Emotion, Narration und Ethik: Zur ethischen Relevanz antizipatorischer Emotionen in Parabeln des Matthäus-Evangeliums. Kontexte und Normen ... Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe) 3161575121, 9783161575129

Obgleich seit der Jahrtausendwende der emotional turn in den Wissenschaften weitläufig Einzug hält, finden Emotionen in

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German Pages 539 [541] Year 2019

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Einleitung
1. Thematische Annäherung
2. Ziele und Vorgehen
Teil I: Grundlagen
Kapitel 1: Thematische Horizonte
1. Der Emotional Turn: Einblick in ausgewählte Bereiche der Emotionsforschung
1.1 Das wachsende Interesse an Emotionen auf verschiedenen Forschungsgebieten
1.2 Emotionen in der neutestamentlichen Exegese
1.2.1 Annäherungen des 20. Jahrhunderts
1.2.2 Exegetische Emotionsforschungen im 21. Jahrhundert
1.2.3 Emotionen in der Evangelienforschung
2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium
3. Gegenstandsbestimmung, Abgrenzungen und Einordnungen
4. Resümee
Kapitel 2: Die ethische Relevanz der Emotionen
1. Emotionen in der Antike
1.1 Außerbiblische Hintergründe
1.1.1 Emotionen als Daimon in der griechischen Götterverehrung
1.1.2 Der Dualismus: Platon
1.1.3 Vernünftige Regulierung: Aristoteles
1.1.4 Affektkontrolle und -unterdrückung: Stoa, Epikureismus und Skeptizismus
1.1.5 Emotive Persuasion: Die Rhetorik
1.1.6 Emotionen und die Beziehung zu Gott im Frühjudentum
1.2 Emotionen im biblischen Kanon
1.2.1 Emotionen im Alten Testament
1.2.2 Emotionen im Neuen Testament
1.3 Ergebnisse
2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive
2.1 Die Rolle von Emotionen und Empathie in der Evolutionsbiologie
2.2 Kognitive Auswirkungen von Emotionen
2.3 Behaviorale Auswirkungen von Emotionen
2.4 Emotionen und Moral
2.5 Ergebnisse
3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen
3.1 Martha C. Nussbaum: Reziprokes Verhältnis zwischen Emotionen und Ethik
3.2 Christoph Ammann: Emotionen als Gravitationszentren der Moral
3.3 Klaas Huizing: „Schäme dich!“ als erster ethischer Imperativ
3.4 Ergebnisse
4. Emotionen und narrative Ethik
4.1 Ethische Sprachformen im Neuen Testament
4.2 Narration und Emotion
4.3 Situation und Moral
4.4 Narrative Ethik: narrative Mimesis moralischer Situationen
4.4.1 Die empathische Erschließung moralischer Situationen in Narrationen
4.4.2 Stärken einer narrativ-emotiven Ethik
4.5 Parabeln: emotive, metaphorische und ethische Narrationen
4.6 Ergebnisse
5. Resümee: Notwendigkeit einer gezielt emotiven Textanalyse
Teil II: Methodik einer „emotiven Heuristik“
Kapitel 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik
1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen
1.1 Emotionen in Methoden der Exegese: ein Forschungsüberblick
1.2 Ergebnis: Ermangelung einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese
1.3 Einbindungsvorschlag in den Methodenkanon
1.4 Ergebnisse
2. Methodik einer „emotiven Heuristik“
2.1 Notwendige Vorüberlegungen
2.1.1 Die richtigen Fragen stellen
2.1.2 Der Mechanismus der emotionalen Textrezeption: ein Vorschlag
2.1.3 Zwischenergebnisse
2.2 Ein „Werkzeugkoffer“ für eine „emotive Heuristik“
2.2.1 Die Methodik
2.2.2 Die Emotionskonzeption
2.2.3 Die Auslöser der Rezeptionsemotionen
2.2.4 Die Intensität der Rezeptionsemotionen
2.2.5 Ein heuristisches Raster zur Abfrage möglicher Rezeptionsemotionen
2.3 Ergebnisse
Teil III: Emotionen und Ethik im Matthäus-Evangelium
Kapitel 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium
1. Aufstellung der explizit im Evangelium genannten Emotionen
2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz
2.1 Überblick über die verwendeten Emotionen
2.2 Evaluation der einzelnen Emotionskomplexe
2.2.1 Furcht: φοβέομαι κτλ., μεριμνάω κτλ., δειλός, ἐντρέπω, θροέω, ἀδημονέω
2.2.2 Freude: χαίρω κτλ., εὐδοκέω, μακάριος, ἀγαλλιάω
2.2.3 Ärger: σκανδαλίζω κτλ., ἀγανακτέω
2.2.4 Liebe: ἀγαπάω κτλ., φιλέω κτλ.
2.2.5 Mitleid: ἐλεέω κτλ., σπλαγχνίζομαι
2.2.6 Überraschung: ταράσσω, ἐκπλήσσω, θαυμάζω κτλ., ἐξίστημι
2.2.7 Trauer: πενθέω, κόπτομαι, λυπέω κτλ.
2.2.8 Reue: μετανοέω κτλ., μεταμέλομαι
2.2.9 Verachtung: ἐμπαίζω, καταφρονέω, καταγελάω
2.2.10 Dankbarkeit: εὐλογέω, εὐχαριστέω
2.2.11 Zorn: θυμόω, ὀργίζω κτλ.
2.2.12 Hass: μισέω
2.2.13 Neid: ἀγανακτέω, ὁ φθόνος
2.2.14 Hoffnung: θαρσέω, ἐλπίζω
2.2.15 Sanftmut: πραΰς
2.2.16 Emotionslosigkeit: ἡ σκληροκαρδία
3. Resümee
Kapitel 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln
1. Die Auswahl der Texte
2. Vorgehen
3. Erinnernde Dankbarkeit: Die Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23–35)
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Die Emotionskonzeption
3.2.1 Direkt
3.2.2 Indirekt
3.3 Die Rezeptionsemotionen
3.3.1 Situationen/Geschehnisse
3.3.2 Figuren
3.3.3 Raum
3.3.4 Zeit
3.4 Ergebnisse
4. Das konstante Glück: Die Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51)
4.1 Vorbemerkungen
4.2 Die Emotionskonzeption
4.2.1 Direkt
4.2.2 Indirekt
4.3 Die Rezeptionsemotionen
4.3.1 Situationen/Geschehnisse
4.3.2 Figuren
4.3.3 Raum
4.3.4 Zeit
4.4 Ergebnisse
5. Wenn Angst am Handeln hindert: Die Parabel von den anvertrauten Geldern (Mt 25,14–30)
5.1 Vorbemerkungen
5.2 Die Emotionskonzeption
5.2.1 Direkt
5.2.2 Indirekt
5.3 Die Rezeptionsemotionen
5.3.1 Situationen/Geschehnisse
5.3.2 Figuren
5.3.3 Raum
5.3.4 Zeit
5.4 Ergebnisse
6. Resümee: Der Mehrwert einer emotiven Textanalyse matthäischer Parabeln
Kapitel 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der matthäischen Ethik
1. Emotionen im Matthäus-Evangelium
1.1 Die ethische Relevanz von Emotionen
1.2 Emotionen als Verstärkungsinstrumente der ethischen Pragmatik
2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik
2.1 Das narrative Spiel mit der Zeit
2.2 Die emotionale Antizipation der Zukunft
2.3 Zeit-Kompetenz im Matthäus-Evangelium
3. Würdigung
3.1 Das unmittelbare Ziel: eine konstant wachsame Lebensführung
3.2 Das langfristige Ziel: die narrative Einübung einer empathischmoralischen Kompetenz mithilfe der Parabeln des Matthäus?
4. Resümee
Ausblick und Schluss
1. Chancen und Grenzen einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese
1.1 Beitrag zur Methodik der Exegese
1.2 Beitrag zur Matthäus-Forschung
2. Impulse für den Ethikdiskurs
2.1 Beitrag zur Analyse narrativer Ethik
2.2 Beitrag hinsichtlich der Rolle von Emotionen und ihrem Zeitbezug in der Ethik
3. Epilog
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Autorenregister
Sachregister
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Emotion, Narration und Ethik: Zur ethischen Relevanz antizipatorischer Emotionen in Parabeln des Matthäus-Evangeliums. Kontexte und Normen ... Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe)
 3161575121, 9783161575129

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich)

Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

498

Tanja Dannenmann

Emotion, Narration und Ethik Zur ethischen Relevanz antizipatorischer Emotionen in Parabeln des Matthäus-Evangeliums. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik /  Contexts and Norms of New Testament Ethics Band XI

Mohr Siebeck

Tanja Dannenmann, geboren 1990; 2009 – 2015 Studium der Ev. Theologie und der Lateinischen Philologie auf Lehramt (Gymnasium) an der Eberhard Karls Universität Tübingen; 2015 – 2018 Promotionsstipendiatin des Gutenberg Nachwuchskollegs; 2018 Promotion an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; seit 2019 Studienreferendarin für Lehramt (Gymnasium) am Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte Stuttgart.

Die vorliegende Arbeit wurde von Prof. Dr. Ruben Zimmermann betreut (2. Berichterstatter: Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn) und im WS 2018/19 als Promotionsschrift von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angenommen. ISBN 978-3-16-157512-9 / eISBN 978-3-16-157513-6 DOI 10.1628/978-3-16-157513-6 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über­ setzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Libbi

Vorwort Bei vorliegender Studie handelt es sich um die für den Druck leicht überarbeitete Fassung meiner im Wintersemester 2018/19 von der EvangelischTheologischen Fakultät des FB 01 der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angenommenen Promotionsschrift. Besonderer Dank gilt daher in erster Linie meinem Doktorvater Prof. Dr. Ruben Zimmermann, der das Wachstum dieser Arbeit sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht mit Begeisterung, weiser Voraussicht, umsichtiger Beratung und Betreuung begleitete und durch den ich darüber hinaus bei unzähligen Gelegenheiten akademischer Lernchancen fachlich und persönlich gefordert und gefördert wurde. Für diese kompetente und begeisternde Begleitung über die letzten drei Jahre hinweg gebührt ihm mein tiefer Dank. Des Weiteren danke ich meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn, nicht nur für die Begutachtung sowie Beratung hinsichtlich der Überarbeitung meiner Dissertation, sondern insbesondere für seine stete Verfügbarkeit und unermüdliche Bereitschaft und Investition in mein Unternehmen. Zum dritten gilt mein Dank allen Mitgliedern des „Zentrums für Ethik in Antike und Christentum“ sowie des daran geknüpften Graduierten-Kollegs „Die Zeitdimension in der Begründung der Ethik“. Unter der intensiven Arbeit im Graduierten-Kolleg und unzähligen fruchtbaren Gesprächen durfte das vorliegende Projekt ungemein wachsen und reifen. Daher danke ich an dieser Stelle besonders Dr. Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer, Dr. Olivia Rahmsdorf, Inja Inderst und Mirjam Jekel für eine fruchtbare und unvergessliche Zeit des wissenschaftlichen Arbeitens sowie des persönlichen Austauschs und Beistands. Nicht zuletzt danke ich dem Gutenberg Nachwuchskolleg für die umfassende Förderung des Graduierten-Kollegs, in dessen formalem wie personalem Rahmen diese Arbeit erst entstehen konnte. An dieser Stelle ist sodann noch ein zweifacher Dank an diejenigen Stellen angebracht, ohne die den Lesenden dieses Buch nicht vorliegen würde: Für die Initiation meiner Promotion möchte ich besonders meinem Lehrer für Neues Testament an meiner alma mater, der Eberhard Karls Universität Tübingen, danken, Prof. Dr. Michael Tilly. Erst durch seinen Zuspruch und seine Anregung wurde ich in meinem Wunsch zu promovieren bestärkt und ermutigt. Zweitens danke ich dem Herausgeber der Reihe „Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament“, Prof. Dr. Jörg Frey, für die Auf-

VIII

Vorwort

nahme meines Manuskripts in die 2. Reihe. In diesem Zuge gilt mein Dank überdies dem Verlag Mohr Siebeck und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich während des Veröffentlichungsprozesses begleitet und beraten haben. Die vorliegende Studie ist das Ergebnis dreier Jahre intensiver wissenschaftlicher Arbeit, des Austauschs und der Weiterentwicklung, für welche ich nicht nur dem universitären Umkreis dankbar bin, sondern auch den unzähligen Menschen, die mich in dieser Zeit fernab der akademischen Wissenschaft begleitet, ermutigt und gefördert haben. Ann-Christin Zitzold und meinem Bruder Dr. Benjamin Dannenmann danke ich von Herzen für die Bereitschaft, das umfangreiche Manuskript nicht nur auf formale Fehler zu prüfen, sondern auch dafür, sich inhaltlich damit auseinandergesetzt zu haben und mit mir ins Gespräch gekommen zu sein. Zuletzt – und im Grunde doch zuallererst – danke ich meiner Familie und meinem Partner für die uneingeschränkte Zustimmung und Beförderung meines Promotionsvorhabens, die ständige und unermüdliche Begleitung in allen Belangen sowie für unendliche Geduld, Positivität und Vertrauen, wenn es mir einmal daran fehlte. In großer Dankbarkeit für den göttlichen Segen, durch den dieses Buch erst entstanden ist, übergebe ich es nun voll Freude seiner Leserschaft und hoffe, es gereicht auch dieser zur freudigen, weiterführenden Auseinandersetzung. Alsbach-Hähnlein, Mai 2019

Tanja Dannenmann

Inhaltsverzeichnis Vorwort........................................................................................ VII Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ......................................... XV Einleitung ....................................................................................... 1 1. Thematische Annäherung ............................................................................... 1 2. Ziele und Vorgehen ........................................................................................ 4

Teil I: Grundlagen Kapitel 1: Thematische Horizonte ................................................ 15 1. Der Emotional Turn: Einblick in ausgewählte Bereiche der Emotionsforschung ....................................................................................... 16 1.1 Das wachsende Interesse an Emotionen auf verschiedenen Forschungsgebieten ........................................................................... 16 1.2 Emotionen in der neutestamentlichen Exegese................................... 20 1.2.1 Annäherungen des 20. Jahrhunderts .......................................... 21 1.2.2 Exegetische Emotionsforschungen im 21. Jahrhundert.............. 24 1.2.3 Emotionen in der Evangelienforschung ..................................... 29 2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium ........................... 33 3. Gegenstandsbestimmung, Abgrenzungen und Einordnungen ...................... 44 4. Resümee ....................................................................................................... 51

X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2: Die ethische Relevanz der Emotionen ......................... 55 1. Emotionen in der Antike ............................................................................... 56 1.1 Außerbiblische Hintergründe ............................................................. 57 1.1.1 Emotionen als Daimon in der griechischen Götterverehrung ..... 57 1.1.2 Der Dualismus: Platon ............................................................... 59 1.1.3 Vernünftige Regulierung: Aristoteles ........................................ 61 1.1.4 Affektkontrolle und -unterdrückung: Stoa, Epikureismus und Skeptizismus ....................................... 65 1.1.5 Emotive Persuasion: Die Rhetorik ............................................. 69 1.1.6 Emotionen und die Beziehung zu Gott im Frühjudentum .......... 71 1.2 Emotionen im biblischen Kanon ........................................................ 79 1.2.1 Emotionen im Alten Testament ................................................. 79 1.2.2 Emotionen im Neuen Testament ................................................ 91 1.3 Ergebnisse ......................................................................................... 97 2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive .......................................................... 102 2.1 Die Rolle von Emotionen und Empathie in der Evolutionsbiologie . 103 2.2 Kognitive Auswirkungen von Emotionen ........................................ 104 2.3 Behaviorale Auswirkungen von Emotionen ..................................... 108 2.4 Emotionen und Moral ...................................................................... 109 2.5 Ergebnisse ....................................................................................... 111 3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen ................................ 113 3.1 Martha C. Nussbaum: Reziprokes Verhältnis zwischen Emotionen und Ethik ....................................................................... 115 3.2 Christoph Ammann: Emotionen als Gravitationszentren der Moral . 119 3.3 Klaas Huizing: „Schäme dich!“ als erster ethischer Imperativ ......... 122 3.4 Ergebnisse ....................................................................................... 126 4. Emotionen und narrative Ethik .................................................................. 127 4.1 Ethische Sprachformen im Neuen Testament ................................... 127 4.2 Narration und Emotion .................................................................... 129 4.3 Situation und Moral ......................................................................... 131 4.4 Narrative Ethik: narrative Mimesis moralischer Situationen ............ 133 4.4.1 Die empathische Erschließung moralischer Situationen in Narrationen ......................................................................... 133 4.4.2 Stärken einer narrativ-emotiven Ethik ..................................... 135 4.5 Parabeln: emotive, metaphorische und ethische Narrationen............ 138 4.6 Ergebnisse ....................................................................................... 142 5. Resümee: Notwendigkeit einer gezielt emotiven Textanalyse .................... 144

Inhaltsverzeichnis

XI

Teil II: Methodik einer „emotiven Heuristik“ Kapitel 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik ............................................ 153 1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen ................. 154 1.1 Emotionen in Methoden der Exegese: ein Forschungsüberblick....... 154 1.2 Ergebnis: Ermangelung einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese 162 1.3 Einbindungsvorschlag in den Methodenkanon ................................. 165 1.4 Ergebnisse ....................................................................................... 168 2. Methodik einer „emotiven Heuristik“ ........................................................ 169 2.1 Notwendige Vorüberlegungen ......................................................... 169 2.1.1 Die richtigen Fragen stellen .................................................... 169 2.1.2 Der Mechanismus der emotionalen Textrezeption: ein Vorschlag ......................................................................... 175 2.1.3 Zwischenergebnisse ................................................................ 192 2.2 Ein „Werkzeugkoffer“ für eine „emotive Heuristik“ ........................ 194 2.2.1 Die Methodik .......................................................................... 194 2.2.2 Die Emotionskonzeption ......................................................... 195 2.2.3 Die Auslöser der Rezeptionsemotionen ................................... 197 2.2.4 Die Intensität der Rezeptionsemotionen .................................. 210 2.2.5 Ein heuristisches Raster zur Abfrage möglicher Rezeptionsemotionen .............................................. 214 2.3 Ergebnisse ....................................................................................... 216

Teil III: Emotionen und Ethik im Matthäus-Evangelium Kapitel 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium .........................225 1. Aufstellung der explizit im Evangelium genannten Emotionen .................. 227 2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz .............. 231 2.1 Überblick über die verwendeten Emotionen .................................... 231 2.2 Evaluation der einzelnen Emotionskomplexe ................................... 236 2.2.1 Furcht: φοβέοµαι κτλ., µεριµνάω κτλ., δειλός, ἐντρέπω, θροέω, ἀδηµονέω ................................................. 236

XII

Inhaltsverzeichnis

Freude: χαίρω κτλ., εὐδοκέω, µακάριος, ἀγαλλιάω........ 239 Ärger: σκανδαλίζω κτλ., ἀγανακτέω................................. 241 Liebe: ἀγαπάω κτλ., φιλέω κτλ. ........................................ 244 Mitleid: ἐλεέω κτλ., σπλαγχνίζοµαι .................................. 245 Überraschung: ταράσσω, ἐκπλήσσω, θαυµάζω κτλ., ἐξίστηµι ............................................................................... 248 2.2.7 Trauer: πενθέω, κόπτοµαι, λυπέω κτλ. ............................. 250 2.2.8 Reue: µετανοέω κτλ., µεταµέλοµαι ................................... 251 2.2.9 Verachtung: ἐµπαίζω, καταφρονέω, καταγελάω .............. 252 2.2.10 Dankbarkeit: εὐλογέω, εὐχαριστέω .................................... 253 2.2.11 Zorn: θυµόω, ὀργίζω κτλ. .................................................. 255 2.2.12 Hass: µισέω .......................................................................... 257 2.2.13 Neid: ἀγανακτέω, ὁ φθόνος ............................................... 258 2.2.14 Hoffnung: θαρσέω, ἐλπίζω ................................................. 259 2.2.15 Sanftmut: πραΰς................................................................... 260 2.2.16 Emotionslosigkeit: ἡ σκληροκαρδία .................................... 262 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6

3. Resümee ..................................................................................................... 263

Kapitel 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln ................................................ 267 1. Die Auswahl der Texte ............................................................................... 267 2. Vorgehen .................................................................................................... 273 3. Erinnernde Dankbarkeit: Die Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23–35) ........................ 274 3.1 Vorbemerkungen ............................................................................. 274 3.2 Die Emotionskonzeption .................................................................. 276 3.2.1 Direkt ..................................................................................... 276 3.2.2 Indirekt ................................................................................... 285 3.3 Die Rezeptionsemotionen ................................................................ 287 3.3.1 Situationen/Geschehnisse........................................................ 288 3.3.2 Figuren ................................................................................... 290 3.3.3 Raum ...................................................................................... 309 3.3.4 Zeit ......................................................................................... 310 3.4 Ergebnisse ....................................................................................... 323

Inhaltsverzeichnis

XIII

4. Das konstante Glück: Die Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51) ...................... 329 4.1 Vorbemerkungen ............................................................................. 329 4.2 Die Emotionskonzeption .................................................................. 331 4.2.1 Direkt ..................................................................................... 331 4.2.2 Indirekt ................................................................................... 331 4.3 Die Rezeptionsemotionen ................................................................ 337 4.3.1 Situationen/Geschehnisse........................................................ 337 4.3.2 Figuren ................................................................................... 338 4.3.3 Raum ...................................................................................... 348 4.3.4 Zeit ......................................................................................... 349 4.4 Ergebnisse ....................................................................................... 359 5. Wenn Angst am Handeln hindert: Die Parabel von den anvertrauten Geldern (Mt 25,14–30) ....................... 365 5.1 Vorbemerkungen ............................................................................. 365 5.2 Die Emotionskonzeption .................................................................. 367 5.2.1 Direkt ..................................................................................... 367 5.2.2 Indirekt ................................................................................... 371 5.3 Die Rezeptionsemotionen ................................................................ 374 5.3.1 Situationen/Geschehnisse........................................................ 374 5.3.2 Figuren ................................................................................... 375 5.3.3 Raum ...................................................................................... 399 5.3.4 Zeit ......................................................................................... 402 5.4 Ergebnisse ....................................................................................... 407 6. Resümee: Der Mehrwert einer emotiven Textanalyse matthäischer Parabeln ........... 410

Kapitel 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der matthäischen Ethik .................................................... 415 1. Emotionen im Matthäus-Evangelium ......................................................... 416 1.1 Die ethische Relevanz von Emotionen ............................................. 416 1.2 Emotionen als Verstärkungsinstrumente der ethischen Pragmatik .... 420 2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik ............................................. 424 2.1 Das narrative Spiel mit der Zeit ....................................................... 424 2.2 Die emotionale Antizipation der Zukunft ......................................... 429 2.3 Zeit-Kompetenz im Matthäus-Evangelium ...................................... 431

XIV

Inhaltsverzeichnis

3. Würdigung .................................................................................................. 435 3.1 Das unmittelbare Ziel: eine konstant wachsame Lebensführung ...... 435 3.2 Das langfristige Ziel: die narrative Einübung einer empathischmoralischen Kompetenz mithilfe der Parabeln des Matthäus? ......... 447 4. Resümee ..................................................................................................... 453

Ausblick und Schluss ..................................................................459 1. Chancen und Grenzen einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese .......... 459 1.1 Beitrag zur Methodik der Exegese ................................................... 460 1.2 Beitrag zur Matthäus-Forschung ...................................................... 463 2. Impulse für den Ethikdiskurs ...................................................................... 466 2.1 Beitrag zur Analyse narrativer Ethik ................................................ 466 2.2 Beitrag hinsichtlich der Rolle von Emotionen und ihrem Zeitbezug in der Ethik..................................................... 468 3. Epilog ......................................................................................................... 475

Literaturverzeichnis .....................................................................479 Stellenregister ..............................................................................501 Autorenregister ............................................................................513 Sachregister .................................................................................519

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 1. Abbildungen Abbildung 1: Individuelle Faktoren des empathischen Rezeptionsvorgangs.................................................................. 184 Abbildung 2: Zusammenfassende Darstellung der emotiven Mechanismen der narrativen Ethik in Mt 18,23–35 ................. 328 Abbildung 3: Zusammenfassende Darstellung der emotiven Mechanismen der narrativen Ethik in Mt 24,45–51 ................. 364 Abbildung 4: Zusammenfassende Darstellung der emotiven Mechanismen der narrativen Ethik in Mt 25,14–30 ................. 410 Abbildung 5: Die narrativ-ethische Strategie in mt Herr-Sklave-Parabeln ............................................................... 457

2. Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6:

Verlauf der Figurenrezeption in Mt 21,28–32..............................188 Erfragung möglicher Rezeptionsemotionen nach Ulrich Mees ....215 Modifizierung des Mees’schen Modells ......................................216 Analyse der Emotionen im Text...................................................217 Analyse der Rezeptionsemotionen ...............................................217 Heuristisches Raster zur Erfragung möglicher Rezeptionsemotionen ...................................................................220 Tabelle 7: Aufstellung der expliziten Emotionstermini im Mt-Ev ........228–230 Tabelle 8: Häufigkeit und sprachliche Variabilität der im Mt-Ev vorkommenden Emotionen ..........................................................231 Tabelle 9: Verlauf der Abrechnungsszenen in Mt 18,23–35 .........................289 Tabelle 10: Vergleich des Geschehensablaufs von Mt 25,24 f. und Lk 19,20 f. .............................................................................386 Tabelle 11: Vergleich der verschiedenen Handlungsstränge in Mt 25,21–30 .............................................................................397

Einleitung Unser Denken hängt ab vom Empfinden. (Johann Gottfried Herder)

1. Thematische Annäherung 1. Thematische Annäherung

2017 wurde vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur sowie dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat die Kampagne Runter vom Gas geschaffen, die mit zahlreichen am Straßenrand aufgestellten Plakaten jegliche Ablenkungen beim Autofahren zu verhindern sucht. Viele dieser Abbildungen arbeiten mit einer ganz impliziten und doch unmittelbar verständlichen Argumentation: Abgebildet sind bspw. ausschließlich eine weinende Frau oder ein weinendes Kind mit Bildunterschriften wie „Runter vom Gas“, „Abstand halten“ oder „Finger weg vom Handy“. Das Vertrauen der Verantwortlichen in die Kampagne spiegelt sich in deren ehrgeizigen Zielen: „Das Ziel des ‚nationalen Verkehrssicherheitsprogramms‘ ist […] klar definiert: Bis 2020 soll die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr um 40 Prozent verringert werden.“1 Doch wie genau funktioniert diese illustrative Botschaft? Es sind wohl kaum die Bilder allein, welche die darunterstehenden Imperative erklären. Dass eine unbekannte Frau auf einem Foto weint, muss keinen unweigerlichen Zusammenhang zu einem beliebigen telefonierenden Autofahrer herstellen.2 Oder doch? Das Gehirn des Betrachters stellt offenbar automatisch eine Assoziation dar und verknüpft beide Situationen sinnvoll miteinander – indem es sich eine Geschichte zusammenreimt. Die weinende Frau steht plötzlich dann zu uns in Beziehung, wenn wir aufgrund unserer Ablenkung durch das Telefonieren einen Unfall verursachen und dabei einen Menschen töten – vielleicht ihren Ehemann oder ihren Vater. Oder wir sehen in ihr unsere Mut1

TRUSCHEIT, Verkehrstoter. In dieser Arbeit wird das generische Maskulinum als insklusive Form verwendet (hier der Autofahrer, im Folgenden v.a. der Rezipient, Leser, Hörer usw., was selbstverständlich das feminine Pendant nicht ausschließt). Dies wird aus Gründen der Einheitlichkeit, der Kürze sowie des Schriftbildes und einer flüssigen Leseweise wegen generisch differenzierten Angaben vorgezogen. 2

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Einleitung

ter oder eine Freundin, die über unseren Tod aufgelöst wäre. Es ist diese nicht abgebildete und dennoch zugleich assoziierte Situation, welche den Sinn der Kampagne erschließt – die Geschichte eines Verlusts. Bilder erzählen Geschichten. Solche „Bilder-Geschichten“ werden im Fall dieser Kampagne eingesetzt, um die verkehrsethische Botschaft zu vermitteln, sich beim Fahren nicht ablenken zu lassen sowie sich in einer umsichtigen Fahrweise zu üben. Durch die Vermittlung von Bildern, welche wiederum Geschichten erzählen – seien es Erinnerungen an reale Ereignisse oder Imaginationen fiktiver Geschehnisse –, wird jede weitere schriftliche Erklärung unnötig. Doch was ist das eigentliche Element der Vermittlung dieser „Verkehrsethik“?3 Dies ist m.E. nicht nur die narrative Assoziationsfähigkeit unseres Gehirns, sondern auch und gerade die emotionale Wirkung dieser Narration. Bilder von weinenden Menschen wecken unwillkürlich Assoziationen mit schmerzhaften Erinnerungen oder auch nur imaginierten, möglichen Szenarien. Auch wenn die Situation selbst nicht wirklich ist, kann diese bloße Vorstellung genügen, um Schmerz zu verursachen. Im Betrachter lösen das Bild und die damit verknüpfte Situation unweigerlich solche Emotionen aus, die aus dem Verlust geliebter Menschen resultieren, wie Trauer, Furcht oder Verzweiflung. Dadurch wird zum einen Mitleid zu dieser betrachteten Person geweckt; zum anderen aber wird der Wunsch wach, dieses Leid nicht selbst empfinden zu müssen. Durch eine Außenperspektive, welche diese Emotionen nicht in anderen auslösen will, und eine Innenperspektive, welche die Emotionen nicht selbst empfinden will, erschließt sich dem Betrachter die Berechtigung der ethischen Forderung oder, wie man mit Wilhelm Busch sagen könnte, die „Moral von der Geschicht“4: er geht tatsächlich vom Gas, lässt das Smartphone tatsächlich unbeachtet, fährt tatsächlich geduldiger, langsamer und umsichtiger. Die Vermittlung eben dieser ethischen Pragmatik geschieht demzufolge weniger auf eine rational-intellektuelle als vielmehr auf emotionale Weise. Und genau diese Überzeugungsstrategie ist intendiert: Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium, Dorothee Bär, nennt im Interview mit der F.A.Z. im Mai 2017 als Ziel der Kampagne, aufzurütteln und zu zeigen, wie verheerend sich der Tod eines Menschen auf das Leben vieler auswirke.5 Darüber hinaus wird ein interessanter Zeitbezug deutlich: Diese ethischen Botschaften zeigen grundsätzlich auf, dass die Zukunft nicht der Gegenwart zum Opfer fallen soll. Ein paar Minuten früher zu Hause zu sein, eine Nachricht sofort, statt 30 Minuten später zu lesen, sind es nicht wert, Leben zu 3

Dieser Begriff wird hier in Anlehnung an die grundlegende Arbeit von Ullrich Zeitler, Grundlagen der Verkehrsethik, übernommen (vgl. ZEITLER, Grundlagen). 4 Vgl. dazu das umfassende Werk von Wilhelm Busch, dem der Herausgeber, Rolf Hochhuth, aufgrund seiner wiederkehrenden Formulierung selbigen Titel verlieh (vgl. BUSCH, Moral). 5 Vgl. TRUSCHEIT, Verkehrstoter.

1. Thematische Annäherung

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riskieren. Die Zukunft wird somit hervorgehoben, eine Zukunft, die durch eine gegenwärtige Ablenkung, durch ein Bedürfnis oder einen Wunsch allzu leicht aus dem Blick gerät. Doch im Lichte dieser Zukunft kann und soll die Gegenwart neu bewertet werden. Dazu dienen nicht zuletzt die zahlreichen Bildmotive von kleinen Kindern: Das Leben dieser Kleinen soll begleitet und miterlebt werden. Dafür muss die Gegenwart entsprechend – und ggf. anders – gestaltet werden. Die durch die Bilder geweckten Emotionen helfen dabei, diesen zeitlichen Konflikt zu lösen. Das Bild eines kleinen Kindes kann die Freude und Hoffnung wecken, dieses Kind aufwachsen zu sehen. Gleichzeitig kann die Furcht aufkommen, das Leben des eigenen Kindes nicht mitzuerleben oder einem schutzbedürftigen Wesen die Eltern zu nehmen. Diese möglichen Zukunftsszenarien erscheinen durch die damit verbundenen Emotionen plötzlich real, gleichsam vergegenwärtigt. Im Lichte dieser ein künftiges Ereignis in die Gegenwart holenden Emotion erscheint auch das ursprüngliche, gegenwärtige Bedürfnis – etwa eine E-Mail auf dem Smartphone zu lesen – plötzlich allzu unbedeutend, und wird zurückgestellt. Diese Überlegungen zeigen auf, in welch hohem Maße und auf welch unterschiedliche Weisen Emotionen handlungsleitend und damit ethisch relevant sind. Auch frühchristliche Texte bestätigen den Eindruck, dass ein enger Zusammenhang zwischen emotionalem Befinden und Handeln besteht: „Ein Mensch hatte zwei Söhne, und er trat hin zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh heute hin, arbeite im Weinberg! Der aber antwortete und sprach: Ich will nicht. Danach aber gereute es ihn, und er ging hin. Und er trat hin zu dem zweiten und sprach ebenso. Der aber antwortete und sprach: Ich gehe, Herr; und er ging nicht. Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan?“ Sie sagen: „Der erste.“ Jesus spricht zu ihnen: „Wahrlich, ich sage euch, dass die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes. Denn Johannes kam zu euch im Weg der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht; die Zöllner aber und die Huren glaubten ihm; euch aber, als ihr es saht, gereute es auch danach nicht, sodass ihr ihm geglaubt hättet.“ (Mt 21,28–32).

Der Sohn in der Parabel bereut sein voriges Verhalten und korrigiert sein Handeln entsprechend. So vermittelt der Text auf implizite Weise Ethik: Die Frage an die Zuhörer, welcher Sohn den Willen des Vaters getan, d.h. richtig gehandelt habe, zieht eine sofortige, selbstverständlich klingende Antwort nach sich. Ein solches, rechtes Handeln aus der dem Vater gegenüber empfundenen Reue heraus wird als wertvoll und fruchtbar, d.h. als richtig und gut dargestellt. Diese ethische Botschaft stellt eine Forderung an die Zuhörer dar: Auch die angesprochenen Hohepriester hätten diese Reue empfinden und Johannes dem Täufer glauben sollen. Dadurch ist die geschilderte Reue nicht nur ein Emotionen schilderndes Erzählelement, sondern wird zu einem wiederum emotionalisierenden, das Reue, Scham oder Traurigkeit hervorrufen kann. Die selbst empfundenen Emotionen verstärken den ethischen Appell der Parabel zu Handlungsreflexion und etwaiger -korrektur. Somit zeigt sich: Ein Erzähltext vermag nicht nur, Emotionen – explizit oder implizi – zu ver-

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mitteln, sondern auch solche im Rezipienten auszulösen. Durch diese Evokation emotionaler Reaktionen kann die praktische Umsetzung der ethischen Botschaft des Textes im eigenen Leben wahrscheinlicher gemacht werden. Schließlich lässt sich auch hier der bereits erwähnte ethische Zeitbezug beobachten: Die Emotion der Reue bezieht sich auf ein vergangenes Ereignis und wird in der Gegenwart so stark empfunden, dass es wiederum dazu führt, dieses zu modifizieren. Die sich auf die Vergangenheit beziehende Emotion vermag folglich gegenwärtige Bedürfnisse zu überwiegen und auf diese Weise ein ethisches Handeln zu motivieren. Es legt sich der Schluss nahe, dass in einer temporal begründeten Ethik Emotionen handlungspragmatisch ausschlaggebende Bedeutung zukommt, da sie Vergangenheit oder Zukunft zu vergegenwärtigen vermögen. Wie gesehen, verfügt ein Erzähltext über dezidiert emotive Komponenten, sowohl bezüglich seiner Darstellung als auch seiner Wirkung. Mit anderen Worten: Ein Text transportiert nicht nur bestimmte Emotionen, indem er sie explizit nennt oder implizit beschreibt, sondern löst auch solche im Rezipienten aus. Diese emotionalisierende Wirkung von Texten hat wiederum starken Einfluss auf die Textpragmatik, indem sie bspw. den Handlungsimpuls, gemäß der im Text vermittelten moralischen Botschaft zu handeln, verstärkend motiviert. Untersucht man daher die Ethik solcher erzählenden Texte, darf die emotive Textdimension nicht außer Acht gelassen werden. Aus diesen Beobachtungen lässt sich die Voraussetzung der vorliegenden Arbeit formulieren: Bei einer Analyse der narrativen Ethik von Erzähltexten bedarf es einer gesonderten Methode zur gezielten Untersuchung emotiver Prozesse im Rezeptionsvorgang.

2. Ziele und Vorgehen 2. Ziele und Vorgehen

Diese Studie widmet sich den soeben ausgeführten Zusammenhängen zwischen in Narrationen vermittelter Ethik und den darin dargestellten sowie ausgelösten Emotionen. Diese werden zum einen anhand des theoretischen Forschungsdiskurses erörtert und diskutiert sowie zum anderen anhand praktischer Analysen ausgewählter Erzähltexte im Matthäus-Evangelium6 überprüft. Anliegen dieser Arbeit ist es, den emotionalen Prozessen während des Rezeptionsvorgangs besondere Aufmerksamkeit zu schenken und die emoti6

Die Begriffe „Matthäus“, „matthäisch“ und „Matthäus-Evangelium“ werden nur in der Einleitung und den Kapitelüberschriften ausgeschrieben; in den folgenden Kapiteln indessen mit „Mt“, „mt“ und „Mt-Ev“ abgekürzt. Alle nicht anders ausgezeichneten Kapitelund Versangaben beziehen sich auf das Matthäusevangelium. Werden Bibelstellen zitiert, folgt der griechische Text dem NTG28, deutsche Übersetzungen folgen, so nicht anderes genannt, der Übersetzung nach Elberfelder.

2. Ziele und Vorgehen

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ven Mechanismen narrativ vermittelter Ethik zu prüfen. Sie wird aufzeigen, dass der emotionale Impuls von Narrationen in der Exegese bisher noch weitestgehend unbeachtet blieb. Ihr methodisches Ziel ist es daher, eine konkrete exegetische Methodik zur gezielten Analyse emotionaler Prozesse im Rezeptionsvorgang zu erarbeiten. In einer inhaltlichen Zuspitzung zielt sie darauf ab, die Bedeutung der emotionalen Anteilnahme an Erzählungen für die Vermittlung der narrativen Ethik zu untersuchen, wobei exemplarisch das Matthäus-Evangelium sowie im Speziellen dessen Parabeln als Textgrundlage dienen. Die Analyse wird prüfen, ob und wenn ja, in welchem Maße Emotionen in diesem Textkorpus genutzt werden, um die Handlungspragmatik ethischer Forderungen zu erhöhen. Die Arbeit leistet damit einen wichtigen Beitrag für eine gezielt emotive Textanalyse sowie für die Erforschung des Zusammenhangs zwischen emotiver und ethischer Textpragmatik. Unter Ethik wird hierbei „die reflexive Durchdringung von Lebensweisen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel einer Bewertung“ verstanden, welche sich „in vielfältigen Sprach- und Ausdrucksformen“ – d.h. auch in Narrationen – vollziehen kann.7 Vorausgesetzt wird außerdem die Überzeugung, dass eine narrative Ethik nicht nur Anleitung zur Handlungsreflexion zu geben intendiert, sondern darüber hinaus auch konkrete Handlungsimpulse liefert, die explizit – im Sinne eines konkreten „du sollst (nicht)“ – oder aber mittels des Erzählverlaufs implizit transportiert werden. In diesem Zusammenhang wird hier die Frage nach den durch die Erzählung im Rezipienten geweckten Emotionen als der ethischen Textpragmatik dienende Elemente einer Narration gestellt. Mit anderen Worten: Zu untersuchen gilt es, inwiefern eine Narration emotionalisierende Sprache nutzt, um ihre ethische Botschaft zu unterstützen. Mit dieser Untersuchung verbindet sich erstens die Erarbeitung einer konkreten Methode zur Erweiterung der Exegese, welche diese interdisziplinär um den Blickwinkel anderer Forschungsgebiete bereichert und durch die planvolle Beachtung emotionaler Rezeptionsprozesse eine präzisere Analyse narrativer Texte ermöglicht („emotive Heuristik“). Zweitens beabsichtigt die Studie eine vertiefende Erforschung der narrativen Ethik im MatthäusEvangelium, indem ausgewählte Parabeln auf ihre emotive Leserlenkung hin untersucht und auf Grundlage dessen spezifische, ethische Plausibilisierungsstrategien des Matthäus offengelegt werden, die einen komplexen Zusammenhang zwischen Emotionen, Ethos und, wie sich zeigen wird, der Zeitdimension aufweisen. 7

Diese Definition lehnt sich an die von Ruben Zimmermann an (vgl. dazu ZIMMERMANN, Logik, 11–13) und wurde vom Graduierten-Kolleg „Die Zeitdimension in der Begründung der Ethik“ der Evangelisch-theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz aufgegriffen, in dessen Rahmen die vorliegende Arbeit entstand (vgl. das hier angegebene Zitat unter http://graduiertenkolleg.ethikmainz.de/thesen/).

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Einleitung

Durch das breite Feld ihrer Betrachtungen ist diese Arbeit nicht ausschließlich der theologischen Wissenschaft vorbehalten, sondern vermag auch literaturwissenschaftliche und psychologische Impulse zu geben, um die Perspektive auf moralische Unterweisung und Ethik vermittels narrativer Medien hinsichtlich ihrer emotiven Komponenten zu erweitern und für die lebensbezüglichen Aspekte von Emotionen zu sensibilisieren. Die Studie geht in drei Arbeitsschritten vor: Im Grundlagen-Teil werden theoretische Präliminarien vorausgeschickt, welche die Arbeit in die jeweiligen Forschungshorizonte ihrer Fragestellung einordnen sowie ihre Voraussetzungen begründen. Hier wird zunächst ein Einblick in den aktuellen Forschungsdiskurs der relevanten Themengebiete gegeben (Kapitel 1). Hierbei erfolgt zunächst ein Überblick über das allgemein steigende Interesse an den Emotionen in der Forschung. Da die Perspektive der vorliegenden Arbeit theologisch sowie neutestamentlich ausgerichtet ist, stellt sich sodann die Frage, wie sich dieser emotional turn in bisherigen neutestamentlichexegetischen Arbeiten niederschlägt. Des Weiteren wird dieser theologische Bezug im Hinblick auf das hier zu untersuchende Textkorpus weiter zugespitzt und werden Tendenzen der Erforschung der Ethik im MatthäusEvangelium aufgezeigt. Durch diese Übersicht über den aktuellen Forschungsstand der Theologie wird der Mehrwert der vorliegenden Arbeit ersichtlich. Zuletzt müssen eine Gegenstandsbestimmung sowie eine Einordnung und Abgrenzung im weiten Feld der möglichen Erforschung von Emotionen geleistet werden. Wie der Einblick in den emotional turn zeigt, ist die Erforschung der Emotionen für so viele Bereiche des Lebens von Belang, dass nicht nur Neurobiologie, Evolutionsbiologie und Emotionspsychologie an ihrer Genese, ihrer Evolution sowie ihrer sensorischen, kognitiven, physiologischen, motivationalen und expressiven Phänomenologie interessiert sind 8, sondern auch Philosophie- und Kulturgeschichte, Literaturwissenschaft9 und nicht zuletzt die Theologie10 den phänomenologischen, epistemologischen, axiologischen und pragmatischen Eigenheiten der Emotionen zunehmend auf den Grund gehen. Während erstere Gruppe mittels naturwissenschaftlichempirischer Methoden verfährt, untersucht letztere verschiedene Medien (wie Text, Kunst, Film etc.) in historisch-kulturwissenschaftlichem Interesse. Hie8 Vgl. bspw. CHRISTEN, Neurobiologie; ESTERBAUER/RINOFNER-KREIDL, Emotionen; IZARD, Psychology; OTTO/EULER/MANDL, Emotionspsychologie; STEMMLER, Psychologie. 9 Vgl. bspw. DÖRING, Philosophie; GILL, Emotions; HARBSMEIER /MÖCKEL, Pathos; HATZIMOYSIS, Philosophy; KLEIN /MELLMANN/METZGER, Heuristiken; LANDWEER/RENZ, Handbuch; MELLMANN, Literatur; NEUMANN, Affekte; ORTNER, Text; SANDERS/JOHNCOCK, Emotion; SCHWARZ-FRIESEL, Sprache; SPENCER, Feelings; WEGENER, Emotionen; WÖRDEMANN, Emotion. 10 Vgl. bspw. HUIZING, Scham; KAZEN, Ethics; NEUMANN, Affekte; SPENCER, Feelings; WÖRDEMANN, Emotion.

2. Ziele und Vorgehen

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ran wird offensichtlich, dass sowohl die einzelnen Forschungsperspektiven, aus denen Emotionen in den Blick genommen werden, als auch die Untersuchungsmethodik und der inhaltliche Fokus der jeweiligen Erforschungen mannigfach sind. Darüber hinaus ergibt sich der Befund, dass die einzelnen Forschungsgebiete für die verschiedenen Fragestellungen allzu häufig unterschiedliche Lösungsvorschläge bieten. Fragt man nach den Emotionen, stößt man sowohl im Hinblick auf ihre exakte Definition als auch auf die Abgrenzung zu anderen Begriffen auf eine enorme Forschungsdiskussion, in welcher sich diese Arbeit positionieren muss. Ihr exegetisch und ethisch ausgerichtetes Interesse legt den Fokus außerdem stärker auf die konkret phänomenologischen Fragen der Emotionspsychologie mit stetem Hauptaugenmerk auf die handlungspragmatischen Auswirkungen von Emotionen. Daher sind vielmehr Fragen darüber, wie sich Emotionen auswirken und wie mit ihnen umgegangen werden kann bzw. soll, von Interesse als etwa solche, die der Entstehung, den physiologischen, sensorischen oder expressiven Merkmalen von Emotionen auf den Grund gehen. In einem zweiten Schritt der Grundlagen wird die Arbeitsthese begründet (Kapitel 2), dass bei der Analyse der narrativen Ethik biblischer Erzähltexte emotionale Rezeptionsprozesse besonders berücksichtigt werden müssen. Dafür wird aus vier verschiedenen Forschungsperspektiven gezeigt, wie Emotionen aufgrund ihres Einflusses auf das menschliche Denken und Handeln für die ethische Handlungspragmatik bedeutsam sind: Es erfolgt zunächst ein historischer Blick in verschiedene Emotionskonzepte der Antike, und es wird dargelegt, inwiefern sich bereits antike Autoren des Einflusses der Emotionen auf das Handeln des Menschen bewusst waren und dies mitunter rhetorisch genutzt haben. Dabei sind neben den häufig vorgebrachten, die Emotionen ablehnenden philosophischen Konzeptionen – wie etwa von Platon oder der römischen Stoa – auch andere Entwürfe erkennbar. Da es sich bei den Zieltexten der Exegese um antike Texte handelt, muss eine solche Einordnung derselben in ihren kulturellen Kontext erfolgen und nach Emotionsverständnissen gefragt werden, welche in der Zeit der Abfassung des Zieltextes vertreten wurden. Deshalb muss insbesondere die zeitlich-räumliche sowie kulturelle Folie des Alten Orients und des griechisch-römischen Kulturkreises berücksichtigt werden. Denn „[j]eder emotionale Vorgang ist als komplexes Phänomen gleichzeitig ein einmaliges, individuelles Ereignis und ein Erzeugnis seines historischen und kulturellen Kontexts. Dadurch entsteht ein historisches Kontinuum von emotionalen Erscheinungen und deren Ausdrucksformen und Wahrnehmungen, in dem gleichzeitig Veränderungen und Konstanten erkennbar werden.“11

Auf diese Weise sollen anachronistische Ansprüche an die Texte vermieden werden. 11

HARBSMEIER/MÖCKEL, Gefühle, 16.

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Zu dieser Frage kann auch moderne Forschung beitragen. Ein Blick in die Naturwissenschaften belegt in vielfältiger Hinsicht die emotionale Beeinflussung des menschlichen Verhaltens und Handelns, bspw. in kognitiver wie behavioraler Hinsicht, aber auch die spezifische Rolle der Emotionen für die Ausbildung der Moral. Sodann sind auch im philosophischen Diskurs ethische Ansätze zu finden, welche der Bedeutung von Emotionen für Moral und Ethik auf den Grund zu gehen suchen.12 Zuletzt dient ein genauerer Blick auf die „narrative Ethik“ der Begründung des Anspruchs dieser Untersuchung. Mit dieser besonderen Form der Ethik als Grundlage spitzt sich das Ziel der Studie inhaltlich zu und es wird der Frage nachgegangen, wie eine narrative Ethik mit Emotionen arbeitet und inwiefern dies einen besonderen Mehrwert gegenüber dem argumentativen Gehalt nicht-narrativer Ethikvermittlung darstellt. Da der Textanalyse ausgewählte Parabeln des Matthäus-Evangeliums als exemplarische Textgrundlage zugrunde liegen, müssen an dieser Stelle auch die besondere narrative, metaphorische und ethische Charakteristik dieser Textgattung thematisiert werden. Nach einer Erläuterung dieser Prämissen stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich hieraus konkret für die theologische Exegese ergeben. Dieser Frage widmen sich die Teile II und III der Studie, zum einen methodisch übergeordnet und zum anderen konkret textbezogen. Dabei umfasst Teil II die Erarbeitung einer Methodik einer „emotiven Heuristik“ (Kapitel 3). Dabei geht es zunächst darum, die neutestamentlichen Exegesemethoden genauer auf ihre Berücksichtigung der Emotionen in Texten hin zu prüfen und sodann dem Defizit einer auf die emotive Textdimension zielenden Methodik durch Erarbeitung einer solchen „emotiven Heuristik“ Abhilfe zu verschaffen. Ein Blick in einschlägige exegetische Methodenbücher soll zunächst die Frage klären, inwiefern Emotionen in der Exegese beachtet werden und ob die bestehenden Analyseverfahren für eine systematische Analyse der emotionalen Textrezeption ausreichend sind. Dieser Forschungseinblick wird aufzeigen, dass emotionalen Prozessen während des Rezeptionsvorgangs noch immer zu wenig Beachtung, geschweige denn eine gesonderte Untersuchung zukommt. Zwar wird häufig darauf hingewiesen, dass biblische Texte starke Emotionen im Rezipienten wachrufen, doch fußt diese Feststellung weitgehend auf methodisch unklaren oder unausgereiften Analyseverfahren. Lassen sich hier nicht akkurate Analysewerkzeuge finden, mit denen untersucht werden kann, wie ein Erzähltext Emotionen vermittelt, und welche er damit wiederum im Rezipienten auslösen will? Dieses Desiderat möchte die vorliegende Arbeit füllen, indem sie im dritten Kapitel eine 12

Vgl. bspw. die Ansätze von Martha Nussbaum, Christoph Ammann und Klaas Huizing, welche in Kap. 2.3 näher betrachtet werden (vgl. NUSSBAUM, Upheavals; AMMANN, Emotionen; HUIZING, Scham).

2. Ziele und Vorgehen

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rezeptionsästhetische Methodologie zur emotiven Textanalyse erarbeitet. Dafür greift sie auf die mannigfaltige Forschung der emotionspsychologischen Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zurück, welche sich mit emotiver Textwirkung befasst. Diese Betrachtungen fördern verschiedene und komplexe Ebenen derselben zutage, welche es bei einer Analyse des emotionalen Rezeptionsprozesses zu differenzieren und zu berücksichtigen gilt. Sodann wird in Teil III der Arbeit das zu untersuchende Textkorpus in den Blick genommen und gefragt, wie Emotionen und Ethik im Matthäus-Evangelium in Beziehung stehen. Diese Untersuchung erfolgt in drei Schritten. Erstens wird in Kapitel 4 mittels einer Aufstellung aller im Matthäus-Evangelium explizit genannten Emotionsbegriffe eine erste Einschätzung erfolgen, wie wichtig Emotionen für den Autor13 sind: Wie häufig kommen Emotionen vor? Gibt es Präferenzen? Welche werden besonders oft, welche etwa gar nicht verwendet? Außerdem soll der konkrete Gebrauch der Termini in ihren jeweiligen Kontexten betrachtet und dabei gezielt auf den Zusammenhang zwischen Emotion und Handeln geachtet werden. Damit können Aussagen über die Einschätzung von Emotionen durch den Autor des MatthäusEvangeliums getroffen werden: Betrachtet er sie als ethisch relevant? Als problematisch oder gar als positive Kräfte? Diese Beobachtungen lassen sich zum einen mit den bereits betrachteten zeitgenössischen, griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Emotionskonzepten abgleichen und es können Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden. Diese Fragen stellen eine notwendige Grundlage für eine fundierte Analyse der emotionalen Textrezeption dar: Zum einen kann so die Bedeutung der Emotionen für die Ethik des Textes generell beurteilt werden. Zum anderen dient diese Auflistung als sinnvolles Orientierungsraster zur Erhebung implizit vermittelter Emotionen sowie derjenigen Emotionen, die der Autor des Evangeliums in seinen Adressaten wecken wollte. Daraufhin erfolgt die gezielte Textanalyse, in welcher die erarbeitete Methodik auf ausgewählte Parabeln des Matthäus-Evangeliums angewendet wird (Kapitel 5). Diese Exegese wird die leitende Frage nach der narrativemotiven Ethos-Vermittlung in der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23–35), in der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51) sowie in der Parabel von den anvertrauten Geldern (Mt 25,14–30) prüfen. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf die parabolische Gattung, weil bei einer Lektüre der synoptischen Evangelien auffällt, dass diese Narrationen eine ganz besondere Rolle spielen. Nicht genug, dass das Evangelium per se eine narrative Gattung darstellt und das Leben Jesu erzählt. Auch die Redeweise Jesu selbst wiederum ist narrativ (Mt 13,3: „Und er redete vieles in 13 Unter dem „Autor“ wird im Folgenden stets der implizite Autor verstanden. Nähere Ausführungen dazu folgen im methodischen Teil der Arbeit; s.u. Kap. 3.2.1.1.

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Gleichnissen zu ihnen“). Bei genauerer Lektüre des Matthäusevangeliums zeigt sich, dass Jesus eine Sache häufig auf zweifache Weise lehrt: einmal anhand einer deliberativen Rede und einmal anhand einer Geschichte. So rät Jesus seinen Jüngern bspw. in seiner Rede auf dem Ölberg (Mt 24,3–26,2) zunächst zu einem bestimmten Verhalten in der Endzeit, indem er die realen Geschehnisse derselben schildert (Mt 24,4–31). Daran schließt er eine Sammlung fiktionaler Parabeln an (Mt 24,32–25,46), welche dieses Verhalten narrativ in Szene setzen. Hier stellt sich die Frage, welchen Mehrwert diese Erzählungen innerhalb der Lehre Jesu erbringen. Zu prüfen gilt es nun, welche Rolle der spezifisch emotionalen Wirkung der Parabeln beim Transport ihrer moralisch-ethischen Werte zukommt. Wie lenkt der Text die dezidiert emotive Textwirkung, um den Hörer zu fesseln, Identifikationsmöglichkeiten mit Figuren in der Geschichte zu eröffnen und ihn so in besonderer Weise „mitfiebern“ zu lassen, ihn direkt in die Erzählung einzubinden und ihn zu bestimmten Reaktionen zu veranlassen? Die drei ausgewählten Parabeln sind dabei besonders geeignet, um diese Aspekte anhand der erarbeiteten Methodik zu überprüfen: An ihrem reichen Figurenarsenal lässt sich der Rezeptionsprozess, für welchen die Unterscheidung zwischen Figuren- und Rezeptionsemotionen zentral ist, anschaulich nachvollziehen. Trotzdem verfügen diese Narrationen über zahlreiche weitere Elemente, anhand derer indirekt Emotionen vermittelt werden, und sich mögliche Emotionsauslöser wie Situationen und Geschehnisse, die Dimension des Raumes sowie die der Zeit gewinnbringend untersuchen lassen. Dabei wird deutlich, dass alle drei Parabeln eine besondere Beziehung zur Dimension der Zeit aufweisen, indem sie sich auf das Endgericht Gottes beziehen. Das Interesse an der eschatologischen Zukunft begegnet dabei keineswegs exklusiv in diesen Parabeln, sondern zieht sich durch das gesamte Matthäus-Evangelium. Daher muss gefragt werden, ob und wenn ja, welchen speziellen Zusammenhang Matthäus zwischen Emotionen, Zeit und Ethik eröffnet. Sodann werden die Ergebnisse der Textanalysen auf ihren Mehrwert hinsichtlich der Untersuchung der narrativen Ethik im Matthäus-Evangelium befragt (Kapitel 6). Hierzu werden die Ergebnisse über das matthäische Emotionsverständnis und deren ethische Relevanz sowie die verschiedenen emotionalen Mechanismen der Textrezeption im Hinblick auf die Vermittlung der ethischen Botschaft der analysierten Parabeln gebündelt. Die Frage, welcher Zusammenhang zwischen Emotionen und Ethik besteht und wie das Matthäus-Evangelium jene nutzt, um seinen ethischen Forderungen Gewicht zu verleihen, wird hier systematisch aufgerollt und erörtert. Des Weiteren wird der in den Parabelanalysen wiederkehrende, deutliche Bezug zur Zeit nochmals aufgenommen, näher beleuchtet und zusammenfassend dargestellt, wie die in den matthäischen Parabeln geweckten Emotionen mit der Zeitdimension zusammenhängen und welche Rolle diese in der narrativen Ethik des Matthäus spielt. Im Lichte dieser Untersuchungen können einige im theologi-

2. Ziele und Vorgehen

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schen Forschungsdiskurs bisweilen als problematisch angesehene Aspekte der matthäischen Ethik überprüft, diskutiert und gewürdigt werden.

Teil I: Grundlagen

Kapitel 1

Thematische Horizonte Was auch behaupte die Philosophie, trau dem Gefühl! Es täuscht dich nie. (Alfred von Sallet) Dieses einführende Kapitel eröffnet die verschiedenen wissenschaftlichen Horizonte der vorliegenden Studie. Betrachtet man die Rolle der Emotionen in frühchristlichen, narrativen Texten sowie der darin vermittelten ethischen Botschaft, resultiert daraus zunächst die Frage nach den wissenschaftlichen Voraussetzungen und Grundlagen einer solchen Untersuchung: Inwiefern werden Emotionen in den Wissenschaften, v.a. aber in der Theologie berücksichtigt? Welche analytisch-definitorischen Prämissen müssen für eine Beschäftigung mit der Thematik geleistet werden? Ein gezielter Überblick über die Erforschung von Emotionen auf relevanten Gebieten der Wissenschaft bildet den nötigen Ausgangspunkt, um das Anliegen dieser Arbeit sowohl sinnvoll orientierend einzuordnen und notwendige Abgrenzungen zu weiteren Forschungsfragen vorzunehmen, als auch ihren Mehrwert im Vergleich zu bisherigen Studien aufzuzeigen. Zugleich vermittelt das Kapitel erstes Grundlagenwissen und erläutert das methodische Vorgehen der Studie. In einem ersten Schritt erfolgt ein gezielter Forschungsüberblick über die Emotionsforschung, wobei der so genannte „emotional turn“ dargestellt wird, welcher ein angestiegenes Interesse an der Emotionsthematik auf vielfältigen Forschungsgebieten verzeichnet. Da ein umfassender Überblick über die verschiedenen Untersuchungen bezüglich der Emotionen auf den unterschiedlichen akademischen Gebieten den Rahmen dieser Arbeit zweifelsohne sprengen würde, wird der Fokus hier auf die für die vorliegende Studie maßgeblichen Forschungen gelegt. Der erste, interdisziplinäre Überblick beschränkt sich dabei außerdem hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum. Der zweite, auf die neutestamentliche Exegese zugespitzte Blick zeichnet die Entwicklungen bisheriger Forschungen zu Emotionen in der Bibel nach und erweitert dabei den Horizont in den englischsprachigen Raum. Der folgende Einblick in den Forschungsdiskurs zur mt Ethik spitzt den Fokus noch weiter zu und prüft, wie die vorliegende Fragestellung nach den

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Kap. 1: Thematische Horizonte

im Text vermittelten und ausgelösten Emotionen sowie der Untersuchungsgegenstand der parabolischen Ethik bisher in Forschungen zum Mt-Ev thematisiert werden. Dieser Überblick ist international angelegt und intendiert, Tendenzen der aktuellen theologischen Mt-Forschung aufzuzeigen, um auf deren Grundlage den weiterführenden Beitrag der vorliegenden Arbeit für die theologische Wissenschaft aufzuzeigen. Letztlich wird in diesem Kapitel eine erste Gegenstandsbestimmung vorgenommen, da auf einem so alltäglichen wie wissenschaftlich komplexen Gebiet wie dem der Emotionen eine Klärung des exakten Forschungsgegenstandes essentiell ist. Dafür werden sowohl wichtige Bestimmungen der Terminologie vorausgeschickt, Ein- und Abgrenzungen der relevanten Themenbereiche und Fragestellungen für diese Arbeit vorgenommen, als auch das wissenschaftliche Vorgehen für die folgenden Betrachtungen erläutert.

1. Der Emotional Turn: Einblick in ausgewählte Bereiche der Emotionsforschung 1. Der Emotional Turn

1.1 Das wachsende Interesse an Emotionen auf verschiedenen Forschungsgebieten Die intensive Beschäftigung mit Emotionen in verschiedenen Wissenschaftsbereichen ist im Grunde eine Frucht der Jahrtausendwende. Die Saat hierzu wird jedoch schon früher gesät:1 1980 tritt Klaus R. Scherer mit dem Appell Wider die Vernachlässigung der Emotion in der Psychologie vor den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, und Martha C. Nussbaum setzt sich in zahlreichen Arbeiten für die Rehabilitierung der Emotionen in der Philosophie ein.2 Seither wächst das Interesse an den Emotionen stetig an und führt sogar zu der Bezeichnung einer „emotionalen Wende“ in verschiedenen Kulturbereichen, welche Harald A. Euler und Heinz Mandl in ihrem Handbuch Emotionspsychologie verwenden.3 In Anlehnung an die verschiedenen Paradigmenwechsel in der Forschung, die heute mit dem englischen Begriff turn bezeichnet werden, spricht man gern vom „emotional turn“. Nach den Kriterien, die Doris Bachmann-Medick für das Vorliegen eines wissenschaftlichen turns anführt, ist ein solcher dadurch gekennzeichnet, dass er nicht eine fundamentale und revolutionäre Umorientierung in einer einzelnen Disziplin vollzieht, sondern eine neue Perspektive anbietet, die verschiedene Wissenschaften übergreift und bereits vorhandene Perspektiven einer

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Für den folgenden Überblick vgl. ANZ, Turn. NUSSBAUM, Fragility; dies., Gefühle; dies., Upheavals. 3 MANDL/EULER, Einleitung, 1. 2

1. Der Emotional Turn

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Einzeldisziplin ergänzt oder verstärkt.4 Sehr treffend konstatiert Klaas Huizing, dass sich dieser turn eine „stabile, länger als zwanzig Jahre währende Nachhaltigkeit […] erarbeitet [hat], der inzwischen auch im Alltagsdiskurs durch die Selbstkommentierung auf dem Handy mit mehr oder minder phantasievollen, mehr oder minder peinlichen emoticons heimisch wurde“5.

Diese konstante Beachtung hängt in erster Linie mit der zunehmenden Erforschung des menschlichen Gehirns zusammen. So nennen Achim Stephan, Professor am Institut für Kognitionswissenschaft an der Universität Osnabrück, und Henrik Walter, Oberarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, die vergangenen zehn Jahre eine „Dekade des Gehirns“ bzw. eine „Dekade der Emotionen“, „denn nie zuvor spielten Emotionen gleichzeitig in so verschiedenen Bereichen wie Philosophie, Psychologie, Medizin sowie den Neuro- und Kognitionswissenschaften eine derart wichtige Rolle“6. Wichtige emotionale Grundlagenforschung stammen u.a. von Jürgen H. Otto, Harald A. Euler und Heinz Mandl7 sowie Lothar Schmidt-Atzert, Martin Peper und Gerhard Stemmler8. Angestoßen durch den Vormarsch in den Naturwissenschaften, wächst die Popularität der Betrachtung von Emotionen dann auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Dass dies allzu lange nicht der Fall war, fasst Eva Labouvie wie folgt zusammen: „Fragen nach dem Zusammenwirken von Leib und Seele, Psyche und Soma, Denken, Fühlen und Agieren wurden in den letzten Jahren nicht zuletzt ausgelöst durch Diskussionen in Kognitions- und Neurowissenschaften, Biologie und Informatik um die ‚emotionale Intelligenz‘, die ‚Koevolution von Rationalität und Emotionalität‘ und deren Anbindung an physiologische Impulse und Reize. In den Geistes- und Kulturwissenschaften hatten Gefühle lange nichts zu suchen, gehörten, weil nicht zum Intellekt und zur Ratio zählend, entweder in die Nähe der ‚archaischen Instinkte‘ oder zum unantastbaren Gegenstand der Humanwissenschaften. Forschung sollte emotionsfrei, der Forscher über jede subjektive Projektion erhaben sein, Subjekt-Objekt-Trennung bestimmte sowohl Theorie, Habitus wie Inhalte.“9

In den letzten Jahrzenten ist ein gestiegenes Interesse an den Emotionen und ihrer Rolle in Anthropologie, Soziologie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaften, Kunstgeschichte und nicht zuletzt auch in der Theologie zu verzeichnen. Der folgende Einblick in diese Forschungsbereiche soll keinen Versuch darstellen, einen Überblick über die unermessliche Publikationsliste der sich 4

BACHMANN-MEDICK, Turns, 7–27. HUIZING, Scham, 27. 6 ANZ, Turn, 2. 7 OTTO/EULER/MANDL, Emotionspsychologie. 8 SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie. 9 LABOUVIE, Leiblichkeit, 82. 5

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Kap. 1: Thematische Horizonte

mit Emotionen befassenden Arbeiten zu geben, sondern gezielt solche aufzunehmen, welche in den kommenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit von Bedeutung sein werden.10 Das diachrone, kulturwissenschaftliche Interesse an etwaigen Entwicklungen und Transformationen von Emotionen wächst stetig an: Arbeiten dazu liegen u.a. von Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel11, Hilge Landweer und Ursula Renz12 sowie Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten13 vor. Im Sammelband der drei zuletzt genannten Literaturwissenschaftlerinnen Emotionalität – Zur Geschichte der Gefühle widmet sich bspw. Hermann Schmitz der Frage, wie in der Antike mit Emotionen umgegangen werden sollte und zeichnet darin bestimmte Entwicklungen nach, wobei er auf die Frage fokussiert, ob Emotionen als eine dem Menschen innewohnende und daher kontrollierbare oder ihn von außen überfallende Macht wahrgenommen wurden.14 Über die Frage nach dem sich wandelnden Emotionsverständnis der Antike gibt auch der von Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel herausgegebene Sammelband Pathos, Affekt, Emotion sowohl bezüglich allgemeiner Entwicklungen als auch gezielter Studien zu Einzelemotionen Aufschluss.15 Rasch folgende synchrone, literaturwissenschaftliche Ansätze, die den Emotionen in Texten mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen, bringen lange Zeit unbeachtet gebliebene Begriffe wie „Empathie“, „Einfühlung“ oder „Emotionalisierung“ wieder auf und behandeln sie zentral. Wie Katja Mellmann in ihren Arbeiten immer wieder betont, wirken Geschichten und Literatur als „emotionale Attrappen“.16 Diese Emotionalität gilt es zu beachten und gezielt zu analysieren, will man eine Narration vollkommen verstehen. Weitere bedeutende Arbeiten der Literaturwissenschaft sind u.a. der von Ulrich Mees verfasste Band über Die Struktur der Emotionen17, Kathrin Fehlbergs Forschung zu Gelenkte[n] Gefühle[n] in Werken von Arthur Schnitzler, die im Zuge dessen eine allgemeine Methodik der Textuntersuchung vorlegt18, Magdalene Konstantinidous Untersuchungen zum Zusammenhang

10 Die folgenden Forschungsüberblicke berücksichtigen nur Monographien. Freilich beschäftigen sich noch zahlreiche Aufsätze in kleinerem Rahmen mit der Thematik der Emotionen, doch ist hier nicht der nötige Raum, um diese ebenfalls vorzustellen. 11 HARBSMEIER/MÖCKEL, Gefühle; dies., Pathos. 12 LANDWEER/RENZ, Handbuch. 13 BENTHIEN/FLEIG/KASTEN, Emotionalität. 14 SCHMITZ, Verwaltung. 15 HARBSMEIER/MÖCKEL, Pathos. 16 MELLMANN, Emotionalisierung; dies., Gefühlsübertragung; dies., Emotionsforschung. 17 MEES, Struktur. 18 FEHLBERG, Gefühle.

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zwischen Sprache und Gefühl19 und Verena Barthels Studien über Empathie, Mitleid, Sympathie20. Eine wichtige Unterscheidung unternimmt Silke Jahr in ihrer Arbeit über Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten, in der sie konstatiert, dass bei „der Analyse der Emotionalität von Texten […] also grundsätzlich zwischen der Schreiber- und der Leserperspektive zu unterscheiden“ ist, und sie „referiert nur auf die Emotionen des Textproduzenten“21. Sie zeigt eindrücklich, dass selbst Sachtexte nie frei von emotiven Elementen sind und solche stets zu beachten und analysierbar sind.22 Sodann unterscheidet auch Simone Winko in ihrer Monographie über Kodierte Gefühle zwischen produktions-, rezeptions-, text- und kontextbezogenen Ansätzen in der Literaturwissenschaft.23 Das Problem der Subjektivität der Emotionen löst sie durch so genanntes „Kode-Wissen“ über Emotionen, das Autoren und Lesern partiell gemeinsam sei und dadurch emotionale Kommunikation ermögliche. Es umfasse u.a. das Wissen über „prototypisch emotionale Handlungen und Situationen“: Es gehöre zu den literarischen Grundtechniken, dass Autoren ihre Rezipienten bestimmte Situationen imaginierend durchspielen ließen, die, anknüpfend an persönliche Erinnerungen vergleichbarer Situationen und erlernte oder instinktiv verankerte Reaktionsmuster, bestimmte Emotionen auslösten. Dieses Kode-Wissen ist dem Ansatz des Philosophen Ronald de Sousas ähnlich, der, von der Psychoanalyse angeregt, das Konzept der „Schlüsselszenarien“ („paradigm scenarios“) bestimmter Emotionen entwickelte.24 Ein narratologisches Konzept der Emotionsanalyse in Texten, welches ebenso auf solche Szenarien zurückgreift, entfaltet eine Monographie von Christiane Voss über Narrative Emotionen.25 Darüber hinaus belegen etliche Beschäftigungen mit Emotionen in Text und Film den emotional turn: Henrike F. Alfes beschäftigt sich mit Literatur und Gefühl im Allgemeinen.26 Fritz Breithaupt setzt sich in Kulturen der Empathie mit den während der Rezeption von Narrationen ablaufenden Prozessen der Empathie und Identifikation auseinander.27 Filmstudien legen Jens Eder mit Werken wie Die Wege der Gefühle. Ein integratives Modell der Anteilnahme an Filmfiguren28 oder Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse29, Matthias Brütsch mit seinem Band über Kinogefühle. Emotio19

KONSTANTINIDOU, Sprache. BARTHEL, Empathie. 21 JAHR, Emotionen, 17. 22 Vgl. a.a.O., 231–234. 23 WINKO, Gefühle. 24 DE SOUSA, Rationality. 25 VOSS, Emotionen. 26 ALFES, Literatur. 27 BREITHAUPT, Kulturen. 28 EDER, Wege. 29 Ders., Figur. 20

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nalität und Film30 sowie Dirk Ryssels und Hans J. Wulffs Affektsteuerung durch Figuren31 vor. Besonders spannend für die vorliegende Arbeit ist die weiterführende Arbeit von Hans Wulff, der die emotionale Lenkung des Zuschauers im Film untersucht und dabei den besonderen Konnex zwischen Emotionen und Ethik thematisiert.32 Und auch in der Philosophie wächst die Beschäftigung mit den Emotionen durch Arbeiten wie die von Paola-Ludovika Coriando33, Anthony Hatzimoysis34, Johannes Fischer35 oder Ronald de Sousa36 beständig an. Ein umfassender Sammelband stammt von Sabine A. Döring, welcher inzwischen bereits in der dritten Auflage vorliegt und in historisch-systematischen Einzelstudien die Philosophie der Gefühle näher beleuchtet.37 Dabei werden verschiedene philosophische Forschungsmeinungen präsentiert, welche den Fragen nachgehen, was Emotionen überhaupt sind; wie sie phänomenologisch zu fassen sind; welchen Objektbezug sie aufweisen; inwiefern Emotionen auch kognitive Anteile haben; wie ihre Untersuchung in empirischen Wissenschaften einen Beitrag zur philosophischen Beschäftigung leisten kann und wie sie mit Werten sowie dem Handeln zusammenhängen. Ein weiterer, gleichnamiger philosophischer Band stammt von Christoph Demmerling und Hilge Landweer.38 Dieser ist stärker phänomenologisch ausgerichtet und behandelt nach einer Darstellung ausgewählter philosophischer Ansätze (Jon Elster; Martha Nussbaum; Richard Wollheim; Peter Goldie; Robert Musil) zur Erklärung von Gefühlen nacheinander die einzelnen Emotionskomplexe Achtung/Anerkennung; Angst; Ekel; Glück/Freude; Liebe; Mitgefühle; Neid/Eifersucht; Scham/Schuldgefühl; Stolz; Traurigkeit/Melancholie und Zorn/Aggressionsaffekte. 1.2 Emotionen und die neutestamentliche Exegese Schließlich bildet sich der emotional turn auch in der theologischen Wissenschaft ab, wenn sich auch mit Klaas Huizing konstatieren lässt, dass die Theologie sich „merklich verspätet […] innerhalb der Wissensgemeinschaft wieder auf die Gefühle besonnen“ und dabei häufig einseitig „reflexhaft auf die Liebe gesetzt“ hat.39 Den englischsprachigen Raum der Exegeseforschung 30

BRÜTSCH, Kinogefühle. RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung. 32 Vgl. WULFF, Moral. 33 CORIANDO, Affektenlehre. 34 HATZIMOYSIS, Philosophy. 35 FISCHER, Menschenwürde; ders., Ebenen; ders., Dimension. 36 DE SOUSA, Rationality; ders., Rationalität. 37 DÖRING, Philosophie. 38 DEMMERLING/LANDWEER, Philosophie. 39 HUIZING, Scham, 131. 31

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betreffend, drückt es die britische Neutestamentlerin Katherine Hockey ganz ähnlich aus: „Emotions have been sidelined in interpretation, deemed universal, irrational, bodily, subjective, chaotic, even feminine or childish, and thus of little value to serious exegetical endeavors. However, progress in the field of emotion studies has questioned this outdated perspective.“40

Und der US-amerikanische neutestamentliche Exeget Franklin Scott Spencer bemerkt kritisch über seine eigene Forschungsdisziplin: „As a notoriously conservative field with a tendency to hole up in tight pockets of interest within its own discipline and even more isolated from other areas of inquiry, academic biblical studies remained largely immune from the scholarly emotion contagion – until the last several years.“41

Auch an dieser Stelle kann der folgende Forschungseinblick weder umfassend noch gleichermaßen detailliert ausfallen. Ziel ist es, die vorliegende Arbeit in die bisherige Forschung einordnen und ihren Mehrwert beurteilen zu können. Daher wird der Überblick fokussiert auf die Beschäftigung mit Emotionen aus Perspektive der neutestamentlichen Exegese, obgleich freilich einige der genannten Arbeiten darüber hinaus gehen. Es wird ein grundsätzlich chronologisch geordneter Überblick über die Entwicklungen der neutestamentlichen Exegese gegeben, wobei einzelne Ansätze und der abschließende Einblick in die Evangelienforschung, die von besonderem Belang für diese Arbeit sind, genauer betrachtet werden. Besonderes Augenmerk wird dabei stets auf die für diese Arbeit relevanten Aspekte gelegt, wie den Zusammenhang zwischen Emotion und Ethik sowie Narrationen und methodische Beobachtungen. Letztere sollen an dieser Stelle jedoch nur gestreift werden, denn ein detaillierter Forschungsüberblick über die Beachtung von Emotionen in exegetischen Methodenhandbüchern wird noch an gegebener Stelle folgen.42 1.2.1 Annäherungen des 20. Jahrhunderts Dennoch kommen emotionsinteressierte Forschungen in der Theologie nicht erst in jüngster Zeit auf. Im deutschsprachigen Raum sind bereits frühere „Wellen“ des theologischen Interesses an Emotionen bzw. an der Psychologie beachtenswert: Den first approach leitet die liberale Theologie ein, die mit Ansätzen von Martin Dibelius, Albert Schweitzer, Carl Schneider und Karl Iver Madsen erstmals versucht, die historisch-kritische Methode unter Aufnahme psycho-

40

HOCKEY, Emotion, 332. SPENCER, Feel, 2. 42 S.u. Kap. 3.1. 41

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logischer Erkenntnisse zu erweitern.43 Diese erste Welle ebbt nach einiger Kritik durch Rudolf Bultmann, der dem Ansatz Psychologismus vorwirft, wieder für einige Zeit ab.44 Ein second approach wird in den 1960er Jahren unternommen, als die Sozialwissenschaft das Thema der Psychologie mit spezifischen Ansätzen wie Tiefenpsychologie, Psychoanalyse, humanistischer und transpersonaler Psychologie sowie Sozialpsychologie wieder ins Rampenlicht der Forschung rückt.45 Theologen wie Kurt Niederwimmer und Hanna Wolff versuchen die Bibel für die Erschließung des menschlichen Unterbewusstseins existentiell zu applizieren.46 Doch auch hier folgt Kritik, welche diesen Ansätzen einen anachronistischen Anspruch vorwirft, auf dem Fuß.47 Der third approach erfolgt schließlich in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Exegeten wie Eugen Drewermann und Gerd Lüdemann machen psychologische Fragestellungen wieder prominent: Ersterer, indem er die psychoanalytische, Letzterer, indem er die liberal-historische Exegese fortführt.48 Obschon sehr umstritten, werden deren Ansätze in den folgenden Jahren in ihrem Anliegen aufgenommen und weitergeführt, was wiederum in neuen Arbeiten, etwa von Walter Rebell, Gerd Theißen, Martin Leiner und Michael Reichardt resultiert.49 Seither werden psychologische Aspekte in der Bibelauslegung sowie die Frage, inwieweit moderne Forschungen auf sie methodisch angewandt werden sollten und welchen Mehrwert die daraus hervorgehenden Erkenntnisse für die Textauslegung erbringen, stetig behandelt. Da sie einige für diese Studie interessante Aspekte aufwerfen, sollen hier die Ansätze Eugen Drewermanns und Martin Leiners exemplarisch genauer betrachtet werden: (1) Eugen Drewermann betont bereits 1985 die Bedeutung der Emotionen für die Exegese: In seinem zweibändigen Werk Tiefenpsychologie und Exegese erarbeitet er eine psychoanalytische Textauslegung für Träume, Mythen, Märchen, Sagen, Legenden sowie biblische Texte.50 Sein psychoanalytischexistenzialphilosophischer Ansatz postuliert, dass solche archetypischen Erzählungen zur Selbstfindung des Menschen, zur Angstüberwindung der 43

Vgl. DIBELIUS, Selbstzeugnis; SCHWEITZER, Kritik; SCHNEIDER, Erlebnisechtheit; MADSEN, Parabeln. 44 Vgl. LEINER, Exegese, 149. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. NIEDERWIMMER, Jesus; WOLFF, Jesus. 47 Vgl. LEINER, Exegese, 150. 48 Vgl. DREWERMANN, Tiefenpsychologie I und ders., Tiefenpsychologie II; LÜDEMANN, Auferstehung. 49 Vgl. REBELL, Gehorsam; THEIßEN, Aspekte; LEINER, Exegese; REICHARDT, Erklärung. 50 DREWERMANN, Tiefenpsychologie I; ders., Tiefenpsychologie II.

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Seele und zur Versöhnung und Auflösung von Schuldgefühlen beitragen sollen.51 In hermeneutischer Hinsicht versucht er, den Verstehensprozess tiefenpsychologisch in seinen irrationalen und emotionalen Ebenen zu erarbeiten, und stellt sich damit dem Rationalismus der historisch-kritischen Exegese entgegen.52 Das bewusste Wahrnehmen der emotionalen Reaktion des Rezipienten auf einen Text ist bei dieser Art der Texterschließung ein zentraler Punkt.53 Die bewusste Verarbeitung der eigenen Reaktionen auf die Geschichte solle einen Erkenntnisprozess über sich selbst sowie über die Welt und Gott in Gang setzen, mittels dessen emotionale Katharsis eintrete und persönliches sowie religiöses Wachstum jenseits von drohenden Forderungen ermöglicht werde.54 In dieser Hinsicht interessant seien v.a. die Gerichtsgleichnisse Jesu, die bewusst die Angst heraufbeschwörten, „um in der höchsten Steigerung der Angst zu lehren, dass nur das Vertrauen und die Liebe bedingungslos und absolut sein können – und müssen, wenn es um Gott geht“55. Häufig vorgebrachte Kritik am dezidiert therapeutischen Ansatz Eugen Drewermanns wirft ihm hinsichtlich seiner Berechtigung des Anspruches an biblische Texte vor, die historische Situation hinter den Texten unzureichend zu beachten.56 Darüber hinaus scheint er m.E. die Befreiung von Angst als das übergeordnete Ziel aller biblischen Texte allzu stark zu verabsolutieren.57 Gerade im Hinblick auf das Mt-Ev ist zu prüfen, ob das Ziel einer Angstbefreiung in den Texten stets erkennbar ist. Sehr zu Recht aber weist er auf die Stärke biblischer Narrationen hin, welche in der Verinnerlichung des Geschehens aufseiten des Rezipienten liege, und „wie notwendig es ist, sich in die Gefühlswelt der handelnden Person hineinzuversetzen, um den Sinn eines Gleichnisses zu verstehen“58. Dadurch werde ein ganzheitliches und somit tieferes Verstehen initialisiert, das über hohe persuasive Performanz verfüge, welche maßgeblich emotional vermittelt werde59: „Die Gleichnisse wollen also belehren und überzeugen, aber sie können es nicht mit intellektuellen Argumenten, da die Fragen, Probleme und Streitpunkte, auf die sie antworten, nicht im intellektuellen, sondern im emotionalen, bzw. existentiellen Bereich liegen.“60 Diese Beobachtungen werden auch für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung sein und es kann Eugen Drewermann an 51

Vgl. a.a.O., 754–759. Vgl. a.a.O., 18–21. 53 Vgl. ders., Tiefenpsychologie I, 385. 54 Vgl. ders., Tiefenpsychologie II, 757 f. 55 A.a.O., 734. 56 Vgl. LEINER, Psychologie, 295; KÄHLER, Gleichnisse, 57–61; VOGT, Angst, 14 f. 57 Vgl. diesbezüglich auch die Kritik von Thea Vogt (a.a.O., 15). 58 DREWERMANN, Tiefenpsychologie II, 716. 59 Vgl. a.a.O., 725–734. 60 A.a.O., 725 (Hervorhebung im Original). 52

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dieser Stelle durchaus zugestimmt werden, wenn er Parabeln als „Meisterstück[e] der Psychologie“ bezeichnet61. (2) Zehn Jahre später veröffentlicht Martin Leiner seinen Band über Psychologie und Exegese.62 Hier will er zeigen, „was gegenwärtige Psychologie zum Verständnis der neutestamentlichen Texte in ihrem historischen Kontext beitragen kann“63. Diese detaillierte Auseinandersetzung betrifft freilich nicht einzig das Feld der Emotionen, sondern den gesamten Bereich der Psychologie und will vielmehr eine grundlegende Verhältnisbestimmung zwischen Psychologie und Theologie für eine Verteidigung der psychologischen Bibelauslegung vornehmen und als konkrete Methoden für die Exegese anbieten. Dabei arbeitet er bisherige psychologische Ansätze der Bibelauslegung systematisch auf und setzt sich auch mit solchen auseinander, die psychologische Zugänge zur Exegese dezidiert ablehnen.64 Danach kommt er zu dem Schluss, dass jede Exegese über eine wenigstens implizite Psychologie verfüge und es im Interesse der Wissenschaftlichkeit sei, diese explizit zu machen.65 Dann könne eine durchaus fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Psychologie und Exegese dazu beitragen, erstens eine Einführung psychologischer Methoden in die exegetische Textauslegung zu diskutieren, zweitens eine Psychologie des Urchristentums zu eruieren und drittens die bisher üblichen Methoden psychologisch zu überarbeiten und auszubauen.66 Während er die ersten beiden Konsequenzen in seiner Arbeit bespricht, „werden die neuen Möglichkeiten der Textauswertung anhand von der Psychologie entwickelter Methoden noch nicht behandelt“67. Diesem Ziel verschreibt sich die vorliegende Studie, indem sie eine Methode zur Analyse des emotionalen Rezeptionsvorgangs anhand emotionspsychologischer Forschungen erarbeitet. 1.2.2 Exegetische Emotionsforschungen im 21. Jahrhundert Martin Leiners Ansatz wird erst zwölf Jahre später in dem von Gerd Theißen und seiner Schülerin Petra von Gemünden 2007 herausgegebenen Sammelband zum Thema Erkennen und Erleben im Urchristentum fortgeführt.68 Darin beschreiten die Herausgeber den Pfad der Historischen Psychologie, der einen psychologischen Zugang zu den Texten des NT für die historische Erarbeitung des Erlebens und Verhaltens der frühen Christen postuliert, ohne dabei auf den Mehrwert, den dazu moderne psychologische Forschung beizu61

A.a.O., 731. LEINER, Psychologie. 63 A.a.O., 13. 64 Vgl. a.a.O., 41–76.119–234. 65 Vgl. a.a.O., 310. 66 Vgl. a.a.O., 243. 67 Ebd. 68 THEIßEN/VON GEMÜNDEN, Erkennen. 62

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steuern vermag, zu verzichten.69 Wie schon der Band Martin Leiners ist auch dieser dabei nicht auf Emotionen fokussiert, sondern interessiert sich für psychologische Fragen im Allgemeinen. Doch widmet sich ein Teil des Bandes mit drei Aufsätzen mit dezidiert emotionsbezogenen Fragestellungen.70 2009 folgt Petra von Gemünden mit einem Band Affekt und Glaube, der in verschiedenen Aufsätzen den Zusammenhang zwischen Emotion und Lebenswandel im Glauben untersucht.71 Sie stellt dabei eine individual- sowie sozialethische Relevanz von Emotionen fest.72 Sie beschreitet dabei methodisch den von Gerd Theißen bereits begonnenen Weg der Historischen Psychologie, die den unterschiedlichen kulturellen Einflüssen auf die Betrachtung und den Ausdruck von Emotionen in konkreten Texten Rechnung trägt, indem nach dem Emotionsverhalten in der jeweiligen Zeit gefragt wird, und gleichzeitig die Auslegung mittels moderner Psychologie bereichert.73 Dafür sei zwar eine konsequente Trennung von Exegese und Applikation notwendig, die das historische Interesse am Text nicht mit einem anachronistischen Anspruch verfremde.74 Beachte man jedoch diesen Vorbehalt, eigne sich der Ansatz der Historischen Psychologie aber überaus gut, „den biblischen Text als ein Zeugnis einer anderen Sprache, Kultur und Zeit ernst zu nehmen, in der das menschliche Erleben und Verhalten uns oft sehr fremd ist.“75 Besonders interessant sind an dieser Stelle ihre methodischen Ausführungen am Beispiel der Trauer.76 Sie nennt hier sieben Ansatzpunkte: zunächst wird sich den Begriffen aus wortsemantischer und linguistischer Perspektive genähert, indem verschiedene Termini für eine Emotion verglichen, ihre Ursprünge geprüft und syntaktische Besonderheiten betrachtet werden. Sodann wird die Gattung beachtet und gefragt, inwiefern Emotionen in bestimmten Textgattungen unterschiedlich ausgedrückt werden. Im nächsten Schritt kommt die Ethnologie in den Blick, indem Riten und Zermonien auf ihre Emotionskultur hin betrachtet werden. Daran schließt sich eine ikonographische Untersuchung.77 Auch die Genderforschung und etwaige geschlechterspezifische 69

Vgl. a.a.O., 9–11. Vgl. a.a.O., 249–318: Petra von Gemünden, Affekte und Affektkontrolle im antiken Judentum und Urchristentum (a.a.O., 249–269); Anke Inselmann, Affektdarstellung und Affektwandel in der Parabel vom Vater und seinen beiden Söhnen (a.a.O., 271–299); Kristina Wagner, Das interaktive Gewissen bei Paulus (a.a.O., 301–318). 71 VON GEMÜNDEN, Affekt. 72 Vgl. a.a.O., 8. 73 Vgl. dies., Überlegungen, 31–33. 74 Vgl. a.a.O., 33. 75 Ebd. 76 Vgl. a.a.O., 17–31. 77 An dieser Stelle sei auf den 2017 von Sara Kipfer herausgegebenen Sammelband verwiesen, der umfangreich die Darstellungen von Emotionen im Alten Orient erarbeitet (vgl. Dies., Emotions), während für das nähere Umfeld des Neuen Testaments eine solche Arbeit m.W. noch aussteht. 70

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Unterschiede im Ausleben emotionaler Zustände findet Beachtung. Schließlich wird die Diskursgeschichte in den Fokus genommen und verschiedene, sich mitunter sogar widersprechende Ansichten zueinander in Beziehung gesetzt. All diese Punkte sind nach Petra von Gemünden noch erweiterbar, etwa um archäologische, geographische Erkenntnisse. Die Zusammenschau all dieser Betrachtungen soll einen möglichst umfassenden Überblick über eine antike Emotion geben, wenn die Autorin auch betont, dass diese Quellen fragmentarisch und alle darauf fußenden Aussagen in ihrer Geltung somit begrenzt bleiben. Wollen historische Erkenntnisse über das antike Gefühlsleben gewonnen werden, ist dieses Vorgehen ohne Zweifel ein vielversprechendes und methodisch greifbares. Solche Untersuchungen sind aber nicht nur um ihres historischen Erkenntniswerts willen wertvoll, sondern können ferner genutzt werden, um auf ihrer Grundlage weitere Aussagen, bspw. über die emotionalen Wirkungen eines Textes, wie sie in der vorliegenden Studie angestrebt sind, zu treffen. Ein solches Interesse verfolgt der Band Petra von Gemündens jedoch nicht, der nach diesen Ausführungen verschiedene Umgänge mit Emotionen bei Philo von Alexandrien, in 4 Mac, im Mt-Ev und Joh-Ev, im Brief des Paulus an die Römer, im Jakobusbrief sowie im Hirt des Hermas untersucht.78 Es folgen zunehmend umfassendere Studien zu Einzelemotionen. Sammelbände mit einem solchen Anliegen gehen dabei meist über den neutestamentlichen Rahmen hinaus. So nähert sich etwa der von Ingolf Dalferth und Andreas Hunziker 2007 herausgegebene Band Mitleid der Emotion von sozialwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Perspektive aus.79 Eine dezidiert exegetische Perspektive dagegen weisen die beiden Arbeiten Anke Inselmanns über die Freude im Lk-Ev sowie im Philipperbrief auf.80 Der 2018 von Alexandra Grund-Wittenberg und Ruth Poser herausgegebene Sammelband über Die verborgene Macht der Scham geht zwar ebenso rein exegetisch vor, ist dabei jedoch mit nur zwei neutestamentlichen (paulinischen!) Beiträgen größtenteils alttestamentlich ausgerichtet.81 Auch im englischsprachigen Raum erscheinen erst im 21. Jahrhundert vermehrt exegetische Emotionsforschungen, die an dieser Stelle chronologisch recht passend eigeordnet werden können. Denn obgleich angestoßen von Silvan Tomkinsʼ affect theory82 und Arbeiten wie denen von Carroll Izard und Paul Ekman vorangetrieben83, konzentrierten sich Forschungen dort

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Vgl. VON GEMÜNDEN, Affekt, 55–328. DALFERTH/HUNZIKER, Mitleid. 80 INSELMANN, Freude; dies., Affekt. 81 GRUND-WITTENBERG/POSER, Macht. 82 Die affect theory ist freilich nicht gleichzusetzen mit Sigmund Freuds Affekttheorie. Vgl. TOMKINS, Affect I–III. 83 Vgl. bspw. IZARD, Psychology; EKMAN, Gefühle. 79

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bis 2010 stark auf das Alte Testament.84 Ausnahmen sind Matthew Elliotts und Stephen Voorwindes Arbeiten zu Emotionen in den Evangelien, und Thomas H. Olbrichts sowie Jerry L. Sumneys 2001 herausgegebener Band über Paul and Pathos.85 Danach nimmt die Beschäftigung mit der Thematik mehr und mehr zu. Auch hier begegnen Studien zu spezifischen, für den christlichen Glauben zentralen Emotionen wie Eros and the Christ: Longing and Envy in Paul’s Christology von David E. Fredrickson und How Repentance Became Biblical von David A. Lambert.86 Ein weiterer, weniger zugespitzter Zugang zu Emotionen erfolgt bisweilen in größer angelegten Studien über biblische Hermeneutik, wie bspw. in Gary Selbys 2016 erschienenen Band über Nonrational persuasion in the New Testament, welcher sich der Rolle der Emotionen in der nicht-rationalen Argumentation und Rhetorik paulinischer Briefe widmet.87 Insgesamt betrachtet jedoch, werden die Beiträge der neutestamentlichen Emotionsforschung in diesem Kontext vorwiegend in Form von Artikeln statt umfangreicher Monographien vorgelegt.88 In dieser Weise enthält auch der 2017 erschienene Sammelband Mixed Feelings and vexed Passions, der im Rahmen der Society of Biblical Literature erarbeitet wurde, halb und halb Aufsätze zu Emotionen in alt- sowie neutestamentlichen Schriften.89 Aufgrund seiner breiten Perspektive ist er für die vorliegende Studie besonders interessant: Zwar bietet der Band, wie die meisten Sammelbände, keinen übergreifenden methodischen Zugang. Vielmehr drückt es David Konstan im Nachwort sehr treffend aus: „These essays offer richly detailed studies of various sentiments and represent a refreshing variety of approaches. Taken together, they skilfully show what can be done in the study of biblical emotions – and point to what still remains to be done.“90

Diese Vielfalt der Perspektiven und Zugänge ist jedoch durchaus gewollt und es betont F. Scott Spencer zu Anfang, dass allen Beiträgen lediglich „a consensus strategy“ zugrunde liege, welche zum einen terminologischtaxonomische Fragen verfolge, die biblischen Gattungen berücksichtige, dabei interkulturelle Unterschiede beachte und methodisch interdisziplinär vorgehe.91 Dieses Vorgehen erinnert stark an das der oben genannten Historischen Psychologie. Die vier Fragen sind der gemeinsame Bezugspunkt aller Beiträge des Bandes, welche sich aber stets einer oder mehrerer gezielter Emotionen in ausgewählten Texten widmen und diese methodisch aus einer 84

Vgl. den Überblick bei SPENCER, Feel, 2, Anm. 5. ELLIOTT, Feelings; VOORWINDE, Jesus; OLBRICHT/SUMNEY, Paul. 86 FREDRICKSON, Eros; LAMBERT, Repentance. 87 SELBY, Wisdom. 88 Vgl. dazu die Angaben bei SPENCER, Feel, 4–33. 89 Ders., Feelings. 90 KONSTAN, Afterword, 370. 91 SPENCER, Feel, 3. 85

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bestimmten Forschungsrichtung (etwa der Linguistik, der Philosophie oder der Psychologie) angehen. So nähert sich der Beitrag Michal B. Dinklers bspw. der Freude im Lk-Ev aus dezidiert narratologischer Perspektive92, welche ebenso für die vorliegende Studie maßgeblich sein wird.93 Auch ihre Beobachtungen zur Besonderheit von Emotionen in Narrationen werden noch aufzugreifen sein.94 Überdies ist ein reizvoller Aspekt des Sammelbands, dass er an einigen Stellen über ein rein theoretisches Interesse an den Emotionen hinausgeht. So wirft bspw. Matthew R. Schlimm in seinem Aufsatz dezidiert die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Emotionen und biblischer Ethik auf und illustriert diese an den Emotionen des Ärgers, der Furcht und der Liebe.95 Er resümiert entsprechend: „Biblical emotion matters deeply to the world we inhabit. The nature of the biblical God, what biblical texts portray as driving human behavior, and what the general populace thinks about the Bible are matters of highest significance. By investing time and energy into the dynamics of biblical emotions, interpreters can achieve key advances in the fields of biblical theology and biblical ethics.“96

Seine Beobachtungen hinsichtlich der Furcht, welche im biblischen Kontext sowohl positiv gewürdigt als auch negativ bewertet werde und daher ethisch von besonders ambivalenter Bedeutung sei97, werden in Teil III der vorliegenden Studie für das Mt-Ev zu bestätigen und noch genauer zu untersuchen sein. Auch weitere Aufsätze des Bandes nehmen die ethische Valenz verschiedener Emotionen in den Blick.98 All diese Arbeiten zeigen auf, dass sich die Erforschung der Emotionen der Exegese zwar immer stärkeren Interesses erfreut, dennoch muss bemerkt werden, dass sie noch immer weitgehend in den Kinderschuhen steckt. In der Theologie wird hier ein Umstand ersichtlich, der sich letztlich für alle Bereiche der Emotionsforschung bestätigen ließe: Die Beschäftigung mit dem Thema der Emotionen ist eine unter so vielfältigen Blickwinkeln mögliche, dass sie meist nur unter ganz gezielter Fragestellung angegangen wird. So liegen einige, systematische Studien zu einzelnen Emotionen sowie den Emotionstheorien einzelner Philosophen vor, während Überblickswerke zum all-

92

Vgl. DINKLER, Reflexivity, 265–286. S.u. Kap. 3.2.2. 94 S.u. Kap. 2.4.4.2. 95 Vgl. SCHLIMM, Role, 43–59. 96 A.a.O., 58. 97 Vgl. a.a.O., 53 f. 98 Vgl. bei SPENCER, Feelings: Deena Grant, A Prototype of Biblical Hate: Joseph’s Brothers (Genesis 37), 61–75; Samuel E. Balentine, God and the ‘Happiness Formula’: The Ethos and Ethics of Happiness, 197–215; David E. Fredrickson, When enough is never enough: Philosophers, Poets, Peter, and Paul on Insatiable Desire, 311–330. 93

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gemeinen Verständnis der Emotionen in verschiedenen Epochen selten sind.99 Dieses Bild ergibt sich auch für das Neue Testament. Grundlegend ist festzustellen, dass die Beschäftigung mit Emotionen hauptsächlich in Form von Aufsätzen geschieht oder sich nur bestimmten Einzelemotionen widmet, während Monographien zum Thema kaum zu finden sind. Noch schwieriger wird die Suche nach einer gezielten Untersuchung der Bedeutung der Emotionen für die narrative Ethik. Methodisch schlägt sich die große Vielfalt der Forschungsperspektiven in unterschiedlichsten Herangehensweisen nieder. Oftmals werden Methoden aus der Emotionspsychologie, der Philosophie oder Literaturwissenschaft übernommen. Bei den grundsätzlicher angelegten theologischen Auseinandersetzungen mit der Psychologie begegnen zwei grundsätzliche Ansatzpunkte, von denen der eine den wissenschaftlichen Ausbau der historisch-kritischen Methode verfolgt und der andere einen psychologischen Paradigmenwechsel anstrebt, der den Blick auf biblische Texte vollständig existentiell-applikativ ausrichtet.100 In der Forschung der letzten Jahre ist eine klare Tendenz in Richtung des ersten Ansatzes erkennbar, dessen Anliegen es ist, das Erleben und Verhalten der frühen Christen aus den biblischen Texten zu eruieren, deren psychologische Wirkungen auf die Leser zu analysieren und diese Erkenntnisse für die Auslegung fruchtbar zu machen.101 Es muss jedoch noch immer konstatiert werden, dass sich bisher keine systematisch erarbeitete exegetische Methode mit übergreifendgrundlegendem Anspruch hervortut, mit der in neutestamentlichen Texten sowohl geschilderte als auch evozierte Emotionen untersucht werden können.102 1.2.3 Emotionen in der Evangelienforschung Da sich diese Studie dem Mt-Ev widmet, sind freilich solche Untersuchungen besonders interessant, welche sich mit den Emotionen in den Evangelien beschäftigen. Welche Vorarbeit hier bereits geleistet wurde, soll daher an dieser Stelle etwas ausführlicher betrachtet werden. Dabei fällt zunächst auf, dass diese bisher nur sehr vereinzelt in den Blick genommen werden.103 Bei 99 Eine Ausnahme ist das Handbuch Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein von Hilge Landweer und Ursula Renz, das einen sehr guten Überblick über die Entwicklung der Emotionen in der Philosophie leistet (vgl. LANDWEER/RENZ, Handbuch). Ein solches Werk unter zugespitzt theologischer Perspektive liegt m.W. noch nicht vor. 100 Vgl. LEINER, Exegese, 150 f. Ein dritter Ansatz ist die rezeptionspsychologische Erforschung, welche an empirischen Analysen der Textwirkung interessiert ist, jedoch mehr der Praktischen Theologie als der Exegese zuzuordnen ist (vgl. a.a.O., 151). 101 Vgl. INSELMANN, Freude, 23. 102 Eine Ausnahme stellt Dirk Wördemanns Arbeit über Emotion und Textverstehen von 2016 dar, welche hier jedoch bewusst ausgespart wurde, um sie an späterer Stelle im Zuge der Methodik zu besprechen (s.u. Kap. 3.1.1 zu WÖRDEMANN, Emotion). 103 Vgl. dazu den ausführlichen Überblick von Nils Neumann (NEUMANN, Affekte).

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Kap. 1: Thematische Horizonte

den folgenden Betrachtungen der einzelnen Arbeiten sollen die unterschiedlichen heuristischen Zugänge zur Thematik der Emotionen dargestellt werden, um in komparativer Weise die thematische Relevanz sowie den Mehrwert der vorliegenden Studie aufzuzeigen. (1) Bereits 1993 legt Thea Vogt einen Band über Angst und Identität im Markusevangelium vor, welcher nicht nur formal aufgrund des Forschungsgegenstands, sondern auch methodisch insofern interessant ist, als es ihr Anliegen ist, die psychologische Textauslegung voranzubringen.104 Dabei fokussiert sie auf die Emotion der Angst, die den Adressaten an vielfältigen Stellen im Mk-Ev (Mk 4,35–41; 5,25–34; 10,17–31; 14,32–42) in Form von „Sozialund Existenzangst im Zusammenhang mit der Nachfolge zugemutet“ werde.105 Dennoch halte Mk eine kluge Balance zwischen Gefahr und Gewinn des Evangeliums, das letztlich nicht nur ein „Ruf ins Leiden“, sondern auch in eine Solidargemeinschaft sei, welche Identität stifte und die Angst schließlich zu überwinden vermöge: „Der Aufbau eines jüdisch-christlichen Selbstbewusstseins ist damit angestrebt, das sich behaupten kann innerhalb der verschiedensten Erwartungen und fähig ist, Konflikte auszutragen und Leid zu integrieren.“106 Anhand dieser Beobachtungen zur Angst im Mk-Ev kommt die Autorin zu dem Schluss: „Mk motiviert ethisches Handeln, im Gegensatz zu anderen Traditionssträngen, nicht mit der Angst vor Gott. Die Angst vor dem Einbruch Gottes in die Welt, in seiner Hoheit und Niedrigkeit, wird zur Aufgabe und Herausforderung.“107 Mithilfe psychologischer Exegese wird hier ein vielversprechender Versuch unternommen, Emotionen wieder ins exegetische Scheinwerferlicht zu rücken und ein wichtiger Beitrag zur Textwirkungs- und Textrezeptionsanalyse, „die allein mit traditionell historisch-kritischen Kategorien nur schwer erfassbar sind“, geleistet.108 (2) Ebenfalls mit Blick auf die Angst und den Umgang mit der Ungewissheit im Glauben untersucht neun Jahre später Douglas Geyer das Mk-Ev.109 Er arbeitet in sieben ausgewählten Stellen die nicht nur inhaltliche, sondern auch erzählstilistische mk Eigenheit heraus, den Rezipienten mit dem Element der Ungewissheit, der Angst, aber auch der konkreten Furcht und des Unwirklichen zu konfrontieren (Mk 4,35–41; 5,1–20; 5,21–43; 6,1–13.30 f.; 6,14–29; 6,32–44; 6,45–53).110 Diese Absicht des Mk müsse bei einer Exegese unbedingt berücksichtigt werden, solle der Text nicht grundsätzlich missverstanden werden.111 Er schließt mit der These: 104

VOGT, Angst. A.a.O., 239. 106 A.a.O., 240. 107 A.a.O., 243. 108 A.a.O., 242. 109 GEYER, Fear. 110 Vgl. a.a.O., 11. 111 Vgl. a.a.O., 84 f. 105

1. Der Emotional Turn

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„To wake up to uncertainty in the Gospel of Mark is to grow conscious of anomaly, fear, and the uncanny in Mark and of the need to discern what these frightful things may mean. These things are, indeed, the Gospel’s literary elements, and they are not easily explained.“112

Dabei kommt er aber auch zu dem Schluss, dass das Mk-Ev „seeks to represent Jesus as a character around whom people felt neither comfortable nor coherent. What was expected did not happen, and the good that did happen seemed to occur wrongly, or in a backwards manner, or inexplicably.“113

Damit mag er ggf. dem Umstand zu wenig Bedeutung zumessen, dass die Furcht, die Jesu Tun unmittelbar einflößen konnte, schließlich zum Glauben und zur Nachfolge führen sollte, und bleibt man bei Douglas Geyers These stehen, erscheint es nicht sonderlich plausibel, dass sich aus der Jesusbewegung Gemeinden und schließlich eine Religion entwickelten. Doch macht er wichtige Beobachtungen zur Bedeutung der Furcht im Mk-Ev und zollt dem häufig verstörenden und irritierenden Erzählstil des Evangeliums angemessen Rechnung. (3) Der Erforschung der Emotionen Jesu im Joh-Ev widmet sich eine Arbeit von Stephen Voorwinde.114 Seine Fragestellung ist insofern sehr spezifisch, als er entscheiden möchte, ob Jesu Emotionen im Joh-Ev seiner Menschlichkeit oder aber seiner Göttlichkeit zuzuschreiben sind. Sein Schluss, dass eine solche Trennung nicht möglich ist, mag nicht weiter verwundern. Anhand der Untersuchung ausgewählter Emotionen Jesu (Eifer, Liebe, Freude, Zorn, Trauer) arbeitet er heraus, dass diese beinahe sämtlich auf die Passion zielten und dabei stark soteriologische Aspekte trügen.115 Jesus erfülle schließlich sowohl göttliche als auch irdische Funktionen, „in the dual role of both the Lord of the covenant and the covenant sacrifice“116. Beide Seiten seien nicht zu trennen – auch nicht anhand von Jesu Emotionen, in welchen sich sowohl seine Menschlichkeit als auch sein göttliches Wissen abbilde: „Although recognizably human, his emotions are nevertheless for the most part driven by superhuman knowledge and insight.“117 Obgleich in erster Linie ein Beitrag zur joh Christologie, ist dieser Band dennoch ein beachtenswerter Vorstoß in der biblischen Emotionsforschung, speziell für die Emotionen Gottes und Jesu. (4) Im selben Jahr 2005 legt Matthew Elliott einen Band über Emotionen im Neuen Testament vor, in dem er einzelne Emotionen nach ihrem Vor-

112

A.a.O., 269. A.a.O., 272. 114 VOORWINDE, Jesus. 115 Vgl. a.a.O., 266 f. 116 A.a.O., 267. 117 A.a.O., 269. 113

32

Kap. 1: Thematische Horizonte

kommen und Gebrauch in den verschiedenen NT-Schriften betrachtet.118 Seine Fragestellung bezieht sich jedoch weniger auf eine ethische Rolle der Emotionen im NT, als vielmehr auf die Frage, inwieweit schon diese antiken Texte eine kognitive Auffassung von Emotionen vertraten.119 Auf der Grundlage einer dahingehenden Betrachtung verschiedener Emotionskonzepte der griechisch-römischen Philosophie120 sowie des AT121 untersucht er das Vorkommen folgender Emotionen in den verschiedenen Schriften des NT: die positiven Emotionen Liebe, Freude und Hoffnung122 und die negativen Eifersucht, Furcht, Trauer und Zorn123. Anhand dieser ausführlichen Betrachtungen zieht er folgende Schlüsse: Erstens schätze das biblische Bild von Emotionen diese in hohem Maße wert und betrachte sie als wichtigen Bestandteil des christlichen Glaubenslebens; zweitens verdamme das NT Emotionen nicht grundsätzlich oder rufe zur Kontrolle derselben auf; vielmehr seien drittens die Denkweisen und Wertmaßstäbe hinter den Emotionen zu hinterfragen, und es werde insofern ein durchaus stark kognitives Emotionskonzept vermittelt.124 (5) 2012 folgt ein wichtiger Band von Anke Inselmann über Die Freude im Lukasevangelium.125 Darin untersucht sie die Emotion der Freude zum einen als literarisches Leitmotiv des Lk-Ev, analysiert zum anderen die intratextuellen Beziehungen zwischen den Stellen und die psychologische Konzeption der Emotion anhand antiker sowie moderner Emotionstheorien und arbeitet drittens das historische Interesse der lk Redaktion an dieser Thematik heraus. Nach einem Überblick über moderne sowie antike Konzeptionen der Emotion Freude126 überprüft sie ihre Thesen anhand zahlreicher Texte des Lk-Ev (Lk 1–2; 8,13; 10,17–24; 15,11–32; die drei Gleichnisse in Lk 15; 19,1–10; 22,5; 23,8 sowie Lk 24).127 Hierbei arbeitet sie heraus, dass Lukas eine rationale Affektkontrolle nicht nur für möglich, sondern auch erstrebenswert halte, was angesichts der zahlreichen Befunde von Emotionsausdrücken im Lk-Ev auf den ersten Blick verwundern mag.128 Der ethische Appell von Emotionen sei indes ein ganz deutlicher: „In den lukanischen Texten lösen Affekte starke Impulse aus, die zu spontanen und umgehenden

118

ELLIOTT, Feelings. Vgl. a.a.O., 53–55. 120 Vgl. a.a.O., 56–79. 121 Vgl. a.a.O., 80–123. 122 Vgl. a.a.O., 124–192. 123 Vgl. a.a.O., 193–235. 124 Vgl. a.a.O., 264–268. 125 INSELMANN, Freude. 126 Vgl. a.a.O., 35–145. 127 Vgl. a.a.O., 146–393. 128 Vgl. a.a.O., 400. 119

2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium

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Handlungskonsequenzen führen.“129 Deswegen sei eine Kontrolle negativer Affekte wie Zorn und Furcht unbedingt notwendig; die ideale Freude hingegen über Gottes Wirken, die wiederum zu anderen positiven Emotionen wie Dankbarkeit sowie Handlungen wie Lobpreis führe, werde demgegenüber entschieden bejaht.130 Am Schluss ihrer Betrachtungen hält Anke Inselmann die große Bedeutung der Emotion Freude im Lk-Ev fest, welches im Hinblick auf den Glauben diese sowohl grundsätzlich als auch ihre spezifisch ethische Relevanz wertschätze: „Insofern ist mit dieser Freude keinesfalls ein naives Konzept verbunden: Sie steht für ein ausgearbeitetes, reflektiertes theologisches und missionarisches ‚Programm‘ und spiegelt die aus lukanischer Sicht angemessene innere Motivation, den christlichen Glauben im Vertrauen auf Gott anzunehmen, zu leben und weiterzugeben. Die Freude wird im Lukasevangelium nicht als affektives Hindernis auf der Suche nach Erkenntnis verstanden, sondern als inneres Erleben, das den Lernprozess und das theologische Verstehen begleitet. Dies vermittelt auch das Lukasevangelium seinen Leserinnen und Lesern: Deshalb wird Freude sowohl als innere Einstellung wie auch als Ausdruck des Glaubens in diesem Evangelium nicht nur gewünscht, sondern ausdrücklich gefordert.“131

Wie sich an diesen Betrachtungen zeigt, werden Emotionen immer wieder in den Fokus neutestamentlicher Studien gestellt. Insbesondere ihre Rolle für das Glaubensleben sowie ihre spezifische – auch ethische – Bedeutung in den Evangelien werden betrachtet. Zwei Aspekte sind dabei jedoch auffällig: Zum einen steht ein Band zu Emotionen im Mt-Ev m.W. noch immer aus.132 Zum anderen wird nirgends die emotive Rezeption von Texten im Allgemeinen untersucht – im Interessenfokus stehen meist gezielte Einzelemotionen. Beide Desiderate intendiert die vorliegende Studie zu füllen.

2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium 2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium

Ein weiterer Horizont dieser Arbeit wird durch das zu analysierende Textkorpus, hier das Mt-Ev, vorgegeben. Die Arbeitsthese, dass bei der Untersuchung narrativer Ethik Emotionen besonders zu berücksichtigen sind, wirft dahingehend zwei Fragen auf. Erstens bezüglich der narrativ vermittelten Ethik des Mt-Ev: Welche Texte stehen bei der Untersuchung der mt Ethik im Vordergrund? Inwiefern werden die Narrativität des Evangeliums sowie in ihm wiederum enthaltene Narrationen – wie etwa Parabeln – berücksichtigt? 129

A.a.O., 401 (Hervorhebung im Original). Vgl. a.a.O., 401 f. 131 A.a.O., 425 f. 132 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Dirk Wördemann über Emotion und Textverstehen, welche zur Veranschaulichung seiner Methodik ausgewählte Texte des Mt-Ev zugrunde legt. Diese Arbeit wird im Zuge der Betrachtung bestehender Analyseverfahren für Emotionen noch genauer zu betrachten sein (s.u. Kap. 3.1.1). 130

34

Kap. 1: Thematische Horizonte

Mit anderen Worten: Wird nach der besonderen Charakteristik narrativ vermittelter Ethik gefragt? Zweitens bezüglich der emotiven Dimension der Texte: Wie werden Emotionen bei einer Untersuchung der mt Ethik thematisiert? Werden sie bei der Betrachtung der ethischen Textpragmatik als Komponente der Rezeption in Rechnung gestellt? Da es als eine an Unmöglichkeit grenzende Aufgabe erscheint, sämtliche Literatur aufzuarbeiten, welche zur Ethik im Mt-Ev im Laufe der theologischen Forschung entstanden ist, ist es auch hier sowohl aus heuristischen als auch inhaltlichen Gründen angebracht und für die vorliegende Fragestellung zielführend, im folgenden Überblick exemplarisch vorzugehen. Drei Kriterien sind für die Auswahl der folgenden Betrachtungen ausschlaggebend: Erstens beschränkt sich der Blick nicht auf deutschsprachige Studien, sondern wird auf internationale Ebene ausgeweitet. Zweitens werden ausschließlich jüngere Arbeiten ausführlicher besprochen, während weitere Literatur in den Anmerkungen genannt wird. Drittens werden verschiedene Typen der Ethikuntersuchungen herangezogen, deren jeweiliges Interesse an der mt Ethik variiert, sodass sowohl überblicksartige und zusammenfassende als auch detailliertere Beschäftigungen mit dem Forschungsgegenstand betrachtet werden.133 Dabei soll in konzentrischen Kreisen das gezielte Interesse an der mt Ethik immer weiter zugespitzt werden: Als Ausgangspunkt dient daher Udo Schnelles Theologie des Neuen Testaments. Da die mt Ethik nicht der primäre Gegenstand der mt Theologie ist, wird sie dort in einem sehr kurzen Abschnitt zusammenfassend dargestellt.134 Die Gesamtdarstellung neutestamentlicher Ethik von Richard B. Hays widmet der mt Ethik bereits ein eigenes Kapitel.135 Doch auch dieses Werk zielt auf einen Überblick aller neutestamentlichen Schriften, was eine notwendig begrenzte Ausführlichkeit der einzelnen Betrachtungen mit sich bringt. Der von Glen Stassen und David Gushee veröffentlichte Band Kingdom Ethics fokussiert indes noch stärker und ausführlicher auf die mt Ethik, indem er sich auf die Bergpredigt spezialisiert.136 Beschlossen wird dieser Streifzug mit der Betrachtung der Studien zum Matthäusevangelium von Matthias Konradt.137 Die im Zuge der umfangreichen Arbeiten für seinen Kommentar zum Mt-Ev entstandenen Untersuchungen liefern einen präzisen, am Gesamtevangelium orientierten Blick auf die mt Ethik. Mittels dieses stichprobenartigen Einblicks soll gezielt nach Tenden-

133

Der hermeneutische Zugang dieser Arbeiten kann insofern variieren, als einige explizite Mt-Forschung betreiben, andere dagegen anhand mt Texte nach der Ethik des historischen Jesus fragen. Diese Unterscheidung ist für die folgenden Betrachtungen, welche nach inhaltlichen Schwerpunkten fragt, nicht von Belang. 134 SCHNELLE, Theologie. 135 HAYS, Vision. 136 GUSHEE/STASSEN, Kingdom 2016. 137 KONRADT, Studien.

2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium

35

zen der aktuellen Ethikforschung im Mt-Ev gefragt und der Beitrag der vorliegenden Studie aufgezeigt werden. (1) Die 2007 erschienene Theologie des Neuen Testaments von Udo Schnelle rückt bei der Betrachtung des Mt-Ev die Darstellung Jesu als Lehrer und die Auseinandersetzung mit dem Gesetz ins Zentrum.138 Er konzentriert sich dabei auf die Aspekte Gerechtigkeit und Lohn/Strafe. In der Betrachtung der ersteren bezieht sich der Autor beinahe ausschließlich auf die Bergpredigt, als dem „kompositionelle[n] und materiale[n] Zentrum“ des mt Ethikkonzeptes.139 Dabei stellt er die Radikalität der Antithesen heraus, wobei er hinsichtlich der oft bezweifelten Erfüllbarkeit dieser Forderungen annimmt, „dass sich für ihn [d.h. Mt] die Frage nach der Praktikabilität nicht stellte“140. Die Frage, inwiefern gerade die Parabeln Jesu die praktische Anwendung seiner ethischen Forderungen erzählend veranschaulichen und die Erfüllbarkeit narrativ in Szene zu setzen vermögen, kommt nicht in den Blick, was dem Umstand geschuldet sein könnte, dass diese Textgattung bei Udo Schnelles Betrachtungen an dieser Stelle keinerlei Erwähnung finden. Erst bei der Verhandlung der ethischen Motivation durch den Lohn- und Strafgedanken betont er die zentrale Stellung der Parabeln in der Endzeitrede Jesu (Mt 24–25), welche die Notwendigkeit des konkreten Handelns gemäß der Lehre Jesu im Angesicht des Gerichts veranschaulichen.141 Doch auch hier wird nicht der Frage nachgegangen, warum gerade in dieser Rede Jesu die Parabel als sprachliches Medium auffällig prominent ist, geschweige denn erläutert, welche besondere Charakteristik oder gar Effektivität der Gattung in ethischer Hinsicht zukommt. Udo Schnelles Ausführungen kommen dabei auch bis zum letzten Absatz ohne die Betrachtung von Emotionen im Mt-Ev aus. Erst dort wird erstmals die Liebe als „Erfüllung“ der Forderung nach dem Tun gemäß dem Willen Gottes verhandelt: „Das Liebesgebot erschließt alle Weisungen von innen her neu und richtet sie auf die neue Wirklichkeit des Reiches der Himmel aus.“142 Diese als zentral gezeichnete Stellung steht in relativem Gegensatz zur auffälligen Kürze, mit der diese Emotion hier erwähnt wird. Schließlich wird auch keine Verbindung zur kurz zuvor erwähnten, dem Mt-Ev oftmals unterstellten, Werkgerechtigkeit gezogen: Der Autor korrigiert diesen Eindruck zwar hinsichtlich eines „unauflösliche[n] Ineinander[s] von Anspruch und Zuspruch“ der ethischen Weisungen Jesu.143 Doch ob dabei zentrale Emotionen wie Liebe und Mitleid in der Ethik des Mt-Ev eine bestimmende Rolle spielen, um deren konkret-pragmatischen Anspruch an jeden Gläubigen zu motivieren, wird nicht weiter thematisiert. 138

Vgl. SCHNELLE, Theologie, 415. A.a.O., 416. 140 A.a.O., 417. 141 Vgl. a.a.O., 417 f. 142 A.a.O., 418. 143 A.a.O., 417. 139

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Kap. 1: Thematische Horizonte

Freilich muss bei dieser Evaluation der einführende Charakter des Bandes von Udo Schnelle beachtet werden, dessen überblicksartige Form eine detailliertere Beschäftigung ausschließt. Dennoch werden hier Tendenzen hinsichtlich einer starken Konzentration auf die Beziehung zwischen der von Jesus gelehrten Ethik und dem mosaischem Gesetz (auch in Bezug auf Emotionen wie Liebe)144 sowie auf die Befragung eingeschränkter Texte (Bergpredigt)145 sichtbar. Diese Betrachtung einer sehr holzschnittartigen Ausführung zur mt Ethik dient als Grundlage, von der ausgehend nun spezifischere Beschäftigungen mit der Thematik besprochen werden.146 (2) Als Beispiel für Gesamtdarstellungen der Ethik im NT soll hier die 1996 erschienene Arbeit Richard B. Hays’ über The Moral Vision of the New Testament herangezogen werden. Sie nähert sich den Texten methodisch mittels einer „fourfold task of New Testament Ethics“, die der Autor zunächst unter deskriptiver Hinsicht (sorgfältige Exegese), zweitens unter synthetischer (Betrachtung des kanonischen Kontextes), sodann hermeneutischer (Verbindung zwischen Damals und Heute) und zuletzt pragmatischer Hinsicht (den Text anwenden) betrachtet.147 Im Verlauf des Bandes bespricht er die Schriften des NT anhand dieser Methodenschritte, wobei er im deskriptiven Teil das ethische Profil der jeweiligen neutestamentlichen Autoren auf der Basis ihrer christologischen, ekklesiologischen, eschatologischen und historischen Aussagen erarbeitet, was für diese Arbeit von besonderem Interesse ist. Richard Hays fokussiert bei der deskriptiven Untersuchung der Ethik des Mt-Ev auf die Beziehung zwischen Tora und ihrer Neubestimmung durch Jesus als dem wahren Lehrer Israels einerseits, sowie auf die Perspektive der sich allmählich formierenden Kirchengemeinschaft andererseits. Hierzu rekurriert er insbesondere auf die Antithesen sowie pointierte Einzelaussagen der Bergpredigt (Mt 5,3–12.17–20.48; 7,21–23).148 Parabeln dage144

Vgl. a.a.O., 101–103. Vgl. a.a.O., 97–101.416 f. 146 Ein ganz ähnliches Bild zeichnet sich ab, wirft man einen Blick in die seltenen Ethik-Exkurse in Kommentaren zum Mt-Ev (vgl. SENIOR, Matthew, 28). Matthias Konradts Kommentar fasst seinen kleinen Ausblick auf die mt Ethik unter den Abschnitt „Der Lehrer Jesus und die Tora“, woraus sich zwangsläufig eine Konzentration auf die Bergpredigt ergibt (vgl. KONRADT, Evangelium, 16). Die seinen Kommentar ergänzenden Studien von Ulrich Luz weisen nur einen Artikel über die Ethik des Mt auf, welcher sich auf die Bergpredigt bezieht (vgl. LUZ, Studies, 185–218). Randolph Tasker überschreibt den kompletten Abschnitt über die Bergpredigt mit „The Ethics of the Kingdom of God“ und setzt damit einen klaren Fokus (vgl. TASKER, Gospel, 58–85). 147 HAYS, Vision, 3–7. 148 Vgl. a.a.O., 93–111. Diese Konzentration auf die Bergpredigt fällt auch in anderen Darstellungen des Mt-Ev im Horizont neutestamentlicher Ethikkonzepte auf: vgl. dazu GERHARDSSON, Ethos; HOFFMANN/EID, Jesus; LOHSE, Ethik; MEEKS, Origins; SCHNACKENBURG, Botschaft; SCHRAGE, Ethik; WENDLAND, Ethik; WESTERHOLM, Law. 145

2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium

37

gen kommen nur zur Untermauerung bereits angestellter Beobachtungen in den Blick.149 Einzige Ausnahme ist die Aufnahme der Parabeln in Jesu Rede vom Endgericht (Mt 24–25), welchen als „warrant for moral behavior“ besondere Bedeutung innerhalb der Rede zukomme.150 Der Frage, warum Jesus sich hier dieser besonderen Gattung zur Vermittlung ethischer Inhalte bedient, geht Richard Hays jedoch nicht nach.151 Emotionen arbeitet der Autor als für die mt Ethik bestimmend heraus: Liebe und Barmherzigkeit sind für Richard Hays die Eckpfeiler Jesu Lehre und der Gemeinschaft der Gläubigen.152 So ergebe sich für Mt die vollständige, rechte Auslegung der Tora aus der Liebe heraus, und das Doppelgebot der Liebe sei als „hermeneutical filter“ zu verstehen, „that governs the community’s entire construal of the Law“153. Auch diese Beobachtungen belegt er anhand Jesu expliziter Forderungen (Mt 9,13 und 12,7; 18,15–17; 22,34–40). Wie diese Emotionen auch in Jesu Parabeln abgerufen werden, kommt nicht in den Blick.154 Der Sammelband von Robert L. Brawley enthält nur zwei Aufsätze zur mt Ethik, welche sich beide auf die Seligpreisungen beziehen (vgl. die Artikel von Allen Verhey und Glen Stassen in: BRAWLEY, Ethics). Und obgleich Philippa Carter explizit The Servant-Ethic in the New Testament in den Blick nimmt, bespricht sie die zahlreichen Sklaven-Parabeln Jesu weder als eine besondere Gattung der Ethikvermittlung, noch untersucht sie sie auf ihre besonderen Inhalte; stattdessen ist auch in ihrer Analyse des Mt-Ev ein deutlicher Fokus auf die Bergpredigt zu erkennen (vgl. CARTER, Servant-Ethic). Ganz anders betont James L. Houlden, dass die Bergpredigt zwar Ethik enthalte, dies aber in keinem größeren Ausmaß tue als der Rest des Evangeliums; doch unterzieht er die verschiedenen ethikvermittelnden Gattungen generell keiner gesonderten Analyse (vgl. HOULDEN, Ethics, 47–54). 149 So bspw. die Anführung der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23–35) zur exemplarischen Darstellung der gelebten Glaubenspraxis in der Gemeinschaft, welche von Jesus in Mt 18,1–22 bereits ausgeführt wurde (vgl. HAYS, Vision, 103) und die Parabel vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30) zur Veranschaulichung der mt Ansicht von der Kirche als corpus permixtum (vgl. a.a.O., 108). 150 A.a.O., 106. 151 Selbst solche Arbeiten, welche die Bedeutung der Parabeln für die mt Ethik betonen, stellen diese Frage nicht (vgl. COMBRINK, Challenge, 36–38; BURRIDGE, Jesus, 225; MATERA, Testament, 39–42). Welche besonderen Charakteristika eine parabolische Ethik im Sinne einer mimesis und Anleitung zur imitatio aufweist, wird indes nicht untersucht. Richard Burridge und Birger Gerhardsson betonen lediglich Jesus als Vorbild, nicht etwa grundsätzlich alle Figuren seiner Parabeln (vgl. BURRIDGE, Jesus; GERHARDSSON, Ethos). Stephen Westerholm betont, dass „the story of Jesus in the Gospels seems intended to inspire faith, allegiance, obedience, and worship more than imitation“; ob und inwiefern Parabeln dieser Aufgabe nachkommen, kommt nach dieser Aussage nicht mehr in den Blick (WESTERHOLM, Law, 171). 152 Vgl. HAYS, Vision, 97–104. 153 A.a.O., 101. 154 Die Bedeutung der Liebe als wichtiger Konstituent des christlichen Glaubenslebens begegnet regelmäßig in der Forschungsliteratur zur mt Ethik, während andere Emotionen kaum thematisiert werden und der Rolle der Rezeptionsemotionen für die ethische Pragma-

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Kap. 1: Thematische Horizonte

Es zeigt sich in Richard Hays Arbeit eine klare Fokussierung auf die Erarbeitung ethischer Inhalte des Mt-Ev aus den expliziten, ethisch-moralischen Appellen Jesu, welche sich im pragmatischen Methodenschritt fortsetzt.155 Angesichts dieses Befundes lässt sich die Beobachtung des Autors, dass die Narrativität eine dem Evangelium inhärente und bedeutsame Charakteristik darstellt, welche es bei der Auslegung der Texte stets zu berücksichtigen gilt, zugespitzt auf die Beachtung parabolischer Texte an seinen Zugang zurückgeben: „The New Testament is fundamentally the story of God’s redemptive action; thus, the paradigmatic mode has theological primacy, and narrative texts are fundamental resources for normative ethics.“156 (3) Der 2016 in zweiter Auflage erschienene Band Kingdom Ethics von Glen Stassen und David Gushee intendiert, die Lehre Jesu für die christliche Ethik vollkommen ernst zu nehmen, „to recover the way of Jesus for Christian discipleship“, und konzentriert sich dabei auf die Bergpredigt, „the largest block of Jesus’s teaching in the New Testament“157. Dennoch liegt der Fokus dabei stets auf der übergeordneten ethischen Botschaft des Mt-Ev: „Yet this is not simply a book on the Sermon on the Mount, but a book on Christian ethics.“158 Der zweigeteilte Aufbau ordnet dem ersten Kapitel (Methodologie) neun Abschnitte unter, die jeweils ein „key method element for kingdom ethics“ herausarbeiten.159 Diese werden sodann im zweiten, materialethischen Teil wiederholt aufgenommen, welcher 13 konkrete, ethische Themenfelder behandelt. Im Hinblick auf die hier behandelte Thematik ist interessant zu setik der Texte gar nicht nachgegangen wird: vgl. BURRIDGE, Jesus; CARTER, Servant-Ethic; FRANKEMOELLE, Handlungsanweisungen; GERHARDSSON, Ethos; HOFFMANN/EID, Jesus; LOHSE, Ethik; MOHRLANG, Matthew; SAND, Gesetz; SANDERS, Ethics; SCHNACKENBURG, Botschaft; SCHRAGE, Ethik; WENDLAND, Ethik; WESTERHOLM, Law. Frank Matera betont auch Mitleid und Demut sowie die Furcht vor dem Gericht als wichtige ethische Emotionen im Mt-Ev (vgl. MATERA, Testament, 63); dagegen bespricht er die Liebe nur sehr knapp (vgl. a.a.O., 46.53). Auch Raymond Thysman betont in seiner Arbeit über die mt Ethik über die Liebe hinaus Geduld und Mitleid als zentrale emotionale Charakteristika der Gläubigen (vgl. THYSMAN, Communauté, 78–82). In Robert L. Brawleys Sammelband ist auffällig, dass Emotionen in den übrigen Artikeln durchaus Berücksichtigung finden, während sie in den Artikeln zum Mt-Ev eine stark untergeordnete Rolle spielen (vgl. BRAWLEY, Ethics). Dasselbe lässt sich über die Studien von Stephen Westerholm sagen, wobei insbesondere auffällt, dass er bei der Betonung der „purity of heart and mind (Matt 5:8, 28)“ sogleich den Verstand zum Herzen dazusetzt, obgleich nur Letzteres im Text genannt wird, und ohne die Liebe dabei als emotionale Einstellung und grundlegende Handlungsmotivation zu würdigen (WESTERHOLM, Law, 160). 155 Vgl. HAYS, Vision, 313–461. 156 A.a.O., 310 (Hervorhebung im Original). 157 GUSHEE/STASSEN, Kingdom 2016, xvii. 158 A.a.O., xviii. 159 A.a.O., 190 f.

