das uns ein Roman von Henry James zur Verfügung stellt? In diesem Fall könnte man einwenden, daß wir ein literarisches Werk 144 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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doch aus anderen Gründen schätzen als eine philosophische Abhandlung – und zwar obwohl diese Gründe auch epistemischer bzw. kognitiver Natur sind. Vielleicht meint Kivy mit »indirekt« aber etwas anderes: Unter Umständen ist es nämlich gar nicht der Ausdruck von ethisch bedeutsamen Propositionen, der uns an literarischen Werken interessiert. Vielleicht versteckt sich hinter der Rede eines »indirekten« Ausdrucks von Propositionen nur die Tatsache, daß uns literarische Werke ebenfalls nichtpropositionale Formen des Wissens zur Verfügung stellen (vgl. Abschnitt 2.2). Damit wäre tatsächlich eine klare Unterscheidung gegenüber der propositionalen Art des Wissens gegeben, die uns in philosophischen Werken vermittelt wird. (Dabei sehe ich hier davon ab, daß auch philosophische Werke – man denke nur an Platons Dialoge oder Nietzsches Aphorismen – nichtpropositionale Dimensionen des Wissens enthalten können.) An diesem Punkt aber, und hiermit komme ich auf meinen Haupteinwand gegen Kivys Argumentation zu sprechen, wird seine Leugnung der epistemischen Kraft der Musik besonders fragwürdig. Indem er die nichtpropositionale Dimension gerade des praktischen Wissens nicht einmal als Möglichkeit erwähnt, kann er es sich bequem machen und sich eine Auseinandersetzung mit ihr ersparen. Wenn eine solche Form des Wissens aber plausibel erscheint, so wird auch sein Argument gegen die epistemische Kraft der Musik hinfällig. Die Tatsache allein, daß Instrumentalmusik keine Propositionen ausdrücken kann, reicht dann nicht mehr aus, um die gewünschte Schlußfolgerung – daß sie keine ethische Bedeutung in einem epistemischen Sinn besitze – zu untermauern. Das Gegenteil trifft zu: Da uns die Instrumentalmusik erstens einen Zugang zu nichtpropositionalen Formen des Wissens verschaffen kann, diese Formen des Wissens zweitens sowohl für die Planung unseres eigenen Lebens als auch für den moralischen Umgang mit anderen Menschen von entscheidender Bedeutung sind, ist die Schlußfolgerung berechtigt, daß Musik eine ethische Bedeutung auch in einem epistemischen Sinne haben kann. Sie stellt uns eine besondere Form des praktischen Wissens zur Verfügung, die uns auf andere Weise gar nicht zugänglich wäre. Trivial sind diese Erkenntnisse also nicht; zudem wird sich dieses praktische Wissen nicht in moralischen Erkenntnissen im engeren Sinne des Begriffs erschöpfen, sondern auch umfassendere ethische, psychologische und soziale Erkenntnisse mit enthalten können. 145 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Damit ist nun noch nicht unbedingt etwas über den ästhetischen Wert kognitiv wertvoller Musik ausgesagt, und deshalb müssen wir vorerst noch zwei verschiedene Thesen auseinanderhalten: Die These, daß die Rezeption von Musik auch einen kognitiven Gewinn versprechen kann, ist nicht mit der These identisch, daß dieser kognitive Gewinn in ästhetischer Hinsicht relevant ist. Die ethischen Meriten eines Musikstücks müssen also nicht notwendig mit dessen ästhetischen Meriten übereinstimmen. Der ästhetische Kognitivist ist zwar bereit, einen Unterschied zwischen diesen beiden Thesen anzuerkennen, möchte im Grunde genommen aber natürlich beide Thesen vertreten (vgl. Gaut 2007, 137). Ein Argument für die erste These einer ethischen Bedeutung von Musik in einem epistemischen Sinne habe ich gerade gegeben. Mit zwei Argumenten für die zweite, weitergehende These, daß nämlich der kognitive Gewinn eines Musikstücks seinen ästhetischen Wert positiv beeinflussen kann, möchte ich diesen Abschnitt beschließen. Zunächst kann ich mich dabei auf die empirische Tatsache berufen (vgl. Gaut ebd., 167), daß sich das Vokabular der tatsächlichen Praxis unserer Kritik und Bewertung von Kunstwerken – und auch von Instrumentalmusik – durchaus auf das praktische Wissen bezieht, das uns Kunstwerke zur Verfügung stellen. Wir sprechen von einer tiefen moralischen Einsicht, die ein Streichquartett Ludwig van Beethovens enthalten kann; wir können auch sagen, ein Charakterstück von Robert Schumann aus den Kinderszenen treffe eine bestimmte Situation sehr gut. Wir unterscheiden manchmal zwischen einem echten, aufrichtigen Gefühlsausdruck eines Musikstücks und einer verlogenen, süßlich-sentimentalen Rührseligkeit, die wir in einem anderen Stück anzutreffen vermeinen. Das bedeutet also, daß wir in manchen Fällen den Wert eines Musikstücks in epistemischer Hinsicht beurteilen, und dabei meinen, ein epistemischer Defekt ziehe in der Folge auch einen ästhetischen Mangel nach sich. Dieses Argument ist in zweierlei Hinsicht angreifbar: Zunächst mag man in Frage stellen, ob »unsere« Praxis der Bewertung von Instrumentalmusik tatsächlich diese epistemische Dimension aufweist. Darüber ließe sich eventuell mit guten Gründen streiten. Kivy meint etwa, daß zumindest die professionelle Kritik und Bewertung von Literatur keine epistemische Dimension enthalte; sie präsentiere dem Leser vielmehr eine bestimmte Interpretation und überlasse ihm zuletzt die Bewertung. Und es ist anzunehmen, daß auch Kivy (1997, 146 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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123 f.) die Praxis der Bewertung von Instrumentalmusik nicht sehr viel anders beschreiben würde. Zusätzlich kann man die empirische Argumentation als solche in Frage stellen: Unsere Praxis mag zwar eine epistemische Dimension enthalten, und doch ist mit diesem Hinweis noch nicht viel gewonnen. Denn vielleicht sollten wir auf eine epistemische Bewertung von Kunstwerken und vor allem von Musikstücken verzichten. Ich meine nicht, daß eine revisionistische Auffassung, die uns zu weitreichenden Korrekturen unseres Umgangs mit Musik auffordern würde, richtig ist, konzediere aber gleichzeitig, daß dieses erste, empirische Argument relativ schwach ist und den Separatisten wohl kaum überzeugen wird. Ein zweites, stärkeres Argument für den ästhetischen Kognitivismus, welcher auch für die ästhetische Relevanz der epistemischen Dimension von Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen plädieren möchte, könnte mit einem kritischen Blick auf den Begriff der »Form« anheben. Der Separatist nimmt ja an, er könne ethische und epistemische Dimensionen der Kunst von einer rein ästhetischen Wertschätzung absondern. Eine Rückfrage des Moralisten müßte dann aber lauten: Worin besteht eine rein ästhetische Wertschätzung eines Kunstwerks? Könnte es nicht sein, daß wir bestimmte Bestandteile der formalen Konstruktion eines Musikstücks überhaupt nur dann richtig verstehen, wenn wir gleichzeitig ihre inhaltlichen Bezüge und Bedeutungen auf angemessene Weise wahrnehmen? Jenefer Robinson und Gregory Karl (1995) haben etwa zu zeigen versucht, daß das Hornmotiv in Schostakowitschs 10. Symphonie streng genommen nicht in den musikalischen Zusammenhang paßt und deshalb unmotiviert scheint. Oft ist die strukturelle Organisation eines Musikstücks nur dann verständlich, wenn man mögliche psychologische Motive berücksichtigt. Erst wenn man das Motiv als eine Geste der Hoffnung identifiziert, kann man von einer ästhetischen Wertschätzung sprechen. Deshalb lassen sich viele Musikstücke in ästhetischer Hinsicht gar nicht adäquat verstehen, berücksichtigt man nicht gleichzeitig ihre vielfältigen epistemischen und ethischen Dimensionen. Auch wenn sich mit ihnen nicht alle Zweifel ausräumen lassen, steht der ästhetische Kognitivismus mit diesen beiden Überlegungen doch auf einer recht soliden Grundlage. Mir selbst leuchtet der Verweis auf unsere empirische Praxis der Beurteilung und Bewertung von Instrumentalmusik durchaus ein. Einem Separatisten, der einen strikten, orthodoxen Formalismus vertreten möchte, läßt sich aber ein stärkeres 147 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Argument entgegenhalten, das die Konsistenz eines von allen epistemisch-ethischen Bezügen abgetrennten Formbegriffs in Frage stellt.
3.3 Die ethische Kraft der Musik Wenden wir uns nun aber den beiden anderen Möglichkeiten zu, die Rede von einer »ethischen Kraft« der Musik zu verstehen: Kann uns Musik zum moralisch richtigen Handeln veranlassen? Kann Musik gar den Charakter eines Menschen verbessern? Kivy schließt diese Annahmen kategorisch aus: Da Musik nicht in der Lage sei, die typischen Emotionen zu erregen, die uns zu Handlungen veranlassen könnten, käme der Musik auch keine besondere motivierende Kraft zu (Kivy 2009, 225). Zweierlei muß man dagegen einwenden: Zum einen ist es wohl falsch, der Musik ein Potential zur Erregung alltäglicher Emotionen abzusprechen. Der Umstand, daß Musik beim Hörer bestimmte Emotionen hervorruft, mag zwar unterschiedlich bewertet werden. Man könnte sagen, eine emotionale Stimulierung habe nichts mit dem wahren ästhetischen Wert von Musik zu tun; Eduard Hanslick (1989, 8) spricht hier von einem »pathologischen« Interesse an der Musik. Man könnte auch sagen, eine solche emotionale Erregung gehe nur auf willkürliche Assoziationen des Hörers zurück, habe letztlich also nichts mit dem betreffenden Musikstück zu tun. Dennoch führt kein Weg an der Anerkennung der Tatsache vorbei, daß Musik zum Teil sogar sehr starke Emotionen bei ihren Hörern wecken kann (vgl. Juslin/Sloboda 2001; Sloboda 2005). Aus diesem Grund ist Jerrold Levinson (2006, 190) auch sehr viel optimistischer in bezug auf eine motivierende Kraft der Musik: »[…] some music, at any rate, is not only of epistemic value, but also motivating in relation to moral life.« Zum anderen wird die Musik manchmal auch für eine Verrohung der Sitten des Menschen verantwortlich gemacht, und eine bestimmte Sorte von Musik kann unter Umständen sogar zum unmoralischen Handeln motivieren. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Jazz zum Beispiel als eine Ursache für die hohen Kriminalitätsraten in den USA angesehen (Merriam 1964, 242 f.). Ob diese empirische These richtig ist, sei dahingestellt; wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang lediglich, daß einer solchen Auffassung zufolge die »richtige« Musik eventuell auch zum moralischen Handeln motivieren kann. 148 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Was dann drittens die charakterbildende Kraft von Musik anbelangt, bleibt Kivy seiner ästhetizistischen Linie zunächst noch treu: Musik könne uns nicht dauerhaft zu besseren Menschen machen. Aber er konzediert plötzlich, daß sie den Hörer zumindest während der Erfahrung von Musik zu einer besseren Person machen könne: »[…] it would not be wrong to say that during the experience, at least, we are better people; our characters are, during that experience, themselves made better.« (Kivy 2009, 230; Hervorh. i. O.) Zwar kann man Kivy zufolge deshalb noch nicht von einem echten Beitrag zur Verbesserung des menschlichen Charakters sprechen. Doch dieses kleine Zugeständnis zeigt, daß nicht einmal Kivy eine – wie auch immer begrenzte – ethische »Kraft« der Musik kategorisch ausschließen kann. Drei Dinge möchte ich hierzu anmerken: Zunächst scheint es mir, daß Kivy die Latte seiner Erwartungen an dieser Stelle viel zu hoch legt und sich auf diese Weise einen nicht ganz fairen Vorteil in der Debatte verschafft. Man könnte der Musik ja doch einen Einfluß auf den Charakter des Menschen zubilligen, ohne gleich von ihrer charakterbildenden Kraft ausgehen zu müssen. Schon der Dirigent Bruno Walter (1987, 13) sieht diesen feinen Unterschied und meint, wir sollten nicht annehmen, »daß die Musik uns gut und vollkommen, vielleicht aber doch, daß sie uns besser machen kann«. Kein Mensch würde wohl auf die abenteuerliche Idee kommen, die Erfahrung von Musik als Hauptursache für den Charakter eines bestimmten Menschen anzusehen. Es darf wohl als unstrittig gelten, daß der Charakter eines Menschen von vielen Ursachen geformt und geprägt wird und die Musik in diesem Kräftefeld bestenfalls eine Nebenrolle spielt. Das schließt aber dennoch nicht aus, daß Musik in bestimmten Momenten zumindest zur Befestigung und Stärkung, unter Umständen auch zur Erschütterung eines Charakters beitragen kann. Für eine überzeugende Begründung seiner kategorisch negativen Auffassung müßte uns Kivy zudem Auskunft darüber erteilen, welche Kräfte überhaupt auf den menschlichen Charakter einwirken können. Meint er etwa, daß nur das propositionale Wissen – die Erkenntnisse also aus der Lektüre von Kants Grundlegung oder von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik – einen Einfluß auf den Charakter nehmen kann? Dem widerspricht nicht nur die Erfahrung, sondern wohl auch der Umstand, daß weder Aristoteles noch wahrscheinlich auch Kant einer solchen Auffassung zustimmen würden. (Wir können das Wissen von den Grenzen der ethischen Kraft des propositionalen Wissens teilweise 149 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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wiederum selbst in Propositionen zum Ausdruck bringen!) Oder würde Kivy sich hier Schopenhauers Auffassung (Über die Grundlage der Moral 2007, 150) anschließen wollen, derzufolge der Charakter des Menschen »unveränderlich und daher aller Besserung, mittelst Berichtigung der Kenntniß, unzugänglich« ist? Auch das kann nicht sein Ernst sein. Er möchte schließlich nur die Auffassung vertreten, Musik könne keinen Einfluß auf unseren Charakter nehmen – im Gegensatz zu Romanen oder philosophischen Werken, denen durchaus eine ethische Kraft in diesem dritten, charakterbildenden Sinne zukäme. Zweitens wird man in einer vorübergehenden Wirkung von Musik sicher noch nicht eine dauerhafte Verbesserung eines Charakters sehen können (vgl. auch Walter 1987, 12 f.). Ein Mensch kann wohl allein durch die Wahrnehmung einer Klaviersonate von Haydn nicht wirklich zu einem besseren Menschen werden, und so wird eine gefühlsarme, egoistische Person, nachdem sie den CD-Player in ihrem Auto ausgeschaltet hat, auch nur wieder das enge und kalte Herz vorfinden, das für ihren Charakter typisch ist. Sie mag zwar denken, nun ein besserer Mensch zu sein und daran ein – keineswegs interesseloses – Wohlgefallen finden. Doch ihr schlechter Charakter wird durch dergleichen Gefühlsduseleien wohl eher befestigt als nachhaltig verändert. Als eine Konzession kann man diese Ansicht daher sicher nicht gelten lassen, sondern wird sie eher als ein Ablenkungsmanöver ansehen müssen, das auf einer recht artifiziellen Abtrennung der Erfahrung von Musik von anderen menschlichen Tätigkeiten beruht. Drittens können wir nicht ausschließen, daß unser egoistischer Autofahrer auch nach dem Verlassen seines Autos noch das Thema der Sonate im Ohr hat, die Musik in seinem Inneren also präsent bleibt und weiterwirkt. Dann aber könnte die Musik zumindest einen Einfluß auf den Charakter entfalten, der von ihrer unmittelbaren akustischen Präsenz unabhängig geworden ist. Vielleicht wird unser griesgrämiger Autofahrer ja durch den regelmäßigen Konsum von Haydns Klaviersonate ein etwas freundlicherer und heiterer Zeitgenosse? Zudem ist die Musik in vielen traditionellen Kulturen und in unserer eigenen Zeit quasi omnipräsent. Wenn das aber richtig ist, dann folgt daraus, daß Musik einen dauerhaften Einfluß auf den Charakter ausüben und auf diese Weise eine ethische bzw. sogar politische Bedeutung gewinnen kann. Auch die möglichen Wirkungen einer Begegnung etwa mit einem guten Freund oder einem Lehrer bleiben schließlich nicht auf den jeweiligen Augenblick beschränkt: Viele Einzelheiten einer Begeg150 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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nung oder eines Gesprächs können uns noch durch den Kopf gehen, wenn wir diesen Menschen längst wieder aus dem Auge verloren haben. Gerade der vorbildliche Charakter eines Menschen kann unter Umständen noch eine Wirkung auf andere Menschen entfalten, wenn sein empirischer Besitzer längst tot ist. Warum also sollte eine musikalische persona nicht über ihre augenblickliche Wahrnehmung beim Hören von Musik hinaus einen gewissen Einfluß ausüben können? Die Diskussion über die ethische Kraft von Musik legt in meinen Augen daher zwei Schlußfolgerungen nahe: Zum einen müssen beide Kontrahenten in der Debatte wohl einräumen, daß es keine klaren empirischen Belege für oder gegen eine bestimmte Auffassung gibt. Die ethische Kraft der Musik läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicher nicht beweisen, umgekehrt läßt sie sich auch nicht eindeutig widerlegen. Unter diesen Umständen drängt sich in meinen Augen daher die Schlußfolgerung auf, daß man einen Einfluß der Musik auf das Handeln und den Charakter des Menschen zwar nicht überschätzen, gleichzeitig aber zumindest nicht kategorisch ausschließen und als möglich zulassen sollte. Schon mit einem solchen Nachweis einer bloßen Möglichkeit eines ethischen Einflusses von Musik ist ein positives Ergebnis gewonnen. Niemand kann garantieren, daß Musik allein einen von Grund auf bösen Menschen von Grund auf verändern kann; das schließt aber doch einen positiven Einfluß bestimmter Musik auch nicht aus. Auf eine derart näher qualifizierte Art und Weise, denke ich, kann man durchaus von einer humanisierenden Kraft der Musik sprechen. 2 Zumindest, so Jerrold Levinson (2006, 189), könne uns gute Musik dabei behilflich sein, »to remove barriers to moral education by increasing an individual’s awareness of the subjectivity of others, which is clearly a prerequisite to treating others as ends in themselves and taking their interests into account in deciding how to behave«. Plausibel wird diese Auffassung insbesondere dann, wenn man die Rezeption eines Musikstücks mit der Begegnung einer anderen Person mit einem je bestimmten Charakter vergleicht. Auch der Umgang mit bestimmten Menschen kann uns zwar nicht von Grund auf verändern, dennoch Allgemein zum Verhältnis von Musik und Humanität vgl. auch Floros (2000), Bastian/Kreutz (2003) sowie Hamilton (2007, 111 ff.); und speziell zum Verhältnis von Neuer Musik und Humanismus siehe Rihm (2002, Verzweifelt human. Neue Musik und Humanismus?, 225 ff.) und Mahnkopf (2007, Mensch und Neue Musik, 98 ff.).
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wird man zugeben, daß er »abfärben« kann. Eine interessante Frage lautet nun, wie man sich diesen Vorgang genau erklären kann. Und eine mögliche Antwort darauf lautet: durch die – vorzugsweise rhythmische – Synchronisation von Bewegungen und Verhaltensweisen (vgl. Bühl 2004, 64 ff.). 3 Die Wahrnehmung der Bewegungen anderer Menschen weckt in dem Betrachter die Neigung, diese Bewegungen nachzuahmen; und gerade der Tanz mag hier als ein gutes Beispiel gelten, um eine musikalische Synchronisation verschiedener Bewegungen einer Vielzahl von Menschen zu veranschaulichen. Wenn wir dann zusätzlich annehmen, daß die »äußerlichen« Bewegungen eines Menschen als ein integraler Teil seiner »inneren«, emotionalen Verfassung und seiner Handlungsdispositionen zu verstehen sind, wenn wir also die Mimik und Gestik einer Person als eine Verkörperung ihres Innenlebens verstehen dürfen – schon die Rede von einer Trennung zwischen »innen« und »außen« führt hier in die Irre –, dann reicht es aus, sich in der entsprechenden »guten« oder »schlechten« Gesellschaft zu befinden und häufig bestimmte Gesten wahrzunehmen, um über diesen Nachahmungsmechanismus »äußerlicher« Bewegungen einen Einfluß auf den Charakter und die Handlungsdisposition eines Menschen annehmen zu dürfen. Genau aus diesem Grund schätzen viele Menschen auch den »Umgang« mit Kunstwerken: »If we value art«, schreibt Roger Scruton (1997, 361 f.), »it is partly because it introduces new states of mind, by providing the expressive gestures that convey them.« Dabei wird man diesen besonderen Vorgang der Einflußnahme auf unser »Innenleben« weder als eine quasi natürlich-mechanistische »Ansteckung« noch auch als rein bewußt-rationale »Anstrengung« zur Nachahmung bestimmter Bewegungen verstehen können. Scruton (ebd., 354 ff.) versteht den Tanz – die Synchronisation äußerer Verhaltensweisen in Mimik und Gestik – vielmehr als eine Form der Imagination der Emotionen anderer Personen und damit eine Einübung in die Fähigkeit zur gegenseitigen emotionalen Anteilnahme. Ohne den Tanz würden wir also in dieser Hinsicht abstumpfen und kalt werden müssen. Unklar und unbegründet bleibt meines Erachtens jedoch Bühls (2004, 66; meine Hervorh.) Behauptung, daß das »individuelle Bewusstsein« durch den Rhythmus in ein »unbewusstes Wir« eingebunden werde. Einerseits hat schließlich auch das individuelle Bewußtsein Grenzen, und andererseits sollte man nicht kategorisch die Möglichkeit eines kollektiven Bewußtseins – zu dessen Aufklärung gerade die Musik beitragen kann – ausschließen.
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Die ethische Kraft der Musik
Wie dieser dunkle Vorgang eines »Abfärbens« auch immer zu erhellen ist – die Meinungen und emotionalen Reaktionen nahestehender Menschen sind uns jedenfalls nicht gleichgültig und können sowohl unser Handeln und Denken als auch unseren Charakter beeinflussen. Und wenn wir überhaupt zugeben wollen, daß sich der Charakter eines Menschen verändern läßt, und an der Möglichkeit einer moralischen Erziehung festhalten wollen, dann wird man an erster Stelle sicher dem Vorbild anderer Personen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung und Beeinflussung des Charakters anderer Menschen zuschreiben. Wenn wir zusätzlich die expressiven Eigenschaften eines Musikstücks als Gesten einer imaginären Person verstehen dürfen, die in tönend bewegten Formen ihre Emotionen zum Ausdruck bringt, dann sind eigentlich alle Voraussetzungen gegeben, um auch expressiver Musik einen Einfluß auf den Charakter ihrer Zuhörer zuzugestehen. Man sollte diesen Einfluß nicht überschätzen, aber das tun wir ja bei anderen Kräften, die auf unseren Charakter einwirken, auch nicht. Wir sollten die Möglichkeit eines solchen Einflusses umgekehrt aber nicht ausschließen; und auch das tun wir bei anderen ethischen Kräften nicht. Darüber hinaus wird man die Bedeutung der Rede von einer »ethischen Kraft« von Musik aus einem weiteren Grund nicht überschätzen dürfen. Wenn die ethische Bedeutung von Musik vor allem in der Möglichkeit zur Ausbildung und Erweiterung unserer emotionalen Phantasie gründet, dann hängt zuletzt gar nicht mehr sehr viel vom realen Einfluß der Musik auf unser Handeln und unseren Charakter ab. Allein die Tatsache, daß uns die Musik einen Zugang zu neuen emotionalen Möglichkeiten verschaffen, uns in neue Gefühlswelten entführen und uns damit eine besondere Erkenntnis von bestimmten Gemütszuständen zugänglich machen kann, läßt sie in ethischer Hinsicht bedeutsam erscheinen. Eine ganz andere Frage ist es dann, ob wir diese Einsichten immer auch in unser Handeln umsetzen. Aber schon eine Erweiterung unseres emotionalen Erfahrungshorizonts kann wertvoll sein, sie kann zu einer Erweiterung unserer inneren Freiheiten führen, auch wenn sich in unserem tatsächlichen Leben, rein äußerlich gesehen, nicht sehr viel ändern sollte. Schon allein die Tatsache also, daß Musik in diesem Sinne ein utopisches Potential besitzt und uns sowohl den Raum als auch die Zeit für die Entfaltung unserer emotionalen Phantasie zur Verfügung stellt, läßt sie in ethischer Hinsicht bedeutsam erscheinen. 153 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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3.4 Probefühlen ohne Handlungsdruck Bei unserer Diskussion einer möglichen epistemischen Bedeutung von Musik sind zwei wichtige Fragen offen geblieben. Was sollen wir uns erstens unter einer nichtpropositionalen Form des praktischen Wissens vorstellen? Und was ist zweitens die Quelle dieser Form des Wissens? Auf welche Weise kann uns gerade die Musik eine solche Art des Wissens zur Verfügung stellen? Zur Beantwortung dieser beiden Fragen können wir auf die Persona-Theorie der musikalischen Expressivität zurückgreifen (vgl. Abschnitt 1.2). Die Antwort auf die erste Frage lautet, daß das Verstehen eines besonderen Musikstücks in vielerlei Hinsicht mit dem Verstehen einer realen Person zu vergleichen ist, das sich ja auch nicht in einer bloßen Anhäufung einer möglichst großen Anzahl verschiedener Propositionen erschöpft. Vielmehr versuchen wir, uns eine Vorstellung von ihrer Innenperspektive zu machen, und eine wichtige Dimension dieser Innenperspektive wird dann eine bestimmte Vorstellung davon sein, wie es dieser Person in einer bestimmten Situation zumute ist oder wie es sich für sie anfühlt, sich in dieser oder jener Position zu befinden. Dieser phänomenale Aspekt des Bewußtseins einer Person ist von ihren propositionalen Einstellungen, wie etwa Überzeugungen und Wünschen, zu unterscheiden (vgl. Block 1995). Aus der Imagination einer Person können wir also ein Wissen über den phänomenalen Charakter bestimmter Emotionen schöpfen, und auch die Musik kann somit als eine Form des – um einen treffenden Ausdruck von Gustav Falke (2001, 64) aufzugreifen – »Probefühlens« verstanden werden, das Falke zufolge zudem den großen Vorteil aufweist, »situationsentlastet« zu sein und unter keinem unmittelbaren Handlungsdruck zu stehen. Daß ein solches Wissen von hoher praktischer Relevanz sein kann, dürfte evident sein: Die Entscheidung etwa, ob ich eine Familie gründen oder lieber ohne feste Bindungen durchs Leben gehen soll, wird zuletzt von einem Verständnis davon beeinflußt werden, wie sich diese beiden Alternativen in zukünftigen Zuständen meiner eigenen Person anfühlen werden. Habe ich das entsprechende Wissen über die Alternativen, wird meine Entscheidung besser begründet sein. Auch moralische Entscheidungen werden sich leichter treffen und besser begründen lassen, wenn ich eine klare Vorstellung von ihren Auswirkungen auf meine eigenen phänomenalen Zustände und diejenigen ande154 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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rer Personen habe. 4 Das praktische Wissen, das uns Kunstwerke zur Verfügung stellen, ist also nicht nur für moralische Entscheidungen bedeutsam, es kann auch für die Bestimmung der Inhalte eines guten Lebens eine wichtige Rolle spielen. Mit der Kunst und insbesondere mit expressiver Musik verfügen wir nun über ein Instrument, mit dem wir unseren Sinn für emotionale Möglichkeiten kultivieren und unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung und Ausbildung verschiedener Empfindungen ausbilden und schärfen können. Ein Musikstück konfrontiert uns gleichsam mit einer fiktiven Situation. Wenn wir also eine Symphonie von Dmitri Schostakowitsch oder ein Streichquartett von Joseph Haydn hören, haben wir keinen in unseren eigenen Lebensumständen verwurzelten Grund, uns zu fürchten oder zu freuen; dennoch kann eine verständnisvolle Wahrnehmung dieser Stücke Anlaß zu bestimmten Emotionen sein, ohne daß wir aus diesem Grund irrational wären. Denn wir haben womöglich ein Interesse daran – und damit in vielen Fällen auch einen guten Grund –, uns in einem geeigneten Augenblick vorzustellen, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn wir uns auf eine bestimmte Art und Weise fürchten oder eben freuen würden. Für derartige Ausflüge in die emotionale Phantasie muß nicht immer ein realer Anlaß vorhanden sein; es reicht, daß wir uns etwa für die Empfindungen anderer Menschen interessieren oder uns mögliche Empfindungen, die wir selbst in bestimmten Situationen erleben würden, vorstellen wollen. Ganz allgemein wird man daher sagen können, daß sich die Aufgabe von Kunst im allgemeinen und von Musik im besonderen nicht in der Abbildung unserer Lebenswirklichkeit erschöpft. Utopien – und viele Kunstwerke und auch Musikstücke lassen sich meines Erachtens als emotionale Utopien verstehen – dienen schließlich immer auch einer Infragestellung des Gegebenen, der Eröffnung neuer Wirklichkeiten, der Entstehung eines Sinns dafür, daß manche Dinge ganz anders sein könnten. Insbesondere gilt das für die emotional geprägte und eine Bewertung einschließende Haltung, die die Menschen gegenüber ihrer Lebenswirklichkeit ausbilden. Wir haben beispielsweise ein Inter4 Zur praktischen Relevanz der Imagination vgl. neben Hume A Treatise of Human Nature (2000, II.2.6 Of the Influence of the Imagination on the Passions) vor allem Palmer (1992, 218), Currie (1998, 164 f.), Hursthouse (1999, 118), Carroll (2001, 306 ff.) und Scruton (1997, 362; Hervorh. i. O.): »There is a close connection between ›knowing what it’s like‹ and understanding the premises of another’s practical reason: understanding not what they are, but how they weigh with him.«
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esse daran, unser Leben so weit wie möglich nach unseren eigenen Vorstellungen einzurichten. Gewiß, allein der Umstand, daß die tatsächlichen Verhältnisse anders sein könnten, als sie sind, bedeutet nicht, daß sie deshalb per se schlecht wären. Aber auch das ist eine Lektion, die uns oft nur ein Kunstwerk erteilen kann. Die Akzeptanz des Gegebenen fällt manchmal leichter, hat man erst einmal die möglicherweise wenig attraktiven Alternativen kennen gelernt. Entscheidend dafür ist freilich die Genauigkeit dieser Phantasieprodukte. Denn mit nur undeutlichen, schwammigen Vorstellungen über unsere Handlungsmöglichkeiten und deren Wirkungen wollen wir uns bei den wichtigsten Entscheidungen unseres Lebens nicht abspeisen lassen. Nun beinhaltet meine These, ein Kunstwerk stelle uns neue Empfindungsräume zur Verfügung, nicht die sehr viel umfassendere und zugleich strittige These, jedes Kunstwerk sei in seiner Bedeutung unerschöpflich und enthalte gleichsam eine unendliche Anzahl verschiedener Interpretationsmöglichkeiten. Man wird ein bestimmtes Kunstwerk nicht auf eine einzige Bedeutung festnageln können, aber dennoch ist es aus diesem Grund nicht unbegrenzt vieldeutig. Die Vielfalt unterschiedlicher Kunstwerke bietet zwar die Gelegenheit, ein recht weites Feld imaginierter Emotionen abzuschreiten, wenn auch ein einziges Werk nicht eine unbegrenzte Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten erlauben wird. Das menschliche Leben ist endlich, und angesichts zu vieler Möglichkeiten mag man schon einmal den Überblick verlieren. Dennoch enthält die Vielfalt der Kunst eine Vielfalt an Möglichkeiten bereit, unterschiedliche emotionale Haltungen und die mit ihnen verbundenen Wertvorstellungen in kognitiver und affektiver Art und Weise auszuprobieren und am eigenen Leibe spüren zu lernen. Emotionen sind besondere Arten und Weisen, wie wir kognitiv, evaluativ und affektiv auf bestimmte Situationen reagieren. Deshalb kann uns mit der Wahrnehmung und Rezeption von expressiver Musik ein breites Spektrum verschiedener emotionaler Möglichkeiten zugänglich werden. Auch eine Antwort auf die zweite Frage nach der Art und Weise, mit der uns gerade Musik ein besonderes Wissen zur Verfügung stellt, können wir der Persona-Theorie entnehmen: Wir schöpfen dieses Wissen aus unserer eigenen Phantasie (vgl. Gaut 2007, 7.2 Sources of Knowledge, 7.3 How to Learn from Imagination und 7.4 Imagination and Ethical Learning). Dabei sollten wir uns hier vor einem Mißverständnis hüten: Wir können uns nicht alle möglichen Dinge ausdenken 156 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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und diese Vorstellungen dann Wissen nennen. Es geht vielmehr um eine möglichst disziplinierte und exakte Form der Imagination, die – um wieder zur Wahrnehmung eines Musikstücks zurückzukehren – von der formalen Gestaltung eines Stücks angeleitet wird. Wir haben zwar immer einen gewissen Spielraum, wie ein bestimmtes Stück richtig zu verstehen ist. Das Musikstück selbst und seine besonderen Qualitäten werden diesem Spielraum aber mehr oder weniger enge Grenzen ziehen. Und wieder einmal kann man sich dabei auf eine Analogie zum Verstehen realer Personen stützen: Wir bedürfen der Vorstellungskraft, um zu verstehen, wie einer anderen Person wohl zumute ist, und wir bedürfen deshalb auch der emotionalen Phantasie, um überhaupt Mitleid mit anderen Personen empfinden zu können. In seinem Essay über den Ursprung der Sprachen schreibt bereits JeanJacques Rousseau (1984, 121): »Das Mitleid, obwohl dem menschlichen Herzen so natürlich, würde auf immer untätig bleiben ohne die Einbildungskraft, die es in Tätigkeit setzt. Wie lassen wir uns zum Mitleid bewegen? Indem wir aus uns selbst herausgehen und uns mit dem leidenden Wesen identifizieren. Wir haben nur gerade so viel Mitleid, wie wir glauben, daß der andere leidet; nicht in uns, sondern in ihm leiden wir.« Und im Emil sagt er ähnlich: »Man wird nur dann empfindsam, wenn sich die Phantasie regt und beginnt, uns aus uns selbst heraustreten zu lassen.« (Rousseau 1993, 224) Marcel Proust (2004, 125 ff.) weist allgemeiner auf die Bedeutung der Einbildungskraft für die Erweiterung unseres emotionalen Repertoires hin: »Allerdings kommen alle Empfindungen, die die Freude oder das Unglück einer wirklichen Person in uns wecken, auch nur auf dem Weg über ein Bild dieser Freude oder dieses Unglücks zustande; der geniale Einfall des ersten Romanschriftstellers bestand in der Entdeckung, daß in unserem Gefühlsapparat das Bild das einzige wesentliche Element ist und es deshalb einer entscheidenden Verbesserung gleichkäme, wenn man die Dinge dadurch vereinfachte, daß man die wirklichen Personen ausschaltete. Ein wirklicher Mensch, mögen wir noch so sehr mit ihm sympathisieren, wird von uns zum großen Teil durch die Sinne wahrgenommmen, das heißt, er bleibt undurchsichtig für uns, stellt eine tote Last dar, die durch unser Empfindungsvermögen nicht emporgehoben werden kann. […] Der Fund des Romanschriftstellers bestand in der Idee, diese für die Seele undurchdringlichen Partien durch eine gleiche Menge immaterieller Teile zu ersetzen, das heißt solcher, die unsere Seele sich anverwandeln kann. Was spielt es nun noch für eine Rolle, ob die Handlungen und Gefühle dieser Wesen einer ganz neuen Art uns als wahr erscheinen, da wir sie ja zu den unseren gemacht haben, da sie sich in uns selbst vollziehen […]. Wenn uns aber der Romanschriftsteller erst einmal in diesen Zustand versetzt hat, in dem wie bei allen rein innerlichen Vorgängen jedes Gefühl verzehnfacht
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ist und in dem sein Buch uns nach Art eines Traums bewegt, eines Traums jedoch, der klarer ist als unsere Träume im Schlaf und auch in unserem Gedächtnis besser haften bleibt, dann entfesselt er in uns während einer Stunde alle nur möglichen Gefühle von Glück und Unglück, wofür wir im Leben Jahre brauchen würden, um nur einige wenige kennenzulernen, und von denen uns die intensivsten nie offenbart würden, weil sie sich mit einer Langsamkeit vollziehen, die es uns unmöglich macht, sie wahrzunehmen […].«
Doch auch bei dieser Ausübung unseres Vorstellungsvermögens werden wir von einer bestimmten expressiven Gestik und Mimik angeleitet, d. h. die Phantasie stellt dem Leser keinen Freibrief für völlige Willkür und Beliebigkeit bei der Deutung eines Charakters aus. Zwar mag es einen gewissen Spielraum für verschiedene Weisen des Verstehens dieser Person geben – und auch ihr Selbstverständnis ist schließlich nicht unfehlbar –, indessen sind unserer Imagination durch bestimmte Vorgaben jeweils Grenzen gezogen. Schließlich kommt es in diesem Fall nicht nur auf die freie, kreative Entfaltung unserer Vorstellungskraft an, es kommt darauf an, sich ein möglichst genaues Bild vom phänomenalen Charakter der Emotionen einer anderen Person zu machen. Ein Kunstwerk kann unsere Phantasie also an die Zügel nehmen, mit der Absicht allerdings, ihr eine Orientierung vorzugeben, wenn sie in neue emotionale Welten vorstoßen möchte. Und für Marcel Proust (2004, 505 f.) kann es keinen Zweifel geben, daß dazu natürlich auch die Musik in der Lage ist und »daß das eigentliche Feld, das dem Musiker offensteht, nicht eine schäbige Klaviatur von sieben Tönen, sondern eine unermeßliche, noch beinahe völlig unbekannte Klaviatur ist, in der nur hier und da, durch dichtes, unerforschtes Dunkel voneinander getrennt, einige ihrer Millionen Klangtasten der Zärtlichkeit, der Leidenschaft, der Tapferkeit, der Heiterkeit, jede so verschieden von den anderen wie eine Welt von einer anderen Welt, von einigen großen Künstlern entdeckt worden sind, die in uns etwas dem von ihnen gefundenen Thema Entsprechendes erwecken und uns dadurch den Dienst erweisen, uns zu zeigen, welchen Reichtum und welche Vielfalt, ohne daß wir uns dessen bewußt wären, jene tiefe, unbetretene und entmutigende Nacht unserer Seele birgt, die wir für Leere halten und für Nichts«. Ethik, so haben wir gesehen, hat etwas mit den Inhalten eines guten Lebens und mit den moralischen Ansprüchen anderer Personen zu tun. Wenn wir nun Musik als expressiv verstehen, wenn wir vor allem davon ausgehen wollen, daß ein Musikstück als eine expressive 158 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Geste einer imaginären Person wahrgenommen werden kann, dann ergibt sich hier unmittelbar ein Anknüpfungspunkt. Wenn ich mir Gedanken über die Planung und Realisierung eines guten Lebens mache, dann muß ich mir vorstellen können, wie sich meine Entscheidungen in der Gegenwart auf meine eigene Wohlfahrt in der Zukunft und auf die Wohlfahrt anderer Personen auswirken werden. Weder mein zukünftiges Wohlergehen noch die Innenperspektive anderer Personen sind mir jedoch unmittelbar präsent. In beiden Fällen bin ich zu einem nicht unerheblichen Ausmaß auf mein Vorstellungsvermögen angewiesen. Vor allem im Kontext des Problems der Zuschreibung bestimmter mentaler Zustände an andere Personen wird in der Philosophie vom Problem des Fremdpsychischen gesprochen; aber auch die mentalen Zustände meines zukünftigen Selbst sind mir heute noch fremd, wobei wir immer ein Interesse an einer Kenntnis dieser Zustände haben. Rationale Entscheidungen setzen nämlich voraus, daß eine Brücke zwischen der Gegenwart und der Zukunft ein und derselben Person sowie eine Brücke zwischen verschiedenen Personen erstellt werden kann. Wenn wir expressive Musik hören, dann stellen wir uns vor, eine Person brächte in ihr ihre Emotionen zum Ausdruck. Wir nehmen diese »tönend bewegten Formen« nicht nur als ein »Kaleidoskop« wahr, wie Eduard Hanslick (1989, 59 f.) sie beschreibt: Musik »bringt in stets sich entwickelnder Abwechslung schöne Formen und Farben, sanft übergehend, scharf kontrastierend, immer zusammenhängend und doch immer neu, in sich abgeschlossen und von sich selbst erfüllt«. Darüber hinaus können wir Musik auch als expressive Geste wahrnehmen, so als würde eine imaginäre Person ihre Gefühle darin manifestieren. Das Verhältnis zwischen dem Hörer und der Person, die einem Akt seiner Imagination entspringt, ist dabei von unmittelbarer ethischer Bedeutsamkeit. Von dieser imaginierten Person geht ein Anspruch auf den Hörer aus, sie fordert ihn zu einer emotionalen Reaktion auf, sie lädt ihn zu einer Identifikation mit ihrem emotionalen Zustand ein. Grundsätzlich stehen dem Hörer zunächst zwei mögliche Haltungen gegenüber dieser Person zur Verfügung: Er kann die Einladung zur Identifikation annehmen oder sie zurückweisen, und für beide Haltungen kann es verschiedenartige und vielschichtige Gründe geben. Betrachten wir zunächst die letztere Möglichkeit: Ein Hörer kann eine Einladung ausschlagen, weil er sie nicht einordnen kann. Viel159 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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leicht nimmt er noch wahr, daß von einem Musikstück eine Einladung an ihn ausgeht. Doch die Musik bleibt ihm vielleicht so fremd, daß er gar nicht versteht, zu welcher emotionalen Reaktion er nun eigentlich aufgefordert wird. In diesem Fall ist eine Rezeption des betreffenden Musikstücks unmöglich, was wiederum auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden kann. Entweder der Hörer ist mit der betreffenden Musik nicht vertraut, und es fehlt ihm damit an der Kompetenz zum Verständnis dieses Stücks. Oder aber das Musikstück will und soll nicht verstanden werden. Ein Hörer kann eine Einladung auch ausschlagen, nicht weil er sie nicht versteht, sondern weil er sie nicht annehmen will. Die Person, die in seiner Imagination entsteht, widert ihn vielleicht an, ihre Emotionen erscheinen dem Hörer vielleicht unmoralisch oder einfach zu oberflächlich. Das mag dann ein Grund dafür sein, warum sentimentale, kitschige Musik die emotionale Reaktion, die sie dem Hörer ansinnt, gar nicht verdient – und deshalb sowohl in ethischer als in der Folge auch in ästhetischer Hinsicht gravierende Defekte aufweist. Ein weiterer Grund mag sein, daß uns die Musik zu schwermütig erscheint und wir deshalb die Einladung, die von ihr ausgeht, (in diesem Augenblick) nicht annehmen wollen, obwohl sie dies verdient hätte. Davon wird später noch ausführlicher zu reden sein. Wenden wir uns nunmehr der ersten und interessanteren Möglichkeit zu: Der Hörer nimmt die von einem integren Musikstück an ihn ausgehende Einladung auch an. Dabei möchte ich annehmen, daß es sich um einen kompetenten Hörer handelt, der die Musik versteht, und daß es somit gute Gründe für ihn gibt, die Einladung anzunehmen. Was sind die möglichen Vorteile für den Hörer? Und welche ethische Bedeutung kommt diesen Vorteilen zu? Ich möchte hier auf zwei wichtige, ethisch bedeutsame Vorteile hinweisen (vgl. Trivedi 2006, 424). Erstens: Wenn wir uns mit der imaginären Person, der wir in einem Musikstück begegnen, identifizieren, wenn wir diese Person mit Emotionen animieren, die wir selbst in bestimmten Lebensumständen verspüren, dann mag dieser Umstand dazu beitragen, daß wir uns nicht mehr allein und isoliert fühlen. Man wird hier von einem allgemeinen menschlichen Bedürfnis ausgehen dürfen, Gefühle auszudrücken und auf diese Weise auch mit anderen Menschen zu teilen: »People often simply want to share feelings and attitudes about things with others – what I will call an expressive or sharing motive.« (Tomasello 2008, 86; vgl. auch Walter 1987, 40 f.) Leo Tolstoi (1993, 217) spricht sogar von einer »seelischen Vereinigung« (1993, 217) des Zuhörers
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oder Zuschauers mit dem Autor eines Kunstwerks: »Wenn wir die Kunst so betrachten, sehen wir, daß sie eines der Mittel für die Einigung der Menschen untereinander ist. […] Die Wirkung von Kunst ist darauf begründet, daß der Mensch, indem er durch das Gehör oder das Auge die Gefühlsäußerungen eines anderen Menschen empfängt, fähig ist, dasselbe Gefühl, das der Mensch, der sein Gefühl äußert, empfand, nachzuempfinden.« (Ebd., 72) »Jede Kunst bewirkt, daß die Menschen, die das vom Künstler wiedergegebene Gefühl empfangen, erstens mit dem Künstler und zweitens mit allen Menschen, die denselben Eindruck erhalten haben, seelisch verbunden werden.« (Ebd., 234)
Wir können in der Musik die Anwesenheit eines wenn auch nur fiktiven Lebewesens wahrnehmen, mit dem wir unsere Freuden und Leiden teilen können. Eine geteilte Freude wird diese Emotion nur noch verstärken, wie umgekehrt ein geteiltes Leid zur Erleichterung und zum Trost der betreffenden Person beitragen kann (vgl. Walter 1987, 22 f.; Eggebrecht 1997, 101 ff.). Eine erste ethische Bedeutung von Musik läßt sich also auf eine Verstärkung positiver und eine Abschwächung negativer Emotionen zurückführen. Saam Trivedi (2006, 424) vertritt nun zusätzlich die Auffassung, die Identifikation mit dieser imaginären Person könne auch zur Bekräftigung eines Gemeinschaftsgefühls zwischen realen Personen beitragen. 5 Wenn sich mehrere Hörer zur gleichen Zeit mit dieser imaginären Person identifizieren, teilen sie ihre Emotionen nicht nur mit dieser vorgestellten Person; sie nehmen die von ihr ausgehende Einladung gemeinsam an und verschmelzen für die Zeit der Rezeption von Musik – und eventuell darüber hinaus – zu einem einheitlichen Subjekt des Fühlens. Empirisch gesehen ist das sicherlich richtig: Viele Menschen suchen den Konzertsaal oder ein Open-Air-Konzert nicht zuletzt auch wegen dieses besonderen Gemeinschaftserlebnisses auf. Dazu schreibt Trivedi (ebd., 424): »This time, however, the identificatiDieser Aspekt wurde allerdings nicht immer nur als ein »Vorteil« verstanden. Dem Reformator Ulrich Zwingli erschien die Musik etwa gerade aus diesem Grunde höchst suspekt; vgl. Söhngen (1967, 52 f.). Und Fuhrmann (2004, 156) weist in diesem Zusammenhang auf die besondere transzendente Dimension der Musik im Mittelalter hin, die dann eben nicht mehr in ihrer (modernen, heute vielfach im Vordergrund stehenden) sozialen Bedeutung aufgeht. Siehe dazu auch Kaden (1997, 1651): »In zahlreichen nichteuropäischen Kulturen […] führt [Musik] nicht zur sozialen Ordnung hin, sondern von ihr weg bzw. aus der einen Ordnung in die andere. Trance- und Besessenheitskulte, Initiations-, Fruchtbarkeitsriten, Totenklagen, das Begräbniszeremoniell lassen affektive Entgrenzungen, ›Verwilderungen‹ zu […].«
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on is not with the music but rather with other listeners who also imaginatively hear the music as sad or happy.« Dennoch würde ich diesen Punkt nicht als separaten Vorteil ansehen, denn er hängt eng mit dem Umstand zusammen, daß dieses Gefühl einer realen Gemeinschaft zwischen den Hörern immer nur auf die Vermittlungsinstanz der imaginären Person in der Musik bezogen bleibt. Gemeinschaftsgefühle zwischen den Menschen können unterschiedlich motiviert sein, doch nur wenn dieses Gefühl auch auf die Identifikation mit der imaginären Person eines Musikstücks zurückzuführen ist, kann man wirklich von einem ethisch bedeutsamen Vorteil expressiver Musik sprechen. Zweitens: Wir müssen uns nicht mit der imaginären Person emotional identifizieren, um einen Vorteil aus der von ihr ausgehenden Einladung zu ziehen. Wir können die Emotion, mit der sie uns konfrontiert, auch aus einer gewissen Distanz zum Gegenstand unserer Kontemplation machen. Wir können den Zugang, der uns zu einer bestimmten Emotion über die Musik eröffnet wird, als Bereicherung unserer Vertrautheit mit bestimmten mentalen Zuständen und als Ausweitung des Horizonts unserer Verstehensmöglichkeiten ansehen. Auf diese Weise erscheint es möglich, bestimmte Emotionen einem Prozeß der Prüfung und Reflexion zu unterziehen (vgl. Levinson 1990, 325; Davies 1994, 271 ff.; Trivedi 2006, 424). In diesem rein kontemplativen Verhältnis zu bestimmten Emotionen wird diese Reflexion sehr viel einfacher möglich sein, zumal wir nicht unter der Notwendigkeit stehen, unseren Emotionen auch jeweils sofort Handlungen folgen zu lassen. Da die probeweise Erweiterung unseres emotionalen Repertoires ohne unmittelbare praktische Konsequenzen bleibt, können wir uns in ein zwar engagiertes, gleichzeitig aber relativ distanziertes Verhältnis zu bestimmten Emotionen setzen. So können wir ein Wissen darüber gewinnen, wie es sich anfühlt, in diesem oder jenem emotionalen Zustand zu sein. Wir können uns fragen, wie dergleichen Zustände ausgelöst werden, auf welche Werte sie verweisen und in welchem Verhalten, in welchen Gesten sie sich manifestieren. Als weiteren Vorteil führt Saam Trivedi eine kathartische Wirkung von Musik an, wobei er sich auf einen speziellen und durchaus strittigen Begriff von »Katharsis« als einer Elimination von Emotionen stützt: »We may manage to rid ourselves of negative emotions such as sadness, anger, fear, and the like. For example, listening to particularly angry passages in Mussorgsky’s Night on a Bare Mountain or in Stravinsky’s The Rite of Spring may purge us of aggression.« (Trivedi 2006, 162 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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424) Dabei ist der Begriff »Katharsis« mindestens doppeldeutig: Man kann »Katharsis« als eine Elimination oder auch als eine Reflexion und Klärung von Emotionen verstehen (vgl. Nussbaum 1986, 388 ff.). Im ersten Fall streben wir die Beseitigung von Emotionen an, im zweiten Fall wollen wir sie gleichsam nur reinigen bzw. auf das richtige Ziel hin lenken. Gegenüber Trivedis Vorschlag scheint mir daher eine gute Portion Skepsis angebracht: Abgesehen davon, daß es unklar ist, wie der Ausdruck einer Emotion in einem Musikstück zur Beseitigung dieser Emotion beim Hörer beitragen kann, und abgesehen auch davon, daß ein friedliebender Hörer keinen Grund hätte, sich Strawinskys Le sacre du printemps anzuhören, bleibt nicht zuletzt die Frage offen, warum es als ein »Vorteil« erscheinen sollte, von negativen Emotionen der Trauer, der Wut oder der Furcht befreit zu werden, für die es in vielen Fällen gute Gründe geben mag. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Untersuchungen Harriet Ottenheimers (1979) zu den »soziopsychologischen Funktionen« des Blues: Während viele Autoren annehmen, die Hauptfunktion des Blues bestehe in einer – eng verstandenen – »Katharsis« von Sängern und Hörern, in einer Elimination negativer Emotionen, kann Ottenheimer durch Interviews mit Bluessängern und -hörern den Nachweis führen, daß der Blues eher als Mittel zum Zweck der »emotional intensification (evocation) and communication« (ebd., 79; meine Hervorh.) von (unangenehmen) Emotionen verstanden wird: »[…] it can make you feel ›blue‹, it can match your ›blue‹ feeling, and it can deepen your feeling of ›bluesness‹« (ebd., 81).