2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium

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hen, dass die Autoren den Emotionen einen maßgeblichen Ort in der moralischen Konstitution des Christen einräumen: Im ersten Kapitel, in dem vier Dimensionen der christlichen, holistischen Charakterethik beschrieben werden, wird neben den „way of seeing“, „way of reasoning“ und die „basic convictions“ auch der „embodied context“ genannt, worunter die Verfasser „passions and interests“ zählen.160 Eine holsitische Ethik dürfe Emotionen als einen gewichtigen Aspekt der Moral keinesfalls unbeachtet lassen; in der ersten Auflage ihres Bandes drücken sie es wie folgt aus: „No human being is an autonomous mind, coming to moral conclusions through the purely dispassionate application of reasoning. The autonomous mind was an Enlightenment myth, launched by Descartes and now thoroughly discredited.“161 Die Autoren nehmen zum einen Emotionen als gewichtigen Aspekt christlicher Ethik auf, berücksichtigen zum anderen aber auch, dass alle Dimensionen des christlichen Charakters – auch und allen voran die Emotionen – stets geprüft und hinterfragt werden müssen: „Disciples seek to develop a holistic ethic of character, attending critically to their passions and loyalties, way of moral reasoning, perceptions, and basic-conviction theological beliefs; they live humbly before God; mourn what is wrong in themselves and the world; surrender themselves to God; hunger and thirst for God’s delivering justice; offer compassionate action, forgiveness, healing and covenant steadfastness to those in need; give their whole self over to God; seek to make peace with their enemies; and persist, and even rejoice, under persecution“162.

Dennoch kommen Emotionen lediglich im sechsten Kapitel prominent in den Blick, das sich unter der Überschrift „The Greatest Commandment“ der Liebe widmet: Diese wird hier ganz ins Zentrum christlicher Ethik gerückt und als zweimalige Klimax der Bergpredigt bezeichnet (Mt 5,43–48; 7,12).163 Doch aufgrund der hier konstatierten Zentralität scheinen andere Emotionen auffällig an Eigenrecht einzubüßen: So werden weitere Emotionen, insbesondere das Mitleid, sogleich in die Liebe mit einbezogen.164 Hier darf die Anfrage gestellt werden, ob und inwiefern nicht auch anderen Emotionen ein Eigenrecht in der christlichen Lebensweise zukommt und moralisch-pragmatische Wirksamkeit besitzen.165 Darüber hinaus wäre anzufragen, ob diese Emotio160

A.a.O., 173 (Hervorhebung T.D.). STASSEN/GUSHEE, Kingdom 2003, 63. 162 GUSHEE/STASSEN, Kingdom 2016, 445 (Hervorhebungen T.D.). 163 Vgl. a.a.O., 120. 164 Vgl. a.a.O., 107.120. 165 Die Fokussierung auf die Liebe begegnet sowohl in allgemeinen Arbeiten über die mt Ethik (s.o. Anm. 154) als auch in gezielten Studien zur Bergpredigt, obgleich hier häufig auch die Überwindung der Emotionen Sorge und Angst als zentral genannt werden (vgl. FELDMEIER, Salz; SCHNACKENBURG, Bergpredigt; STRECKER, Bergpredigt; WEDER, Rede.) Die 2011 in zweiter Auflage erschienene Arbeit von Manfred Köhnlein ist zwar insofern sehr rezeptionsästehtisch ausgerichtet, als sie unermüdlich nach der wahrschein161

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Kap. 1: Thematische Horizonte

nen in den mt Texten auch gezielt geweckt werden, um die ethische Unterweisung zu verstärken. Die Konzentration des Bandes auf die Bergpredigt bringt es überdies mit sich, dass andere Texte, welche Ethik vermitteln, größtenteils außen vor bleiben. Dennoch werden Parabeln als besondere Form der jesuanischen Ethikvermittlung genannt und ihre situativ-empathische Stärke hervorgehoben166: „For example, the parables of Jesus tell us particular, immediate stories and imply or sometimes directly articulate moral judgments, norms, and action-guides. We then reason by analogy from the particual moral judgment expressed/implied in a parable to our own situation. […] Using moral imagination, we enter the particualr story, place ourselves in one or another role, and then find ourselves drawn or diven to particular courses of action.“167

Obgleich die Verfasser somit die Bedeutung von Narrationen für die christliche Ethik betonen168, sind Parabeln kein im Fokus stehender Hoizont der Arbeit. Sie kommen nur vereinzelt zur Illustration zur Sprache: Am ausführlichsten wird interessanter Weise die Parabel vom barmherzigen Samariter aus dem Lk-Ev im Zusammenhang im Kapitel über die Liebe besprochen169; im folgenden Kapitel über Gerechtigkeit werden einige Parabeln zur Veranschaulichung genannt (Mt 13,24–30; 18,23–35; 21,33–46; 24,45–51)170; die Endzeitparabeln in Mt 25 kommen gar nicht gesondert in den Blick. Die Verfasser legen dabei größeren Wert auf die den Parabeln zugrundeliegende Logik als den ihnen inhärenten Überzeugungs- und Wirkungscharakter, der bspw. auch emotional konstituiert ist.171 (4) Die 2016 erschienenen Studien zum Matthäusevangelium von Matthias Konradt enthalten in deren dritter Sektion „Glaube und Handeln“ fünf Auf-

lichsten – auch emotionalen – Reaktion der damaligen Hörer der Bergpredigt fragt, doch entwickelt sie für diese Abfrage keine gesonderte Methodik (vgl. KÖHNLEIN, Bergpredigt). Des Weiteren fällt der Sammelband zur Bergpredigt von Hans-Ulrich Weidemann von 2012 ins Auge, in welchem Emotionen überhaupt nicht eigens thematisiert werden (vgl. WEIDEMANN, Berg). 166 Näheres zur situativen und empathischen Charakterisitik von Narrationen, s.u. Kap. 2.4. 167 GUSHEE/STASSEN, Kingdom 2016, 66 (Hervorhebungen im Original). 168 Vgl. a.a.O., 76. 169 Vgl. a.a.O., 114–122. 170 Vgl. a.a.O., 140–145. 171 Auch in anderen Untersuchungen der Bergpredigt fällt auf, dass Parabeln darin oder darüber hinaus keine besondere Berücksichtigung finden: vgl. FELDMEIER, Salz; KÖHNLEIN, Bergpredigt; SCHNACKENBURG, Bergpredigt; STRECKER, Bergpredigt; WEDER, Rede; WEIDEMANN, Berg. Wo sie dezidiert in den Fokus der Untersuchung gestellt werden, werden sie unter rhetorischen Gesichtspunkten analysiert: vgl. BAASLAND, Parables; PETERSEN, Eigenart.

2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium

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sätze, welche für diesen Forschungseinblick interessant sind.172 Zunächst ist erneut die Tendenz erkennbar, dass Matthias Konradt in ethischen Belangen hauptsächlich auf die Bergpredigt rekurriert.173 So nimmt der Autor zwar ebenfalls auf Parabeln Bezug, doch bleibt die Frage nach etwaigen Stärken dieser im Vergleich zu expliziten Gesetzestexten unberührt.174 Gleichwohl legt er großen Wert darauf, die Narrativität des Mt-Ev bei Exegesen zu berücksichtigen: Im Aufsatz „Whoever humbles himself like this child…“ wird die ethische Dimension der Gemeinderede (Mt 18) in den Blick genommen und die Bedeutung ihrer narrativen Einbettung betont.175 Es seien zum einen der Kontext der folgenden Passion, zum anderen die Darstellung Jesu als Messias, der wie Gott als suchender Hirte nach verlorenen Schafen sucht, und zuletzt die Verwendung der Figur des Petrus als ein Beispiel anthropologischer Fehlbarkeit von Bedeutung für die Auslegung.176 Trotz dieser weiterführenden Beobachtungen kommen die Narrationen zweiter Ordnung, wie etwa die von Jesus erzählten Geschichten, nicht in ihrem Eigenrecht zur Sprache. So dienen die Erörterungen der Parabel vom verlorenen Schaf sowie der vom unbarmherzigen Sklaven innerhalb der Gemeinderede allein der materialethischen Ausführung der jesuanischen Forderung nach Vergebung.177 Eine spezifischere Betrachtung der Parabeln ist zugegebenermaßen nicht Ziel der Aufsätze in diesem Band; doch ergibt sich dennoch die Frage: Wenn bei der Auslegung der Reden Jesu das narrative Setting zu beachten ist, inwiefern ist die Narrativität der Parabeln Jesu wiederum selbst gewichtig für seine Ethikvermittlung? Emotionen dagegen kommen in Matthias Konradts Betrachtungen häufig vor: Betont stellt er heraus, dass Mt das Gesetz stets hinsichtlich seiner zwischenmenschlichen Aspekte zuspitzt und dass in diesem Bereich Emotionen eine zentrale Rolle spielen.178 Am Beispiel des Zorns verhandelt der Autor 172 Vgl. KONRADT, Erfüllung, 288–315; ders., Rezeption, 316–347; ders., Erwägungen, 348–380; ders., Instruction; ders., Mitleid, 413–441. 173 Vgl. ders., Erfüllung; ders., Rezeption; ders., Erwägungen; ders., Mitleid. Ein deutlicher Fokus auf die Bergpredigt findet sich auch in anderen Arbeiten zur mt Ethik: vgl. MOHRLANG, Matthew; THYSMAN, Communauté. 174 Dieser Befund bestätigt sich auch für andere Mt-Studien: vgl. BORNKAMM, Studien; DETTWILER/POPLUTZ, Studien. Obgleich Alexander Sand intendiert, Aussagen über die Theologie des Mt-Ev zu treffen, legt er seinen Textschwerpunkt auf die Bergpredigt; wie sich das Gesetz in den Parabeln spiegelt, wird nicht thematisiert (vgl. SAND, Gesetz). Hubert Frankemölle betont im Zuge seines textpragmatischen Ansatzes die besondere Bedeutung der Parabeln für die Vermittlung von Ethik im Mt-Ev; mit der Frage nach der emotiven Wirkung dieser Texte verbindet er dies jedoch nicht (vgl. FRANKEMOELLE, Handlungsanweisungen). 175 Vgl. KONRADT, Instruction, 381. 176 Vgl. a.a.O., 411 f. 177 Vgl. a.a.O., 391–394.407–411. 178 Vgl. ders., Rezeption, 316–319.

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Kap. 1: Thematische Horizonte

die ambivalente, ethische Relevanz von Emotionen.179 Auffällig sei dabei jedoch, dass Emotionen in der Bergpredigt meist positiv vorkämen und das negative „du sollst nicht“ der 10 Gebote in der Bergpredigt in ein positives „du sollst“ umgewandelt werde: Während das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ negativ ausgedrückt sei und implizit die zugrunde liegenden Emotionen wie etwa Zorn oder Hass kritisiere, wende das positive Feindesliebegebot in Mt 5,44 die Forderung entscheidend ins Positive und lobe dabei die beteiligte Emotion.180 Das universale Liebesgebot stelle dabei die wahre Auslegung und „Vollsinn“ des Willens Gottes dar.181 Doch nicht nur die Liebe konstituiert den Glauben und steuert die Handlungen des Christen. Auch das Mitleid bezeichnet Matthias Konradt als ethisches Leitmotiv des Mt-Ev: „Das in Mt 9,13 und 12,7 zitierte Prophetenwort aus Hos 6,6 lässt sich geradezu als Leitmotiv der matthäischen Gesetzeshermeneutik verstehen.“182 Die Liebe und das Mitleid seien grundlegende Parameter der mt Ethik, weil sie die empathische Perspektive auf das Gegenüber gewährleisteten, welche zu altruistischen und moralischen Taten führe.183 In den Betrachtungen des Autors der Parabeln in Mt 18 aber werden die vorkommenden Emotionen der Freude und des Mitleids nicht weiter beachtet: Die Bedeutung der Freude in Mt 18,13 wird im Vergleich zur lk Version der Parabel abgeschwächt184, und obgleich das Mitleid als zentrales Erzählelement in Mt 18,23–35 beschrieben wird, wird es lediglich als logische Konsequenz der Barmherzigkeit des Königs/Gottes eingefordert sowie als ein auf der imitatio dei fußender Anspruch geschildert.185 Insgesamt betrachtet werden die das christliche Glaubensleben konstituierenden Emotionen stark auf ihre sozialethisch-ekklesiologische Perspektive hin zugespitzt.186 Sie werden meist als das Ziel der ethischen Ausführungen Jesu betrachtet, nicht aber als mögliche Auslöser des Verständnisses der Texte. Es macht den Anschein, als lege der Autor in seiner Auslegung stärkeren Wert auf die rationale Begründung, welche auf ein hinter der Geschichte stehendes Gesetz rekurriere. Zwar gesteht der Autor Emotionen wie Liebe und Mitleid in ethischer Hinsicht eine zentrale Rolle zu. Doch ist die Frage nach ihrer Begründung stärker im Blick als die Emotionen als solche, welche Rolle sie im Rezeptionsprozess der Parabeln spielen und welche Bedeutung ihnen in der genuinen moralisch-ethischen Persuasion und Motivation zukommt. Dies mag jedoch damit zusammenhängen, dass v.a. deliberative Reden Jesu, nicht aber seine Narrationen herangezogen werden 179

Vgl. a.a.O., 322–330. Vgl. a.a.O., 330. 181 Ders., Erfüllung, 299. 182 Ders., Rezeption, 318. 183 Vgl. ders., Mitleid, 429–440. 184 Vgl. ders., Instruction, 391 f. 185 Vgl. a.a.O., 409–411. 186 Vgl. ders., Erwägungen, 377. 180

2. Emotionen und narrative Ethik im Matthäus-Evangelium

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und wo doch eine Parabel analysiert wird, mehr nach der zugrundeliegenden Begründung durch das Gesetz als nach dem emotionalen Rezeptionsvorgang gefragt wird.187 Es zeichnet sich auch bei der Betrachtung der Parabeln ein deutlicher Fokus auf die Logik der narrativen Ethik ab, während andere Komponenten dieser Ethikvermittlung nicht betrachtet werden.188 Obgleich dieser Einblick selektiv bleibt, vermittelt er dennoch einen deutlichen Eindruck der aktuellen Forschung zur Ethik des Mt-Ev, und es scheinen sich die Beobachtungen an den nur knappen Ausführungen Udo Schnelles zur mt Ethik auch unter Bezugnahme auf gezieltere und detailliertere Beschäftigungen mit der Thematik zu bestätigen: Die Untersuchung der mt Ethik konzentriert sich noch immer stark auf die Bergpredigt, während andere Textpassagen weitgehend außer Acht bleiben. Besonders die Parabeln Jesu werden zwar grundsätzlich als Texte mit ethischem Gehalt anerkannt, jedoch nicht auf den spezifischen Mehrwert ihrer narrativen Gattung hin befragt. So werden sie etwa im Hinblick auf die Gemeinderede (Mt 18,12–14.23–35) sowie die Endzeitrede Jesu (Mt 24,43–25,46) häufig genannt und ihre ekklesiologisch- bzw. eschatologisch-ethische Dimension auf inhaltlicher Ebene verhandelt. Doch wird die fromale Gestalt der Texte kaum beachtet. So wird bspw. nicht entfaltet, warum gerade hier vermehrt Parabeln auftauchen und welchen Mehrwert sie gegenüber den nicht-narrativen deliberativen Ausführungen Jesu in Mt 18,1–11.15–20 bzw. Mt 24,1–31 aufweisen. Ein weiteres Defizit stellt die Beachtung der Emotionen dar. Ethik im MtEv wird größtenteils unter dem Stichwort „Gesetz“ oder „Liebesgebot“ verhandelt. Obgleich Letzteres einen offensichtlich emotionalen ethischen Wert darstellt und es in Forscherkreisen als sehr wohl anerkannt gelten kann, dass „das Liebesgebot in seiner doppelten Ausrichtung auf Gott und den Nächsten Inbegriff des Gesetztes“189 für Mt darstellt, ist der Befund durchaus verwunderlich, dass Emotionen im Allgemeinen sowie andere Emotionen als die Liebe und das Mitleid kaum zur Sprache kommen. Das Doppelgebot der Liebe steht meist als Ziel der ethischen Unterweisung und lässt Fragen unberührt, welche sich mit der motivationalen Komponente von Emotionen be187 Dass Emotionen keinen besonderen Stellenwert in der Untersuchung mt Ethik einnehmen, zeigt sich ebenso in anderen Mt-Studien: vgl. BORNKAMM, Studien; DETTWILER/POPLUTZ, Studien; LUZ, Studies. 188 Der Fokus auf die rationale Ebene der Texte kommt auch in anderen Arbeiten über die mt Ethik deutlich zum Ausdruck: vgl. FRANKEMOELLE, Handlungsanweisungen; GERHARDSSON, Ethos; SAND, Gesetz; SANDERS, Ethics; SCHNACKENBURG, Botschaft; SCHRAGE, Ethik; WEIDEMANN, Berg; WENDLAND, Ethik; WESTERHOLM, Law. Auch Roger Mohrlangs Arbeit zeigt einen deutlichen Fokus: Zwar verhandelt er die Liebe in einem gesonderten Abschnitt und nennt Emotionen als wichtige Antriebskräfte der Moral; doch fällt auf, dass sein Abschnitt über das Gesetz nicht nur zu Anfang seiner Untersuchungen steht, sondern auch am ausführlichsten ausfällt (vgl. MOHRLANG, Matthew). 189 BORNKAMM, Studien, 24.

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Kap. 1: Thematische Horizonte

schäftigen oder etwa mit der rhetorischen Strategie zur moralisch-ethischen Persuasion des Mt-Ev: Welche Rolle spielen Emotionen im Rezeptionsprozess bestimmter Texte und wie wichtig sind sie hinsichtlich der langfristigen ethischen Haltung der Rezipienten? Es zeigen sich demnach zwei Defizite: Weder wurde m.W. bisher die Rolle der Rezeptionsemotionen für die ethische Pragmatik der mt Texte untersucht, noch gezielt nach der emotiven Charakteristik der parabolischen Ethik im MtEv gefragt. Die vorliegende Studie begegnet diesen Forschungsdefiziten, indem sie bei einer Untersuchung der Ethik im Mt-Ev zum einen die narrative Gattung der Parabeln in den Fokus rückt und zum anderen der Bedeutung der Emotionen für den ethisch-hermeneutischen Prozess auf den Grund geht. Mit der Frage, ob und, wenn ja, wie Emotionen in den mt Parabeln bewusst eingesetzt werden, um ihre moralisch-ethische Botschaft zu unterstützen, versteht sie sich daher als erweiternd-aufschlussreicher Beitrag zur MtForschung.

3. Gegenstandsbestimmung, Abgrenzungen und Einordnungen 3. Gegenstandsbestimmung, Abgrenzungen und Einordnungen

Nach dieser Einordnung der vorliegenden Studie in den breiteren Forschungskontext muss nun eine genaue Gegenstandbestimmung vorgenommen werden. Dies ist dem ungünstigerweise sehr weitläufigen Begriffsfeld „Emotion“ geschuldet. Es genügt bereits ein oberflächlicher Blick in die einschlägige Forschungsliteratur, um festzustellen, dass es bis heute an einer konsensfähigen Emotionsdefinition mangelt. „Everyone knows what an emotion is, until asked to give a definition“ lautet die entsprechende Feststellung von Beverley Fehr und James A. Russell.190 Monika Schwarz-Friesel weist in ihrer linguistischen Arbeit über Sprache und Emotion darauf hin, dass die zahlreichen unterschiedlichen Emotionsdefinitionen in der Forschung auf die jeweils fokussierten Aspekte von Emotionen zurückgingen und diese so „je nach Ansatz als affektive oder kognitive, als psychophysiologische oder motivationale, als situative oder syndromische, als expressive, disruptive oder adaptive Phänomene beschrieben“ würden.191 Weithin rezipiert ist daher die kompilierende Definition von Anne und Paul Kleinginna, die aus einer Zusammenschau von über neunzig Definitionen die folgende entwickelten: „Emotion ist ein komplexes Interaktionsgefüge subjektiver und objektiver Faktoren, das von neuronalen/hormonalen Systemen vermittelt wird, die (a) affektive Erfahrungen, wie Gefühle der Erregung oder Lust/Unlust, bewirken können; (b) kognitive Prozesse, wie emotional relevante Wahrnehmungseffekte, Bewertungen, Klassifikationsprozesse, hervorrufen können; (c) ausgedehnte physiologische Anpassungen an die erregungsauslösenden 190 191

FEHR/RUSSELL, Concept, 464. SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 47.

3. Gegenstandsbestimmung, Abgrenzungen und Einordnungen

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Bedingungen in Gang setzen können; (d) zu Verhalten führen können, welches oft expressiv, zielgerichtet und adaptiv ist.“192

Die Emotionspsychologie unterscheidet demnach verschiedene Teilprozesse, die eine Emotion ausmachen: eine Komponente (a) des Gefühls, (b) der Kognition, (c) des Ausdrucks und der Physiologie sowie (d) der Motivation. Für diese Arbeit und das Feld der narrativ-ethischen Exegese sind v.a. die Betrachtung der Punkte (a), (b) und insbesondere (d) von Bedeutung. Der Problematik, den Terminus „Emotion“ zu definieren, folgt sogleich die Notwendigkeit, diesen von zahlreichen anderen Begriffen, wie etwa „Gefühl“, „Affekt“ oder „Stimmung“, abzugrenzen. Doch wie bereits die Uneinigkeit bezüglich einer Definition von „Emotion“ befürchten lässt, wird eine weitere terminologische Differenzierung umso heikler. Davon, über die einzelnen Termini Einigkeit, geschweige denn einen Forschungskonsens zu erzielen, ist die Forschung noch weit entfernt, und so kann nur festgehalten werden, dass eine Begriffsdifferenzierung in verschiedenster Forschungsliteratur häufig angeboten, manchmal aber auch gar nicht vorgenommen wird.193 Es soll hier dennoch eine Abgrenzung der einzelnen Begriffe unternommen werden, wie es für diese Studie sinnvoll erscheint. Zwischen „Emotion“ und „Gefühl“ wird insofern unterschieden, als „Emotion“ meist als übergeordneter Kategorieterminus verwendet wird, der physiologische Zustände und Mimik einschließt, während „Gefühl“ (feeling) lediglich das innere, subjektive Erleben beschreibt. So ist die Mimik bspw. ein Indikator für eine Emotion, nicht aber für ein Gefühl.194 Während eine Emotion auch unbewusst ablaufen kann, setzt ein Gefühl sein bewusstes Erleben und seine aktiv-kognitive Erschließung voraus.195 Der „Affekt“ wiederum wird in der Psychiatrie als ein durch besondere Spontaneität, kurze Dauer und Intensität ausgezeichnete Emotion beschrieben.196 In der Emotionsforschung dagegen wird er überhaupt wenig gebraucht und im englischsprachigen Raum kommt affect meist synonym zu Emotion und Gefühl vor.197 Bei diesem Terminus ist außerdem zu bemerken, dass er hauptsächlich in Antike und Barock geprägt wurde und somit eine gewisse Färbung inne hat.198 Auch eine „Stimmung“ wird gemeinhin von der „Emotion“ getrennt: Im Vergleich zu dieser ist eine Stimmung insgesamt schwächer, länger andau192

Vgl. KLEINGINNA/KLEINGINNA, List, 355. Hier zitierte Übersetzung nach OTTO/EULER/MANDL, Begriffsbestimmungen, 15. 193 Vgl. SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 77, und FEHLBERG, Gefühle, 27. 194 Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 23. 195 Vgl. SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 56. 196 Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 30. 197 Vgl. ebd. 198 Vgl. WAGNER, Emotionen, 19 f.

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Kap. 1: Thematische Horizonte

ernd und oftmals ohne Auslöser.199 Prägend als metaphorischer Vergleich setzte sich für das Verhältnis zwischen Emotion und Stimmung das zwischen Figur (Emotion) und Hintergrund (Stimmung) durch.200 Das Phänomen der Emotionen kann m.E. sinnvollerweise anhand der drei von Jens Eder vorgeschlagenen Parameter bestimmt werden: Intensität, Intentionalität (Objektbezogenheit) und Zeit. So gibt es starke Emotionen mit klarem Objektbezug, die nur kurz und akut in Erscheinung treten (meist als „Affekt“ bezeichnet), aber auch solche objektbezogenen Gefühle, welche über längere Zeiträume stabil sind (in diesem Fall spricht man meist von „emotionalen Dispositionen“), sowie relativ schwache, aber andauernde Emotionen ohne spezifisches Objekt (dann spricht man von einer „Stimmung“).201 Eine Unterscheidung zwischen „Emotion“, „Gefühl“ und „Affekt“ soll in dieser Arbeit nicht vorgenommen werden. Zum einen ist es m.E. äußerst schwierig, die Begriffe klar voneinander zu trennen. Wo hört ein Affekt auf und beginnt eine Emotion? Wo wird nur auf die innere Qualität eines Gefühls Bezug genommen und wo bereits auf die Emotion? Um nicht zu unterstellen, dass diese Termini unmissverständlich und klar voneinander abgrenzbar seien, soll daher auf eine Differenzierung verzichtet werden. Des Weiteren sind „Gefühl“ und „Affekt“ stark geprägte Begriffe: Das Gefühl ist sehr umgangssprachlich, wird häufig auch für Sinnesempfindungen oder Ahnungen verwendet (wie etwa das „Völlegefühl“, das allzu bekannte „Bauchgefühl“, aber auch das „Zeitgefühl“ etc.), welche keine per se emotionale Qualität haben müssen.202 Der Affekt ist ein maßgeblich antiker und barocker Begriff, der heute jedoch gänzlich anders verwendet wird.203 Letztlich muss die klare Trennbarkeit der Begriffe schon dadurch angezweifelt werden, dass sie in der Literatur alles andere als einheitlich ist.204 „Emotion“ eignet sich m.E. als angemessenes Hyperonym für all diese Phänomene, da sie der neutralste und darüber hinaus umfassendste Begriff ist. Auf diese Weise wird eine unnötige Engführung des Verständnisses von Emotionen vermieden. Daher: Es sei 199

Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 29. Vgl. ebd. 201 Vgl. EDER, Thesen, 363. 202 Vgl. WAGNER, Emotionen, 14. 203 Vgl. a.a.O., 19 f. Es soll hier auch keine duale Differenzierung der Termini vorgenommen werden, um die antike von der heutigen fachwissenschaftlichen Emotion zu unterscheiden, wie es etwa Anke Inselmann vorschlägt (sie nutzt „Affekt“ für den antiken Emotionsbegriff und „Emotion“ für den heutigen, vgl. INSELMANN, Freude, 14; dies., Emotions, 539). Eine solche Unterscheidung suggeriert jedoch stark, dass das antike Gefühlserleben einer Emotion vom heutigen in irgendeiner Weise abweicht. Ohne diese Möglichkeit freilich ausschließen zu wollen, soll hier von einer grundsätzlichen Ähnlichkeit des Emotionserlebens durch die Zeit hindurch ausgegangen und nur ein Begriff verwendet werden. 204 Vgl. WAGNER, Emotionen, 20 f. 200

3. Gegenstandsbestimmung, Abgrenzungen und Einordnungen

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denn andere Begriffe wie „Affekt“ oder „Gefühl“ werden in Bezug auf referierte Sekundärliteratur verwendet, gebraucht diese Arbeit „Emotion“ als Hyperonym des emotionalen Empfindens und Erlebens. Auch scheint er im Hinblick auf die textanalytische Ausrichtung dieser Arbeit, bei der eine Unterscheidung zwischen innerer Erlebnisqualität (Gefühl) und Ausdruck (Emotion) meist nicht getroffen werden kann, am passendsten. Ein Text ist stets eine Ver-äußerung eines inneren Gefühls. Dazu kommt noch ein sprachhistorisches Argument: Die Beschäftigung beschränkt sich an dieser Stelle auf Emotionen in antiken Texten, in welchen eine diesbezügliche Differenzierung etwaiger Über- oder Unterkategorien des Emotionsphänomens selbst nicht vorgenommen wird. Auch daher erscheint die Verwendung des Begriffs „Emotion“ am geeignetsten, da geprägte Begriffe der antiken Philosophie wie Affekt oder Pathos nicht verallgemeinernd übernommen werden, sondern stattdessen ein neutraler Begriff zur Auseinandersetzung mit der Thematik gewählt wird. Die Unterscheidung zwischen „Emotion“ und „Stimmung“ soll jedoch aufrechterhalten werden, da eine Stimmung – gerade in der Textanalyse – an grundsätzlich anderen Parametern erschlossen werden muss als eine Emotion. Dazu mehr an gegebener Stelle.205 An dieser Stelle muss eine weitere Begriffsbestimmung vorgenommen werden, nämlich der des bereits allzu häufig genannten Adjektivs „emotiv“. Während der Terminus im alltäglichen Sprachgebrauch lediglich ein Synonym für „emotional“ darstellt, d.h. eine wie auch immer geartete Verbindung mit Emotionen ausdrückt206, gebraucht man den Begriff in der Linguistik, Semiotik und Kommunikationswissenschaft für „zeichenhaft geäußerte Gefühle“, d.h. den „gefühlshaft wertenden Teil“ eines Sprechaktes.207 In dieser Arbeit soll der Begriff so gebraucht werden, dass er sich zum einen an diesen senderbezogenen „Gefühlswert“ eines Sprechaktes anlehnt und gleichzeitig darüber hinausgehend die Emotionen einschließt, welche er damit dem Empfänger vermittelt und in ihm auslösen möchte. Er wird insofern prozesshaft verstanden und beinhaltet sowohl die textliche Darstellung einer Emotion als auch ihre intendierte Wirkung aufseiten des Empfängers. Die Erfragung „emotiver“ Wirkungen konzentriert sich demnach ganz auf die Ebene des Textes und umfasst damit ein größeres Spektrum an Emotionen als die „emotionalen“ Prozesse der Rezeption, welche auf die Reaktion der Rezipienten fokussieren. Diese Differenzierung trägt zum einen dem Umstand Rechnung, dass die emotionale Reaktion eines Rezipienten auf einen Text nicht den im Text transportierten Emotionen entsprechen muss, sondern vielmehr nur den zu evozieren intendierten Emotionen. Zum anderen dient sie der rezeptionsästhetischen Verortung, indem sie gewährleistet, dass zwischen der Leserlen205

S.u. Kap. 3.2.2.4. Vgl. Duden V, 265. 207 Vgl. Metzler Lexikon Sprache, 174. 206

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Kap. 1: Thematische Horizonte

kung des Textes und der tatsächlichen Textrezeption durch den empirischen Rezipienten unterschieden wird, da die hier vorliegende Studie nur nach Ersterem fragen kann. Genaueres dazu wird an gegebener Stelle erläutert werden.208 Mit der Komplexität der Emotionsthematik sowie der hier angestrebten Erarbeitung einer „emotiven Heuristik“ für die Textrezeption geht des Weiteren der Umstand einher, dass einige Felder der Emotionsforschung weitgehend unberücksichtigt bleiben können und müssen. Auf einem so breiten Feld wie dem der Erforschung der Emotionen ist es unumgänglich, thematische Ein- und Abgrenzungen vorzunehmen. Nicht von Bedeutung für diese Arbeit sind naturwissenschaftliche Begründungen und Erklärungstheorien von Emotionen:209 Es werden weder mögliche Erklärungsansätze zur Entstehung und Entwicklung von Emotionen, verschiedene Emotionstheorien, noch Methoden der Emotionsforschung oder Fragen der Physiologie und Neurochemie der Emotionen diskutiert. Für eine Analyse von Emotionen in Texten sind diese zugespitzten, neuro- und evolutionsbiologischen Fragestellungen keine notwendige Voraussetzung. Auch auf besondere Ansätze der Emotionspsychologie, wie etwa die psychoanalytische Affekttheorie210 oder den Emotivismus211, geht diese Arbeit nicht detailliert ein. Hier wird zwar der berechtigte Versuch unternommen, Emotionen als prominente Modifikatoren von Sprache und Verhalten herauszustellen, doch sind die genannten Ansätze m.E. zu voraussetzungsreich und umstritten, um sie für eine allgemein gültige Analyse von Texten anzuwenden.212

208

S.u. Kap. 3.2.1.1. Vgl. dazu bspw. OTTO/EULER/MANDL, Emotionspsychologie, 45–176.395–518; PUGMIRE, Emotionen; ROBINSON, Emotionen; SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 37–222. 210 Vgl. dazu bspw. ELHARDT, Tiefenpsychologie; MERTENS, Psychoanalyse; OTTO/EULER/MANDL, Emotionspsychologie, 64–74. 211 Vgl. dazu bspw. AYER, Sprache; MOORE, Principia; STEVENSON, Ethics. 212 Psychoanalyse und ähnliche tiefenpsychologische Ansätze sind nicht nur zu umstritten, um als Grundlage für eine möglichst allgemeingültige Textanalyse dienen zu können (vgl. die Kritik bei LEINER, Exegese, 153; KÄHLER, Gleichnisse, 57–59). Sie eignen sich auch aus pragmatischer Hinsicht nicht für das Ziel dieser Arbeit: Zum einen zielen sie als dezidiert therapeutische Ansätze auf die Behandlung des Menschen im Sinne einer Bewusstwerdung seines unbewussten Umgangs mit Trieben, während diese Arbeit die emotionalen Prozesse des Rezeptionsvorgangs zu entschlüsseln sucht. Diesbezüglich ist es auch nicht ihr Ziel, unbewusste – vom Autor ggf. nicht einmal intendierte – Prozesse, die ein Text auslöst, freizulegen, sondern beabsichtigte emotive Leserlenkung durch den Text herauszuarbeiten (vgl. ROHLS, Geschichte, 598–600). Näheres zu verschiedenen psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Theorien zu literarischen Texten vgl. RÜHLING, Zugänge. 209

3. Gegenstandsbestimmung, Abgrenzungen und Einordnungen

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Zum anderen kann auch auf philosophische Grundsatzüberlegungen zur Beschaffenheit von Emotionen213, ihrer Intentionalität214, Kognitivität215 oder ihrem Zusammenhang mit Werten216 verzichtet werden. Solche philosophischen Fragestellungen wie etwa, ob Emotionen natürliche Dinge (natural kinds), d.h. Bewertungsmechanisen sui generis, oder bloße Konstrukte der sozialen Gemeinschaft (materialistisch-konstruktivistische Diskussion) sind, und ob die emotionale Reaktion vor oder nach einer rationalen Situationsbeurteilung liegt (so genannte Feeling Theories gegenüber kognitivistischen Emotionstheorien), führen hier nicht weiter.217 Darüber hinaus ist eine Eingrenzung zu betrachtender Emotionskonzeptionen vorzunehmen: Für die Untersuchung des Mt-Ev stehen insbesondere antike Emotionsverständnisse im Fokus, die im folgenden Kapitel betrachtet werden. Spätere Theorien von den Kirchenvätern bis hin zu philosophischen Ansätzen der Neuzeit sind für eine emotive Analyse der urchristlichen Texte nicht zielführend.218 Die neutestamentliche Ausrichtung dieser Studie legt den Fokus ihrer Argumentation auf antike Texte, zu deren besserem Verständnis moderne emotionspsychologische und literaturwissenschaftliche Erkenntnisse beitragen sollen. Auf diese Weise wird eine Theorie zur emotionalen Textrezeption sowie eine praktische Methodik zur Analyse von Emotionen in Texten erarbeitet, die möglichst wenig von besonderen voraussetzungsreichen philosophisch-psychologischen Theorien abhängt. Für dieses Anliegen sind demgegenüber andere Bereiche von Wichtigkeit. Durch die gezielte Fragestellung dieser Arbeit nach dem Zusammenhang zwischen Emotion und Ethik wird jegliches Interesse an den Emotionen stets auf deren Bedeutung für das menschliche Denken und Handeln zugespitzt. Um Emotionen in Texten dahingehend zielführend zu analysieren, muss erstens nach möglichen Klassifizierungen einzelner Emotionen und erkennbaren Emotionsgruppen sowie nach ihren spezifischen Merkmalen gefragt werden. Auf diese Weise können die in Texten begegnenden Emotionen hinsichtlich ihrer handlungspragmatischen Wirkungen besser beurteilt und eingeordnet werden. Begegnen in den neutestamentlichen Texten Emotionen auf ähnliche 213 Vgl. dazu bspw. GRIFFITHS, Emotionen; ROBERTS, Emotionen; HELM, Bewertungen; ROBERTS, Emotionen. 214 Vgl. dazu bspw. GOLDIE, Emotionen; KENNY, Handlung; LYONS, Emotion; DE SOUSA, Rationalität. 215 Vgl. dazu bspw. ROBERTS, Emotion; SOLOMON, Emotionen; STOCKER, Betrachtungen. 216 Vgl. dazu bspw. BROSCH/SANDER, Handbook; MÜHLING, Gefühle; MULLIGAN, Emotionen; TAPPOLET, Emotionen; WIGGINS, Subjektivismus. 217 Vgl. dazu bspw. LANDWEER/NEWMARK, Seelenruhe, 95–106; POWER/DALGLEISH, Cognition, 15–114; SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 18–23. 218 Vgl. dazu bspw. den aufschlussreichen Sammelband von Hilge Landweer und Ursula Renz (LANDWEER/RENZ, Handbuch).

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Kap. 1: Thematische Horizonte

Weise, wie sie heute verstanden werden, oder sind Differenzen erkennbar? Eignen etwa verschiedenen Emotionen gemeinsame positive bzw. negative ethische Aspekte? Deckt sich dies mit unserer heutigen Wahrnehmung dieser Emotionen? Zweitens sind die vielfältigen motivationalen Auswirkungen der jeweiligen Emotionen von Interesse. Auf diese Weise lassen sich die in einem antiken Text vorkommenden Emotionen angemessen untersuchen, einordnen und beurteilen: Wie ähnlich sind die Emotionen des Textes ihrem heutigen Verständnis? Wie wirken sie sich aus? Haben sie in moralischen Entscheidungssituationen handlungspragmatische Wirksamkeit? Wie sind sie demnach für die Ethik einzuschätzen, und nutzt der Text sie zur Vermittlung seiner ethischen Botschaft? Um sich der Thematik der Emotionen in biblischen Narrationen so exakt wie möglich zu nähern, ist es zum einen wichtig, von den Texten in ihrer jeweiligen Entstehungszeit auszugehen; zum anderen ist es ebenfalls hilfreich, bewusst den heutigen Forschungsstand zur Betrachtung heranzuziehen.219 Nicht nur intuitiv sind universelle, zeitübergreifende Übereinstimmungen zwischen den emotionalen Prozessen antiker und heutiger Menschen als anthropologische Grundkonstanten anzunehmen.220 Auch die bisherigen Forschungen der Historischen Psychologie legen nahe, dass sich das antike Bewusstsein von Emotionen weit stärker mit modernen emotionspsychologischen Erkenntnissen überschneidet, als lange Zeit angenommen.221 Tatsächlich darf die Vorsicht vor Anachronismen, welche fürchtet, antiken Texten durch unser modernes Verständnis gänzlich fremde Reaktionen auf einen Text zu unterstellen, nicht zu weit gehen, will man nicht die hermeneutische Grundannahme gefährden, dass ein heutiges Verstehen antiker Texte generell möglich ist.222 Daher kann durchaus mit der Annahme „emotionaler Universalien“ an die Textanalyse herangegangen werden.223 Ein solches ist bspw. in der Empathie zu erkennen, welche im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer zu betrachten sein wird.224 219

Vgl. INSELMANN, Emotions, 547 f. Dieselbe Annahme macht auch Cornelis Bennema analog für die Figurenrezeption: „I maintain that since characters resemble people, and people across time are more alike than different, it is legitimate and fruitful to apply insights of modern literary methods to ancient narratives.“ (BENNEMA, Theory, 108). Damit soll jedoch solchen Stimmen, welche darauf hinweisen, dass Emotionen nicht vollständig universal sind, da es transkulturelle Unterschiede in der emotiven Expression gibt, nicht widersprochen werden (vgl. DINKLER, Reflexivity, 267 f.). 221 Vgl. VON GEMÜNDEN, Überlegungen, 32 f.; LEINER, Exegese, 152 f.; WÖRDEMANN, Emotion, 404–420. 222 Vgl. INSELMANN, Freude, 25 f. 223 Dieser Begriff stammt aus der Emotionspsychologie, während im theologischen Diskurs vielmehr von „anthropologischen Konstanten“ oder „anthropologischen Universalien“ gesprochen wird (vgl. a.a.O., 25). 224 Vgl. a.a.O., 27. 220

4. Resümee

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Freilich sind stets etwaige zeitliche, historisch-kulturelle Grenzen zu beachten. Die Frage nach dem Wissensstand bzw. der Beurteilung der Emotionen in der Zeit der Abfassung biblischer Texte muss bedacht werden, um zu verhindern, dass Ansprüche an einen Text gestellt werden, denen dieser von vornherein nicht gerecht werden kann. Nicht zuletzt dazu wird der kommende Überblick über Emotionsverständnisse in der Antike dienen. Letztlich muss m.E. stets das aristotelische Zugeständnis vorausgeschickt und berücksichtigt werden, von einem jeden Themengebiet nicht mehr Präzision zu verlangen, als es der Gegenstand zulässt (Aristot., eth. Nic. I,1094b).

4. Resümee 4. Resümee

Der hier dargestellte Überblick über diverse Forschungsgebiete zeigt zunächst ein um die Jahrtausendwende durch die Neurowissenschaft ausgelöstes, stetig ansteigendes Interesse am Forschungsbereich der Emotionen auf. Seither gewinnt die Untersuchung der Emotionen in Naturwissenschaften, Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften und letztlich auch in der Philosophie und Theologie an wachsender Prominenz. Dieser emotional turn redet der Wiederentdeckung einer Sprachkategorie das Wort, die lange Zeit einer tendenziell intellektualistischen Lesart von Texten zum Opfer gefallen war. Der Einblick in die vielseitige, jüngere Emotionsforschung an dieser Stelle lässt sich treffend mit den Worten Rainer Dachselts zusammenfassen: „Seit der Antike galt als Hauptsache und wesentliche Qualität der Poesie die starke emotionale Wirkung, das Pathos. Die (natürlich vorhandenen) intellektuellen und ethischen Aspekte der Dichtung wurden meist nur betont, um sie gegen theologische und philosophische Angriffe zu verteidigen. Im 20. Jahrhundert dagegen hat sich der Akzent in Kritik, Poetik und Literaturwissenschaft eindeutig auf die intellektuellen, reflektierenden, nicht emotionalen Aspekte der Dichtung (und der Kunst im allgemeinen [sic!]) verschoben.“225

Der sodann erfolgte gezieltere Blick in wichtige neutestamentliche Untersuchungen von Emotionen zeigt deutlich, dass Emotionen in der Theologie zwar bereits seit langem immer wieder Interesse auf sich ziehen, gezielte Analysen bis heute jedoch auffällig selten bleiben. Die erschienenen Studien zu Emotionen in den Evangelien betrachten dabei entweder bestimmte Einzelemotionen und ihre Rolle im Textkorpus226 oder nehmen verschiedene Emotionen und ihr spezifisch theologisches Profil in den Blick227. Eine allgemeine Untersuchung von Texten auf ihre emotiven Wirkungen hingegen unterbleibt. Dieses Forschungsdefizit zeichnet das Anliegen der vorliegenden

225

ANZ, Turn, 6. Vgl. GEYER, Fear; VOGT, Angst. 227 Vgl. ELLIOTT, Feelings; VOORWINDE, Jesus. 226

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Kap. 1: Thematische Horizonte

Arbeit, eine Methode zur emotiven Textanalyse zu erarbeiten, als lohnendes Desiderat aus. Die aktuelle theologische Erforschung der Ethik im Mt-Ev stützt diesen Befund insofern, als es an einer Berücksichtigung der Emotionen für die Ethik des Mt-Ev noch immer mangelt. Obgleich Konsens darüber besteht, dass Emotionen – insbesondere die Liebe und das Mitleid – sowohl den Glauben als auch die Lebensweise im Mt-Ev auf besondere Weise konstituieren und qualifizieren, rücken über diese im Text genannten Emotionen solche nicht in den Blick, die anhand des Textes im Rezipienten ausgelöst werden, geschweige denn die Frage, wie diese zum Verständnis und zur Pragmatik des Textes beitragen. Auch wird die mt Ethik noch immer weitestgehend im Zuge der expliziten Auseinandersetzung Jesu mit dem mosaischen Gesetz in der Bergpredigt verhandelt und eine Betrachtung anderer Textgattungen bleibt größtenteils außer Acht. Diese Arbeit wendet sich jedoch nicht solchen offensichtlich ethischen Texten, wie etwa der Bergpredigt, zu, sondern konzentriert sich vielmehr darauf, wodurch sich die ethische Unterweisung in den Parabeln Jesu im Mt-Ev auszeichnen. Solche Texte sind nicht nur insofern ethisch interessant, als sie oftmals keine explizite ethische Norm im Sinne eines „du sollst (nicht)“ enthalten und dennoch solche vermitteln. Dass diese ethische Vermittlung stattfindet, ist in Forscherkreisen gemeinhin anerkannt. Doch muss auch gefragt werden, wie diese Vermittlung geschieht und welche Elemente der parabolischen Gattung sie pragmatisch wirksam werden lassen. Somit zeichnet auch ein Blick in die aktuelle Mt-Forschung eine methodischzielgerichtete Auseinandersetzung mit der narrativ-emotiven Komponente der mt Ethik als lohnend aus: Diese Studie geht über die bisherigen Betrachtungen der mt Ethik hinaus, indem sie zum einen andere Texte in den Fokus ihrer Untersuchung stellt und zum anderen ihre Aufmerksamkeit dabei auf die Rolle der Emotionen richtet. Dieser Beitrag zu den betrachteten wissenschaftlichen Behandlungen von Emotionen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Mit dem Zielpunkt, den emotionalen Anteil in der narrativen Ethikvermittlung mt Parabeln zu erforschen, geht er über bisherige Forschungsanliegen hinaus und begegnet zwei Desideraten zugleich: Zum einen legt die Studie eine gesonderte und allgemein anwendbare Methode zur gezielten Analyse emotiver Rezeptionsprozesse von Erzähltexten vor und wendet sie auf ausgewählte Texte des Mt-Ev an. Dass eine solche in den bisherigen Arbeiten fehlt, deutete der soeben dargestellte Forschungsüberblick bereits an; im dritten Kapitel der vorliegenden Studie wird dieses Defizit der neutestamentlichen Exegese aber noch genauer beleuchtet werden. Zum anderen geht sie auf Grundlage dieser Textanalysen der Bedeutung der Emotionen für die narrative Ethik des Mt-Ev auf den Grund. Damit wird die Emotionsthematik nicht um ihrer selbst willen ins

4. Resümee

53

Zentrum der Untersuchung gestellt, sondern trägt zu einem vertieften und holistischen Verständnis der narrativen Ethik im Mt-Ev bei. Als Grundlage für die folgenden Ausführungen wurden in diesem Kapitel schließlich wichtige Vorentscheidungen bezüglich des Untersuchungsgegenstandes der Arbeit getroffen. Aufgrund des diffusen Begriffsgebrauchs „Emotion“ in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen, welche, wie gesagt, bis heute keinen definitorischen Konsens erreicht haben, muss das Vorgehen dieser Arbeit notwendigerweise noch kurz verdeutlicht werden: Zugrunde gelegt wird die Kompilationsdefinition von „Emotion“ nach Anne und Paul Kleinginna.228 Von den darin genannten Definitionsparametern sind für das Feld der narrativ-ethischen Exegese insbesondere drei von Interesse: (a) ausgelöste Gefühle, (b) ausgelöste Werturteile, (d) ausgelöstes Verhalten. Von einer exakten Trennung der Begriffe „Emotion“, „Affekt“ und „Gefühl“ wird Abstand genommen, um nicht zu suggerieren, dass eine solche begriffliche Abgrenzung problemlos möglich sei. Stattdessen soll im Folgenden lediglich der Terminus „Emotion“ verwendet werden, da sich dieser als geeignetes Hyperonym für alle in Texten zu untersuchenden emotiven Phänomene anbietet. Lediglich die Unterscheidung zwischen „Emotion“ und „Stimmung“ wird übernommen, da eine solche in Texten gesondert untersucht werden kann. Des Weiteren wird der für diese Studie zentrale Begriff „emotiv“ definiert als sowohl die Emotionen umfassend, welche ein mündlicher oder schriftlicher Sprachakt ausdrückt, als auch jene, welche er damit beim Empfänger auszulösen anstrebt. Er ist insofern vom Terminus „emotional“ zu unterscheiden, als er auf die im Text erkennbare Leserlenkung fokussiert, während sich jener auf die tatsächliche Rezipientenreaktion bezieht. Die Arbeit lässt sich von weiteren möglichen Aspekten, unter denen Emotionen betrachtet werden können, abgrenzen, etwa von physiologischen und expressiven Auswirkungen, von biologischen und philosophischen Theorien zu Genese und Beschaffenheit von Emotionen und vom Umgang mit Emotionen in verschiedenen Epochen der Geschichte. Im Zuge einer sinnvollen emotiven Textanalyse im Hinblick auf die vermittelte Ethik liegt der Fokus stattdessen auf phänomenologischen Aspekten, d.h. möglichen Klassifizierungen und Gruppierungen, und auf motivationalen Aspekten, d.h. ihren behavioralen Auswirkungen und damit auf ihrer ethischen Relevanz. Die hier zugrunde gelegte, wissenschaftlich methodische Vorgehensweise zieht für die folgenden Betrachtungen der Emotionen stets sowohl antike Emotionsverständnisse als auch moderne Emotionsforschungen heran. Die Bezugnahme auf den heutigen Forschungsstand ist heuristisch gewinnbringend, um die in den Texten begegnenden Emotionsphänomene optimal einordnen, beurteilen und analysieren zu können. Gleichzeitig wird durch die

228

S.o. Kap. 1.3.

54

Kap. 1: Thematische Horizonte

Basis der antiken Texte ein anachronistischer Anspruch an die zu untersuchenden Texte des Mt-Ev ausgeschlossen.

Kapitel 2

Die ethische Relevanz der Emotionen Vernunft und Gefühl sind die Sonne und der Mond am moralischen Firmament. Immer nur in der heißen Sonne würden wir verbrennen; immer nur im kühlen Mond würden wir erstarren. (Friedrich Maximilian von Klinger) Wie das vorherige Kapitel deutlich gemacht hat, ist das Unternehmen, die Rolle von Emotionen für die narrative Ethik zu untersuchen, keineswegs selbstverständlich: Theologisch-neutestamentliche Auseinandersetzungen mit Emotionen finden sich nur vereinzelt und eine Verbindung zur Ethik wird äußerst selten hergestellt. Demgegenüber sticht die Ansicht dieser Studie besonders heraus, die fordert: Bei einer Analyse der narrativen Ethik von Erzähltexten bedarf es einer gesonderten Methode zur gezielten Untersuchung emotiver Prozesse im Rezeptionsvorgang. Bevor eine solche Methode jedoch erarbeitet werden kann (Kapitel 3), ist es zunächst notwendig, diese These zu begründen. Im aktuellen Kapitel wird nun gezeigt, weshalb es lohnenswert ist, Emotionen bei der Untersuchung der ethischen Dimension narrativer Texte mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und es stellt dazu Argumente aus vier verschiedenen Forschungsperspektiven vor.1 Da das Ziel dieser Untersuchungen ein antiker, biblischer Text ist, lohnt zunächst ein Blick in antike Texte, welche den geistesgeschichtlichen Hintergrund und kulturellen Kontext des Zieltextkorpus darstellen (2.1). Im Zuge dieser Betrachtungen wird dargelegt, dass bereits in der Antike ein deutliches Bewusstsein bezüglich der handlungsleitenden Auswirkungen von Emotionen existent ist und die Weckung von Emotionen bewusst eingesetzt wird, um diese Auswirkungen zu nutzen. Die mannigfachen kognitiven und behavioralen Konsequenzen von Emotionen lassen sich sodann auf der Grundlage moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse genauer ausführen, wobei auch der Bezug zwischen Emotionen und Moral näher zu beleuchten sein wird (2.2). Hinsichtlich der ethischen Relevanz von Emotionen versprechen diese Betrachtungen genaueren Aufschluss darüber, wie eng die Beziehung zwischen Emotion, Kognition und Volition ausfällt. 1 Hier soll kein Anspruch auf Vollständigkeit gestellt und die Möglichkeit weiterer Argumente unangetastet bleiben.

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

Ein darauf folgender exemplarischer Blick in verschiedene ethische Ansätze zeigt, dass auch auf dem Gebiet der philosophischen Ethik die Bedeutung der Emotionen in moralischen Entscheidungs- und Handlungsprozessen zunehmend gewürdigt wird (2.3). Insbesondere das Interesse an narrativer Ethik sowie ihren medialen Besonderheiten taucht hier in unterschiedlichen Weisen auf. An diese Überlegungen anknüpfend wird ein ganz besonderer ethischer Ansatz vertiefend betrachtet, nämlich der der „narrativen Ethik“. Da dieser nun direkt in die Thematik der vorliegenden Studie vordringt, welche den Zusammenhang zwischen Emotionen, Narrationen und Ethik im Mt-Ev genauer zu beleuchten sucht, lohnt es, diesen abschließend nochmals gesondert zu betrachten. Hier erfolgt eine Erörterung der ethischen Relevanz von Emotionen aus Sicht der Narrationsforschung (2.4). Im Zuge dessen arbeitet eine Untersuchung der emotiven Charakteristika von Erzähltexten deren gattungsspezifische Mehrwerte hinsichtlich der Vermittlung ihres ethischen Gehalts heraus.

1. Emotionen in der Antike 1. Emotionen in der Antike

Wie bereits erwähnt, ist die Thematik der Emotionen weit aufgefächert und kann verschiedene Fragestellungen behandeln: „Entsprechend gestalten sich Emotionsdiskurse höchst unterschiedlich, je nachdem, ob die Frage ist, wie man Gefühle abbildet, wie man sie hervorruft oder wie man selbst mit ihnen umgeht. In der Antike machten sich etwa Poetik und Rhetorik die ersten beiden Fragen zu eigen, während sich die Philosophie intensiv mit der dritten beschäftigte.“2

Viertens wurde in der Antike erstmals der Versuch unternommen, einzelne Emotionen definitorisch ein- und abzugrenzen.3 Für die hier im Vordergrund stehende Frage nach der Relevanz von Emotionen für das menschliche Denken und Handeln ist insbesondere die dritte, in der Philosophie behandelte Frage von Interesse: Wie können Emotionen im Hinblick auf eine gute Lebensführung hin gewertet werden? Werden Emotionen in der Antike als grundsätzlich positive, bereichernde Phänomene der Anthropologie – und ggf. auch der Theologie – beurteilt oder eher als problematisch angesehen? Wie können und sollen Emotionen ausgelebt, wie kann und soll auf sie reagiert werden? Grundsätzlich legen die zahlreichen antiken Diskurse über die Thematik nahe, „dass der Umgang mit unseren Emotionen für eine gelingende Lebensführung von einer nicht geringen Bedeutung ist“4. Im Laufe der 2

HARBSMEIER/MÖCKEL, Gefühle, 16. Vgl. KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 47 f. 4 A.a.O., 49. 3

1. Emotionen in der Antike

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Zeit zeigen sich verschiedene „Versuche, Gefühle als eine menschliche Grundkategorie zu beschreiben und zu klassifizieren“5. Die Betrachtung antiker Verständnisse von Emotionen ist an dieser Stelle von zweifachem Interesse: Erstens dient dieser kulturelle Hintergrund als wichtige Voraussetzung für die Einordnung und Beurteilung der Emotionen, die in konkreten frühchristlichen Texten wie dem Mt-Ev begegnen. Zweitens untermauert ein Blick in die antiken Texte die Ansicht dieser Studie, dass sich bereits antike Autoren der handlungspragmatischen Relevanz von Emotionen bewusst waren und sie sogar gezielt zur Verstärkung der ethischen Botschaft ihrer Texte genutzt haben. In den folgenden Betrachtungen wird der Fokus auf biblische Texte gelegt, welche im Hinblick auf das Zieltextkorpus des Mt-Ev besonderen Mehrwert versprechen. Davor erfolgt ein schlaglichtartiger Einblick in Etappen der antiken Geistesgeschichte, die den Hintergrundrahmen der biblischen Texte aufspannen. Auf dieser Grundlage soll das später im Mt-Ev begegnende Emotionsverständnis im Hinblick auf seine verschiedenen Nährböden besser eingeordnet und beurteilt werden können. Die Majorität der Betrachtungen griechisch-römischer Perspektiven ergibt sich daraus, dass sich das Emotionsverständnis der Griechen und Römer häufig aus philosophischen sowie rhetorischen Traktaten direkt erheben lässt, Aussagen über die altorientalischjüdische Emotionskonzeption jedoch nur anhand anthropologischer sowie theologischer Aussagen indirekt erschlossen werden können. Schließlich muss an dieser Stelle betont werden, dass das Ziel dieses Kapitels ein heuristischer Überblick ist und daher keine detaillierte Quellenarbeit bietet. Diese wäre angesichts des Umfangs der zu betrachtenden Texte weder zu leisten noch bezüglich des Kapitelanliegens zielführend. 1.1 Außerbiblische Hintergründe 1.1.1. Emotionen als Daimon in der griechischen Götterverehrung In den Anfängen der antiken Literatur, die nur durch den griechischen Mythos erhalten geblieben ist, begegnet die Emotion ganz prominent, nämlich als erstes Wort der homerischen Ilias: Μῆνιν ἄειδε, ϑεά, Πηληιάδεω Ἀχιλῆος οὐλοµένην – „Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus, den verderblichen“ (Hom., Il. I,1). Das emotionale Erleben wird somit deutlich als gewichtige und grundlegende Komponente des Menschseins dargestellt.6 Dazu passt der Befund, dass die Heroen der griechischen Epen ihre Emotionen geradezu exzessiv ausleben.7 Emotionen erscheinen als ein besonderer Seinszustand, der den Menschen in seinem Denken und v.a. in seinem 5

ULICH/MAYRING, Psychologie, 20. Vgl. SCHMITZ, Verwaltung, 45. 7 Vgl. BÖHME, Phobos, 177 f. 6

58

Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

Handeln beeinflusst und ausmacht. Nur an Letzterem lässt sich darüber urteilen, ob die Emotion, die den Menschen ergriffen hat, gut oder schlecht ist. Als für die ethische Relevanz der Emotionen zentraler Aspekt fällt jedoch auf, dass der Mensch als ganz und gar passive Instanz innerhalb des emotionalen Geschehens beurteilt wird. Das Erleben einzelner Emotionen wird hier auf externe, außerhalb der Person selbst liegende Mächte zurückgeführt. Dazu zählen v.a. die Götter, die den Menschen mit einer bestimmten Emotion schlagen, oder andere übermenschliche Mächte, so genannte Daimonen.8 Diese sind nicht per se negative Mächte; vielmehr unterscheidet Poseidonius bspw. bewusst zwischen κακο-δαίµων und εὐ-δαιµονία (vgl. Gal., PHP 448,15–449,8). Häufig ergibt sich ihr negativer Charakter lediglich aus dem Exzess der Empfindung wie etwa bei Eros (als Liebeswahn) und Phobos (als blinder Furcht).9 Emotionen sind demnach weniger innerlich erlebte Gefühle als vielmehr atmosphärisch-räumlich gedachte, von außen auf den Menschen treffende und ihn ergreifende Mächte.10 Gerade im religiösen Bereich des Lebens spielten Emotionen in der griechisch geprägten Kultur daher eine große Rolle und es wurde geradezu zelebriert, dass Gottheiten und Dämonen Emotionen im Menschen hervorrufen konnten. Einerseits führte dies zu abergläubischer Angst und emotionaler Unkontrollierbarkeit, andererseits zu ekstatischen Anbetungsritualen.11 Die Gottheiten selbst waren letztlich Beispiele solch ungezügelter Emotionsauslebung.12 Hierbei ist zu bedenken, dass sich Theologie und Ontologie im griechisch-römischen Kulturkreis um vieles näher stehen als im jüdischchristlichen und Götter als Teile der Welt gedacht wurden: Sie hatten den Kosmos nicht geschaffen, waren lediglich mit übermenschlicher Macht ausgestattet.13 Abgesehen davon wurden sie durchaus menschlich gedacht, d.h. u.a., dass sie über dasselbe emotionale Erleben verfügten und derselben Moral verpflichtet waren, die sie einhalten, aber auch ebenso verfehlen konnten.14 Die emotionale Bindung an diese Gottheiten war dementsprechend ambivalent: Auf der einen Seite wurde ihnen intensive Liebe und Verehrung entgegengebracht und auf eine göttliche Gerechtigkeit gebaut15; Aristoteles vergleicht diese Liebe sogar mit der von Kindern zu ihren Eltern (Ἔστιν δ ̓ἡ 8

Vgl. SCHMITZ, Verwaltung, 43. Vgl. BÖHME, Phobos, 159. 10 Vgl. SCHMITZ, Verwaltung, 46. 11 Obgleich solche Riten belegt sind, muss dennoch festgehalten werden, dass die Praktiken des öffentlichen Kultes – Opfer, Hymnen, Tänze und Chöre – von gezügelter Emotionalität geprägt waren und ausschweifendere, orgiastische Riten Randphänomene darstellten (vgl. VEYNE, Religion, 32 f.). 12 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 61 f. 13 Vgl. VEYNE, Religion, 15 f. 14 Vgl. a.a.O., 18. 15 Vgl. a.a.O., 31–33. 9

1. Emotionen in der Antike

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µὲν πρὸς γονεῖς φιλία τέκνοις καὶ ἀνθρώποις πρὸς θεούς, ὡς πρὸς ἀγαθὸν καὶ ὑπερέχον: Aristot., eth. Nic. VIII,1162a). Auf der anderen Seite waren die Götter den Menschen nicht immer gut gesinnt und ihre Missgunst wurde gefürchtet.16 Die Emotionalität der Götter war hierfür sowohl Ursache als auch Lösung: Die emotionale Unberechenbarkeit der Götter konnte als willkommene Möglichkeit dienen, die Kontingenz des menschlichen Lebens zu erklären.17 Dem antiken Menschen unerklärliche Dinge wie Naturkatastrophen, Hungersnöte oder Seuchen wurden mit dem Zorn der Götter begründet.18 Götter konnten bspw. zornig über eine Verletzung ihrer Ehre oder sogar neidisch oder eifersüchtig auf Menschen sein, doch konnte man diese Emotionen wiederum durch entsprechende Taten beeinflussen: Opfer sollten das Wohlwollen der Götter (zurück-)gewinnen, Gebete appellierten an ihren Stolz, Askese sollte ihr Mitleid wecken und demütige Handlungen ihren Zorn besänftigen.19 Ein bis in die heutige Zeit tradierter Beleg hierfür ist die Praktik des Klopfens auf Holz, das als Glück verheißende, Unheil abwehrende Handlung in Bezug auf ein bestimmtes Vorhaben Anwendung findet: Es sollte ursprünglich den Neid der Götter fernhalten.20 Auf diese Weise kam dem Umgang mit der Emotionalität der Götter auch eine therapeutische Funktion zu, um mit der eigenen emotionalen Lage fertigzuwerden: Opfergaben und sonstige rituelle Handlungen konnten nicht nur ex post, sondern auch apotropäisch vollzogen werden und waren ein wichtiges Bewältigungsinstrument der Furcht vor ebensolchen Ereignissen, indem sie das Gefühl vermittelten, Einfluss auf Unvorhersehbares zu haben.21 Gerade an der Emotionalität der griechischen Götter wird demnach die ethische Ambivalenz der Emotionen sichtbar: Sie beeinflussen das Denken und Handeln so stark, dass sie stets beachtet und wenn möglich reguliert und kontrolliert werden müssen. Zugleich diente die Religion als ein besonderes Ventil der eigenen Emotionalität, indem diese in rituellen Praktiken wertgeschätzt wurde und sorglos ausgelebt werden durfte. 1.1.2 Der Dualismus: Platon Erst mit der Idee der Seele findet allmählich eine Introjektion der Emotionen statt und diese werden zunehmend als innerpersonale Phänomene wahrgenommen, die kontrolliert und reguliert werden können.22 Mit der Zeit der Vorsokratiker wandelt sich die Vorstellung von Emotionen wahrnehmbar. 16

Vgl. a.a.O., 31. Vgl. a.a.O., 29 f. 18 Vgl. BÖHME, Phobos, 178–183. 19 Vgl. VEYNE, Religion, 29–31. 20 Vgl. WITTCHOW, Neid, 219–221. 21 Vgl. BÖHME, Phobos, 178–183. 22 Vgl. a.a.O., 161. 17

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

Demokrit ist der erste Philosoph, von dem bekannt ist, dass er dem Menschen zugesteht, Macht über seine Emotionen zu haben: Diese Macht ist die der Vernunft und des freien Willens; er bezeichnet erstmals die Seele als einen dem Menschen vorbehaltenen Innenraum, der zwar von Emotionen beherrscht werde, doch durch die Vernunft gereinigt und kontrolliert werden könne.23 Die die Seele überkommenden, unwillkürlichen Emotionen können und sollen so beherrscht werden. Diese Introprojektion des emotionalen Erlebens führte dazu, dass es lange Zeit in den Hintergrund geriet. Die abwertende Konnotation der Emotionen, welche es zu beherrschen galt, spiegelt sich in den damals üblichen Begriffen für das emotionale Geschehen: Verwendet werden πάθος und passio, jeweils hergeleitet von den mit „(er-)leiden“ zu übersetzenden Verben πάσχειν und pati. Wie im griechischen Mythos wird die Emotion noch immer als eine externe Macht angesehen, die der Mensch passiv erleidet. Emotio bezeichnet indes ursprünglich den – aktiven – Aufruhr des Volkes, während der Begriff „Emotion“ erst im 17. Jh. in der heute geläufigen Bedeutung geprägt wird.24 Mit Platon beginnt eine stärker systematische Beschäftigung mit der Thematik der Emotionen, welche bis heute erhalten ist.25 Auch für ihn ist die Tugend ganz grundsätzlich mit der Vernunft verbunden, der sich die Emotionen unterordnen müssen: „Der tugendhafte Gesamtzustand der Seele setzt voraus, dass sich die unvernünftigen Antriebe, zu denen auch die Emotionen gehören, letztlich in einer gewissen Übereinstimmung mit der Vernunft befinden und insofern entweder von der Vernunft kontrolliert werden oder sich – auch ohne Kontrolle – in einem mit der Vernunft harmonischen Zustand befinden.“26

Platons Ausführungen über die risikobehaftete, ethische Bedeutung von Emotionen finden sich im zehnten Buch seiner Schrift über den Staat. Dort bespricht er Emotionen im Zusammenhang seiner Kritik an der Dichtkunst, welche eben solche evoziere: In der Dichtung, so Platon, mögen Emotionen ihre Berechtigung und ihren Platz finden, sie aber im alltäglichen und politischen Leben zuzulassen, fördere nur einen wachsenden Hang zur Emotionalität: Τρέφει γὰρ ταῦτα ἄρδουσα, δέον αὐχµεῖν, καὶ ἄρχοντα ἡµῖν καθίστησιν, δέον ἄρχεσθαι αὐτὰ ἵνα βελτίους τε καὶ εὐδαιµονέστεροι ἀντὶ χειρόνων καὶ ἀθλιωτέρων γιγνώµεθα (Plat., rep. X,606d). Zur Erziehung des Volkes und zur Führung des Staates sei sowohl „die lyrische“ als auch „die epische, lustvolle Muse“ daher vollkommen ungeeignet, da dann Lust und Schmerz diesen beherrschten statt Gesetz und Vernunft: Εἰ δὲ τὴν ἡδυσµένην Μοῦσαν παραδέξῃ ἐν µέλεσιν ἢ ἔπεσιν, ἡδονή σοι καὶ λύπη 23

Vgl. SCHMITZ, Verwaltung, 43. Vgl. a.a.O., 44. 25 Vgl. KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 47. 26 A.a.O., 51. 24

1. Emotionen in der Antike

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ἐν τῇ πόλει βασιλεύσετον ἀντὶ νόµου τε καὶ τοῦ κοινῇ ἀεὶ δόξαντος εἶναι βελτίστου λόγου (Plat., rep. X,607a). Stattdessen zeichne es den mündigen, rechtschaffenen und guten Bürger aus, seine Emotionen stets durch die Vernunft beherrschen zu können.27 Im Hinblick auf die Ethik schreibt Platon den Emotionen eine rein negative Relevanz zu, denn emotionales Verhalten sei meist unvernünftig und unkontrollierbar, wodurch es den Menschen sogar von seiner Verantwortlichkeit für seine Taten freispreche.28 Diese Ansicht stützt er auf seine dualistische Anthropologie: „The passions are part of the illogical part of a divided soul. Plato argues that the soul must be divided because the passions are fundamentally different than reason.“29 In diesem Zusammenhang kritisiert er Dichter, die durch übermäßige Emotionalisierung den Zuschauer von Wahrheit und vernünftiger Unterweisung abbrächten.30 Durch den poetischen Einsatz von Metrum, Rhythmus und Musik könne der Mensch auf unvernünftige Weise emotional beeinflusst werden.31 Dieser Einfluss dürfe nach Platon zwar zur Unterhaltung eingesetzt und im Theater ausgelebt werden, jedoch keinesfalls dazu führen, dass dadurch eine der Emotionalität frönende – und damit unvernünftige – Lebensweise gefördert werde. Im Gegensatz zum griechischen Mythos werden Emotionen mit der demokritisch-platonischen Wende ganz in die Seele, d.h. in den innersten, persönlichsten Raum des Menschen verbannt. Die Problematik der Emotionen kann nun nicht mehr darin bestehen, dass der Mensch wie besessen ist und durch eine externe Macht gesteuert wird. Es bleibt allerdings die Ansicht bestehen, dass Emotionen meist zu unüberlegtem und unmoralischem Handeln führten. Um diese Gefahr auszumerzen, müssten sie durch die ratio, die Vernunft, geschult und gesteuert werden: Diese dann vernünftige Bewegung der Emotionen muss laut Platon aber zunächst freigelegt und eingeübt werden; sind sie dann einmal rational motiviert, ist ihnen die potentielle Gefährlichkeit genommen und sie sind ethisch unproblematisch.32 1.1.3 Vernünftige Regulierung: Aristoteles Mit Aristoteles kommt eine neue Entwicklung auf, die sich als die erste kognitive Emotionstheorie bezeichnen ließe. Schon für Platon gingen Emotionen aus Meinungen hervor, sodass aus falschen Meinungen auch falsche Emotionen entstehen könnten.33 Aristoteles aber führt diesen Gedanken noch weiter, 27

Vgl. KONSTAN, Rhetoric, 413. Vgl. ELLIOTT, Feelings, 58. 29 Ebd. 30 Vgl. a.a.O., 59. 31 Vgl. WALKER, Rhetoric, 281. 32 Vgl. HORN, Lebenskunst, 154. 33 Vgl. KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 60. 28

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

und da seine Auffassung von Emotionen für die europäische Geistesgeschichte prägend wurde, soll sie hier in aller Kürze vorgestellt werden: „In seiner Rhetorik bietet Aristoteles eine systematische Erklärung für das Zustandekommen verschiedener pathê wie Zorn, Scham, Neid u.a., indem er ihnen vier Elemente zuschreibt. Damit ein pathos zustande kommt, muss eine Person zunächst registrieren, dass etwas für sie Positives oder Negatives geschieht. Auf diese Registrierung folgt – je nach Charakter des Ereignisses – eine Empfindung von entweder Lust oder Schmerz. Diese Wahrnehmung geht ihrerseits mit einem Handlungsantrieb und einer körperlichen Veränderung einher.“34

Eine Emotion hat für Aristoteles demnach stets ein wertgeschätztes Objekt, auf das es sich bezieht (Intentionalität), zweitens ist dieses Objekt in Gefahr oder nicht, und drittens beziehen sich Emotionen auf gegenwärtige Zustände oder zukünftige Erwartungen.35 Auch für Aristoteles ist eine Emotion etwas, das den Menschen passiv überkommt und dabei sowohl den Körper als auch den Geist, in seinen Worten also die Seele, beeinflusst.36 Diese psychophysische, allumfassende Einflussnahme der Emotionen kommt in seiner Schrift Über die Seele zum Ausdruck: ἔοικε δὲ καὶ τὰ τῆς ψυχῆς πάθη πάντα εἶναι µετὰ σώµατος (Aristot., an. I,403). Darin nennt er überdies zwei Bereiche, die von Emotionen gesteuert würden: Einerseits könnten Emotionen zeitlich akute lust- bzw. unlustabhängige Passionen darstellen. Zum anderen könnten Emotionen zu Tugenden, d.h. festen Charaktereigenschaften der Persönlichkeit werden.37 Diese Unterscheidung begegnet in der modernen Erforschung der Emotionen wieder: Hier wird zuweilen differenziert zwischen state-Emotionen, welche sich kontextuell und punktuell auf ganz bestimmte Objekte beziehen (Befindlichkeit), und trait-Emotionen, welche eine die jeweilige Person charakterisierende, emotionale Disposition (Eigenschaft) bezeichnen.38 Auch Aristoteles unterscheidet akute Gefühlszustände (stateEmotionen) von emotionalen Eigenschaften (trait-Emotionen), was sich auch im zweiten Buch seiner Rhetorik niederschlägt, wo er über typische emotionale Merkmale verschiedener Personengruppen reflektiert (vgl. Aristot., rhet. II,1388b–1391b). Dabei sind Emotionen für Aristoteles, trotz einer gewissen irrationalen Charakteristik, dennoch der Vernunft nicht völlig unzugänglich.39 Lust (ἡδονή) und Schmerz (λύπη) seien „die Grundbahnen des Zugänglichwerdens unseres Selbst und der Welt in den Gefühlen“40. Ziel dabei sei εὐδαιµονία (vgl. Aristot., eth. Nic. I,1099a). Durch sie lebe der Mensch so, „wie es seinem Wesen entspricht, und diese Haltung wird unmittelbar ver34

HARBSMEIER/MÖCKEL, Gefühle, 11 (Hervorhebungen im Original). Vgl. ELLIOTT, Feelings, 76. 36 Vgl. KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 65–67. 37 Vgl. ALFES, Literatur, 39. 38 Vgl. IZARD, Psychology, 17. 39 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 66. 40 CORIANDO, Affektenlehre, 108. 35

1. Emotionen in der Antike

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nehmlich im ἤδιστον, dem angenehmsten Gestimmtsein. Die εὐδαιµονία ist die Stimmung des Wohlverweilens des Menschen in dem ihm zugewiesenen Leben.“41 Wie oben bereits anklingt, sind für Aristoteles Emotionen von gewichtiger Bedeutung im Hinblick auf die Ethik, was mit deren konkretem Handlungsantrieb zusammenhängt: „The emotions may also affect human behavior in general, which is why they are discussed at least to some extent in treatises on ethics, for example Aristotle’s Nicomachean Ethics.“42 Dies lässt sich bspw. im dritten Buch derselben erkennen, wo Aristoteles das Handeln aus Zorn als ebenso großen Fehler bezeichnet wie ein falsches Handeln aus mangelnder Überlegung heraus: ἔτι δὲ τί διαφέρει τῷ ἀκούσια εἶναι τὰ κατὰ λογισµὸν ἢ θυµὸν ἁµαρτηθέντα; φευκτὰ µὲν γὰρ ἄµφω, δοκεῖ δὲ οὐχ ἧττον ἀνθρωπικὰ εἶναι τὰ ἄλογα [πάθη], ὥστε καὶ αἱ πράξεις τοῦ ἀνθρώπου ἀπὸ θυµοῦ καὶ ἐπιθυµίας (Aristot., eth. Nic. III,1111b). Emotionen im aristotelischen Sinne sind essentielle Motivatoren des Handelns und daher nicht nur ethisch relevant, sondern überdies ambivalent: Sie können zu moralisch gutem oder aber verwerflichem Handeln führen.43 Aristoteles unterscheidet dabei zwischen situationsangemessenen und -unangemessenen Emotionen: „Jede Charaktertugend beschreibt somit die Disposition zu einer angemessenen emotionalen Reaktion sowie zu der entsprechenden Handlungsweise. Unter ‚angemessen‘ versteht Aristoteles eine emotionale Reaktion, die weder in der Richtung eines Zuviel noch in der Richtung eines Zuwenig überzogen, sondern den besonderen Umständen einer Situation angemessen ist.“44

Somit können manche Emotionen dem rechten Verhalten sogar dienlich sein, während andere abträglich sind; auch die Intensität der Emotionen spielt dabei eine Rolle. Aristoteles sieht demzufolge einen klaren Zusammenhang zwischen Emotion und Handlung. Da es ihm ganz auf die rechte Tat ankommt, ist ihm auch an der rechten Emotionslage, welche eine solche Tat motivieren kann, gelegen.45 An dieser Stelle verbindet sich die Kognition mit der Emotion: Letztere ist nämlich nur dann unproblematisch und ethisch sogar positiv charakterisiert, wenn sie mit der Vernunft einhergeht, d.h. auf eine Situation angemessen reagiert. Ist dies nicht der Fall, spricht Aristoteles nicht mehr von einer Emotion (πάθος), sondern von einer Begierde (ἐπιθυµία). Solche sind als körperliche Bedürfnisse, Triebe und Instinkte den Emotionen noch vorgeordnet und sind dann problematisch, wenn sie nicht kognitiv-rational in die rechten Bah41

A.a.O., 112 (Hervorhebung im Original). KONSTAN, Rhetoric, 411 (Hervorhebung im Original). 43 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 68. 44 KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 51. 45 Vgl. HORN, Lebenskunst, 154 f. 42

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

nen geleitet werden und im Zuge der Bedürfnisbefriedigung der Vernunft radikal entgegenwirken.46 In Aristoteles’ Auseinandersetzung mit den Emotionen wird eine Entwicklung von einem rein irrationalen zu einem mehr und mehr kognitiven Phänomen deutlich: „Aristotle’s conception of the emotions is through and through cognitive in the sense that the emotions are rational evaluations of situations. They thus depend essentially on judgments.“47 Damit macht Aristoteles zwar einen großen Schritt in Richtung einer kognitiven Emotionstheorie, welche die Emotionen als ein nicht ausschließlich unvernünftiges, rein passiv erlebtes Element beschreibt, doch beschränkt er die Emotionen bezüglich ihres Orientierungspotentials damit auch rein auf den Urteilsbezug, während er die subjektive Erfahrung ausspart: „Die Schwäche der aristotelischen Rhetoriklehre zeigt sich demgemäß darin, dass sie die Emotionen auf ihre Mittlerrolle für die Urteilsbildung beschränkt.“48 Dass bspw. die Emotion des Mitleids „eine unhintergehbare Veränderung (Irreversibilität) der Erfahrung auslösen und somit eine Transformation oder Verschiebung des gesamten Erfahrungshorizontes einer Person bewirken kann, bleibt im rhetorischen Emotionsverständnis des Aristoteles unentdeckt.“49

In anderen Worten: Dass Emotionen durch ihren Erfahrungscharakter für eine moralisch-ethische Pragmatik von ausschlaggebender Bedeutung sind, ist für die aristotelische Betrachtung der Emotionen nicht zentral. Daher bleibt die ethische Relevanz der Emotionen bei ihm untergeordnet. Dies bildet sich auch in der Weise ab, wie Aristoteles die Emotionen in der Dichtung behandelt. In seiner Poetik schreibt Aristoteles der Gattung der Tragödie gerade das Merkmal zu, dass sie durch Erregung von Mitleid und Furcht im Zuschauer eine Reinigung von eben diesen Emotionen erreiche: δι᾽ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθηµάτων κάθαρσιν (Aristot., poet. 1449b). Daher „überwogen in der Geschichte der Poetik-Kommentierung Deutungen, die Aristoteles eine direkt moralpädagogische Zielsetzung der Tragödie unterstellten“50. Doch begegnet der κάθαρσις-Begriff in der Poetik nur ein einziges Mal an obengennanter Stelle, und es „behauptet Aristoteles ebensowenig, dass dieser Effekt einen direkten Beitrag zur charakterlichen Besserung des Zuschauers leiste“51. Die hier spürbare Spannung mag ggf. rein aus der Interpretation der Funktion der aristotelischen κάθαρσις resultieren, doch ist im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ein anderer Aspekt von Belang: Es ist wichtig festzuhalten, dass eine solche „Reinigung“ von Emotionen für Aristoteles offensichtlich wünschenswert ist. Es ist ihm ganz 46

Vgl. a.a.O., 156. KONSTAN, Rhetoric, 419. 48 KLEIN, Predigt, 348 (Hervorhebung im Original). 49 A.a.O., 350. 50 KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 55 (Hervorhebung im Original). 51 A.a.O., 56. 47

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um die situative und intensitätsbezogene Angemessenheit von Emotionen zu tun. Dies impliziert eine stete Kontrolle und Überprüfung der eigenen Emotionen. Aus diesem aristotelischen Emotionsverständnis entwickelte sich in der hellenistischen Strömung des Peripatos das Ideal der Metriopathie, d.h. es solle eine Balance der Emotionen gefunden werden, sodass sowohl ein ZuWenig als auch ein Zu-Viel an Emotionen vermieden werde.52 Obgleich diese Betrachtungen eine systematische Auseinandersetzung mit den Emotionen in der antiken Philosophie seit Platon nahelegen, muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass mit solchen Aussagen vorsichtig zu verfahren ist. Bspw. muss zugestanden werden, dass schon eine begrifflichdefinitorische Abgrenzung bei Platon und Aristoteles schwer zu erkennen ist. Während heute häufig zwischen „Emotionen“ und begierdehaften „Affekten“ unterschieden wird, ist eine solche Unterscheidung in den antiken Texten nicht durchgehend und konsequent. So scheint Aristoteles „unentschieden, ob er die Emotionen im engeren Sinn von den Begierden abgrenzen möchte oder nicht, denn bisweilen taucht die Begierde (epithymia) in der Liste der Emotionen auf, bisweilen nicht.“53 Mit pauschalen Aussagen über „das platonische“ oder „das aristotelische“ Emotionsverständnis sollte daher m.E. sehr vorsichtig verfahren werden. Bezüglich der ethischen Relevanz von Emotionen lässt sich jedoch zweifelsfrei festhalten, dass den griechischen Philosophen der Antike die Auswirkungen der Emotionen auf das menschliche Verhalten und Handeln durchaus bewusst waren. Ihre handlungspragmatische Ambivalenz resultierte in der Forderung, Emotionen mittels vernünftiger Regulation ethisch „unschädlich“ zu machen. 1.1.4 Affektkontrolle und -unterdrückung: Stoa, Epikureismus und Skeptizismus Auch in der stoischen Affektenlehre ist unumstritten, dass aus Meinungen Emotionen resultieren, welche wiederum zu reaktivem Handeln führen (vgl. Cic., Tusc. III,74 f.). Und wäre eine Meinung, aus der heraus eine Emotion entsteht, richtig, wäre auch der handlungspragmatische Aspekt der Emotion unproblematisch und für Stoiker durchaus akzeptabel. Doch hier greift die stoische Auffassung, dass eine Emotion, die sich auf ein profanes Objekt beziehe, diesem Bedeutung zumesse. Bedeutung jedoch, die rein irdischen Dingen wie etwa Reichtum, gesellschaftlichem Status, aber auch Freundschaften und Gesundheit nicht zukomme. Einzig und allein die Tugend sei ein erstrebenswertes Gut; alle anderen Dinge seien daher gleichgültig, so genannte ἀδιάφορα.54 „Ein Affekt im stoischen Sinn entsteht nun genau dann, wenn die Vernunft unserem natürlichen Trieb (hormê) zustimmt, indem er ein sol52

Vgl. GILL, Emotions, 6 f. KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 63 (Hervorhebung im Original). 54 Vgl. HORN, Lebenskunst, 86. 53

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ches adiaphoron so behandelt, als wäre es ein Gut oder ein Übel.“55 Ein Mensch, der sich seinen Emotionen hingebe, verweigere somit die innere Vernunft, was nur zum Wahnsinn (µανία) führen könne.56 Die stoische Beschreibung von Emotionen ist entsprechend pejorativ: „Im Unterschied zu Platon und Aristoteles benutzen die Stoiker bei der Definition der Emotionen normativ gesättigte Ausdrücke wie ‚über das Ziel hinausschießen‘, ‚der wählenden Vernunft ungehorsam‘, ‚unvernünftig‘, ‚widernatürlich‘ und ‚Verrücktwerden‘. Schon in ihrem definitorischen Vokabular kommt also die fundamentale Ablehnung der Emotionen zum Ausdruck, für die sie in der Antike berüchtigt waren.“57

Gemäß der stoischen Philosophie komme es darauf an, dass sich der Mensch in einer emotionalen Situation klarmache, ob die Emotion „vernünftig“ sei, d.h. der Tugend entsprechendes Handeln initiiere oder zur selben hinführe.58 Sei dies nicht der Fall, müsse der Emotion widerstanden werden. Folglich leuchtet es ein, dass bspw. Poseidonius die Emotionen im Zuge seiner ethischen Auseinandersetzungen bespricht, da er glaubt, dass sie Grundlage alles Guten und Schlechten seien: νοµίζω γὰρ καὶ τὴν περὶ ὰγαθῶν καὶ κακῶν καὶ τὴν περὶ τελῶν καὶ τὴν περὶ ἀρετῶν ἐκ τῆς περὶ παθῶν ὀρθῶς διασκέψεως ἠρτῆσθαι (Gal., PHP 448,9–11). Da aber es aber allzu oft vorkomme, dass „die Vernunft durch die Wirkung der Affekte zu falschen Urteilen veranlasst wird, ist die Vernunft erst dann ganz bei sich, wenn die Seele affektfrei ist“59. Dementsprechend lautet das stoische Ideal ἀ-πάθεια, d.h. unerschütterliche Seelenruhe durch Freiheit von allen Emotionen (vgl. Sen., epist. I,9,2). So lässt sich in der stoischen Affektlehre der Höhepunkt einer Entwicklung erkennen, die sich allmählich vom einen ins andere Extrem wandelt: Während im griechischen Mythos die Emotionen noch als den passiven Menschen vollständig ergreifende, aber durchaus geschätzte Erfahrungen begegnen, werden sie nun als durch die Vernunft des Menschen kontrollierbar betrachtet und sind nach Möglichkeit vollkommen zu vermeiden. Die vernünftige Seele wird „Bühne, Schauspieler und (urteilendes) Publikum zugleich“60. An ihr ist es, die unvernünftigen Emotionen zu überwinden, um ihre ethisch negativen Konsequenzen zu vermeiden. Hilfreich beim Streben nach dieser Apathie sei gemäß stoischer Lehrmeinung, dass der Verlauf der Welt und des ganzen Universums ohnehin determiniert, d.h. von einer übergeordneten Vernunft geleitet und vorherbestimmt sei. Emotionale Reaktionen auf profane Ereignisse und Gegebenheiten, die 55

KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 52 (Hervorhebung im Original). Vgl. GILL, Passions, 231. 57 KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 71. 58 Vgl. GILL, Passions, 227. 59 HORN, Lebenskunst, 88. 60 BÖHME, Phobos, 165. 56

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nicht geändert werden könnten, seien daher vollkommen überflüssig.61 Zur Erlangung von Apathie verhelfe auch das von den Kyrenaikern entwickelte Vorgehen der praemeditatio futuri mali (vgl. Cic., Tusc. III,52). Das „Vorabdenken einer möglicherweise oder wahrscheinlich eintretenden schlimmen Situation, was bewirken soll, dass man beim tatsächlichen Eintritt der betreffenden Situation nicht überrascht wird und keiner Emotion erliegt“62. Der stoische Schlüssel zur Apathie ist demnach gänzlich rational, nämlich die Erkenntnis und Modifikation der ihnen zugrunde liegenden kognitiven Urteile und Überzeugungen.63 Dazu sei es beim spontanen Aufkommen einer Emotion essentiell, sich von der auslösenden Situation zu distanzieren, die Emotion gewissermaßen aufzuschieben, um sie dann reflektieren und regulieren zu können, wenn sie nicht länger akut empfunden werde und der Verstand wieder die Oberhand habe.64 Dementsprechend schreibt Seneca, dass sowohl Hoffnung als auch Furcht zu überwinden seien: utrumque pendentis animi est, utrumque futuri exspectatione solliciti (Sen., epist. I,5,8). Gelängen diese Vorgehensweisen nicht, müssten Emotionen wiederum durch nicht-rationale Methoden ausgetrieben und bspw. durch das Lesen von Poesie, das Hören von Musik oder bestimmter Rhythmen quasi mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden.65 Es muss an dieser Stelle jedoch beachtet werden, dass dem stoischen Ideal der ἀπάθεια ein gänzlich anderer Begriff von Emotion oder Affekt zugrunde liegt als dem heutigen Verständnis: „In einem gewissen Sinn meinen die Stoiker mit diesem Ideal nur den Ausschluss derjenigen Affekte, die falsch oder, wie Aristoteles sagen würde, unangemessen sind.“66 So kennen die Stoiker nur vier Affekte, nämlich Furcht, Begierde, Lust und Unlust. Das Auftreten dieser Affekte sei für den Menschen aber ein klares Indiz dafür, dass einem unerreichbaren Gut zu viel Bedeutung zugemessen und somit das Streben nach Tugend verfehlt wurde.67 Damit können die Emotionen gemäß den Stoikern zur Kontrolle der Lebensführung genutzt werden. Die Apathie stellt dabei lediglich die Freiheit von diesen vier Affekten dar. Darüber hinaus wurden auch unwillkürliche Emotionen anerkannt, welchen ein zunächst unkontrollierbarer Charakter zugeschrieben wurde: Diese quasi vor den eigentlichen Emotionen liegenden προ-παθείαι, wie etwa Überraschung oder Schreck, konnten kaum in das apathische Ideal eingeschlossen werden.68 Ähnlich der aristotelischen Unterscheidung zwischen πάθος und ἐπιθυµία 61

Vgl. GILL, Passions, 234. KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 50. 63 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 75. 64 Vgl. INSELMANN, Freude, 93. 65 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 60. 66 KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 52. 67 Vgl. HORN, Lebenskunst, 89. 68 Vgl. LANDWEER/NEWMARK, Seelenruhe, 85–87. 62

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seien diese erst dann problematisch, wenn ihnen zugestimmt und somit zugelassen werde, dass sie sich zu ausgewachsenen Affekten entwickelten.69 Über sie schreibt Seneca, dass selbt der Weise, solche Emotionen empfinde, sie jedoch dann kontrollieren könne: sentiet [d.h. der Weise] levem quendam tenuemque motum; nam, ut dicit Zenon, in sapientis quoque animo, etiam cum vulnus sanatum est, cicatrix manet. Sentiet itaque suspiciones quasdam et umbras adfectuum, ipsis quidem carebit (Sen., ir. I,16,7). Und schließlich gibt es für die Stoiker auch Emotionen, die der Vernunft und Tugend gemäß erlebt und somit für gut befunden werden können (ἐυ-παθείαι): Zu ihnen zählen seit Chrysipp bspw. Freude, vernünftiges Streben und Achtsamkeit (vgl. Cic., Tusc. IV,12–14).70 Dennoch sei eine prinzipielle Offenheit für diese positiven Emotionen nicht ungefährlich, insofern sie auch eine Öffnung hin zu den negativen Emotionen provoziere.71 Daher seien auch diese Emotionen stets mit dem nötigen Ernst zu behandeln (vgl. Sen., epist. III,23,4). Obgleich die philosophische Schule des Epikur von Samos häufig als der Stoa völlig diametral entgegengesetzt angesehen wird, ähneln sich ihre Glücks- und damit Emotionsverständnisse auffällig. Auch Epikur verfolgt die εὐδαιµονία, die für ihn in einer vernünftigen Gesinnung (διάθεσις) besteht und sich durch vollkommene innere Ruhe auszeichnet, welche er als ἀταραξία bezeichnet.72 Vergleichbar ist dieses Ideal mit der stoischen Idee von der Apathie insofern, als die Vernunft das eigentliche Ziel ist und Affekte dabei als störend empfunden wurden; stimmten die Emotionen jedoch mit der angestrebten ruhigen Gelassenheit überein, seien sie durchaus positiv zu bewerten.73 Für die Epikureer ist aber letztlich die Kontrolle, nicht die stoische Ausrottung aller Emotionen das Ziel.74 Häufig missverstanden wurde in diesem Zusammenhang das epikureische Prinzip der Lust (ἡδονή), wenn ihm häufig ein ungehemmter Hedonismus vorgeworfen wurde. Diese ist indes als eine tief empfundene Freude über die Ataraxie statt eines affektgeleiteten, von diesen erschütterbaren Lebens zu verstehen.75 Eine solche Freude ist auch bei den Stoikern als positive Emotion zu finden. Auch skeptische Philosophen strebten eine emotionale Gelassenheit im Sinne der Ataraxie an: Da es gemäß des antiken Skeptizismus weder Güter noch Übel gebe, dürfe weltlichen Dingen ganz generell keine zu große Bedeutung zugemessen werden, woraus sich eine emotionale Gefasstheit logisch ableite.76 69

Vgl. INSELMANN, Freude, 96. Vgl. a.a.O., 90. 71 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 76. 72 Vgl. HORN, Lebenskunst, 91. 73 Vgl. GILL, Emotions, 9. 74 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 71–74. 75 Vgl. HORN, Lebenskunst, 98. 76 Vgl. a.a.O., 100–102. 70

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1.1.5 Emotive Persuasion: Die Rhetorik Das griechisch-römische Rhetoriksystem widmet sich schließlich einer bereits lang etablierten Praxis: dem Einsatz von Emotionen als Instrumente der Überzeugung. Bereits im 5. Jh. v. Chr. schreibt Gorgias, dass die Rhetorik Emotionen hervorrufen und die Hörerschaft damit so emotional bewegen könne, als wäre sie unter Drogen gesetzt.77 Deutlich wird hier nicht nur die Vorstellung von Emotionen als einer den Menschen extern überkommenden, sondern auch ihn jeglicher Vernunft beraubenden Macht. Insbesondere in der Politik wurde die persuasive Funktion von Emotionen häufig genutzt, was sich literarisch bereits früh, etwa in den homerischen Epen78 oder Xenophons Werken79, niederschlägt. So wurden in deliberativen Reden vor Volksversammlungen vorwiegend Emotionen wie Furcht, Hoffnung, Zuversicht, Stolz, Scham, Verachtung und v.a. Ärger bzw. Entrüstung gezielt zur Einflussnahme auf die Hörer eingesetzt.80 „Der gezielten emotionalen Beeinflussung kam bei öffentlichen Reden eine zentrale Bedeutung zu, und professionelle Redenschreiber und Rhetoriklehrer hatten eine entsprechende Kunst der Affekterregung entwickelt.“81 Hierzu schafft bereits Aristoteles mit seiner Rhetorik die Grundlage, in der er die Emotionen als Instrument der Persuasion der Zuhörer diskutiert: Er unterscheidet zwischen der logischen Überzeugungskraft des Inhalts einer Rede, dem λόγος, der charakterlichen Überzeugungskraft des Redners, dem ἔθος, und dem emotionalen Zustand, in den der Rezipient durch die Rede versetzt wird, dem πάθος (Aristot., rhet. I,1356a).82 Es geht Aristoteles dabei jedoch weniger um den lokutionären Sprechakt als um seine perlokutionäre Pragmatik. Hilge Landwer und Ursula Renz stellen fest: „Die systematischen Voraussetzungen für das Interesse der Rhetorik an den Emotionen sind jedoch nicht sprachphilosophischer, sondern urteilstheoretischer Natur. Aristoteles geht von der Annahme aus, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen dem akuten Gefühlszustand eines Subjekts und den Urteilen, die es in diesem Zustand fällt. Und genau dieser Zusammenhang macht es aus, dass Menschen durch Gefühle in ihrem Urteil beeinflusst werden können.“83

Emotionen dienen der Überzeugung, indem sie „die emotionale Prädisposition des Zuhörers in einen Zustand [versetzen], der dessen Urteilsfähigkeit im Sinne des Redners lenkt“84. Eine solche pathetische Argumentationsweise sei 77

Vgl. KONSTAN, Rhetoric, 413. Vgl. SANDERS, Introduction, 13. 79 Vgl. dazu WINTER, Instruction. 80 Vgl. SANDERS, Persuasion, 60–70. 81 KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 53 f. 82 Vgl. TILL, Text, 287–291. 83 LANDWEER/RENZ, Geschichte, 6. 84 TILL, Text, 290. 78

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jedoch nicht unproblematisch, da sie Sympathie und Zustimmung wecken könne, ohne notwendigerweise vernünftig oder wahrheitsgemäß zu argumentieren, indem sie den Hörer durch eine emotionale Sprache und Intonation in denselben emotionalen Zustand versetze, den der Sprechende anschlage (συνοµοιοπαθεῖ: Aristot., rhet. III,1408a). Insofern stellt Aristoteles sehr zu seinem Leidwesen fest, dass sich Rhetoren häufig zu sehr auf die Provokation von Emotionen konzentrierten, obgleich er festhält: „Beschuldigung (διαβολή) nämlich, Mitleid (ἔλεος), Zorn (ὀργή) und solche Emotionen (πάθη) der Seele gehören nicht zur Sache, sondern zielen auf den Richter“ (Aristot., rhet. I,1354a). Eine solch emotive Überredungsstrategie war indes nicht selten: Auch in antiken Theaterstücken begegnet man emotiven Überzeugungsstrategien, indem eine Figur gezielt Emotionen wie Furcht und Ärger beim Gegenüber provoziert, um dessen rationales Nachdenken und Abwägen zu boykottieren.85 Das Bild der Emotionen in der griechischen Rhetorik bleibt also von Ambivalenz gekennzeichnet: Einerseits sei das πάθος Bestandteil guter Rhetorik, andererseits sei es verwerflich, den Richter emotional zu überreden.86 Auf dieser griechischen Grundlage entwickelte sich das römische Rhetoriksystem. Cicero entwarf die Dreistil-Lehre, die den drei Redefunktionen (docere, delectare, movere) jeweils drei Stile zuordnete (genus subtile, modicum, vehemens), wobei Letzteres emotional am wirksamsten sein sollte (Cic., orat. 97–99). Der Redner müsse dabei auch selbst emotional involviert sein (ipse inflammatus et ardens), um die Hörer bzw. den Richter emotional zu provozieren; selbst Tränen (conlacrimatio) seien bei Gericht zu diesem Zweck von Zeit zu Zeit einzusetzen (Cic., de orat. II,45,189 f.). Die wichtigsten Emotionen hierbei seien das Mitleid (misericordia) und die Entrüstung (indignatio) (Cic., inv. I,54,104–55,106). Auch für die Römer diente der Einsatz von Emotionen besonders im politischen Kontext als wesentliches Mittel der Überzeugung.87 So sind auch für Quintilian Emotionen wichtige Instrumente des Redners. Er schreibt: „Wo es aber gilt, dem Gefühl der Richter Gewalt anzutun (vis afferenda est) und den Geist selbst von dem Blick auf die Wahrheit abzubringen, da liegt die eigentliche Aufgabe des Redners (ibi proprium oratoris opus est).“ (Quint., inst. VI,2,5). Des Weiteren ist für ihn eine Rede ohne Emotionen nuda, ieiuna, infirma, ingrata (Quint., inst. VI,2,7). Andererseits rücken sie als Form der Überredung nahe an Täuschung und Lüge heran und sind moralisch problematisch. Obgleich so genannte visiones (φαντασίας) als effektive und probate Mittel zur Weckung von Emotionen dienten, müssten diese stets wahrheitsgemäß (secundum verum) oder zumindest glaubhaft sein (credibile) (Quint., inst. VI,2,29–31). 85

Vgl. dazu IURESCIA, Strategies. Vgl. KONSTAN, Rhetoric, 413 f. 87 Vgl. a.a.O., 420 f. 86

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Auch hier bleibt der ambivalente Charakter der Emotionen bestehen: Einerseits werden ihre Auswirkungen sehr geschätzt und zur Unterstützung der Persuasion nutzbar gemacht. Andererseits wird auch hier der Einsatz eines besonders emotionalisierenden Stils, um die Zuhörer von den Fakten abzulenken und vielmehr durch emotionale Involviertheit zu überreden statt rational zu überzeugen, als moralisch fragwürdig betrachtet.88 Doch welche stilistischen Instrumente lösen genau welche Emotionen aus? Die Polyvalenz der emotionalen Wirksamkeit figuraler Strukturen bleibt ein unmittelbares Problem dieses Systems.89 Die Vagheit der Emotionen sowie die Verabsolutierung der Rationalität durch die Aufklärung führten im Laufe der Neuzeit zur generellen Ablehnung des emotiven Anteils der griechischrömischen Rhetorik.90 Emotionale Überredung stünde vernünftiger Überzeugung diametral entgegen: „Mit Mitteln der Logik wird der Intellekt überzeugt, die Rhetorik überredet durch den – als schädlich oder wenigstens inferior angesehenen – Appell an die Emotionen.“91 1.1.6 Emotionen und die Beziehung zu Gott im Frühjudentum Wenden wir uns nun der Betrachtung der Emotionen im Frühjudentum zu, welche eine weitere wichtige Grundlage im Hinblick auf das Zieltextkorpus des Mt-Ev bildet. Dennoch kann auch hier aus der großen Vielfalt an Texten nur eine stichprobenartige Auswahl herangezogen werden. Zumal hier kaum gezielt-direkte Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der Emotionen begegnen wie es bisweilen in griechisch-römischen Kreisen geschieht. Des Weiteren muss für die betrachtete Zeit angenommen werden, dass die hellenistisch-römische Kultur bereits Einfluss auf das jüdische Denken genommen hatte. Es lässt sich daher im Vorfeld dieses sowie des folgenden Abschnitts über Emotionen im AT folgendes hermeneutisches Notabene vorausschicken: „The Jews had no explicit philosophical ideas about emotion. […] in the Old Testament we find no philosophical explanation of how emotion functions. It is easy to see how wellthought-out Greek philosophical ideas might simply be taken as correct by an educated Jew. In many Jewish writings we see a blending of Old Testament and Greek ideas about emotion.“92

Stattdessen fließen Emotionen meist auf andere Art in Texte ein, ohne dass dies explizit reflektiert würde. Aus solchen Befunden können nichtsdestotrotz einige Aussagen über – teils ähnliche, teils unterschiedliche – frühjüdische Einstellungen zu emotionalem Erleben sowie Verhalten und Handeln getroffen werden. 88

Vgl. TILL, Text, 292. Vgl. a.a.O., 299. 90 Vgl. a.a.O., 294 f. 91 A.a.O., 302 (Hervorhebungen T.D.). 92 ELLIOTT, Feelings, 117. 89

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Untersucht man zunächst, wie Emotionen in frühjüdischen Texten vorkommen, so fällt auf, dass Emotionen insbesondere in der Beziehung zwischen Mensch und Gott und daher häufig in Gebetstexten zu finden sind. Hier ist zu beachten, dass selbst individuelle Gebete nicht spontan und selbst formuliert wurden, sondern man sich an überlieferten Gebeten Einzelner aus der jüdischen Tradition orientierte.93 Dieser Modellcharakter überlieferter Gebete bekannter Personen der Geschichte ist insbesondere im Hinblick auf ihr emotives Potential interessant: Wie können solche, lediglich rezitierten Texte dennoch persönliche Emotionen ausdrücken? Das Gebet von Asenath bspw. vermittelt starke Emotionen, die sich mit der Lösung von der eigenen Vergangenheit und dabei insbesondere mit der Aufgabe von Familie und Besitz als Teil der Konversion zum Judentum verbinden. Sie betet: „5 Ich hab gesündigt, Herr, ich hab vor dir gesündigt; ich habe wissentlich wie auch unwissentlich gottlos gehandelt; ich hab ja tote, stumme Götzenbilder angebetet. Ich bin nicht würdig, meinen Mund, o Herr, zu dir zu öffnen, ich arme Asenath, die Tochter Pentephres, des Priesters, Jungfrau und Königin, ich, die ich einstmals stolz und übermütig, durch meinen elterlichen Reichtum glücklicher als alle Menschen war, ich, die ich nunmehr einsam und verwaist, von allen Menschen ganz verlassen bin. […] 8 So wie ein kleines Kind, das jemand fürchtet, zum Vater und zur Mutter flieht, der Vater aber seine Hand ausstreckt und es an seiner Brust hinreißt, so streck auch du, mein Herr, die reinen und die furchtbaren Hände nach mir aus, gleichwie ein Vater, der die Kinder liebt, und reiß mich aus der Hand des geistigen Feindes! […] 13 Nun bin ich ganz verwaist und einsam: ich habe keine andere Hoffnung mehr als dich, mein Herr, und keine andere Zuflucht mehr als dein Erbarmen, du Menschenfreund. Nur du bist ja der Waisen Vater, der Schützer der Verfolgten, der Helfer der Bedrückten.“ (JosAs 12,5.8.13).94

Dieser Text soll als Beispiel dienen, wie Emotionen in Gebeten in zwei Richtungen wirken sollen: erstens lösen solche Emotionen im Beter etwas aus; zweitens muss gefragt werden, welche Wirkung den Emotionen im Gespräch mit Gott zukommt. Im Hinblick auf den ersten Aspekt ist das emotive Evokationspotential von Gebeten auffällig. Über den Ausdruck eines bestimmten emotionalen Erlebens in der 1. Pers. Sg. evozieren solche Texte Emotionen im Leser. Angela K. Harkins weist in diesem Zusammenhang auf den konstruktivistischen Charakter von Emotionen hin, die nicht rein spontan, willkürlich und unkontrolliert aufkommen, sondern instrumentell generiert werden können.95 Sie argumentiert am Beispiel von Bußgebeten der Hymnenrolle aus Qumran (1QHa), dass die Gebete auch dann wirken sollen, wenn der Betende sich nicht in einer ähnlichen Lage befindet wie der fiktive Beter. Dann hätten Gebete die Möglichkeit, Emotionen wie Verzweiflung und Trauer zu evozieren, damit der Beter entsprechende Handlungen (wie etwa Buße) 93

Vgl. SCHATTNER-RIESER, Emotions, 276 f. Deutsche Übersetzung nach RIEßLER, Schrifttum, 497–538. 95 Vgl. HARKINS, Study, 301 f. 94

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zeitige, selbst wenn er selbst nicht konkret gesündigt habe.96 Dafür seien zum einen viele Beichtgebete allgemein formuliert, sodass sich jeder Leser damit identifizieren könne (vgl. bspw. 1QHa 4,29–31).97 Zum anderen werde in solchen Gebeten emotionales Verhalten stärker geschildert und beschrieben, statt bestimmte Emotionen explizit zu erwähnen. Die emotionale Konnotation vieler Gesten und Verhaltensweisen rufe diese viel effektiver hervor als sie lediglich zu nennen (vgl. bspw. 1QHa 8,23–36).98 Der Zweck solcher Gebete sei es dann nicht in erster Linie, Gott zu einem bestimmten Handeln zu bringen, sondern vielmehr Unterordnung und Demut vor dem allmächtigen Gott herzustellen, um für eine Begegnung mit ihm bereit zu sein: „The efficacy of the prayer is not dependent on whether or not the specific petition is answered by God and fulfilled but rather in the experience’s ability to simulate the experience of smallness which comes from being in the presence of God. The goal of both the confession of sins and the petitionary formulae is to generate self-abasement in anticipation of what will be experienced during the encounter with the sovereign deity, however it may be realized.“99

Emotionen in Gebeten sollen somit in erster Linie den Beter in eine angemessene emotionale Haltung vor Gott versetzen. Dennoch darf angenommen werden, dass diese Emotionen des Gläubigen auch auf Gott wirken sollen. Dies wird am obigen Beispiel deutlich, wo im Anschluss an Asenaths Gebet ein Engel Gottes zu ihr kommt und spricht: „2 Sei guten Mutes, reine Jungfrau Asenath! Es hat ja Gott der Herr vernommen, was du bekannt, was du erfleht. 3 Er sah auch die Erniedrigung und Not der sieben Tage deines Fastens, dieweil durch deine Tränen hier auf dieser Asche ein großer Schmutz vor dir entstand. 4 Hab nunmehr guten Mut, du reine Jungfrau Asenath! Dein Name ward ja in das Buch des Lebens eingetragen und wird in Ewigkeit nicht mehr daraus getilgt. 5 Von heut an wirst du neu geschaffen und gebildet und neu belebt.“ (JosAs 15,2b–5a)

Simone Paganini arbeitet dies auch für das Jubiläenbuch heraus, in dem das Gebet des Mose bei Gott handlungsmotivierende Emotionen auslöse (Jub 1).100 Dies ist hier in ganz besonderem Maße interessant, denn nicht nur drückt das Gebet des Mose wie das von Asenath starke Emotionen der Verzweiflung, der Trauer und der Hoffnung aus, vor allem aber sind diese stellvertretende Emotionen. Er leistet reuevolle Buße und Bitte für sein Volk, das sich in seiner Abwesenheit der Idolatrie zugewandt hat (vgl. Jub 1,19–21). Selbst solche repräsentativen Emotionen lassen Gott nicht unberührt, im Gegenteil: es folgt eine leidenschaftliche Rede Gottes über die Liebe zu seinem Volk: „Und sie alle heißen Kinder des lebendigen Gottes und alle Engel und 96

Vgl. a.a.O., 302–304. Vgl. A.a.O., 306. 98 Vgl. a.a.O., 306–308. 99 A.a.O., 303 f. 100 Vgl. PAGANINI, Emotions. 97

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Geister wissen, ja sie wissen dann, dass sie meine Kinder sind und ich ihr Vater in Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit und dass ich sie liebe.“ (Jub 1,24 f.).101 Entsprechend fasst Simone Paganini zusammen: „Prayers evoke emotions. Neither prayers nor emotions remain without consequences, even if these consequences are quite difficult to understand.“102 Eine solche Evokation von Emotionen durch das Gebet – sowohl im Beter als auch in Gott – ist indes nicht nur individual-, sondern auch sozialethisch von Bedeutung. Emotionen der Reue und die Besinnung auf Gottes Gebote, soll freilich stets gottgefälliges, d.h. prosoziales Verhalten motivieren.103 Wie Moshe Lavee herausarbeitet, wurden die von Reue, Traurigkeit, Furcht, Verzweiflung, aber auch Hoffnung geprägten Emotionen Asenaths wirkungsgeschichtlich nicht nur entsprechend positiv normativiert, sondern fanden im Rabbinentum sogar Eingang in legislative Bestimmungen, welche die Lossagung von Besitz und Familie bei Übertritt zum Judentum ritualisierten.104 Hier lässt sich erkennen, wie Emotionen nicht bloßer Ausdruck des Individuums bleiben, sondern gruppenidentitätsstiftende Funktion übernehmen und zu „social expression[s]“ werden.105 Somit wird deutlich, als wie wirksam Emotionen in der Verhaltenspsychologie und auch der konkreten (ethischen) Handlungsmotivation erachtet wurden. Gebete sind jedoch nicht die einzigen Texte, in denen der bewusste Gebrauch emotiver Strategien auffällt. So lässt bspw. das Sirachbuch den Versuch erkennen, „sich psychologisch in die Situation Armer und Bedürftiger zu versetzen, wenn sie diese als Verhasste, Verbitterte, Klagende oder Leidende beschreiben oder wenn sie mahnen, Arme nicht zu verspotten.“106 In diesem Satz fallen zahlreiche Emotionen auf, die sich mit einem bestimmten Verhalten verknüpfen. Die Argumentationsstrategie gegen ein exkludierendes Verhalten hat Bradley Gregory eigens untersucht und kommt zu dem Schluss, dass hier ein erstmals in der Weisheitsliteratur Israels auftretendes Phänomen zutage tritt, das Empathie als „basis for ethical action“ heranziehe.107 So führe Sir 8,5–7 vor Augen, dass man Sündige nicht schmähen (µὴ ὀνείδιζε), Alte nicht verächtlich behandeln (µὴ ἀτιµάσῃς) und sich über den Tod Sterbender nicht freuen (µὴ ἐπίχαιρε) solle, da es jedem Menschen so ergehen könne oder gar bald ergehen werde. Diese wohlwollende Einstellung aufgrund von Empathie ist für den Autor des Sirachbuches ein wichtiges sozialethisches Anliegen: „His appeal to his students employs empathy by encouraging his

101

Vgl. A.a.O., 65. A.a.O., 67. 103 Vgl. HARKINS, Study, 312. 104 Vgl. dazu genauer LAVEE, Emotions, 265–268. 105 Vgl. a.a.O., 268 f. (zitiert: 269). 106 WITTE, Begründungen, 406 (Hervorhebungen T.D.). 107 GREGORY, Empathy, 103. 102

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students to remember their common lot as members of the human race.“108 Auf diese Weise wird ein wohlwollendes Handeln gegenüber benachteiligten Randgruppen eingefordert. Eine ähnliche Argumentation, welche mittels empathischen Hineinversetzens in das Gegenüber ein bestimmtes Verhalten motivieren möchte, findet sich auch beim Umgang mit (vermeintlich) sündigen Personen in Sir 19,13–17109 sowie in Sir 31,14 f., wo es um angemessenes Verhalten auf einem Symposion geht110. Hier zeigt sich also, wie empathische Emotionen, welche daraus resultieren, sich mit anderen Menschen kognitiv und emotional in Beziehung zu setzen, dazu eingesetzt werden, „falsche“, d.h. selbstbezogene Emotionen, welche zu unsozialem Verhalten führen, abzuwehren. Nach dieser Beobachtung im Sirachbuch stellt sich eine zentrale Frage: Wenn Emotionen mannigfaltig wirken (sollen) und über (sozial-)ethische Implikationen verfügen, werden sie im Frühjudentum hauptsächlich positiv gewertet und als ethisch unproblematisch betrachtet oder werden auch ihre möglichen negativen Auswirkungen problematisiert? Und wenn ja, wie soll mit Emotionen umgegangen werden? Ursula Schattner-Rieser plädiert dafür, dass jüdische Gebete auch darüber Auskunft geben: So wiesen zahlreiche aramäische Gebete aus Qumran (bspw. im Buch Tobit und dem Genesis Apokryphon) eine gemeinsame Struktur auf, die als didaktische Bemühung der Anleitung nicht nur zum rechten Beten, sondern auch zum rechten Umgang mit Emotionen interpretiert werden könne.111 Zunächst zeigt sie, wie der Rahmen der Gebete ein narratives Identifikationsangebot für den Beter darstellt, der sich in seiner als ähnlich empfundenen Situation in angemessener Weise an Gott wenden möchte:112 „The Qumran Aramaic prayers are inserted into narrative contexts and embedded in family scenes, describing very personal experiences, and they employ a large gamut of emotions, from sorrow to joy.“113 Dieser Effekt wurde oben bereits am Beispiel von Asenaths Gebet angesprochen, doch sollen nicht nur die Emotionen des fiktiven Beters im Gläubigen ausgelöst werden, sondern erhält dieser auch Anleitung zum rechten Beten und Umgang mit seinen eigenen Emotionen: „The individual who identifies himself with the fictionalperson [sic!] learns how to express his own experienced feelings and how to deal with his emotions.“114 Emotionen sollen zwar ernst genommen und bewusst erlebt, aber auch auf kontrollierte Weise kanalisieren werden. Die Struktur der Gebete sei nach Ursula Schattner-Rieser dabei stets folgende: 108

A.a.O., 109. Vgl. a.a.O., 114–116. 110 Vgl. a.a.O., 110–113. 111 Vgl. SCHATTNER-RIESER, Emotions. 112 Vgl. a.a.O., 275–280. 113 A.a.O., 277. 114 A.a.O., 291. 109

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nach einer narrativen Darstellung der emotionalen Lage der betenden Person, wende diese sich mit Lobpreis an Gott, der sich in eine stark emotionale Beschwerde wandle und schließlich wiederum in einer demütigen Bitte münde: „They start with a description of the deep distress of a suffering individual who weeps and is depressed. The prayers open with blessings and praise of Got, then move on to complaint, and end with a request addressed to God in a humble manner, ‘if it pleases God’. The Lord’s Prayer uttered by Jesus in Aramaic has exactly the same shape“.115

Damit werden Gebete als Form des produktiven Umgangs mit Emotionen erkennbar: Indem der Betende hier ganz frei seine Emotionen erleben und ausdrücken darf, diese aber stets an die Beziehung zu Gott und das Vertrauen auf seine Hilfe rückbindet, wird hier eine ausgeglichene Verarbeitung der eigenen Emotionen angeboten, welche weder eine völlige Unterdrückung noch ein völlig zügelloses Ausleben derselben propagiert.116 Solche Gebete seien also eine Form des emotionalen copings sowie ethische Anleitung zu einem förderlichen Umgang mit ihnen, indem eine Lösung in der Hinwendung zu Gott angeboten wird: „Prayers fulfill an important task by helping individuals to manage negative and positive emotions. As a person prays, he can identify himself through the existing narratives, experiencing a similar feeling to that described in the texts, which will provide indirect and direct guidelines for the construction of his own prayer.“117

Im 4. Makkabäerbuch finden wir ebenfalls eine Form der Regulierung der Emotionen, während eine generelle Unterdrückung abgelehnt wird. Emotionen begegnen hier als zu respektierender Teil der Schöpfung: ὁπηνίκα γὰρ ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον κατεσκεύασεν, τὰ πάθη αὐτοῦ καὶ τὰ ἤθη περιεφύτευσεν· ἡνίκα δὲ ἐπὶ πάντων τὸν ἱερὸν ἡγεµόνα νοῦν διὰ τῶν αἰσθητηρίων ἐνεθρόνισεν, καὶ τούτῳ νόµον ἔδωκεν (4 Mac 2,21 f.). „Weil sie zur Schöpfung gehören, sind sie zu akzeptieren.“118 Allerdings seien sie von der Vernunft zu kontrollieren und zu regulieren, wie es eindringlich 4 Mac 3,2–5 zur Sprache bringt: Die Gier, Erregung und Bosheit bspw. könne zwar niemand vollkommen ausrotten, doch soll die Vernunft dazu fungieren, diese zu beherrschen, statt sich von ihnen beherrschen zu lassen. Der Absatz schließt mit dem eindrücklichen Bild, dass die Vernunft nicht Entwurzlerin, sondern Bekämpferin solcher Emotionen sei: οὐ γὰρ ἐκριζωτὴς τῶν παθῶν ὁ λογισµός ἐστιν, ἀλλὰ ἀνταγωνιστής (4 Mac 3,5). Dasselbe Bild vom Pflanzen und Ausreißen wird bereits in Kapitel 1 verwendet, wo die Emotionen als die Gerechtigkeit, Starkmut, Mäßigkeit und Klugheit hindernd beschrieben werden, die deshalb aber nicht ausge115

A.a.O., 284. Vgl. a.a.O., 285. 117 A.a.O., 290. 118 VON GEMÜNDEN, Affektkultivierung, 39. 116

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rottet, sondern lediglich kontrolliert werden müssten: καὶ τούτων οὐχ ὥστε αὐτὰ καταλῦσαι, ἀλλ᾽ ὥστε αὐτοῖς µὴ εἶξαι (4 Mac 1,6).119 Es begegnet uns also eine Form der Affektregulierung, ähnlich wie sie Aristoteles fordert. Ein stoisches Apathieideal hingegen wird aus Respekt vor der Vollkommenheit der Schöpfung abgelehnt. Ein ganz anderes Bild zeichnet sich in den Schriften Philos von Alexandrien. Der hellenistisch geprägte Jude hat sich nicht nur gezielt und systematisch mit dem Phänomen der Emotionen beschäftigt und deren Auswirkungen eigens erörtert; er stellt sich auch um einiges entschiedener gegen sie. Während die bisher begegneten Einstellungen gegenüber den Emotionen als positiv, maximal als eine vernünftige Affektkultivierung bezeichnet werden können, muss man bei Philo bereits vom Ziel der Ausrottung der Emotionen sprechen. Philo stellt den πάθος ausdrücklich der ἀρετή gegenüber und verknüpft damit Emotionen und Ethik explizit.120 So stellt er in Über die Opfer Abels und Kains 34 Tugenden 146 Lastern gegenüber; an die Spitze welcher bösen Taten die Liebe zur Lust (γενόµενος φιλήδονος) steht (vgl. Sacr. 27–32). Die ἐπιθυµία (Begierde) sei dabei die Wurzel allen Übels, führe ihrerseits wiederum zu λύπη (Traurigkeit) oder φόβος (Furcht) und ziehe unersättliches, unmoralisches Handeln nach sich (vgl. Decal. 142–145). „Philo war ein scharfer Beobachter der Affekte, die den von ihnen besessenen Menschen durch die Begierde (ἐπιθυµία) nach dem quäle, was er nicht besitze, ihm aber gut scheine und dadurch auf schlechte Wege führe (Spec. 4.80–83). Sie sei die eigentliche Quelle aller κακία, aller Schlechtigkeiten wie Unterschlagungen, Räubereien, Ableugnungen von Schulden, falschen Anklagen und Entscheiden, Ehebrüchen, Morden, kurz um [sic!] aller Untaten auf dem Gebiet des profanen wie des sakralen, des privaten und des öffentlichen Lebens. (84–85).“121

Bei den philonischen Aussagen zu Emotionen fällt auf, dass er sowohl von einer Regulierung derselben als auch von ihrer restlosen Ausrottung spricht. Dies interpretiert Petra von Gemünden mit einem Stufenmodell des Weges hin zum vollkommenen Weisen: Für Philo befinde sich der Tor (ἄφρων) auf der ersten Stufe, der ganz seinen Emotionen ausgeliefert und hingegeben sei; auf der zweiten Stufe strebe er bereits nach der Weisheit Gottes (προκόπτων) und übe, seine Emotionen zu kontrollieren; auf der dritten Stufe schließlich habe er das Stadium eines Weisen erreicht (τέλειος σοφός) und habe seine Emotionen erfolgreich gebannt (vgl. Leg. 3,128–135).122 So ist für Philo bspw. Jakob das Modell des zur Weisheit Strebenden, der zunächst vor seinen Emotionen flieht, sie dann bekämpft und dafür mit der

119

Vgl. ELLIOTT, Feelings, 120 f. Vgl. KAISER, Aretē, 385. 121 A.a.O., 395. 122 Vgl. VON GEMÜNDEN, Affektkultivierung, 41 f. 120

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Schau Gottes belohnt wird (vgl. Leg. 3,15–17; Mut. 81; Praem. 27).123 Die Lähmung seiner Hüftpfanne wird hierbei als Eindämmung des Hochmuts und somit als eine Belohnung Gottes gedeutet (vgl. Praem. 47 f.).124 Der Mensch trägt für seine jeweilige Stufe der Entwicklung selbst die Verantwortung und hat somit die Wahl zwischen Selbstkontrolle, welche zum Heil, oder Maßlosigkeit, die zur Verdammnis führt: τὸ µὲν οὖν τῆς καρτερίας γένος ἀγαθὸν καὶ οἰστικὸν ἀφθαρσίας, ἀγαθοῦ τελείου, τὸ δὲ τῆς ἡδονῆς κακὸν τὴν µεγίστην τιµωρίαν ἐπιφέρον, θάνατον (Agr. 100).125 Dennoch begegnet auch bei Philo eine gewisse Wertschätzung der Emotionen. Die Gottesliebe wird gänzlich positiv gewertet, während sie der Selbstliebe gegenübergestellt wird (vgl. Sacr. 2–4).126 Somit scheint Philo mit den so stark kritisierten πάθη lediglich solche Emotionen zu meinen, die zu negativen und d.h. ethisch problematischen Handlungen führen, und die Qualität der jeweiligen Emotionen sowie die Entscheidung, ob sie auszurotten oder zu gewähren lassen sind, entscheidet sich über diese Bewertung.127 „Der Unterschied zwischen einer sittlich erlaubten und unerlaubten Hingabe an die Leidenschaften liegt offensichtlich in der Art ihres Gebrauches oder darin, ob sie der Anweisung der Vernunft (λόγος) gehorchen oder nicht (Tim. 70a 2–7).“128 Fassen wir zusammen: Zunächst einmal muss konstatiert werden, dass in frühjüdischen Schriften deutlich wird, dass zwischen Emotionen und dem Handeln ein direkter Zusammenhang angenommen wurde. Es finden sich dementsprechend vorsichtige bis bisweilen gänzlich ablehnende Haltungen gegenüber den Emotionen und ihren möglichen negativen handlungsbezogenen Konsequenzen. Die griechischen Ideale der Metrio- und der Apathie können hier in ganz ähnlicher Weise wiedergefunden werden. Besonders anzuerkennen ist jedoch, dass das emotionale Geschehen in der Beziehung zwischen Mensch und Gott positiv gewertet wird. Hier haben Emotionen ihren verdienten Platz und können ausgelebt und verarbeitet werden. Viele frühjüdische Texte vermitteln geradezu den Eindruck, als sei ein Gebet ohne emotionales Geschehen nicht authentisch. Auch wird der mögliche positive Einfluss von Emotionen auf das Handeln gesehen und normativiert. Es sei damit zusammengefasst, dass im Frühjudentum eine ganze Bandbreite an Wertungen der Emotionen begegnet, welche die Besonderheit und Komplexität des emotionalen Geschehens sowohl in seinen Chancen als auch seinen Grenzen beachtet und ernstnimmt.

123

Vgl. dies., Jakob, 59–66. Vgl. a.a.O., 66. 125 Vgl. KAISER, Aretē, 405.417. 126 Vgl. a.a.O., 403. 127 Vgl. a.a.O., 398. 128 A.a.O., 398. 124

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1.2 Emotionen im biblischen Kanon Wenden wir uns den in der Bibel erkennbaren Emotionsverständnissen zu, so ist vorauszuschicken, dass diese lediglich implizit aus den Texten herausgearbeitet werden können. Es handelt sich hier nicht um emotionsphilosophische Traktate wie etwa die Auseinandersetzungen der Stoiker mit den Emotionen. Die Bibel spricht von Gott und seiner Beziehung zum Menschen, nicht von Emotionen. Trotzdem ist es möglich, aus den Texten ein gewisses Konzept derselben herauszuarbeiten. Mit Matthew Elliott lässt sich sagen: „Finally, it is clear that a writer’s theory of emotion impacts their work. This is true even if the writer could not sit down and verbalize their theory.“129 Da die biblischen Texte keine expliziten Ausführungen über Emotionen liefern, muss für die folgenden Betrachtungen auf die Anthropologie, aber auch auf das Gottesbild des AT eingegangen werden, um dem Verständnis von Emotionen in den Texten auf den Grund zu gehen. Es soll hier gezielt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen allen nun betrachteten Emotionskonzeptionen im Hinblick auf ihre moralischhandlungspragmatische Relevanz gefragt und auf dieser Basis dargestellt werden, welche Auffassungen von Emotionen uns später im Mt-Ev begegnen können. 1.2.1 Emotionen im Alten Testament Im Gegensatz zur griechisch-römischen Philosophie sind für den Alten Orient keine gesondert tradierten Emotionstheorien belegt. Dafür spricht nicht zuletzt der sprachhistorische Befund, dass kein reflektierter Gebrauch spezifischer Ober- und Unterkategorien des Phänomens der Emotionen begegnet.130 Es wird bspw. nicht unterschieden zwischen einer Emotion, einem Gefühl, einem Affekt oder einer Stimmung. Dieser Befund erschwert pauschale Aussagen über Emotionen im AT ungemein. Darüber hinaus verbietet bereits das breite Spektrum an Texten aus verschiedenen Regionen und Zeiten von vornherein, von „dem alttestamentlichen Emotionsverständnis“ zu sprechen. Des Weiteren sind einige hermeneutische Vorbemerkungen bezüglich der Sprache des AT nötig, weshalb dieser Teil ungleich länger ausfallen muss als die bisherigen und folgenden. Betrachtet man Emotionen im AT, sind mehrere Aspekte zu beachten. Erstens müssen der Kontext und die Verwendung von Emotionsausdrücken berücksichtigt werden, „denn Gefühlsäußerungen sind in hebräischen Texten häufig ritualisiert dargestellt, haben somit politische und gesellschaftliche Funktionen, während sie in der abendländischen Kultur stärker als Ausdruck

129 130

ELLIOTT, Feelings, 79. Vgl. WAGNER, Emotionen, 14.

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individueller Persönlichkeit verstanden werden“131. Im altorientalischjüdischen Kulturkreis spielen Emotionen eine große Rolle in der kultischen Verehrung Jahwes. Gott zu feiern heißt emotionale Teilnahme an seinen bisherigen, gegenwärtigen und künftig erwarteten Heilstaten, und Buße zu tun heißt emotionales Leiden an eigenem Vergehen und Dankbarkeit gegenüber Gottes Vergebung.132 Dabei dienen die großen kultischen Feste dazu, Emotionen, welche mit der Vergangenheit zusammenhängen, wie Dankbarkeit, Reue, Scham oder Trauer, in die Gegenwart zu holen, zum Guten zu wenden und in Freude zu transformieren.133 Die Alttestamentlerin Françoise Mirguet gibt daher zu bedenken: „Biblical Hebrew words that are usually translated by emotional terms, such as love or fear, exceed our emotional realm, as they also include actions, ritual gestures, and physical sensations.“134 Ein weiterer Aspekt der alttestamentlichen Emotionen ist ihre inhärente kognitive Beschaffenheit: Emotionen sind meist die Folge bestimmter, rational-objektiver Gründe.135 Nun kann eingewendet werden, dass auch die Heroen der griechischen Mythologie stets mehr oder minder gute Gründe für ihre Emotionen hatten. Doch erscheinen die Emotionen, welche der Mensch im AT als Folge des Wissens über Gott fühlt, ethisch unproblematischer zu sein. Dass Emotionen im AT immer eine solche Rationalität zugrunde liegt, erklärt auch die häufigen emotiven Imperative wie das Gebot der Gottes-, Nächstenoder Fremdenliebe (Dtn 6,5; 10,18 f.; Lev 19,18)136: „Das Erkennen der Größe und Güte Gottes, wie sie sich in den Geboten zeigt, oder auch der nötigen Solidarität mit den Fremden, ist ein ‚guter Grund‘ zu lieben.“137 Des Weiteren ergibt sich das Bild, dass Emotionen von außen auf den Menschen einwirken – wie die Objekte, auf die sie sich beziehen, äußerliche sind.138 In dieser Hinsicht erinnern die Emotionen des AT an die Phänomene des griechischen Mythos, in dem sie einen Menschen von außen befallen. Jedoch werden Emotionen nicht als übernatürliche Mächte, die in den Menschen hineinfahren, erkennbar.139 Sprachliche Konstruktionen (wie bspw. Num 5,14.30: „Geist der Eifersucht“; Ps 69,10: „der Eifer um dein Haus hat mich gefressen“; Ez 16,38: Grimm und Eifer „kommen über dich“; Jes 59,13: Jahwe „kleidet sich mit Eifer wie mit einem Mantel“)140 legen nahe, dass Emotionen „nicht als aus dem Menschen entspringend gesehen [werden], 131

MAIER, Aspekte, 173. Vgl. ELLIOTT, Feelings, 121 f. 133 Vgl. INSELMANN, Freude, 140 f. 134 MIRGUET, Emotion, 463. 135 Vgl. WAGNER, Emotionen, 72. 136 Vgl. MÜLLER, Lieben, 237. 137 Ebd. 138 Vgl. WAGNER, Emotionen, 99. Ausführlich dazu vgl. KIPFER, Angst. 139 Vgl. a.a.O., 67 f. 140 Beispiele aus: WAGNER, Emotionen, 92–95. 132

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sondern als ein Bereich, in den der Mensch hineingerät, hineingezogen wird“141. Viertens muss beachtet werden, was bereits zu Beginn des letzten Abschnitts über Emotionen im Frühjudentum bezüglich der Beschäftigung mit Emotionen gesagt wurde: Es begegnen keine gezielten Auseinandersetzungen mit der Thematik per se. Dementsprechend muss auf den sprachlichen Ausdruck von Emotionen geachtet werden, die überwiegend „spartanisch, sehr sachlich“ beschrieben werden ohne „[a]ufwändige bildliche oder metaphorische Ausdrücke“, „attributive und näher erläuternde Konstruktionen“142. Auch dies erschwert es, ein im Hintergrund der Texte stehendes, übergeordnetes Emotionskonzept herauszuarbeiten. Im AT wird der Mensch anders gedacht, als es in der heutigen, westlichen Kultur vertraut ist: Sensorische und emotionale sowie kognitiv-rationale Wahrnehmungen liegen im alttestamentlichen Menschenbild viel näher beieinander, als das in der dichotomischen Anthropologie des griechischrömischen Denkens der Fall ist.143 Im AT findet sich vielmehr eine einheitlichere Anthropologie, die Körper, Emotion und Verstand einander nicht entgegensetzt. Dies zeigt sich bereits am alttestamentlichen Verständnis des Herzens (‫ ;לֵ ב‬LXX: καρδιά), welches weniger auf eine Funktion festgelegt ist – wie heute gemeinhin auf das Fühlen –, als vielmehr sowohl Ursprungsort der Emotionen, als auch des Verstandes und des Willens.144 Dementsprechend fühlt der Mensch im Alten Testament nicht nur mit dem Herzen, sondern seine Emotionen sind mit mehreren Organen verbunden, wie etwa Augen, Nase, Nieren und Leber (vgl. Ex 4,14; Ps 73,21 f.; 88,10; Jer 11,20; Klgl 2,11)145, und es ist der Ausdruck emotionaler Reaktionen mit körperlichen Termini vorherrschend. Bspw. führt Scham zum Bedecken des Gesichts und vermittelt das Gefühl einer schweren Last (vgl. Ps 32,5; 44; 51), Depression drückt sich in gebeugter Körperhaltung aus (vgl. 1 Kön 18; Ps 35,14; 38,7), ziellosem Umhergehen (vgl. Ijob 30,28; Ps 35; 38; 42,10; 44,3; Klgl 1,7) sowie Ess-, Schlaf- und anderen Störungen (vgl. 1 Kön 19,6 f.; 21,4 f.; Ijob 7; 30).146 Zorn wird gemeinhin als plötzlich im Körper aufsteigende Hitze oder gar Feuer beschrieben (vgl. Dtn 19,6; 2 Sam 22,9; Ps 74,1; Jes 30,30), und Angst führt zu Zittern, Erblassen und Paralysieren körperlicher Fähigkeiten wie Bewegen, Atmen, Sprechen oder aber zu einem plötzli-

141

A.a.O., 73. A.a.O., 69. 143 Vgl. KÖHLMOOS, Gefühle, 193; MÜLLER, Lieben, 230; WAGNER, Emotionen, 98. 144 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 83. 145 Vgl. KÖHLMOOS, Gefühle, 192. Vgl. dazu auch LAUHA, Sprachgebrauch. 146 Vgl. KRUGER, Gefühle, 248–255. 142

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chen Fluchtreflex (vgl. Ex 15,15 f.; Ps 48,6 f.; Jer 26,21; Dan 10,17; Nah 2,11).147 Emotionen haben auch kognitive Aspekte, indem sie das Denken beeinflussen: Niedergeschlagenheit und Trauer führen zu pessimistischer Sicht auf das Leben (vgl. 1 Kön 19,4; Jer 20,14 f.; Jona 4,3), und Angst führt zur Lähmung des Denkvermögens (vgl. Jes 21,3 f.; Dan 5,6).148 Hier wird ein unmittelbarer Zusammenhang von emotionaler Disposition und Verhalten und Handeln deutlich. Genau wie der Verstand steuern auch die Emotionen den Willen und das daraus entstehende Handeln. Menschliche Emotionen spielen im AT für die Charakterisierung der Gerechten und – im Gegensatz dazu – der Ungläubigen eine gewichtige Rolle und sind daher auch von moralisch-ethischem Interesse:149 Die Emotionen der Gottgläubigen zeichnen sich durch einen selbstlosen Bezug zu Gott und zum Nächsten aus und sind hauptsächlich positiv konnotiert. Solche sind bspw. die Liebe (‫אהב‬: Dtn 6,5; 10,17–19; Spr 4,1–9; Hos 3,1); Freude (‫שׂמח‬: Dtn 16,14 f.; Lev 23,40; Ps 16,7–11; 58,11; aber auch: Spr 24,17 f.); Hoffnung und Zuversicht (hier allerdings implizit aus den Stellen zu erschließen: Ps 27,1–3; 51,8–10; Jer 17,7 f.); Sanftmut (‫ אָ ֵר‬: Spr 14,29; 15,18; 16,32); Dankbarkeit und Lob (‫ ידה‬und ‫התּ ָד‬: 1 Chr 16,8; Ps 9,2; 52,11; 118,21–29; 136; Jona 2,10). Negativ erlebte Emotionen werden dabei aber nicht grundsätzlich verurteilt. Zum einen ist es dem Menschen erlaubt, über erlittenes Unrecht, Leiden, Tod und Zerstörung zu trauern (diese Emotion ist oft aus ִ und ְ‫ ִהינ‬zu erschließen: Jer 9,17 f.; den Ausdrücken für „Wehklage“ ֵ‫דמ ְספּ‬ Am 5,16 f.). Im Prozess der Buße ist Trauer sogar ein integraler Bestandteil (vgl. Jes 22,12 f.; implizit: 2 Chr 6,36–39; Ps 51,4–6). In den Psalmen ist oftmals ein emotionaler Transformationsprozess erkennbar, bei dem der Betende emotional aufgewühlt beginnt und mit freudigem und zuversichtlichem Gotteslob endet (vgl. Ps 13; 22; 42; 69; 77; 103; 113; 137). Zum anderen können negative Emotionen sogar gelobt werden, wenn sie sich auf den Eifer für Gott beziehen. Beispiele hierfür sind etwa der Ärger/Zorn (‫קצף‬, ‫ כעס‬und ‫אַ ף‬: Ex 16,20; Lev 10,16; Ri 9,30) und der Hass (‫שׂנא‬: Spr 8,13; Ps 97,10; Am 5,15). Auch die Gottesfurcht wird gelobt und sogar gefordert (‫ירא‬: Dtn 5,29; Ps 34,12; 86,11; 111,9 f.; Spr 1,7; 9,10; Koh 12,13 f.; Mal 3,16), was aus heutiger Sicht befremdlich anmuten mag, ist Furcht doch eine gemeinhin negativ bewertete Emotion.150 Matthew R. Schlimm weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Furcht in anderen Kulturen eine durchaus 147

Vgl. a.a.O., 256–259. Vgl. a.a.O., 255.258. 149 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 81–105. 150 Vgl. SALIERS, Soul, 59 f. 148

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positiv konnotierte Emotion ist.151 „By recognizing that cultures often have differing ideas about emotions, and by looking for anthropological analogues to biblical texts, interpreters can unlock the meaning of perplexing emotional phrases such as ‚the fear of the Lord‘.“152 Daher ist es m.E. sinnvoll, an diesen Stellen die „Furcht vor JHWH“ besser mit „Ehrfurcht“ wiederzugeben. Aus den Texten wird ersichtlich, dass es keine „bloße Furcht“ ist, die zu Vermeidungsverhalten und/oder Flucht führt, wie etwa die Furcht vor einer plötzlich auftretenden, lebensbedrohlichen Gefahr. Freilich darf der Emotion ihr Furchtcharakter nicht abgesprochen werden, sind Gottes vergeltende Taten doch als solche real und zu fürchten.153 Doch geht die Gottesfurcht insofern darüber hinaus, als sie der tiefen, existenzialen Erkenntnis entspringt, „to recognize the difference between who God is and what we are“154. Indem der Mensch im Angesicht der Größe, Güte, Allmacht und dem für den menschlichen Verstand letztlich nicht be- und greifbaren Sein Gottes, seine eigene Bedeutungslosigkeit, Abhängigkeit und Fehlbarkeit erkennt, fühlt er nicht nur Furcht, sondern auch Schuld, Trauer, Demut, Respekt, Dankbarkeit und Freude; „Gottesfurcht“ enthält letztlich eine ganze Bandbreite an verschiedenen Emotionen.155 Es wird erkennbar, dass diese Art „der Furcht und des Zitterns vor Gott“ (φόβος καὶ τρόµος: 1 Kor 2,3; Phil 2,12 f.) stärker als grundsätzliche Einstellung und Praxis denn als bloße affektive Erfahrung gedacht sind: „it is respect and reverence due to the Lord of all things as ruler and sovereign.“156 In diesem Sinne ist die Furcht im AT, welche sich auf Gott bezieht, anders zu verstehen als die profan-alltägliche Furcht. Im Gegensatz zu dieser, ist jene durchweg positiv besetzt, weil sie aus dem rechten Glauben an Gott resultiert. Dagegen durchweg negativ erlebte sowie sich negativ auswirkende Emotionen sollen kontrolliert werden, sodass sie nicht zu zerstörerischen Handlungen führen, wie etwa Ärger/Zorn (Ps 4,4 f.; Spr 14,17–29; 29,11; Koh 7,9), Hass (Spr 24,17; 25,21) und Neid/Eifersucht (‫קנא‬: Spr 3,31; 24,1). Die Jahwe-Gläubigen sind emotional, doch sind diese Emotionen stets an das Wissen über Gott und das Kennen Gottes und seiner Gebote gebunden, sind daher stets mit Kognition verbunden, und ein ekstatisch unkontrolliertes Ausleben der Emotionen, wie etwa im griechisch-römischen Ritus, ist nicht erkennbar.157 Die Emotionen der Ungläubigen dagegen sind egoistisch und 151

Vgl. SCHLIMM, Role, 53 f. A.a.O., 54. 153 Vgl. GAß, Konkretionen, 197. 154 SALIERS, Soul, 65. 155 Vgl. a.a.O., 64 f. 156 A.a.O., 61. 157 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 94. 152

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gottlos, woraus sich entsprechende Taten ergeben (vgl. bspw. Liebe des Bösen und Freude an der Sünde: Gen 6,5; Ps 35,15; 52,3 f.; Spr 2,14; 11,6; Jes 5,20; Mi 3,2; Hang zur Sünde durch Emotionen: Gen 30,1; Spr 21,25; Ri 16,16; 2 Sam 13,2): „The wicked can be seen clearly for what they are by observing their emotions. They love and delight in evil and they despise wisdom and the knowledge of God. Beyond this, their actions are often motivated by destructive, self-centred and strongly felt jealousy, hatred, anger, base desire and envy.“158

Dass Emotionen im Bundesgedanken des AT eine gewichtige Rolle spielen, zeigte 2010 Anton Burger in seinem interessanten Ansatz einer christlichen Wirtschafts- und Unternehmensethik.159 Sein Versuch einer christlichen Unternehmensethik sieht den Gewinn der Gottesbeziehung in einer vertikalen Beziehungsebene, die über die interpersonell-horizontale Ebene hinausgeht.160 Er stellt dar, wie der Bundesgedanke positive intra- sowie interpersonelle Emotionen kultiviere und zu einer zunehmenden „Personalisation“ des Menschen beitrage, der nicht mehr nur als human ressource betrachtet werde, sondern als wertvolles Mitglied der Gemeinschaft, und der sich darüber hinaus in hoffnungsvollem Vertrauen auf Gottes Zuwendung stützen könne.161 Emotionen übernehmen auch eine tragende Rolle in Glaubenspraxis, Ritus und Moral. Dies beginnt mit einer geforderten emotionalen Beziehung des Menschen zur Tora: Die Gebote Gottes täglich zu lernen soll dem Menschen zur Freude gereichen und verbindet auf diese Weise positive Emotionen mit dem ethischen Handeln im Glauben (Ps 1,2; Neh 8,1–18).162 Gesetz und Emotionen schließen sich im AT nicht aus. In diesem Zusammenhang erklärt Thomas Kazen in seinem 2011 erschienenen Band über Emotions in Biblical Law, dass vielfältige alttestamentliche Gesetzestexte auf Emotionen abzielten: Anhand verschiedenster Belegtexte innerhalb des Pentateuchs kommt er zu vier moralischen Zielemotionen, die zentrale Elemente in der Motivation zu gesetzestreuem Verhalten und Handeln seien.163 Dies seien erstens Ekel/Abscheu im Zusammenhang mit rituellen Reinheitsgesetzen und dem Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26)164, Empathie als Zielemotion humanitärer Gesetze im Bundesbuch (Ex 20,19–23,33)165, Furcht vor Fremden, göttlicher 158

A.a.O., 105. BURGER, Unternehmensethik. 160 Vgl. a.a.O., 65–69. 161 Vgl. a.a.O., 341–345. 162 Vgl. INSELMANN, Freude, 142 f. 163 Vgl. KAZEN, Emotions, 47. 164 Vgl. a.a.O., 71–94. 165 Vgl. a.a.O., 95–114. 159

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Strafe und Dämonen in Dtn, dem Bundesbuch, den Reinheitsgesetzen sowie dem Heiligkeitsgesetz166 sowie ein gewisses Gerechtigkeitsempfinden167 im Zusammenhang mit Opfer und Sühne168. Thomas Kazen erarbeitet einsichtig, wie emotionale Prozesse zu moralisch gebotenem Handeln beitrügen und inwiefern alttestamentliche Gesetzestexte, die auf den ersten Blick eine rein präskriptiv-rationale Ethik vermittelten, dieses emotive Element in ihre Überzeugungsstrategie aufnähmen, was bei der Exegese für eine angemessene Textinterpretation zu berücksichtigen sei.169 In seinem jüngst veröffentlichten Artikel Emotional Ethics in Biblical Texts vertieft Thomas Kazen seine Beschreibung der Empathie als einer altruistischen Emotion, aus der heraus moralische Urteilsbildung und Normen entstünden, und führt dafür zahlreiche alttestamentliche Belege an.170 Für Israel sei die empathisch-emotionale Anteilnahme am Mitmenschen ein wichtiges Werkzeug der eigenen Gemeinschaftsförderung (Ex 22,20–26; Dtn 24,10–22). Die Grenzen dieser Gemeinschaft würden immer wieder ausgeweitet und deuteten auf eine universellprosoziale Verbundenheit der Schöpfung hin (Lev 19,10.33–37; 2 Chr 28,5– 15; Spr 20,22; 24,17 f.; 25,21 f.; Jona 4,11): „Empathy and non-revenge behaviours towards enemies are realized as an extension of kin altruism.“171 Obgleich sich auch einige Texte fänden, die eine solche emotionale Verbindungen zu Außenseitern strikt ablehnten (Ex 23,23–33; Dtn 7,1–5; 23,4–7)172, hält Thomas Kazen an der übergeordneten altruistischen Zuwendung zu jedem Nächsten als einer grundlegenden emotional-ethischen Kompetenz fest: „However, it seems that kin altruism is just the springboard for a natural expansion of empathy’s sphere and the scope of altruistic attitudes and behaviours. Altruism can be expanded to reach beyond previous borders by extending the sense of relatedness. […] Even obvious outgroups may at times be incorporated in this way and counted among the ingroup.“173

Texte wie Sir 18,10–13 und 28,1–4 legten sogar nahe, dass emotionales Wohlwollen dem Mitmenschen gegenüber als besondere Form der imitatio dei betrachtet wurde.174 Daher lautet das Schlusswort des Autors entspre166

Vgl. a.a.O., 115–140. Diesen Gerechtigkeitssinn betrachtet Thomas Kazen insofern als Emotion, als er aus dem Zusammenwirken verschiedener möglicher Emotionen besteht, wie etwa Zorn, Groll, Stolz, Schuldgefühlen usw. (vgl. ders., Emotionen, 299). 168 Vgl. ders., Emotions, 141–164. 169 Vgl. a.a.O., 174 f. 170 Ders., Ethics. 171 A.a.O., 13. 172 Vgl. a.a.O., 16. 173 A.a.O., 18. 174 Vgl. a.a.O., 15. 167

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chend: „Altruism, then, remains a divine potential which human beings can tap into.“175 Eine solch wertschätzende und als wertvoll erachtete Komponente der Emotionen wird auch in der narrativen Ethik in den Parabeln des MtEv begegnen (Kapitel 4 und 5). Dies führt unmittelbar zum nächsten interessanten Aspekt der alttestamentlichen Emotionsvorstellung: Denn in diesem Zusammenhang zentral ist die Beobachtung, dass Gott selbst im AT emotional ist. Stephen Voorwinde zählte im Rahmen seiner Arbeit über die Emotionen des joh Jesus 842 Emotionsausdrücke Gottes im AT.176 In Ex 34,6 f. hält Matthew R. Schlimm die emotionale Relationalität Gottes als theologisch bedeutsam fest: „Strikingly, these verses speak of God not in terms of saving acts in history, not in terms of creative activity, not in terms of stoic attributes, but in terms of emotional relationality.“177 Dabei fällt auf der einen Seite zwar auf: „Um emotionale Aussagen von Gott und Mensch zu machen, wurden im A.T. nicht verschiedene Aussage-Systeme entwickelt, sondern es wurden unterschiedliche Einzelaussagen in einem einheitlichen Grundsystem getroffen.“178 Somit sind die Emotionen Gottes auch fester Bestandteil der Offenbarung, und es kann nach ihrer Funktion in der Rede Gottes bzw. der Rede von Gott gefragt werden.179 Auf der anderen Seite kann aber durchaus zwischen göttlichen und menschlichen Emotionen unterschieden werden – und zwar in Bezug auf ihre aktionalen Konsequenzen: „Während sich menschliche Passion nicht durch den Willen kontrollieren lässt, kann göttliches Pathos durchaus zielgerichtet eingesetzt werden.“180 So empfindet Gott bspw. auch solche Emotionen, die durchaus problematische Folgehandlungen nach sich ziehen können. Als die grundlegende Emotion Gottes kann seine Liebe zur Welt und zum Menschen gelten. Das Hohelied ist wohl das eindrücklichste Beispiel für die Schilderung eines „emotionalen, bewegten und leidenschaftlichen“ Gottes, der sich durch stark empfundene Liebe auszeichnet.181 Seine Liebe ist deshalb die Grundemotion, weil alle weiteren Emotionen, so gegensätzlich sie auch scheinen mögen, mit dieser nicht inkompatibel sind, sondern geradezu aus ihr hervorzugehen scheinen.182

175

A.a.O., 18. Vgl. VOORWINDE, Jesus, 31. 177 SCHLIMM, Role, 45 f. (Hervorhebungen im Original). 178 WAGNER, Emotionen, 111 (Hervorhebung im Original). 179 Vgl. KÖHLMOOS, Gefühle, 197. 180 GAß, Konkretionen, 194. 181 Vgl. dazu PEETZ, Gottes-Liebe, 270–279 (zitiert: 277). 182 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 109. 176

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Dies zeigt sich in besonderer Weise an Gottes Eifersucht (vgl. Ex 34,14), welche sich durch die Ambivalenz zwischen Liebe und Hass auszeichnet.183 Eine solche Eifersucht für die alleinige Verehrung JHWHs ist sogar im Sinne der imitatio dei geboten (Num 25; 2 Kön 10).184 Darüber hinaus wird Gott zornig (vgl. Ex 4,14), bereut (‫נחם‬: vgl. Gen 6,6), verabscheut und hasst Idolatrie und sündiges Tun (vgl. Dtn 16,22; Ps 5,6; 11,5; Spr 6,16–19; Am 5,21). Er empfindet Spott und Genugtuung über den Weg der Gottlosen (implizit erschließbar aus seinem Lachen und Höhnen in Ps 2,4; 37,13; 59,9). Zorn und Mitleid werden Gott sogar häufiger zugeschrieben als den Menschen.185 Und letztlich sind das Gericht Gottes und das Ende der Welt (am „Tag des Herrn“: ‫ )י ם־יְ הוָ ה‬untrennbar mit Gottes Zorn verbunden (vgl. Jes 13,6; Jer 25,15; Klgl 1,12; 2,1.21 f.; Ez 2,3; Joël 2,1; Obd 1,15). Erasmus Gaß hält fest: „Der Zorn einer Gottheit dient im Alten Orient meist dazu, die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Zorn ist folglich nicht eine willkürliche Emotion, sondern ein Aspekt der göttlichen Gerechtigkeit.“186 Die beiden Konzepte der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes ergeben eine gewisse Spannung: Mal triumphiert die Barmherzigkeit über das Gericht (vgl. Ps 36,6 f.; Jes 31,5; Jer 31,20; Hos 11,8–11), mal wird das Gericht stärker betont als die Barmherzigkeit (vgl. Gen 6,5–7; Ex 34,6 f.; Ijob 9,15–23; 40,8).187 Zorn und Liebe sind zwei zentrale Emotionen Gottes, die aus heutiger Sicht nur schwer in Einklang zu bringen sind, im AT aber ganz selbstverständlich nebeneinanderstehen (Hos 11,8).188 Es führt somit die Barmherzigkeit Gottes geradezu „dramatisch“ vor Augen, die damit beginnt, dass Gott unfähig ist, sein geliebtes, aber schuldiges Volk Israel preiszugeben.189 In diesem Fall „achtet Jahwe nicht auf die Schuld des Menschen, sondern er berücksichtigt die strukturelle Schwäche des Menschen, der oft nicht imstande ist, seine Fehler zu erkennen“190. Zwar zeigt sein Zorn an, dass seine Gerechtigkeit auf Erden verdorben wurde, doch genauso ist sein Mitleid Bestandteil dieser göttlichen Liebe und Gerechtigkeit.191 Entsprechend kann Gottes Liebe zu Zorn über die Verfehlungen und Schwächen der Menschen führen, aber genauso zu Freude (vgl. Jes 65,19; Zef 3,17; Dtn 28,63; Jer 32,41; Ps 104,31; Jes 9,16), gütigem

183

Vgl. GAß, Konkretionen, 198. Vgl. a.a.O., 199 f. 185 Vgl. KÖHLMOOS, Gefühle, 195. 186 GAß, Konkretionen, 195. 187 Vgl. JANOWSKI, Gott, 78 f. 188 Vgl. a.a.O., 119. 189 Vgl. a.a.O., 120. 190 GAß, Konkretionen, 202. 191 Vgl. a.a.O., 203–205. 184

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Mitleid und Erbarmen (‫רחם‬: Ps 103,13; Hos 1,6 f.) sowie geduldiger Sanftmut (vgl. Ex 34,6; Num 14,18; Ps 86,15; 145,8; Jes 48,9).192 Diese Emotionen tragen dem Umstand Rechnung, dass Gott „seinen Zorn kontrollieren, zeitlich begrenzen und einen plötzlichen Ausbruch hinauszögern“ kann.193 Trotzdem bleibt der Zorn Gottes im Hinblick auf seine handlungspragmatischen Folgen umstritten, zieht dieser doch bisweilen zerstörerisches Handeln nach sich.194 Es soll hier nochmals betont werden, dass, obgleich Gottes Liebe, Geduld und Barmherzigkeit seinen Zorn übersteigen (Ps 30,6; Jes 54,9 f.)195, er im AT keineswegs als berechenbarer, bedingungsloser Allversöhner begegnet: Der Mensch darf auf seine Liebe bauen und muss dennoch mit seinem Zorn rechnen. Entsprechend haben die Emotionen JHWHs positive als auch negative Folgen – Gott rettet und straft.196 Auf diese Weise ist es gerade die Emotionalität Gottes, welche ihn als einen Gott zeichnet, der sich von seiner Schöpfung nicht distanziert, sich immer wieder von Neuem zu ihr in Beziehung setzt und sich für sie einsetzt. So schlussfolgert Erasmus Gaß sogar: „Ein Verzicht auf die Kategorie des Ärgers würde Gott zu einem unbeteiligten Beobachter machen, der überhaupt kein Interesse an seiner Schöpfung mehr hätte.“197 Auch Bernd Janowski spricht sich für einen klaren Zusammenhang zwischen den scheinbar so spannungsvollen Aspekten Gottes – seinem Zorn und seiner Liebe – aus: Die Barmherzigkeit Gottes sei „kein Affekt eines Gottes, der sich dann und wann herablässt, um ‚Gnade vor Recht‘ walten zu lassen, sondern eine Funktion seiner Gerechtigkeit, die vorfindliches Unrecht zu durchkreuzen vermag und die Welt zur Ordnungsstruktur der Gerechtigkeit formt.“198

Dass die Emotionalität Gottes nicht unproblematisch rezipiert wurde, zeigt sich bereits bei den Kirchenvätern.199 Wie Philo bspw. mit den Emotionen Gottes und nach ihm Clemens von Alexandrien sowie die Kappadokischen 192

Aufgrund der Ähnlichkeit der hebräischen Begriffe für „Mutterschoß“ (‫ ) ֶרחֶ ם‬und „Mitleid haben“ (‫ )רחם‬wurde Gottes Fähigkeit zu Empathie, Mitleid und Erbarmen in genderspezifischen Diskussionen häufig als Argument für eine weiblich-emotionale Seite Gottes aufgenommen (vgl. dazu MAIER, Aspekte, 182–188). Von Gottes Emotionalität auf seine weiblichen oder männlichen Wesensaspekte zu schließen, soll an dieser Stelle unterlassen werden, verhält es sich doch wohl eher so, dass der Mutterschoß „zwar geschlechtsspezifisch auf den weiblichen Körper [verweist, Mitleid] aber keineswegs eine bestimmte Geschlechtsidentität“ voraussetzt (a.a.O., 184). 193 GAß, Konkretionen, 205. 194 Vgl. a.a.O., 197. 195 Vgl. a.a.O., 203. 196 Vgl. a.a.O., 199. 197 A.a.O., 204. 198 JANOWSKI, Gott, 120 (Hervorhebung im Original). 199 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 105.

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Väter mit den Emotionen Jesu zu kämpfen hatten, zeigt, dass Gott Emotionen zuzuschreiben häufig als zu anthropomorph, ja, geradezu als blasphemisch angesehen wurde.200 So wurde auch im Laufe der Neuzeit noch der Liebe Gottes die emotional-affektive Komponente weitestgehend zugunsten eines rationalen Verständnisses derselben abgesprochen und das Liebesgebot im Sinne der imitatio dei als rationale Verpflichtung des Handelns und des Wollens verstanden.201 Doch, wie Matthew Elliott feststellt, muss beim Blick auf die alttestamentlichen Texte zugestanden werden: „To postulate a God without passion is to take the heart out of Jewish worship. God’s emotions are not like the self-centred, irrational passions of the pagan gods, nor is he the Epicurean god that feels no passion.“202 Nicht nur kognitive Aspekte wie Intelligenz und Wille, sondern auch Emotionen sind ein maßgeblicher Charakterzug Gottes.203 Daher muss gefragt werden, ob es sich hierbei wirklich um einen „Anthropopathismus“, um den Begriff von Andreas Wagner aufzunehmen,204 handelt, mit dem Gott menschliche Attribute zugeschrieben werden, oder es in Wirklichkeit andersherum und der Mensch nach dem Bilde Gottes auch emotional geschaffen ist.205 Dazu ließe sich nochmals das stoische Modell entgegensetzen, dass in seinem Tugendstreben ebenso Gott gleichwerden will, diesen „Gott“ aber im λόγος, d.h. der ultimativen, das Universum durchwirkenden und lenkenden Vernunft erblickt und sich nicht durch eine persönliche und somit emotionale, dialogische Beziehung zu dieser „Gottheit“ auszeichnet.206 Zumindest kann für das AT festgehalten werden, dass die Emotionen Gottes „nicht einfach eine primitive Vermenschlichung Gottes darstellen, sondern funktionsgebundene Aussagen sind“207. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass bspw. die Genesis „ausgesprochen arm an Emotionen Gottes“ ist, und es muss darauf geachtet werden, Gott nicht entgegen dem Textbefund zu stark zu „emotionalisieren“208. So empfindet Gott weder Leid, Kummer oder Sorge, noch Erstaunen oder Überraschung, noch Scham, Schuld oder Neid, noch Furcht oder Sehnsucht, noch

200

Vgl. a.a.O., 105–118; STOELLGER , Performanz, 297 f. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass Philo glaubte, nur so den biblischen Gott der hellenistischen Welt vermitteln zu können (vgl. KÖHLMOOS, Gefühle, 191). 201 Vgl. ELLIOTT, Core, 106. 202 Ders., Feelings, 111. 203 Vgl. ebd. 204 Vgl. WAGNER, Emotionen, 101–111. 205 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 111. 206 Vgl. VEYNE, Religion, 128–132. 207 KÖHLMOOS, Gefühle, 191. 208 A.a.O., 196.

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Heiterkeit oder Begeisterung.209 Auch empfindet Gott keine überwältigenden Emotionen, die sich „unkontrolliert und unreflektiert“ äußern.210 Die Emotionen Gottes dienen nicht nur dazu, Gottes Handeln in bestimmten Situationen zu begründen und somit scheinbar kontingente Ereignisse transparent und verständlich zu machen211, sondern auch dazu, dem Menschen seine Verfehlung vor Gott einsichtig zu machen: In Gottes väterlicher oder ehepartnerschaftlichen Enttäuschung über die Sünde bzw. seiner Freude über das rechte Tun der Menschen werden diese emotiv von der Falschheit bzw. Richtigkeit ihrer Handlungen überzeugt.212 Hos 11 ist ein besonders eindrückliches Beispiel der emotionalen Bindung JHWHs zu Israel, welche „gemischte Gefühle“ über die Untreue des Volkes hervorruft, die sich dennoch nicht negativ auf Gottes Handeln auswirken. Die besonders eindrücklichen Verse Hos 11,8b und 9a seien hier daher genannt: „Mein Herz kehrt sich in mir um, ganz und gar erregt ist all mein Mitleid.“ ‫חוּמי‬ ָֽ ִ‫רוּ נ‬% ‫עָ לַ י ( ִל ִ&בּי יַ חַ ד נִ ְכ ְמ‬

‫פּ‬ ) ַ ‫נ ְֶה‬

„Nicht ausführen will ich die Glut meines Zornes.“ ‫ר ן אַ ִ&פּי‬+ ‫ח‬ ֲ ( ‫ל ֹא ֶ ֽאעֱשֶׂ ה‬ )

„Die für alttestamentliche Verhältnisse recht weitreichende anthropomorphe Annäherung an Gott im Hinblick auf sein emotionales Erleben hat hier die Funktion, Israel zum besseren Verständnis JHWHs und seiner selbst zu bringen.“213 Es kann somit festgehalten werden, dass sich Gott ebenso durch seine Emotionen wie durch sein Wort und sein Handeln offenbart. Gott setzt sich ganz direkt-emotional zum Menschen in Beziehung. Diese Verbindung darf den Menschen nicht „kalt lassen“, sondern zu ebenso emotionaler Reaktion bewegen. Diese Beziehung setzt sich im NT in Jesus Christus insofern fort, als sie in seiner Menschlichkeit und Emotionalität offenbar wird. All diese Überlegungen zu den Emotionen Gottes und der Menschen im AT erbringen in ethischer Perspektive folgende Ergebnisse: Zunächst zeigt die Emotionalität Gottes eine grundsätzliche Wertschätzung der Emotionen im alttestamentlichen Denken auf. Der ethisch ambivalente Charakter der Emotionen wird gesehen, doch werden Emotionen insgesamt „sehr positiv betrachtet […]; die Warnung vor bestimmten Emotionen zielt also nicht auf ein stoisches Ideal der Gleichmut, sondern richtet sich gegen das negative

209

Vgl. a.a.O., 194. A.a.O., 201. 211 Vgl. a.a.O., 204. 212 Vgl. a.a.O., 209 f. 213 A.a.O., 210. 210

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Einzelgefühl.“214 Dagegen sind Emotionen in der Beziehung zwischen Mensch und Gott überaus wichtig und wertgeschätzt, ja, sie erweist sich durch Liebe und Leidenschaft geradezu als „vital“ und „lebendig-emotional“215. Wichtig ist dabei der stete, unmittelbare Zusammenhang zwischen Emotion und Handeln, der in alttestamentlichen Texten erkennbar ist. So ist bspw. Gottes Mitleid im Großteil der Belegstellen direkt mit seinem erbarmenden, rettenden Handeln verbunden.216 Auch Liebe begegnet meist in Verbindung mit entsprechenden Taten und wird vielfach als Antrieb für ein bestimmtes Handeln angegeben (vgl. bspw. Gen 29,18; Dtn 4,37; 1 Sam 18,3; Spr 27,5; Jes 43,4; Hos 11,1).217 So konstatiert Katrin Müller, dass gerade die Liebe im AT eine direkte Verbindung von Emotion und entsprechendem Verhalten aufweise, wobei der Unterschied zwischen menschlicher Liebe und göttlicher Liebe der sei, dass für letztere kein Grund angegeben werde.218 Somit erscheint die Liebe Gottes im AT letztlich als unergründbarer Urgrund allen Seins der Schöpfung. Damit lässt sich festhalten, dass Emotionen ohne folgendes (positives) Handeln bedeutungslos bleiben. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit ist diese motivationale Funktion der Emotionen zentral, denn sie suggeriert einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Emotionen und Ethik. Dass diese Vorstellung im AT häufig auftaucht, legt außerdem die Vermutung nahe, dass sie auch im NT begegnet, was im Folgenden überprüft werden soll. 1.2.2 Emotionen im Neuen Testament Auch das NT ist gefüllt mit mannigfaltiger Erwähnung emotionaler Zustände, Bewegungen und Motivationen. Es soll hier ein kurzer Streifzug durch die Briefe des Paulus sowie die Evangelien genügen, welche dem Mt-Ev zeitlich am nächsten liegen, um einen Eindruck von der Emotionskonzeption zu erhalten, welche dem mt Verständnis von Emotionen potentiell zugrunde liegt.219 (1) Zunächst ein Blick auf die paulinischen Schriften: Hier sind Emotionen bei Weitem kein Randphänomen:220 Neben dem berühmten Hohelied der Liebe (1 Kor 13) mag v.a. der zweite Brief an die Korinther „the most emoti214

WAGNER, Emotionen, 99. PEETZ, Emotionen, 452. Obgleich sich die Untersuchung von Melanie Peetz nur auf das Hld beschränkt, treffen diese Begriffe m.E. für das ganze AT zu und werden daher an dieser Stelle übernommen. 216 Vgl. MAIER, Aspekte, 185. 217 Vgl. MÜLLER, Lieben, 234 f. 218 Vgl. a.a.O., 237. 219 Vgl. dazu ELLIOTT, Feelings, 124–235. 220 Vgl. a.a.O., 251 f. 215

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

onal book in the Pauline writings“ darstellen.221 Auch in Röm 14,17 schreibt Paulus: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude (χαρά) im Heiligen Geist.“ Die berühmte Trias aus πίστις, ἐλπίς und ἀγάπη, die den Christen ausmacht, enthält immerhin zwei Emotionen (1 Kor 13,13; 1 Thess 1,3; 5,8). Und schließlich findet sich in Röm 12,9–21 ein leidenschaftlicher Appell an die emotionale Verfasstheit eines jeden Christen.222 Diese Beobachtungen legen nahe, dass der Glaube an Christus für Paulus essentielle emotionale Züge trägt.223 Paulus empfindet selbst tiefe Emotionen für seinen Dienst am Evangelium, seine Gemeinden und Christus – positiver sowie negativer Art (vgl. Apg 20,19.31; 2 Kor 2,4; 11,28 f.; 1 Thess 1,6; 2,14–17; 3,9 f.; Phil 2,20; 4,10). Zum einen ist hierbei erstaunlich, dass sich Paulus seiner Emotionen nicht schämt, sondern ganz offen darüber spricht. Von einem Philosophen griechischer Tradition hätte man erwartet, dass er seine Emotionen vollkommen unter Kontrolle hält.224 Die ethische Relevanz der Emotionen wird hier umso deutlicher, als Paulus Emotionen und Handeln oft in unmittelbares Verhältnis setzt (Röm 5,1–11; 13,8–10; 15,30; 2 Kor 5,14 f.). Auch für Paulus sind die Emotionen ambivalente Größen, die entweder zu gutem oder zu schlechtem Handeln führen können: So belegen Stellen wie Röm 1,26; Kol 3,5 oder 1 Thess 4,5, dass Paulus vor gefährlichen Emotionen wie Habsucht (πλεονεξία), Begierde (ἐν πάθει ἐπιθυµίας) und Wollust (πορνεία) warnt.225 Doch die genannten Stellen zeigen auch, dass diese Emotionen nur für Ungläubige charakteristisch sind. Die Ausrichtung auf Christus hingegen wendet alle Emotionen zum Guten (Gal 5,19–26). So können selbst negative Emotionen wie Eifersucht und Neid, welche, auf profane Dinge gerichtet, kritisiert werden (Röm 1,29; 13,13; 2 Kor 12,20; Gal 5,20 f.), positiv sein, wenn sie sich als Eifer für Gott auszeichnen (Röm 10,2; 2 Kor 11,2; Gal 4,18; Phil 3,6).226 Ein gutes Beispiel hierfür ist die Freude, die ein Leitmotiv des Philipperbriefs ist (Phil 1,3–6.18; 2,17 f.; 3,1; 4,1–4).227 Paulus ruft auf zur gegenwärtigen als auch prospektiven Freude sowie zur aktiven Mitfreude mit Anderen, die mehr am Gegenüber orientiert ist als an sich selbst und so zu großzügigem Handeln führt.228 Dieses Empathie-Ideal kommt bspw. auch in Röm 12,10–18 deutlich zur Sprache.229 Doch ist auch klar, dass diese Empathie nur für positive Emo-

221

A.a.O., 251. Vgl. a.a.O., 235. 223 Vgl. a.a.O., 256 f. 224 Vgl. a.a.O., 201. 225 Vgl. SPENCER, Feel, 9. 226 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 196–199. 227 Vgl. INSELMANN, Affekt, 256. 228 Vgl. a.a.O., 287. 229 Vgl. a.a.O., 269. 222

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tionen gilt; in Situationen, in denen negativ-zerstörerische Emotionen vorherrschen, soll man sich von diesen aktiv distanzieren (Röm 12,21).230 Es lässt sich festhalten, dass Paulus – entgegen der gängigen Meinungen der Antike – Emotionen durchaus schätzt; dennoch findet sich auch bei ihm – ganz gemäß der Mehrheit der antiken Meinungen – die Forderung nach Affektregulierung, da diese negative Folgen zeitigen können.231 Entscheidend ist stets, dass die Emotion sich am Wohl des Nächsten orientiert und sich in letzter Instanz auf Gott ausrichtet. Ähnlich ist auch die Furcht eine durchaus positive Emotion, die zu gutem Handeln führt, wenn sie sich als φόβος θεοῦ bzw. φόβον τοῦ κυρίου auf Gott bezieht (Röm 3,18; 2 Kor 5,11; 7,1). Sogar die Traurigkeit kann mit Gott als Objekt zu gutem Handeln führen, etwa zu Buße und Umkehr (εἰς µετάνοιαν: 2 Kor 7,9–11).232 Paulus betrachtet Ärger, Zorn und Hass als die Gemeinschaft vergiftende, ethisch höchst gefährliche Emotionen (Gal 5,19–21).233 Andererseits können Ärger und Eifersucht, sind sie auf Gott bezogen und führen sie zu Handeln im Glauben, durchaus positiv beurteilt werden (Röm 10,19; 2 Kor 7,11).234 Abscheu gegenüber der Sünde ist sogar hilfreich, um auf dem rechten Weg zu bleiben (Röm 12,9).235 Auch ist das Trauern mit dem Nächsten ein wichtiger Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens und wird nicht verurteilt (Röm 12,15; 1 Kor 12,26).236 Dennoch ist diese Trauer nicht wie die von Heiden, denn den Christen zeichnet die Hoffnung auf Auferstehung aus, welche den Schmerz über einen Verlust zu lindern vermag (1 Thess 4,13; 1 Kor 15,55–57).237 In all diesen Fällen ist erkennbar, dass Emotionen wie im AT stets an Wissen über Gott gebunden sind und genau diese kognitive Komponente die Emotion moralisch gut werden lässt.238 Dies stellt Paulus in Röm 10,2 f. deutlich heraus: µαρτυρῶ γὰρ αὐτοῖς ὅτι ζῆλον θεοῦ ἔχουσιν ἀλλ’ οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν· ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην καὶ τὴν ἰδίαν [δικαιοσύνην] ζητοῦντες στῆσαι, τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν. (2) In den Evangelien begegnen ebenfalls zahlreiche Emotionen. Davon ist die ἀγάπη mit Sicherheit die zentrale Emotion:239 Liebe ist das größte unter den Geboten (Mk 12,28–34; Mt 22,34–40; Lk 10,25–28; Joh 14,23; 15,9–11) und bezieht sogar die Feinde mit ein (Mt 5,43–48; Lk 6,27–36). Sie wird als 230

Vgl. a.a.O., 269 f. Vgl. a.a.O., 270. 232 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 208–211. 233 Vgl. a.a.O., 219. 234 Vgl. a.a.O., 220. 235 Vgl. a.a.O., 222 f. 236 Vgl. a.a.O., 210. 237 Vgl. a.a.O., 211. 238 Vgl. a.a.O., 198. 239 Vgl. a.a.O., 135–164. 231

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

eine stark kognitive Emotion geschildert: Sie ist keine „blinde Liebe“, sondern basiert auf Wissen (vgl. Lk 7,47; Joh 10,17). In diesem Sinne ist auch zu verstehen, wie Liebe geboten werden kann. Außerdem ist sie der stärkste Motivator für gutes Handeln und damit ethisch hoch relevant (Mk 10,21; Joh 3,16; 15,12 f.). Sie kann aber auch heuchlerisch und falsch sein, wenn sie sich auf die falschen Objekte bezieht; dann wird sie kritisiert (Mk 10,17–22; 12,38–40; Mt 6,5.24; 19,16–22; 23,6; Lk 11,43; 16,13; 18,18–23; 20,46). Darüber hinaus ist v.a. χαρά ein wesentliches Merkmal des Christusgeschehens und des Glaubens (Mk 11,9; Mt 13,16; 16,17; 28,8; Lk 7,23; 10,23; 15; Joh 3,29; 8,56; 16,22–33). Die Freude wurde häufig als vorwiegend eschatologisches Geschehen betont, doch vernachlässigt diese Sicht die schon präsentische Freude, welche der Glaube an Christus auslöst.240 Auch Hoffnung begegnet als positive Emotion des Glaubens, doch spielt sie eine untergeordnete Rolle (Mt 9,2.22; 12,21; 14,27).241 Der Neid und die Eifersucht begegnen in den Evangelien und der Apostelgeschichte nur auf negative Weise; positiven Eifer für Gott, der sich bei Paulus mitunter findet, schildern diese Texte hingegen nicht (Mk 15,10; Mt 27,18; Apg 5,17; 13,45; 17,5).242 Ambivalent verhält es sich mit Furcht: Bezieht diese sich auf irdische Dinge wie Verfolgung, Bedrängnisse und Tod, d.h. ist sie selbstbezogen, wird sie kritisiert (Mk 11,32; Mt 6,27–34; 21,46; 24,6; Joh 9,22; 12,42). Doch Furcht als natürliche Reaktion auf bedrohliche Ereignisse wird dem Menschen nicht abgesprochen; hier bezeugen die Evangelien am häufigsten eine Furcht im Angesicht Jesu Vollmacht, d.h. eine Epiphaniefurcht (Mt 17,6–8; 8,25). Durch die Kenntnis um Jesus Christus als Gottes Sohn aber soll diese Furcht aufgelöst werden (Mt 28,5; Lk 1,13; 5,10). Als Furcht Gottes ist sie motivational positiv zu bewerten (Mt 10,28; Lk 18,2).243 Letztlich ist nicht zu unterschätzen, wie sehr mit dem Motiv der Furcht in den Evangelien mitunter gespielt wird, um das rechte Handeln zu motivieren, indem es das künftige Gericht Gottes beschreibt (Mt 24,51; 25,30) Hier sei der eindrückliche Vers Lk 13,28 genannt, welcher mit der Furcht vor dem Ausschluss aus dem Reich Gottes spielt: Ἐκεῖ ἔσται ὁ κλαυθµὸς καὶ ὁ βρυγµὸς τῶν ὀδόντων, ὅταν ὄψησθε Ἀβραὰµ καὶ Ἰσαὰκ καὶ Ἰακὼβ καὶ πάντας τοὺς προφήτας ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ, ὑµᾶς δὲ ἐκβαλλοµένους ἔξω. Auch Traurigkeit und Kummer werden in den Evangelien nicht heruntergespielt oder gar verurteilt. Dies zeigt sich in erster Linie daran, dass Jesus selbst häufig leidet (Mk 3,5; 14,33 f.; Mt 26,37 f.; Lk 12,50; 19,41; 22,15; Joh 11,33).244 240

Vgl. a.a.O., 179. Vgl. a.a.O., 186. 242 Vgl. a.a.O., 196–199. 243 Vgl. a.a.O., 202. 244 Vgl. a.a.O., 205. 241

1. Emotionen in der Antike

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Ärger, Zorn und Hass sind besonders ambivalente Emotionen, deren Qualität sich nicht zuletzt an ihren Handlungsfolgen erkennen lassen: Während Gottes und Jesu Zorn konstruktiv sind (Mk 3,5; 10,14), weil sie sich am Wohl des Menschen orientieren, haben menschlicher Ärger und Hass meist egoistische Gründe und somit negative, die Gemeinschaft zerstörende Folgen (Mt 13,57; 15,12; 17,27; Lk 4,28).245 Alle Emotionen bleiben jedoch sinnlos, wenn sie ohne folgendes, gutes Handeln bleiben. Grundsätzlich muss angesichts der Texte des NT konstatiert werden, dass Emotionen in der Ethik eine zentrale Rolle spielen: „Here, at the very centre of Christian ethics, we have emotion: to love God and neighbour. In fact love, the emotion, is the only thing that is able to motivate the radical action to which Jesus calls us.“246 (3) Im NT hat auch Gott Emotionen:247 Im Vergleich zum AT ist hier jedoch ein auffälliger Rückgang der Verwendung emotionaler Ausdrücke für Gott zu verzeichnen. Stephen Voorwinde hält die Beobachtung fest: „Although the Old Testament is over three times longer than the New, it has more than nine times as many references to divine emotions, namely 842x […] versus 92x“.248 Weiterhin ist eine leichte Verschiebung im Vergleich zum AT erkennbar, indem die Liebe noch stärker in den Vordergrund rückt und Jesu Tod für die Menschheit endgültig manifestes Zeugnis dafür ablegt (vgl. Röm 5,8; Joh 15,13; 1 Joh 3,16; 4,10). Somit liebt Gott nicht nur, er ist die Liebe selbst. Auch seine weiteren Emotionen sind von dieser Grundemotion geleitet (bspw. Eifersucht: 1 Kor 10,22; 2 Kor 11,2). Der Zorn Gottes ist hierbei eine besonders spannende Emotion, die in direktem Zusammenhang mit dem Gericht am Ende der Zeit steht und den Ungläubigen zur Buße und Umkehr ruft (Röm 1,18; 2,5; 3,5–8; 1 Thess 2,16). Dabei wird er – wie schon im AT – Gottes Geduld und Langmut immer wieder spannungsvoll entgegengesetzt (µακροθυµία gegenüber ὀργή in Röm 2,4–6; 9,22).249 Der Emotionalität Gottes entspricht sodann die Emotionalität Jesu (vgl. Joh 10,30; 14,9).250 Er empfindet tiefe Emotionen wie sich an Begriffen wie etwa ὀργή (Mk 3,5), ἀδηµονέω (Mk 14,33 f. par), ἀγαλλιάω (Lk 10,21) und σπλαγχνίζοµαι (Mt 9,36; 14,14; 15,32) belegen lässt.251 Dass diese Emotionen grundsätzlich wertgeschätzt werden, zeigt sich daran, dass Jesus wiederholt an die Emotionalität des Menschen appelliert und ihre Hartherzigkeit 245

Vgl. a.a.O., 231 f. A.a.O., 264. 247 Vgl. a.a.O., 247 f. 248 VOORWINDE, Jesus, 45 (Hervorhebungen im Original). 249 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 223. 250 Vgl. a.a.O., 250. Zu einer detaillierteren Aufstellung der Emotionen Jesu in den Synoptischen Evangelien sowie im Joh-Ev vgl. VOORWINDE, Jesus, 47–65.284–303. 251 Und dies sind lediglich direkt geschilderte Emotionen. Daneben lassen sich noch einige mehr indirekt erschließen (wie bspw. aus Jesu Weinen in Lk 19,41 oder Joh 11,35). 246

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

kritisiert (vgl. Mk 12,30; Mt 9,13; 12,7; 19,8).252 Insbesondere Freude ist hier eine wichtige Emotion, die er nicht nur selbst hat, sondern auch schenkt (Mt 25,21.23; Joh 15,11). „A desire for joy and happiness is God-given according to the New Testament. It is assumed and expected.“253 (4) Die frühchristliche Auffassung der Emotionen erscheint zunächst wie „[e]ine auffällige Wiedergeburt [des] frühgriechischen Gefühlsverständnisses“, denn „[d]ie urchristliche Liebe ist der heilige Geist als ein Hochgefühl von Liebe, Freude und Freimut, das kein privater Seelenzustand ist, sondern eine die Erwählten tragende Atmosphäre“254. Entsprechend beschreibt Paulus in 2 Kor 3,17 den Heiligen Geist als konkret räumlich zu verstehende Macht, die den Menschen ergreift. Im Gegensatz dazu erscheint in Röm 7,16–24 auch die Sünde als etwas Böses, welches den Menschen überkommt und in ihm wohnt (V. 18: ἐν τῇ σαρκί µου; V. 20: ἡ οἰκοῦσα ἐν ἐµοὶ ἁµαρτία), ihn beeinflusst, ohne dass er es will. Hier scheint nichts von der optimistischen demokritisch-platonischen Ansicht auf, welche die Emotionen für von der Vernunft bekämpfbar hält. Freilich ließe sich hier einwenden, dass es fraglich ist, ob die Sünde als Emotion bezeichnet werden kann. Doch klingt in V. 23 genau die Unwillkürlichkeit an, mit der die Sünde den Menschen im Leib überfällt, wie auch die Emotion im griechischen Mythos den Körper des Menschen überfällt. In Kol 3,5–9 begegnet in diesem Sinne die Aufforderung, den alten Menschen „auszuziehen“, der noch der Sünde verfallen und den Emotionen unterworfen war. Hier begegnet ein Emotionskonzept, das ganz dem des AT entspricht. Emotionen gehören zwar selbstverständlich zum Menschsein, doch sind sie Mächte, die ihn von außen überkommen. Dementsprechend ist im Neuen Testament ein Emotionsverständnis erkennbar, das sich weniger an der zeitgenössischen griechisch-römischen Philosophie, wie etwa der Stoa, orientiert, sondern einer noch älteren Emotionskonzeption, der des griechischen Mythos sowie der altorientalischen Kultur nähersteht. Es verbinden sich die vordemokritischen Griechen, die jüdischen Schriften sowie die frühen Christen „in einem archaischen Verständnis des Gefühls als eigenmächtig ergreifender, den Leib oder die Glieder beherrschender Atmosphäre“255. Damit wird zwar das Erleben der Emotion als etwas Leibliches, allen Menschen Gemeinsames beschrieben und nicht als dem rein subjektiven, inneren Empfinden der individuellen Seele vorbehalten geschildert. Doch besteht auch die Gefahr, die Emotionen als etwas gänzlich Negatives, das den Menschen überkommt, ihm die Kontrolle über sich und sein Handeln entzieht und der Sünde nahesteht, misszuverstehen. Hier muss die kognitive Komponente der Emotionen sowie ihre Rolle für den frühchrist252

Vgl. ELLIOTT, Feelings, 250. A.a.O., 181. 254 SCHMITZ, Verwaltung, 46. 255 A.a.O., 47. 253

1. Emotionen in der Antike

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lichen Glauben beachtet werden: Es geht vielmehr darum, negative Emotionen, die zum falschen Handeln führen könnten, mittels positiver, gleichsam göttlicher Emotionen wie Liebe, Freude und Demut zu ersetzen. Durch rechtes Wissen und Gewissheit im Glauben können negative Emotionen kontrolliert und positive eingeübt werden.256 Entsprechend beschreibt 1 Joh 4,16–18 die Liebe als eine Emotion, welche die Liebe Gottes im Menschen weckt und andere Emotionen, wie die Furcht, aus dem menschlichen Leib vertreiben soll. (5) Auch das Christentum ist freilich nicht völlig unberührt von Denkanstößen der griechisch-römischen Philosophie geblieben: Im Laufe der Zeit rückt es immer näher an den Platonismus heran, und der Christ wird vermehrt dazu angehalten, sich gegen die Macht der Emotionen zu wehren, und zwar kraft seines freien Willens.257 Die scholastische Philosophie übernimmt die thomistische Passionstheorie, welche sich am aristotelischen Ideal der Affektmäßigung orientiert; ab dem 16. Jh. dann erlangt die neustoische Bewegung starken Auftrieb und prägt bis heute die Rolle der Emotionen in ethischen Debatten.258 Interessant ist in diesem Kontext ebenfalls die Idee der sieben Todsünden, bei welchen es sich – bis auf avaritia (Geiz), gula (Völlerei) und acedia (Faulheit) – um Emotionen handelt: superbia (Stolz), luxuria (Wolllust), ira (Jähzorn), invidia (Neid).259 Entgegen solcher Entwicklungen muss konstatiert werden, dass Emotionen in den Schriften des NT als selbstverständliche Aspekte des Menschseins begegnen und etwaige stoische Ansätze, welche Emotionen gänzlich auszurotten wünschen, nicht erkennbar sind.260 Selbst Gott ist emotional und somit ist die Emotionalität des Menschen, der schließlich nach Gottes Bild geschaffen ist, genauso natürlich.261 Der Mensch ist genuin ein kognitiv-rationales und emotional-intuitives Wesen, und, wie Matthew Elliott konstatiert, bilden beide Elemente „an integrated whole“262. 1.3 Ergebnisse Abschließend können die wichtigsten Aspekte der Emotionskonzepte, wie sie in antiken Texten begegnen, kurz zusammengefasst werden. Dabei wird ein Vergleich grundsätzlich dadurch erschwert, dass zwar gegenseitige Beeinflussung angenommen, diese aber nur schwer eruiert werden kann. Zum anderen muss freilich eingeräumt werden, dass die betrachteten, unterschiedli256

ELLIOTT, Feelings, 234 f. Vgl. SCHMITZ, Verwaltung, 50. 258 Vgl. LANDWEER/NEWMARK, Seelenruhe, 88. 259 Vgl. SCHMITZ, Verwaltung, 51. 260 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 242. 261 Vgl. ders., Core, 114. 262 A.a.O., 109. 257

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chen Textgattungen beider Kulturen nur bedingt vergleichbar sind. Während griechische Epen und alttestamentliche Narrationen von Menschen, Gott/ Göttern und ihren Emotionen erzählen, nähern sich griechisch-philosophische Traktate der Thematik auf systematisch-reflektierende Weise. Aus diesen Gründen sind eine getrennte Betrachtung sowie eine gewisse Vorsicht hinsichtlich exakter komparativer Aussagen angebracht. Dennoch ist es möglich und sinnvoll, spezifische Charakteristika und Tendenzen zu benennen, auf deren Grundlage die im Mt-Ev begegnenden Emotionen besser einzuschätzen sind. Im ersten Stadium des antiken Mythos werden Emotionen als äußere Mächte angesehen, welche den Menschen passiv überkommen und seiner Handlungsautonomie berauben. Mit Demokrit und Platon wird eine Wende in diesem Menschenbild sichtbar, welche Emotionen nunmehr als innerpersonale Phänomene darstellt. Trotzdem sind sie der Autonomie des Menschen immer noch entgegengesetzt. Für Platon sind sie Teil des unvernünftigen Seelenteils und daher zu unterdrücken. Ein vernünftiger Umgang mit Emotionen jedoch macht sie ethisch unproblematisch und kann eingeübt werden. Auch Aristoteles sieht die Emotionen als ambivalent an, gesteht ihnen aber schon stärkeren Nutzen hinsichtlich ihrer möglichen Wirkungen zu. Wichtig sei aber nach wie vor, dass Emotionen durch die Tugend reguliert würden und so eine Balance, die Metriopathie, erlangt werde. Die Stoa dagegen schwingt wiederum stark in Richtung der platonischen Verurteilung der Emotionen: Diese basierten auf falschen Überzeugungen, die profanen Dingen zu viel Wert zugestünden. Ihr Ideal der Apathie ist die vollständige Unterdrückung der vier Affekte Furcht, Begierde, Lust und Unlust. Demgegenüber streben wiederum Epikureismus und Skeptizismus nach einer Affektkultivierung im Sinne des Aristoteles. Auch in der griechisch-römischen Rhetorik bildet sich die Herausforderung ab, die Ambivalenz der Emotionen zu handhaben: Hier werden Emotionen als Instrumente der Persuasion einerseits gebilligt: Ihr Einsatz, um der Überzeugung von einer Tatsache mehr Gewicht zu verleihen, wird als sinnvoll und angemessen erachtet. Andererseits jedoch wird die Intention, mittels emotionaler Beeinflussung der Hörer von Tatsachen abzulenken und zu überreden statt zu überzeugen, moralisch problematisiert. Hier ist v.a. klar erkennbar, dass Emotionen eine besondere ethische Relevanz zugebilligt wird, da sie über solch großen Einfluss auf das menschliche Denken verfügten, dass sie sogar von der Wahrheit abbringen könnten. Insgesamt bewertet, müssen die Emotionen in der griechisch-römischen Antike als ambivalente, wenn nicht gar als eine schizophrene Größe beurteilt werden. Dies dürfte sich nicht zuletzt durch die zweigeteilte Erlebnisqualität der Emotionen selbst erklären, die entweder positiv oder negativ ist. Es lässt sich daher mit den Worten Matthew Elliotts schließen:

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„First and foremost we see that, just as in our culture, diversity was present and pervasive. Some institutions stressed celebration and passion, while others stressed the need for the moderation of the emotions. Secondly, it is clear that emotion was seen as a crucial part of human life and the human soul. It was a source of turmoil, suffering, motivation and pleasure. Love, fear, courage and anger were often seen as the causes of both tragedy and triumph.“263

Im Frühjudentum werden Emotionen häufig in Gebetstexten ausgedrückt. Hier sollen Emotionen im Betenden evoziert werden, damit eine angemessene Haltung (Demut) gegenüber Gott sowie angemessene Folgetaten (wie etwa Buße) umgesetzt werden. Hier darf der Betende seine Emotionen frei ausdrücken, ausleben und sie im steten Bezug auf Gott fruchtbar verarbeiten. Schließlich vermögen sie auch, in Gott selbst Emotionen und erbarmendes Handeln auszulösen. Insgesamt werden Emotionen als anthropologisches Phänomen durchaus geschätzt und ihr Einfluss auf das Handeln genutzt, wo sie gottgefälliges und prosoziales Verhalten motivieren. Doch sind auch die Gefahren und nötigen Grenzen emotionaler Erfahrung bewusst, die selbstbezogen sein, somit zu unsozialem und gottlosem Handeln führen können und daher reguliert werden müssen. Am weitesten geht hier Philo von Alexandrien, der eine Ausrottung jeglicher Emotionen fordert. Dass eine solche Apathie des Weisen überhaupt möglich ist, verneint aber bspw. 4 Mac 3,2–5 entschieden mit Bezug auf die Schöpfungsvollkommenheit. Es lässt sich zusammenfassen, dass im Frühjudentum ein deutliches Bewusstsein der Zusammenhänge zwischen Emotion und Ethik erkennbar ist, Emotionen zur Motivierung guter Taten mitunter genutzt, vor den Auswirkungen allzu egoistischer Emotionen jedoch gewarnt wird. Im AT stehen Emotionen häufig im Kontext des Ritus (Feiern Gottes), sind stark kognitiv vorgestellt (Gott gibt Gründe, zu fühlen), kommen von außen über den Menschen und werden sprachlich recht karg dargestellt. Die ganzheitlich gefasste Anthropologie des AT gesteht der Emotionalität eine grundsätzliche und weniger problematische Rolle im Menschsein zu. Entsprechend eng wird der Zusammenhang zwischen Emotion, Körper, Geist und Handeln gesehen. Alles hängt miteinander zusammen und beeinflusst sich gegenseitig. Emotionen dienen auch der Charakterisierung: So zeichnen sich die Emotionen der Gottgläubigen durch einen selbstlosen Bezug zu Gott und zum Nächsten aus. Es scheint keine Rolle zu spielen, welche Emotion konkret ausgelebt wird, solange sie sich positiv auf den Mitmenschen oder Gott bezieht. Demgegenüber zeichnen sich Gottlose durch selbstbezogene Emotionen wie Liebe des Bösen und Freude an der Sünde aus. Der Zusammenhang zwischen Emotion und Ethik, der im AT dadurch hervorgehoben wird, dass Emotionen zumeist im direkten Bezug mit nachfolgenden, entsprechenden Handlungen stehend geschildert werden, ist allzu deutlich, und es wird eben263

Ders., Feelings, 79.

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falls erkennbar, dass Emotionen im AT im Zuge der moralischen Anleitung und Glaubenspraxis eingesetzt werden. Freilich muss im Vergleich zu griechisch-römischen Emotionskonzepten eingestanden werden, dass die Bibel keine philosophischen Auseinandersetzungen mit der Frage nach der ethischen Problematik von Emotionen enthält und Narrationen über Menschen und ihre Erfahrungen mit Gott natürlicherweise mittels Emotionen operieren. Dennoch ist festzuhalten, dass die emotionale Komponente der altorientalisch-jüdischen Anthropologie weit weniger problematisch betrachtet zu werden scheint, als dies in der griechischen Philosophie der Fall ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich die Emotionalität des jüdisch-christlichen Gottes qualitativ-evaluativ von der griechisch-römischer Gottheiten unterscheidet: In der Bibel wird Gott ganz selbstverständlich emotional dargestellt. V.a. sein Zorn und seine Liebe bzw. sein Mitleid charakterisieren ihn in spannungsvollem Verhältnis. Diese Emotionen haben zentrale handlungspragmatische Folgen (Gericht gegenüber Vergebung). Gottes Emotionen haben aber nicht ausschließlich theologischen Selbstzweck, sondern es wird durchaus eine rhetorische Funktion erkennbar, welche gutes Handeln in der Freude Gottes lobt, schlechtes Verhalten hingegen mittels der Missbilligung Gottes abwehren will. Grundsätzlich ist wichtig festzuhalten, dass sich Gott im AT dem Menschen auf besondere Weise auch emotional offenbart und dass diese Emotionalität durch den Menschen entsprechend erwidert werden und ihn zum rechten Handeln bewegen soll. Während im griechisch-römischen Gottesbild die Emotionen der Götter als höchst problematisch angesehen werden, weil sie die Unberechenbarkeit der Götter begründen, scheint es im altorientalischjüdischen Denken genau umgekehrt zu sein: Gott wird emotional gedacht und diese Emotionalität begegnet als selbstverständliche und wertvolle Komponente der Theologie. Der Mensch als imago dei ist entsprechend ebenfalls emotional und weder dieses anthropologische Merkmal noch dessen ethische Konsequenzen werden grundsätzlich kritisiert. Im NT setzt sich diese Wertschätzung des emotionalen Erlebens fort: Die paulinischen Briefe zeichnen sich durch starke Emotionalität aus. Der Apostel gesteht sie nicht nur sich und seinen Gemeinden zu, sondern ermutigt geradewegs dazu, in der Gemeinschaft empathische Emotionen zu üben, welche sich am Nächsten ausrichten und prosoziales Handeln motivieren. Eine Regulation von Emotionen ist nur dort notwendig, wo diese zu negativen Konsequenzen im Handeln führen. Grundsätzlich gilt für Emotionen dasselbe wie für alle Komponenten des Menschen (auch Kognition und Volition): Die Ausrichtung auf Gott und Christus verbürgen ihre positive Qualität. In den Evangelien begegnen v.a. Liebe, Freude und Hoffnung als die den Glauben konstituierenden und besonders qualifizierenden Emotionen. In negativen Zusammenhängen begegnen Neid und Eifersucht. Furcht ist ein ambivalentes Emotionsgeschehen, das im Hinblick auf profane Dinge kriti-

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siert, als Ehrfurcht vor Gott aber gelobt wird. Ärger, Zorn und Hass sind ähnlich ambivalent: Ihre Qualität entscheidet sich an ihren – prosozialkonstruktiven oder aber destruktiven – Handlungskonsequenzen. Gott und Jesus dienen hier als Vorbilder. Kummer und Trauer werden dem Menschen als angemessene Reaktionen auf einen Verlust zugestanden. Die Vielfalt der göttlichen Emotionen nimmt im NT zugunsten der Liebe spürbar ab. Diese wiederum wird zugespitzt, indem Gott nicht mehr nur liebt, sondern gleichsam die Liebe verkörpert. Eine größere Bandbreite an Emotionen weist hingegen Jesus auf. Er wird keinesfalls einem philosophischen Weisen-Ideal gemäß emotional kontrolliert oder gar apathisch dargestellt. Vielmehr werden seine Emotionen wahr- und ernst genommen. Dabei fällt auf, dass auch diese nicht zum Selbstzweck, sondern stets in Verbindung mit einer konkreten Heilstat Jesu stehen. Der direkte Zusammenhang zwischen Emotion und Handeln tritt auch hier deutlich hervor. Wie im griechischen Mythos und im AT werden Emotionen auch im NT als den Menschen von außen überkommende Kräfte vorgestellt. Dies steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur kognitiven Komponente der Emotionen, welche sie kontrollier- und regulierbar macht. Mögen Emotionen den Menschen auch spontan überkommen, so kann er sich ihrer doch erwehren oder sie, im Falle positiver Emotionen, bewusst einüben. Dazu verhilft der Glaube an Gott. Diese Zusammenfassung über Vorkommen und Relevanz von Emotionen in der Bibel zeigt hinreichend, dass von einem die Emotionen ablehnenden Konzept, wie es zuweilen in der griechisch-römischen Philosophie begegnet, nichts zu spüren ist. Emotionen sind geradezu als zentrale, den Menschen elementar konstituierende Merkmale geschildert, die nicht nur wichtig für das Leben und Erleben des Glaubens sind, sondern auch weitreichende Einflüsse auf das Handeln aufweisen. Diese ethische Relevanz der Emotionen wird an manchen Stellen zwar als ambivalent und insofern problematisch erkannt, führt jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Verurteilung der Emotionen. Letztlich belegt der Umstand, dass selbst Gott sowohl im Alten als auch im Neuen Testament mannigfache Emotionen aufweist, die Auffassung der Emotionen als wertvolle Komponenten der jüdisch-christlichen Theologie und Anthropologie. Es wird somit deutlich, dass die starken Auswirkungen von Emotionen auf das menschliche Denken und Handeln in der Antike nicht nur bekannt waren, sondern teilweise sogar gezielt diskutiert wurden. Überdies wurde belegt, dass dieses Wissen rhetorisch durchaus genutzt wurde, um Texte besonders emotiv und dadurch überzeugender zu gestalten. Aufgrund ihrer handlungspragmatischen Ambivalenz jedoch entwickelte sich, besonders in der griechisch-römischen Philosophie, eine wachsende Skepsis den Emotionen gegenüber, die bis hin zu ihrer völligen Ablehnung führte. In den biblischen Schriften hingegen ist eine grundlegende Wertschätzung der Emotionen er-

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kennbar. Dass ihre handlungsmotivierenden Auswirkungen von beiden Kulturen aber als für das Glaubensleben bedeutungsvoll eingeschätzt wurden, ist ein gewichtiges Argument dafür, Emotionen in der Exegese genauer zu beachten. Der Befund, dass antiken Autoren der enorme Einfluss von Emotionen auf das menschliche Handeln bewusst war, spricht bei der Untersuchung biblischer Ethik für eine exakte Analyse, ob und wenn ja, inwiefern sie in ihren Texten zur Verstärkung ihrer moralisch-ethischen Forderungen Emotionen einsetzen. Die bisherigen Betrachtungen können treffend mit den Worten Matthew R. Schlimms abgeschlossen werden: „As these questions begin to illustrate, biblical ethics involves much more than human behavior. Following the lead of the texts, biblical ethicists need to inquire about the emotions that drive human behavior, whether that be anger, fear, love, or something else. We will never arrive at a crystal-clear picture of what biblical texts expect of humans unless we also study the essential roles that emotions play in shaping what humans do.“264

2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive 2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive

Im folgenden Abschnitt wendet sich der Blick dieser Arbeit von der Antike hin zu den modernen Naturwissenschaftsdiskursen. Der Befund, dass Emotionen das menschliche Denken und Handeln beeinflussen, lässt sich nicht nur auf der Grundlage antiker Texte entfalten, sondern auch durch diverse neuzeitliche Erkenntnisse stützen. Im Folgenden werden einige für die hier zu verhandelnde Thematik bedeutende Belege dargestellt. Neurowissenschaften und Psychologie belegen auf unterschiedliche Weise, welch immense Rolle Emotionen im Prozess der Entscheidungsfindung und Handlungsmotivation spielen. Dass Emotionen nicht nur ein subjektives Erleben, sondern zugleich eine bestimmte Handlungsmotivation hervorrufen, ist seit dem 19. Jh. naturwissenschaftlich belegt. Es begegnen diesbezüglich neben rein physiologischen Emotionstheorien und solchen, die Emotionen anhand des subjektiven Bewusstseins, d.h. der Erfahrungen, der Vorstellungen, Empfindungen und Urteile, definieren, auch Theorien, welche Emotionen als Handlungsbereitschaften und Anpassungsleistungen im Kampf ums Dasein verstehen.265 Andrea Abele-Brehm und Guido Gendolla bemerken entsprechend, dass Emotionen „in mancherlei Hinsicht auf den Motivationsprozess, und damit auf die Initiierung, Intensität und Dauer bestimmter Verhaltensweisen und Handlungen“ wirken.266 Die motivationale Auswirkung von Emotionen äußert sich zum einen in einer bestimmten Handlungstendenz 264

SCHLIMM, Role, 54 f. ULICH/MAYRING, Psychologie, 28 f. 266 ABELE-BREHM/GENDOLLA, Motivation, 297 (Hervorhebungen im Original). 265

2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive

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bzw. einem Handlungsimpuls (action tendency) und zum anderen in der Vorbereitung einer bestimmten Handlung (action readiness).267 Solche Auswirkungen lassen sich größtenteils mittels evolutionsbiologischer Forschungen erklären, die dabei helfen, die Bedeutung der Emotionen für das menschliche Leben und Überleben darzulegen. Die Auswirkungen von Emotionen können sodann kognitiv und behavioral gefasst werden.268 Letztlich ist für diese Arbeit der Zusammenhang zwischen Emotionen und Moral von besonderem Interesse, der sich ebenfalls naturwissenschaftlich untersuchen lässt. 2.1 Die Rolle von Emotionen und Empathie in der Evolutionsbiologie Zu den Verdiensten der Evolutionsbiologie gehört der Hinweis auf die unerlässliche Bedeutung der Emotionen im vorsprachlichen Zeitalter der Menschheit. Emotionen und ihr physiologischer Ausdruck dienten in dieser Zeit maßgeblich der Informationsvergabe, welche unter Umständen lebenswichtig sein konnte. Eine solch wichtige Rolle im sozialen Miteinander übernimmt bspw. die Empathie, d.h. das Nachfühlen der Emotionen anderer. Diese entwickelt sich bereits im allerersten Lebensabschnitt und fußt auf der Mutter-KindBeziehung, da sich das Kind in seinen ersten Lebensmonaten noch stark als Teil der Mutter empfindet und somit deren Emotionen und Körperfeedback nachahmt.269 Die Mutter teilt dem Kind durch den mimischen oder gestischen Ausdruck ihrer Emotionen mit, wie dieses sich fühlen kann und soll. Das Kind lernt somit Situationen kennen und bewerten. Dabei verläuft „[d]ie Gedächtnisentwicklung […] vom Sozialen hin zum Individuellen“270. Das Phänomen der zwischenmenschlichen Gefühlsansteckung bleibt noch über das Kindesalter hinaus erhalten, und auch nach der Entdeckung des „Selbst“, das unabhängig von Anderen existiert, können die Emotionen Anderer nachempfunden werden.271 Dieser empathische Prozess des emotionalen Nachvollziehens, auch shared-state-Phänomen genannt, wird häufig mittels der so genannten Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn erklärt:272 „Als Spiegelneuronen bezeichnet man Nervenzellen, die nicht nur dann feuern, wenn das betreffende Individuum eine Handlung selbst vollzieht, sondern auch dann, wenn es diese 267

Vgl. WÖRDEMANN, Emotion, 79–84. Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 223. Auch gesundheitliche Effekte sind festzustellen, doch können diese im Zuge der hier relevanten Thematik außer Acht gelassen werden (vgl. dazu a.a.O., 271–278). 269 Vgl. WELZER, Gedächtnis, 121 f. 270 A.a.O., 124. 271 Vgl. a.a.O., 121 f. 272 Vgl. CHRISTEN, Neurobiologie, 84 f., und FOOLEN/LÜDTCKE/SCHWARZ-FRIESEL, Kognition, 214. 268

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Handlung bei einem anderen beobachtet.“273 Obgleich Spiegelneuronen bisher nur bei Tieren, jedoch für Menschen noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten, ist einigermaßen gesichert, dass das menschliche Gehirn über ein so genanntes mirror (neuron) system verfügt, welches für die empathisch-mimetische Leistung des Hineinversetzens in den Anderen zuständig ist.274 Über dieses Phänomen wird zum einen versucht zu erklären, warum das Denken, Fühlen und Handeln Anderer Auswirkungen auf das eigene Erleben haben können. Zum anderen wird dadurch versucht, dem so genannten paradox of fiction beizukommen, das den Umstand beschreibt, dass selbst Fiktion diese Wirkung auf den Rezipienten haben kann, obgleich dieser weiß, dass die beschriebenen oder dargestellten Figuren realiter gar nicht existieren.275 Das empathische Erkennen der emotionalen Disposition des Anderen ist von großer Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit. Denn lange Zeit war der physiologische Ausdruck von Emotionen die einzige Form der Informationsvergabe an das Gegenüber: Das offene Zeigen von Wut in Form von gefletschten Zähnen oder einer bedrohlich aufgerichteten Körperhaltung sollten das Gegenüber warnen und zu unterwürfigem Handeln bringen: „Emotionen und Signale der Emotionalisiertheit werden mehr oder weniger kontrolliert eingesetzt, um andere zu emotionalisieren und zu motivieren, sich in gewünschter Weise zu verhalten. Emotionalisierung anderer kann zugleich Motivationalisierung anderer sein.“276

Hieran wird ein deutlicher Bezug zwischen Emotionen und Handeln sichtbar. 2.2 Kognitive Auswirkungen von Emotionen Eine prominente Debatte in der Emotionsforschung des letzten Jahrzehnts ist die Frage nach der Kognitivität von Emotionen:277 Sind Emotionen rein affektive Phänomene oder enthalten sie kognitive Elemente? Sind Emotionen post- oder präkognitiv, d.h. fußen sie auf kognitiven Prozessen (cognitive theories) oder sind sie selbst die Auslöser für solche (Feeling theories)?278 Inwieweit Emotionen kognitiv sind, ist für die Themenstellung dieser Studie 273

MELLMANN, Gefühlsübertragung, 107. Vgl. CHRISTEN, Neurobiologie, 85. 275 Vgl. MELLMANN, Gefühlsübertragung, 108. Obgleich das paradox of fiction äußerst spannend ist, weil es der Frage nachgeht, warum fiktionale Texte genauso konkrete Handlungsfolgen zeitigen können wie reale Erfahrungen, ginge eine detailliertere Beschäftigung damit jedoch über das Anliegen dieser Arbeit hinaus. Näheres dazu vgl. bspw. CARROLL/ GIBSON, Narrative; EDER, Wege, 232–236; EIBL, Fiktionalität; GERTKEN/KÖPPE, Fiktionalität; MELLMANN, Literatur, 145–166; MERTEN, Einführung, 104–123; SCHREIER, Belief; SCHWENDER, Medien, 284–301; ZIPFEL, Autofiktion, 285–314; ders., Emotion. 276 ANZ, Turn. 277 Kap. 1.3; Anm. 215. 278 Vgl. dazu ausführlicher PRINZ, Emotion. 274

2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive

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nicht von entscheidendem Interesse. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass m.E. die Affektivität der Emotionen gegen ihre kognitiven Aspekte nicht ausgespielt werden sollte und die lange Zeit postulierte grundsätzliche Opposition von Emotion und Kognition nicht aufrechtzuerhalten ist.279 Gemäß dem Urteil Monika Schwarz-Friesels lässt sich festhalten, dass sich Emotionen „nicht ohne Bezug auf kognitive bzw. als kognitiv erachtete Komponenten beschreiben und erklären“280 lassen und „[h]insichtlich der Positionen zur Emotion-Kognition-Relation […] ein interaktiver theoretischer Ansatz vertreten [werden kann] mit der Annahme, dass beide Komponenten zwei verschiedene Systeme darstellen, die jedoch nicht unabhängig voneinander arbeiten, sondern zahlreiche, wechselseitige Interaktionen aufweisen“.281

Aus Sicht der Neurowissenschaften zeigt sich, dass „destruktive als auch konstruktive Kräfte der Gefühle auf unsere kognitiven Leistungen“ wirken, sowie dass ein „Einfluss kognitiver Bewusstseinsinhalte auf Gefühle“ besteht.282 Emotionen können durch kognitive Prozesse maßgeblich reguliert und sogar transformiert werden. Dieser Umstand findet sich bereits in biblischen Texten, die mannigfach emotive Imperative enthalten.283 In den Worten Melanie Köhlmoosʼ kann diese oft diskutierte Ambivalenz der Emotionen wie folgt beschrieben werden: „Gefühle und Emotionen sind also nicht per se irrational, sondern auf komplexe Weise mit Kognition und Ratio verknüpft. Trotzdem enthalten sie ein Element des Irrationalen, insofern sich emotionale Zustände nicht wissentlich aktivieren und nur begrenzt steuern lassen. Ohne vorausgehende Ursache können keine genuinen Gefühle empfunden werden. Steuern lässt sich lediglich der Ausdruck der Emotion sowie deren Handhabungsstrategie.“284

Diese intuitiv einleuchtende These über die Interaktion zwischen Emotion und Kognition wird von zahlreichen Forschungen der letzten Jahrzehnte belegt: Während der Neocortex, eines der jüngsten Areale des menschlichen Gehirns, für die Kognition zuständig ist, entstehen Emotionen im subkortikalen Cortex des limbischen Systems.285 Die Neurowissenschaft zeigt nun eine „enge Wechselwirkung von Kognition und Emotion, von Cortex und subkor279

Vgl. SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 97–102. A.a.O., 105. 281 A.a.O., 117. Bei einem genauen Blick auf den Forschungsdiskurs zeigt sich auch, dass die Emotionsdebatte seit jeher nie ernsthaft versucht hat, einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Emotion und Kognition zu etablieren. Diskutiert wurde lediglich das Maß an Kognitivität, das den Emotionen dabei zugestanden wurde und ob, ausgehend davon, die Emotionen als tendenziell wertvoll oder schädlich für die Person angenommen wurden (vgl. LANDWEER/NEWMARK, Seelenruhe). 282 SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 101. 283 Vgl. ELLIOTT, Core, 111. 284 KÖHLMOOS, Gefühle, 200. 285 Vgl. FOOLEN/LÜDTCKE/SCHWARZ-FRIESEL, Kognition, 215. 280

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

tikalen Arealen im Gehirn“ auf.286 So können Emotionen kognitive Prozesse aktivieren, orientieren und regulieren und einige Kognitionen haben hohe emotionale Anteile.287 Die möglichen Auswirkungen von Emotionen auf das logische Denken des Menschen sind mannigfaltig: So erhöhen bspw. Ärger und Angst die Möglichkeit einer Fehlinterpretation einer neutralen Situation und erleben sie womöglich als bedrohlich, was darauf schließen lässt, dass unsere ohnehin selektive Wahrnehmung in einem bestimmten Maße emotionsgesteuert ist.288 Dabei werden stimmungskongruente Reize eher wahrgenommen als der aktuellen Stimmung entgegengesetzte.289 Auf diese Weise wirkt sich die Stimmung sowohl auf die Selbst- als auch die Fremdbeurteilung sowie auf die Beurteilung von Objekten aus, indem positive Emotionen mit einer besseren und negative mit einer schlechteren Einschätzung korrelieren.290 Erregende positive Stimmung – nicht etwa eine entspannte! – erhöht die geistige Flexibilität und damit die Wahrscheinlichkeit kreativer Problemlösungen sowie richtiger intuitiver Urteile, während negative diese erschweren.291 Auch auf das Gedächtnis haben Emotionen eine unterstützende oder aber hemmende Wirkung. Hierzu seien die Ergebnisse von Harald Welzers Buch über Das kommunikative Gedächtnis292 resümierend referiert, dessen These lautet, dass Emotionen „[d]ie entscheidenden Operatoren bei der Bewertung von Erfahrung und Zuweisung von Bedeutung sind“293. Für diese Betrachtungen sind zwei Ergebnisse seiner Gedächtnisforschung von Belang: Zum einen haben Studien ergeben, dass emotional markierte Erinnerungen besser eingespeichert werden als neutrale. Dies entspricht bspw. der Beobachtung, dass „alltägliche und routinehafte Verrichtungen von äußerst geringer Erinnerungsrelevanz sind, [während] Ereignisse, die aufgrund ihrer emotionalen Bedeutung einen besonderen Aufmerksamkeitswert haben, offensichtlich gerade deswegen erinnert [werden], weil man sie sich oft wieder ‚ins Gedächtnis ruft‘, und auch, weil man häufig über sie spricht.“294

Für die Einspeicherung von Informationen ins Gedächtnis formulieren Lothar Schmidt-Atzert, Martin Peper und Gerhard Stemmler allgemein: „Emotional extreme Ereignisse prägen sich in der Regel gut ein.“295 Das Encodieren von Informationen wird dabei durch den direkt nachfolgenden Zustand bestimmt, wobei eine emotionale Erregung in den nächsten 30 Minuten – der Dauer des 286

Ebd. Vgl. ALFES, Literatur, 81–85. 288 Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 242. 289 Vgl. a.a.O., 246. 290 Vgl. a.a.O., 253–255. 291 Vgl. a.a.O., 268 f. 292 WELZER, Gedächtnis. 293 A.a.O., 11. 294 A.a.O., 21. 295 SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 258. 287

2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive

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Verfestigungsprozesses – das Einprägen von Informationen erleichtert.296 Allgemein gilt auch hier das Prinzip der Stimmungskongruenz297: Erinnerungen, die stimmungskongruent sind, werden besser abgerufen als inkongruente.298 Bei diesem Erinnerungsprozess aber spielt häufig die Emotion – und eben nicht das Ereignis – die primäre Rolle, wie Befragungen von Veteranen zeigten, woraus Harald Welzer folgert: „Offenbar spielt die emotionale Einbettung einer erlebten Situation eine größere Rolle für das, was erinnert wird, als was in dieser Situation ‚wirklich‘ geschehen ist.“299 Ja, so können sogar „Furchtreaktionen und Ängste, die mit traumatisierenden Erfahrungen zusammenhängen, nicht nur weniger schnell verblassen, sondern mit der Zeit sogar anwachsen – ein Phänomen, das als ‚Inkubation der Furcht‘ bezeichnet wird.“300 Das Gedächtnis ist ein aktiver Apparat, der „eine komplexe und eben konstruktive Arbeit [leistet], die die Erinnerung, sagen wir: anwendungsbezogen modelliert“301. Wie stark das „emotionale Gedächtnis“ ist, zeigt schließlich der Umstand, dass selbst unter Amnesie leidende Menschen, deren episodisches Gedächtnis beeinträchtigt ist, dennoch in der Lage sind, emotional auf ein sich wiederholendes Ereignis zu reagieren. Diesem können sie explizit zwar keinerlei Bedeutung zumessen, da sie sich nicht daran erinnern können, es schon einmal erlebt zu haben. Doch im Falle einer ausreichenden „emotionalen Markierung“ der Situation zeigen sie diese emotionale Reaktion erneut, was auf eine implizite, unbewusste Erinnerung des emotionalen Gedächtnisses schließen lässt.302 Entsprechend schlussfolgert der Autor: „Dies alles legt den Schluss nahe, dass das autobiografische Gedächtnis nicht nur ein ‚ungleichzeitiges‘ Gedächtnis ist, in dem sich Erfahrungen aus ganz unterschiedlichen Lebensabschnitten überlagern und gemeinsam aktivierbar sind, sondern auch, dass Inhalte aus der Vergangenheit emotional bedeutsam sind, ohne dass sie explizit gewusst werden! Da die wesentlichen Phasen der ontogenetischen Entwicklung von Menschen erfahrungsabhängig, das heißt in Kommunikation mit anderen, ablaufen, muss diese Kommunikation selbst emotional markiert sein, und sie enthält auch dann noch eine emotionale (und damit somatische) Spur, wenn die Ebene der Sprachkompetenz und repräsentationalen Erinnerung erreicht ist. Das kommunikative Gedächtnis ist mithin ein emotionales Gedächtnis. Es bildet sich in sozialen Austauschprozessen, die aus multimodalen Dialogen bestehen. Fassen wir zusammen: Emotionen sind die zentralen Operatoren, mit deren Hilfe wir

296

Vgl. a.a.O., 260–263. Vgl. zur mood-state dependency und mood-congruency auch RUMMER/ENGELKAMP, Sprache, 329. 298 Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 264. 299 WELZER, Gedächtnis, 35. 300 A.a.O., 149. 301 A.a.O., 21. 302 Vgl. a.a.O., 146. 297

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

Erfahrungen als gut, schlecht, neutral usw. bewerten und entsprechend in unserem Gedächtnis abspeichern.“303

Sodann zeigt Harald Welzer, welche Rolle narrative Modelle als Grundlage von Erinnerungen spielen. Da sich die neuronalen Verarbeitungssysteme visueller und bloß imaginierter Reize überlappen, kann die Imagination von Narrationen beim Rezipienten zu einem tatsächlichen „vor Augen Stehen“ führen. Dieser Prozess ist neurowissenschaftlich von dem des sich Erinnerns kaum zu unterscheiden.304 So kommt es, dass Erzählungen als Erinnerungen in die eigene Lebensgeschichte eingespeist werden können. So genannte kryptomnestische Erinnerungen an Ereignisse, die nicht selbst erlebt wurden oder überhaupt nicht stattgefunden haben, sind v.a. bei Kindern stark ausgeprägt305 und zeigen den enormen Einfluss, den Erzählungen und Geschichten auf die kindliche Entwicklung haben können. Des Weiteren haben Studien ergeben, dass lebensgeschichtliche Berichte bspw. vom Krieg durch mediale Vorlagen gespeist und strukturiert werden.306 All dies zeigt, wie Narrationen als (unbewusste) Matrizen dienen können, auf deren Hintergrund die Welt wahrgenommen wird.307 2.3 Behaviorale Auswirkungen von Emotionen Dass aus solchen kognitiven Folgen von Emotionen auch behaviorale resultieren, ist ohne Weiteres einleuchtend. So stimmen positive Emotionen optimistischer, negative hingegen pessimistischer, wodurch bspw. Risiken niedriger oder höher eingeschätzt werden.308 Ferner führen negative Emotionen zu einer höheren Selbstaufmerksamkeit und zum Grübeln (rumination).309 Eine solche kognitive Einschränkung wirkt sich unweigerlich auf das Verhalten in bestimmten Situationen aus, indem bspw. bestimmte Reize gar nicht erst wahrgenommen werden. Auch werden andere Personen in guter Stimmung sympathischer und in negativer tendenziell unsympathischer eingeschätzt310, was wiederum entsprechende behaviorale Effekte im Umgang mit diesen impliziert. Ängstlichkeit und Angst wirken sich negativ auf die Risikobereitschaft aus311, und es wurde gezeigt, dass die Bereitschaft zur Hilfeleistung durch die Induktion positiver Emotionen (wie etwa Dankbarkeit) sowie bestimmter 303

A.a.O., 149 f. Vgl. a.a.O., 39. 305 Vgl. a.a.O., 32 f. 306 Vgl. a.a.O., 185–191. 307 Vgl. a.a.O., 225. 308 Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 235–239. 309 Vgl. a.a.O., 246 f. 310 Vgl. a.a.O., 245. 311 Vgl. a.a.O., 235. 304

2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive

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negativ erlebter Emotionen (wie Mitleid oder Schuldgefühl) gesteigert werden konnte.312 Wie effektiv der Einsatz von Emotionen zur Verhaltensbeeinflussung sein kann, zeigt nicht zuletzt der behavioristische Ansatz des operanten Konditionierens nach Burrhus F. Skinner.313 2.4 Emotionen und Moral Dass Emotionen für Moral und Ethik eine grundlegende Rolle spielen, zeigt die Emotion des Ekels ganz anschaulich: Forschungen zufolge ist „der am häufigsten […] benannte Auslöser für extremen Abscheu […] die Konfrontation mit moralisch verwerflichem Handeln“314. Wenn moralische Fragen solch starke emotionale Reaktionen hervorrufen können, ist von einer engen Interaktion zwischen moralischem Handeln und emotionalem Erleben auszugehen. In der Naturwissenschaft befasst sich ein gesonderter Zweig der Neurowissenschaft eigens mit der Entstehung moralischer Entscheidungen und Handlungen im Gehirn, die neuroscience of ethics.315 Wegweisend sind in diesem Zusammenhang v.a. die Forschungen des portugiesischen Neurowissenschaftlers Antonio Damasio, der bei Personen mit Schädigungen am präfrontalen Cortex „eine Dissoziation zwischen der Fähigkeit einer abstrakten moralischen Kognition und einer emotional unterlegten moralischen Kognition“ festgestellt hat.316 Ein emotionaler Bezug zur Situation ist diesen Personen nicht mehr in einem Umfang möglich, wie es bei Personen mit intaktem Gehirnareal der Fall ist. Dies bedeutet zum einen, dass es neurowissenschaftlich als erwiesen gilt, dass Emotionen integraler Bestandteil moralischer Entscheidungen sind, wie sie alltäglich vom Menschen gefällt werden. Zum anderen belegen solche wie auch andere Forschungen, dass in moralischen Entscheidungssituationen sowohl kognitive als auch emotionale Prozesse ablaufen, welche nicht klar voneinander getrennt werden können.317 Infolgedessen hat bspw. der US-amerikanische Professor für Psychologie Jonathan Haidt versucht, moralische, d.h. sich explizit auf soziale Interaktion beziehende Emotionen zu kategorisieren und folgende vier Gruppen herausgearbeitet318: Drei davon beziehen sich explizit auf ein Gegenüber: die othercondemning emotions wie Ärger/Wut, Ekel/Abscheu und Verachtung, die other-praising emotions wie Dankbarkeit oder Ehrfurcht und schließlich die 312

Vgl. a.a.O., 225. Vgl. SKINNER, Behavior; ders., Science; FERSTER/SKINNER, Schedules. 314 EKMAN, Gefühle, 242. 315 Vgl. dazu Näheres bei CHRISTEN, Neurobiologie. 316 A.a.O., 85. 317 Vgl. a.a.O., 101. 318 Vgl. KEYES/HAIDT, Flourishing. 313

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

other-suffering emotions wie bspw. Mitleid. Eine solche Emotion kann sich aber auch als self-conscious emotion auf das Selbst beziehen, bspw. in Form von Scham, Peinlichkeit, Schuld oder Stolz. Die Beteiligung dieser Emotionen an moralischen Situationen und Entscheidungen bzw. gerade ihr Fehlen im Falle moralischer Pathologien wurde inzwischen mehrfach nachgewiesen.319 In Bezug auf theologische Fragen setzt sich Thomas Kazen ausführlich mit solchen Forschungen auseinander, die auf Grundlage biologischer Erkenntnisse einen direkten Zusammenhang zwischen moralischen Urteilen und Emotionen herstellen.320 Dazu kommt ein oben bereits angesprochenes Thema erneut in den Blick: die Empathie. Während in der Evolutionsbiologie Moral, Altruismus und emotionale Anteilnahme lange Zeit auf verdeckten Egoismus zurückgeführt und zugunsten des Prinzips des Survival of the fittest als untergeordnete Kategorien der menschlichen Entwicklung angesehen wurden, liegen heute Befunde und Theorien vor, die solche sozial-emotionalen Aspekte der Anthropologie ebenfalls auf biologische Argumente zu stützen vermögen.321 Aus dem Leben in Gemeinschaft, der Beziehung zu anderen Menschen und der Struktur des Sozialverhaltens resultierte eine Verbindung zum Gegenüber, die sich viel mehr emotional als kognitiv vollzog, nämlich durch Empathie: „When the role of empathy in prosocial behaviour is discussed, evidence from developmental psychology, primatology and neuroscience seem to coincide: altruism is rooted in nature.“322 Für Thomas Kazen ist ein direkter Zusammenhang zwischen Emotionen und Moral evident, da sich Fragen der Moral hauptsächlich innerhalb dieser mitmenschlichen Beziehungen abspielten: „This means that humanitarian behaviour is based on biological evolution and firmly rooted in the neurobiological constitution of human beings.“323 Gestützt werde dieses Urteil bspw. durch solche Forschungsergebnisse, welche zeigten, dass moralische Dilemmata ähnliche Gehirnregionen aktivierten wie emotionale Erfahrungen, jedoch nicht den Frontalen Cortex, der für rationales Denken zuständig ist.324 Daraus leitet sich ein starkes Argument für eine hauptsächlich emotional geleitete, moralische Intuition ab, die erst in einem zweiten Schritt rational erschlossen und reflektiert wird: „Judgment would often be triggered by quick moral intuitions and then followed by a slower rationalizing argument, if necessary. Moral intuition is an instantaneous moral judgment without any conscious weighing of arguments, but with a clearly affective component. […] Although reasoned judgments do occur, intuition is the more common avenue 319

Vgl. CHRISTEN, Neurobiologie, 103–106. Vgl. KAZEN, Emotions; ders., Emotionen; ders., Ethics. 321 Vgl. ders., Emotions, 17. 322 A.a.O., 40. 323 Ders., Ethics, 7. 324 Vgl. ders., Emotions, 15 f. 320

2. Die Auswirkungen von Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive

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to moral judgment. This does not mean that intuition is uninformed by rational considerations or societal concerns.“325

Der Autor kommt daher zu dem Schluss: „Taking various types of evidence from the fields of neurobiology as well as developmental psychology into account, we must conclude that human morality is both a rational and an emotional development, innate as well as acquired, and intimately linked to bodily experience.“326

Oder in anderen Worten: „Neurowissenschaften und experimenteller [sic!] Psychologie legen nahe, dass menschliches Verhalten ohne funktionierende Emotionen weder rational noch moralisch ist. […] Menschen verlassen sich auf ihre emotional fundierten moralischen Intuitionen und rationalisieren diese erst nachträglich durch Argumente.“327

Schließlich sei es nach Stand wissenschaftlicher Untersuchungen längst nicht mehr gesichert, dass der Mensch durch rationale Überlegungen zu besseren Handlungsentscheidungen komme als durch emotionale Intuition. Entsprechend fasst auch Monika Schwarz-Friesel zusammen: „Emotionale Kenntnissysteme interagieren mit kognitiven, motivationalen und sensomotorischen Komponenten, begleiten und determinieren geistige Prozesse der Einschätzung oder Schlussfolgerung. Unsere sogenannte Intuition (und das Aus-dem-Bauch-herausEntscheiden […]) beruht auf emotionalen Prozessen. Neueste Forschungen haben gezeigt, dass intuitiv entschiedene Handlungen oft zu besseren Resultaten führen als Handlungen, die auf langen, kognitiv gesteuerten Überlegungen beruhen“328.

In einer Entscheidungssituation spielen Emotionen demnach eine zweifach gewichtige Rolle: Erstens wird über das emotionale Gedächtnis gesteuert, welche Erinnerungen und Erfahrungen mit dieser jeweiligen Situation verknüpft werden. Dadurch steuern sie die Wahrnehmung selektiv. Die hervorgerufenen Emotionen vermögen in einem zweiten Schritt die Handlungsentscheidung maßgeblich zu motivieren, welche demnach – mehr oder minder stark – intuitiv, emotional und situativ-sozial geprägt ist.329 2.5 Ergebnisse Der Appell, dass Emotionen aufgrund ihrer mannigfachen Auswirkungen auf das menschliche Denken und Handeln in die Untersuchung narrativ vermittelter Ethik mit einbezogen werden müssen, findet nicht nur Unterstützung in

325

A.a.O., 14. A.a.O., 16. 327 Ders., Emotionen, 291. 328 SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 73. 329 Vgl. WELZER, Gedächtnis, 153–231. 326

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

antiken Texten, sondern auch aus der Perspektive moderner Naturwissenschaften, welche hier wie folgt zusammengefasst werden können: Ein Blick in die Evolutionsbiologie, welche die Bedeutung der emotionalen Empathie, d.h. die Fähigkeit, die Emotionen Anderer zu erkennen und nachzuvollziehen, für die soziale Entwicklung der Menschheit erforscht, bestätigt eine äußerst zentrale Bedeutung der Emotionen für das menschliche Leben in Gemeinschaft: Sie dienten in einem vorsprachlichen Zeitalter nicht nur der Informationsvergabe (etwa als Warnung vor Gefahren), sondern auch der motivationalen Beeinflussung des Gegenübers (etwa als Hinweis für die Bereitschaft zum Kampf, welche das Gegenüber einschüchtern sollte). Des Weiteren belegen verschiedene neurowissenschaftliche Experimente einen engen Zusammenhang zwischen Neocortex, dem kognitiven Bereich des menschlichen Gehirns, sowie dem subkortikalen Teil des Gehirns, der für die Emotionen zuständig ist. Damit bestätigen sie, dass Emotionen allzu häufig unweigerlich Auswirkungen auf das rationale Denkvermögen haben. Die Gedächtnisforschung zeigt außerdem, dass besonders emotional erlebte und somit „emotional markierte“ Ereignisse besser im Gedächtnis gespeichert werden und Emotionen sogar die Erinnerung an das tatsächliche Ereignis modifizieren können. Sodann belegen so genannte kryptomnestische Erinnerungen, d.h. die Erinnerung an nur vorgestellte Ereignisse, die gar nicht selbst erlebt wurden oder überhaupt nicht stattgefunden haben, dass der bloße Imaginationsprozess bspw. während des Hörens einer Geschichte ausreicht, um im Gehirn reale, kognitive sowie emotionale Verarbeitungsmechanismen auszulösen. Die mannigfachen Auswirkungen der Emotionen auf die Wahrnehmung des Menschen führen unweigerlich zu behavioralen Effekten. Verschiedentlich wurde nachgewiesen, auf welche Weisen eine spezifisch emotional gestimmte Wahrnehmung der Umgebung das Verhalten und die Handlungsbereitschaft beeinflussen. Letztlich belegt die so genannte neuroscience of ethics, die Erforschung der moralischen Entwicklung aus naturwissenschaftlicher Perspektive, einen klaren Bezug zwischen Moral und emotionaler Bewertung. Anhand von Untersuchungen von Personen mit Läsionen in bestimmten Gehirnarealen lassen sich deutliche Zusammenhänge zwischen dem Verlust einer emotionalen Situationswahrnehmung sowie einer höheren Bereitschaft, in dieser Situation unmoralisch zu reagieren, herstellen. Darüber hinaus besitzen einige Emotionen starken moralischen Charakter, d.h. sie dienen zur Bewertung explizit moralischer Situationen. Dazu zählen etwa Ärger/Wut, Ekel/Abscheu, Verachtung, Dankbarkeit, Mitleid, Scham, Peinlichkeit, Schuld oder Stolz. Aus einer Unfähigkeit zu diesen Emotionen können sich moralische Pathologien ergeben. In diesem Zusammenhang muss nochmals auf die außerordentliche Rolle der emotionalen Empathie verwiesen und deren Bedeutung für das soziale Moralverhalten betont werden. Diverse Forschungen belegen stichhal-

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

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tig, wie sehr Handlungsentscheidungen von intuitiven, emotionalen und situativ-sozialen Wahrnehmungen und Bewertungen abhängen, welche wiederum von emotional markierten Erinnerungen beeinflusst werden können. Hieran wird die besondere Rolle der Emotionen für das Erleben und Bewerten moralischer Situationen ersichtlich.

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen 3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

Im Folgenden werden ethische Ansätze vorgestellt, welche den soeben betrachteten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen und die Rolle der Emotionen auf unterschiedliche Weise in die ethische Debatte integrieren. Dies ist insofern nicht als selbstverständlich zu erachten, als die kontinental-europäisch geprägte Philosophie und Ethik lange Zeit suchten, Emotionalität und Moral strikt voneinander zu trennen. Immanuel Kant nennt Emotionen dementsprechend eine „Krankheit des Gemüts“, welche die Herrschaft der Vernunft ausschließe.330 Ethisches Handeln aber könne nur aus rational fundierten Handlungsgründen resultieren und jeglicher emotionaler Einfluss auf das Denken und Handeln sei daher zu unterbinden. Wie im oben ausgeführten Überblick dargelegt (s.o. 2.2), stellt die wachsende Anzahl naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf diesem Gebiet jedoch mehr und mehr in Frage, ob diese Abwehr der Emotionen überhaupt möglich ist. Dass sich diese Ansicht auch in ethischen Kreisen zunehmend etabliert, belegt folgende Aussage Johannes Fischers: „Die kognitivistische Auffassung der moralischen Orientierung steht in offensichtlichem Gegensatz zu den Ergebnissen der empirischen Moralforschung in Neurobiologie und Emotionsforschung, die die fundamentale Bedeutung von Emotionen für die moralische Orientierung herausgearbeitet hat. Dies kann heute als ein gesichertes Ergebnis gelten, das die Ethik auf Dauer nicht wird ignorieren können.“331

Dass sie dies inzwischen auch nicht mehr durchweg tut, zeigt sich in diversen Niederschlägen der Emotionsthematik in der modernen Ethikdebatte. Diese Entwicklung zeichnet sich jedoch nicht erst seit 2010 ab, als Johannes Fischer dieses Fazit formuliert, sondern bereits im Verlauf des letzten Jahrhunderts. Bspw. vertreten bereits die durch den wachsenden Einfluss der analytischen Philosophie und des logischen Positivismus angestoßenen und vornehmlich von Alfred Jules Ayer und Charles Leslie Stevenson vertretenen nonkognitivistischen Ansätze der Metaethik des 20. Jh. die Position, dass moralische Aussagen sowohl emotional gefärbt sind, als auch Emotionen im Adres330 331

KANT, Anthropologie, 251, §73, AA VII. FISCHER, Grundlagen, 27.