Auf die spezifische Bedeutung der Artikulation und Klärung negativer Emotionen gehe ich ausführlich noch im nächsten Kapitel ein. Der wahre Vorteil, den uns die Musik eröffnen kann, scheint mir jedenfalls nicht in einer bloßen Elimination dieser Emotionen zu bestehen, sondern in einer Klärung und Kalibrierung unserer Emotionen. Tatsächlich mögen manche Emotionen unter bestimmten Umständen als unangemessen erscheinen. Erst auf der Grundlage einer umfassenden Reflexion der betreffenden Emotionen kann indessen ihre Elimination in bestimmten Fällen vernünftig erscheinen. Auch hier können wir also von keinem separaten Vorteil sprechen. Das Ziel einer Elimination von Emotionen wird immer dem Ideal einer Reflexion und Klärung von Emotionen untergeordnet bleiben.
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Dieses bislang wenig beachtete Potential der Musik zur Reflexion unserer Emotionen läßt sich übrigens auch mit der von Martin Dornes beschriebenen Affekt-Regulierung in der Mutter-Kind-Beziehung vergleichen. Der Säugling sieht im Gesicht der Mutter, die seinen Gesichtsausdruck imitiert und spiegelt, gleichsam seinen eigenen Affekt. »Ihr Gesichtsausdruck«, schreibt Martin Dornes (2000, 193), der sich auf Forschungen des ungarischen Psychologen György Gergely stützt, »ist also eine Art Antwort oder Spiegelung seines Ausdrucks, und deshalb sieht der Säugling nicht nur das mütterliche Gesicht, sondern in ihm auch eine ›Reflexion‹ seines eigenen Zustandes.« Damit können Mütter einen Beitrag zur Affektregulation leisten, und zwar dadurch, »daß die Mutter den kindlichen Affekt in einer Modalität – z. B. in der des Gesichtsausdrucks – aufnimmt, gleichzeitig aber in einer anderen Modalität nicht nur eine Wiedergabe, sondern eine Veränderung vornimmt. So könnte etwa ihr Gesichtsausdruck den Ärger des Säuglings wiedergeben, aber ihre Stimmlage Beruhigung signalisieren. Auf diese Weise erführe der Säugling über die Wahrnehmung des mütterlichen Gesichts eine Spiegelung seines Affekts, über die Wahrnehmung ihrer Stimme eine Modifizierung.« (Ebd., 76 f.) Auf diese Weise kann sogar schon ein Säugling seine emotionale Verfassung beeinflussen: »Der Säugling macht somit nicht nur die Erfahrung, daß sein affektiv-expressives Verhalten ein entsprechendes Ereignis in der Außenwelt auslöst, sondern auch die, daß er gleichzeitig damit – also dadurch – ruhiger und heiterer wird. Er stellt fest, daß seine Affekte durch seine eigenen Bemühungen reguliert werden.« (Ebd., 200) (Zur emotionalen Erziehung der Kinder durch das Feedback anderer Personen siehe ferner Tomasello 1999, 89 f.; Dornes 2005; und zur begrenzten emotionalen Phantasie von Autisten vgl. Tomasello 1999, 77; Hatten 2004, 103 f.; Dornes 2005, 19 ff.; Goldman 2006, 8.5 Autism and Simulation.)
Genauso kann der Hörer von Musik nicht selten die Erfahrung machen, daß er durch die bewußte Selektion und Wahrnehmung von Musik seine emotionalen Zustände reflektieren und regulieren kann, ohne sich dabei der Strategie einer Selbstverdinglichung zu bedienen und die eigenen Affekte – gleichsam mit der Musik als Joystick – je nach Wunsch zu »designen«, zu manipulieren und in die jeweils vorteilhaft erscheinende Richtung zu lenken. Der Hörer, wenn er nur aufmerksam genug hinhört und die Einladung annimmt, die von einem sowohl integren als auch phantasievollen Musikstück ausgeht, kann durch die Musik vielmehr neue Arten der emotionalen Selbstregulation erfahren und dabei auf Spielarten des emotionalen Selbstverhältnisses stoßen, von denen er sich bislang nichts hat träumen lassen.
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Herz- und hirnlose Gefühlchen
3.5 Herz- und hirnlose Gefühlchen Die emotionale Phantasie ist allerdings ein Schwert, das zwei Schneiden hat. Wir haben gesehen, daß sie uns ein Wissen vermitteln kann, das für Entscheidungen, die unser eigenes Wohlergehen oder dasjenige anderer Personen betreffen, unverzichtbar ist. Wir müssen aber beachten, daß sie uns auch betrügen kann – und zwar gerade in bezug auf unsere eigenen Emotionen und diejenigen anderer Personen. Mit unserer besonderen Begabung zur Phantasie wird auch die Möglichkeit zur Vortäuschung falscher Emotionen und zur Selbstmanipulation eröffnet. Man könnte sich etwa nur einbilden, man sei dankbar oder ehrfurchtsvoll, ohne daß ein entsprechender mentaler Zustand vorhanden wäre. Nachdem ich die Musik als ein Medium präsentiert habe, das der Entwicklung und Erweiterung der emotionalen Phantasie dienen kann, bedarf es jetzt einer Untersuchung der Frage, ob und wie uns die Musik auch zu einer emotionalen Selbsttäuschung verführen kann; und im Anschluß daran müssen wir auch der Frage nachgehen, ob sie vielleicht ein Potential enthält, uns für die verschiedenen Formen der emotionalen Manipulation sensibel zu machen und uns vor den schlimmsten Selbsttäuschungen zu bewahren. Meine Ausgangsannahme lautet dabei, daß vor allem die Sentimentalität als eine Form der Selbsttäuschung in bezug auf unsere Emotionen zu verstehen ist. Da manche Musikstücke sentimental sind bzw. manche Musikstücke zumindest sentimental rezipiert werden, kann Musik auch zur emotionalen Selbsttäuschung des Hörers beitragen. Sicherlich können auch Werke anderer Kunstgattungen sentimental sein, und ich werde einige Beispiele dafür anführen. Doch die Frage stellt sich innerhalb der abstrakten Kunstgattung der Musik mit einer besonderen Dringlichkeit. Die Musik steht zwar in einem besonders engen Zusammenhang mit den Emotionen, gleichzeitig verfügt aber die Instrumentalmusik über keine Möglichkeit, einen bestimmten Gegenstand einer Emotion zu repräsentieren (Tanner 2003). Ich stelle zwei allgemeine Beobachtungen voran: Zunächst kann man festhalten, daß sich sentimentale Kunst einer großen Popularität erfreut. Den Gebrauchs- und Erscheinungsformen unserer sentimentalen Phantasie scheinen kaum Grenzen gesetzt, sie kann sich aller möglichen Gegenstände und Kunstformen bedienen. Dabei wäre man wohl schlecht beraten, würde man sich auf eine externe Beobachterperspektive zurückziehen und sich selbst von jeder Anwandlung für sen165 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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timentale Neigungen freisprechen. Schon damit könnte man eventuell einem Selbstbetrug zum Opfer fallen, und eine Untersuchung aus der Beobachterperspektive etwa nur über die psychologischen oder sozialen Funktionen sentimentaler Kunst würde dem spezifischen Zustand einer sentimentalen Person ohnehin nicht auf die Spur kommen können. Statt nur eine Attitüde der arroganten Überheblichkeit gegenüber dem Kitsch und seiner Verwendung in den modernen Gesellschaften zu kultivieren, sollten wir uns vielmehr darum bemühen, ein Verständnis der Sentimentalität vor allem aus der Innenperspektive einer davon betroffenen Person zu erhalten. Das bedeutet nicht, daß wir uns nicht um eine Vermeidung sentimentaler Gefühlsduselei bemühen sollten; denn die Attraktivität und Popularität der Sentimentalität geht doch – und das ist meine zweite allgemeine Beobachtung – mit einer negativen Wertschätzung dieser Einstellung einher: Wir kritisieren die Sentimentalität und fällen mit diesem Begriff auch ein Werturteil, und zwar sowohl über Personen als auch über Kunstwerke (vgl. Savile 1982, 237). Die Sentimentalität ist natürlich ein wunderbares Beispiel nicht nur für die Verfehlung des Ideals der ästhetischen Integrität, sondern auch für eine besondere Form der Interaktion zwischen der ethischen und der ästhetischen Dimension von Kunst. Sie ist ein ethischer Defekt eines Kunstwerks, der sich negativ auf die ästhetische Wertschätzung dieses Kunstwerks auswirkt. Bezeichnen wir ein Kunstwerk als sentimental oder als kitschig, dann nehmen wir auf diese Weise nicht nur eine ethische Bewertung der Emotionen, die es zum Ausdruck bringt, vor. Wir kommen, und zwar gerade aus dieser ethischen Erwägung, auch zu einem negativen ästhetischen Werturteil (vgl. Eaton 2001, 9. Sentimental Art and Sentimental People). Die Tatsache, daß wir in unserer eigenen Praxis der Wahrnehmung und der Kritik manche Musikstücke als sentimental bezeichnen, kann übrigens als ein zusätzliches Argument für die moralistische These angesehen werden, daß Ethik und Ästhetik eng miteinander verzahnt sein können. Ein ethischer Defekt verweist in einem solchen Fall auf einen gravierenden ästhetischen Defekt eines Kunstwerks. Die üblichen Verdächtigen für musikalischen Kitsch sind natürlich Charles Gounod (zu dessen Ave Maria vgl. Dahlhaus 1967, 63 und Adorno 2003, 284 f.), Pjotr Tschaikowsky (zum langsamen Satz seiner 5. Symphonie in e-Moll vgl. Dahlhaus 1967, 67 und Adorno 2003, 288 f.) oder auch Richard Strauss und Giacomo Puccini (dazu: Kerman 1988, 211 ff.). Darüber hinaus
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dürften einige Werke von Sergej Rachmaninoff, Carl Orff, Arvo Pärt, Henryk Gorecki oder John Rutter als kitschverdächtig gelten. Zu Tschaikowsky, einem der Hauptverdächtigen, siehe Radford (1991, 432): »Tchaikowsky’s work is sentimental and that is a moral fault! Either he is blind to its sentimentality or corruptly indulges it.« Kritisch dazu aber Bicknell (2009, 128 ff.) und zur möglichen Humanität der Musik Tschaikowskys vgl. insbesondere Taruskin (1997, 11. Chaikovsky and the Human).
Einer Aufklärung bedarf vor allem die Frage, was wir genau meinen, wenn wir eine Person bzw. ein Kunstwerk als sentimental bezeichnen; vor allem die Bedeutung des (negativen) ethischen Urteils wird uns dabei zu interessieren haben. Der Aufklärung bedarf weiterhin die Frage, was wir meinen, wenn wir dann einem Musikstück die Eigenschaft der Sentimentalität zuschreiben. Daß wir dergleichen Zuschreibungen häufig vornehmen und dies zumindest in manchen Fällen mit guten Gründen tun, scheint jedenfalls klar. Die Frage ist jedoch, welche Bedeutung diese Zuschreibung genau hat und welche Schlußfolgerungen sich aus ihr ableiten lassen. Zunächst können wir festhalten, daß Sentimentalität in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen und ihrem Ausdruck steht. Aber nicht nur Kunstwerke bezeichnen wir als sentimental, in erster Linie – und in der ursprünglichen Verwendung des Begriffs – sind es vielmehr Menschen und ihre Emotionen, die wir als sentimental beschreiben; und wenn wir ein Musikstück als sentimental bezeichnen, so verwenden wir dieses Prädikat wohl immer noch in dieser ursprünglichen Bedeutung (Scruton 1997, 485). Beginnen wir also mit folgenden Fragen: Was macht einen Menschen zu einem sentimentalen Menschen? Und was ist dann eine sentimentale Form einer Emotion? Welche Emotionen können in einer sentimentalen Spielart auftreten? Gibt es nur eine sentimentale Form der Trauer, oder gibt es etwa auch eine sentimentale Form der Empörung? Ein Anhänger einer radikal kognitivistischen Theorie der Emotionen kann diese Frage schnell und einfach beantworten. Er vertritt die These, Emotionen seien eine besondere Klasse von Überzeugungen oder Gedanken, und läßt daneben keine affektiven oder phänomenalen Komponenten zu. Robert Solomon (1993, 118) schreibt: »[…] a feeling is not even a component of emotion.« Der Kognitivist kann daher sagen, sentimentale Emotionen beruhten auf unbegründeten oder falschen Überzeugungen. Sentimental wäre somit die Geringschätzung, die Jenny Treibel, die Protagonistin aus Theodor Fontanes Roman Frau 167 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Jenny Treibel, gegenüber dem Reichtum und Ansehen anderer Menschen zum Ausdruck bringt, einfach nur deshalb, weil sie auf einer falschen Überzeugung beruht. Sentimental und damit inauthentisch wäre ihre Bewunderung für die höheren Werte der Kunst und der Wissenschaften also nur dann, wenn diese Bewunderung aus bestimmten Gründen nicht gerechtfertigt wäre. Diese Analyse der Sentimentalität erscheint jedoch nicht besonders plausibel, denn Jenny Treibel hat wahrscheinlich gar keine falschen Überzeugungen. Sie täuscht sich gar nicht über einen bestimmten Sachverhalt, sondern in erster Linie über ihre eigenen Gefühle. In Abschnitt 1.3 habe ich bereits eine radikal-kognitivistische Theorie der Emotionen als unzureichend kritisiert, weil sie vor allem dem merkwürdigen Phänomen einer Widerspenstigkeit oder Trägheit der Emotionen gegenüber bestimmten kognitiven Zuständen nicht überzeugend Rechnung tragen kann. Denn wenn wir einen kognitiven Fehler einsehen, korrigieren wir in aller Regel auch unsere Überzeugungen. Aber wenn wir erfahren, daß Fliegen viel ungefährlicher ist als etwa Autofahren, verschwindet allein deshalb unsere Flugangst noch nicht. Sie widersetzt sich der rationalen Einsicht, und selbst eine erfolgreiche Korrektur unserer falschen Meinung über die Gefahren des Fliegens bringt unsere Flugangst nicht zum Verschwinden. Dieses Problem taucht bei der Analyse der Sentimentalität in einer besonderen Ausprägung wieder auf. Selbst wenn Jenny Treibel mit ihren tatsächlichen Meinungen in bezug auf den Wert des Reichtums und des Ansehens konfrontiert werden sollte – die Frage, ob diese Meinungen richtig oder falsch sind, stellt sich hier gar nicht –, würde sie doch an ihrer (emotional gefärbten) Geringschätzung dieser Dinge festhalten. Die sentimentale »Emotion« verschwindet also nicht, wenn wir den angeblich kognitiven Fehler korrigieren. Wir müssen uns daher nach einer alternativen und geeigneteren Erklärung umsehen. Zum Zweck einer besseren Beschreibung des Phänomens der Sentimentalität möchte ich in drei Schritten vorgehen. Zunächst kann man dem Kognitivisten wohl ein Zugeständnis machen: Soweit ich sehe, ist die Sentimentalität keine separate Emotion, die man neben andere Emotionen wie Angst, Trauer und Freude stellen könnte. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß Emotionen in einem besonderen, sentimentalen Modus auftreten können (Savile 1982, 237). Ohne Zweifel gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen dem echten Mitleid und einem bloß sentimentalen Mitleid, und genauso bleibt es zweier168 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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lei, eine echte Emotion der Empörung über ein Unrecht zu empfinden und auszudrücken oder sich nur auf sentimentale, selbstgenießerische Weise künstlich aufzuplustern. Mit Anthony Savile (1982, 239), Roger Scruton (1997, 486) und Michael Tanner (2003, 98 und 105) gehe ich davon aus, daß es auch sentimentale Varianten von negativen Emotionen wie Wut oder Empörung, etwa in Form einer selbstgenüßlichen Zurschaustellung von Betroffenheit, geben kann Aber es gibt eben keine Emotion, die wir einfach nur als Sentimentalität bezeichnen würden. Eine sentimentale Haltung ist immer eine kritikwürdige Abwandlung einer alltäglichen Emotion, die zu einem Zustand führt, der selbst gar nicht mehr als echte Emotion bezeichnet werden kann. In Wahrheit ist sie eine perverse Spielart der Selbstliebe und geht zuletzt auf die Unfähigkeit zurück, echte Emotionen zu empfinden. Ludwig Giesz (1960, 33 f.) schreibt ganz richtig: »Wir sprechen dem Sentimentalen gewöhnlich mit Recht echte Gefühle ab; wir meinen, daß er – paradoxerweise – Gefühle spiele.« Er bezeichnet Sentimentalität als »die genießende Bemächtigung eines Zustandsgefühls […], die den eigenen Jammer gebraucht, um ihn zu genießen. […] Der Sentimentale geht nicht auf im Gefühl, sondern im spielerischen Genuß. Er verwendet, gebraucht das Gefühl, statt von ihm erfüllt zu sein.« Auch Roger Scruton (1997, 486; Hervorh. i. O.) meint, eine sentimentale Person »is not so much feeling something as avoiding it. He is not feeling what he pretends to feel […]. Sentimental emotions are artefacts: they are designed to cast credit on the one who claims them.« Infolgedessen geht die Neigung zur Sentimentalität in der Regel übrigens auch mit einem eher kalten, stumpfen und phantasielosen Herzen einher: »The world of the Kitschmensch is a heartless world, in which emotion is directed away from its proper target towards sugary stereotypes […] Kitsch arises when the self replaces the other as the centre of attention […].« (Scruton 2009, 213) Oscar Wilde zufolge ist die sentimentale Person daher im Grunde ihres Herzens ein Zyniker: »[…] the sentimentalist is always a cynic at heart. Indeed sentimentality is merely the bank holiday of cynicism.« (Zitiert nach Tanner 2003, 95)
In einem zweiten Schritt soll nun untersucht werden, wie die Veränderung einer Emotion durch eine sentimentale Haltung zu beschreiben ist. Entscheidend hierfür ist eine reflexive Struktur der Sentimentalität, denn es ist gerade dieses reflexive Element, das einer echten Emotion abgeht (vgl. Giesz 1960, 54). Bernhard kann über den Tod von Christine traurig sein, und das wäre ein Beispiel für eine echte Emotion. Ein sentimentaler Doppelgänger von Bernhard – nennen wir ihn S-Bernhard – könnte aber seine Meinung, daß er über den Tod der 169 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Christine traurig ist, zum Anlaß für eine sentimentale Variante von Trauer – nennen wir sie S-Trauer – nehmen. Für S-Bernhard ist Christines Tod nur ein Vorwand oder ein willkommener Katalysator, der einen (letztlich perversen) reflexiven Vorgang in Bewegung setzt: Gegenstand der S-Trauer eines imaginären S-Bernhards wäre in diesem Fall nicht Christines Tod, sondern die Meinung, er sei über diesen Tod sehr traurig. Nicht der Tod seiner Freundin, sondern seine emotionale Reaktion auf dieses Ereignis wird also zum Gegenstand seines besonderen Interesses. Mit dieser selbstbezüglichen Haltung geht in aller Regel auch eine Störung des Weltverhältnisses der betreffenden Person einher. Ihre Fähigkeit zur Bewertung bestimmter Ereignisse und Situationen regrediert zu einem mehr oder weniger verfeinerten Narzißmus; sie ist nur noch an sich selbst interessiert und kann daher auch gar nicht mehr an bestimmten Ereignissen der Außenwelt oder Emotionen anderer Personen echten Anteil nehmen. In den Worten David Pugmires (2005, 113): »When my emotion itself, its delights and vicissitudes, becomes the object of my concern, then my capacity for valuational attitudes to the world is drastically diminished.« Es kann zwei Gründe für eine derartige reflexive Abwandlung und Verfälschung einer »normalen« Emotion geben: Die S-Emotion könnte zum einen mit einer lustvollen Empfindung einhergehen, und das entspricht dem Bestreben einer sentimentalen Person, die ganz wesentlich auf das Empfinden möglichst angenehmer Emotionen gerichtet ist (Savile 1982, 239). Die S-Emotion könnte zum anderen auch einen besonderen Wunsch befriedigen – etwa den Wunsch, sich als eine Person verstehen zu können, die zu bestimmten Emotionen in der Lage ist. In diesem letzteren Fall muß die S-Emotion selbst nicht unbedingt mit einer lustvollen Empfindung einhergehen. Für die begrenzte Zwecksetzung der vorliegenden Analyse können wir ruhig beide Motive für eine S-Emotion nebeneinander stehen lassen. Entscheidend ist eine andere Frage: Warum sollte sich S-Bernhard nicht auch in Form einer MetaEmotion darüber freuen, daß er über den Tod Christines traurig sein kann? Warum sollte er nicht den Wunsch hegen, eine Person zu sein, die in diesem Moment eine Emotion der Trauer verspürt? Den Wunsch zu einer gewissen emotionalen Kompetenz oder die Freude daran kann man ja auch als eines der Fundamente für unser Interesse an der Expressivität von Musik ansehen. Nur aus diesem Grund könnte man einer S-Person also noch keine Vorwürfe machen. Doch da die reflexive Struktur einer Emotion allein noch nicht das 170 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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entscheidende Problem ist, wird ein dritter Schritt für unsere Analyse des Phänomens notwendig sein. Emotionen – das ist weder eine große Neuigkeit noch ein ethisches Problem – können auch eine reflexive Struktur aufweisen und sich auf andere Emotionen beziehen (vgl. Abschnitt 4.1). So kann eine Person traurig darüber sein, daß sie beispielsweise ihrem Kind gegenüber aggressiv und wütend geworden ist. Das eigenartige Phänomen einer sentimentalen Emotion besteht aber darin, daß der eigentliche Gegenstand – also etwa die Emotion der Trauer, auf die sich S-Bernhard beziehen möchte – gar nicht vorhanden ist. S-Bernhard mag sich zwar freuen, weil er annimmt, er sei traurig. Sein Selbstbild mag dann intakt bleiben, wenn er denkt, er sei zu dieser Emotion fähig. Doch er täuscht sich gerade über sich selbst, denn in Wahrheit trauert er gerade nicht über Christines Tod. Er wäre vielleicht gerne traurig – selbst dies müssen wir nicht mit Gewißheit annehmen –, seine S-Trauer hat sich allerdings von einer echten Trauer und vom möglichen Gegenstand einer echten Trauer längst abgekoppelt. Christines Tod wäre der Gegenstand einer echten Trauer, aber der Gegenstand der S-Trauer ist nur noch ein bestimmtes Selbstbild. Eine echt empfundene Trauer würde die S-Trauer, um die es einer sentimentalen Person eigentlich geht, zuletzt nur stören. Sie würde der angestrebten lustvollen Empfindung womöglich noch im Wege stehen. Damit sind wir auf den Kern des Phänomens gestoßen: Sentimentalität besteht wesentlich in einer Selbsttäuschung in bezug auf die eigenen Emotionen, und diese Selbsttäuschung hat ihre wahre Ursache in dem Bestreben, ein bestimmtes Selbstbild zu kultivieren oder das eigene Gefühlsleben als Quelle angenehmer Empfindungen benutzen zu können. Eine S-Person, die häufig S-Emotionen empfindet, unterliegt also einer Illusion, die in ethischer Hinsicht deshalb kritikwürdig ist, weil sie sowohl der Verwirklichung eines guten Lebens als auch der Beachtung moralischer Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen entgegenstehen kann. Ein sentimentaler Mensch täuscht sich über seine eigene Unfähigkeit, wahre Empfindungen in bezug auf bestimmte Gegenstände zu empfinden. Seine mentalen Zustände sind keine echten Emotionen, weil sie die für Emotionen unabdingbare intentionale Ausrichtung auf Gegenstände in der realen Welt nicht besitzen. Deshalb kann man auch von einer defizitären Werterfahrung eines sentimentalen Menschen sprechen, dem es eigentlich nur darum geht, ein möglichst vorteilhaftes Selbstbild aufrechtzuerhalten. Der emotionale Zugang zu bestimmten Werten bleibt ihm dabei aber verschlossen, die 171 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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angemessene affektive Einstellung zu wichtigen Gütern und Übeln des Lebens wird er nicht ausbilden können. Darin liegt der gravierende ethische Defekt der Sentimentalität einer Person, wobei wir »ethisch« hier natürlich wieder in einem weiten Sinne des Begriffs verwenden müssen. Sentimentale Kunstwerke können wir nun als Kunstwerke bezeichnen, die uns zu einer S-Emotion als Antwort einladen. S-Kunst lädt uns also zu einem Selbstbetrug, zur Gratifikation eines bestimmten Selbstbildes ein, obwohl wir die betreffenden Emotionen gar nicht empfinden. Dabei nehme ich grundsätzlich an, daß man zwischen Kunstwerken und S-Kunstwerken unterscheiden kann. Nicht ausschließen möchte ich dabei, daß S-Personen auch unsentimentale Kunst auf eine sentimentale Art und Weise rezipieren können. Nur beruht die sentimentale Rezeption echter Kunst eben auf einer Inkompetenz oder einem Mißverständnis des Rezipienten. Ein S-Kunstwerk wird dagegen dann richtig verstanden, wenn die Einladung zu einer S-emotionalen Antwort attraktiv erscheint. Gerade weil sich etwa S-Musik in kompositionstechnischer Hinsicht auf einem hohen Niveau befinden und mit äußerst raffinierten und subtilen Mitteln vorgehen kann (vgl. Dahlhaus 1967, 63; Adorno 1984, 794; Scruton 1997, 384 ff.), fällt es manchmal nicht leicht, dieser Versuchung zu widerstehen. Da es aber gute ethische Gründe dafür gibt, eine solche Einladung abzulehnen, und außerdem die ästhetischen Meriten von Kunst unter anderem von der Attraktivität dieser Einladung abhängen – hier kann ich mich wieder auf Gauts Argument der verdienten Antwort beziehen –, führt die Sentimentalität eines Kunstwerks zu einem ästhetischen Defekt des betreffenden Werks. Schon Ludwig Giesz (1960, 72 und 74) hat auf diese Verschränkung von ethischen und ästhetischen Qualitäten hingewiesen: »Der Zusammenhang des Ethischen und Ästhetischen wird […] dadurch evident, daß der in die sinnliche Vordergrundsfassade des Kunstwerks Verliebte auch moralisch versagt: Er wird durch seine Isolation in der privaten Affektwelt unfrei und unwahr zugleich.« »Böse verdient ein solches Kitschsystem genannt zu werden, weil im Namen des Schönen der unendliche Freiheitsduktus jeder wahren Ethik aufgehoben wird.« Wir sehen auch hier bestätigt, daß die Schönheit sich zum Mißbrauch eignet. Für sich genommen ist sie weder eine Garantie für den hohen Wert eines Kunstwerks noch auch eine hinreichende Bedingung für eine wertvolle ästhetische Erfahrung.
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Doch gibt es auch Vertreter einer kognitivistischen Emotionstheorie, die sich – wie Robert Solomon – an einer Verteidigung der Sentimentalität gegenüber ihren Verächtern versuchen. Solomon läßt dabei das Verdikt gegen den Kitsch als schlechte Form der Kunst gelten, ist auch bereit, Kitsch als sentimental zu bezeichnen, wehrt sich jedoch vehement dagegen, die Sentimentalität als den entscheidenden Defekt von Kitsch anzusehen. Kitsch kann schlechte Kunst sein, aber diese Bewertung ist Solomon (2004, 139) zufolge auf rein innerästhetische Kategorien zurückzuführen und hat nichts mit einem ethischen Defekt zu tun: »Granted, kitsch may be bad art. Granted, it may show poor taste. But my question here is why it is the sentimentality of kitsch that should be condemned, why it is thought to be an ethical defect and a danger to society.« Für Solomon eignen sich die sentimentalen Eigenschaften eines Kunstwerks nicht nur nicht als Grundlage für eine ethische und ästhetische Kritik des betreffenden Werks, sondern er nimmt die Sentimentalität sogar gegenüber ihren Verächtern in Schutz und erhebt sie zu einer wertvollen Tugend. Hinter der Ablehnung der Sentimentalität wittert Solomon eine höchst bedauerliche Geringschätzung der Bedeutung der Emotionen für das menschliche Leben. Die mancherorts sehr populäre Ablehnung des Kitsches führt er deshalb auf den Umstand zurück, »that the ›high‹ class in many societies associates itself with emotional control and rejects sentimentality as an expression of inferior, ill-bred beings; and male society has long used such a view to demean the ›emotionality‹ of women« (ebd., 246). Er geht noch weiter und spricht von einem allgemeinen kulturellen Gegensatz zwischen dem gefühlskalten, berechnenden Norden bzw. Westen und dem gefühlsbetonten, warmherzigen Süden bzw. Osten. Die in kunstphilosophischen Kreisen grassierende Arroganz gegenüber dem Phänomen der Sentimentalität ist in seinen Augen nichts anderes als ein Mittel in der Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen, Protestanten und Katholiken, Europäern und Asiaten usw. um die soziale Vorherrschaft. Obwohl ich diesen recht undifferenzierten, pauschalen Behauptungen mit großer Skepsis gegenüberstehe, kann ich Solomons Apologie der Bedeutung der Emotionen im menschlichen Leben durchaus zustimmen. Sympathie kann man auch für seine Auffassung hegen, die arrogante Ablehnung emotional bedeutsamer Kunstwerke sei nur ein Symptom der Verarmung und Verrohung der Gefühle, der inzwi173 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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schen viele Menschen zum Opfer gefallen seien. Nur wenn er zur Verteidigung der Sentimentalität ansetzt, täuscht sich Solomon letzten Endes über die eigentliche Zielscheibe seiner Kritik. Denn es ist eine Sache, die emotionale Bedeutung der Kunst gegenüber den reinen Ästheten und Formalisten hervorzuheben, und eine ganz andere Sache, den Unterschied zwischen echter Kunst, die als ein Ausdruck von authentischen Emotionen verstanden werden kann, und S-Kunst, die nur zu einer emotionalen Selbsttäuschung einlädt, zu nivellieren. Ludwig Giesz (1960, 46) sieht das ganz richtig und schreibt, »die Totalherrschaft des Gefühls im Seelenleben eines Menschen (›Gefühlsmensch‹) ist noch nicht Sentimentalität«. Solomon verfehlt deshalb das Phänomen, um das es hier gehen sollte; und er sieht vor allem nicht, daß die Sentimentalität mit einer spezifischen Form der emotionalen Inkompetenz einhergeht und auf einer Selbsttäuschung beruht. Eine S-Person bedient sich ihrer Phantasie auf eine fragwürdige Weise, sie instrumentalisiert ihr Selbstbild für fragwürdige, sogar schädliche Zwecke – und bemerkt dabei nicht, daß ihr Gefühlsleben in Wirklichkeit mehr und mehr verarmt und zum bloßen Selbstgenuß verkümmert. Der entscheidende Fehler, den Solomon mit seiner Auffassung begeht, ist auf seine radikale Variante einer kognitivistischen Emotionstheorie zurückzuführen. Meint man nämlich, Überzeugungen seien schon eine hinreichende Bedingung für eine Emotion, kann man wohl – je nach Überzeugung, die einer Emotion zugrunde liegt – zwischen »wahren« und »falschen« Emotionen unterscheiden. Daß Emotionen indes auch phänomenale Zustände wie Lustempfindungen umfassen und deshalb auch durch falsche Formen des Empfindens korrumpiert werden können, kann aus dieser Perspektive nicht mehr wahrgenommen werden. Die Tatsache, daß wir sentimentale Emotionen nicht auf angemessene Weise in einer kognitivistischen Theorie beschreiben können, mag als zusätzliches Argument gegen eine solche Theorie dienen. Fassen wir kurz zusammen: Sentimentalität ist auf eine fragwürdige Form einer reflexiven Haltung gegenüber unseren Emotionen zurückzuführen. Die Sorge der sentimentalen Person gilt nicht mehr dem Gegenstand ihrer Trauer oder ihrer Freude, ihre Sorge gilt nurmehr ihr selbst. Sie sorgt sich nur um die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes, genießt ihre vermeintliche Emotionalität, verliert dabei aber den emotionalen Bezug zu ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen. Und sicherlich können auch viele Musikstücke einer solchen Haltung 174 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Vorschub leisten: Sentimentale Musik lädt den Hörer zum bloßen Selbstgenuß ein und verstellt ihm damit auch die Möglichkeit, sich um andere Dinge als nur um sich selbst zu kümmern. Obwohl dieser ethische – und in der Folge ästhetische – Defekt einiger Musikstücke in einem engen Zusammenhang mit ihrem expressiven Potential steht, gibt es neben der Sentimentalität noch andere Quellen, aus denen die ethischen Defekte eines Kunstwerks entspringen können. Insbesondere kann man etwa Vulgarität oder Obszönität als ethische Defekte von Kunstwerken bezeichnen (vgl. Savile 1982, 11. Sentimentality, Vulgarity, and Obscenity). Milan Kundera (2005, 67 ff.) hat sich mit den Unterschieden zwischen den beiden ästhetischen Übeln »Kitsch« und »Vulgarität« beschäftigt: In Zentraleuropa sei der Kitsch das größte ästhetische Übel (»le mal esthétique suprême«), und dieser Umstand finde seine Erklärung in der Romantik, die in dieser Hinsicht Exzesse gefeiert habe. In Frankreich, »faute d’une longue expérience du kitsch«, sei dagegen die Vulgarität das größte Übel in der Kunst. Ein milderes Urteil über die Vulgarität in der Musik fällt dagegen Eric Rohmer (1997, 19): »Die Tänze der barocken Suiten haben eine Erhabenheit, Eleganz und Leichtigkeit; im Vergleich dazu wiegen die Menuette Mozarts oder Haydns hundert Tonnen. […] Man könnte auch sagen, daß die Musik auf eine gewisse Weise an Innerlichkeit zunimmt, während sie an Spiritualität verliert.« Auf diese Weise könne uns die Musik mit niedrigen, weltlichen Stimmungen – kurz: mit der Vulgarität – bekannt machen. Gerade gegen Beethovens Musik, so Rohmer, wurde deshalb zuweilen der Vorwurf einer gewissen Vulgarität erhoben; ohne die pejorativen Konnotationen dieses Begriffs zu übernehmen, meint Rohmer, das Finale des Streichquartetts in a-Moll, op. 132, trage ein solches Epitheton durchaus zu Recht, und er sieht darin sogar eine besondere expressiv-ästhetische Qualität dieses Stücks (ebd., 212). Robert Pattison (1987, 4) zufolge ist dagegen die zeitgenössische RockMusik »the quintessence of vulgarity. It’s crude, loud, and tasteless.« Zwar definiert Pattison (ebd., 5) die Vulgarität als »the absence of cultivation«, aber er ist sehr viel mehr an einer möglichst genauen Analyse des Phänomens als »one incarnation of Romantic pantheism« (ebd., 4) als nur an einer pessimistischen Kulturkritik interessiert. Entgegen der Annahme vieler Pessimisten sei Rock-Musik keine soziale Gefahr, und auf das Handeln der Menschen habe sie gar keinen unmittelbaren Einfluß (ebd., 177), sondern stehe vielmehr in einem engen Zusammenhang mit amerikanischen Werten wie »democracy, pluralism, individualism, limited government, manifest destiny, and civil rights – life, liberty, and the pursuit of happiness« (ebd., 173). Pattison spricht auch von einer »correspondence between the principles of Amer-
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ican democracy and rock ideology« (ebd, 174). Zur Diskussion der Vulgarität in der Musik siehe ferner Holloway (2001, 15 ff.).
Wir müssen diese Überlegungen hier aber nicht vertiefen. Die ethischen Qualitäten von Musik sind auf einem breiten, bunten Spektrum angesiedelt, und wir können uns mit einer groben Beschreibung einiger Abschnitte dieses Spektrums begnügen. Halten wir statt dessen noch einmal den zentralen Punkt fest: Die ethische Bedeutung von Musik gründet in ihrem Beitrag zu exakten emotionalen Phantasien des Hörers. Diese Fähigkeit des Menschen ist nun zwar keine Voraussetzung für seine Handlungsfähigkeit, denn viele Menschen führen Handlungen aus, ohne auf die Folgen für sich und andere zu achten. Die emotionale Phantasie kann indes zur Orientierung unserer Lebensführung beitragen. Wir benötigen die Phantasie, um uns vorzustellen, wie die Inhalte eines guten Lebens aussehen und wie unsere Handlungen auf andere Menschen wirken könnten. Deshalb ist eine emotionale Basiskompetenz zumindest für die Rationalität unserer Lebensführung unverzichtbar. Wir sollten uns ein Bild davon machen können, mit welchen Emotionen wir selbst und andere Menschen auf eine bestimmte Handlung reagieren werden, und sollten daher auch ein Interesse daran haben, einen Sinn für neue emotionale Möglichkeiten zu kultivieren, ohne uns dabei allerdings vom freien Spiel der Einbildungskraft korrumpieren zu lassen. Denn dieser Sinn birgt auch große Gefahren; unsere Vorstellungen können uns in die Irre führen, und gerade sentimentale Kunst kann uns Emotionen vorgaukeln, die in Wahrheit lediglich einem Hang zur Rührseligkeit entgegenkommen. Wenn man der Ungenauigkeit mit Robert Musil (1978, 138) »eine erhebende und vergrößernde Kraft« zusprechen darf, wird es für die Ausbildung und Kultivierung der emotionalen Phantasie auch auf eine Genauigkeit der betreffenden Emotionen ankommen. 6 Eine bloße Zurschaustellung von Emotionen Zu Robert Musils »Utopie der Exaktheit« und dessen Begriff einer »phantastischen Genauigkeit« siehe neben Musil (ebd., 246 ff.) vor allem Bouveresse (2005/06). Allgemein zur Tugend der Genauigkeit vgl. Williams (2002, 6. Accuracy. A Sense of Reality) sowie daran anknüpfend Rinderle (2007, 208 ff.) und Tugendhat (2007, 97 ff.). Johann Georg Sulzer (2002, Lexikoneintrag zu »Schwulst«) spricht von der Bildung eines »scharfen« Gefühls, dem er die »Schwulst«, »ein wirkliches Unvermögen groß zu denken und zu empfinden« und »einer der ärgsten Fehler gegen den guten Geschmak«, entgegensetzt. Vgl. auch Nietzsche (Morgenröte, 4. Buch § 332 Der aufgeblasene Stil): »Ein Künstler, der sein hochgeschwollnes Gefühl nicht im Werke entladen und sich so
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trägt sicher nicht zu unserer emotionalen Sensibilität bei. Schon Arnold Schönberg hat auf diese Gefahr hingewiesen: »Man könnte jedoch mißtrauisch werden gegenüber der Aufrichtigkeit von Werken, die unaufhörlich ihr Herz zur Schau stellen; die nach unserem Mitleid verlangen; die uns einladen, mit ihnen von vager und unbestimmter Schönheit und von unbegründeten, grundlosen Gefühlen zu träumen; die übertreiben, weil zuverlässige Maßstäbe fehlen; deren Einfachheit in Mangel, Dürftigkeit und Trockenheit besteht […] Solche Werke demonstrieren lediglich das völlige Fehlen eines Hirns und zeigen, daß diese Sentimentalität einem ganz armen Herzen entspringt.« (Schönberg 1992, 170; meine Hervorh.)
Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen wird uns sogar dabei helfen können, zwischen wertvollen, echten Emotionen und bloßen »Gefühlchen«, verlogenen Zuständen wie dem »gehobenen Busen«, Sartres »mauvaise foi«, Heideggers »Uneigentlichkeit« und Jaspers »existentieller Unwahrhaftigkeit« (Giesz 1960, 26), zu unterscheiden. Unsere Phantasie bedarf einer Schulung, und die Kunst kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Gerade die Musik kann uns unter günstigen Umständen zur Reflexion unserer emotionalen Fähigkeiten anhalten und uns somit auch vor sentimentalen Versuchungen schützen: »All sentimentality«, schreibt Michael Tanner (2003, 109), »one might say, aspires to the condition of music. But much music is the surest safeguard we have against the temptations of sentimentality.« Sie kann uns vor diesen Versuchungen gerade deshalb gut schützen, weil sie gleichsam eine Art homöopathischen Impfstoff enthält, der einer besonderen Qualität der sentimenalen Zustande sehr ähnlich sieht: »Absolute Musik« kann keine Gegenstände repräsentieren, sie kann nicht die spezifischen Objekte der Emotionen benennen, die sie zum Ausdruck bringt. Dennoch ist sie keine Einladung zum puren Selbstgenuß, denn sie konfrontiert den Hörer mit einer persona, die sich um andere Dinge zu sorgen vermag als nur um ein möglichst vorteilhaftes Selbstbild. Die Qualifikation und Einschränkung dieser These auf günstige Umstände ist dabei sehr wichtig. Gewiß, Musik kann zur emotionalen Manipulation der Menschen verwendet werden; und gerade die
erleichtern, sondern vielmehr gerade das Gefühl der Schwellung mitteilen will, ist schwülstig, und sein Stil ist der aufgeblasene Stil.«
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Musik, die uns auf unmittelbare Weise emotional anspricht, kann den Hang zur Rührseligkeit nicht nur bedienen, sondern ihn sogar noch verstärken. Ludwig Giesz (1960, 48 f.) spricht sehr drastisch und anschaulich von der »Penetranz« und »Klebrigkeit« als Strukturmerkmale des Kitsches: »Die Penetranz des Kitsches ist eben auf den spezifischen Sog der Subjekt und Objekt vermanschenden Genüßlichkeit selbst zurückzuführen.« Nur Samuel Bekketts hohe Künstlerschaft erlaube es, »diesen qualligen, penetranten Zustand« (ebd.) zu transzendieren. Allgemein zum Verhältnis von Kitsch und Kunst siehe ferner Broch (1955) und Kulka (1996), zur Sentimentalität Savile (1982, 236 ff.), Moran (2001, 5.4 Paradoxes of Self-Censure), Pugmire (2005, 5. Sentiment and Sentimentality) sowie DeSousa (2009, 507 f.) und zur Sentimentalität in der Musik Scruton (1997, 485 ff.).
Aber wie läßt sich eine sentimentale Rezeption von Musik verhindern? Und wie kann man die Fähigkeit erwerben, der von sentimentaler Musik ausgehenden Verführung zu widerstehen? Sentimentale Musik verdient die emotionale Reaktion nicht, zu der sie uns mit ihrer verführerischen Haltung einladen will. Eine Kultivierung unserer emotionalen Phantasien sollte die Fähigkeit umfassen, gegen dergleichen Verführungen zum »kitschigen Selbstgenuß« (Giesz 1960, 46) gewappnet zu sein. Welche Möglichkeiten stehen aber der Musik zur Verfügung, um uns vor diesen Gefahren zu schützen?