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

saten der Aussage wecken wollen. Ethische Aussagen, d.h. die Bezeichnung von etwas als „gut“, besäßen nämlich keine empirische Eigenschaft und könnten daher weder als „wahr“ noch als „falsch“ bezeichnet werden.332 Ein moralischer Satz stelle somit lediglich eine Wertzuschreibung dar: „Durch den Wertausdruck wird dem Satzgehalt also nichts ihn Erweiterndes hinzugefügt, sondern was hinzugefügt wird, ist die emotionale Stellungnahme des Sprechers zu diesem Satzgehalt.“333 Eine rationale Diskussion über moralische Wahrheiten verbiete sich demgemäß aufgrund des emotionalen Ursprungs solcher Urteile.334 Moralische Aussagen drückten aber nicht nur die Emotionen des Sprechers aus, sondern wollten außerdem wiederum Einfluss auf die Emotionen sowie das Handeln des Hörers nehmen.335 Es sei weniger die analytisch-philosophische Grundannahme, dass Ethik demnach nur ein Ausdruck von Gefühlen darstelle, die an dieser Stelle von Interesse seien. Vielmehr wichtig sei die handlungspragmatische Wirkung, welche dem emotionalen Gehalt solcher Aussagen zugeschrieben werde. Hier wird berücksichtigt, dass emotional aufgeladene, moralisch wertende Aussagen nicht nur Emotionen transportieren, sondern auch der psychologischen Beeinflussung der Hörer dienen, d.h. deren Haltung modifizieren können.336 Zwar fußt die Bedeutung der Emotionen für die Ethik in diesen Ansätzen v.a. auf ihren sprachanalytischen Prämissen, welche bis heute kontrovers rezipiert und diskutiert werden.337 Doch ist es das Verdienst des Emotivismus des 20. Jh., der Vermittlung von Moral und Ethik einen inhärenten emotionalen Aspekt zuzusprechen. Auch im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte entstehen immer mehr Versuche, Emotionen stärker in die ethische Debatte mit einzubeziehen. Auch der folgende Einblick in den philosophisch-ethischen Kontext kann freilich nicht erschöpfend ausfallen, weswegen eine exemplarische Darstellung drei ausgewählter Forschungsansätze erfolgt, welche die Rolle der Emotionen für ethisches Handeln erörtern. Zunächst werden die Arbeiten der Philosophin Martha Nussbaum338 vorgestellt, deren Anliegen die Rehabilitation der Emotionen darstellt, und zwar als eine der Kognition gleichgestellten Komponente des Menschseins. Des Weiteren werden die dezidiert theologischen Ansätze von Christoph Ammann339 und Klaas Huizing340 betrachtet, die als Verfechter einer emotionalen Dimension der Ethik den Versuch einer 332

Vgl. ROHLS, Geschichte, 604–606. A.a.O., 606. 334 Vgl. ebd. 335 Vgl. a.a.O., 604. 336 Vgl. a.a.O., 606 f. 337 Vgl. bspw. MORSCHER, Kognitivismus, 41; QUANTE, Einführung, 49–52. 338 NUSSBAUM, Fragility; dies., Gefühle; dies., Upheavals; dies., Konstruktion. 339 AMMANN, Emotionen. 340 HUIZING, Scham. 333

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

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Integration der Emotionen in dieselbe unternehmen. Diese Ansätze sind für diese Studie auch deshalb interessant, weil sie für ihre Argumentation auf antike oder biblische Texte rekurrieren sowie auf die besondere Bedeutung des narrativen Mediums eingehen. 3.1 Martha C. Nussbaum: Reziprokes Verhältnis zwischen Emotionen und Ethik Die US-amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum nähert sich im Zuge ihrer literaturwissenschaftlich-althistorischen Arbeiten nicht nur dem Zusammenhang zwischen Emotionen und Ethik, sondern leistet dabei auch wertvolle Beiträge zur feministischen Bewegung und bringt den emotional turn maßgeblich voran. Sie versteht Emotionen grundsätzlich als Werturteile, welche dem Menschen die Wichtigkeit bestimmter Aspekte der Welt deutlich machten, auf die er aber nur begrenzt oder gar keinen Einfluss zu nehmen vermöge: „[E]motions are forms of evaluative judgment that ascribe to certain things and persons outside a person’s own control great importance for the person’s own flourishing. Emotions are thus, in effect, acknowledgments of neediness and lack of self-sufficiency.“341

Mit dieser Werturteiltheorie vertritt die Philosophin eine kognitivistische Emotionstheorie, geht nicht davon aus, dass Emotionen per se irrationale Elemente seien, sondern Bestandteile der menschlichen Intelligenz bildeten. Allerdings versteht Martha Nussbaum unter „kognitiv“ hierbei „nothing more than ‚concerned with receiving and processing information‘“342. Die Eigenheit der Emotionen, dass sie dem Menschen stets seine eigene Bedürftigkeit und Abhängigkeit von äußeren Faktoren vor Augen führten und ihm deutlich machten, was für ihn wirklich wichtig sei, nennt Martha Nussbaum „eudaimonistic“ und verbindet damit ihren Ansatz ganz bewusst mit den antiken philosophischen Ansätzen, die εὐδαιµονία ins Zentrum ihrer Ethik rückten.343 Dass für eine solche Glückseligkeit auch die Emotionen eine gewichtige Rolle spielen, wurde bereits von den Stoikern gesehen, und die Autorin teilt deren grundsätzliches Verständnis von Emotionen, welche sich erstens auf ein bestimmtes Objekt bezögen, zweitens diesem Objekt einen bestimmten Wert zuschrieben, drittens die Wahrnehmung einer Person maßgeblich durch das Erleben der Emotion färbten und viertens auf einer bestimmten Überzeugung beruhten. Doch vertraten die Stoiker die Ansicht, dass diese Überzeugungen grundsätzlich falsch seien, weil sie einem Objekt Bedeutung beimäßen, die diesem realiter nicht zukomme. In diesem Punkt wi341

NUSSBAUM, Upheavals, 22. A.a.O., 23. Diese Minimaldefinition von „Kognition“ könnte man freilich kritisieren (vgl. DEMMERLING/LANDWEER, Philosophie, 12). 343 NUSSBAUM, Upheavals, 31 (Hervorhebung im Original). 342

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

derspricht Martha Nussbaum vehement und bezeichnet ihren Ansatz insofern als „neo-Stoic view“344. Wenn Emotionen dem Menschen mitteilen, was ihm in der Welt wichtig und was zu seinem Glück notwendig sei, dürfe dies einerseits als wertvolles Element unserer Beziehung zur Welt betrachtet werden; andererseits bringe es ebenso mit sich, dass negative Emotionen beim Verlust eines wertvollen Objekts oder einer geliebten Person das gegenteilige Pendant zu diesem Glück darstellten.345 Des Weiteren müsse berücksichtigt werden, dass das antike εὐδαιµονία-Konzept, wolle es heute angewandt werden, berücksichtigen müsse, „that people’s sense of what is important and valuable is often messy, disorderly, and not in line with their reflective ethical beliefs“346. Auf diese Weise entwickelt Martha Nussbaum das stoische Emotionskonzept weiter und macht es auf moderne Verhältnisse applizierbar. Dahingehend kritisiert sie die Propagierung der Selbstgenügsamkeit dieser philosophischen Positionen, die zur Ablehnung des Mitleids führe, was wiederum in einem Problem der Wohltätigkeit resultiere: Wohltätigkeit werde hauptsächlich durch Mitleid motiviert und sei eine zweifelsfrei gute, moralisch lobenswerte Tat; deswegen dürfe die Ablehnung der Emotionen durch die Stoiker nicht so grundsätzlich vollzogen werden.347 So zollten bspw. Angst und Mitleid der Kontingenz und Passivität, mit der dem Leben häufig begegnet werden müsse, Rechnung und seien Instrumente der Selbsterkenntnis, indem sie die rationale Frage „Könnte mir das auch passieren?“ stellten.348 Somit führten Emotionen unweigerlich zu handlungspragmatischen Folgen, woraus sich unmittelbar ihre Relevanz für die Ethik ergebe: „They [d.h. Emotionen] insist on the real importance of their object, but they also embody the person’s own commitment to the object as a part of her scheme of ends. This is why, in the negative cases, they are felt as tearing the self apart: because they have to do with me and my own, my plans and goals, what is important in my own conception (or more inchoate sense) of what it is for me to live well.“349

Für Martha Nussbaum sind Emotionen somit wichtige Elemente des menschlichen Lebens und starke Motivatoren der Lebensweise und damit ethisch hochrelevant. Jedoch sind sie auch in hohem Maße von sozialen Normen geprägt und damit letztlich gesellschaftlich konstruiert und konstruierbar.350 Dies kann sie aufgrund ihres Verständnisses von Emotionen als Werturteile begründen:

344

A.a.O., 27. Vgl. a.a.O., 39 f. 346 A.a.O., 52. 347 Vgl. dies., Gefühle, 153–155. 348 Vgl. dies., Fragility, 385–391. 349 Dies., Upheavals, 33. 350 Vgl. a.a.O., 151–173. 345

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

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„[T]aking up a cognitive/evaluative view makes it easy to see how society could affect the emotional repertory of its members. If we hold that beliefs about what is important and valuable play a central role in emotions, we can readily see how those beliefs can be powerfully shaped by social norms as well as by an individual history; and we can also see how changing social norms can change emotional life.“351

Auf diese Weise macht Martha Nussbaum einen interessanten Schritt: Sie fragt nicht nur danach, wieso Emotionen in der Ethik berücksichtigt werden sollten, d.h. welche Einflüsse sie auf die menschliche Lebensweise haben, sondern fragt sodann umgekehrt, wie die Ethik auch Einfluss auf das emotionale Erleben nehmen kann. Die Autorin spricht sich somit für eine ganzheitliche Ethik aus, die das menschliche Handeln und Verhalten nicht nur kognitiv-rational, sondern auch emotional begründe und nicht nur das konkrete Handeln, sondern auch die emotionale Reaktion auf bestimmte Situationen und Ereignisse als positiv oder negativ bewerte. Die Veränderbarkeit von Emotionen zeigt sie an vier Formen des Spielraums innerhalb eines gemeinsamen Emotionsrahmens auf: Im interkulturellen Vergleich zeige sich, dass erstens die Regeln der Gefühlsäußerung und des emotionalen Verhaltens variieren, zweitens die normativen Urteile über ein Gefühl voneinander abweichen, drittens unterschiedliche Taxonomien der anerkannten Gefühle existieren und viertens die individuelle Lebensgeschichte eines jeden Einzelnen zu unterschiedlichen Gefühlserfahrungen führen.352 Für sie steht die Rolle, welche die Gesellschaft für die Prägung der Emotionen spielt, als eine tiefgreifende fest: „Das kann man als Quelle von Zwängen empfinden, sobald man erkennt, in welchem Maße wir sogar in den innersten und intimsten Bereichen des Lebens Artefakte sind. Andererseits kann man es auch – und das ist der Punkt, den ich hier hervorheben möchte – als Quelle der Freiheit empfinden, weil wir nun sehen können, dass viele der vielleicht für vorgegeben und unvermeidlich gehaltenen Formen der Erfahrung des Körpers, der Gefühle […] in Wirklichkeit von uns selbst geschaffen sind und daher auch anders sein können.“353

Bei ethischen Beurteilungen müssten solche sozial-kulturellen Prägungen zwar stets berücksichtigt werden, dennoch sei ein ethisches Urteil möglich, wodurch wiederum Veränderung – sowohl in der Lebensweise als auch im Gefühlserleben der Menschen – bewirkt werden könne.354 Die Autorin legt großen Wert auf diese Möglichkeit und Notwendigkeit des Hinterfragens und Prüfens solcher emotionaler Normen und betont: „[D]iese Freiheit erlegt uns Verantwortungen auf, denen wir uns nur allzu leicht entziehen.“355

351

A.a.O., 142. Vgl. dies., Konstruktion, 177–182. 353 A.a.O., 211. 354 Vgl. a.a.O., 188–191. 355 A.a.O., 213. 352

118

Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

Zu einer solchen Normenveränderung könne es insbesondere durch die Vermittlung von Narrationen kommen: Die ästhetische Darstellung bewirke ein Miterleben der Geschichte durch den Rezipienten und diene ihm so als effektiver Anschauungs-, Reflexions- und Lernort moralischer Inhalte. Narrationen eigneten sich deshalb ausgezeichnet zur emotional-moralischen Unterweisung, weil Emotionen unmittelbar auf Imaginationen beruhten:356 „What this means is that the emotions typically have a connection to imagination, and to the concrete picturing of events in imagination, that differentiates them from other, more abstract judgmental states.“357

Dieser Zusammenhang ist intuitiv einleuchtend: So ist Furcht bspw. das imaginative vor Augen Stellen eines möglichen künftigen Ereignisses. Dankbarkeit ist mit einer Erinnerung verknüpft, welche imaginativ in die Gegenwart geholt wird; Trauer wiederum mit dem nostalgisch-imaginativen Wunsch, eine geliebte Person sei immer noch hier. Zorn kann sich mit der gedachten Vorstellung eines mehr oder weniger konkreten Racheaktes verbinden; Ärger und Empörung mit der imaginierten Wiederherstellung gerechter Verhältnisse. Hoffnung entwirft ebenso ein positives, aber nur fiktives Bild von der Zukunft. Diese emotionale Imagination ist auch stellvertretend möglich, d.h. kann für Andere empfunden werden. Dieser Prozess laufe genauso beim Nachvollziehen von Geschichten ab. Durch diese könne dann gesteuert werden, welche Emotionen in einer moralischen Situation aufkommen, und der Mensch könne emotional-moralisch geschult werden.358 Martha Nussbaums philosophische Arbeiten geben wichtige sozialkritische und ethische Impulse. Und obgleich ihr Verständnis von Emotionen als „judgmental states“359 nicht kritiklos rezipiert wurde, leistet sie doch einen enormen Beitrag nicht nur zur Emotionsforschung, sondern auch für die Ethikdebatte. Indem sie die Bedeutung der Emotionen für das menschliche Leben betont, macht sie den Bezug zur Ethik deutlich: „Sie [d.h. Emotionen] befähigen den Menschen, eine bestimmte Art von Wert oder Wichtigkeit wahrzunehmen. Und daher sind Gefühle (für diejenigen, die solchen Dingen einen Wert beimessen) ein notwendiger Bestandteil einer umfassenden ethischen Sichtweise.“360

Das Interesse am Zusammenhang von Emotionen und Ethik prägt auch die weitere Forschung Martha Nussbaums und sie vertieft ihre hier dargestellten Überlegungen im Hinblick auf die Bedeutung der Emotionen für die politische Ethik in späteren Arbeiten.361 Hier wurde der Fokus auf ihre frühen 356

Vgl. dies., Upheavals, 64–67. A.a.O., 65. 358 Vgl. a.a.O., 67. 359 A.a.O., 65. 360 Dies., Gefühle, 151. 361 Vgl. dies., Humanity; dies., Emotionen; dies., Zorn; dies., Monarchy. 357

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

119

Untersuchungen gelegt, um zu zeigen, dass ihr Anliegen, Emotionen in die Ethik aufzunehmen, bereits ins letzte Jahrhundert zu datieren ist. 3.2 Christoph Ammann: Emotionen als Gravitationszentren der Moral In seiner systematischen Arbeit Emotionen – Seismographen der Bedeutung362 prüft Christoph Ammann die Relevanz der Emotionen für eine christliche Ethik. Dafür diskutiert er die Ansichten verschiedener Philosophen und Ethiker, welche den Emotionen größere Aufmerksamkeit geschenkt haben, wie Cora Diamond, Raimond Gaita, Peter Goldie, John McDowell, Martha Nussbaum und Robert C. Roberts. Zunächst diskutiert der Autor Martha Nussbaums Band Upheavals of Thought und übernimmt ihre vier Kategorien, durch welche sich Emotionen konstituieren: Emotionen bezögen sich stets auf ein Objekt (aboutness), außerdem seien sie intentional, d.h. sie veranlassten den Menschen, eine Situation ganz im Lichte seiner erlebten Emotion(en) wahrzunehmen (sehen-als), drittens hätten sie propositionalen Gehalt, d.h. sie fußten auf einem bestimmten Glaubenssatz (belief), und schließlich wohne ihnen ein eudaimonistischer Charakter inne, soll heißen, sie schrieben dem Objekt einen bestimmten Wert zu und seien bedeutsam für das Wohlergehen des Empfindenden.363 Aufgrund dieser essentiellen emotionalen Färbung unserer Wahrnehmung und der Bedeutung von Emotionen für die Lebensweise folgert auch Christoph Ammann, dass Emotionen von der Ethik nicht zu vernachlässigen seien: „Wer die Emotionen ausblendet, blendet einen wichtigen Teil unseres menschlichen Lebens und Erlebens aus.“364 Auch dem kognitiven Gehalt, den Martha Nussbaum den Emotionen zuschreibt, folgt der Autor: „Wir tun gut daran, Emotionen klar und deutlich von ‚blinden‘ somatischen Erregungsphänomenen zu unterscheiden.“365 Schwierig werde es erst bei Martha Nussbaums Bezeichnung der Emotionen als Überzeugungen: „[E]motions embody not simply ways of seeing an object, but beliefs – often very complex – about the object.“366 Diese Verkörperung von Überzeugungen367 in Emotionen, durch welche Martha Nussbaum die emotionale Reaktion nicht nur als Urteil, sondern gar als ein Vernunfturteil einzustufen vermag368, halte allerdings in der Praxis nicht Stand:

362

AMMANN, Emotionen. Im Original: vgl. NUSSBAUM, Upheavals, 27–30; bei Christoph Ammann: vgl. AMMANN, Emotionen, 48 f. 364 A.a.O., 54. 365 A.a.O., 58. 366 NUSSBAUM, Upheavals, 28. 367 Vgl. AMMANN, Emotionen, 50. 368 Vgl. a.a.O., 53. 363

120

Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

„Zweifellos ist es in vielen Fällen unproblematisch, jemandem neben einer Emotion auch bestimmte Überzeugungen (und Wünsche) zuzuschreiben. Aber das ist etwas anderes, als Emotionen immer unter Bezugnahme auf Überzeugungen, die das Subjekt hat, verständlich machen zu wollen.“369

Als Beispiel hierfür führt Christoph Ammann so genannte „irrationale Emotionen“ an, welche in bestimmten Situationen trotz besseren Wissens auftreten könnten.370 Dies müsste aber keineswegs gegen die ethische Berücksichtigung der Emotionen sprechen: „Auch unsere Emotionen – nicht nur unsere Gedanken – können von der Realität getrennt oder dissoziiert sein, indem sie irrational, übertrieben oder unangemessen sind. Aber nichts daran legitimiert eine Generalskepsis gegenüber unseren emotionalen Reaktionen und deren Fähigkeit, Realität zu erfassen.“371

Dem Vorwurf, Emotionen verschleierten die objektive Wahrnehmung, begegnet er dabei mit terminologischer Präzisierung: „Objektivität heißt ja nichts anderes als Angemessenheit gegenüber dem (zu untersuchenden) Objekt, und so kann es nicht erstaunen, dass die im Bereich der Moral geforderte Objektivität eine andere zu sein hat als in den Naturwissenschaften.“372

Und er plädiert dabei stark in Richtung einer Situationsethik: „Moralischem Handeln wohnt so ein irreduzibel divinatorisches, kreatives Moment inne, denn was in einer bestimmten Situation von mir gefordert ist, muss immer wieder neu wahrgenommen und realisiert werden.“373

Hierbei sei „noch einmal auf dem allgemeinen Punkt zu insistieren, dass das positive Gegenstück zu einer durch übermäßige Emotionen verengten Perspektive in der Ethik oft nicht die (angeblich) emotionslose, ‚rein‘ rationale Haltung des Chirurgen oder der Forscherin im Labor ist, sondern die durchaus emotionale Reaktion des moralisch Handelnden und Mitfühlenden, die auf die relevanten Merkmale einer Situation sensibel und mit den richtigen Emotionen reagiert.“374

Interessant ist nun, dass der Autor diesen Appell für ein neues Verständnis objektiver Beurteilung auch für die Metaethik fordert. Das persönliche Fühlen solle in keiner ethischen Überlegung ausgeschlossen werden: „Auch im Falle des Nachdenkens über moralische Fragen gilt, dass dieses keineswegs in jedem Falle der Wahrheit näherkommt, je sorgfältiger es von allen persönlichen Färbungen gereinigt ist.“375 369

A.a.O., 59 (Hervorhebung im Original). Vgl. ebd. 371 A.a.O., 111. 372 A.a.O., 175. 373 A.a.O., 124 (Heervorhebung im Original). 374 A.a.O., 176 (Hervorhebungen im Original). 375 A.a.O., 177. 370

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

121

Für eine effektive Vermittlung von Moral und Ethik führt der Autor das narrative Medium an, das der situativ-emotionalen Dimension der Moral konsequent Rechnung trage: Gerade durch das ganzheitliche Nachvollziehen von Geschichten werde die moralische Botschaft auch anhand von Emotionen transportiert, welchen so „orientierende und lebensstrukturierende Kraft“ zukomme.376 In diesem Zusammenhang bezeichnet Christoph Ammann Narrationen (hier die Tragödie) als moralisch relevante, emotionale Erlebnisse für die Erziehung377, „weil sie Orte sind, an denen diese moralische Realität in besonderer Intensität und Tiefe erfahren werden kann. Es scheint nicht übertrieben zu sein, von solchen Erfahrungen als den Gravitationszentren der Moral zu sprechen.“378

Im Hinblick auf das explizit christliche Ethos, das der Autor in seinem dritten Kapitel näher bespricht, erscheint diese Narrativität als besonders wichtig, um Anschauungsweisen zu verändern und somit moralisch zu erziehen. Er verwendet hier das Beispiel des Barmherzigen Samariters, das bereits Ronald de Sousa als „Schlüsselszenario“ bezeichnet:379 „Es sind also nicht einfach die Emotionen, die uns Zugang zu werthaltiger Wirklichkeit erschließen, sondern immer die durch bestimmte sozialhistorische Schlüsselerfahrungen geformten Emotionen. Emotionen sind immer die Emotionen eines bestimmten Menschen mit einer singulären Geschichte; in den emotionalen Dispositionen eines Menschen schlagen sich dessen Erfahrungen nieder“380.

In diesem Zusammenhang spricht Christoph Ammann die notwendige Unterscheidung der verschiedenen Perspektiven bei der Betrachtung von Emotionen an, die auch in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Differenzierung darstellt. Es werde deutlich, „wie wichtig es gerade in ethischen Fragen ist, welche Perspektive man einnimmt: jene des Zuschauers, der von außen auf die Szene schaut, oder jene der handelnden (oder leidenden) Person. In der ethischen Reflexion wird üblicherweise die erste Perspektive des impartial spectators privilegiert. Nimmt man aber die Perspektive der Beteiligten ein, so kommt einer emotionalen Reaktion [...] eine wichtige heuristische Funktion zu, wenn es um die Einschätzung der moralischen Schwere einer Tat geht.“381

Für die moralische Unterweisung sei geradezu zentral, dass der Rezipient nicht (nur) als unbewegter, unparteiischer Zuschauer über der Handlung schwebe, sondern auch in diese mit hineingenommen werde, sich in Figuren hineinversetze und an ihrem Schicksal teilhabe. 376

A.a.O., 74 (Hervorhebungen im Original). Vgl. a.a.O., 183–188. 378 A.a.O., 186 (Hervorhebungen im Original). 379 Vgl. a.a.O., 202 f. 380 A.a.O., 204 (Hervorhebungen im Original). 381 A.a.O., 126 (Hervorhebungen im Original). 377

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

Durch all diese Überlegungen kommt der Autor zur gefestigten Ansicht, dass die Emotionen für die Ethik eine nicht zu unterschätzende und keinesfalls aus ethischen Überlegungen auszuschließende Rolle spielen. Hierbei muss einerseits zwar sein Verständnis von Ethik beachtet werden, das „nicht die primäre – und schon gar nicht die einzige – Aufgabe der Ethik [darin sieht], moralische Normen zu begründen oder das menschliche Leben zu erklären. Stattdessen geht es [ihnen] darum, eine übersichtliche Darstellung von Teilen unserer menschlichen Lebensweise zu geben und an diesem komplexen Netz vielleicht überraschende Verknüpfungen deutlich zu machen.“382

Genauso muss andererseits festgestellt werden, dass für ihn Emotionen keineswegs das Fundament der Ethik darstellen; doch leistet er einen wichtigen Beitrag zur Ethikdebatte, indem er die unweigerlich emotionale Prägung moralischer Einstellungen und Empfindungsweisen betont.383 3.3 Klaas Huizing: „Schäme dich!“ als erster ethischer Imperativ Klaas Huizings 2016 erschienene Ethik Scham und Ehre stellt schon durch ihren Titel klar, dass für den Autor Emotionen in der Ethik eine zentrale Rolle spielen. Er betritt damit bewusst „Neuland“ und schickt zu Beginn seiner Einleitung voraus: „Meine Schamethik unterscheidet sich von bisherigen ethischen Erörterungen, die mit dem Schambegriff arbeiten, markant dadurch, nicht zum x-ten Mal ein Plädoyer für Tugendhaftigkeit im Sinne der Schamhaftigkeit zu halten. […] Dagegen pointiere ich die zentrale Bedeutung der Schamsituation für die Konstitution der ethischen Person und zeige, wie zahlreiche ethische Konflikte in unserer Gesellschaft durch Scham und vorweggenommene Scham gesteuert oder verursacht werden.“384

Das Anliegen des Autors ist demnach, die Emotionen – zentral allerdings die der Scham – für die Ethik zu erschließen, indem er aufzeigt, wie der ethische Imperativ „Schäme dich!“ die Person moralisch konstituiert und erzieht:385 „Nur im Durchgang durch eine Schamerfahrung und die darin eingelagerten Imperative konstituiert sich eine ethische Person. Das ist die These. Ethik ist dann die Explikation dieser hochmoralischen Schamerfahrung – mit spürbaren Folgen für die Charakterformung und die Theorie gelingender Lebensführung.“386

Für Klaas Huizing wird Moral somit viel eher emotional denn kognitiv ausgelöst. Unter steter Anlehnung an die Arbeiten von Emmanuel Lévinas, Hermann Schmitz und Ernst Tugendhat entfaltet er die Scham über etwas vor

382

A.a.O., 194. Näheres zu seinem Ethikverständnis vgl. ders., Rolle, 133–136. Vgl. ders., Emotionen, 194. 384 HUIZING, Scham, 15. 385 Vgl. a.a.O., 83 f. 386 A.a.O., 40. 383

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

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jemandem als die Internalisierung der Missbilligung Anderer als den Auslöser der ethischen Bildung der Person:387 „Das naive Ich ist zur Selbsterkenntnis elementar auf das Du, die Anderen, angewiesen; mehr noch: verdankt sich dem Anderen, der, in der Sprache von Schmitz, die Inkarnation einer Atmosphäre primordialer Beschämung ist.“388

Dazu erörtert er im ersten Teil seiner Arbeit das Phänomen der Scham, welche der Autor als eine von allen menschlichen Kulturen geteilte Emotion betrachtet389, in einem allgemeinen Hinblick auf die Ethik. Dabei erkennt er durchaus die Ambivalenz der Emotion, und während er den Einsatz der Scham zur moralischen Unterweisung keineswegs verteufelt, gibt er zu bedenken, dass solche emotiven Strategien stets hinterfragt und auf ihre Berechtigung hin geprüft werden müssten. Bei dieser Prüfung kommt die theologische Perspektive seiner Arbeit zum Tragen, und zwar in Form des positiven Pendants zur Scham – der Ehre: Die Ehre bzw. der dankbare Stolz auf das gottgeschaffene Menschsein, wie er in der biblischen Anthropologie begegnet, diene als sinnvolles Korrektiv, um „Falschschämen“ zu vermeiden und sozial konstruierte Schampraktiken zu prüfen.390 So müsse stets wohlwollende von demütigender Beschämung unterschieden werden.391 Im Hinblick darauf geht es Klaas Huizing darum aufzuzeigen, wie ein produktiver Umgang mit Scham die ultimative ethische Gefahr banne, Scham in Schuld zu verschieben: Scham sei eine durchweg passive Erfahrung, weshalb es für den Menschen zuweilen attraktiv wirken könne, sich aus dieser Passivität zu erheben und seine Aktivität zurückzugewinnen – jedoch zum hohen Preis der Schuld.392 Der Zustand der Schuld indes ist für den Autor kein ethisch formender oder erziehender: „Anders als die Schuld, die durch Vergeltung oder Vergebung beglichen werden kann, nötigt […] die Scham den Protagonisten, sich zu ändern, um ein besseres Lebensgefühl im Kontext mit Anderen zu erreichen.“393 Das bedeutet, dass niemand zur Schuld verdammt sei und bereits auf der Vorstufe der Scham die ethische Situation ausgelotet und reflektiert werden könne, um damit produktiv umzugehen und sowohl die aktive Flucht nach vorn – und damit Schuld – als auch einen überzogenen, passiven Rückzug – und damit übertriebene Selbstbeschämung und Entwertung des Selbst – zu vermeiden.394

387

Vgl. a.a.O., 49. A.a.O., 60. 389 Vgl. a.a.O., 42. 390 A.a.O., 85. 391 Vgl. a.a.O., 74–83. 392 Vgl. a.a.O., 65–76. 393 A.a.O., 84. 394 Vgl. ebd. 388

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

In einem zweiten, materialethischen Teil diskutiert der Autor verschiedene Konfliktfelder der Ethik, in welchen schambehaftete, moralische Situationen bisweilen eingesetzt oder manipuliert würden, um Menschen zu beeinflussen. Hier möchte er ganz konkret prüfen, wo Scham konstruktiv zur moralischen Erziehung und wo sie destruktiv zur moralischen Manipulation eingesetzt werde. Seine „Schamethik versteht sich als eine kritische Theorie neoliberal gesteuerter, nahezu invisibler Beschämungspraktiken“395. Etwaigen problematischen Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft sucht er anhand biblisch-theologischer Perspektiven zu begegnen und alternative Lösungswege aufzuzeigen. Ausführlich und anhand äußerst aktueller Beispiele betrachtet er auf diese Weise Wirtschafts- und Finanzwesen396, die Medien397, die Technik398, Sexualität, Liebe und Lebensstile399, Körper- und Psychopolitiken400, Tier-, Pflanzen- und Umweltethik401 und schließt mit einem Versuch zur Rechtsethik und einem Exkurs zur politischen Ethik402. Hier besonders interessant ist Klaas Huizings Rekurs auf biblische Texte, die er im Sinne der narrativen Ethik als „ideale Distanzfilter“ für die emotional-moralische Erfahrung und Schulung des Rezipienten betrachtet.403 Die Identifikation, welche durch die Texterfahrung möglich werde, gestatte auch ein emotionales In-Beziehung-Setzen mit der dargestellten Situation ohne die Gefahr einer öffentlichen, demütigenden Beschämung.404 Eine narrative Ethik verhelfe auf emotionale Weise dazu, den rechten Umgang mit Scham einzuüben: „Literatur kann beides, eine langsame, oft noch nicht explizit gemachte Umcodierung der Standardüberzeugung registrieren und aktiv durch wohlwollende Beschämungsstrategien auf Änderung drängen.“405 Zwar sieht Klaas Huizing auch hier, dass literarische Kunst auch als ein manipulierendes Dispositiv der Macht genutzt werden könne.406 Doch insbesondere die Narrationen der Bibel seien wichtige und durch den cursus divinus, die wohlwollende göttliche Schöpfung und Begleitung derselben, positiv konstituierte Lernräume einer wohlwollenden Beschämungspraxis, welche in der dankbaren Erhebung der Ehre immerzu ihr verheißenes Gegenstück und Ziel finde:407 395

A.a.O., 20 (Hervorhebung im Original). A.a.O., 134–178. 397 Vgl. a.a.O., 179–232. 398 Vgl. a.a.O., 233–268. 399 Vgl. a.a.O., 269–311. 400 Vgl. a.a.O., 312–349. 401 Vgl. a.a.O., 350–389. 402 Vgl. a.a.O., 390–448. 403 A.a.O., 29. 404 Vgl. a.a.O., 75. 405 A.a.O., 422. 406 Vgl. a.a.O., 29. 407 Vgl. a.a.O., 132. 396

3. Die Aufnahme von Emotionen in ethischen Ansätzen

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„Die biblischen Schriftsteller präsentieren einen Gott, der mit wohlwollender Beschämung und souverän mit Satire arbeitet, um das irdische Personal, an dessen Bildungsfähigkeit dieser literalisierte Gott trotz aller Rückschläge trotzig glaubt, an die Hand zu nehmen und zu schulen – und der selbst im Vollzug seiner Schulung einen von den Schriftstellern zugeschriebenen Bildungsprozess durchläuft.“408

Die theologische Verankerung seiner Ethik findet Klaas Huizing primär in der optimistisch gestimmten Weisheitslehre des Alten Testaments, welche sich in der Lehre Jesu im Neuen Testament fortsetze:409 „Die biblische Weisheitslehre ist eine Wahrnehmungs- und Inszenierungsschule, die durch ihre Texte versucht, Selbst, Welt und Gott religiös erfahrbar zu machen, und zugleich hochsensible Persönlichkeitsbildung anbietet.“410 Als solche ModellLektüren rekurriert er sodann immer wieder auf Narrative wie die von Adam und Eva, Kain und Abel, Joseph und seinen Brüdern, Hosea und seiner Frau sowie die der Gleichnisse Jesu.411 Der Scham für falsches, d.h. gottvergessenes (AT) oder ausgrenzendes (NT) Verhalten und Handeln stehe die Ehre der Zuwendung zu Gott und Mensch gegenüber, und auf diese Weise werde eine „Tugend der Besonnenheit“ angestrebt, welche die Scham initial zu verhindern suche, geschweige denn sie zur Schuld auswachsen ließe.412 Diese Tugend der Besonnenheit reagiere auf den Appell des Anderen und halte Kooperation zwischen den Beteiligten aufrecht.413 Dem Menschen als imago dei und Tempel Gottes gebühre eine auch leiblich verstandene Ehre und verhindere manipulierendes Falschschämen; gleichzeitig verhindere das Gefühl der demütigen, auf jeglichen Status verzichtenden Abhängigkeit von Gottes Wohlwollen eine schamlos werdende Moral.414 Klaas Huizings Ethik Scham und Ehre legt ihren Fokus deutlich auf die Scham, während die Ehre etwas kurz zu kommen scheint. Außerdem lässt der Autor offen, ob er die Scham als soziale Konstruktion und Produkt der Moral oder aber als eine Bewertung sui generis ansieht, und enthält sich somit der philosophischen Grundfrage, ob Emotionen die Moral erschließen oder aber Moral die Emotionen erst auslöst. Doch betont er zu Recht die maßgebliche Rolle, welche Emotionen in der ethischen Konstitution der Person spielen, und seine fundierten Entdeckungen und Diskussionen über Beschämungspraktiken der heutigen Gesellschaft sind wegweisend in ihrer Offenlegung sowie ihrer möglichen, durch die biblisch-theologischen Impulse angeregten Neujustierungen. Auch die emotionalisierende Wirkung von Narrationen, welche gezielt zur moralischen Erziehung genutzt werden, indem sie Moral 408

A.a.O., 17 (Hervorhebungen im Original). Vgl. a.a.O., 17.92–110. 410 A.a.O., 17 (Hervorhebungen im Original). 411 A.a.O., 434. 412 Vgl. a.a.O., 434 f. 413 Vgl. a.a.O., 65. 414 Vgl. a.a.O., 117. 409

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

emotional erfahrbar und nachvollziehbar machen, ist ein wichtiger Schritt für die Verbindung von narrativer Ethik und emotiver Textrezeption, welche diese Arbeit zum Ziel hat. 3.4 Ergebnisse Der hier erfolgte Einblick in den Ethikdiskurs bestätigt den forschungswissenschaftlichen Trend des emotional turn: Auch in der aktuellen ethischen Debatte hält dieser zusehends Einzug, und es finden sich erhöhte Bereitschaft und Tendenzen, Emotionen in moralisch-ethische Überlegungen zu integrieren. Dass Emotionen maßgeblichen Einfluss auf das Handeln haben und somit auch in der ethischen Reflexion berücksichtigt werden müssen, schlägt sich im letzten Jahrhundert noch vereinzelt (bspw. Martha Nussbaum), heute dagegen immer häufiger (bspw. Christoph Ammann und Klaas Huizing) in verschiedenen Ethikansätzen nieder. Für Martha Nussbaum sind Emotionen, die sie als gesellschaftlich konstruierte Werturteile ansieht, wichtige Elemente des menschlichen Lebens, starke Motivatoren der Lebensweise und damit ethisch hochrelevant. Damit lässt sie es jedoch nicht bewenden, sondern fragt nun, wie wiederum bestimmte emotionale Muster als Reaktion auf eine moralische Situation bewertet und ggf. modifiziert werden könnten. Wenn Emotionen das Handeln beeinflussen, müsse die Ethik dieses emotionale Erleben nicht nur beachten, sondern es ebenso hinterfragen und bewerten wie rational handlungsbegründende Normen und Werte. Obgleich Christoph Ammann Martha Nussbaums Verständnis von Emotionen als kognitive Werturteile zurückweist, betont auch er deren immense Bedeutung für das menschliche Leben. Dass Emotionen unser Handeln erheblich beeinflussen, müsse dazu führen, dass diese emotionalen Anteile des menschlichen Verhaltens und Handelns in ihrer Bedeutung als „Gravitationszentren der Moral“ in der Ethik ernst genommen und berücksichtigt würden. Durch eine begriffliche Präzisierung ihres Anspruchs auf „Objektivität“ werde diese Aufnahme möglich. Klaas Huizing schließlich entfaltet in seiner Ethik die Scham als grundlegende moralische Emotion, welche die Person moralisch-ethisch konstituiere. Er legt verschiedene Praktiken der öffentlichen Beschämung offen und prüft sie auf ihren moralisch-pädagogischen Gehalt. Sein Ziel, das er aus seiner theologischen Perspektive im Hinblick auf die demütige Ehre als Pendant zur Scham herausarbeitet, ist eine „Tugend der Besonnenheit“, welche mit Schamerfahrungen so produktiv umzugehen weiß, dass sie die ultimative, destruktive Flucht aus der Scham in die Schuld verhindert. Alle drei vorgestellten Ethikansätze schreiben dabei dem narrativen Medium eine besondere Vermittlungsfunktion von Ethik zu, welche sich gerade durch ihren emotionalen Gehalt auszeichnet. Damit geben sie erste Impulse

4. Emotionen und narrative Ethik

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für das letzte Argument der hier vertretenen Arbeitsvoraussetzung, nämlich die emotiven Besonderheiten einer narrativ vermittelten Ethik. Diesem wird sich der folgende Abschnitt zuwenden.

4. Emotionen und narrative Ethik 4. Emotionen und narrative Ethik

Der nun folgende Einblick in die „narrative Ethik“ verlangt an dieser Stelle nach einer separaten Betrachtung, da er ein eigenes Argument für die besondere Berücksichtigung von Emotionen in einer Untersuchung ethischer Texte darstellt. Denn nicht nur Texte, die ein explizites Ge- oder Verbot argumentativ bewerten, sind als ethisch zu bezeichnen: „Auch ein Gedicht, das ohne moralische Urteile und ohne evaluatives Vokabular auskommt, kann als Medium einer Begegnung mit dem Ethischen fungieren oder als ein Beitrag zur Ethik verstanden werden.“415 Speziell Narrationen vermögen Ethik zu vermitteln. In diesen spielen Emotionen aber eine gewichtige Rolle und will man ihre formale Charakteristik ernst nehmen, muss bei einer Analyse auch den Emotionen Raum gegeben werden. 4.1 Ethische Sprachformen im Neuen Testament Insbesondere bei der Untersuchung neutestamentlicher Ethik ist es sinnvoll und lohnenswert, die vielfältigen Sprachformen, mittels derer im NT Ethik vermittelt wird, zu beachten und ihre jeweiligen hermeneutischen Besonderheiten in die Untersuchung mit einzubeziehen. In diesem Zusammenhang weist bspw. der 2010 von Ruben Zimmermann und Jan van der Watt herausgegebene Sammelband Moral Language in the New Testament aus vielfältigen Perspektiven auf die Verwobenheit zwischen ethischen Inhalten und ihrer jeweiligen medialen Form hin.416 Dieser Band trägt der Beobachtung Rechnung, dass „[t]he language and the linguistic form of ethics is not considered on its own because ethics relate completely to particular contents of individual writings, to one sociologically-definable community situation or to statements of faith or a theological concept in its entirety“417. Stattdessen fordert der Sammelband zu beachten, „that the ethics of the New Testament is linguistically constituted; it occurs in and through language“418. Sein Zweck ist es daher, der neutestamentlichen Ethik in ihrer vollen sprachlichen Vielfalt gerecht zu werden: „[w]e are concerned with ,moral language‘ in an extended

415

AMMANN, Rolle, 134 (Hervorhebung im Original). ZIMMERMANN/VAN DER WATT, Language. 417 ZIMMERMANN/LUTHER, Language, 2. 418 A.a.O., 3 (Hervorhebung im Original). 416

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

sense, with linguistic statements in the New Testament that possess an ethical dimension in both context and effect“419. So betont bspw. Etienne de Villiers den engen Bezug zwischen neutestamentlicher Exegese und Ethik: Beide sollten nie unabhängig voneinander gesehen werden, denn es sei letztlich unzweifelhaft, „that Christian ethics and the study of New Testament ethics are dependent on one another and, as a result of that, should cooperate far more closely than is usually the case. After all, the Bible remains the prime source of moral instruction for Christian ethics.“420 Eine sorgfältige Exegese sei unerlässliche Grundlage, damit die Ethik nicht dem Irrtum erliege, die neutestamentliche Ethik enthalte „merely a set of action guidelines“421. Erst eine genaue Auseinandersetzung mit allen Textformen des NT vermöge ein umfassendes Bild der neutestamentlichen Ethik zutage zu fördern, welche auch „moral vision, character and virtues“ einschließe.422 Diese Wichtigkeit narrativer Texte für die Vermittlung moralischer Inhalte betont auch Sean Freyne im selben Band: In seinen Untersuchungen der Jüngerschaft in mk und joh Texten hinsichtlich Charakter- und Moralbildung beschreibt er den Rezeptionsprozess, in welchem sich der Rezipient zum erzählten Geschehen und den dargestellten Figuren in Beziehung setzt, als sowohl hermeneutisch wie auch ethisch-pragmatisch zentral.423 Gute Erzählungen „lead to self-evaluation and reflection, but in the case of Christian readers the gospels are not just read for pleasure but for insight and direction in dealing with the moral dilemmas that confront us as individuals and communities on a daily basis“424. Auf diese Weise spiele die narrative Darstellung bestimmter Figuren eine tragende Rolle in der moralischen Charakterbildung des Rezipienten.425 Auch Richard Burridge betont in seinem Aufsatz, dass zur Ethik des Neuen Testaments nicht nur die expliziten Forderungen Jesu zählten. Es müsse weiterhin die Gattung der antiken Biografie beachtet werden, deren Zweck u.a. die Nachahmung der dargestellten Person umfasse, sowie das jüdische Prinzip der imitatio dei in Rechnung gestellt werden.426 Dadurch aber erschöpfe sich Jesu Lehre nicht in seinen expliziten Forderungen, sondern werde erst durch sein konkretes Leben und Handeln vollständig: „[T]o be truly biblical, we have to imitate Jesusʼ teaching and his example, his deeds as well

419

Ebd. Vgl. DE VILLIERS, Morality, 51. 421 A.a.O., 64. 422 Ebd. 423 Vgl. FREYNE, Search, 72–85. 424 A.a.O., 82. 425 Vgl. a.a.O., 82–84. 426 Vgl. BURRIDGE, Ethics, 395. 420

4. Emotionen und narrative Ethik

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as his words. Jesusʼ demanding ethical teaching cannot be appreciated separately from his behavior and activity“427. Wir sehen somit: Anhand ihrer Figurendarstellung vermitteln auch Erzähltexte, wenn auch häufig nur implizit, Ethik. Da das Evangelium Jesu Christi eine narrative Gattung darstellt, gilt es, diesen Umstand bei einer Analyse der neutestamentlichen Ethik in den Evangelien unbedingt in Rechnung zu stellen. Doch nicht nur die narrative Gattung des Evangeliums selbst, auch die „Narrationen in der Narration“, wie die von Jesus erzählten Parabeln, müssen in dieser Hinsicht betrachtet werden. Sodann ist nun zu fragen, was diese narrative Ethikvermittlung in besonderer Weise auszeichnet. Es wird sich zeigen, dass es gerade die emotionalisierende Wirkung von Narrationen ist, welche sie von anderen Sprachformen der Ethikvermittlung, wie etwa Gebots- oder Verbotskatalogen oder etwa argumentativen, philosophischen Abhandlungen über das rechte Tun, unterscheidet. Dazu müssen die bisher über Emotionen gewonnen Erkenntnisse mit dem Rezeptionsprozess von Narrationen verbunden und ihre Rolle darin bestimmt werden. 4.2 Narration und Emotion Emotionen sind in mancherlei Hinsicht der essentielle Mehrwert, durch den sich eine narrativ begründende Persuasion im Vergleich zu einer rein rationalen auszeichnet. Wie wichtig Emotionen für die Rezeption literarischer Erzählungen sind, war bereits in der Antike bekannt: Schon Quintilian stellte fest, dass sich imaginative Bilder und Geschichten, so genannte visiones (φαντασίας), ganz besonders zur effektiven Weckung von Emotionen eignen (Quint., inst. VI,2,29–31). 2005 stellte auch die Philosophin Jenefer M. Robinson die besondere Bedeutung von Emotionen für die literarische Rezeption ausführlich dar428: Voraussetzung für ihre Überlegungen ist das Phänomen, dass Emotionen in fiktionalen Erzählungen genauso funktionieren wie in wirklich erlebten Situationen.429 Dieses paradox of fiction430 ist empirisch gut belegt und besagt: „We respond emotionally not just to what is happening in front of us but to whatever we are paying attention to, whether in the external environment or in the internal environment of our minds.“431 Dieses Paradox zeigt – um es bewusst überspitzt zu formulieren –, dass sich der Mensch allzu rasch und gern täuschen lässt. Experimente belegen, dass der Mensch oftmals trotz offensichtlich besserem Wissen emotional auf gewisse Dinge reagiert und sie ablehnt – bspw. die Abscheu vor Schokolade in Form von Exkrementen oder 427

Ebd. Vgl. ROBINSON, Reason, 101–228. 429 Vgl. a.a.O., 108. 430 Wie oben bereits im naturwissenschaftlichen Kontext erläutert, s.o. Kap. 2.2.1. 431 ROBINSON, Reason, 144. 428

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vor Wasser, das mit der Aufschrift „Gift“ versehen ist.432 Genauso vermögen auch Geschichten ungeachtet ihrer Fiktionalität Emotionen zu wecken. Dies geschehe nun, wie Jenefer Robinson zeigt, in vielfacher Hinsicht: Zum einen arbeiteten viele Geschichten bewusst mit Leerstellen, die der Rezipient selbst aktiv anhand seiner Imaginationskraft schließen müsse.433 Dieses filling in the gaps sei jedoch keineswegs nur kognitiv zu denken, sondern schließe auch eine emotionale Füllung der Erzählung mit ein.434 Die literarische Beschreibung einer Situation reiche dabei aus, Emotionen zu wecken, anhand derer der Rezipient Informationen über Figuren erschließen könne, die gar nicht explizit genannt würden.435 Diese Emotionen stellen sich allein durch das Vor-Augen-Stellen, das Erfahrbar-Werden einer konkreten Situation ein, wodurch deren Wahrnehmung gleich einer realen Situation sowohl kognitiv als auch emotional abläuft. Dabei sei das „emotionale Gedächtnis“ des Menschen von gewichtiger Bedeutung, um Verbindungen zwischen den Emotionen im Text sowie eigenen Erfahrungen herzustellen.436 Diese Kopplung wiederum verhelfe zu einem besseren Erinnern der Geschichte; dieses Phänomen der Stimmungskongruenz wurde im vorigen Abschnitt bereits besprochen.437 Des Weiteren sei der Einsatz von Emotionen ein wichtiges literarisches Mittel, um Aufmerksamkeit zu lenken und zu fokussieren.438 Einmal geweckt, führten diese Emotionen dazu, die Wahrnehmung des Textes entsprechend ihrer Qualität umzugestalten.439 Emotionen sind dementsprechend ein wesentlicher Faktor bei der Erschließung sowohl des allgemeinen Gattungscharakters als auch des konkreten Inhalts einer Narration, wobei gleichzeitig wichtige von weniger wichtigen Inhalten zu unterschieden sind. Erst im Zuge dieser emotionalen Rezeptionsprozesse sowie der leiblich-emotionalen Reaktion des Rezipienten auf die Erzählung erschließe sich ihm, so Jenefer Robinson, deren volle Bedeutung.440 Sie spricht sich sogar dafür aus, dass der hermeneutische Prozess erst durch ein solches emotionales Verstehen vollständig werde: „To be told that Anna Karenina teaches us that betraying your husband can lead to misery is no substitute for reading the novel. One important reason why this is so is that it is only through an emotional experience of a novel that one can genuinely learn from it.“441

432

Vgl. a.a.O., 146. Vgl. a.a.O., 117–122. 434 Vgl. a.a.O., 120. 435 Vgl. a.a.O., 122. 436 Vgl. a.a.O., 130. 437 Wie oben bereits im naturwissenschaftlichen Kontext erläutert, s.o. Kap. 2.2.2. 438 Vgl. ROBINSON, Reason, 126. 439 Vgl. a.a.O., 128. 440 Vgl. a.a.O., 127. 441 A.a.O., 156 (Hervorhebung im Original). 433

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Auf diese Weise spielten narrativ vermittelte Emotionen eine gewichtige Rolle für eine „empfindsame Erziehung“442. Das Besondere an Literatur sei jedoch, dass der Autor den Rezipienten mit diesen Emotionen nicht allein lasse, sondern ihm durch die Form des Textes sogleich gewisse Strategien zum Umgang mit ihnen, so genannte coping mechanisms, an die Hand gebe:443 „To conclude: in all my main examples we have genuine emotional experiences of great literature, and we cope with whatever is unpleasant in these experiences using the same strategies as we do in life. The main difference between coping with life and with literature is that the author (or implied author) guides and helps us with our coping strategies by structuring the sequence of experiences – including the sequences of appraisals and reappraisals – that we make as we read.“444

4.3 Situation und Moral Eine Ethik, die als reflexive Durchdringung von Lebensweisen nach deren leitenden Normen fragt, muss berücksichtigen, wie konkretes Verhalten und Handeln in bestimmten Situationen zustande kommt. Wie Michael Roth in seinen Arbeiten darlegt, neige das ethische Urteil auf der Suche nach solchen Normen als Begründung moralischer Handlungsweisen aus der Distanz aber allzu häufig dazu, die Bedeutung der jeweiligen Situation zu vernachlässigen: Dabei seien es in der konkreten Entscheidungssituation viel weniger reflektiert-abstrakte Normen, die das Handeln begründen, als vielmehr die Situation selbst.445 Dadurch komme der tiefe Graben zwischen Normbezug und Selbstbezug zustande, wenn der Mensch zwar grundsätzlich mit einer bestimmten Norm übereinstimme, in einer gewissen Situation aber dennoch anders handle, weil diese es „irgendwie“ anders erfordere.446 Die Rechtfertigung sei also eine jeweils situative. Aufgrund dessen, so Michael Roth, müsse stets die narrative Verstrickung, das Eingebettetsein des Menschen in seine Geschichte berücksichtigt werden, um Handeln und Moral nachzuvollziehen.447 Denn: „Eine Ethik, die uns Normen als Handlungsgründe vorschreibt, würde uns abkoppeln von dem, worauf sich unsere Gründe tatsächlich beziehen: auf die Geschichten, in die wir verstrickt sind, auf Aspekte von Situationen, die uns bewegen. Wenn daher Handeln zu verstehen ist als Reaktion auf bestimmte Züge der Wirklichkeit und Menschen daher bei ihren Gründen einen Verweis auf die Situation liefern, dann kann die Aufgabe der Ethik in erster Linie nur darin bestehen, diesen narrativen Gründen nachzugehen.“448

442

Vgl. a.a.O., 154–194. Vgl. a.a.O., 197–226. 444 A.a.O., 228. 445 Vgl. ROTH, Moral. 446 Vgl. a.a.O., 195–198. 447 Vgl. a.a.O., 198–200. 448 Ders., Ethik, 131 f. 443

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Dies bedeutet in der Konsequenz, dass durch Geschichten, welche diese narrativ-situative Einbettung nachvollziehen, auch Moral als solche zugänglich und lehrbar gemacht werden könne.449 Indem er sich auf Johannes Fischers Ansatz einer situativen, auch die Emotionen beachtenden Ethik450 stützt, kritisiert Michael Roth eine rein deskriptive Ethik, die nicht alle Aspekte einer Situation berücksichtige. Eine solche Ganzheitlichkeit gehe in der Ethik um der Objektivität willen verloren, und v.a. Emotionen, die mit moralischen Situationen verbunden seien, würden außer Acht gelassen, wodurch eine solche Ethik keine zuverlässige Begründung von Handlungsweisen mehr sein könne: „Während die deskriptive Charakterisierung versucht, von unserem emotionalen Bewegtsein durch die Situation zu abstrahieren, bringt die narrative Vergegenwärtigung unser emotionales Bewegtsein durch die Situation zum Ausdruck. Die rein deskriptive Charakterisierung büßt, indem sie sich von unseren lebensweltlichen Erfahrungen ablöst und unserem emotionalen Betroffensein keinen Ausdruck verleiht, ihre normative Wirkung auf uns ein.“451

Eine narrative Ethik hingegen mache aufmerksam, „und zwar auf diejenigen Tatsachen einer Situation, die für unsere Emotionen und unsere Wertung relevant sind, weil es auf sie eben ankommt“452. Dadurch dass das, „worauf es wirklich ankommt“, ganzheitlich, d.h. nicht nur kognitiv, sondern auch emotional vermittelt werde, bedürfe eine narrativ vermittelte Ethik keiner expliziten Norm.453 Der moralische Wert werde vielmehr anschaulich nachvollzogen: „In der narrativen Vergegenwärtigung hingegen als einer emotional engagierten Darstellung einer Situation, in der Situationen und Handlungen in ihrer Erlebnisqualität vor Augen gestellt werden, wird zugleich die Richtigkeit des Handelns vor Augen gestellt.“454

Das Besondere aber an der emotionalen Erschließung einer moralischen Situation sei die empathische Wahrnehmung nicht nur der eigenen, sondern auch der anderen beteiligten Personen. Mit Philosophen wie David Hume, Arthur Schopenhauer und Max Scheler, welche die Moral vielmehr im Gefühl, dem moral sense als einer empathischen Intuition, verortet sehen, schließt auch Michael Roth, dass es letzten Endes nicht der Verstand sei, der Handlungsmotive liefere, sondern vielmehr das soziale Mitempfinden.455

449

Vgl. ders., Moral, 200. Vgl. diverse Arbeiten von Johannes Fischer (FISCHER, Ebenen; ders., Menschenwürde; ders., Grundlagen; ders., Sittlichkeit; ders., Dimension). 451 ROTH, Ethik, 133. 452 A.a.O., 135. 453 Vgl. a.a.O., 137–139. 454 A.a.O., 133 f. 455 Vgl. ders., Moral, 193 f. 450

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4.4 Narrative Ethik: narrative Mimesis moralischer Situationen Wie soeben gesehen, dienen Narrationen der moralischen Anleitung, indem sie eine Situation nachstellen und so die Distanz zwischen der eigenen Person und einem Gegenüber überbrücken. Sie mimen die Situation, in der jeder Mensch zum Entscheiden und Handeln aufgefordert ist. Diese kann in Narrationen ungefährlich verfolgt werden, indem sich der Rezipient in eine Figur hineinversetzen kann, das Geschehen mit ihr erlebt und fühlt. Kommt er nun je in eine ähnliche Situation, bildet diese narrative Erfahrung die Matrize, auf der er die neue, aber dennoch nicht mehr ganz fremde Situation emotional erschließen kann. Somit befähigt ihn die Narration dazu, moralisch zu handeln, indem sie eine Handlungsoption aufzeigt, die zur Vermeidung oder zur Nachahmung auffordert und bereits seine Ablehnung oder Zustimmung gefunden hat. 4.4.1 Die empathische Erschließung moralischer Situationen in Narrationen Indem Geschichten vom menschlichen Handeln erzählen, ist Ethik unumgänglich in fiktionalen Texten eingebunden, und unser ethisches Wissen wird ästhetisch vermittelt.456 Eine solche narrative Ethik zeichnet sich anhand ihres Mediums dadurch aus, dass sie, weder empirisch noch analytisch vorgehend, das rechte Handeln anhand rationaler Argumentation zu begründen sucht, sondern dieses vielmehr zeigt, d.h.: Ihre Ästhetik spricht den Rezipienten ganzheitlich an und stellt ihm unmittelbar vor Augen, was gut und schlecht ist, was getan und was nicht getan werden soll.457 Auch Hans Wulff konstatiert in seinen Arbeiten über Emotionen und Moral im Kino, dass Moral stark von ihrem Kontext abhänge und nur in ihrem narrativen Horizont nachvollzogen und generiert werden könne.458 Und auch für ihn ist die emotionale Rezeption von Narrationen zentrales Strukturmerkmal und Mehrwert dieser Gattung, erst die affektive Rezeption eines Textes vervollständige den hermeneutischen Prozess:459 „Denn die kognitiven Suchimpulse im Verlaufsprogramm der jeweiligen Emotion bedingen und steuern eine aktive kognitive Durchdringung eines bestimmten Aspekts der Handlung, die ohne eine Auslösung der betreffenden Emotion so nicht gewährleistet wären.“460

Der entscheidende Verbindungspunkt zwischen moralischer Situation und moralischem Handeln sei nun die emotionale Anteilnahme, die Empathie, welche in der jeweiligen Situation die Perspektive des Anderen einnehme und so emotional zu moralischem Handeln motiviere: 456

Vgl. MCGINN, Ethics, 175. Vgl. ZIMMERMANN, Parables, 181 f. 458 Vgl. WULFF, Moral, 391. 459 FEHLBERG, Gefühle, 265 f. 460 MELLMANN, Emotionalisierung, 155. 457

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„Offensichtlich spielen hier die Identifikationsprozesse eine Rolle, die nachweislich im Leseprozess stattfinden: Viele Leser erleben die im Text geschilderten Emotionen der Protagonisten und haben aktiv an ihren Gefühlen teil, oft identifizieren sie sich während der Lektüre mit den einzelnen Personen“461.

Auch Paul Ricœur analysiert diesen Zusammenhang in seiner Untersuchung der Poetik des Aristoteles und kommt zu dem Schluss, dass „die Tatsache, dass der Begriff praxis zugleich dem Bereich der Wirklichkeit, den die Ethik behandelt, und dem Bereich des Imaginären, den die Poetik behandelt, zugehört, [daraufhin deutet], dass die mimesis nicht nur eine Bruch-, sondern auch eine Verbindungsfunktion hat, die eben den Stellenwert der ‚metaphorischen‘ Umsetzung des praktischen Bereiches durch den mythos bestimmt“462.

Diese emotional-empathische Leistung des Lesers/Hörers bei der Rezeption sei der Grund, warum Erzählungen und Filme zur moralischen Erziehung dienten: „Je stärker ausgeprägt das moralische Bewusstsein oder das Unrechtsbewusstsein ist, desto mehr steigt die Bereitschaft, intensiv an derartigen Konflikten symbolisch teilzunehmen und dabei die Perspektive der Opfer einzunehmen. Das würde dafür sprechen, dass die empathische Teilhabe Teil einer Technik ist, sich der eigenen moralischen Urteilskompetenz zu versichern“463.

Demgemäß bestehe ein reziprokes Wechselverhältnis zwischen Moral und emotionaler Rezeption: Der Rezipient gehe mit einem bestimmten Moralverständnis an die Geschichte heran und werde wiederum durch die moralische Pragmatik der Narration beeinflusst. Auf diese Weise kommt es zu der von Michael Roth bereits postulierten moralischen Unterweisung durch Narrationen. Dementsprechend folgert Hans Wulff: „Einer der bedeutendsten narrativen Disziplinen ist die Ethik. Die Ethik lebt von Geschichten, in denen wertorientiertes Handeln als Handeln in einem Problem- und Konfliktfeld vorgeführt wird. Geschichten illustrieren und exemplifizieren das abstrakte Problem, indem sie abstrakte Wertdiskurse mit den konkreten Horizonten der Handlung vermitteln.“464

Letztlich lässt sich hier der Bogen wieder zurück zu den antiken Texten schlagen: Schon Aristoteles stellt in seiner Theorie über die Tragödie fest, dass sie mithilfe der beiden Emotionen Mitleid und Furcht operiere und dass Narrationen emotional Bewegendes ins Intelligible aufnähmen (Aristot., poet. 1449b). Auf diese Weise verbinde der Affekt (πάθος) den logischen Sachverhalt mit der Gefühlswelt des praktischen Lebens und schließe diese von der Ethik meist in Gegensatz gebrachten Termini der Kognition und der Emo461

SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 131. RICŒUR, Zeit I, 78 (Hervorhebungen im Original). 463 RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung (Hervorhebung im Original). 464 WULFF, Moral, 377. 462

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tion zusammen. Darüber hinaus wird der Umstand, dass Geschichten ein wesentliches Medium der ethischen Vermittlung darstellen, auch durch die Praxis der römischen Ethik belegt: „Traditional Roman ethics were largely situational, as they drew from practical examples (exempla) rather than theoretical or technical lessons (praecepta)“465 (Quint., inst. XII,2,29 f.).466 4.4.2 Stärken einer narrativ-emotiven Ethik Eine narrative Vermittlung von Moral und Ethik verfügt über verschiedene persuasive Stärken. Hierzu wird auf einige der bereits im Abschnitt über die Auswirkungen von Emotionen auf das menschliche Denken und Handeln dargelegten Gesichtspunkte rekurriert.467 Zunächst sind Emotionen wichtige Konstituenten des Erkenntnisprozesses. Ihre hermeneutische Unterstützungsfunktion bezeichnet Christoph Ammann als „ein Realisieren durch Fühlen“468. Damit dienen Emotionen jedoch nicht nur der Erkenntnis, sondern verleihen diesem neu gewonnenen Wissen auch Bedeutung: „Emotionen sind engagierte Weisen des Wahrnehmens, und als solche sind sie das naheliegende Heilmittel gegen Desengagement und Entfremdung. Anders formuliert: Wenn das Wissen um das Ethische eine zu unpersönliche oder objektivierte Form angenommen hat, dann ist das Wecken bestimmter emotionaler Reaktionen der Königsweg zu einem subjektiveren oder persönlicheren, von Sorge durchdrungenen Wissen.“469

Diese persönliche Bedeutung ist für die Umsetzung ethischer Forderungen im eigenen Leben zentral. Auf diese Weise verstärkt und versichert die Beteiligung von Emotionen am moralischen Lernprozess dessen handlungspragmatische Wirksamkeit entscheidend. Sodann muss eine Geschichte den vermittelten Moralsatz nicht explizit am Ende setzen, um ihn zu vermitteln. Tatsächlich durchbreche dies nur den Illusionsvorgang der Erzählung und vermittelte dem Rezipienten ein bevormundendes Gefühl einer Moralpredigt, während das eigene Eruieren der Moral der Erzählung durch den Rezipienten aufgrund der Eigenleistung wirksamer ist.470 Narrative Ethik zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie Moral implizit darstellen kann: Menschliche Lebens- und Handlungsweisen werden 465

KNIGHT, Anger, 185 (Hervorhebungen im Original). Auch Parabeln dienen als solche Beispiele guten Handelns, als Wertmaßstäbe oder konkrete Mimesismodelle und liegen damit „ganz auf der Linie des Parabel-Verständnisses innerhalb antiker Rhetorik, da dort die unter dem Label παραβολή zusammengefassten Texte als Teilbereich der ‚Beispiele‘ (παραδείγµατα) erscheinen“ (ZIMMERMANN, Ethico-Ästhetik, 246). 467 S.o. Kap. 2.3. 468 AMMANN, Rolle, 142 (Hervorhebung im Original). 469 A.a.O., 141 f. (Hervorhebung im Original). 470 Vgl. WULFF, Moral, 387 f. 466

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

in Narrationen reflektiert und dargestellt, jedoch nicht in der theoretischwissenschaftlichen Sprachform argumentativer Ethiktheorien, sondern auf narrativ-mimetische Weise. Mit Ruben Zimmermann kann gesagt werden: Narrationen „erfüllen nicht nur eine ethische Funktion, sondern sie sind selbst ethische Texte“471 . Unmittelbar mit dieser impliziten, ethischen Argumentation verbunden ist die einer Narration eignende besondere Überzeugungskraft, denn „narrative is a particular form of verbal persuasion. […] A key corollary is that narratives can be persuasively productive by invoking emotional reactions in their audience.“472 Auf diese Weise erfolgt der Persuasionsprozess bei Erzählungen weniger von außen als vielmehr von innen: Ein moralischer Sachverhalt wird in seiner situativen Ganzheitlichkeit statt lediglich in Form eines Normanspruchs erschlossen. Dabei wirkt insbesondere die emotive Funktion überzeugend: „Empathie und Identifikation gelten als Garant für wirkungsvolle Persuasion.“473 Weil der Rezipient nicht nur mit-denkt, sondern auch mitfühlt, wird er gewissermaßen ganz von sich selbst, seinem inneren Erleben und Fühlen, überzeugt statt nur mittels von außen kommender, rationaler Argumente.474 Die Eigenleistung des Rezipienten im Erschließen der Moral von der Geschichte ist damit höher als bei der Rezeption eines expliziten Geoder Verbots. Denn zum einen wird Gegenwehr aufgrund von Moralismus verhindert: „Die Indirektheit des Vorgehens hindert die Verwechslung des ethischen Anspruchs mit einer Forderung, die ein Mensch […] an einen anderen […] stellt. Man kann dies als eine nicht-moralistische Kommunikationsform des ethischen Anspruchs bezeichnen.“475 Zum anderen hemmt enthymematische oder emotive Rhetorik etwaige Gegenargumentation des Hörers, indem dieser in den Argumentationsgang hineingenommen, zu aktiver Teilhabe aufgefordert und so seine Sympathie und Zustimmung gewonnen wird.476 Im kreativen Nachvollzug einer Erzählung, mit anderen Worten durch das gefesselt Werden von einer Geschichte sinkt die Wahrscheinlichkeit, diesen Prozess durch rationale Überlegungen und Gegenargumente zu unterbrechen.477 Narrationen verfügen demnach über ein wertvolles Potential „for suspending processes of rationalization and counterargument by placing audiences ‚in‘ the content that they advance“478. Über die erhöhte Überzeugungskraft der narrativen Ethik hinaus ist diese auch insofern ein wichtiges Instrument zur Steigerung der ethischen Hand471

ZIMMERMANN, Ethico-Ästhetik, 244. DINKLER, Reflexivity, 272 (Hervorhebungen im Original). 473 SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 225. 474 Vgl. AMMANN, Rolle, 154. 475 A.a.O., 153 (Hervorhebung im Original). 476 Vgl. WALKER, Rhetoric, 313 f., und SELBY, Wisdom, 128–139. 477 Vgl. a.a.O., 129–132. 478 A.a.O., 133. 472

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lungspragmatik. Es sei hier an die gesteigerte Erinnerungskraft von Erzählungen, Geschichten und Imaginationen, die emotional markiert sind, erinnert: Eine Ethik, die durch Narrationen vermittelt wird, profitiert unmittelbar von der Emotion als Faktor der Erinnerungsfestigung, wodurch sich die Chance erhöht, dass solche zu festen Bestandteilen des Lebens werden und handlungspragmatische Auswirkungen auf die eigene Lebensführung haben. Obgleich die meisten Rezeptionsemotionen lediglich während des Rezeptionsprozesses ablaufen und damit von relativ kurzer Dauer sind, ist es auch möglich, dass Geschichten so starke emotionale Reaktionen hervorrufen, dass diese langfristiger wirken oder, dass ein wiederholtes Bezugnehmen auf dieselbe Geschichte ihre emotionalen Reaktionen stabilisiert: „Die kontinuierliche Rezeption von emotionalisierenden Texten zu einem bestimmten Referenzbereich oder Thema kann […] dazu führen, dass sich beim Leser eine stabile emotionale Grundhaltung im Sinne einer allgemeinen Einstellung etabliert“479.

Darin besteht der Mehrwert narrativer Ethik, welche nicht lediglich das Gedächtnis des deklarativen Wissens aktiviert, sondern dieses mittels verknüpfter Emotionen beständiger und langfristig wirksam macht. Des Weiteren profitiert die Ethik von der „emotional potenzierten Erinnerung“, denn jedes Mal, wenn eine Erinnerung abgerufen wird, indem bspw. eine Geschichte noch einmal erzählt oder auch nur erwähnt wird, verstärkt sich die Erinnerung durch die neue emotionale Verknüpfung: „Erinnerung, so könnte man vor diesem Hintergrund formulieren, ist immer das Geschehnis plus die Erinnerungen an seine Erinnerung. Das gilt allerdings wiederum nur für die selbstbezogenen, das heißt die emotional bewerteten Erinnerungen. Demgegenüber finden etwa bei kognitiven Aufrufen von Wissensinhalten keine solchen Kumulierungen statt.“480

Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass Emotionen ein soziales Geschehen sind: Sie dienen dazu, eine Gruppe zu verbinden.481 Dies gilt nicht nur für den privaten, religiösen oder politischen Bereich, sondern selbstverständlich auch für die moralische Wertegemeinschaft. Auf diese Weise vermögen Narrationen es, bestimmten sozialen Gruppen zu einer kollektiven Identität zu verhelfen. Diese ist gerade im Hinblick auf das frühe Christentum von Bedeutung, das mit der „Geschichte Jesu von Nazareth“ eine gemeinsame Identität aufbaute und sich mittels gemeinsamer Narrationen verständigte. Die Evangelien versuchen, gerade solche Gemeinschaftsnarrationen zu schaffen, und stärken somit den Zusammenhalt, der wiederum neurowissenschaftlich belegt werden kann: „Der soziale Verfertigungsprozess von Vergangenheit bewegt sich in drei Zeitgestalten – in der Vergangenheit, über die erzählt wird, in der Gegenwart, in der die Wir-Gruppe ihre 479

SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 230. WELZER, Gedächtnis, 149. 481 Vgl. dazu CHANIOTIS, Community. 480

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Vergangenheit begeht, und in der Zukunft, auf die die Kohärenz der Gruppe gerichtet ist: So wird sie auch über diese Situationen hinweg bestehen, oder andersherum, sie wird in Zukunft so sein, weil sie jetzt so ist und immer schon so war.“482

In diesem Zusammenhang betont Harald Welzer die Wichtigkeit der gemeinsamen emotionalen Erinnerung – sowohl an bestimmte reale Ereignisse, als auch an gemeinsame Geschichten oder aber Mythen, von denen nicht mehr klar ist, wie viel Historie und wie viel Fiktion ist: „Eine Eigenschaft des individuellen Gedächtnisses wäre vor diesem Hintergrund, dass jede Vergangenheit, die in den generationellen Kommunikationszusammenhang der eigenen Familie hineinragt, von ‚sozialen Markern‘ indexiert ist – das heißt, neben dem Schulwissen und den Informationen aus den Medien existiert ein Bild von der Vergangenheit, das aus der direkten, persönlichen Kommunikation resultiert, und dieses Bild ist vor dem Hintergrund seiner sozialen Entstehungsgeschichte ein emotionales Bild, nicht Wissen, sondern Gewissheit.“483

Für das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft sind Emotionen unentbehrlich.484 Dabei ist der Wunsch nach Kontinuität sowohl individuell als auch kollektiv, denn „ohne Kontinuität der Identität ihrer Mitglieder könnten eine soziale Gruppe und eine Gesellschaft nicht funktionieren, weil Kooperation – die zentrale Kategorie menschlichen Daseins – nur dann gewährleistet ist, wenn Menschen verlässlich heute dieselben sind, die sie gestern waren und morgen noch sein werden.“485

Die in Narrationen vermittelten Emotionen spielen demnach sowohl zur Festigung der individuellen als auch der sozial-kollektiven Identität eine essentielle Rolle, indem sie die Wertegemeinschaft konstituieren und den eigenen Platz darin festigen. 4.5 Parabeln: emotive, metaphorische und ethische Narrationen Freilich können in diesem Sinne alle erzählenden Texte auf ihre implizite, narrativ-emotive Ethik hin untersucht werden. Diese Arbeit jedoch betrachtet ganz konkret die von Jesus im Mt-Ev erzählten Parabeln. Diese besondere Textgattung eignet sich aus verschiedenen Gründen besonders gut als exemplarische Grundlage für die Textanalysen (Kapitel 5). Wie schon Matthew Elliott in seiner umfassenden Studie über Emotionen im Mt-Ev feststellte, verdienen die Parabeln Jesu eine ganz besondere Aufmerksamkeit:

482

WELZER, Gedächtnis, 233. A.a.O., 171 f. 484 Zur näheren Ausführung der Forschungen zum kollektiven Gedächtniss vgl. BESIER, Menschen, 224–238. 485 WELZER, Gedächtnis, 119. 483

4. Emotionen und narrative Ethik

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„The fact that emotion plays a prominent role in so many of Jesusʼ stories shows us something about the teacher. Jesus was concerned with how people felt. He was able to respond to both morally upright emotions and people’s unrighteous emotions by telling parables that condemned the bad and reinforced the good.“486

Philipp Stoellger nennt christliche Parabeln wie die vom barmherzigen Samariter theologische „Urszenen“ oder „Urimpressionen“, die durch ihre „Pathosperformanz“, d.h. das vor Augen Stellen emotionalisierender Bilder, berührten und bewegten und somit der moralisch-ethischen Unterweisung dienten.487 „Die Evangelien ‚inszenieren‘ und führen vor Augen, was sie bewegt – und zwar um ihre Leser ebenso zu bewegen, sei es um Glauben zu wecken, sei es um das Ethos zu bilden. So erzählen sie auch von Jesu eigenen Leidenschaften.“488

Parabeln konstituieren Moral und Ethik narrativ, metaphorisch sowie emotiv: „[T]he ethics of the parables is narrative-metaphorical, holistic and passionate.“489 Es ist die narrative und bildliche Kraft der parabolischen Erzählungen, welche sie real erfahrbar macht, nicht zuletzt in ihrer emotionalen Vielfalt. Durch ihren metaphorischen Charakter drängt die Parabel zu einer Deutung, zur Übertragung auf das eigene Leben und zur handlungspragmatischen Applikation, wozu Emotionen maßgeblich beitragen. Diese emotional ansprechende, narrative und metaphorische Bildlichkeit sei, so Philipp Stoellger, das Besondere an Jesu „neuem Gesetz“: „Nicht ein neues Gesetz oder eine neue Begründung, nicht einen ethischen Logos oder einen Logos der Ethik, sondern prägnante Szenen, in denen sich das christliche Ethos zeigt.“490 Parabeln seien somit „ein Logos mit Pathos – mit Effekt aufs Ethos.“491 Parabeln können demnach ebenso wie ein Gesetz oder ein Gebot Normen und Werte vermitteln, sie nutzen dazu lediglich eine andere Sprachform, die weniger direktiv, doch deshalb nicht weniger ethisch anspruchsvoll ist. Ruben Zimmermann formuliert es so: „Die Ethik der Parabeln geht eigene Begründungswege. Sie folgt weniger den Gesetzen der Vernunft und Logik als der Poesie und Ästhetik. Die Ethik der Parabeln ist hierbei narrativ-metaphorische, ganzheitliche, parteiliche und leidenschaftliche Ethik, sie ist EthicoÄsthetik.“492

Auch hier sei der entscheidende Akt das empathische Sich-Hineinversetzen in die Geschichte, das eine Umdeutung des bisherigen Wertesystems ermögli486

ELLIOTT, Feelings, 250. Vgl. STOELLGER, Performanz, 292. 488 A.a.O., 297 (Hervorhebungen im Original). 489 ZIMMERMANN, Parables, 182. 490 STOELLGER, Performanz, 294 (Hervorhebungen im Original). 491 A.a.O., 300 (Hervorhebungen im Original). 492 ZIMMERMANN, Ethico-Ästhetik, 265. 487

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

che.493 Dabei werde die „geleistete Handlungsreflexion nicht rational enggeführt, sondern bezieht die Komplexität und Dynamik des realen Lebens mit ein“494. Auch Kurt Erlemann sieht diese ganzheitliche Multifunktionalität der Gleichnisse, welche „auf ein Neuverstehen der Wirklichkeit (kognitiv), auf eine veränderte emotionale Einstellung (affektiv) und auf ein bestimmtes ethisches Verhalten (praktisch)“ abziele.495 Dafür verfügt auch die Parabel über zahlreiche Erzählstrategien und Stärken, wie sie teilweise oben bereits angesprochen wurden: Die knappe Erzählweise der Parabeln, die bewusste Offenheit erkennen lässt, ist dabei eine dieser klugen Erzählstrategien. Auf diese wichtige Funktion der Offenheit weist auch Melanie Peetz in ihrer Analyse der Emotionen im Hohelied hin: Ein „Mix aus Leserlenkung und Offenheit des Textes ist für die Entstehung eines literarischen Imaginationsprozesses entscheidend“496. Diese Offenheit macht eine aktive Mitwirkung des Rezipienten am Erzählten nötig, bezieht ihn so ganzheitlich in die Erzählung mit ein und weckt damit auch emotionale Reaktionen.497 Auch die parabolische Narration zielt durch ihre metaphorische Funktion auf den jeweils einzelnen Rezipienten und wird nicht um ihrer selbst willen erzählt: Eine ethische Implikation der Erzählung kommt nur dann beim Leser oder Hörer zum Tragen, wenn der sich voll und ganz in die Geschichte hineinversetzt und kreativ an ihr teilnehmend mögliche Lücken in der Erzählung füllt. Diese bewusste „Leerstellen-Taktik“ der Parabeln lässt sich anhand der gattungsspezifischen brevitas, der stereotypen und meist sehr flachen Charakterzeichnungen und wenig ausführlich geschilderten settings untermauern. Der Rezipient wird mit seiner je eigenen Vorstellungskraft angesprochen und geschätzt. Es wird darauf vertraut, dass er Leerstellen eigenständig ergänzt, und genau hierdurch avanciert er selbst zum Akteur der Erzählung, nimmt an ihr tatsächlich und aktiv teil, wodurch er viel eher gewillt ist, die Moral von der Geschichte zu erkennen, zu akzeptieren und für sich selbst zu übernehmen. Diese situative Mimesis einer Parabel sowie ihr metaphorischer Charakter sprechen den Rezipienten – trotz oder gerade durch ihre implizite Ethikvermittlung – direkt und unmittelbar an, indem sie auf vielfältige Weise Distanzen zwischen fiktiver und realer Welt überbrücken. Narrationen dienen zum einen als Vermittlungsinstanz zwischen der 1. Pers. Sg./Pl. und der 3. Pers. Sg./Pl., d.h. zwischen Rezipient und Figur. Der Rezipient kann sich in Geschichten wiedererkennen, ohne selbst direkt angesprochen oder gemeint zu sein. Gary Selby drückt diese implizite Vermittlung wie folgt aus: „[R]ather 493

A.a.O., 259 f. A.a.O., 263. 495 ERLEMANN/NICKEL-BACON/LOOSE, Gleichnisse, 31. 496 PEETZ, Emotionen, 439. 497 Vgl. a.a.O., 438 f. 494

4. Emotionen und narrative Ethik

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than giving instruction about some emotion or state of awareness, stories have the power to place listeners in an imaginative state in which they possess that awareness or mood in their actual consciousness“498. Der Rezipient ist durch das Hören einer Erzählung dazu in der Lage, sich mit Situationen und Begebenheiten auseinanderzusetzen, die er selbst (noch) nicht erlebt hat, nie erleben wird oder – und das gilt ganz besonders – nicht erleben möchte. Auf eine beängstigende, schreckliche oder grausame Angelegenheit lässt man sich leichter ein, wenn sie zunächst eine fremde Person betrifft. Im Laufe der Geschichte oder nach ihr ist der Rezipient besten Falls dazu in der Lage, die Begebenheit auf sich zu übertragen, sich an die Stelle der fiktiven Figuren zu setzen und sich auf diese Weise mit der Sache auseinanderzusetzen und sie für sich zu lösen, zu bewältigen etc. Durch diese Überlegung lässt sich der Vermittlungsprozess einer Erzählung weiter zuspitzen: nämlich auf gezielt emotionale Vermittlung. Ein Ereignis, das dem Rezipienten noch nicht zugestoßen ist, löst in ihm nur geringe, wenn nicht sogar überhaupt keine Emotionen aus. Geschichten sind dazu in der Lage, entsprechende Emotionen dennoch auszulösen, weil sie empathisch wirksam werden: Durch das Hineinversetzen in eine Figur, kann der Leser oder Hörer einer Geschichte deren Emotionen nachempfinden. Parabeln, die religiöse Erfahrung vermitteln, arbeiten hierbei ganz entschieden mit der Weckung bestimmter Emotionen und Stimmungen, und der Erfolg dieser Gattung liegt nicht zuletzt maßgeblich darin, dass sie den Rezipienten emotional anspricht und transformiert.499 Oder in Gary Selbys Worten, der sich hier auf die Arbeit von William Kirkwood bezieht: „[P]arables represented one important rhetorical form with the power to bring about either a kind of self-confrontation that would give rise to new states of self-awareness, or a momentary glimpse of a mood or trait valued in the spiritual tradition.“500 Die zweite Überbrückung von Distanz betrifft die zeitliche Dimension. Geschichten können ein Ereignis, das erst in weiter Zukunft geschehen wird, vergegenwärtigen. Genauso kann es eine längst vergangene Begebenheit wiederaufleben lassen. Narrationen vergegenwärtigen, sie holen ein Geschehen in die Gegenwart des Lesers oder Hörers.501 Die Überbrückung der emotionalen sowie der zeitlichen Distanz durch Erzählungen wirken in besonderem Maße zusammen. Denn es gilt: Je geringer die zeitliche Distanz zu einem Ereignis, desto stärker die damit verknüpfte Emotion. Dadurch wirkt sich die Vergegenwärtigung eines noch zukünftigen 498

SELBY, Wisdom, 14 (Hervorhebung im Original). Vgl. a.a.O., 132 f. 500 A.a.O., 133. 501 Freilich sind noch andere Aspekte der Vermittlungstätigkeit von Narrationen wie bspw. die Überbrückung räumlicher Distanz denkbar. Für die hier zu führende Begründung sind jedoch die emotionale und zeitliche Distanzüberwindung von entscheidender Bedeutung. 499

142

Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

Geschehens durch eine Erzählung so aus, dass der Rezipient in die Lage versetzt wird, sich stärker emotional mit dieser Zukunft ins Benehmen zu setzen. Mithilfe von Parabeln, die ein bestimmtes Geschehen – wie das zukünftige Endgericht – auf einen alltäglichen Sachverhalt metaphorisch übertragen, kann so die zeitliche Distanz zu diesem Geschehen überbrückt werden. Der Fokus der mt Parabeln auf das Endgericht sticht durch das ganze Evangelium hindurch heraus. Gerade Mt scheint ein großes Interesse daran zu haben, künftige Ereignisse in die Gegenwart seiner Rezipienten zu holen.502 Eine rein logisch-rationale Argumentation würde allerdings kaum ausreichen, um den entscheidenden Vergegenwärtigungsprozess vollständig zu leisten. Diese findet sich im Mt-Ev freilich auch: Mt 24,1–31.34–39.42.44 sind die nichtnarrativen, deliberativen Teile Jesu großer Rede über die Endzeit. Die zeitliche sowie emotionale Distanzüberbrückung leistet der ungleich größere parabolische Anteil der Rede (Mt 24,32 f.40 f.43.45–51; 25,1–46) sowie die immer wieder an verschiedenen Stellen des Evangeliums eingestreuten Parabeln mit mehr oder minder stark anklingender Gerichtsthematik (Mt 7,24–29; 13,24–52; 18,23–35; 22,1–14). Indem der Rezipient sich emotional zu dem Geschehen der Parabel verhält und es dann auf seinen eigentlichen Zielpunkt überträgt, transferiert er auch seine Emotionen auf diesen Zielpunkt, entsprechende „Zukunftsemotionen“ werden wach und verleihen dem Geschehen mehr Bedeutung. 4.6 Ergebnisse Dieser Abschnitt untermauert die Bedeutung der Emotionen für die Ethik mit einem weiteren Argument, welches sich in der besonderen Struktur einer narrativ vermittelten Ethik findet. Ihr Mehrwert liegt insbesondere in der ganzheitlichen Erfahrung einer moralischen Situation und d.h. wiederum auch ihrer emotionalen Erschließung. Emotionen werden in (Erzähl-)Texten bewusst eingesetzt, bereichern den hermeneutischen Prozess der Textrezeption und unterstützen die Vermittlung moralisch-ethischer Inhalte maßgeblich. Narrationen vermögen auf verschiedene Weisen, Emotionen zu wecken. Diese emotionale Rezeption einer Erzählung stellt insofern einen besonderen Mehrwert der narrativen Gattung dar, weil dadurch der hermeneutische Prozess nicht nur kognitiv, sondern auch durch Beteiligung der Emotionen gesteuert wird. Dies kann für das Lernen und die Erziehung eine ganz beträchtliche Rolle spielen.

502

Damit soll hier in keiner Weise suggeriert werden, dass eine solche Intention bei den beiden anderen Synoptikern, bei Johannes, Paulus oder den übrigen Autoren der NTSchriften fehlt. Das Mt-Ev eignet sich aber gut als erster Ausgangspunkt für eine gezielte Untersuchung von Parabeln auf ihre emotiv-ethische Pragmatik. Grundsätzlich ist eine solche Analyse für alle narrativen Texte des NT gewinnbringend.

4. Emotionen und narrative Ethik

143

Diese Erkenntnis lässt sich sodann auf den moralisch-ethischen Lernprozess zuspitzen: Das Proprium einer narrativen Vermittlung von Ethik liegt in ihrer situativen Begründung. Damit trägt sie dem Umstand Rechnung, dass Menschen ihre Handlungen allzu häufig nicht anhand reflektierter, übergeordneter Normen begründen, sondern in Bezug auf die jeweilige Situation. Diese Situation aber wird nicht rein kognitiv-rational, sondern auch emotional erschlossen. Bei dieser emotionalen Erschließung ist die Empathie von weitreichender Bedeutung, welche durch die mit-fühlende Ausrichtung auf das Gegenüber wiederum moralische Handlungsmotive liefern kann. Eine genauere Betrachtung dieses Aspekts der Empathie in Narrationen macht wiederum deutlich, dass dem empathischen Prozess, d.h. der emotionalen Anteilnahme an Figuren, bei der Rezeption von Erzählungen eine gewichtige Funktion zukommt. Sie hilft maßgeblich dabei, die moralisch-ethischen Werte der Geschichte zu durchdringen, indem die erzählte Situation mit der ganzen Bandbreite der menschlichen Wahrnehmung, gleichsam real und authentisch, erfahren wird. Dadurch können moralische Bewertungs- und Lernprozesse ausgelöst werden. Eine narrative Vermittlung von Ethik weist folgende Stärken auf, die für eine besondere Berücksichtigung der Emotionen in Textanalysen sprechen: Zum einen vermögen Narrationen nicht nur, Kognition und Emotion fruchtbar zu verbinden, sondern auch eine etwaige Kluft zwischen Wissen und Applikation zu schließen. Durch den starken Handlungsimpuls von Emotionen, wird der ethische Inhalt einer Erzählung nicht nur erkannt, sondern auch wahrscheinlicher praktisch umgesetzt. Zum anderen machen Narrationen eine explizite Forderung der vermittelten Normen und/oder Werte zumeist unnötig. Dadurch und durch die emotionale Überzeugungskraft von Erzählungen erschließt der Rezipient die Moral von der Geschichte selbst, d.h. aus sich heraus, was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines Widerspruchs verringert. Des Weiteren werden emotionalisierende Geschichten besser erinnert, sowie bei Weiderholung noch „emotional potenziert“. Dadurch tragen Emotionen zur Handlungspragmatik der Erzählungen bei, indem praktische Auswirkungen des Erzählten auf die eigene Lebensführung durch die bessere Erinnerungsfähigkeit wahrscheinlicher werden. Sodann ist die identitäts- und gemeinschaftsstärkende Wirkung von Narrationen zu nennen. Sie vermögen eine Sozialethik zu vermitteln, welche die Mitglieder der Gemeinschaft auf ganzheitliche Weise verbindet und über einen bloß gemeinsamen Rechtskanon hinausgeht. Eine letzte Zuspitzung der Betrachtungen im Hinblick auf die neutestamentlichen Parabeln Jesu zeigt, dass Parabeln ganz besondere ethische Narrationen darstellen. Durch ihre Narrativität und Metaphorizität vermitteln sie starke moralisch-ethische Impulse, welche maßgeblich durch die situativganzheitliche – und das heißt eben auch emotionale – Erschließung des Erzählten wirksam werden. Es fällt freilich auch auf, dass der Rezipient hierzu

144

Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

selbst sehr aktiv werden muss: Er muss sich auf die Erzählung einlassen, sich in die erzählten Situationen hineinversetzen, eine empathische Beziehung zu den Figuren eingehen, die metaphorischen Ebenen des Erzählten entschlüsseln, die implizite Moral von der Geschichte erschließen, sie ihrem appellativen Charakter gemäß auf sein eigenes Leben übertragen und – last but not least – selbst anwenden. Dieser aktiv-kreative Rezeptionsaspekt der narrativen Gattung verleiht ihr größere Wirksamkeit und stellt damit ihren besonderen Mehrwert dar, birgt aber auch eine enorme Freiheit der Auslegung: Obgleich eine starke Leserlenkung bestimmte Perspektiven nahelegen oder auch erschweren kann, liegt es letztendlich dennoch beim Rezipienten, in welche Figur er sich emotional hineinversetzt, wie er das Handeln der Figuren beurteilt, wie er die Erzählung deutet und für sich selbst nutzbar macht. Diese Herausforderung der Parabeln formuliert John Crossan wie folgt: „The parables of Jesus […] challenge us to act and live from the gift which is experienced therein. But we do not want parables. We want precepts and we want programs. […] We want them [the parables] to tell us exactly what to do and they refuse to answer. They make us face the problem of the grounding of ethics and we want only to discuss the logic of ethics.“503

Diese Herausforderung soll hier jedoch nicht als Schwachstelle, sondern vielmehr als die gattungsspezifische Stärke der parabolischen Erzählungen angesehen werden. In dieser interpretativen Offenheit begründet sich nicht zuletzt eine bleibende Applizierbarkeit der jesuanischen Parabeln auch noch in heutiger Zeit. In diesem Sinne lässt sich mit der Beobachtung Ruben Zimmermanns schließen: „Die Ethik der Parabeln ist nicht eingleisig, statisch, sondern bleibt mehrdimensional und dynamisch. Statt zwingender Imperative wird ein Handlungsspielraum eröffnet, der aus dem Verstehensspielraum erwächst.“504

Dieser hermeneutische Spielraum resultiert aus der ganzheitlichen, d.h. sowohl rationalen als auch emotionalen Perspektive auf eine (moralische) Situation.

5. Resümee: Notwendigkeit einer gezielt emotiven Textanalyse 5. Resümee

Dieses Kapitel bietet eine viergliedrige Begründung für die Voraussetzung dieser Studie. Sie lautet: Bei der Analyse der narrativen Ethik von Erzähltexten bedarf es einer gesonderten Methode zur gezielten Untersuchung emotiver Prozesse im Rezeptionsvorgang. 503 504

CROSSAN, Parables, 82. ZIMMERMANN, Ethico-Ästhetik, 251.

5. Resümee

145

Erstens belegt ein Blick in antike Texte ein durchweg deutliches Bewusstsein hinsichtlich der ethischen Relevanz von Emotionen. Eine solche Betrachtung antiker Texte sowie von Emotionsdarstellungen in AT und NT dienen als sinnvolle Grundlage, um den hier im Zentrum stehenden Text, das Mt-Ev, innerhalb seines kulturellen Kontextes einordnen und beurteilen zu können. Eine solche Einordnung wird zwar erst für die konkrete Analyse des Evangeliums (Kapitel 4 und 5) bedeutsam; die Betrachtungen erbringen jedoch insofern bereits im Horizont dieses Kapitels großen Gewinn, als sie darlegen, dass Emotionen in der Antike als höchst handlungsrelevante, demnach auch für die Ethik wichtige Aspekte der Anthropologie begegnen. Im Hinblick auf die griechisch-römische Philosophie ist stets zu beachten, dass die antiken Ethiken nicht grundsätzlich situativ-konkrete Lebensanweisungen zu geben suchen, sondern der besten Art des Seins und des Charakters auf den Grund gehen wollen: „Ethical theory was the philosophical study of the best way to be, rather than any principles for what to do in particular circumstances or in relation to recurrent temptations, or the correct philosophical basis for deriving or validating any such rules.“505

Daher erklärt sich auch, dass ein stark emotional geprägter Charakter, der sich zu sehr von Gefühlen und Stimmungen leiten lässt, skeptisch betrachtet wird. Die beste Art des Seins zeichne sich vielmehr durch vernünftiges, reflektiertes Denken und ein dadurch maximal autonomes Handeln aus. Emotionen spielten im Leben durchaus eine Rolle, doch seien sie nur so lange schätzenswert, solange sie nicht handlungsrelevant würden oder das vernünftige Sein gefährdeten. Insofern lässt sich am Ende dieses Kapitels mit den treffenden Worten Anke Inselmanns zusammenfassen, dass bereits in der Antike der Zusammenhang zwischen Emotionen und Sein und damit die ethische Relevanz Ersterer deutlich gesehen und behandelt wird: „Die antiken Affekttheorien sind als Moralpsychologie zu verstehen. Die psychologische Reflexion dient in diesem Sinn vor allem der Verwirklichung eines ethischen Ideals, der inneren tugendhaften Vervollkommnung.“506 Für Verständnisse von Emotionen in außerkanonisch-frühjüdischen sowie biblischen Texten ist zu beachten, dass diese meist implizit in Texten enthalten und interpretierend herausgearbeitet werden müssen. Sie fallen daher weniger systematisch aus als antike, philosophische Traktate, welche sich explizit der Thematik zuwenden. Es mag daher nicht hinter jeder Erwähnung einer Emotion eine planvoll ausgearbeitete Emotionstheorie stehen. Dennoch kann eine implizite Idee, eine implizite Vorstellung oder ein implizites Konzept von Emotionen angenommen werden.507 505

COOPER, Reason, X (Hervorhebung im Original). INSELMANN, Freude, 52. 507 Vgl. ELLIOTT, Feelings, 238. 506

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Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

In Texten des Frühjudentums lassen sich in evaluativer Hinsicht vollkommen andere, in ethischer Hinsicht wiederum ganz ähnliche Auffassungen wie die der griechischen Philosophen eruieren: Denn zum einen besitzen Emotionen grundsätzlich anthropologischen Eigenwert, da auch sie von Gott geschaffen sind. Insbesondere Gebete begegnen als der legitime Ort des emotionalen Erlebens, Auslebens und Verarbeitens. Bisweilen werden Emotionen genutzt, um ethisches Handeln zusätzlich zu motivieren. Zum anderen aber wird auch die potentiell negative Seite der Emotionen, welche sich destruktiv auf das soziale Miteinander und die Gottesverehrung auswirken können, in den Texten durchaus ersichtlich. Die Rückbindung derselben an Gott und ihre Orientierung am Wohl des Mitmenschen begegnet als regulatives Instrument, um etwaige selbstsüchtige, ethisch problematische Folgehandlungen zu verhindern. Auch in biblischen Texten begegnen Emotionen als unzweifelhafte, anthropologische Grundkonstanten und werden größtenteils als solche geschätzt:508 Insbesondere im AT sind sie integraler Bestandteil der Glaubenspraxis. Der Mensch ist wie Gott – ganz selbstverständlich – ein emotionales Wesen. Das NT folgt seinem jüdischen Vorgänger in vielerlei Hinsicht, sodass gelten kann: „Emotion is central to Christian life and is therefore essential in Christian theology and ethics.“509 Doch auch in der Bibel werden Emotionen nicht vollkommen unproblematisch gesehen: Vergleicht man die Emotionen Gottes mit denen des Menschen, wird erkennbar, worauf es bei einem angemessenen Umgang mit emotionalen Zuständen ankommt: Ist das Objekt einer Emotion der wertgeschätzte Andere – Gott oder Mitmensch – (bspw. Liebe zum, Mitleid mit oder Angst um den Anderen), so führen Emotionen zu gutem Handeln; beziehen sie sich aber auf die eigene Person (bspw. Neid auf Besitz des Anderen, Ärger über Herabsetzung oder Hass aufgrund einer Ehrverletzung durch den Anderen), können die Folgehandlungen desaströs sein. Insofern bleiben Emotionen auch in der Bibel ambivalent. Insgesamt lässt sich hinsichtlich der ethischen Relevanz von Emotionen, wie sie in antiken Texten begegnen, mit den Worten Matthew Elliotts festhalten: „[E]motions were one of the strongest motives for change and action.“510 Aufgrund dieses Befundes liegt es nahe, Emotionen in Texten eine besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und zu untersuchen, ob sie bewusst eingesetzt werden, um zur ethischen Handlungspragmatik beizutragen. Zweitens wurde das Argument, dass sich Emotionen stark auf das menschliche Denken und Handeln auswirken und somit handlungspragmatische, moralische oder unmoralische Konsequenzen nach sich ziehen, aus moderner naturwissenschaftlicher Perspektive belegt. Solche empirischen Forschungen 508

Vgl. a.a.O., 243 f. A.a.O., 265. 510 A.a.O., 239. 509

5. Resümee

147

zeigen maßgebliche Einflüsse von Emotionen auf das menschliche Denken und Handeln, die evolutionsbiologisch tief in der menschlichen Neurobiologie verwurzelt sind, und stellen somit die philosophisch optimistische Forderung nach einer vollständigen Kontrolle der Emotionen durch die Vernunft in Frage. Es sei hier sowohl an die dargestellten mannigfachen kognitiven und behavioralen Auswirkungen von Emotionen als auch an deren starke emotionale Einflüsse auf das Gedächtnis erinnert. Solche Befunde sowie die Forschungsergebnisse bezüglich der essentiellen Bedeutung von Emotionen für die Moral bestätigen, dass diese für eine nachhaltige (moralische) Erziehung eine tragende Rolle spielen. Drittens findet die vorliegende Arbeitsthese darin Unterstützung, dass solche Einsichten inzwischen auch vermehrt in philosophisch-ethischen Ansätzen Niederschlag finden: Ethische Ansätze wie die Martha Nussbaums, Christoph Ammanns und Klaas Hiuzings offenbaren eine Tendenz, Emotionen einen sie würdigenden Ort in moralischen Entscheidungs- und Handlungsprozessen zuzugestehen. Es wird deutlich, dass der Gegenstand der Emotionen im Laufe der letzten Jahrzehnte in den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen einen zunehmend stärkeren Stand erlangt hat. Matthew Elliott konstatiert bereits 2005: „It no longer needs to be downplayed, explained away, or redefined in order to fit it into our idea of science and reason.“511 Und mit den treffenden Worten Rebekka Kleins kann zusammengefasst werden: „Dahinter steht die lebensweltlich bedeutsame Einsicht, dass viele Menschen vor allem und zuerst auf einer emotionalen Ebene auf einen Sachverhalt reagieren und dass hierin auch die Verschiedenheit ihrer Beurteilung ein und desselben Sachverhalts begründet ist. Sogar in dem Fall, in dem Menschen auf der rein kognitiven Ebene keinen Zugang zur Komplexität und Aussagekraft eines dargestellten Problems finden, kann sich ihnen ein Sachverhalt auf der emotionalen Ebene erschließen und ihr Denken und Handeln auf diese Weise nachhaltig beeinflussen. Der Erfahrungshorizont der Angesprochenen und ihre Emotionen treten deshalb ins Zentrum jedes Interpretationsvollzuges, der das menschliche Leben rhetorisch thematisieren will. Dass der rhetorische Sprachgebrauch Techniken entwickelt hat, wie der Zuhörer emotional anzusprechen ist, ist eine große Stärke der rhetorischen Tradition.“512

Schließlich findet sich ein viertes Argument in den gattungsspezifischen Eigenschaften einer narrativ vermittelten Ethik, deren Mehrwert darin besteht, dass sie die ganzheitlich-situative Charakteristik der moralischen Begründungsstruktur berücksichtigt und solche Situationen auch emotional erschließt. Narrationen vermögen moralisch-ethische Inhalte auf implizite Weise zu vermitteln, indem sie eine moralisch relevante Situation vor Augen stellen. Mittels der Nachahmung der situativen Struktur moralischer Konflik511 512

A.a.O., 237. KLEIN, Predigt, 343.

148

Kap. 2: Die ethische Relevanz der Emotionen

te bringen sie diesen mit all seinen verschiedenen Facetten holistisch zum Ausdruck und zollen dem Umstand Rechnung, dass „die Form ästhetischer Darstellung der Komplexität von Lebenskonflikten eher [entspricht] als die Form propositionaler Sätze“513. Dabei gehen Erzählungen insofern über solche hinaus, als sie nicht nur rational, sondern auch emotional nachvollzogen werden. Genau hierin liegt der Mehrwert einer narrativen Ethik: „Geschichten sprechen uns, auch wenn sie das diskursive Medium der Sprache verwenden, emotional ganz anders an als rein diskursive Symbolisierungen wie z. B. wissenschaftliche Theorien oder begriffliche Argumentationen. Sie können eine hochemotionale Bedeutung aufbauen, die uns in unserer tiefen Persönlichkeit berührt.“514

Der Rezipient wird ganzheitlich in die geschilderte Situation hineingenommen. Es ist ihm möglich, das Denken, Fühlen und Handeln der dargestellten Figuren empathisch nachzuvollziehen, als ob er sich selbst in deren Situation befände. Damit werden auch moralische Situationen emotional besetzt und erhöhen ihre ethische Relevanz. Dadurch wird eine konkrete Applikation der ethischen Botschaft durch den Rezipienten wahrscheinlicher als durch die bloße Forderung einer ethischen Norm. „Eine narrative Ethik nimmt die grundlegende Emotionalität der Moral ernst (ohne die Bedeutung kognitiver Anteile zu leugnen). Narrationen lassen sich, wie angedeutet, als präsentative Symbolisierungen verstehen, die im Unterschied zu rein diskursiven Symbolisierungen in der Lage sind, unserer Emotionalität eine artikulierte Form zu geben.“515

Es können vielfältige Vorteile einer narrativen Ethik genannt werden, welche sich hauptsächlich auf die Beteiligung der Emotionen am Rezeptionsvorgang stützen. Die Belege für die Beobachtung, dass die Ethikvermittlung in Narrationen auch an die Emotionen des Rezipienten gekoppelt ist, argumentieren stark dafür, den emotionalen Rezeptionsprozess in eine Analyse narrativer Texte mit einzubeziehen. Fazit: Aus all den skzzierten Betrachtungen lässt sich die Voraussetzung dieser Studie hinreichend begründen. Zum einen haben Emotionen unbestreitbaren Einfluss auf das menschliche Denken und Handeln. Dieser Einfluss ist durchaus keine Entdeckung der modernen Wissenschaft, sondern bereits in der Antike durchweg bekannt und wird bisweilen bewusst rhetorisch genutzt. Bei genauerem Hinsehen zeigen außerdem sowohl die moderne Naturwissenschaft als auch der aktuelle Ethikdiskurs deutlich, dass gerade moralische Situationen und Entscheidungsfindungen stark von Emotionen geprägt sind. Des Weiteren bestätigt die Narrationsforschung, dass Emotionen im Medium narrativer Texte eine gewichtige Rolle im Rezeptionsvorgang spielen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass bei einer Analyse der 513

ZIMMERMANN, Ethico-Ästhetik, 250. MEUTER, Identität, 50. 515 A.a.O., 57. 514

5. Resümee

149

ethisch-pragmatischen Funktion von Erzähltexten den emotiven Prozessen während des Rezeptionsvorgangs stärkere Aufmerksamkeit zukommen muss. Bei der Analyse narrativer Texte ist die Frage lohnend, ob und wie die emotionale Beteiligung des Rezipienten an der Erzählung sowohl das Verständnis der ethischen Botschaft derselben als auch ihre handlungspragmatische Wirkung zu unterstützen vermag. Hiermit kann der Grundlagen-Teil dieser Studie beschlossen und der methodisch-praktische Teil eröffnet werden, der sich in den nächsten drei Kapiteln der Erarbeitung sowie Anwendung einer „emotiven Heuristik“ für die Textanalyse widmet.

Teil II: Methodik einer „emotiven Heuristik“

Kapitel 3

Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik Nicht Worte sollen wir lesen, sondern den Menschen, den wir hinter den Worten fühlen. (Samuel Butler) Die bisherigen Ausführungen der für die Thematik zentralen Grundlagenfragen lassen sich wie folgt zusammenfassen: In narrativen Texten, welche ethischen Gehalt aufweisen – wie sie bspw. in Erzähltexten des NT oft begegnen –, ist eine Betrachtung der Emotionen von maßgeblicher Bedeutung, sucht man den narrativ-ethischen Mechanismen des Textes genau auf den Grund zu gehen. Dies liegt darin begründet, dass Emotionen erstens – den hermeneutischen Erkenntnisprozess betreffend – eine gewichtige Rolle im Rezeptionsvorgang spielen und zweitens – die Applikation der ethischen Botschaft betreffend – das menschliche Denken und Handeln enorm zu beeinflussen vermögen. Die folgenden zwei Teile bilden nun den zentralen Schwerpunkt dieser Studie. Jetzt gilt es, aus den bisherigen grundlegenden Überlegungen und Untersuchungen die nötigen Konsequenzen für die neutestamentliche Exegese zu ziehen. Diese Darstellung umfasst in einem ersten Schritt die Erarbeitung einer gezielten Textanalysemethode emotiver Aspekte in narrativen Texten sowie in einem zweiten Schritt deren exemplarische Anwendung insbesondere auf das Mt-Ev (Teil III). Ein einleitender Blick in moderne Methodenbücher wird zeigen, dass Emotionen heute in der Textanalyse noch immer mangelhaft berücksichtigt werden und es an einer gezielten Methodik zur Analyse von Emotionen in biblischen Narrationen fehlt. Daher wird ein Vorschlag zu deren Einbindung in den bisherigen Methodenkanon der Exegese unterbreitet. Darauf aufbauend widmet sich der zweite Teil des Kapitels der konkreten Applikation des bereits gewonnenen Wissens auf die Exegese: Welche Rolle spielen Emotionen im Rezeptionsvorgang einer Narration, und wie kann ein Text diese ausnutzen, um ein bestimmtes Textverständnis nahezulegen und konkretes reaktives Handeln zu motivieren? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es unumgänglich, zunächst eine akkurate Methodik zu entwickeln, mittels der sodann Texte heuristisch gewinnbringend auf ihren emotiven Gehalt befragt werden können. Dazu erfolgt eine Analyse des Mechanismus

154

Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

der emotionalen Textrezeption unter Heranziehung psychologisch ausgerichteter, literaturwissenschaftlicher Ansätze. Dieser Mechanismus wird in einem weiteren Schritt für die Exegese fruchtbar gemacht, indem unter Aufnahme narratologischer Methoden ein „Werkzeugkoffer“ für die emotive Textanalyse erarbeitet wird. Zur praktischen Illustration dieser Ausführungen werden die jeweiligen Untersuchungsaspekte, das zu analysierende Zieltextkorpus bereits heranziehend, an verschiedenen Texten des Mt-Ev veranschaulicht. Die methodischen Materialien sind dabei als ein offener „Werkzeugkoffer“ aufzufassen, welcher eine ausführliche und sorgfältige Auseinandersetzung mit Emotionen in Texten gewährleistet, jedoch gewiss noch um den einen oder anderen Analyseaspekt erweitert und bereichert werden kann. Diese Arbeit versteht sich als ersten Vorstoß in eine angemessene, akkurate Analyse emotiver Prozesse im Rezeptionsvorgang, ohne dabei den utopischen Anspruch zu stellen, die komplexe Thematik der Emotionen bereits erschöpfend erschlossen zu haben.

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen 1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

Aus all den bisherigen Betrachtungen und Überlegungen ergibt sich folgende Arbeitsgrundlage der vorliegenden Studie: Gerade durch ihre Einbeziehung von Emotionen gehen Narrationen über rein rational-argumentative Ethikvermittlung hinaus und erhöhen hierdurch ihre ethische Pragmatik. Bei der Untersuchung einer solchen narrativen Ethik müssen emotive Prozesse daher besonders berücksichtigt werden. Nun sind die Konsequenzen dieser Ergebnisse für die Exegese zu ziehen. Dabei ist zu zeigen, dass eine systematische Analyse der verschiedenen emotiven Wirkungen biblischer Texte ein eklatantes Defizit der neutestamentlichen Exegese darstellt und die Anbindung einer solchen „emotiven Exegese“ in den Methodenkanon der historisch-kritischen Methode notwendig ist. 1.1 Emotionen in Methoden der Exegese: ein Forschungsüberblick Nach einer Übersicht theologischer Emotionsforschung wird nun ein gezielter Blick in neue Arbeiten zu exegetischen Methoden zeigen, inwieweit Emotionen bei der konkreten Textauslegung berücksichtigt werden und wie ihre Analyse methodisch gehandhabt wird. Auch hierbei soll exemplarisch vorgegangen werden und Einblick in Oda Wischmeyers Hermeneutik des Neuen Testaments1, in die 6. Auflage von Wilhelm Eggers und Peter Wicks Metho-

1

WISCHMEYER, Hermeneutik.

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

155

denlehre zum Neuen Testament2, in Sönke Finnerns und Jan Rüggemeiers jüngst erschienene Methoden der neutestamentlichen Exegese3 sowie in Dirk Wördemanns Arbeit über Emotion und Textverstehen4 erfolgen. (1) Oda Wischmeyers Hermeneutik des Neuen Testaments aus dem Jahre 2004 versteht sich als eine „Texthermeneutik“ ausdrücklich nicht rein theologisch, sondern arbeitet sowohl philologisch, historisch, textlinguistisch als auch literaturwissenschaftlich.5 Nachdem bereits die Exegese bemerkt habe, dass „Sprachphilosophie, Sprachwissenschaften, Literaturtheorie und Geschichtstheorie und die Perspektive der entstehenden Kulturwissenschaften ein neues Bezugsmodell für Verstehen und Interpretieren von Texten geschaffen“6 hätten, wodurch diese Forschungsperspektiven in die Methodik der Exegese eingeflossen seien, müsse dies auch hermeneutisch berücksichtigt werden. Ihren Ansatz verfasst die Autorin somit – in bewusster Abgrenzung zu den bisherigen Hermeneutiken von Peter Stuhlmacher, Hans Weder und Klaus Berger – im Anschluss an die Methoden der neutestamentlichen Exegese und stellt den Anspruch, dass „die Exegese, d.h. die methodengeleitete Auslegung der neutestamentlichen Texte, auch das sachgemäße Instrument des Verstehens dieser Texte sei.“7 Damit ist eine Betrachtung dieser Arbeit unter der Fragestellung angebracht: Werden Emotionen in einer dezidiert exegetisch ausgerichteten Hermeneutik des Neuen Testaments berücksichtigt? Oda Wischmeyer teilt ihre Hermeneutik in vier Arten des Verstehens ein: historisches, rezeptionsgeschichtliches, sachliches und textuelles Verstehen. Unter Ersteres fasst sie das Koine-Griechisch als Sprache des NT, die neutestamentlichen Gattungen sowie sozialkritische Fragen zum historischen Hintergrund der Texte.8 Emotionen werden hierbei nicht aufgenommen, was aufgrund der historisch-objektiven Fragestellung jedoch nicht verwundert. Unter rezeptionsgeschichtliches Verstehen fasst die Autorin die Geschichte des Kanons, gegenwärtige Zugänge zu den Texten des NT sowie die Rolle des Interpreten im exegetischen Prozess.9 Auch für das Anliegen dieses Abschnitts spielt die Betrachtung der Emotionen im Text keine tragende Rolle. Zum sachlichen Verstehen rechnet die Autorin Aussage (Syntax und Semantik), Anspruch (Pragmatik) und Qualität (Ästhetik) der Texte.10 Hierbei fällt

2

EGGER/WICK, Methodenlehre. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden. 4 WÖRDEMANN, Emotion. 5 Vgl. WISCHMEYER, Hermeneutik, IX. 6 A.a.O., X. 7 Ebd. 8 Vgl. a.a.O., 21–59. 9 Vgl. a.a.O., 63–125. 10 Vgl. a.a.O., 129–171. 3

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

auf, dass Emotionen weder unter semantischer Hinsicht11, noch hinsichtlich ihrer Rolle in der Vermittlung der Textpragmatik12 zur Sprache kommen. Auch die knappe Behandlung der Rezeptionsästhetik, in welcher Oda Wischmeyer die besondere Rolle des Lesers im Rezeptionsvorgang betont, geht dabei nicht auf die emotionale Komponente der Rezeption ein.13 Auch in der folgenden Darstellung der Rhetorik begegnen Emotionen nicht.14 Besonders auffällig ist aber, dass selbst bei der Besprechung der literarischen Ästhetik eine Berücksichtigung bewusst emotiver Textgestaltung und -wirkung fehlt: Die Unterscheidung zwischen Sachtexten und literarischen Texten konzentriert sich auf die Differenz von „faktional“ und „fiktional“; die Besonderheit literarischer Texte wird vorwiegend in den verschiedenen Gattungen des NT gesehen und auch in Sprach- und Stilfragen wird die emotionale Rezeption als Unterstützung des Verstehens nicht erwähnt.15 Einzig die Hoffnung wird als besondere emotional-religiöse Qualität der neutestamentlichen Narrationen über Jesus genannt.16 Der vierte Abschnitt in Oda Wischmeyers Band über das textuelle Verstehen umfasst mit der Textstruktur, Intertextualität und dem Bezug auf postmoderne Entwicklungen der Hermeneutik wiederum Bereiche, in denen eine gesonderte Betrachtung der Emotionen nicht notwendig ist.17 Insgesamt betrachtet, lässt die Hermeneutik Oda Wischmeyers kein besonderes Interesse an Emotionen erkennen. Unverkennbar ist der wissenschaftlich-rationale Fokus der Arbeit. Auf der Grundlage bisheriger Beobachtungen zum Zusammenhang zwischen Emotionen und Handeln muss jedoch die hermeneutische Anfrage gestellt werden, ob „verstehen“ eben nicht nur „wissen“, sondern auch „fühlen“ bedeutet.18 Die folgenden Untersuchungen dieses Kapitels zum emotiven Rezeptionsprozess sollen diese Frage eingehender beleuchten und für eine positive Antwort derselben plädieren. (2) Die von Wilhelm Egger und Peter Wick 2011 bereits in der 6. Auflage erschienene Methodenlehre zum Neuen Testament „versteht sich als Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten an neutestamentlichen Texten. Ein besonderes Kennzeichen dieser Methodenlehre ist der Versuch, die Methoden der historisch-kritischen Exegese und eine Auswahl aus den neueren, von der Sprach- und Literaturwissenschaft herkommenden Methoden anhand eines texttheoretischen Modells

11

Vgl. a.a.O., 129–148. Vgl. a.a.O., 149–158. 13 Vgl. a.a.O., 154–156. 14 Vgl. a.a.O., 157. 15 Vgl. a.a.O., 159–171. 16 Vgl. a.a.O., 170. 17 Vgl. a.a.O., 175–211. 18 Diese Ansicht vertritt auch Dirk Wördemann und legt sie in seiner Arbeit ausführlich dar (vgl. WÖRDEMANN, Emotion, 19–56.102–161). Näheres dazu s.u. in diesem Abschnitt. 12

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

157

und anhand hermeneutischer Überlegungen zum Akt des Lesens in einen organischen Zusammenhang zu bringen.“19

Dahingehend möchte diese Methodenlehre „zu einer textgerechten Multiperspektivität der Exegese beitragen“20. Dementsprechend arbeitet sie den Methodenschritt der Textanalyse im Zuge der semantischen Untersuchung weiter aus, indem eine narrative Analyse eingefügt wird.21 Emotionen finden dagegen nur sehr randständig Beachtung. Sie tauchen lediglich bei der Besprechung des Sprechaktmodells Friedemann Schulz von Thuns auf, demgemäß Aussagen nicht nur Informationen, sondern auch Emotionen transportierten, welche es bei der pragmatischen Textanalyse zu berücksichtigen gelte.22 Allerdings werden hier nur die vermittelten Emotionen des Autors sowie die Sympathielenkung des Textes betrachtet, aber es wird nicht weiter auf die Rolle der Rezeptionsemotionen eingegangen. Diese sind lediglich im ersten Kapitel über die „Methodenlehre als Anleitung zum strukturierten Lesen“ genannt: „Jeder Leser kann am Text Phänomene beobachten, daraus Rückschlüsse ziehen, sowie seine Gefühle dem Text gegenüber formulieren.“23 Beim wissenschaftlichen Lesen eines Textes aber gehe es vielmehr darum, über diese erste Texterschließung hinauszugehen und das Textverstehen anhand weiterer Informationen zu vertiefen. Eine dezidiert emotionale Textwirkung kommt weder in der Betrachtung rhetorisch-stilistischer Besonderheiten des Textes24, noch in der wortsemantischen Untersuchung25, noch im Zuge der narrativen Analyse – bspw. als Betrachtung der Figurenemotionen26 – zur Sprache. Der Fokus der narrativen Analyse liegt stark auf der Handlungsanalyse, was damit zusammenhängen mag, dass die Besonderheiten einer Erzählung stärker in der Beziehung zwischen Text und Leser, der Eröffnung von Aktualisierungsmöglichkeiten während des Lesevorgangs sowie der Füllung von Leerstellen als in der emotional teilnehmenden Rezeption der Geschichte gesehen werden.27 Insgesamt ist deutlich, dass Wilhelm Egger und Peter Wick bei ihrer Erweiterung der historisch-kritischen Methode den Fokus auf rein literaturwissenschaftliche Methoden legen, nicht jedoch auf psychologische. So tauchen Emotionen zwar auf, spielen jedoch im Rezeptionsvorgang eines Textes eine erkennbar untergeordnete Rolle. Rezeptionsemotionen bleiben in ihrer Be19

EGGER/WICK, Methodenlehre, 34. A.a.O., 17. 21 Die semantische Analyse nimmt insgesamt den breitesten Raum unter den Methodenschritten ein (vgl. a.a.O., 138–191, davon zur narrativen Analyse a.a.O., 174–191). 22 Vgl. a.a.O., 195–197. 23 A.a.O., 24. 24 Vgl. a.a.O., 122–125. 25 Vgl. a.a.O., 163–173. 26 Vgl. a.a.O., 174–191. 27 Vgl. a.a.O., 177 f. 20

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

deutung für den Verstehensprozess größtenteils außen vor, geschweige denn, dass ihre Funktion für die handlungspragmatische Wirkung von Texten eingehend berücksichtigt würde. Diese Beobachtung mag auf das Ziel des objektiv-wissenschaftlichen Lesens zurückzuführen sein, dem sich Emotionen als subjektive und somit relative Parameter entzögen. Dementsprechend schreiben die Autoren Methoden, welche sich der emotionalen Wirkung von Texten widmen, „der praktischen Bibelarbeit“ und nicht der exegetischen zu.28 (3) Das in Kooperation von Sönke Finnern und Jan Rüggemeier entstandene, 2016 unter dem Titel Methoden der neutestamentlichen Exegese erschienene Methodenbuch ist der Versuch, die exegetisch-kritische Methode durch Ansätze der Literaturwissenschaft und Linguistik gezielt interdisziplinär zu bereichern.29 Dabei rücken die Autoren von der traditionellen Einteilung der methodischen Schritte der historisch-kritischen Methode ab und schlagen vor, den Text nunmehr auf seine Bestimmung, Entstehung, Struktur, Erklärung und Nachwirkung hin zu untersuchen.30 Einen Schwerpunkt legen sie auf die Ausführungen zur Erzähltextanalyse als einen Teil der Texterklärung, die sie mithilfe narratologischer Methoden erarbeiten.31 Wichtig für diese Studie aber ist besonders der Methodenschritt der Textnachwirkung. Mit ihm „sind auch Fragestellungen und Analysemethoden aufgenommen, die in anderen Methodenbüchern unberücksichtigt bleiben“32. Eine solche Fragestellung betrifft bspw. die Emotionen. Dazu unterscheiden die Autoren grundsätzlich zwischen Figurenemotionen und Rezeptionsemotionen – eine Unterscheidung, die auch für die vorliegende Arbeit zentral sein wird.33 Die Analyse der Figurenemotionen wird im Zuge der narratologischen Texterklärung aufgegriffen, welche die Figurenmerkmale und -konzeptionen analysiert, wozu auch die Gefühle einer Figur gehören.34 Allerdings konstatieren die Autoren, dass eine „explizite Nennung von Gefühlen [ist] sowohl in biblischen als auch außerbiblischen Erzählungen eher die Ausnahme“ darstelle und „[d]ie intendierten Rezipienten [tragen] Gefühle meist in die Erzählung“ durch „emotionale Perspektivübernahme“ eintrügen.35 Daher werden die Rezeptionsemotionen im Zuge der Textnachwirkung ausführlicher betrachtet.36 „Die Analyse der Textnachwirkung beschäftigt sich mit der Grundfrage ‚Zu welchem Zweck wurde der Text geschrieben?‘“37 und untersucht dabei sowohl 28

A.a.O., 24, Anm. 10. Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, V. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. a.a.O., 173–235. 32 A.a.O., 8. 33 S.u. Kap. 3.2.1.1. 34 Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 198–200. 35 A.a.O., 199. 36 Vgl. a.a.O., 236–258. 37 A.a.O., 237 (Hervorhebung im Original). 29

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

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kurz- als auch langfristige Wirkungen des Textes. Bei den rezeptionsbegleitenden Wirkungen werden mit den Begriffen „delectare; ἔλεος und φόβος“ drei grundlegende Emotionen genannt und intendierte Empathie, Sympathie, Spannung und Emotionen untersucht.38 Dem Umstand, dass solche Emotionen maßgebliche Einflüsse auf den Rezipienten haben können, trägt die Untersuchung der den Rezeptionsvorgang überdauernden Wirkungen Rechnung, welche intendierte Anwendungen, Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen herausarbeitet.39 Für die Analyse der intendierten Emotionen differenzieren die Autoren zwischen ästhetischen (die Textstruktur betreffenden), figurenmerkmalbezogenen, situationsbezogenen sowie perzeptuellen (durch die Stimmung von Raum und Zeit entstehenden) Emotionen.40 Diese Berücksichtigung der Emotionen in Erzähltexten ist eine der ausführlichsten, die bisher in der Exegese betrieben wird, und bietet ein durchaus geeignetes Analyseraster. Allerdings wird kaum erwogen, wie der emotionale Rezeptionsprozess konkret vonstattengeht, was dazu führt, dass die Analyse von Empathie, Sympathie, Emotionen und Identifikationspotential in einzelne Schritte zerfällt. Ohne den Verfassern unterstellen zu wollen, eine solche Trennung intendiert zu haben, wird im Folgenden gezeigt, dass all diese Aspekte doch sehr viel stärker zusammenwirken und ineinandergreifen, als es in deren Aufstellung den Anschein erweckt.41 Darüber hinaus werden wenige Anhaltspunkte gegeben, anhand derer der jeweilige Grad an Empathie, Sympathie, Spannung etc. konkret festzumachen ist. Hier zeigt sich sodann, dass die Unterscheidung der intendierten Emotionen für eine erste Betrachtung des Textes zwar hilfreich ist, bei genauerem Hinsehen aber fällt auf, dass sie die emotiven Vermittlungsebenen eines Textes nicht ausreichend differenziert: Während sich figurenmerkmalsbezogene, situationsbezogene und perzeptuelle Emotionen auf der Erzählebene befinden, sind ästhetische Emotionen der Erzählweise zuzuschreiben. Diese Ebenen unterscheiden die Autoren hier nicht und übersehen dabei, dass Texte häufig mittels letzterer Emotionen wecken, welche sich wiederum auf Figuren, Situationen oder Räume beziehen. Für eine akkurate Argumentation, auf welche Weise der Text welche Emotionen wie stark vermittelt, ist daher eine konsequente Unterscheidung zwischen Erzählebene (histoire) und Erzählweise (discours) angebracht, was an späterer Stelle noch ausführlicher zu betrachten sein wird.42 Gleichwohl ist es ein großes Verdienst des neuen Methodenbuches von Sönke Finnern und Jan Rüggemeier, den Emotionen einen eigenen Platz in

38

Ebd (Hervorhebung im Original). Vgl. ebd. 40 Vgl. a.a.O., 244. 41 S.u. Kap. 3.2.1.2. 42 S.u. Kap. 3.2.2.3. 39

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

den Methoden der Exegese einzuräumen, und es ist ihrer abschließenden Feststellung zuzustimmen, dass „in biblischen Texten tatsächlich sehr differenzierte Strategien zur Steuerung von Empathie, Sympathie, Spannung und Emotionen vorhanden [sind] – auch wenn deren theoretische Formulierung erst seit Ende des 20. Jahrhunderts erfolgt und lange noch nicht abgeschlossen ist –, die auf die langfristig beabsichtigten Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen Einfluss nehmen und nicht ohne exegetischen Schaden übersprungen werden können.“43

(4) Der von Dirk Wördemann 2016 erschienene Band über Emotion und Textverstehen versteht sich als Beitrag zur pragmalinguistischen Bibelexegese und widmet sich dezidiert der Rolle der Emotionen im hermeneutischen Horizont. Seine umfangreiche Studie hat zum Ziel herauszuarbeiten, wie Emotionen den Prozess des Textverstehens begleiten und beeinflussen. Seiner Leitfrage: „Wie kann der (Modell-)Leser die Funktion von Emotionen für das Verstehen einer Erzählung entschlüsseln?“44 nähert er sich in drei Schritten: Zunächst erarbeitet er die spezifische Bedeutung der Emotionen in Erzählungen.45 Auf dieser Grundlage legt er dann die Funktion der Emotionen dar, zum einen als Instrumente der Erzählstrategie46 und zum anderen als hermeneutische Schlüssel, und überprüft diese anhand ausgewählter Texte des MtEv47. Abschließend diskutiert er seine Ergebnisse im Hinblick auf den Gewinn für eine elementarisierte Bibeldidaktik.48 Ähnlich der emotivistischen Emotionstheorien des letzten Jahrhunderts geht auch Dirk Wördemann davon aus, dass jeder Akt der Kommunikation emotional besetzt sein könne und Emotionen eine „strategische Instrumentfunktion für die Pragmatik der verbalen Kommunikation“ zukomme.49 Aufgrund dieses Zusammenhangs zwischen Emotion, Textverstehen und Textpragmatik sei es nur angemessen, die Codierung und Decodierung der Funktion von Emotionen in Texten methodisch zu erschließen.50 Sein Anliegen ist daher die Erarbeitung einer konkreten Methode des pragmalinguistischen Emotionscodes, welche die historisch-kritische Methode sinnvoll erweitere.51 Dazu erarbeitet er aus narratologischer Perspektive, wie bestimmte Erzählstrategien als Haftpunkte für Figurenemotionen, die daraus resultierenden 43

FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 245. WÖRDEMANN, Emotion, 10. 45 Vgl. a.a.O., 19–162. 46 Vgl. a.a.O., 163–423. 47 Vgl. a.a.O., 425–629. 48 Vgl. a.a.O., 631–646. 49 A.a.O., 55. Er betont jedoch, dass dies nicht grundsätzlich der Fall sein muss, geschweige denn jegliche Aussage eine in erster Linie emotionale Botschaft enthält, wie dies in Theorien des Emotivismus häufig postuliert wird (vgl. ebd). 50 Vgl. a.a.O., 420–423. 51 Vgl. a.a.O., 649. 44

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

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Rezeptionsemotionen und deren handlungspragmatische Konsequenzen erkannt werden könnten.52 Diese emotionalen Prozesse der Textrezeption zeigt er exemplarisch zunächst an der Freude auf, welche mit dem EvangeliumsBegriff verknüpft sei53, und konzentriert sich dann auf die Analyse der Figurenemotionen der mt Petrus-Figur (Mt 4,18–20; 14,22–33; 16,13–20.21–23; 17,1–9; 19,23–30; 26,30–35.69–75)54. Die Arbeit Dirk Wördemanns weist eine spannende Nähe zum Ziel dieser Studie auf: Beide setzen sich zum Ziel, die Rolle der Emotionen als einen wichtigen Bestandteil exegetischer Untersuchungen aufzuzeigen und zu etablieren. Dennoch unterscheiden sich beide Ansätze in ihrer Vorgehensweise: So fragt Dirk Wördemanns dreigeteilte Erarbeitung der emotiven Decodierung eines Textes durch den (Modell-)Leser erstens nach den Haftpunkten der Erzählstrategie für eine Bewertung, das appraisal durch den (Modell-)Leser, zweitens nach semantischen und syntaktischen Erzählstrategien, die eine Verarbeitung der emotionalen Reaktion auf ein Text-Ereignis, das coping55, auslösen, und drittens nach dem daraus resultierenden motivationalen Impuls, der action tendency.56 Die vorliegende Arbeit sucht indes die verschiedenen Bewertungsvorgänge sichtbar zu machen, welche der emotionale Rezeptionsprozess umfasst, indem sie stärker zwischen Figurenemotionen und Rezeptionsemotionen unterscheidet. Diese Differenzierung kommt m.E. in der Vorgehensweise Dirk Wördemanns etwas zu kurz. Wie wichtig und weitreichend eine solche Unterscheidung ist, wird im Folgenden gezeigt.57 Des Weiteren liegt ein Fokus dieser Arbeit auf der zugespitzt ethischen Fragestellung, und obgleich in Dirk Wördemanns Emotion und Textverstehen die handlungspragmatischen Auswirkungen von Emotionen thematisiert werden, geschieht dies doch unter der Fragestellung nach dem hermeneutischen Prozess, während hier untersucht wird, inwieweit in neutestamentlichen Narrationen ein bewusster Einsatz von Emotionen erkennbar wird, um die ethische Botschaft zu transportieren und wirksam zu machen. Schließlich nennt der Autor als semantische und syntaktische Haftpunkte einer möglichen emotionalisierenden Erzählstrategie Figuren, Ereignisse, Raum, Motive (Hand52

Vgl. a.a.O., 448–451. Vgl. a.a.O., 425–447. 54 Vgl. a.a.O., 451–629. 55 Es soll hier nur leise angefragt werden, ob der Begriff des copings sinnvoll gewählt ist, dient er doch im alltagspsychologischen Sprachgebrauch als Bezeichnung von Bewältigungsstrategien für als bedeutsam und schwierig empfundene Lebensereignisse oder Lebensphasen. 56 Vgl. a.a.O., 101.449. 57 Damit soll Dirk Wördemanns Arbeit keineswegs unterstellt werden, den Unterschied zwischen Figurenemotionen und intendierten Rezeptionsemotionen nicht gesehen zu haben. M.E. ist für eine gründliche Textanalyse eine stärkere Herausarbeitung der Unterschiede jedoch sinnvoll. 53

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

lungsbeweggründe), Spannung, plot, literarische Gattung, Erzählperspektive, Zeit, Metaphern und die Gestaltung der Sprechakte.58 Dabei ist ihm insofern zuzustimmen, als die narratologische Analyse bei der Aufdeckung emotionalisierender Erzählstrategien eines Autors eine zielführende Methode darstellt, doch muss auch hier angefragt werden, ob nicht die fehlende Unterscheidung zwischen den Erzählebenen des discours und der histoire zu einer unangebrachten Vermischung von emotionalisierten Erzählbestandteilen und emotionalisierender Erzählweise führt.59 Fazit: Die Arbeit Dirk Wördemanns ist in besonderem Maße zu würdigen, da sie die tragende Bedeutung, die Emotionen im Verstehensprozess eines Textes übernehmen, in einer überaus umfangreichen und detaillierten Untersuchung bedenkt. Seine Methodik zur Entschlüsselung emotionaler Codierungen im Text gibt einen wichtigen Anstoß für eine „emotive Heuristik“, die im Folgenden ausgearbeitet werden soll. 1.2 Ergebnis: Ermangelung einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese Die beiden erfolgten Streifzüge durch die theologische Forschungslandschaft unter der Fragestellung, ob und inwiefern emotionsbezogene Studien, insbesondere für die neutestamentliche Exegese, vorliegen, ergeben ein klares Ergebnis: Dem ethischen Diskurs folgend, wurden Emotionen auch in der Theologie lange Zeit nicht angemessen berücksichtigt. Die in den Texten begegnenden Emotionen wurden häufig metaphorisiert oder ihr emotionaler Gehalt wurde heruntergespielt; so konstatiert bspw. Matthew Elliott 2005 zum damals aktuellen Forschungsstand der Exegese: „The theologies of the New Testament […] do not do a good job in incorporating emotion into their framework. As it is in secular ethics, in New Testament ethics and theology emotion is often belittled, trivialized or ignored.“60 Auch noch elf Jahre später konstatiert Anke Inselmann angesichts der bedeutenden Rolle, welche Emotionen in antiken Texten spielen: „What is therefore astonishing when investigating passions in New Testament literature is the fact that no methodology has yet been established.“61 Eine Aktualisierung dieser Aussagen kann inzwischen positiver formuliert werden, und auf dem Hintergrund der Arbeiten von Sönke Finnern und Jan Rüggemeier sowie von Dirk Wördemann ist deutlich, dass das Interesse an einer Untersuchung der Emotionen in neutestamentlichen Texten vereinzelten, fruchtbaren Niederschlag gefunden hat.

58

Vgl. a.a.O., 225–329. Wie schon in der Betrachtung des Methodenbuches von Sönke Finnern und Jan Rüggemeier gesehen (s.o. in diesem Abschnitt). Näheres dazu s.u. Kap. 3.2.2.3. 60 ELLIOTT, Feelings, 256. 61 INSELMANN, Emotions, 537. 59

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

163

Dennoch wird die emotionale Textrezeption im wissenschaftlichen Diskurs der historisch-kritischen Methode noch immer weitgehend vernachlässigt, geschweige denn, dass sich eine systematische Methode zur Analyse der von Texten angestoßenen emotionalen Prozesse etabliert habe.62 Die These, von der ausgehend die Texte im folgenden Abschnitt betrachtet werden, lautet, dass der Mehrwert der textpragmatischen Expertise der Parabeln Jesu in der emotionalen Komponente des Rezeptionsprozesses besteht.63 Durch die Weckung bestimmter Emotionen beim Rezipienten erzielt die Erzählung erst ihre volle parabolische Wirkung, d.h. den metaphorischen Akt der Übertragung der Erzählung auf das eigene Sein und Leben inklusive der darin vermittelten Handlungsanweisungen. Denn bindet eine Erzählung den Rezipienten optimal ein, hat das eine intensive Auseinandersetzung mit derselben zur Folge, nicht nur auf rationaler, sondern auch auf emotionaler Ebene. Der Rezipient hört die Erzählung nicht nur, er nimmt an ihr teil, er beurteilt Figuren der Erzählung, identifiziert sich mit oder distanziert sich von ihnen. Diese These ist nicht nur durch die Betrachtungen des letzten Kapitels ausreichend belegt, sie ist auch alltagspsychologisch einleuchtend. Ihre Evidenz mag dazu geführt haben, dass in der Exegese auf die von Texten geweckten Emotionen immer wieder hingewiesen wird. Doch geschieht dies, wissenschaftlich betrachtet, bisher noch zu intuitiv, d.h. methodisch unklar und ist kein fester Bestandteil der theologischen Textauslegung. Eine erschöpfende Diskussion möglicher Gründe hierfür kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Es sollen nur zwei genannt und diskutiert werden, auf deren Grundlage dann erste wichtige Prämissen der folgenden Methodik zu formulieren sind. Es steht zu vermuten, dass Emotionen als zentraler Untersuchungsgegenstand der neutestamentlichen Exegese darum selten gewählt werden, weil sie zwar als selbstverständliche Komponente von Texten gelten, sich gleichzeitig jedoch nur schwer in ein wissenschaftlich sinnvolles, heuristisches Raster bringen lassen. Sind Emotionen nicht per se unkontrollierbar, viel zu persönlich und subjektiv, um für einen intendierten Leser pauschal angenommen werden zu können? Doch gerade für die christliche Theologie, die sich zu einem Großteil auf narrative Texte stützt und den Menschen auf zentrale, 62 Der Artikel „Emotions and Passions in the New Testmament“ von Anke Inselmann gibt acht wertvolle methodische Impulse zur Analyse direkt sowie indirekt dargestellter Emotionen in biblischen Texten (vgl. a.a.O., 538–553). Im Gegensatz zur vorliegenden Arbeit jedoch zielt ihr Anliegen hauptsächlich auf ein besseres Verständnis der Emotionen in der Antike (vgl. a.a.O., 538). Und obgleich sie die pragmatische Indikation von Emotionen als einen der acht Analyseparameter explizit als bedeutsam auszeichnet (vgl. a.a.O., 546), umfasst ihr Analyseverfahren weder den gesamten emotionalen Rezeptionsprozess, welcher auch die emotive Leserlenkung miteinschließt, noch einen zugespitzten Blick auf die emotiven Mechanismen narrativer Ethik. 63 S.o. Kap. 2.4.4.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

existentielle Fragen anspricht, erhält die emotionale Rezeption Berechtigung. Die Theologie scheint das Paradebeispiel für die Bedeutung der emotionalen Textrezeption zu sein, und zwar insofern, als der Aufruf zur Hinwendung zu Gott und zur Ausrichtung des eigenen Lebens auf ihn nicht frei von Emotionen ablaufen kann. Wie die Betrachtung der Rolle der Emotionen in der Bibel zeigt, ist die emotionale Komponente des Glaubens zentral und dabei ganz und gar nicht willkürlich oder etwa unkontrollierbar dargestellt.64 Eine rein intellektuelle Glaubensüberzeugung kann demnach nur begrenzt wirksam werden. Entsprechend versuchen Parabeln gerade durch ihren bildlichmetaphorischen Charakter, den göttlichen Bereich zu erschließen und zu offenbaren, sodass jeder daran teilhaben kann. Durch den alltäglichen Kontext der Parabeln kann sich der Rezipient auf die Erzählung einlassen, sich mitreißen und auf seine Ebene ziehen lassen und letztlich zu einer neuen Erkenntnis kommen. Mit anderen Worten, eine emotionslose Rezeption der Gleichnisse Jesu widerspräche zweifelsohne ihrer spezifischen Gattungspragmatik. Deshalb ist eine besondere Berücksichtigung der beim Rezipienten hervorgerufenen Emotionen für diese Texte von enormer Bedeutung.65 Sodann könnte der Umstand, dass Emotionen auf dem Feld der Exegese bisher keine eigene Rangstellung erhalten haben, damit zusammenhängen, dass sie in vielen Texten nicht prominent hervorstechen. In den mt Parabeln bspw. schmückt der Erzähler seine Narrationen durch die Emotionslage der Figuren nur sehr selten aus. Überprüft man exemplarisch die drei Endzeitparabeln Jesu im Mt-Ev auf direkte Emotionsvermittlung hin, fällt der Mangel sofort ins Auge (Mt 24,45–25,30): Der Erzähler schildert nicht, wie stolz der gute Sklave war, nachdem er von seinem Herrn als Stellvertreter eingesetzt worden war und er – vielleicht gerade deshalb?! – loyal und treu seine Aufgabe ausgeführt hat. Er zeichnet kein Bild vom Schrecken, der Furcht und der Verzweiflung des bösen Sklaven bei der unerwarteten Rückkehr seines Herrn. Genauso wenig expliziert er die Freude – vielleicht sogar die Schadenfreude –, die die klugen Jungfrauen verspüren, als sie zur Hochzeit eingelassen werden und die törichten nicht. Auch deren Enttäuschung und Reue – aber vielleicht auch Ärger – wird nicht beschrieben. Noch stärker tritt dieser Befund in der dritten Parabel hervor, in der immerhin die Emotion der „Freude“ gleich zweimal genannt wird – aber eben nicht als Reaktion der guten Sklaven, sondern vielmehr als Schilderung der emotionalen Reaktion des Herrn, an der die Sklaven Anteil nehmen sollen. Handelt es sich hier sogar um einen emotiven Imperativ? Der „böse und faule“ Sklave daneben steht ebenfalls emotionslos im Raum, obgleich er so viel empfinden könnte, etwa Furcht und Verzweiflung angesichts der Bestrafung, Reue angesichts der verpassten Chance, aber auch Empörung über die in seinen Augen gegebenenfalls unangemessen harte Reaktion des Herrn.

64

S.o. Kap. 2.1.2. Obgleich sich diese Arbeit auf Parabeln konzentriert, gilt die hier vorgeschlagene Erweiterung der exegetischen Analyse selbstverständlich grundsätzlich für alle Textgattungen. 65

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

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Sind solche biblischen Texte also völlig emotionslos? Ist denn eine Berücksichtigung von Emotionen gleichsam zwischen den Zeilen bei der Exegese überhaupt berechtigt angesichts dieses Befundes? Oder ist es geradezu bedeutsam auffällig, dass Emotionen in diesen narrativen Sequenzen fehlen? Kann daraus vielleicht geschlossen werden, dass Emotionen ex negativo im Rezipienten geweckt werden sollen? Es ist anzunehmen, dass der Hörer oder Leser durch die emotionale Leerstelle keinen Nachteil davonträgt. Wie bereits gezeigt, ist es ein zentraler Zug der jesuanischen Parabeln, dass sie mit Erzählstrategien der Kürze, Knappheit und bewusster Leerstellen arbeiten.66 Der Rezipient soll sich in die Figuren hineinversetzen, an ihrem Schicksal teilnehmen und sich fragen: „Wie würde ich reagieren, wie würde es mir in dieser Situation gehen?“ Eine Nennung der emotionalen Reaktion der Figuren würde diese empathische Funktion der Narrationen vorwegnehmen und dadurch unnötig engführen und einschränken. Gerade dadurch, dass der Rezipient nicht weiß, wie genau der „böse und faule“ Sklave auf die Bestrafung seines Herrn reagiert – wo er doch mannigfaltige Möglichkeiten hätte und den Rezipienten vielleicht tatsächlich interessieren würde, ob der Mann sich wohl hat empört zur Wehr setzen oder reuevoll um Verständnis und Gnade bitten wollen –, kann er umso freier auf die Erzählung reagieren – er, der er doch eigentlich mittels der Parabel angesprochen ist. Was hier eine unverkennbare Stärke dieser Erzählungen ausmacht, bedeutet gleichzeitig die größte Problematik für die Exegese. Denn durch die enorme Freiheit, die dem Rezipienten durch diese Erzähltechnik zugestanden wird, bleibt bis zu einem gewissen Grad unklar, welche Emotionen der Erzähler im Rezipienten hervorrufen wollte. Wie anhand des obigen Beispiels angedeutet, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wie die Figuren emotional auf ihre Situation reagieren könnten. Welche davon hat der Erzähler für den Rezipienten intendiert? Eine dahingehende Untersuchung muss sehr umsichtig vorgehen: Zum einen darf sie die Texte nicht unangemessen engführen, um zu einer eindeutig scheinenden Lösung zu kommen – eine solche kann es in diesem Fall kaum geben. Zum anderen darf sie – will sie sich nicht selbst als Analyseschritt ad absurdum führen – nicht durch intuitive Willkür einem subjektiven Relativismus anheimfallen. 1.3 Einbindungsvorschlag in den Methodenkanon Durch die beiden hier gegebenen Forschungsüberblicke werden zwei Dinge ersichtlich: Erstens zeigen die soeben betrachteten neueren Arbeiten zu Methoden der Exegese, dass Emotionen insgesamt immer noch zu wenig beachtet, geschweige denn in systematischer Weise in die exegetische Analyse 66

S.o. Kap. 2.4.4.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

aufgenommen werden. Zweitens belegt der erste Überblick über psychologische Beiträge zur neutestamentlichen Exegese, dass solche mit der historischkritischen Methode durchaus kompatibel sind und dass diese nicht zu ersetzen, sondern lediglich in sinnvoller Weise zu erweitern suchen sollten, um eine ganzheitliche Textanalyse zu ermöglichen. Nachdem im Laufe des 20. Jh. immer mehr neue Methoden zur Auslegung biblischer Texte auf dem „Markt der Exegese“ erschienen, ergab sich zuweilen eine problematische Trennung neuer Blickwinkel auf die Texte, welche dem historisch-kritischen Methodenansatz gern bewusst entgegengestellt wurden. Ein unverbundenes Nebeneinander verschiedener Methoden mit unterschiedlichen, wenn auch zuweilen sehr berechtigten „Lesebrillen“, macht es nicht nur schwierig, in der großen Fülle eine zweckmäßige Auswahl zu treffen, sondern diese auch sinnvoll miteinander zu verbinden. Für eine ganzheitliche Auslegung eines Textes ist aber eine ebensolche Verbindung notwendig. Die historisch-kritische Methode, die m.E. nach wie vor die detaillierteste Textanalyse bietet, da sie überaus multiperspektivisch arbeitet, sollte daher um weitere neue Blickwinkel ergänzt, keinesfalls aber aufgegeben und zu diesen neuen Ansätzen in Konkurrenz gestellt werden. Es sei deswegen dezidiert darauf hingewiesen, dass sich die vorliegende Arbeit nicht in den Bereich der „Psychologischen Exegese“ einordnet und einen von bisherigen Methoden gesonderten Zugang zu den biblischen Texten beschreibt. Wie Martin Leiner ausführlich darstellt, ist eine säuberliche Trennung zwischen historisch-kritischer Forschung und psychologischer Auslegung nicht aufrechtzuerhalten.67 Auch in der historisch-kritischen Methodik werden psychologische Fragen über das Verhalten und Erleben der Menschen zur Zeit der Abfassung der biblischen Texte in den Blick genommen. Trotzdem soll dies nicht das einzige Ziel dieser Studie sein und ebenso nicht, zu eruieren, wie sich die ersten Christen gefühlt haben, um psychologische Kenntnisse über den historischen Hintergrund der Texte zu gewinnen. Vielmehr liegt das Ziel in Ergänzung und Ausbau der Textauslegung, indem der emotionale Rezeptionsprozess ausdrücklich berücksichtigt wird. In den Anstrengungen der heutigen Exegese muss es, mit den Worten Christoph Kählers gesprochen, darum gehen, „im offenen hermeneutischen Kanon die Einheit historischer und psychologischer Arbeit wiederzugewinnen“68. Ganz ähnlich halten auch Petra von Gemünden und Anke Inselmann eine Anbindung der Emotionspsychologie an die historisch-kritische Exegese, die durch ihren umfassenden Anspruch einer ganzheitlichen Textanalyse um Beiträge aus Nachbardisziplinen ergänzbar sei, für möglich und sinnvoll.69 Auch m.E. 67

Vgl. LEINER, Psychologie, 241. KÄHLER, Gleichnisse, 57 (Hervorhebung im Original). 69 Vgl. INSELMANN, Freude, 32 f.; dies., Emotions, 553 f. und VON GEMÜNDEN, Überlegungen, 31–33. 68

1. Die exegetisch-methodische Berücksichtigung von Emotionen

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ist dem Fazit Martin Leiners zuzustimmen, dass „[d]er Beitrag der Psychologie zur Exegese […] im gegenwärtigen historischen Paradigma nur sein [kann], dass sie zu einer Weiterbildung der historisch-kritischen und literaturwissenschaftlichen Methoden der Exegese dient“70. Folgt man Ulrich Mees und seiner Unterscheidung geistiger Zustände in kognitive, affektive und konative Zustände71, lässt sich bei einem Blick auf die heutige, bereits interdisziplinär erweiterte Form der historisch-kritischen Methode erkennen, dass der Fokus bisher stark auf der kognitiven Textverarbeitung liegt: Über das offensichtlich historische Interesse an der Textentstehung hinaus (Text-, Literar-, Überlieferungs-, Redaktionskritik), wird bspw. das für das Verständnis eines Textes nötige Vorwissen betrachtet (Sozialgeschichte), motivgeschichtliche Assoziationen sowie der religiöse Hintergrund untersucht (Motiv- und Religionsgeschichte) und die Leserlenkung anhand literaturwissenschaftlicher Theorien analysiert (Textanalyse). Auch konative Leseeffekte werden im Zuge der Textpragmatik berücksichtigt, um die ethische Botschaft der Texte zu eruieren. Auch hierzu dienen Ansätze verschiedener Nachbardisziplinen, um die Vorgabe und Plausibilisierung bestimmter Handlungsmuster durch den Text herauszuarbeiten (bspw. in narrativ, mimetisch oder doxologisch vermittelter Ethik). Ohne durch diese Aufnahme suggerieren zu wollen, dass eine Trennung zwischen Kognition, Emotion und Volition sinnvoll und angebracht ist, soll sie hier aufgenommen werden, um zu verdeutlichen, dass die affektive Leserbeteiligung bei der Rezeptionsanalyse nach wie vor zu kurz kommt, obgleich eine solche dreigliedrige Einteilung geistiger Zustände suggeriert, dass zwischen ihnen eine „Gleichberechtigung“ besteht. Im Sinne einer solchen Gleichstellung lautet das Plädoyer an dieser Stelle, keine weitere „Methode“ in das bereits unüberschaubar anmutende Methodenarsenal der Exegese einzureihen, sondern vielmehr eine zweite „Bezugsebene“ in die jeweiligen methodischen Fragestellungen einzuziehen. D.h. erfragt werden nicht nur kognitive und konative Effekte, sondern ebenso emotionale. Denn erst in einer derart ganzheitlichen Rezeption des Textes kann dieser seine volle, vom Autor intendierte Wirkung entfalten. Die hier vorgelegte Methodik versteht sich daher nicht als eine gesonderte Methode der Exegese, sondern als weiterer rezeptionsästhetischer Fragehorizont innerhalb der historisch-kritischen Methode. Ihrem narratologischen Vorgehen entsprechend, kann sie sinnvoll im Methodenschritt der Textanalyse erfolgen; doch müssen Emotionen auch in anderen Schritten, wie etwa der Redaktionskritik, der Motiv-, Sozial- und Religionsgeschichte bis hin zur theologischen Interpretation berücksichtigt werden. Die Fragestellung nach den emotiven Wirkungen eines Textes trägt, wie inzwischen mehrfach begründet, zu einer umfassenderen Untersuchung der Leserlenkung bei, um 70 71

LEINER, Exegese, 151. Vgl. MEES, Struktur, 185.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

daraus vertiefte Erkenntnisse für die pragmatische und theologische Interpretation der Texte liefern zu können. 1.4 Ergebnisse Ein exemplarischer Blick in verschiedene Methodenbücher der neutestamentlichen Exegese macht deutlich, dass Emotionen zwar auch in der Exegese immer stärker in den Fokus der Untersuchung rücken und als wichtige Komponenten des Textes anerkannt werden. Jedoch liegen noch immer kaum systematisch erarbeitete, exakte Analysemethoden für emotionale Prozesse während der Textrezeption vor. Mögliche Gründe hierfür wie etwa die allzu hohe Subjektivität von Emotionen oder der mangelnde Befund an expliziten Emotionen in neutestamentlichen Erzähltexten können zurückgewiesen werden: Die individuell-subjektive Komponente von Emotionen ist zwar stets zu berücksichtigen, doch darf dies deshalb nicht dazu führen, diese nonverbale Art der Leserlenkung gänzlich unbeachtet zu lassen. Dass neutestamentliche Parabeln außerdem Figurenemotionen häufig nicht explizit nennen, kann auf die gattungsspezifische brevitas von Parabeln zurückgeführt werden und bedeutet keineswegs generell, dass der Autor diese Offenheit nicht zur emotiven Leserlenkung genutzt habe. Die emotionale Charakteristik von Parabeln ist eine fraglos wichtige Komponente dieser Erzähltexte, deren Aufnahme in die Textanalyse daher überaus gerechtfertigt ist. Um jedoch nicht zu suggerieren, dass die Analyse emotiver Rezeptionsprozesse eine gänzlich neue Lesart oder gar eine den bisherigen Methoden gegenüberstehende Auslegungsweise von Texten darstellte, versteht sich der hier vorgelegte Vorschlag einer „emotiven Heuristik“ als eine rezeptionsästhetische Erweiterung der historisch-kritischen Methode, indem eine weitere Perspektivebene in die bisherigen Methodenschritte eingezogen wird.

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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2. Methodik einer „emotiven Heuristik“ 2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

2.1 Notwendige Vorüberlegungen Nach der Erarbeitung und Begründung einer emotiven Textrezeption als einem signifikanten und daher mit individuellem Anspruch auftretenden Untersuchungsgegenstand biblischer Texte und deren Anbindung als eine weitere Perspektivebene an das bisherige exegetische Methodeninstrumentarium folgt nun der anspruchsvollste und umfangreichste Schritt: die Erarbeitung einer Methodik zur gezielt emotiven Textanalyse. Hierzu sind einige wichtige Vorbemerkungen zu machen. 2.1.1 Die richtigen Fragen stellen Legte man einer Runde mehrerer Menschen denselben Text vor und stellte anschließend die Frage: „Welche Emotionen vermittelt dieser Text?“, so kämen wohl bei einer ersten Meinungsabfrage recht unterschiedliche Urteile zustande. Dieses, wenn auch frustrierend erscheinende Ergebnis sollte jedoch nicht davon abhalten, die Frage überhaupt zu stellen oder sie allzu schnell als eine zu subjektive und daher unzureichend gewinnbringende oder gar vollkommen unbeantwortbare Frage abzutun. Vielmehr sollten die etwaigen Unterschiede in der Beantwortung dieser Frage zu dem Schluss führen, dass sie zu unpräzise gestellt ist. Richtet sich die übergeordnete Frage lediglich auf „eine emotionale Rezeption“ einer biblischen Parabel, ist sie zu undifferenziert, um sie klar beantworten zu können. Soll nun eine effektive Methodik zur gezielten Textuntersuchung formuliert werden, sind auch die richtigen Fragen zu stellen. Erst auf deren Basis lassen sich geeignete Werkzeuge zur Textanalyse bereitstellen. Es sind hierbei vier Fragen zu unterscheiden, die nun aufgezeigt, kurz besprochen und anhand der Parabel vom Hochzeitsmahl (Mt 22,2–13) exemplarisch veranschaulicht werden sollen. (1) Als Erstes stellt sich die Frage nach der Gegenstandsbestimmung: Auf den ersten Blick scheint diese im Grunde lediglich terminologische Frage außerhalb einer Methodik zur Textanalyse zu stehen; sie wurde bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit thematisiert.72 Dennoch soll sie in den Fragenkanon einer „emotiven Heuristik“ aufgenommen werden, um noch einmal darauf hinzuweisen, dass es im Bereich der Emotionen von enormer Wichtigkeit ist, die Begriffe genau zu bestimmen, um im weiteren Verlauf der Exegese Missverständnisse zu vermeiden. Folgende Vorklärungen sind daher unerlässlich: Was ist überhaupt eine Emotion? Wie unterscheidet sie sich von einem Gefühl, vom Affekt, von einer Stimmung? Wonach möchte die Textanalyse genau fragen? Wie lassen 72

S.o. Kap. 1.3.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

sich Emotionen sinnvoll klassifizieren? Wie bereits gezeigt, kann es hierbei durchaus angemessen sein, über die Emotionsvorstellungen zur Zeit der griechisch-römischen Antike hinaus auch nach Ergebnissen jüngster Forschungen zu fragen. Durch diese beiden Perspektiven kann eine „emotive Heuristik“ vom heutigen Stand der Forschung profitieren, ohne dabei Ansprüche an den Text zu stellen, denen dieser nicht gerecht werden kann. (2) Als zweite Frage stellt sich die nach den Emotionen im Text: Nach diesen grundlegenden Vorentscheidungen kann die Ebene des Textes betrachtet werden. Dieser wird zunächst auf rein deskriptiver Ebene untersucht: Welche Emotionen kommen im Text vor? Diese Emotionsvermittlung fragt exklusiv nach den Figuren einer Erzählung: Welche Emotionen haben sie? Werden sie direkt angesprochen oder indirekt vermittelt? Denn Emotionen können „sprachlich explizit oder implizit kodiert werden“73. Für den Unterschied zwischen direkter und indirekter Emotionsvermittlung lassen sich hier analog die Begriffe des telling und showing verwenden. Die ursprünglich von Henry James im Blick auf das Theater geprägten Termini werden hier im Sinne Gérard Genettes übernommen, der klarstellt, dass das showing im Falle eines Textes nur im Sinne einer „Mimesis-Illusion“ aufgefasst werden könne, d.h. auf Beschreibungen zutreffe, die „möglichst detailliert, präzis oder ‚lebendig‘ erzählen“74. Dem showing bestimmter Emotionen von Figuren entspreche, so Gérard Genette, eine genaue Schilderung dessen, was die Figur denkt, will oder tut. Hierbei wird der Rezipient die Leerstelle des Fühlens der Figur eigenständig ergänzen. Eine solche indirekte Vermittlung kann oftmals wirkungsvoller sein als direkte emotionale Botschaften: Gerade die expressive Umschreibung von Gefühlen oder die Schilderung ihrer Auswirkungen kann auf einen Rezipienten durch einen stärkeren Appell an seine imaginative Mitwirkung größeren emotionalen Effekt haben.75 Diese Mitwirkung zeigt sich nicht nur bei den Emotionen: Auch Figurencharakterisierungen sind meist indirekt gehalten. So weist Cornelis Bennema bspw. darauf hin, „that in ancient Hebrew and Greco-Roman literature […] information about a character is conveyed primarily through the character’s speech and actions rather than the narrator’s statements“76. In der Parabel vom Hochzeitsmahl (Mt 22,2–13) wird klar ersichtlich, dass die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Emotionen in biblischen Texten notwendig ist. So kommen nur drei emotional konnotierte Begriffe im Text vor: Die geladenen Gäste kümmern sich nicht um die Einladung des Königs (V. 5: ἀµελήσαντες) und beschimpfen oder misshandeln seine Sklaven (V. 6: ὕβρισαν); diese Termini verbinden sich augenscheinlich

73

SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 221 (Hervorhebungen T.D.). GENETTE, Erzählung, 104. 75 Vgl. FOOLEN/LÜDTCKE/SCHWARZ-FRIESEL, Kognition, 224. 76 BENNEMA, Theory, 56. 74

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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mit Emotionen der Verachtung.77 Dem König wird daraufhin explizit Zorn zugeschrieben (V. 7: ὠργίσθη). Auf die respektlose emotionale Reaktion der geladenen Gäste reagiert auch der Einladende mit einer entsprechenden Emotion. Der perzeptuelle Eindruck von Verachtung und Zorn ist gewissermaßen der erste Schritt der emotionalen Textrezeption, die direkt vermittelte Emotions-Rezeption. Damit kommt man aber sogleich auf eine zweite Ebene, nämlich die Frage nach der indirekten Emotionsvermittlung. Denn es steht außer Frage, dass ein Text auch dann die Emotionen der Figuren vermittelt, wenn er diese nicht explizit nennt.78 Hierfür sei auf V. 13 verwiesen: „Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm die Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus! Da wird Weinen und Zähneknirschen sein.“ Dieser Vers nennt keine explizite Emotion. Trotzdem vermittelt er ein starkes Bild von der emotionalen Lage des hinausgeworfenen Hochzeitsgastes.79 Doch muss diese vom Rezipienten aktiv erschlossen werden.

(3) Als dritte Frage fügt sich diejenige nach der emotionalen Wirkung des Textes auf den Rezipienten an: Nach der deskriptiven Textebene ist die Wirkung des Textes in den Blick zu nehmen: Welche emotionale Reaktion löst der Text im Leser/Hörer aus? Wie sollen die Emotionen im Text beurteilt werden? Sollen sie nachempfunden oder abgelehnt werden? Aber nicht nur die Emotionen von Figuren ziehen eine emotionale Reaktion nach sich. Gibt es noch andere solcher „Emotionsauslöser“? Und wie stark werden die Emotionen dabei jeweils vermittelt? Die Trennung der zweiten und dritten Frage ist eine im Hinblick auf die narrative Ethik – auf die Frage 4 zielen wird – relevante, indem sie dem Umstand Rechnung trägt, dass „die Lesergefühle (die die ethische Wirksamkeit der Erzählungen mitsteuern) vielfach nicht mit den Emotionen der Figuren identisch [sind]. Dennoch besteht eine Abhängigkeit“80. Denn „[d]as Emotionspotenzial eines Textes betrifft nicht nur die kodierten Gefühle und Emotionen der fiktiven (oder realen) Personen der Textwelt, sondern auch die antizipierten Gefühle des Rezipienten. Emotionalisierung involviert nicht nur die Rekonstruktion der emotionalen Befindlichkeit der Textweltreferenten, sondern auch die Aktivierung bzw. Konstruktion der Gefühle des Lesers.“81

Diese Unterscheidung ist so trivial wie essentiell: Es muss stets unterschieden werden zwischen dem Ausdruck von Emotionen aufseiten des Textes (der Emotionskonzeption) und der Evokation von Emotionen aufseiten des Rezipienten (den Rezeptionsemotionen82). Kurz gesagt, unterscheiden die beiden 77

Vgl. HAUBECK/VON SIEBENTHAL, Schlüssel, 145. Demgemäß unterscheidet auch Simone Winko zwischen Thematisierung (Inhalt) und Präsentation (Form) von Emotionen in Texten, vgl. WINKO, Gefühle, 111–119. 79 Eine detailliertere Analyse des Ausdrucks „Weinen und Zähneknirschen“ wird in der Textanalyse von Mt 24,45–51 erfolgen; s.u. Kap. 5.4.2.2. 80 WAGENER, Figuren, 150. 81 SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 224 (Hervorhebungen T.D.). 82 Diesen Begriff verwendet auch Sönke Finnern bei seiner narratologischen Analyse der Figurenrezeption in Anschluss an Ralf Schneider, vgl. FINNERN, Narratologie, 44. 78

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

Fragen zwei emotive Funktionen von Texten: Welche Emotionen will der Text ausdrücken, welche will er auslösen?83 Um noch einmal auf die Parabel vom Hochzeitsmahl zurückzugreifen: Während der Rezipient, der sich in die Lage des einladenden Herrn hineinversetzt, dessen Zorn nachvollziehen kann und diesen vielleicht sogar mitempfindet, ist ein solcher emotionaler Nachvollzug der Verachtung der geladenen Gäste weniger wahrscheinlich. Ihr Verhalten ist nicht nur höchst respektlos, sondern auch rundweg nicht plausibel, bleibt doch unklar, warum sie die Einladung ihres Königs überhaupt ausschlagen. Auf die Emotionen dieser Figuren wird ein Rezipient demnach nicht mit einer „Emotionsspiegelung“ reagieren, sondern mit gänzlich anderen Emotionen wie bspw. Empörung oder Wut, vielleicht auch Verachtung. Doch ist Letztere nicht dieselbe wie im Text, richtet sie sich doch gegen die Figuren der geladenen Gäste und nicht gegen die ausgesandten Sklaven des Königs. Entsprechend reagiert ein Rezipient auch auf ihre Bestrafung (V. 7) eher mit Genugtuung als mit Mitleid. Hier lassen sich die Emotionen im Text von den jeweiligen Rezeptionsemotionen unterscheiden.

An dieser Stelle drängt sich sogleich eine rezeptionsästhetische Frage auf, die es notwendigerweise im Vorhinein zu beantworten gilt, um Missverständnisse bei der konkreten Analyse zu vermeiden: Nach wessen Emotionen wird überhaupt gefragt? Nach denen der tatsächlichen Rezipienten? Und wenn ja, der damaligen oder heutigen Rezipienten? Oder nach denen der vom Autor intendierten Adressaten? Hier müssen die vielen verschiedenen, möglichen Perspektiven auf den Text beachtet werden, denn „literarische Texte sind emotional bzw. sollen Gefühle hervorrufen; literarische Texte werden als emotional wahrgenommen; Produktion und Rezeption von literarischen Texten haben emotionale Funktionen (Sublimation, Gefühlsverarbeitung, Katharsis, Lust-, Unterhaltungsfunktionen); literarische Texte sind ‚gut‘/,schlecht‘ (unterhaltend, harmonisch, spannend, anregend) geschrieben; gefallen/gefallen nicht.“84

Bei der emotiven Ästhetik von Literatur können somit einerseits die Autorenseite und die Rezipientenseite voneinander unterschieden werden. Diese sind jedoch ihrerseits ebenfalls unterteilbar. Denkbar ist hier eine Unterscheidung der Emotionen, die der Autor selbst beim Schreiben hatte, und derjenigen, die er durch das Schreiben evozieren will. So können andererseits auch die Emotionen, die ein Rezipient dem gesamten Textkorpus gegenüber einnimmt, und diejenigen, die er während der Lektüre punktuell empfindet, differenziert untersucht werden. Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt ganz auf der Ebene des Textes, d.h. des Mediums zwischen dem Autor und dem Rezipienten, und fragt danach, welche Emotionen die Leser/Hörer einer Erzählung während der Rezeption empfinden sollen. Diese Frage kommt insofern freilich nicht ohne die Autorenseite aus, als sie auf der Ebene des Textes nach Signalen des Autors suchen muss, welche eine bestimmte intendierte, emotionale Textrezeption plausibel machen. Trotzdem soll an dieser Stelle darauf 83 84

Vgl. KONSTANTINIDOU, Sprache, 79. ALFES, Literatur, 116 f.

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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hingewiesen werden, dass nach der Rolle der Emotionen des Autors beim Verfassen seines Textes hier nicht gefragt wird.85 Diese Überlegungen sind für die Fragestellung dieser Studie nicht ausschlaggebend und können für Texte, deren Autor nicht mehr dazu befragt werden kann, ohnehin nur schwer angestellt werden. Im Folgenden soll ein Analyseverfahren erstellt werden, um diejenigen Emotionen aus einem Text herauszuarbeiten, welche dieser aufgrund seiner Erzählweise am wahrscheinlichsten im Zuge der Rezeption hervorzurufen nahelegt. Hierzu lässt sich an bisherige literaturwissenschaftliche Theorien der Textrezeption anknüpfen, die zwischen einer textexternen Ebene (mit der Person des Autors auf der einen, dem empirischen Rezipienten auf der anderen Seite) und einer textinternen Ebene (einerseits der Erzähler, andererseits der Adressat) unterscheiden. Die von Wayne C. Booth86 und Wolfgang Iser87 geprägte sowie im weiteren Verlauf der narratologischen Textforschung etablierte Unterscheidung zwischen realem und implizitem Autor und Erzähler88 einerseits und implizitem und realem Adressaten89 andererseits kann, obgleich sie nicht völlig unkritisch zu betrachten ist und einige Probleme birgt90, für eine wichtige Präzisierung dieser Arbeit herangezogen werden: Untersucht man einen Text auf seine emotiven Effekte hin und verfährt dabei nicht empirisch durch Rezipientenbefragung und entsprechende Datenerhebung und -auswertung, bleibt die Frage nach den Emotionen auf der Ebene des Textes selbst, d.h. sie reicht im folgenden Modell von der Erzählung bis zum impliziten Autor auf der einen und bis zum impliziten Adressaten auf der anderen Seite: 85 Vgl. a.a.O., 123–132.152–156. Emotionen des Autors zu erfragen entspreche wiederum selbst einer mehrdimensionalen Aufgabe, da sowohl nach seiner emotionalen Verfasstheit während des Schreibens, nach seinen Emotionen gegenüber seinen Figuren als auch seinen Emotionen gegenüber den von ihm intendierten Adressaten gefragt werden könnte. All dies steht jedoch nicht im Fokus der vorliegenden Fragestellung. 86 Vgl. dazu BOOTH, Rhetoric. 87 Vgl. dazu ISER, Appellstruktur. 88 Die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler ist insofern wichtig, als Ersterer „verantwortlich für den Text [ist], weil er ihn produziert hat, aber der Erzähler zeichnet sozusagen verantwortlich für die Behauptungen“ (ZIPFEL, Fiktion [2015], 22). Der Autor ist dabei für einen Rezipienten, der den Autor nicht persönlich kennt und zu seinem Werk befragen kann, nur als impliziter Autor eruierbar, d.h. der Rezipient macht sich anhand des Textes ein Bild über den Autor, das nur bedingt auf den realen Autor zutreffen muss. 89 Adressat steht für das englische narratee oder das französische narrataire oder das Konzept des impliziten Rezipienten (vgl. ebd). Das Modell des impliziten Autors bzw. impliziten Lesers findet sich unter anderer Terminologie auch bei Wolf Schmid als „abstrakter Autor/Leser“ (vgl. SCHMID , Elemente, 47–64) oder bei Umberto Eco als „Modellleser“ (vgl. ECO, Lector, 61–82). 90 Vgl. dazu GENETTE, Erzählung, 261–270. Zur Verteidigung des Modells vgl. CHATMAN, Terms, 74–89 und SCHMID, Elemente, 45–106.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

[realer Autor [impliziter Autor [Erzähler [Erzählung] Adressat] impliziter Adressat] realer Adressat].91

Dieses Vorgehen ist für die Exegese insofern sinnvoll, als es zum einen freilich ganz ausgeschlossen ist, für biblische Texte mit Sicherheit sagen zu können, welche exakten Emotionen der reale Autor durch seine Formulierungen hervorrufen wollte; zum anderen lässt sich genauso wenig eine sichere Aussage darüber treffen, welche Emotionen beim empirischen Rezipienten durch den Text ausgelöst wurden.92 Jeder Hörer oder Leser ist stets individuell geprägt durch seine Kultur, seine Zeit, sein Vorwissen, seine gemachten Erfahrungen und nicht zuletzt durch seine aktuelle Stimmung.93 Zusätzlich zu beachten ist hierbei die immense Distanz, die heutige Leser der neutestamentlichen Texte von den realen Adressaten des Evangeliums im 1. Jh. n. Chr. trennt. Diese ist nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine geografischräumliche sowie sozio-kulturelle, woraus wiederum ggf. intellektuelle und emotionale Rezeptionsdifferenzen erwachsen. Um die Frage nach den Emotionen so eindeutig validiert wie möglich zu beantworten, kann die vorliegende Textanalyse demnach nur auf der Ebene der Erzählung bleiben und von dort aus vorsichtige und stets unter letztem Vorbehalt stehende Vermutungen darüber anstellen, welche Leserlenkung der Text anhand bestimmter Signale nahelegt. Wenn im Folgenden also vom „Autor“ oder dem „(Evangelisten) Mt“ die Rede ist, ist darunter stets der implizite Autor zu verstehen; genauso zielen Aussagen über „den Rezipienten“ auf den impliziten Adressatenkreis. (4) Zuletzt schließt sich die vierte Frage nach der emotiven Textpragmatik an: Während die zweite und dritte Frage auf die rezeptionsbegleitenden Wirkungen zielen, richtet sich die vierte Frage auf die langfristigen Wirkungen des Textes. Sind die vermittelten Emotionen stark genug, um längerfristig zu wirken? Unterstützen sie die pragmatische Aussage des Textes? Wollen sie eine Verhaltensänderung herbeiführen, ein bestimmtes Handeln in der Zukunft motivieren oder abwehren? Um dies erneut an der Parabel vom Hochzeitsmahl zu veranschaulichen: Die Parabel endet mit dem Hinauswurf des inadäquat gekleideten Hochzeitsgastes. V. 13a erscheint als eine zwar harte, aber ggf. noch angemessene Strafe des Gastes: „Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm die Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus!“ Geht ein Rezipient in emotionale Abgrenzung zu dieser Figur, mag er darauf noch mit Zufriedenheit oder gar Genugtuung reagieren. Doch V. 13b geht darüber hinaus: Durch die emotional stark aufgeladene Eröffnung der Figurenperspektive zielt der letzte Ausdruck vom „Weinen und Zähneknirschen“ auf eine emotionale Reaktion des Rezipienten, welche nun von Genugtuung zu Mitleid übergehen kann. Erst durch diesen kurzen, aber am Schluss stehenden und daher umso stärkeren Einblick in die Verzweiflung und Reue des hinausgeworfe-

91

Vgl. GENETTE, Erzählung, 261. Vgl. dazu ANZ, Gefühle, 159–161. 93 Vgl. ABELE-BREHM/GENDOLLA, Motivation, 300 f. 92

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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nen Gastes erreicht die Parabel ihre ethische Wirksamkeit.94 Steht die Figur des Gastes doch als Analogie für einen Menschen, der ins Reich Gottes kommen möchte und daher für den Menschen per se, kann sich plötzlich grundsätzlich jeder Rezipient der Parabel in dieser Figur sehen. Das Weinen und Zähneknirschen vermag diese punktuelle Empathie zu fördern und im Rezipienten instinktives Erschrecken und Furcht vor diesem Szenario wecken. Erst hierdurch wird er veranlasst, genau zu prüfen, ob er der Figur der Parabel gleichkommt, sein Verhalten korrigieren oder beibehalten muss, um am Ende der Zeit nicht selbst von Gott verworfen zu werden.

Hinsichtlich ihrer je eigenen inhaltlichen Zuspitzungen sind diese vier Fragen zu differenzieren, schon um die weitläufige und vielschichtige Dimension der emotiven Textrezeption akkurat im Auge zu behalten. Jedoch sollen aus den einzelnen Fragen nicht vier getrennte Methodenschritte resultieren. Bei der Anwendung einer emotiven Textanalyse zeigt sich rasch, dass die Fragen ineinandergreifen und in ihrer Gesamtheit auf eine umfassende und dadurch einheitliche Untersuchung abzielen. 2.1.2 Der Mechanismus der emotionalen Textrezeption: ein Vorschlag Nachdem die Gegenstandsbestimmung (s.o. Frage 1) bereits erläutert wurde95, können sich die folgenden Überlegungen sogleich den Fragen 2 bis 4 und damit der übergeordneten Frage nach dem emotionalen Rezeptionsprozess zuwenden. Besonders hinsichtlich der Frage nach den Rezeptionsemotionen müssen an dieser Stelle einige Überlegungen vorausgeschickt werden. Zwar ist die Annahme leicht einsichtig, dass die emotive Rezeption eines Textes nicht bei der Rezeption von Figurenemotionen endet, sondern dass der Text selbst, entweder dieselben oder aber andere Emotionen auslöst. Doch wie genau muss man sich diesen Prozess der emotionalen Reaktion vorstellen? Seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. kommt das Interesse an Emotionen und ihrer Wirksamkeit bei der Textrezeption nach langer Vernachlässigung zunehmend wieder in den Blick der Literaturwissenschaft, angestoßen durch das wachsende Interesse in Biologie, Medizin und Psychologie.96 Dabei ist nicht nur eine zunehmende Ausdifferenzierung der Beschäftigung mit Emotionen auf den einzelnen Feldern zu verzeichnen, sondern auch eine beachtliche Integrationsleistung durch interdisziplinäre Vernetzung. Das hier vorgeschlagene Modell der emotiven Textrezeption fußt auf der intensiven Auseinandersetzung mit neueren literaturwissenschaftlichen sowie emotionspsychologischen Arbeiten, die wiederum auf ältere sowie internationale Forschung

94 Eine detailliertere Analyse des Ausdrucks „Weinen und Zähneknirschen“ wird in der Textanalyse von Mt 24,45–51 erfolgen; s.u. Kap. 5.4.2.2. 95 S.o. Kap. 1.3. 96 S.o. Kap. 1.1.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

zurückgreifen.97 Auf dieser Grundlage unterscheidet es vier Ebenen der emotiven Textrezeption, wofür die Differenzierung zwischen Emotionskonzeption und Rezeptionsemotionen leitend ist: Um zu beantworten, ob die im Text begegnenden Emotionen (deskriptiver Rezeptionsvorgang) vom Rezipienten übernommen werden oder ob dieser mit gänzlich anderen Emotionen reagiert, muss anhand des empathischen Rezeptionsvorgangs beurteilt werden. Hiervon ausgehend kann nach den Rezeptionsemotionen im Sinne einer sympathischen oder antipathischen Rezeption der Figuren einer Narration gefragt werden (sympathetischer Rezeptionsvorgang). Diese führen, so sie stark genug sind, wiederum zu einer emotionalen Reaktion des Rezipienten auf die ganze Erzählung und zu langfristig nachwirkenden Folgen. Diese prüft der pragmatische Rezeptionsvorgang.98 a) Der empathische Rezeptionsvorgang Dieses Modell der Textrezeption birgt hauptsächlich auf der empathischen Ebene einigen Sprengstoff: Schon der Terminus der Empathie wirft im psychologischen, literaturwissenschaftlichen sowie philosophischen Diskurs mehr Fragen auf, als er auf den ersten Blick beantwortet. Über die Definition dieses Begriffs herrscht weder disziplininterner, geschweige denn interdisziplinärer Konsens.99 Dies führt zuweilen dazu, dass eine exakte Definition ganz aufgegeben und der Terminus als so genannter umbrella term, d.h. Hyperonym für verschiedene Phänomene verwendet wird.100 Aus dem jeweiligen Verständnis von Empathie ergeben sich wiederum weitreichende Implikationen für die emotionale Medienrezeption.101 Ohne die weitläufigen Forschungsdiskussionen darüber an dieser Stelle darstellen zu können, ist eine 97

Vgl. ANZ, Regeln; ders., Gefühle; BARTHEL, Empathie; BREITHAUPT, Kulturen; EDER, Wege; ders., Thesen und ders., Figur; EKMAN, Gefühle; FEHLBERG, Gefühle; MEES, Struktur; MELLMANN, Gefühlsübertragung und dies., Emotionalisierung; SCHEELE, Empathie; WINKO, Gefühle; PRINZ/WINKO, Sympathielenkung; RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung; WULFF, Moral; ZIPFEL, Fiktion (2001); ders., Emotion und ders., Fiktion (2015). 98 Auf solche Perspektivenunterscheidungen haben bereits andere Arbeiten hingewiesen: So unterscheidet Jens Eder zwischen „Figuren- und Zuschauer-Emotionen“ (vgl. EDER, Thesen, 367), Fritz Breithaupt zwischen der Empathie vor und der Empathie nach einer bewertenden „Parteinahme“ (vgl. BREITHAUPT, Kulturen, 165–169) und Frank Zipfel zwischen „Partizipieren und Beobachten“ (vgl. ZIPFEL, Fiktion (2001), 259). Ganz ähnlich dem empathischen und pragmatischen Rezeptionsvorgang unterscheidet auch Kathrin Fehlberg „Lesergefühle ‚erster Ordnung‘– also Gefühle, die sich auf die Figuren selbst, das heißt direkt auf die Textebene beziehen – […] und […] Gefühle[n] ‚zweiter Ordnung‘“, d.h. die darauf basierende, abschließende Lektürewirkung (FEHLBERG, Gefühle, 105). 99 Siehe hierzu den Überblick von Dolf Zillmann: ZILLMANN, Empathy, 152–162. 100 Vgl. CHRISTEN, Neurobiologie, 84. 101 Der Begriff ist nicht allein für die Rezeption von Literatur wichtig (vgl. bspw. KAMPMANN/HILLEBRANDT, Sympathie), sondern wird auch für das Medium des Films breit diskutiert (vgl. bspw. BRÜTSCH, Kinogefühle).

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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kontextuelle Positionierung der vorliegenden Arbeit erforderlich und möglich. Aufgrund seiner Nutzung für die Textanalyse wird sich das hier entwickelte Empathieverständnis in seiner Herleitung ausschließlich auf literaturwissenschaftliche Arbeiten beziehen, während etwa philosophische oder biologische Definitionen nicht herangezogen werden. Die Terminologiekonfusion in Forscherkreisen resultiert m.E. aus unterschiedlichen Textrezeptionsmodellen, welche jedoch in den wenigsten Fällen expliziert werden. Durch ein implizites Rezeptionsmodell kommt eine gewisse Unschärfe der Begriffe „Empathie“, „Sympathie“ und „Identifikation“ zustande. Gerade bei der emotionalen Textrezeption ist unmittelbar einsichtig, dass der Rezipient sich selbst in die Erzählung hineinnimmt oder dies zumindest tun kann. Er kann das Geschehen quasi wie ein Zuschauer von außen wahrnehmen oder aber sich in die Innenperspektive einer Figur hineinversetzen. Je nachdem, was von beidem er tut, davon hängt maßgeblich ab, ob bzw. wie er emotional auf die Erzählung reagiert und ob er wie die Figur selbst oder gänzlich anders empfindet.102 Komplex wird dieser Rezeptionsvorgang durch seine mögliche „Doppelstruktur“, denn der Rezipient kann bis zu einem gewissen Grad stets beides: sich in eine Figur hineinversetzen und sie von außen beobachten.103 Fiktionale Darstellungen sind nicht zuletzt deshalb ein beliebtes Medium, weil sie eine intensive kognitive sowie emotionale Auseinandersetzung mit dem fiktiven Inhalt zwar ermöglichen, eine solche aber nicht notwendig machen: „Eine klassische Funktionsbestimmung von Fiktions-Rezeption sowohl für Literatur wie auch für Film ist das sogenannte Probehandeln oder Probefühlen, das keine reale Handlungsnotwendigkeit nach sich [ziehen muss] und das mit pädagogischen und/oder (nur) mit hedonistischen Zwecken verbunden werden kann.“104

Diese entlastende Wirkung fiktionaler Darstellungen ist stets zu beachten. Der Rezipient hat selbst in der Hand, wie stark er sich in eine Figur hineinversetzt und mit ihr fühlt oder dies unterlässt. Eine starke Anteilnahme am Text ist ein Prozess, welcher der psychologischen sowie literaturwissenschaftlichen Forschung bis heute Kopfzerbrechen bereitet: Warum geschieht dies? Wie läuft dieser Prozess ab, und lässt sich dieser Vorgang in einem Rezeptionsmodell abbilden? Entsprechend nennt Katja Mellmann diesen Fragenkomplex „ein Kernproblem jeder literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorie“105. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist es weder zielführend noch gewinnbringend, verschiedene Erklärungsmodelle 102

Vgl. die Unterscheidung zwischen Figuren- und Zuschauer-Emotionen bei EDER, Thesen, 367. 103 Vgl. ZIPFEL, Fiktion (2001), 257–261. 104 Ders., Emotion, 150. 105 MELLMANN, Gefühlsübertragung, 110.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

für das so genannte paradox of fiction darzustellen, das sich mit der Frage beschäftigt, wie es überhaupt zu einem Einfühlen des Rezipienten in eine Erzählung kommen kann. Der Fokus liegt vielmehr auf der zweiten Frage und somit auf „eine[r] Rekonstruktion der konkreten psychischen Mechanismen, die am Verstehensprozess beteiligt sind“106. Die Hauptproblematik liegt m.E. in einer mangelnden Konkretion des Prozesses des Sich-Hineinversetzens. Dass dieser ein zentraler Bestandteil der emotionalen Textrezeption ist, ist intuitiv einsichtig: Um die Emotion einer Figur einer Erzählung selbst zu fühlen, muss sich der Rezipient in sie hineinversetzen. Jedoch besteht genau hier weiterer Konkretionsbedarf, der in den wenigsten Fällen geleistet wird.107 Denn es ist ein Unterschied, ob sich der Rezipient in das Befinden einer Figur oder lediglich in deren Situation hineinversetzt.108 Nun ist diese Unterscheidung für die emotive Rezeption insofern notwendig, als die Emotionen, die eine Figureninnenperspektive nach sich zieht, andere sein können als die Emotionen, die eine Eigenperspektive des Rezipienten hervorruft. Dies ist der Grund dafür, warum „sozial gerichtete – d. h. auf Figuren bezogene – Emotionen typischerweise nicht-identisch sind mit den Emotionen der Figur.“109 So stellen das Bangen um eine Person, die selbst überhaupt nicht weiß, dass sie in Gefahr schwebt, oder das Mitleid für eine Person, die sich selbst gar nicht als unglücklich bezeichnen würde, stellvertretende Emotionen im Sinne eines „Fühlens für jemanden“ (feeling for) aus einer Beobachterperspektive heraus dar. Eine Gefühlsübernahme der Emotion einer Figur dagegen kommt einem innenperspektivischen „fühlen mit jemandem“ (feeling with) gleich.110 106 107

Dies., Emotionalisierung, 98. So von den in Anm. 97 genannten Untersuchungen nur RYSSEL/WULFF, Affektsteue-

rung. 108 Darauf weist Katja Mellmann explizit hin: „Zu einer tendenziellen Parallelisierung von Figuren- und Leseremotionen kommt es hingegen typischerweise dann, wenn der Leser gar nicht auf die Figur selbst, sondern vielmehr nur auf dieselbe Situation wie die Figur reagiert.“ (MELLMANN, Gefühlsübertragung, 115; Hervorhebung im Original). Auch Fritz Breithaupt stellt eine Prävalenz der Situations- vor der Figurenerschließung in Rechnung (vgl. BREITHAUPT, Kulturen, 71 f.). 109 MELLMANN, Gefühlsübertragung, 115 (Hervorhebung im Original). 110 Vgl. RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung. Katja Mellmann argumentiert gegen diese Gefühlsübertragung einer Figurenemotion auf den Rezipienten (feeling with) und ist der Meinung, dass es nur dann zu gleichen Emotionen kommt, wenn der Rezipient sich in die Situation der Figur hineinversetzt und dabei zufällig gleich reagiert wie die Figur. Das bedeutet, das feeling for sehe dann nur aus wie ein feeling with (vgl. MELLMANN, Gefühlsübertragung, 115 f.). Selbst wenn dies so ist, scheint diese Unterscheidung bei einer Analyse der Rezeptionsemotionen dennoch hilfreich zu sein, um die Perspektive des Rezipienten zu veranschaulichen: Denn von dieser abgleichenden Bewertung der emotionalen Verfassung von Figur und Rezipient hängt maßgeblich ab, ob Letzterer das Geschehen vornehmlich aus der Perspektive der Figur wahrnehmen oder in stärkere Abgrenzung zu dieser

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Dieser wichtige Aspekt des empathischen Prozesses kann an der Emotion des Mitleids, die häufig im Zusammenhang mit Empathie genannt wird, exemplarisch veranschaulicht werden:111 Bei der Verwendung dieses Emotionsterminus muss eine wichtige Unterscheidung getroffen werden zwischen Mit-Leiden und Be-mitleiden. Bei Letzterem handelt es sich um eine Bewertung aus der eigenen Perspektive auf den Anderen und um einen Fall des feeling for. Mit-Leid hingegen geschieht bereits aus einer sympathetischen Haltung dem Anderen gegenüber, übernimmt dessen Perspektive und fühlt und leidet – zumindest kurzfristig – wie dieser, obwohl die Situation nicht geteilt wird.112 Hier handelt es sich um ein feeling with aufgrund größerer Nähe zwischen den beiden Personen. Einfach mag der Fall eines Bemitleidens behinderter Menschen sein, die sich selbst jedoch nicht unbedingt als benachteiligt wahrnehmen und ggf. ein völlig glückliches Leben führen. Hier handelt es sich ganz offensichtlich nicht um Mit-Leid, denn diese Person leidet in der Tat gar nicht. Genauso Figur treten wird. Diese Positionierung des Rezipienten gegenüber der Figur gerät bei Mellmann etwas aus dem Blick, wenn es ihr hauptsächlich darum geht zu zeigen, dass die Rezeptionsemotionen ggf. die gleichen wie die einer Figur, doch niemals dieselben sein können (dies., Emotionalisierung, 118). Außerdem argumentiert sie dafür, dass der Rezipient die Emotion einer Figur nur imaginativ nachvollzieht und dabei nicht zwangsläufig selbst fühlen muss (vgl. dies., Gefühlsübertragung, 116 f.). Obgleich von einer etwaigen Intensitätsdifferenz der Emotionen auszugehen ist, ist m.E. sehr fraglich, ob eine Emotion nur imaginiert werden kann, ohne dabei, wenigstens ansatzweise, gefühlt zu werden. Erstens kann der Rezipient nur empathisch urteilen (im Sinne eines: „So würde ich mich in dieser Situation auch fühlen“), wenn er die Emotion zumindest partiell teilt. So muss doch gerade das nicht-Fühlen einer Figurenemotion trotz eines Hineinversetzens in deren Lage als Empathieunfähigkeit bezeichnet werden. Zweitens ist nicht klar, wie ein Rezipient sich bspw. eine Emotion nur vorstellen könnte, die er selbst noch nie gefühlt hat. Drittens sprechen dagegen auch Forschungen, die belegen, dass sowohl das tatsächliche Miterleben als auch die Fantasie einer fremden Emotion diese auszulösen vermag (vgl. EKMAN, Gefühle, 47–49). Es stellt sich letztlich auch die formale Anfrage, ob hier Imagination im Sinne eines kognitiven Vorgangs und Fühlen als ein emotionaler unsachgemäß verbunden werden und ob es „emotionale Imagination“ überhaupt geben kann. Dazu kann auf die Rezeption von Fiktion im Sinne eines make-believe-Spiels hingewiesen werden, wie es Frank Zipfel erläutert: Der Rezipient nimmt eine fiktionale Erzählung auf, als sei sie wahr, und somit ist auch seine emotionale Reaktion eine echte (vgl. ZIPFEL, Fiktion [2001], 277 f.). Indem Katja Mellmann Literatur als emotionale „Attrappenwirkung“ bezeichnet, die durch nicht reale Stimuli dennoch Emotionen auslösen kann (vgl. MELLMANN, Emotionalisierung, 41), erkennt sie diesen Prozess selbst an, den sie den „psychopoetischen Effekt“ nennt (a.a.O., 103). 111 Vgl. a.a.O., 124–128. 112 Es kann darüber diskutiert werden, ob ein solches Mit-Fühlen für Mitleid tatsächlich notwendig ist oder es genügt, kognitiv zu erfassen, dass der Andere leidet, um mit Mitleid zu reagieren (vgl. EKMAN, Gefühle, 249). Obgleich m.E. Ersteres zuzutreffen scheint, führt diese Frage zu weit in die mitleidsspezifische Forschung hinein, als sie hier von weiterführendem Interesse ist.

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wenig ist es Mitleid, wenn ein gläubiger Mensch einen Atheisten bemitleidet. Denn auch hier wird die Perspektive des Anderen nicht teilnehmend eingenommen, da der Atheist mit seiner freien Entscheidung, nicht an Gott zu glauben, ggf. völlig zufrieden ist. Das Mitleid des Gläubigen fußt allenfalls auf seiner eigenen Beurteilung dieser Entscheidung. Genuines Mitleid hingegen resultiert aus Fällen des unmittelbaren vor Augen Stellens des konkreten Leids einer anderen Person, bspw. der Anblick einer verzweifelten oder trauernden Person. Hier wird der Zustand dieser Person – wenn ggf. auch nur sehr kurz – gespiegelt und die Lage dieser Person emotional erschlossen. Das Phänomen des feeling for und feeling with lässt sich auch an einem neutestamentlichen Textbeispiel verdeutlichen: In Mt 14,25–27 erscheint Jesus den Jüngern auf dem See, und diese reagieren mit großer Furcht (V. 26). Hört ein Rezipient diese Erzählung zum ersten Mal ohne weiteres Wissen über Jesus, versetzt er sich in die Lage der Jünger und wird deren Furcht wohl teilen. Doch ein Rezipient des Mt-Ev im 1. Jh. n. Chr. verfügt über beträchtliches Mehrwissen (er kennt Jesus bereits als den Christus und vollmächtigen Sohn Gottes, den es nicht zu fürchten gilt), das er bei der Rezeption dieser Erzählung nicht außen vor lassen kann. Aus dieser Eigenperspektive heraus wird er die Furcht der Jünger als unnötig, wenn nicht sogar als verwerflichen Unglauben (gemäß V. 31) bewerten und selbst mit ehrfurchtsvoller Freude auf dieses machtvolle Auftreten Jesu reagieren.

Wie an diesem Beispiel sichtbar wird, hängt die Übernahme einer Innen- oder Außenperspektive v.a. von einer unwillkürlichen Bewertung der jeweiligen Situation der Erzählung ab. Zu dieser Bewertung aber gehört ein subjektives sich Hineinversetzen in die Situation, denn die Bewertung geschieht auf der Basis dessen, was man selbst in dieser Situation täte und ob der Figur in ihrem Handeln hinsichtlich ihrer zugrunde liegenden Wertmaßstäbe zugestimmt werden kann oder nicht.113 Indikatoren dieser Einschätzung sind dabei freilich nicht nur die Figurenemotionen, sondern auch alle weiteren Aspekte ihres Charakters: ihre kognitiven, emotionalen und voluntativen Dispositionen sowie das daraus resultierende Figurenverhalten und -handeln.114 Auch das zusätzliche Wissen, über das der Rezipient ggf. verfügt, spielt hier eine Rolle. Diesen Prozess des Nachvollzugs, der Perspektivübernahme sowie der 113

Dass diese unwillkürliche Bewertung des Rezipienten häufig unzureichend berücksichtigt wird, führt m.E. dazu, dass es zu unterschiedlichen Meinungen über die Reihenfolge eines feeling with und feeling for kommt (vgl. SCHEELE, Empathie). Die Frage einer generellen Reihenfolge stellt sich jedoch gar nicht, wenn man die bewertende Eigenperspektive zu Anfang berücksichtigt, die über die weitere emotionale Einstellung entscheidet. 114 Hier schließt sich diese Arbeit jener Forschungsmeinung an, die für die empathische Bewertung einer Figur über die bloße emotionale Verfassung derselben hinaus die Gesamtfigur im Hinblick heranzieht (vgl. a.a.O., 37–39). Damit wendet sie sich gegen ein Empathieverständnis im engeren Sinn, das darin nur die Rezeptionsreaktion auf die Emotionen einer Figur verstanden wissen möchte (vgl. PRINZ/WINKO, Sympathielenkung, 103 und EDER, Thesen, 368). Dieses Verständnis von Empathie im weiteren Sinn ist deshalb sinnvoll, da auf die Emotion einer Figur nur auf der Grundlage weiterer Informationen darüber, warum sie sich gerade so fühlt, angemessen reagiert werden kann.

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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unwillkürlich folgenden Bewertung des Figurenhandelns bezeichnet die vorliegende Arbeit als Empathie. Diese Empathiedefinition geht insofern über das allgemeine Begriffsverständnis im Sinne einer bloßen „Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellung anderer Menschen einzufühlen“115, hinaus, als sie gleichzeitig auch eine Bewertung umfasst.116 Diese trägt dem Umstand Rechnung, dass die Wahrnehmung einer Figur niemals vollkommen neutral sein kann: Versucht bspw. ein Rezipient, den emotionalen Zustand einer Figur nachzuvollziehen, die eine ihm als vollkommen unangebracht erscheinende Emotion an den Tag legt, wird das Nachvollziehen durch diese unwillkürliche Bewertung erheblich erschwert. So wird es bspw. dem Hörer/Leser eines Märchens schwerfallen, sich in die gute Laune, Fröhlichkeit oder gar enthusiastische Begeisterung eines Bösewichts bei dessen niederträchtigen Machenschaften hineinzuversetzen. Viel wahrscheinlicher sind die Verurteilung dieser Taten und eine unwillkürliche Reaktion mit Empörung, Ärger, Zorn oder Verachtung. Diese Rezeptionsemotionen nun sind die spontane Reaktion auf den Prozess der Empathie, der sowohl ein Sich-Hineinversetzen in die Erzählung als auch ein bewertendes Sich-Abgleichen mit den Figuren umfasst. Diese Bewertung begründet, warum die reaktive Emotion des Rezipienten oftmals nicht der deskriptiv dargestellten Emotion in der Erzählung entspricht.117 Somit vermag das hier entworfene Verständnis von Empathie ein grundsätzliches Phänomen des Mitfühlens zu erhellen: In der Emotionsforschung wird häufig zwischen drei Arten des Fühlens unterschieden – zwischen Mit115

Duden V, 265. In diese Linie fallen auch die Empathieauffassungen von Ulrich Mees (vgl. MEES, Struktur, 91 f.) und Hans J. Wulff (vgl. WULFF, Moral, 381 und RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung). Auch Fritz Breithaupt sieht in der Bewertung ein wichtiges Element der Empathie, die er als parteinehmende Entscheidung bezeichnet (vgl. BREITHAUPT, Kulturen, 175). Dabei unterscheidet er jedoch nicht näher zwischen der dieser Entscheidung vorgeordneten und ihr nachgeordneten Empathie (vgl. a.a.O., 155–169), was in diesem Modell der Unterscheidung zwischen empathischem und sympathetischem Rezeptionsvorgang entspricht. Andere Empathieverständnisse hingegen koppeln diese von einer Bewertung los: Jens Eder versteht darunter rein das emotionale Hineinversetzen in eine Figur (vgl. bspw. EDER, Wege, 237 und ders., Thesen, 368). Paul Ekman unterscheidet zwischen kognitiver und emotionaler Empathie: Erstere erkennt die Emotion des Gegenübers, letztere empfindet sie. Die Erklärung, warum es zum Übergang von der einen zur anderen kommt, vermag m.E. die Bewertung der wahrgenommenen Emotion zu geben, doch geht Paul Ekman darauf nicht ein (vgl. EKMAN, Gefühle, 249). Auch Katja Mellmann versteht Empathie nur als „eine mentale Repräsentation eines fremden ‚inneren‘ Zustands“, die „das Ergebnis einer beliebig komplexen psychischen Operation sein“ kann (MELLMANN, Emotionalisierung, 115 f.). Allerdings sieht sie in dieser unwillkürlichen Reaktion keine emotionale Bewertung (a.a.O., 111). 117 Vgl. MEES, Struktur, 91. 116

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

gefühl, Gefühlsansteckung und stellvertretenden Gefühlen.118 Beim Mitgefühl stellt sich das gleiche Gefühl ein, das die betrachtete Person empfindet. Zu betonen ist jedoch, dass das Gleiche nicht dasselbe bedeutet: Aufgrund der starken Subjektivität von Emotionen ist es beinahe unmöglich, genau dasselbe zu empfinden wie eine andere, von sich selbst unterschiedene Person.119 Mitgefühl ist vielmehr als ein Anteilnehmen an der Situation des Anderen zu verstehen, in der man sich selbst ähnlich fühlen würde und daher in die „emotionale Schwingung“ des Anderen eintritt: „Ich reagiere mit einem Mitgefühl auf das Leid, den Schmerz, die Freude des anderen, ohne darum sein Leid, seinen Schmerz, seine Freude zu erfahren. Aber gleichwohl erfahre ich ein Gefühl, und zwar ein Gefühl, in dessen Zentrum das Gefühl des anderen steht.“120 Die Gefühlsansteckung tritt meist in Situationen von Massenansammlungen auf, bei denen gemeinsam Anwesende ein bestimmtes Gefühl teilen, etwa die Begeisterung bei einem Sportereignis oder die Empörung bei einer öffentlichen, politischen Bekanntmachung.121 Dieses Phänomen ist für die Textrezeption weniger von Bedeutung. Wichtiger sind die stellvertretenden Gefühle: Diese werden empfunden, wenn die betrachtete Person die als in ihrer Situation angemessen erachtete Emotion nicht an den Tag legt; dann kann die erwartete Emotion an ihrer statt empfunden werden.122 Ein Beispiel dafür ist das so genannte „Fremdschämen“ für den Fauxpas einer anderen Person. Der Unterschied zwischen Mitgefühl und stellvertretenden Emotionen ist im Empathieverständnis dieser Studie aufgenommen, d.h. konkret: Mitgefühl stellt sich dann ein, wenn die Reaktion der betrachteten Person auf ihre Situation als angemessen beurteilt wird. Stellvertretende Emotionen werden dann empfunden, wenn die Reaktion der betrachteten Person als in irgendeiner Weise unangemessen beurteilt wird. Allerdings – und das wird häufig bei der Betrachtung stellvertretender Emotionen außer Acht gelassen – kann auch ganz anders auf einen Fehltritt eines Anderen reagiert werden, nämlich mit offener Empörung, Ärger oder gar Zorn. Dies kann anhand der hier getroffenen Unterscheidung ebenfalls erklärt werden und entspricht der Unterscheidung zwischen Innen- und Außenperspektive: Wird die Innenperspektive der betrachteten Person übernommen, stellen sich stellvertretende Emotionen ein. Besteht aber keine tiefere Beziehung zwischen dieser Person und dem Betrachter, werden sich bei Letzterem viel eher außenperspektivische Emotionen zeigen, welche die Missbilligung des Verhaltens des Anderen offenbaren. Für den Rezeptionsvorgang sind sowohl Mitgefühl als auch stellvertretende 118

Vgl. DEMMERLING/LANDWEER, Philosophie, 186–190. Vgl. a.a.O., 186. 120 Ebd (Hervorhebungen T.D.). 121 Vgl. a.a.O., 187. 122 Vgl. a.a.O., 189. 119

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bzw. reagierend-bewertende Emotionen möglich, und es wird berücksichtigt, dass ästhetisch dargestellte Emotionen (in Kunst, Literatur, Film etc.) zwar Emotionen „in eigener Sache“ auslösen können, d.h. der Rezipient seiner eigenen Bewertung gemäß anders als die dargestellten Figuren reagiert, aber genauso eine „Einschwingung“ auf fremde Emotionen, d.h. die Übernahme der Figurenemotionen, zur Folge haben können. Zu Beginn einer emotionalen Textrezeption steht demnach der empathische Vorgang: Zunächst einmal kann der Rezipient nicht aus seiner Haut, d.h. er vollzieht das gelesene oder gehörte Geschehen einer Narration aus eigener Perspektive nach. Dieses Ausgehen von der eigenen Person findet Belege in Forschungen zum so genannten false consensus effect, der besagt, dass Menschen Anderen häufig die eigene Meinung zuschreiben.123 Der Rezipient versetzt sich also in die Lage einer Figur, jedoch nicht in die Figur selbst. Er übernimmt ihre Situation, jedoch nicht ihren Charakter. Dies ist schon aufgrund der Tatsache einsichtig, dass ein Rezipient eine Figur zu Beginn einer Erzählung noch gar nicht gut genug kennen kann, um ihre Persönlichkeit exakt einzunehmen. Erst sein Hineinversetzen in die Erzählung löst die nötige Rezeption der Figur aus, die einen unwillkürlichen Abgleich mit sich bringt, etwa so: Würde der Rezipient dasselbe denken, fühlen, wollen und tun wie die Figur? Dieser Abgleich resultiert entweder in einer Zustimmung, d.h. der Rezipient findet sich in der Reaktion der Figur wieder oder heißt diese zumindest gut. Dieser positive Abgleich wird im Folgenden als empathischaffirmativer Vorgang bezeichnet. Die zweite Möglichkeit besteht in der Ablehnung und Abgrenzung des Rezipienten vom Denken, Fühlen oder Handeln der Figur, was einem empathisch-devianten Urteil gleichkommt. Erst aufgrund dieser abgleichenden Bewertung macht sich der Rezipient ein Bild von der Figur, setzt sich zu ihr in Beziehung – lernt sie lieben oder hassen. Die Empathie steht insofern nicht zufällig an erster Stelle des emotionalen Rezeptionsvorgangs. Dieses Sich-in-Beziehung-Setzen des Rezipienten zu der Erzählung, ihrem Inhalt und ihren Akteuren ist der „hermeneutische Basisprozess“124, der die Mimesis zwischen Fiktion und Realität vollzieht und erst dazu führt, dass die Narration als bedeutsam genug erachtet wird, sodass sie etwas im Rezipienten – seien es Emotionen, Gedanken oder Taten – auszulösen vermag. Der empathische Vorgang ist von starker Subjektivität geprägt und hängt von vielerlei Faktoren ab, welche sich im folgenden, dreiteiligen Spektrum verorten: 125

123

Vgl. dazu BREITHAUPT, Kulturen, 27 f. MELLMANN, Emotionalisierung, 115. 125 Vgl. EDER, Thesen, 368–371. 124

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

Biografie

Wissen

Kontext

Abb. 1: Individuelle Faktoren des empathischen Rezeptionsvorgangs

Zunächst einmal nimmt jeder Rezipeint eine Erzählung stets im Lichte seiner eigenen Biografie wahr, welche die subjektive Bewertung des Geschehens (aufgrund eigener Interessen an der Erzählung) steuert und emotionale Gedächtnisinhalte aktiviert oder nicht, welche die Emotionen in der Erzählung unterstützen oder aber unverständlich bleiben lassen. Zweitens verfügt der Rezipient (oder er verfügt nicht) über das notwendige (bspw. intertextuelle) Wissen, das für das Abrufen einer bestimmten Emotion nötig ist. Dazu zählt auch kulturelles Wissen, das zu einer bestimmten objektiven Bewertung der Erzählung führt (bspw. durch Moral- und andere Wertmaßstäbe). Drittens schließlich hört er die Geschichte stets in einem bestimmten Kontext, wobei seine emotionale Disposition zum Zeitpunkt der Rezeption und nicht zuletzt seine allgemeine Fähigkeit und sein Wille, sich in die Figuren hineinzuversetzen, für die emotionale Textrezeption ausschlaggebend sein können, d.h.: Ist der Rezipient überhaupt in der „richtigen Stimmung“, um die Botschaft einer Geschichte zu erschließen, oder ist er gerade abgelenkt oder vollkommen desinteressiert? – Diese drei Spektren sind bei der emotionalen Textrezeption zwar von zentraler Bedeutung, können in einer theoretischen Analyse, welche sich ganz auf den Text konzentriert, aber nicht oder nur teilweise berücksichtigt werden. Sie kann nicht nach dem realen, antiken Rezipienten fragen, sondern muss auf der Ebene des impliziten Lesers verbleiben.126 Es kann somit lediglich nach über- und interindividuellen emotiven Charakteristika der Sprache gefragt werden, die „eine gewisse Allgemeingültigkeit Allgemeingültigkeit im Rahmen einer Sprachgemeinschaft aufweis[en]“127. Hierbei muss ein möglicher diachroner Wandel dieser emotionalen Konnotation von Sprache stets im Hinterkopf behalten werden, ohne dass er hier gesonderter Gegenstand der Untersuchung werden kann.128

126

S.o. Kap. 3.2.1.1. KONSTANTINIDOU, Sprache, 58. 128 Dies wäre Gegenstand einer gesonderten, linguistischen Studie und sprengt den Rahmen des vorliegenden Arbeitsanliegens. 127

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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b) Der sympathetische Rezeptionsvorgang Auf der Grundlage dieses empathischen Urteils entscheidet sich nun die vornehmliche Perspektive auf die Figuren einer Erzählung in deren folgendem Verlauf sowie die reaktiven Rezeptionsemotionen. Anders ausgedrückt: Aus der empathisch-affirmativen oder aber empathisch-devianten Rezeption der Figur resultiert, ob eine positive Einstellung ihr gegenüber eingenommen wird (Sympathie) oder eine negativ-abgrenzende (Antipathie).129 Empathie bezieht sich demnach auch auf negative Figuren130, und sowohl Sympathie als auch Antipathie sind Resultate des empathischen sowie des sympathetischen Prozesses.131 Obgleich „sympathethisch“ und „sympathisch“ häufig synonym gebraucht werden,132 sollen sie an dieser Stelle bewusst unterschieden werden, um nicht zu suggerieren, dass der sympathethische Rezeptionsvorgang zwangsläufig zu Sympathie gegenüber einer Figur führe. Vielmehr beurteilt er ihr Sympathiepotential, das ebenso sehr niedrig bis hin zur Antipathie ausfallen kann. Das sympathethische Potential einer Figur lässt sich auf einem graduell vorzustellenden Spektrum zwischen Abgrenzung und Identifikation133 verorten. Je stärker die Sympathie, desto näher kommen die rezepti129 Im Anschluss an die Gruppe innerhalb des Forschungsdiskurses, welche diese Reihenfolge von Empathie und Sympathie vertritt und zu der bspw. Verena Barthel (vgl. BARTHEL, Empathie, 31–39), Fritz Breithaupt (vgl. BREITHAUPT, Kulturen, 165–169), Dirk Ryssel und Hans Wulff (vgl. RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung. Eine erste Fassung dieses Online-Artikels erschien in: WULFF, TV-Movies, 236–256), Brigitte Scheele (vgl. SCHEELE, Empathie, 43–45) sowie Katharina Prinz und Simone Winko (vgl. PRINZ/WINKO, Sympathielenkung, 102–104) gehören. Dagegen gibt es auch Forschungsmeinungen, nach denen der Prozess umgekehrt verläuft und sich Empathie erst in Folge der Sympathie entwickelt, wie bspw. Kathrin Fehlberg (vgl. FEHLBERG, Gefühle, 37) und Dolf Zillmann (vgl. ZILLMANN , Dramaturgy). Diese Ansätze differenzieren m.E. aber zu wenig zwischen der Bewertung und dem daraus resultierenden rezeptiven Erleben der Figur. Denn eine antipathische Abgrenzung kann erst entstehen, nachdem die Figur (empathisch) erfasst und beurteilt wurde. Erst danach wird im Falle einer Antipathie ein Einfühlen in die Figur nicht mehr stattfinden. 130 Vgl. RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung. 131 Vgl. BARTHEL, Empathie, 33. Sympathie wird hier weniger im Sinne einer Emotion verwendet, sondern als das Ergebnis eines sowohl kognitiven als auch emotionalen Bewertungsvorgangs (vgl. MELLMANN, Emotionalisierung, 156). 132 Vgl. Duden V, 968. 133 Der Begriff „Identifikation“ vermag im literaturwissenschaftlichen Diskurs die Schwierigkeiten der Terminologie nur noch zu erhöhen (vgl. dazu MELLMANN, Emotionalisierung, 134–137). Während bspw. Verena Barthel und Fritz Breithaupt diese Begrifflichkeit aufrechterhalten, um zu unterscheiden, ob der Rezipient eine Eigenperspektive aufrechterhält (Empathie) oder sich ganz in die Figur hineinversetzt und quasi in dieser verschwindet (vgl. BARTHEL, Empathie, 31 und BREITHAUPT, Kulturen, 165–169), behalten sie andere wie Björn Ekman und Harald Weinrich dem lebensweltlichen Bereich vor und verwenden für den Effekt der Literatur nur den Terminus der Empathie (vgl. BARTHEL, Empathie, 31 f.). Jens Eder wiederum versteht unter diesem Terminus schon

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ven Emotionen den Emotionen der Figur selbst: Der Rezipient versetzt sich stärker in die Figur hinein und fühlt intensiv mit ihr (starke Innenperspektive und feeling with).134 Aus bloßem Nachvollzug wird so Mitvollzug.135 Im Falle der Antipathie hingegen nimmt der Rezipient eine stärkere Außenperspektive ein, beobachtet die Figur weiterhin lediglich von außen und wird somit in bestimmten Situationen auch verstärkt mit anderen Emotionen reagieren als die Figur selbst. Während das Sympathiepotential gänzlich negativ gezeichneter Figuren sicherlich am niedrigsten ist und das rein positiver Charaktere am höchsten, dürfen dennoch auch mögliche „Graustufen“ dazwischen nicht unbeachtet bleiben. Es ist darauf hinzuweisen, dass auch negativ gezeichnete Figuren eine Innenperspektive nicht kategorisch ausschließen. Darauf wird im Laufe dieser Ausführungen noch näher einzugehen sein. Das Sympathiepotential einer Figur hängt vornehmlich an zwei Faktoren: Erstens wird geprüft, wie ähnlich der Rezipient der Figur ist.136 Diese Ähnlichkeit umfasst hierbei ein weites Spektrum von reiner psychischer Verfasstheit, über objektives Verständnis, subjektive Parteinahme bis hin zur Familiarität und intensiven Verbundenheit.137 Es werden bestimmte Parameter einer Figur überprüft. Dazu zählen „innere“ Gesichtspunkte wie der Charakter, die Verfasstheit und das Verhalten der Figur, sowie „äußere“ Gesichtspunkte wie das Rollen-Frame, durch das eine Figur wahrgenommen wird. Von der jeweiligen Rolle, die eine Figur in der Erzählung einnimmt, ist unmittelbar abhängig, ob sich der Leser/Hörer mit dieser identifiziert oder nicht. Dabei sind einen nur partiellen Prozess des Hineinversetzens der Rezipienten in eine Figur, „wenn sie sich in mindestens einer relevanten Hinsicht vorstellen, sich in der Situation des fiktiven Wesens zu befinden oder dessen Eigenschaften zu haben“ (vgl. EDER, Figur, 566–603, zit. S. 600), was im vorliegenden Modell noch in den Bereich der Empathie fiele. Hans Robert Jauß unterscheidet sogar fünf verschiedene Muster der Identifikation: die assoziative, die admirative, die sympathetische, die kathartische und die ironische Identifikation (vgl. JAUß, Erfahrung, 212–258), deren Unterscheidung formal zwar weiterführend sein kann, m.E. aber nur schwer auseinanderzuhalten sind und es einen Text unangemessen einengen könnte, versuchte man ihm nur eine dieser Identifikationsarten zuzuordnen. Aufgrund dieser terminologischen Unschärfe des Begriffs wird an dieser Stelle weitgehend darauf verzichtet. Wie bei Katja Mellmann soll die Beschränkung auf den Terminus „Sympathie“ genügen (vgl. MELLMANN, Emotionalisierung, 137). Wird der Terminus doch einmal verwendet, ist mit „Identifikation“ der maximal sympathetische Blick auf eine Figur mit dem niedrigsten Distanzgrad zwischen ihr und dem Rezipienten gemeint. 134 Ein feeling for im Sinne eines stellvertretenden Bangens um oder Hoffens für die Figur, selbst wenn diese weder Furcht noch Hoffnung verspürt, ist dennoch auch hier von Belang. Auf diese „Doppelperspektive“ der Textrezeption ist stets zu achten. 135 Diese Terminologie wurde hier zur Veranschaulichung übernommen von Kathrin Fehlberg (vgl. FEHLBERG, Gefühle, 133). 136 Vgl. BREITHAUPT, Kulturen, 18–65. 137 Vgl. MELLMANN, Emotionalisierung, 138–142.

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äußerliche Faktoren wie Geschlecht und das Alter ebenso von Bedeutung wie Eigenschaften und Handlungsskripts, welche der Rolle aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem religiösen Hintergrund oder etwa ihrer gesellschaftlichen Stellung zugeschrieben werden. So ist der Prinz in einem Märchen der Held, der am Ende das Mädchen seiner Träume rettet und heiratet. Diese Figur verfügt für männliche Rezipienten über hohes positives, sympathetisches Potential. Die Stiefmutter des Mädchens hingegen wird meist als durch und durch antipathische Figur dargestellt. Während Männer sich vermutlich von vornherein nicht mit dieser Figur identifizieren, müssen die Leserinnen/Hörerinnen sich von dieser Figur aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrem Verhalten und Handeln abgrenzen. Zweitens gibt es nicht nur die Möglichkeit, dass eine Figur aufgrund ihrer tatsächlichen Ähnlichkeit zum Rezipienten sympathisch erscheint, sondern weil der Rezipient ihr gleich sein möchte. Der Held im Märchen hat bspw. dieselben moralischen Wertmaßstäbe wie der Rezipient, der sich auf dieser Grundlage stark mit dem Helden in Beziehung setzen kann. Dass der Held aber mutig auszieht, um einen Drachen zu bekämpfen, kann auch für sehr zaghafte und ängstliche Rezipienten als Sympathiepotential wahrgenommen werden, auch wenn er sich selbst hier nicht im Helden der Geschichte wiedererkennt. Daher ist wahrscheinlich, dass für die Sympathie zu einer Figur nicht nur entscheidend ist, ob sich Figur und Rezipient ähneln, sondern v.a., ob der Rezipient das Denken, Fühlen, Handeln der Figur gutheißt. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Antipathie: Eine Figur erscheint dem Rezipienten nicht per se unsympathisch, weil er sich selbst in der Figur nicht wiedererkennt, sondern auch, weil er ihr Denken, Fühlen, Handeln ablehnt. In diesem Sinne sind auch Fälle zu denken, in denen der Rezipient sich problemlos in eine Figur hineinversetzen kann, da er große Ähnlichkeit zwischen sich selbst und der Figur feststellt, die Figur aber gerade aufgrund dieser Eigenschaften nicht sympathisch findet. Bspw. führt ihm die Figur eine seiner schlechtesten Eigenschaften vor Augen. Hier läge gewissermaßen eine „sympathetische Antipathie“ vor: Die Figur wird abgelehnt, obwohl sich der Rezipient zu ihr in Beziehung setzen kann. Der empathische und sympathetische Prozess lässt sich deutlich am Beispiel der Parabel von den ungleichen Söhnen (Mt 21,28–32) nachvollziehen: Die auftretenden Figuren sind ein Vater und seine beiden Söhne. Die Rollen-Frames sind dementsprechend vorgegeben, doch muss der religiöse Kontext in Rechnung gestellt werden, der für den aufmerksamen Hörer sogleich folgende Analogieschlüsse nahelegt: Vater = Gott und (in diesem Fall nicht Sohn = Jesus, da von zwei Söhnen die Rede ist) Sohn = Mensch. Eine Identifikation des Rezipienten mit dem Vater ist demnach aufgrund des Rollen-Frames erschwert. Zwar kann gesagt werden, dass das Handeln Gottes hier anhand der Analogie zu einem irdischen Vater verständlich gemacht werden soll und Jesu Schlussfrage „Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan?“ (V. 31) die Perspektivübernahme des Vaters geradezu einfordert. Dennoch zielt das Rollen-Frame stärker auf eine In-Beziehung-Setzung der Rezipienten mit den beiden Söhnen, weswegen diese beiden im Fokus der folgenden Be-

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trachtung stehen sollen. Hierbei hat der „gute Sohn“ freilich höheres Sympathiepotential als der „schlechte Sohn“. Welcher von beiden jedoch der gute Sohn ist, entscheidet sich erst im Laufe der Geschichte: Der erste Sohn, der sich zunächst der Forderung seines Vaters, in den Weinberg zu gehen und zu arbeiten, widersetzt, hat zunächst kein hohes Sympathiepotential, welches dann jedoch erhöht wird, indem er seine Meinung ändert und doch in den Weinberg geht, um zu arbeiten. Beim zweiten Sohn, der seinen Dienst zunächst zusagt und schließlich doch nicht tut, ist diese Entwicklung umgekehrt. Am Ende der Erzählung wird sich der Rezipient also nicht aufgrund des initialen Verhaltens, sondern des schließlichen Handelns der Söhne mit dem ersten identifizieren wollen. Ginge die Erzählung noch weiter, würde bspw. erzählt, wie der Vater am Abend mit den beiden Söhnen umginge, nachdem er von ihrem Handeln erfahren hat, würde der Rezipient den zweiten Sohn ebenfalls stärker von außen betrachten und auf seine möglichen Emotionen wie Furcht vor Bestrafung oder Reue emotional abgrenzend reagieren. Den ersten Sohn hingegen würde er aus der Innenperspektive verfolgen und ggf. seine Erleichterung oder Freude darüber, dass seine zuvor empfundene Reue zu einem vom Vater gutgeheißenen Verhalten führte und er sein ursprüngliches Verhalten revidieren konnte, teilen. In einem Schaubild verdeutlicht käme man auf folgenden Verlauf der Figurenrezeption:

Tabelle 1: Verlauf der Figurenrezeption in Mt 21,28–32 Rezipientenwahrnehmung Figur I (hier: 1. Sohn) Figur II (hier: 2. Sohn) Figur III (hier: Vater)

Rollen-Frame (Identifikation) möglich möglich erschwert

+ empathisches Urteil

Sympathie

Emotionen

affirmativ

ja

deviant

nein

feeling with feeling for





–138

Wie anhand des obigen Beispiels ersichtlich wird, ist es wichtig, bei diesem Schema der Figurenrezeption den Erzählverlauf zu berücksichtigen. So stellt das Schaubild eben nur das sympathetische Potential der Figuren am Ende der Parabel dar. Dieser Punkt ist wichtig, da viele Erzählungen gerade mit dieser Chronologie spielen, indem sie die zunächst suggerierte Bewertung des Rezipienten im weiteren Verlauf der Erzählung wieder in Frage stellen. Das anfängliche Verhalten einer Figur kann eine Einschätzung derselben im Rezipienten provozieren, die am Ende der Erzählung korrigiert werden muss. Dabei ist zu beachten, dass der erste Eindruck, genau wie im wirklichen Leben so auch im Falle fiktionaler Texte, zählt: „Es gibt Anzeichen, dass das menschliche Gehirn über eine spezialisierte unbewusste good guy/bad guySchaltung verfügt, die eine sehr schnelle Einschätzung von Interaktionspartnern ausführt und von allgemeinen Gedächtnisleistungen unabhängig spei-

138 Da keine Reaktion des Vaters geschildert wird, kann sich der Rezipient nicht zu dieser in Beziehung setzen.

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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chert.“139 Diesen hartnäckigen Eindruck zu widerlegen, kann häufig die Bedeutsamkeit der Erzählung steigern. Genauso geben Rollen-Frames zwar ein bestimmtes Identifikationspotential vor, doch kann eine Erzählung diese Erwartungen auch enttäuschen. Wichtig ist demnach, darauf zu achten, dass der empathische Prozess nicht als ein zu Beginn einer Narration einmalig ablaufender Prozess missverstanden wird. Es handelt sich vielmehr um ein komplexes, spiralförmiges Modell der Textrezeption140: Die erste empathische Wahrnehmung einer Figur führt zunächst zu einer eher kurzfristigen Sympathie oder Antipathie. Im Falle der ersteren erhöht sich das Empathiepotential der Figur, d.h. die Bereitschaft des Rezipienten, sich in sie hineinzuversetzen. Dies wiederum führt im weiteren Verlauf der Erzählung zu verstärkter Empathie und zu immer längerfristiger Sympathie. Doch diese Spirale muss keineswegs geradlinig sein. Sie kann gerade durch ihr mehrmaliges Durchlaufen immer wieder durchbrochen werden und eine Neubewertung einer Figur vornehmen.141 Zeigen ließe sich dies im Mt-Ev anhand der Figur des Petrus, die doch eine sehr ambivalente ist: Sie hat hohes sympathetisches Potential, indem Jesus ihn zu Anfang den „Felsen“, auf den die Gemeinde gebaut werden soll, nennt (Mt 16,18 f.). Auch seine Erwähnung im Kreise der Zwölf, die Jesus vorbildlich nachgefolgt sind und damit belohnt werden, am Ende der Zeit über die zwölf Stämme Israels zu richten, verstärkt dieses positive Licht auf ihn (Mt 19,27–30). Auf der anderen Seite allerdings wird er noch im unmittelbaren Kontext der ersten Ehrenbetitelung von Jesus selbst als „Satan“ bezeichnet (Mt 16,23), verleugnet Jesus (Mt 26,33–35.58.69–75) und schläft in Gethsemane ein (Mt 26,37.40). Sein Empathiepotential bleibt über die Gesamterzählung des Evangeliums hinweg keinesfalls konstant und schwankt immer wieder drastisch.

Obgleich das sympathetische Potential einer Figur weitgehend durch ihren ersten Eindruck vorgezeichnet und auch weiterhin diesem Primäreffekt gemäß gesteuert wird (Halo-Effekt), spielt die Leserlenkung durch die Erzählweise des Textes hier eine gewichtige Rolle.142 Sie kann neue Einsichten provozieren und die Einschätzung von Figuren durch überraschende Wendungen korrigieren. Eine solche nachträgliche Korrektur der Figurenrezeption kann nachhaltiger im Gedächtnis bleiben und hat somit häufig stärkere Pragmatik als eine charakteristisch konstant dargestellte Figur.143 Sie kann aber 139

Ders., Emotionsforschung, 177 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu den von Brigitte Scheele erarbeiteten „Regelkreis“ zu Empathie und Sympathie bei der Literaturrezeption (vgl. SCHEELE, Empathie, 43–45). Ähnliche Bemerkungen zur zeitlichen Entwicklung von Emotionen bei der Textrezeption macht auch Jens Eder (vgl. EDER, Thesen, 363). 141 Vgl. SCHEELE, Empathie, 45. 142 Diese Beobachtung der emotiven Textrezeptionssteuerung machen auch Jens Eder (vgl. EDER, Thesen, 371–374), Katja Mellmann (vgl. MELLMANN, Gefühlsübertragung, 116) und Simone Winko (vgl. WINKO, Gefühle, 142). 143 Vgl. FEHLBERG, Gefühle, 103 f.277 f. 140

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auch durch bestimmte Erzähltechniken wie Distanzabbau, zusätzliche Fokalisierung und Perspektivübernahme einer bestimmten Figur ihr sympathetisches Potential erhöhen, selbst wenn ihre Schilderung und ihr Verhalten in der Erzählung beim Rezipienten grundsätzlich Antipathie und Abgrenzung hervorrufen. Fokussiert die Erzählung bspw. stärker das emotionale Innenleben einer Figur, ist anzunehmen, dass der Autor auf ein feeling with zielt.144 Wird eine Figur dagegen nur sehr oberflächlich und werden weder ihre emotionalen noch rationalen Handlungsmotivationen geschildert, ist ein feeling for wahrscheinlicher als ein feeling with. Dies lässt sich am Gleichnis von den zehn Jungfrauen in Mt 25,1–13 veranschaulichen: Bloß weil sich der Rezipient vermutlich von den „dummen“ Jungfrauen – schon aufgrund dieser direkten Charakterisierung – abgrenzen wird, schließt das nicht aus, dass er am Schluss doch mit ihnen leidet, wenn sie vom Bräutigam nicht erkannt und von der Feier ausgeschlossen werden. Gerade die Formulierung des Bräutigams ἀµὴν λέγω ὑµῖν (V. 12), welche die Redeweise Jesu imitiert, ist ein starkes Transfersignal, um das Geschehen von einer profanen Hochzeit auf das Gericht Gottes am Ende der Zeit zu übertragen. Hierdurch dürfte sich der Rezipient selbst von Jesus angesprochen fühlen und sich – wenn auch nur kurz – in die Position der Ausgeschlossenen hineinversetzen und auf das unbarmherzige οὐκ οἶδα ὑµᾶς – ganz wie diese fünf Jungfrauen – mit Furcht, Verzweiflung oder Reue reagieren. Dies wird noch verstärkt, zum einen durch den intratextuellen Verweis auf die ähnlichen Formulierungen in 7,21.23, zum anderen durch die anschließende Forderung zu wachen, welche als allgemeines, an alle gerichtetes Präventionssignal zusätzlich vor dem Verhalten der dummen Jungfrauen warnt, die schließlich aus Unachtsamkeit so handelten und nur Vorsicht, nicht versehentlich selbst in diese Situation zu geraten, davor bewahren kann.

Ein solches punktuelles „Nachempfinden“ der Emotionen von Figuren relativ niedrigen sympathetischen Potentials kann durchaus der Schlüssel zur Moral von der Geschichte sein, indem die Warnung, soundso gerade nicht zu handeln, emotional wirkungsvoll wird. Ohne diese emotionale Beteiligung auch am Schicksal der dummen Jungfrauen bleibt die Moral von der Geschichte unvollständig. Auf diese Weise zielt eine Geschichte meist nicht nur auf positive Emotionen, welche im Rezipienten unwillkürliche Bestätigung und ein diesbezügliches Begehren hervorrufen („Das will ich auch! So will ich auch sein!“), sondern ebenso auf die entsprechenden negativen Emotionen, die Widerstand und Abgrenzung bezwecken sollen („So soll es mir nicht gehen!“). Zuletzt gilt es, bei der Analyse des sympathetischen Rezeptionsvorgangs die potentielle Doppelperspektive des Rezipienten zu beachten.145 Diese fällt im Falle der Antipathie noch sehr gering aus: Der Rezipient fühlt sich nicht 144 Dafür sprechen v.a. neurobiologische Argumente: Dass der Mensch dazu neigt, auf Andere mit mentaler Simulation zu reagieren, wurde bereits an früherer Stelle dargestellt (s.o. Kap. 2.2). 145 Vgl. RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung.

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wie die Figur (kein feeling with), sondern reagiert mit eigenen Emotionen auf das Handeln und Schicksal der Figur (reines feeling for). Im Falle der Sympathie handelt es sich jedoch nicht um ein solch einfaches Entweder-Oder, da der Rezipient jetzt zwar häufig dasselbe empfinden dürfte wie die Figur, etwa Hoffnung, Freude, Furcht. Aber dieses feeling with geht bspw. dort in ein feeling for über, wo das Wissen des Rezipienten über das der Figur hinausgeht: Sobald der Rezipient weiß, dass sich die ihm sympathische Figur in Gefahr befindet, wird er um sie fürchten (feeling for), selbst wenn die Figur sich selbst (noch) nicht fürchtet. Diese Flexibilität der Perspektive des Rezipienten auf die Figuren einer Erzählung ist stets zu beachten. c) Der pragmatische Rezeptionsvorgang Auf diese Weise resultieren die adaptiven Prozesse der Empathie und Sympathie im Laufe der Textrezeption, d.h. der Effekt des „(nicht) so sein Wollens“ wie eine Figur, direkt in der pragmatischen Rezeption des Textes.146 Diese fragt nach der Rolle der Emotionen innerhalb des Transferprozesses der Narration auf das jeweilige Leben des Rezipienten. Denn es „versehen gewisse narrative Texte, indem sie die Geschichte einer Person erzählen, zur gleichen Zeit ihren Modell-Leser, dessen Geschichte sie erzählen, mit semantischpragmatischen Instruktionen. Die Annahme ist zulässig, dass dies in jedem narrativen Text […] geschieht. De te fabula narratur.“147

Eine „emotive Pragmatik“ beurteilt somit die mittel- bis langfristigen emotionalen Wirkungen eines Textes dahingehend, ob diese den pragmatischen Gehalt der Erzählung zu unterstützen vermögen und ob sie für eine langfristige Wirkung im Leben der Rezipienten stark genug sind. Sie prüft also, inwiefern die rhetorische Funktion des movere in der Erzählung wirksam wird.148 Von besonderem Interesse ist hierbei die moralisch-ethische Botschaft einer Erzählung: Werden Emotionen geweckt, die zu einem bestimmten Verhalten anspornen, oder solche, die davor abschrecken sollen? Emotionen können maßgeblich dazu beitragen, eine langfristige Verhaltensänderung herbeizuführen und gewünschtes Verhalten nicht nur im Gedächtnis zu behalten, sondern in bestimmten Situationen auch abrufen und ausführen zu können. Die ausgelösten Emotionen tragen zur Handlungspragmatik einer Erzählung auf einem möglichen Spektrum zwischen Prävention bzw. der geforderten Unterlassung einer bestimmten Handlungsweise (durch Warnung, Abschreckung) und Bekräftigung bzw. Motivierung zu bestimmten Handlungsweisen (durch Ermutigung, Anreiz) bei. Zu beachten sind hierbei v.a. zwei Aspekte: Erstens ist besonders auf die am Schluss der Erzählung geweckten Emotionen zu achten, da diese aufgrund 146

Vgl. MELLMANN, Emotionalisierung, 143. ECO, Lector, 228 f. (Hervorhebungen im Original). 148 Vgl. MELLMANN, Emotionsforschung, 178–180. 147

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des Rezenzeffektes die Erzählung zu überdauern vermögen und potentiell am stärksten im Gedächtnis bleiben. Wichtig ist, außerdem zu bedenken, dass negative Emotionen in der Regel stärkere handlungspragmatische Wirkungen zeitigen als positive, die häufig geradezu entspannend wirken und einer längerfristigen, über den literarischen Stimulus hinaus andauernden, aktiven Auseinandersetzung mit dem Gehörten/Gelesenen entgegenwirken.149 Die Empfehlung der antiken Rhetorik, längerfristige Wirkungen beim Publikum auszulösen, indem in der peroratio, dem letzten Teil der Rede, besonders aufwühlende und potentiell ansteckende Emotionen wie Entrüstung und Zorn, Schrecken und Furcht oder Mitleid hervorgerufen werden, zollt diesem Umstand Rechnung, welcher nicht nur für die Rede gilt, sondern sich auf alle literarischen Gattungen übertragen lässt.150 Vorausgesetzt wird für diese literarische Intention sowohl ein exhibitives Moment der Moralvermittlung, welches das rezeptive Verstehen der propositionalen Einstellung des Autors umfasst, als auch ein protreptisches Moment, welches diese Einstellung dem Rezipienten als zu übernehmende vermittelt.151 Bisweilen wird der protreptische Prozess sogar explizit in Gang gebracht, indem der Erzähler die Distanz zum Adressaten bis zum Nullpunkt reduziert und ihn direkt anspricht. In den mt Parabeln ist dies häufig der Fall: Jesus reduziert die Distanz zu seinen Hörern, indem er ihnen eine einleitende oder abschließende Frage stellt (bspw. Mt 13,51; 18,12; 21,28.31; 21,40). Diese zwingt sie zu einer Übertragung der Thematik auf sich selbst. Er löst die Distanz oft sogar vollkommen auf, wenn er eine Aufforderung zu Anfang oder Schluss stellt (bspw. Mt 24,42.44; 25,13) oder die Parabel explizit auf seine Hörer deutet (bspw. Mt 13,1–9.18–23; 13,24–30.36–43; 18,14, 21,31 f.). Diese persönliche Konfrontation mit dem Gesagten verstärkt dessen handlungspragmatische Botschaft.

2.1.3 Zwischenergebnisse Wie anhand dieser Darstellungen gezeigt werden konnte, ist die emotive Rezeption einer Narration ein hochkomplexer Prozess, für deren akkurate Beantwortung folgende vier Fragen differenziert gestellt werden müssen: 1. Gegenstandsbestimmung: Wonach genau wird gefragt? Nach einer Emotion, einem Affekt, einer Stimmung? Im antiken oder modernen Sinne? Bestehen etwaige Unterschiede? 2. Emotionskonzeption: Welche Emotionen haben die Figuren der Erzählung? Werden sie direkt oder indirekt geschildert? 3. Kurzfristige Rezeptionsemotionen: Welche Emotionen weckt der Text im Rezipienten? Wie soll auf bestimmte Narrationselemente reagiert werden? 4. Langfristige Rezeptionsemotionen: Wirkt der Text emotional nach? Unterstützen die Emotionen die Pragmatik des Textes? 149

Vgl. a.a.O., 179. Vgl. a.a.O., 180. 151 Vgl. WULFF, Moral, 389. 150

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Auf der Grundlage dieser Fragen kann untersucht werden, wie der Text einer Erzählung die punktuell-rezeptionsbegleitende als auch die darüber hinausgehende emotionale Reaktion des Rezipienten auf sie zu beeinflussen und zu steuern sucht. Folgendes, auf der Basis emotionspsychologischer sowie literaturwissenschaftlicher Forschungen erarbeitetes Modell, ermöglicht eine gezielte emotive Textanalyse anhand vier zu differenzierenden Rezeptionsvorgängen: Die Textebene lässt sich aus deskriptiver Perspektive auf Emotionsvermittlung untersuchen; der empathische, sympathetische und pragmatische Rezeptionsvorgang fragen jeweils nach den intendierten emotiven Wirkungen des Textes auf den Rezipienten: A) Analyse der Emotionen im Text 1. Deskriptiver Rezeptionsvorgang → fragt: Welche Emotionen werden den Figur(en) explizit und/oder implizit zugeschrieben? → Abläufe: Rezeption der Emotionskonzeption B) Analyse der Rezeptionsemotionen 2. Empathischer Rezeptionsvorgang → fragt: Wie wird das Geschehen vom Rezipienten wahrgenommen? → Abläufe: Hineinversetzen in die Situation der Figur(en) sowie bewertendes (affirmativer oder devianter) Abgleichen zwischen Rezipient und Figur(en) 3. Sympathetischer Rezeptionsvorgang → fragt: Welche Emotionen erlebt der Rezipient im weiteren Verlauf? → Abläufe: Rezeptionsemotionen, die auf einem breiten Spektrum zwischen Sympathie und Antipathie anzusetzen sind 4. Pragmatischer Rezeptionsvorgang → fragt: Was sollen die Rezeptionsemotionen bewirken? → Abläufe: Emotionaler Transfer der Erzählung auf das eigene Leben und (präventiver oder anspornender) Lerneffekt Dieses Schema fokussiert auf die emotionale Auseinandersetzung mit den Figuren einer Erzählung aufgrund deren Komplexität. Es versteht sich, dass es bei Analysen von Erzählungen ohne Figuren (etwa über vom Menschen losgelöste Orte oder Zeiten) entsprechend vereinfacht werden kann, indem ausschließlich die anderen Emotionsauslöser betrachtet werden.152 Die Unterteilung des emotiven Rezeptionsprozesses soll überdies nicht dazu verleiten, die vier Rezeptionsvorgänge losgelöst voneinander betrachten zu wollen. Wie bereits gesagt, laufen bspw. das Hineinversetzen und der bewertende Abgleich im Zuge des Empathieprozesses gleichzeitig ab, und die em152

S.u. Kap. 2.2.2.3.

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pathische Perspektive interagiert ständig mit dem sympathetischen Urteil.153 Es wäre allerdings nicht angemesen, aufgrund ihrer Wechselverhältnisse und Verwobenheit nicht zwischen den verschiedenen Prozessen zu unterscheiden. Denn die emotionale Textrezeption kann von verschiedenen Seiten betrachtet werden, welche jeweils ihr Eigenrecht besitzen und dabei helfen können, die Frage nach den Emotionen stets so präzise wie möglich zu beantworten. Des Weiteren soll nochmals betont werden, dass diese Vorgänge während der Rezeption einer Narration ständig von Neuem ablaufen und keinesfalls als einmalig zu erwägende Prozesse anzusehen sind. Selbst der pragmatische Rezeptionsvorgang steht nicht losgelöst am Ende der Erzählung, sondern vermag sich im Laufe einer Erzählung zu wandeln, indem mit Erwartungen des Rezipienten gespielt wird und diese ggf. enttäuscht werden. Dieses narrative Spiel vermag die Rezeption des Lesers/Hörers erheblich zu beeinflussen. 2.2 Ein „Werkzeugkoffer“ für eine „emotive Heuristik“ 2.2.1 Die Methodik Auf der Grundlage der soeben angestellten grundsätzlichen Überlegungen kann nun ein Instrumentarium an konkreten Methoden erarbeitet werden, um die emotionale Textrezeption greifbar zu analysieren: Welche konkreten Analysewerkzeuge bieten sich für eine solche „emotive Heuristik“ an? Da hier hauptsächlich auf der Ebene der Textanalyse operiert wird, stellt die Narratologie ein sinnvolles Methodenarsenal bereit, um den Text gezielt auf emotive Leserlenkung hin zu untersuchen.154 Wie geht der Autor vor? Was erzählt er, was lässt er erkennbar aus? Wie ausführlich schildert er bestimmte Elemente der Erzählung? Welche Figuren stehen im Vordergrund, und legt der Text eine sympathische oder antipathische Reaktion auf diese nahe? Welche Textsignale sprechen dafür? Wie wirkt sich diese Erzählweise auf die Rezeptionsemotionen aus? Die Textanalyse dieser Studie soll jedoch keine rein narratologische Untersuchung darstellen, sondern vielmehr zur Beantwortung narratologischer Fragestellungen auch die historisch-kritische Methode heranziehen, um die theologische Dimension der Texte methodisch angemessen zu berücksichtigen. Während die Schritte der Übersetzung und Textanalyse in den narratologischen Betrachtungen aufgehen, vermögen auch Textkritik, Redaktions- und Formgeschichte, Begriffs- und Motivgeschichte aufschlussreiche Zusatzinformationen über den Text zu erbringen. Bspw. können Textvarian153

Für das vorgeschlagene Modell ist es dabei unerheblich, ob die Bewertung den Rezeptionsemotionen vorausgeht oder ob die Rezeptionsemotionen selbst die Bewertung darstellen (s.o. Kap. 1.3 und Kap. 2.2). 154 Die Heranziehung narratologsicher Methoden zur Emotionsanalyse schlägt auch Anke Inselmann vor (vgl. INSELMANN, Emotions, 543). Näheres zur narratologischen Forschung vgl. bspw. NÜNNING, Ansätze.

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ten oder ein synoptischer Vergleich ein besonderes Interesse des Mt zutage fördern, das bei einer rein narratologischen Textuntersuchung übersehen würde. Auch die Beachtung der spezifischen Gattungsmerkmale ist für die Textanalyse hilfreich. Die Motivgeschichte kann gerade im Hinblick auf indirekte Emotionsauslöser von enormer Wichtigkeit sein, um die emotionale Besetzung bestimmter Erzählelemente zu beurteilen. Und freilich wird die Textuntersuchung erst dadurch eine exegetische, wenn sie nach dem Ertrag dieser gezielten Betrachtungen für eine theologische Interpretation des Textes fragt. Nicht von vorrangigem Interesse für diese Methodik sind dagegen Literarund Überlieferungskritik. Ihre Fragestellung richtet sich an den Text in der heute vorliegenden Form. Es ist weder ihr Anliegen, neue Erkenntnisse zum „historischen Jesus“ zu erarbeiten, noch die quellenkritische Beurteilung des Verhältnisses zwischen den Synoptikern und der Quelle Q einer weiteren Klärung zu unterziehen. Ein Versuch, etwaige Quellen zu rekonstruieren, ist für eine emotive Textanalyse nicht gewinnbringend und kann daher unterbleiben. Die Heranziehung alttestamentlicher oder anderer religiöser zeitgenössischer Texte sollen dabei als Referenztexte dienen, die lediglich dabei helfen, das besondere Profil des Autors im Vergleich zu möglichen anderen Ausdrucksformen zu bestimmen.155 Auf Grundlage dieser Kombination aus narratologischen und historischkritischen Exegesemethoden folgt nun ein konkretes Instrumentarium, mit dessen Hilfe zu eruieren ist, welche Emotionen in einem Text verbal oder nonverbal von Bedeutung sind und welche im Rezipienten geweckt werden wollen. Da ein dafür sinnvolles Fragenraster Schlüsselfunktionen übernehmen wird, liegt der Schwerpunkt auf den übergeordneten, narratologischen Fragen, zu deren genauen Beantwortung sodann, wie soeben ausgeführt, einzelne Arbeitsschritte der historisch-kritischen Methode herangezogen werden können. 2.2.2 Die Emotionskonzeption a) Direkt geschilderte Emotionen Direkt geschilderte Emotionen beziehen sich allermeist auf Figuren. Es ist jedoch auch denkbar, dass bspw. ein Objekt als „furcherregend“ oder ein situativer Anlass als „freudig“ beschrieben werden. In solchen Fällen muss stets geprüft werden, wem diese Emotionsaussagen letztlich zuzuschreiben sind: Werden sie von bestimmten Figuren der Erzählung empfunden oder zielen sie hauptsächlich auf die Adressaten? In letzterem Fall wären diese 155 Die hier vorliegende Wahl der Untersuchung des Mt-Ev soll außerdem keinesfalls suggerieren, dass das emotive Potential des mt Textes größer ist als das des Mk oder Lk. Eine dahingehende Bewertung wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit, die die drei Evangelien gezielter vergleicht, als es hier von Nutzen ist.

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Bechreibungen im Zuge der Analyse der Rezeptionsemotionen zu betrachten.156 Werden nun Figurenemotionen direkt, d.h. explizit genannt, fällt der Analysevorgang vergleichsweise leicht, und es lassen sich nurmehr über die Intensität, mit der die Emotionen jeweils vermittelt werden, zusätzliche Aussagen treffen. Hierzu können die genannten Emotionen auf ihre Verteilung, Abfolge und Häufigkeit im Text, die Ausführlichkeit und Variabilität ihrer Schilderung sowie die Stellung der Emotion im Textkorpus geprüft werden. Im Abschnitt der Bergpredigt Mt 6,25–34 taucht die Emotion der Sorge mit dem Verb µεριµνάω gleich fünfmal auf (6,25.27.28.31.34). Damit ist die Emotion äußerst häufig und in relativ regelmäßigen Abständen über den Abschnitt verteilt. Sie wird nicht variiert oder ausführlich geschildert und ist überdies die einzige Emotion in diesem Abschnitt. Aufgrund ihrer prominenten Stellung zu Anfang (Primär-) und am Schluss (Rezenzeffekt), zumal in Form eines verneinenden Imperativs, wird die Emotion extrem stark vermittelt und bleibt dem Rezipienten stark im Gedächtnis. Freilich soll sie selbst keine Sorge auslösen, sondern vor ihr warnen und geradezu die gegenteilige Emotion der Ruhe und der vertrauensvollen Geborgenheit wecken.

Bei Textgrundlagen, welche eine große zeitliche und/oder kulturelle Distanz zu heutigen Rezipienten aufweisen – wie etwa die biblischen Texte –, kann es mitunter hilfreich sein, die explizit genannten Emotionen nochmals gesondert zu betrachten und zur ersten Frage der emotiven Textanalyse-Methodik nach der Gegenstandsbestimmung in Beziehung zu setzen: Werden Emotionen genannt, die auch heute bekannt sind? Oder fehlen bestimmte Emotionen oder Emotionskomplexe? Können die vorkommenden Emotionen katalogisiert werden, und entspricht sich diese Phänomenologie mit heutigen Auffassungen? Ist dasselbe oder ein ähnliches Verständnis der Emotion erkennbar, oder unterscheidet sich der Gebrauch einer Emotion erheblich von deren heutigem Verständnis? Diese allgemeinen Untersuchungen sind sowohl für Aussagen über das Emotionsverständnis des Textes als auch für die folgenden Erwägungen der Rezeptionsemotionen von Belang und vermeiden anachronistische Ansprüche, indem ein heutiges Verständnis der Emotionen vorausgesetzt wird.157 Eine solche katalogisierende Aufstellung und Betrachtung der Emotionen im Mt-Ev wird im sechsten Kapitel erfolgen. b) Indirekt geschilderte Emotionen Im Gegensatz zur Analyse direkt vermittelter Emotionen, fällt eine Herausarbeitung indirekt vermittelter Emotionen schwerer: „[E]motions are not limited to explicit terms, that is, verbal forms of representation on different levels (of word, term, and text). Emotions also appear in paraphrases, in a descriptive manner, respresented by facial expressions and gestures, by diverse phys156 157

S.u. Kap. 3.2.2.3. Vgl. INSELMANN, Emotions, 546.

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ical symptoms, or by metaphors.“158 Dementsprechend müssen, wird die Emotion einer Figur nicht direkt geschildert, andere Parameter der Figurenschilderung untersucht werden, um indirekt zu erschließen, wie diese sich in einer bestimmten Situation fühlt und wie stark diese Emotion wohl sein mag. Dafür lassen sich auf der Ebene der Erzählung (histoire) die Gedanken, die Motivation, das Verhalten und das Handeln heranziehen. Über diese eher aktiven Parameter hinaus ist aber auch das passive Ergehen einer Figur ein zentraler Bezugspunkt für die Einschätzung ihrer Emotionen. Auf der Ebene der Erzählweise (discours) lässt sich sodann eruieren, wie stark diese Emotionen vermittelt werden. Veranschaulichen lässt sich dieser Prozess der indirekten Emotionserschließung am Beispiel der Parabel von der kostbaren Perle (Mt 13,45 f.): Der Kaufmann findet eine „sehr kostbare“ Perle. In dieser knappen Formulierung steckt ein überaus positives, kognitives Werturteil (Denken). Daraufhin verkauft er alles, was er hat, um sie zu kaufen. Hier zeigt sich seine große, zielgerichtete Entschlossenheit (Wollen und Tun). Aufgrund der kognitiven, voluntativen und motivationalen Auswirkungen des Fundes der besonderen Perle kann der Rezipient die emotionale Reaktion des Kaufmanns (große Freude) mühelos erschließen. Die Freude des Kaufmanns wird somit indirekt durch sein Denken und Handeln vermittelt. Betrachtet man die Erzählweise, so wird das Geschehen so knapp erzählt, dass die Emotion nicht sonderlich stark vermittelt wird. Dennoch ist zu beachten, dass der Kontext durch die direkt zuvor genannte Freude eines Menschen, der einen Schatz findet (13,44), die Erschließung der Emotion zusätzlich unterstützt. Obgleich die Parabel somit ihren Fokus stärker auf das Ereignis des Findens und Kaufens legt, darf die indirekte Vermittlung der Freude dabei nicht übersehen werden.

2.2.3 Die Auslöser der Rezeptionsemotionen Die direkt oder indirekt in einem Text vermittelten Emotionen von Figuren sind jedoch nicht nur im Sinne einer besonders detaillierten, realistischen oder unterhaltsamen Erzählungskomposition relevant, sondern führen bereits hinüber zum empathischen, sympathetischen und pragmatischen Rezeptionsvorgang, indem sie Symptom- und Appellfunktion besitzen.159 Denn „Emotionen sind nicht nur Programme der Informationsverarbeitung, sondern auch Programme der Informationsvergabe an andere.“160 D.h. sie dienen zunächst als Informationsquelle für eine weitere Bewertung der Figur, die mittels des vorhandenen emotionalen Schemawissens des Rezipienten auf seine Kohärenz und moralische Bewertung hin geprüft wird; so können sie sogar zu Handlungsschemata werden, indem an den Rezipienten appelliert wird, emotional (nicht) auf eine bestimmte Weise zu reagieren.161 So lösen Figurenemo-

158

A.a.O., 540 (Hervorhebungen im Original). Vgl. FEHLBERG, Gefühle, 11. 160 ANZ, Gefühle, 162. 161 Vgl. FEHLBERG, Gefühle, 113. 159

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tionen wiederum selbst Emotionen im Rezipienten aus, nach denen nun gefragt werden soll: Wie weckt der Text welche Emotionen im Rezipienten? An dieser Stelle ist die Doppelstruktur des Rezeptionsprozesses zu beachten, für den die Unterscheidung von Emotionskonzeption und Rezeptionsemotionen von enormer Wichtigkeit ist, und den es einerseits deskriptiv und empathisch sowie andererseits sympathetisch und pragmatisch zu betrachten gilt: Es muss differenziert werden, welche Emotionen eine Figur hat, welche davon der Rezipient teilt und wo er inwiefern emotional anders reagiert. Zentral ist also die Untersuchung der intendierten Empathie auf einzelne Figuren. Aber nicht nur die Emotionen der Figuren sind Auslöser von Rezeptionsemotionen. Für eine sorgfältige Analyse derselben kann auf die durch Tzvetan Todorov maßgeblich vorangebrachte erzähltheoretische Unterscheidung zurückgegriffen werden, welche zwischen den beiden Erzählebenen der histoire und des discours differenziert.162 Die histoire umfasst das Geschehen der Erzählung (beantwortet das Was? der Narration), während sich der discours auf die Textebene bezieht und nach der Art und Weise der Erzählung fragt (beantwortet das Wie? der Narration). Bei der Untersuchung von Rezeptionsemotionen lässt sich diese Unterscheidung gewinnbringend auf die Analysemethode anwenden: Denn zunächst kann gefragt werden, welche Elemente der Narration selbst, d.h. auf der Ebene der histoire, Emotionen auslösen. Dazu sind m.E. vier verschiedene Emotionsauslöser einer Erzählung zu unterscheiden: die Figuren und ihr Handeln, Situationen und Geschehnisse, die Dimension des Raumes sowie die der Zeit. Warum und wie diese Erzählelemente nun bestimmte Emotionen wecken, vermag anhand einer konkreten Analyse der stilistischen Erzählweise, d.h. auf der Ebene des discours, näher bestimmt zu werden. Der Autor nutzt auf dieser Ebene vielfältige Möglichkeiten zur Informationsvergabe, wodurch er mehr oder weniger stark ein bestimmtes Textverständnis sowie eine bestimmte emotive Textrezeption im Rezipienten provozieren kann oder ihm die Deutung der Erzählung weitgehend offenlässt. Hier gibt eine narratologische Untersuchung des Textes Aufschluss, wie der Autor den Rezipienten zu einer bestimmten emotionalen Reaktion auf gewisse Erzählelemente (Figuren, Geschehen, Raum, Zeit) veranlasst. Die Differenzierung zwischen histoire und discours verhindert die Gefahr einer Verwischung der Grenzen zwischen realem und implizitem Autor, Erzähler sowie implizitem und realem Rezipienten.163 Gerade bei einer für Sub162

Vgl. TODOROV, Kategorien, 263–294. Näheres dazu vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 24 f. Obgleich eine noch feinere Unterteilung der Ebenen möglich ist (vgl. dazu den Überblick über die Entwicklung von einem zwei- zu einem dreistufigen Modell sowie den vierstufigen Ansatz von Wolf Schmid: SCHMID, Elemente, 218–225), ist die histoire/discours-Differenzierung für die vorliegende Analyse ausreichend. 163 S.o. Kap. 3.2.1.1.

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jektivität so anfälligen Thematik wie der der Emotionen darf diese Trennung nicht außer Acht gelassen werden. Die Diegese nach Gérard Genette hilft dabei, den exakten Erzählerstandpunkt zu erarbeiten.164 Als Beispiel kann die Parabel vom verlorenen Schaf (Mt 18,12–14) angeführt werden: Die Freude des Menschen, der eines von hundert Schafen verliert und wiederfindet, wird durch das ἀµὴν λέγω ὑµῖν Jesu von der bisherigen Erzählebene auf die Ebene des direkten Erzählerkommentars gehoben und somit verstärkt. Die Autorität des Erzählers, die hier durch Jesus als Erzähler noch maximiert wird, intensiviert die Emotion der Freude und lässt andere Emotionen wie Sorge, Furcht und Panik oder aber Ärger, Wut und Frust über das auf Abwege geratene Schaf, das nun Mehraufwand des Hirten fordert, erst gar nicht aufkommen. Dies steht ganz im Horizont der Anwendung in V. 14: Es ist der Wille Gottes, dass gesucht, gefunden – und sich darüber gefreut wird. Gerade die Freude soll dabei Motivation und Anreiz zum Suchen sein, daher wird sie durch den direkten Erzählerkommentar herausgehoben.

Für die Analyse der verschiedenen Emotionsauslöser steht aus der Narratologie ein umfangreiches, literaturwissenschaftliches Methodenarsenal zur Verfügung.165 Häufig wird in der Forschung der Fokus nur auf die emotionale Bedeutung einzelner Sprachmittel und Wörter gelegt.166 Der narratologische 164 Einige literaturwissenschaftliche Ansätze zur Analyse der Vermittlung und Lenkung von Rezeptionsemotionen betrachten die Erzählweise auf discours-Ebene als eigenständigen Auslöser von Emotionen; so bspw. Kathrin Fehlberg unter Rückgriff auf Fotis Jannidis (vgl. FEHLBERG, Gefühle, 39 f.) und Katharina Prinz und Simone Winko unter Rückgriff auf das Modell von Manfred Pfister (vgl. PRINZ/WINKO, Sympathielenkung, 105–112, und WINKO, Gefühle, 130). Dagegen sprechen m.E. zwei Gründe: Formal betrachtet erscheint es nicht sinnvoll, die Erzählweise als Emotionsauslöser gelten zu lassen, denn dies würde eine Unterscheidung zwischen histoire und discours gänzlich überflüssig machen. Erstere ginge dann völlig in Letzterer auf, weil die ganze Erzählung letztlich eine Stilisierung des Autors ist. Darüber hinaus ist die Erzählweise auch aus emotionspsychologischer Sicht schwerlich ein direkter Emotionsauslöser. Löst eine Erzählung eine Emotion aus, so muss diese doch stets an einem Element innerhalb der erzählten Welt (histoire-Ebene) hängen, bspw. an einer Figur oder der Schilderung einer Situation. Wie der Autor diese Elemente jeweils schildert (discours-Ebene), kann die damit verbundenen Emotionen höchstens intensivieren oder aber abschwächen. Dass aber eine Stilisierung des Autors auf discoursEbene eine auf histoire-Ebene gar nicht vorhandene Emotion auslösen kann, ist m.E. äußerst fraglich. So ärgert man sich bspw. über das unhöfliche Gebaren einer Figur, weil der Autor es entsprechend detailliert oder kommentiert beschreibt. Hätte er es nicht so beschrieben, wäre auch keine ärgerliche Reaktion erfolgt. Dennoch bezieht sich der Ärger auf das Verhalten der Figur und nicht auf die Erzählweise des Autors. Aus diesem Grund werden hier die vorgeschlagenen Emotionsauslöser auf der histoire-Ebene verortet, während die discours-Ebene diese zu analysieren vermag. 165 Zur detaillierten Betrachtung vgl. v.a. CHATMAN, Terms; FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden; GENETTE, Erzählung; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung; WAGENER, Figuren. 166 Vgl. SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 131 f. Die Untersuchung der Sprache auf emotive Elemente (von Exklamationen, Interjektionen, Diminutiven über Konnotationen, Vergleiche bis hin zu Metaphern) ist beinahe unerschöpflich (vgl. dazu bspw. KONSTANTINIDOU, Sprache, 67–74 und SCHWARZ-FRIESEL, Sprache, 134–211). Für eine solch gezielte und

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Ansatz hingegen verfolgt nicht nur eine mikroskopische Vorgehensweise, sondern bezieht das gesamte Geschehen eines Textes mit all seinen verschiedenen Ebenen mit ein (Handlungs-, Figuren-, Perspektiv-, Raum- und Zeitanalyse). Da die konkrete Vorgehensweise dieses ganzheitlichen Ansatzes hier aber nicht vollständig ausgeführt werden kann, soll jeweils eine exemplarische Andeutung der Fragen, die eine emotive Figuren-, Situations- und Geschehnis-, Raum- sowie Zeitanalyse stellen muss, genügen. Abschließend wird eine kurze, gezielte Betrachtung eines mt Gleichnisses die jeweiligen Analysemethoden veranschaulichen. a) Figuren und Figurenhandeln167 Die Figuren und ihr Handeln sind ein wichtiger – wenn nicht gar der gewichtigste – Auslöser von Emotionen in Erzählungen: „Denn sie sind es, die sich dem literarischen Gedächtnis der Lesenden am stärksten einprägen, und oft ist es erst die vor allem auch emotionale Bindung an bestimmte Figuren, die Geschichten zu außergewöhnlichen und erinnerungswürdigen macht.“168 Figuren lösen aufgrund der Bewertung ihrer Charaktermerkmale (moralische Wertmaßstäbe), Handlungsziele (pragmatisch-situative Wertmaßstäbe), Emotionen (moralische oder pragmatische Wertmaßstäbe) und äußeren Merkmale (ästhetisch-soziale Wertmaßstäbe) Emotionen beim Rezipienten aus.169 Darauf, dass dieses Urteil stets ein historisch und kulturell kontextualisiertes ist, wurde bereits hingewiesen.170 Figuren sind demnach schon insofern um einiges komplexer als andere Auslöser wie Raum oder Zeit, als sie selbst über Emotionen verfügen. An dieser Stelle wird die notwendige Unterscheidung zwischen Emotionskonzeption und Rezeptionsemotionen am deutlichsten ersichtlich. Dem Autor einer Narration stehen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung, über die er das Empathiepotential der Figuren steuern kann, d.h. ob er seinem Hörer/Leser Anhaltspunkte liefert, anhand derer sich dieser in die Lage bestimmter Figuren hineinversetzen kann oder nicht.171 Des Weiteren sehr präzise Sprachanalyse legte jüngst Heike Ortner einen ausführlichen Methodenband vor: ORTNER, Text. Ihre detaillierte Analyse emotiver sprachlicher Mittel (vgl. a.a.O., 183–311) kann hilfreich sein, ist für neutestamentliche Texte jedoch meist unnötig komplex und detailliert, da diese Texte nur selten starke emotive Satz- oder Wortstilisierung nutzen. 167 Für einen umfassenderen Überblick über die narratologische Figurenanalyse vgl. BENNEMA, Theory, 110–112; FEHLBERG, Gefühle, 33–108; FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 195–210; FINNERN, Narratologie, 87–246; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 144–150; WAGENER, Figuren, 83–201. 168 FEHLBERG, Gefühle, 33. 169 Vgl. PRINZ/WINKO, Sympathielenkung, 111. 170 Vgl. a.a.O., 112. 171 Eine Figur mit hohem Empathiepotential kann als „Empathor“ bezeichnet werden (vgl. WAGENER, Figuren, 196 f.). Dieser Begriff wird in dieser Arbeit jedoch nicht ver-

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steuert er über seine Erzählweise die Bewertung der Figuren erheblich und lenkt den Rezipienten so hinsichtlich einer sympathischen oder antipathischen Einstellung diesen gegenüber.172 Hier ist bspw. das Empathiepotential ausführlich beschriebener Figuren, so genannter round characters, höher als das nur oberflächlich gezeichneter (flat characters). Die Darstellung der Figurenemotionen ist dabei eine besonders effiziente Methode, um Empathiepotential zu erhöhen: Es muss der kommunikative Wert von Emotionen berücksichtigt werden, denn sie informieren nicht nur darüber, wie ein Anderer sich in einer bestimmten Situation subjektiv fühlt, sondern veranlassen auch den Beobachter dazu, angemessen auf diese Emotion zu reagieren, und somit sind die Emotionen von Figuren in Erzählungen selbst Emotionskonfigurationsmechanismen für den Rezipienten.173 Auch Stimme und Modus der Narration tragen die emotionale Rezeption der Figuren maßgeblich.174 Hierzu ist der Standpunkt des Erzählers sowie die Perspektivsteuerung der Narration durch ihre Figuren zu erfragen: Wer ist der Erzähler? Eine Figur selbst (homodiegetisch) oder handelt es sich um einen heterodiegetischen Erzähler, der außerhalb der Erzählung steht? Hat Letzterer einen Außenblick auf das Geschehen (extradiegetisch), oder ist er ein auktorialer Erzähler (intradiegetisch)? Die expliziten Aussagen eines auktorialen Erzählers haben hierbei sicherlich den größtmöglichen Effekt auf den Rezipienten, da seine Glaubwürdigkeit vorausgesetzt wird.175 So kann eine direkt vermittelte Emotion durch die Kommentierung des Erzählers als wirkintensiver gelten als eine indirekt vermittelte Emotion innerhalb eines beschreibenden Erzählgangs. Zu unterscheiden ist auch, ob Informationen über die Figuren auktorial durch den Erzähler gegeben werden (vgl. Mt 25,2: „Fünf von ihnen aber waren töricht und fünf klug.“) oder figural (vgl. Mt 25,26: „Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: ‚Böser und fauler Sklave!‘“); auch muss zwischen expliziter und impliziter, d.h. durch den Rezipienten aktiv hermeneutisch zu erschließender Charakterisierungen unterschieden werden.176 Eine explizite Charakterisierung durch den Erzähler hat bspw. mehr Gewicht als eine implizite Charakterisierung durch ein Figurenelement wie ihr Aussehen. Große Distanz zu den Figuren, indem der Erzähler alles aus auktorialer Perspektive schildert, kann das Empathiepotential von Figuren beträchtlich senken, während durch Mittel geringer Distanz wie direkter Rede und Schilderung des inneren Erlebens der Figur, diese für den Rezipienten greifbarer wendet, sondern nur von höherem oder niedrigerem Empathiepotential gesprochen, da m.E. grundsätzlich jede Figur einer Narration als Empathor in Frage kommt. 172 Vgl. BREITHAUPT, Kulturen, 175. 173 Vgl. ANZ, Gefühle, 162–167. 174 Vgl. FEHLBERG, Gefühle, 101. 175 Vgl. a.a.O., 40. 176 Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 149 f.