3.6 Risse, Brüche, Fragmente Zur Beantwortung dieser Fragen empfiehlt es sich, noch einmal genauer zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden: Die sentimentale Person hat einerseits einen Hang zur Rührseligkeit und kann damit eine Illusion hegen, sich selbst zu verstehen und mit anderen Personen mitzufühlen. Ihr »Mitleid« mit anderen Menschen ist indessen im besten Falle eine Form des Selbstmitleids, und ihr emotionales Selbstverhältnis beruht auf einer bloßen Täuschung. Die sentimentale Person gibt andererseits oft ihrer Neigung nach, Grenzsituationen des Lebens zu banalisieren, ihre Bedrohungen zu verniedlichen und ihre Fremdartigkeiten zu leugnen. Sie hat einen perversen Drang, nur nach Lust, Harmonie und Schönheit zu suchen, wo eine andere, emotionale Antwort angemessen wäre. Sie ordnet den Wert einer emotionalen Reflexion von Grenzerfahrungen einem Interesse am bloßen Selbstgenuß unter. 178 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Einer der Wesenszüge der Sentimentalität besteht gerade in einer Verleugnung der Gebrochenheit und Fragmentierung, der Fremdheit und Bedrohlichkeit mancher Dimensionen der menschlichen Existenz: Ludwig Giesz (1960, 55 und 46) schreibt: »[…] die Fremde wird entweder idyllisch in die Hausmacherstimmung eingemeindet […] oder durch sentimentale Sehnsuchtsfäden, die ein einsames Herz spinnt, mit heimatlichem Herd, Försterhaus, Braut, Dorfkirchlein usw. eng verknüpft.« »Das Ingenium des kitschhaften Auges besteht in der Entdeckung rührender Aspekte sowie in der gleichzeitigen Verschleierung aller gegenteiligen Instanzen. Schon hieraus wird verständlich, daß die Hauptleistungen des Kitsches in der Entdämonisierung des Lebens bestehen, und zwar ausgerechnet da, wo jeglicher Augenschein dagegenspricht: Tod, Sexus, Krieg, Schuld, Not, Geburt, Gott usw.« Helmut Lachenmann (1996, 69) warnt auch vor der Versuchung, »sich in der alten Rumpelkammer der verfügbaren Affekte« wieder häuslich einzurichten. »Wer glaubt, expressive Spontaneität und der unschuldige Griff ins albgewährte Affekten-Reservoir mache jenen Kampf des gespaltenen Subjekts mit sich selbst überflüssig […], der hat sich künstlerisch selbst entmündigt. Er darf gerne einer Gesellschaft auf dem Schoß sitzen, die jeden ermuntert, der ihr bei ihrem Verdrängungsspiel sekundiert, zu sagen aber hat er nichts.« (Ebd.) Theodor W. Adorno (1984, 792) weist zusätzlich auf die ideologische Dimension von Kitsch hin: »Denn indem der Kitsch vergangene Formwesen den Menschen als gegenwärtig aufredet, hat er soziale Funktion: sie über ihre wahre Lage zu täuschen, ihre Existenz zu verklären, Ziele, die irgendwelchen Mächten genehm sind, ihnen im Märchenglanz erscheinen zu lassen. Aller Kitsch ist wesentlich Ideologie.«
Vor diesen Gefahren kann uns jedoch gerade die Kunst wieder in Schutz nehmen, indem sie uns eine Erfahrung der Gebrochenheit, der Fragmentierung und Fremdheit unserer Existenz zugänglich macht. Sie kann sich verweigern, das sentimentale Bedürfnis nach Selbstgenuß zu bedienen, und sie kann die Idylle, die manche Menschen gerne auch in der Musik antreffen möchten, mit Humor und feiner Ironie in Frage stellen oder gewaltsam zerstören. Milan Kundera (1994, 82 ff.) spricht beispielsweise von Franz Kafkas Kritik der »Herzlosigkeit hinter der von Gefühl überströmenden Manier«. Aber nicht nur Literatur, auch Musik kann eine solche Kritik sentimentaler Herz- und Hirnlosigkeit vornehmen und allen Versuchen, sie in den Dienst der Befriedigung des Selbstgenusses zu stellen, mit ihren eigenen Mitteln begegnen, indem sie sich einer leichten Genießbarkeit entzieht. Ja, sie kann den Hörer durch die Enttäuschung seiner Erwartungen auch frustrieren und ihm – man denke an Ligetis Lux aeterna für 16 Solostim179 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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men oder Lachenmanns Pression – geradezu physische Schmerzen zufügen. Musik kann mithin als Prophylaxe gegen das Laster der Sentimentalität wirken, und zwar dadurch, daß sie uns Erfahrungen der Gebrochenheit, der Fragmentierung und der Fremdartigkeit des Lebens ermöglicht. Dabei bin ich mir dessen durchaus bewußt, daß diese Möglichkeit auf günstige Umstände angewiesen bleibt, d. h. daß der Hörer ein Interesse an einem Verständnis des betreffenden Stücks mitbringt und extreme, mitunter auch unangenehme Erfahrungen zuzulassen bereit ist. Dagegen mag man einwenden, der Hörer müsse schon sehr anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllen, um aus der entsprechenden Musik überhaupt den gewünschten Gewinn zu ziehen. Aber mit solch anspruchsvollen Voraussetzungen scheint die Gefahr, daß er das Opfer eines bequemen Selbstbetrugs wird, ohnehin nur noch sehr gering. Kann die Musik also nur Eulen nach Athen tragen, und setzen ihre möglichen ethischen Wirkungen also bereits eine hohe emotionale Kompetenz voraus? Darauf wäre zweierlei zu erwidern: Zum einen vertrete ich keinen konsequentialistischen Standpunkt. Eine zur Sentimentalität neigende Person wird sich durch György Ligetis 1. Klavieretüde Désordre nicht in einen Menschen verwandeln lassen, der über ein komplexes und differenziertes Repertoire an Emotionen verfügt. Zum anderen meine ich, daß die Musik auch für einen verständnisvollen, emotional sensibilisierten Hörer noch ihren Sinn und Zweck erfüllen kann und nicht nur zur eigenen Selbstbestätigung dient. Der kompetente Hörer bringt ja nur einige Voraussetzungen mit, die es ihm erlauben, bei der Rezeption von Musik die entsprechenden Erfahrungen zu machen; das heißt aber nicht, er habe diese Erfahrungen bereits gemacht und könnte deshalb auf Musik verzichten. Oft wird nun behauptet, es sei vor allem die Neue Musik, die uns diese besonderen Erfahrungen von Rissen, Brüchen und Fremdheit vermitteln und uns auf diese Weise vor billigem, ideologisch heiklem Selbstgenuß schützen könne. Ohne mich hier auf das gefährliche Minenfeld der Interpretation einzelner Stücke begeben zu wollen, halte ich es aber nicht für ausgeschlossen, daß es auch in der Neuen Musik Beispiele für Kitsch gibt; und umgekehrt würde ich meinen, daß sich auch zahlreiche Beispiele für Werke aus der Musik des 17., 18. und 19. Jahrhunderts finden lassen, die solche Fremdheitserfahrungen artikulieren und reflektieren. Die Neue Musik ist also nicht das einzige Medium für den Ausdruck schwieriger, un-sentimentaler Emotionen, 180 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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und selbst wenn dem so wäre, gilt es zu beachten, daß die Erfahrbarkeit dieser schwierigen Emotionen doch nicht die einzige Quelle unserer Wertschätzung von Musik ist. Umgekehrt kann man nicht pauschal behaupten, U-Musik bediene lediglich unser Bedürfnis nach Magie, Kitsch und Sentimentalität. Die Antwort auf die Frage nach der Qualität eines Musikstücks hängt sicher oft von ethischen Erwägungen ab, aber nicht davon, aus welcher Epoche ein Musikstück stammt oder welcher Musikgattung es zugerechnet werden kann. Wie kann man nun genauer bestimmen, auf welche Weise die Musik den beiden oben genannten Pathologien – der Illusion, andere Personen zu verstehen, sowie der Neigung, Grenzsituationen des Lebens zu verharmlosen – vorbeugen kann? Nehmen wir wieder ein Beispiel aus der Literatur: Gegen Ende des Romans Schnee von Orhan Pamuk fragt der Erzähler beim Abschied am Bahnhof plötzlich einen seiner Protagonisten, was er schreiben solle, wenn er eines Tages einen Roman über die Ereignisse der letzten Tage in Kars, einem kleinen Ort im äußersten Osten der Türkei, verfasse. Dessen Antwort lautet: »Wenn Sie mich in einem Roman vorkommen lassen, der in Kars spielt, dann möchte ich dem Leser sagen, er soll nichts von dem glauben, was Sie über mich, über uns alle geschrieben haben. Keiner kann uns aus der Ferne verstehen.« (Pamuk 2005, 511) Den Einwand des Erzählers, es glaube sowieso keiner dem Autor eines Romans, läßt der Protagonist nicht gelten: »Um sich selbst klug, überlegen und human zu finden, werden sie glauben wollen, daß wir lächerlich und nett sind und daß sie uns so verstehen und sympathisch finden können. Aber wenn Sie das, was ich jetzt sage, schreiben, bleibt bei ihnen wenigstens ein Zweifel zurück.« (Ebd.) Daraufhin verspricht ihm der Erzähler, diese Worte in den Roman aufzunehmen. Im Gegensatz zur Literatur kann nun die Musik das Problem des Verstehens anderer Personen nicht explizit zum Thema machen. Aber sie hat vielleicht ihre eigenen Mittel, um dieses Problem in einer ästhetischen Erfahrung anschaulich und dadurch in einem gewissen Sinn auch »verstehbar« zu machen. Sie kann sich einer leichten Verstehbarkeit und Konsumierbarkeit dadurch entziehen, daß sie die Hörgewohnheiten des Rezipienten in Frage stellt. Sperrige Musik kann uns etwa das Problem des Verstehens anderer Personen in Form einer möglicherweise frustrierenden Hörerfahrung verständlich zu machen versuchen. Sie kann uns auf diese Weise vor Illusionen schützen und uns deutlich machen, daß wir es uns mit dem Verstehen anderer Personen nicht zu 181 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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leicht machen und wach bleiben sollten für die Unterschiede, die uns von anderen Personen trennen. 7 Nur durch die Phantasie, die die Kunst im allgemeinen und die Musik im besonderen beflügelt, kann man die besonderen Schwierigkeiten ermessen, die das Verstehen einer anderen Person mit sich bringen kann. Auch die Musik muß uns dabei nicht notwendig in einen emotionalen Rausch versetzen, auch die Musik kann uns eine Erfahrung von Brüchen und Fragmenten, von Distanz, Fremde, ja Kälte vermitteln. Musik ist daher nicht immer ekstatisch, sie kann eine gewisse emotionale Nüchternheit zum Ausdruck bringen und ihren Hörer zu einer entsprechenden Haltung einladen. Von »der Wirkung der Musik auf die Psyche« ausgehend unterscheidet Constantin Floros (2000, 48 f.) »die erregende, ekstatische, rauschhafte, ›dionysische‹ Musik einerseits und die beruhigende, besänftigende, maßvolle, ›apollinische‹ Musik andererseits«. Zur Illustration fügt er hinzu: »Außer Frage steht, daß Rauschhaftes, Ekstatisches und stark Gegensätzliches viel eher bei Richard Wagner, bei den Neudeutschen, bei Anton Bruckner, Richard Strauss und Gustav Mahler anzutreffen ist als etwa bei Robert Schumann, Felix Mendelssohn und Johannes Brahms.«
Schwierige Musik, die sich einer leichten Konsumierbarkeit entzieht, kann gleichsam eine Warnung aussprechen. Eine Fremdheitserfahrung könnte uns auf Lücken, Brüche und Risse unseres individuellen oder kollektiven Selbstverständnisses aufmerksam machen. Martin Seel spricht von einer »Affirmation der Kontingenz und Undurchdringlichkeit des eigenen Selbst«. Allerdings werde das »Verweilen bei der Fremdheit des Eigenen« nur durch »ein Verweilen bei der Besonderheit eines anderen« möglich (1996, 269; vgl. allgemein zum Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdverstehen Ricoeur 1990, 10.3 Ipséité et altérité). Gerade die Frustration infolge der Schwierigkeit des Verstehens oder die Unzugänglichkeit eines Musikstücks kann eine angemessene und vom Werk selbst verlangte Antwort sein. Man müßte hier genauer von einer Meta-Antwort sprechen, denn die Frustration ist Zur Kultivierung eines Bewußtseins der Verschiedenheit von Personen siehe insbesondere Cavell (1976, 193): »Art is often praised because it brings men together. But it also separates them.« Und speziell über moderne Kunst schreibt Cavell (ebd., 229): »It promises us, not the re-assembly of community, but personal relationship unsponsored by that community; not the overcoming of our isolation, but the sharing of that isolation – not to save the world out of love, but to save love for the world, until it is responsive again.« Vgl. ähnlich Lachenmann (1996, 224) sowie Bicknell (2009, 92 f.).
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eine Reaktion auf die Ungeduld, das Mißvergnügen und das Ausbleiben eines leichten Verstehens. Die (falsche) Annahme, man habe sich selbst oder eine andere Person verstanden, ist manchmal nur auf den (sentimentalen) Wunsch zurückzuführen, ein Selbstbild zu kultivieren, das unter anderem auch Elemente der Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und des Verständnisses für die Bedürfnisse anderer Personen enthält. Wir sehen jetzt auch, daß diese Form der Sentimentalität gar nicht auf einem Überschuß oder einer bloßen Fehlsteuerung der emotionalen Phantasie beruht, sondern vielmehr auf einen eklatanten Mangel an Phantasie zurückgeht. Die sentimentale Person kann sich selbst nicht in die Augen sehen, und sie kann auch die Emotionen und Bedürfnisse anderer Personen, insofern ihre Interessen und Emotionen von ihren eigenen abweichen, gar nicht richtig imaginieren – und das nur aus dem Grund, weil die angemessene Vorstellung dieser Dinge auch höchst unangenehme Konsequenzen hätte. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Aspekt: Auch drastischen Grenzsituationen geht die sentimentale Person lieber aus dem Weg. Sie verklärt solche Ereignisse zur Idylle, weil sie in ihrem emotionalen Repertoire keine angemessene Antwort auf die Herausforderungen ihrer Existenz finden kann. Von einem besonderen Reichtum ihrer emotionalen Phantasie kann man dabei wahrlich nicht sprechen. Von Beethovens Marcia funebre über Mahlers 5. Symphonie bis hin zu Ligetis Requiem könnte man nun zahlreiche Beispiel anführen, wie sich die Musik solchen Versuchen zur Verharmlosung und Verniedlichung von Grenzsituationen entziehen kann. Sicherlich gehen die Wertvorstellungen der Menschen auseinander und auch die Situationen, mit denen sie konfrontiert werden, lassen sich nicht immer vergleichen. Auf den Tod und die Endlichkeit des Daseins, auf den Verlust von wichtigen Menschen oder auf das Unrecht, das man von anderen Menschen erfährt, kann man ganz unterschiedlich reagieren: Man kann versuchen, seinen Schmerz mit Würde und Gelassenheit zu tragen, vielleicht bleibt aber auch nur die Resignation oder die totale Verzweiflung. Man kann dem Unrecht mit bitterem Sarkasmus begegnen, aber auch mit der Hoffnung auf Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung in einer anderen Welt. Es kommt wie immer auf den besonderen Fall an, und so läßt sich schwerlich auf allgemeine Weise bestimmen, welche emotionale Reaktion jeweils angemessen erscheinen wird. Wichtig ist an dieser Stelle nur der Hinweis, daß die Musik über 183 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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ein nuanciertes Spektrum zum Ausdruck verschiedener Emotionen verfügt, die diesen Situationen jeweils angemessen erscheinen können. Der Mensch muß seine Zuflucht jedenfalls nicht in der Idylle suchen und kann sich auch schmerzhaften Grenzsituationen stellen, indem er ein möglichst umfangreiches Repertoire an möglichen Emotionen kultiviert. Dabei bin ich übrigens nicht der Meinung, daß solche Grenzsituationen notwendig immer nur schmerzhaft sein müssen. Vielmehr meine ich, daß es auch Situationen oder Ereignisse geben kann, die gute Gründe zur Freude und zu anderen positiven Emotionen liefern. Deshalb gibt es keinen Anlaß dafür, nur der Erfahrung und Bewältigung von negativen Emotionen eine besonders hohe Bedeutung zuzuschreiben und dann etwa dem Ausdruck tragischer Emotionen eine privilegierte Stellung einzuräumen. Zu einer Veränderung der Diagnose nötigt diese Einsicht freilich nicht: Manche Personen scheinen unfähig zu sein, tiefe Freude oder tiefe Lust zu empfinden, und suchen deshalb Zuflucht in einer banalen, süßlichen und schalen Idylle, die sie der Möglichkeit einer angemessenen emotionalen Reaktion enthebt (vgl. Pugmire 2005, 2. Profundity in Emotion). In einem Punkt scheint auch die Entwicklung in verschiedenen Kunstgattungen des 20. Jahrhunderts zu konvergieren: darin nämlich, daß die Ausbildung der Identität einer Person immer nur auf einer brüchigen, fragilen Grundlage möglich ist und ein spontaner und unreflektierter Ausbruch von Emotionen daher unglaubwürdig wirkt und den Verdacht eines Selbstbetrugs oder einer manipulativen Absicht hervorruft. Sicher reichen solche Zweifel an der Transparenz des Bewußtseins weit ins 18. und 19. Jahrhundert zurück, und obwohl also der Zweifel an falschen Autoritäten die Moderne seit ihren Anfängen begleitet, kann man sagen, daß er sich in den letzten 100 Jahren noch zugespitzt und in den verschiedenen Kunstgattungen seinen Niederschlag gefunden hat. In seiner Untersuchung über den Roman des 20. Jahrhunderts unterscheidet Jean-Yves Tadié (1990, L’invasion de l’intériorité, 40 ff. und Le personnage comme objet: le triomphe de l’extériorité, 57 ff.) zwei Strategien, wie etwa Literatur auf diese krisenhafte Situation reagiert: Sie kann entweder das Stilmittel des inneren Dialogs auf die Spitze treiben und dann zwischen verschiedenen inneren Perspektiven hin- und herwechseln (Faulkner), das Geschehen völlig in den Strom des Bewußtseins einer Person ohne fixen Bezugspunkt auflösen (Woolf, Joyce) oder zuletzt noch die Inhalte eines Bewußtseins in Frage stellen (Beckett). Sie kann aber auch eine diametral entgegengesetzte
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Strategie verwenden und – in bester behavioristischer Manier – die subjektive Perspektive völlig zugunsten einer rein äußerlichen, objektivierenden Darstellung aufgeben, nur noch das äußere Verhalten von Personen beschreiben (Dos Passos, Hemingway, Camus) oder die Personen als Tiere oder Sachen (Kafka) erscheinen lassen. Im nouveau roman (Robbe-Grillet) treten Personen gleichsam nur noch als Statisten im Rahmen von Vorgängen auf, die überhaupt keinen Raum mehr bieten für handelnde oder leidende Subjekte.
Natürlich liegt nun die Frage nahe, ob diese Entwicklungen auch in der Musik des 20. Jahrhunderts anzutreffen sind. Die Musik von Claude Debussy oder Erik Satie, dann vor allem die Neoklassik, die Musik von Pierre Boulez und John Cage oder auch die minimalistische Musik von Steve Reich und Philip Glass kann man demgegenüber in die Nähe der zweiten, objektivierenden Strategie rücken. Und von der Spätromantik führt wohl eine mehr oder weniger kontinuierliche Traditionslinie über den frühen Arnold Schönberg und Anton von Webern bis zu Helmut Lachenmann, die man in der Nähe der ersten, radikal subjektivistischen Strategie sehen könnte, die immer noch an einer Artikulation und Reflexion der Innenperspektive des Subjekts interessiert bleibt – wenn auch in gebrochener und pluralistischer Form. 8 Dies stellt natürlich nur ein äußerst grobes Raster dar, um eine facettenreiche Entwicklung der jüngeren Musikgeschichte zu verstehen und mit parallelen Tendenzen in anderen Künsten zu vergleichen. Mit der Berücksichtigung dieser Entwicklungen, und allein darauf kommt es mir hier an, wird meine Hauptthese nicht in Frage gestellt, sondern in mehrfacher Hinsicht bestätigt. Die expressive Gestikulation imaginärer Personen steht heute vor neuen und besonderen Schwierigkeiten, und die beiden Strategien gehen mit diesen Problemen auf unterschiedliche Weise um: Entweder zeigen sie die Gesten und verwehren dem Rezipienten die Identifikation, indem nur noch äußerliche, Siehe zum einen Hatten (2004, 232), der das Finale von Beethovens Sonate in C-Dur für Klavier und Cello, op. 102/1, »as an inner dialogue within a singular agent or protagonist« bezeichnet sowie ähnlich Massow (2001, 259) über C. Ph. E. Bach. Siehe zum anderen McClary (1991, 150) über Madonna: »Madonna’s art itself repeatedly deconstructs the traditional notion of the unified subject with finite ego boundaries. Her pieces explore […] various ways of constituting identities that refuse stability, that remain fluid, that resist definition.« McClary übersieht allerdings, daß das angeblich dekonstruktive Potential nicht mit den recht konventionellen musikalischen Mitteln übereinstimmt; als integer (vgl. Abschnitt 2.4) wird man Madonnas Musik daher nicht bezeichnen können.
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leere Formeln vorgeführt werden, die keine Emotionen mehr enthalten und keine emotionalen Resonanzmöglichkeiten mehr bieten. Oder sie fordern eine vollständige Identifikation des Rezipienten, indem sie eine überbordende Fülle von Emotionen ausdrücken, dem Rezipienten dabei aber die Möglichkeit einer Abgrenzung verwehren. Die Emotionen gehen fließend ineinander über, es scheint keine klaren Unterschiede mehr zu geben, und auch die Ströme des Bewußtseins verschiedener Personen scheinen ineinander zu verschmelzen, so daß die Möglichkeit der Zuschreibung bestimmter mentaler Zustände zu bestimmten Individuen zunehmend in Frage gestellt wird. In den Worten Robert Musils (1978, 150): »Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? […] wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn ist, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er?! Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt […].« Zum Ausdruck einer »affektiven Befremdung« im modernen Roman von Gustave Flaubert bis Imre Kertész vgl. auch Koppenfels (2007).
Auch der emotionale Ausdruck in der Musik erscheint entsprechend der ersten Strategie in manchen Fällen auf ein Minimum verknappt und zugespitzt, wie etwa in Anton von Weberns 6 Stücke für Orchester oder Salvatore Sciarrinos Infinito nero. Jeder Ansatz einer expressiven Geste wird zwar sofort im Keim erstickt, dennoch gewinnt diese Musik – und zwar gerade wegen der Abwesenheit jeder traditionellen Gestik, die in der Gefahr steht, zum leeren, nichtssagenden Klischee zu erstarren, und durch eine »in den einzelnen Ton zurückgeschrumpfte Expressivität« (Lachenmann 1996, 26; meine Hervorh.; vgl. ähnlich Ligeti 2001, 40) – eine ganz neue emotionale Intensität. Dabei muß eine Erfahrung von Fremdheit nicht notwendig schwer verständlich sein, sie ist einfach nur nicht besonders vertraut, läßt sich aber doch gut nachvollziehen. Trotz aller Fremdartigkeit bringt etwa Salvatore Sciarrinos Il suono e il tacere auf eine intensive Art und Weise eine ganz spezifische und recht einfach verständliche emotionale Haltung zum Ausdruck, die uns auf einem anderen Wege nicht zugänglich wäre. Freilich ist ein solcher Ansatz immer erst vor dem Hintergrund einer Theorie der Expressivität von Musik verständlich, die diese Expressivität als Geste einer imaginären Person begreift. Zwar ist mit deren Expressivität auch die Gestikulation der imaginären Person komplexer geworden; daß ihr jedoch eine wichtige ethische Rolle bei der 186 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Bewertung unseres eigenen Lebens zukommt, das wird durch diese Anmerkungen noch einmal untermauert. Die These, daß Musik in ethischer Hinsicht als eine Schule der emotionalen Phantasie verstanden werden kann, läßt sich gerade auch durch die jüngeren Entwicklungen in der Musik erhärten. Fremdartige, »schwierige« Musik kann uns dabei helfen – um mit Worten aus George Sands Rezension von Gustave Flauberts Salammbô (abgedruckt in: Flaubert 1979, 363) zu sprechen –, unseren »warmen, kleinen Wintergarten« zu verlassen, an Bord des Herzens einer musikalischen persona zu gehen und »im Luftballon der Phantasie« zum Mond und zu den Sternen zu fliegen. Anders formuliert: Musik kann uns ein besonderes Wissen darüber vermitteln, wie sich unter Umständen sehr weit entfernte mentale Zustände anfühlen, und uns dabei behilflich sein, unser emotionales Repertoire zu erweitern und uns auf Situationen einzustellen, von denen wir uns auf andere Weise gar keine rechte Vorstellung machen könnten. Vor allem sollte nun klar sein, daß sich die ethische Bedeutung von Musik nicht in der Beruhigung nervöser Großstädter oder der Vertreibung von Obdachlosen und Drogensüchtigen aus Bahnhöfen und Fußgängerzonen erschöpfen wird. Mit der Expressivität von Musik und ihrer inneren Bedeutung hat diese externe Funktionalisierung nicht nur nichts zu tun; im schlimmsten Fall kann sie sogar zu einer Erosion der musikalischen Sensibilität beitragen und eine Haltung befördern helfen, für die Musik nur noch als Mittel zur Selbst- oder Fremdmanipulation zweckdienlich erscheint. Und das würde zur Folge haben, daß die expressiven, ethischen und ästhetischen Dimensionen einer Kunstgattung verloren gehen, die mit den besonderen Möglichkeiten zur Spiegelung unseres Selbstverständnisses einhergehen.
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Musik kann einen Beitrag zur Ausbildung und Entwicklung der emotionalen Phantasie des Menschen leisten. In dieser Möglichkeit, die sich aus den expressiven Eigenschaften von Musik herleiten läßt, ist auch ihre wichtige ethische Bedeutung begründet. Wenn es zusätzlich richtig ist, daß der ästhetische Wert eines Kunstwerks von seinen ethischen Qualitäten abhängen kann, so ist eine Untersuchung der ethischen Qualitäten für die ästhetische Wertschätzung von Musik relevant. Ziel des vorliegenden Kapitels ist nun die Betrachtung einer zweiten Möglichkeit: Während die von der Musik ausgehenden Anregungen zur Phantasie in erster Linie eine Erweiterung unserer emotionalen Kompetenzen zur Folge haben können, lohnt es sich, über verschiedene Möglichkeiten zu deren Reflexion und Vertiefung – und zwar durch die Spiegelung unseres Selbstverständnisses im Medium der Musik – nachzudenken. Schon mancher ist mit George Sand im Luftballon der Phantasie zum Mond oder zu den Sternen aufgebrochen und hat dann nicht mehr den Weg zurück zur Erde gefunden. Der utopische Gehalt von Phantasieprodukten birgt ja immer die Gefahr, nur als ein Instrument zur Flucht vor einer schlechten Wirklichkeit verwendet zu werden. Würde sich unsere Untersuchung aber nur auf diese pathologische Seite der Utopie beschränken und dabei deren konstitutive Funktion vernachlässigen, müßte sie deren Potential zur Reflexion und Veränderung unseres Lebens und unserer sozialen Wirklichkeit übersehen (vgl. v. a. Ricoeur 1986, 16). Als Personen legen wir jedenfalls nicht nur Wert auf die Bekanntschaft mit einer maximalen Anzahl verschiedener Emotionen, wir sind auch an der Ausbildung und Ausübung einer Fähigkeit zu ihrer Reflexion interessiert. Es kann uns somit nicht nur um die Kenntnis eines umfassenden Spektrums verschiedener emotionaler Möglichkeiten gehen, sondern wir wollen darüber hinaus unser reales emotionales Leben so gestalten, daß es sowohl unserem Wunsch nach einem guten Leben als auch den Forderungen der Moral mög188 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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lichst gerecht wird. Und zur Erreichung dieses Ziels brauchen wir geeignete Medien, die uns eine Betrachtung und Überprüfung unserer realen emotionalen Existenz erlauben. Mit der Musik, so jedenfalls lautet meine These, verfügen wir genau über ein solches Medium, in dem wir unser Selbst gleichsam wie in einem Spiegel betrachten können. Der Begriff »Spiegel« – vielleicht wäre hier der Begriff »Echo« besser geeignet – ist dabei in zweifacher Hinsicht nur ein Notbehelf: Zum einen ist er eine visuelle Metapher, die hier für die Beschreibung eines akustischen Phänomens verwendet wird, und zum anderen enthält das reflexive Potential von expressiver Musik über eine nur passive Abbildung der Gegenstände hinaus die Möglichkeit zur kreativen Neu- und Umgestaltung unserer Emotionen. Was wir in diesem »Spiegel« dann wahrnehmen können, mag uns gefallen oder mißfallen. Jedenfalls resultiert daraus eine weitere spezifische Möglichkeit der ethischen Bedeutung von Musik, die insbesondere von den höherstufigen, komplexen Formen der musikalischen Expressivität abhängt. In diesem Kapitel möchte ich deshalb eine Antwort auf die Frage geben, wie Musik zur Artikulation und Reflexion unseres Selbstverhältnisses beitragen kann. Einleitend möchte ich zu diesem Zweck noch einmal die Frage aufwerfen und beantworten, auf welche Weise die emotionalen Antworten, die uns von einer musikalischen persona angesonnen werden, verstanden und bewertet werden können (4.1). Anschließend gehe ich auf drei ausgewählte Modi der musikalischen Reflexion von Emotionen ein, die man vielleicht sogar als paradigmatische Formen des emotional geprägten Selbstverhältnisses verstehen kann: Zunächst gehe ich den Grundlagen und Gestalten des musikalischen Humors nach (4.2), dann wende ich mich der tragischen Dimension von Musik zu (4.3), und zuletzt weise ich auf die möglichen religiösen Gehalte von Musik hin (4.4). Diese drei Modi der musikalischen Reflexion von Emotionen gehen sicher über einen bloßen Ausdruck von einzelnen Emotionen hinaus und sollen vielmehr aufzeigen, wie wir in der Musik und durch die Musik ein umfassendes Selbst- und Fremdverständnis artikulieren können. In einem Resümee fasse ich die wichtigsten Resultate des Kapitels zusammen und leite zur Frage des letzten Kapitels über: Durch ihre expressiven Qualitäten ist die Musik ein geeignetes Medium zur Artikulation und Reflexion unserer emotional geprägten Werteinstellungen in bezug sowohl auf unser eigenes Leben als auch auf unsere soziale und politische Existenz (4.5). 189 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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4.1 Reflektierte Emotionen Musik kann unterschiedliche Gefühle zum Ausdruck bringen und kann dies auf unterschiedliche Arten und Weisen tun. Deshalb ist es notwendig, zwischen verschiedenen Formen und Gestalten der musikalischen Expressivität zu unterscheiden. Wichtig ist dabei vor allem, eine grundlegende Unterscheidung zwischen einfachen und komplexen Formen der Expressivität im Auge zu behalten (vgl. Levinson 1997, 146; 2006, 206; Rinderle 2010, 5.6 Komplexe Expressivität): Musik kann Freude und Trauer ausdrücken, wobei Freude und Trauer zu den Basisemotionen zählen, die man unmittelbar in einem Gesicht, aber auch in einer musikalischen Passage wahrnehmen kann; dabei ist es heute unstrittig, daß man Musik einfache expressive Eigenschaften wie »freudig« oder »traurig« zuschreiben kann. Tatsächlich kann man aber die Frage aufwerfen, ob dieser Umstand allein schon unsere hohe Wertschätzung von Musik begründen kann. Ich würde vermuten, daß unser Interesse an Musik als Kunst eher auf komplexe Formen ihrer Expressivität zurückzuführen ist. Musik vermag aber nicht nur fröhlich und traurig zu sein; sie kann darüber hinaus auch humorvoll und tragisch sein. Humor und Tragik sind emotional geprägte Haltungen, die über einfache Emotionen hinausreichen und selbst wiederum Bewertungen von primären Emotionen vornehmen. Man kann sie deshalb als emotional geprägte Metaeinstellungen bezeichnen, die man nicht unmittelbar in einem Gesichtsausdruck oder in einer kurzen Passage eines Musikstücks wahrnehmen kann. Von der umfassenden formalen Anlage eines Musikstücks ausgehend kann der Hörer auf das Vorliegen solcher übergeordneten Eigenschaften schließen. Musik lädt uns dieser Vorstellung zufolge nicht nur zu einer emotionalen Antwort ein, sie lädt uns vielmehr zu einer emotional gefärbten Bewertung bestimmter einfacher Emotionen wie Trauer oder Freude ein. Sie kann bestimmte Emotionen in diesem oder jenem »Licht« – und wieder bediene ich mich einer visuellen Metapher – präsentieren, und sie kann mithin auch die Frage nach der Angemessenheit bestimmter Emotionen zu ihrem ureigensten Thema machen. In diesem Abschnitt möchte ich drei relativ allgemeine Möglichkeiten zur Reflexion unserer Emotionen untersuchen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, auf diese Weise das ganze Spektrum der ethischen Bedeutung von Musik abzudecken: die humorvolle, die tragische 190 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Reflektierte Emotionen
und die religiöse Dimension von Musik. Obwohl ich meine, daß mit diesen drei Möglichkeiten zumindest ein recht breites Spektrum der ethischen Relevanz von Musik abgedeckt ist, geht es mir nicht um eine systematische Betrachtung; anhand einer genaueren Betrachtung dieser drei Dimensionen möchte ich vielmehr die Erträge aus den Überlegungen früherer Kapitel für eine Anwendung auf die ethische Analyse von Musik deutlich machen. Ob mit diesen drei Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung schon das ganze Spektrum der musikalischen Reflexion von Emotionen abgedeckt ist, kann ich dabei offen lassen. Jedenfalls wird man mir zugestehen, daß mit dem Humor, der Tragik und der Religiosität drei besonders bedeutsame Metainstanzen zur Reflexion von Emotionen benannt sind. Und zweifellos sind diese Kategorien ihrerseits wieder sehr eng mit der Ausbildung bestimmter emotionaler Fähigkeiten des Menschen verknüpft. Ein humorvoller Mensch wird etwa seine Wut oder seinen Ärger auf andere Weise beurteilen als ein religiöser Mensch, und eine tragische Sicht der Dinge wird einen anderen Blick auf positive Emotionen wie Freude und Heiterkeit erfordern als etwa eine humorvolle Stimmung. Ganz grob und ohne einer genaueren Klärung dieser Begriffe schon vorzugreifen, kann man einleitend feststellen, daß der Humor eher eine positive, optimistische emotionale Grundhaltung zum Ausdruck bringt, die Tragik dagegen eher in Zusammenhang mit einer negativen, pessimistischen Grundhaltung gebracht wird. Obwohl die Haltung des Tragischen einen Bezug zu einer blinden Schicksalskraft enthält, sind diese beiden Grundhaltungen zunächst im Bereich des Zusammenlebens von Menschen angesiedelt. Im Gegensatz dazu enthalten religiöse Emotionen eine spezifische Vermischung von positiven und negativen Emotionen und weisen darüber hinaus aber vor allem einen Bezug zu einer überirdischen, transzendenten Instanz auf, die sowohl die individuelle Sorge um ein gutes Leben als auch die Versuche der Errichtung gerechter Institutionen begrenzen und relativieren wird. Das Zusammenspiel der drei Kategorien läßt sich an einigen Beispielen umreißen. Manche religiösen Gefühle werden wohl manche Formen von Humor ausschließen; ein sarkastisch-verbitterter Sinn für Humor etwa läßt sich nicht leicht mit Emotionen wie Nächstenliebe und Hoffnung versöhnen. Doch gerade mit einer gutmütig-gelassenen Form des Humors lassen sich manche religiöse Forderungen dann wieder sehr gut vereinbaren. Andere religiöse Haltungen werden um191 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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gekehrt nur ein begrenztes Verständnis für die tragische Wertung des Leidens als eines unverdienten Schicksals aufbringen können, wenn nicht überhaupt die tragische und die religiöse Weltsicht einander ausschließen. 1 Obwohl das tragische Leid und das humorvolle Lachen in vielen Fällen nicht weit voneinander entfernt sein mögen, wird man doch nicht jede Form von Humor in einer tragischen Weltauffassung akzeptieren können. Alfred Brendel (2005, 147) schreibt: »Humor steht so in einer Beziehung zum tragischen Untergrund des Lebens, über den er sich lachend oder lächelnd erhebt.« Er bezeichnet den Humor als »Kehrseite des Erhabenen«, als den Ort, »wo die […] Respektlosigkeit der Würde ein Gesicht schneidet« (ebd., 150). Und er weist darauf hin, daß der Humor (etwa eines Haydn oder eines Beethoven) in aller Regel nicht mit der sinnlichen Schönheit des Klanges (etwa bei Mozart) in Einklang zu bringen sei (ebd., 147 f.). Auch Robert Schumann (1914, 114) meint, »im idealischen Mozart« ließen sich weniger musikalische Scherze als bei Haydn finden.
Mit diesen drei Kategorien sind also durchaus alternative Möglichkeiten zur Reflexion von Emotionen angesprochen. Ohne diese Optionen ordnen oder gar hierarchisieren zu wollen, soll hier die Feststellung genügen, daß mit diesen drei Kategorien jedenfalls drei wichtige Formen der emotionalen Reflexion der menschlichen Existenz benannt sind. Gerade die Erfahrung von Musik kann uns die Grenzen des Versuchs einer begrifflichen Fixierung dieser Reflexionsinstanzen aufzeigen, zumal diese ohnehin in allen möglichen Mischformen auftreten können. So schreibt etwa Eric Rohmer (1997, 201) über Beethovens Streichquartett Nr. 14 in cis-Moll, op. 131: »Ich sehe überhaupt nicht ein, wie man es als traurig bezeichnen könnte, genausowenig wie als fröhlich. Vermöge seines Überflusses steht es über den Kategorien von Zu den Unterschieden zwischen einer »tragischen Ethik« und einer untragisch-religiösen – bzw. in deren Nachfolge: modern-rationalistischen – Ethik Harris (2006, 3 ff. und 21): »What brings tragedy to center stage are two variables: a sense of high value and a belief that high value is pervasively and perpetually vulnerable to destructive forces.« (Ebd., 3) Siehe ferner Bouscant (2003, 21): »Le désespoir et l’impossibilité d’être heureux caractérisent la condition de l’homme confronté au tragique. Celui-ci se découvre soudain privé du soutien de toute transcendance bienveillante.« Allerdings schließt der begriffliche Unterschied zwischen Tragik und Religiosität die Möglichkeit ihrer Vermischung nicht aus. Zur Religiosität der Streichquartette Schostakowitschs siehe wieder Bouscant (ebd., III.3.3 L’émanation d’une religiosité) und zum Verhältnis von antiker Tragik und christlichem Glauben in den Opern Richard Wagners vgl. Scruton (2004, 6. Tragedy and Sacrifice).
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Traurigkeit und Fröhlichkeit, obschon ich mich, wenn zwischen beiden gewählt werden müßte, der Fröhlichkeit zuneigen würde.« Ein Punkt muß an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich hervorgehoben werden: Wenn ich in der Folge von humorvoller, tragischer und religiöser Musik spreche, so geht es mir wieder einmal nicht um die empirischen Wirkungen eines bestimmten Musikstücks. Zwar werden expressive Qualitäten von Musik beim kompetenten Hörer auch entsprechende emotionale Reaktionen hervorrufen. Dennoch ist die empirische Wirkung eines Musikstücks nicht das ausschlaggebende Kriterium für das Vorliegen von musikalischem Humor, musikalischer Tragik oder musikalischer Religiosität.
4.2 Musikalischer Humor Beginnen wir mit dem musikalischen Humor und versuchen zunächst, die damit einhergehenden philosophischen Probleme möglichst genau einzugrenzen. Dabei setze ich voraus, daß wir auf der einen Seite an einem klaren Begriff des musikalischen Humors und auf der anderen Seite an einer klaren Vorstellung der allgemein ethischen Bedeutung des musikalischen Humors interessiert sind. Es wird also nicht darum gehen, möglichst viele Beispiele für musikalischen Humor anzuführen und anhand dieses Materials dann die eine oder andere Verallgemeinerung vorzunehmen. 2 Die Identifikation und Beschreibung eines Musikstücks als humorvoll setzt einen solchen Begriff schließlich immer schon voraus. Was weiterhin die ethische Bedeutung des musikalischen Humors anbelangt, so geht es nicht um dessen kausale Wirkung. Auch wenn eine humorvolle Dimension eines Musikstücks als eine antwortabhängige Eigenschaft verstanden werden sollte, so ist mit der Antwort des Rezipienten immer die angemessene Antwort eines kompetenten Rezipienten gemeint. Humor kann nämlich als eine Art der – emotional gefärbten – Bewertung unserer Wünsche und Wertvorstellungen Für Beispiele von musikalischem Humor vgl. Schumann (1914, 22. Das Komische in der Musik, 112 ff.), Lissa (1969, 104 ff. und 130 ff.), Fisher (1974), Daschner (1986, 3. Autonomer musikalischer Humor), Kinderman (1987, V. The Importance of Parody) v. a. über Beethovens Diabelli-Variationen, Stille (1990), Lister (1994), Schadendorf (1995), Brendel (2005, Das umgekehrte Erhabene I. Gibt es eigentlich lustige Musik? und Das umgekehrte Erhabene II. Beethovens Diabelli-Variationen) und Burnham (2005).
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verstanden werden, und vor diesem Hintergrund läßt sich auch verstehen, warum Humor die Fähigkeit zur Rationalität voraussetzt. Er bezeichnet eine Lebenseinstellung, die typischerweise nur Personen, nicht aber Tieren zugeschrieben wird (Scruton 2007, 6 f.; DeSousa 2009, 444). Man kann den Humor als einen besonderen Anwendungsfall der allgemeinen Fähigkeit zur praktischen Reflexivität bezeichnen. Auf dieser Grundlage lassen sich sowohl die ethische Relevanz von humorvoller Musik als auch deren ästhetische Vorzüge leicht erklären. Wenn wir uns die Frage vorlegen, warum uns Musik in manchen Fällen als komisch oder humorvoll erscheint, sollten wir zunächst zwei Möglichkeiten auseinanderhalten: Ein Musikstück kann komisch sein, weil es von sich aus eine Einladung zu einer heiteren, amüsierten Reaktion ausspricht; und in der Folge möchte ich mich allein für diese erste Möglichkeit interessieren. Denn ein Musikstück – genauer müßte man sagen: die Aufführung des Stücks – kann etwa auch sehr komisch sein, weil es zum Opfer einer schlechten Darbietung wird. So entbehrt es selten einer gewissen Komik, wenn sich ein Dilettant an die Aufführung eines anspruchsvollen Werkes macht und dabei keine rechte Vorstellung von den Grenzen seiner musikalischen Fähigkeiten besitzt. Von diesem Phänomen soll aber nicht die Rede sein, denn der Zuhörer wird hier nicht von bestimmten Eigenschaften des Musikstücks selbst zum Lachen aufgefordert. Es liegt lediglich eine Inkongruenz von hohem Anspruch und mißlungener Ausführung vor, und eine solche Inkongruenz kann auch bei Musikstücken auftreten, die wirklich nicht komisch sind. Umgekehrt kennen wir auch das traurige Phänomen einer mißlungenen Aufführung eines komischen Stücks, und auch in diesem Fall entspricht die – durchaus berechtigte – Reaktion eines enttäuschten Hörers nicht der Einladung, die eigentlich vom betreffenden Musikstück an ihn ausgehen sollte. Wenn ich nun einige allgemeine Vorüberlegungen anstelle, möchte ich den Begriff »Humor« gar nicht unbedingt durch notwendige und hinreichende Bedingungen definieren, sondern mich mit der Entwicklung einiger Kriterien begnügen, die uns zumindest eine Identifikation einzelner Erscheinungsformen humorvoller Musik erlauben. Ohnehin wird es unumgänglich sein, bei der Interpretation einzelner Werke dann eine Reihe zusätzlicher Differenzierungen vorzunehmen (zu den Spielarten des Humors vgl. Lissa 1969, 126; Sheinberg 2000; Levinson 2006, 389). Die in der Philosophiegeschichte wohl prominenteste und bis heute vorherrschende Theorie des Humors ist die sogenannte 194 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Inkongruitätstheorie. Die prominentesten Vertreter dieser Theorie wie Arthur Schopenhauer, Immanuel Kant und heute Noël Carroll sehen im Vorliegen von inkongruenten Tatbeständen den Wesenskern des Komischen oder Lächerlichen. Dabei darf allerdings die Inkongruenz, um lächerlich zu wirken, nicht als bedrohlich wahrgenommen werden, sondern muß harmlos erscheinen und mit einer lustvollen Empfindung einhergehen. Wenn der Protagonist aus Nikolai Gogols Erzählung Der Newski-Prospekt also einen Traum hat »von irgendeinem Beamten, der ein Beamter und zu gleicher Zeit ein Fagott war« (Gogol 1979, 121), so liegt ein guter Grund für eine amüsierte Reaktion des Träumers wie auch des Lesers vor; weniger komisch wäre es freilich, würde er sich im Traum plötzlich einem gefährlichen Ungeheuer gegenüber sehen. Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 2, Kap. 8, 122) versucht, den Humor als das Auseinanderfallen von abstraktem Begriff und konkreter Anschauung zu charakterisieren: »Ursprung des Lächerlichen« sei »die paradoxe und daher unerwartete Subsumtion eines Gegenstandes unter einen ihm übrigens heterogenen Begriff«. »Das Phänomen des Lachens« bezeichne demgemäß »die plötzliche Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen einem solchen Begriff und dem durch denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen dem Abstrakten und dem Anschaulichen«. Carroll (2003, 351) zufolge fehlt uns bis heute eine klare Definition der Inkongruität; Schopenhauers Definition sei jedenfalls viel zu eng. Sein eigener Vorschlag lautet: »Speaking drily, the notion of incongruity […] can initially be very roughly described as a problematization of sense. This can occur when concepts or rules are violated or transgressed.« (Ebd., 347) Aber wir können uns hier mit dieser vagen und vorläufigen Umschreibung der Inkongruität begnügen, denn bei der Definition eines Phänomens wie des Humors entbehrt ein überdimensionierter theoretischer Aufwand manchmal seinerseits nicht einer gewissen Komik. Traditionelle Rivalen zur Inkongruitätstheorie sind die sogenannte Überlegenheitstheorie und die Entlastungs- oder Befreiungstheorie. Die wichtigsten Vertreter der Überlegenheitstheorie sind Thomas Hobbes und Henri Bergson (vgl. heute Buckley 2003, 1. Laughter as Superiority), die wichtigsten Vertreter der Befreiungstheorie Herbert Spencer und Sigmund Freud. Da ich mich nicht auf eine ausführliche Diskussion dieser Alternativvorschläge einlassen kann, schließe ich mich der Einfachheit halber den Einwänden Noël Carrolls (2003, 346) 195 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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und Jerrold Levinsons (2006, 390 ff.) an: Diese beiden Auffassungen erscheinen unplausibel, weil sie zentrale Beispiele von Humor – etwa den spielerisch-humorvollen Umgang mit Wörtern, Farben oder Tönen, der weder ein Gefühl der Überlegenheit noch eine Befreiung von aufgestauten Gefühlen bewirkt – nicht hinreichend erfassen können. Ein dadaistisches Gedicht kann etwa sehr komisch sein, ohne daß es in uns ein Gefühl der Überlegenheit wecken oder uns von angestauten Gefühlen befreien müßte. Ist aber die Inkongruitätstheorie nicht einem ähnlichen Einwand ausgesetzt, d. h. kann sie wirklich alle Fälle von Humor erfassen? Jerrold Levinson verneint diese Frage und schlägt ein formales Kriterium vor: Als humorvoll könne eine Sache dann gelten, wenn ihr die Tendenz zukommt, beim kompetenten, verständigen Rezipienten eine Reaktion des Amüsiertseins hervorzurufen: »An item x is humorous or funny iff x has the disposition to elicit, through mere cognition of it, and not for ulterior reasons, a certain kind of pleasurable reaction in appropriate – that is, informationally, attitudinally, and emotionally prepared – subjects generally, where this pleasurable reaction, amusement, is identified by its own disposition to induce, at moderate or higher degrees a further reaction, namely laughter.« (Levinson 2006, 396) Mit dieser Definition nimmt Levinson eine Kombination von objektiven und subjektiven Komponenten vor. Auch Michael Stille (1990, 71 FN. 199) deutet die Notwendigkeit einer solchen Kombination an und verweist auf Jean Paul, bei dem es in der Vorschule der Ästhetik heißt: »daß also das Komische, wie das Erhabene, nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte«. Erst mit dieser subjektiven Komponente könnten »die historischen Dimensionen der verschiedenen Formen musikalischer Komik« (ebd., 73) berücksichtigt werden.