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und realer wird.177 Es ist ein Spektrum zwischen den Polen eines auktorialen Erzählers und einer Figur zu denken. Der darin spezifische Standort und die Hervorgehobenheit des Erzählers steuert die Erzählweise hinsichtlich Glaubwürdigkeit oder Identifikationspotential einer Figur durch dessen Nähe zu ihr.178 Bei der auktorialen Erzählweise ist zwar die Glaubwürdigkeit der Informationen des Erzählers und auch die Gewichtung expliziter wie impliziter Kommentare am größten179, jedoch ist die emotionale Teilhabe am Erleben einer Figur entsprechend erschwert; dies gilt für die figurale Erzählperspektive umgekehrt.180 Eine gezielt eingesetzte Fokalisierung auf einzelne Figuren kann hier ein Mehr-Wissen und Mehr-Fühlen initiieren.181 Hier müssen alle Figuren auf ihr jeweiliges Empathiepotential geprüft werden:182 Fokussiert der Erzähler eine bestimmte Figur, indem vornehmlich ihre Perspektive geschildert wird? Welche Figuren werden dagegen nur sparsam geschildert, sodass der empathische Prozess erschwert wird? Figuren müssen schließlich noch unter einer zweiten Perspektive betrachtet werden: Denn der Rezipient kann sie als tatsächliche Personen wahrnehmen, wenn er das „Spiel der Fiktion“ mitspielt und sie als tatsächliches Geschehen betrachtet.183 Auf zweiter Ebene kann er sich aber auch über die Erzählung erheben und Figuren metaperspektivisch beurteilen. Er nimmt sie dann bspw. als Symbol, d.h. als Träger übergeordneter Bedeutungen wahr.184 Gerade bei der Untersuchung von Parabeln als einer metaphorischen Gattung ist dieser Transfer zu beachten. So zielen die hier auftretenden Figuren und Figurengruppen häufig auf ganz bestimmte Wesensmerkmale oder Handlungsweisen, die man sich entweder selbst zuschreibt (Selbstidentifikation: „So bin ich auch“), an Anderen entdeckt (Fremdidentifikation: „So ist eine bestimmte Art von Menschen“) oder in allen Menschen wiederfindet (existenziale Identifikation: „So ist der Mensch“).185 Die narratologisch-emotive Untersuchung der Figuren kann somit folgende Fragen stellen: Wie ausführlich wird eine Figur beschrieben und geschildert? Erleichtert oder forciert gar die Figurendarstellung eine Perspektivübernahme, oder ist eine Außenperspektive auf die Figur wahrscheinlicher? Liegt eine Leserlenkung zugunsten einer sympathischen oder antipathischen Einstellung zur Figur vor? Welche emotionalen Reaktionen des Rezipienten legt dies im Hinblick auf die Figur nahe? Ändert sich die Beurteilung einer Figur 177

Vgl. INSELMANN, Affekt, 258. Vgl. SCHMID, Elemente, 71–95. 179 BARTHEL, Empathie, 75 f. 180 Vgl. FEHLBERG, Gefühle, 220 f. 181 Vgl. a.a.O., 221 f. 182 Vgl. WAGENER, Figuren, 198–200. 183 Vgl. ZIPFEL, Fiktion (2001). S.o. Kap. 2.2.1. 184 Vgl. EDER, Thesen, 375 f. 185 Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 249 f. 178

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im Laufe der Geschichte? Intensiviert die symbolische Rolle einer Figur die emotionale Rezeption derselben? Diese Untersuchung soll anhand einer exemplarischen Analyse der Figurengruppe der grausamen Weingärtner in der gleichnamigen Mt-Parabel (Mt 21,33–41) veranschaulicht werden: Das Figurenkollektiv der Weingärtner wird sehr stark indirekt anhand ihrer Handlungen charakterisiert, das sich auf den Bezug zum Weinbergbesitzer und seinen Gesandten beschränkt, d.h. sie werden eindimensional in ihrer sozialen Rolle als Weinbergpächter dargestellt. Ihr Innenleben, ihre Intentionen, Gedanken, Emotionen werden weithin nicht berücksichtigt. Die Figuren sind dementsprechend recht flach gezeichnet (flat characters). Eine Ausnahme stellt V. 38 dar, der eine Unterredung der Figuren in direkter Rede (das Kollektiv spricht mit einer Stimme) wiedergibt und begründet, warum sie auch den Sohn des Weinbergbesitzers töten: Sie streben nach seinem Erbe. Dieser Vers charakterisiert die Weingärtner am stärksten, wenn auch noch immer indirekt, als gierig, habsüchtig, rücksichts- und skrupellos. Doch können aus ihrem Handeln nicht nur ihr Charakter indirekt erschlossen werden, sondern auch Emotionen. Diese sind an diesem Beispiel gerade durch ihr Nichtvorhandensein interessant. Denn die Weingärtner stellen sich durch ihr Verhalten als völlig emotionslos dar: Sie haben kein Mitleid mit den Sklaven des Weinbergbesitzers, die sie schlagen, töten und steinigen (V. 35 f.). Sie haben keine Scheu, sogar den Sohn des Weinbergbesitzers zu töten (V. 37–39). Ihre wiederholte Grausamkeit zeigt, dass sie darüber weder Schuld noch Scham noch Reue empfinden. Insgesamt haben sie keine wertschätzende Achtung vor dem Weinbergbesitzer selbst. Daraus resultiert auch, dass sie vollkommen furchtlos sind. Die einzige Emotion, von der sich die Weingärtner wohl am ehesten leiten lassen, ist der Neid auf den Sohn ihres Herrn als emotionale Entsprechung zu ihrer Habsucht. Gerade diese weitgehende Emotionslosigkeit erbringt trotz ihrer indirekten Vermittlung einen wichtigen Beitrag zur Charakterisierung der Figuren. Durch dieses Verhalten der Figuren, für das überhaupt kein entschuldigender Grund erkennbar ist, werden sie äußerst antipathisch gezeichnet und ein dahingehendes Urteil des Rezipienten forciert. Auf das gewalttätige Handeln der Figuren wird ein Rezipient daher mit abgrenzendem Ärger, Empörung und Missbilligung reagieren. Das extrem niedrige sympathetische Potential dieses Figurenkollektivs bleibt im Verlauf der Erzählung gleich. Die abnehmende Distanz und zunehmende Fokalisierung der Figurengruppe (V. 35 f.: reine Schilderung des Geschehens von außen; V. 38: Begründung des Verhaltens durch direkte Wiedergabe der Beratung des Figurenkollektivs) bestärken dieses empathische Urteil noch zusätzlich. Denn die Begründung für das Töten des Erben scheint für einen aufmerksamen Rezipienten geradezu irrig zu sein: Warum sollte der Weinbergbesitzer seinen Weinberg denen geben, die seinen Sohn auf dem Gewissen haben? Dass dies nicht der Fall sein kann, belegt das Ende der Parabel: Jesus beendet die Erzählung verfrüht, indem er das Ende offenlässt und es von seinen Hörern erfragt. Es ist ganz offensichtlich, was passieren wird; die Hörer konnten es bereits antizipieren. In der mk als auch der lk Version (Mk 12,1–12; Lk 20,9–19) fehlt diese abschließende Frage Jesu. Er selbst löst die Geschichte auf. Die mt Frage Jesu veranlasst seine Hörer aber, sich umso mehr empathisch auf die Geschichte einzulassen. Die Perspektive des Weinbergbesitzers rückt durch diesen rhetorischen Kunstgriff stärker in den Fokus: Der Rezipient muss beantworten, was dieser täte. Dies kann freilich nur auf einer Einschätzung basieren, wie man selbst als Besitzer des Weinbergs handeln würde. Auf diese Weise verstärkt Mt die Abwehrhaltung gegenüber der Einstellung und dem Handeln der Weingärtner zusätzlich. Umso stärker wird die Genugtuung beim Gedanken an deren Bestrafung ausfallen, durch die die verletzten Wertmaßstäbe – auf diese Weise von den Hörern selbst – wiederhergestellt werden.

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b) Situationen und Geschehnisse186 Der Großteil der narratologischen Untersuchungen nimmt die Handlungsanalyse (plot) als eigenen Untersuchungsgegenstand und unterscheidet hierbei Aktionen (figurenintendierte Ereignisse) von Geschehnissen (nicht intendierte Ereignisse) sowie dynamische Ereignisse (Geschehnis, Handlung) von statischen Ereignissen (Zustände, Eigenschaften).187 Während die hier genannten „Situationen“ in die Kategorie der statischen Ereignisse im Sinne eines situativen Zustandes fallen, gehören die „Geschehnisse“ in die Kategorie der nicht figurenintendierten, dynamischen Ereignisse. Obgleich sich eine Situation als das Hintergrund-setting einer Erzählung von einem plötzlich eintretenden, jene Situation verändernden Geschehnis unterscheiden lässt, sollen sie an dieser Stelle als eine Kategorie der Emotionsauslöser zusammengenommen werden, und zwar aufgrund ihrer Gemeinsamkeit hinsichtlich der Figurenunabhängigkeit: Für die Evokation bestimmter Emotionen können Situationen und Geschehnisse zusammengefasst werden, weil sie nicht durch intendiertes Figurenhandeln hervorgerufen werden und somit eigenes emotives Potential besitzen: „Sie vermitteln ihm [d.h. dem Leser] ein bestimmtes Verständnis von der dargestellten emotionalen Situation, sie fordern ihm eine Bewertung der Ereignisse ab, sie evozieren demgemäße Gefühle, bringen ihn unter Umständen dazu, einen konkreten Fortgang des Geschehens zu erhoffen oder zu befürchten und rufen nicht selten auch messbare physiologische Effekte hervor.“188

Beispiele hierfür sind etwa die Erntezeit (bspw. Mt 13,30), Naturereignisse (bspw. Mt 7,25) oder sonstige Zufälle (bspw. Mt 13,7). Verhältnismäßig leicht fällt die Analyse freilich im Falle so genannter „prototypisch emotionaler Situationen“, wie Simone Winko sie beschreibt, d.h. solcher, „die in einer Kultur bestimmte Emotionen auslösen, ohne dass ihre emotionale Qualität thematisiert zu werden braucht“189. Doch dies freilich nur, wenn diese Situationen zur Zeit der Abfassung der Texte immer noch dieselben sind wie zur Zeit der Textanalyse. Aufgrund der enormen Distanz zur Entstehungszeit der neutestamentlichen Texte sind solche emotionalen Stereotypsituationen und -geschehnisse teilweise schwer auszumachen. Allerdings sind immer wiederkehrende narrative Situationen und Abläufe, so genannte Skripts, erkennbar, welche eine bestimmte emotionale

186 Für einen umfassenderen Überblick über die narratologische Analyse von Situationen und Geschehnissen vgl. a.a.O., 213–219; FINNERN, Narratologie, 87–125; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 111–144. 187 Vgl. a.a.O., 111–114; FINNERN, Narratologie, 89–91; FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 213 f. 188 FEHLBERG, Gefühle, 109. 189 WINKO, Gefühle, 131.

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Rezeption nahelegen.190 So wurden die von Ronald de Sousa geprägten so genannten „Schlüsselszenarien“ von Burkhard Meyer-Sickendiek auf gattungsspezifische Schlüsselszenarien mit fest assoziierten Emotionen weiterentwickelt.191 Solche Schlüsselszenarien sind auch in den mt Parabeln erkennbar, wie etwa in der oft thematisierten Situation des Endgerichts Gottes, das mit der Erntezeit (13,24–30; 24,32–34) oder als Abrechnung zwischen einem Hausherren und seinem Sklaven (18,23–35; 20,1–16; 21,33–41; 22,1– 14; 24,45–51; 25,14–30), aber auch als Hochzeit (22,1–14; 25,1–13) dargestellt wird. Wenn die emotionale Besetzung von Geschehnissen untersucht werden soll, ist es besonders hilfreich, die Ordnung der Narration näher zu betrachten. So können Prolepsen, die ein Geschehen vorwegnehmen, damit verbundene Emotionen schon im Vorhinein auslösen und intensivieren. Sie können aber auch eine emotionale Vorbereitung auf ein Ereignis sein und der Erzählung somit Spannung und damit verbundene Emotionen rauben. Auch mittels Analepsen, die ein bereits vergangenes Geschehen im Nachhinein erzählen, lassen sich Emotionen auf vielfältige Weise beeinflussen. Die Dauer bzw. Geschwindigkeit einer Erzählung betrachtend, kann gefragt werden, wie ausführlich eine Situation oder ein Geschehen geschildert sind. Eine szenische Darstellung vermag die empathische Perspektive des Rezipienten zu erhöhen und somit die Emotionen der Auslöser zu verstärken. Eine elliptische Darstellung hingegen eröffnet dem Rezipienten weniger Raum, sich in ein Geschehen hineinzufühlen. Die Frequenz der Erzählung lässt sich ebenfalls untersuchen. So kann eine iterative Erzählweise im Gegensatz zu einer singulativen verstärkter und intensiver Emotionen abrufen. Eine narratologische Untersuchung von Situationen und Geschehnissen kann demzufolge folgende Fragen an den Text stellen: Sind bestimmte Situationen oder Geschehnisse im Text emotional besetzt? Sind sie dies aufgrund ihres Skript-Charakters oder maßgeblich durch die Schilderung des Autors? Wie lenkt die Erzählweise die Wahrnehmung des Geschehens? Werden Emotionen durch plötzliche Wendungen und Überraschungen hervorgerufen bzw. intensiviert? Als Beispiel für die emotionale Besetzung von Geschehnissen soll die Parabel vom Hausbau auf Sand oder Fels am Ende der Bergpredigt (Mt 7,24–27) angeführt werden: Die dort auftretenden Platzregen, Ströme und Winde (V. 25.27) dürften schon per se beim Rezipienten negative Emotionen wie Unbehagen oder gar Furcht auslösen. Zweitens verstärkt der religionsgeschichtliche Hintergrund dieses Motivs die Bedrohung, indem Unwetter in vielen weiteren Texten mit Gerichts- und Strafhandlungen Gottes verknüpft sind (vgl. bspw. Gen 6–7; Jes 5,6; Jer 14,1 f.; Ez 38,22; Am 4,7; ApcBar(syr) 53).192 Doch ist das Unwetter im zweiten Teil der Parabel durch das auf Sand gebaute Haus ungleich bedrohli190

Vgl. FEHLBERG, Gefühle, 111. Vgl. ANZ, Turn. 192 Vgl. MAYORDOMO, Neubauten, 95. 191

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cher als im ersten Fall. Das Geschehnis des Unwetters ist folglich der zentrale Emotionsauslöser dieser Geschichte, der aufgrund zwei verschiedener Situationen aber von unterschiedlicher emotionaler Qualität ist.

c) Raum193 Während in der Literaturwissenschaft bei der Affektsteuerung des Rezipienten der Fokus stärker auf die Figuren und das Geschehen der Narration gelegt wird194, sind m.E. noch zwei weitere Auslöser zu berücksichtigen: der des Raumes und der der Zeit. Denn Emotionen haben als leibliche Phänomene stets auch räumliche Komponenten: „Angst hängt mit Enge zusammen wie Glück mit Weite und Erhobenheit; Depression lastet bedrückend auf uns, während Heiterkeit uns ‚aufmuntert‘, nämlich in versatile Beweglichkeit versetzt.“195 Dieser Zusammenhang wirkt natürlich auch umgekehrt und somit können auch Räume im Rezipienten bestimmte Emotionen wecken. Sönke Finnern nennt dies den „gestimmten Raum“196. Ein Raum kann bspw. durch seine Weite ein Gefühl von Freiheit beim Rezipienten und damit verbundene Freude, Erleichterung oder Begeisterung wecken, während eine besonders betonte Enge eines Raumes eine unangenehme Beklemmung beim Hörer/Leser hervorruft. Genauso können „[d]ie Räume, die mit Emotionen verbunden sind, […] Kulturräume sein, etwa die graue, trostlose Stadt, die lebendige Stadt, das Grab, das Zuhause, oder auch Naturräume darstellen wie der Wald, in dem der Mensch einsam ist, das fröhliche Bächlein, die unheimliche Heide, der erhabene Strom, die schwarze Flut des Meeres.“197

All diese Schilderungen des Raumes sind mit Emotionen verbunden, selbst wenn diese Verbindung nicht in Form eines Adjektivs explizit genannt sind. So muss ein nebliger Friedhof bei Nacht nicht zusätzlich als furchteinflößend bezeichnet werden, um diesen Effekt auf den Rezipienten zu haben. Räume können daher starke indirekte Emotionsauslöser sein. Von Interesse kann hier auch die Überschreitung bestimmter Raumgrenzen sein, welchen erstmals Juri Lotmans semiotische Untersuchungen besondere Aufmerksamkeit zukommen ließen.198 Folgende Fragen können im Hinblick auf die emotionale Wahrnehmung der Raumdimension gestellt werden: Sind die vorkommenden Räume einer Erzählung emotional besetzt? Sind sie bereits kulturell geprägt oder erst maßgeblich durch die Erzählung als solche markiert? Kommt ihnen durch die 193

Für einen umfassenderen Überblick über die narratologische Raumanalyse vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 228–235; FINNERN, Narratologie, 78–86; MARTÍNEZ/ SCHEFFEL, Einführung, 151–160. 194 Vgl. RYSSEL/WULFF, Affektsteuerung. 195 BÖHME, Himmel, 60. 196 FINNERN, Narratologie, 84. 197 WINKO, Gefühle, 132 198 Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Einführung, 156–160.

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Erzählweise besondere emotionale Valenz zu? Sind die Räume statisch oder werden sie erst durch Bewegung und Grenzüberschreitungen emotionalisiert? Sind sie eindimensional oder emotional polyvalent, bspw. je nach Figurenperspektive? Im Mt-Ev finden sich wenige Beispiele für Parabeln, in denen dieser Emotionsauslöser zentral ist. Es sei exemplarisch Mt 7,13 f., die Parabel von der weiten und engen Pforte, genannt. Interessant an diesem Text ist gerade das Spiel mit den Gegensätzen: Obgleich die enge Pforte schwer zu passieren ist und dadurch negative Emotionen wie Widerwillen, Kummer oder gar frustrierte Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung wecken dürfte, ist sie der Weg, der gewählt werden soll. Denn dieser Weg wird durch sein Ziel, das Leben, belohnt, und die negativen Emotionen sollen zugunsten der ergebnisorientierten guten wie Freude, Begeisterung und Stolz, die sich wiederum mit dem Raum hinter der engen Pforte verbinden, bewältigt werden. Die weite Pforte aber wird durch den Raum, in den sie führt, die Verdammnis, zu einer negativen. Die Grenzüberschreitung durch die Pforten zum jeweiligen Raum dahinter ist demnach die eigentliche Aktion der Erzählung, die Emotionen auslöst. Die vor Augen stehende Pforte muss als das, was sie eigentlich ist, wahrgenommen werden, um sie richtig zu beurteilen: Sie ist nur ein Durchgang zum eigentlichen Ziel, wodurch die mit ihr verbundenen Emotionen nicht dazu verleiten dürfen, dieses zu verfehlen. Die positiven Emotionen, die sich mit dem Raum des Lebens hinter der engen Pforte verbinden, und die negativen Emotionen, welche die Verdammnis hinter der weiten Pforte auslöst, müssen stärker sein als die jeweils gegensätzlichen Emotionen, welche die Pforten für sich genommen wecken.

d) Zeit199 Schließlich kann auch die Dimension der Zeit gezielte Emotionen wecken. Das narratologische Analyseinstrumentarium für die Zeit, welches aus der Differenz von Erzählzeit und erzählter Zeit entwickelt wurde, untersucht zwar stärker das Verhältnis zwischen der Zeit des discours und der Zeit der histoire als vielmehr die Zeitdimension in der Erzählung als solche.200 Trotzdem vermag dieses Aufschluss über jenes zu geben. Will man die Zeit als direkten Emotionsauslöser einer Narration betrachten, ist es hilfreich, die Zeit besonders auf zwei Gesichtspunkte zu untersuchen: erstens auf die Wahrnehmung von Zeit und zweitens auf das dahinterstehende Zeitverständnis: Die Zeit als solche ist als selbstverständliche Lebenskomponente gegeben und im Grunde nur dann als eine spezifische wahrnehmbar, wenn sie sich durch einen gewissen Grad an Spannung auszeichnet, d.h. wenn das Maß, in welchem Zeit zur Verfügung steht, spürbar wird. Sie zeichnet sich dabei durch ihre bestimmte Verortung auf einem zeitlichen 199

Für einen umfassenderen Überblick über die narratologische Zeitanalyse vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 215–224; FINNERN, Narratologie, 93–99; MARTÍNEZ/ SCHEFFEL, Einführung, 32–49. 200 Diese von Günther Müller eingeführte und von Gérard Genette aufgegriffene Unterscheidung vergleicht die Zeit, die das Erzählen einer Geschichte benötigt (Erzählzeit) mit der fiktiven Zeit, die sich in der Geschichte erstreckt (erzählte Zeit). Vgl. a.a.O., 32–34.

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Spektrum zwischen Ruhe/Gelassenheit und Zeitknappheit aus. Zeit kann knapp sein und somit gehetzte Gefühle beim Rezipienten einer Erzählung provozieren; sie kann im Überfluss vorhanden sein und somit Ruhe und Gelassenheit bewirken; sie kann sogar geschenkt oder aber entzogen werden, was Dankbarkeit und Erleichterung bzw. Verzweiflung hervorruft. Auf diese Weise wird die Zeitspannung „in enger Verbindung mit bestimmten, zeitspezifischen Emotionen erfahren: das ‚Jetzt‘ mit Überraschung oder Schreck, das ‚Nicht-mehr‘ mit Bedauern, Trauer oder Reue, das ‚Noch-nicht‘ mit Begehren, Ungeduld, Sehnsucht oder Hoffnung“201. In diesem Zusammenhang ist die Zeit auf etwaige Zeitkonflikte hin zu prüfen: Zeit wird dort besonders erfahrbar, wo sie nicht mehr mit dem allgemeinen, auch von anderen Menschen erfahrenen Zeiterleben übereinstimmt, sondern vielmehr als Ungleichzeitigkeit wahrgenommen, d.h. wenn die „grundlegende Kontemporalität“ gestört wird und eine Desynchronisation im Sinne einer Retardierung oder Akzeleration eintritt.202 Aus solchen Ungleichzeitigkeiten, weil man seiner Zeit bereits voraus ist oder ihr aber hinterherhinkt, resultieren oftmals Emotionen, welche die einzige Bewältigung dieser Zeitverschiebung sind: Man wartet in Ungeduld, Langeweile, manischer Erregung, Sehnsucht oder hoffnungsvoller Antizipation auf die Zukunft, oder man hängt ihr trauernd, sich schuldig fühlend, melancholisch und an der Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit leidend nach.203 Darüber hinaus ist bei der Analyse biblischer Parabeln ein zweifacher Blick auf die Zeit wichtig, denn es muss das abgerufene Zeitverständnis geprüft werden. Hier kann einmal die historische und die biografische Zeit unterschieden werden: Der Blick auf die Geschichte als auch auf die eigene Lebensgeschichte kann bestimmte Emotionen auslösen wie etwa Reue oder nostalgische Freude. Auch die Zukunft ist hier von Belang. Einleuchtend ist dies im Hinblick auf die biografische Zeit: Man macht Pläne für die Zukunft und antizipiert diese emotional bspw. durch Vorfreude oder aber Furcht. Auch die historische Zeit ist im theologischen Kontext von Wichtigkeit: Denn so können Prophezeiungen und Visionen als Teil der Zukunft einer sozial-kulturell bestimmten Gruppe angesehen werden. Dazu zählen auch Szenarien vom Weltende wie etwa das apokalyptische Zeitverständnis. Eine Unterscheidung der beiden Zeitebenen ist im Hinblick auf die Rezeption von Parabeln von besonderer Wichtigkeit, denn häufig zielt die Wahrnehmung der biografischen Zeit einer Figur eigentlich auf den Verlauf der Weltgeschichte, wodurch die Emotionen noch verstärkt werden, weil die Erzählung plötzlich auch den Rezipienten selbst betrifft. Damit verbunden ist die Unterscheidung zwischen irdischer und göttlicher Zeit. Der Zeithorizont eines Textes kann 201

FUCHS, Zeiterfahrung, 103. Vgl. a.a.O., 104. 203 Vgl. ebd. 202

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profan-menschlich oder aber göttlich sein. Im theologischen Kontext muss unterschieden werden zwischen einer zeitlichen Stufe, die noch in die Weltzeit fällt, und einer, die eine weniger linear gedachte, in Gottes Ewigkeit aufgehende „Zeit“ ist. Auch hier kann nach Zeitkonflikten gefragt werden, falls verschiedene Zeitverständnisse in der Erzählung verarbeitet sind, die sich ggf. widersprechen. Bei all diesen Untersuchungen ist es weiterführend, folgenden Indikator für die an der Zeit hängenden Emotionen zu prüfen: die Kontrollierbarkeit bzw. Unverfügbarkeit der Zeit. Solche unbeeinflussbaren Dimensionen sind insbesondere die unverfügbare Vergangenheit und Zukunft. Diese Unterscheidung zwischen Macht und Ohnmacht wurde in der Beschäftigung mit Emotionen bereits vorgeschlagen: Paola-Ludovika Coriando nennt diesen Umstand „[d]as Spiel von Halt und Verlust“, das „ein wesentlicher Grundzug des Stimmungsgeschehens“ sei.204 Wenn eine Situation nicht antizipiert werden kann oder eine zeitliche Erwägung unmöglich wird, fällt es dem Menschen schwer, rational und vernünftig zu handeln. Für ein solches Ausgeliefertsein stehen ihm kaum aktive Bewältigungsstrategien zur Verfügung. Folglich reagiert er emotional auf solche Situationen der Ohnmacht. Es ist einleuchtend, dass mit zeitlicher Ohnmacht vorwiegend negative Emotionen verbunden sein dürften, während eine zeitliche Kontrolle und die Möglichkeit des aktiven Eingreifens vonseiten des Menschen positive Emotionen evozieren dürften. Doch diese intuitive Überlegung ist aus theologischer Perspektive erst noch zu überprüfen: Es ist denkbar, dass der Glaube an Gott und das Vertrauen auf seine heilbringende Geschichte mit den Menschen in Situationen der Ohnmacht negative durch positive Emotionen zu ersetzen vermag. Eine emotive Analyse der Zeitdimension kann demgemäß folgende Fragen stellen: Wird die Zeit als solche in der Narration wahrnehmbar? Zeichnet sie sich durch einen bestimmten Grad an Spannung aus? Treten Zeitkonflikte auf? Werden hierdurch Emotionen ausgelöst? Muss in der Zeitwahrnehmung zwischen verschiedenen Zeitkonzepten wie historischer/biografischer oder irdischer/göttlicher Zeit unterschieden werden? Hat dies Konsequenzen für die Rezeptionsemotionen? Als mt Beispiel sei hierfür die Parabel vom Unkraut des Ackers (Mt 13,24–30.36–43) angeführt: Die Zeit zwischen Saat und Ernte mag lange sein, noch länger sogar, betrachtet man die Deutung der Ackerbauzeit auf die Weltzeit; doch wird die Erzählung an dieser Stelle stark gerafft, sodass klar wird: Gute Saat wird unweigerlich zur guten Frucht und Unkraut bleibt dagegen Unkraut. Die Zeitdauer spielt in diesem Prozess keine Rolle. Entscheidend aber ist der Zeitpunkt der Ernte, obgleich er ein unbestimmter Punkt in der Zukunft ist, wird er unabwendbar kommen. Durch die Übertragung der Zeitebenen vom irdischen in den göttlichen Bereich erlangt die Zeit ihre spezifische Bedeutung, die im Vergleich zu einer Erntezeit durchaus emotional behaftet ist. Denn bei der „Vollendung des Zeitalters“ (V. 41) wird über das Seelenheil des Menschen entschieden. Diese emotio204

CORIANDO, Affektenlehre, 253 (Hervorhebung im Original).

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

nale Relevanz wird durch die lange Zeitspanne davor aber in keinster Weise tatsächlich ent-spannt.

Da Zeit und Raum aus narratologischer Perspektive häufig zusammen betrachtet werden (setting), kann es bisweilen sinnvoll sein, die beiden Bereiche nicht strikt voneinander zu trennen. Abschließend könnte der Einwand erhoben werden, dass in dieser Liste der Emotionsauslöser (Figuren, Situationen/Geschehnisse, Raum, Zeit) keine Objekte auf ihren emotionalen Gehalt geprüft werden. So führt bspw. Simone Winko in ihrem Analyseverfahren für lyrische Texte „symbolische Objekte wie de[n] Ring, der auf die Verbindung zweier Liebender hinweist, sowie Objekte bzw. Kulturprodukte, die zu den Requisiten emotional markierter Situationen gehören, etwa der Sarg, der Wanderstab oder das Reiselied“205 an. Diese Kategorie der Emotionsauslöser wird hier absichtlich nicht unterschieden, da die emotionale Verknüpfung von Objekten stark von der Situation, dem Ereignis oder der Handlung, in der sie Verwendung finden, abhängt. So kann ein Verlobungsring allein noch nicht dafür sprechen, dass beim Rezipienten freudige oder liebevolle Emotionen aufkommen, wenn dieser in einer emotional negativ gefärbten Situation auftaucht wie bspw. einem Ehestreit, in dem der Ring symbolisch abgenommen wird, oder er in einer verregneten Nacht von einem Passanten in einem Rinnstein gefunden wird. Diese Prävalenz des Kontextes und der Figurenhandlung führt das hier vorgeschlagene Modell dazu, den emotionalen Gehalt von Gegenständen im Zuge der Situations- oder Handlungsanalyse zu untersuchen.206 2.2.4 Die Intensität der Rezeptionsemotionen Die Rezeptionsemotionen können bereits während ihrer narratologischen Untersuchung auf ihre jeweilige Intensität hin geprüft werden. Bspw. kann ein furchteinflößendes Erzählelement diese Rezeptionsemotion noch verstärken, indem es besonders häufig geschildert oder gezielt zu Anfang oder am Schluss der Erzählung genannt wird (Primär-/Rezenzeffekt). Doch es gibt noch weitere Indikatoren der Emotionsintensität, die gesondert erwogen und beurteilt werden müssen: Zunächst ist dies die Erzählästhetik. Dass der Mensch an ästhetischer Darstellung buchstäblich seine Freude hat, hängt damit zusammen, dass das menschliche Gehirn „offenbar über ein spezialisiertes Belohnungssystem [verfügt], das mittels dopaminerger Steuerungsmechanismen zu evolutionär angepasstem (‚adaptivem‘) Verhalten motiviert. Insbesondere das für Säuger so typische, lustintensive Spielverhalten, das dem ontogenetischen Aufbau und der Einüben [sic!] wichtiger Fertigkeiten dient, scheint hauptsächlich von diesem Belohnungssystem gesteuert zu werden. […] [I]n der Evolutionspsychologie 205

WINKO, Gefühle, 132. In diesem Sinne schreibt auch Simone Winko, dass Gegenstände meist „auf prototypisch emotionale Situationen verweisen“ (ebd). 206

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

211

wurde die Vermutung angestellt, dass menschliches Kunstverhalten maßgeblich durch hedonische Entwicklungsmechanismen motiviert ist“207.

Sie kann die Emotionalisierung bestimmter Erzählelemente enorm verstärken oder auch dämpfen. Hierzu steht dem Autor ein ganzes Arsenal rhetorischstilistischer Mittel zur Verfügung. Dazu gehören bspw. Interjektionen, Ausrufesätze, Diminutive und intensivierende Wortformen.208 Aber auch der allgemeine Sprachduktus einer Erzählung ist von Belang: So wird eine neutrale Sprache, die frei von Bildern, Metaphern oder poetischen Elementen ist, weniger starke Emotionen im Rezipienten hervorrufen als die bewusste Verarbeitung von Metaphern oder etwa sprachlicher Bezüge auf Referenztexte, die ihrerseits emotional besetzt sind. Speziell „Metaphern sind besonders geeignet, um Bewertungen subtil einzubinden. Gerade bildhafte Sprache hat hohen Anschauungs- und Erlebnisgehalt, ruft negative oder positive Assoziationen beim Leser wach. So wird das Verstehen sowohl in der Erzählten Welt als auch beim Leser emotional gefärbt. Auf der Metaebene lässt sich sogar die ganze Erzählung als Bild betrachten, das den Leser anregt und einnimmt, um ihm Inhalte und Werte, Theologie und Ethik ganzheitlich zu vermitteln.“209

Weitere Werkzeuge sind etwa der erzählerische Spannungsaufbau oder poetische Elemente. Ein besonders wichtiges Hilfsmittel ist auf dieser Ebene die bewusste Referenz des Autors zum eigenen oder einem fremden Text. Intraund Intertextualität sind besonders starke Werkzeuge der Leserlenkung, da sie den inhaltlichen wie emotionalen Rahmen einer gänzlich anderen Geschichte erschließen und mit der neuen verbinden. Diese wird dementsprechend angereichert und verstärkt. Als Beispiel dafür kann Mt 25,10 dienen, als die Türen der Hochzeitsgesellschaft hinter dem Bräutigam und den klugen Jungfrauen „verschlossen“ werden, genau wie die Türen der Arche bei der Flut (Gen 7,16). Dieser Wortlaut, der schon aufgrund der Erwähnung der Noah-Geschichte im unmittelbaren Kontext des Gleichnisses (Mt 24,37–39) bereits die Rezeptionsfolie des Rezipienten darstellen dürfte, ruft in ihm dann – immer vorausgesetzt, er verfügt über das nötige religiöse Hintergrundwissen – stärkere negative Emotionen hervor als die Verwendung eines anderen Terminus an dieser Stelle, der nicht an die drastische Situation im Ersten Buch Mose erinnerte und somit emotional neutraler wäre. Des Weiteren erinnert dieser Terminus erneut an die vorangegangene Rede in Mt 24 und verstärkt somit die Emotionen durch den zusätzlichen Abruf der eben erst gehörten Geschehnisse der Endzeit.

Zweitens ist für die Beurteilung der Intensität der jeweiligen Rezeptionsemotionen die Kohärenz der Erzählung zu prüfen.210 Ein Einfühlen in die Narrati207

MELLMANN, Emotionsforschung, 174 f. Vgl. FOOLEN/LÜDTCKE/SCHWARZ-FRIESEL, Kognition, 224. 209 WAGENER, Figuren, 180. 210 Auch Fehlberg verwendet diesen Begriff, welcher m.E. weniger sperrig ist als Meesʼ „etwas als wirklich Auffassen“-Terminologie (vgl. FEHLBERG, Gefühle, 106). 208

212

Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

on wird erst da ermöglicht, wo eine Erzählung als potenziell wirklich aufgefasst werden kann. Ihre Glaubwürdigkeit ist für die emotionale Teilnahme an ihr essentiell. Je größer die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen der Welt der Erzählung und der Welt der Rezipienten, desto leichter findet dieser sich in ihr zurecht und ist in der Lage, den geschilderten Ereignissen durch Inferenzen zu folgen und auf sich selbst zu applizieren. Nur wenn die Situationen, Geschehnisse, die Figuren und ihr Verhalten sowie Raum und Zeit nachvollziehbar, anschaulich und eindeutig geschildert werden und sich daraus ein kohärentes Gesamtbild ergibt, kann der Rezipient auf die Erzählung reagieren und sich in Figuren hineinversetzen.211 „So, wie die kognitive Informationsverarbeitung generell dem Ökonomieprinzip folgt, ist auch für die Gefühlsbeteiligung des Lesers etwas Ähnliches anzunehmen; das heißt, der Leser bringt erst dort seine Emotionen ein, wo er für sie einen vergleichsweise festen Bezugspunkt ausgemacht hat. Das ist dann der Fall, wenn der Abgleich zwischen seinen Inferenzen und weiteren Textsignalen erfolgreich verläuft, wenn also die auf Leserseite angestoßenen Schlussfolgerungen vom Text immer wieder – zumindest in einem bestimmten Maße – bestätigt werden.“212

Die neutestamentlichen Parabeln machen davon insofern Gebrauch, als sie meist Szenen aus dem Alltag der damaligen Menschen erzählen, sodass es den Rezipienten leichtfällt, die Erzählung für wahr bzw. zumindest für glaubwürdig zu halten. Damit tragen sie dem Umstand Rechnung, dass eine nicht metaphorische Rede vom Reich Gottes als weniger wirklich aufgefasst würde und somit den Prozess neuer Erkenntnisgewinnung erschwerte. Trotz dieser als grundsätzlich real geltenden Chrakterisik einer Erzählung darf diese dennoch nicht vollkommen vorhersehbar sein, um eine intensive emotionale Reaktion hervorzurufen. In diesem Zusammenhang muss die Antizipationsmöglichkeit eines Geschehnisses beurteilt werden: Je unerwarteter es eintritt, desto intensiver fällt die damit verbundene Emotion aus.213 In der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) bspw. wird die routinierte Alltagserfahrung an zentraler Stelle durchbrochen, nämlich als der Besitzer des Weinbergs den Lohn auszahlt. Umberto Eco betrachtet eine solche unerwartete Wendung als elementare Bedingung einer jeden Narration, deren Ereignisse zu einem bestimmten Grad „unerwartet sein [müssen], und einige von ihnen müssen sogar als ungewöhnlich oder seltsam erscheinen“214. Dennoch schillert eine Erzählung stets in einem bunten Spektrum zwischen Erwartung und Überraschung. Ob sie den Rezipienten in seinen Befürchtungen täuscht und somit positiv überrascht oder seine Hoffnungen bestätigt oder aber jeweils umgekehrt, sind offene Spiele der Narration, wel211

Vgl. a.a.O., 99. A.a.O., 100. 213 Vgl. MEES, Struktur, 60–67. 214 ECO, Lector, 135. 212

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

213

che nur begrenzt vorhersagbar sind.215 Für die emotionale Rezeption sind Überraschungsmomente von immenser Bedeutung. Der Psychologe Ulrich Mees nennt darüber hinaus noch zwei weitere Parameter für die Intensität einer emotionalen Reaktion: Den Erregungstransfer, d.h. die messbare physiologische Erregung, sowie die Stimmung.216 Für die Messung von Emotionen des impliziten Lesers von Texten sind diese nicht von Belang, da sie nicht erfragt werden können. Hierzu wären empirische Messungen bspw. der Lesegeschwindigkeit (als Indikator für die Erregung beim Lesen) oder Befragungen der Leser auf ihre Stimmung sowie emotionale Reaktion beim Lesevorgang nötig. Dies ist nicht Anliegen der vorliegenden Methodik. Allerdings sei hier der Vorschlag unterbreitet, dass für den Indikator der Stimmung zumindest der Mikro- und Makrokontext der Erzählung in einem größeren Textkorpus berücksichtigt werden sollte.217 Obgleich es unmöglich ist, die individuelle Stimmung eines antiken Rezipienten der Parabeln Jesu zu erfragen, sollte der unmittelbare Kontext der Erzählung beachtet werden. So hat es sicherlich Auswirkungen auf die emotionale Rezeption einer Parabel, ob sie im Kontext der Gemeinde- (Mt 18) oder aber der Endzeitrede steht (Mt 24–25). Diese Kontexte legen, für sich genommen, schon eine bestimmte Stimmung des Rezipienten nahe, sei sie auch nur vage bestimmbar, wie etwa eine neutrale Aufmerksamkeit angesichts der Jüngerbelehrung Jesu oder Schrecken und Furcht angesichts der drastisch beschriebenen Geschehnisse am Weltende. Freilich ist diese Auffassung von Stimmung weiter gefasst als die allgemeine Definition und gesteht ihr einen außerhalb ihrer selbst liegenden Anlassbezug zu.218 Bei der Stimmung des Rezipienten durch den Kontext der Erzählung muss insbesondere auf Kongruenz geachtet werden, denn die Emotionsforschung legt nahe, dass:

215

Vgl. a.a.O., 143–148. Vgl. MEES, Struktur, 60–67. 217 Darüber hinaus ist es ggf. möglich, dass Stimmungen einer Gesellschaft bzw. Kultur einer bestimmten Zeit oder Epoche in Texten Niederschlag finden und analysiert werden können. Ein Beispiel dafür ist der philosophische Ansatz Hans Ulrich Gumbrechts, der fordert, „dass Literaturinterpreten und Literaturhistoriker heute mehr ‚stimmungsorientiert‘ lesen“ sollten (GUMBRECHT, Stimmungen, 10). Dazu untersucht er v.a. Prosodie und Poetizität von Texten und prüft sie auf Stimmungsatmosphären der zeitgenössischen Kultur hin, welche in den Texten nacherlebbar würden (vgl. a.a.O., 23–25). Auch Winfried Kurth untersucht – jedoch anhand von Bildmaterial verschiedener Medien –, wie sich Stimmungen in einer Gesellschaft abbilden und wechselseitig verstärken (vgl. KURTH, Dynamik). So spannend und berechtigt diese Ansätze sein mögen, diese Perspektive sprengt jedoch den Rahmen dieser Studie und wäre vielmehr Gegenstand einer weiterführenden Arbeit. 218 Entgegen der oben gegebenen Definition, nach der Stimmung meist keinen Auslöser hat (s.o. Kap. 1.3). Dennoch ist eine Unterscheidung zwischen anlassbezogener und anlassenthobener Stimmung durchaus sinnvoll, vgl. dazu MEES, Struktur, 66 f. 216

214

Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

„Stimmungen die Initiation bzw. Intensität nachfolgender Gefühlserlebnisse gleicher Bewertungsqualität umso mehr begünstigen bzw. erhöhen, je intensiver sie sind; entsprechend hemmen intensive Stimmungen die Initiation bzw. Intensität von Gefühlserlebnissen diskrepanter Bewertungsqualität.“219

Um die intendierten Rezeptionsemotionen einer Erzählung auf ihre Intensität hin zu prüfen, können folgende Indikatoren der Erzählweise herangezogen werden: Zunächst die Erzählästhetik, zweitens die Kohärenz der Erzählung, drittens der Antizipationsgrad des Erzählverlaufs, d.h. etwaige Überraschungseffekte, sowie die Stimmung durch den Mikro- und Makrokontext. 2.2.5 Ein heuristisches Raster zur Abfrage möglicher Rezeptionsemotionen Auf der Grundlage dieser Untersuchungen können begründete Annahmen darüber getroffen werden, auf welche emotionale Reaktion des Rezipienten der Autor einer Erzählung abzielt. Zum Schluss aber ist für die Analyse dieser emotionalen Reaktionsprozesse nun noch sinnvoll, ein erstes, heuristischfunktionales Spektrum an möglichen Emotionen zur Verfügung zu stellen, um sicherzustellen, dass keine möglichen Rezeptionsemotionen übersehen wurden. Hierfür ist das Modell von Ulrich Mees ein geeigneter Ausgangspunkt220: Er definiert Gefühle als „Bewertungsreaktionen auf Ereignisse, auf das Tun/Lassen von Urhebern oder auf Personen/Objekte […] von bestimmter Intensität des Erlebens“221. Sein Entwurf eignet sich an dieser Stelle deshalb besonders gut, weil er die oben herausgearbeitete Bewertung des empathischen Rezeptionsvorgangs miteinbezieht. Nach Ulrich Mees bezieht sich die Bewertung von (1) Ereignissen auf Wünsche und Ziele, woraus sich Zufriedenheit/Unzufriedenheit ergeben; die Bewertung des (2) Tuns und Lassens von Urhebern auf Normen, Rechte und Standards und resultiert in Billigung/Missbilligung; die Bewertung von (3) Personen und Objekten schließlich auf Werte (Wert-/Geringschätzung) oder Vorlieben (Mögen/NichtMögen). Die Bewertung von Ereignissen fokussiert dabei entweder auf Implikationen für Andere (damit verbinden sich die von Ulrich Mees so genannten „Empathie-Emotionen“ wie Mitfreude/Schadenfreude) oder auf Implikationen für die eigene Person. Ist dabei die Erwartung relevant, so ist sie verbunden mit den „Erwartungs-Emotionen“ Hoffnung/Furcht und bei erwartungsentsprechendem Ausgang Befriedigung, bei erwartungswidrigem Ausgang Erleichterung/Enttäuschung. Bei irrelevanter Erwartung entstehen die „Wohlergehen-Emotionen“ Freude/Leid. Die Bewertung von Tun und Lassen von Urhebern fokussiert entweder auf das Selbst als Urheber, in diesem Fall handelt es sich um die „internalen Attributions-Emotionen“ Stolz/Scham. 219

A.a.O., 67. Vgl. a.a.O., 55. 221 A.a.O., 195. 220

215

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

Oder der Fokus liegt auf Anderen als Urhebern, dann entstehen die „externalen Attributions-Emotionen“ Billigung/Zorn. Diese „AttributionsEmotionen“ verbinden sich mit der Gruppe der „Wohlergehen-Emotionen“ zu den Mischemotionen Selbstzufriedenheit/-unzufriedenheit und Dankbarkeit/Ärger. Die Bewertung von Personen und Objekten schließlich bezieht sich auf Werte, woraus die „Wertschätzungs-Emotionen“ Bewunderung/Verachtung resultieren. Oder sie beziehen sich auf Vorlieben und führen zu den „Attraktivitäts-Emotionen“ Liebe/Hass. Vereinfacht dargestellt: Tabelle 2: Erfragung möglicher Rezeptionsemotionen nach Ulrich Mees Bewertung von Ereignissen in Bezug auf Wünsche und Ziele

des Tuns/Lassens von Urhebern in Bezug auf Normen, Rechte und Standards von Personen/Objekten in Bezug auf Werte und Vorlieben

„Empathie-Emotionen“: Mitfreude/Neid; Schadenfreude/Mitleid „Erwartungs-Emotionen“: Hoffnung/Furcht; Befriedigung; Erleichterung/Enttäuschung „Wohlergehen-Emotionen“: Freude/Leid „Attributions-Emotionen“: Stolz/Scham; Zufriedenheit/Zorn

„Wohlergehen/ AttributionsEmotionen“: Selbstzufriedenheit/ -unzufriedenheit; Dankbarkeit/ Ärger

„Wertschätzungs-Emotionen“: Bewunderung/Verachtung „Attraktivitäts-Emotionen“: Liebe/Hass

Diese Unterscheidung zeigt eine sinnvolle Klassifizierung der Emotionen bezüglich ihrer Objekte und eignet sich daher gut als heuristisches Raster zur Abfrage möglicher Rezeptionsemotionen, ohne dabei ihre Bezugsgrößen aus den Augen zu verlieren und der Willkür zu verfallen. Es ist außerdem dazu geeignet, die Rezeptionsemotionen anhand ihres jeweiligen Emotionsauslösers zu bestimmen. Auf der Grundlage der Bewertung einer Person/Figur (Wert-/Geringschätzung; Nicht-/Mögen) kann die emotionale Reaktion auf Figurenhandeln, Situationen, Ereignisse, Räume oder Zeit sowohl aus einer Beobachterperspektive als auch aus der jeweiligen Innenperspektive einer Figur heraus bestimmt werden (Un-/Zufriedenheit; Miss-/Billigung). Auf dieser Rezeptionsbasis kann die pragmatische Perspektive auf die Erzählung folgen, durch die der Hörer/Leser sich selbst in die Erzählung hineindenkt und -fühlt und daraus Rückschlüsse auf das eigene Leben zieht und entsprechende Erwartungs-, Wohlergehen- und internale Attributions-Emotionen entwickelt. Untersucht man die moralisch-ethische Textpragmatik, können

216

Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

die Rezeptionsemotionen grundsätzlich zwei verschiedene Mechanismen unterstützen: Entweder die Prävention bzw. Einstellung einer bestimmten Handlungsweise (durch Warnung, Abschreckung) oder die Bekräftigung bzw. Motivierung (durch Ermutigung, Anreiz). Damit verbundene Emotionen vermögen diese Pragmatik bspw. durch Wertschätzungs-Emotionen, Wohlergehen-/Attributions-Emotionen und Erwartungs-Emotionen zu unterstützen. Im Hinblick auf die Rezeption von Narrationen ist m.E. aber eine Modifikation an Ulrich Mees’ Modell vorzunehmen: Denn die ErwartungsEmotionen der Hoffnung und der Furcht sind hier auch möglich, ohne eine Implikation für das Selbst darzustellen. Wie oben bereits im Zusammenhang des feeling for ausgeführt, ist es möglich, für eine Figur zu hoffen oder zu fürchten, gerade wenn diese das nicht selbst tut. Dieser besondere Fall der Hoffnung und Furcht für eine bestimmte Figur einer Narration soll hier als externale Erwartungs-Emotionen in das Schema aufgenommen werden: Tabelle 3: Modifizierung des Mees’schen Modells Bewertung von Ereignissen in Bezug auf Wünsche und Ziele

Implikation für Andere

Implikation für Selbst

Empathie-Emotionen: Mitfreude/Neid; Schadenfreude/Mitleid externale Erwartungs-Emotionen: Befriedigung; Erleichterung/Enttäuschung internalte Erwartungs-Emotionen: Hoffnung/Furcht; Befriedigung; Erleichterung/Enttäuschung Wohlergehen-Emotionen: Freude/Leid

2.3 Ergebnisse Mit dem Ziel der Methodik einer „emotiven Heuristik“ ging es um die Erarbeitung, Begründung und Erläuterung eines Modells für die Analyse der emotiven Dimensionen eines Erzähltextes. Ein solches wurde in Abschnitt 2.1.3 dieses Kapitels anhand zweier Schemata dargestellt, die mittels der Unterscheidung zwischen Emotionskonzeption (deskriptiver Rezeptionsvorgang) und Rezeptionsemotionen (empathischer, sympathetischer und pragmatischer Rezeptionsvorgang) dem komplexen emotionalen Rezeptionsprozess Rechnung tragen, und um der Anschaulichkeit der Ergebnisse willen hier noch einmal abgebildet seien:

217

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

Tabelle 4: Analyse der Emotionen im Text Frage

Ziele Abläufe

Deskriptiver Rezeptionsvorgang: Welche Emotionen werden den Figur(en) explizit und/oder implizit zugeschrieben? Emotionskonzeption Rezeption der in der Erzählung Rezeption der in der Erzählung direkt vermittelten Emotionen indirekt vermittelten Emotionen (telling) (showing)

Tabelle 5: Analyse der Rezeptionsemotionen Frage

Empathischer Rezeptionsvorgang: Wie wird das Geschehen vom Rezipienten wahrgenommen?

Sympathetischer Rezeptionsvorgang: Welche Emotionen erlebt der Rezipient im weiteren Verlauf?

Ziele

Hineinversetzen Sich selbst an die Stelle der Figur(en) setzen.

Abgleich (Bewertung)

Rezeptionsemotionen

Abgleich der eigenen Emotionen mit denen der Figur(en). ( affirmativ oder deviant)

Man kann oder will sich wie die Figur fühlen. ( Sympathie)

Abläufe

Man kann oder will sich nicht wie die Figur fühlen. ( Antipathie)

Pragmatischer Rezeptionsvorgang: Was sollen die Emotionen bewirken? Lerneffekt (oder Bestätigung) Emotionaler Transfer der Erzählung auf das eigene Leben ( Prävention oder Ansporn)

An diesem Modell wird ersichtlich: Zentral ist die Unterscheidung zwischen der Emotionskonzeption, d.h. direkt/explizit genannter Figurenemotionen und indirekt vorhandener, anhand der Beschreibung der Figur zu ermitteltender Emotionen einerseits sowie möglicher Rezeptionsemotionen andererseits, um die emotiven Prozesse während des Rezeptionsvorgangs akkurat analysieren zu können. Während sich die Emotionskonzeption relativ leicht aus einer Betrachtung des Textes ergibt, lassen sich die Rezeptionsemotionen nur anhand verschiedener Auslöser eruieren. Dazu ist die Unterscheidung der Ebenen der histoire (Erzähltes) und des discours (Erzählweise) hilfreich: Auf der Ebene des Erzählten (histoire) lassen sich die Emotionsauslöser der Figuren, der Situationen und Geschehnisse, des Raumes und der Zeit analysieren. Anhand der narratologischen Untersuchung der Erzählweise (discours) wiederum lässt sich prüfen, wie diese Auslöser welche Emotionen wie intensiv vermitteln. Für die konkrete Textanalyse biblischer Erzählungen hinsichtlich dieses Schemas schlägt diese „emotive Heuristik“ eine Kombination aus den Me-

218

Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

thoden der Narratologie sowie der historisch-kritischen Methode vor. Die Erzähltheorie eröffnet durch ihre Methoden zur Analyse von Zeit, Modus und Stimme einer Erzählung grundlegende Instrumentarien für die Untersuchung der Erzählelemente, d.h. der Figuren, Handlungen, sodann Raum und Zeit sowie der Erzählperspektive. In diesen können bestimmte Erzählstrategien erkannt werden, durch welche der Autor Emotionen direkt oder indirekt beschreibt, Emotionen hervorruft, sie intensiviert bzw. hemmt oder sie reaktiviert. Der besondere Blickwinkel der historisch-kritischen Methode auf den Text kann hierbei gewinnbringende Ergänzungen erbringen: Text- und Redaktionskritik, Form-, Begriffs- und Motivgeschichte können wichtige Zusatzinformationen über den Text liefern, indem der Text mit seiner ganz besonderen religiösen Thematik und Pragmatik vor seinem besonderen historisch-religiösen Hintergrund und in seinem sozial-kulturellen Umfeld wahrgenommen wird. Da sich die Analyse auf den Text in seiner Endversion bezieht, können jedoch einige Fragestellungen der historisch-kritischen Exegese wie Literar- und Überlieferungskritik weitgehend außen vor bleiben. Die einzelnen Emotionsauslöser lassen sich dabei unter verschiedenen Gesichtspunkten analysieren, welche hier noch einmal kurz zusammengefasst werden:222 (1) Die Figuren und ihr Handeln stehen als zentrale Auslöser von Rezeptionsemotionen nicht zufällig an erster Stelle. Ihre Analyse ist überdies hochkomplex, weil sie doppelgliedrig ist, indem Figuren nicht nur Emotionen im Rezipienten auslösen, sondern auch selbst über Emotionen verfügen (vgl. Emotionskonzeption). Hier ist insbesondere die Analyse spannend, inwiefern der Text eine Außen- oder Innenperspektive auf die verschiedenen Figuren forciert, woran sich der empathische Rezeptionsvorgang festmachen lässt und wie das sympathetische Potential der Figuren ausfällt. Dies kann anhand verschiedener Elemente der Erzählung untersucht werden: – Wie trägt die Charakterisierung der Figuren zu einer emotionalen Reaktion auf diese bei (sind es bspw. flat oder round characters)? – Wie lenken Stimme und Modus die Rezeption der Narration (bspw. durch Erzählerstandpunkt und Perspektivsteuerung)? – Wie sehr werden Figuren fokussiert (bspw. durch Distanz, Fokalisierung)? – Wie verläuft die Leserlenkung im chronologischen Verlauf der Erzählung (gibt es Umschwünge, Brüche etc.)? – Verfügen die Figuren zusätzlich über symbolische Bedeutung, die ihre emotionale Rezeption verstärkt? 222 Es sei an dieser Stelle nochmals betont, dass hier kein Anspruch auf Vollständigkeit Sinn macht. Die Untersuchungsaspekte der Narratologie sind immens vielfältig, und hier konnte daher nur eine Zusammenstellung der m.E. wichtigsten Analysegesichtspunkte gegeben werden.

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

219

(2) Sodann ist zu fragen, wie Emotionen des Rezipienten anhand der Schilderung bestimmter Situationen oder Ereignisse, die nicht unmittelbar mit den Figuren zusammenhängen, geweckt werden. Hierzu lässt sich zunächst prüfen, ob – Skripts vorliegen (handelt es sich um für die Rezipienten bereits emotional geprägte Erfahrungssituationen?). Ferner lassen sich folgende Aspekte der Erzählweise untersuchen: – Ordnung (wird die Erzählung durch Pro-/Analepsen, Ellipsen etc. emotional aufgebaut?) – Ausführlichkeit (wird bspw. anhand Dauer/Geschwindigkeit der Erzählung Spannung aufgebaut?) – Frequenz (erhöht die singulative, iterative etc. Nennung von Ereignissen Emotionen?) – Werden emotionale Reaktionen durch plötzliche oder unerwartete Wendungen, Überraschungen etc. verstärkt? (3) Sodann wird die emotionale Besetzung von Raumschilderungen untersucht. Auch hier kann zunächst gefragt werden, ob – Kulturräume vorliegen (sind die beschriebenen Räume durch das kulturelle Vorwissen der Rezipienten bereits emotional besetzt?) Bei der Erzählweise von Räumen können folgende Aspekte eine Rolle für die emotionale Rezeption spielen: – Beschreibung (wie intensiv wird ein Raum geschildert?) – Raumgrenzen (sind Räume statisch geschildert oder werden Grenzen überschritten?) – Perspektivunterscheidungen (verändert sich die emotionale Rezeption eines Raumes etwa je nach Figurenperspektive oder im Erzählverlauf? (4) Als Letztes muss die emotionale Besetzung der Zeitdimension geprüft werden. Dabei hilft erstens eine gesonderte Betrachtung der Wahrnehmung von Zeit, anhand von – Spannung (herrscht Ruhe oder erfahrbare Zeitknappheit?) – Zeitkonflikten (liegt eine problematische Ungleichzeitigkeit vor, bspw. im Sinne eines Verharrens in der Vergangenheit oder einer Antizipation der Zukunft?) Sodann ist das Zeitverständnis zu prüfen: – historische und biografische Zeit (bestehen Unterschiede, Spannungen etc.?) – irdische und göttliche Zeit (intensiviert bspw. ein geforderter Transfer die Rezeptionsemotionen?) Interesssante Parameter der Erzählweise können hier sein: – das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, – suggerierte Kontrollierbarkeit bzw. Unverfügbarkeit der Zeit.

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Kap. 3: Eine „emotive Heuristik“ zur Analyse narrativer Ethik

Bei all diesen Betrachtungen kann sogleich die jeweilige Intensität der Rezeptionsemotionen erfragt werden. Dabei hilft ein Blick auf die: – Erzählästhetik (Sprachduktus, Interjektionen, Ausrufesätze, Diminutive und intensivierende Wortformen, intertextuelle Bezüge, poetische Elemente, Metaphern etc. können Emotionen intensivieren) – Kohärenz der Erzählung (Emotionen sind umso stärker, je einfacher die Perspektivübernahme ist) – Antizipationsgrad des Erzählverlaufs (je unerwarteter ein Ereignis, desto stärker ist eine emotionale Reaktion zu erwarten) – Stimmung durch den näheren Kontext der Erzählung (in welchem Makround Mikrokontext steht die Erzählung? Werden die Rezeptionsemotionen durch diesen gestützt oder stehen sie ihm entgegen?) Bei der Erfragung konkreter Rezeptionsemotionen dient das folgende, für die vorliegende Arbeit leicht modifizierte Modell von Ulrich Mees als ein hilfreiches, heuristlisches Möglichkeitenraster: Tabelle 6: Heuristisches Raster zur Erfragung möglicher Rezeptionsemotionen Bewertung von Ereignissen in Bezug auf Wünsche und Ziele

des Tuns/Lassens von Urhebern in Bezug auf Normen, Rechte, Standards von Personen/ Objekten in Bezug auf Werte und Vorlieben

Implikation für Andere

Empathie-Emotionen: Mitfreude/Neid; Schadenfreude/Mitleid externale ErwartungsEmotionen: Befriedigung; Erleichterung/Enttäuschung Implikation internale Erwartungsfür Selbst Emotionen: Hoffnung/Furcht; Befriedigung; Erleichterung/Enttäuschung WohlergehenEmotionen: Freude/Leid Attributions-Emotionen: Stolz/Scham; Zufriedenheit/Zorn

Wertschätzungs-Emotionen: Bewunderung/Verachtung Attraktivitäts-Emotionen: Liebe/Hass

Wohlergehen/ AttributionsEmotionen: Selbstzufriedenheit/Selbstunzufriedenheit; Dankbarkeit/Ärger

2. Methodik einer „emotiven Heuristik“

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Durch dieses umfangreiche Arsenal an Werkzeugen zur Textuntersuchung kann die emotive Textrezeption angemessen erarbeitet werden, indem sie folgende Analyseschritte erbringt: 1. Die Aufstellung der direkt im Text vermittelten Emotionen, ggf. die Katalogisierung und Klassifizierung des dem Textkorpus zugrunde liegenden emotionalen Spektrums und Emotionsverständnisses (bspw. bei Texten, die eine starke zeitliche und/oder kulturelle Distanz zur heutigen Emotionsforschung aufweisen). 2. Die Erarbeitung der indirekten Figurenemotionen. 3. Die Erforschung der Rezeptionsemotionen anhand der vier Emotionsauslöser (Figuren, Situationen und Geschehnisse, Raum, Zeit). 4. Die Beurteilung der Intensität der Rezeptionsemotionen. 5. Die Beurteilung der langfristigen Rezeptionsemotionen im Hinblick auf die Textpragmatik. Auf diese Weise kann heuristisch gewinnbringend ermittelt werden, wie ein Text die emotionale Reaktion des Rezipienten steuert und in welchem Maße Emotionen bei der Textrezeption und insbesondere für die Textpragmatik eine Rolle spielen. Ohne die Differenzierung zwischen den verschiedenen Methodenschritten besteht enorme Gefahr, die Frage nach einer emotiven Textrezeption zu undifferenziert und entsprechend unpräzise zu beantworten. M.E. erwächst der Vorwurf, die emotionale Anteilnahme an Texten sei eine für die wissenschaftliche Erforschung zu relativ-subjektive, v.a. aus einer solchen unzureichend differenzierten Fragestellung. Mit der hier dargestellten Methodik aber lässt sich des Untersuchungsgegenstandes habhaft werden, welcher einen produktiven Beitrag für eine den Text mit all seinen Komponenten würdigende Auslegung leisten kann.

Teil III: Emotionen und Ethik im Matthäus-Evangelium

Kapitel 4

Emotionen im Matthäus-Evangelium Den stärksten Anlass zum Handeln bekommt der Mensch immer durch Gefühle. (Carl von Clausewitz) Mit den folgenden drei Kapiteln erreicht diese Studie ihren Zielpunkt in der präzisen Anwendung der im vorigen Kapitel erarbeiteten Methodik in einer Analyse des emotiven Gehalts konkreter neutestamentlicher Narrationen zur Bewertung der Rolle der Emotionen für die Pragmatik ihrer narrativen Ethik. Als Grundlage dient hier, wie bereits an mehreren Stellen sichtbar, das MtEv. Wie werden Emotionen in mt Narrationen gezielt eingesetzt, um den Rezeptionsvorgang zu steuern? Welche Auswirkungen hat diese emotive Textrezeption auf die ethisch-pragmatische Botschaft der Erzählung? Sind so starke Rezeptionsemotionen intendiert, dass sie die Erzählung im Gedächtnis zu halten vermögen und dazu inspirieren, ihre Botschaft im eigenen Leben praktisch anzuwenden? Für diese Fragen ist es jedoch nicht sinnvoll, sich ohne weitere Vorarbeiten in die Analyse konkreter Perikopen zu „stürzen“, sondern zunächst das Gesamttextkorpus hinsichtlich seines Gebrauchs von Emotionen zu sichten. Dazu ist als Erstes eine Aufstellung der im Mt-Ev explizit vorkommenden Emotionen angebracht: Welche „Emotionsbasis“ schafft der Text? Lassen sich diese sinnvoll katalogisieren? Anschließend wird diese Aufstellung hinsichtlich der ethischen Relevanz der Emotionen genauer evaluiert. Hierzu erfolgt zunächst eine allgemeine Einschätzung des mt Emotionsverständnisses unter den folgenden Fragestellungen: Welche Emotionen kommen vor, welche nicht? Wie häufig kommen sie vor, und wie sind sie über das Evangelium verteilt? Werden Gemeinsamkeiten oder Differenzen zwischen der damaligen und heutigen Phänomenologie von Emotionen erkennbar? Wie hoch ist folglich der Stellenwert der Emotionen im Gesamtkorpus zu beurteilen? Danach werden die einzelnen Emotionskomplexe jeweils genauer betrachtet: Wie stark ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Emotionen und dem Figurenhandeln? Lösen Emotionen dabei gutes oder falsches Handeln aus? Gibt es solche, die dahingehend explizit oder implizit kritisiert oder aber gelobt werden? Hier kann ein Vergleich mit den bereits besprochenen antiken

226

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

Emotionskonzepten helfen, eine besondere frühchristliche bzw. mt Profilierung der Emotionen herauszuarbeiten, um das mt Emotionskonzept und seine Bedeutung für die Ethik genauer beurteilen zu können. Ein synoptischer Vergleich vermag die mt Emotionsauffassung bisweilen näher zu präzisieren. Diese Grundlage ist eine erste, unverzichtbare Einschätzung der Rolle der Emotionen im Gesamttextkorpus. Innerhalb dessen werden dann einzelne Textabschnitte der gezielten Analyse unterzogen. Wie bereits ausgeführt, ist eine solche Vorarbeit bei Texten, deren Abfassungsumstände eine große zeitliche und/oder kulturelle Distanz zur heutigen Rezeption aufweisen, angebracht und dient einem zweigeteilten Zweck: Erstens wird die moderne Auffassung darüber, was Emotionen sind und inwiefern sie Einfluss auf das menschliche Denken und Handeln haben, mit dem zu untersuchenden Text verglichen. Dafür werden sowohl antike als auch moderne Emotionsklassifizierungen herangezogen und ein Raster der wichtigsten Emotionskomplexe1 des Textkorpus erstellt. Es sei an dieser Stelle noch einmal an die Ausführungen des zweiten Kapitels erinnert, dass als Basis solcher Vergleiche mit anderen Emotionskonzeptionen für das Mt-Ev nicht per se eine im Hintergrund seines Evangeliums stehende, systematisch ausgearbeitete Emotionstheorie angenommen werden muss. Doch selbst wenn der Autor ein nur „implizites Emotionsverständnis“ erkennen lässt, lohnt es, dieses zum besseren Verständnis zu anderen Konzepten in Beziehung zu setzen. Zweitens kann diese Aufstellung als mögliches Spektrum der Rezeptionsemotionen dienen. Da man sich bei der Frage nach möglichen Rezeptionsemotionen schnell der frustrierenden Unmöglichkeit gegenübersieht, einen vollständigen Emotionen-Katalog zu erstellen,2 ist es grundsätzlich heuristisch sinnvoll, von der jeweiligen Textgrundlage selbst auszugehen. So ist es nicht plausibel anzunehmen, der Autor habe gewisse Rezeptionsemotionen intendiert, die er selbst im Text überhaupt nicht verwendet und die ggf. nur aus heutiger Perspektive assoziiert werden. Umgekehrt ist es nicht angebracht, die Liste möglicher Rezeptionsemotionen mehr einzuschränken als es das Textkorpus vorgibt. Erst auf Grundlage dieser allgemeinen Betrachtungen können weiterführende Aussagen über das Emotionsverständnis sowie den rhetorischen Einsatz von Emotionen im Dienste der Textpragmatik getroffen werden, welche nicht der Gefahr anheimfallen, unangemessene, anachronistische Ansprüche an den Text zu stellen. 1

Weil viele Emotionen einander ähnlich sind, mit anderen Emotionen korrelieren oder zu einer übergeordneten „Gefühlsgruppe“ zusammengeschlossen werden können, soll im Folgenden der Begriff des „Emotionskomplexes“ für ein solches Verwandtschaftsverhältnis verschiedener Emotionsnuancen gebraucht werden. Näheres dazu s.u. Kap. 4.2.1. 2 Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 26.

1. Aufstellung der explizit im Evangelium genannten Emotionen

227

Ziel dieser Übersicht ist es nicht, die Emotionsbegriffe genauestens auf ihre etymologischen Ursprünge, ihre Entwicklungen im Laufe der Texttradition sowie im Hinblick auf vergleichbare Begriffsverwendungen in umliegenden Texten zu untersuchen. Eine solche linguistische Analyse wäre Gegenstand einer gesonderten Arbeit und erbrächte für die hier relevante Frage nach der ethischen Relevanz der mt Emotionen keinen Erkenntnisgewinn. Auch sollen keine lediglich emotional konnotierten Begriffe, wie bspw. „weinen“ oder „schreien“, in die Liste aufgenommen werden. Dies hat zum einen den Grund, dass hinter solchen Handlungen prinzipiell mehrere Emotionen stehen können, bspw. kann aufgrund körperlichen Schmerzes, aus Trauer oder auch aus Zorn geweint oder geschrien werden. Zum anderen würde diese Liste zu umfangreich und brächte dennoch keinen heuristischen Mehrwert für das Ziel der in diesem Kapitel intendierten Betrachtungen.3

1. Aufstellung der explizit im Evangelium genannten Emotionen 1. Aufstellung der explizit im Evangelium genannten Emotionen

Nachdem im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits beleuchtet wurde, was unter einer Emotion zu verstehen ist4, erfolgt an dieser Stelle eine weitere Zuspitzung auf das im Fokus der Analyse stehende Textkorpus und wird gefragt, welche Emotionen im Mt-Ev begegnen. Die folgende Aufstellung listet die verschiedenen Emotionen chronologisch nach ihrem Erscheinen im Evangelium auf und ordnet sie entsprechend ihrer jeweiligen Zusammengehörigkeit, d.h. es wird mit der ersten im Evangelium auftauchenden Emotion, der Furcht, begonnen (1,20: φοβηθῇς → φοβέοµαι), auf welche dann, wiederum chronologisch geordnet, weitere Furchtbegriffe folgen (→ µεριµνάω κτλ., δειλός, ἐντρέπω, θροέω, ἀδηµονέω). Es folgt ein eigener Übersetzungsvorschlag für die jeweiligen griechischen Termini, der in den Anmerkungen ggf. mit anderen Bibelübersetzungen verglichen wird. Die dritte Spalte benennt die den griechischen Begriffen entsprechenden modernen Emotionsbezeichnungen. Die vierte Spalte zeigt das Subjekt an, welches die Emotion empfindet. Der Buchstabe „M“ steht dabei für die Menschen, „J“ für Jesus und „G“ für Gott. Die letzten beiden Spalten nennen die Belegstellen im Evangelium sowie die Anzahl der Nennungen des jeweiligen griechischen Emotionsterminus.

3

Die Analyse solch indirekt vermittelter Emotionen findet ihren Platz vielmehr in der weiterführenden, konkreten Analyse einzelner Texte (Kap. 5). 4 S.o. Kap. 1.3.

228

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

Tabelle 7: Aufstellung der expliziten Emotionstermini im Mt-Ev gr. Termini

Übersetzung sich fürchten

Emotion(en) Furcht

Subjekt M

φοβέοµαι

ὁ φόβος µεριµνάω ἡ µέριµνα δειλός, -ή, -όν ἐντρέπω

die Furcht sich sorgen die Sorge furchtsam

Sorge, Angst Furcht

M

θροέω ἀδηµονέω

erschrecken geängstigt sein, sich ängstigen erschrecken

ταράσσω

ἐκπλήσσω θαυµάζω τὰ θαυµάσια θαυµαστός, -ή, -όν ἐξίστηµι χαίρω ἡ χαρά εὐδοκέω

Belegstellen

Anzahl 21

M

1,20; 2,22; 9,8; 10,26–31 (4x); 14,5.27.30; 17,6.7; 21,26.46; 25,25; 27,54; 28,5.10 14,26; 28,4.8 6,25–34 (5x); 10,19 13,22 8,26

1

M

21,37

1

M J

24,6 26,37

1 1

Schreck, Furcht, Überraschung Überraschung Überraschung

M

2,3; 14,26

2

M

7,28; 13,54; 19,25; 22,33 8,10.27; 9,33; 15,31; 21,20; 22,22; 27,14 21,15 21,42

4

sich entsetzen sich freuen die Freude

Überraschung Freude

M

12,23

1

M

9

Wohlgefallen haben

Freude

G

2,106; 5,12; 18,137 2,10; 13,20.44; 25,21.23; 28,8 3,17; 12,18; 17,5

sich scheuen vor etw.

sich entsetzen sich (ver-) wundern die Wunder wundersam

Scheu, Schamhaftigkeit5 Furcht Furcht

J, M

7

9

3

5 Während die Scham als solche retrospektiv ist, gibt es auch eine Schamhaftigkeit oder Schamangst, die als nach vorn gerichtete Emotion Fehlverhalten verhindern soll und mit der Emotion der Furcht verknüpft ist. Vgl. dazu SCHLÜTER, Scheu, 89 f. 6 Die figura etymologica ἐχάρησαν χαρὰν µεγάλην σφόδρα in 2,10 übersetzt Martin Luther mit „hocherfreut werden“. 7 Außerdem begegnet die Form χαῖρε bzw. χαίρετε in Mt 26,49; 27,29 und 28,9. An diesen Stellen wird das Verb χαίρειν als Grußwort verwendet und daher von Martin Luther mit „Sei/Seid gegrüßt“ wiedergegeben. Da hier keine offenbare Emotion vorliegt, werden diese drei Stellen nicht in die Zählung mit einbezogen.

229

1. Aufstellung der explizit im Evangelium genannten Emotionen gr. Termini

Übersetzung

µακάριος

glückselig sein

ἀγαλλιάω

sich freuen, jubeln zornig werden zornig werden der Zorn zum Narren halten, verspotten verachten verlachen

θυµόω ὀργίζω ἡ ὀργή ἐµπαίζω

καταφρονέω καταγελάω µετανοέω ἡ µετάνοια µεταµέλοµαι πενθέω κόπτοµαι λυπέω

Buße tun, bereuen die Buße be-/reuen trauern weinen, wehklagen traurig/be-trübt werden, trauern

περίλυπος πραΰς, -εῖα, -ΰ ἐλεέω

tief betrübt sein sanftmütig sein

τὸ ἔλεος

die Barmherzigkeit barmherzig sein innerlich bewegt werden10, Mitleid empfinden

ἐλεήµων, -ον σπλαγχνίζοµαι

8

Mitleid haben, sich erbarmen

Emotion(en) Glück, Freude Freude

Subjekt M

Zorn Zorn

M G, M M

2,16 5,22; 18,34; 22,7 3,7 2,16; 20,19; 27,29.31.41

1 4

Verachtung Verachtung, Spott Reue, Scham

M M

6,24; 18,10 9,24

2 1

M

7

Reue, Scham Trauer Trauer

M

3,2; 4,17; 11,20.21; 12,41 3,8.118 21,29.32; 27,3

3

M M

5,4; 9,15 11,17; 24,30

2 2

Trauer/ Traurigkeit

M, J

7

Sanftmut, Milde Mitleid

M, J

14,9; 17,23; 18,31; 19,22; 26,22; 26,37 (hier: Jesus) 26,38 (hier: Jesus) 5,5; 11,29; 21,5

Spott, Verachtung

M

J 9, G

Belegstellen 5,3–11 (9x); 11,6; 13,16; 16,17; 24,46 5,12

5,7; 9,27; 15,22; 17,15; 18,33 (2x); 20,30.31 9,13; 12,7; 23,23

Anzahl 13 1

5

3 12

5,7 Mitleid

J

9,36; 14,14; 15,32; 18,27 (hier: Herr im Gleichnis); 20,34

5

Das Nomen ἡ µετάνοια erscheint des Weiteren in einer Textvariante von Mt 9,13. Da hier jedoch der Lesart des NTG28 gefolgt wird, ist diese nicht mitgezählt. 9 Menschen bitten Jesus. 10 Aufgrund der größeren etymologischen Nähe (s.u. Kap. 4.2.2.5), wird hier nicht der Übersetzung nach Martin Luther, sondern nach Elberfelder gefolgt.

230

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

gr. Termini

Übersetzung

σκανδαλίζω

sich an etw. ärgern, Anstoß nehmen, abfallen11 das Ärgernis, der Abfall unwillig/ missgünstig werden der Neid lieben

τὸ σκάνδαλον ἀγανακτέω

ὁ φθόνος ἀγαπἀω ἀγαπητός ἡ ἀγάπη φιλέω καταφιλέω µισέω θαρσέω ἐλπίζω εὐλογέω εὐχαριστέω ἡ σκληροκαρδία

geliebt die Liebe etw. gern tun, lieben küssen hassen, verabscheuen zuversichtlich/getrost sein hoffen danken, loben, segnen danken Herzenshärte

Emotion(en) Ärger

Subjekt M12

Ärger, Missgunst, Neid Neid Liebe

M

M G, M

Belegstellen 5,29.30; 11,6; 13,21.57; 15,12; 17,27; 18,6.8.9; 24,10; 26,31.33 (2x) 13,41; 16,23; 18,7 (3x) 20,24; 21,15; 26,8

Anzahl 19

3

Liebe

M

Hass

M

Zuversicht, Hoffnung Hoffnung Dankbarkeit Dankbarkeit Emotionslosigkeit, Gefühlskälte

M14

27,18 5,43.44.46; 6,24; 19,19; 22,37.39 3,17; 12,18; 17,5 24,12 6,5; 10,37 (2x); 23,6; 26,4813 26,49 5,43; 6,24; 10,22; 24,9.10 9,2.22; 14,27

1 11

M15 M, J, G J

12,21 14,19; 21,9; 23,39; 25,34; 26,26 15,36; 26,27

1 5 2

M

19,8

1

6

5 3

11 Zu der schwierigen Verknüpfung von σκανδαλίζω und „(zum Abfall) verführen“, wie Martin Luther hier übersetzt, s.u. Kap. 4.2.2.3. 12 Menschen ärgern sich über Jesus. 13 Hier wie καταφιλέω mit der Bedeutung „küssen“. Da dieser Terminus eine deutliche emotionale Bekundung ausdrückt und in Mt 26 mit dem diametralen Gegensatz zwischen dem Verrat des Judas und seinem scheinbaren Zuneigungserweis gespielt wird, ist er mit in die Zählung aufgenommen. 14 Jesus fordert andere auf. 15 Mensch hofft auf Gott.

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

231

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz 2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

2.1 Überblick über die verwendeten Emotionen Die Aufstellung ergibt folgende 15 Emotionskomplexe, die hier nach ihrer Häufigkeit geordnet sind: Tabelle 8: Häufigkeit und sprachliche Variabilität der im Mt-Ev vorkommenden Emotionen Emotionskomplex Furcht (+ Sorge, Angst, Scheu) Freude Ärger Liebe Mitleid Überraschung Trauer Reue (+ Scham, Schuld) Verachtung (+ Genugtuung, Spott, Schadenfreude) Dankbarkeit Zorn Hass Neid (+ Missgunst) Hoffnung Sanftmut (+ Milde)

Häufigkeit 32x 26x 19x 17x 17x 16x 11x 10x 8x 7x 5x 5x 4x 4x 3x

Variabilität 6 Begriffe 4 Begriffe 1 Begriff 2 Begriffe 2 Begriffe 4 Begriffe 3 Begriffe 2 Begriffe 3 Begriffe 2 Begriffe 2 Begriffe 1 Begriff 2 Begriffe 2 Begriffe 1 Begriff

Zuallererst fällt auf, dass allgemeine Oberbegriffe für „Emotion“ oder „Gefühl“, wie sie mit ὁ πάθος oder ἡ ἐπιθυµία bspw. bei Paulus vorkommen,16 im Mt-Ev überhaupt nicht zu finden sind. Dies mag mit der narrativen Gattung zusammenhängen, welche von Emotionen erzählt und nicht über solche referiert. Es ist jedoch auffällig, dass, obgleich Jesus in seinen Reden Emotionen nie als übergeordnetes Phänomen thematisiert, häufig einzelne anspricht (bspw. Freude/Glück: 5,1–12; 13,21; 16,17; Ärger: 5,29 f.; 18,6–10; Liebe und Hass: 5,34–45; 6,24 f.; 10,37; 22,37–40; 23,6; 24,9–13; Sorge/Angst: 6,25–34; 10,19–31; 13,22; 14,26 f.; 28,10; Mitleid: 9,13; 12,7; 23,23; Trauer: 9,15; Sanftmut: 11,29; Reue: 21,29–32). Dies mindert keineswegs die generelle Bedeutung der Emotionen im Mt-Ev, sondern spricht vielmehr für eine Sensibilität bezüglich ihrer jeweils individuellen Charakteristika, während eine grundsätzlich positive oder negative Bewertung von Emotionen nicht angezeigt ist.

16

Vgl. dazu ZIMMERMANN, Logik, 104 f.

232

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

Für eine Klassifizierung kann nun die moderne Emotionsforschung zu Rate gezogen werden. Angesichts der enormen Vielfalt von Emotionen ist das Interesse seit jeher groß, so genannte Grundemotionen (basic emotions) zu identifizieren, die einfache, menschlich fundamentale und universale emotionale Zustände umfassen und sich von komplexeren unterscheiden. Wie allerdings zu erwarten, trifft man in der Forschung auf manche Unterschiede, und zwar sowohl hinsichtlich der Anzahl der Grundemotionen als auch hinsichtlich der Meinungen darüber, welche dazuzuzählen sind.17 Obgleich also ein Konsens noch aussteht, besteht weitgehende Einigkeit über Freude, Furcht/ Angst, Ärger/Wut, Traurigkeit und Ekel. Verachtung, Scham, Stolz und Überraschung werden als weitere Kandidaten verhandelt.18 Von diesen Emotionen leiten sich dann komplexere wie Liebe, Hoffnung, Neid, Reue oder Schadenfreude ab. Gleicht man dies mit dem Befund der im Mt-Ev vorkommenden Emotionen ab, zeigt sich, dass die basalen Emotionen mit Ausnahme des Ekels (dafür Verachtung) und Stolz sämtlich vorkommen. Auch die übrigen Emotionstermini im Mt-Ev lassen sich problemlos weiteren modernen Emotionskategorien zuordnen. Grundsätzlich ist es möglich, einen mt Text anhand moderner Emotionsforschungen zu betrachten. Weder lässt Mt heute als wichtig bezeichnete Emotionen außer Acht19, noch werden emotionale Zustände beschrieben, welche heute als solche nicht anerkannt würden. Daher erscheint es sinnvoll, die verschiedenen Emotionstermini des Mt-Ev anhand moderner Emotionsklassifizierungen zu gruppieren und dabei einander verwandte Begriffe unter bestimmten „Emotionskomplexen“ zusammenzufassen. Auch der sehr variable Gebrauch der Emotionsbegriffe ist auffällig. Die meisten Emotionen, mit Ausnahme des Ärgers, des Hasses und der Sanftmut, werden mit mindestens zwei Begriffen wiedergegeben. Dies legt zuallererst den Eindruck nahe, dass der Evangelist kein starres Konzept von Emotionen hat und diese in der vollen Bandbreite ihrer Erlebensqualität im Blick hat. Besonders ersichtlich wird dies bei der Emotion der Überraschung, die in viererlei Terminologie auftaucht.20 17

Vgl. dazu die Übersicht bei SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 32 f. 18 Vgl. PEKRUN, Persönlichkeit, 337. 19 Anführen ließe sich – über den bereits erwähnten Mangel von Stolz und Ekel hinaus – höchstens die Eifersucht, die im Mt-Ev an keiner Stelle genannt wird. Doch erstens ist diese Emotion aufgrund ihrer hohen Spezifität und Kontextgebundenheit (Dreiecksbeziehung) in einem Evangelium über Jesu Leben per se nicht sehr wahrscheinlich, und zweitens lässt sich darüber diskutieren, ob Eifersucht überhaupt als eigenständige Emotion betrachtet werden kann oder vielmehr ein „emotionales Szenario“ darstellt, das verschiedene Emotionen wie Liebe, Furcht, Zorn, Verachtung etc. enthält (EKMAN, Gefühle, 327). 20 Eine tiefergehende semantische Analyse, worin sich die verschiedenen Termini für dieselbe Emotion im Detail unterscheiden, wäre Thema einer linguistischen Arbeit. Auf etwaige Unterschiede soll hier bei der Betrachtung der Einzelemotionen nur dort eingegangen werden, wo sie für das Interesse dieser Arbeit relevant sind.

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

233

Bei den Emotionsbegriffen handelt es sich in erster Linie um Verben, nur um wenige Nomen und Adjektive. Unter sprachlichen Gesichtspunkten lässt sich demnach die These untermauern, dass Emotionen in besonderem Verhältnis zum Handeln stehen: Sie werden verbal, d.h. einer Tätigkeit nah ausgedrückt. Obgleich einige davon passiv verwendet werden, wird dadurch das Bild von Emotionen als einer motivierenden Bewegung statt eines statischen, gleichförmigen Zustands vermittelt. Emotionen sind nicht bloße Gegebenheiten, sie sind aktive Kräfte, die etwas im Menschen bewirken. Diese Beobachtung ließe sich zudem durch den grammatischen Gebrauch der Verben stützen: Hier fällt ein überwiegend aktiver Gebrauch auf. Dieser Befund ist nochmals bedeutsam, wenn die griechisch-römische Weltsicht der Antike berücksichtigt wird.21 Die griechische Mythologie führt die Genese von Emotionen auf das Eingreifen der Götter in den Menschen zurück. So wird die Furcht (ὁ φόβος) als Daimon betrachtet, der in den Menschen hineinfährt. Und auch in der altorientalisch-jüdischen Kultur begegnen Emotionen als Atmosphären, die den Menschen ergreifen und ihn in eine eher passive Rolle drängen. Es darf angenommen werden, dass solche externen Mächte als Erklärung für die subjektive Empfindung der Unkontrollierbarkeit unwillkürlicher Emotionen herangezogen wurden. Erst später wurden Emotionen innerpersonale Phänomene, die von der Seele kontrolliert werden können. Demgegenüber findet sich nun die große Mehrzahl der mt Emotionen aktiv konstruiert (22 vorwiegend aktiv, 12 medial oder passiv). Dieser Umstand untermauert weiterhin die These, dass der Fokus der mt Emotion stärker auf der aktiven oder aktivierenden Komponente der Emotionen denn auf ihrem widerfahrenden Erlebenscharakter liegen. Diese den Emotionen eignende Aktivität vermag auch zu begründen, warum zu Emotionen aufgefordert werden kann. Solche emotiven Imperative sind nur dann möglich umzusetzen, wenn davon ausgegangen wird, dass ein emotionaler Kontakt zum Nächsten hin, zur Welt und zu Gott aktiv eingeübt werden kann. Es sei an dieser Stelle daher auf den begründeten Eindruck hingewiesen, dass die ethische Relevanz der Emotionen im Mt-Ev anhand des linguistischen Arguments gestützt werden kann. Emotionen begegnen uns dort – entgegen der damaligen üblichen Auffassung über sie als den Menschen lediglich überkommende und seiner Autonomie beraubenden Mächte – als aktiv beeinflussbar, als abzuwehren oder einzuüben. Hinsichtlich ihrer Häufigkeit führen Furcht (32x) und Freude (26x) die Liste aller Emotionen im Mt-Ev deutlich an. Gleichzeitig sind die Furcht mit sechs und die Freude mit vier verschiedenen Begriffen die variabelsten. Zieht man außerdem das Vorkommen und die Verteilung dieser Emotionen im Evangelium heran, heben sich die Furcht und die Freude zusätzlich von den anderen Emotionen ab, indem sie prominent zu Beginn und am Ende des 21

Vgl. die näheren Ausführungen dazu: s.o. Kap. 2.1.

234

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

Evangeliums genannt werden (vgl. 1,20; 2,10.22 und 28,4.5.8.10). Damit „rahmen“ sie es gewissermaßen „emotional ein“ und erhöhen die Intensität dieser Emotionen durch den Primär- und Rezenzeffekt. Anhand ihrer Häufigkeit, Variabilität und Stellung im Text wird eine Leserlenkung erkennbar, die intendiert, den Rezipienten diese Emotionen am stärksten im Gedächtnis bleiben zu lassen. Dieser Befund legt eine besondere Betrachtung dieser Emotionen bei der genaueren Textanalyse nahe. Aus der Häufigkeit der Furcht-Begriffe darf aber nicht der voreilige Schluss gezogen werden, das Mt-Ev als ein „Evangelium der Angst“ zu beurteilen. Denn und wohl ebenso nicht ungewollt kommen Furcht und Sorge am häufigsten als verneinende Imperative vor (1,20; 6,25.31.34; 10,19.26.27.30; 14,27; 17,17; 24,6; 28,5.10). Ihnen gegenüberstehend finden sich die Freude und die Aufforderung zur Zuversicht am häufigsten im Mt-Ev. Hier fällt jedoch auf, dass die Freude mit vier Begriffen noch verhältnismäßig variabel beschrieben wird, doch im Vergleich zu heutigen Emotionskatalogen nicht sehr differenziert erscheint. Formen der Zufriedenheit, des Trostes, der Erleichterung oder der Begeisterung sind nicht unterschieden. Χαρά scheint all dies einzuschließen und für Mt keine weitere Differenzierung nötig zu machen. Ärger (19x), Liebe und Mitleid (je 17x) sowie Überraschung (16x) sind weitere häufig begegnende Emotionsgruppen. Trauer (11x), Reue (10x), Verachtung (8x) und Dankbarkeit (7x) eröffnen bereits das untere Drittel, während Zorn und Hass (je 5x), Neid und Hoffnung (je 4x) sowie Sanftmut (3x) die Liste abschließen. Betrachtet man die Verteilung, fällt auf, dass in jedem einzelnen Kapitel des Mt-Ev Emotionen im Spiel sind. Es gibt keine Textabschnitte, die gänzlich auf Emotionen verzichten. Bei insgesamt 184 Emotionstermini – wobei die Herzenshärte aus Mt 19,8 nicht gezählt ist – ergäbe dies im Durchschnitt sechs pro Kapitel.22 Wägt man die tatsächliche Verteilung ab, fallen nur wenige Kapitel erkennbar aus dem Rahmen. Zum einen solche, in denen kaum Emotionen genannt werden (nur jeweils eine in Mt 1; 4; 7 und nur zwei in Mt 16), zum anderen solche, in denen auffällig mehr als sechs Emotionen begegnen (22 in Mt 5 und 13 in Mt 18 sowie zwölf in Mt 2623). Besonders interessant ist hierbei die Bergpredigt, die sich hauptsächlich ethischen Fragen widmet. Es ist dabei ein abfallender Gebrauch an Emotions22 Freilich handelt es sich bei der Kapitelunterteilung des Evangeliums um eine nachträgliche Bearbeitung des Textes, die nicht durch den Autor vorgegeben wurde. Dennoch eignet sie sich hier als funktionales Hilfsmittel zur leichteren Beurteilung der Verteilung der Emotionsbegriffe im Gesamttextkorpus. 23 Allerdings sind die zwei in 26,48 f. vorkommenden Formen von φιλέω (der Kuss des Judas) mehr als Handlung denn als Emotion aufzufassen. Dennoch läge dann die Anzahl von zehn Emotionen in Kap. 26 noch immer deutlich über dem Durchschnitt. Dieses Kapitel ist überdies auch deshalb von großem Interesse für die Betrachtung der Emotionen, da hier Jesus selbst auffällig emotional auftritt (26,37 f.).

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

235

termini zu verzeichnen: Ihr Auftakt beginnt geradezu emotional pompös mit den Seligpreisungen (allein 15 Emotionsbegriffe in 5,1–12). Auch Mt 6 nennt mit neun Emotionen noch überdurchschnittlich viele, wobei die meisten davon auf die Aufforderung, sich nicht zu sorgen (6,25–34) fallen. Der Abschluss der Rede ist dann auffällig emotionsarm. Die einzige in Mt 7 begegnende Emotion ist überdies nicht mehr Teil der Rede, sondern beschreibt die Reaktion der sich wundernden Hörer (7,28). Auch, dass in der Gemeinderede viele Emotionen vorkommen, ist im Hinblick auf die ethische Implikation von Emotionen interessant. Dass ausgerechnet in diesen beiden Reden Jesu, in denen es vordergründig um das rechte Verhalten und Handeln geht, am meisten Emotionen auftauchen, legt den Schluss nahe, dass diese ethisch bedeutsam sind.24 Fazit: Emotionen kommen bei Mt durchgehend und terminologisch variabel vor. Sie begegnen in allen Kontexten, sowohl in Jesu Reden und Parabeln, seinen Heilungen und Wundern als auch in den berichtenden und zusammenfassenden Passagen über sein Leben und Wirken. Auffällig sind besonders die „emotiven Imperative“, die nicht zu knapp begegnen. Am häufigsten davon ist die Aufforderung, sich nicht zu fürchten oder zu sorgen (1,20; 6,25.31.34; 10,19.26.27.30; 14,27; 17,17; 24,6; 28,5.10). Entsprechend begegnet ebenfalls an mehreren Stellen der Imperativ zu Zuversicht und Freude (5,12; 9,2.22; 14,27; 25,21.23). Ebenso wird Jesus häufig gebeten, sich zu erbarmen, d.h. Mitleid zu haben (9,27; 15,22; 17,15; 20,30 f.). Auch zur Liebe wird aufgefordert (5,43 f.; 19,19; 22,37.39). Dies passt zu der Beobachtung, dass die mt Emotionen vorwiegend mit aktiven Verben begegnen. Emotionen sind demnach beeinflussbar, der Mensch möge mit einer bestimmten emotionalen Haltung die Welt betrachten und in ihr leben. Dies hat wiederum pragmatische Auswirkungen auf die Lebensweise (vgl. Bergpredigt, Gemeinderede). Diese Beobachtungen geben Anlass zu der Annahme, dass dem Evangelisten Mt der Einfluss der Emotionen auf das Handeln durchaus bewusst ist. Es ist demnach angebracht, eine genauere Untersuchung darüber anzustellen, wie er diese emotionale Pragmatik für die Gestaltung seines Evangeliums sowohl in expliziter als auch in indirekter Weise nutzt. Bevor im nächsten Kapitel auch Letzteres in den Blick genommen wird, erfolgt zunächst noch eine genauere Analyse der expliziten Emotionen unter ethischen Gesichtspunkten, um eine fundierte exegetische Grundlage für die Detailanalysen zu schaffen.

24

Spannend wäre überdies eine weiterführende Prüfung, ob bestimmte Emotionstermini gattungsspezifisch verwendet werden (vgl. INSELMANN, Emotions, 543). Eine solche Untersuchung sprengt allerdings den Rahmen dieser Arbeit und wäre hier maximal für die Parabel-Gattung interessant. Für diese ist jedoch kein spezifischer oder gar exklusiver Terminusgebrauch erkennbar.

236

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

2.2 Evaluation der einzelnen Emotionskomplexe Nun werden die soeben erfassten Emotionskomplexe unter der leitenden Fragestellung, ob im Kontext ihrer Verwendung ein Zusammenhang zwischen Emotion und Handeln ersichtlich wird, genauer betrachtet, und zwar nach absteigender Häufigkeit geordnet (vgl. Tabelle 8) und zum Vergleich werden antike sowie heutige Emotionsverständnisse herangezogen. 2.2.1 Furcht: φοβέοµαι κτλ., µεριµνάω κτλ., δειλός, ἐντρέπω, θροέω, ἀδηµονέω Vergleicht man moderne Klassifizierungen, so scheint es sich auch für das Mt-Ev anzubieten, die Emotionen der Furcht, der Sorge, der Angst und der Scheu als einen Emotionskomplex der prospektiven emotionalen Abwehrhaltung zusammenzufassen. Demnach ist dieser bei Mt mit 32 Belegstellen der häufigst verwendete. Wichtig ist bei all diesen Emotionen das Erleben von Machtlosigkeit in Bezug auf eine ungewisse Zukunft: „Zentral ist hier die Einschätzung einer Bedrohung, einer Gefahr, eines bevorstehenden Unheils einerseits, die Einschätzung der Ungewissheit über das weitere Geschehen, über die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten andererseits. Angstsituationen sind also von Kontrollverlust gekennzeichnet.“25

Wichtig ist aber auch, dass die Bedrohung nicht real sein muss: „Furcht ist darauf ausgerichtet, eine tatsächliche oder vorgestellte Bedrohung und letztendlich die Vernichtung abzuwenden.“26 Dies ist der Grund dafür, warum auch Rezipienten beim Lesen oder Hören einer Geschichte Furcht empfinden können, wenn sie sich nur stark genug in die Situation einer Figur hineinversetzen und über eine lebhafte Imaginationsgabe verfügen. In diesem Zusammenhang sind die zwei Merkmale der Furcht interessant: Sie kann sympathetisch und performativ sein.27 Ersteres bedeutet, dass Angst ansteckt, Letzteres, dass Furcht selbstreferentiell und selbstgenerativ ist, woraus sich Angstspiralen entwickeln können. Oder in Hartmut Böhmes Worten: „Die Darstellung bringt hervor, was sie darstellt.“28 Literatur und Film nutzen diese beiden Aspekte der Angst: Der sichere Raum der Imagination kann genutzt werden, um Angst intendiert aufzusuchen, und die Furcht einer Figur vermag sich auf den Rezipienten zu übertragen. Hierdurch wird ein intensiveres und authentischeres, weil emotional aufgeladenes Miterleben der Erzählung generiert. Furcht ist insofern als Rezeptionsemotion von ganz besonderem Interesse.

25

ULICH/MAYRING, Psychologie, 164. STEMMLER, Psychologie, 15 (Hervorhebungen T.D.). 27 Vgl. BÖHME, Phobos, 171–173. 28 A.a.O., 172. 26

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

237

Obgleich der Emotionskomplex „Furcht“ an dieser Stelle mehrere Emotionen umfassend als Überkategorie dient, soll auf eine terminologische Differenzierung im heutigen Forschungsdiskurs hingewiesen werden, und zwar auf die zwischen „Furcht“ und „Angst“: So wird Furcht meist als eine stark intentionale, d.h. auf ein konkretes, bedrohliches Objekt gerichtete und Angst als eine unspezifischere, existentielle Emotion verstanden.29 Es wird im Folgenden zwar eine solche Unterscheidung zwischen Furcht und Angst – wo sie sinnvoll und weiterführend erscheint – übernommen. Doch ist auch auf den Einwand Thomas Kazens hinzuweisen, der zu bedenken gibt, dass auch konkrete Furcht vor etwas oder jemandem existenzial sei, d.h. sich aus Erfahrung speise, welche wiederum aus existentieller Angst hervorgehen könne und der Übergang zwischen beiden Phänomenen u.U. fließend sei: „Since human belief systems are based on experience and worldview, upholding a sharp distinction between anxiety and fear might not always be relevant“30. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass kein sprachhistorischer Befund vorliegt, der für eine solche Unterscheidung zwischen Furcht und Angst spräche. Die Texte des NT lassen eine solche terminologische Differenzierung nicht erkennen. Dennoch ist es möglich, die moderne Differenzierung zwischen state-Angst (Zustand) und trait-Angst (Eigenschaft)31 auf die Unterscheidung zwischen µεριµνάω und φοβέοµαι/δειλός/θροέω anzuwenden: Erstere „Sorge“ bezeichnet stärker die Ängstlichkeit (trait-Angst) der Menschen angesichts der Unsicherheit der Zukunft. Letzterer Begriffskomplex der „Furcht“ hingegen bezieht sich stärker kontextuell und punktuell auf ganz bestimmte Objekte und kommt so der state-Angst näher. Interessant ist hierbei außerdem der emotionspsychologische Befund, dass die punktuelle Furcht sowie die zuständliche Angst Wachsamkeit erhöhen.32 Während dementsprechend die Eigenschaft der Ängstlichkeit bzw. die Sorge über irdische Dinge im Mt-Ev schlicht abgelehnt wird (6,25.27.28.31.34), wird die sorgsame Wachsamkeit im Hinblick auf das Gericht Gottes jedoch geradezu eingefordert (24,42.44; 25,13). Dieser Zusammenhang zwischen Emotionen und wachsamer Erwartung des Gottesgerichts wird noch in der genaueren Textanalyse der beiden Endzeitparabeln (24,45–51; 25,14–30) näher zu betrachten sein.33 Entgegen der Einschätzung von Horst Balz, der festhält, dass die Furcht meist nicht allein im Sinne einer bloßen emotionalen Zustandsbeschreibung verwendet werde, sondern Ursache für ein folgendes Handeln sei,34 legt der Textbefund nahe, dass Furcht Handeln häufiger verhindert, als auslöst: Josef 29

Vgl. ULICH/MAYRING, Psychologie, 163. KAZEN, Emotions, 42. 31 Vgl. STÖBER/SCHWARZER, Angst, 190. 32 Vgl. EKMAN, Gefühle, 217. 33 S.u. Kap. 5.4 und 5.5. 34 Vgl. BALZ, φόβος, ου, ὁ, 1035. 30

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fürchtet sich und will es daher unterlassen, zurück nach Israel zu ziehen (2,22); Herodes handelt aus Furcht vor dem Volk nicht (14,5), und die Hohepriester und Ältesten geben Jesus keine Antwort und scheuen seine Verhaftung aus Furcht vor dem Volk (21,26.46). Es erscheinen im Mt-Ev nur drei Stellen, an denen Furcht ein aktives Handeln nach sich zieht (9,8: Verherrlichung Gottes; 27,54: Erkenntnis und Bekenntnis des Hauptmanns bei Jesu Tod; 28,8: Verkündigung der Auferstehung Jesu). Furcht ist somit nur als Ehrfurcht vor Gott ein aktivierendes Element. Doch auch erst dann, wenn sie tatsächlich zu solchem aktiven Gotteslob führt. An den übrigen Stellen wird Furcht im Sinne einer Epiphaniefurcht übermächtig und verhindert dadurch eine aktive Reaktion.35 Bspw. fürchten sich die Jünger vor Jesus, als dieser auf dem See auf sie zukommt, und Petrus wird bei seinem Versuch, auf dem Wasser zu gehen, so von Furcht gepackt, dass er untergeht (14,26–30); der dritte Sklave in der Parabel von den anvertrauten Geldern unterlässt den Handel aus Furcht vor seinem Herrn (25,25); die Wachen vor Jesu Grab werden angesichts des Engels aus Furcht sogar „wie Tote“ (28,4). Es ist daher nicht allzu verwunderlich, dass die Furcht die allererste im Mt-Ev auftauchende Emotion ist, dessen Ziel es ist, den Menschen mit dem Göttlichen zu konfrontieren (1,20). Dementsprechend ist „[d]as Grundgefühl, um das es in der Religion geht, [ist] die Angst“36. Doch ist auch offenkundig, dass es dem Christentum darum geht, diese Angst aufzulösen (vgl. bspw. Joh 16,33; Röm 8,15; 1 Joh 4,18). Entsprechend begegnet im Mt-Ev häufiger die verneinte Furcht, und der erste sowie letzte Imperativ des Evangeliums lautet „µὴ φοβηθῇς/φοβεῖσθε“ (1,20; 28,10). Weder die Furcht vor Gott (1,20; 25,25; 28,10) noch die Sorge um profane, innerweltliche Dinge (10,28; 24,6) sollen den Menschen in seinem Handeln behindern.37 Demgemäß darf Furcht, wo sie paralysiert und jede aktive Reaktion verhindert, als durch Mt negativ bewertet verstanden werden. Tatsächlich verbindet das Mt-Ev Furcht an einer Stelle in ganz auffallender Weise mit einer Handlung, die einer solchen Lähmung aktiv entgegenwirkt. Auffällig ist dabei, dass es an dieser Stelle einen anderen Begriff verwendet: Die griechischen Wortstämme für Sorge (µεριµνάω) und Furcht (φοβέοµαι/δειλός/θροέω) sind den Menschen vorbehalten. Mit dem von Mt am häufigsten gebrauchten Verb φοβέοµαι verwendet er die im NT übliche Ausdruckweise für das Fürchten.38 An einer einzigen Stelle empfindet auch Jesus Furcht und hier findet sich dafür das Wort ἀδηµονέω (26,37).39 Gibt man dieses Prädikat mit „jmd. 35 An nur einer Stelle begegnet eine aktive Reaktion auf die Furcht, nämlich mit der Verherrlichung Gottes durch die Menschen (9,8). 36 BÖHME, Himmel, 65. 37 Vgl. BALZ, φοβέοµαι, 1031–1033. 38 Vgl. a.a.O., 1027. 39 Gegen Matthew Elliott, der konstatiert: „[I]t is important to note that Jesus is never said to fear.“ (ELLIOTT, Feelings, 202).

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befällt Angst“40 wieder, greift an dieser Stelle die moderne Unterscheidung zwischen Furcht und Angst nicht; denn Jesu Angst in Gethsemane ist deutlich objektbezogen, indem sie sich auf die bevorstehende Passion richtet. Jesus reagiert jedoch auf diese extreme Todesangst aktiv: Er ist nicht gelähmt vor Furcht oder flüchtet – das sind die beiden evolutionsbiologisch plausiblen Reaktionen –, sondern betet (26,39). Dass Mt für Jesu Furcht einen eigenen Begriff verwendet, mag mehr über das Subjekt denn das Objekt der Emotion aussagen. Durch seine Fähigkeit zu den Worten „doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (26,39) gelingt Jesus eine tiefe Angstbewältigung im Sinne einer „Distanzierung und Selbstdistanzierung“, die „in allen Angstbewältigungstechniken die entscheidende Leistung“ darstellen.41 Durch diese hinreichende Distanzierung von der Angstquelle kann er verhindern, dass diese Emotion seine Aufmerksamkeit allein auf das angstauslösende Objekt ausrichtet und ihn hindert zu handeln.42 Jesus zeichnet sich demnach selbst in seiner menschlichsten Stunde der Furcht durch eine besondere Emotionsbewältigung aus und unterscheidet sich dadurch in besonderem Maße von einem Menschen wie Petrus, der angesichts der Furcht vor dem Ertrinken Jesus aus den Augen verliert (14,30). Dennoch sollte nicht allzu schnell auf ein im Hintergrund stehendes stoisches Apathie-Ideal geschlossen werden: Auch Jesu Emotionen werden in diesen Schilderungen wahr und ernst genommen, obgleich er sich nicht von ihnen vereinnahmen lässt. Angesichts des expliziten Textbefunds kann zusammengefasst werden, dass die Furcht im Mt-Ev, ethisch betrachtet, meist daran hindert zu handeln und es das Ziel des Ev ist, diese paralysierende Wirkung durch Erkenntnis und Bekenntnis zu Gott, d.h. ehrfurchtsvolle Freude und Gotteslob, aufzulösen (vgl. 9,8; 27,54; 28,8). 2.2.2 Freude: χαίρω κτλ., εὐδοκέω, µακάριος, ἀγαλλιάω Für den Emotionskomplex der Freude begegnen im Mt-Ev vier Begriffe: χαίρω, ἀγαλλιάω, εὐδοκέω und das Adjektiv µακάριος. Χαίρω und χαρά drücken vornehmlich die Freude über eine Begegnung oder (wiederhergestellte) Beziehung sowohl auf menschlicher als auch auf göttlicher Seite aus (2,10; 13,20.44; 18,13; 25,21.23; 28,8).43 In den Seligpreisungen begegnet die Aufforderung zur Freude kontrafaktisch im Angesicht gegenwärtigen Leidens (5,11 f.).44 Hieran wird ersichtlich, dass Freude in den neutestamentlichen Schriften häufig

40

So etwa die Übersetzung der Guten Nachricht. BÖHME, Phobos, 178. 42 Vgl. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 249. 43 Vgl. INSELMANN, Affekt, 285. 44 Vgl. BERGER, χαρά, 1089. 41

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„anders als nach dem vorherrschenden modernen Verständnis, nicht primär eine nichtmachbare und innerliche ‚Emotion‘, sondern – ähnlich ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Frieden‘ – ein ganzheitliches, wertbezogenes, komplexes Verhalten (wie Freundlichkeit, Gebefreudigkeit, Hingabebereitschaft, Überweindung von Widrigkeiten) [bezeichnet].“45

Damit verbindet sich ein Handlungsaspekt, der einen wichtigen Horizont des Begriffs im NT darstellt und stets mitgedacht werden muss, wenn χαρά im Text begegnet. Εὐδοκέω dagegen ist ein Gott vorbehaltener Begriff, der seine besondere Beziehung zu Jesus ausdrückt. Auch µακάριος ist ein besonderer Terminus, der hier in die Liste der Emotionen aufgenommen wird, obgleich dies auf den ersten Blick nicht selbstverständlich erscheinen mag. Handelt es sich bei „glückselig“ tatsächlich um eine Emotion oder vielmehr einen Zustand des Gesegnet-Seins, der wiederum die Gott-Mensch-Beziehung ausdrücken will? Besieht man die 13 Belegstellen näher, scheint dieses Wort in der Tat eine besondere Qualität auszudrücken, die jedoch nicht explizit erläutert wird. Möglich ist, „glückselig sein“ durch „Glück haben“ oder „glücklich geschätzt werden“ wiederzugeben.46 Darin schwingt sicherlich eine positive Beurteilung der Situation des Anderen mit. Diese intellektuelle Dimension der Glückseligkeit – wie man sie später auch im Neuplatonismus der εὐδαιµονία zugeschrieben findet47 – wird in Forscherkreisen besonders betont.48 Doch ist sie auch emotional bestimmt: Dass die Wirkung des Gepriesen-Seins auch die Freude des Gepriesenen einschließt, ist berechtigt, wenn auch nicht vollkommen zweifelsfrei zu entscheiden. Dass aber eine Aufforderung zur Freude darin implizit enthalten ist, macht der direkt an die Seligpreisungen anschließende Imperativ „freut euch und jubelt“ (5,12) deutlich. Die Annahme, dass das Gefühlsleben kontrolliert und modifiziert werden kann, setzt das Mt-Ev hier offensichtlich voraus.49 Die Ansicht der Stoa, Freude sei nur den weisesten Philosophen möglich, ist hier nicht erkennbar.50 Interessant ist auch Plotins Verständnis von εὐδαιµονία als eine Verähnlichung mit Gott (ὁµοίοσις Θεῷ), die im Loslassen alles Irdischen die Seele zurück zu ihrem Ursprung trage.51 Eine solche Nähe zu Gott ist bereits im µακάριος des Mt-Ev erkennbar (5,3–11; 13,16; 16,17; 24,4). 45

Ebd. In diese Richtung gehen bspw. Bergpredigt-Übersetzungen wie die der Guten Nachricht („freuen dürfen sich alle, die“) und die Neue Genfer Übersetzung („glücklich zu preisen sind, die“). 47 Vgl. LOBSIEN, Glückseligkeit, 186. 48 Vgl. ULICH/MAYRING, Psychologie, 172 f. 49 Dieser Gedanke der Affektkontrolle zeigt sich auch bei Paulus, vgl. dazu INSELMANN, Affekt, 286. 50 Vgl. dies., Freude, 104 f. 51 Vgl. LOBSIEN, Glückseligkeit, 188. 46

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

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Die sprachliche Verwendung des Emotionskomplexes verleiht ihm außerdem eine besondere emotionale Intensität, indem bspw. eine NomenPrädikat-Verbindung desselben Wortstammes verwendet wird (2,10: ἐχάρησαν χαράν), eine Kombination unterschiedlicher Ausdrücke derselben Emotion vorliegt (5,12: χαίρετε καὶ ἀγαλλιᾶσθε) oder sich die verschiedenen Begriffe auf recht engem Raum häufen (11x in Mt 5; 3x in Mt 13; 2x in Mt 25). Einer solchen Häufung ähnlicher Emotionsbegriffe kommt nur die Verwendung des Furcht-Emotionskomplexes gleich (5x in Mt 6 und 10; 4x in Mt 14 und 28). Zieht man moderne Definitionen und Beschreibungen der Emotion Freude heran, sind besonders zwei Aspekte für das Mt-Ev und seine Ethik von besonderem Belang. Erstens ist Freude verbunden mit Vitalität, Lebendigkeit, Selbstbewusstsein und Wachheit.52 Gerade letzterer Zustand, der auch bei „Glück“ erscheint, ist – wie die soeben betrachtete Furcht – im Hinblick auf die Endzeitparabeln Jesu und seiner dort wiederkehrenden Forderung zur Wachsamkeit, interessant (24,42 f.; 25,13). Von der besonderen Beziehung zwischen den Emotionen Furcht und Freude und deren handlungsaktivierenden, Wachsamkeit auslösenden Wirkung wird im Hinblick auf die emotive Unterstützung der Textpragmatik der mt Parabeln noch genauer zu sprechen sein.53 Zweitens hat Freude eine klare soziale Funktion: „sie erleichtert die Ansprechbarkeit, kann Bindungen anbahnen, ist sehr mitteilsam (Gefühlsansteckung)“54. Freude ist eine aktive Emotion: Sie bewegt und steckt an, sie motiviert und treibt an. Dies bestätigt sich für das Mt-Ev, wo die Freude über das göttliche Heilsgeschehen sowie die Freude im Glauben stark hervorgehoben sind (2,10, 13,44; 28,8). Die Freude begegnet im Mt-Ev als eine sehr aktive Emotion. Sie ist eine positive emotionale Grundeinstellung, zu der auch aufgefordert werden kann (5,12). Hierbei ist die Freude an Jesus und Gott gemeint, die den Glauben emotional konstituiert. Dass dieser freudige Glaube nicht ohne aktive Reaktion bleiben kann, wird aus Stellen wie 2,10–12; 13,44; 24,46 und 28,8 ersichtlich. 2.2.3 Ärger: σκανδαλίζω κτλ., ἀγανακτέω Mit dem 19-mal im Mt-Ev vorkommenden Verb σκανδαλίζω stellt der Ärger eine der häufigsten Emotionen in diesem Evangelium dar. Während die moderne Emotionsforschung Ärger meist mit den verwandten Emotionen Wut und Zorn verbindet55, wird Ärger hier separat betrachtet. Diese Einzelstellung fußt auf dem Textbefund, dass einerseits Wut im Mt-Ev als eigene Emotion 52

Vgl. ULICH/MAYRING, Psychologie, 172–176. S.u. Kap. 6.3.1. 54 ULICH/MAYRING, Psychologie, 172. 55 Vgl. a.a.O., 161. 53

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Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

überhaupt nicht vorkommt und andererseits das Verb σκανδαλίζω nie in direktem Zusammenhang mit Zorn-Begriffen gebraucht wird. Dies legt nahe, dass sich im Mt-Ev mit Ärger eine andere emotionale Reaktion ausdrückt. Das Objekt des Ärgers deutet im Mt-Ev auf zweierlei. Zum einen kann ein Gegenstand ein Ärgernis sein (5,29 f.; 13,21; 24,10; 18,6–9), zum anderen kann ein Mensch Ursache von Ärger sein (11,6; 13,57; 15,12; 16,23; 17,27; 26,31–33). Nur letztgenannte Mt-Stelle scheint übrigens die Emotion des Ärgers zu beschreiben, wie sie heute verstanden wird. An den übrigen Stellen wird dem Menschen Grund zum „Ärger“ gegeben, wobei weniger die Empfindung als vielmehr der Abfall vom rechten Glauben gemeint ist. Darum wird hier σκανδαλίζω meist durch „Anlass zur Sünde“, „Verführung“ oder „verleitet werden“ wiedergegeben. Der Mensch kann verführt werden und dadurch vom rechten Weg abkommen. Doch stellt sich unwillkürlich die Frage, wieso hierfür derselbe Begriff wie für den Ärger, den die Gegner Jesu angesichts seines vollmächtigen Auftretens empfinden, verwendet wird. Kann die Emotion näheren Aufschluss darüber geben, wie genau dieser „zur Sünde verführende“ Aspekt des Ärgerns zu verstehen ist? Die Emotion des Ärgers schließt stets eine negative Beurteilung des Gegenübers mit ein, außerdem das Gefühl, von diesem in irgendeiner Weise selbst herabgesetzt oder geschädigt zu werden.56 In einer solchen Selbstüberschätzung im Vergleich zum Nächsten, die wiederum die Beziehung zu diesem stört, scheint der zur Sünde verführende Aspekt des σκανδαλίζω zu liegen: Wer sich über jemanden ärgert, zerstört die gleichgestellte Beziehung zu diesem, indem er sich selbst in den Vordergrund rückt (vgl. 20,24–28). Somit ist Ärger als Gift für soziale Beziehungen eine Verführung zur Sünde, die ein Bruch solcher Verbindungen darstellt. Darüber hinaus besteht die Sünde auch in der Untergrabung der Gottesbeziehung, indem der Mensch in seiner ärgerlichen Missbilligung über einen anderen urteilt und nur an sich statt den Nächsten und Gott denkt (7,1–5; 16,23). Dieses Urteil über den anderen Menschen steht in letzter Instanz schließlich nur Gott zu, worüber sich der ärgerliche Mensch hinwegsetzt. In dieser Weise wird der Ärger zweifach im Mt-Ev verwendet: Erstens ärgern sich die Menschen an Jesu vollmächtigem Auftreten und Handeln (11,6; 13,57; 15,12; 17,27): Sie ärgern sich über seine besonderen Fähigkeiten, die ihn aus ihrer Mitte herausheben und sie selbst geringer erscheinen lassen. Die Menschen fühlen sich von Jesus herabgesetzt und reagieren verärgert statt mit Freude (vgl. 11,6 und 13,21). Hier kommt eine heute oftmals als positiv beurteilte Funktion des Ärgers negativ zum Ausdruck: Dieser Ärger macht darauf aufmerksam, dass Werte und Normen einer Gemeinschaft womöglich gestört wurden bzw. wiederhergestellt werden müssen.57 Jesus stört diese Wertege56 57

Vgl. HODAPP, Ärger, 199. Vgl. MEES, Struktur, 143.

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meinschaft, indem er durch sein vollmächtiges Tun und Reden über Gott heraussticht und bisherige Werte und Normen in Frage stellt. Gerade die in der Gesellschaft hoch angesehen Schriftgelehrten und Hohepriester können diesen Prestigeverlust nicht ohne entsprechenden „Ärger“ quittieren. Durch ihren Ärger machen sie eine Gemeinschaft mit Jesus jedoch unmöglich, zerstören diese sogar vollkommen, indem sie zum Äußersten greifen und ihn kreuzigen lassen, um damit die Ursache ihres Ärgers aus dem Weg zu schaffen und ihre eigene hohe Rangstellung wiederherzustellen. An dieser Stelle ist es interessant zu bemerken, dass der Ärger im Mt-Ev ähnlich, aber in einem entscheidenden Aspekt anders gebraucht wird als zuvor weithin in antiker, griechischer Literatur: Dort galt: „anger is a hierarchical emotion: it is (at least in Greek culture) mainly felt by superiors towards inferiors, people they can punish.“58 Im Mt-Ev ärgern sich zwar auch (vermeintlich) höhergestellte Menschen über Jesu Worte und Taten, doch ebenso „normale“ Menschen, denen er doch ebenbürtig sein sollte (13,57). Der mächtigere Pilatus hingegen ärgert sich nicht an ihm (27,11–26). Der Ärger begegnet im Mt-Ev somit keineswegs antik-klassisch als „Emotion der Mächtigen“, sondern als eine ganz allgemein menschliche. Neben Personen können, wie gesagt, im Mt-Ev irdische Dinge Auslöser des Ärgers sein (5,29 f.; 13,21; 18,6–9; 24,10). Hier ist weniger offensichtlich, wie solche Dinge soziale Beziehungen zerstören können. Doch bei näherem Hinsehen wird auch dies klar: Bspw. können das Auge, der Fuß oder die Hand „Anlass zur Sünde geben“ (5,29 f.; 18,8 f.). Dies verweist auf ein sinnliches, körperliches Begehren und damit auf Gebote wie etwa das fünfte, neunte und zehnte. Ebenfalls können Bedrängnisse und Verfolgungen sowie die Nöte der Endzeit „Anlass zur Sünde sein“ (13,21; 24,10). Hier wird auf Angst und Verzagtheit im Angesicht drohender Gefahren für die eigene Person angespielt. Wer solchen Begierden und Ängsten nachgibt, zerstört die Beziehung zum Nächsten und zu Gott, indem er die Gebote Gottes und damit das rechte Handeln verweigert. Gemeinsam ist diesen Szenarien, dass sie das eigene Wohl über das der Anderen setzen. Das Objekt des Ärgernisses zerstört auch hier die wahrhaft wichtige Beziehung – die zu Jesus Christus bzw. zu Gott – durch überhöhten Selbstbezug. Für gesunde soziale Beziehungen und eine gelingende Gottesbeziehung aber ist es notwendig, sich selbst und die eigenen Interessen zurücknehmen zu können. Dies demonstriert Jesus selbst in 16,23, als er Petrus vorwirft, ihm „ein Ärgernis“ zu sein, wenn der ihn davon abhalten möchte, Gottes Willen gemäß zu leben und zu sterben. An der Emotion des Ärgers wird im Mt-Ev ein interessanter Zusammenhang zwischen Emotion und dem Sündenbegriff sichtbar und vermag diesen zu erhellen: Der Ärger ist eine Emotion, die auf überhöhten Selbstbezug hinweist. Dadurch gefährdet er die Beziehungen zu anderen Menschen sowie zu 58

SANDERS, Persuasion, 65.

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Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

Gott, indem nur die eigenen Interessen verfolgt werden, statt etwa die Perspektive des Nächsten einzunehmen oder aber auf die Gebote Gottes zu achten. Insofern ist der Ärger als ethisch hoch relevant und sowohl für das Glaubensleben (11,6; 13,21; 24,10; 26,31.33) als auch für gelingendes soziales Leben (13,57; 18,6–9) gefährlich einzustufen, wobei diese beiden Dimensionen im Mt-Ev nicht strikt getrennt werden können (5,29 f.). 2.2.4 Liebe: ἀγαπάω κτλ., φιλέω κτλ. Mit den beiden griechischen Begriffen ἀγαπάω und φιλέω wird im Mt-Ev die Emotion der Liebe ausgedrückt. Letzterer ist den Menschen vorbehalten, während sowohl Menschen als auch Gott ἀγαπέιν können. Exklusiv in Aussagen Gottes wird allerdings das Partizip ἀγαπητός verwendet, das wie schon εὐδοκέω seine exklusive Beziehung zu Jesus ausdrückt. Bei dieser Emotion wird der unterschiedliche Gebrauch der beiden Prädikate besonders ersichtlich: Während sowohl Menschen als auch Gott das Objekt von ἀγαπάω sein können (vgl. 22,37.39), scheint φιλέω für eine profane, „niedere“ Form der Liebe verwendet zu werden. Bspw. „lieben“ die Heuchler das Gesehenwerden (6,5) und die Pharisäer ihre Sonderstellung in der Gesellschaft (23,6). Auch eine größere „Liebe“ zu den Eltern als die zu Gott bleibt nicht ohne Kritik (10,37). Schließlich wird diese Wortverwendung noch auf die Spitze getrieben, indem Judas mit seinem Kuss nicht seine Liebe zu Jesus ausdrückt, sondern ihn verrät (26,48 f.). Hier scheint „Liebe“ (vgl. 6,5; 10,37; 23,6: zu Gott; 26,48 f.: zu Jesus) nur vorgetäuscht zu sein und die Wertschätzung profaner Dinge im Vordergrund zu stehen (6,5; 23,6: gesellschaftliches Ansehen; 10,37: irdische Bindungen; 26,48 f.: Geld). Dieses φιλέω ist jedoch nicht die wahre Liebe im Sinne der ἀγάπη, die sich beispielhaft in der Beziehung zwischen Gott und Jesus abbildet (3,17; 12,18; 17,5). In Forscherkreisen herrscht eine breite Diskussion darüber, inwiefern die in der Bibel begegnende Liebe nicht nur ein emotionales, sondern auch kognitives und volitionales Geschehen sei.59 Betrachtet man dahingehend den Textbefund im Mt-Ev, fällt auf, dass Liebe meist im direkten Gegensatz zum Hass steht (5,43; 6,24; 24,9–12) und so eine v.a. emotionale Einstellung zum Gegenüber darstellt. In diesem Sinne ist die Liebe zu Gott und Mitmensch „das größte Gebot im Gesetz“ (22,36) und an ihr „hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (22,40). Damit ist sie kein rein passiv erlebtes Widerfahrnis, sondern auch beeinflussbar, aktiv lebbar. Ansonsten wäre die Aufforderung zur Feindesliebe aussichtslos.60 Auch diese ist ja durchaus aktiv, wie das darauffolgend geforderte Gebet für die eigenen Verfolger erkennen lässt (vgl. 5,44). Daran wird deutlich, dass die Liebe wie schon die Freude nicht ein rein passives Geschehen ist, sondern etwas, das der Mensch aktiv leben kann und 59 60

Vgl. dazu ELLIOTT, Core. Vgl. a.a.O., 111 f.