Der mentale Zustand des Amüsiertseins wird sich nun in aller Regel im Lachen äußern, und Ausnahmen – Humor ohne Lachen und Lachen ohne Humor (dazu: Lissa 1969, 93; Levinson 2006, 394) – dürften hier wohl eher die allgemeine Regel bestätigen. Levinson räumt zwar ein, daß in sehr vielen Fällen tatsächlich eine Inkongruität als Ursprung für das Amüsement des Betrachters angenommen werden kann. Dennoch möchte er diese Auffassung nicht als eine Definition des Humors verstanden wissen und weist zudem darauf hin, daß der Humor eine kognitive und eine affektive Komponente umfaßt, die erst in der amüsierten Reaktion miteinander verbunden werden (Levinson 2006, 394 f.). Die Inkongruität könne uns zwar helfen, viele Fälle von Humor zu identifizieren. Dennoch bleibe es eine offene, empirische Frage, ob es 196 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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nicht auch andere Quellen des Amüsiertseins gebe. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung können wir diese Möglichkeit aber außer Acht lassen und uns auf die Inkongruität als die wichtigste Quelle des Humors in der Kunst im allgemeinen und in der Musik im besonderen konzentrieren. Zwar können wir den Begriff des musikalischen Humors nicht anhand notwendiger und hinreichender Kriterien definieren, sondern müssen uns mit Levinson zunächst mit der sehr elastischen, wenn nicht zirkulären Auffassung begnügen, Humor in der Musik sei eine antwortabhängige Eigenschaft und bestehe im Amüsiertsein eines kundigen Zuhörers. Immerhin haben wir mit der Inkongruität als einer Quelle einer Reaktion des Amüsiertseins einen Anhaltspunkt für die Identifikation von Humor gefunden und können uns damit nach musikalischen Inkongruitäten als Beispiele für musikalischen Humor umsehen. Vorab muß aber noch eine Differenzierung zwischen zwei Arten des Ausdrucks von Humor vorgenommen werden: Eine Person kann ihren Humor durch lautes Gelächter oder nur ein leises Schmunzeln zum Ausdruck bringen, sie kann ihren Humor aber auch durch die Präsentation von inkongruenten Sachverhalten – also etwa durch das Erzählen eines Witzes – ausdrücken. Auf unterschiedliche Art und Weise fordern beide Ausdrucksweisen den Betrachter zu einer emotionalen Antwort auf. Das Gelächter kann ansteckend wirken, ohne daß wir seinen Gegenstand und Grund kennen. Der Witz dagegen fordert uns zur Identifikation inkongruenter Teile auf und wird dann selbst Gegenstand unseres Amüsements. Während das Gelächter eine unmittelbare Wahrnehmung eines bestimmten mentalen Zustands einer Person erlaubt, kann uns der Witz nur als Ausgangspunkt für eine Inferenz auf eine bestimmte Geisteshaltung seines Erzählers dienen. Ganz ähnlich kann es sich bei der Musik verhalten. Sie kann Gelächter imitieren und dann als Ausdruck einer Emotion des Amüsiertseins wahrgenommen werden. So macht sich etwa Béla Bartók im 4. Satz, Intermezzo Interrotto, seines Konzerts für Orchester über einen Marsch aus Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 7 (Leningrader Symphonie) lustig (Taruskin 1997, 484). Nachdem das Orchester einige Takte dieses Marsches zitiert hat, brechen die Holzbläser in ein regelrechtes Hohngelächter aus. Die Musik selbst ist hier nicht witzig, sie ist eher als ein direkter Ausdruck des Amüsements einer imaginären Person zu verstehen. Anhand des Zitats kann uns die Musik sogar eine Vorstellung vom Gegenstand ihres Gelächters geben; 197 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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und sie mag sich über eine Inkongruenz zwischen dem Marsch und den durch ihn suggerierten Emotionen amüsieren. 3 Dennoch ist die Imitation des Gelächters nicht mit der Präsentation inkongruenter musikalischer Gestalten identisch, die dem Hörer direkt einen Gegenstand und damit einen Grund zu einer amüsierten Reaktion geben. Wenn ein Hörer einige von Beethovens Diabelli-Variationen oder Mozarts Ein musikalischer Spaß, KV 522 als Parodien wahrnimmt, so wird er anhand des musikalischen Materials auf eine bestimmte Geisteshaltung imaginärer Personen schließen, die sich in diesen Werken über dilettierende Komponisten lustig machen. Dieser letztere Fall scheint mir der paradigmatische Fall für das Vorliegen musikalischen Humors zu sein. Auch wenn es hierfür viele Beispiele aus den verschiedenen Kunstgattungen gibt, bleibt für unsere Zwecke vor allem von Bedeutung, daß sich der Humor selbst in den abstrakten Künsten äußern kann, eine komplexe Spielart der Expressivität also nicht vom repräsentativen Potential einer bestimmten Kunstgattung abhängt. Laurie-Jeanne Lister (1994, 69) schreibt ganz richtig: »Humor can exist within both the referential and the absolute realms of meaning in music (referential humor refers to humor with extramusical connotations whereas absolute humor refers to humor within the musical material itself).« Ähnlich meint Zofia Lissa (1969, 99), daß wir die Zuschreibung komischer Eigenschaften »auch auf dem Gebiet der asemantischen Künste finden, das heißt solcher, die die gegenständliche Interpretation ausschließen und auf strukturellen Einstellungen basieren, wie immer in der Architektur und meistens in der Musik«. Diese komplexe Haltung des Humors darf also nicht einfach mit einem Gefühl der Freude oder Heiterkeit gleichgesetzt werden. Musik kann sicherlich eine Emotion der Freude ausdrücken, ohne deshalb schon als humorvoll zu gelten. Auch ohne den Text zu verstehen, werden die meisten Zuhörer brasilianischen Samba oder kubanischen Salsa als Ausdruck von Lebensfreude wahrnehmen, ohne daß sie dabei auf musikalische Inkongruenzen treffen müssen. Der Ausdruck von Humor setzt nämlich voraus, daß wir mit einer überraschenden Konstel3 Vgl. auch Harnoncourt (2007, 278) über Johannes Brahms’ Akademische Festouvertüre, welche die Dankbarkeit des Komponisten für die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Breslau zum Ausdruck bringen soll: »Gerade an dieser Ouvertüre kann man ganz genau erkennen, worüber gelacht wird. Das Orchester wird hier wirklich zum Lachen eingesetzt.«
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lation von Dingen konfrontiert werden, die aus ihrem gewöhnlichen Umfeld herausgerissen werden. Wenn also Beethoven in seinem Streichquartett op. 18, 5 in A-Dur (fünfte Variation, Takte 1–2) vier völlig disparate Stimmen gegeneinander anrennen läßt, so daß der Eindruck eines vehementen Aneinandervorbeiredens entsteht, entbehrt das nicht einer gewissen Komik (Stille 1990, 113 f.). Siehe außerdem Stille (ebd., 106) über die 3. Kadenz zum ersten Satz von Beethovens Klavierkonzert in C-Dur, Nr. 1, op. 15. Allgemein zum Thema Humor bei Beethoven schreibt Nikolaus Harnoncourt (2007, 113): »Wenn Beethovens Musik Unmenschliches ausdrückt, dann ist sie auch total humorlos, etwa in der Einleitung des 2. Aktes von Fidelio […]. Solche Dinge kommen bei Beethoven vor. Er hat als absolute Grenze seiner Kompositionsweise die Hoffnungslosigkeit und die totale Humorlosigkeit. Aber überall dort, wo es Hoffnung gibt, wo es einen Schimmer von Freude geben könnte, finden wir bei Beethoven auch Humor.« »Ich finde keine Symphonie, wo das nicht unterschwellig vorhanden ist. […] Bei der Achten finden Sie fast nichts, was nicht Humor ist. Das ist eine Fortsetzung in der Idee des Haydnschen Humors.« – Wenn das Finale von Joseph Haydns Streichquartett op. 76, 5 in D-Dur mit einer Schlußkadenz beginnt, so wirkt das komisch – auf ganz andere Weise allerdings wie etwa György Ligetis Drei Stücke für zwei Klaviere, die den Eindruck eines defekten und dennoch weiterklappernden Räderwerks hervorrufen; zur grotesken Komik von Ligetis Aventures und Nouvelles aventures vgl. auch Brendel (2005, 138). Helmut Lachenmann (1996, 32) dagegen versteht keinen Spaß – man beachte die Interaktionen von moralischen und humoristischen Kriterien –, kritisiert den Humor der Nouvelles aventures als »reaktionär« und spricht von einer Form der »musikalischen Regression«. Komisch sind nicht zuletzt die Marsch-Parodien in Paul Hindemiths Minimax (Stille 1990, 147 f.) sowie in seiner Kammermusik Nr. 5, op. 36, 4 (Bratschenkonzert, 4. Satz) sowie die unerwarteten Schüsse aus mehreren Pistolen, die in Salvatore Sciarrinos Un fruscio lungo di trent’anni für Schlagzeugquartett für Überraschungen sorgen. Der interessanten Frage, aus welchen Gründen die serielle Musik oft so humorlos wirkt, vermag ich hier leider nicht nachzugehen (vgl. aber Fisher 1974, 376). Serielle Musik weist hier sogar eine Gemeinsamkeit mit der Musik Mozarts auf, denn in beiden Fällen scheint das Streben nach absoluter Schönheit mit einer humorvollen Einstellung gegenüber den menschlichen Schwächen unvereinbar zu sein. Auch der Rock-Musik geht – im Gegensatz zum Blues – oft jeder Humor ab (vgl. Pattison 1987, 57 f.).
Aus diesen wenigen Beispielen wird ersichtlich, daß es eine relativ große Bandbreite unterschiedlicher Varianten von musikalischem Humor gibt. Das bloße Spiel mit Formen kann etwa als eine lustbetonte und fröhliche Art des Humors gelten; die Verzerrung und Dramatisierung 199 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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von »schönen« Melodien läßt dagegen eine verbittert-sarkastische Variante des Humors erkennen. Wie in der Literatur und in der Malerei kann man zahlreiche Varianten des musikalischen Humors unterscheiden: Er kann vom bitteren, schwarzen Sarkasmus über die bloße Freude am Spiel mit Klischees und Konventionen bis hin zur traurigen, resignativen Melancholie reichen. Diese Varianten können dann von einem moralischen oder ethischen Standpunkt aus bewertet werden. So mag man den Humor auf der einen Seite als Ausdruck von Toleranz und Gelassenheit positiv bewerten, wie es etwa Matthew Head (2005, 83) mit Haydns musikalischem Humor tut: »Such uses of exoticism and humor exemplify the critical temper of the Enlightenment – the resistance to the authority of received ideas […] insofar as that authority was based solely in convention and the power of institutions.« Auf der anderen Seite kann es Spielarten des zynischen, fanatischen oder diabolischen Humors geben, die man ablehnen oder gar abscheulich finden mag (vgl. DeSousa 2009, 445). Ohne alle Spielarten des Humors erfassen zu können, möchte ich nur den allgemeinen Punkt betonen, daß sich gerade die Verknüpfung von inkongruenten Bestandteilen sehr gut auch für den Ausdruck eines komplexen Gemischs von Emotionen eignet. Obwohl diese Kombination unterschiedlicher Ingredienzen also immer eine Wahrnehmung von musikalischer Inkongruenz zur Folge hat, wird doch die jeweilige emotionale Einstellung, zu der das betreffende Werk dann den Zuhörer einlädt, unterschiedlich ausfallen können. Viele verschiedene Schattierungen von humorvollen Einstellungen sind möglich; bitterer Humor beispielsweise resultiert gerade aus einer Mischung von positiven und negativen Emotionen. Wir haben damit zwar keinen Begriff, aber zumindest ein Identifikationskriterium für musikalischen Humor entwickelt, und wir haben mehrere Spielarten musikalischen Humors kennengelernt. Die Hauptfrage, die uns in diesem Zusammenhang aber besonders interessiert, ist aber noch offen: Welche ethische Bedeutung hat der musikalische Humor? Und ist die mögliche ethische Bedeutung eines humorvollen Musikstücks eine mögliche Quelle auch für einen ästhetischen Vorzug dieses Stücks? Um diese Fragen beantworten zu können, benötigen wir eine allgemeine Ethik und Ästhetik des Humors, die uns hilft, Fragen zu beantworten wie: Welche ethische Bedeutung hat der Humor? (Vgl. Jacobson 1997; Carroll 2003, 358 ff.; Gaut 2007, 10.3 Humour; DeSousa 2009, 11. Wann ist es falsch, zu lachen?) Kann die 200 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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humorvolle Dimension eines Kunstwerks die Quelle eines besonderen ästhetischen Werts dieses Kunstwerks sein? Die Frage lautet dabei übrigens nicht, ob der Humor von moralischen Kriterien abhängt und ob es etwa moralische Gründe geben kann, die gegen das Amüsiertsein als Reaktion auf einen sexistischen Witz sprechen. Es könnte etwa sein, daß manche Witze, weil sie einen moralischen oder ethischen Defekt aufweisen, einfach nicht lustig sind (vgl. Abschnitt 2.3). Bei der Antwort auf die Frage nach der ethischen Bedeutung des Humors empfiehlt es sich, keine voreiligen Verallgemeinerungen vorzunehmen. Da es viele verschiedene Arten von Humor gibt, kann man davon ausgehen, daß es auch eine große Bandbreite unterschiedlicher Bedeutungen von Humor gibt. Wenn man die den Humor konstituierende Inkongruität mit Schopenhauer als eine Inkongruität von abstraktem Begriff und konkreter Anschauung versteht, mag man den Schluß ziehen, der Humor weise uns auf die Grenzen der Vernunft hin und sei mithin als ein Ausdruck der Widervernünftigkeit bzw. der Absurdität der Existenz zu verstehen. Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. 2, Kap. 8, 131) schreibt: »Diese strenge, unermüdliche, überlästige Hofmeisterin Vernunft jetzt einmal der Unzulänglichkeit überführt zu sehn, muß uns daher ergötzlich sein.« Soweit ich sehe, ist diese nähere Bestimmung der Inkongruität heute aber umstritten; und auch anhand eines Beispiels aus der Musik kann man das deutlich machen: Haydns Humor zeugt vielmehr von aufklärerischem Optimismus und einem grundlegenden Vertrauen in die Kräfte der Vernunft. Das Spiel mit musikalischen Formen und Konventionen, das beim Zuhörer eine amüsierte Reaktion hervorrufen kann, erlaubt uns vielmehr, uns als freie und vernünftige Wesen zu verstehen, die die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen einrichten können. Weit davon entfernt, ein Ausdruck einer irrationalistischen Weltanschauung zu sein, lädt uns der musikalische Humor bei Haydn oder Mozart zu einer optimistisch-erwartungsfrohen Grundhaltung gegenüber dem Leben ein. Bei Beethoven nimmt der musikalische Humor in manchen Fällen einen sarkastischen Zug an, und bei Prokofjew, Bartók, Schostakowitsch oder Ligeti trifft man nicht selten gleichsam auf Fratzen, bei denen man oft nicht mehr weiß, ob man noch lachen kann oder sich nicht eher vor ihnen graulen soll. Der musikalische Humor kann also bittere und sogar bösartige Züge annehmen, muß aber aus diesem Grund nicht Ausdruck einer irrationalistischen Weltanschauung sein. 201 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Er kann die Enttäuschung und die Hoffnungslosigkeit vieler Menschen zum Ausdruck bringen, die das grauenvolle Schicksal, das sie etwa im 20. Jahrhundert erleiden mußten, nicht verdient haben. Hier gibt es also einen fließenden Übergang zur Kategorie des Tragischen, das uns zu einer emotionalen Reaktion der Furcht und des Mitleids einlädt. Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt (2007, 82) schreibt sogar: »Zur Moderne gehört die Aufhebung der kategorialen Trennung von Tragödie und Komödie.« Dennoch sollte man die Möglichkeit oder auch die Realität fließender Übergänge nicht einfach mit der Aufhebung aller Unterschiede gleichsetzen. Eine Frage, die sich dem Leser eventuell schon früher aufgedrängt hat, möchte ich zum Schluß dieses Abschnitts noch beantworten; und die Antwort kann dazu dienen, das zentrale Ergebnis dieses Abschnitts noch einmal zusammenzufassen und zum nächsten Abschnitt überzuleiten: Ist der Humor in der Musik tatsächlich der Ausdruck einer Emotion, d. h. ist humorvolle Musik tatsächlich ein Beispiel für expressive Musik? Oder besteht die humorvolle Haltung letztlich nicht eher in einer Suspension aller Emotionen und vielleicht sogar in einer »Anästhesie des Herzens« (Bergson 1961, 4)? Zofia Lissa (1969, 135) schreibt ähnlich: »Im Moment, wo uns die Komik irgendeines musikalischen Motivs aufgeht, hören wir auf, uns dieser Musik gefühlsmäßig zu unterwerfen. Somit verliert sich für kurze Zeit der emotionale Faktor des musikalischen Erlebens. Darin steckt eben der Einfluß der musikalischen Komik auf das ganze ästhetische Erleben. Die Komik schwächt unser gefühlsmäßiges Erlebnis.« Eine humorvolle Haltung lädt uns ja in aller Regel nicht zu einer Identifikation mit einem bestimmten Menschen ein, sondern zu einer distanzierten, kritischen Haltung gegenüber bestimmten Emotionen. Gerade auch die Ironie hat wesentlich eine Einladung zur Distanz gegenüber allen positiven und negativen Emotionen zum Sinn und Zweck. Dieser Einwand scheint mir nicht berechtigt, denn er beruht auf einer Verwechslung zweier verschiedener Haltungen: der kritischen Distanz gegenüber bestimmten Emotionen und der »kalten«, emotionslosen Teilnahmslosigkeit. Zwar schreibt Henri Bergson (1961, 3): »Il semble que le comique ne puisse produire son ébranlement qu’à la condition de tomber sur une surface d’âme bien calme, bien unie. L’indifférence est son milieu naturel. Le rire n’a pas de plus grand ennemi que l’émotion. Je ne veux pas dire que nous ne puissions rire d’une personne qui nous inspire la pitié, par exemple, ou même de l’af-
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fection : seulement alors, pour quelques instants, il faudra oublier cette affection, faire taire cette pitié.« Dagegen wendet sich aber Ronald DeSousa (2009, 461): »Wir haben die Tendenz, kühle Distanz mit Fremdheit und Identifikation mit einfühlsamer Teilnahme […] gleichzusetzen. Aber das sind bloß Assoziationen. Die beiden Dimensionen sind unabhängig. Man kann sich für etwas Fremdes wertend engagieren […], und man kann kühl sein, selbst wenn man sich mit einer anderen Person identifiziert. […] Ich kann mich selbst kühl und gefühllos betrachten, was mich insoweit nicht hindert, ich selbst zu sein oder zu fühlen.«
Zum einen ist es also zwar richtig, daß Humor, Ironie und Parodie zu einem distanzierten, kritischen Blick auf bestimmte Menschen, Situationen und Emotionen einladen. Dennoch muß diese Distanz nicht mit einer kalten, herzlosen Einstellung einhergehen. Ironie kann sicherlich eine starke emotionale Färbung annehmen, und es scheint geradezu unmöglich, sich eine völlig herz- und teilnahmslose Spielart des Humors vorzustellen. Zudem zieht der Humor eine ganze Reihe von Emotionen – etwa der Freude, des Ärgers und der Trauer – in vielen Fällen ins Lächerliche und nimmt auf diese Weise eine Bewertung der Angemessenheit dieser Emotionen vor. Es ist gerade diese Bewertung der Angemessenheit bestimmter Emotionen, die die ethische Bedeutung des Humors ausmacht. Die Unangemessenheit einer emotionalen Reaktion kann selbst als ein Beispiel für eine besondere Inkongruität gelten. So schreibt Noël Carroll (2003, 348): »[…] emotional incoherence can also figure as incongruity, as when a character matches the wrong feeling or attitude with a situation, or simply vastly exaggerates an apposite one.« Aber diese Bewertung der Angemessenheit von Emotionen ist ihrerseits nicht ohne eine emotionale Einfärbung. Oft ist der Humor gerade mit einer Einstellung der Freude oder auch der Trauer vermischt. Kurz gesagt: Der Humor ist ohne Zweifel selbst wiederum der Ausdruck einer relativ komplexen Emotion, und wir haben schon gesehen, daß man ihn daher als die Manifestation einer bestimmten Haltung bezeichnen kann, die unsere Basisemotionen selbst noch einmal einer Bewertung unterzieht. Es wäre also ein großer Fehler, wenn man meinte, man könne sich durch den Humor allen Emotionen entziehen. Selbst der Zyniker manifestiert in seinen mehr oder weniger humorvollen Äußerungen allzuoft nur die Emotion einer tiefen Verbitterung und ist daher weit davon entfernt, seine Umwelt ohne jegliche innere Teilnahme nur kalt und gefühllos zu registrieren. Humorvolle Musik 203 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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kann daher als ein besonders interessanter Fall von expressiver Musik erscheinen. Wem läßt sich aber die Emotion zuschreiben, die ein humorvolles Musikstück zum Ausdruck bringt? Es scheint doch so, daß uns der Humor als Meta-Emotion zu einer Distanz gegenüber allen einfachen Manifestationen von Emotionen einlädt. Auch hier kann der Rückgriff auf die Persona-Theorie der musikalischen Expressivität hilfreich sein: Wir können den Humor der imaginären Person zuschreiben, deren Emotionen sich in einem Musikstück manifestieren. Diese imaginäre Person kann in ein komplexes Verhältnis zu bestimmten Emotionen treten. Sie kann dem Hörer bestimmte Emotionen vorführen und zu diesen Emotionen dann in ein reflexives Verhältnis treten. Stellen wir uns einen traurigen Clown vor, der sich – und ein guter Clown hat natürlich genau diese Absicht – über sich selbst lustig machen kann. Die primäre Manifestation seiner Trauer wird auf einer höheren Ebene ins Lächerliche gezogen – was nicht heißt, daß diese Emotion nicht auf einer dritten Ebene überraschend wieder auftauchen könnte. Auch der Humor in der Musik kann somit als Ausdruck der Emotion einer imaginären Person verstanden werden. Humorvolle Musik lädt den Hörer zu einer entsprechenden emotionalen Reaktion ein, sie fordert den Hörer dazu auf, sich über den gleichen Gegenstand zu amüsieren. Und wenn diese Aufforderung erfolgreich ist, dann trägt ihr Erfolg – hier können wir uns wieder auf das Argument der verdienten Antwort stützen – zu einem höheren ästhetischen Wert des betreffenden Musikstücks bei. Gerade weil ein Musikstück so humorvoll ist, kann es also einen besonders hohen ästhetischen Wert haben. Es führt somit ein direkter Weg vom Humor zur Ästhetik; den Umweg über die Ethik kann man sich deshalb unter Umständen auch ersparen. Ohne eine vollständige Theorie des musikalischen Humors zu entwickeln, haben wir an ihm einen interessanten Fall einer höherstufigen, komplexen Form der Expressivität von Musik betrachtet. Ausgehend von einem Begriff des Humors als lustvoller Wahrnehmung einer Inkongruität, habe ich einige typische Beispiele von musikalischem Humor untersucht und auf mögliche ethische Bedeutungen des Humors hingewiesen. Es dürfte weitgehend unumstritten sein, daß der Ausdruck von Humor einen guten Grund für die Wertschätzung eines (musikalischen) Kunstwerks darstellt. Wir schätzen ein Musikstück, wenn es uns auf eine gelungene und ästhetisch relevante Art und Weise zu einer emotionalen Reaktion – der Heiterkeit und des 204 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Amüsiertseins – einlädt. Und der Erfolg einer solchen Einladung wird in vielen Fällen davon abhängen, ob das betreffende Kunstwerk eine überzeugende Möglichkeit anbietet, sich eine humorvolle Person vorzustellen, die einen guten Grund – etwa die mißratene Komposition eines dilettierenden Komponisten – zum Lachen hat.
4.3 Musikalische Tragik Das Gegenstück zur musikalischen Komik ist die musikalische Tragik. Auch hier handelt es sich um eine komplexe Form der Expressivität, die man als ein Medium der Spiegelung unseres Selbstverständnisses verstehen kann. Der spezifische Ausdruck der tragischen Emotionen ist schließlich nicht mit einem Ausdruck bloßer Emotionen der Trauer, der Rührung und des Bedauerns – mit denen, um mit G. W. F. Hegel (1986, Bd. III, 525) zu sprechen, »besonders die kleinstädtischen Weiber« schnell bei der Hand seien – identisch. Tragische Kunst lädt uns zur Furcht und zum Mitleid ein, sie lädt uns zur Berücksichtigung der Möglichkeit ein, daß manches Leid ein Resultat von Schicksalsschlägen und daher unverdient sein kann. Sie zeigt uns auf diese Weise nicht nur die Grenzen unserer Verantwortlichkeit auf, sondern macht auch die Grenzen deutlich, die Welt nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und sie fordert uns deshalb auch dazu auf, eine gewisse Nachsicht bei der Be- und Verurteilung anderer Menschen walten zu lassen. G. E. Lessing schreibt im 75. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1954, 382 f.) zum Verhältnis von Furcht und Mitleid, daß die Furcht um das eigene Wohlergehen auch das Mitleid mit dem tragischen Helden motivieren kann. Der Dichter habe seinen Helden »mit uns von gleichem Schrot und Korne« zu schildern: »Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.« Der Ausgangspunkt fast aller Theorien des Tragischen ist bis heute allerdings Aristoteles’ Tragödiensatz (Poetik 6): »Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache […], die Mitleid und Furcht (eleou kai phobos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.« (Meine Übers.) Manfred Fuhrmann schließt sich dagegen dem Vorschlag Wolfgang
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Schadewaldts (1955) an und übersetzt »eleou kai phobos« mit »Jammer und Schaudern« (vgl. zustimmend Gadamer 1960, 135). Ich folge mit meiner Übersetzung G. E. Lessing, wobei diese Unterschiede im vorliegenden Kontext ohnehin nicht besonders wichtig sind. Schon die Definition wirft jedoch zahlreiche Probleme auf, vor allem der wichtige Begriff der katharsis bleibt unbestimmt (vgl. Nussbaum 1986, Interlude 2: Luck and the Tragic Emotions; Belfiore 1992, 9. Katharsis in Aristotle’s Philosophy). Außerdem kann man einwenden, daß Aristoteles keine Argumente für sie beibringt.
Für meine eigenen Zwecke ist allein der Umstand von Bedeutung, daß eine Tragödie nicht nur bestimmte Emotionen beim Betrachter erregen kann, sondern diese Emotionen durch eine besondere formale Gestalt einer Bewertung unterzieht. Eine Tragödie ist daher nicht nur »traurig«, sie hat ein besonders leidvolles oder unglückliches Schicksal zum Inhalt, das in irgendeiner Weise als unverdient oder unangemessen erscheint (vgl. v. a. Nussbaum 2001, 311 ff.). Dieser Begriff der Tragik ist übrigens weiter gefaßt als der Begriff der Tragik, den Christoph Menke verwendet: »Handeln«, schreibt Menke (2005, 7; meine Hervorh.), »das stets auf sein Gelingen aus ist, bringt allein durch sich selbst, daher notwendig, sein Mißlingen, dadurch das Unglück des Handelnden hervor.« Im Gegensatz dazu meine ich, der Ursprung des Unglücks sollte erst einmal offen bleiben; denn sicherlich ist gerade jene Sorte von Unglück in besonderem Maße unverdient, die eben nicht auf eine (mißlingende) Handlung des Betroffenen selbst zurückgeht. Im Gegensatz zur Kernidee des Tragischen, so wie ich sie verstehe, scheint dem Handelnden bei Menke selbst die Verantwortung für sein Unglück, das dann auch nicht mehr »Schicksal« genannt zu werden verdient, zuzukommen; damit wird allerdings fraglich, ob das Mitleid überhaupt noch eine angemessene Reaktion auf ein tragisches Schicksal ist. In meinen Augen ist es aber gerade der Umstand, daß das Leid des Protagonisten eben nicht vollständig selbstverschuldet ist, der unsere Furcht (für uns selbst) und unser Mitleid (mit dem Helden) als angemessen erscheinen läßt. Wir können jedenfalls festhalten, daß die Erregung bestimmter Emotionen schon von Aristoteles als unverzichtbarer Teil der Tragödie angesehen wird. Berücksichtigt man außerdem, daß er Nachahmung nicht als Darstellung einer objektiv vorgegebenen Wirklichkeit versteht, sondern vielmehr den »mythos« – darunter versteht Aristoteles eine »Zusammensetzung der Geschehnisse« (Poetik 6) – als die »Seele« der Nachahmung ansieht (vgl. Belfiore 1992, Part II Plot: The Soul of 206 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Tragedy), so scheint mir der Graben, den eine mimetische von einer expressiven Kunstauffassung trennt, gar nicht mehr unüberwindbar. Man könnte nunmehr die These vertreten, daß die »Zusammenfügung der Geschehnisse« schließlich ihrerseits ein kreativer Vorgang ist, der sich nicht in einer bloßen Kopie einer vorgegebenen Wirklichkeit erschöpft (vgl. Ricoeur 1983, 59 f.; Belfiore 1992, 44 f.). Die Art und Weise dieser Zusammenfügung wird unstrittig von einem Subjekt vorgenommen und verrät deshalb etwas über dessen emotionales Innenleben. Als Beispiel hierfür kann man schon Aischylos’ Agamemnon, das erste Stück seiner Orestie, anführen. Sicherlich repräsentiert diese Tragödie bestimmte Charaktere und ihre Handlungen, aber ihr wesentliches Anliegen ist der Ausdruck von bestimmten negativen Emotionen: von Entsetzen, Furcht, Empörung und Mitleid, die sich hier in einem komplexen Mischungsverhältnis befinden. Guy Sircello (1972, 133; meine Hervorh.) meint zwar, »in the first play of the Oresteia, Aeschylus expresses by means of characterization, plot, and imagery the utter violence and barbarity of the pre-political world«. Dagegen würde ich sagen, das Stück drücke nicht so sehr die Barbarei der vorpolitischen Welt, sondern das Entsetzen eines (realen oder imaginären) Zuschauers über diese Zustände aus. Genau aus diesem Grund kann uns diese Tragödie bis heute faszinieren, denn an Informationen über Barbareien fehlt es unserer Zeit wahrlich nicht. Wenn also die Nachahmung eines der wesentlichen Momente einer Tragödie ist – sie handelt immer von Menschen, die unverdientermaßen leiden –, so schließt das nicht aus, daß deren Expressivität und damit auch deren Potential zur Artikulation und Reflexion negativer Emotionen die eigentliche Grundlage für unsere hohe Wertschätzung von Tragödien ist. Daß der Ausdruck von tragischen Emotionen nicht vom repräsentativen Vermögen einer Kunstgattung abhängt, machen zahlreiche Beispiele aus Literatur und Musik (vgl. Sircello 1972, 19 ff. und 132 ff.), aber auch aus der abstrakten Malerei deutlich. Simon Schama (2006, 283) bezeichnet William Turners Disaster at Sea (The Wreck of the ›Amphitrite‹) etwa als »a masterpiece of tragic fury«, und über Mark Rothko schreibt er, sein Thema sei »the universal tragedy of the human condition« (ebd., 401). Daß nun auch die Rede von einer musikalischen Tragik berechtigt ist, läßt sich auf der Grundlage der zwei folgenden Erwägungen behaupten: Zunächst kann man sich dabei auf die Beobachtung stützen, daß in unserer Rezeption eines nicht unbeträchtlichen Teils der Musik 207 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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ein Begriff der Tragik eine wichtige Rolle spielt. Es bedürfte daher einer drastischen Revision dieser Praxis, wollte man den Begriff »Tragik« aus dem Vokabular, mit dem wir unsere Wahrnehmung und Rezeption von Musik beschreiben, vollständig verbannen. Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6 ist etwa als seine »tragische Symphonie« bekannt (vgl. Hefling 2007, 122 f.); darüber hinaus werden Franz Schuberts Symphonie Nr. 4, Schuberts Klaviersonate in a-Moll, D. 784 (vgl. Hatten 2004, 187 ff.), Anton Bruckners Symphonie Nr. 8 oder Schostakowitschs Streichquartette und sein Klaviertrio Nr. 2 oft als tragische Werke bezeichnet (Bouscant 2003). Johannes Brahms hat eine Tragische Ouvertüre komponiert (vgl. Webster 1983), und Felix Draesekes Symphonie Nr. 3 trägt den Beinamen Symphonia tragica. Jerrold Levinson hat in einer persönlichen Mitteilung vorgeschlagen, den Beginn von Dmitri Schostakowitschs Streichquartett Nr. 8 als Ausdruck der Unvermeidbarkeit des Leidens zu verstehen. Interessant ist aber auch Schostakowitschs eigene Deutung: »Dieses Quartett ist von einer derartigen Pseudotragik, daß ich beim Komponieren so viele Tränen vergossen habe, wie man Wasser läßt nach einem halben Dutzend Bieren. Zu Hause angekommen, habe ich es zweimal versucht zu spielen, und wieder kamen mir die Tränen. Aber diesmal schon nicht mehr nur wegen seiner Pseudotragik, sondern auch wegen meines Erstaunens über die wunderbare Geschlossenheit seiner Form.« (Zitiert nach Wehrmeyer 2002, 214; siehe ferner Taruskin 1997, 493 ff.). Und nicht zuletzt werden Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 5 und Symphonie Nr. 9 vielfach als tragisch bezeichnet (vgl. Tovey 1936, 21 f.). Auch Helmut Lachenmann (1996, 195) spricht von einer »tragischen Weltschau«, die aus einer spezifischen c-MollErfahrung resultiere und vor allem in Beethovens Coriolan-Ouvertüre, in seinen Klaviersonaten Nr. 8 in c-Moll, op. 13 (Pathétique) und Nr. 32 in c-Moll, op. 111, auf eine immer wieder andere Weise neu präzisert werde (siehe ferner Hattens [2004, 12. Discontinuity and Beyond] Analyse des Streichquartetts Nr. 15 in a-Moll, op. 132). Als Beleg dafür, daß Beethovens Musik tatsächlich als tragisch und nicht nur als traurig wahrgenommen werden kann, führt Hans Heinrich Eggebrecht (1994, 34 ff.) die »Rezeptionskonstante ›Leidensnotwendigkeit‹« an: Das Leiden komme bei Beethoven nicht nur als eine kontingente Verlusterfahrung, sondern als Resultat eines unabwendbaren Schicksals zum Ausdruck. 4 Einen großen Bogen mache ich hier um den Begriff des »Erhabenen«. Nicht nur verweist dieser Begriff auf einen bestimmten Begriff des »Schönen« als sein Gegenstück, sondern er ist für meine Begriffe auch nicht eindeutig genug mit bestimmten Emotionen verbunden. Zwar meint Albrecht Riethmüller (1983, 39), die Geschichte der Symphonie im 19. Jahrhundert »könnte, ja müßte als eine Geschichte des musikalisch Erhabenen abgefaßt werden«. Nicht nur bleibt Riethmüller jedoch eine klare Bestimmung und Abgrenzung dieses Begriffs schuldig, sondern sein Hinweis auf die psychische
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Mit einer Persona-Theorie der musikalischen Expressivität verfügen wir inzwischen über eine recht solide Grundlage, zumindest die Möglichkeit der Rede von musikalischer Tragik zu erhellen. Die Kernthese dieser Auffassung lautet, daß die Berechtigung der Zuschreibung einer expressiven Eigenschaft nicht von einem Vermögen zur Repräsentation, zur Darstellung von Handlungszusammenhängen abhängt. Das expressive Potential der Musik reicht somit aus, um in manchen Fällen mit gutem Recht von »tragischer Musik« zu sprechen. Sollte diese Theorie richtig sein, so war gar nichts anderes zu erwarten: Eine Person wird ihre Emotionen kritisch reflektieren, und manches Leid, das ihr selbst oder anderen Menschen auferlegt wird, wird ihr unverdient erscheinen; sie wird daher auch anerkennen, daß es gute Gründe zur Furcht und zum Mitleid geben kann. Der Skeptiker wird sich davon aber nicht beeindrucken lassen und erneut darauf verweisen, daß reine Instrumentalmusik nicht die Mittel zur hinreichend genauen Charakterisierung bestimmter Umstände und Vorkommnisse besitzt, um diese als mögliche Gegenstände einer tragischen Emotion zu bezeichnen. Sicherlich muß man den Gegenstand einer tragischen Emotion als einen relativ komplexen Sachverhalt verstehen, und keineswegs soll hier der Begriff der »Tragik« in irgendeiner Form »aufgeweicht« oder etwa auf die bloß affektive Komponente von tragischen Emotionen eingeschränkt werden. Tragische Emotionen sollen auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung weiterhin als eine affektiv gefärbte Form einer bestimmten Vorstellung bzw. eines bestimmten Gedankens verstanden werden, die die Reaktion auf den Umstand darstellt, daß Menschen zum Opfer von übergeordneten und widerstreitenden Mächten werden können, die sie nicht vollkommen in der eigenen Hand haben können. Kann Musik eine solche Reaktion auf überzeugende Weise zum Ausdruck bringen? Immerhin ist die Möglichkeit einer bestimmten affektiven Komponente der Musik zunächst unbestritten, denn sicherlich kann Musik als ein Ausdruck negativer Emotionen wahrgenommen werden. Aber Musik kann darüber hinaus zur Vorstellung einer Unausweichlichkeit, einer Unvermeidbarkeit eines bestimmten ResulWirksamkeit von besinnungslos machender Erhabenheit (ebd., 49) fällt auch denkbar knapp aus. Zu guter Letzt sind seine beiden Beispiele – das »Glaubensthema« aus dem Vorspiel von Wagners Parsifal und der Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« aus Bachs Matthäus-Passion – nicht einmal Symphonien entnommen!
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tats durch eine entsprechende formale Gestaltung einladen. Und nicht zuletzt meine ich, daß uns musikalische Gesten zumindest zur Imagination eines handelnden oder leidenden Wesens einladen können, eines Wesens, das mit den eigenen Handlungen die Welt verändern, aber auch zum Opfer eines unabwendbaren Schicksals werden kann. Mit dem tragischen Aspekt der menschlichen Existenz wird oft die Grenze der technischen Machbarkeit und damit der Verfügbarkeit der Welt bezeichnet. Musik kann uns also zur Imagination einer persona auffordern, die sich als ein Opfer von Verstrickungen wahrnimmt, die nicht auf ihr eigenes Handeln zurückzuführen sind und außerhalb ihrer eigenen Kontrolle liegen. Sicher geben uns die Symphonien Beethovens oder Mahlers sehr viel weniger Informationen über diese persona als etwa die Tragödien von Sophokles oder Lessing. Das heißt aber nicht, daß wir in unserer Phantasie nicht eine Aufforderung wahrnehmen können, mit dieser persona Mitleid zu haben. Es ist ganz richtig, daß uns Musik keine detaillierte Beschreibung eines bestimmten Handlungszusammenhangs zur Verfügung stellen kann, der dann hinreichend genaue Kriterien für eine Beurteilung enthält, ob das Mitleid mit der jeweils imaginierten Person berechtigt ist oder nicht. Aber obwohl uns die Musik keine hinreichend detaillierten Informationen über die Angemessenheit einer solchen Reaktion geben kann, läßt sich trotzdem nicht ausschließen, daß eine entsprechende Reaktion des Hörers tatsächlich verdient sein kann. Bereits die formale Gestalt eines Musikstücks mag hierfür ausreichend erscheinen. Ziehen wir noch einmal unseren Begriff des Tragischen heran: Es geht zunächst nur um die Tatsache, daß eine Person ein großes Unglück trifft; es geht zudem um die Tatsache, daß dieses Unglück unvermeidlich ist; und es geht zuletzt um die Tatsache, daß der betroffenen Person keine Verantwortung für ihr Unglück zukommt. Sobald diese drei Komponenten von der Musik auf überzeugende Art und Weise gestaltet sind, kann eine entsprechende emotionale Reaktion angemessen und verdient sein. Wenn man auf diese Weise den Nachweis der Möglichkeit tragischer Musik führen kann, worin besteht dann ihre ethische Bedeutung? Für tragische Kunstwerke stellt sich diese Frage schließlich mit einer besonderen Dringlichkeit. Sie präsentieren nicht nur einen Ausdruck von Leid und Unglück; das Unglück wird selbst noch einmal zum Gegenstand einer Reflexion, die zu dem Ergebnis kommt, daß das Unglück unverdient ist. Das Kunstwerk lädt den Rezipienten deshalb zum 210 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Mitleid mit dem Helden ein. Eines der zentralen Probleme der Philosophie der Kunst ist nun bis heute die Frage, aus welchen Gründen viele Menschen daran interessiert sind, sich diesen tragischen Emotionen überhaupt auszusetzen. Häufig ist in diesem Zusammenhang von einem »Paradox der Tragödie« die Rede (vgl. Schier 1983; Levinson 1990, 307; 2006, 51 ff.; Budd 1995, 110 ff.; und zum musikalischen Ausdruck negativer Emotionen Davies 1994, 307 ff.; 2003, 189 f.). Wie kann der scheinbare Widerspruch aufgelöst werden, daß viele Menschen eine besondere Lust bei einer emotionalen Reaktion auf tragische Kunstwerke verspüren, die sie in die teils unangenehmen, teils sogar schmerzlichen Zustände von Furcht und Mitleid versetzt? Wenden wir uns drei Möglichkeiten zu, das Paradox der Tragödie aufzulösen. Ohne hier den Anspruch auf eine exakte und vollständige Interpretation der betreffenden Autoren zu erheben, möchte ich diese Ansätze drei Klassikern zuordnen: Aristoteles macht eine Gewinn-Verlust-Rechnung auf, Hume postuliert ein Inversionsprinzip, und Nietzsche nimmt eine Umwertung der Werte vor (vgl. Budd 1995, 110 ff.; Rinderle 2007, 260 ff.). Eine erste Möglichkeit besteht darin, mit Aristoteles eine Art Lustbilanz aufzustellen. Man kann dann einräumen, daß manche Kunstwerke zwar negative Emotionen hervorrufen, daß aber der Grund, warum die Menschen diese Emotionen, denen sie im Alltagsleben lieber aus dem Wege gehen, bei der Rezeption von Kunst in Kauf nehmen, die Erwartung eines höheren Gewinns ist. Sie nehmen die negativen Emotionen also in Kauf, weil sie sich davon einen – wie man heute sagen würde – positiven payoff versprechen. Aristoteles identifiziert diesen Gewinn mit einem seinerseits durchaus lustvollen Erkenntnisgewinn (Poetik 4). Der Haupteinwand gegen diesen Vorschlag besteht in einer einfachen Rückfrage: Warum sollte ich die Vorteile der Tragödie nicht auch ohne die unvermeidlichen Nachteile genießen können? Warum sollte ich mich den negativen Emotionen aussetzen, wenn ihr Lust- und Erkenntnisgewinn an anderer Stelle vielleicht ohne unerwünschte Nebenfolgen möglich erfolgen könnte? Zudem stellt sich die Frage, ob die Rechnung wirklich aufgeht und nach der Aufrechnung von Vor- und Nachteilen tatsächlich immer eine positive Bilanz gezogen werden kann. Hätten wir, wenn wir Aristoteles’ Lösung akzeptieren würden, nicht einen guten Grund dafür, gerade die Kunstwerke aufzusuchen, die mit einem minimalen Aufwand den größtmöglichen Gewinn abwerfen? Aber es scheint wenig plausibel, 211 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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daß wir tatsächlich mit dieser Art eines fast schon ökonomischen Kalküls ins Theater gehen. Eine zweite Möglichkeit zur Lösung des Paradoxons der Tragödie geht auf David Humes Essay Of Tragedy zurück. Hume postuliert dort ein Konversionsprinzip und nimmt an, daß sich die schmerzhaften, tragischen Emotionen, denen der Betrachter einer Tragödie ausgesetzt ist, nach und nach in Lust verwandeln und auf diese Weise auflösen. Und je größer die unangenehmen Empfindungen, desto besser – das resultierende Vergnügen sei entsprechend größer. Wie läßt sich Licht in das Dunkel dieser geheimnisvollen Verwandlung bringen? Humes Antwort lautet: Unser Vergnügen an der schönen Form eines Kunstwerks könne die negativen Emotionen, die der Inhalt wecken mag, in ihr Gegenteil transformieren (Hume 1993, 128 f.; vgl. A Treatise of Human Nature, II.3.4 Of the Causes of the Violent Passions). Diese Lösung klingt fast zu schön, um wahr zu sein, und zuletzt bleibt dieser Transformationsprozeß von schmerzhaften Empfindungen in eine ungetrübte Freude doch ein Mysterium (vgl. Schier 1983; Budd 1995, 113). Humes Unterscheidung zwischen den dargestellten Inhalten einer Tragödie und der Form, in der diese Inhalte präsentiert werden, ist sehr wertvoll und spielt für meine eigene Konzeption eine wichtige Rolle. Nur macht Hume in meinen Augen einen falschen Gebrauch von dieser Unterscheidung; auch kann allein der Hinweis auf die Freude an schönen Formen das Verschwinden der negativen Emotionen nicht erklären. Sicherlich mag die formale Präsentation einer negativen Emotion in manchen Fällen ein gewisses Vergnügen beim Betrachter hervorrufen; doch in anderen Fällen mag die Form für eine zusätzliche Verstärkung seines Unbehagens sorgen. Dennoch wird allein die formale Konstruktion eines Kunstwerks nicht dazu in der Lage sein, jede unangenehme Empfindung in ein lustvolles Vergnügen zu verwandeln. Ein dritter Ansatz zur Lösung des Paradoxons der Tragödie weist auf das hedonistische Vorurteil hin, das sich bereits in die Formulierung des Problems eingeschlichen hat: Die Frage war ja, aus welchem Grund sich die Betrachter freiwillig den tragischen Emotionen aussetzen. Im Alltag, so die Annahme, versuchen wir diesen Emotionen doch aus dem Weg zu gehen. Dem dritten Lösungsvorschlag zufolge ist diese hedonistische Annahme falsch, und wenn viele Menschen tatsächlich eine negative Bewertung negativer Emotionen vornehmen, so sei hier eine Um- und Neubewertung erforderlich: Wir dürften nicht alle Er212 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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fahrungen am Maßstab der Lust und des Vergnügens allein bewerten; manche schmerzhaften Erfahrungen könnten schließlich um ihrer selbst willen wertvoll sein. Gerade ihre besondere Befähigung zum Leiden machte es den Griechen Nietzsche zufolge möglich (Geburt der Tragödie Abschnitt 3, KSA 1, 34 ff.; Götzen-Dämmerung KSA 6, 128), die Tragödie zu erfinden; und paradoxerweise spricht Nietzsche sogar noch von einer besonderen Lust an diesen negativen Empfindungen als »die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters«: »Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen […]: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst […].« (Götzen-Dämmerung, KSA 6, 160; Hervorh. i. O.)
Aus ganz unterschiedlichen Gründen können jedenfalls auch Emotionen, die mit recht unangenehmen Sinnesempfindungen einhergehen, positiv bewertet und dann sogar freiwillig aufgesucht werden, und zwar um keiner anderer Zwecke willen, als dazu, die betreffenden Emotionen zu erfahren (Schier 1983, 82 f.; Budd 1995, 118 f.). Aus zwei Gründen scheint dieser dritte Vorschlag sehr attraktiv: Zunächst spricht für ihn die allgemeine Überlegung, daß er tatsächlich erlaubt, den Wert der Erfahrung von tragischer Kunst als intrinsischen Wert zu fassen. Er macht die Erfahrung von Kunst nicht zum Mittel des Zwecks einer Maximierung von besonderen Erkenntnissen oder von purer Lust und reduziert den besonderen Wert der Rezeption eines tragischen Kunstwerks also nicht auf einen anderen Wert. Darüber hinaus kann er gerade auch auf meine Konzeption des Tragischen sehr gut angewendet werden. Tragische Kunstwerke ermöglichen uns eine imaginäre Reflexion unserer (negativen) Emotionen und können somit zur Artikulation unseres Selbstverständnisses beitragen. Unter der Voraussetzung, daß wir ein Interesse an einer solchen Reflexion haben, wird uns tragische Kunst als wertvoll erscheinen. Die schmerzhaften Begleiterscheinungen fallen dabei nicht mehr in einer imaginären Lustbilanz negativ ins Gewicht. Sie sind jetzt vielmehr ein konstitutiver Bestandteil einer Erfahrung, die wir um ihrer selbst willen aufsuchen. Die Tragödie kann somit als ein Produkt der Ausübung unserer emotionalen Phantasie verstanden werden. Daß uns diese Fähigkeit auch Bewußtseinszustände erschließt, die nicht nur angenehme Inhalte haben, kann nicht besonders überraschen. Im Anschluß an Jerrold Levinson möchte ich diesen dritten Ansatz 213 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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auf das besondere Phänomen des Tragischen in der Musik anwenden. Levinson (1990, 322 ff.) listet acht Vorschläge zur Lösung des Problems der negativen Emotionen in der Musik auf. Seine beiden ersten Vorschläge sind nur von begrenzter Bedeutung: Zum einen, so Levinson, könne uns eine emotionale Reaktion dabei helfen, die expressiven Eigenschaften eines Musikstücks zu identifizieren und zu beschreiben, und zum anderen könne sie uns helfen, uns in emotionaler Hinsicht zu »reinigen«, d. h. uns von bestimmten negativen Emotionen zu befreien. Wie ich schon erwähnt habe, ist dies aber nur eine Lesart des Begriffs »Katharsis«. Deshalb wende ich mich sofort seinen sechs übrigen Vorschlägen zu, die er in zwei Gruppen einteilt: Die drei ersten Vorschläge hängen von einer bloßen Spiegelung der expressiven Eigenschaften durch den Hörer ab, die drei letzten Vorschläge setzen dagegen eine imaginäre Identifikation des Hörers mit der musikalischen persona voraus: Erstens: Unabhängig von der hedonistischen Qualität eines phänomenalen Zustands können wir die Tatsache genießen und wertschätzen, daß wir uns in diesem oder jenem Zustand befinden. Auch unangenehme und schmerzhafte Gefühlszustände können um ihrer selbst willen interessant sein, und deshalb mögen wir unter Umständen einen schmerzhaften Zustand unseres Bewußtseins einem bewußtlosen Zustand vorziehen (vgl. Rinderle 2007, 50). Tragische Musik kann uns einen Zugang zu solchen phänomenalen Zuständen verschaffen, und so läßt sich die Frage beantworten, warum viele Menschen überhaupt Wert darauf legen, sich tragischer Musik auszusetzen. Die Erfahrung des Tragischen kann uns nicht zuletzt davor bewahren, unangenehme Dimensionen unserer Existenz auszublenden, uns selbst etwas vorzugaukeln und unser Glück nur in der bequemen Haltung sentimentaler Herzlosigkeit zu suchen. Zweitens: Aus der Bekanntschaft mit bestimmten phänomenalen Zuständen können wir nun einen epistemischen bzw. kognitiven Vorteil ziehen. Wir können verstehen lernen, wie es sich anfühlt, sich in diesem oder jenem Bewußtseinszustand zu befinden: »We have an opportunity to introspectively scrutinize and ponder the inner affective dimension of an emotion – say, anguish – whose idea is before the mind, in a manner not open to the individual who is caught in the throes of real anguish.« (Levinson 1990, 325; vgl. ähnlich Schier 1983, 90; Young 2001, 110) Man könne Musik schätzen, »because it gives insight, when properly experienced, into the character of romantic love 214 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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or the inevitability of suffering« (Levinson 2006, 187). Levinson räumt zwar ein, es sei notorisch schwierig, genau anzugeben, wie ein Wissen über die Art und Weise, wie sich eine Emotion anfühle, genau beschaffen sei; dennoch läßt er keinen Zweifel daran aufkommen, daß uns die Wahrnehmung von Musik eine Erweiterung dieser besonderen Form des Wissens erlaubt. Drittens: Als empfindungsfähige Lebewesen haben wir ein Interesse an der Ausbildung und Erweiterung unserer Fähigkeit zur emotionalen Bewertung von Ereignissen, und gerade tragische Musik kann uns zu einer bestimmten emotionalen Reaktion auffordern. Ein Mensch, der zu bestimmten emotionalen Reaktionen nicht in der Lage ist, kommt uns oberflächlich und seicht vor; er hat keinen echten Charakter, denn er verfügt über keinen emotionalen Resonanzboden und wird deshalb den Wert bestimmter Dinge nicht verstehen können. Und während die Kultivierung der Fähigkeit zur Empfindung positiver Emotionen nach Levinson kein besonderes Problem darstellt, eröffnet uns vor allem tragische Musik die Möglichkeit, eine Fähigkeit zur Empfindung negativer Emotionen zu erwerben und zu kultivieren. Auch von Beethoven, so Hans Heinrich Eggebrecht (1994, 14) wurde das Leiden nicht nur »als menschliche Gegebenheit […] und als notwendige Voraussetzung zur Freude«, sondern auch »zur Bewährung und Würdigkeit im moralischen und religiösen Sinne angesehen«. Malcolm Budd (1995, 122), allgemein am Wert tragischer Erfahrungen interessiert, schreibt ähnlich: »In the experience of tragedy our emotions are engaged by a world in which evil, misjudgement, suffering, luck and irresolvable conflicts of values play crucial roles in the lives of the protagonists; and it is our implicit acknowledgement of the fact that these are factors intrinsic to human life that renders the experience of a tragedy valuable for the insight it provides […], if the tragedy manifests a superior understanding of how a person’s life might be shaped by and ultimately come to grief because of such factors.«
Musik kann auf diese Weise also einen Beitrag zur Ausbildung von Selbstachtung und einem Gefühl von unserer Würde leisten. Viertens: Wenn wir uns bei der Wahrnehmung eines Musikstücks vorstellen, eine bestimmte Emotion zu empfinden, dann kann es uns gelingen, die Fähigkeit zur Kontrolle und Beherrschung dieser Emotion – und zwar gerade negativer, schmerzhafter Emotionen – zu erwerben und zu trainieren. Die formale Gestalt eines Musikstücks kann mir gleichsam einen Vorschlag unterbreiten, wie ich mit »meiner« Emotion umzugehen habe. Sie kann mich zum Widerstand gegen diese 215 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Emotion veranlassen, sie kann mir aber eventuell auch nahelegen, eine unangenehme Emotion zu erdulden und mit Fassung zu tragen. So schreibt Gustav Falke (1997, 27): »Bei Beethoven wird der aktive Widerstand gegen das Schicksal gestaltet, bei Schubert und Brahms das passive Getriebenwerden. Bei Beethoven ist die Ruhe Aktivität in Potenz, bei Schubert und Brahms Erlösung.« Siehe ähnlich Albrecht von Massow (2001, 268): »Wenn man nämlich in der Wiener Klassik Haydns und Mozarts […] eher die zustimmende oder resignative Bereitschaft des Subjekts, sich in eine von ihm als gegeben angesehene Rahmenbedingung zu fügen, erblickt […], dann erscheinen demgegenüber Entwicklungsperiodik und ihre Erweiterung zur Durchführung bei C. Ph. E. Bach und später bei Beethoven […] mit Adornos Blick als Verfügungsgewalt eines Subjekts, das in ein Gegebenes oder von ihm selbst Gegebenes von vornherein beständig verändernd eingreift, weswegen es hier als setzende Instanz auffällt und bewußt wird.« Auf die Werke Haydns und Mozarts verweisend spricht Massow (ebd., 262) von einem »im katholischen Weltbild« verwurzelten »Vertrauen in das Gegebene, in das Selbstgeschehen des Daseins«, von einer »Haltung der Ergebung«, die »in vielen Werken Haydns und Mozarts« zu spüren sei; von Tragik ist daher gerade in der Musik Haydns recht wenig zu spüren. In der Musik des 20. Jahrhunderts taucht dieser Gegensatz zwischen dem protestantischen Individualismus und dem katholischen Welt- und Gottvertrauen in der Gegenüberstellung der Werke Helmut Lachenmanns und Olivier Messiaens wieder auf (dazu: Gottwald 2003, 162 ff.). Vgl auch Wilfrid Mellers (1995, 221 f.) über Olivier Messiaens Abwendung von der Sonate, die ihm als ein Ausdruck des protestantischen, in der Entwicklung der westlichen Kunstmusik inkarnierten Individualismus erscheine: Dabei bediene sich Messiaen zum Ausdruck dieser Emotionen gerade nicht eines Textes, es sei vielmehr die spezifische Gestaltung des Materials, die die religiöse Expressivität seiner Instrumentalmusik ausmache. Zwar könne man in Messiaens Musik auf vielerlei Symbole stoßen, ihre spezifische Expressivität erschließe sich aber sehr direkt aus der unmittelbar wahrnehmbaren Klangwelt, zusätzlich dann auch über ein strukturell orientiertes Hören der übergreifenden Form.
Die formale Gestaltung eines Musikstücks kann den Hörer also dazu veranlassen, in seiner Imagination eine musikalische persona entstehen zu lassen, die ihn zu einer emotionalen Identifikation auffordert. Diese imaginäre Person befindet sich nicht nur in einem bestimmten emotionalen Zustand, sie nimmt gleichzeitig auch eine emotional geprägte Reflexion bestimmter Zustände vor; eine Identifikation des Hörers mit dieser Person wird dann eine Reflexion und eventuell sogar die Kontrolle oder Beherrschung bestimmter Emotionen ermöglichen (vgl. Abschnitt 3.4). 216 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Fünftens: Diese Identifikation mit der musikalischen persona liefert als weiteren Vorteil die Fähigkeit zum Ausdruck der eigenen Emotionen. Die expressiven Gesten, die diese imaginäre Person in einem musikalischen Raum ausführt, können dem Hörer die Fähigkeit vermitteln, die eigenen Emotionen selbst auf angemessene Weise auszudrücken. Er kann sich diese Gesten zum Vorbild für die Manifestation, Artikulation und Reflexion der eigenen Emotionen nehmen. Dabei spricht viel dafür, die Fähigkeit zum äußeren Ausdruck von Emotionen in einem engen Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Ausbildung dieser Emotionen zu sehen. Das legt die in Abschnitt 1.3 beschriebene Auffassung nahe, daß der Ausdruck einer Emotion als ein konstitutiver Bestandteil dieser Emotion zu verstehen sei. Unser Interesse daran, diese expressiven Fähigkeiten zu erwerben, kann dann sogar die unangenehmen Aspekte der in dem jeweiligen Musikstück präsenten negativen Emotionen kompensieren. Sechstens: Ein letzter Vorteil, den uns die imaginäre Identifikation mit einer musikalischen persona bescheren kann, ist die emotionale Kommunikation mit einem anderen, sei es auch nur imaginären Lebewesen. Schon Leo Tolstoi (1999, 75) vertritt in seinem Essay Was ist Kunst? die Auffassung, Kunst stelle eine Form der Kommunikation mit dem Künstler dar: »Sobald die Zuschauer, die Zuhörer von demselben Gefühl, das der Dichter empfunden hat, angesteckt werden, ist dies Kunst.« Jerrold Levinson (1990, 329) spricht ähnlich von einem »reward of intimacy«, einem »reward of Emotional Communion«; und Flint Schier (1983, 88) meint, Leser oder Hörer können sich als ein Mitglied »of a particular community of imaginative sentiment« verstehen. Musik vermag auf diese Weise dazu beizutragen, dem Hörer ein Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln, durch das er sich von einem anderen Lebewesen verstanden fühlen kann. Die Wahrnehmung von Musik in Form einer imaginären Identifikation mit einer musikalischen persona kann dann dazu beitragen, einen Hörer aus seiner emotionalen Isolierung zu befreien. Aus der Perspektive einer imaginären Person kann er sich und seine Emotionen besser akzeptieren, er kann nicht nur die Fähigkeit erwerben, sie zu kontrollieren, zu beherrschen und ausdrücken, sondern auch die Fähigkeit erwerben, diese Emotionen mit anderen Menschen zu teilen. Er kann sich dann besser in andere Menschen hineinversetzen, und er kann auch zulassen, daß sich andere Menschen in ihn hineinversetzen. In mindestens einer Hinsicht bleibt diese Liste aber ergänzungs217 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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bedürftig. Levinson beschränkt sich nämlich auf Vorteile, die mit der Fähigkeit zur Reflexion von Emotionen und der Möglichkeit zur Entwicklung von Loyalität und Solidarität zwischen den Menschen zu tun haben. Hinzufügen sollte man an dieser Stelle noch, daß tragische Kunst auch einen Beitrag zur Entwicklung der menschlichen Autonomie und Individualität leisten kann. Menschen sind wie Tiere empfindungsfähige Lebewesen, aber sie sind gleichzeitig rationale Kreaturen, die sich in manchen Fällen über ihre Leiden erheben können und über die Fähigkeit einer mehr oder weniger freien Gestaltung ihres Lebens verfügen. Immanuel Kant (Kritik der Urteilskraft § 27) und Friedrich Schiller (2005, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, 129 ff.; ebd., Über die tragische Kunst, 143 ff.) zufolge kann tragische Kunst vor allem einen Beitrag zum Erwerb, zur Entfaltung und zur Erhaltung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung leisten; Musik kann daher auch zur Entfaltung und Befestigung unserer Freiheitsliebe beitragen (vgl. Abschnitt 5.3). Mit Blick auf diese besondere Fähigkeit kann uns der tragische Held ein Vorbild darin sein, unser Schicksal und unser unverdientes Leid mit Würde zu tragen. Nur aus einer hedonistischen Perspektive kann man somit von einem Paradoxon der Tragödie sprechen. Das Paradox löst sich auf, wenn man bedenkt, daß andere Werte wie Wissen, Verstehen, die Fähigkeit, angemessen auf bestimmte Ereignisse reagieren zu können, sowie nicht zuletzt die Fähigkeit zur rationalen Selbstbestimmung für die Wertschätzung der tragischen Emotionen entscheidend sein können. Man sollte sich daher von den verborgenen hedonistischen Vorannahmen der Fragestellung befreien und nicht einfach nur danach fragen, welchen unmittelbaren Lustgewinn die Erfahrung des Tragischen abwirft. Die Lust ist weder der höchste Wert noch der einzige Inhalt eines guten Lebens. Negative Emotionen sind ebenfalls ein integraler Bestandteil eines guten Lebens, und deshalb gibt es in manchen Fällen gute Gründe, Angst um sich selbst und Mitleid mit anderen Menschen zu haben. Wir wollen die negativen Emotionen also nicht aus unserem Leben verbannen, sondern vielmehr unsere Fähigkeit kultivieren, auch diese Emotionen als wichtigen Teil unseres Lebens zu akzeptieren. Gerade deshalb haben wir ein zentrales Interesse daran, ihre Angemessenheit für unterschiedliche Situationen und Gegenstände jeweils richtig zu beurteilen. Wir haben, mit anderen Worten, ein Interesse an einer reflektierten Bewertung dieser negativen Emotio218 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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nen; und es ist gerade die tragische Kunst, die uns eine Möglichkeit an die Hand gibt, unsere emotionalen Fähigkeiten zu kultivieren und jeweils situationsgerecht zu kalibrieren. Musik mag die Schule unserer emotionalen Phantasie sein; doch die Philosophie, das dürfen wir darüber nicht vergessen, dient unter anderem einer Kultivierung des rationalen Zweifels. Daher möchte ich diesen Abschnitt mit einer kleinen Warnung in bezug auf die hohe Wertschätzung tragischer Kunst beschließen. Viele Autoren machen in meinen Augen den Fehler, die ethische Bedeutung des Ausdrucks und der Artikulation von negativen Emotionen zu überschätzen. Levinson (1990, 326) beispielsweise vertritt die Auffassung, der Gewinn einer emotionalen Antwort auf die Wahrnehmung von Musik habe viel eher etwas mit negativen als mit positiven Emotionen zu tun. Wir müßten nicht erst beweisen, daß wir eine Fähigkeit zur Freude und zum Vergnügen hätten; und solche Fähigkeiten bedürften auch nicht einer besonderen Kultivierung. Im Ideal eines emotional voll entwickelten Menschen spiele weit eher die Fähigkeit zur Erfahrung von negativen Emotionen eine Rolle. Doch diese Auffassung leuchtet mir überhaupt nicht ein – als wäre es nicht manchmal schwierig genug, die richtige und angemessene Art der Freude über das Eintreten eines bestimmten Ereignisses zu empfinden! Levinson bleibt auch ein Argument für sie schuldig. Man könnte sich ein Argument vorstellen, das von einer recht pessimistischen Haltung seinen Ausgang nimmt: Freude und Vergnügen seien potentiell immer inauthentisch, weil ideologieverdächtig, und die wahren und authentischen Emotionen seien dagegen immer nur Angst, Trauer und Furcht. In seiner Ästhetischen Theorie schreibt Adorno etwa, Ausdruck lasse »kaum anders sich vorstellen denn als der von Leiden – Freude hat gegen allen Ausdruck spröde sich gezeigt, vielleicht weil noch gar keine ist, und Seligkeit wäre ausdruckslos« (Adorno 1973a, 169). Schon in der Philosophie der neuen Musik schreibt Adorno (1978, 126) in diesem Sinne über Neue Musik: »All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen.« Und in seinen Minima Moralia schreibt er (1951, 74), es führe »ein gerader Weg […] vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern«. Auch diese Hinweise überzeugen jedoch nicht, denn es scheint mir keinen prinzipiellen Grund zu geben, einem Ausdruck allein deshalb 219 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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zu mißtrauen, weil er der Ausdruck einer positiven Emotion ist. Auch negative Emotionen wie Angst und Furcht – gerade das ist ja eine Lektion, die uns die Erfahrung von tragischer Kunst lehren soll – können unangemessen und inauthentisch sein. Das Selbstmitleid kann in einem egoistischen Narzißmus wurzeln, und das Mitleid mit anderen Menschen kann einer ebenso egoistischen Sentimentalität entspringen. Umgekehrt gibt es keinen Grund, jedem Ausdruck von Freude oder Heiterkeit ein mangelndes Bewußtsein der wahren Verhältnisse zu unterstellen und positiven Emotionen gegenüber dann einen pauschalen Verdacht der Inauthentizität, der Lüge oder der Selbsttäuschung zu hegen. Gerade beim Ausdruck von positiven Emotionen wie Freude wird eine Feinjustierung wichtig sein, und zu diesem Zweck wird die Literatur, aber auch die Musik wertvolle Dienste leisten können. Pierre Boulez (2005a, 372) hält an diesem Punkt nicht mit Kritik an der 2. Wiener Schule hinterm Berg: »La musique des Viennois [der 2. Wiener Schule; P. R.] n’était guère capable que d’exprimer l’angoisse, l’anxiété, la noirceur; elle était impuissante face à la joie, l’humour, la sérénité. Elle amputait d’une façon inadmissible le registre des émotions […].« Insbesondere die Musik Olivier Messiaens, so der Musikkritiker Richard Taruskin (2009, 298), lasse sich dagegen als ein authentischer Ausdruck von Freude verstehen: »Messiaen, whose life spanned practically the entire century, got from one end of it to the other without expressing anything but joy.« Ein Grund dafür ist sicher in der starken Religiosität des Komponisten zu finden. Auch bei Joseph Haydn finden wir einen glaubwürdigen Ausdruck von positiven Emotionen, und auch bei ihm mag der Glaube eine bedeutende Rolle spielen. »Haydn«, erzählt Peter Kivy (1989, 101), »when asked why his church music was often so light-hearted, is supposed to have replied: ›Because whenever I think of my God I laugh with joy.‹«
4.4 Musik und religiöse Emotionen Diese Beispiele deuten bereits darauf hin, daß es eine enge Beziehung zwischen Musik und Religion gibt (vgl. Motte-Haber 1995; Gottwald 2003; Sequeri 2005). Lange Zeit hatte die Rezeption von Musik vor allem in religiösen Kontexten eine besondere Bedeutung, und Johann
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Sebastian Bach 5 , Anton Bruckner 6, Arnold Schönberg 7 , Igor Strawinsky 8, John Cage 9, Olivier Messiaen 10 , Karlheinz Stockhausen 11 , Benjamin Britten, Bernd Alois Zimmermann, Klaus Huber, Krysztof Penderecki, Alfred Schnittke und Sofia Gubaidulina – wie auch der Saxophonist John Coltrane in A Love Supreme oder der Trompeter Wynton Marsalis in In This House, On This Morning – sind Komponisten, die in der Musik, auf je verschiedene Weise, ihre Religiosität zum Ausdruck bringen. Inzwischen gibt es sogar christlich inspirierte Heavy Metal Bands wie beispielsweise Saint oder Stryper; einer der Songs von Stryper trägt den vielsagenden Titel: To Hell with the Devil. Das Verhältnis von Musik und Religion kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und analysiert werden. Man könnte sich fragen, ob es Parallelen zwischen der ästhetischen Erfahrung und der religiösen Erfahrung gibt. Roger Scruton meint etwa, beide Formen der Erfahrung zeichneten sich durch ein bestimmtes GemeinschaftserlebVgl. etwa Eggebrecht (2001, 189): »Nicht nur Bachs Kirchenmusik, sondern alle Musik von ihm, auch seine Instrumentalmusik, wird innerhalb der Bach-Rezeption nicht selten als religiöse Musik apostrophiert, das heißt als eine Musik, die gottverbunden ist, indem sie auf Gott weist.« Seine Musik »wirkt als Inbegriff des Beisammenseins von Ausdruck und Ordnung, Emotion und Struktur« (ebd., 191). Siehe hierzu ferner Falke (2001, 175 f.). 6 Vgl. Söhngen (1967, 297), Eggebrecht (1996, 698 ff.), Sequeri (2005, 374 ff.) und Küng (2006, 180 f.): »In seinen so vielfältigen Symphonien spiegeln sich nicht nur Bruckners allgemein menschliche, sondern auch seine religiösen Erfahrungen, seine religiöse Welt. […] Musik ist für ihn die Sprache des Herzens, und sein Herz hat zutiefst innerlich geglaubt […].« 7 Siehe Ringer (2002, 178 ff. und 252 ff.): »Seine Methode der Komposition mit zwölf Tönen diente […] der strikt musikalischen Verwirklichung des Einheitsprinzips, das er als religiöser Mensch im Gottesgedanken des Judentums erkannte.« (Ebd., 183) 8 Strawinsky bezeichnet Musik »as a form of communion with our fellow man – and with the Supreme Being« (1956, 146). Im Unterschied zu Stockhausen beachtet Strawinsky neben dem »transzendentalen« aber eben auch den sozialen Charakter von Musik. 9 Siehe Gann (2010, 134 ff.) über zen-buddhistische Einflüsse bei John Cage. 10 Siehe Gottwald (2003, 8. Messiaen als Epilog), Sequeri (2005, 406 ff. und 496 ff.) sowie Taruskin (2009, 292 ff.). In einem Gespräch mit Samuel (1976, 2 und 7) sagt Messiaen: »The first idea that I wished to express – and the most important, because it stands above them all – is the existence of the truths of the Catholic faith.« »I would add that most of the arts are unsuited to the expression of religious truths: only music, the most immaterial of all, comes closest to it.« 11 Vgl. Stockhausen (1989, 546): »Der Inhalt meiner Stücke war immer religiös, nicht nur bei Werken mit religiösen Texten. Der transzendentale Charakter war und ist immer da.« Siehe dazu auch Gottwald (2003, 132 ff.). 5
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nis aus (vgl. Scruton 1997, Culture and Religion, 458 ff.). Im Rahmen der besonderen Zielsetzung meiner Untersuchung soll mich jedoch vorrangig die Frage interessieren, ob sich Musik auch für eine Artikulation und Reflexion religiöser Emotionen eignet. Dabei möchte ich nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß die Musik per se gleichsam mit einer religiösen Dimension ausgestattet ist. Das legt etwa Martin Luther in der Skizze Peri tês musikês nahe: »Ich liebe die Musik […] Weil sie 1. ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen ist, 2. Weil sie die Seelen fröhlich macht, 3. Weil sie den Teufel verjagt, 4. Weil sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen die Zornanwandlungen, die Begierden, der Hochmut.« (Zitiert nach Söhngen 1967, 87; vgl. Kalischer 1888, 49 ff.) Und Hans Heinrich Eggebrecht (2001, 98) vergleicht die mit sprachlichen Mitteln nicht greifbare Bedeutung von Musik – und zwar aller Instrumentalmusik – mit der mit dem bloßen Verstand nicht greifbaren Bedeutung Gottes: »Dieses dem Verstande Unerreichbare kann benannt werden, Namen sind: das Unbegreifliche, das zeitlos Seiende und Wahre, das Absolute, das Transzendente, das Göttliche, oder einfach: Gott. Seit jeher ist die Musik in diese Richtung benannt worden, benannt als göttlichen Ursprungs, Geschenk Gottes, Gegenwart Gottes, Instrument der Erkenntnis Gottes.« Aus diesem Grund meint Eggebrecht: »Alle Musik, auch Musik ›an sich‹ […] kann als religiös, auf Gott weisend, als gottverbunden gelten sub specie einer Auffassung von Musik überhaupt, insbesondere der augustinischen und lutherischen Auffassung der Musik als Geschenk Gottes […].« (Ebd., 190) Nikolaus Harnoncourt (2007, 62) schreibt, »eine unreligiöse Musik gibt es nicht«; und Joseph Ratzinger (1978, 9) meint ähnlich: »[…] wo der religiöse Boden der Musik abgeschnitten wird, ist […] die Musik und die Kunst selbst bedroht.«
Mit einer solchen Annahme würde man freilich nicht nur die spezifischere Frage nach religiösen Inhalten bestimmter Musikstücke aus dem Blick verlieren; mit ihr ginge auch die Möglichkeit verloren, zwischen religiöser und areligiöser bzw. irreligiöser Musik zu unterscheiden. Deshalb möchte ich hier danach fragen, ob es bestimmte Musikstücke gibt, die bestimmte religiöse Emotionen zum Ausdruck bringen können. Diese Frage schließt die Möglichkeit ein, daß manche Musikstücke auch irreligiöse Emotionen zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus kann man gegen die Auffassung, Musik sei religiöser Natur, zahlreiche Gegenbeispiele anführen: Sicher würden wir etwa die Musik Sergej Prokofjews, György Ligetis und Pierre Boulez’ nicht als religiöse Musik bezeichnen; zudem würde man mit der Vorstellung, alle Musik sei religiös, die spezifische ethische Ambivalenz der Musik, ihre 222 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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»diabolischen«, uns zur Sinneslust verführenden Möglichkeiten, aus dem Blick verlieren. 12 Bevor wir uns einer Klärung des Verhältnisses von Musik und religiösen Emotionen zuwenden, müssen wir zunächst versuchen, den Begriff des Religiösen und seine Reichweite hinreichend klar zu beschreiben. Dabei geht es mir nicht darum, eine vollständige Bestimmung des Begriffs des Religiösen vornehmen zu können. Im vorliegenden Zusammenhang sollte ohnehin eine gewisse Skepsis gegenüber allen Versuchen einer rein begrifflichen Annäherung an das Gebiet des Religiösen vorwalten. Denn es könnte sich zuletzt herausstellen, daß uns bestimmte Dimensionen des Phänomenbereichs der Religion nur durch bestimmte Emotionen – die sich viel besser in der Musik als etwa in der Sprache ausdrücken lassen – zugänglich sind. Mark Wynn (2005, 5. Emotional feeling and religious understanding) spricht etwa von einer affektiv gefärbten Wahrnehmung von Gott und unseren Mitmenschen, hebt hervor, »that feeling can extend the understanding achieved in discursive thought« (ebd., 128), und interessiert sich daher auch besonders für »the religious potency of music« (Wynn 2004), die besonderen Möglichkeiten eines musikalischen Ausdrucks religiöser Emotionen. Auch möchte ich nicht der populären Frage nachgehen, ob die Musik im Vergleich zu anderen Künsten eine privilegierte Beziehung zu religiösen Emotionen hat, denn zu diesem Zweck müßte man die entsprechenden Defizite anderer Künste benennen und begründen können. Das würde nicht nur den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen, auch für die Aufklärung des Verhältnisses von Musik, Emotionen und Ethik wäre damit recht wenig gewonnen. Wie können wir uns also dem Phänomen des Religiösen annähern? Ernst Tugendhat hat jüngst den Vorschlag gemacht, von einem anthropologischen Faktum auszugehen: dem Faktum, daß wir Wesen sind, die »ich« sagen können und die sich aus diesem Grund zur Einnahme einer »egozentrischen« Perspektive gegenüber ihrer natürlichen und sozialen Umwelt veranlaßt sehen. »Für einen ›ich‹-Sager 12 Vgl. Thomas Mann (1952, 160), der seinen Protagonisten Settembrini im Zauberberg sagen läßt: »Die Musik weckt die Zeit, sie weckt uns zum feinsten Genusse der Zeit […] insofern ist sie sittlich. […] Aber wie, wenn sie das Gegenteil tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde.« Siehe dazu ferner Söhngen (1967, II. Die Musikanschauung der Reformation), Bloch (1974, 314), Lachenmann (1996, 107), Fuhrmann (2004, 106 ff.) und Bicknell (2009, 4 ff.).
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wandelt sich die rudimentäre Selbstzentrierung […] zu einer Ego-Zentrizität um: man hat nun nicht nur Gefühle, Wünsche, usw., sondern man weiß sie als seine eigenen Wünsche.« (Tugendhat 2003, 29). Dabei dürfe man die Egozentrizität nicht mit dem Egoismus verwechseln (ebd., 39). Dieses Bedürfnis, uns um unser eigenes Dasein zu sorgen, sieht Tugendhat als Ursprung eines gegenläufigen Bedürfnisses – des Bedürfnisses nämlich, unsere Egozentrizität zu begrenzen und zu relativieren. Insbesondere das Wissen um die Endlichkeit unserer Existenz bildet ein Motiv für das Bedürfnis, einen übergreifenden Sinn unseres Lebens jenseits der je partikularen Zwecke und Ziele zu suchen. Die Egozentrizität unserer Existenz ist daher untrennbar mit dem Versuch ihrer Transzendierung verknüpft, und das Phänomen der Religion – in einem weiten Sinn dieses Begriffs – ist genau ein Resultat dieses Bemühens um eine Transzendierung unserer Existenz. Tugendhat meint, »daß Menschen von ihrer anthropologischen Struktur her ein verständliches Bedürfnis haben sich zu sammeln, aber daß sie sich darin auf etwas verwiesen sehen, das in dem oben vage verwendeten Sinn ›transzendent‹ ist, und daß es außerhalb von Religion im engeren Sinn (exemplifiziert durch den orthodoxen Juden) oder Mystik (exemplifiziert durch den Zen-Buddhisten) keine Möglichkeit einer ›gesammelten‹ Existenz gibt.« (Ebd., 113 f.) Im Anschluß an seine allgemeine Beschreibung einer anthropologischen Grundstruktur unterscheidet Tugendhat demnach zwei Möglichkeiten zu einer Überwindung der Egozentrizität: die Religion im engeren Sinne des Wortes und die Mystik. 13 Die Religion im engeren Sinne beinhaltet den Glauben an einen personalen Gott; der Mystiker bezieht sich dagegen auf das Universum, spricht ihm den Charakter des Seins ab und strebt die Einsicht in die Nichtigkeit allen menschlichen Strebens an – wobei er zusätzlich darauf hinweist, daß das Religiöse und das Mystische meist in einem komplexen Mischungsverhältnis auftreten (2007, 179).
Kivy übersieht diese feinen Unterschiede und spricht nur von einer ekstatischen, religiösen oder einer mystischen Erfahrung »in which the subject comes to believe that some transcendent or ultimate ›reality‹ is being directly revealed to him« (2009, 250). Daß Religion und Mystik verschiedene Lösungen für das Problem der Egozentrizität bereitstellen, muß ihm daher entgehen. Ähnlich vernachlässigt Kivy den Unterschied zwischen religiösen und ästhetischen Emotionen (dazu: Otto 1979, 56), die sowohl in ihrem Objektbezug als auch in ihren affektiv-phänomenalen Qualitäten voneinander abweichen.
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Rudolf Otto (1979, 24) spricht auch von »einer charakteristischen Abwertung des Selbst« als einem der Hauptzüge der Mystik, weist gleichzeitig aber darauf hin, daß die Religion – etwa »das Christentum seit Paulus und Johannes« – eine »mystische Färbung« annehmen kann (ebd., 106 FN. 1). Tugendhat (2003, 125) unterscheidet in der Folge näherhin zwei Varianten der Mystik: »die völlige Entsagung von allem Wollen […], eine Mystik der Weltverneinung, wie sie für die verschiedenen Formen der indischen Mystik charakteristisch ist« und die vom Taoismus präferierte und moderatere Version des Seelenfriedens: »das Wollen wird nicht verneint, sondern relativiert und eingeschränkt«. Ziel einer taoistischen Mystik – der sich Tugendhat zuletzt selbst anschließt – ist deshalb nicht das Nicht-Handeln, »sondern ein Tun, das möglichst absichtslos ist wie das der Natur« (ebd., 133); zwar fehlt dann in der taoistischen Mystik das typisch christliche Gefühl der Liebe (ebd., 143), nicht aber das universelle Mitleid oder die Herzensgüte (ebd., 147 f.). John Rawls wendet sich dagegen in seiner jüngst veröffentlichten Bachelor-Arbeit Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube kritisch gegen die »Gemeinschaftsflucht« (2010, 149) des Mystikers: »Zunächst weisen wir den Mystizismus zurück, weil dieser eine Einheit unter Ausschluß aller Besonderheiten anstrebt und alle Unterscheidungsmerkmale überwinden will. Weil das Universum aber seinem Wesen nach gemeinschaftlich und personal ist, kann der Mystizismus nicht akzeptiert werden.« (Ebd., 153) Dabei kommt es mir hier nur auf die Unterschiede, nicht auf eine Schlichtung des Widerstreits zwischen diesen Haltungen an.
Etwas vereinfacht könnte man somit sagen, die Religion der jüdischchristlichen Tradition und der Buddhismus sind die beiden Möglichkeiten, die Egozentrizität des menschlichen Daseins zu begrenzen und relativieren. Der Buddhismus schlägt dem Menschen vor, auf alles Wünschen und Streben zu verzichten: Wir sollten vielmehr den Umstand, daß wir uns als von anderen Personen abgetrennte Strebensund Handlungseinheiten ansehen, als eine Illusion durchschauen lernen. Der Kern der christlichen Religion besteht dagegen in der Annahme, daß es ein allmächtiges und unendlich gütiges Wesen gibt, das die Welt und den Menschen nach seinem Vorbild erschaffen hat: Als Zeichen seiner unendlichen Liebe hat Gott seinen Sohn Mensch werden lassen und uns auf diese Weise die Vergebung der Sünden und das ewige Leben in Aussicht gestellt. Tugendhat selbst vertritt die Auffassung, daß die Mystik die einzige Option sei, die dem modernen Menschen zur Begrenzung der Egozentrizität heute noch zur Verfügung stehe. Aus Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann – er meint nicht nur, man könne »den Götterglauben mitsamt dem ihm zugrundeliegenden pragmatischen 225 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Faktor heute nur als eine Wunschprojektion ansehen«, sondern schreibt darüber hinaus, »daß eine Existenz von Göttern oder Gott für uns nicht einmal verständlich ist« – nimmt Tugendhat an, »daß man heute nicht mehr religiös im engeren Sinne sein« und sich nur auf »das mystisch gedeutete Universum« hin sammeln könne (2003, 123 f.). Für die Zwekke der vorliegenden Untersuchung bleibt dennoch seine Beschreibung (ebd., 119 und 122) der religiösen »Gemütsgestimmtheit« interessant: Sie bestehe aus einer Mischung aus Scheu, Dankbarkeit und einem Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht. In einer späteren Arbeit unterscheidet Tugendhat (2007, 187 f.) dann drei »Ausdeutungen« der Mystik: In der ersten Ausdeutung gilt die Überwindung aller menschlichen Gefühle als Ideal, und in der zweiten Ausdeutung geht es um die Erreichung einer besonderen Erkenntnis, nicht um ein Gefühl. »In der dritten Ausdeutung hingegen, in der der Mystiker seine Selbstrelativierung so versteht, daß er sich den Wesen dieser Welt erneut, aber nun selbstlos zuwendet, befindet er sich wohl in einem Gefühlszustand, in dem Elemente sowohl von Heiterkeit wie Traurigkeit enthalten sind.« Akzeptiert man die Beschreibung dieser beiden grundlegenden Optionen, so bietet es sich an, eine enge Verbindung zu bestimmten Emotionen vorzunehmen. Der Mystiker wird Emotionen wie Hoffnung, Furcht, Trauer usw. äußerst skeptisch gegenüber stehen. Abgesehen davon, daß er eine umgreifende Selbstlosigkeit und Interesselosigkeit – und bestenfalls noch eine allgemeine Menschenliebe – kultivieren will, wird es vor allem sein Bestreben sein, sich von allen spezielleren Emotionen, die ihn nur an sein begrenztes Dasein binden, zu befreien. Für den Christen werden dagegen Emotionen wie Freude und Dankbarkeit, Hoffnung und Demut den Kern seines Bezugs zu Gott und zu seinen Mitmenschen ausmachen (dazu: Otto 1979, 3. ›Das Kreaturgefühl‹ ; Roberts 2007, III. Christian Emotion-Virtues; Rawls 2010, 5. Die Bedeutung des Glaubens, 252 ff.). Für Robert Roberts (2008, 492 f.), der im Gegensatz zu Tugendhat einen weiten Begriff von Religion verwendet und sie allgemein auf das Transzendente hin ausgerichtet sieht, sind all die Emotionen religiös, die einen Gott oder ein anderes transzendentes Objekt zum Inhalt haben. Für jede Religion seien dann andere emotionale Normen charakteristisch, wobei für die christliche Tradition vor allem die Hoffnung zu den Kardinaltugenden zähle (ebd., 500). Können diese religiösen bzw. mystischen Emotionen auch in der Musik ihren Ausdruck finden? Können sie eventuell sogar bei der Re226 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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zeption der entsprechenden Musik kultiviert werden? Dabei möchte ich mich nach wie vor – gerade weil sich viele Autoren der besonderen Herausforderung, die die Annahme der Expressivität von rein instrumentaler Musik stellt, nicht recht bewußt sind –, auf die Möglichkeit der Expressivität von Instrumentalmusik beschränken. Sehen wir uns zunächst die Möglichkeit des musikalischen Ausdrucks von Emotionen an, die in einem engen Zusammenhang zu dem stehen, was Ernst Tugendhat die »mystische Haltung« nennt. Da sie keine näher bestimmte Vorstellung eines personalen Gottes beinhaltet, tut sich die abstrakte, ungegenständliche Musik relativ leicht mit dem Ausdruck solcher Zustände; und Autoren wie Arthur Schopenhauer, Clive Bell oder Peter Kivy (vgl. Abschnitt 3.1) scheinen bereits mit dem Zustand, den sie als »ästhetische Erfahrung« bezeichnen, in die Nähe einer solchen mystischen Haltung zu kommen. Mit Maynard Solomon (2003, 207) kann man insbesondere auf die Zeitgestaltung in der Musik des späten Beethoven als Beispiel verweisen: »[…] it is worth considering the potential connection between Eastern ideas about time or motionlessness and Beethoven’s emotional calls for the suppression of his personal passions except those directed toward art and the deity.« In diesem Zusammenhang verweist Solomon auf die Diabelli-Variationen, die langsamen Sätze der letzten Streichquartette sowie den 2. Satz, Adagio molto semplice e cantabile der Klaviersonate Nr. 32, op. 111. Von einem ähnlichen Interesse ausgehend schreibt Helmut Lachenmann (1996, 217; Hervorh. i. O.), der zen-buddhistische Begriff der Selbstlosigkeit (»im Sinn von Entsubjektivierung«) führe uns »in eine Gegend, wo das serielle Denken angesiedelt ist als Hintergrund für einen technischen Vorgang, mit dem sich das kreative Subjekt hierzulande einmal, vielleicht auch nur versuchsweise, selbst außer Kraft setzen wollte, um andere, unbekannte Energien in den musikalischen Mitteln zu aktivieren, und um diese dann wahrnehmend, auch kontemplativ, reflektierend, entdeckend, erkennend zu erfahren«. Levinson (2006, 54) weist allgemein darauf hin, daß Kunst manchmal »experiences […] of momentary will-lessness or self-transcendence« möglich mache.
Selbst wenn John Cage sich vehement gegen alle Versuche wehrt, seine Werke verstehen zu wollen (vgl. Rinderle 2010, 1.1 Musik verstehen …), so wird man in vielen seiner Werke doch auf eine innere Haltung treffen, die den Hörer zu einer Relativierung und Überwindung der menschlichen Egozentrizität einlädt. Die Verwendung des Zufalls in der Musik soll gerade den Einfluß der Persönlichkeit, ihre Intentionen und Emotionen zurückdrängen: »And thus we arrive at perhaps the simplest understanding of 4’33‚: that it is an invitation (or […] an 227 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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imposition of) zazen.« (Gann 2010, 144; meine Hervorh.) Für diese Haltung sind darüber hinaus aleatorische »Kompositionen« wie etwa Music of Changes, Concerto for Prepared Piano and Chamber Orchestra und Imaginary Landscape No. 4 für 12 Radioapparate repräsentativ. Die Einladung zu einer mystischen Überwindung der Egozentrizität kann die Musik vielleicht sogar überzeugender formulieren als manche gegenständliche Kunstgattung. In bezug auf die Möglichkeit einer Artikulation religiöser Emotionen im engeren Sinn hat Hans Küng (2006, 18) jüngst die These vertreten, daß der religiöse Glauben in der Instrumentalmusik seinen Ausdruck finden könne: »Wie auch die stumme Haltung und der wortlose Tanz dem religiösen Ausdruck dienen können, so kann dies auch die sprachlose, rein instrumentale Musik. Als musikalischer Gegenpol zum reinen Sprachgeschehen hat die instrumentale Musik eine selbständige Funktion, die des Wortes zur Erklärung nicht bedarf.« Man könne somit, so Küng (ebd., 168), »auch mit musikalischen Sinnen glauben«. Jeremy Begbie (2000, 8) schreibt ähnlich: »[…] music […] has significant potential to help us discover, understand and expound theological truth, to the advantage of theology and the deepening of our knowledge of God.« Siehe ferner Ratzinger (1978, 17): »Kirchenmusik mit künstlerischem Ausdruck steht nicht gegen das Wesen christlicher Liturgie, sondern sie ist eine notwendige Ausdrucksform des Glaubens an die weltumspannende Herrlichkeit Jesu Christi. Die kirchliche Liturgie hat den zwingenden Auftrag, […] den Kosmos zu transponieren, zu vergeistigen in die Gebärde des Lobgesangs hinein und ihn damit zu erlösen; die Welt zu humanisieren.« Zu den Unterschieden zwischen religiöser Musik im weitesten Sinne, gläubiger Musik, die an das Credo etwa des christlichen Glaubens gebunden ist, und Kirchenmusik für den Gottesdienst im engeren Sinn vgl. Söhngen (1967, 171 ff.) und Maier (2005, Kirchenmusik heute, 171 ff.).
Obwohl Küng relativ ausführlich von der Religiosität von Komponisten wie Mozart und Bruckner spricht, die ihren Ausdruck vorgeblich in deren Kompositionen für Instrumentalmusik finden soll, stammen seine wichtigsten Beispiele doch vorwiegend aus der Vokalmusik: Er verweist auf die Krönungsmesse von Mozart und widmet den letzten Opern Richard Wagners ein ganzes Kapitel. Sicherlich ist die Frage legitim, auf welche Weise der religiöse Glaube eines Menschen in der Vokalmusik seinen Ausdruck findet, und insbesondere könnte dabei das schwierige Verhältnis zwischen dem Text und der Musik zum Ge228 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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genstand genauerer Untersuchungen werden. Den Kern unseres Problems würde diese Vorgehensweise indessen verfehlen, und Küng enttäuscht deshalb die großen Erwartungen, die er mit seiner einleitenden Problembeschreibung weckt. Denn daß ein Text bestimmte Emotionen ausdrücken kann, ist unumstritten; die zentrale Frage bleibt aber doch, ob reine Instrumentalmusik religiöse Emotionen ausdrücken kann. Tatsächlich spricht Küng in einer einzigen Passage von der religiösen Dimension eines Instrumentalstücks: Im Adagio von Mozarts Konzert für Klarinette und Orchester, KV 622, nimmt er »Chiffren« und »Spuren der Transzendenz« wahr (ebd., 52). »Ich spüre, daß ich gänzlich, mit Augen und Ohren, Leib und Geist nach innen gewendet bin; das Ich schweigt, und alles Äußere, alle Entgegensetzung, alle Subjekt-Objekt-Spaltung ist für einen Augenblick überwunden. Die Musik ist nicht mehr ein Gegenüber, sondern ist das Umfangende, Durchdringende, von innen her Beglückende, mich ganz Erfüllende.« (Ebd., 50) Die Musik Mozarts lasse uns eine Form der Glückseligkeit ahnen, die nicht nur die Sphäre des rein Menschlichen, sondern selbst die Sphäre der Musik transzendiere. Auf diese Weise komme insbesondere der affektiven Kraft dieser Musik eine epistemische Bedeutung zu: »[…] durch ihre emotionale Macht, unvergleichliche Ausdruckskraft und sinnlich-geistige Schönheit kann die Musik von einem Wissen um ein ›ganz Anderes‹ zeugen und dieses auch in anderen erwecken.« (Ebd., 19) Küng nennt die Musik daher »bei aller Sinnlichkeit doch die spirituellste der Künste« (ebd., 20).
Zweierlei ist hier anzumerken: Zum einen läßt Küng offen, welche formalen Elemente der Musik mit ihren expressiven Qualitäten zusammenhängen. Zweifelsohne ist die Hörerfahrung eine notwendige Voraussetzung, um der Musik eine expressive Qualität zuzuschreiben, doch sie ist nicht hinreichend. Küng kümmert sich nicht um die Frage, ob diesem Stück tatsächlich eine expressive Qualität zukommt und ob diese Qualität dann eine normative Vorgabe für das angemessene Verständnis dieses Stücks bildet; deshalb bleibt der Verdacht im Raum stehen, daß die Wahrnehmung transzendenter Spuren womöglich nur auf eine zufällige Assoziation des Hörers Küng zurückzuführen ist. Zum anderen wäre zu fragen, ob man diese Erfahrung eines überirdischen Glückszustands schon als eine genuin religiöse Erfahrung ansehen kann. Der Umstand allein, daß uns diese Musik als Ausdruck einer vollkommenen Form der Freude erscheint, verbürgt ja noch nicht die religiöse bzw. spirituelle Dimension dieser Musik; insbesondere enthält sie keinen Gedanken an einen allmächtigen Schöpfergott, dem wir dieses Glück zu verdanken hätten (ähnlich: Sequeri 2005, 360). 229 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Auch Oskar Söhngen (1967, 146) schreibt im Anschluß an Karl Barth: Mozarts Musik »ist Gleichnis, aber nicht des göttlichen Ordo, sondern des Humanum: die Süße und Schönheit, die Wehmut und die Abgründigkeit des Mensch-Seins stehen hinter Mozarts reinen Spielen […] Nicht zuletzt darin liegt das Geheimnis der Macht begründet, mit der uns Mozarts Musik auch heute noch anrührt.« Einen Bezug zu dem, was Tugendhat als »religiös« im engeren Sinne dieses Begriffs bezeichnet hat, scheint Mozarts Adagio also selbst in den Hörerfahrungen Küngs und Söhngens nicht zu enthalten. 14 Und sicherlich enthält die Hörerfahrung Küngs keinen Bezug zu dem, was Tugendhat dann »Mystik« nennt. Aber trotz aller Probleme – der unbestreitbare Vorzug der Vorgehensweise des musikwissenschaftlichen Laiens Küng besteht aber dennoch darin, daß er sich auf seine eigenen Hörerfahrungen beruft. Viele Musikwissenschaftler scheinen mir nämlich – und zwar gerade dann, wenn man an einige semantische Analysen von Instrumentalstücken denkt – den genau entgegengesetzten Fehler zu begehen und die Erfahrung des Hörers vollständig zu ignorieren. Dies möchte ich nun etwas detaillierter anhand einiger Vorschläge zur Analyse von Anton Bruckners 9. Symphonie erläutern. Gerade dieses Werk bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, um die religiösen oder spirituellen Dimensionen von Musik zu betrachten. Das liegt nun nicht daran, daß Bruckner diese Symphonie dem lieben Gott gewidmet hat; es liegt auch nicht daran, daß Bruckner in dieser Symphonie – die Arbeit am letzten, unvollendeten Satz beschäftigte ihn die letzten beiden Jahre vor dem Tode – möglicherweise seine eigenen Ängste und Hoffnungen zum Ausdruck bringen wollte; und es liegt schließlich auch nicht daran, daß der letzte Satz offenbar viele religiöse Symbole enthält. In den musikwissenschaftlichen Beiträgen zur Analyse dieses letzten Satzes wird nämlich oft versucht, den Nachweis ihres religiösen Gehalts ausschließlich mit Hilfe einer Mischung aus biographischen Daten zur Person Bruckners und Überlegungen zur Bedeutung bestimmter Symbole zu führen. Der Tritonus, den Bruckner in den ersten Takten dieses Satzes verSiehe vielmehr Rosen (1995, 415 f.) zum »gespannten Verhältnis zwischen Religion und Kunst« (und vor allem der Musik) in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts; in der Kirchenmusik Mozarts sei daher der Rückgriff auf Stilmittel des Hochbarock und »die bewußte Kultivierung eines veralteten Stils« (ebd., 418) anzutreffen. Siehe ähnlich Söhngen (1967, 296) und Brown (2000, 246).