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

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soll. Entscheidend ist demnach v.a. die aus der Emotion erwachsende Tat. Liebe, wie sie das Mt-Ev sieht, kann als wohlwollende Einstellung gegenüber einem jeden Nächsten im Zuge der imitatio dei geübt werden (5,45.48). Die Liebe erscheint im Mt-Ev in zwei Facetten: Zum einen die kritisierte Liebe zu profanen Dingen (φιλέω), zum anderen die wertvolle Liebe zum Nächsten und zu Gott (ἀγαπάω). Letztere ist in erster Linie durch ihre Folgetätigkeit im Sinne der aktiven imitatio dei zu verstehen (5,45.48), doch wird sie auch der Emotion des Hasses gegenübergestellt (5,43; 6,24; 24,9–12) und ist damit ein deutlich emotionales Geschehen. An der Liebe wird der enge Zusammenhang zwischen Emotion und Handlung demnach besonders offensichtlich. Liebe stellt zwar eine grundsätzlich wohlwollende Haltung dem Anderen gegenüber dar, doch bleibt sie ohne aktive Reaktion belanglos. 2.2.5 Mitleid: ἐλεέω κτλ., σπλαγχνίζοµαι Als weitere Emotion begegnet im Mt-Ev das Mitleid.61 Diese ist eine im Hinblick auf ihre Bewertung besonders spannende Emotion: Das Mitleid kann zwar als negativ betrachtet werden, wenn das erlebte Mit-Leiden in den Vordergrund rückt. Sowohl in der Antike als auch im modernen Diskurs ist dies tendenziell der Fall.62 Im Hinblick auf die ethische Relevanz jedoch ist das Mitleid – ganz im Gegensatz zu negativen Emotionen wie Ärger, Hass oder Zorn – eine positive Emotion, weil aus ihr altruistische Handlungen erwachsen, und dieser Handlungsbezug scheint auch generell die zentrale Charakteristik der mt Emotionen zu sein. An der Emotion Mitleid wird außerdem am deutlichsten, inwiefern Moral nicht nur rational, sondern ganz entscheidend emotional begründet ist. Denn hier ist es „[n]icht die Pflicht, sondern die Selbstverständlichkeit oder Unwillkürlichkeit[, die] vor Augen [steht], wenn es um die spontane Affektion durch den Anderen geht, die Mitleid genannt wird. Das Schema der Ethik folgt dann nicht dem Register von ‚Pflicht und Erfüllung‘, sondern dem Affiziertwerden und der Faktizität des Mitleids, aus dem erst sekundär betrachtet vermeintliche ‚Pflichten‘ entstehen.“63

Das Mt-Ev kennt für die Emotion die beiden Begriffe ἐλεέω und σπλαγχνίζοµαι. Letzterer wird für die emotionale Reaktion Jesu beim Anblick leidender Menschen verwendet. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet dieses Mitleid, sein „innerliches Bewegtwerden“64, mit fünfmaliger Erwäh61

Über das Mitleid als eine besondere christliche Emotion liegen bereits einige Untersuchungen vor, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann (vgl. dazu ROMBACH/SEILER, Eleos). 62 So verurteilten schon Platon sowie die Stoa das Mitleid als irrationalen Affekt, der die Seelenruhe störe (vgl. a.a.O., 252–260). Auch heute wird die Emotion oft als negativ betrachtet (so bspw. SCHMIDT-ATZERT/PEPER/STEMMLER, Emotionspsychologie, 225). 63 STOELLGER, Performanz, 290 f. (Hervorhebungen im Original). 64 Vgl. die Übersetzung von σπλαγχνίζοµαι nach Elberfelder.

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Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

nung die häufigste Emotion Jesu ist.65 Das Verb leitet sich vom Nomen σπλάγχνα ab und beschreibt somit die Bewegung der inneren Organe, insbesondere des Herzens. Obgleich dieses nicht nur Sitz der Emotionen, sondern auch der Gedanken und des Willens ist, bezeichnet σπλάγχνα v.a. den „Sitz der Gefühle“66. Dort „ist die positive Zuwendung zu anderen, das herzliche Verlangen nach Gemeinschaft mit geliebten Menschen lokalisiert“67. Aufgrund dessen trifft die Übersetzung nach Elberfelder es besonders passend, wenn sie das Verb mit „innerlich bewegt werden“ wiedergibt. Dieses Bewegtwerden erscheint als auslösender Faktor der folgenden Wunderhandlung.68 Hierbei ist nicht nur zu bemerken, dass Jesus solcher genuin menschlichen Emotionen fähig ist69, sondern dass er sich auch von ihnen leiten lässt: „Sein ‚Bauchgefühl‘ meldet sich spontan und unwillkürlich angesichts des Nächsten. Es motiviert und bewegt zur Zuwendung, sei es in Speisung, der Heilung oder in der Auferweckung des Jünglings zu Nain.“70 Spannend ist hier insbesondere die direkte Verbindung zwischen Emotion und Handeln. Jesu Fühlen steht nicht für sich: Seine emotionale Anteilnahme am Elend anderer führt direkt zu einer re-aktiven Hilfeleistung. Das eine scheint vom anderen nicht zu trennen zu sein. Sein Wunderhandeln, das seiner Emotion folgt, erinnert stark an das Mitleid Gottes im AT (Ex 16,12; Dtn 32,39; 1 Kön 17,21; 2 Kön 4,32–37; Ps 30,2; 103,3; 107,9; 146,7 f.).71 In dieser Tradition verstehen sodann auch Tertullian und Augustin das Mitleid und sehen die Emotion (compassio) stets mit der Tat (misericordia) verbunden.72 Mitleid wird zum „Affekt mit Effekt“73. Diese Beobachtung ist eine wichtige, vergleicht man den Gebrauch der Emotion mit dem heutigen Verständnis von Mitleid, das zwar zum Tun motivieren kann, doch auch ohne jegliche aktive Reaktion als vollwertige Emotion angesehen wird. Ganz ähnlich definierte auch Aristoteles Mitleid als den Schmerz über die Not eines Anderen (Aristot., rhet. II,1385b-1386b).74 Hier aber ist das emotionale Erle65

Dieser Befund bestätigt sich auch mit Blick auf die übrigen Synoptiker: Das Verb taucht 4x bei Mk (1,41; 6,34; 8,2; 9,22), 3x bei Lk (7,13; 10,33; 15,20) und 5x bei Mt (9,36; 14,14; 15,32; 18,27; 20,34) auf. Gezählt werden hier auch die Stellen, an welchen es in Parabeln vorkommt, da auch hier ein impliziter christologischer Bezug erkennbar ist. 66 WALTER, σπλάγχνον, ου, τό, 635. 67 Ebd. 68 Vgl. KONRADT, Mitleid, 417. 69 Die frühe Kirche hatte durchaus Probleme, diese Texte christologisch zu deuten: Bestritt Clemens von Alexandrien doch bspw., dass Jesus als Sohn Gottes überhaupt menschliche Bedürfnisse hatte, und die Kappadokier sprachen Jesus solch drastische Emotionen ab (vgl. STOELLGER, Performanz, 297 f.). 70 A.a.O., 298. 71 Vgl. VOORWINDE, Jesus, 55. 72 Vgl. ROMBACH/SEILER, Eleos, 256 f. 73 A.a.O., 260. 74 Vgl. a.a.O., 252–254.

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ben losgelöst von jeglicher Reaktion. Ein solches Verständnis liegt im Mt-Ev nicht vor, wird Menschen doch gerade mangelndes Mitleid vorgeworfen, und zwar angesichts fehlenden, sich erbarmenden Handelns. Interessant ist ebenso, dass aktive Barmherzigkeit im direkten Gegensatz dem Brandopfer gegenübersteht (9,13; 12,7). Der Vergleich dieser beiden legt nahe, dass es sich beim mt Mitleid genau wie beim Opfer um eine Beziehungs-Tat handelt. Doch steht der helfende Akt am Nächsten noch über dem Tun für Gott, d.h.: Eine gute Gottesbeziehung zeichnet sich gerade durch eine gute Beziehung zum Nächsten aus (5,7). Diese zunächst emotionale Beziehung ist jedoch erst durch ihren handelnden Aspekt vollständig. In diesem Zusammenhang fällt eine weitere Differenz zum aristotelischen Verständnis der Emotion auf: Während die philosophische Strömung des Peripatos gemäß Aristoteles die Ansicht vertrat, man empfinde Mitleid nur in Bezug auf das Leiden einem selbst ähnlicher oder nahestehender Personen (Aristot., rhet. II,1385b-1386a)75, suggeriert das Mt-Ev, dass Mitleid mit einem jeden Nächsten empfunden werden kann und soll (5,7). Ja, das in den synoptischen Evangelien begegnende Mitleid bildet weniger eine bestehende Beziehung ab, vielmehr schafft es eine solche.76 Diese Universalität der Emotion des Mitleids setzte sich gerade durch deren christliches Verständnis im Laufe der Zeit mehr und mehr durch.77 Dies bestätigt der zweite Terminus ἐλεέω. Er kommt am häufigsten im Kontext der Bitten von Menschen um Erbarmen vor (5,7; 9,13; 12,7; 18,33; 23,23). Die Bitte an Jesus, sich Kranker zu erbarmen (9,27; 15,22; 17,15; 20,30.31), erinnert stark an die in den Psalmen häufig begegnende Formel der entsprechenden Bitte an Gott (vgl. Ps 9,14; 25,16; 26,11; 27,7; 30,11; 31,10; 41,5; 51,3; 56,2; 86,3; 123,3).78 Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen liegt demnach gerade im motivationalen Aspekt der Emotion des Mitleids: Während bei σπλαγχνίζοµαι die Tat erst hinterher genannt ist (Jesus empfindet Mitleid und handelt dann), scheint ἐλεέω diese Tat bereits einzuschließen (die Bitte an Jesus um Erbarmen zielt auf die konkrete Heilung). In beiden Fällen wird klar, dass das Mitleid nicht folgenlos blieben kann. Doch in ἐλεέω überbietet dieses re-aktionale Element das emotionale „innerliche Bewegtwerden“, welches in σπλαγχνίζοµαι stärker hervortritt.79 Beiden Termini ist der direkte Bezug zum Handeln gemeinsam und beide belegen eine ausdrückliche ethische Relevanz der Emotion.80 An dieser Stelle ist auch die besondere Verbindung von Mitleid und Furcht interessant: Wie Aristoteles schon in seiner Poetik betont, entsteht Mitleid, 75

Vgl. a.a.O., 257–260. Vgl. STREBEL, Mitleid, 287. 77 Vgl. ROMBACH/SEILER, Eleos, 257–260. 78 Vgl. VOORWINDE, Jesus, 55. 79 Vgl. KONRADT, Mitleid, 417. 80 Vgl. STAUDINGER, ἔλεος, ους, τό, 1047 und WALTER, σπλαγχνίζοµαι, 634. 76

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wenn eine Person unverschuldet ins Unglück gerät, woraus zusätzlich Furcht erwachsen kann, wenn der Zuschauer eine Ähnlichkeit zwischen sich und dieser Person empfindet (Aristot., poet. 1453a). Dieser emotionale Mechanismus wird bei den Analysen der parabolischen Narrationen des Mt-Ev noch von besonderer Bedeutung sein.81 Mitleid ist ethisch hochgradig relevant. Diese Emotion ist die buchstäbliche Bewegung des Menscheninnern (vgl. σπλαγχνίζοµαι/σπλάγχνα) zu einer dem Gegenüber helfenden Handlung hin. Von der in der Antike häufig vertretenen Meinung, das Mitleid sei als eine negativ empfundene Emotion zu vermeiden, ist im Mt-Ev nichts zu spüren: Die Menschen werden zu mehr Barmherzigkeit aufgefordert (9,13; 12,7; 23,23). Jesus bildet dabei das ultimative Vorbild. Seine Heilstaten werden oftmals direkt durch sein Mitleid motiviert (9,36; 14,14; 15,32; 20,34). Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Mitleid und Handeln im Verb ἐλεέω, das stets Jesu erbarmende Tat miteinschließt. Die Emotion begegnet nie losgelöst von der aktiven Folgetat, sodass sich dafür argumentieren lässt, dass für den Evangelisten Mt – im Gegensatz zum aristotelischen Verständnis von Mitleid – die Emotion ohne daraus erwachsende Handlung bedeutungslos ist. 2.2.6 Überraschung: ταράσσω, ἐκπλήσσω, θαυµάζω κτλ., ἐξίστηµι Ob die Überraschung zu den Emotionen gezählt werden kann oder nicht, ist in der Emotionsforschung umstritten.82 Da dieses Wortfeld aber im Mt-Ev sehr häufig und mit vier verschiedenen Begriffen sehr variabel verwendet wird, verdient es an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit. Der Überraschungsmechanismus wird wie folgt definiert: „Die automatische Verarbeitung von Informationen wird unterbrochen, Überraschung wird erlebt, und kognitive Prozesse der Analyse und Bewertung des schemadiskrepanten Ereignisses werden in Gang gesetzt. Dieser Mechanismus hat eine zweifache Funktion. Einerseits soll er eine möglichst schnelle adaptive Reaktion auf das unerwartete Ereignis ermöglichen (kurzfristige Anpassung); andererseits soll er eine angemessene Veränderung des diskonfirmierten Schemas ermöglichen, wodurch die Voraussetzung für die Vorhersage des Ereignisses und damit für adaptives Handeln in der Zukunft hergestellt wird (langfristige Anpassung).“83

Überraschung kann demgemäß zu unmittelbaren und längerfristigen pragmatischen Folgen führen. Unter den vier im Mt-Ev begegnenden Verben ταράσσω, ἐκπλήσσω, ἐξίστηµι und θαυµάζω wird nur letzteres aktiv gebraucht und mit sieben Belegstellen am häufigsten verwendet. Meist ist es die Menschenmenge, die von Jesu Handeln überrascht wird. Beim Verb ταράσσω schwingt die Emoti81

S.u. Kap. 5. Vgl. MEYER/REISENZEIN/NIEPEL, Überraschung, 260 f. 83 A.a.O., 255. 82

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

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on der Furcht mit, während ἐκπλήσσω und ἐξίστηµι stärker eine überraschte Reaktion auf eine unfassbare Begebenheit beschreiben. Θαυµάζω drückt eine oft staunende Verwunderung aus: An drei der Belegstellen erscheint dieser Begriff neutral (21,20: Verdorren des Feigenbaums; 22,22: Frage nach der Steuer; 27,14: Pilatus wundert sich über Jesu Verhalten), an den übrigen ist er deutlich positiv konnotiert (8,10: Jesu Verwunderung über den Glauben des Hauptmanns von Kapernaum ist sicherlich mit Bewunderung verbunden; 8,27: Stillung des Sturms: Volksmengen bewundern Jesu Vollmacht84; 9,33: die Volksmengen bewundern die Heilung zweier Blinder; 15,31: Volksmengen bewundern die Heilungswunder Jesu). Zumindest für die letztgenannte Stelle trifft erneut eine gewisse Aktivität der Emotion zu: Auf die Verwunderung folgt die aktive Verherrlichung Gottes. Die Emotion der Überraschung kann wiederum in weiteren Emotionen resultieren: Furcht (2,3; 14,26), Bewunderung (7,28; 12,23; 22,33) oder Ärger (13,54; 22,33). Erst an ihren Folgen wird häufig deutlich, ob sie positiv oder negativ zu verstehen ist (eher negativ: ταράσσω/ἐκπλήσσω/ἐξίστηµι; eher positiv: θαυµάζω). Überraschung im Sinne der modernen Emotionsforschung ist ein extrem kurzes Geschehen, wobei noch völlig offen ist, ob eine positive oder negative Überraschung erfolgt.85 Demgegenüber fällt beim mt Gebrauch der Emotion auf, dass Überraschung stärker von ihren Folgeemotionen (Furcht, Bewunderung, Ärger) abhängt und somit als ein längeres emotionales Geschehen, ja, fast schon als Zustand verwendet wird. Die ethische Relevanz ist bei der Überraschung insofern eine mittelbare, als daraus erwachsende Handlungen von der die Überraschung als positiv oder negativ kennzeichnenden Folgeemotion abhängen. Ohne eine Nennung daraus erwachsender anderer Emotionen bleibt auch die Überraschung folgenlos, was der mt Textbefund insofern bestätigt, als an den meisten Stellen die Überraschung ohne aktive Reaktion der Menschen geschildert wird.86 Einzig in 15,31 folgt auf die Verwunderung der Volksmenge die Verherrlichung Gottes als aktive Folgehandlung (vgl. 9,8). Die Überraschung der Volksmenge betrifft hier die zahlreichen Heilungen Jesu. Es ist anzunehmen, dass diese Überraschung hier Freude und Bewunderung auslöst, welche zum Lob Gottes motivieren. Dafür spricht nicht nur der Kontext, sondern auch der sprachlich hergestellte intertextuelle Bezug zu Jes 29,18 f.; 35,5 f. und 61,1. An diesen Stellen begegnet die Freude expli84

Obgleich hier die von Jesus unmittelbar davor kritisierte Furchtsamkeit der Menschen (8,26) dafür spräche, die Verwunderung im Sinne eines Erschreckens zu lesen. Dennoch muss in Rechnung gestellt werden, dass der Autor an dieser Stelle nicht das dafür übliche ταράσσω oder ἐκπλήσσω verwendet. 85 Vgl. EKMAN, Gefühle, 208 f. 86 In 2,3 erscheint die Reaktion des Herodes mehr der Furcht, die in ταράσσω mitschwingt, geschuldet zu sein; die Fragen der Volksmengen in 8,27; 12,23; 13,54; 19,25 und 21,20 sind vielmehr Ausdruck der ratlosen Verwunderung als aktive Reaktionen.

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zit (Jes 29,19; 35,1; 61,3). Auch an der einzigen Stelle, an der Jesus selbst Überraschung empfindet, folgt der Emotion eine aktive Reaktion. Hier kann aufgrund des Kontextes Freude als deren eigentlicher Motivator angenommen werden: Jesus wundert sich über den Glauben des Hauptmanns von Kapernaum (8,10), woraufhin er seine Jünger belehrt (8,11 f.) und den Diener des Mannes gemäß seines Glaubens heilt (8,13). Überraschung lässt sich häufig erst anhand ihrer Folgeemotionen als positiv oder negativ qualifizieren, immer abhängig davon, ob sie Bewunderung, Freude o.Ä. oder aber Ärger, Furcht o.Ä. auslöst. Auch sind es diese Folgeemotionen, welche aktives Handeln auslösen können, während die – eher neutrale – Überraschung häufig allein steht (7,28; 22,22.33; 27,14). So sind an den beiden Stellen, an denen eine aktive Reaktion auf die Überraschung folgt (Jesus: 8,10; Menschenmenge: 15,31), die positive Konnotation der Emotion sowie die Verknüpfung zur Bewunderung (8,10–12) und Freude (15,31 bzw. Jes 29,19; 35,1; 61,3) plausibel zu machen. Überraschung als solche ist somit nur von mittelbarer ethischer Relevanz. 2.2.7 Trauer: πενθέω, κόπτοµαι, λυπέω κτλ. Sodann begegnet eine retrospektive Emotion, d.h. eine sich auf ein vergangenes Ereignis beziehende Emotion – die Trauer. Das Wehklagen (κόπτοµαι) ist der intensivste Ausdruck der drei von Mt verwendeten Verben. Das darin steckende „sich aus Trauer an die Brust schlagen“ ist ein sehr aktives Ausleben des eigenen emotionalen Zustandes, welcher zugleich die Hilflosigkeit der Emotion spiegelt: Sie bezieht sich auf ein vergangenes Ereignis, das nicht mehr beeinflusst werden kann. Die passiveren Begriffe πενθέω und λυπέω drücken diese Charakteristik der Trauer deutlicher aus. Selbst spezifische Trauerhandlungen wie das Fasten (9,14 f.) bilden diese Ohnmacht ab. Interessant sind in dieser Hinsicht die zwei der insgesamt elf Belegstellen dieser Termini, die für Jesus als Subjekt dieser Empfindung gebraucht werden: Er wird in Gethsemane von Trauer erfasst (26,37 f.). Spannend ist an dieser Stelle, dass Jesu Trauer hier mit Angst kombiniert erscheint (26,37: ἤρξατο λυπεῖσθαι καὶ ἀδηµονεῖν). Während sich Angst eigentlich auf die Unsicherheit der Zukunft und Trauer auf einen unwiederbringlichen Verlust in der Vergangenheit bezieht, verdeutlicht die Verbindung dieser beider Emotionen Jesu vollmächtiges Wissen: Er kann seine Zukunft fürchten und zugleich bereits betrauern, weil er sie kennt. Doch trotz dieses Wissens ist er der menschlichen Empfindungen nicht gänzlich enthoben: Er hadert mit seinem Schicksal und zeigt sogar klassische „Phasen“ des Trauerns: Der plötzliche emotionale Ausbruch der Angst (V. 37) sowie die Sehnsucht nach einem

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Ausweg (V. 39.42.44), wobei er die akzeptierende Reorganisationsphase (V. 45 f.) sehr rasch erreicht.87 Die Trauer begegnet im Mt-Ev mehr im Sinne einer Traurigkeit, die nicht mit einer aktiven Reaktion verbunden ist (14,9; 17,23; 19,22; 26,22). Nur Jesus trauert auf aktive Weise und besiegt damit seine Furcht in Gethsemane und akzeptiert sein Schicksal (26,37 f.). Hier wird, wie schon bei der Furcht, ersichtlich, wie mit potentiell lähmenden Emotionen umgegangen werden kann: Sie lassen sich im Glauben an und im Vertrauen auf Gott überwinden, sodass das Nötige zu tun wieder möglich wird. 2.2.8 Reue: µετανοέω κτλ., µεταµέλοµαι Die verschiedenen Termini für das retrospektive Bereuen, das zu wiedergutmachenden Handlungen in der Gegenwart führen (soll), können unter dem Emotionskomplex der Reue zusammenfließen, der im Mt-Ev insgesamt zehnmal belegt ist. Dabei umfasst dieser Emotionskomplex weiterhin die der Reue verwandten Emotionen der Scham und der Schuld. Zu unterscheiden sind die beiden hierfür gebrauchten Termini auf ihre passive und aktive Verwendung hin: Das passive µεταµέλοµαι scheint hierbei mehr das subjektive Empfinden der Reue zu beschreiben, das quasi „über einen kommt“. Es wird vom ersten Sohn in der Parabel von den ungleichen Söhnen empfunden (21,29) sowie von Judas nach seinem Verrat (27,3). Das aktive Verb µετανοέω dagegen betont die darauf folgende aktive Wiedergutmachung und wird daher meist mit „Buße tun“ übersetzt. Nur Ersteres kommt damit dem modernen Verständnis des Emotionskomplexes von Reue/Scham/Schuld gleich, welcher unter den Stichworten „Selbsteinschätzungs-, „SelbstVorwurf-“ sowie „Selbstunzufriedenheits-Emotionen“ gehandelt wird.88 Ersichtlich wird außerdem, dass hier eine präzisere Differenzierung wie in der heutigen Emotionsforschung (Peinlichkeit, Scham, Reue, Schuld etc.) unterbleibt.89 Μεταµέλοµαι ist der einzige Begriff für den gesamten Komplex der Scham, des Schuldgefühls und der Reue. Ob der Mensch emotional bereuen muss (µεταµέλοµαι), um Buße zu tun (µετανοέω), bleibt uneindeutig, wenn auch naheliegend. Angesichts des häufiger vorkommenden µετανοέω, das überdies oft im Imperativ erscheint (3,2.8; 4,17), liegt der Fokus aber offenkundig auf dieser aktiven Handlung. Was dazu bewegt, ob es eine Emotion (wie in 21,29 und 27,3) oder eine Erkenntnis der eigenen Verfehlungen ist (wie in 11,20 f. und 12,41), scheint unerheblich. Die Emotion der Reue scheint für Mt viel mehr ethisch-pragmatisch denn emotional wichtig zu sein. An den beiden Stellen, an denen µεταµέλοµαι 87

Vgl. SCHMITT/MEES, Trauer, 209 f. Vgl. ROOS, Peinlichkeit, 264. 89 Vgl. a.a.O., 264–271. 88

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gebraucht wird, ist sie mit einer aktiven Reaktion verbunden, auf die es letztlich wohl ankommt: Der Sohn geht doch in den Weinberg, weil er seine Verweigerung bereut (21,29); Judas erhängt sich aus Schuldgefühlen (27,3–5). Dass Mt das aktive µετανοέω häufiger gebraucht, bestätigt diesen Befund. 2.2.9 Verachtung: ἐµπαίζω, καταφρονέω, καταγελάω Zum Emotionskomplex der Verachtung sind auch Emotionen wie Genugtuung, Spott und Schadenfreude zu zählen. Diese Emotionsgruppe ist – wie bereits das Mitleid – hinsichtlich ihrer Qualitätsbeurteilung ambivalent: Aus heutiger Perspektive wird Verachtung meist dem Ekel zugeordnet und somit als negativ erlebte Emotion bezeichnet. Obgleich diese Genese in der heutigen Emotionsforschung einleuchtend erscheint90, muss für das Mt-Ev beachtet werden, dass der Ekel dort nicht als eigene Emotion vorkommt. Die Verachtung, die bei Mt durch ἐµπαίζω, καταφρονέω und καταγελάω ausgedrückt wird, steht in starker Verbindung mit der urteilenden Geringschätzung des Anderen91: „Verachtung birgt immer auch ein Element der Herablassung gegenüber dem Objekt der Verachtung. Wenn Sie Personen und ihren Aktionen Geringschätzung entgegenbringen, fühlen Sie sich ihnen (in der Regel moralisch) überlegen.“92 Entsprechend ergibt sich für Aristoteles daraus die positive Qualifikation der Verachtung, im Zuge derer man sich an der Überlegenheit gegenüber dem Anderen freut. Natürlich kann diese positive Beurteilung der Emotion aus moralischer Hinsicht als problematisch angesehen werden; doch steht für Aristoteles v.a. das Erleben der Emotion im Vordergrund. Insofern kann Verachtung, die auch im Mt-Ev stark mit Spott und Hohn korreliert, als in gewissem Maße lustvoll erlebte Emotion gelten. Im Mt-Ev drücken die Termini καταγελάω und καταφρονέω eine weitgehend emotionslose Verachtung aus. Sie zeichnen sich durch Indifferenz (18,10) oder ablehnende Ungläubigkeit (9,24) gegenüber dem Anderen aus. Der Ausdruck ἐµπαίζω trägt zudem die Konnotation des Spotts, welcher der Schadenfreude nahekommt. Erleidet das Objekt des Ärgers oder der Verachtung einen Schaden, kann daraus Genugtuung resultieren: „Schadenfreude [...] wirkt exklusiv und inklusiv zugleich. Sie ist gnadenlos in der Ausgrenzung der Verlachten, bestärkt gerade darüber aber den Zusammenhalt und den moralischen wie sozialen Konsens der Lachenden.“93 Demnach scheint es nur stimmig, wenn die Menschen, die sich zuvor über Jesus ärgerten, bei seiner Verurteilung Schadenfreude empfinden, da ihrem Gerechtigkeitssinn 90

Vgl. HENNIG/NETTER, Ekel, 291. Entsprechend differenziert auch Paul Ekman, dass Verachtung „nur Menschen oder menschlichem Handeln entgegengebracht“ wird, Ekel dagegen auch Dingen (EKMAN, Gefühle, 250). 92 Ebd. 93 RÖCKE, Schadenfreude, 282. 91

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Genüge getan wird (27,29–31.41): Dem sich durch seine besondere Macht auszeichnenden Menschen Jesus wird seine Machtlosigkeit und Sterblichkeit vor Augen geführt. Die Wertmaßstäbe der menschlichen Gemeinschaft, die Jesus empfindlich gestört hatte, sind wiederhergestellt. Wichtig ist im Hinblick auf Schadenfreude und Genugtuung aber auch, dass sie nur eintritt, wenn ein Anderer eine wohlverdiente Strafe erhält, die im Verhältnis zur begangenen Tat steht.94 Wird die Strafe hingegen als unverhältnismäßig hart empfunden, kann sich Schadenfreude in Bestürzung und Mitleid wenden. Dieser Mechanismus wird in der Analyse der mt Parabeln zu beachten sein.95 Im Hinblick auf die ethische Relevanz lässt sich der Emotionskomplex der Verachtung nahe an den des Ärgers rücken. Denn Verachtung ist besonders durch ihre Verbindung mit anderen Emotionen gefährlich und kann verheerende Auswirkungen auf die Handlungsmotivation haben: „Im zwischenmenschlichen Bereich bis hin zur Kriegsführung zwischen Nationen führt die Koaktivierung von Verachtung – Ekel zu einer Dehumanisierung des Gegners und damit zu einer Senkung der Aggressionsschwelle.“96 Hier, wie schon beim Ärger, kommt ebenfalls ein hierarchisches Element der Emotion in den Blick: Verachtung wird meist von höhergestellten Personen ihnen Unterstellten entgegengebracht.97 Diese Machtstellung ist im Mt-Ev weniger offensichtlich; wohl aber ist zu finden, dass die Jesus verachtenden Menschen sich selbst über ihn stellen. Es zeigt sich auch hier ein überhöhter Selbstbezug, der mit dieser Emotion einhergeht. Der Emotionskomplex der Verachtung, obgleich zu den positiv erlebten Emotionen zählend, ist ethisch hochproblematisch. Indem diese Emotion den Selbstbezug über altruistische Interessen stellt und sich im Zuge dessen über den Anderen erhebt, kann sie zu Taten führen, welche die Beziehung zum Anderen aufs Höchste gefährden. Diese Problematik wird am Schicksal Jesu offenbar: Die Menschen verachten ihn, da er sich als Sohn Gottes über sie stellt, und verspotten ihn für seinen Tod, den sie selbst aufgrund ihrer Verachtung herbeigeführt haben (27,39–44). 2.2.10 Dankbarkeit: εὐλογέω, εὐχαριστέω Die Dankbarkeit begegnet im Mt-Ev auffällig selten, was den oben genannten Befund bestätigt, dass der Begriff der Freude zwar nicht sonderlich variabel verwendet wird, jedoch alle Facetten der Freude einzuschließen scheint. Im Mt-Ev begegnen nur die Termini εὐλογέω (14,19; 21,9; 23,39; 25,34; 26,26) und εὐχαριστέω (15,36; 26,27). Dass hiermit eine Dankbarkeit nur im wei94

Vgl. MEES, Struktur, 99. S.u. Kap. 5. 96 STEMMLER, Psychologie, 15. 97 Vgl. SANDERS, Persuasion, 66. 95

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testen Sinne ausgedrückt werden mag, zeigt ein Blick auf die Stellen: Jesus sagt Dank für die vorhandenen Speisen, als er diese vermehrt (14,19; 15,36), sowie bei der Einsetzung des Herrenmahls (26,26 f.). Hier werden εὐλογέω und εὐχαριστέω synonym gebraucht, wobei einige Textzeugen εὐλογήσας durch εὐχαριστήσας ersetzen. Dies macht eine Sensibilität für eine etwaige Unterscheidung der Begriffe möglich, könnte aber auch dem Bedürfnis nach einheitlicher Begriffsverwendung geschuldet sein. Da es sich hierbei nur um eine Belegstelle sowie um eine Textvariante handelt, wäre es unangemessen, daraus allgemeine Rückschlüsse auf das Verständnis der Termini zu ziehen. An den übrigen Stellen wird Jesus von den Menschen gepriesen (21,9; 23,39), und Gott segnet die im Gericht Bestehenden (25,34). Nur hier werden passive Verbformen von εὐλογέω verwendet, da nicht die Aktivität des sprechenden Subjekts ausgedrückt wird. Dennoch sind εὐλογέω und εὐχαριστέω aktiv gefüllte Termini: Sie überkommen den Menschen/Jesus/Gott nicht, sondern die Menschen/Jesus/Gott üben sie aus. Angesichts dieses Befundes lässt sich darüber diskutieren, ob die beiden Begriffe überhaupt eine ausreichende emotionale Komponente aufweisen, um sie in die Liste der expliziten Emotionstermini aufzunehmen. V.a. in 25,34 scheint verbal kein dankendes Element auf, es sei denn, Gott zeige angesichts der Bewährung der Menschen auf Erden dankbar sein „Gegengeschenk“: „Kommt her, ihr Gesegneten ...“ Damit ist hier der Segen Gottes gemeint, der die guten Menschen im Gericht belohnt. Dieses „gesegnet“ ist auch in 14,19; 15,36 und 26,26 f. erkennbar und scheint viel mehr eine aktive Handlung denn eine Emotion zu bezeichnen: Jesus segnet die Speisen, die er verteilt. Dennoch ist in diesen Stellen ein dankbares Element denkbar, und es muss einen Grund geben, warum Martin Luther beide Verben bewusst mit „danken“ übersetzte. Ohne hier eine genaue Begriffsanalyse vornehmen zu können, soll die Möglichkeit betont sein, dass die Emotion der Dankbarkeit hier eine essentielle Rolle spielt: Jesus ist dankbar für die Gaben Gottes und kann sie aufgrund dieser ehrvollen Respekterweisung wundersam vermehren. Auch hier bleibt damit die Emotion nicht folgenlos. Sie bewegt ihn – ganz wie im Falle des Mitleids – zur vollmächtigen Heilstat. Auch in 21,9 und 23,39 klingt dieses Element durchaus an, obgleich hier εὐλογέω gemeinhin mit „gelobt“ oder „gepriesen“ übersetzt wird. Dies unterstützt die Verbindung mit dem nebenstehenden „Hosianna“ in 21,9, das nicht nur einen hebräischen Flehruf („hilf doch!“) ausdrückt, sondern gleichzeitig den dankbaren „Jubelruf der Erretteten! Das ist weder eine Verwechslung noch ein Widerspruch […]: der zu GOTT flehende ist schon der Errettete […]. So ist der ‚Hilferuf‘ ein ‚Jubelruf‘ und kleidet sich die Gottesfreude in die Buchstaben des ‚Rufes aus der Tiefe‘.“98 Dies bestätigt der Gebrauch des Ausdrucks in alttestamentlichen Lobespsalmen (vgl. Ps 113–118). Daraus wiederum ergibt sich der 98

SCHMIDT, Dornbusch, 550.

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stets folgende Ruf „gepriesen“ oder „gelobt sei der Herr“ sowohl in den Psalmen als auch in Mt als dankbares Bekenntnis der Hilfe Gottes.99 In den Begriffen εὐλογέω und εὐχαριστέω, wie sie das Mt-Ev verwendet, ist durchaus das Element der Dankbarkeit erkennbar, obgleich zu betonen ist, dass die emotionale Komponente dieser Begriffe um einiges schwächer ausfällt als bei den übrigen hier erläuterten Termini (vgl. 25,34). Sie leiten daher bereits zu lediglich emotional konnotierten Begriffen über.100 Obgleich die Handlung klar im Vordergrund steht, schwingt in Jesu Danksagung für die Speisen, die er nachfolgend (vermehrend) austeilt (14,19; 15,36; 26,26 f.), sowie im Gotteslob der Menschen (21,9; 23,39) mit dankbarer Freude ein deutlich emotionales Element mit. Damit zeigen die Termini εὐλογέω und εὐχαριστέω umso eindrücklicher, wie eng Emotionen und Handeln verknüpft sind und dass beides bisweilen kaum zu trennen ist: Speisung, Segnung, aktives Gotteslob sind Handlungen zur Ehre Gottes, die unmittelbar aus Freude und Dankbarkeit erwachsen. 2.2.11 Zorn: θυµόω, ὀργίζω κτλ. Der Zorn entsteht aus der Intensivierung der Emotion des Ärgers und ist so interessant wie gewöhnlich: „Anger is often taken for granted as a universally understood emotion. Emotion theorists, both ancient and modern, frequently include anger in lists of ‚basic emotions‘, which implies that there is something about anger that is fundamental to human psychology and physiology.“101 Zorn resultiert auch im Mt-Ev, ganz nach aristotelischer Definition, daraus, persönlich geringgeschätzt zu werden (vgl. Aristot., rhet. II,1378a). In der Antike scheint sich der Zorn allein aus einer solchen Geringschätzung heraus zu entwickeln, während heute durchaus auch andere Ursachen des Zorns denkbar sind.102 So begegnet der Zorn nicht nur als „Wächter der Selbstachtung. Er kann auch zugunsten anderer ausgelöst werden. Als Reaktion auf Unrecht, bezieht er sich auf moralische Anliegen und wirkt dabei mit Empathie und Mitleid zusammen.“103 Dass sich Zorn auch positiv auswirken kann, bspw. auf sozialen Zusammenhalt und Gemeinschaftsstiftung104, wird bereits von Aristoteles gesehen, der die Emotion als grundsätzlich neutral einstuft und sie nur anhand des Umgangs mit ihr, d.h. ihrer Folgetaten, als positiv oder negativ bewertet.105 Gefährlich ist dabei insbesondere das vom

99

Vgl. ebd. S.o. Einleitung zu Kap. 4. 101 KNIGHT, Anger, 183. 102 Vgl. KONSTAN, Gefühle, 30–33. 103 KAZEN, Emotionen, 294. 104 Vgl. dazu KNIGHT, Anger. 105 Vgl. VON GEMÜNDEN, Umgang, 165. 100

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Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

Zorn ausgelöste Bedürfnis nach Vergeltung.106 Diese Handlungsmotivation zeigt sich auch im Mt-Ev an den Verwendungen in 2,16; 18,34 und 22,7: Überall folgt auf die Emotion des Zorns eine vernichtende Handlung. Obgleich dieses Befunds muss die mögliche positive Komponente des Zorns, im Sinne einer moralischen Entrüstung, die auch stellvertretend für andere Menschen empfunden werden kann, im Zusammenhang mit möglichen Rezeptionsemotionen bei der Textanalyse beachtet werden. Wie bei der Furcht wird im Mt-Ev auch beim Zorn zwischen menschlichem und göttlichem Subjekt unterschieden: Nur zweimal ergreift diese Emotion einen Menschen (2,16; 5,22), davon einmal durch das Verb θυµόω und einmal mit ὀργίζω wiedergegeben.107 In den übrigen drei Fällen ist es Gott, der erzürnt, und das Nomen ἡ ὀργή ist eine generell Gott vorbehaltene Emotion und insofern besonders zu klassifizieren.108 Hier ist zu beobachten, dass das Mt-Ev von einer strikten Entsprechung zwischen Erde und Himmel ausgeht (7,1 f.), die sich besonders an der Emotion des Zorns zeigt: Menschen, die Anstoß an Gott nehmen, sich über ihn bzw. seinen Sohn ärgern, werden den Zorn Gottes ernten (11,6). Dies deckt sich mit „eine[r] der gefährlichsten Eigenschaften von Zorn, dass er seinerseits Zorn hervorbringt und dass dieser Teufelskreis sehr schnell eskalieren kann.“109 Demgemäß ist die erste Phase einer Zornempfindung ethisch am problematischsten: In dieser so genannten Refraktärphase werden Situationen und Ereignisse ganz von der Erlebensqualität der Emotion geprägt wahrgenommen. Auf diese Weise vermag sich der Zorn noch zu potenzieren und zu entsprechend unüberlegten Handlungen, den so genannten „Kurzschlussreaktionen“, zu entwickeln. Die Wut (µανία) kommt dagegen im Mt-Ev nicht vor. Demgemäß ist von weiterer Unterscheidung im Sinne der modernen Differenzierung zwischen Wut als einer affektiven Erregung und dem Willen zum Gegenschlag einerseits und Zorn als einer mehr moralischen Entrüstung und Empörung andererseits nichts im Mt-Ev zu finden.110 Zöge man diese Unterscheidung heran, müssten θυµόω und ὀργίζω besser mit „wütend sein/werden“ übersetzt wer106

Dieser Wille zum Gegenschlag wird in manchen modernen Forschungen der Wut zugeschrieben, während der Zorn davon unterschieden wird (vgl. ULICH/MAYRING, Psychologie, 161). Hier wird diese Unterscheidung nicht übernommen (s.u. in diesem Abschnitt). 107 Eine genauere Untersuchung des Zornes und seiner Bewältigung in der Bergpredigt hat Petra von Gemünden an anderer Stelle vorgelegt (vgl. VON GEMÜNDEN, Umgang, 163– 189). 108 Zwar sind es in 18,34 und 22,7 jeweils die Herren in der Parabel, die zornig sind, doch kann in dieser Figur Gott gesehen werden und die Emotion somit ihm zugeschrieben werden. Dass Gott Emotionen haben kann, ist auf dem Hintergrund alttestamentlicher Traditionen nicht ungewöhnlich (s.o. Kap. 2.1.2.1). 109 EKMAN, Gefühle, 156. 110 Vgl. ULICH/MAYRING, Psychologie, 161.

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

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den. In dieser Arbeit soll die bisherige Übersetzung mit „Zorn“ jedoch beibehalten werden, da auch in der modernen Emotionsforschung Zorn nicht ausschließlich als moralische Entrüstung betrachtet wird.111 Der Zorn ist auf zweifache Weise für die Ethik hochgradig interessant: Erstens verbindet sich mit ihm die Handlungsmotivation zur Vergeltung. Zweitens ist er eine so genannte „Spiegel-Emotion“, welche dazu tendiert, im Gegenüber dasselbe Empfinden auszulösen und so eine Spirale des Zorns hervorzurufen. Diese beiden Eigenschaften werden auch im Zornkonzept des Mt-Ev sichtbar. Der menschliche Zorn ist insofern gänzlich verhängnisvoll, als er den göttlichen Zorn auslöst (vgl. 5,22). 2.2.12 Hass: µισέω Steigern sich Ärger oder Zorn noch weiter, ist Hass die Folge. Er ist im MtEv als eine rein menschliche Emotion anzusehen; nur Menschen sind Subjekte des µισεῖν. Der Hass ist mit gering schätzender Verachtung verbunden (6,24) und die Verwendung des Wortes in ihrem jeweiligen Kontext weist auf Ähnlichkeiten mit der Emotion des Ärgers hin (10,22; 24,9 f.). Doch intensiviert der Hass diese Emotionen. Er steht im direkten Gegensatz zur Liebe (5,43; 6,24; 24,9 f.) und ist damit ein langfristiger emotionaler Zustand im Sinne einer negativen Einstellung gegenüber dem Anderen. Ärger und Zorn dagegen sind stärker punktuelle, akute emotionale Ausbrüche mit spezifischerem Objektbezug. So kann man sich über ein bestimmtes Verhalten einer Person ärgern oder deswegen zornig werden, ohne diese sogleich zu hassen. Hass erscheint auch im Mt-Ev als eine viel umfassendere und endgültigere Emotion (vgl. 5,43; 6,24). Obgleich seiner starken Intensität, bleibt die ethische Relevanz des Hasses etwas blass. Auf die Nennung dieser Emotion folgen im Mt-Ev keine konkreten Taten. Doch implizieren Stellen wie 10,22 und 24,9 f., dass aus Hass Verfolgungen der Gläubigen entspringen und verbindet den Hass somit wiederum mit Ärger und Neid. Auch der Hass schätzt den Wert der eigenen Person höher als den der gehassten. Daraus können Handlungen resultieren, welche die Beziehung zu diesem Menschen vollends zerstören. Eine mögliche positive Einschätzung des Hasses, welche ihn als wirksames politisches Präventivmittel einschätzt – wie er bspw. in Rom zur Verhinderung einer weiteren Tyrannenherrschaft eingesetzt wurde112 – ist im Mt-Ev nicht erkennbar. Der Hass ist demnach ganz wie Ärger und Zorn eine ethisch problematische Emotion: Aus der maximalen Herabsetzung des Gegenübers kann der Wunsch erwachsen, diesem zu schaden, was wiederum zu zerstörerischen Handlungen führen kann (2,16; 5,22). 111 112

Vgl. EKMAN, Gefühle, 157. Vgl. dazu ECKERT, Sulla.

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Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

2.2.13 Neid: ἀγανακτέω, ὁ φθόνος Als Nächstes folgt der Emotionskomplex des Neids, zu welchem die Missgunst zählt. „Neidgefühle führen wegen des Glaubens, der Vorteil der beneideten Person sei unfair und unverdient, zu feindlichen Gefühlen im Neider […]. In neidischen Personen entstehen weiterhin Gefühle von Ungerechtigkeit […], weil sie meinen, diese unkontrollierbaren Benachteiligungen nicht verdient zu haben.“113

Diesen Schmerz angesichts des Erfolgs eines Anderen, der aber zur gleichen Gruppe wie man selbst gehört, bezeichnet schon Aristoteles als φθόνος.114 Während dieser Begriff klar als „Neid“ übersetzt werden kann, liegt das Verb ἀγανακτέω mehr am anderen Ende des Spektrums, mag besser mit „missgünstig werden“ wiedergegeben werden und hat stärkere Bezüge zum Ärger. In 26,8 scheint vielmehr „unwillig werden“ oder gar „aufgebracht sein“ gemeint zu sein, da die Jünger auf die Jesus salbende Frau schwerlich neidisch sind. Vielmehr stören sie sich an ihrer, in ihren Augen verschwenderischen Handlung. Während es an vielen Stellen die Herabsetzung oder Aufwertung verschiedener einzelner Personen ist, welche Neid oder Missgunst hervorruft (vgl. bspw. 20,24), ist es meist die Empörung über Jesu vollmächtiges Auftreten und Handeln, das Ärger und Missgunst provoziert (vgl. bspw. 27,18). Wichtig ist hierbei zu beachten, dass Neid im heutigen Diskurs nicht mehr rein negativ betrachtet wird, sondern auch auf die konstruktiven Effekte des Neids hingewiesen wird, der als Warnsignal für Ungerechtigkeit, zur Ehrgeizsteigerung oder Antrieb zum Wettbewerb führen könne.115 Von einer solch positiven Einstellung gegenüber der Neidemotion ist im Mt-Ev jedoch nichts zu spüren (vgl. 20,24; 21,15; 26,8). Er scheint vielmehr eng mit dem Ärger verbunden zu sein. Auch hier wird überhöhter Selbstbezug spürbar, der dem Nächsten kein höheres Ansehen gönnt. In diesem Sinne spielen Ärger und Neid die entscheidenden Rollen für Jesu Verhaftung und Kreuzigung (11,6; 13,57; 15,12; 27,18). Auch Missgunst und Neid sind demnach ethisch wichtige und zugleich problematische Emotionen. Wie der Ärger resultieren auch sie aus der Wahrnehmung, unverdientermaßen herabgesetzt zu werden (20,24; 21,15). Aus der Verletzung des überhöhten Selbstwertes können gefährliche Reaktionen entstehen (27,18).

113

HUPKA/OTTO, Neid, 274. Vgl. WITTCHOW, Neid, 223. 115 Vgl. ULICH/MAYRING, Psychologie, 168. 114

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

259

2.2.14 Hoffnung: θαρσέω, ἐλπίζω Obgleich Hoffnung als eine positiv erlebte Emotion gilt, ist sie in der Antike keineswegs durchweg positiv konnotiert: Hoffnung wird insofern als problematisch wahrgenommen, als sie trügerisch und fehlgeleitet sein und den Menschen in falscher Sicherheit wiegen kann.116 Die christliche Hoffnung, d.h. buchstäblich die Hoffnung der Menschen auf Jesus Christus, welche im Mt-Ev begegnet, ist dagegen rein positiv zu verstehen: Das Mt-Ev verwendet zwei Begriffe für die Emotion der Hoffnung (θαρσέω und ἐλπίζω). Ersterer begegnet in Jesu Aufforderung an Kranke, die er heilt (9,2.22) oder an seine Jünger, die er aus einer Notsituation errettet (14,27). In beiden Fällen ist die Zuversicht der Menschen in der Hoffnung und im Vertrauen auf Jesus begründet. Als ein solch hoffnungsvolles Vertrauen ist auch das ἐλπίζειν der Völker im LXX-Zitat von Jes 11,10 zu verstehen (12,21), dessen eschatologischer Bezug sowohl Jesus selbst als den göttlichen Heilsbringer (Jes 11,2), als auch die Zeit Jesu Auftretens in spezifischer Weise als die angebrochene Gerichts- und Heilszeit charakterisiert (Jes 11,4 f.). Damit wird die Zukunft in die Gegenwart und das Objekt der Hoffnung, die mehr oder weniger ferne Zukunft, in greifbare Reichweite gerückt. Das etwaige trügerische Element der Hoffnung wird dadurch aufgelöst und maximale Zuversicht ermöglicht: Jesus ist derjenige, auf den gewartet und gehofft wird; diese sich erfüllende Hoffnung ist Anlass zur Freude, die jede Sorge und Furcht fahren lässt. Doch ist die Hoffnung damit eine aktive Emotion? Vielmehr ähnelt sie der oben betrachteten Überraschung, die nicht selbst Taten auslöst, sondern mit anderen Emotionen verbunden ist, welche dann wiederum Handlungen auslösen können. In der Hoffnung liegt eine freudige Gelassenheit im Hinblick auf die ungewisse Zukunft, die der Furcht entgegensteht und somit ihr emotionales Pendant bildet (14,27). Dem verneinenden Imperativ µὴ φοβηθῇς/ φοβεῖσθε steht der bejahende Imperativ θάρσει (9,2.22)/θαρσεῖτε (14,27) entgegen. Die Furcht – wie oben gezeigt – hindert den Menschen meist am Handeln und lähmt jegliche Motivation und Aktivität. Kann die Hoffnung demnach als positive Entsprechung der Furcht betrachtet werden, welche die Handlungsmöglichkeit des Menschen (wieder-)herstellt? Anhand der nur vier Textstellen kann diese Vermutung nicht zweifelsfrei bestätigt werden. Es wird dort an den Menschen gehandelt, nicht sie selbst handeln. Doch die Hoffnung, von der hier die Rede ist, drückt schließlich den Glauben an Jesus als den Christus und seine Wundertaten aus. Dass dieser nötig ist, um geheilt zu werden, ist im Mt-Ev immer wieder klar ausgesagt (8,13; 9,22.29; 15,28; vgl. auch 25,26 f.). Daraus kann einerseits geschlossen werden, dass sich der Glaube nicht nur rational, sondern auch emotional durch Zuversicht und Hoffnung auszeichnet117 und andererseits, dass die Hoffnung – wie die Freu116 117

Vgl. GRESCHAT, Tod, 134 f. Vgl. KONRADT, Rede, 286.

260

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

de und die Liebe – eine aktive Emotion ist, zu welcher aufgefordert werden kann und welche im Angesicht irdischer Ängste und Sorgen geübt werden soll, indem sie den Blick auf Jesus Christus richtet (vgl. 6,25–34; 10,19–31; 14,26–30; 24,6). Da die Hoffnung häufig als eine für den Glauben besonders wichtige Emotion angesehen wird und gerade im eschatologischen Kontext von Bedeutung ist, muss hier noch eine wichtige Anmerkung gemacht werden: Vergleicht man nämlich die Freude mit der Hoffnung, ist festzustellen, dass Mt erstere (26x) knapp sieben Mal häufiger verwendet als die Hoffnung (4x). Im Vergleich zur Freude begegnet die Hoffnung geradezu untergeordnet und darüber hinaus nur ein einziges Mal eschatologisch (12,21: Zitat Jes 11,10).118 Dagegen begegnet die Freude des Öfteren in solchem Kontext (13,44; 24,46; 25,21.23). Dies legt den Schluss nahe, dass es Mt stark um das schon jetzt des Heils geht: Sein Anliegen ist es, nicht nur die Hoffnung auf die künftige Vollendung des Erlösungsgeschehen beim Gericht Gottes zu stärken – zu dieser Annahme könnten die vielfältigen Gerichtsparabeln durchaus verleiten –, sondern zu betonen, dass jetzt bereits Grund zur Freude besteht. Dass die Hoffnung im Mt-Ev somit keineswegs eine rein eschatologische Emotion darstellt, legt nahe, dass die Hoffnung konstituierender Teil des Glaubens ist, welcher die Gegenwart transformiert. Die Menschen dürfen und sollen zuversichtlich sein, denn Jesus ist da, um sie zu heilen und zu erlösen. Die Gewissheit ist ein zentraler Aspekt der Emotion. Diese tritt aber in der Freude weitaus stärker hervor, weswegen Mt sie m.E. häufiger verwendet. Wer glaubt, lebt nicht nur hoffnungsvoll, sondern bereits in freudiger Erwartung. Es lässt sich zusammenfassen, dass die Hoffnung stets mit dem Glauben an Jesus als den Christus verbunden ist. Sie ist die freudig-zuversichtliche Haltung dem eigenen, ungewissen Schicksal gegenüber, zu welcher die Gewissheit führt, dass Jesus der göttliche Heilsbringer und Retter der Menschheit ist (12,17–21). Die Hoffnung ist insofern eine aktive Emotion, als sie weitere positive Emotionen auslöst und durch ihre klare Gegenüberstellung zur lähmenden Furcht die Handlungsmöglichkeit des Menschen (wieder-)herstellen soll (14,27–30). 2.2.15 Sanftmut: πραΰς Die Sanftmut kommt nur drei Mal im Mt-Ev vor (5,5; 11,29; 21,5) und die genaue Wortbedeutung erschließt sich im jeweiligen Kontext nicht ohne Weiteres. Nimmt man Aristoteles’ Definition der Sanftmütigkeit als Instrument zur „Beilegung und Beruhigung des Zorns“ (Aristot., rhet. II,1380a) sowie den Brief des Ignatius an die Epheser, in welchem er sie dazu auffordert, 118

Und auch dieses Jes-Zitat steht hier im Kontext der Erzählungen von Jesu Heilungen, d.h. seinem gegenwärtigen, irdischen Wirken und betont somit das schon jetzt des Heils.

2. Evaluation der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz

261

gegenüber Zornesausbrüchen sanftmütig zu sein (IgnEph 10,2), wird die Sanftmut explizit dem Zorn gegenübergestellt. Somit darf sie mit Recht in die Reihe der Emotionen aufgenommen werden. Dabei scheint sie sich als Gegenteil des Zorns als einem starken, negativen emotionalen Ausbruch durch Ruhe, Milde und Freundlichkeit auszuzeichnen. Obgleich der Nähe zur Liebe, als einer ebenfalls positiven und wohlwollenden Einstellung gegenüber dem Nächsten, soll die Sanftmut jedoch getrennt aufgelistet werden. Denn während Liebe den Gegensatz des Hasses bildet, kann die Sanftmut als Gegensatz des Zornes gesehen werden. Sanftmut ist demnach die situativ-punktuelle und Liebe die langfristig- übergeordnete emotionale Haltung dem Nächsten gegenüber. Beide aber stehen in derselben aktiven imitatio dei-Linie: Wie Jesus liebt, soll der Mensch lieben (5,44 f.) und wie er sanftmütig ist, soll es auch der Mensch sein (11,29 f.). Ziel dieser Emotionen ist demnach stets die Beziehung zum Nächsten und zu Gott, welche durch Emotionen wie Hass und Zorn zerstört und durch Emotionen wie Liebe und Sanftmut gekittet werden können. Diese Emotion stellt insbesondere in 11,29 f. einen bedeutenden Aspekt dar: „The language of this invitation echoes the call of the traditionally personified figure of Wisdom, often virtually equated with the Torah (see, for example, Prov. 8; Sirach 24, especially vv. 19–23; Sirach 53:23–28; Baruch 3:9–4:4).“119 Statt beschwerend und belastend wirkt die toraauslegende Lehre Jesu demnach „mild“ und „leicht“, d.h. zum einen nicht zum Schaden des Menschen (vgl. die folgende Perikope über das Ährenraufen am Sabbat 12,1–14) und zum anderen relational kurativ (die Sanftmut spricht den Menschen von belastendem Ärger und Zorn frei; vgl. 11,6; 12,33–35). Gerade weil an dieser Stelle zunächst keine Emotion vermutet wird – denn wie kann ein Joch sanftmütig sein? –, wird die hohe ethische Relevanz der Emotion ersichtlich: Auch die Sanftmut wird nicht um ihrer selbst willen genannt, sondern zielt auf die rechte Gesetzespraxis und dadurch wiederum auf die recht gelebte Beziehung zum Nächsten und zu Gott. Für diese beziehungsherstellende Komponente Jesu Lehre spricht letztlich auch die dritte Belegstelle der Emotion (21,5), welche auf die Ankündigung des eschatologischen Friedenskönigs in Sach 9,9 f. verweist, der durch aktive Sanftmut den Frieden auf Erden und damit die Mensch-Mensch- und Mensch-Gott-Beziehung ultimativ wiederherstellen wird. Diese Aktivität sowie Heilsrelevanz nimmt wiederum Bezug auf die Erwähnung der Sanftmut in den Antithesen (5,5) und schließt damit den Kreis der Belegstellen dieser Emotion. Zusammenfassend lässt sich die Sanftmut in die unmittelbare Nähe der Liebe rücken, indem sie dem Zorn gegenübergestellt wird – wie zuvor die Liebe dem Hass. Ihr ebenfalls ähnlich ist der emotive Imperativ (11,29a), welcher nahelegt, dass auch die Sanftmut nicht ohne folgende Handlungen bleiben darf, sondern aktiv gelebt werden und so die zwischenmenschliche 119

HAYS, Vision, 100.

262

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

Beziehung sowie die zwischen Mensch und Gott positiv beeinflussen soll (5,5; 21,5 bzw. Sach 9,9). 2.2.16 Emotionslosigkeit: ἡ σκληροκαρδία Eine letzte Erwähnung soll noch der besondere Begriff der σκληροκαρδία finden, der im Mt-Ev einmal im Kontext des Verbots bzw. der Erlaubnis zur Ehescheidung genannt wird (19,8). Interessant ist dieser Begriff in Bezug auf die Emotionen, da er gerade ihren Mangel formuliert. Ein solches Fehlen der rechten Emotionen kann mitunter genauso spannend sein wie deren explizite Nennung; denn wird eine bestimmte Emotion erwartet, im Text aber nicht ersichtlich, kann dies zu Irritation beim Leser/Hörer führen und den Rezeptionsvorgang beeinflussen.120 Der Ausdruck der Herzenshärte gibt die Metapher des hebräischen „Vorhaut des Herzens“ wieder (Dtn 10,16; Jer 4,4): ‫ם‬/ ‫ת ְלבַ ְב ֶכ‬+ ‫עָ ְר ַל‬

Das Herz als Sitz der Kognition, Emotion und Motivation, das mit einer Vorhaut „verstockt“ ist, ist nicht in der Lage, angemessen zu denken, zu handeln und zu fühlen.121 In 19,8 kritisiert Jesus demnach, dass es dem Menschen ganzheitlich an der richtigen Einstellung fehle, um eine lebenslange Ehe zu führen, wozu freilich auch die emotionale Einstellung dem Ehepartner gegenüber gehört. Dass die Härte des Herzens von Jesus beklagt wird, zeigt noch einmal deutlich, dass auch und gerade Emotionen eine grundlegende Basis für das rechte Handeln darstellen. Dies wird umso klarer, besieht man sich den näheren Kontext von 19,8: Die Belehrung über die Ehescheidung steht zwischen der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven, der aufgrund mangelnder Barmherzigkeit bestraft wird, und der Belehrung des reichen Jünglings, dessen Hang an seinen irdischen Gütern größer ist als die Liebe zu Gott. Die Kritik Jesu an der Herzenshärte der Menschen zeigt noch einmal abschließend, dass Emotionen eine wichtige Bedeutung in der mt Ethik zukommt. Das rechte Führen einer Ehe ist dem Menschen dann verwehrt, wenn sein Herz verstockt ist, d.h. er über eine defizitäre emotionale Einstellung verfügt (19,8 f.). Hieran wird der positive Einfluss der Emotionen auf das Handeln unverkennbar deutlich.

120

Vgl. dazu die Arbeit von Katherine Hockey über die fehlende Emotion des Ärgers in 1 Petr (HOCKEY, Emotion). So hält sie abschließend fest, dass „even ‚missing‘ emotions should cause us to stop and ask, ,What’s going on here?‘, so that we might better understand the world of the text and its audience.“ (a.a.O., 352). 121 Vgl. WOLFF/JANOWSKI, Anthropologie, 80–96.

3. Resümee

263

3. Resümee 3. Resümee

Auf eine nochmalige Zusammenfassung der ethischen Relevanz der verschiedenen, gesondert erläuterten Emotionen kann an dieser Stelle verzichtet und dafür auf den jeweils letzten, kursiv gesetzten Absatz der Abschnitte 1 bis 16 in Kapitel 4.2.2 verwiesen werden. An dieser Stelle soll vielmehr eine Sammlung der sich aus diesen Untersuchungen ergebenden wichtigen Gesichtspunkte hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Emotionen und Handeln erfolgen. Erstens ist anhand des Textbefundes ersichtlich, dass das emotionale Beund Empfinden im Mt-Ev keine untergeordnete Komponente des Menschseins darstellt. Emotionen begegnen häufig und durchgehend, werden terminologisch sehr variabel ausgedrückt und treten an prominenten Stellen des Evangeliums gehäuft in Erscheinung (vgl. bspw. zu Beginn und am Ende des Evangeliums sowie in der Bergpredigt). Es kann also keineswegs von einem Emotionsverständnis ausgegangen werden, das Emotionen als per se problematische und zu unterdrückende, weil handlungspragmatisch fehlleitende Urteile, betrachtet. Im Vergleich zu anderen antiken Emotionsverständnissen lässt sich festhalten, dass von der aristotelischen Vorsicht oder der stoischen Ablehnung der Emotionen im Mt-Ev nichts zu spüren ist. Sie sollen nicht lediglich in Maßen empfunden oder gar völlig unterdrückt werden. Vielmehr sind sie hinsichtlich ihrer Folgehandlungen zu bewerten und zu meiden oder geradezu einzuüben. Emotionen begegnen im Mt-Ev als Grundkonstanten der Anthropologie: Sie machen den Menschen zum Menschen. Es besteht keine grundsätzliche Verknüpfung der Sündhaftigkeit des Menschen mit seinen Emotionen, die sowohl zu seinem Nutzen als auch seinem Schaden ausfallen können.122 Nicht zuletzt ist es die Selbstverständlichkeit, mit der das Mt-Ev von der Emotionalität Jesu berichtet, welche eine Verurteilung der Emotionen ausschließt (vgl. v.a. 26,37 f.). Diese wichtige Komponente des mt Menschenbildes arbeitet auch Eckart Reinmuth in seiner Anthropologie im Neuen Testament deutlich heraus:123 Barmherzigkeit, Demut und Liebe sind nicht nur wichtige Emotionen Jesu, sondern werden auch vom Menschen gefordert (vgl. 5,48). Die Liebe Gottes ist dabei stets die vorhergehende Tat und Gabe, aus der dem Menschen gelingende Lebensführung ermöglicht wird. Die Integrität des Menschseins ergibt sich sodann, wenn Gottes Liebe nicht nur zur Liebe des Menschen, sondern auch ganz selbstverständlich zu entsprechenden Handlungen führt. Emotionen sind demnach als wertgeschätzte Aspekte der 122 Vgl. HAYS, Vision, 110: „Matthew offers no hint that the propensity to sin is related to some deep flaw in the self or, as in Paul, to a state of bondage to powers beyond the control of the will.“ 123 Vgl. REINMUTH, Anthropologie, 47–71.

264

Kap. 4: Emotionen im Matthäus-Evangelium

mt Anthropologie zu beurteilen, aus denen sich wichtige Konsequenzen für das ethische Glaubensleben ergeben. Dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen Emotionen und Glaube ist das zweite Ergebnis der hier angestellten Betrachtungen. Glaube wird durch die Verbindung zu den Emotionen der Freude, der Liebe, der Sanftmut und der Hoffnung emotional konstituiert. Damit ist er als ein nicht nur kognitives Geschehen zu betrachten, sondern betrifft den Menschen ganzheitlich, in seinem Denken, Fühlen und Handeln. Die Bedeutung der Emotionen zeigt sich besonders daran, dass Jesus die Emotionslosigkeit der Menschen kritisiert (19,8). Andere Emotionen hingegen, welche sich durch einen überzogenen Selbstbezug auszeichnen, zerstören nicht nur die Beziehung zum Nächsten, sondern auch die zu Gott und damit den Glauben (Zorn, Hass, Verachtung und Ärger, vgl. dabei v.a. die Bedeutungsnuancen von σκανδαλίζω). Daraus ergibt sich das dritte Ergebnis: Denn wie auch der Glaube schließlich zu guten Taten führen soll, lässt sich für das zugrundliegende Emotionsverständnis plausibel machen, dass gerade die mit dem Glauben verknüpften Emotionen rechte Taten auslösen. Im Mt-Ev wird ein direkter Einfluss der Emotionen auf das menschliche Handeln sichtbar. Die Textanalyse zeigt sogar, dass Emotionen ohne entsprechende Taten geradezu belanglos sind. Dennoch sind Emotionen auch im Mt-Ev höchst ambivalent: sie können das richtige Handeln motivieren (Freude, Mitleid, Liebe, Sanftmut, Hoffnung), können aber auch zu problematischem Handeln und sogar zur Trennung von Gott führen (Ärger, Neid, Zorn, Hass, Verachtung, Furcht). Das Mt-Ev vermittelt damit eine reflektierte Sensitivität bezüglich des Umgangs mit Emotionen, ohne sie als solche grundsätzlich zu loben oder zu verurteilen. Im Vergleich zu modernen Emotionsdefinitionen zeigt sich, dass das mt Emotionsverständnis über einen stärkeren Handlungsbezug verfügt. Es sei an dieser Stelle noch einmal auf die im ersten Kapitel dieser Arbeit angeführte Emotionsdefinition von Anne und Paul Kleinginna verwiesen.124 Während die heutige Emotionsforschung ganze vier Parameter von Emotionen unterscheidet, steht im Mt-Ev der motivationale Aspekt gegenüber den subjektivemotionalen, kognitiven oder physiologischen Komponenten einer Emotion im Vordergrund. Fazit: Den Emotionen im Mt-Ev kommt ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zu. Die Schilderung ihrer weitreichenden voluntativen und motivationalen Konsequenzen (vgl. 13,18–23; 18,27.34; 21,29; 25,25) spricht dafür, dass Mt sich der handlungsleitenden Komponente von Emotionen bewusst ist. Diese Feststellung in Verbindung mit dem Textbefund, dass Emotionen im Mt-Ev oftmals eingefordert werden (vgl. 5,12; 11,6; 18,10.35; 24,6), legen die Vermutung nahe, dass Mt auch eine gezielt emotive Gestaltung seiner Texte einsetzt, um bestimmte, die Textpragmatik unterstützende Emotionen 124

S.o. Kap. 1.3.

3. Resümee

265

bei seinen Rezipienten hervorzurufen. Dies legitimiert eine besondere Beachtung nicht nur der in seinen Texten explizit genannten, sondern auch der darin ausgelösten Emotionen und verspricht eine emotive Textanalyse im Hinblick auf die narrative Ethik seines Evangeliums als überaus lohnenswert.

Kapitel 5

Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln Unablässig, unaufhaltsam, allgewaltig naht die Zeit. (Adelbert von Chamisso) Dieses Kapitel wendet die erarbeitete Methodik konkret auf ausgewählte Parabeln des Mt-Ev an. Dazu wird zunächst erörtert, welche Texte ausgewählt werden und kurz wiederholt, welche Prämissen für das grundsätzliche Vorgehen der Analyse zentral sind. Sodann erfolgen die Analysen der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23–35), der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51) sowie der Parabel von den anvertrauten Geldern (Mt 25,14–30). Die Vorgehensweise orientiert sich dabei streng an den im dritten Kapitel erarbeiteten Methodenschritten: Nach einigen generellen Vorbemerkungen zum Text, welche eine kolometrisch vorstrukturierte Textdarstellung, eine eigene Übersetzung sowie Angaben bezüglich der Stellung im Gesamtkorpus, des inhaltlichen Kontextes, der Adressaten und der Struktur sowie die Nennung etwaiger Parallelstellen umfassen, erfolgt die Analyse der Emotionskonzeption, d.h. sowohl direkt als auch indirekt geschilderte Figurenemotionen werden eruiert. Daran schließt sich die Untersuchung der Rezeptionsemotionen anhand der vier Emotionsauslöser Figuren, Situationen/Geschehnisse, Raum und Zeit an. Die Erarbeitung der emotiven Textwirkungen steht fortwährend im Horizont der narrativen Ethik des Mt-Ev und der Frage, ob und inwiefern Emotionen dabei helfen, die Botschaft der Parabeln für den Rezipienten handlungspragmatisch wirksam(er) zu machen.

1. Die Auswahl der Texte 1. Die Auswahl der Texte

Bei der Auswahl der hier analysierten Texte lässt sich nach vier Aspekten fragen: Wieso wird gerade das Mt-Ev als Textgrundlage ausgewählt? Weshalb werden darin nur Parabeln untersucht? Welche Definition von „Parabel“ liegt dabei zugrunde? Und schließlich: Wie erklärt sich deren Auswahl? Die Konzentration dieser Arbeit auf das Mt-Ev könnte dazu verleiten, eine besondere Rolle der Emotionen bei Mt im Vergleich zu den anderen Synopti-

268

Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

kern oder Joh anzunehmen. Dies wurde bereits zurückgewiesen.1 M.E. ist es möglich und sinnvoll, jeden Erzähltext auf seine emotive Wirkung hin zu prüfen und zu fragen, ob diese Seite des Rezeptionsvorgangs einen Mehrwert bei der Vermittlung der (ethischen) Botschaft der Erzählung zu erzielen vermag. Gerade in Texten, in denen Emotionen bisher als nicht sonderlich hervortretend beurteilt wurden, ist eine solche Untersuchung spannend. Während der theologische Forschungsdiskurs auf Emotionen bei Mk und Lk bereits häufig verwiesen hat2, soll hier nun Mt in den Vordergrund der Betrachtung rücken. Da die zweite Frage bereits ausführlich beantwortet wurde, genügt an dieser Stelle eine knappe Zusammenfassung:3 Parabeln sind eine besondere Redeweise Jesu. Dass er häufig mit Erzählungen auf Fragen seiner Jünger oder Gegner antwortet, ist ein zentrales Merkmal seiner Lehre. Hier stellt sich die Frage, warum er mehr Zeit und Aufwand als nötig darauf verwendet, eine umständliche, metaphorisch verschlüsselte Geschichte zu erzählen, die danach gedeutet werden muss, statt kurz und prägnant zu antworten. Darüber hinaus kommt es vor, dass er seinen Reden parabolische Erzählungen anhängt, welche das bereits Gesagte narrativ veranschaulichen (vgl. 7,24–27; 18,12–14.23–35; 20,1–16; 24,43–25,46). Daher muss nach dem Mehrwert dieser parabolischen Zusätze gefragt werden. Wie gezeigt, vermögen es Narrationen häufig, ihre Moral von der Geschichte zu vermitteln, ohne diese explizit zu formulieren, und es wurde bereits dargelegt, inwiefern dabei Emotionen eine wichtige Rolle spielen: „Als eine Form narrativer Argumentation sprechen die Parabeln Jesu ja nicht nur eine intellektuelle Verstehensebene an, sondern auch eine emotionale“4. Emotionen vermögen, das Handeln in besonderem Maße zu beeinflussen. Narrationen dienen hierbei als fiktionale Nachbildungen bestimmter Situationen und Ereignisse, die trotz ihrer Fiktionalität als wahr aufgefasst werden können und den Rezipienten so in ihr Geschehen hineinnehmen. Sie können wie reale Situationen wirken, wobei der Rezipient entscheidet, wieviel Distanz er zum Geschehen und zu den Figuren hält: Er kann die Perspektive einer Figur übernehmen und mit ihr fühlen oder aber das Geschehen wie ein unbeteiligter Beobachter von außen betrachten. Welche Position der Rezipient hierbei einnimmt, hängt, wie im dritten Kapitel gezeigt, in hohem Maße von seinem empathischen Urteil über eine Figur und seiner sympathetischen Haltung ihr gegenüber ab. Die emotionale Reaktion des Rezipienten auf eine Erzählung bestimmt wiederum maßgeblich, ob diese eine langfristige Wirkung auf ihn hat, d.h. ob sie ihn noch nach dem Hören/Lesen weiter beschäftigt, er sich noch lange an sie erinnern wird, sie 1

S.o. Kap. 2.4.5, Anm. 502. S.o. Kap. 1.1.2. 3 S.o. Kap. 2.4.4. 4 BINDEMANN, Herr, 139. 2

1. Die Auswahl der Texte

269

ihn prägt, er ihre Botschaft verinnerlicht und auf sich selbst anwendet – oder nicht. Je stärker hierbei die Emotionen, welche die Erzählung auslöst, desto wahrscheinlicher ist ihre langfristige Wirkung. Die metaphorische Charakterisitik der Parabeln Jesu, die auf einen Transfer der Erzählung auf das Leben des Rezipienten zielt, ist dabei eine besonders effektive Weise, um diesen pragmatischen Rezeptionsvorgang zu unterstützen. Diese Studie fokussiert sich daher auf die Analyse von Parabeln als einer besonderen Redeweise Jesu und fragt, ob bzw. wie diese gerade durch den emotiven Rezeptionsvorgang ihre Wirkung erzielt. Die dritte Frage, die sich hier direkt anschließt, ist die nach der Gattungsdefinition: Welche Texte werden genau darunter gefasst, wenn im Folgenden von „Parabeln“ im Mt-Ev die Rede ist? Ergebnis einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Textform der παραβολή sind zahlreiche Begriffsbestimmungen, Klassifizierungen und Präzisierungen, welche von den Arbeiten Rudolf Bultmanns und Martin Dibeliusʼ bis heute keinen in sämtlichen Forscherkreisen konsensfähigen Ertrag erbracht hat. Im Folgenden wird die Parabel-Definition aus dem von Ruben Zimmermann herausgegebenen Kompendium der Gleichnisse Jesu zugrunde gelegt: „Eine Parabel ist ein kurzer narrativer (1), fiktionaler (2) Text, der in der erzählten Welt auf die bekannte Realität (3) bezogen ist, aber durch implizite oder explizite Transfersignale zu erkennen gibt, dass die Bedeutung des Erzählten vom Wortlaut des Textes zu unterscheiden ist (4). In seiner Appellstruktur (5) fordert er einen Leser bzw. eine Leserin auf, einen metaphorischen Bedeutungstransfer zu vollziehen, der durch Ko- und Kontextinformationen (6) gelenkt wird.“5

Das erste Merkmal der „Narrativität“ versteht sich dabei nicht im Sinne der klassischen Erzähltheorie, welche Texte als „narrativ“ bezeichnet, sobald sie über einen Erzähler als vermittelnde Instanz des Erzählten verfügen. Vielmehr wird hier auf das strukturalistische Verständnis des Begriffs abgezielt, das Texte als „narrativ“ bezeichnet, sobald diese eine temporale Struktur aufweisen und die Veränderung eines Zustands darstellen.6 Daher kommt es, dass auch Texte wie bspw. Mt 5,13; 6,22; 7,6; 15,26 f.; 24,28.43 als Kurzparabeln definiert werden, die Rudolf Bultmann seiner Zeit als bloße „Bildworte“ bezeichnet hatte.7 Zweitens sind Parabeln nach der antiken Rhetorik eine Untergattung der παραδείγµατα (Beispielgeschichten), die im engeren Sinne faktuale Texte sind, d.h. sich auf Ereignisse beziehen, die sich historisch ereignet haben; im Gegensatz dazu ist die παραβολή fiktional, d.h. sie schildert erfundene Geschehnisse.8 Dennoch sind sie nicht vollkommen phantastisch, sondern beziehen sich drittens auf die Realität der Rezipienten und sind 5

ZIMMERMANN, Kompendium, 25. Vgl. SCHMID, Elemente, 1–3 und ZIMMERMANN, Kompendium, 26. 7 Vgl. dazu ders., Parables, 164–166. 8 Vgl. ders., Kompendium, 26. 6

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

damit als „realistisch“ gekennzeichnet.9 Das vierte Merkmal ist die „Metaphorizität“, welche der parabolischen Erzählung eine zweite Sinnebene zuschreibt, auf welche das vordergründig geschilderte Geschehen übertragen werden muss; dieser interpretatorische Vorgang wird durch Transfersignale deutlich und beschränkt sich – im Gegensatz zum alltäglichen Verständnis des Metaphern-Begriffs – nicht auf einzelne Wörter, sondern betrifft den Text als Ganzes.10 Daraus folgt unmittelbar das fünfte Merkmal, denn durch ihren metaphorischen Charakter drängen Parabeln auf eine Deutung und fordern insofern eine sinnkonstituierende, „deutungsaktive“ Tätigkeit des Rezipienten, an den sie sich „appellativ“ richten.11 Sechstens sind Parabeln durch ihren jeweiligen Erzählzusammenhang konstituiert, d.h. sie erschließen sich in Bezug auf die jeweilige Gesamtschrift, in der sie sich an einer bestimmten Stelle verorten („Kontext“), als auch in Bezug auf die übergeordnete Kommunikationssituation der Erzählung („Ko-Text“).12 Diese Parameter einer Parabel eröffnen verschiedene, erforderliche Analyseperspektiven: Eine narrative Analyse erschließt die sprachliche Gestalt und literarische Form des Textes; eine sozialgeschichtliche Analyse erarbeitet das nötige Vorwissen für ein Verständnis des bildspendenden Bereichs; eine traditionsgeschichtliche Analyse schließlich entschlüsselt die besondere metaphorisch-symbolische Tradition des verwendeten Bildfeldes.13 Auf diese Weise erfolgt eine hermeneutische Analyse, welche Sinnangebote bzw. Deutungshorizonte des Textes erarbeitet.14 Die Stärke dieser Definition liegt m.E. darin, dass keine weiteren gattungsinternen Unterscheidungen vorgenommen werden und die Gattung als eine so grundsätzlich offene definiert wird, wie sie in den frühchristlichen Texten begegnet. Die daraus resultierenden Auslegungsschritte gewährleisten, dieser Offenheit angemessen Rechnung zu tragen und die Vieldeutigkeit der Parabeln ernst zu nehmen. Gerade für eine Analyse möglicher Rezeptionsemotionen muss das umfassende hermeneutische Spektrum einer Geschichte berücksichtigt sowie betont werden, dass – auch mittels einer noch so methodisch exakten und konkreten Analyse – nur Sinnangebote gemacht werden können. Schließlich sei die Auswahl der drei hier analysierten Parabeln begründet. Erneut ist zu betonen, dass die erarbeitete Methode zur emotiven Textanalyse für die Analyse eines jeden Erzähltextes gewinnbringend ist. Daher könnten, da es sich der Gattung gemäß um eine Erzählung handelt, grundsätzlich das gesamte Mt-Ev sowie als Erzählungen zweiter Ordnung sämtliche Parabeln darin untersucht werden. Da ein solches Unterfangen im Umfang dieser Stu9

Vgl. a.a.O., 27. Vgl. ebd. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. a.a.O., 28. 13 Vgl. a.a.O., 34–41. 14 Vgl. a.a.O., 41–43. 10

1. Die Auswahl der Texte

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die nicht zu leisten ist, muss eine sinnvolle Auswahl getroffen werden. Zunächst haben die hier betrachteten Parabeln gemeinsam, dass es sich erstens um Erzählungen handelt, in deren Zentrum die Beziehung zwischen einem oder mehreren Sklaven und seinem bzw. ihrem Herrn steht. Diese Thematik ist für die Untersuchung von Emotionen insofern besonders interessant, als Menschen mit Gedanken und Emotionen, mit Problemen, Beziehungen, und notwendigen Handlungsentscheidungen auftreten. Solche Parabeln hingegen, die sich mit Gegenständen oder der Natur befassen (bspw. die Parabel vom Sauerteig, vom Senfkorn, vom Fischernetz oder die Aussaatgleichnisse) versprechen hierbei keine gleichermaßen ertragreiche Analyse. Alle drei genannten Texte enthalten mehrere Figuren, die in einer besonderen Konstellation zueinander stehen. Dies ist keine banale Beobachtung, wenn man bedenkt, dass im Mt-Ev auch Parabeln begegnen, die keine oder nur eine menschliche Figur beinhalten (bspw. 13,1–9.31–33.44–48). Um die im dritten Kapitel erarbeitete Methode allerdings ausgiebig anzuwenden, sind solche Texte vorteilhaft, in denen spannende Figuren/-konstellationen auftreten, die in besonderem Maße emotionalisierende Elemente einer Erzählung erwarten lassen. Freilich böten sich auch andere mt Parabeln mit interessanten Figurengruppen an, wie bspw. die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (20,1–16), von den ungleichen Söhnen (21,28–32), von den Weingärtnern (21,33–46), vom Hochzeitsmahl (22,1–14) oder die Parabel von den zehn Jungfrauen (25,1–13). Doch weisen diese nur wenige explizite Emotionen auf, was den deskriptiven Rezeptionsvorgang und ein exemplarisches Aufzeigen dieses Analyseschrittes erheblich beschränken würde. Des Weiteren ist den drei ausgewählten Parabeln eine jeweils sehr gewalttätige Schlussszene gemeinsam: Alle drei Sklaven sind „subject[s] to corporal punishment. The master of the unmerciful slave hands him over to torturers, the wicked overseer is cut in half, and the slave entrusted with a single talent is expelled into the outer darkness“15. Es fällt auf, dass Mt im Vergleich zu seinen potentiellen Vorlagen Mk und Q die gewalttätigen Schlüsse der jesuanischen Parabeln gern intensiviert.16 „The violence in the eschatological parables underscores the seriousness of the choice to follow Jesus’ teaching and example.“17 Das Bild der Herr-Sklaven-Beziehung passt zu der von Jesus im Mt-Ev immerfort geforderten Erniedrigung der eigenen Person, nicht nur in Bezug auf Gott, sondern auch den Nächsten (vgl. 7,3–5; 18,4; 20,26–28). Wer sich selbst zu wichtig nimmt, zerstört allzu leicht die Beziehung zu seinen Mitmenschen und damit auch die zu Gott. Im Gegensatz dazu zeigt gerade Jesu Selbsterniedrigung am Kreuz, wie die Fügung unter Gottes Willen

15

GLANCY, Slaves, 72. Vgl. REID, Endings, 249 f. 17 A.a.O., 255. 16

272

Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

diese Beziehung wiederherstellen kann.18 Selbst wenn es für heutige Hörer seltsam klingen mag, das Verhältnis zwischen Menschen oder das zwischen Mensch und Gott als das zwischen einem Sklaven und dessen Besitzer zu veranschaulichen, ist es aus antiker Perspektive nichts Ungewöhnliches und im Hinblick auf das loyale und kluge Agieren für den Herrn ein durchaus positiv konnotiertes Element.19 Dass dabei die Furcht vor körperlichen Strafen die stärkste Motivation für solch ein Handeln darstellt, ist zwar anzunehmen und kann aus heutiger Sicht problematisiert werden.20 Doch muss diese Form der Ethikvermittlung zunächst ohne Wertung zur Kenntnis genommen und untersucht werden, um den Text gänzlich wahr- und ernst zu nehmen. Eine genauere Untersuchung der narrativen Ethik des Mt-Ev wird im sechsten Kapitel erfolgen. An dieser Stelle eignet sich dieser Befund besonders, um mögliche Rezeptionsemotionen zu untersuchen, da gewalttätige Szenen stark emotionalisieren können, und zudem auf verschiedene Weise: Ein Gewaltakt kann je nach empathischer Bewertung der Figur und der daraus resultierenden Perspektive, aus der die Figur beobachtet wird, sowohl Furcht und Verzweiflung als auch Entrüstung und Zorn auslösen, genauso aber auch Genugtuung und Schadenfreude. An den genannten Emotionen wird bereits deutlich, dass gerade Szenen der Gewalt ein starkes moralisches Element enthalten können und von daher für die Untersuchung der narrativen Ethik bedeutsam sind.21 Ebenfalls gemeinsam sind allen drei Parabeln derselbe Adressatenkreis (Jünger) und derselbe Kontext: In Mt 18 belehrt Jesus seine Jünger hinsichtlich des Gemeindelebens; Mt 24–25 liegt derselbe Adressatenkreis der Endzeitrede zugrunde, in der Jesus seine Jünger über das Ende der Zeit aufklärt. Trotzdem handelt es sich insofern um verschiedene Stellen im Evangelium, als die Belehrung der Gemeinde auf das aktuelle Miteinander und stärker auf die Ebene der mitmenschlichen Beziehungen zielt, während der eschatologische Ausblick in Mt 24–25 einen klaren Zukunftsbezug aufweist und die Mensch-Gott-Beziehung thematisiert. Durch den ethischen Appell der Parabeln zielt jede davon auf die gegenwärtige Situation der Leser und Hörer; durch den Ausblick auf das Gericht Gottes am Ende der Parabeln richtet sich aber auch jede auf die Dimension der Zukunft. Gerade dieser temporale Ausblick scheint die ethische Botschaft verstärken und ein gegenwärtiges Han18 Vgl. Jennifer Glancy, die am Schluss ihrer Ausführungen zu Sklaverei in den mt Parabeln einen Ausblick auf diesen Gedanken gibt: „A final, counter-line of inquiry into the Matthean ideology of slavery would ask whether the crucifixion of Jesus prompts us to reconsider our interpretations of the slaves whose representations prefigure the Gospel’s climatic scenes of torture.“ (GLANCY, Slaves, 90). 19 Vgl. a.a.O., 79. 20 Vgl. a.a.O., 81. „By concluding with examples of wicked slaves enduring corporal punishment, the parables allude to what is probably the strongest incentive slaves had for loyalty to their owners, that is, the fear of disciplinary retribution.“ (a.a.O., 77). 21 Vgl. Näheres zu Gewalt in Erzähltexten RÖTTGERS, Erfahrung.

2. Vorgehen

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deln motivieren zu wollen. Darüber hinaus werden stets zwei Orte einander gegenübergestellt, indem auf der einen Seite das Haus des Herrn und auf der anderen das Gefängnis (18,34) oder aber das bloße „Draußen“ (24,51; 25,30) begegnen. Letztere werden als Orte der Verstoßenen und Heuchler durch Finsternis und Leid besonders emotionalisierend qualifiziert. Somit versprechen diese Parabeln auch im Hinblick auf die Raum- und Zeitdimension spannende Erkenntnisse. Die folgende textexemplarische Detailanalyse und ihre Untersuchungsergebnisse werden sich später überprüfen lassen müssen, indem das Gesamtevangelium in den Blick genommen wird (Kapitel 6).

2. Vorgehen 2. Vorgehen

Da die exakte methodische Vorgehensweise bereits ausführlich erläutert wurde (Kapitel 3), genügt an dieser Stelle eine Zusammenfassung der wichtigsten Stichpunkte. Die hier erarbeitete „emotive Textanalyse“ versteht sich als ein weiterer Fragehorizont der biblischen Erzähltextauslegung, welcher in die historischkritische Methode integriert wird. Der Textzugang ist ein vorwiegend narratologischer und damit zuallererst dem Methodenschritt der Textanalyse zugehörig. Doch kann die emotive Leserlenkung auch durch weitere, spezifisch historisch-kritische Methoden beurteilt werden: So können textkritische, begriffs-, motiv- und religionsgeschichtliche Erwägungen vonnöten sein, um das emotionalisierende Potential bestimmter Textelemente beurteilen zu können. Literar- und Überlieferungskritik sind dagegen weniger von Interesse. Redaktionsgeschichtliche Erkenntnisse können hinzugezogen werden, um ein etwaiges, besonderes Profil des Evangelisten Mt gegenüber den anderen Synoptikern zutage zu fördern. Zugrunde liegt dieser Arbeit die Annahme der Zwei-Quellen-Theorie mit Mk-Priorität.22 Aussagen über literarische Abhängigkeiten und Entwicklungsstufen stehen dagegen nicht im Interesse der folgenden Analysen. Voraussetzung ist der Text in seiner heute vorliegenden Form. Ziel dieser synchronen Textbetrachtung ist die Herausarbeitung emotiver Leserlenkung. Diachrone Fragestellungen sind für dieses Anliegen nicht zielführend. Eine Unterscheidung der Begriffe „Matthäus“, „Evangelist“, „Autor“ und „Redaktor“ erfolgt aus diesen Gründen nicht.23

22

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen, muss die Verortung dieser Arbeit innerhalb der synoptischen Quellenforschung vorausgeschickt werden, ohne detaillierter diskutiert werden zu können. 23 Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass die vorliegende Arbeit bei diesen Begriffen stets vom impliziten Autor ausgeht (s.o. Kap. 3.2.1.1).

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

3. Erinnernde Dankbarkeit: Die Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,23–35) 3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

Dankbarkeit ist das Gedächtnis des Herzens. (Jean-Baptiste Massilon) 3.1 Vorbemerkungen 23

∆ιὰ τοῦτο ὡµοιώθη ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν ἀνθρώπῳ βασιλεῖ, ὃς ἠθέλησεν συνᾶραι λόγον µετὰ τῶν δούλων αὐτοῦ. 24 ἀρξαµένου δὲ αὐτοῦ συναίρειν προσηνέχθη αὐτῷ εἷς ὀφειλέτης µυρίων ταλάντων. 25 µὴ ἔχοντος δὲ αὐτοῦ ἀποδοῦναι ἐκέλευσεν αὐτὸν ὁ κύριος πραθῆναι καὶ τὴν γυναῖκα καὶ τὰ τέκνα καὶ πάντα ὅσα ἔχει, καὶ ἀποδοθῆναι. 26 πεσὼν οὖν ὁ δοῦλος προσεκύνει αὐτῷ λέγων· µακροθύµησον ἐπ’ ἐµοί, καὶ πάντα ἀποδώσω σοι. 27 Σπλαγχνισθεὶς δὲ ὁ κύριος τοῦ δούλου ἐκείνου ἀπέλυσεν αὐτὸν καὶ τὸ δάνειον ἀφῆκεν αὐτῷ. 28

ἐξελθὼν δὲ ὁ δοῦλος ἐκεῖνος εὗρεν ἕνα τῶν συνδούλων αὐτοῦ, ὃς ὤφειλεν αὐτῷ ἑκατὸν δηνάρια, καὶ κρατήσας αὐτὸν ἔπνιγεν λέγων· ἀπόδος εἴ τι ὀφείλεις. 29 πεσὼν οὖν ὁ σύνδουλος αὐτοῦ παρεκάλει αὐτὸν λέγων· µακροθύµησον ἐπ’ ἐµοί, καὶ ἀποδώσω σοι. 30 ὁ δὲ οὐκ ἤθελεν ἀλλ’ ἀπελθὼν ἔβαλεν αὐτὸν εἰς φυλακὴν ἕως ἀποδῷ τὸ ὀφειλόµενον. 31 ἰδόντες οὖν οἱ σύνδουλοι αὐτοῦ τὰ γενόµενα ἐλυπήθησαν σφόδρα καὶ ἐλθόντες διεσάφησαν τῷ κυρίῳ ἑαυτῶν πάντα τὰ γενόµενα. 32

Τότε προσκαλεσάµενος αὐτὸν ὁ κύριος αὐτοῦ λέγει αὐτῷ· δοῦλε πονηρέ, πᾶσαν τὴν ὀφειλὴν ἐκείνην ἀφῆκά σοι, ἐπεὶ παρεκάλεσάς µε· 33 οὐκ ἔδει καὶ σὲ ἐλεῆσαι τὸν σύνδουλόν σου, ὡς κἀγὼ σὲ ἠλέησα; 34 καὶ ὀργισθεὶς ὁ κύριος αὐτοῦ παρέδωκεν αὐτὸν τοῖς βασανισταῖς ἕως οὗ ἀποδῷ πᾶν τὸ ὀφειλόµενον. [35 οὕτως καὶ ὁ πατήρ µου ὁ οὐράνιος ποιήσει ὑµῖν, ἐὰν µὴ ἀφῆτε ἕκαστος τῷ ἀδελφῷ αὐτοῦ ἀπὸ τῶν καρδιῶν ὑµῶν.] 23

Darum gleicht das Königreich der Himmel einem König, der mit seinen Sklaven abrechnen wollte. 24 Als er aber begann abzurechnen, wurde zu ihm einer vorgeführt, der zehntausend Talente schuldete. 25 Als der aber nicht zahlen konnte, befahl ihm der Herr, seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. 26 Da fiel der Sklave nieder, huldigte ihm kniefällig und sprach: „Hab Geduld mit mir und ich werde dir alles zurückzahlen.“ 27 Da wurde der Herr jenes Sklaven innerlich bewegt, gab ihn frei und erließ ihm die Darlehensschuld.

28

Als aber jener Sklave hinausging, traf er auf einen seiner Mitsklaven, der ihm 100 Denare schuldete, packte ihn, versuchte, ihn zu erwürgen, und sprach: „Bezahle alles, was du schuldig bist.“ 29 Da fiel sein Mitsklave nieder, bat ihn und sprach: „Hab Geduld mit mir und ich werde es dir zurückzahlen.“ 30 Der aber wollte nicht, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuldsumme zurückgezahlt habe.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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31

Als nun seine Mitsklaven sahen, was geschehen war, wurden sie sehr traurig, gingen hin und schilderten ihrem Herrn alles, was geschehen war.

32

Da ließ ihn sein Herr vorladen und spricht zu ihm: „Böser Sklave, all jene Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. 33 Hättest nicht auch du dich deines Mitsklaven erbarmen sollen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“ 34 Da wurde sein Herr zornig und übergab ihn den Foltersklaven, bis er alles zurückgezahlt habe, was er schuldete. [35 So wird auch mein himmlischer Vater an euch handeln, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder, von Herzen vergebt.]

Die Parabel vom unbarmherzigen Sklaven steht innerhalb des Mt-Ev im Kontext der Gemeinderede (Mt 18), beginnend mit einer Belehrung über die wahre Größe im Reich Gottes, welche mit der Parabel vom verlorenen Schaf (18,1–14) zur darauffolgenden Anweisung zum Umgang mit sündigenden Brüdern überleitet (18,15–20). Hieran schließt sich die Frage des Petrus, wie oft er seinem Nächsten vergeben solle (18,21–22). Jesus steigert die vorgeschlagenen Siebenmal in Siebenundsiebzigmal und erzählt daraufhin die hier zu untersuchende Parabel vom unbarmherzigen Sklaven. Inhaltlich ist die Vergebung zweifelsohne das zentrale Anliegen der Parabel, was sich am immer wiederkehrenden und zweifach variierten Wortfeld des „Los- und Erlassens“ zeigt (V. 27: ἀπολύω; V. 27; 32 und 35: ἀφίηµι). Trotzdem wird häufig darauf hingewiesen, dass die Parabel nicht gänzlich in den Kontext zu passen scheint, gehe es doch in der Narration nicht um die wiederholte, sondern um die Vergebung an sich.24 Wenn dem Autor jedoch nicht eine unüberlegte Zusammenstellung seines Materials unterstellt werden soll, ist es angebracht, zunächst einmal von einem tieferen Sinn der Einheit der Gemeinderede als solcher auszugehen und diesen zu prüfen. Inwiefern die Parabel als deren Abschluss passend ist, wird im Folgenden noch an gegebener Stelle diskutiert werden. Auch wenn mit 18,21 angenommen werden könnte, dass Jesus nur zu Petrus spricht, ist es wahrscheinlicher, die Jünger als durchgehenden Adressatenkreis anzunehmen (18,1). Dies bestätigt 18,35, in dem Jesus einen Plural anspricht („So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.“). Des Weiteren darf der Jüngerkreis sehr wahrscheinlich auf alle Gläubigen als angesprochene Adressaten des Mt-Ev gedeutet werden, nicht etwa nur auf die Gemeindevorsteher.25 Dafür spricht v.a. das allgemeine Thema der Gemeinderede, welche den Umgang der Gläubigen untereinander behandelt; es ist nicht plausibel zu machen, warum sich Bestimmungen des Gemeindelebens nur an deren Vorsteher richten sollte. 24 25

Vgl. KONRADT, Instruction, 409, Anm. 112; WEISER, Knechtsgleichnisse, 99. Vgl. KONRADT, Instruction, 383, Anm. 5.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Bei der Parabel handelt es sich um mt Sondergut; es liegen keine vergleichbaren Texte bei den beiden anderen Synoptikern vor. Wie aus der oben abgedruckten Textstrukturierung ersichtlich wird, lässt sich die Parabel in vier Abschnitte einteilen26 und spielt strukturell „mit Parallelität und Kontrast“27. Der erste Handlungsstrang schildert die Abrechnung eines Königs mit einem zehntausend Talente schuldenden Sklaven, welche mit einem vollständigen Erlass der Schuld endet (V. 23–27). Der zweite erzählt die Abrechnung des Sklaven mit einem vergleichsweise geringfügig verschuldeten Mitsklaven, dem jener jedoch keinen Erlass der Schuld gewährt (V. 28–30). Es folgt ein kleiner Zwischenabschnitt, der hier dennoch eigenständig betrachtet werden soll, wie in der detaillierten Analyse noch zu begründen sein wird; hier beobachten andere Mitsklaven das Verhalten des ersten Sklaven und gehen, um es dem König zu berichten (V. 31). Der letzte Abschnitt schließlich handelt von der Reaktion des Königs, die mit der Bestrafung des Sklaven endet (V. 32–34). V. 35 gehört nicht mehr strikt zur Parabel. Der Vers ist deutlich metanarrativ, indem der Erzähler Jesus die Erzählung auf alle Menschen anwendet und sie mit einer expliziten Deutung abschließt. Für die Analyse der Narration als solcher sollen daher in erster Linie V. 23–34 dienen, wobei V. 35 jedoch, genau wie der übrige Kontext der Gemeinderede, nicht aus dem Blick geraten wird. 3.2 Die Emotionskonzeption 3.2.1 Direkt Es werden drei Emotionen anhand vier verschiedener Termini im Text direkt genannt. Als Erstes empfindet der König mit seinem Sklaven Mitleid (V. 27: σπλαγχνισθείς). Diese Emotion tritt sogleich mit starker Intensität hervor, indem das Verb als partizipiale Konstruktion effektvoll am Anfang des Verses steht. Damit wird nicht nur das unwillkürliche, spontane Überkommen der Emotion veranschaulicht, sondern auch die Unerwartetheit derselben betont. Die undenkbare Höhe der Schuld des Sklaven – ob sie nun realistisch ist oder hyperbolische Stilistik darstellt, sei an dieser Stelle dahingestellt28 – als auch die Tatsache, dass der König gerade erst anfängt, die Schulden seiner Sklaven einzutreiben (V. 24: ἀρξαµένου δὲ αὐτοῦ συναίρειν), unterstreichen die Unglaublichkeit des Geschehens. Noch unmittelbar zuvor befiehlt der König 26 Entgegen der meisten Forschungsmeinungen, die von einem dreiteiligen Aufbau sprechen, vgl. bspw. ROOSE, Aufleben, 445 f. 27 A.a.O., 445. 28 Vgl. dazu a.a.O., 451. Von Wichtigkeit ist an dieser Stelle lediglich, dass die Schuldsumme so hoch ist, dass die Bitte des Sklaven um Aufschub „als eine illusionsbehaftete Ausflucht zu lesen [ist]. Der Knecht wird seine Schuld nie begleichen können.“ (KONRADT, Mitleid, 417).

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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dem Sklaven, all seine Habe zu verkaufen und sogar seine Familie in die Sklaverei zu verkaufen29, um für seine Schuld wenigstens symbolisch aufzukommen.30 Diese zwar nicht jüdische, in Israel jedoch durchaus bekannte Vorgehensweise in einem solchen Fall31 lässt das plötzliche Erbarmen des Königs besonders hervortreten und intensiviert die Emotion beträchtlich. Er empfindet trotz allem Mitleid mit dem Sklaven, lässt ihn frei (ἀπέλυσεν) und gibt ihm nicht nur mehr Zeit oder erlässt ihm einen Teil seiner Schuld – er erlässt ihm die gesamte Schuldsumme (ἀφῆκεν). Wie bereits bei einer ersten Betrachtung des Verbs σπλαγχνίζοµαι im Mt-Ev erkennbar wurde, ist diese Emotion charakteristisch für Jesus und direkt mit folgenden Heilshandlungen verbunden (vgl. 9,36; 14,14; 15,32, 20,34).32 Im Hintergrund klingen somit intratextuelle Bezüge zu Jesu Handeln an, den häufig dieselbe „innerliche Bewegung“ zu Heilungs- oder Speisungswundern motiviert (9,36; 14,14; 15,32; 20,34). Auch die Reaktion des Königs bedarf keiner weiteren Begründung: Er fühlt und handelt sogleich entsprechend. Es scheint geradezu ausgeschlossen, dass die Emotion ohne Handlungsfolgen bleibt. Durch diese sprachlichen Kniffe wird das Mitleid des Königs stark akzentuiert und die Emotion als tragende Rolle für den Verlauf der Parabel etabliert. Es lohnt sich noch ein genauerer Blick auf die Emotion des Königs: Interessant daran ist nämlich, dass sich durch die Emotion eine ganz bestimmte Perspektive, ein besonderer Blickwinkel des Königs zeigt: Er ist nicht etwa ganz und ausschließlich auf seinen Besitz und sein ihm zustehendes Recht fokussiert, sondern vielmehr auf den Menschen vor ihm. Die unermessliche Schuld des Sklaven könnte dieser ohnehin nicht erstatten. Doch intendiert der König genausowenig, an dem Sklaven ein Exempel zu statuieren, um wenigstens für seine übrigen Diener klarzustellen, dass er ein solch inkompetentes, unverantwortliches Handeln nicht folgenlos hinnimmt. Der König aber hat Erbarmen, weil es ihm offenkundig um die Person des Sklaven, also weder um Materialbesitz noch um Status geht. Er wird bewegt von der verzweifelten Situation des Sklaven, die sich in seiner flehentlichen, wenn auch inhaltlich völlig leeren Bitte widerspiegelt. Sähe er dagegen nicht den Menschen, sondern nur die materiellen Faktoren der Situation, würde ihn keine solche Emotion erfassen. Es ist also mitnichten so, wie Denis McBride behauptet: „We 29 An dieser Stelle empfiehlt sich die Übersetzung Sebastian Schneiders, der nicht annimmt, dass auch der Sklave selbst verkauft werden solle. Vielmehr sieht er in ἐκέλευσεν αὐτὸν ὁ κύριος πραθῆναι eine Infinitivkonstruktion mit Akkusativ der betreffenden Person und übersetzt dementsprechend: „da befahl ihm der Herr, sowohl Frau als auch Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen“ (vgl. SCHNEIDER, Barmherzigkeit, 165 f.). 30 Dass der Ertrag eines Sklavenverkaufs, der ungefähr 500 bis 2000 Denare betrug, die unheimliche Schuldsumme von zehntausend Talenten nicht gedeckt hätte, dürfte den damaligen Rezipienten vollkommen klar gewesen sein, vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 209. 31 Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 79. 32 S.o. Kap. 4.2.2.5.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

are given no reason for the king’s change of mind: we know only that on a whim he decides to be merciful, releasing the slave from the whole of the enormous debt.“33 Was Denis McBride als spontane „Laune“ bezeichnet, wird vom Text selbst als der ausschlaggebende Motivationsfaktor für das Handeln des Königs geschildert: seine Emotion des Mitleids.34 Hier ist der emotionale Rezeptionsvorgang erkennbar, wie er im dritten Kapitel beschrieben wurde: Der König vergibt die Schuld aufgrund seiner empathischen Perspektivübernahme, durch welche er sympathetisches Mitleid mit der verzweifelten Lage des Sklaven zu empfinden vermag.35 Pragmatisch wiederum resultieren diese Vorgänge in erbarmendem Handeln. Es verfehlte den Gehalt der Parabel, wollte man diesen wichtigen, emotionalen Faktor des Geschehens allzu schnell abtun bzw. übergehen. Findet sich hier nicht ein Argument dafür, dass Emotionen im Mt-Ev nicht nur als grundsätzlich handlungsleitend gelten können, sondern dies sogar sein sollen? Die Vergebung, auf welche die moralisch-ethische Pragmatik der Parabel zielt, wird maßgeblich durch Mitleid ausgelöst. Diese Emotion kann daher geradezu als „Emotion der Vergebung“ angesehen werden, was am emotionalen Rezeptionsvorgang aufgezeigt werden konnte: Die Anteilnahme am Leid eines Anderen wird erst durch die empathische Perspektive auf seine Situation eröffnet. Wenn bei diesem empathischen Abgleich des Verhaltens des Anderen mit dem möglichen eigenen Verhalten in ähnlicher Situation ein sympathisches Urteil gefällt wird, resultiert daraus pragmatisch eine Bereitwilligkeit zur Vergebung. Man entwickelt Verständnis für das Gegenüber, und aus dem Hineinversetzen und der Frage, was man selbst in dieser Situation tun und fühlen, befürchten oder erhoffen würde, kann der Wille entstehen, die Beziehung zu diesem Gegenüber wiederherzustellen. Emotionen wie Ärger, Verachtung und Zorn unterlaufen diese emotionale Anteilnahme und somit den gesamten Prozess des Verstehens und Vergebens. Sie sind die Folge eines empathisch-devianten Urteils, das zu einer gänzlich antipathischen Haltung gegenüber dem Andern führt und sich in entsprechenden, anderen Handlungen manifestiert. Daher werden sie in dieser Parabel problematisiert sowie das mitfühlende Verständnis für und das Zugehen auf den Anderen gefordert. Doch dazu später mehr. Hier ist indes zu betonen, wie ungewöhnlich eine solche empathische Anteilnahme des Königs an seinem Sklaven ist. Das massive Hierarchiegefälle lässt eine Übernahme der Perspektive des Schuldners durch den Höhergestellten keinswegs erwarten. Die empathische Regung des Mitleids im König charakterisiert ihn daher auf ganz besondere Weise als verständnisvoll, wohlwollend und großzügig. 33

MCBRIDE, Parables, 116. Vgl. KONRADT, Mitleid, 417. 35 Dies bestätigt nicht zuletzt V. 32, in dem der König sein Handeln mit der Bitte des Sklaven begründet (ἐπεὶ παρεκάλεσάς µε), was Denis McBride übersieht. 34

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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Dazu ganz gegensätzlich fällt der zweite Erzählabschnitt auf (V. 28–30), der gänzlich ohne explizite Emotionen auskommt. Nachdem der Sklave den Hof des Königs verlassen hat, begegnet er draußen einem Mitsklaven, der ihm hundert Denare schuldet – im Vergleich zu seiner eigenen Schuldsumme „geradezu eine Quantité négligeable“.36 Doch der Sklave verlangt von ihm unter Anwendung von Gewalt (V. 28: κρατήσας; ἔπνιγεν) die Rückzahlung der gesamten Summe und lässt ihn sogar in Schuldhaft nehmen, als dieser nicht zahlen kann. Dieses Ereignis charakterisiert den Sklaven anhand seiner auffälligen Kaltherzigkeit: Er ist zu dem ihm widerfahrenen Mitleid nicht fähig und legt eine gänzlich egoistische Haltung an den Tag. Erst in der dritten Szene begegnet wieder eine Emotion: die Traurigkeit der Mitsklaven. Die gewaltsame Forderung des Sklaven gegenüber seinem Schuldner beobachten nun andere Mitsklaven, werden bei diesem Anblick „sehr betrübt“ (V. 31: ἐλυπήθησαν σφόδρα) und berichten daraufhin dem König von diesem Geschehen. Dieser Vers muss m.E. als zentral angesehen werden. Denn der Erzähler hätte ihn um des stringenten Aufbaus der Parabel willen problemlos auslassen können, indem er offengelassen hätte, woher genau der König von diesem Vorfall erfuhr. Für die Kohärenz der Geschichte ist diese Information nicht von großer Notwendigkeit.37 Dennoch fügt er diesen Vers ein und unterbricht somit bewusst die dreiteilige, parallele Narrationsstruktur. Was macht diesen Vers somit so bedeutsam? Zunächst ist er insofern spannend, als die Emotion der Mitsklaven intuitiv nicht passend erscheint. Handelt jemand verwerflich, sind logische Folgeemotionen Ärger, Empörung oder Verachtung, vielleicht sogar Zorn. Durch ihre scheinbare Inkohärenz erhöht sich der Effekt der Unerwartetheit dieser Emotion. Sie steht in deutlichem Gegensatz sowohl zum Zorn des Königs, der folgt, als auch zu den wahrscheinlichen Rezeptionsemotionen beim Hören/Lesen der Parabel, weshalb sie, insgesamt beurteilt, keine sonderlich starke emotionale Reaktion im Rezipienten auslösen, durch ihren ungewöhnlichen Charakter aber bedeutsam und im Gedächtnis bleiben dürfte.38 Aufgrund der Inadäquatheit der Emotion wird das Verb λυπέοµαι, dem häufig der Nebensinn „verärgert werden“ zugeschrieben wird, auch hier gerne so gelesen.39 Es muss aber geprüft werden, ob sich diese mögliche Deutung auch 36

A.a.O., 418. Oder mit Alfons Weiser gesprochen: „Die Erklärung, woher der König das schändliche Verhalten des Freigesprochenen erfährt, ist für den Gang der Erzählung und den Skopus vollkommen belanglos. Es ist eher ein Zug, der die sonst in den Gleichnissen Jesu waltende Konzentration auf das Wesentliche stört.“ (WEISER, Knechtsgleichnisse, 85). 38 Vgl. MCBRIDE, Parables, 118. Näheres zu den Rezeptionsemotionen s.u. Kap. 5.3.3. 39 Vgl. BALZ, λύπη, ης, ἡ, 896 und BAUER, Wörterbuch, 977. Die Interpretation der Traurigkeit als Empörung überwiegt in den Kommentaren: vgl. BEARE, Gospel, 382; LUZ, Evangelium III, 72; SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium, 176; WEDER, Gleichnisse, 217. David Turner bezeichnet die Mitsklaven sogar als „horrified“ (TURNER, Matthew, 37

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

für das Mt-Ev bestätigt. Freilich würde diese Begriffsnuance die außergewöhnliche Auslegung von Denis McBride unterstützen, der davon ausgeht, dass die Parabel im Kontext von Mt 18,15–20 darauf hinweisen möchte, dass der hierarchische Weg der Vergeltung statt des friedlichen Gesprächs unter Gleichgestellten – wie in 18,15–17 gefordert – keinem der jeweiligen Parteien Gewinn bringt, sondern lediglich Eskalation von Gewalt provoziert.40 Dies ließe sich emotionspsychologisch anhand des Ärgers der Mitsklaven und des Zorns des Königs bestätigen: Denn Ärger löst wiederum Ärger aus und erzeugt so eine Spirale der Empörung, die großes Vergeltungs- und daher Eskalationspotential birgt. Doch spricht der Textbefund m.E. deutlich gegen dieses Verständnis von λυπέοµαι. An den Stellen, an denen Mt das Verb verwendet, klingt kein ärgerlicher Unterton an: König Herodes ist über die Bitte der Tochter der Herodias betrübt (14,9), die Jünger macht Jesu Ankündigung seines Leidens sowie des Verrates traurig (17,23; 16,22), der reiche Jüngling ist traurig darüber, dass er seinen Besitz nicht aufgeben kann (19,22), und zuletzt ist Jesus in Gethsemane tief betrübt über sein drohendes Schicksal (26,37 f.). Die Emotion des Ärgers in diese Stellen hineinzulesen ist zwar grundsätzlich möglich, doch ist nicht allzu plausibel zu machen, warum der Evangelist dann nicht Verben wie σκανδαλίζω – welches McBrides Auslegung in der Tat wahrscheinlich machen würde –, ἀγανακτέω, θυµόω oder ὀργίζω verwendet. Auch die Tradition scheint das Verb nicht umgedeutet zu haben, da es zu ἐλυπήθησαν keine abweichenden Lesarten gibt. Wie schon McBride selbst sagt, „it is grief not outrage that leads them not to confront their colleague about his behavior but to appeal directly to the king“41. Diese emotionale Reaktion der Mitsklaven ist daher zentral und könnte damit zusammenhängen, dass den Mitsklaven – wie bereits dem König – eine soziale Kompetenz innewohnt, über die der unbarmherzige Sklave nicht verfügt, nämlich Empathie: Traurigkeit als emotionale Reaktion auf das Geschehen ist nur dann einleuchtend, wenn die Mitsklaven die Situation aus der Perspektive ihres gequälten Kollegen statt des quälenden Sklaven betrachten.42 In diesem Fall spräche dieser Terminusgebrauch dafür, dass es in der Parabel nicht nur um das Ziel der Vergebung, sondern, bereits vorgeordnet, um ein angemessenes Betrachten des Leids anderer geht. Das Mitgefühl des Königs mit seinem 451). Ältere Auslegungen der Traurigkeit als Empörung bietet Alfons Weiser in seiner Arbeit; doch stellt er fest, dass der mt Text für diese Auslegung keinerlei Anhaltspunkte liefere (vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 84 f.). Ebenfalls vorsichtiger sind William Davies und Dale Allison, die lediglich die Frage stellen: „Does the expression here mean more than ‚be exceedingly grieved, pained’ and include feelings of anger?“ (DAVIES/ALLISON, Commentary II, 801 f.); Hubert Frankemölle spricht lediglich von „Missfallen“ aufseiten der Mitsklaven (FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 267). 40 Vgl. MCBRIDE, Parables, 118–120. 41 A.a.O., 118. 42 Vgl. ebd.

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Sklaven äußert sich in Mitleid und Erlass der Schulden. Er ist in der Machtposition, die ihn zu einem solchen Handeln berechtigt. Das Mitgefühl der anderen Sklavengruppe mit ihrem Kollegen äußert sich dagegen in Traurigkeit. Sie haben nicht die Macht, gegen das Handeln des unbarmherzigen Sklaven vorzugehen, handelt er doch nach seinem „guten Recht“. Beide Emotionen sind die unwillkürliche Reaktion auf das Leid eines Anderen, das sich selbst und die eigenen Interessen außer Acht lässt. Empfände der König Ärger oder Zorn, legte er den Fokus auf sich selbst, auf seinen materiellen Verlust sowie seine Ehre, die der Sklave mit seinem verantwortungslosen Handeln verletzte. Reagierten die Mitsklaven mit Ärger oder Empörung, legten sie den Fokus auf den Täter statt den Leidenden. Dies sind jedoch Perspektiven, welche die Parabel nicht zu unterstützen intendiert. Im Gegenteil: Das egoistische und daher für das Leid seines Gegenübers blinde Verhalten des unbarmherzigen Sklaven wird kritisiert. Die Traurigkeit der Mitsklaven mag auf diese Weise im ersten Moment für den Rezipienten seltsam anmuten, doch gerade hierdurch wird die Forderung der Parabel betont: Mitleid und Traurigkeit über das Leid anderer Menschen sind die gefragten Emotionen – nicht etwa Ärger oder Zorn, die wiederum nur Gewalt auslösen. Diese emotional-moralische Forderung sieht auch Matthias Konradt, der betont: „[I]hre Trauer [d.h. die der Mitsklaven] zeigt an, wie diese auf die Verweigerung von Vergebung in ihrer Mitte reagieren sollen, da damit das Gruppenethos verletzt wird.“43 Das heißt, die Schilderung der Mitsklaven ist geradezu entscheidend für das Verständnis der gesamten Parabel. Einerseits enthält ihre emotionale Reaktion auf das Handeln des unbarmherzigen Sklaven eine implizite Forderung, die bereits in V. 27 anklingt und sich in V. 33 bestätigt: Auf Fehlverhalten soll nicht ärgerlich oder zornig über den Akteur der Handlung, sondern mitfühlend mit dem Opfer der Handlung reagiert werden. Andererseits verweist Denis McBride zu Recht darauf, dass erst die Berichterstattung der Mitsklaven an den König dessen Zorn und die Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven auslöst und somit zu einer Gewalteskalation führt, von der keiner Gewinn davonträgt.44 Dieses Verhalten kann schwerlich von der Parabel gefordert werden, widerspräche dies doch ihrem Ziel der grenzenlosen Vergebungsbereitschaft (V. 35) sowie der Forderung von 18,15–17. Legt man demnach den Fokus auf das Handeln der Mitsklaven, wird durchaus verständlich, warum man in ihre Traurigkeit andere Emotionen hineinlesen möchte: Sie handeln so, als wären sie ärgerlich und empört. Doch ist gerade diese Diskrepanz zwischen (geforderter) Emotion und (problematischem) Handeln ausschlaggebend. Der abschließende V. 35 wendet den Blick auf das Verhalten der Mitsklaven noch einmal zurück und stellt klar, was passiert ist: War 43 44

KONRADT, Evangelium, 295 (Hervorhebung T.D.). Vgl. MCBRIDE, Parables, 118–120.