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wende, steht Hartmut Krones (2003, 183 f.) zufolge etwa für den Tod bzw. für die Sünde: Er stelle »als ›Diabolis in musica‹ sowohl ein Symbol für den Teufel als auch ein Sinnbild für alles vom Teufel Verursachte dar, u. a. für ›Schlechtes‹ oder für die ›Sünde‹. Da dieser noch dazu abwärts springende Tritonus gleich zu Beginn des Finales mehrere Male […] als Eröffnung des generell abwärts gerichteten Einleitungsmotivs erklingt, wäre die Annahme bestechend, daß Bruckner hier […] Gott seine ›Sünden‹ bekennt und sich danach im ›Urgedanken‹ von Hauptthema und Gesangsperiode […] gleichsam verbeugt, um die ›Absolution‹ zu erhalten.« Während auch Nicola Samale und BenjaminGunnar Cohrs (2004, 20) meinen, man könne dieses Eröffnungsmotiv (T. 4–6 nach der Taktzählung der von ihnen vorgelegten Neu-Ausgabe der Studienpartitur des Finales der 9. Symphonie) »semantisch als ›Sündenfall‹« bezeichnen, deutet nach Constantin Floros (2003, 124) alles darauf hin, »daß alle tritonisch konzipierten Stellen im Finale der Neunten das Assoziationsfeld Tod, sozusagen: den negativen Pol des Satzes, repräsentieren«. Zusätzlich treffen wir in den Takten 14 ff. auf das sogenannte Kreuzmotiv, und diese Eingangsmotive stellen zusammen gleichsam den negativen Pol dieses Satzes dar. Das Choralthema (T. 157 ff.) 15 , das Fugenthema (T. 299 ff.) 16 und insbesondere der Höhepunkt der Fuge (T. 344 ff.) 17 würden dann den positiven Pol des Satzes bilden. Bruckner 15 Vgl. Cohrs/Samale (2004, 20): »Das Choralthema selbst (T. 157) symbolisiert […] sicher die Auferstehung (E-Dur), denn in der Tat kehrt der von Bruckner ausdrücklich ›Abschied vom Leben‹ genannte Tubenchoral aus dem Adagio (dort T. 29 ff.) hier glorreich wieder.« Krones (2003, 184) meint dagegen: Während der Tritonus die Sünde symbolisiere, könnten das Hauptthema (T. 43 ff.) und das Choralthema dann für die »Absolution« bzw. »Lossprechung« stehen. Ein schönes Beispiel für den semantischen Reichtum von Musik – bzw. eben für deren semantische Ungenauigkeit! Allgemein zu diesen Problemen vgl. Rinderle (2010, 3. Musik als Symbol von Emotionen?) und Rosen (2010, 13): »[…] the trouble is that music is essentially a poor system of communication, precisely because it has a rather weak and ill-defined vocabulary, although a very rich and powerful grammar and syntax.« 16 Vgl. Cohrs/Samale (2004, 21): »Die Fuge wäre nach barocker Semantik Sinnbild für das ›Walten höchster göttlicher Ordnung‹.« Allerdings kombiniere Bruckner das Fugenthema mit »Abspaltungen des Sündenfall-Motivs in den Holzbläsern« und bringe auf diese Weise die »Anfechtung der Ordnung« zum Ausdruck. 17 Cohrs/Samale (2004, 21): »Der dreigliedrige Höhepunkt der Fuge in dreimal drei Takten und absteigenden Terzen äußert sich nach all diesen Zweifeln als Durchsetzung des göttlichen Prinzips, als musikalisch höchst-mögliche Anrufung der Dreifaltigkeit […].« »Der Beginn der Coda (T. 557) greift nachdrücklich ein letztes Mal das Sün-
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gelinge es auf diese Weise, seine Todesangst – die bereits im Adagio der 9. Symphonie zum Ausdruck komme – zu überwinden. Auch Constantin Floros (2003, 129 f.) schreibt: »Im Finale der Neunten setzte Bruckner den Todesängsten, denen er ausgeliefert war, die Hoffnung auf Rettung durch das Erbarmen dessen entgegen, den er in seinem Brief an Ludwig II. als den ›Ewigen‹ bezeichnet hatte.« Nikolaus Harnoncourt (2007, 318) warnt aber ganz richtig vor einer biographischen Theorie der musikalischen Bedeutung: »Ich glaube aber, daß bei Bruckner ein Verständnis des Werks über die Biographie nicht möglich ist. Wenn man Bruckner als Person beurteilt, würde man äußersten Konservativismus in seinem Werk erwarten. Seine Visionen sind aber überhaupt nicht auf die Einfalt seiner Person projizierbar.«
So beeindruckend diese Deutungen auf den ersten Blick scheinen mögen, für das direkte Hörerleben und die emotionale Rezeption dieser Musik spielen sie bestenfalls eine periphere Rolle. Sicher wird man auf bestimmte Motive und Variationen aufmerksam gemacht. Dennoch scheinen mir all diese Erkenntnisse weitgehend irrelevant, denn zumindest die spezifisch expressiven Qualitäten eines Werks müssen sich zuletzt immer in der unmittelbaren Wahrnehmung eines kompetenten Hörers wiederfinden lassen. Daher müssen die Ergebnisse einer semantischen (oder auch biographischen) Analyse gar nicht falsch sein, um dennoch die Frage nach der Relevanz dieser Ergebnisse für die Wahrnehmung der expressiven Qualitäten eines Musikstücks aufzuwerfen. Zumindest bedürfte es über die bloße musikwissenschaftliche Analyse hinaus eines philosophischen Arguments für die besondere Rolle von Symbolen in der ästhetischen Erfahrung von Musik. Mein eigener Vorschlag besteht hingegen darin, Musik als eine Einladung zur Imagination einer fiktiven Person zu verstehen; und auch religiöse Musik kann man als einen wichtigen Probierstein für diese Auffassung ansehen. Im Gegensatz dazu reduzieren semantische Ansätze die musikalische Wahrnehmung auf eine rein kognitive Angelegenheit. Sie machen damit einen Fehler, der dem Fehler Küngs gleichsam komplementär entgegengesetzt ist: Während Küng die Bedeutung einer kognitiv-objektivistischen Analyse unterschätzt, bleiben semantische denfall-Motiv auf, doch wieder in Umkehrung, aufwärts und überwindend: Die Versuchung tappt nurmehr ziellos umher, die Teufelsintervalle kreisen in sich selbst gefangen […]. Wie könnte man im Sinne alter kirchenmusikalischer Semantik eindrucksvoller in Töne malen, daß der Tod seine Macht verliert?« (Ebd., 23)
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Analysen taub für die unverzichtbare Rolle der subjektiven Wahrnehmung und Erfahrung des Hörers. Versucht man diesen beiden Erfordernissen gleichermaßen Rechnung zu tragen und sich dem Problem aus der Perspektive der PersonaTheorie der musikalischen Expressivität zu nähern, so könnte die entscheidende Frage lauten: Lädt uns die 9. Symphonie Bruckners und vor allem ihr letzter Satz zur Imagination einer religiösen Persona ein? Und ist diese Einladung, die ja unbestreitbar eine ethische Dimension aufweist, letztlich erfolgreich? Endgültig wird man diese Frage nicht in sprachlicher Form beantworten können. Man kann hier auch keinen Indizienbeweis führen, indem man einfach nur eine Reihe musikalischer Figuren und Konstruktionselemente zusammenträgt. Zu guter Letzt wird sich diese Frage nämlich in der Wahrnehmung eines kultivierten Hörers entscheiden; und höchstens der Umstand, daß es zumindest eine gewisse Konvergenz verschiedener Hörer in bezug auf die Wahrnehmung einer religiösen Dimension, d. h. die Wahrnehmung einer Einladung zur Begrenzung und Relativierung einer egozentrischen Einstellung, in der Musik Bruckners zu geben scheint, mag als ein möglicher Grund gewertet werden, beim nächsten BrucknerKonzert die Ohren zu öffnen und genauer hinzuhören. Diese Bemerkungen sind vorläufiger Natur, denn eine vollständige Auseinandersetzung mit dem schwierigen Zusammenhang zwischen Musik und religiösen Emotionen kann und will ich nicht leisten. Dafür möchte ich zum Abschluß noch auf eine besondere Problematik eingehen, die ich bereits angesprochen habe (vgl. Abschnitt 3.5): Sentimentale Musik, so lautete meine These, drückt keine echten Emotionen aus, sie befriedigt vielmehr nur ein Interesse am narzißtischen Selbstgenuß. Gerade im Hinblick auf religiöse Emotionen stellt sich dieses Problem mit einer besonderen Dringlichkeit, weil für echte religiöse Emotionen die Begrenzung der egozentrischen Haltung gerade konstitutiv ist. Als Beispiel für religiösen Kitsch verweist Charles Rosen (2000, 659 ff.) auf Mendelssohns Fuge in e-Moll für Klavier; und auch in dessen Symphonie Nr. 5 d-Moll (der sogenannten Reformationssymphonie), dem Klaviertrio c-Moll und dem langsamen Satz der Symphonie Nr. 4 A-Dur (Italienische Symphonie) finde sich musikalischer Kitsch. Rosen (ebd., 598) nennt zudem Cesar Francks Präludium, Choral und Fuge für Klavier und Camille SaintSaëns’ Symphonie Nr. 3 c-Moll (Orgelsymphonie) als Beispiele für religiösen Kitsch. Richard Taruskin (2009, 292) spricht Olivier Messiaen dagegen von
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einem (nicht ganz fern liegenden) Kitsch-Verdacht frei: »Messiaen’s spirituality was anything but warm and fuzzy, his style often the opposite of ingratiating, and that is what finally saves his work from kitsch.« Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung von K. Ph. Moritz (1986, 205): »Offenbar findet der meiste Selbstbetrug bei den religiösen Empfindungen statt, welche man sich oft zu haben Mühe giebt, und am Ende wirklich zu haben glaubt, indem man bei leerem Herzen, in Ergießungen, des Danks und der Ehrfurcht ausbricht, die man nicht mehr für erkünstelt hält, und die es dennoch sind.« Eine sehr nuancierte Diskussion von religiösem Kitsch findet man bei Frank Brown (2000, 5. Kitsch, Sacred and Profane); zur Gefahr einer Degeneration der christlichen Liebe zur Sentimentalität siehe ferner John Rawls (2010, 293).
Macht ein Hörer aber das Bedürfnis nach einer Überwindung der Egozentrizität zum bloßen Gegenstand des Genußstrebens und findet dabei auch noch diesem Bedürfnis entgegenkommende Einladungen aus religiösem Kitsch, so setzen sich dieser Hörer wie auch das betreffende Stück damit dem Vorwurf einer doppelten Pervertierung des Gehalts religiöser Musik aus. Nicht nur ist die betreffende Person primär nur am Selbstgenuß interessiert – was vielleicht in bestimmten Fällen noch zu entschuldigen wäre –, sondern sie nimmt darüber hinaus die Sehnsucht und das Bedürfnis nach einer Überwindung des egozentrischen Selbstgenusses selbst zum Anlaß des bloßen Selbstgenusses. Auf diese Weise verfehlt sie nicht nur den wahren Kern einer echten religiösen Emotion, sondern verbaut sich auch den einzigen Ausweg, der aus der Orientierung am Selbstgenuß herausführen könnte.
4.5 Das Selbst in der Gemeinschaft Ich habe in diesem Kapitel drei ausgewählte und in gewisser Weise paradigmatische Formen der musikalischen Reflexion des emotional gefärbten Selbstverständnisses des Menschen untersucht. Es geht mir dabei nicht um die Entfaltung einer systematischen oder gar vollständigen Perspektive, sondern um die Verdeutlichung einiger Einstellungen, die nicht nur einige grundlegende Optionen der emotionalen Identität eines Menschen artikulieren, sondern tiefer reichen und die Wurzeln dieser Identität berühren. Sowohl für die Ausbildung einer Konzeption eines guten Lebens als auch für die Anerkennung der Interessen und Bedürfnisse anderer Menschen sind solch unterschiedliche 234 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Lebenseinstellungen wie Humor, Tragik und Religiosität jedenfalls von entscheidender Bedeutung. Die Tatsache, daß sich expressive Musik zur Artikulation dieser emotional geprägten Lebenseinstellungen eignet, stellt ein weiteres Indiz für ihre große ethische Bedeutung dar. Ein humorvolles Musikstück kann man etwa in gewisser Weise mit einem humorvollen Menschen vergleichen. Und eine solche Haltung prägt ja nicht nur unsere ethischen bzw. moralischen Bewertungen von musikalischen oder menschlichen »Charakteren«, sondern der Umgang mit bestimmten Musikstücken kann früher oder später genauso auf den Zuhörer »abfärben« wie der Umgang mit bestimmten Menschen. Auch in musikalischer Hinsicht kann man sich also in »schlechter Gesellschaft« befinden. Wie oben schon gesagt: Ein Mensch, der ausschließlich Lieder der Gruppe Rammstein hört, wird langfristig gesehen wohl andere Verhaltensdispositionen an den Tag legen als ein Mensch, der ausschließlich Klaviersonaten von Haydn und Mozart hört. Von diesem Befund ist es nur ein kleiner Schritt zur Erkenntnis, daß Humor, Tragik und Religiosität jeweils auch einen deutlichen Primat des guten Lebens und der Einstellung zum eigenen Leben gegenüber der Moral und der Einstellung zu anderen Personen aufweisen. Das bedeutet nicht, daß dem guten Leben einer Person in diesen Formen der Selbstverständigung ein unbedingter Vorrang gegenüber der Moral zukommt. Aber die Forderungen der Moral – und dieser Einsicht habe ich mit meinem weiten Begriff »Ethik« Rechnung zu tragen versucht – stehen nicht im Mittelpunkt dieser Lebenseinstellungen. Es geht vielmehr um die Kultivierung einer bestimmten Haltung gegenüber alltäglichen Emotionen einerseits und existentiellen Grenzerfahrungen wie Zufällen und Schicksalsschlägen, Liebe, Einsamkeit und Tod andererseits. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß die genannten Grundeinstellungen auch miteinander kombiniert werden können. Humor und Tragik können sich etwa als mehr oder weniger heterogene Elemente in bestimmten Kunstwerken – hier denke ich an William Shakespeares Tragödien oder Gustav Mahlers Symphonien – gegenüberstehen; sie können sich aber – und dafür wären einige Dramen Becketts oder einige Symphonien Beethovens gute Beispiele – gleichsam vermischen und gegenseitig durchdringen. Die Art und Weise dieser Kombinationen verschiedener Emotionen wird dabei wesentlich durch die übergreifende formale Gestaltung der betreffenden Werke
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Spiegelungen des Selbst
geprägt; und dies sollte vor allem mein Ideal der Integrität eines Kunstwerks deutlich gemacht haben (vgl. Abschnitt 2.4). Musik – wie Kunst insgesamt – ist also nicht nur an der Reflexion ihrer eigenen Möglichkeiten interessiert, d. h. sie erschöpft sich nicht in ihrem Potential zur Selbstreflexivität. Jedes Musikstück ist auch ein Instrument zur Spiegelung unseres Selbstverständnisses, ein Medium zur Gewinnung und Vermittlung neuer Erkenntnisse über unsere Identität und unser Verhältnis zu anderen Personen. Das intensive und intime Verständnis eines musikalischen Werks und ein reflektiertes Selbstverständnis können unter Umständen als die beiden Seiten ein und derselben Medaille angesehen werden. Pierre Boulez (2005b, 142; meine Hervorh.) hat diese Einsicht, daß wir mittels des Verständnisses eines Musikstücks auch unser Selbstverständnis vertiefen und erweitern können, sehr schön auf den Punkt gebracht: »Tout auditeur d’une œuvre est placé dans cette situation: connaître l’œuvre et se connaître par l’œuvre. L’œuvre est dépositaire d’une expression qui passe, en effet, par la rencontre, l’assimilation, l’identification.« Mit der Musik verfügen wir also über eine Möglichkeit, die genannten Grundhaltungen zum eigenen Leben in den vielfältigsten Schattierungen auszudrücken. Sowohl der Humor als auch eine tragische und eine religiöse Lebenshaltung können in ganz unterschiedlichen Intensitäten, Qualitäten und Mischungen auftreten, und es zeichnet die Musik ebenso wie andere Künste aus, daß sie die unterschiedlichen Qualitäten und Intensitäten dieser emotionalen Grundeinstellungen widerspiegeln und artikulieren kann. Dabei ist der Grundtenor meiner Ausführungen von Anfang an, daß die Artikulation einer emotionalen Haltung als eine notwendige – wenn auch noch nicht hinreichende – Bedingung für deren Ausprägung und Stabilisierung zu verstehen ist. Ein Mensch wird schwerlich humorvoll oder religiös genannt werden können, wenn ihm die Neigung abgeht, diese Haltungen auch auf angemessene Weise zum Ausdruck zu bringen. Das gilt aber nicht nur für Individuen, das gilt insbesondere auch für politische Gemeinschaften. Musik ist nicht nur für das Individuum ethisch bedeutsam, ihr kommt auch eine zentrale Bedeutung für eine soziale oder politische Ethik zu.
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5. Musik für eine liberale Demokratie
Da die Musik in einem engen Zusammenhang mit den menschlichen Emotionen steht, kann sie auch einen Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung unseres Selbstverständnisses leisten. Den Begriff »Selbstverständnis« habe ich dabei in einem weiten Sinn verwendet, der das Verhältnis einer Person sowohl zu sich selbst als auch zu anderen Personen umfassen soll. In diesem Potential zur Schärfung unserer emotionalen Phantasie sowie zur Spiegelung unserer emotionalen Identität besteht die ethische Bedeutung der Musik. Damit haben wir ein allgemeines Resultat erreicht, das verschiedene Lücken in der gegenwärtigen Debatte zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik einerseits sowie zur Expressivität von Musik andererseits schließen kann. Und damit könnte diese Untersuchung auch an ihr Ende kommen, gäbe es nicht ein – zugegeben: weites – Feld, das bisher noch nicht berührt wurde: das Verhältnis von Musik, Emotionen und politischer Ethik. In systematischer Hinsicht wird die Analyse dieses Verhältnisses vielleicht zu keinen grundlegend neuen Einsichten führen, dennoch ist die politische Bedeutung der Musik seit jeher Gegenstand intensiver Debatten gewesen. Vor allem an den möglichen Funktionen der Musik scheiden sich immer wieder die Geister: Manchmal wird sie als affirmativ angesehen und zur Unterstützung eines Regimes eingesetzt, manchmal wird auch von einem kritisch-subversiven Potential der Musik gesprochen (vgl. Sève 2002, 75 f.). Und sowohl ihre affirmativen als auch ihre subversiven Dimensionen können dann, je nach Perspektive und Interesse, unterschiedlich bewertet werden. Abgesehen davon, daß hier wieder die Frage auftaucht, ob sich die innere Bedeutung expressiver Musik schon in ihrer externen (politischen) Funktionalisierung erschöpft, bleibt eine systematische Untersuchung dieser Funktionen bis heute ein dringendes Desiderat der Forschung, und zwar sowohl in der Musikästhetik als auch in der Politischen Philosophie. In diesem letzten Kapitel möchte ich deshalb zu einer Klärung des Verhältnisses von expressiver Musik und politischer Ethik beitragen und 237 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Musik für eine liberale Demokratie
bei dieser Gelegenheit vor allem der speziellen Frage nachgehen, welche besondere Bedeutung der Musik für die politische Kultur einer modernen, liberalen Demokratie zukommen kann. Zunächst möchte ich zu diesem Verhältnis eine allgemeine Vorüberlegung zum Interaktionsverhältnis von Musik und Politik anstellen und diese dann mit einigen Hinweisen zur Ideengeschichte dieses Verhältnisses ergänzen und erweitern (5.1). Nach einer systematischen Bestimmung und Erläuterung der drei wichtigsten Werte einer Ethik des politischen Liberalismus (5.2) möchte ich anschließend den Möglichkeiten einer musikalischen Artikulation der diesen Werten entsprechenden Emotionen nachgehen: Auf welche Weise kann Musik unsere hohe Wertschätzung der Freiheit des Menschen zum Ausdruck bringen (5.3)? Eignet sich Musik zu einer imaginären Exploration der Gefühle und Empfindungen, die mit Werten wie Gleichheit und Toleranz verbunden sind (5.4)? Und kann sie auch einen Beitrag zur Kultivierung des Mitgefühls und damit zur Stiftung eines besonderen Gemeinschaftsgefühls leisten (5.5)? Die Antworten auf diese Fragen sollen als Belege zur Stützung meiner generellen Interaktionsthese verstanden werden. In einem letzten Abschnitt möchte ich diese These noch einmal gegen drei Einwände verteidigen und dann ein allgemeines Fazit über den Verlauf und das Ergebnis meiner Untersuchung ziehen (5.6).
5.1 Interaktionen von Musik und Politik Wir haben gesehen, daß Musik Emotionen ausdrücken kann und daß ihr folglich eine ethische Bedeutung zukommt. Emotionen können aber auch ein Thema für die politische Philosophie werden: Zum einen sind politische Institutionen selbst der Gegenstand vieler Emotionen, und zum anderen lassen sich manche Emotionen auch einem Kollektivsubjekt zuschreiben. Nicht nur einzelne Personen reagieren auf emotionale Weise auf bestimmte Ereignisse; manche Gefühle – vor allem natürlich Gefühle, die sich auf die wichtigsten Einrichtungen unseres Zusammenlebens beziehen – teilen wir mit anderen Menschen. So wie wir von kollektiven Identitäten oder einem »Kollektivbewußtsein« sprechen (vgl. Bühl 2004, 161 ff.), können wir auch von kollektiven Emotionen sprechen. Entgegen Bühls Annahme muß das jedoch nicht heißen, daß deshalb »die Wahrscheinlichkeit groß [ist], dass die Individuen dazu tendieren, ihre individuellen Gefühle (was immer sie sein 238 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Interaktionen von Musik und Politik
mögen) im Einklang mit den kollektiven Gefühlen zu bringen, die wenigstens den Vorzug haben, in kollektiven Veranstaltungen und gesellschaftlichen Stimmungen […] überdeutlich repräsentiert zu werden« (ebd., 163). Natürlich gibt es gute Gründe, kollektive Emotionen mit Helmut Lachenmann (1996, 138 f.) pauschal unter Verdacht zu stellen und sie dann nur als Resultat einer irrationalen, »billig abrufbaren Magie«, »in die doch letztlich alles kollektive Erleben wieder zurückfällt«, anzusehen. Dennoch sollte dieser Verdacht nicht der Möglichkeit im Wege stehen, zwischen authentischen und inauthentischen kollektiven Emotionen zu unterscheiden. Lachenmanns Verdacht mag für viele Formen des gemeinsamen Erlebens angebracht sein, er wird sich aber nicht in allen Fällen erhärten lassen; außerdem ist auch das individuelle Erleben nicht über jeden Verdacht erhaben. Salman Rushdies Roman Mitternachtskinder kann etwa als Beispiel für einen auch ästhetisch gelungenen Ausdruck einer zeitgemäßen Form des – durch zahlreiche Brüche und Risse geprägten und sich aus zersplitterten Fragmenten zusammensetzenden – Erlebens gelten, das sich zudem durch eine enge Verbindung von individueller Entwicklung (des Romanhelden Saleem Sinai) und kollektiver Erfahrung (Indien nach der Unabhängigkeit) auszeichnet, dennoch aber nicht das Resultat »billig abrufbarer Magie« ist. Wenn das kollektive Erleben also nicht per se pathologisch ist und nicht als solches eine Bedrohung für die Ausbildung und Erhaltung einer persönlichen Identität darstellt (vgl. Honneth 2010, 276 ff.), wir somit davon ausgehen dürfen, daß es rationale kollektive Emotionen gibt oder geben kann, das Ich unter Umständen sogar das Wir sucht und braucht, »weil es auch nach der Reifung noch auf Formen der sozialen Anerkennung angewiesen ist, die den dichten Charakter direkter Ermutigung und Bestätigung besitzen« und »weder seine Selbstachtung noch sein Selbstwertgefühl […] ohne die stützende Erfahrung aufrechterhalten [kann], die es durch die Praktizierung gemeinsam geteilter Werte in der Gruppe macht« (ebd., 279), so läßt sich auch die Plausibilität der Annahme nicht mehr bestreiten, daß Musik kollektive Emotionen ausdrücken kann. Georg Simmel (1999, 71) zufolge haben wir durchaus das Recht, etwa die Melodien der Volkslieder »als Emanationen der Volksseele« zu betrachten; er spricht in diesem Zusammenhang von einer »Allgemeinheit der Gefühle, die in den Volksliedern ausgedrückt werden«. Wenn wir außerdem annehmen 239 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Musik für eine liberale Demokratie
dürfen, daß Emotionen Wahrnehmungen bestimmter Werte sind – und bei kollektiven Emotionen hätten wir es entsprechend mit der Wahrnehmung von gemeinschaftlich geteilten Werten zu tun –, dann können wir die Frage nach dem Zusammenhang von Musik und politischer Ethik aus einer neuen Perspektive stellen: Kommt expressiver Musik auch eine Bedeutung für eine politische Ethik zu? Und wie können wir insbesondere das Verhältnis zwischen expressiver Musik und den Werten der liberalen Demokratie bestimmen? Beginnen wir mit einer Unterscheidung dreier grundsätzlicher Auffassungen zum Verhältnis von Musik und Politik: Einer ersten, funktionalistischen Auffassung zufolge kommt Musik immer (auch) eine politische Bedeutung zu, sie ist ein Spiegel der sozialen Verhältnisse und kann umgekehrt auf diese einwirken. In einer radikal funktionalistischen Variante dieser Sichtweise geht die Bedeutung der Musik sogar in deren ethischen bzw. politischen Funktionen auf; ein musiksoziologischer Ansatz muß diese radikale Auffassung natürlich nicht teilen (vgl. Kaden 1997; Bühl 2004, 117 ff.). Einer zweiten, ästhetizistischen Auffassung zufolge hat entweder die Kunst ganz allgemein oder nur die Musik im besonderen keine politische Bedeutung. (Ein »selektiver«, »partieller« Ästhetizist gesteht Romanen, Gemälden und sogar Vokalmusik eine politische Bedeutung zu, beharrt aber auf der Autonomie der Instrumentalmusik.) Kunstwerke im allgemeinen oder doch zumindest Werke der Instrumentalmusik zeichnen sich dieser Auffassung zufolge durch eine besondere Autonomie aus; ihr wichtigster Zweck besteht in der Ermöglichung einer – in einem engen Sinne verstandenen (vgl. Abschnitt 1.5) – ästhetischen Erfahrung, die von allen ethischen und politischen Inhalten abgesondert bleibt. Diese beiden Auffassungen sind meines Erachtens entweder falsch oder doch sehr einseitig, denn sie vermögen der internen Bedeutung eines Musikstücks nicht hinreichend gerecht zu werden. Der Funktionalist tendiert dazu, die interne Bedeutung eines Musikstücks auf dessen politische oder soziale Bedeutung zu reduzieren; er übersieht, daß die interne Bedeutung gegenüber ihren externen Funktionen autonom ist. Der Ästhetizist ist dagegen nur an einer Erfahrung schöner, tönender Formen interessiert; er übersieht dabei, daß auch eine abstrakte Kunst wie die Musik ein expressives Potential haben kann, ihre – in einem erweiterten Sinne verstandene – ästhetische Erfahrung in einer engen Beziehung zu alltäglichen Emotionen steht und auf diese Weise eine besondere interne Bedeutung annehmen kann. 240 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Interaktionen von Musik und Politik
Ein Ausweg aus diesem Dilemma bietet eine dritte Möglichkeit, bei der diese beiden Optionen in ein dialektisches Verhältnis treten. In den Worten Theodor W. Adornos (1993, 76): »Die Komponisten sind immer auch zoon politikon, und zwar desto mehr, je emphatischer ihr rein musikalischer Anspruch ist. Keiner ist tabula rasa.« Ähnlich schreibt ClausSteffen Mahnkopf (2006, 19), »daß Autonomie und Gesellschaftlichkeit von Musik zutiefst dialektisch vermittelt sind«. Siehe ferner Subotnik (1991, 25; 1996, 154 f.), Mahnkopf (2007, 90 f.) und Goehr (1994, 102): »[…] only a work which is autonomous is truly political.« »Music responds to its conditions of production by resisting them. Music’s freedom is essentially a form of resistance, a constant assertion of difference […] the way music articulates a vision of a better world is not through concrete representation at all. The articulation, instead, is abstract.« (Ebd., 106) Siehe nicht zuletzt Hamilton (2007, 183): »It is precisely through their refusal of social function that, according to Adorno, autonomous music and art acquire a critical function. It is by standing apart from society that autonomous art becomes most powerfully critical – more genuinely critical than so-called political or propaganda art.«
Musik hat dieser Auffassung zufolge eine politische Bedeutung und kann eine soziale Wirksamkeit entfalten, gerade weil sie eine spezifisch ästhetische Erfahrung ermöglicht und sich einer direkten Bezugnahme auf den sozialen Kontext verweigert. Der Grund der politischen Bedeutung von Musik ist dieser Auffassung zufolge auf ihre Autonomie zurückzuführen, die uns eine Idee oder zumindest eine Ahnung einer umfassenden Emanzipation des Menschen vermitteln und somit auch ein »Vorschein« einer möglichen politischen Autonomie des Menschen bilden kann. Diesem dritten Vorschlag zufolge gibt es also insofern eine enge Verbindung von Musik und politischer Ethik, als sich autonome Kunst nicht für politische Zwecke instrumentalisieren läßt. Richtig an dieser dritten, dialektischen Auffassung ist, daß wir ein Interesse daran haben, an der Annahme einer ästhetischen Autonomie der Musik festzuhalten, ohne aus diesem Grund doch ihre ethische und vor allem politische Bedeutung zu leugnen (vgl. Abschnitt 1.5). Adornos Vorschlag zur Lösung des Dilemmas ist wahrscheinlich durch dieses Interesse zu erklären, doch ich denke, daß auch seine Lösung scheitert. Zunächst kann man die ästhetische Autonomie der Musik nicht kurzerhand mit ihrer politischen Funktion gleichsetzen: Es mag autonome Musikstücke geben, die keine politische Bedeutung haben; und umgekehrt mag es reine Gebrauchsmusik geben, der man keine ästhe241 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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tische Autonomie zuschreiben würde. Der Preis für eine »dialektische Identifikation« von ästhetischer Autonomie und politischer Bedeutung von Musik scheint mir deshalb viel zu hoch zu sein. Weiterhin scheint mir die »Emanzipation« des Menschen nicht notwendig der einzige oder höchste Wert der Politik oder der Kunst zu sein. Zuletzt beachtet Adorno nicht hinreichend, daß Musik nicht notwendig nur Opium fürs Volk ist, da sie direkt unsere Sinne anspricht und Empfindungen von Lust und Unlust hervorruft. Wir sollten die ästhetischen und politischen Dimensionen der Musik also weder in funktionalistischer oder ästhetizistischer Manier vollständig voneinander abtrennen noch dürfen wir sie mit Hilfe einer »dialektischen« Strategie miteinander identifizieren. Anstelle einer »reduktionistischen Separation« und einer »dialektischen Identifikation« möchte ich deshalb die These einer komplexen Interaktion oder Verzahnung von ästhetischer Erfahrung und politischer Bedeutung von Musik vorschlagen. Die Interaktion von Musik und Politik erfolgt dabei in zwei Richtungen. Die (weit verstandene) ästhetische Erfahrung von Musik kann erstens eine politische Bedeutung insbesondere für eine Reflexion und Kommunikation von Emotionen annehmen. Musik kann ja, wie gerade gesagt, auch als ein Ausdruck auch von kollektiven Emotionen verstanden werden, und nur ein Hörer, der diese interne, expressive Bedeutung eines Musikstücks erfaßt, wird eine Erfahrung dieser politischen Dimension des betreffenden Stücks machen können. Wir müssen aber vernünftigerweise nicht mehr davon ausgehen, daß alle Musikstücke eine interne politische Bedeutung haben. Die interne politische Bedeutung eines Musikstücks kann zweitens auch zu einem Teil oder einem Aspekt seiner (weit verstandenen) ästhetischen Erfahrung und in der Folge zur Grundlage seiner Wertschätzung werden. Hier können wir auf das Argument der verdienten Antwort zurückgreifen: Wenn ein Musikstück eine Einladung zur Identifikation mit einer emotionalen Haltung ausspricht und dies auf eine gelungene und ästhetisch relevante Art und Weise tut, dann verdient es nicht nur, daß der Hörer diese Einladung annimmt, sondern diese Haltung kann auch zu seinem besonderen ästhetischen Wert beitragen. Da uns Emotionen eine Wahrnehmung von Werten erlauben, können sich politische Werte in bestimmten Emotionen widerspiegeln; und da die Musik das Potential zum Ausdruck von Emotionen besitzt, müßte sie auch zum Ausdruck politischer Emotionen geeignet sein. Sehen wir uns, bevor wir uns auf der Grundlage dieser Inter242 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Interaktionen von Musik und Politik
aktionsthese einer systematischen Analyse des Verhältnisses von Musik und liberaler Demokratie zuwenden, noch ein wenig in der Ideengeschichte und in der gegenwärtigen Debatte um. Denn schon die politische Theorie der Antike geht von einer herausragenden Bedeutung der Musik für die Qualität und Stabilität eines politischen Gemeinwesens aus. Zwar verwenden Platon und Aristoteles mousikê in einem umfassenden, die Poesie und den Tanz einschließenden Sinn, was freilich nicht heißt, daß sie sich nicht auch für Instrumentalmusik interessiert hätten (vgl. Kraut 1997, 191). Sie dachten dabei jedoch primär an die Rezeption und nur sekundär an die Produktion von Musik. Zwar fordert Aristoteles, ein Kind solle ein Instrument spielen lernen, doch dient diese Fähigkeit nur bei ihm dem Erwerb eines sicheren Geschmacksurteils (Politik 1340b20–1341b15). In seiner politischen Philosophie spricht sich Aristoteles im Gegensatz zu Platon aber nicht für eine totale politische Vereinnahmung des Menschen aus (Kraut 1997, 179 ff.). Zwar hatte Aristoteles wohl kaum eine Kultivierung spezifisch liberaler Tugenden im Sinn, dennoch hat seine ideale Polis liberale Züge: Der Bürger behält einen Freiraum zur Kontemplation und zur musischen Betätigung jenseits der politischen Betätigung. Trotz mancher Unterschiede im Detail sind Platon und Aristoteles jedenfalls in einem wichtigen Punkt einer Meinung: Die Musik hat einen großen Einfluß auf das, was Christian Meier (1988, 9) die »mentale Infrastruktur« des Staatsbürgers genannt hat. Sie kann zur Bildung ihres Charakters beitragen, der auch von zentraler Bedeutung für das Zusammenleben in einem politischen Gemeinwesen ist. »Denn Gattungen der Musik neu einzuführen«, sagt Sokrates in Platons Politeia (424c), »muss man scheuen, als wage man dabei alles; weil nirgends die Gesetze der Musik geändert werden, als nur zugleich mit den wichtigsten bürgerlichen Ordnungen.« (Ähnlich: Nomoi 700e–701a und 799a–b) Auch der Musikethnologe John Blacking schreibt: »Changes in musical style and form have generally been reflections of changes in society.« (1995, 49; siehe ferner ders. 1973, 73 ff.) Vor allem für eine Erziehung zur Tapferkeit wurde die Musik dabei immer wieder in den Dienst genommen. Zwar wird die Erziehung zur Tapferkeit von Platon (Politeia 410b) und Aristoteles (Politik 1337b27) in erster Linie als eine Aufgabe der Gymnastik angesehen. Beide warnen aber nicht nur davor, die Musik gegenüber der Gymnastik zu vernachlässigen, sondern kritisieren auch Spartas einseitige Ausrichtung an einer Erziehung zur kriegerischen Tugend des Mutes (Politeia 410d, 546d, 548c; Politik 1324b7–9, 1334a41–b3; Kraut 1997, 65). Platon fordert zudem, daß die Musik und die Gymnastik bei der Kultivierung einer vernünftigen
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Tapferkeit – die den Freund vom Feind unterscheiden kann – zusammenwirken müssen (Politeia 410c). Einig sind sich Platon (Politeia 399b) und Aristoteles (Politik 1342b12–17) auch darin, daß sich vor allem die dorische Tonart für die Ausbildung und Befestigung der Tapferkeit eignet.
Die politische Philosophie der Moderne hat sich dagegen nicht mehr für den Einfluß der Musik auf den Charakter des Menschen interessiert. (Neben einigen Schriften Jean-Jacques Rousseaus ist der kleine Essay De la liberté de la musique des Enzyklopädisten Jean-Baptiste d’Alembert [1821] zum Zusammenhang von Musik und politischer Freiheit hier die große Ausnahme.) Dieser Unterschied ist relativ leicht zu erklären: Das Hauptaugenmerk der antiken Theoretiker galt schließlich den Tugenden und dem Glück der Mitglieder eines Gemeinwesens; die Theoretiker des modernen Liberalismus beschäftigten sich dagegen vor allem mit den staatlichen Institutionen. Nicht die Realisierung eines gemeinsamen Ideals des guten Lebens ist Sinn und Zweck der politischen Existenz. Der moderne Liberalismus nimmt vielmehr an, daß sich der Zweck politischer Institutionen in der Sicherung des sozialen Friedens sowie der Gerechtigkeit erschöpft und diese es den Bürgern dann ermöglichen, nach ihrer je eigenen Façon glücklich und, wenn sie das denn wollen, auch tugendhaft zu werden. Läßt sich diese einseitige Schwerpunktsetzung des modernen Liberalismus rechtfertigen? Seit etwa 30 Jahren ist die für die politische Moderne charakteristische »Tugendfeindlichkeit« (Kersting 1997, 443 f.) in Frage gestellt worden. Der entscheidende Anstoß ging von der politischen Theorie des Kommunitarismus aus, deren Vertreter unter einem Rückgriff auf Argumente von Aristoteles, Rousseau und Hegel eine Verengung des Begriffs der politischen Gerechtigkeit ablehnen und für eine Berücksichtigung der ethischen und psychologischen Dimension des Zusammenlebens plädieren (dazu: Honneth 1993; Kersting 1997, 397 ff.). Auch viele liberale Autoren sind inzwischen davon überzeugt, daß die Interdependenzen von sozialen Institutionen und personalen Tugenden mehr Beachtung verdienen. Obwohl aber die ethischen Voraussetzungen der Institutionen des demokratischen Verfassungsstaats in jüngster Zeit Gegenstand intensiver Debatten waren, lassen sich die Beiträge, die sich mit der Bedeutung der Musik für das Ethos einer politischen Gemeinschaft beschäftigen, an einer Hand abzählen (Bloom 1988, 83 ff.; Scruton 1997, 457 ff.; Holloway 2001; Nussbaum 2001, 431 f.; Alperson/Carroll 2008). Sicher darf man ihre 244 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Bedeutung nicht überbewerten, denn der Charakter eines Bürgers wird wohl nicht nur von der Musik, sondern von zahlreichen anderen Faktoren beeinflußt. Dennoch ist der große Einfluß der Musik auf die menschlichen Emotionen in jüngeren psychologischen Untersuchungen wieder eindrucksvoll bestätigt worden. Während die Musik aber von Platon noch als Instrument zur Ausbildung eines Ordnungssinnes verstanden wurde, der vor allem die Stabilität des vom Philosophenkönig beherrschten Gemeinwesens sichern sollte (Adorno 1973b, 16 und 2005, 226; Holloway 2001, 23 ff.), will ich der zeitgemäßeren Frage nachgehen, ob sich Musik auch zur Kultivierung eines liberalen und demokratischen Gemeinsinns eignet. Im Unterschied zu den jüngeren Studien des Friedensforschers Dieter Senghaas (2001; 2005; vgl. Lück/Senghaas 2005; Hanheide 2007), die sich vorrangig mit der Frage beschäftigen, ob die Musik den Frieden hörbar machen könne, ob sie also zur Darstellung eines zentralen politischen Werts geeignet sei, möchte ich dabei aber vor allem die psychologisch-ethische Bedeutung von Musik ansprechen. Senghaas sieht durchaus, daß die mit dem Prozeß der Zivilisation einhergehende Monopolisierung von Gewalt eine Kontrolle von Affekten impliziert; er spricht sogar vom »emotionalen Kitt« eines Institutionengefüges (Senghaas 2001, 20 f.), unterläßt es aber, nach der politischen Bedeutung des spezifisch expressiven Potentials von Musik zu fragen. Und während Senghaas sich vor allem auf Werke der Vokalmusik (etwa Bachs h-Moll-Messe oder Beethovens Missa solemnis) bezieht, möchte ich auch von Werken der Instrumentalmusik sprechen, die den spezifischen Beitrag der Musik für eine politische Kultur der Emotionen deutlicher hervortreten lassen. Darüber hinaus läßt Senghaas’ Ansatz eine ganze Reihe grundsätzlicher Fragen offen. Zwar kann er nämlich überzeugend darlegen, daß sich Musik eines wichtigen politischen Themas annehmen kann. Doch was ist mit dieser Einsicht gewonnen? Kann uns die Musik tatsächlich konkrete Wege zum Frieden aufzeigen? Soll uns Musik zu friedlicheren Menschen machen? Oder soll sie uns einfach nur ein »Bild« vom Frieden verschaffen – und was kann überhaupt damit gemeint sein? Konkurriert die Musik dann mit der Literatur, der Geschichtsschreibung und der Sozialwissenschaft? Kann uns bestimmte Musik tatsächlich Erkenntnisse über den Frieden vermitteln, derer wir auf andere Art und Weise (etwa durch empirische Forschung) nicht habhaft werden könnten? Senghaas’ Begriff des Friedens scheint über245 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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dies alle möglichen politischen und privaten Werte von der Freiheit über die Gerechtigkeit bis hin zur Solidarität und personalen Liebe zu umfassen. Eine derartig inflationäre Ausweitung dieses Begriffs zieht jedoch immer die Gefahr seiner vollständigen Entwertung nach sich. In diesem Kapitel möchte ich daher statt dessen zwischen drei liberalen Kernwerten unterscheiden und die politische Bedeutung der Musik im Hinblick auf eine affektiv-emotionale Verankerung dieser Werte zum Thema machen.
5.2 Kernwerte des politischen Liberalismus Beginnen wir mit einer Erinnerung an die normativen Grundlagen der liberalen Demokratie: Freiheit, Gleichheit und Solidarität bzw. Brüderlichkeit werden weithin als die grundlegenden Werte angesehen, die in den Institutionen des demokratischen Rechtsstaats konkretisiert werden (vgl. Rawls 1975, 127; Habermas 1991, 70). Die Geister scheiden sich zwar an der Frage, wie das Verhältnis zwischen diesen drei Werten näher zu bestimmen ist. Insbesondere die Frage, ob man sie nicht aus einem Grundwert ableiten könne, wird bis heute intensiv diskutiert: Mit den Kommunitaristen kann man versuchen, die Werte der Freiheit und der Gleichheit aus dem Wert der Solidarität herzuleiten (Walzer 1992, 65 ff.); libertäre Ansätze (Nozick 1976) machen dagegen den Wert der individuellen Freiheit zum Grundwert des politischen Liberalismus, wobei dann Gleichheit und Solidarität nur als abgeleitete Werte erscheinen; und Egalitaristen (Dworkin 2000) vertreten zuletzt die Auffassung, daß die Freiheit und die Brüderlichkeit von Institutionen immer an die Grundvoraussetzung der politischen Gleichheit aller Bürger gebunden bleibe. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist dieser Streit aber kaum von Belang, denn ein Pluralist könnte ohnehin die These vertreten, daß sich diese Werte aus unterschiedlichen Quellen speisen und daher zumindest teilweise in einem unversöhnlichen Widerstreit befinden (vgl. Rawls 2003b, 20; Rinderle 2007, 10. Pluralismus und praktische Vernunft). In unserem Zusammenhang ist die Klärung eines anderen Problems viel wichtiger: Wenn wir die politische Bedeutung der Musik aus ihrem Vermögen zum Ausdruck und zur Artikulation von Emotionen herleiten wollen, so müssen wir zunächst angeben können, in welchem Verhältnis politische Werte zu den Emotionen des Menschen 246 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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stehen. Wir haben schon gesehen, daß zumindest die paradigmatischen Emotionen wie Angst, Trauer oder Freude relativ komplexe Cluster sind, die sich aus kognitiven, affektiven und motivationalen Komponenten zusammensetzen und mit der Wahrnehmung bestimmter Werte zu tun haben (vgl. Abschnitt 1.3). Von einer Person, die keinen emotionalen Bezug zu bestimmten Werten ausbildet, wird man auch nicht sagen können, sie habe diese Werte als Maßstäbe zur Orientierung ihres Lebens akzeptiert. Schwerer fällt nun eine präzise Antwort auf die Frage, wie eine angemessene emotionale Haltung bzw. Reaktion gegenüber den drei politischen Kernwerten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aussehen könnte; und obwohl in jüngster Zeit intensiv über die politische Bedeutung von Emotionen diskutiert wurde (vgl. Krippendorff 1999, 405 ff.; Walzer 2004, 110 ff.; Nullmeier 2006; Krause 2008; Kingston/Ferry 2008; Moïsi 2009), werde ich mit den folgenden Überlegungen weitgehend unerforschtes Neuland betreten. Was zunächst die Freiheit angeht, wird man allgemein sagen können, daß sich die Wertschätzung der Freiheit auch in Form einer affektiv gefärbten »Liebe« oder »Zuneigung« zu diesem Wert niederschlagen wird – so wie sich die Geringschätzung der Freiheit umgekehrt in einer starken »Abneigung« oder gar in einem Gefühl des »Hasses« freiheitlicher Gesellschaften bemerkbar machen kann. Ein bestimmter kognitiver Zustand wird dann mit einer bestimmten Sinnesempfindung einhergehen; die Überzeugung, daß ich frei bin, wird mit einer Empfindung von Lust einhergehen, und die Überzeugung, daß ich unterdrückt werde, zu einer Empfindung von Unlust führen. Von den wichtigen Emotionen, die mit einer Wertschätzung der Freiheit einhergehen, möchte ich hier zwei mögliche Gegenstände der Freiheitsliebe ansprechen, die vor allem mit zwei bestimmten Fähigkeiten einer Person zu tun haben: zum einen die Fähigkeit zur Ausbildung einer Identität und damit die Fähigkeit zur Bestimmung und Verfolgung einer wertvoll erscheinenden Konzeption des guten Lebens; und zum anderen die Fähigkeit zur Selbstdistanz, das Vermögen also, Verantwortung für die eigene Konzeption des guten Lebens zu übernehmen, diese Konzeption einer kritischen Reflexion zu unterziehen und sie eventuell zu revidieren. Diese beiden Fähigkeiten entsprechen auch den beiden moralischen Vermögen der politischen Person bei John Rawls (2003a, I. § 5 Die politische Konzeption der Person). Dabei hat man sich diese Kompetenzen durchaus in einer wechselseitigen Abhängigkeit und Verschränkung vorzustellen, denn man wird die Fähigkeit zur 247 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Selbstdistanz bzw. zur Reflexion der eigenen Lebensinhalte ihrerseits als ein wichtiges Element der Identität des Bürgers einer Demokratie ansehen können. Sehen wir uns zunächst den Aspekt der Freiheitsliebe an, der etwas mit den Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und zur Ausbildung einer Identität zu tun hat, und fragen nach weiteren Emotionen, die für ihre affektive Verankerung zweckdienlich sein können. Soweit ich sehe, ist der Mut eine der wichtigsten personalen Tugenden eines Menschen, der daran interessiert ist, seine Konzeption des guten Lebens zu bestimmen und zu verfolgen. Nicht nur bedarf es des Mutes, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, auch die äußere Handlungsfreiheit eines Individuums und die politische Freiheit eines Volks muß in manchen Fällen gegen Widerstände erkämpft oder verteidigt werden. Der Mut einer Person steht dabei in einer engen Verbindung mit Emotionen der Zuversicht und der Hoffnung, die man im Gegensatz zur Furcht als eine Erwartung eines positiv bewerteten Ereignisses verstehen kann. Philip Pettit (2004, 161) weist darauf hin, daß gerade der Emotion der Hoffnung eine zentrale Bedeutung für die Wertschätzung unserer Fähigkeit zur autonomen Bestimmung und Bewahrung einer Identität zukommt: »In many circumstances, hope represents the only way of retaining our identity and selfhood and of not losing ourselves to the turmoil of brute, disheartening fact.« Und John Braithwaite (2004, 83) macht auf das enge Verhältnis von Hoffnung und Emanzipation aufmerksam, für das er die von Nelson Mandela angeführte Anti-Apartheitsbewegung in Südafrika als Beispiel nennt: »Hope in the face of overwhelming odds of oppression is a vital part of the makeup of the political vanguard for emancipation.« Mit lähmender Angst allein ist also kein freiheitlicher Staat zu machen, denn gerade die Furcht vor der Freiheit zieht ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis der Menschen nach sich, das im schlimmsten Fall die Grundlage für ein autoritäres Gemeinwesen bilden kann. Die Zuversicht des Bürgers ist dagegen ein Ausdruck des Selbstvertrauens und der eigenen Stärke, die nicht bei einem allmächtigen Herrschaftsapparat eine ohnehin höchst trügerische Sicherheit suchen muß. Vor allem John Rawls (2002, 32) hat die große politische Bedeutung einer Emotion der Hoffnung unterstrichen; schon in seiner Bachelor-Arbeit spricht Rawls von einer »Sünde der Hoffnungslosigkeit«, die allerdings »in der west-
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lichen Kultur nie verbreitet gewesen, im Osten aber häufig vorherrschend« (2010, 150) sei. Auch Dominique Moïsi (2009, 2. Die Kultur der Hoffnung, 21) weist neuerdings darauf hin: »Zuversicht ist für Nationen und Kulturen genauso wichtig wie für Individuen, weil Zuversicht einem erlaubt, der Zukunft hoffnungsvoll entgegenzusehen, seine Fähigkeiten auszuschöpfen und sogar über diese hinauszuwachsen.« Siehe in diesem Zusammenhang aber auch die empirische Studie von Harriet Ottenheimer (1979, 79) zum Gefühl des »Blues«, das trotz der Schwierigkeiten einer Definition zumindest auf »a core concept of frustration, despair, or hopelessness« verweist.
Darüber hinaus hat die Liebe zur Freiheit nun mit einer Vielzahl weiterer Emotionen zu tun, und dabei wird insbesondere der Stolz auf die Fähigkeit zur (privaten oder politischen) Autonomie eine große Rolle spielen. Rawls (2003a, 302 f.) nennt den Stolz eines demokratischen Volks auf die Errichtung gerechter Institutionen deshalb ein bedeutendes soziales Gut, vor allem weil so ein Gefühl der Selbstachtung zu einer affektiven Verankerung des Wertes der Freiheit beitragen kann und dieses Gefühl Rawls (1975, 479) zufolge »vielleicht das wichtigste Grundgut« des Menschen ist. Vor allem wird die öffentliche Identität eines liberalen Staatsbürgers ja nicht von seiner Konzeption des guten Lebens festgelegt; Rawls (2003a, 99) nimmt vielmehr an, daß die nichtinstitutionelle oder moralische Identität eines Menschen nicht mit seiner öffentlichen oder institutionellen Identität zusammenfällt. Der Bürger verliert also nicht seinen Status als Rechtsperson, wenn er seine Konzeption des guten Lebens revidiert oder zu einer anderen Religion konvertiert. Da die politische Gerechtigkeit nicht von einer bestimmten Konzeption des Guten abhängt, wird dem Bürger eine eigene Verantwortung für seine Ziele, seine ethische Identität aufgebürdet (ebd., 103). Damit ist bereits die zweite Dimension der Freiheit angesprochen: die Fähigkeit zur Selbstdistanz. Läßt auch sie sich über eine rein intellektuelle Anerkennung hinaus affektiv befestigen? Man könnte auf die Ironie, den Humor und die Phantasie als die einschlägigen Fähigkeiten verweisen, die gleichsam als Prophylaxen gegenüber der Hypostasierung einer bestimmten ethischen Identität dienen können. 1 Die FähigZur Bedeutung des Humors für eine (politische) Ethik siehe Currie (1998, 172) und Seel (2006, 96): Der Humor fördere »die Bereitschaft, die eigene Position zur Disposition zu stellen«, seine Kultivierung sei deshalb auch »das Herzstück der Demokratie«. Zur Erfindung des Humors im modernen Roman (von Cervantes und Rabelais) siehe vor allem Kundera (1994, 11 ff.): Dort werde ein Raum erschaffen, in dem das mora-
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keit zur Relativierung einer bestimmten Konzeption des Guten, die Fähigkeit zum radikalen Zweifel an bestimmten Ideen des Guten, die Fähigkeit, sein eigenes Leben mit Humor und kreativer Phantasie aus einer ironischen Distanz zu betrachten und eventuell einer Neubeschreibung zu unterziehen (Rorty 1989, 96 ff.), können somit als Voraussetzungen für eine affektive Verankerung der Fähigkeit zur Selbstdistanz gelten. Sie ermöglichen insbesondere eine innere Freiheit, eine Freiheit des Geistes und der Gedanken. Schon bei G. W. F. Hegel (1986, Bd. III, 141) heißt es: »Wenn wir nun im allgemeinen schon die Tätigkeit im Bereiche des Schönen als eine Befreiung der Seele, als ein Lossagen von Bedrängnis und Beschränktheit ansehen können, indem die Kunst selbst die gewaltsamsten tragischen Schicksale durch theoretisches Gestalten mildert und sie zum Genusse werden läßt, so führt die Musik diese Freiheit zur letzten Spitze.« Dabei muß man allerdings beachten, daß diese innere Freiheit in ein Konkurrenzverhältnis zur äußeren, politischen Freiheit des Bürgers treten kann: Vor allem Thomas Mann (1993, 176) hat den Kult der Innerlichkeit kritisiert, den gerade die Deutschen im 19. Jahrhundert mit der Musik der Romantik betrieben hätten: »Die Deutschen sind ein Volk der romantischen Gegenrevolution gegen den philosophischen Intellektualismus und Rationalismus der Aufklärung – eines Aufstandes der Musik gegen die Literatur, der Mystik gegen die Klarheit. Die Romantik ist nichts weniger als schwächliche Schwärmerei.«
Die Fähigkeit zur Selbstdistanz ist weiterhin insbesondere mit der Fähigkeit verknüpft, sich selbst als eine Person unter anderen Personen wahrzunehmen (vgl. Ricoeur 1990, 7.2 … avec et pour l’autre …). Sie beinhaltet damit gerade auch die Fähigkeit, andere Menschen als Personen anzusehen, die ihrerseits wiederum mit einer Fähigkeit zur Freiheit ausgestattet sind. Die zentrale Tugend, die eine Anerkennung der Freiheit anderer Personen beinhaltet, ist sicher die Toleranz (vgl. Walzer 1998). Welche Charaktereigenschaften könnten diese unter Umständen schwierige und kostspielige Tugend besser affektiv absichern als gerade die Ironie und vor allem auch die Selbstironie? Diese Dispositionen können somit zur Befestigung einer affektiv geprägten lische Urteil aufgehoben sei und das Individuum sich ohne Rücksicht auf objektive, vorgegebene Wahrheiten entfalten könne: »Der Humor: der göttliche Blitz, der die Welt in ihrer moralischen Vieldeutigkeit enthüllt und den Menschen in seiner Inkompetenz, andere zu beurteilen; der Humor: die Trunkenheit angesichts der Relativität der menschlichen Dinge; das merkwürdige Vergnügen, das der Gewißheit entspringt, daß es keine Gewißheit gibt.« (Ebd., 37)
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Wertschätzung der Gleichheit zwischen freien Personen beitragen. Daß aber eine exzessive Wertschätzung der politischen Gleichheit den Wert der privaten Freiheiten auch bedrohen kann, soll gar nicht bestritten werden: Alexis de Tocqueville (1959/62, Bd. 1, 284 ff.) und John Stuart Mill (1974, 8) haben vor einer Tyrannei der Mehrheit gewarnt. Dennoch ist die Wertschätzung der Gleichheit für eine Demokratie unverzichtbar und läßt sich nicht unmittelbar aus einer Liebe zur Freiheit ableiten. Nachdem Montesquieu (1951, Bd. 1, 34) etwa das Prinzip der Demokratie als Tugend bestimmt hat, führt er aus: »Die Liebe zur Demokratie ist die Liebe zur Gleichheit« (ebd., 63). Ähnlich schreibt Tocqueville (1959/62, Bd. 2, 109), »daß unsere Zeitgenossen die Gleichheit viel leidenschaftlicher und weit ausdauernder lieben als die Freiheit«. Zwar hätten »die demokratischen Völker einen natürlichen Sinn für die Freiheit«, doch für die Gleichheit »nähren sie eine feurige, unersättliche, ewige, unbesiegbare Leidenschaft« (ebd., 112).
Auch die Gleichheit umfaßt mindestens zwei Aspekte, denn mit der Anerkennung der Freiheitsrechte anderer Personen ist noch nicht die Frage nach der gerechten Verteilung materieller Güter wie Einkommen und Vermögen beantwortet. Ein liberaler Theoretiker der Gerechtigkeit wird nicht für eine strikte Gleichverteilung aller materiellen Güter plädieren; auf welche Art und Weise akzeptable Ungleichheiten in einer liberalen Gesellschaft indessen zu rechtfertigen sind, ist selbst unter liberalen Theoretikern umstritten. Als weithin unstrittig gilt dagegen die Bedeutung des gleichen Rechts auf freie Selbstbestimmung aller Personen. Die Tugend der Toleranz erscheint mir dann auch hier als die entscheidende Form einer affektiven Verankerung dieser speziellen Deutung des Wertes der Gleichheit. Dabei spielt die affektive Komponente der Toleranz eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie ihre rein kognitive Komponente (dazu: Kuklinski u. a. 1991; Hursthouse 1999, 114). Daß der Wert der Gleichheit über die wechselseitige Anerkennung der Freiheit hinausgeht, scheint jedenfalls relativ unumstritten. Eine nähere Bestimmung eines Ideals der Gleichheit bleibt jedoch schwierig, zumal auch die Affekte hier keine deutliche Sprache sprechen. Der dritte Kernwert des politischen Liberalismus ist die Brüderlichkeit; darunter möchte ich ein Bewußtsein für gemeinsam geteilte Erfahrungen sowie gemeinsame Projekte und Hoffnungen sowie eine gewisse solidarische Loyalität gegenüber den Mitgliedern des eigenen Gemeinwesens verstanden wissen (vgl. Rorty 1989, 189 ff.; Habermas 251 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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1991, 69 ff.; Walzer 1998, 114 ff.). In einem gewissen Sinn kommt die Solidarität dabei auch einer kollektiven Liebe zur eigenen Freiheit nahe – und zwar als Ausdruck einer Fähigkeit, eine kollektive Identität sowie eine geteilte Konzeption des gemeinsamen guten Lebens auszubilden und zu kultivieren. Was die affektiven Grundlagen des Wertes der Brüderlichkeit angeht, wird man an erster Stelle wohl das Einfühlungsvermögen nennen müssen. Im Gegensatz zur Freiheitsliebe und zur Tugend der Toleranz wird dabei vor allem eine Fähigkeit zum Mitgefühl vorausgesetzt. Das Einfühlungsvermögen kann einen Zugang zu den emotionalen Zuständen anderer Menschen verschaffen, und es ist die Ausbildung und Kultivierung dieses Vermögens, von dem zuletzt die Realisierung der Brüderlichkeit in einer Gesellschaft abhängen wird. Die Emotion des Mitleids kann als eine eigentümliche Kraft verstanden werden, die den Menschen an seine Mitmenschen bindet (Belfiore 1992, 186). Zunächst einmal ist allerdings das Einfühlungsvermögen nicht unbedingt auf die Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft begrenzt. Im Prinzip sollte sich jeder Mensch in jeden anderen Menschen einfühlen können, und bis zu einem gewissen Grad kann man sich auch in höher entwickelte Tiere einfühlen und ihren Schmerz nachempfinden. Während man also annehmen darf, daß alle Menschen eine »Antenne« für das Empfinden anderer Menschen haben – und damit wäre eine affektive Grundlage für eine globale Brüderlichkeit, für eine »Solidarität, mit allem, was Menschenantlitz trägt« (Habermas 1991, 72) gelegt –, wird sich die Realisierung des Wertes der Brüderlichkeit in der Regel auf lokale oder nationale Gemeinschaften beschränken müssen. Denn die erfolgreiche Ausübung des Einfühlungsvermögens bleibt zuletzt immer an eine mehr oder weniger direkte Wahrnehmung der Stimme oder des Gesichtsausdrucks anderer Menschen gebunden. Blicken wir kurz zurück, bevor wir den nächsten Schritt machen: Ich habe zunächst versucht, die liberalen Kernwerte zu identifizieren, und anschließend die relativ unstrittige These vertreten, daß Werte immer auch einer affektiven Verankerung bedürfen. Was nun die affektive Verankerung der liberalen Kernwerte angeht, so scheinen Emotionen wie Stolz, Hoffnung und Selbstachtung, Respekt vor der Freiheit der Mitmenschen und Toleranz sowie Einfühlungsvermögen, Loyalität und Brüderlichkeit die wichtigsten Bestandteile der mentalen Infrastruktur eines liberalen Staatsbürgers zu sein. Die folgenden Überlegungen gehen nun von der Auffassung aus, daß gerade Kunst252 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Kernwerte des politischen Liberalismus
werke einen Beitrag zur Reflexion unserer politischen Emotionen und damit auch zur Orientierung über politische Werte leisten können. Als Beispiel kann man etwa auf die griechische Tragödie verweisen, die ein Instrument zur Artikulation der neuartigen Emotionen bildete, mit denen sich die Bürger Athens konfrontiert sahen. Vor allem der Kultivierung des Mitleids kam eine gewaltige Schubkraft für die Entwicklung eines dialogbereiten Gemeinsinns bei den Bürgern Athens zu (vgl. Alford 1993; Nussbaum 2001, 428 ff.); und daneben spielt die tragische Emotion der Furcht – Aischylos’ Orestie ist dafür ein gutes Beispiel – auch eine wichtige Rolle bei der Errichtung und Stabilisierung eines Rechtszustands (Belfiore 1992, 23 ff.; Menke 2005, 94 ff.). Im Folgenden möchte ich mich der Frage zuwenden, auf welche Weise nun die Musik für die Entstehung und Erhaltung der gerade genannten Affekte bedeutsam ist. Reine Instrumentalmusik ist sprachlos und hat daher kein Vermögen zur Repräsentation von Wirklichkeit: Musik ist eine abstrakte, ungegenständliche Gattung der Kunst. Gerade aus diesem Grund kann ihr aber ein besonderes Vermögen zukommen, unsere Affekte anzusprechen und unsere Emotionen zu berühren. Falls diese Auffassung richtig ist, lassen sich aus ihr zwei diametral entgegengesetzte Schlüsse ziehen: Einige Philosophen, die der emotional-affektiven Seite des Menschen mit großem Mißtrauen begegnen, sehen sich dazu veranlaßt, Musik als irrational und gefährlich anzusehen; andere Philosophen wiederum, die der Ausbildung und dem Ausdruck von Emotionen einen zentralen Platz im menschlichen Leben einräumen, kommen umgekehrt zu einer äußerst positiven Einschätzung der ethischen und politischen Wirkungen der Musik (vgl. Rousseau 1984, Essay über den Ursprung der Sprachen, 99 ff. und dazu Gourevitch 1993; Scott 1997; Holloway 2001, 80 ff.). Wir müssen uns aber gar nicht zwischen diesen beiden Optionen entscheiden. Musik kann irrational und gefährlich sein, und ihr kommt gerade aus diesem Grund eine besondere Bedeutung zu. Und da die Musik ein Potential zur Expression, Artikulation und Reflexion dieser emotionalen Dimensionen unserer Existenz besitzt, kann sie wie schon die griechischen Tragödie zur Kultivierung der mentalen Infrastruktur der Mitglieder einer politischen Gemeinschaft beitragen. Zwar besitzt die Tragödie natürlich die Fähigkeit zur unmittelbaren Darstellung von politischen Konflikten: Antigone und Kreon, Philoktet und Odysseus haben unterschiedliche Wertvorstellungen, und die entsprechenden Tragödien können bestimmte Fragen auf ein253 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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deutige Weise zur Sprache bringen. Dennoch kann man die Auffassung vertreten, daß sich die Tragödie primär immer an die Emotionen ihrer Zuschauer wendet. Sie will Furcht und Mitleid bewirken (vgl. Abschnitt 4.3), wobei es ihr nicht nur um die Vermittlung von Einsicht und Wissen geht: Sie ist eine pädagogische Veranstaltung, die einer Schärfung der emotionalen Phantasie und einer Spiegelung des politischen Selbstverständnisses der Athener diente (Krippendorff 1999, 433 ff.; Nussbaum 2001, 428). Von diesem Befund ausgehend möchte ich mich nun der spezielleren Frage zuwenden, welchen Beitrag die Musik in der Gegenwart zur emotionalen Selbstverständigung der Mitglieder eines demokratischen Rechtsstaats leisten kann: Hat die Musik einen Einfluß auf die mentale Infrastruktur des liberalen Staatsbürgers, kann sie damit einen Beitrag zur Entwicklung von demokratischen Tugenden leisten? Da ich auf die allgemeinen Probleme einer Werterziehung in der liberalen Demokratie hier nicht eingehen kann (dazu: Kersting 1997, 453 f.; Rinderle 2007, 9. Erziehung zur Liberalität), setze ich voraus, daß bestimmte Bürgertugenden in der liberalen Demokratie zumindest wünschenswert sind. (Ob sie für die Stabilität eines liberalen Rechtsstaats notwendig sind, wäre noch einmal eine andere Frage.) Außerdem gehe ich von der Annahme aus, daß der demokratische Rechtsstaat die Bedeutung der Stabilität des Gemeinwesens nicht über die Realisierung der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit stellt. Denn in der Demokratie wird man die Stabilität von Institutionen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck der Verwirklichung und Sicherung der politischen Gerechtigkeit ansehen. Wir haben bereits festgestellt, daß die Musik auf vielfältige Weise mit der Politik verbunden ist. Musik kann eine Affirmation unserer Freiheit sein (vgl. Goehr 1994, 108), sie kann aber auch – man denke etwa an Bob Marleys Song Get up, stand up: stand up for your rights – zur Äußerung von politischem Protest dienen. Musik kann somit auch einen utopischen Gehalt in einem politischen Sinn haben; Ernst Bloch (1959, 1257) nennt sie gar »die utopische Kunst« und meint, sie bringe uns »in die warme, tiefe, gotische Stube des Innern, die allein noch mitten in dem unklaren Dunkel leuchtet«; und diese werde »am jüngsten Morgen dasselbe wie das offenbare Himmelsreich sein« (Bloch 1974, 163 f.). Musik kann also zur subversiven Kritik, aber auch zur ideologischen Affirmation von Herrschaft verwendet werden. Man kann sie damit als eine Form der sozialen und kulturellen Imagination 254 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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verstehen, die man, obwohl ihre Produkte immer auch auf vielfältige Weise instrumentalisiert werden können, als konstitutiven Bestandteil des Lebens einzelner Personen wie auch der sozialen Realität insgesamt ansehen muß. Dies gilt für alle Formen der sozialen und kulturellen Imagination und kennzeichnet ganz allgemein die Dialektik von Ideologie und Utopie, denen jeweils sowohl eine konstruktive, konstitutive Bedeutung als auch ein destruktives, pathologisches Potential zu eigen ist (vgl. v. a. Ricoeur 1986, 1. Introductory Lecture). Gerade mit der Persona-Theorie der Expressivität im Hinterkopf kann man auch die Musik als ein Vehikel der kulturellen Imagination verstehen: Die Hörer von Musik, schreibt Lawrence Kramer (1995, 22) »agree to personify a musical subject by responding empathetically to the music’s summons. Their pleasure in listening thereby becomes a vehicle of acculturation […]. To some degree, the act of personifying the musical subject situates the listener within that subject’s cultural order.« Die Musik kann daher sicherlich auch für externe, politische Zwecke instrumentalisiert und mißbraucht werden. Sie enthält aber auch eine innere Bedeutung, die die Grundlage für ihr subversiv-utopisches Potential sein kann. Verengt man also den Blick auf eine rein funktionalistische Sichtweise, so ist man gezwungen, die Frage nach der inneren Bedeutung oder Funktion zu vernachlässigen und damit auch ihr expressives Potential, was dann auch zu einer undifferenzierten Haltung in bezug auf den besonderen Wert einzelner Musikstücke führt. Deshalb wird mich hier im Gegenzug die Frage interessieren, ob die Musik durch ihr expressives Potential und ihre unmittelbar emotional-affektive Wirkung auf den Hörer auch einen Beitrag zur politischen Kultur eines demokratischen Rechtsstaats leisten kann.
5.3 Die Affirmation von Freiheit Eine unabdingbare affektive Verankerung unserer Wertschätzung der Freiheit ist die Selbstachtung des Bürgers. Diese Emotion wird in ihrem Entstehen wesentlich dadurch gefördert, daß sich der Bürger als kooperatives Mitglied einer Gemeinschaft akzeptiert fühlt und die sichere Überzeugung ausbilden kann, daß seine Konzeption des Guten es wert ist, verwirklich zu werden (Rawls 2003a, 437). 2 Die Selbstachtung des 2
Das Education-Projekt der Berliner Philharmoniker kann hier etwa als Beleg dafür
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Bürgers steht jedoch in einem komplexen Wechselverhältnis zu einer ganzen Palette verschiedener Emotionen und setzt sich aus einer gelungenen Mischung von Haltungen wie Hoffnung und Furcht, Freiheitsliebe und Achtung der Rechte anderer Personen zusammen. Auf welche Weise kann expressive Musik einen Beitrag zur Ausbildung und Kultivierung dieses besonderen emotionalen Selbstverhältnisses leisten und somit zur Emanzipation des Menschen beitragen? 3 Wichtig dürfte an erster Stelle ihr kreatives Potential sein, mit dem sie musikalische Konventionen in Frage stellen kann. Aaron Ridley unterscheidet zwei Möglichkeiten der musikalischen Expressivität: Musik kann erstens auf konventionelle Ausdrucksmittel zurückgreifen, wobei man sicher nicht jeden konventionellen Gefühlsausdruck als ein bloßes Klischee ansehen muß; auch zwischen der Verwendung von Konventionen mag es schließlich große Unterschiede geben. Durch die Erfindung neuer Ausdrucksmittel kann die Musik zweitens aber ihr kreatives Potential unter Beweis stellen und auf diese Weise einen Beitrag zur freien Entfaltung der Persönlichkeit leisten (Ridley 1995, 16 ff.). Sowohl die Musik Ludwig van Beethovens (Indorf 2004, 47 ff.) als auch die serielle Musik des 20. Jahrhunderts (vgl. Adorno 1978, 39 ff.; Boulez 1986, 481) kann man als Beispiele für eine Suche nach neuen Ausdrucksformen und auf diese Weise als Kritik musikalischer und damit einhergehender sozialer Konventionen anführen. Helmut Lachenmann (1996, 108 f.) spricht von einer »Verweigerung des Gewohnten« in den Kompositionstechniken Bachs, Mozarts, Beethovens usw.
angeführt werden, daß Musik zur Stärkung des Selbstwertgefühls beitragen kann. Der Dokumentarfilm Rhythm is it zeigt eindrucksvoll, wie 250 Berliner Jugendliche im Jahr 2002 Strawinskys Le sacre du printemps als Tanzaufführung einstudierten. Zur musikalischen Stärkung der Selbstachtung v. a. von Angehörigen von benachteiligten oder stigmatisierten Gruppen siehe ferner Kaemmer (1993, 155). 3 Allgemein zur emanzipatorischen Kraft von Kunst siehe Seel (1996, 34) und speziell zur emanzipatorischen Bedeutung von Mozarts Prager Symphonie siehe McClary (1994). Mahnkopf (1998, 113 f.) schreibt, der Komplexismus – eine besondere Richtung der Neuen Musik, die maßgeblich vom Komponisten Brian Ferneyhough entwickelt wurde – sei »der angemessene Ausdruck des heutigen Ich, das, sozial wie in der persönlichen Lebenswelt, ein fragmentiertes ist. […] Solche Musik, nicht der Klang an sich, heißt heute Freiheit. […] Komplexistische Musik ist daher wesensmäßig ›demokratisch‹, da bereits ihre Struktur jedem Rezipienten die Freiheit läßt, ja allererst ermöglicht, den je eigenen Modus des musikalischen Hörens zu suchen, zu finden, zu wählen.«
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In der Gegenwart betont der Komponist Wolfgang Rihm den Zusammenhang von musikalischer Kreativität und menschlicher Freiheit. In seinem Essay Musikalische Freiheit führt er Beethovens späte Quartette und Edgard Varèses Erfindungen von Klangobjekten als Beispiele für »eine Ästhetik der Freiheit« an: »Diese Ästhetik der Freiheit, wobei mit der ›künstlerischen Freiheit‹ ja nie nur rein handwerkliches Ungebundensein gemeint ist, sondern eine menschliche, sicher auch eine gesellschaftliche Freiheit ersehnt wird, diese Ästhetik also leitet sich ab von konkreten Objekten der Kunst, Musikstücken in diesem Fall, nicht von theoretischen Vorverständnissen, von Lehrsätzen.« (Rihm 2002, 52) Philippe Carles und Jean-Louis Comolli (1974, III.2 Musik und Politik) machen zusätzlich auf die politische Bedeutung des Free Jazz – zu dem man Musiker wie Ornette Colemen, Archie Shepp, Eric Dolphy, John Coltrane und Sonny Rollins (mit seinem Album Freedom Suite) zählen kann – für die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten aufmerksam. Der Free Jazz wende sich gegen eine leichte Konsumierbarkeit von Musik und sei durch eine Erweiterung des musikalischen Materials in Form von Geräuschen und unreinen Tönen und durch den Verzicht auf eine formale Einheit besonders gut für den Ausdruck des Leidens und der Wut der Schwarzen geeignet (ebd., 243). Darüber hinaus kann man auf das ironische Spiel mit Konventionen und Traditionen verweisen, das sowohl für den Klassiker Joseph Haydn als auch für den Neoklassiker Igor Strawinsky typisch ist. Ekkehart Krippendorff (1999, 437 ff.) hebt das politische Potential dieses Spiels mit musikalischen Figuren und Formen bei Haydn und Mozart hervor: »Die große Aufgabe der Musik ist das Hörbarmachen der menschlichen Freiheit: Das Hören ist eine Erfahrungs- und Erkenntnis-(bzw. ›Diskurs‹-) Ebene, die um nichts geringer oder minderwertiger ist als die philosophische und theoretische. Auch in der Musik kann über Freiheit nachgedacht und öffentlich verhandelt werden (und Mozart hat genau dies getan).« (Ebd., 441) Susan McClary (2000, 101; meine Hervorh.) bezeichnet die Courante aus Bachs Partita IV D-Dur für Klavier, BWV 828 sogar als musikalisches Beispiel für die Vermittlung eines nichtpropositionalen Wissens in bezug auf den Wert der Freiheit: »[…] four times over the course of this dance he takes us from the static rigidity of the ancien régime to the impulsive desire for self-generation that stood as the ideal of the emergent German intelligentsia, showing step by step how emancipation feels. He implodes the aristocratic conventions so fetishized by the German upper classes.«
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Gewiß: Kaum ein Kunstwerk kann radikal mit allen Konventionen brechen, und selbst die innovative Expressivität der musique concrète instrumentale eines Helmut Lachenmann steht in einer Tradition, die bis zu Bach, Beethoven und Brahms zurückreicht. Auf unterschiedliche Weise kann aber der kreative Ausdruck neuer Emotionen zu einer affektiven Verankerung des Wertes der Freiheit beitragen. So schreibt Helmut Lachenmann (1996, 115; meine Hervorh.): »Das Ich […], sich mitteilend nicht durch eine wie auch immer bereits ästhetisch verwaltete Sprache, sondern durchs reflektierte Handeln, durchs strukturelle Aufbrechen des Vertrauten, durch die Sensibilisierung der Wahrnehmung für ihre eigenen Kräfte und durch die Erinnerung des Denkens und Fühlens an die eigene Veränderbarkeit durch alle Bedingtheiten hindurch – dies wäre das Bild vom Menschen, wie tief auch immer im Sand verschüttet, das mir Hoffnung gibt.« Siehe aber auch Adorno (1973b, 155) über »Tendenzen zur totalen Rationalisierung« und zum Verlust der Freiheit in manchen Strömungen der Neuen Musik: »Die Symptome des Alterns der Neuen Musik sind gesellschaftlich solche des Schrumpfens der Freiheit, des Zerfalls der Individualität […]. Die brutalen Maßnahmen der totalitären Staaten beider Spielarten, welche die Musik gängeln und die Abweichung als dekadent und subversiv bedrohen, bezeugen nur sinnfällig, was minder offen auch in den nichttotalitären Ländern, ja im Innern der Kunst wie der meisten Menschen selber sich zuträgt.« (Ebd., 165) Siehe ferner Michael Jones (1994, 129) über »the musical totalitarianism that was the twelve-tone system«. »The twelve-tone system was a neurotic numerological attempt to assert control over a chaotic world.« (Ebd., 131) »Schönberg turned to musical Stalinism as a way of reasserting control over a musical universe gone mad.« (Ebd., 135)
Musik kann also eine Lust am Bruch von Konventionen wecken, sie kann dem Hörer ein Vergnügen an der Ausübung schöpferischer bzw. spielerischer Fähigkeiten vermitteln und dadurch sogar zur Ausbildung der inneren Freiheit des Menschen beitragen. »Hat man bemerkt«, schreibt Nietzsche im Fall Wagner (KSA 6, 14), »dass die Musik den Geist frei macht? dem Gedanken Flügel gibt?« Daß allerdings die innere Freiheit in einen gravierenden Konflikt mit der Leidenschaft für die äußere Freiheit treten kann, hat Thomas Mann in seinem Essay Deutschland und die Deutschen betont; in bezug auf die »Musikalität der deutschen Seele, dem, was man ihre Innerlichkeit nennt« spricht Mann (1993, 265) von einem »Auseinanderfallen des spekulativen und des gesellschaftlich-politischen Elements menschlicher Energie und der völligen Prävalenz des ersten vor dem zweiten«. Mann (ebd.) zitiert in diesem Zusammenhang Honoré de Balzac: »Les 258 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Allemands, s’ils ne savent pas jouer des grands instruments de la Liberté, savent jouer naturellement de tous les instruments de musique.« Doch diese Musikalität der Seele mache sich eben »in anderer Sphäre teuer bezahlt, – in der politischen, der Sphäre des menschlichen Zusammenlebens« (ebd., 266). Dagegen könnte man einwenden, daß sich gerade die Neue Musik des 20. Jahrhunderts gegen den für das Zeitalter der Romantik typischen Kult der Innerlichkeit gewendet hat. Andererseits kann man beobachten, daß auch in der Neuen Musik – man denke nur an einen Komponisten wie Karlheinz Stockhausen – vielfach weiter die für die Romantik typische Mischung aus Weltentrückung und Mystik kultiviert wird. Wir müssen also differenzieren: Verschiedene Musikstücke können zu unterschiedlichen emotionalen Reaktionen einladen, und der (ästhetische) Wert eines Musikstücks wird sich auch am (moralischen) Wert der betreffenden Emotion, zu dessen Imagination es seinen Hörer einlädt, bemessen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die affektive Verankerung des Wertes der Freiheit das Ergebnis eines Wechselspiels zweier gegensätzlicher Kräfte ist: des Bedürfnisses nach einer Identität sowie der Fähigkeit zu einer Reflexion dieser Identität aus einer gewissen Distanz. In der Musik kann man einem Ausdruck beider Kräfte begegnen, wobei die Unterhaltungsmusik, grob gesagt, sicher eher das Bedürfnis nach einer Identifizierung und die musikalische Avantgarde des 20. Jahrhunderts eher die Notwendigkeit einer Distanzierung zum Ausdruck bringen kann. Die spezifische Gefahr, die also der Realisierung des Wertes der Freiheit droht, läßt sich auch im Bereich der Musik wieder finden. Keine Rede kann daher davon sein, daß jede Art von Musik der Kultivierung von liberalen Tugenden förderlich ist. Nur die Werke, denen es gelingt, das eigentümliche Wechselspiel der beiden gegenläufigen Kräfte von emotionaler Bindung und reflexiver Distanz zu artikulieren, werden eine echte Lust an der Freiheit fördern können. Das expressive Potential von Musik wird es vor allem erlauben, eine bestimmte ethische und politische Identität zum Ausdruck zu bringen, und dieses Potential ist auch Gegenstand zahlreicher empirischer Untersuchungen (vgl. MacDonald u. a. 2002). Bereits JeanJacques Rousseau schreibt der Musik eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der emotionalen Identität des Menschen und damit eine politische Bedeutung zu (vgl. Holloway 2001, 80 ff.). Sogar für den Ausdruck und die Artikulation einer spezielleren Emotion der Hoffnung, die ich ja in einen engen Zusammenhang mit der Anerkennung 259 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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des Wertes der eigenen Freiheit gestellt habe, kann Musik geeignet sein. So kann Jerrold Levinson (1990, 336 ff.) in Felix Mendelssohn Bartholdys Hebriden-Ouvertüre einen Ausdruck von Hoffnung wahrnehmen, und Jenefer Robinson und Gregory Karl (1995, 406) können das Hornmotiv, das im dritten Satz (ab der Probenummer 114) von Schostakowitschs 10. Symphonie zu hören ist, als einen Ausdruck einer (wenn auch sich als trügerisch erweisenden) Emotion der Hoffnung identifizieren. Dabei kommen Robinson und Karl allerdings zu dem Resultat, diese Hoffnung erweise sich zuletzt als »falsche Hoffnung« (ebd., 413). Sogar der Komponist Helmut Lachenmann (1996, 176; Hervorh. i. O.) schreibt, er habe Luigi Nonos Accanto, »sowie meine anderen Werke nie anders verstanden denn als Ausdruck von Hoffnung«. Auch Theodor W. Adorno (1993, 273) nimmt in Beethovens Streichquartett Nr. 15 in B-Dur, op. 130, – und zwar »in dem Verzicht auf den Schein der Harmonie« – einen »Ausdruck der Hoffnung« wahr.
Man könnte nun einwenden, daß passive Hörer sich einfach der Musik bedienen könnten, um auf diese Weise bereits vorgefertigte Identitäten auszuwählen und zu übernehmen. Wie kann Musik dann zur Ausbildung und Erhaltung einer Identität beitragen? Mit diesem Zweifel unterschätzt man aber die kreative Leistung, die expressive Musik auch vom Hörer fordert. Wie dem Interpreten kommt dem Hörer schließlich ein mehr oder weniger großer Spielraum bei der Aneignung eines Musikstücks zu. Man kann diesen oder jenen Aspekt »entdecken«, auf diese oder jene Gestalt besonders achten, diese oder jene »Hörart« bevorzugen. Der Hörer ist somit nicht zum rein passiven Konsum verurteilt, er muß die das betreffende Musikstück »beseelende« persona mit Hilfe der Vorstellungskraft jeweils selbst neu zum Leben erwecken. In dieser Hinsicht gibt es keinen unüberwindlichen Abgrund, der die schöpferische Aufgabe eines Hörers von der des Interpreten oder des Komponisten trennen würde. Die formale Dimension expressiver Musik erlaubt es gleichzeitig, den zweiten Aspekt der affektiven Wertschätzung von Freiheit zu betrachten. Expressiver Musik ist es möglich, durch diese formale Komponente in eine Distanz gegenüber den primären Emotionen zu treten und eine imaginäre Reflexion vorzunehmen. Gerade im 20. Jahrhundert begegnet man vielfältigen Formen einer Brechung etwa eines unmittelbaren Ausdrucks der Freude: Arnold Schönberg kann etwa in seinen Transkriptionen von Johann Strauß’ Stücken wie Rosen aus dem Süden oder Kaiser-Walzer noch mit einer Mischung aus wohl260 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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wollender Nostalgie und dennoch frecher Ironie auf die Tanzmusik des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückblicken; Paul Hindemith zitiert und verfremdet, mit viel Humor und Sympathie, im Finale seiner Kammermusik, op. 36/4 den Bayrischen Avanciermarsch; und bei Gustav Mahler, Dmitri Schostakowitsch oder György Ligeti erscheint der Ausdruck positiver Emotionen vielfach oft nur noch als absurd und grotesk. Selbst eine kritische Reflexion und sogar die Negation bestimmter positiver Emotionen können also von der Musik artikuliert und reflektiert werden, und die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen wird auch eine Fähigkeit zur Empfindung des ganzen Spektrums von Emotionen enthalten, das von Hoffnung und Freude über Furcht und Trauer bis zu Tragik und Verzweiflung reicht. Eine in heiteren Kunstwerken zum Ausdruck kommende Emotion der Freude kann Friedrich Schlegel zufolge als »das schönste Symbol der bürgerlichen Freiheit« verstanden werden (zitiert nach Menke 2005, 136). Umgekehrt, das haben wir im vorigen Kapitel gesehen, können die in tragischen Kunstwerken zum Ausdruck kommenden schmerzhaften Emotionen wie Furcht und Mitleid zur Kultivierung eines Gefühls für die eigene Würde beitragen (vgl. Ridley 1995, 150; Levinson 1990, 326).
5.4 Die Artikulation von Toleranz Was nun die Möglichkeiten der Musik zur affektiven Verankerung unserer Wertschätzung der Gleichheit angeht, muß man mit besonderer Vorsicht vorgehen: Eine egalitaristische Konzeption der Gerechtigkeit hat es primär immer mit dem Problem der Verteilung knapper Güter innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen verschiedenen Gesellschaften zu tun; und dabei werden relativ komplizierte Überlegungen insbesondere zum Verhältnis der individuellen Verantwortlichkeit zur sozialen Solidarität eine Rolle spielen. Diese Überlegungen können sich zwar in relativ konkreten Emotionen wie dem Schuldgefühl, dem Neid oder der Empörung niederschlagen. Ein Mensch kann sich schuldig fühlen, wenn er zu Unrecht mehr als andere Menschen hat; er kann neidisch sein oder sich empören, wenn er meint, andere hätten mehr, als ihnen zustehe. Diese Emotionen setzen aber einen relativ gehaltvollen Begriff von Gerechtigkeit voraus, und zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht klar, ob die Musik auch über die Mittel verfügt, spezifisch moralische Emotionen zu artikulieren. 261 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Platon (Politeia 399a–c; Nomoi 802e, 814e) zufolge eignen sich nur die Tugenden der Tapferkeit und der Besonnenheit für eine rein musikalische Darstellung; die Tugend der Gerechtigkeit könne dagegen nur durch den Text eines Liedes dargestellt werden (Nomoi 660d–661c). Gerade unterdrückten Menschen kann die Musik eine Möglichkeit zu einem nonverbalen Ausdruck der Empörung und des moralischen Protests eröffnen; vgl. Love (2006, 106): »Indeed, for oppressed groups these nondeliberative forms are often the primary, even the only, mechanism for political communication.« Eine deliberative Konzeption der Demokratie mag dagegen die Fähigkeit zur sprachlichen Artikulation des eigenen Standpunkts auf unfaire Weise privilegieren: »Although Habermas gestures towards other sounds, the cries and screams of suffering and sometimes joy that animate struggles for justice, his theory of communicative rationality too quickly translates these vocalizations into speech acts and public texts […] the nonverbal soundings of bodies are ultimately too intimate, too personal, too material, too spiritual […] to meet the standards of his communicative rationality.« (Ebd., 112) Zur Musik als einer nonverbalen Form der Kommunikation siehe ferner Walter Bühl (2004, 114 f.).
Sicherlich kann man sagen, Musik könne Wut, Zorn oder Ärger zum Ausdruck bringen. 4 Im Gegensatz zur Empörung oder zur Scham sind diese Emotionen jedoch keine genuin moralischen Emotionen. Folglich sehe ich im Augenblick keine Möglichkeit, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Expressivität von Musik und einer möglichen Verletzung der Gleichheit in diesem distributiven Sinne herzustellen. Etwas aussichtsreicher scheint mir die Lage jedoch für einen anderen Aspekt der Gleichheit, der sich auf die Anerkennung der Fähigkeit zur Freiheit anderer Personen bezieht. Daß die Person A ihre eigene Freiheit liebt, liegt auf der Hand, sie dient ihr unter anderem zur Durchsetzung ihrer Interessen. Daß die Person A auch die Freiheit der Person B zum Gegenstand einer mit einer angenehmen Sinnesempfindung einhergehenden Emotion macht, ist ungleich schwieriger. A will schließlich ihre Interessen verwirklichen, und entweder ist ihr B dabei Mahnkopf (2007, 11) vermutet, daß »die Wut gegenüber der unausrottbaren Dummheit, die allerorten un-west und die Musik beleidigt«, »repräsentativ für unsereins [er spricht von sich selbst und anderen Komponisten der Avantgarde; P. R.] ist«. Doch die Tatsache, daß eine bestimmte Emotion der Beweggrund für die Komposition eines Stükkes ist, reicht sicher noch nicht aus, um diesem Stück einen entsprechenden expressiven Charakter zuzuschreiben. Man kann aus lauter Wut auch eine fröhlich gestimmte Sonate komponieren.
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behilflich oder sie hat andere Pläne oder steht ihr dabei im Wege. Eine Anerkennung eines allgemeinen Werts der Freiheit bedeutet, daß A auch die Freiheit anderer Menschen und die damit einhergehenden sozialen Differenzen respektiert. Hier gibt es ein breites Spektrum von Einstellungen, das von einer widerwilligen Duldung über Gleichgültigkeit und stoischer Akzeptanz bis hin zur enthusiastischen Bejahung von Differenz reicht (Walzer 1998, 20 f.). In beiden Fällen werden starke Emotionen involviert sein: Der Widerwille steht etwa in Konkurrenz zu einem allgemeinen Gefühl der Achtung anderer Menschen, und die positive Akzeptanz geht mit einer lustvollen Anerkennung der Tatsache einher, daß sich auch die divergierenden Interessen anderer Menschen von prinzipiell wertvollen Zielen herleiten können. Sowohl die widerwillige Achtung anderer Menschen als auch die Anerkennung anderer Werte setzt eine immense Kulturleistung voraus. Sie setzt voraus, daß eine Person den Konflikt verschiedener Wertvorstellungen unter Umständen einer harmonischungestörten Verwirklichung seiner eigenen Interessen vorziehen kann. Und während ich dem möglichen Beitrag der Musik zum Ausdruck komplexer moralischer Emotionen mit gewissen Vorbehalten begegne, meine ich doch, daß expressive Musik ein großes Potential für die Erziehung zur liberalen Tugend der Toleranz besitzt. Musik kann eine Lust an der Wahrnehmung von Dramatik, eine spezifische Freude am Umgang mit Konflikten, mit unterschiedlichen Bestrebungen verschiedener Menschen vermitteln. Vor allem durch ihr Potential zur reflexiven Brechung von emotionalen Bindungen kann sie uns zu einer Distanzierung von unserer Identität auffordern. David Schroeder hat versucht, dieses besondere reflexive Potential der Musik am Beispiel einiger Symphonien von Joseph Haydn nachzuweisen (kritisch dazu: Kivy 2001, 158). Schroeder macht zum einen deutlich, daß Haydn philosophische Einflüsse (etwa von Shaftesbury) aufgenommen hat, und er kann anhand von Formanalysen der Sinfonien Nr. 78 und Nr. 83 darüber hinaus zeigen, daß es Haydn gelingt, einen Konflikt von Wertvorstellungen durch eine Dramatisierung direkt zu präsentieren und auf eine musikalisch befriedigende, äußerst humorvolle und vergnügliche Art und Weise zu lösen. Insbesondere der musikalische Humor kann als Mittel zur ironischen Kritik willkürlicher Konventionen eingesetzt werden und dadurch eine Einstellung der Toleranz befördern helfen. Gerade bei Haydn wird man oft auf dieses Stilmittel stoßen: Im 1. Satz von Haydns Symphonie Nr. 83 hört 263 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Schroeder (1990, 88) sogar die Demonstration einer »very fundamental yet difficult truth: opposition is inevitable, and the highest form of unity is not the one which eliminates conflict. On the contrary, it is one in which opposing forces can coexist. The best minds of Haydn’s age aspired to tolerance, not dogmatism. It is precisely this message that can be heard in many of Haydn’s late symphonies.« Dabei sollte man an dieser Stelle anmerken, daß diese Einsicht nicht unmittelbar das Resultat der Wahrnehmung expressiver Eigenschaften ist. Schroeder (ebd., 131) zufolge verwendet Haydn vielmehr formale Mittel – die musikalische Organisation von Konflikten zwischen der Stabilität und der Instabilität, zwischen der Proportion und der Disproportion –, zur Vermittlung dieser Einsicht. Dennoch hebt Schroeder gleichzeitig hervor, daß Haydns Musik »both intellect and feeling from the audience« verlange. In diesem Zusammenhang kann man auf die weit verbreitete Deutung von Haydns Streichquartetten als Gespräche zwischen verschiedenen Personen hinweisen, die auf vernünftige Weise ihre Meinungsverschiedenheiten austragen. Sie tun dies mit Humor und Ironie, und obwohl sie ihre Eigenheiten pflegen und kultivieren, ist es nicht unmöglich, sie manchmal vom Gegenteil ihrer Auffassung zu überzeugen. Haydns Streichquartette bringen mithin eine hohe Wertschätzung von Klarheit, Rationalität und Dialog zum Ausdruck. Am 9. November 1829 schreibt J. W. Goethe (1993, 189) an seinen Berliner Freund Carl Friedrich Zelter über die Gattung des Streichquartetts: »Dieser Art Exhibitionen waren mir von jeher von der Instrumental-Musik das Verständlichste, man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.« Ludwig Finscher (2001, 10) zufolge steht diese Auffassung »in einer verbreiteten und entwickelten Tradition«, die im frühen 18. Jahrhundert in Paris entstand und in der Konversationskultur der französischen Salons wurzelt. »Wieviel Vergnügen«, schreibt schon Arnold Schönberg (1992, 143), »bereitet es dem Kenner, die zweite Violine in einem Mozart-Quartett zu verfolgen, wie sie sich der ersten anpaßt, ihr hilft oder widerspricht und Sympathie oder Antipathie durch charakteristische Einwürfe ausdrückt!« Und auch Hegel (1986, Bd. III, 176) schreibt über Mozarts Symphonien, »der Wechsel der besonderen Instrumente« sei ihm »oft wie ein dramatisches Konzertieren, wie eine Art von Dialog vorgekommen […], so daß hierdurch in der anmutigsten Weise ein Zwiegespräch des Klingens und Widerklingens, des Beginnens, Fortführens und Ergänzens entsteht.« Mara Parker (2002, 4. The Lecture, 5. The Polite Conversation, 6. The Debate
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und 7. The Conversation) unterscheidet vier Typen musikalischer Konversation im Streichquartett; zur dialogischen Funktion von musikalischen Gesten bei Haydn, Mozart und Beethoven siehe ferner Robert Hatten (2004, 135 f. und 164). Rose Subotnik (1996, 200) schreibt etwa: »[…] it seems to me that the music of Bach, Haydn, Mozart, and Beethoven offers a tremendous opportunity to learn something about reason.« Auch Improvisationen im Jazz oder im Rock können als ein Gespräch zwischen verschiedenen Individuen verstanden werden (vgl. Love 2006, 89; Hagberg 2008, 262 f.). Haydn wurde deshalb jüngst sogar als »nahezu ein Kant der Musik« bezeichnet (Gülke 2004; vgl. ähnlich Kramer 2005, 244 f.). Auf eine Arbeit des Musikwissenschaftlers Erich Klokow verweisend spricht Eric Rohmer (1997, 137 FN. 52; meine Hervorh.) dagegen von einer »Verwandtschaft, die das Denken Mozarts und Kant verbindet: Wenn man meine, daß die Grundlage der Kantschen Kritik des Bewußtseins darin bestehe, daß das Gesetz die Stelle der Natur einnehme, […] dann könne man mit gutem Recht sagen, daß jenes Quartett Mozarts [gemeint ist das Streichquartett KV 464 A-Dur; P. R.] die Rolle der ›Kritik der reinen Vernunft‹ spiele. Denn nachdem es die Motive von der geschlossenen Form der Melodie befreit und sie in der Flut der thematischen Arbeit aufgelöst habe, verwandelte es das Isolierte in einen kohärenten Zusammenhang, das Zerstückelte in eine bruchlose Folge, das Substantielle ins Funktionale.«
Dem Hörer eines Streichquartetts von Haydn wird gewissermaßen ein Idealbild eines vernünftigen Gesprächs zwischen toleranten Zeitgenossen präsentiert. Man kann geradezu von einer Utopie der Herrschaftsfreiheit sprechen, die in der Musik ihren Ausdruck finden kann: Alle Beteiligten hören sich gegenseitig zu, akzeptieren die Schrullen ihrer Mitmenschen mit Humor und Gelassenheit und finden eine effektive und zugleich äußerst vergnügliche Weise, mit Differenzen und Konflikten umzugehen – ein Modell gleichsam für die deliberativen Prozeduren einer liberalen Demokratie. Mary Hunter (2005, 119 f.) schreibt dazu: »›Conversation‹ in the quartet is often taken to imply a kind of textural democracy; […]. But eighteenth-century descriptions of the quartet as conversation suggest that the metaphor was also useful because it invoked an ideal of clarity or rationality in the disposition of roles, as much as, if not more than, democracy.« Ekkehart Krippendorff (1999, 438) meint sogar: »Mozarts Musik ist bis in ihre Feinstrukturen und kleinsten Bausteine hinein dialogische Musik. Es ist – um hier einen Begriff zu verwenden, den Jürgen Habermas […] geprägt hat, der aber nur von der Mozartschen Musik verwirklicht worden ist – ein ›herrschaftsfreier Dialog‹, der hier geführt wird.«
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Musik für eine liberale Demokratie
Während ein Ausdruck der emotionalen Wertschätzung der Gleichheit also wohl außerhalb der Reichweite der Musik liegt, so kann sie doch zu einer affektiven Verankerung der Tugend der Toleranz beitragen. Sie kann zeigen, ja unmittelbar das Erlebnis vermitteln, daß wir Differenzen und Konflikte nicht nur aus pragmatischen Gründen akzeptieren müssen, sondern sogar Lust und Vergnügen im Umgang mit ihnen verspüren können.
5.5 Die Kultivierung des Mitgefühls Wenn wir hier die politische Kultur einer liberalen Demokratie in den Fokus unserer Untersuchung nehmen, werden wir neben den Werten der Freiheit und der Gleichheit auch berücksichtigen müssen, daß der Mensch ein gemeinschaftsbezogenes Lebewesen ist, das sich mit anderen Menschen identifizieren, mit ihnen zusammen Pläne schmieden und Verantwortlichkeiten teilen kann. Dieser Gemeinschaftsbezug mag zwar zu Spannungen mit Werten wie Freiheit und Gleichheit führen, dennoch wird auch die Solidarität als ein Kernwert des politischen Liberalismus gelten können. Im Mitgefühl findet dieser Wert der Solidarität dabei seine wichtigste affektive Stütze. Der gegenseitige Respekt ist für eine gerechte Gesellschaft nicht genug; die wechselseitige Anteilnahme und das Einfühlungsvermögen zählen ebenso zu den emotionalen Stützen einer liberalen Demokratie. Martha Nussbaum (2001, 453) schreibt, das Mitgefühl »does play a valuable role in many aspects of public life, informing citizens’ understanding of the human meaning of catastrophes of many types«. Zwar ist eine präzise begriffliche Abgrenzung gegenüber einer direkten Einfühlung (oder Empathie) nicht ganz einfach und der Übergang ist teilweise fließend (vgl. Goldie 2000, 213 ff.; Rinderle 2010, 176 ff.). Das Mitgefühl bezieht sich auf den Gefühlszustand eines anderen Menschen und beinhaltet eine Bewertung dieses Zustands. Die bloße Einfühlung wird zwar als eine Voraussetzung für das Mitgefühl gelten müssen, doch sie läßt eine Bewertung des Zustands der anderen Person offen: Die Freude eines anderen Menschen könnte meinen Neid hervorrufen, und der Schmerz eines anderen Menschen könnte meine (Schaden-)Freude auslösen oder gar einen sadistischen Hang zur Grausamkeit befriedigen. Trotz dieser Komplikationen, die der Begriff des Mitgefühls aufwirft, kann der besondere Beitrag der Musik zur Kultivierung dieser 266 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Emotion relativ leicht bestimmt werden. Einer Persona-Theorie der musikalischen Expressivität zufolge kann Musik als ein Ausdruck der Emotion einer imaginären Person wahrgenommen werden, und ein angemessenes Verständnis von Musik setzt dann auch eine entsprechende emotionale Reaktion des Hörers voraus. Fröhliche Musik läßt uns nicht kalt, sie kann ansteckend sein, und dann verschmelzen wir gewissermaßen mit der jeweiligen Emotion, die ein Musikstück ausdrückt. Die Ansteckung ist indessen nicht die einzig mögliche Reaktion auf den Ausdruck einer Emotion. Das echte Mitgefühl nimmt eine Wertung vor, es begrüßt die Freude eines anderen Menschen, wie sie die Trauer eines anderen Menschen bedauert. Ich lege deshalb so großen Wert auf eine genaue Unterscheidung zwischen einer emotionalen Ansteckung bzw. Einfühlung und einem echten Mitgefühl, weil die Einfühlung immer dahin tendieren wird, die Grenzen zwischen den Personen aufzuheben. Eine Emotion des Mitgefühls bzw. der Sympathie kann man sich dagegen gleichsam als einen vorübergehenden Besuch im emotionalen »Haushalt« einer anderen Person vorstellen. Dieser Besucher stellt die Grenzen zwischen den emotionalen Verfassungen verschiedener Personen nicht in Frage, und er tastet vor allem auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Werthaltungen und unterschiedlichen Vorstellungen des guten Lebens nicht an. Für den politischen Liberalismus ist schließlich die Idee einer Verschiedenheit von Personen grundlegend (Rawls 1975, 45; 2003a, 102). Bei allem Mitgefühl sollte daher nicht übersehen werden, daß verschiedene Personen jeweils separate Träger von Handlungsverantwortung sind, aber auch Opfer von Leid und unglücklichen Verstrickungen werden können. Da expressive Musik immer als ein Gefühlsausdruck einer anderen Person wahrgenommen werden kann, scheint mir das größte Potential der Musik bei der Ausbildung und Entwicklung der Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, zu liegen. Schon Jean-Jacques Rousseau (1984, 150) schreibt in seinem Essay über den Ursprung der Sprachen, die Musik könne uns einen imaginären Zugang zum Innenleben anderer Personen verschaffen: »[…] man kann weder Gesang noch ein Orchester anhören, ohne sogleich zu wissen: Hier ist ein anderes empfindendes Wesen.« 5 Und Nussbaum (2001, 426) vertritt die Auffassung, GeVgl. dazu Scott (1997, 808). Rousseau (1984, 100) räumt zunächst zwar ein: »Mienen haben mehr Veränderungsmöglichkeiten als Töne; auch sind sie im Ausdruck stärker
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schichten und Lieder seien für Kinder sehr wichtig, denn sie seien eine Einübung in die Imagination des Innenlebens anderer Menschen. Deshalb eignet sich Musik auch für die Erziehung zum Mitgefühl und zur Stiftung eines Gemeinschaftsgefühls (vgl. Scruton 1997, 462; Levinson 2006, 189 f.). Daß die Mitfreude eine angenehme Sinnesempfindung ist, bedarf sicher keiner ausdrücklichen Erwähnung; das echte Mitgefühl wird allerdings erst dann auf die Probe gestellt, wenn es um negative Emotionen geht und eine Reaktion des Mitleids angemessen erscheint. Gerade für diesen Zweck kann die Wahrnehmung von Musik wertvolle Dienste leisten. Sie kann das Mitgefühl, das der kompetente Hörer als Reaktion auf einen Ausdruck von Traurigkeit verspüren wird, mit einem spezifischen Element der Lust oder des Vergnügens verknüpfen. Musik kann auf diese Weise als eine Schule der Sympathie verstanden werden, die eine Anerkennung des Wertes der Solidarität befördern helfen kann. Anhand musikalischer Beispiele müßte dabei zusätzlich der Nachweis erbracht werden, daß Musik sowohl die universalistische Variante der Solidarität, das Mitgefühl mit dem Leid aller Menschen bzw. aller empfindungsfähigen Lebewesen, als auch die engere, partikularistische Variante der Loyalität mit dem Schicksal der Angehörigen einer bestimmten politischen Gemeinschaft kultivieren kann. Musik steht schließlich immer in einer partikularistischen Tradition und kann diese entweder bekräftigen oder aus einer universellen Perspektive kritisch hinterfragen. Wenn das richtig ist, dann kann Musik also zugleich die Identifizierung mit der eigenen Tradition wie auch eine gewisse Offenheit gegenüber anderen Traditionen kultivieren helfen. Musik kann sich schließlich für musikalische Einflüsse aus anderen Kulturen öffnen: Abgesehen davon, daß die klassische europäische Kunstmusik immer einen intensiven Austausch mit der Volksmusik (Haydn, Mahler, Bartók) pflegte, hat sich vor allem die Musik des 20. Jahrhunderts etwa für den Jazz (Strawinsky, Schostakowitsch, Bernstein) oder für asiatische oder afrikanische Einflüsse (Cage, Ligeti, Lachenmann) geöffnet. Sehr viel stärker noch als die Literatur, die immer an eine bestimmte Sprache gebunden bleibt, kann die Musik fremde Einflüsse aufnehmen und verarbeiten, ohne diese Einflüsse notwendig zu einem und vermögen in weniger Zeit mehr mitzuteilen«. Dennoch meint er gleichzeitig, »daß sichtbare Zeichen zwar genauer mitteilen, daß Anteilnahme aber mehr durch Töne erregt wird« (ebd., 102).
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Einheitsbrei zu verrühren. Auf diese Weise kann Musik zur weltbürgerlichen Toleranz gegenüber anderen Kulturen, zu einer Anerkennung einer irreduziblen Differenz und zu einem vergnüglichen Umgang mit Fremdheit beitragen. Eine ganz andere Frage bleibt freilich, ob die Musik darüber hinaus dazu beitragen kann und soll, den Unterschied zwischen den verschiedenen Kulturen und Traditionen zu überwinden. In seinem kurzen Essay Weltmusik tritt insbesondere Karlheinz Stockhausen für eine solche Überwindung der Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen ein: Es sei heute unvermeidlich, daß sich alle individuellen Kulturen auflösen und in eine einheitliche Erdkultur münden (Stockhausen 1978, 469). Als Komponist wachse ihm aus diesem Umstand die besondere Verantwortung zu, sich um die Zukunft der ganzen Menschheit zu kümmern: »Die Beschäftigung mit der Musik anderer Kulturen« sei für ihn »kein Hobby, sondern eine notwendige Voraussetzung, um andere Menschen besser verstehen zu können und dadurch den ganzen Menschen zu wecken und zu ›kultivieren‹« (ebd., 476; Hervorh. i. O.). »Jeder Mensch«, so Stockhausen weiter, »hat die ganze Menschheit in sich. Ein Europäer kann balinesische Musik erleben, ein Japaner Musik aus Mozambique, ein Mexikaner indische Musik.« (Ebd., 468) Außerdem meint Stockhausen: »Wenn ein Europäer von einer bestimmten indischen Musik ergriffen wird, so entdeckt er in sich selbst den Inder. Wenn ein Japaner von einer bestimmten europäischen Musik ergriffen wird, so entdeckt er in sich den Europäer […].« (Ebd., 472) Von einer echten Wertschätzung der Differenzen verschiedener Kulturen kann hier nicht mehr gesprochen werden. Die Haltung einer toleranten Achtung der unterschiedlichen Traditionen wird von Stockhausen vielmehr zugunsten einer überaus fragwürdigen Utopie einer universellen Brüderlichkeit preisgegeben, in der anscheinend alle kulturellen Besonderheiten verschwinden. Constantin Floros (2000, 140) wirft deshalb ganz zu Recht die Frage auf, »ob in einer Zeit, in der der überwunden geglaubte Nationalismus und Separatismus wieder aufblüht, die Kulturen sich so schnell vermischen, wie Stockhausen postuliert. Fraglich ist weiter, ob der Mensch seine traditionellen, nationalen und kulturellen Bedingtheiten ohne weiteres überwinden kann.« Fraglich ist insbesondere, ob der Mensch diese Bedingtheiten überwinden will und soll und ob in der Folge auch die vollständige Auflösung dessen, was Helga de la Motte-Haber (1991, 51) etwa den »musikalischen Nationalcharakter« nennt, tatsächlich erstrebenswert ist (vgl. auch 269 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Simmel 1999, 80 ff.). Stockhausens Position wirft nun natürlich schwierige Fragen der Sozial- und Kulturphilosophie auf; aber auch ohne uns auf diese Fragen einzulassen, läßt sich zumindest feststellen, daß sein Standpunkt mit einer Wertschätzung der kulturellen Differenzen zwischen verschiedenen Gemeinschaften kaum zu vereinbaren ist.
5.6 Drei Einwände und ein Fazit Ein allgemeiner Einwand gegen die Auffassung, die ich in diesem Kapitel präsentiert habe, lautet noch immer, daß die ästhetische Erfahrung von Kunstwerken nichts mit Fragen der Moral oder der Ethik zu tun habe (vgl. schon Abschnitt 1.5). Formalisten wie Kant, Hanslick oder Kivy würden immer wieder behaupten, die Rezeption von Kunstwerken habe sich auf ein »interesseloses Wohlgefallen« zu beschränken. Und selbst wenn es prinzipiell möglich sei, Kunst zu politischen Propagandazwecken zu verwenden, so verletze man dabei den generellen Anspruch von Kunst, eine besondere, von allen kognitiven oder moralischen Zwecken abgesonderte ästhetische Erfahrung zu ermöglichen. Obwohl ich mir der Bedeutung einer formalistischen Kunstauffassung bewußt bin, wollte ich in diesem Kapitel lediglich die Frage aufwerfen, welche Bedeutung die besondere Kunstgattung der Musik für die emotionale Verankerung bestimmter Werte haben kann. Ohne mich mit dem generellen Einwand des Formalisten auseinandersetzen zu können, möchte ich auf drei speziellere Einwände eingehen, die sich gegen meine Auffassung ins Feld führen lassen. An erster Stelle könnte man einwenden, daß es keine klaren empirischen Belege für eine kausale Verbindung zwischen der Rezeption bestimmter Musik und der Ausbildung bestimmter personaler Tugenden gibt, dafür aber zahlreiche Gegenbeispiele: Viele Nazis waren passionierte Musikliebhaber; Reinhard Heydrich, der Chef der Gestapo, etwa spielte hervorragend Violine (Kivy (2009, 216); und ebenso scheint Hannibal Lecter, der sadistische Held aus Das Schweigen der Lämmer, zumindest in musikalischer Hinsicht durchaus kultiviert zu sein (Levinson 2006, 189). Eine gewisse Fähigkeit zur Empathie wird man sogar als eine unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung sadistischer Anlagen ansehen müssen. Der Sadist muß schließlich wissen, an welcher Stelle er seinem Opfer Schmerzen zufügen kann, denn 270 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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nur aus diesen Schmerzen kann er seine perverse Lust beziehen. Umgekehrt erscheint auch die Annahme, Musiker und Musikliebhaber seien bessere Menschen, unplausibel. Einer, der es wissen muß, der Dirigent Bruno Walter (1987, 12), meint, ein Musiker sei »im allgemeinen um nichts besser oder schlechter als ein Vertreter anderer Berufe«. Es läßt sich schwerlich bestreiten, daß die Grausamkeit und moralische Perversität von Menschen mit einem hohen Grad an ästhetischer und musikalischer Kultiviertheit einhergehen kann. Die Frage ist nur, welche Bedeutung diesen Phänomenen tatsächlich zukommt. Levinson etwa meint, es handle sich um überraschende und von der Norm abweichende Ausnahmen, die für sich genommen noch nicht die Regel außer Kraft setzen, daß ästhetischer Geschmack oft mit moralischer Sensibilität einhergehe. Man dürfe nicht zu hohe Erwartungen hegen; gute Musik könne einen von Grund auf schlechten Menschen natürlich nicht zu einem rücksichtsvollen und hilfsbereiten Menschen umkrempeln. Allein aus diesem Grund könne man aber nicht die Möglichkeit zurückweisen, »that, all things being equal, people exposed to such music tend to be morally better, more humane, than they would otherwise be« (Levinson 2006, 189). 6 Da ich ohnehin keinen kruden Behaviorismus vertrete, hängt vom tatsächlichen Erfolg der Bemühungen, mit Musik die Menschheit in moralischer Hinsicht zu verbessern, nicht allzuviel ab: Musik kann den Hörer zur Imagination bestimmter Emotionen einladen, sie kann ihn aber nicht zum moralischen Handeln konditionieren. Man kann Kinder also nicht dadurch zu toleranten, dialogbereiten Staatsbürgern erziehen, indem man ihnen einmal pro Woche Haydns Symphonie Nr. 83 zu Gehör bringt. Die angemessene Rezeption von Musik ist vielmehr immer schon auf die Wahrnehmung durch einen kompetenten und kultivierten Hörer angewiesen. Zwar gehe ich mit dieser AnBruno Walter (1987, 36 f.) erzählt folgende Anekdote vom Besuch eines befreundeten Musikers, der die Insassen eines Zuchthauses in San Franciso in mehrstimmigem Chorgesang unterrichtete: »Der Erfolg seiner […] Bemühungen war […] überwältigend: das persönliche Verhalten der Sträflinge änderte sich von Grund auf; nicht nur, daß während des Unterrichtes ihre Freude, ihre Beglücktheit deutlich zu Tage trat, auch sonst war eine erstaunliche Milderung der harten und schwierigen Menschen in ihrem Verhalten gegen die Vorgesetzten, wie untereinander, zu beobachten. […] Soweit das Wissen meines Besuchers reichte, war von den nach dieser Zeit aus dem Zuchthaus Entlassenen niemand rückfällig im Verbrechen geworden […].«
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nahme das Risiko einer gewissen Zirkularität ein, denn für eine positive moralische Wirkung der Musik sollte bereits eine hohe musikalische und moralische Sensibilität vorliegen. Aber ich meine, das dürfte letztlich das allgemeine Problem jeder moralischen Erziehung sein. Nimmt ein Hörer die Einladung zur Imagination bestimmter Emotionen an, so wird langfristig ein gewisser Einfluß auf seine Handlungsweise nicht ausbleiben (vgl. Gaut 2007, 11). Der Umgang mit einer bestimmten Art von Musik kann genauso »abfärben« wie der Umgang mit einer bestimmten Art von Menschen. Zweitens mag man gegen meine Auffassung einwenden, sie eröffne der Möglichkeit der Manipulation von Menschen durch Musik Tür und Tor. Wenn ich Musik in den Dienst einer Erziehung zu »guten«, liberalen Emotionen stelle, könnten dann nicht die Gegner des Liberalismus Musik für ganz andere Zwecke in den Dienst nehmen? Kann Musik nicht auch für die Kultivierung einer autoritären oder gar totalitären mentalen Infrastruktur verwendet werden? Hier muß man wohl differenzieren: Zum einen muß ich nochmals betonen, daß sich Musik nicht zur Konditionierung von Menschen eignet. Und zum anderen würde ich diesem Einwand völlig zustimmen: Die Annahme, daß Musik einen Einfluß auf unsere Emotionen haben kann, ist ein wichtiger Teil meiner Argumentation. Und selbstverständlich würde ich deshalb einräumen, daß sich manche Musikstücke besser zur Ausbildung bestimmter emotionaler Fähigkeiten eignen als andere. Ich habe einige Beispiele für »gute« – im Sinne eines ästhetisch gelungenen Ausdrucks der mit liberalen Werten einhergehenden Emotionen – Musik genannt; und natürlich kann man zahlreiche Beispiele für »schlechte« Musik finden, die den emotional gefärbten Werten des Liberalismus entgegensteht. Auf eine ethische Interpretation und Einordnung bestimmter Komponisten und ihrer Werke will ich mich gar nicht einlassen und begnüge mich statt dessen mit dem allgemeinen Hinweis, daß die ästhetische Qualität eines Musikstücks durchaus von seiner internen ethischen Bedeutung beeinflußt werden kann. Daß Musik auch externe, ihr fremde und äußerliche Funktionen erfüllen kann und auf diese Weise zur Manipulation von Menschen mißbraucht werden kann, ist daher kein echter Einwand, sondern vielmehr nur eine Bestätigung meiner allgemeinen These. Denn ein Werk, das seinen Rezipienten manipulieren möchte, verdient die Antwort, die es vorschreibt, gerade nicht. Es bedient sich zur Realisierung seiner Absichten unlauterer Mittel und weist aus diesem Grund auch einen moralischen Defekt auf. 272 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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In den Worten Berys Gauts (2007, 232): »[…] the aesthetic criticism of a work as being manipulative […] is founded on a mismatch between the response the work prescribes the reader to feel and the response actually merited by the work’s presentation of the fictional situation.« Richard Eldridge (1985, 314; meine Hervorh.) meint ähnlich: »Works of art, through the appropriateness to one another of their forms and contents, can bring us to feel that it is appropriate to regard certain phenomena – including such things as human actions or political systems or social policies – with horror or exultation, and such feelings can be politically important. That art has this power is confirmed by the fact that moralizing and propagandizing are modes of failure into which potential works of art are prone to enter or perennial possibilities of artistic failure. In propaganda, the attitude expressed is not appropriate to what the work is about.«
Dieser moralische Defekt wird sich also auch auf die ästhetische Bewertung eines Kunstwerks auswirken (vgl. Abschnitt 2.3); und deshalb habe ich mit der Auffassung, daß ein Musikstück für politische Zwecke mißbraucht werden kann, überhaupt keine Schwierigkeiten. Wenn ein Kunstwerk ausschließlich für einen externen Zweck produziert wird, diese Intention des Künstlers auch gelingt und das Kunstwerk sich gleichsam selbst einer externen Funktion unterordnet, so verdient es die Antwort nicht mehr, zu der es den Rezipienten einlädt. Der moralische Mangel hat auf diese Weise einen ästhetischen Defekt zur Folge. Immer noch offen bleibt dann die Frage: Kann sich Musik im besonderen und Kunst im allgemeinen den externen, politischen Zwekken, für die sie in den Dienst genommen wird, nicht auch entgegenstellen, kann die externe Funktion eventuell nicht ihrer internen Funktion widersprechen – oder eben gut mit ihr harmonieren? So schreibt Karen Painter (2007, 262 f.) über Carl Orffs Carmina burana: »Whatever else the work meant at its American premiere in 1954 and at thousands of performances since, in Nazi Germany Carmina burana was music that lent itself to a synthesis of enthusiasm, obedience, and naive celebration of secular collectivism.« Wenn diese Deutung richtig ist, dann kann man tatsächlich von einer Konvergenz zwischen der »inneren Haltung« und den »externen Funktionen« sprechen; ob sie richtig ist, kann an dieser Stelle offen bleiben. 7 Eine materialreiche Darstellung sowie eine differenzierte Einschätzung der politischen Haltung des Komponisten Carl Orff im Dritten Reich findet man v. a. bei Michael Kater (2000, 5. Carl Orff. Man of Legend) und auch bei Hans Maier (2005, Carl Orff in seiner Zeit, 130 ff.). Was Orffs Musik angehe, so Kater, seien viele Musikwissenschaftler
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Der Umstand aber, daß sich ein Kunstwerk zum Mißbrauch und zur politischen Propaganda eignet, kann dennoch nicht als ein generelles Argument gegen das positive ethische Potential von Kunst ins Feld geführt werden. Gerade weil ihr eine ethische Bedeutung zukommt, kann ästhetisch gute, wertvolle Kunst bzw. Musik auch für externe praktische bzw. politische Zwecke in den Dienst gestellt und mißbraucht werden. Und gerade weil Kunstwerken eine interne ethische Bedeutung zukommen kann, besteht immer die Möglichkeit, daß einige Kunstwerke nicht nur in ethischer Hinsicht, sondern dann auch in ästhetischer Hinsicht scheitern. Der Mensch ist eben manipulierbar und verführbar, und da Musik in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen steht, eignet gerade sie sich sehr gut zur Manipulation und Verführung. Sehen wir uns noch ein weiteres Beispiel an: Der Friedensforscher Ekkehart Krippendorff spricht in einem Brief an den Violinisten und Dirigenten Yehudi Menuhin die Rolle an, die Beethovens Musik im Dritten Reich hatte: »Hat nicht seine symphonische Musik doch auch etwas Gewalttätiges, etwas Heroisches, etwas Trotziges und, wenn ich das so sagen darf, etwas Selbstgerechtes, das sie – und das scheint mir eben kein Zufall zu sein – instrumentalisierbar und pervertierbar machte gerade für die Zwecke des extrem nationalistischen Naziregimes?« Mozart, so Krippendorff, sei eine solche Leidenschaftlichkeit völlig fremd gewesen: »Deshalb konnte und kann Mozart, wenn ich es recht sehe […] nicht und von niemand, von keiner Politik oder Bewegung vereinnahmt, instrumentalisiert, zum emotionalen Zeugen berufen werden. Mir möchte er als der einzig wirklich Resistente, als der größte und anspruchvollste Maßstab ästhetischer Ethik der Musik […] erscheinen.« (Krippendorff 1999, 465 f.) Menuhin bestreitet das übrigens entschieden und verweist auf die innere Bedeutung der Musik Beethovens: »Beethoven«, schreibt Menuhin in seiner Antwort, »is not ›pervertierbar‹ – there is no composer who is more basically pure and bereft of all affection or manner […] for me it is definitely the most universal music ever conceived.« (Ebd., 467) Ohne mich nun in den Streit über die »wahre« innere Bedeutung zurückhaltend mit politischen Einordnungen und Bewertungen; Kater (ebd., 113 und 128) verweist gleichzeitig aber auch auf Äußerungen von renommierten Autoren, die Orffs Carmina Burana als »fascist trash« (Georg Steiner) bzw. »quintessentially Nazi« (Albrecht Riethmüller und Richard Taruskin) bezeichnet haben.
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der Musik Beethovens einzumischen, möchte ich an dieser Stelle lediglich auf zweierlei aufmerksam machen. Erstens: Man kann natürlich die Instrumentalisierung von Beethovens Musik kritisieren; und man kann auch ein moralisches Urteil über ihre innere Bedeutung, ihre musikalische persona fällen. Krippendorff schreibt ihr »gewalttätige«, »selbstgerechte« Züge zu, scheint sich aber des Unterschieds zwischen diesen beiden Dingen nicht bewußt zu sein. Ohne Zweifel gibt es verschiedene Formen der Interaktion zwischen den internen und den externen Funktionen von Musik, gleichzeitig wird uns aber die Möglichkeit ihrer externen Instrumentalisierung nicht zum Verzicht auf die Annahme einer separaten, inneren Bedeutung von Musik nötigen können. Was seine inhaltlichen Urteile angeht, neige ich übrigens durchaus dazu, Krippendorff in beiden Fragen zuzustimmen. Auch Karen Painter (2007, 202; meine Hervorh.) stellt sich jüngst wieder auf Krippendorffs Seite: »[…] the fact remains that Bruckner – like Wagner or Beethoven and unlike Mozart or Haydn – could contribute to political causes and events.« Zu den regressivrepressiven Dimensionen einiger Kompositionen Beethovens siehe ferner Maynard Solomon (2003, 297 FN. 28) sowie T. W. Adorno (1993, 61): »Der Ausdruck des Notwendigen bei Beethoven ist unvergleichlich viel substantieller als der der Freiheit, dem stets ein Fingiertes anhaftet (dazu die kommandierte Freude). Freiheit ist real bei Beethoven nur als Hoffnung.« Siehe hierzu ferner Adorno (ebd., 75 f.). Zur Geschichte der politischen Instrumentalisierung von Beethovens 9. Symphonie siehe v. a. Esteban Buch (1999), der selbst zu dem Schluß kommt, dieses Werk bleibe bis heute »le premier emblème musical de la valeur morale de l’art« (ebd., 309); allgemein zur politischen Instrumentalisierung dieser Symphonie vgl. Painter (2007, 216 ff.); für ein jüngeres Beispiel des Mißbrauchs der Musik Beethovens siehe Schmidt (2005). – Doch die Meinungen gerade über Beethoven gehen immer wieder auseinander: Sich auf den zweiten Satz des Streichquartetts Nr. 14 in cisMoll, op. 131, beziehend kommt Eric Rohmer (1997, 216) zu der moralischen Bewertung: »Wahrlich eine Musik, die mehr als die Musik Mozarts, jede Spur von Egoismus ausgeschieden hat, die eine Freude und Zärtlichkeit besingt, die zur unmittelbaren Teilnahme herausfordert und uns über uns selbst und unsere kleinlichen Gewohnheiten hinausführt.« Er rückt die Musik Beethovens zuletzt sogar in die Nähe des guten Willens bei Kant und bezeichnet sie »als das einzig ohne Einschränkung Gute auf der Welt […]. Anders als bei Mozart besitzt sie keine mögliche teuflische Kehrseite mehr.« (Ebd., 219 f.)
Zweitens: Es scheint recht naiv, die Möglichkeit einer Instrumentalisierung der Musik Mozarts abzustreiten. Nicht erst seit dem Mozart-Jahr 2006 gibt es eine wahre Sintflut von Mozart-Kitsch. Man mag hier 275 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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nicht von einer Instrumentalisierung sprechen, aber doch von einer Pervertierung. Krippendorff (1999, 436) deutet an einer Stelle ja selbst an, daß man, indem man Mozart zum »Klassiker« erhebt, seine Musik »um seine Radikalität, die revolutionäre Sprengkraft seiner humanistischen Botschaft« bringt. Eine interessante Anschlußfrage wäre dann, ob man deshalb nicht eventuell sogar von gewissen moralischen Defiziten in der Musik Mozarts sprechen kann: Man könnte etwa sagen – nur als denkbare Möglichkeit –, Mozarts Musik trage zu einer Kultivierung von Eigenschaften wie hedonistischer Verspieltheit und Verantwortungslosigkeit bei. Von einer ersten, engen moralischen Warte aus könnte man darin sicherlich einen moralischen Mangel sehen; aus einer zweiten, umfassenderen Warte kann man darin aber eine besondere »ethische« Qualität dieser Musik ausmachen, von der im Laufe dieser Untersuchung schon mehrmals die Rede war (vgl. Abschnitte 2.6 und 3.1); und aus einer dritten, ideologiekritischen Perspektive kann man in Mozarts Musik sogar ein herrschaftsorientiert motiviertes Ablenkungsmanöver ausmachen. Auf die Machttheorie Michel Foucaults verweisend, hebt Susan McClary (1991, 29) die mögliche politische Bedeutung einer (gerade bei Mozart klar hervortretenden) hedonistischen Dimension von Musik hervor: »Social critics have typically been scornful of the pleasurable aspects of the arts, favoring those works that could be shown to have the proper political stance; to dwell on the actual details of the artifice was to be seduced by it into false consciousness […] However, far from finding pleasure to be trivial, Foucault locates the efficacy of cultural discourses in their ability to arouse and manipulate. Pleasure thereby becomes political rather than private – it becomes one of the principal means by which hegemonic culture maintains its power.« Einen ähnlichen Argwohn gegenüber einem ästhetischen Hedonismus hegt auch Adorno (1973a, 26) und verdächtigt die Erregung von Vergnügen, die Feier von Sinnlichkeit als Mittel zum Zweck der politischen Unterdrückung. Wenn die betreffende Musik das auch selbst nicht ahnen kann, muß man sie trotz ihrer »Unschuld« wenigstens als »naiv« bezeichnen. (Und das trifft vielleicht auf manche Aspekte von Mozarts musikalischer persona zu, auch wenn sich deren innere Bedeutung nicht in einer Einladung nur zur Sinnesfreude erschöpft.) Läßt sie sich aber bewußt in fremde politische Dienste nehmen, wäre sie »verlogen«, »ideologisch« und »scheinheilig«.
Ein dritter Einwand gegen meine Auffassung könnte lauten, sie sei viel zu idealistisch und anspruchsvoll. In der Theorie möge sie wohl richtig sein, tauge aber nicht für unsere gegenwärtige Praxis der Produktion 276 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Drei Einwände und ein Fazit
und Rezeption von Musik. Ich spräche hier von einer Liebe zur Freiheit, einer affektiven Zuneigung zu Ideen der Toleranz und Brüderlichkeit und versuchte dann den Nachweis zu führen, daß Musik zur Artikulation und Reflexion dieser Emotionen beitragen kann. Man müsse, so der Einwand, diese Auffassung nun gar nicht pauschal ablehnen, könne aber doch mit einem Hinweis auf Realitäten kontern: Der durchschnittliche Musikhörer habe heute schließlich kaum noch einen Sinn für das expressive Potential der Musik; und dennoch seien die Freiheitsliebe, die Toleranz und das Mitgefühl doch weit verbreitete Einstellungen. Die Musikindustrie bediene zwar einen relativ unkultivierten, ja primitiven Geschmack, und dennoch nehme die Kultur des politischen Liberalismus daran keinen großen Schaden. Viele soziale Bewegungen in den westlichen Demokratien sind eng mit einer bestimmten Musikkultur verbunden; und gerade wegen deren expressivem Potential und ihrer Möglichkeit zum Ausdruck, zur Artikulation und Reflexion des gemeinsamen Empfindens von Gruppen kommt der Musik eine große Bedeutung für die Ausbildung und Entwicklung kollektiver Identitäten zu. Im Gegensatz dazu hat sich die musikalische Avantgarde der Neuen Musik fast aller politischen Ambitionen enthalten. Ron Eyerman und Andrew Jamison (1998, 7. Structures of Feeling and Cognitive Praxis) beziehen sich zwar nur auf die Rolle der Rockmusik für die sozialen Bewegungen der 60er Jahre, man könnte ihre Überlegungen aber auch auf die Bedeutung der Symphonie für die Herausbildung des Nationalbewußtseins im frühen 19. Jahrhundert gerade in Deutschland anwenden (vgl. Bonds 2006, 87; Applegate/Potter 2002). Zum Ausdruck v. a. negativer »kollektiver Emotionen« in der Musik von Schostakowitsch vgl. Redepennig (2006) und Feuchtner (2006). Siehe ferner McClary (1991, 20 ff.) und nicht zuletzt den Musikethnologen Blacking (1973, 28) zur Musik der südafrikanischen Ethnie der Venda: »Venda music is overtly political in that it is performed in a variety of political contexts and often for specific political purposes. It is also political in the sense that it may involve people in a powerful shared experience within the framework of their cultural experience and thereby make them more aware of themselves and of their responsibilities toward each other.« Allgemein zur sozialen Bedeutung von Musik siehe ferner Merriam (1964, 224 ff.), Robinson (2005, 389 ff.), Alperson/Carroll (2008); Edward Hagen und Gregory Bryant (2003) behaupten allerdings auch, Musik diene als Signal der Koalitionsbildung, sie etabliere Grenzen zwischen sozialen Gruppen und habe somit nicht die Inklusion, sondern vielmehr die Exklusion zu ihrem eigentlichen Ziel.
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Auch dieser Einwand läßt zwei Erwiderungen zu: Einerseits könnte man behaupten, um die politische Kultur des Liberalismus stehe es längst nicht so gut, wie manchmal angenommen wird. Und die Verflachung des musikalischen Geschmacks breiter Bevölkerungsschichten habe daran keinen unwesentlichen Anteil. Eine Entwicklung und Erweiterung unserer Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Verständnis von Musik könnte demnach einen positiven Beitrag für eine breitere emotionale Akzeptanz bestimmter liberaler Werte und damit auch für die Stabilität liberaler Institutionen insgesamt leisten. Andererseits könnte man umgekehrt die These vertreten, daß der Musikgeschmack der großen Mehrheit nicht so schlecht sei, wie Kulturkritiker wie etwa Allan Bloom oft behaupten. Auch Pop, Rock und Jazz könnten einen genuinen Beitrag gerade zur Entwicklung und Befestigung der Freiheitsliebe leisten. Und es sei lediglich ein Zeugnis von undemokratischer und illiberaler Überheblichkeit, den Ausdruck des Freiheitswillens vieler Jugendlicher als unkultiviert oder primitiv zu bezeichnen. Die Rede von einer manipulativen Musikindustrie, die nur noch einen regressiven Musikgeschmack bediene und damit auch erhalte, stehe vielfach einer sorgfältigen Differenzierung verschiedener Umgangsweisen mit Musik im Wege (vgl. Scruton 1997, 468 ff., Thoughts on Adorno; 2009, 13. Why read Adorno?). Die drei Einwände gegen die Interaktionsthese lassen sich jeweils durch eine angemessene Qualifizierung dieser These zurückweisen. Spricht man der Musik eine ethische Bedeutung zu, so birgt diese Auffassung sicher bestimmte Probleme und Gefahren. Indessen spricht allein der Umstand, daß es solche Probleme gibt, nicht gegen die Richtigkeit dieser Auffassung. Sicher konnte ich nur eine grobe Skizze eines Problembereichs zeichnen, der sich an der Schnittstelle von normativer politischer Theorie, politischer Psychologie, Emotionstheorie, Philosophie des Geistes und Musikästhetik befindet und ein weithin unerforschtes Terrain darstellt; denn das Verhältnis von Musik und politischer Kultur ist ein weißer Fleck auf den Landkarten der politischen Theorien der Gegenwart. Viele Fragen mußten hier offen bleiben, und deshalb würde ich den tentativen Charakter meiner Ausführungen nicht bestreiten wollen. Trotz vieler Beispiele fehlt wohl eine systematische Untersuchung, welche Art von Musik genau mit diesem oder jenem Wert bzw. mit dieser oder jener Tugend zusammenhängt. Auch eine Analyse der Möglichkeit von negativen und schädlichen Wirkungen von Musik 278 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Drei Einwände und ein Fazit
mag man vermissen. An meiner Kernaussage würde ich aber festhalten wollen: Die mentale Infrastruktur der Bürger einer liberalen Demokratie besteht nicht nur aus Überzeugungen, sie umfaßt auch ein komplexes Repertoire von Werthaltungen, die wesentlich durch bestimmte Emotionen und Empfindungen geprägt sind und durch Musik artikuliert, reflektiert und schließlich auch beeinflußt werden können. John Rawls, der führende Vertreter des politischen Liberalismus in der Gegenwart, räumt ein, daß zu einer Konzeption der liberalen Gerechtigkeit nicht nur »ein bestimmtes Verständnis politischer Tugenden, und zwar der Tugenden der fairen sozialen Kooperation: Höflichkeit und Toleranz, Vernünftigkeit und Sinn für Fairneß« (Rawls 2003a, 291) gehöre, sondern meint darüber hinaus, ein Verfassungsstaat könne die Entwicklung dieser Tugenden bei seinen Mitgliedern befördern helfen: Der Staat ergreife »vernünftige Maßnahmen, um die Formen des Denkens und Empfindens zu stärken, die faire soziale Kooperation zwischen seinen als frei und gleich angesehenen Bürgern erhalten« (ebd., 292; meine Hervorh.; vgl. Rawls 1975, 500). Wie schon für Platon, der die Tugend des Menschen aus einer Übereinstimmung von Vernunft und Leidenschaften hervorgehen sieht, »so dass man gleich von Anfang an bis zum Ende hasst, was man hassen, und liebt, was man lieben soll« (Nomoi 653b; vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 1106b17–27), beinhalten Tugenden auch für Rawls eine gewisse Art und Weise des Empfindens. Im Gegensatz zu Jürgen Habermas (1996, 11 ff.) beschränkt sich die Anerkennung von Werten für Rawls nicht auf eine bloß kognitive Einsicht, denn er räumt ein, daß wir in ein affektives Verhältnis zu den normativen Grundlagen unseres Zusammenlebens treten (zu den »emotionalen Defiziten« jüngerer Gerechtigkeitstheorien siehe Krause 2008, 1. Justice and Passion in Rawls and Habermas). Die politische Kultur einer Demokratie ist also wesentlich auf bestimmte emotionale Haltungen der Bürger angewiesen. Unter der Voraussetzung, daß diese Annahme richtig ist, und unter der zusätzlichen Voraussetzung, daß der Musik ein Potential zum Ausdruck und zur Artikulation unserer Emotionen zukommt, folgt in meinen Augen, daß die Musik einen wichtigen Beitrag zur Erziehung der Bürger eines demokratischen Rechtsstaats leisten kann. Daß die Kernwerte des politischen Liberalismus einige unserer stärksten Emotionen berühren, ist wohl keine Neuigkeit. Auch die Beobachtung, daß wir einen großen Teil der Musik unseres Kulturkreises als eine Artikulation und Refle279 https://doi.org/10.5771/9783495860175 © Ver
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Musik für eine liberale Demokratie
xion von Emotionen wahrnehmen, wird nicht überraschen. Die Zusammenführung dieser beiden Einsichten sollte aber einen Erkenntnisfortschritt ermöglichen. Musik kann durch die Artikulation bestimmter Emotionen wie Furcht und Hoffnung, Humor und Ironie sowie Trauer und Mitleid einen Beitrag für die Artikulation, die Reflexion und die Kultivierung insbesondere derjenigen Emotionen leisten, die eine Akzeptanz der Kernwerte des politischen Liberalismus befördern können.
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Namenregister
Adorno, T. W. 16, 25, 120 ff., 179, 219, 241, 258, 260 Aristoteles 49, 125, 205, 211, 243 f. Bach, J. S. 22, 221 Bartók, B. 197 Beauvoir, S. de 111 Beethoven, L. v. 127, 183, 192, 198 f., 208 Begbie, J. 228 Bell, C. 69, 128 Bergson, H. 195, 202 Bloch, E. 119 Bloom, A. 135 ff., 278 Bohrer, K. H. 94 Boulez, P. 22, 30, 121, 220, 236 Brendel, A. 192 Britten, B. 221 Bruckner, A. 221, 230 ff. Buch, E. 275 Budd, M. 37, 215 Cage, J. 22, 26, 221, 227 Carroll, N. 195, 203 Coltrane, J. 221, 257 Currie, G. 144 Dahlhaus, C. 23, 29 Damasio, A. 35 Danto, A. 61, 80, 88 Deep Purple 30 Dornes, M. 164 Duchamp, M. 23
Eggebrecht, H. H. 25, 32, 49, 63 f., 208, 215, 222
Huber, K. 221 Hume, D. 89, 212 Jacobson, D. 104 ff.
Falke, G. 154, 216 Finscher, L. 264 Flaubert, G. 116 Floros, C. 182, 231 f., 269 Fontane, Th. 167 Ford, Ch. 117 Gaut, B. 19, 39, 76, 83 ff., 93 ff., 105 ff., 140, 273 Genet, J. 116 Giesz, L. 169, 172, 178 f. Goethe, J. W. 264 Gogol, N. 195 Goldie, P. 41, 104 Gordon, D. 30 Gubaidulina, S. 221 Habermas, J. 47, 279 Hanslick, E. 25, 29, 35, 69, 74, 82 f., 103, 126, 134, 148, 159 Harnoncourt, N. 199, 222 Haydn, J. 52, 150, 155, 192, 200, 263 ff. Head, M. 200 Hegel, G. W. F. 205, 250, 264 Hendrix, J. 30 Hoffmann, M. 19
Kaden, C. 23 Kalischer A. C. 50, 78 Kant, I. 69, 132, 195, 218 Karl, G. 147 Kiefer, A. 55 Kieran, M. 104 ff. Kiss 137 Kivy, P. 71, 74, 77, 128 ff., 141 ff., 220 Krippendorff, E. 257, 265, 274 ff. Krones, H. 231 Kundera, M. 120 f., 175, 179 Küng, H. 228 f. Lachenmann, H. 29, 63, 88, 179 f., 199, 208, 227, 239, 258, 260 Laclos, Ch. de 116 Lessing, G. E. 205 Levinson, J. 24, 26, 63, 79, 102, 132, 135, 143, 148, 151, 196 f., 208, 213 f., 217, 219, 260 Ligeti, G. 179 f., 199 Lissa, Z. 198 Lister, L.-J. 198 Littell, J. 89 Luther, M. 222
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Namenregister Mahler, G. 183 Mahnkopf, C.-S. 23, 92, 241 Mann, H. 111 Mann, Th. 258 Marsalis, B. 30 Marsalis, W. 221 Matt, P. v. 16, 82, 202 Mayer, H. 111, 117 McClary, S. 276 Meier, Ch. 243 Menke, Ch. 206 Messiaen, O. 216, 221 Metallica 111 f., 116 Mill, J. St. 138, 251 Monteverdi, C. 30 Mozart, W. A. 22, 138, 228 ff., 265, 275 f. Musil, R. 176, 186 Nussbaum, M. 128, 265 f. Nietzsche, F. 17, 62, 118, 213, 258 Orff, Carl 273 Ottenheimer, H. 163, 249 Otto, R. 225 Pamuk, O. 183 Pattison, R. 175 Penderecki, K. 221 Pettit, Ph. 248 Platon 125, 131, 243 f., 262 Proust, M. 157 f. Pugmire, C. 170
Radford, C. 73 Rammstein 52, 235 Ratzinger, J. 222 Rawls, J. 225, 247 ff., 279 Riefenstahl, L. 76 Rihm, W. 22, 110, 257 Roberts, R. 41 Robinson, J. 147 Rohmer, E. 175, 192, 265, 275 Rolling Stones 22, 30 Rollins, S. 30, 257 Rosen, Ch. 25, 233 Rousseau, J.-J. 157, 244, 259, 267 Rushdie, S. 55, 239 Sade, M. de 76 Sand, G. 187 Schama, S. 82, 207 Schier, F. 217 Schiller, F. 218 Schlegel, F. 108, 260 Schnittke, A. 221 Schönberg, A. 31, 177, 221, 264 Schopenhauer, A. 35, 129, 195, 200 Schostakowitsch, D. 155, 197, 208 Schroeder, D. 263 f. Schumann, R. 192 Sciarrino, S. 22, 199 Scofield, J. 55 Scruton, R. 43, 61, 135 ff., 152, 169, 221
Seel, M. 53 ff. Senghaas, D. 245 Simmel, G. 239 Sircello, G. 207 Slayer 112, 116 Söhngen, O. 230 Solomon, M. 227 Solomon, R. 38, 167, 173 Stockhausen, K. 22, 30, 82, 221, 269 Strawinsky, I. 22, 119 ff., 221 Stryper 221 Subotnik, R. 265 Tadié, J.-Y. 184 Tanner, M. 177 Taruskin, R. 30, 119 f., 120, 220 Tieck, L. 69 Tolstoi, L. 61, 68, 160, 217 Trivedi, S. 161 ff. Tugendhat, E. 46, 223 ff. Wackenroder, W. 69 Walter, B. 149, 271 Walton, K. 88 f. Wilde, O. 169 Williams, B. 116 f. Wynn, M. 223 Young, J. 138 Zimmermann, B. A. 21
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