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es zuvor für den Rezipienten noch verständlich und hat er vielleicht sogar auf eine Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven gehofft, wird ihm jetzt bewusst, was hinter dem Handeln der Mitsklaven – und seiner eigenen Erwartung – steht, nämlich die unbarmherzige Verurteilung des Sklaven, d.h. der Gegensatz der Vergebung. Der Blick auf die Mitsklaven ist demnach ein ambivalenter: Zwar wird ihre Emotion als durchaus positiv hervorgehoben. Sie verfügen über die rechte Perspektive auf das Geschehen. Allerdings wird ihr Verhalten getadelt, hinter dem gerade die unversöhnliche Verurteilung des Sklaven steht, die von der Parabel kritisiert wird. Doch dazu Genaueres an späterer Stelle. Die dritte in der Parabel direkt erwähnte Emotion ist dieselbe wie zu Anfang der Parabel, das Mitleid. Doch wird hier in V. 33 der andere von Mt dafür verwendete Begriff verwendet: ἐλεέω. Diese Emotionsnennung unterscheidet sich von den übrigen der Parabel insofern, als sie nur zum Teil tatsächliche Figurenemotion ist. Als der König den Sklaven noch einmal zu sich ruft und auf sein vorheriges Verhalten gegenüber seinem Mitsklaven anspricht, fragt er ihn, ob angesichts des Erbarmens, das ihm zuteilgeworden ist, nicht auch er selbst hätte Erbarmen zeigen müssen (V. 33: οὐκ ἔδει καὶ σὲ ἐλεῆσαι τὸν σύνδουλόν σου, ὡς κἀγὼ σὲ ἠλέησα;). Die Emotion dient lediglich der Argumentation und steht als Forderung im Raum, die nicht erfüllt wurde. Verstärkt wird sie durch die zweimalige Nennung im selben Satz und durch intratextuelle Bezüge wie die Seligpreisungen (5,7) und die Barmherzigkeit, die Gott vom Menschen fordert (9,13; 12,7). Interessant ist aber v.a., dass hier nicht das Verb aus V. 27 wiederaufgenommen wird. Die Emotion des Königs wird mit σπλαγχνίζοµαι (V. 27), seine Aufforderung an den Sklaven hingegen mit ἐλεέω (V. 33) bezeichnet. Der Beobachtung, dass in V. 33 das „profane“ σπλαγχνίζοµαι durch die spezifisch biblische Emotion ἐλεέω, die auf das Erbarmen Gottes hinweise, ersetzt wurde45, ist m.E. nur bedingt zuzustimmen. In diesem Fall hätte Mt bereits in V. 27 das Verb ἐλεέω verwenden können, ist der König doch durch verschiedene Transfersignale auf Gott zu deuten.46 Darüber hinaus ist es überaus problematisch, eine Unterscheidung bezüglich „profaner“ und „göttlicher“ Emotion zu treffen: Σπλαγχνίζοµαι ist im Mt-Ev eine Jesus beschreibende Emotion, der sowohl menschliche als auch göttliche Züge trägt. Und ἐλεέω ist eine zwar zunächst einmal von Menschen erwartete Emotion (5,7; 9,13; 12,7; 23,23)47, doch in den Bitten an Jesus wird stets eine bestimmte Erwartungshaltung deutlich, die ihn für mehr als einen einfachen Menschen hält (20,30 f.: „Erbarme dich, Sohn Davids!“). Genauso wenig scheint Wolfgang Harnischs Deutung der Begriffsdifferenz, der sie mit dem 45

Vgl. LUZ, Evangelium III, 73. Näheres dazu s.u. Kap. 5.3.3.2 a). 47 Vgl. STAUDINGER, ἔλεος, ους, τό, 1048. 46

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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„Missverhältnis zwischen widerfahrener und verweigerter Barmherzigkeit“48 zu erklären sucht, den Kern der Sache zu treffen. Denn der König spielt in V. 33 gerade nicht auf die Verweigerung des Sklaven an, sondern auf seine Verpflichtung, sich ebenso barmherzig zu zeigen, wie es ihm widerfahren ist. Es handelt sich also um dieselbe Emotion, was der direkte Vergleich des Königs belegt (ὡς κἀγὼ σὲ ἠλέησα). Der Grund für den unterschiedlichen Terminusgebrauch ist hier vielmehr durch das im vorigen Kapitel bei der Betrachtung der Mitleid-Emotion bereits beobachtete Phänomen zu erklären, dass σπλαγχνίζοµαι einen stärkeren Akzent auf die Empfindung des Mitleids legt, wohingegen ἐλεέω Emotion und Tat zusammenfasst. Während in V. 27 Emotion und Handeln separat genannt werden (σπλαγχνισθεὶς […] ἀπέλυσεν), ist mit der Forderung des Königs, sich zu erbarmen, sowohl die mitfühlende Perspektive auf den Anderen als auch das daraus resultierende, erbarmende Handeln gemeint. Damit fasst der König sein vorangegangenes Verhalten gegenüber dem Sklaven prägnant zusammen. Dennoch ist die Begriffsentsprechung hier theologisch bedeutsam: Wie noch genauer zu zeigen sein wird, ist im König Gott zu erkennen und dem göttlichen Erbarmen sicherlich eine höhere Qualität zuzuschreiben als dem menschlichen. Schon die Frage des Petrus deutet an, dass der Mensch nur zu endlichem Erbarmen fähig ist (V. 21), während Gott unendliche Barmherzigkeit walten lassen kann (V. 27). Trotzdem soll der Mensch dieser Barmherzigkeit nacheifern, so gut er kann (V. 33 und 35). Diese Forderung einer imitatio dei wird in V. 33 überaus deutlich, obgleich fraglich bleibt, ob der Mensch jemals fähig sein wird, sich gänzlich an Gottes Größe zu orientieren. Doch – so die Botschaft der Parabel – muss er es zumindest versuchen. Die letzte explizite Emotion der Narration ist der Zorn des Königs (V. 34: ὀργισθείς). Hier sticht sofort die Parallelität zu V. 27 ins Auge, der ebenso mit einer partizipial ausgedrückten Gefühlsregung des Königs beginnt (σπλαγχνισθείς). Im Gegensatz zu V. 27 aber wird die Intensität der Emotion durch diese Satzstellung nicht erheblich erhöht, denn der aufmerksame Rezipient wird diese emotionale Reaktion bereits erwarten: Erstens ist sie im Erzählverlauf durchaus kohärent, zweitens spiegelt sie die möglichen Rezeptionsemotionen49, und drittens dürfte durch die zahlreichen Transfersignale der Bezug zum eschatologischen Zorn Gottes im Endgericht für die Rezipienten naheliegen.50 Die Satzstellung des Verbs betont die handlungsauslösende Komponente der Emotion: Nun überliefert der König den Sklaven den Folterknechten (V. 34: παρέδωκεν αὐτὸν τοῖς βασανισταῖς). Sein Zorn lässt keinen Platz mehr für sein vorheriges Mitleid und macht seine vorangegange48

HARNISCH, Gleichniserzählungen, 263. Näheres dazu s.u. Kap. 5.3.3.2. 50 Die verschiedenen Transfersignale werden im Abschnitt über die Rezeptionsemotionen sukzessive an den entsprechenden Stellen genannt. 49

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ne Gnadenhandlung rückgängig. Dies ist mit Sicherheit der problematischste Teil der Parabel. Häufig wird angefragt, wie dieses unbarmherzige Handeln des Königs auf Gott zu übertragen sei, der doch, ganz im Sinne von V. 27, unendlich gütig zu sein habe.51 Wie passe dieses Bild der zornigen Bestrafung zu Gottes Langmut und Erbarmen?52 Alttestamentlich ist diese Zuordnung jedoch nichts Ungewöhnliches (Ez 18,23.32; 33,11; Sir 28,1–7).53 Gottes Barmherzigkeit und Gottes Zorn sind wie zwei Seiten einer Medaille. Dieses ambivalente Gottesbild bringt die Parabel sehr anschaulich zum Ausdruck. Gottes Reaktion auf den Menschen hängt dabei stets an dessen Handeln; ein reziprokes Motiv, das bei Mt häufig begegnet (6,12.14; 7,1 f.; 18,18 f.; 23,35 f.; 25,31–46). Nach diesem Befund ist zunächst zu sagen, dass in dieser Parabel – im Vergleich zur sonstigen Verwendung von explizit genannten Emotionen im Mt-Ev – auffällig viele Emotionstermini vorkommen. Dies lässt darauf schließen, dass diese von besonderer Bedeutung für die Erzählung sind. Versuchte man die im Text auftauchenden Emotionen nach ihrer Intensität zu ordnen, sind die Emotionen des Königs am stärksten zu beurteilen. Das Mitleid gleich zu Anfang ist dabei die intensivste Emotion. Erstens wirkt der Primäreffekt verstärkend, zweitens ist sie in V. 27 höchst unerwartet, drittens wird keine weitere Begründung für das – rein emotionale – Handeln des Königs angeführt; und viertens prägt sie die Erwartungshaltung der Rezipienten in der zweiten Abrechnungsszene zwischen Sklave und Mitsklave und bleibt durch ihre nochmalige Erwähnung in V. 33 geradezu omnipräsent. Die Emotion des Mitleids durchzieht demnach die komplette Parabel: Sie hebt diese empathisch-emotionale Kompetenz des Königs stark hervor, wodurch sie bereits implizit eine Forderung an die Rezipienten vorbereitet, welche im weiteren Verlauf der Parabel expliziert wird (V. 33). Dabei ist die Variation des Begriffs (σπλαγχνίζοµαι/ἐλεέω) auf die unterschiedlich starke Betonung des Gefühls- (σπλαγχνίζοµαι) und Handlungsaspekts (ἐλεέω) zurückzuführen. Insbesondere das Emotion und Handeln verbindende ἐλεέω ist durch die zweimalige Nennung im selben Satz und die rhetorische Frage des Königs, welche eine klare Kritik am mangelnden nachahmenden Eifer des Sklaven erkennen lässt, stark intensiviert und bildet als imitatio deiForderung einen wichtigen emotionalen Höhepunkt der Parabel. Der Zorn des Königs am Schluss ist insofern weniger stark vermittelt, als die Rezipienten diesen erwarten dürften. Außerdem ist das Handeln des Königs hier nicht rein emotional begründbar, schließt sich der Zorn doch erst an die logischen Überlegungen von V. 33 an. Doch auch er ist durch die exponierte Satzstellung stark betont. Darüber hinaus wirkt hier der Rezenzeffekt 51

Vgl. bspw. SCHOTTROFF, Gleichnisse, 261–266. Vgl. ERLEMANN, Bild, 77. 53 Vgl. a.a.O., 90. 52

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verstärkend; als letzte Emotion der Erzählung bleibt sie dem Rezipienten am lebhaftesten in Erinnerung. Wichtig ist festzuhalten, dass der Zorn des Königs, wie die übrigen direkt geschilderten Emotionen in der Parabel, handlungsleitend ist und zur Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven führt. Es darf aber nicht vergessen werden, dass auch diese Emotion unmittelbar mit dem eingeforderten Mitleid des Sklaven in Verbindung steht, welches er zuvor verweigerte (V. 30). Der Zorn vermag die Barmherzigkeit also nur dann abzulösen, wenn diese nicht erwidert wird. Die Traurigkeit der Mitsklaven ist sicherlich die am schwächsten vermittelte Emotion in der Parabel, weil sie nicht sonderlich kohärent erscheint. Dadurch wird sie jedoch umso interessanter: Müssten die Mitsklaven nicht ärgerlich werden, sich empören, den Kollegen für seine Unbarmherzigkeit verachten, vielleicht sogar moralisch entrüsteten Zorn zeigen? Dass sie all dies auch tun, zeigt sich nur indirekt durch ihr Handeln, ihr Berichterstatten an den König. Ihre explizit genannte Emotion hingegen, ihre starke Betrübnis, zeigt das entscheidende Objekt ihres Blickwinkels und betont noch einmal die zentrale Emotion der Parabel: Mitleid mit dem Mitsklaven, der in Schuldhaft geworfen wird. Die Traurigkeit der Mitsklaven über das Verhalten des unbarmherzigen Sklaven ist somit ein besonderer Zug der Parabel, der auf Mitgefühl abzielt. Gleichzeitig aber lässt das folgende Handeln der Figurengruppe erkennen, dass sie zu diesem sowie zur geforderten Vergebung noch nicht gänzlich fähig sind, was im Folgenden kritisch betrachtet werden muss. 3.2.2 Indirekt Im folgenden Abschnitt ist zu prüfen, ob Figuren neben den explizit genannten Emotionen auch anhand indirekter Signale bestimmte Emotionen zugeschrieben werden können und wenn ja, welche. Dazu sind Gedanken, Motivation, das Verhalten und Handeln sowie das passive Ergehen der Figuren zu untersuchen. Da die Emotionen der Figuren des Königs sowie der Mitsklaven explizit geschildert und auch die indirekt vermittelten Ärger-Emotionen der Mitsklaven bereits erwogen wurden, müssen diese Figuren hier nicht noch einmal betrachtet werden. Genauso wenig lohnt sich ein Blick auf die in V. 34 erwähnten Folterknechte, da diese nicht aktiv auftreten. Es bleiben der unbarmherzige Sklave sowie sein Schuldner. Auffällig ist besonders, dass der Protagonist des Geschehens, der Sklave, gänzlich emotionslos geschildert wird. Bei der Abrechnung des Königs, die zunächst mit der Forderung des Verkaufs seiner Familie in die Sklaverei beginnt, dürfte dieses passive Ergehen des Sklaven in ihm Furcht und Verzweiflung hervorrufen, was sich an seinem Verhalten (Proskynese und Bitte) zeigt. Eine weitere mögliche Emotion ist die Reue über etwaiges Fehlverhalten in der Vergangenheit, das ihn in diese Lage gebracht hat. Diese Emotion soll an dieser

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Stelle lediglich als möglich genannt sein und an späterer Stelle nochmals gesondert diskutiert werden. Nach der unerwarteten Gnade müsste er dementgegen Erleichterung, Freude und Dankbarkeit empfinden. Doch darüber schweigt der Text völlig; weder Gedanken noch Verhalten des Sklaven werden am Ende des ersten Erzählabschnitts geschildert. Da nun aber ein auf die Barmherzigkeit des Königs antwortendes Mitleid bei der Begegnung mit dem eigenen Schuldner ausbleibt, relativiert dies die Annahme vorausgehender positiver Emotionen immens. War der Sklave überhaupt angemessen erleichtert und dankbar für die Gnade, die ihm zuteilwurde? Denn wenn ja, bliebe vollkommen unverständlich, wie er selbst nun so hartherzig handeln kann. Das Packen (κρατέω) und Würgen (πνίγνω) seines Schuldners (V. 28) schildert ein markantes Verhalten. Die beiden verschiedenen Tempora (κρατέω im Aorist; πνίγνω im Imperfekt) sind wohl auf unterschiedliche Aspekte zurückzuführen: Das Packen wird im ingressiven Aorist, das Würgen im Sinne eines Imperfekt de conatu wiedergegeben („versuchte, ihn zu erwürgen“).54 Diese Formulierung deutet auf eine für antike Verhältnisse übliche, wenn auch meist kritisierte Schuldeneintreibung hin.55 Es darf indes gefragt werden, ob die offensive Härte in seinem Vorgehen nicht indirekt auf die Emotion des Ärgers oder gar des Zorns hinweist. Dazu würde passen, dass er sich von der Bitte jenes Sklaven nicht erweichen, sondern ihn unbarmherzig ins Gefängnis werfen lässt. Denn, wie bereits gezeigt, ist Zorn eine vereinnahmende Emotion, die dazu führt, dass es in ihrer Refraktärphase beinahe unmöglich ist, Situationen und Ereignisse nicht gänzlich im Lichte dieser Emotion wahrzunehmen; demgemäß führt Zorn meist zu mehr Zorn, vermag sich rasch zu steigern und zu entsprechenden Reaktionen im Handeln zu führen.56 Diese Emotionsspirale begründet auch den Zorn des Königs in der dritten Abrechnungsszene: Auf das zornige Verhalten und Handeln des Sklaven reagiert auch der König mit Zorn. Die Parabel arbeitet ganz intensiv mit Parallelitäten und Gegensätzen, wobei gerade die Verweigerung einer geforderten imitatio wiederum eine Folge hervorruft, die dieser Weigerung entspricht. Mit dem Bruch der geforderten Handlungsentsprechung spielt insbesondere V. 30, der erstmals mehr schildert als nur das Handeln des Sklaven: Das οὐκ ἤθελεν beschreibt die (fehlende) Motivation, die hinter seinem Handeln steckt. Im krassen Gegensatz zum σπλαγχνισθείς des Königs steht hier das Nicht-Wollen des Sklaven. Er will sich seines Mitsklaven nicht erbarmen und bleibt auch hier auffällig frei von jeglichem (Mit-)Gefühl. Entsprechend bleibt er bei der Befragung durch den König erneut wortund emotionslos, und seine Geschichte schließt mit denselben – wiederum 54

Vgl. BAUER, Wörterbuch, 1363. Vgl. LUZ, Evangelium III, 71. 56 S.o. Kap. 4.2.2.11. 55

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nur zu vermutenden – Emotionen, mit denen sie begann: mit Furcht und Verzweiflung angesichts der drohenden Strafe seines Herrn. Nur dass sich unter diese Furcht nun noch stärkere Verzweiflung mischen dürfte, da die Bestrafung tatsächlich umgesetzt wird, sowie Reue über das eigene Handeln, das diese Strafe erst provoziert hat. Doch wie gesagt, bleiben diese Emotionen höchstens implizit: Sie werden vom Rezipienten nur dann erschlossen, wenn dieser sich in die Situation des den Foltersklaven übergebenen Sklaven hineinversetzt. Dazu später mehr. Auch im Falle des Mitsklaven, der von seinem Gläubiger in Schuldhaft genommen wird, sind keine Figurenemotionen genannt. Da sein Verhalten ganz parallel zu dem des ersten Sklaven vor dem König geschildert wird (vgl. V. 26 und 29), sind auch hier ähnliche Emotionen (Furcht, Verzweiflung) anzunehmen. Wurden diese im ersten Teil der Parabel durch die immense Schuldensumme verstärkt, die eine Rückzahlung ohnehin unmöglich erscheinen ließ, werden die Emotionen des zweiten Sklaven vielmehr dadurch intensiviert, dass sein Gläubiger sogleich mit gewalttätigem Nachdruck an ihn herantritt, indem er ihn ergreift und würgt. Ihm ist es ernst mit seiner Forderung. Obgleich die Schuldensumme des Mitsklaven (100 Denare) durchaus rückerstattbar wäre und er nur etwas mehr Zeit bräuchte – im Gegensatz zu seinem Gläubiger, dessen Schuld 1000 Talente betrug – wird seine Bitte aufgrund des brutalen Vorgehens seines Gläubigers genauso verzweifelt wie dessen vorangegangene vor dem König; in beiden Fällen geht es um ihr Leben in Freiheit. 3.3 Die Rezeptionsemotionen Nachdem die direkten sowie indirekten Emotionen der Figuren betrachtet sind, sollen nun die Emotionen untersucht werden, die der Text im Rezipienten auslöst. Es wird hierbei anhand der vier Kategorien von Auslösern auf der Erzählebene vorgegangen. Als Erstes sollen dabei Situationen und Geschehnisse analysiert werden. Nicht, weil sie der wichtigste Emotionsauslöser in der Parabel sind, sondern weil diese mit der Szene einer Abrechnung beginnt, mit der die Analyse aus geschehenschronologischen Gründen sinnvoll begonnen werden soll. Als Zweites folgt die Betrachtung der Figuren. Als komplexeste Erzählelemente der Parabel, deren Schicksale hauptsächlich ihr eigenes Handeln und Verhalten vorantreiben, sind sie der zentrale Emotionsauslöser im Text. Als Drittes wird die Dimension des Raumes in den Blick genommen, die nicht uninteressant, jedoch kein sonderlich starker Auslöser von Emotionen ist. Als Letztes ist die Dimension der Zeit zu untersuchen. Hier werden sich einige interessante Beobachtungen machen lassen, welche die verschiedenen Emotionsauslöser miteinander verbinden.

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3.3.1 Situationen/Geschehnisse Wie soeben gesagt, beginnt die Parabel mit der Setzung einer Abrechnungsszene. V. 23 vergleicht das Himmelreich mit einem König, der mit seinen Sklaven abrechnet (ὡµοιώθη ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν ἀνθρώπῳ βασιλεῖ, ὃς ἠθέλησεν συνᾶραι λόγον µετὰ τῶν δούλων αὐτοῦ). Dieser Vergleich dürfte für die Rezipienten der Parabel im 1. Jh. n. Chr. nicht so seltsam geklungen haben, wie es für heutige Leser/Hörer der Fall sein mag. Der Gedanke an das Kommen Gottes als Richter, der vor Errichtung seines ewigen Reiches mit den Menschen „abrechnet“ und sie in seines Reiches Würdige und Nichtwürdige teilt, ist ein im Judentum verbreitetes Motiv und betrifft nicht nur das Endgericht der Zukunft, sondern auch die gegenwärtige „Sündenabrechnung“ im Leben eines jeden Einzelnen.57 Hierbei meint die Parabel in V. 23 wohl Letzteres, „da das Erbarmen Gottes als vorgängiges Handeln beschrieben ist“58. Außerdem verwendet der Autor der Parabel in der ersten Abrechnungsszene für das „Vorgeladenwerden“ des Schuldners (V. 24: passive Form von προσφέρω) einen anderen Begriff als in der dritten Szene, als der König ihn selbst „vorlädt“ (V. 32: προσκαλέοµαι). Nur der letztere Ausdruck deutet auf das Endgericht Gottes hin.59 Dieses Bild ist freilich aufgrund seiner emotionalen Besetzung höchst effektiv. Somit verstärken die Transfersignale die Rezeptionsemotionen, die bereits auf der Erzählebene der Parabel anhand der Situation der Abrechnung vermittelt werden: Die Situation zwischen Gläubiger und Schuldner ist eine alltägliche und für jedermann nachvollziehbare Konstellation, die unmittelbar Emotionen auslöst. Mit der Rolle des Schuldners verbinden sich unwillkürliche Erwartungs-Emotionen (Hoffnung oder Furcht, die jeweils davon abhängen, wie groß die Schuldsumme und die Chance, diese zu begleichen, sind). Daraus resultieren Wohlergehen-Emotionen (Freude oder Leid – letztere als besonders starke Form der Trauer – bzw. Selbstzufriedenheit oder -unzufriedenheit). Die Emotionen, welche sich mit der Rolle des Königs-Gläubigers verbinden, sind hier nicht von Belang, da sich der Rezipient in den König aufgrund dessen Rollen-Frames sowie aufgrund des expliziten Vergleichs mit dem Himmelreich, wodurch er eindeutig auf Gott zu deuten ist, nicht hineinversetzen wird.60 Die mit der ersten Abrechnung verbundenen Emotionen sind indes keine hoffnungsvollen, sondern, durch die unerhört hohe Schuldsumme gesteigert, negative. In der zweiten Abrechnung sind die negativen Erwartungs-Emotionen auf zweierlei Weise gedämpft: Erstens schuldet der Mitsklave viel weniger als 57

Vgl. ERLEMANN, Bild, 80. Ebd. 59 Vgl. BAUER, Wörterbuch, 1432. 60 Weitere Transfersignale s.u. Kap. 5.3.3.2 a). 58

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der erste. Und zweitens dürfte der Rezipient die Erwartung aufbauen, dass dieser nun den ihm zuvor gewährten Gnadenakt wiederholt. Die dritte Abrechnungsszene schließlich unterscheidet sich von den vorhergehenden dadurch, dass es nun nicht mehr um Geldsummen geht, sondern um das Verhalten des Sklaven, über das gerichtet wird. Die Emotionen, welche diese Situation auslöst, hängt maßgeblich davon ab, welche Haltung die Rezipienten inzwischen gegenüber dem Sklaven eingenommen haben. Darüber hinaus dürften sie die Situation nun endgültig auf das Gericht Gottes am Ende der Zeit übertragen, wodurch sich die Rezeptionsemotionen intensivieren und sich die Wahrscheinlichkeit einer Internalisierung anhand internaler Erwartungs-Emotionen erhöht (Hoffnung auf Erlösung von der jetzigen Welt und auf die Ewigkeit im Reich Gottes, sowie ggf. Furcht, die davon abhängt, wie die eigenen Chancen, im Gericht Gottes zu bestehen, eingeschätzt werden). Darüber hinaus wird in der Parabel ein einziges Geschehen geschildert: Dass die Mitsklaven sehen, wie der soeben begnadigte Sklave einen weiteren Mitsklaven gewaltsam auf der Straße angeht, ist kein aktives Handeln. Dieses Geschehen löst aber erst durch die dann folgende aktive Reaktion der Mitsklaven Emotionen aus und steht somit im nächsten Abschnitt zur Betrachtung. Interessant ist, dass die Situationen und Geschehnisse die gesamte Parabel strukturieren: Es kommt insgesamt zu drei Abrechnungen. Die erste zwischen König und Sklave umfasst dabei vier Verse (V. 24–27), die zweite zwischen Sklave und Mitsklave und die dritte zwischen König und Sklave jeweils drei Verse (V. 28–30.32–34). Unterbrochen werden die zweite und dritte Situation durch das Geschehnis, das die dritte Abrechnung kausal erklärt. Die Ordnung ist chronologisch aufgebaut. Dabei gewinnt das Geschehen zunehmend an Geschwindigkeit: Die erste Abrechnung ist am ausführlichsten geschildert (umfasst im NTG28 acht Zeilen), die zweite wird schon kürzer (6,5 Zeilen), und die letzte ist die kürzeste (knapp 6 Zeilen). Die zunehmende Geschwindigkeit erklärt sich indes nicht durch den unterschiedlichen Ablauf der jeweiligen Szenen. Denn bis auf die letzte beinhalten sie alle jeweils drei Phasen: Tabelle 9: Verlauf der Abrechnungsszenen in Mt 18,23–35 1. Abrechnung

2. Abrechnung

3. Abrechnung

Forderung des Königs und Zahlungsunfähigkeit des Sklaven Bitte des Sklaven Erbarmen

Forderung des Sklaven und Zahlungsunfähigkeit des Mitsklaven Bitte des Mitsklaven Schuldhaft

Forderung des Königs – Folterstrafe

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Vielmehr resultiert die Geschwindigkeitszunahme aus der Erzählweise, die immer knapper wird und zum Ende hindrängt. Die Erzählung mutet beinahe szenisch an; der Erzähler rafft die erzählte Zeit nur wenig. Überwiegend partizipiale Satzanfänge treiben das Geschehen voran: ἀρξαµένου (V. 24), µὴ ἔχοντος (V. 25), πεσών (V. 26.29), σπλαγχνισθείς (V. 27); ἐξελθών (V. 28), ἰδόντες (V. 31), προσκαλεσάµενος (V. 32) ὀργισθείς (V. 34). Auf den Gebrauch von Ellipsen wird größtenteils verzichtet, sodass der Rezipient keine Leerstellen aktiv füllen muss; er hat das vollständige Geschehen vor Augen. Dass der Rezipient nun aber auf alle drei Szenen in verschiedener Weise emotional reagiert, liegt im Handeln und Verhalten der Figuren begründet, die im Folgenden zu betrachten sind. 3.3.2 Figuren Um zu untersuchen, welche emotionale Reaktion eine Erzählung durch die Figurenschilderung hervorzurufen vermag, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf die Figurenkonstellation zu werfen.61 In der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven begegnen dem Rezipienten zwei Hauptfiguren: der König und der unbarmherzige Sklave. Beide Figuren sind stabile Elemente der gesamten Erzählung und stehen stets im Mittelpunkt des Geschehens. Ihr Verhalten und Handeln sind die den Erzählverlauf erheblich prägenden Faktoren. Der Rest der Figuren unterscheidet sich von diesen beiden schon dadurch, dass es sich lediglich um Episodenfiguren handelt, d.h. dass sie nur in einzelnen Szenen der Parabel auftreten und danach wieder verschwinden. Der Mitsklave, der 100 Denare schuldet, tritt ausschließlich in der zweiten Szene auf und ist daher eine Nebenfigur. Sein Verhalten, das dem vorhergehenden des ersten Sklaven genau entspricht, nimmt ihm jegliche Individualität und betont seine Funktion für die Parabel: Er dient der Veranschaulichung der Unbarmherzigkeit des ersten Sklaven. Die Mitsklaven, die das Geschehen beobachten, sind Schau- oder Hilfsfiguren. Für Letzteres spräche, dass sie einzig dazu da sind, die Handlung voranzutreiben, indem sie dem König vom Verhalten des unbarmherzigen Sklaven berichten. Andererseits wurde bereits gesehen, dass der Erzähler diese Erklärung, wie der König genau davon erfährt, nicht unbedingt hätte ausführen müssen. Die Mitsklaven übernehmen somit keine zentrale Funktion im Erzählverlauf. Insofern weckt dieses Figurenkollektiv durchaus Interesse, und es bleibt zu fragen, ob es den Rezipienten auf etwas Bestimmtes hinweisen möchte (Schaufiguren).

61

Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 205 f.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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Die Folterknechte, die in V. 34 erwähnt werden, sind nun wiederum reine Randfiguren. Sie treten nicht aktiv auf, sind lediglich erwähnt und dienen der Illustration der Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven. Die Beziehung zwischen den verschiedenen Figuren wird durch die Situation der Abrechnung geprägt: Zunächst steht der Sklave als Schuldner vor dem König; dieses Hierarchiegefälle kehrt sich in der zweiten Szene um, als der Sklave als Gläubiger seinem Mitsklaven und Schuldner begegnet. Die Mitsklaven in der dritten Szene erinnern daran, dass trotzdem alle Sklaven der Parabel prinzipiell auf derselben Stufe stehen, sie sind σύν-δουλοι, obgleich der erste Sklave seine Machtposition gegenüber seinem Kollegen rigoros zur Schau stellt. In der vierten Szene kehrt die Erzählung zur Anfangskonstellation zurück: Wieder steht der Sklave als Angeklagter vor dem König. Die Parabel spielt auch hier mit Parallelität und Gegensätzen, indem das Hierarchiegefälle zwischen den einzelnen Figuren hervorgehoben wird. Dem Rezipienten obliegt dabei die Aufgabe, diese Machtverhältnisse jeweils kritisch zu hinterfragen. Über die Figurenkonstellation hinaus ist die Erzählperspektive interessant.62 In Mt 18,23–34 ist Jesus als der Erzähler der Parabel ein unbeteiligter Erzähler, der anhand der Distanz zu den einzelnen Figuren und unterschiedlicher Innenperspektivgraden derselben das Wahrnehmungszentrum je nach Szene variiert. Spannend ist nun nachzuvollziehen, wie genau die Perspektiven der Erzählung wechseln: Zunächst ließe sich annehmen, dass die erste Situation stärker auf den Sklaven als auf den König fokussiert. Dies geschieht dadurch, dass die Bitte des Sklaven in direkter Rede wiedergegeben wird, wodurch die Distanz zu ihm beträchtlich verringert wird. Doch auch die nur indirekte Rede des Königs wird durch den indikativischen Modus in V. 25 (καὶ τὴν γυναῖκα καὶ τὰ τέκνα καὶ πάντα ὅσα ἔχει) stärker in den Fokus gerückt.63 Des Weiteren beginnt die Parabel mit dem König, und obgleich das Identifikationspotential dieser Figur sehr gering ist,64 wird das Geschehen somit dennoch aus seiner Perspektive verfolgt. Dieser Eindruck bestätigt sich schließlich am Ende der ersten Szene: Das σπλαγχνισθεὶς δὲ ὁ κύριος eröffnet plötzlich eine Innenperspektive des Königs, welche für den Sklaven fehlt. Zwar wird seine Bitte wiedergegeben, doch wird dann bspw. nicht mehr erzählt, wie er sich nach diesem enormen Gnadenakt seitens des Königs fühlt. Fazit: Der König steht in der ersten Abrechnungsszene im Vordergrund und liefert die Perspektive des Geschehens.65 62

Vgl. a.a.O., 177–192. Vgl. HAUBECK/VON SIEBENTHAL, Schlüssel, 121. 64 Näheres dazu s.u. Kap. 5.3.3.2 a). 65 Gegen Dan O. Via, der die durchgehende Parabelperspektive dem Sklaven zuspricht (vgl. VIA, Gleichnisse, 133). 63

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Die zweite Situation hingegen wird aus dem Blickwinkel des Sklaven gezeichnet. Wieder kommt er direkt zu Wort. Die Bitte seines Mitsklaven wiederholt seine eigene vorherige Bitte bis in den letzten Wortlaut66; doch dient dies weniger dazu, dessen Perspektive zu schildern, als vielmehr dem Rezipienten deutlich zu machen, was von dem (ersten) Sklaven in dieser umgekehrt parallelen Situation gefordert ist: Er soll sich daran erinnern, dass er noch vor kurzem in genau derselben Lage war und ihm Gnade widerfahren ist, wodurch auch er sich nun großzügig zeigen könnte. Das dazu in krassem Gegensatz stehende ὁ δὲ οὐκ ἤθελεν schildert das Geschehen ebenfalls aus dessen Innenperspektive und steht im Gegensatz zum Mitleid des Königs. Der Sklave empfindet keine der Situation angemessene Emotion; er pocht auf sein Recht. An dieser Stelle ändert sich der Erzählfokus noch einmal. Der Sklave verlässt das Zentrum der Erzählung; dort stehen plötzlich andere Mitsklaven, die das Ganze beobachtet haben. Auch ihr Innenleben wird beschrieben: Sie sind „sehr betrübt“ und berichten das Geschehen daraufhin dem König (V. 31). Die anschließende dritte Abrechnungsszene ist jetzt erneut aus der Perspektive des Königs geschildert, diesmal jedoch stärker als noch in Szene 1. Im Gegensatz zu jener wird seine Rede nun direkt wiedergegeben, während der Sklave völlig stumm bleibt. Die Forderung des Königs leuchtet ein, seine Frage ist mehr rhetorischer Art, daher kann sich der Sklave nicht rechtfertigen. Dass es keine angemessene Begründung für dessen Verhalten geben kann, ist dem Rezipienten klar, der sich an das bloße ὁ δὲ οὐκ ἤθελεν in V. 30 erinnert. Die erneute emotionale Reaktion des Königs bestätigt die Erzählperspektive: Er wird zornig und lässt den Sklaven deshalb bestrafen. Was dieser denkt oder fühlt, wird – wieder einmal – nicht dargestellt. Somit liefert die Erzählung in ihren vier Szenen jeweils eine Figur, die klar im Fokus steht, und zwar dadurch, dass sie nur dieser einen Figur Innenleben schildert. Es fällt auf, dass der König jeweils zu Beginn und am Schluss der Parabel im Mittelpunkt steht und somit überwiegend den blickspendenden Standpunkt der Erzählung einnimmt. Trotzdem wechselt der Erzähler zwischen den verschiedenen Figuren und rückt zuerst den König, dann den unbarmherzigen Sklaven, dann die beobachtenden Mitsklaven und schließlich wiederum den König ins Wahrnehmungszentrum der Parabel. Die Erzählung ist demnach eine polyperspektivische und spielt nicht nur damit, dass der Rezipient zwischen den einzelnen im Wahrnehmungsfokus stehenden Figuren hin und herwechseln muss, sondern auch seine Einschätzung der jeweiligen Figuren/-gruppen immer wieder neu zu bewerten hat. Dazu Weiteres im Zuge der folgenden Einschätzung der einzelnen figuralen Empathiepotentiale.

66

Einzig das πάντα aus V. 26 wird bei der zweiten Bitte nicht übernommen.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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a) Der König Zunächst zur Frage, welche Emotionen die Darstellung der zentralen Hauptfigur der Parabel, des Königs, auszulösen intendiert. Es fällt auf, dass die Figur durch ihr Rollen-Frame den empathischen Rezeptionsvorgang stark erschwert. Denn im Verlauf der Erzählung weisen zahlreiche Transfersignale darauf hin, im König der Parabel Gott selbst zu sehen: Schon die Einleitung ὡµοιώθη ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν ἀνθρώπῳ βασιλεῖ … (V. 23) versetzt den Rezipienten von vornherein in transferleistende Aufmerksamkeit. Darauf, dass im König der Parabel Gott gesehen werden kann, verweist aber nicht nur das Königsmotiv, sondern auch seine Funktion als Gläubiger und Richter sowie die des Hausherrn (ὁ κύριος): Der Begriff des ἄνθρωπος βασιλεύς ist eine im Judentum häufige Metapher für Gott (bspw. Num 23,21; Jes 6,5; 41,8–16; 43,1–15, intratextuell: Mt 22,1–14).67 Auch das Metaphernpaar des Richters und Gläubigers als Gott-Mensch-Beziehung ist im jüdischen Denken bekannt.68 Das Gegensatzpaar ὁ κύριος (V. 25)/ὁ δοῦλος (V. 26) legt dem Rezipienten vollends eine Allegorisierung auf Gott/Mensch nahe. So werden im AT Israel (Lev 25,55), die Propheten (Am 3,7; 1 Kön 18,36), einzelne Personen wie Abraham (Ps 105,42) oder David (2 Sam 7,5) und ganz allgemein der oder die Betende (Ps 116,18; 1 Sam 1,11) als „Sklaven Gottes“ bezeichnet, was sich im NT fortsetzt (Lk 1,48; 2,29; Offb 10,7; Röm 1,1; Jak 1,1; Eph 6,6).69 Und obgleich es der griechisch-römischen Religion nicht eigen war, den Menschen als „Sklaven“ der Götter zu bezeichnen, so war auch ihr durch den Opferkult das Bild von Gläubigern und Schuldnern, um die Beziehung zwischen Göttern und Menschen zu beschreiben, vertraut.70 All diese Signale sprechen gegen Lesarten, wie sie bspw. Luise Schottroff vorbringt, die den König keinesfalls mit Gott identifizieren möchte, um das Gottesbild von der unbarmherzigen Grausamkeit des Königs am Schluss der Parabel freizusprechen.71 Eine Exegese muss sich dieser Spannung des durch die Parabel vermittelten Gottesbildes stellen. Eine interessante Textvariante in V. 33 bestätigt die Übertragung der Schuld des Sklaven auf die allgemeine Menschenschuld vor Gott: Ein Papyrus liest hier ὡς κἀγὼ ἠλέησα ὑµᾶς und bricht damit die Erzählung auf, indem nicht mehr nur der eine Sklave, sondern ein Kollektiv angesprochen wird. Die enorme Differenz zwischen den Schulden des Sklaven (Mensch) gegenüber dem König (Gott) und dem Mitsklaven (Mitmensch) gegenüber dem Sklaven (Mensch) passt entsprechend ins Bild.72 Auch wird eine Hierar67

Vgl. ROOSE, Aufleben, 455. Vgl. ERLEMANN, Bild, 86. 69 Vgl. GERBER, Zeit, 166. 70 Vgl. VEYNE, Religion, 18–23. 71 Vgl. SCHOTTROFF, Gleichnisse, 261–266. Ähnliche sozialkritische Auslegungen finden sich bei: VAN ECK, Parables, 161–183. 72 Vgl. WEDER, Gleichnisse, 214. 68

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

chie zwischen den beiden Sklaven durch den beiordnenden Ausdruck des σύν-δουλος nicht nahegelegt; der Mensch steht neben seinen Mitmenschen und nur unter Gott. „Die Metapher verdeutlicht unbedingte Loyalität, das Wissen, in Dienst genommen zu sein von Gott bzw. Christus. Sie beschreibt die duale Beziehung zu Gott, nicht die Überordnung über andere und ist damit (noch) nicht stehende Metapher für christliche Funktionsträger.“73 Auch „[t]he size of the debt, then, does not justify identifying the δοῦλος as anything other than a slave“74. Es dürfte demnach jeder Rezipient eine potentielle Selbstidentifikation mit dem δοῦλος statt mit dem βασιλεύς vollziehen.75 Weitere begriffliche Transfersignale für die Übertragung des Königs auf Gott sind in V. 26 zum einen das Verb προσκυνέω, das den ehrfurchtsvollen Kniefall vor Göttern bezeichnet (vgl. Mt 2,2.8.11; 4,9 f.; 8,2; 9,18; 14,33; 20,20; 28,9.17)76, und zum anderen die Bitte des Sklaven um µακροθυµία seines Herrn (V. 26). Die „Langmut“ Gottes ist ein wichtiges Element im jüdischen Gottesbild und steht in diametralem Gegensatz zu Gottes Zorn (Ex 34,6; Ps 86,15). In zeitgenössischer apokalyptischer Literatur wird das Motiv für die Verzögerung des Gerichts Gottes und meist als eine Art „Gnadenfrist“ und letzte Möglichkeit zur Umkehr und Buße verwendet (Sir 5,4; 4 Es 7,74; ApcBar(syr) 12,4; 21,20 f.; 24,2; 59,6; 85,8; Röm 2,4; 9,22; 2 Petr 3,9.15). Auch das Verb προσκαλέω in V. 32 weist als terminus technicus der Gerichtssprache auf Gottes Gericht hin.77 Damit stehen Eschatologie und Parusieverzögerung eindeutig im Hintergrund der Parabel. Dies bestätigt sich vollends durch V. 34, der sogleich drei Transfersignale auf das Endgericht Gottes liefert: Die im Grunde „ewige“ Strafe des Sklaven, der seine Schuld in seinem Leben nicht wird abbezahlen können. „Diese Dehnung der Zeit ins Unendliche ist für die Strafform der Hölle charakteris-

73

GERBER, Zeit, 166. GLANCY, Slaves, 86. Dass dabei ein besonders hochgestellter Sklave (wie etwa ein Satrap) gemeint ist (vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 208 f.), muss nicht angenommen werden. Doch ist freilich nicht ausgeschlossen, dass ein Rezipient bei der Höhe der Schuldsumme automatisch an einen solch höheren Beamten denken mag. Dennoch wird jener konsequent als „Sklave“ bezeichnet und eröffnet somit die Möglichkeit der Selbstidentifikation für alle Hörer/Leser. So urteilt auch Alfons Weiser: „Dementsprechend steht δοῦλος im Gleichnis Jesu für ‚Mensch‘.“ (WEISER, Knechtsgleichnisse, 76). Dass aufgrund der Schuldsumme eine Hierarchie innerhalb der verschiedenen δοῦλοι der Parabel ersichtlich würde (vgl. HARNISCH, Gleichniserzählungen, 259), ist m.E. nicht zuzustimmen. Der einheitliche Begriff und besonders das in Beziehung setzende Präfix der σύνδουλοι stellt diese Figuren auf ein und dieselbe Stufe (vgl. WEBER, Alltagswelt, 171). 75 Gegen Ulrich Luz, der urteilt: „Wichtig ist nur, dass die Hörer/innen sich mit einem Menschen aus solchen Gesellschaftsschichten kaum identifiziert haben werden.“ (LUZ, Evangelium III, 69). 76 Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 80 f. 77 Vgl. BAUER, Wörterbuch, 1432. 74

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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tisch.“78 Diesen Hintergrund zeigen auch der die endzeitlichen Höllenqualen beschreibende Wortstamm βασαν- (vgl. Offb 14,10 f.; 20,10; Lk 16,23.28) sowie die Parallelität zu anderen Endzeitparabeln (Mt 13,40.49; 21,33–46; 24,45–51; 25,31–46) auf.79 Schließlich und endlich ist es aber das Erbarmen, das die Erzählhaltung grundlegend durchbricht und den Rezipienten klar erkennen lässt: Nur Gott würde solche Gnade vor Recht walten lassen.80 „Compassion (18:27) and mercy (18:33) are extended beyond what anyone could expect.“81 Explizierend auf Gott deutet schließlich der abschließende Vers der Parabel die Figur des Königs (V. 35: So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun).82 Trotz des eine Innenperspektive erschwerenden Rollen-Frames ist die Erzählung überwiegend aus der Perspektive dieser Figur des Königs geschildert und auf ihr Innenleben wird am häufigsten eingegangen. Die Figur ist insgesamt stark fokalisiert, sehr dynamisch (zum Guten wie zum Schlechten!) und mehrdimensional geschildert. Es kommen sowohl ihre Emotionen (V. 27 und 34), als auch ihr Wissen (V. 32 f.), ihre Motivation (V. 32), ihre Meinung (V. 33) und ihr Handeln (V. 27 und 34) zur Sprache. Hierdurch wird ihr Empathiepotential durchaus erhöht. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass der Rezipient sich mit dieser Figur in starke Beziehung setzt, wird sie so geschildert, dass sie maximales Verständnis des Rezipienten hervorruft. Da sich der Rezipient aber wohl nicht mit ihr identifiziert, wird er kaum die Emotionen der Figur als solche teilen, sondern vielmehr aus dem Blickwinkel des Sklaven auf diese reagieren. Rezeptionsemotionen, die sich mit der Figur verbinden, dürften demnach vorwiegend external-positive sein, die durch ihre Barmherzigkeit ausgelöst werden: So etwa Wohlergehen/Attributions-Emotionen (Erleichterung, Rührung, Freude und Dankbarkeit), WertschätzungsEmotionen (Erstaunen, Bewunderung) und Attraktivitäts-Emotionen (Zuneigung). Dass der König von seinem Sklaven fordert, alles, was er habe, einschließlich seiner Familie, zu verkaufen, entspricht nicht jüdischem Recht; doch ist die Annahme plausibel, dass den antiken Rezipienten der Parabel solche Verhältnisse „hinreichend bekannt waren“83. Mitunter wird darauf hingewiesen, dass der König aufgrund des angedrohten Verkaufs der ganzen Familie des Sklaven sowie der schließlich verhängten Folterstrafe als Heide anzusehen sei und somit verhindert werde, dass der Rezipient die Perspektive des Königs 78

BÖHME, Himmel, 70. Vgl. ROOSE, Aufleben, 454 f. 80 Vgl. a.a.O., 451. 81 HULTGREN, Parables, 30. 82 Vgl. SCOTT, Parable, 269. 83 SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium, 176. 79

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

einnehme.84 Dies ist aber aufgrund der soeben genannten Transfersignale, welche den Rezipienten von Anfang an in eine tendenziell positive Rezeptionshaltung der Figur gegenüber versetzt, nicht anzunehmen. Dass der König hier nicht nach jüdischem Recht mit dem Sklaven verfährt, dient m.E. der narrativen Stilisierung der Parabel; dadurch stellt Mt das Erbarmen des Königs gegenüber seiner vollkommenen Machtposition, die jegliches noch so grausame Urteil über seinen Sklaven fällen könnte, besonders stark heraus. Auch dass die zunächst radikale Forderung des Königs „als Ausdruck seines Zornes zu verstehen“ sei,85 ist im Text nicht angezeigt.86 Der Befehl scheint lediglich die äußerste Vorgehensweise zu beschreiben, zu welcher der König angesichts dieser unvorstellbar hohen Schuldsumme berechtigt wäre. Dass er an dieser Stelle Zorn empfindet, ist schon deshalb unwahrscheinlich, da in diesem Zusammenhang der plötzliche Umschwung von Zorn zu Mitleid unplausibel anmuten dürfte. Der König macht vielmehr einen sehr nüchternen, emotionslosen Eindruck, was sich erst durch die Bitte des Sklaven ändert, die ihn emotional zu bewegen vermag. Doch die Bitte ist inhalts- und somit hoffnungslos und unterstreicht damit seine Verzweiflung angesichts dieser unlösbaren Situation. Dass der Sklave den gesamten Schuldenbetrag jemals zurückzahlen kann, ist, wie gesagt, äußerst unwahrscheinlich. Die zunächst durch die Situation hervorgerufenen, unangenehmen Rezeptionsemotionen wandeln sich erst durch die überraschende Gnadenhandlung des Königs über Erstaunen in Freude, Erleichterung und Dankbarkeit. Diese Emotionen dürften durch die Unerwartetheit des Erbarmens des Königs sehr stark empfunden werden. „Die Liebe Gottes ist nicht nur im zeitlichen Sinne zuvorkommend: dass der Herr die Schuld erlässt, überholt auch das, was der Knecht zu erbitten wagte (Geduld!). Die Liebe Gottes kommt auch den Erwartungen und Hoffnungen des Menschen zuvor.“87 Und wie Beat Weber ausführlich aufzeigt, wohnt der Vergebung des Königs auf dem Hintergrund von Sabbat- und Jobeljahrvorstellungen für Juden eine besondere Bedeutung inne.88 Dass diese nicht nur lebensweltliche, realistische Implikationen trägt, sondern sich innerhalb apokalyptischer Strömungen zunehmend spiritualisiert und sich zunehmend zu einer eschatologischen Vorstellung entwickelt, ist im Hinblick auf diese Parabel interessant, weil sich so in der Vergebung des Königs (besonders das dafür gebrauchte Verb ἀφίηµι in V. 27; 32 und 35 sowie die Wurzel ὀφειλ- in V. 24; 28; 30; 32 und 3489) ein Transfersignal auf

84

Vgl. SCOTT, Parable, 274 f. JEREMIAS, Gleichnisse, 209. 86 So urteilt auch Alfons Weiser, vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 79. 87 WEDER, Gleichnisse, 215 (Hervorhebung im Original). 88 Vgl. WEBER, Alltagswelt, sowie ders., Vergeltung. 89 Diese Begriffe werden bei Mt häufig im übertragenen Sinne zur Vergebung von Schuld gebraucht (6,12.14; 9,2.5.6; 12,31 f.; 18,21), vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 212 f. 85

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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das eschatologische Gericht Gottes erkennen lässt.90 Steht aber der Appell zur großzügigen Gabe an Arme in Dtn 15,7–11 im Hintergrund der Parabel91, was aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeit zu Mt 18,24–35 sehr naheliegt, fällt auf, dass, während die Ausführungen des AT mit einer positiven Verheißung enden (Dtn 15,10b), die Parabel durch die Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven mit einer Warnung an die Rezipienten endet und damit gleichsam als Negativentsprechung des AT-Textes aufzeigt, was passiert, wenn man nicht gemäß dem Willen Gottes handelt. Dies passt zur sonstigen mt Gerichtsdarstellung als einem zu fürchtenden Ereignis (13,41 f.; 22,13 f.; 24,1–51; 25,30). Im vierten Erzählabschnitt, in welchem der König noch einmal auftritt, wandeln sich die Rezeptionsemotionen. Der Rezipient dürfte die kritische Haltung des Königs teilen und seine Empörung über die zweite Szene dürfte in der rhetorischen Frage des Königs Ausdruck finden. Dass der Rezipient hier Empörung oder Enttäuschung darüber empfindet, dass der Zorn des Königs nicht zu seinem vorherigen Erbarmen passt und somit ein ambivalentes, in sich nicht konsistentes Gottesbild entstehe, ist nicht sehr wahrscheinlich. Zunächst einmal ist der König als absolute Souveränitätsinstanz jederzeit in der Lage, seine Gnadenerweise zurückzunehmen.92 Doch ist zu beachten, dass er seinem Sklaven den Schuldenerlass nur deshalb wieder entzieht, weil dieser seinerseits nicht entsprechend der ihm widerfahrenen Gnade gehandelt hat. Der König bestraft, weil der Sklave aktive Dankbarkeit, die zu einer entsprechenden Verhaltensänderung hätte führen sollen, schuldig geblieben ist (V. 33). Die Deutung Sebastian Schneiders, der in der Schuld, die der Sklave in V. 34 begleichen soll, die moralische Schuld seinem Mitsklaven gegenüber statt seiner ursprünglichen Geldschuld sieht93, scheint allerdings zu weit zu gehen. Sebastian Schneider zufolge nimmt der König seine gewährte Gnade nicht zurück, sondern erlegt dem Sklaven vielmehr eine neue Strafe auf.94 M.E. nimmt der König seine Begnadigung durchaus tatsächlich zurück.95 V. 34 legt nahe, dass er dies tut, da sein Gnadenakt nicht dankbar angenommen wurde und keine Früchte zeitigte: „He loses the mercy he received because he will not pass it on to another.“96 Die Formulierung in V. 34b („bis er alles zurückgezahlt habe, was er schuldete“) sollte daher nicht im Hinblick auf eine neue Schuld ausgelegt, sondern auf die zu Anfang genannte Schuld des Sklaven bezogen werden.

90

Vgl. WEBER, Vergeltung, 130–139. Vgl. a.a.O., 143. 92 Vgl. SCHNEIDER, Barmherzigkeit, 169. 93 Vgl. a.a.O., 169–174. 94 Vgl. a.a.O., 171 (Hervorhebung im Original). 95 Vgl. KONRADT, Mitleid, 418. 96 MEIER, Vision, 134. 91

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Entsprechend resultiert die Reaktion des Königs aufseiten des Rezipienten in Attributions-Emotionen (Billigung, Zufriedenheit). Die Bestrafung selbst führt zu Erwartungs-Emotionen (Befriedigung) und Empathie-Emotionen (Genugtuung/Schadenfreude). Die Emotionen gegenüber dem König selbst, d.h. letztlich gegenüber Gott, sind daher nicht allzu kritisch einzuschätzen. Der König wird durchaus „als weiterhin Barmherziger gegenüber dem Knecht zornig“97. Die Erzählung lässt den König in sehr positivem Licht erscheinen: Zunächst einmal muss der Sklave zumindest ein wenig auf das Erbarmen des Königs hoffen können, sonst hätte er ihn gar nicht erst um Geduld angefleht. Diese positive Charakterisierung des Königs als verständnisvoll, großzügig und altruistisch bestätigt sich, wie bereits erwähnt, am explizit genannten Mitleid des Königs. Zweitens wird auch darin, dass sich die Mitsklaven in der Hoffnung auf Gerechtigkeit an den König wenden, das Bild eines fairen und guten Königs sichtbar.98 Allein der Zorn begegnet als ein potentiell negativer Zug dieser Figur. Doch ist dieser nicht unberechtigt, wie der Rezipient wohl anhand seiner eigenen emotionalen Reaktion (Empörung, Ärger) nachvollziehen kann. Hier ist es wahrscheinlicher, dass der Rezipient sich über das Verhalten des Sklaven empört statt über das des Königs.99 Dass dessen Gnade nicht dankbare Erwiderung erfährt, beleidigt die Barmherzigkeit des Königs, macht sie sinnlos. Dass in ihr ein impliziter Anspruch, eine Aufgabe liegt, wird spätestens an dieser Stelle klar. Doch hierauf wird der folgende Abschnitt noch ausführlicher eingehen. b) Der Sklave Die Figur des Sklaven ist, im Gegensatz zum König, recht eindimensional geschildert: Auf ihr Innenleben wird nur einmal in V. 30 eingegangen, ansonsten ist lediglich ihr Handeln beschrieben. Dem Rezipienten dürfte es daher schwerfallen, sich empathisch auf die Figur einzustellen, und ein sympathetisches Urteil über sie wird durch die vielen Leerstellen des Charakters der Figur erschwert. Die Rezeption des Sklaven hängt gänzlich am Rollenwechsel der Figur.100 Das Empathiepotential der Figur ist von Anfang an ambivalent einzuschätzen. Einerseits ermöglicht die Metaphorik der König-Sklaven-Beziehung ein 97

SCHNEIDER, Barmherzigkeit, 175 (Hervorhebungen im Original). Vgl. a.a.O., 176. 99 Gegen Jan Lambrecht, der urteilt: „One takes offence at the severe judgment which is pronounced by the lord in verses 32 f.; even more profoundly shocking is the description of this judgment in verse 34: the deliverance of the servant to the jailers.“ (LAMBRECHT, Treasure, 62). 100 So auch Hubert Frankmölle: „Der Leser dürfte feststellen, dass die Geschichte wesentlich vom Rollenwechsel des großen Schuldners, der einem anderen gegenüber ein kleiner Gläubiger ist, lebt.“ (FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 267). 98

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allgemeines Rollen-Frame, wenn darin die Gott-Mensch-Beziehung erkannt wird. Andererseits verhindert die immense Schuldhöhe, dass sich der Rezipient tatsächlich mit dieser Figur identifizieren möchte.101 Betrachtet man die zehntausend Talente jedoch als Transfersignal, ist eine Identifikation nicht ausgeschlossen. Denn dann gestünde sich der Rezipient ein, dass jeder Mensch vor Gott mehr schuldet, als er büßen kann. Dass der Sklave dadurch sympathischer wirkt, weil er niemandem sonst die Schuld für seine Unfähigkeit, seine Schulden zu bezahlen, gibt, erscheint jedoch etwas weit zu gehen.102 Insgesamt beurteilt, lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen, ob der Parabelbeginn eine sympathische Anteilnahme am Schicksal des Sklaven hervorrufen möchte oder nicht. Ein empathisch-affirmativ empfundenes Mitleid an seiner Situation sowie die Übernahme einer Innenperspektive sind mit Sicherheit möglich, hängen aber davon ab, ob der Rezipient den Transfer von Sklave zu Mensch leistet, die Schuld des Sklaven als die unendliche Schuld des Menschen vor Gott versteht und sich selbst somit im Sklaven wiedererkennt oder nicht. Tut er dies, könnte es in der ersten Abrechnungsszene durchaus zu einem zunächst sympathischen Urteil über den Sklaven kommen und somit zu internalen Attributions-Emotionen (Scham über die Schuldenhöhe), Erwartungs-Emotionen (Furcht vor, Überraschung über und Erleichterung nach dem königlichen Gnadenakt) und Wohlergehen-Emotionen (Trauer angesichts der drohenden Strafe sowie Freude und Dankbarkeit nach dem Erbarmen des Königs). Geschieht jener Transfer seitens des Rezipienten nicht, dürften diese Emotionen allenfalls als externale Erwartungs-Emotionen ausgelöst werden. Dieses feeling for wäre außerdem schwächer zu denken als das sympathische feeling with der ersten Möglichkeit. Eine pragmatische Folge hat diese Szene, für sich genommen, nicht. An ihrem Ende steht v.a. die erstaunte Dankbarkeit über die unerwartete Barmherzigkeit Gottes. Die pragmatische Lektion, die es aus der ersten Szene zu ziehen galt, wird erst in der zweiten Abrechnungsszene deutlich. Hier wandelt sich auch das Empathie- und Sympathiepotential der Figur des ersten Sklaven. Durch den Rollentausch findet er sich plötzlich in der Position des Mächtigen wieder, und auf einmal stehen ihm zwei Wege offen: entweder das übliche Vorgehen der Schuldeneintreibung oder aber dieselbe erbarmende Gnade, die ihm zuvor zuteilwurde. Sein sofortiges Handeln zeigt deutlich, welchen Weg er wählt: Er packt und würgt seinen Mitsklaven und verlangt von ihm die Zahlung seiner Schulden. Sein derart auffällig emotionsloses 101

Es soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ob die immense Summe von zehntausend Talenten Schulden denkbar und möglich war und auf welche Sklaventätigkeit diese schließen lässt, da solche sozialgeschichtlichen Überlegungen nicht im Analysefokus dieser Arbeit liegen (vgl. SCHNEIDER, Barmherzigkeit, 162 f.). Für die emotive Textrezeption ist nur die zweifelsohne erschreckend hohe Summe von Belang. 102 Vgl. dazu VIA, Gleichnisse, 135.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Handeln tritt in markanten Gegensatz zum Mitleid des Königs und charakterisiert ihn demgegenüber als herzlos, geizig und egoistisch. Bereits hier dürfte der Rezipient dreierlei empfinden: Erstens externale Erwartungs-Emotionen (Enttäuschung über das Verhalten des ersten Sklaven; Hoffnung auf dessen Bestrafung), zweitens externale Attributions-Emotionen (Missbilligung, Empörung, Ärger oder gar Zorn über sein Handeln) und schließlich Wertschätzungs-Emotionen (Verachtung für den Sklaven). Diese Emotionen werden noch gesteigert, indem der Sklave auf die Bitte des Mitsklaven, welche seine eigene von zuvor wörtlich wiederholt und ihm das Geschehen geradezu ins Gedächtnis rufen muss, mit unveränderter Härte reagiert: Ὁ δὲ οὐκ ἤθελεν (V. 30). Diese Verseinleitung sticht aus den ansonsten überwiegenden Partizipialkonstruktionen heraus. Ulrich Luz sieht in dieser Formulierung den Punkt, an dem „die Erzählung endgültig eine tragische Wendung“ nimmt.103 Die Reaktion des Sklaven ist ein bloßes NichtWollen (V. 30: οὐκ ἤθελεν). Damit wird aber nicht nur ausgedrückt, dass er keine Geduld mit dem Mitsklaven haben will, sondern auch, dass er jegliches Mitleid verweigert: „[T]he first slave refuses to be moved by pity, and throws the lesser mortal into prison until he can pay the debt of one hundred denarii.“104 Die damalige Normalität dieser energischen Eintreibung von Schulden erwägend, urteilt Jennifer Glancy, dass „the inclemency of the unmerciful slave is deplorable, but not unexpected“105. Seine Reaktion ist demnach nur im direkt vorausgehenden Kontext so empörend. Während der Rezipient – ohne die erste Szene – die Reaktion des ersten Sklaven in der damaligen sozial-kulturellen Lebenswelt neutral zur Kenntnis genommen haben dürfte, kann er dies angesichts der Verbindung zur ersten Abrechnung nicht.106 „Diese Vorgeschichte verfremdet die übliche Brutalität des Alltags“107, was Wolfgang Harnisch als „Entwirklichung“108 und als das „unerträglich Gewöhnliche“109 bezeichnet. Es lässt sich keine Begründung für diese Unbarmherzigkeit finden: Weder bräuchte er das Geld seines Schuldners für die Rückzahlung seiner eigenen Schulden, noch kann er sich nach der Gnade des Königs auf die gesellschaftlich übliche Vorgehensweise der Schuldeneintreibung berufen. Diese Schilderung ist darauf ausgelegt, im Rezipienten erstaunte Empörung im Sinne eines unverständlichen „Wie kann er nur?“ hervorzurufen.110 Dem Sklaven wurde eine neue Handlungsmöglichkeit aufgezeigt, doch nutzt er sie nicht und fällt zurück in alte Handlungsmus103

LUZ, Evangelium III, 66. MCBRIDE, Parables, 116. 105 GLANCY, Slaves, 87. 106 Vgl. MERKLEIN, Gottesherrschaft, 239. 107 LUZ, Evangelium III, 71. 108 HARNISCH, Gleichniserzählungen, 266. 109 A.a.O., 274 (Hervorhebung im Original). 110 Vgl. WEDER, Gleichnisse, 214. 104

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ter, die ganz auf den eigenen materiellen Besitz und das Recht ausgerichtet sind. Die Empörung des Rezipienten initiiert den empathischen Prozess erneut und legt eine Neubewertung nahe: „So könnte ich niemals handeln, wenn mir solche Gnade widerfahren wäre!“ Diese Selbstüberprüfung distanziert den Rezipienten unwillkürlich von der Figur des Sklaven und wandelt seine bisher neutrale oder sogar sympathische in eine immens antipathische Rezeptionshaltung. Die eigenommene Außenperspektive gleicht nunmehr der der Mitsklaven und der des Königs, indem auch der Rezipient über den ersten Sklaven urteilt. Die ethische Begründung an dieser Stelle funktioniert, rhetorisch betrachtet, enthymematisch: Der Rezipient muss eine wichtige Prämisse ergänzen, um die Schlussfolgerung des Herrn nachzuvollziehen. Die erste nennt dieser selbst: Er hat dem Sklaven zuvor seine Schuld vergeben. Zu ergänzen sind im Vorfeld gefallene Aussagen wie etwa die Goldene Regel (7,12: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch“) oder Mt 6,14 f.: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater euch vergeben, wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Vergehungen auch nicht vergeben“ (vgl. 18,35). Diese Aussagen müssen als zweite Prämisse hinzugenommen werden, damit dem Schluss des Herrn „So hättest auch du nun vergeben sollen“ beizupflichten ist. Hier klingt nicht nur der Tun-Ergehen-Zusammenhang an, sondern diesem zugrunde liegt die Beziehung zwischen Gott und Mensch: Gottes endlose Barmherzigkeit gegenüber den Menschen ist in der überraschenden Gnade des Königs wiederzuerkennen, durch welche er eine empathische und wohlwollende Beziehung zu seinem Gegenüber eingeht. Mit dieser jedem menschlichen Handeln vorausgehenden Beziehungstat Gottes darf der Mensch rechnen. Diese Relation nimmt jedweder Unbarmherzigkeit aufseiten der Menschen ihre Berechtigung: Wie der Vater seinen Kindern, so müssen sich auch die Brüder unter sich tun.111 Das Verhalten des Sklaven erscheint auf diesem Hintergrund umso unglaublicher, müsste er sich doch nicht nur aufgrund der Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zu entsprechendem Handeln veranlasst fühlen, sondern vielmehr durch seine eigene Erfahrung der beziehungsschaffenden Gnade.112 Die, theologisch betrachtet, auf dem Prinzip der imitatio dei fußende Reziprozität müsste durch die Erfahrung der Vergebung veranschaulicht und bestärkt werden und somit handlungsmotivierend wirken.113 Indem der Rezipient der Parabel diese enthymematische Schlussfolgerung selbst vollzieht, wird er der Argumentati111

Vgl. MEIER, Vision, 134: „To refuse a brother the forgiveness which has made us sons is to rupture the family bond and to break the lifeline of mercy binding us thorough Jesus to the Father.“ 112 Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 94. 113 Vgl. LUZ, Evangelium III, 73.

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on des Herrn wahrscheinlich zustimmen und Sympathie für dessen Handeln entwickeln.114 Diese Handlungslogik sollte durch die Beteiligung entsprechender Emotionen entscheidend verstärkt und handlungspragmatisch wirksamer werden, d.h.: Die Dankbarkeit und Freude, die der erste Sklave über das ihm zuteilgewordene Erbarmen empfinden müsste, sollte ihn eigentlich dazu befähigen, in einer ähnlichen Situation auch selber Mitleid zu empfinden und genauso zu handeln wie sein Herr. Doch ihm fehlt diese emotionale Konsequenz des Geschehens. Er will nicht. Ihm fehlt der Wille zur Neubewertung der Situation, sogar im Lichte der soeben geschehenen Ereignisse. Insofern ist der Ausdruck des Nicht-Wollens bei Mt häufig Ausdruck für die Verweigerung des Menschen gegenüber Gottes Zuwendung (21,29; 22,3; 23,37).115 Ihm fehlen die grundsätzlichen Emotionen, die ihn zum rechten Handeln bewegen würden: Dankbarkeit gegenüber dem König und Mitleid gegenüber seinem Schuldner. Karin Scheiber, die als eine notwendige Voraussetzung von Vergebung die Reue des Schuldigen herausarbeitet116, plädiert in ihrer Auslegung der Parabel dafür, dass der König seine Gnade deshalb zurücknehme, weil das Verhalten des ersten Sklaven zeige, dass er bei seiner Bitte an den König keine wahre Reue empfunden habe.117 Dies beraube die Gnade wiederum ihrer notwendigen Prämisse und erkläre sie dadurch für nichtig.118 Diese Ansicht muss diskutiert werden. Für Karin Scheibers Auslegung spricht die Figurendarstellung der Parabel, welche den Sklaven als durchweg emotionslos beschreibt. Ihm scheinen viele dem Geschehen angemessene Emotionen zu fehlen; dazu zählt wohl auch Reue. Andererseits wird in der Parabel nichts darüber ausgesagt, wie der Sklave in seine schlimme Lage geraten ist. Er rechtfertigt sie weder mit den Fehlern anderer, noch mit unvorhergesehenen unglücklichen Umständen, noch mit seinem eigenen Versagen. All diese Gründe sind denkbar. Es könnte durchaus sein, dass sich der Sklave keiner tatsächlichen Schuld bewusst ist und daher nicht bereut. Dazu stellt V. 33 klar, dass der König seinen Gnadenakt nicht aufgrund des Verhaltens des Sklaven vor oder während seiner Bitte zurücknimmt, sondern weil Letzterer die ihm erfahrene Barmherzigkeit danach nicht selbst geübt hat. Es ist somit nicht ersichtlich, dass der König seine Gnade zurücknimmt, weil die nötigen Prämissen dafür nicht gegeben waren. Vielmehr ist der Empfänger der daraus resultierenden Handlungsforderung nicht nachgekommen. Die Motivation zu einer aktiven Nachahmung resultiert nicht primär aus Reue, sondern aus 114

Vgl. die rhetorische Funktion des Enthymems bei WALKER, Rhetoric, 313 f. Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 84. 116 Vgl. SCHEIBER, Vergebung, 231. 117 Vgl. a.a.O., 234–236. 118 Vgl. a.a.O., 236. 115

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Dankbarkeit über erfahrene Gnade. Mit anderen Worten: Dankbarkeit, deren Objekt erlebte Barmherzigkeit ist, kann diese danach wiederum auslösen. Objekt der Reue hingegen ist eigenes Versagen und motiviert somit allenfalls zur flehentlichen Bitte um Vergebung einerseits und zu einer besseren eigenen Haushaltung in der Zukunft. Freilich könnte im ersten Sklaven die soeben empfundene eigene Reue nur wenig später eine empathisch-affirmative Sichtweise auf die Lage des Schuldners bewirken, indem Ersterer dessen Reue nun mitempfndet. Doch ist es letztlich der selbst erlebte Kontrast zwischen Verzweiflung und dankbarer Freude, welcher der Barmherzigkeit so viel Achtung und Wert verleiht, dass diese als eigene Handlungsoption übernommen wird. Entsprechend interpretiert auch Karin Scheiber: Der Sklave empfinde nach seiner Begnadigung „keine Dankbarkeit für die Großherzigkeit des Königs, sondern ist einfach froh, es noch einmal ‚geschafft‘ zu haben“119. Karin Scheiber geht es in ihrer Auslegung freilich weniger um die emotionale Handlungsmotivation des Sklaven als vielmehr um den Grund, warum der König seine Gnadenhandlung zurücknimmt. Und obgleich ihr Schluss, der Sklave habe bei seiner Bitte an den König keine wahre Reue empfunden, durchaus möglich ist120, ist diese Emotion nicht diejenige, um welche es der Parabel zentral geht: Wie gezeigt, liegt der Fokus der Parabel stärker auf dem Danach der Vergebung als auf dem Davor. Dementsprechend hängt auch der motivationale Aspekt stärker an der Dankbarkeit über die zuteilgewordene Gnade, welche zu einer entsprechenden Verhaltensimitation des Sklaven hätte führen sollen. Trotzdem führt der Gesichtspunkt der Reue in einem anderen Aspekt weiter: Denn es ist nicht nur die fehlende Dankbarkeit über sein eigenes Schicksal, welches die Vergebungsbereitschaft des Sklaven hemmt. Wie gesagt, hätte die eigene Reue die Möglichkeit erhöht, die Reue des Schuldners nachzuvollziehen und ihm somit Mitleid und erbarmendes Verhalten entgegenzubringen. Doch der Sklave verfügt – im Gegensatz zum König – nicht über eine solche Empathie-Fähigkeit. Sein Verhalten verrät ein „imaginatives Ausblenden“ der Perspektive seines Gegenübers und ein daraus resultierendes „affektives Defizit“121. Er denkt nicht vom Anderen her, sondern sieht nur seine eigenen Interessen. In Matthias Konradts Worten: „Positiv gewendet: Aus der Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit coram Deo erwächst Matthäus zufolge organisch als zwischenmenschliches Handlungsprinzip, das Verhalten gegenüber dem anderen nicht am eigenen Recht, sondern an dessen Bedürftigkeit auszurichten.“122

119

A.a.O., 235. Vgl. ebd. 121 Vgl. AMMANN, Rolle, 145.149. Christoph Ammann arbeitet hier eine solche fehlende Empathie für David gegenüber Uria und Batseba heraus (vgl. 2 Sam 11–12). 122 KONRADT, Mitleid, 418 (Hervorhebung im Original). 120

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Die Distanz und Entfremdung vom Nächsten findet ihre Entsprechung in der Bestrafung des Sklaven am Ende der Parabel, die ihn endgültig von der Welt trennt.123 Auf diese Weise „ist die Parabel Werbung, oder besser: persuasive Rede. Sie will den Hörer herauslocken aus der festgefügten Burg rein rechtlich orientierten Verhaltens. Sie lässt ihn, indem er den Knecht verurteilt, ehe er sich’s versieht, sich selber verurteilen, sofern er solch rechtlichunbarmherzige Handlungsweise nicht aus seinem Handlungsrepertoire verbannt.“124

Der Sklave bewertet also sein Verhalten und Handeln weder aufgrund seiner eigenen Vergangenheit noch aufgrund des Anblicks seines Schuldners neu und ändert es, und mit den Worten Karin Scheibers resümiert: „Würde er sich erkennen als der, der er ist [d.h. einem, dem Vergebung zuteilwurde], dann würde er dieses Erbarmen weiter wirken lassen gegenüber dem, der in seiner Schuld steht. Und dabei geht es […] um tätige Nächstenliebe, die dem andern die Freiheit zukommen lässt, die er selbst auch nur als Empfangender besitzt.“125

Angesichts dieser empathischen Umbewertung des ersten Sklaven im Zuge der zweiten Szene der Parabel sehen die Rezeptionsemotionen im vierten Erzählabschnitt anders aus. Aufgrund seiner Empörung dürfte der Rezipient die bestrafende Reaktion des Königs erwarten, ja vielleicht sogar erhoffen. Es sind hier externale Erwartungs-Emotionen (Befriedigung über die Anklage des Sklaven) und Empathie-Emotionen (Schadenfreude, Genugtuung über die Bestrafung des Sklaven) möglich.126 Mit V. 35 schließlich wandelt sich die emotionale Rezeption der Parabel noch ein letztes Mal: Indem der Erzähler Jesus nun autoritativ die Erzählung auf alle Menschen bezieht und durch den Satz οὕτως καὶ ὁ πατήρ µου ὁ οὐράνιος ποιήσει ὑµῖν, ἐὰν µὴ ἀφῆτε ἕκαστος τῷ ἀδελφῷ αὐτοῦ ἀπὸ τῶν καρδιῶν ὑµῶν die Narration mit einer expliziten Warnung beschließt, wird der Rezipient dazu gebracht, sich selbst zu prüfen. Zwar lenkt die Erzählung den Rezipienten dahingehend, sich von der Figur des unbarmherzigen Sklaven abzugrenzen. Doch gerade diese Verurteilung, die sich in der Genug123

So die existenziale Deutung von Dan O. Via: „Die schließliche physische Isolation des unbarmherzigen Knechts von seinem Herrn und von seinen Mitknechten bekräftigt nur die Entfremdung von anderen, die von Anfang an in seinem Selbstverständnis enthalten war und niemals durchbrochen wurde.“ (VIA, Gleichnisse, 136). 124 MERKLEIN, Gottesherrschaft, 241. 125 SCHEIBER, Vergebung, 230. 126 An dieser Stelle ist mit Hanna Roose darauf hinzuweisen, dass eine mögliche „Diskrepanz zwischen zeitgenössischer und moderner Rezeptionshaltung“ besteht: „Die Vergebungsthematik in Verbindung mit der überraschenden, unverdienten Geste des Königs kann heutige (protestantische) Leserinnen dazu animieren, sich spontan mit dem 1. Sklaven zu identifizieren, dem seine Schuld ‚aus Gnade‘ vergeben wird [und es] empfinden moderne Rezipienten die 3. Szene vielleicht als deutlich problematischer als ihre urchristlichen Vorgänger.“ (ROOSE, Aufleben, 458).

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tuung über die Bestrafung dieses Sklaven widerspiegelt, muss dem Rezipienten jetzt zeigen, dass er geradewegs „in die Falle getappt“ ist: Er hat dem unbarmherzigen Sklaven ebenso wenig vergeben wie dieser seinem Mitsklaven; auch er hat den „Weg des gemeinen Rechts“ eingeschlagen, indem er die Bestrafung des Sklaven erhofft hat. Die Parabel spielt geradezu mit der Zustimmung des Rezipienten zur Bestrafung des Sklaven. Hierdurch wird letztlich Gottes Strafhandeln im Gericht verständlich gemacht. Doch gleichzeitig zeigt sie das anthropologische Problem dahinter auf: Der Rezipient überführt sich bei der Hoffnung auf Bestrafung und der Genugtuung über die Strafe des Sklaven selbst und erkennt darin das kommende Urteil über sich selbst. Diese Erkenntnis dürfte im Rezipienten noch einmal starke Emotionen hervorrufen, die nun wiederum gänzlich internal sind: So etwa Attributions-Emotionen (Scham über die eigene Vergebungsunfähigkeit), Wohlergehen-Emotionen (Selbstunzufriedenheit über diese Unfähigkeit) und Erwartungs-Emotionen (Furcht vor dem Gericht Gottes). Der Folgerung Helmut Merkleins, dass „die Parabel nicht mit der Angst“ arbeite, ist daher nicht zuzustimmen. Zwar ist seine Beobachtung korrekt, dass dem Rezipienten „nicht autoritär erklärt [wird]: Wenn du nicht barmherzig bist, wirst du bestraft! Die Geschichte verwendet vielmehr alle Mühe darauf, den Hörer selbst zu diesem Urteil zu bringen, indem sie ihm den Grund dazu liefert und es so als selbstverständlich erscheinen lässt.“127 Dennoch muss die Drohung im abschließenden V. 35 beachtet werden. Die Parabel droht in der Tat mit dem Gericht, denn dieses blüht denen, die nicht vergeben.128 Der Rezipient soll am Ende der Parabel erkennen, wie schwer diese unendliche Vergebungsbereitschaft tatsächlich zu erreichen ist. Mit dieser emotionalen Pragmatik endet die Parabel und hinterlässt durch ihre Emotionen die Motivation, das eigene Verhalten aufmerksamer zu überprüfen und zu modifizieren. Die in V. 35 intendierten Rezeptionsemotionen sind somit für den pragmatischen Rezeptionsvorgang von immenser Bedeutung: Denn am Ende der Erzählung wirken sie besonders nach und vermögen, den Rezipienten auch darüber hinaus noch zu beschäftigen sowie entsprechendes Handeln zu motivieren.

127

MERKLEIN, Gottesherrschaft, 241. Aufgrund der starken Prominenz des Gerichtsmotivs im Mt-Ev, das nicht nur in metaphorischen Textarten wie den Parabeln vorkommt, sondern von Jesus ganz offen und direkt angesprochen wird (vgl. 5,21 f.; 7,1 f.; 10,15; 11,22–24; 12,36.41 f.; 23,33), wird hier nicht davon ausgegangen, dass das Gericht Gottes für Mt eine Metapher ist (vgl. MÜLLER, Gott, 48 f.). Es ist anzunehmen, dass Mt, gerade weil ihm das Gericht Gottes so wichtig ist, an ganz zentralen Stellen metaphorisch davon reden kann, ohne das Wort explizit zu verwenden (vgl. 13; 24–25). Dass sich aber Mt, wo er ganz konkret vom Gericht Gottes spricht, metaphorisch über eine Metapher äußert, ist – wenngleich nicht unmöglich – m.E. nicht sehr plausibel. 128

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

c) Der Mitsklave Der Begriff σύνδουλος zeigt zunächst an, „dass die beiden derselben Klasse angehören und eigentlich solidarisch sein müssten“129. Davon abgesehen, ist das Nomen im NT nicht sehr häufig. Außer in Mt 18,28 f.29.33; 24,49 kommt es noch in Offb 6,11; 19,10; 22,9 zur Bezeichnung von christlichen Märtyrern und in Kol 1,7; 4,7 zur Bezeichnung von Epaphras und Tychikus vor. Obgleich diese Texte wohl jünger als das Mt-Ev sind, ist es plausibel anzunehmen, dass dem Begriff die religiöse Bedeutung des „Mitchristen“ anhängt und im Hinblick auf den Kontext der Gemeinderede, in welchem sich diese Parabel findet, erlangt diese Annahme umso mehr Glaubwürdigkeit.130 Wenn diese Konnotation des Begriffes zur Zeit des Mt bereits existierte, dürfte der Rezipient diese übertragene Bedeutung des Nomens problemlos erfasst haben. Beide Nuancen des Begriffs verstärken die Empörung des Rezipienten über das unbarmherzige Verhalten des Sklaven. In dem zur ersten Abrechnungsszene auffällig gleichlautend geschilderten Ablauf fällt jedoch auf, dass das προσεκύνει aus V. 26 durch παρεκάλει (V. 29) ersetzt ist. Dies erscheint auf dem Hintergrund der übertragenen Bedeutung nur logisch: Im König soll Gott gesehen werden, doch beide Sklaven sind nur Menschen. Eine Proskynese ist daher in der zweiten Szene nicht angebracht. Abgesehen davon lauten die beiden Reaktionen der Sklaven auf die Forderung ihrer Gläubiger vollkommen gleich. Dies „ist ein hervorragendes erzählerisches Stilmittel“, um die Erwartung im Rezipienten zu bekräftigen, dass der Sklave nun in gleicher Manier wie der König auch seinem Mitsklaven vergibt.131 Das Empathiepotential des Mitsklaven ist nicht allzu hoch einzuschätzen. Ein Rezipient, der noch mit einer sympathischen Haltung gegenüber dem ersten Sklaven in die zweite Szene übergeht, kann sich schon aufgrund dessen zunächst nicht im Mitsklaven sehen. Und ein anderer Rezipient, der sich schon im ersten Sklaven nicht hat sehen wollen, wird dies auch in der zweiten Szene nicht tun. Durch das gewalttätige Handeln des ersten Sklaven an dem zweiten wird jedoch das empathisch-sympathetische Potential dieser Figur umso mehr gesteigert. Obgleich auch er Geld schuldet, löst die unbarmherzige Forderung seines Gläubigers im Rezipienten die Empathie-Emotion des Mitleids über sein Ergehen, aus. Doch im Grunde bleibt der Mitsklave eine Figur mit der einzigen Funktion, die mangelnde Vergebungsbereitschaft des ersten Sklaven zu demonstrieren. Die Perspektive der Szene liefert weiterhin der unbarmherzige Sklave, er bleibt im Vordergrund der Szene und daher richten sich die Rezeptionsemotionen nicht in erster Linie auf den gepeinigten Schuldner. Dass diese Perspek129

LUZ, Evangelium III, 71; Anm. 51. Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 83. 131 Ebd. 130

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tive jedoch verhängnisvoll ist, das zeigen erst die beiden folgenden Erzählabschnitte. d) Die Mitsklaven Im folgenden V. 31 tritt ein Figurenkollektiv auf: οἱ σύνδουλοι αὐτοῦ. Aus zwei Gründen können diese nicht nur als reine „Statisten“132 oder „Staffage“133 bezeichnet werden: Erstens, wie bereits begründet, hätte der Autor der Parabel diesen Vers auch auslassen können; dass er ihn einfügt, ist als besonders wichtig anzusehen. Zweitens – und für die Fragestellung dieser Arbeit besonders wichtig – sind sie neben dem König die einzige Figurengruppe mit explizit geschilderten Emotionen. Ihr Empathiepotential wird durch die Nennung ihrer Emotionen zwar erhöht, doch gleichzeitig dadurch gesenkt, dass die von Mt genannte Emotion sich nicht auch mit den Rezeptionsemotionen decken dürfte. Die oben wahrscheinlich gemachten Emotionen der Empörung, des Ärgers oder Zorns aufseiten des Rezipienten über das Verhalten des unbarmherzigen Sklaven entsprechen nicht der Traurigkeit der Mitsklaven.134 Deren emotionale Reaktion erscheint beim ersten Hören befremdlich und dürfte im Rezipienten daher nicht dasselbe auslösen. Die Erzählung macht plausibel, dass sich die Emotionen, die dieses Figurenkollektiv auslösen, v.a. auf ihr Handeln statt auf ihre Emotion beziehen, welches der aufmerksame Rezipient als sehr ambivalent zur Kenntnis muss: So ihm Mt 18,15–20 noch im Ohr nachklingt, müsste er sich sogleich fragen: Ist die Reaktion der Sklaven richtig? Sollten sie ihren Kollegen nicht zunächst allein ermahnen und ihn davon überzeugen, dass sein Handeln im Lichte der ihm gewährten Gnade unbarmherzig und falsch ist? Auf der anderen Seite dürfte die Empörung über die Unbarmherzigkeit des Sklaven, die zuvor im Rezipienten noch Hoffnung auf eine angemessene Bestrafung ausgelöst hat, dazu führen, dass der Rezipient über die Berichterstattung der Mitsklaven Attributions-Emotionen (Zufriedenheit) und externale Erwartungs-Emotionen (Befriedigung) empfindet. Erst am Schluss der Parabel, durch V. 35, löst sich die Spannung auf, die durch V. 31 hervorgerufen ist. Auf einmal erscheint die pragmatische Funktion der Emotion der Mitsklaven verständlich: Dem Rezipienten wird vor Augen geführt, wohin Ärger und Zorn führen, nämlich zu noch mehr Zorn und verurteilendem, richtendem Handeln, kurz: zum Gegenteil der Vergebung. Genau diese Emotion ist es, die den Menschen am Ende der Zeit beim Gericht Gottes alles kosten wird. Somit führt V. 35 zurück zu V. 31 und erklärt 132

Gegen Kurt Erlemann, vgl. ERLEMANN, Bild, 76. Gegen Wolfang Harnisch, vgl. HARNISCH, Gleichniserzählungen, 259. 134 Gegen die Deutung von Ulrich Luz, der in der Traurigkeit der Mitsklaven denselben Ärger der Rezipienten sieht: „Die Mitsklaven, die das sehen, sind empört und empfinden damit etwa das, was auch die Hörer/innen empfinden sollen.“ (LUZ, Evangelium III, 72). 133

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

dessen Rolle in der Parabel: Die Mitsklaven werden traurig, nicht ärgerlich oder zornig. Dies ist die angemessene emotionale Reaktion auf das Vergehen eines Menschen an seinem Mitmenschen. Die Emotion richtet sich dabei ganz auf das Opfer und gleicht somit dem Mitgefühl des Königs, das bereits im ersten Erzählabschnitt in Szene gesetzt wurde. Ärger dagegen richtet sich auf den Täter, sinnt auf Rache und führt leicht zu zerstörerischem Handeln. Weil eine solche Spirale der Gewalt verhängnisvoll ist, muss diese Emotion gänzlich Gott überlassen werden. Entsprechend überlassen die Mitsklaven alles Weitere dem König. V. 35 zeigt somit zweierlei: erstens, dass die empörte, zornige Reaktion auf das Fehlverhalten eines Mitmenschen die vergebende Barmherzigkeit hindert, die Gott vom Menschen fordert (9,13; 12,7). Das Handeln der Mitsklaven ist daher nicht völlig unproblematisch, führt ihr Bericht des Geschehens doch erst zur Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven; sie haben ihm ebenfalls nicht vergeben.135 Während der Rezipient es durch 18,15–17 hätte besser wissen können, verfügen die Figuren der Parabel nicht über dieses Wissen und handeln daher verzweifelt nach der einzigen Möglichkeit, die sie sehen – und berichtem das Geschehen dem König. Dieser erzählerische Kniff erinnert den Rezipienten zum einen an 18,15–17 und führt ihm eine Alternative vor Augen. Zum anderen ist dieser Kniff für den Erzählverlauf durchaus wichtig: Er führt ebenfalls vor Augen, dass die Mitsklaven die Bestrafung ihres Kollegen sofort in die Wege leiten. Sie lassen ihm keine Zeit mehr zur Umkehr, zur Besserung seines Verhaltens, sondern nehmen das Urteil des Königs vorweg. Dieses Vorwegnehmen wird auf der metaphorischen Ebene der Parabel für den Rezipienten fatal, wird er doch einmal mit demselben Maß gemessen, mit dem er schon jetzt seine Mitmenschen misst, und ist gleichzeitig stets für seine eigene Umkehr und Buße auf Gottes Langmut angewiesen (vgl. 3,2.7–10; 4,17; 7,1 f.). Damit lehrt die Parabel durch den Einschub V. 31 zweitens, dass nicht nur aktives, vergeltendes Handeln, sondern bereits das verurteilende Richten im Fühlen und Denken verhängnisvoll ist. Die Mitsklaven überlassen die tatsächliche Bestrafung dem König, doch haben sie selbst diese erhofft und gewünscht. Diese Erkenntnis bringt die dritte Abrechnungsszene zu ihrem Höhepunkt, wenn dem Rezipienten, der auf die Hoffnung hingelenkt wurde, dass der Sklave „nicht ungeschoren davon kommt“, in V. 35 die seiner Hoffnung zugrundliegende Unbarmherzigkeit vor Augen geführt wird. Die Mitsklaven reagieren zwar gemäß ihrer empathischen Perspektive emotional richtig, indem sie den Leidenden, nicht den Täter sehen. Doch ihr daraus resultierendes Handeln bezieht sich auf Letzteren und ist somit verhängnisvoll.

135

Vgl. SCOTT, Parable, 279 f.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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3.3.3 Raum Der Raum ist ebenfalls ein interessantes Werkzeug der Leserlenkung: Es wird ein diametraler Gegensatz zwischen einem inneren und äußeren Aktionsraum deutlich. Am Hof des Königs – obgleich dieser Ort nur implizit erschlossen werden kann – ist der König der Agierende und er lässt seinem Sklaven Erbarmen (V. 27) oder Strafe (V. 34) zuteilwerden. Draußen aber – erkennbar am Präfix von ἐξελθὼν (V. 28) – ist der Sklave der Agierende und er handelt an seinem Mitsklaven erbarmungslos. Draußen erscheint als der Ort der Bewährung für den Sklaven. Wie nutzt er seine gewonnene Freiheit? Ersichtlich wird dabei, dass er den Raum des Königshofs genauso schnell hinter sich lässt wie auch das ihm dort widerfahrene Erbarmen. Diese Erfahrung hat, wie gesagt, keinerlei Konsequenzen für sein eigenes Handeln draußen. Mit der Dimension des Raumes wird in der Parabel gespielt, um ihre Botschaft zu veranschaulichen: Die Erfahrung zwischen Gott und Mensch muss die Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch beeinflussen. Diese beiden Dimensionen dürfen nicht als zwei verschiedene angesehen werden. Der unbarmherzige Sklave scheitert an dieser Aufgabe. Trotz dieser interessanten Beobachtungen zum Raum ist allerdings nicht anzunehmen, dass dieses Erzählelement im Rezipienten Emotionen hervorruft. Der Königshof könnte durch seine Übertragung auf die göttliche Sphäre eine respektvolle, ehrfurchtsvolle Stimmung und Rezipientenhaltung wecken; doch da die Orte nicht näher beschrieben, ja, nicht einmal explizit genannt werden, ist unwahrscheinlich, dass der Autor der Parabel darauf abzielt. Daneben scheint noch ein anderer Ort auf, nämlich der des Gefängnisses und der Foltersklaven (V. 30.34). Dieser Ort fungiert jedoch lediglich als eine Art Schauraum und wird kaum konkret. Doch ist er als Ort der Bestrafung mit negativen Emotionen besetzt, die er im Rezipienten auch durch die nur knappen Randbemerkungen auslösen zu wollen offenbart (V. 30: εἰς φυλακήν; V. 34: τοῖς βασανισταῖς). Freilich erreichen diese Emotionen erst durch die Übertragung auf die Hölle als Ort der ewigen Bestrafung für die im Gericht Verurteilten ihre volle Wirkung. Diesen Transfer legt die Parabel zum einen durch V. 35 und zum anderen durch intratextuelle Bezüge wie 5,22–26; 8,11 f. und 13,41 f.49 f. nahe. Das Gefängnis als Ort der Folter wird so zur narrativen Entsprechung der jenseitigen Welt der Strafe Gottes. Solche Jenseitsräume wecken zunächst Angst, weil sie für den Menschen unbekannt und unkontrollierbar sind.136 Diese Angst nutzt der Evangelist Mt hier – wie auch in vielen anderen seiner Parabeln – bewusst, um die ethische Pragmatik der Erzählung zu verstärken. Je stärker die Angst vor der „höllischen Bestrafung“, desto eher wird die moralisch-ethische Botschaft im eigenen Leben angewendet und umgesetzt. Insofern steht der furchteinflösende Raum der 136

Vgl. BÖHME, Himmel, 64.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Folterkammer im Gefängnis wirkungsvoll am Schluss der Parabel, indem das emotionalisierende Moment dieses Raumens durch den Rezenzeffekt verstärkt wird. 3.3.4 Zeit Für eine genaue emotive Untersuchung der Zeitdimension der Parabel dient der Blick auf die verwendeten Tempora als erste Grundlage. Rein formal lassen sich wenige verschiedene Tempora in der Parabel ausmachen. Sie steht vorwiegend im Erzähltempus des Aorists. Interessant ist dabei freilich, dass bereits der einleitende Rahmensatz in diesem Vergangenheitstempus steht: Ὡµοιώθη ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν ἀνθρώπῳ βασιλεῖ (V. 23). Exkurs: Der Tempusgebrauch in den Einleitungen der mt Parabeln Die einleitenden Verse der mt Parabeln sind insofern von sprachlichem Interesse, als alle Zeitformen darin vertreten sind. Dreimal erscheint der Aorist (ὡµοιώθη ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν + Dat.: 13,24; 18,23; 22,2). Ebenfalls dreimal beginnen Parabeln ohne besondere Einleitung direkt in medias res mit diesem Erzähltempus (13,3; 21,33; 25,14). An nur zwei Stellen begegnet das Futur (ὁµοιωθήσεται ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν: 25,1; in medias res: 25,31f). Am häufigsten findet das Präsens Verwendung (Formulierung mit ὁµοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν: 13,31.33.44 f.47; 20,1). Oftmals wird auch eine präsentische Frage gestellt (18,12; 21,28; 24,45). Die überaus kurzen parabolischen Sätze Jesu in der Bergpredigt137 beginnen ebenfalls präsentisch oder gar mit einer präsentischen Aufforderung (5,13.15.25.29; 6,22.24.26; 7,2.3.6.7.13.16). Diese sprachliche Problematik der mt Parabeln wird von Christian Münch ausführlich diskutiert, der sie löst, indem er den futurischen Formen einen direkten Bezug auf künftige Ereignisse beim Gericht Gottes zuschreibt und die Aorist-Einleitungen entweder als gnomischen Aorist im Sinne des hebräischen Perfekts auffasst (präsentische Bedeutung) oder darin die Betonung des Sachverhaltes liest, dass das Himmelreich durch die Vergangenheit bestimmt ist.138 Der Versuch, die Tempora der Einleitungen anhand des jeweiligen Parabelkontextes her zu begründen,139 ist insofern problematisch, als bei allen Parabeln prinzipiell jede der drei Tempora als Einleitung möglich wäre, da 137 Um diese als Parabeln aufzufassen, muss die Parabel-Definition des von Ruben Zimmermann herausgegebenen Kompendiums der Gleichnisse Jesu akzeptiert werden (s.o. Kap. 5.1). 138 Vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 138–140. 139 Diesen Weg geht Walter Grundmann und deutet die drei im Aorist gehaltenen Parabeleinleitungen in Mt 13,24; 18,23 und 22,2 jeweils auf unterschiedliche Weise (vgl. GRUNDMANN, Evangelium, 345.423.468).

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jede Erzählung sowohl die Vergangenheit, die Gegenwart, als auch die Zukunft aufnimmt.140 Interessant ist in diesem Zusammenhang, die die Bergpredigt abschließende Parabel vom Hausbau heranzuziehen, die ohne Zweifel – welcher Parabeldefinition man auch folgen mag – als die erste längere, gleichnishafte Erzählung Jesu angesehen werden kann. In ihrer Einleitung (7,24) begegnen alle drei Tempora: Πᾶς οὖν ὅστις ἀκούει µου τοὺς λόγους τούτους καὶ ποιεῖ αὐτούς (Präsens), ὁµοιωθήσεται ἀνδρὶ φρονίµῳ (Futur), ὅστις ᾠκοδόµησεν αὐτοῦ τὴν οἰκίαν ἐπὶ τὴν πέτραν (Aorist). Diese Zeitstruktur wird im zweiten Teil der Parabel noch einmal exakt wiederholt (7,26).141 Die Vermischung der Tempora ist erzähltechnisch nicht erforderlich. So hätte genauso die Möglichkeit der Formulierung bestanden, dass Jesus einen Menschen, der sein Haus auf Fels baut (Präsens), mit einem klugen Mann vergleicht (Präsens) oder aber einen, der sein Haus auf Fels bauen wird (Futur), mit einem klugen Mann vergleicht (Präsens). Für die Erzähllogik ist diese temporale Vielfalt nicht nötig. Sie vermag sogar etwas Verwirrung zu stiften. Bspw. drängen sich die Fragen auf, wann Jesus diesen Menschen mit einem klugen Menschen vergleichen wird; wann und warum dieser Mensch in der Vergangenheit beschlossen hat, sein Haus auf Fels oder Sand zu bauen, und wie dieser vergangene Hausbau mit gegenwärtigem Hören und Tun gleichgesetzt werden kann. Betrachtet man diese sprachliche Beobachtung zusammen mit den übrigen Parabeleinleitungen, die das Tempus wechseln, führt dies m.E. nur zu einem möglichen Schluss: Dem Evangelisten Mt geht es um die Verdeutlichung eines einheitlichen Zeitverständnisses. Das Reich Gottes hat ebenso vergangene wie gegenwärtige wie auch zukünftige Aspekte und keiner davon darf aus dem Blick geraten. Alle Zeitdimensionen sind signifikant, wenn es um das Reich Gottes geht. Daher bilden die Parabeln Jesu all diese Zeitebenen narrativ ab.142 Dahinter könnte ein übergeordnetes, göttliches Zeitverständnis stehen, das die Trennung der Zeitdimensionen im Sinne der menschlichen Wahrnehmung gänzlich auflöst. Doch selbst wenn diese Annahme zu weit ginge, lässt sich anhand des Textbefundes durchaus stark machen, dass auch für Mt – nicht nur für Joh – das Reich Gottes eine bereits gekommene, die Gegenwart neu qualifizierende und somit schon gegenwärtige als auch zukünftige Größe ist. Dabei darf es nicht als Zufall betrachtet werden, dass Parabeln über das Reich Gottes – das im Sinne eines apokalyptischen Zeitverständnisses als eine prinzipiell zukünftige Verheißung gedacht ist – am wenigsten häufig mittels des Futurs eingeleitet werden. Dass die Vollendung 140

Vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 138. Statt der präsentischen Indikativformen begegnen in V. 26 zwar präsentische Partizipien, doch bleibt das Tempus dabei erhalten. 142 Vgl. a.a.O., 166. 141

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des Reiches Gottes noch aussteht, scheint für Mt nicht weiterer Betonung wert zu sein. Auch auf die heilsgeschichtliche Vergangenheit muss er in den Parabeln nicht besonders anspielen, handelt doch sein gesamtes Evangelium von der entscheidenden Heilstat Gottes in der Vergangenheit – von Jesu Leben, Handeln, Tod und Auferstehung. Außerdem kommt die Vergangenheit auch an vielen anderen Stellen immer wieder durch intertextuelle Schriftverweise zur Sprache, um zu betonen, dass Gott zeitübergreifend handelt (1,22 f.; 2,6.15–23; 4,14–16; 8,17; 9,13; 12,7.17–21; 13,14 f.35; 21,4 f.; 27,9 f.). Dass das Präsens überwiegt, zeigt an, welche Zeitdimension für Mt in den Fokus rückt: Es ist die Gegenwart, die mit all ihren anspruchsvollen Herausforderungen, Prüfungen und Entscheidungssituationen gemeistert werden will. Es ist weder angebracht, sich uneingeschränkt auf zurückliegende Ereignisse zu verlassen (vergangenes Heilsgeschehen in Jesu Leben und Handeln), noch naiv ausschließlich auf künftige Geschehnisse zu hoffen (zukünftige Barmherzigkeit im Gericht Gottes). Im Hinblick auf Mt 18,23 ist daher der Aorist durchaus beachtenswert: Die Parabel beginnt absichtlich mit diesem erzählenden Tempus, das, wie Hubert Frankemölle es deutet, den „Blick des Lesers in die Vergangenheit, kontextuell auf das sprachliche und nichtsprachliche Handeln Jesu“ lenkt.143 Damit wird durch die narrative Darstellung sogleich betont, dass das vergebende Gotteshandeln, das in der ersten Abrechnungsszene geschildert wird, allem menschlichen Handeln vorausgeht und wiederum eine Forderung an die Gegenwart stellt. Insofern deutet diese Parabeleinleitung ein besonderes Zeitverständnis an, das im Folgenden näher betrachtet werden soll. Entsprechend der Einleitung bleibt die gesamte Erzählung im Aorist. Einzige Ausnahmen sind die direkten Reden, in denen auch präsentische und futurische Verbformen vorkommen (V. 26.28 f.) sowie V. 32. Die direkten Reden verlebendigen die Narration und dienen dem Distanzabbau zu den jeweiligen Figuren (V. 26.28: Sklave; V. 29: Mitsklave). Sie fungieren wie ein Kamerazoom und zeigen dadurch an, welche Aktion jeweils im Vordergrund der Erzählung steht: Nicht etwa die Aufforderung des Königs an den Sklaven, seine Familie in die Sklaverei zu verkaufen, sondern die Bitte des Sklaven wird betont. Diese Bitte wird in krassem Gegensatz zum nächsten explizit ausformulierten Satz des Sklaven gestellt, mit dem er seinen Mitsklaven auffordert, seine Schulden zu begleichen. Die folgende Bitte des Mitsklaven steht dabei parallel zur vorigen Bitte des ersten Sklaven an den König und unterstreicht den Gegensatz vollends. Den Höhepunkt erreicht die Erzählung mit V. 32. Hier wechselt der Erzähler plötzlich und einmalig ins historische

143

FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 266.

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Präsens.144 Dieses Tempus erinnert nicht nur an die der Parabel direkt vorangegangene Einleitung der Belehrung Jesu (V. 22: Λέγει αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς) und verleiht der Rede des Königs somit göttliche Autorität und dient als weiteres Transfersignal. Auch beschleunigt sich hierdurch das Geschehen; das Drama spitzt sich zu und die Spannung löst sich – zuungunsten des unbarmherzigen Sklaven. Er kommt dabei nicht mehr zu Wort. Die Feststellung des Schuldenerlasses und die folgende, mehr rhetorisch klingende Frage des Königs an ihn können aufgrund dieser erzähltechnischen, grammatischtemporalen Mittel als der Kernsatz und damit die zentrale Botschaft der Parabel angesehen werden. Untersucht man die Parabel darüber hinaus auf zeitliche Aspekte, so fallen solche nur an wenigen Stellen auf: Zum einen fängt der König gerade mit seiner Abrechnung an, als ihm der Sklave vorgeführt wird. Der Genitivus absolutus ἀρξαµένου δὲ αὐτοῦ (V. 24) muss insofern Aufmerksamkeit erregen, als der Zeitpunkt der Vorführung des Sklaven vor dem König für den Erzählverlauf im Grunde unerheblich ist. Warum aber ist es dem Erzähler wichtig, darauf hinzuweisen, dass dies gleich zu Anfang der Abrechnung geschieht? Auf der Ebene des Erzählgeschehens könnte es freilich nur ein stilistisches Erzählelement sein: Die Geschichte beginnt am Anfang, d.h. am Anfang der Abrechnung. Es könnte aber auch die Großzügigkeit des Königs betonen. Wenn dieser bereits zu Beginn seiner Schuldeneintreibung solche Geldsummen vollständig erlässt, ist dann anzunehmen, dass er überhaupt etwas von seinen gewährten Darlehen zurückbekommt? Vielleicht wäre seine großzügige Stimmung am Ende eines langen Abrechnungstages glaubwürdiger gewesen. Es ist gut möglich, dass diese Zeitpunktangabe zusätzlich betonen möchte, wie ungewöhnlich das Erbarmen des Königs ist, und diese Emotion und somit auch die damit verbundenen, oben aufgezeigten Rezeptionsemotionen noch zu verstärken vermag. Auf der Ebene des existentiellen Transfers ist diese gleich zu Beginn der Parabel stattfindende Sensibilisierung des Rezipienten für die Dimension der Zeit jedenfalls als bedeutsam anzusehen: Am Anfang steht der hoffnungslos sündige Mensch vor Gott und ihm wird uneingeschränkt vergeben. Dieser vorausgehende Akt der Gnade steht zu Beginn der Geschichte zwischen Gott und Mensch und wird im Folgenden noch von besonderem Interesse sein, da er einen wichtigen Baustein für das Verständnis des mt Zeitkonzeptes bildet.145 Es ist anzunehmen, dass in diesem Gnadenereignis des Königs das Christusgeschehen zu sehen ist.146 Es muss 144 Dieses Tempus ist besonders zu beachten, da es bei Mt nur selten auftaucht, vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 198. 145 So betont auch Hans Weder den vorausgehenden Gnadenakt als zentrales Element der Erzählung, welcher der nachfolgenden Verurteilung gegenübersteht. Doch untersucht er die Zeitdimension in der Parabel nicht eigens auf ihr implizites Zeitverständnis (vgl. WEDER, Gleichnisse, 214–218). 146 Vgl. a.a.O., 216.

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aber eingestanden werden, dass die Erzählung diesen Transfer nicht deutlich macht: Der König vergibt die Schuld des Sklaven aufgrund seiner Bitte, und es tritt keine Mittlerinstanz auf, die auf Jesus gedeutet werden könnte. Daher kann ein dezidiert christologisches Moment hier m.E. ohne dieses nahelegende, starke Argumente nur implizit vermutet werden.147 Der zweite und interessanteste temporale Aspekt der Parabel steckt im flehentlichen Imperativ der Schuldner an ihre Gläubiger: µακροθύµησον ἐπ’ ἐµοί (V. 26.29). Dieser Begriff ist äußerst spannend, da er „bes. das Kennzeichen einer Frist geworden [ist], in der Gott seinen Zorn zurückhält und Menschen die Gelegenheit geben will, sich zu bekehren und so der Strafe Gottes zu entgehen und Rettung zu erlangen“148. Bereits hieran wird erkennbar, dass die Langmut Gottes nie um ihrer selbst willen gewährt wird, sondern um dem Menschen etwas zu ermöglichen; es ist eine Zeit der Aktivität des Menschen. Das Motiv der Langmut (µακροθυµία) Gottes ist sowohl im Hinblick auf die Zeitspannung als auch das übergeordnete Zeitverständnis von Belang. Zunächst zu Ersterem: Wolfgang Harnisch weist darauf hin, dass die Bitte des Sklaven auf Zeit abzielt, die der König gewährt.149 Doch stellt sich m.E. die Frage, ob diese Deutung der Pointe der Parabel gerecht wird. Es ist korrekt, dass der Sklave den König um Geduld, d.h. um mehr Zeit bittet, damit er seine Schuld begleichen kann. Die erbetene Geduld beschreibt hierbei eine begrenzte Zeitdauer.150 Sie ist stets durch ein ἕως limitiert, nämlich den Zeitpunkt der Rückzahlung der Schulden. Dieses ἕως aber wird erst in den V. 30 und 34 jeweils im Gegensatz zur Geduld explizit. Die Bitte des Sklaven muss für den Rezipienten der Parabel freilich utopisch klingen. Zusätzlich hervorgehoben wird dies durch das πάντα, ein in der zweiten Bitte (V. 29) fehlendes Element. Ein gesamtes Menschenleben würde nicht ausreichen, um diese Schuld vollkommen zu begleichen.151 Dadurch dass der Sklave dennoch um Zeit – nicht um Gnade – bittet, entsteht ein Zeitkonflikt, eine enorme Spannung der Zeit152, welche nicht auszureichen droht, selbst wenn sie gewährt würde. Dieser Zeitkonflikt intensiviert die Rezeptionsemotionen Verzweiflung und Furcht, welche in erster Linie durch die Abrechnungssituation ausgelöst werden, zusätzlich. Mit der Vergebung des Königs jedoch löst sich diese Spannung mit einem Schlag auf, indem sie über die Bitte des Sklaven hinaus147

Vgl. SNODGRASS, Stories, 75. HOLLANDER, µακροθυµέω, 937. 149 Vgl. HARNISCH, Gleichniserzählungen, 271–273. 150 Auf diese Bitte um Zeit im Sinne einer Frist hat schon Wolfgang Harnisch hingewiesen (vgl. a.a.O., 272). 151 So fasst Ulrich Luz zusammen, dass die Schuldensumme „heute nur in Milliarden oder gar Billionen ausdrückbar“ sei (LUZ, Evangelium III, 71). 152 Wolfgang Harnisch spricht hier von „Zeitnot“ (vgl. HARNISCH, Gleichniserzählungen, 273). 148

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geht. Das Geschenk besteht nicht nur in mehr Zeit, sondern in vollkommener Freiheit von jeglichem Zeitdruck. In Wolfgang Harnischs Worten ausgedrückt: „Die Gabe, die der Herr dem Schalksknecht zugutekommen lässt, versteht sich vielmehr als eine vom Druck verstellter Zukunft radikal entschränkte Zeit – als freigegebene Zeit, die zum Leben im Sinne des Seinkönnens befähigt.“153 Dieselbe Zeitspannung baut sich in der zweiten Abrechnungsszene ganz parallel auf, doch dieses Mal fehlt die erlösende Gnade. Seinem Kollegen gewährt der unbarmherzige Sklave keinerlei Zeit.154 Sein ungeduldiges Einfordern der sofortigen Rückzahlung seines Darlehens steht in schroffem Gegensatz zur Geduld (V. 26; µακροθυµία), die er selbst gerade noch von seinem eigenen Gläubiger erbeten hat. Mittels dieses erzählerischen Kniffs intensiviert die Parabel geschickt die empörte Reaktion auf das Handeln des Sklaven: Wie kann er nur so unbarmherzig handeln, nachdem ihm doch gerade eben erst selbst Gnade widerfahren ist? Die Zeitspannung, die hier weniger durch das Zeiterleben als vielmehr durch die Gegenüberstellung zwischen gewährter (Szene 1) und verweigerter Zeit (Szene 2) zustande kommt, steigert die Rezeptionsemotionen. Für den Mitsklaven tritt nun genau das ein, was zuvor dem ersten Sklaven drohte: Unfreiheit bis zum Erstatten der Schuld. Diese ist im Falle des Mitsklaven freilich von kürzerer Dauer zu denken, doch tritt die Brutalität des Verhaltens des unbarmherzigen Sklaven dadurch nur umso stärker hervor. Gerade die Koppelung aus einer hoffnungslos hohen Schuldensumme und der Zeitspannung qualifiziert die Gläubiger-Schuldner-Beziehung hier auf besondere Weise und verstärkt die negativen Emotionen, die mit der Abrechnungssituation von vornherein verbunden sind. Übertragen auf die existentielle Ebene, wirkt diese Zeitdimension der Parabel noch umso bedeutsamer, wird dadurch doch zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch unendliche Schuld vor Gott hat. Erst die Vergebung und Gnade Gottes stellen das Leben des Menschen als eine nutzbare und freie Lebens-Zeit wieder her. Dadurch, dass der König dem µακροθύµησον ἐπ’ ἐµοί des Sklaven entspricht, öffnet er das Hier und Jetzt für alle Möglichkeiten, allen voran aber für die Freiheit und die Vergebung. Die Vergebung Gottes ermöglicht die Vergebung des Menschen und stellt ihr ultimatives Vorbild dar.155 Dramatisch ist jedoch, dass der Sklave die Gegenwart nicht entsprechend dieser Gnade nutzt. Er verpasst die Chance, in seiner neu gewonnenen Zeit richtig zu handeln: Er „will nicht“ (V. 30). Auch hier spielt die Parabel wieder mit Gegensätzen: Während der König dem Sklaven nicht nur Zeit, sondern vollkommene Freiheit von seiner Vergangenheit schenkt und ihm so neues Sein ermöglicht, 153

A.a.O., 272 (Hervorhebungen im Original). Vgl. ebd. 155 Vgl. VIA, Gleichnisse, 136 f. 154

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wird dies vom Sklaven nicht angemessen gewürdigt, – er nimmt sich diese Güte nicht zum Vorbild für das eigene Handeln. Sein Handeln ist nach wie vor das eines unbarmherzigen Gläubigers. Die Zeit vor der Gnade entspricht der Zeit nach der Gnade. Er hat nichts gelernt. Gegenwart und Zukunft erhalten durch diese besondere noch ganz junge Vergangenheit keine neue Qualität für ihn. Es ließe sich nun weiterfragen, warum dem so ist: M.E. spielt hier der emotionale Zeitbezug die maßgebliche Rolle. Die Erzählung vermittelt geradezu den Anschein, als erinnerte sich der Sklave an die ihm direkt zuvor zuteilgewordene Gnade überhaupt nicht.156 Bereits die Situation an sich (V. 24–25 und 28), spätestens aber die Bitte seines Kollegen, die seine eigene exakt wiederholt, müsste ihm das Geschehen ins Gedächtnis rufen (V. 26 und 29). Dazu kommt die zeitliche Unmittelbarkeit beider Szenen, schließt V. 28 doch direkt mit dem Partizip ἐξελθών an die Abrechnungsszene zwischen König und Sklave an. Auch bei dieser Frage scheint das οὐκ ἤθελεν (V. 30) wieder zur Aufklärung beizutragen: Die Erzählung vermittelt nicht das Bild, dass der Sklave sich nicht erinnern kann, sondern es vielmehr einfach nicht will. Die Logik an dieser Stelle ist stark emotional geprägt, denn, wie Alfons Weiser bereits festgestellt hat, der Gnadenakt des Königs verpflichtet den Sklaven nicht zweifelsfrei zur selben Handlungsweise.157 Solch reaktives Handeln erwüchse vielmehr aus den damit verbundenen Emotionen der Freude und Dankbarkeit. Doch dem Sklaven fehlt diese emotionale Bindung an die Vergangenheit. Für ihn scheint sie vergangen und vergessen schon im selben Moment, in dem er den Königshof verlässt. Er trägt sie mit ihren jeweiligen Gaben und Möglichkeiten nicht in seine Zukunft hinein. Daraus ergibt sich ein offenkundiger Gegensatz zwischen der unendlichen Freiheit nach der Absolution durch den König und der unendlich erscheinenden Unfreiheit des Sklaven am Ende der Parabel: Der Ort des Gefängnisses als Symbol für die Hölle wird somit nicht nur räumlich als Ort der Bestrafung, sondern auch zeitlich als Ort des undenkbar langen Leidens qualifiziert. Hier werden Rezeptionsemotionen auf allen Ebenen angesprochen: Die Figur des Sklaven weckt Emotionen durch ihre Situation (Verurteilung durch den König), ihr Ergehen (Folterung), ihren Ort (bei den Folterknechten) und durch den Zeitraum ihres Ergehens (bis er seine enormen Schulden bezahlt hat). Dies leitet über zur Betrachtung des Zeitverständnisses der Parabel. Es kommen alle drei Zeitdimensionen in den Blick, die durch Emotionen qualitativ voneinander abgegrenzt und gleichzeitig durch die übergeordnete ethi156

So urteilt auch Jan Lambrecht: „The first servant should have realized that he was encountering exactly the same situation as the one he had found himself in, and almost the same words he had uttered a moment ago!“ (LAMBRECHT, Treasure, 63; Hervorhebung T.D.). 157 Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 94.

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sche Forderung miteinander verbunden werden: Am Anfang steht die erbarmende Vergebung des Königs, worauf das undankbare Handeln des Sklaven folgt, das dann den Zorn des Königs auslöst. Übertragen auf die existentielle Ebene des Rezipienten, heißt das: Dem Menschen wurde von Gott bereits vergeben, eine entsprechende imitatio dei in Bezug auf den Mitmenschen ist jetzt zeitlebens das Gebot der Stunde und daran wird sich im Gericht Gottes das Schicksal eines jeden entscheiden. Das Ziel scheint dabei eine qualitative Entsprechung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein: Wer sich der Gnade Gottes erinnert und diese im Hier und Jetzt seines Daseins selbst praktiziert, wird diese auch in Ewigkeit erfahren. Das hinter der Parabel stehende, übergeordnete Zeitverständnis kommt damit einem „integrativem Zeitmodell“ gleich, welches eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Zeitdimensionen kritisiert. Dadurch lässt die Parabel „die Aspekte der innerzeitlichen ‚Abrechnung‘ und des Endgerichts ineinander übergehen“158, indem das Innerzeitliche das Endzeitliche bestimmt. Joachim Jeremias ist der Ansicht, dass diese Parabel im Gegensatz zur jüdischen Apokalyptik stünde, welche die barmherzige Langmut Gottes als Zeichen der Gegenwart strikt vom unbarmherzigen Zornesgericht der Zukunft trenne. Sie zeige auf, „dass das Maß der Barmherzigkeit auch im Endgericht Geltung hat. Die entscheidende Frage ist: wann wendet Gott im Endgericht das Maß der Barmherzigkeit, wann das Maß des Gerichtes an?“159 Diese Deutung wird der zeitlichen Struktur der Parabel jedoch nicht gerecht, da durch das Schicksal des unbarmherzigen Sklaven vor Augen geführt werden soll, was in der Zukunft geschehen wird, wenn der vorausgegangenen Barmherzigkeit Gottes nicht jetzt entsprochen wird. Gegen Joachim Jeremias spricht somit der klare strukturelle Aufbau der Parabel, welcher sich stärker kausal als temporal entfaltet. Barmherzigkeit und Zorn Gottes sind keine den einzelnen Zeitdimensionen klar zuzuordnenden Größen, sie hängen vielmehr ganz vom gegenwärtigen Tun des Menschen ab. Somit wird weder eine apokalyptisch-strikte Trennung zwischen Gegenwart und Zukunft erkennbar, noch stellt sich die Frage nach einem Wann? der Abkehr Gottes von seiner Barmherzigkeit hin zum Zorn. Doch wird diese temporale Kompetenz, welche die Reziprozität zwischen vergangenem und jetzigen Tun des Menschen und dem künftigen Handeln Gottes negativ vor Augen geführt: Denn das Handeln des Sklaven offenbart, dass er die Zeitdimensionen nicht entsprechend zusammendenkt. Er vergisst die Vergangenheit, lernt nicht aus ihr, erinnert sich nicht an sie. Für ihn sind die Zeitebenen strikt getrennt und bleiben ohne Einfluss aufeinander. Dass dem nicht so ist und sein Handeln Konsequenzen für seine Zukunft hat, muss er „auf die harte Tour“ lernen. Sein Schicksal dient dem Rezipienten so zur 158 159

ERLEMANN, Bild, 89. JEREMIAS, Gleichnisse, 211.

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moralisch-ethischen Prävention. Die Gegenüberstellung von gnadenvoller Vergangenheit und verurteilender Zukunft resultiert nur aus der uneinsichtigen Verhaltensweise des Sklaven. Eigentliches Ziel ist, dass sich das Erbarmen der Vergangenheit und das der Zukunft entsprechen (V. 33). Doch nicht nur die menschliche Hauptfigur der Parabel dient der narrativen Ethikvermittlung. Auch das Gottesbild, das in der Figur des Königs durchscheint, steht in ethisch-paränetischer Funktion.160 Dazu dienen in erster Linie die Emotionen dieser Figur: „Erbarmen und Zorn sind […] nicht zwei sich ausschließende Aspekte des Gottesbildes, sondern entspringen beide dem Willen Gottes, wonach die Gegenwart die Zeit der Vergebung sein soll. Der Aspekt des Zorns bleibt der Zukunft vorbehalten.“161 Durch die Nähe zwischen göttlichen und menschlichen Emotionen soll dies verständlich gemacht werden, gleichzeitig wahrt die übermenschliche Vergebungsbereitschaft des Königs eine gewisse Distanz zur Realität und fordert die Menschheit heraus, über sich hinauszuwachsen.162 Die Parabel arbeitet insofern ethisch-emotiv, indem sie die Emotionen des Mitgefühls und die vergebende Handlungskonsequenz als Forderung an die Gegenwart ins Zentrum stellt (V. 27 und V. 31), sie durch den Zorn sowie das daraus resultierende Gericht motiviert und diese Größen gleichzeitig der Zukunft vorbehält. Gottes Zorn und Gericht stehen zu Recht am Ende der Zeit. Wer sie bereits in die Gegenwart zieht, handelt zeitlich unsachgemäß, nutzt die Gegenwart nicht im Sinne Gottes und nimmt damit sein eigenes Schicksal vorweg. Dagegen sprechen auch nicht die vorhergehenden Verse 18,17 f., wo Jesus den Umgang mit sündigen Gemeindemitgliedern lehrt und mit dem Binde- und Lösespruch „wie auf Erden so im Himmel“ schließt. Diese Stelle darf nicht gegen 18,35 ausgespielt werden, sondern ist vielmehr in ihrem unmittelbaren Kontext der Parabel vom verlorenen Schaf (18,12–14) und der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (18,23–35) zu sehen, der klarstellt: Die Suche nach Sündern und die Vergebungsbereitschaft ihnen gegenüber dürfen niemals enden; „[T]his means that 18.18 does not imply an anticipation of the judgement […] because late repentance is not principally excluded.“163 Fazit: In der Parabel begegnet eine recht determinierte Vorstellung des Zeitablaufs. Die Zeit der Gegenwart ist qualifiziert als eine Frist frei von Zorn und Strafe. Sie wird gewährt aufgrund der Barmherzigkeit Gottes. Gleichzeitig aber ist sie eine Zeit bis zum kommenden Zorn und damit begrenzt. Hier wird ein besonderer Zusammenhang von Emotionen und Zeit bemerkbar, steht doch am jeweiligen Ende des Zeitstrahls eine Emotion Gottes (Mitleid und Zorn). Der genaue Zeitraum der dazwischenliegenden Frist 160

Vgl. ERLEMANN, Bild, 83. A.a.O., 82. 162 Vgl. a.a.O., 86. 163 KONRADT, Instruction, 405, Anm. 93. 161

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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wird jedoch offengelassen. Genauso offen ist das lediglich drohende Ende im Zorn, denn dieses hängt ganz vom Handeln des Menschen in dieser Zwischenzeit ab. Der allgemeine Ablauf der Zeit scheint demnach determiniert, doch der Verlauf derselben für den individuellen Menschen ist es nicht, denn Zeit ist in der Parabel eine durch Freiheit besonders qualifizierte Größe. Der Mensch hat die Wahl, wie er diese Freiheit nutzen will und ob er die ihm durch Gott gewährte auch seinen Mitmenschen weitergeben will. Ziel dieser Freiheit ist die Beziehungsherstellung zum Nächsten, die zentral von der Fähigkeit zur Vergebung abhängt, welche mehr als Zeit schenkt, nämlich umfassende, neue Lebensermöglichung. Die Unfähigkeit zur Vergebung verhindert Freiheit, indem sie zum einen den Menschen, der nicht vergibt, an seinen Groll und seinen Zorn bindet, und zum anderen den Menschen, dem nicht vergeben wird, an seine Schuld. Vergebung spricht frei, macht ein freies Leben in Gegenwart und Zukunft möglich, das wiederum anderen Menschen Freiheit bringen soll und auf diese Weise Gottes Vorbild folgt. Nach diesen Beobachtungen zur Zeitdimension kann auch der Kontext der Parabel noch einmal genauer betrachtet werden: Wie bereits gesagt, wird häufig bemängelt, die Erzählung passe nicht sonderlich gut zur einführenden Frage des Petrus nach dem Wie oft? der Vergebung.164 In der Parabel hingegen gehe es um die grundsätzliche Vergebungsbereitschaft dem Nächsten gegenüber. Die Frage des Petrus kann tatsächlich so verstanden werden; sein ποσάκις (V. 21) fragt nach der geforderten Wiederholung. Nun ist aber erkennbar, dass die Antwort Jesu weniger auf die wiederholte Vergebung abzuzielen scheint, als vielmehr auf eine ständige Bereitschaft zu vergeben. Die ἑβδοµηκοντάκις ἑπτά (V. 22) sind eine solch überzogen hohe Zahl im Vergleich zu den vorigen ἑπτάκις, dass sie schwerlich als buchstäblich aufzufassende Antwort auf die Frage gelten können, sondern vielmehr symbolisch verstanden werden müssen.165 Jesus scheint die Frage des Petrus insofern zu berichtigen, als er auf eine zeitlich-frequentielle Frage eine zeitlich-durative Antwort gibt. Diese temporale Neubestimmung findet sich auch in der Parabel: Während der Sklave um eine begrenzte, zeitliche Frist bittet, um seine Schulden zu begleichen, gewährt der König ihm nicht nur mehr Zeit, sondern schenkt ihm umfassende Vergebung. Wie Gottes Langmut unendlich oft vergibt – das Wie oft? des Vergebens kann in der Parabel in der Höhe der Schuldsumme entdeckt werden – soll auch der Mensch nicht mit seiner Vergebung geizen.166 Menschen können einander niemals so viel schulden, wie der Mensch vor Gott schuldig bleibt, wodurch endliche Vergebungsbereit164

S.o. Kap. 5.3.1. Vgl. HAUBECK/VON SIEBENTHAL, Schlüssel, 120. 166 Dies folgert auch Jan Lambrecht: „In this way Matthew accentuates the continuous duty of forgiving others, over and over again.“ (LAMBRECHT, Treasure, 66; Hervorhebung T.D.). 165

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

schaft zu einer geradezu empörenden Haltung wird. Auf diese Weise stellt Jesus durch die Parabel einen größeren, narrativ begründenden Kontext der Frage des Petrus her: Die ganz im profan-mitmenschlichen Bereich angesiedelt zu sein scheinende Frage kann wiederum nur im Hinblick auf das große Ganze der göttlichen Ebene beantwortet werden.167 Petrus denkt bei seiner Frage nur menschlich, nicht dagegen an Gottes Erbarmen und dementsprechend im Sinne der imitatio dei. Genauso wenig denkt der Sklave in der Parabel an die Vergebung seines Herrn, als er sich seinem Mitsklaven gegenübersieht. Die Parabel lässt das Skandalöse eines solchen Verhaltens stärker hervortreten, indem die Distanz zwischen König und Sklave so gut wie aufgelöst wird: Zum einen sind beide immerhin Menschen, während ein direkter Vergleich zwischen Mensch und Gott von vornherein nicht gleichermaßen naheliegt. Zum anderen wird die zeitliche Distanz aufgelöst; der Sklave handelt unmittelbar nach der ihm zuteilgewordenen Gnade selbst gnadenlos. Der Rezipient der Parabel kann gar nicht anders, als sein Verhalten empört zur Kenntnis zu nehmen. Folglich passt die Parabel Jesu insofern in den Kontext der Frage des Petrus, als sie die Folgefrage „Was befähigt und motiviert zu einer solch umfassenden Vergebungsbereitschaft?“ mit Gottes vorangegangener, unendlicher Güte beantwortet.168 Trotz dieser Beobachtung, welche die These eines „integrativen Zeitmodells“, das nach konstanter Handlungsbereitschaft fragt, zu stützen vermag, muss auch der metanarrative V. 35 beachtet werden, der nicht nur die Parabel, sondern auch die gesamte Gemeinderede mit einer im Futur formulierten Verheißung abschließt: Οὕτως καὶ ὁ πατήρ µου ὁ οὐράνιος ποιήσει ὑµῖν. Das ἐὰν µὴ ἀφῆτε wiederum steht erneut im Aorist und erinnert damit an die bereits im „Vater Unser“ angeklungene Reziprozität: Ὡς καὶ ἡµεῖς ἀφήκαµεν τοῖς ὀφειλέταις ἡµῶν (6,12). Die implizite, ethische Aufforderung der Parabel zur konstanten Vergebungsbereitschaft hätte indes bereits vor V. 35 klar sein müssen: Sowohl der unbarmherzige Sklave als auch die Mitsklaven verhalten sich nicht der mitfühlenden Barmherzigkeit des Königs entsprechend. Ersterer bezahlt dafür mit seiner Freiheit. Aus dieser Narration erschließt sich die Forderung zur Vergebung implizit. V. 35 macht diese Forderung jedoch explizit, um den Perspektivwechsel und die metaphorische Leistung des Rezipienten in jedem Fall zu gewährleisten: Jeder Mensch wird am Ende der Zeit in der Lage des Sklaven sein, vor dem Richtergott stehen und sich für sein Verhalten und Handeln auf Erden rechtfertigen müssen. Dieser Transfer löst unwillkürliche Furcht vor dem Gericht Gottes aus, wenn dem Rezipienten klar wird, dass er diesen selbst verurteilt und somit selbst nicht vergeben hat. Dies eröffnet letztlich doch noch eine Innensicht des Sklaven, dessen Schicksal plötzlich dem Rezipienten selbst droht. Hier spie167 168

Vgl. KONRADT, Evangelium, 295. KLAIBER, Matthäusevangelium, 51.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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len demnach eine ganze Reihe möglicher Rezeptionsemotionen eine Rolle, wie etwa internale Erwartungs-Emotionen (Furcht vor dem Gericht Gottes), Attributions-Emotionen (Scham über die eigene Vergebungsunfähigkeit), internale Wohlergehen-Emotionen (Leid) und externale Empathie-Emotionen (Mitleid). Hierbei ist der Zeitbezug wichtig, denn was bleibt, ist die gegenwärtige Furcht vor dem künftigen Gericht. Die Begründungsstruktur der Parabel ist demnach eine temporale: In der Zukunft wird über das gegenwärtige Leben geurteilt. Die Zukunftsverheißung zielt ethisch damit wiederum auf die Gegenwart, in welcher sich das künftige Schicksal des Menschen entscheidet. Verstärkt wird diese Ethik anhand von Emotionen, welche dieser Zukunft schon in der Gegenwart Bedeutung verleihen: Scham und Furcht in Bezug auf die Zukunft werden jetzt empfunden und vermögen so, jetzt eine Verhaltensänderung zu motivieren. Folglich ist es für die ethische Forderung des Mt ganz notwendig, dass die Parabel und die Gemeinderede mit einem direkten eschatologischen Ausblick beschlossen werden. Grundlegende Motivation zum rechten Handeln in der Gegenwart ist und bleibt die Zukunft, die antizipiert werden muss. Wer wie der unbarmherzige Sklave nicht in der Lage ist, aus dankbaren oder altruistischen Gründen an seinem Mitmenschen recht zu handeln, weil er weder der vorangegangen Gnade Gottes gedenkt, noch den Menschen vor sich in seiner Not erkennt, den bringt nur sein eigenes Schicksal dazu, sein Handeln zu überdenken.169 Abgezielt wird dennoch auf eine wahrhaftige Vergebung „von Herzen“, welche durch die rechte Emotion, nämlich das Mitleid motiviert wird, das sich durch eine von V. 35 ausgelöste Innenperspektive auf den Sklaven doch noch einstellen soll. Wie V. 35 zeigt, steht „[d]ie Vergebung ‚von den Herzen her‘ [steht] im Gegensatz zu einer Vergebung nur mit den Lippen (vgl. Mt. 15,8 = Jes. 29,13)“170. Das Herz als Sitz der noetischen, emotionalen und motivationalen Aspekte des Menschen weist diese Formulierung als die „ganzheitliche Zuwendung“ der Vergebung aus.171 Insofern ist das Herz für Mt immer wieder von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Beziehung zwischen Menschen und Gott (5,8.28; 6,21; 9,4; 11,29; 12,34; 13,19; 15,8.18).172 Der Mensch muss fühlen (V. 27), wollen (V. 30) und handeln (V. 33). In der Parabel steht die Emotion am Anfang dieser Einheit von Fühlen/Denken/Wollen/Handeln und löst das Wollen (V. 30 belegt mit dem οὐκ ἤθελεν den kritisierten Gegensatz) und das Handeln aus (dies veranschaulicht V. 27, wo das erbarmende Handeln des Königs seiner Emotion folgt). Die Lesarten, die in V. 35 τὰ παραπτώµατα αὐτῶν ergänzen, ziehen den expli169

Vgl. REID, Endings, 251. JEREMIAS, Gleichnisse, 210. 171 Vgl. LUZ, Evangelium III, 75. 172 Vgl. FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 267. 170

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

ziten Bezug zu 6,14 f. und legen nahe, dass die Parabel unter Heranziehung der Bergpredigt gelesen wurde. Die Parabel fordert zur Einsicht auf, dass Schuld nur im Herzen – nicht durch Schuldhaft – aufgelöst werden kann: Nicht die verurteilende und distanzierende Abwendung, sondern die emotionale und aktionale Zuwendung zum Nächsten ist die Lösung (vgl. 5,21–26 und 7,1–5). Die Zeitdimension in der Parabel vermag zwar allein keine ausschlaggebenden Rezeptionsemotionen auszulösen, doch verstärkt sie diese ungemein, indem sie die Parabel in dreifacher Weise pointiert: Erstens ist die Zeit ein wesentliches Element der ethischen Forderung der Parabel. Es geht um eine konstante Handlungsbereitschaft gemäß der imitatio dei, die weder zwischen irdischer und göttlicher Zeit noch zwischen Gegenwart und Zukunft trennt. In der Gegenwart entscheidet sich die Zukunft, deren Gnade sich bereits in der Vergangenheit manifestiert hat und wiederum die Gegenwart neu qualifiziert und Zukunft ermöglicht. Zweitens hängt diese ethische Forderung in besonderem Maße mit Emotionen zusammen, die wiederum das integrative Zeitmodell aufgreifen. Denn die Zeit ist im Grunde das Leben eines jeden Menschen, und dieses soll frei sein. Will der Mensch wirklich frei sein, muss er sich wie auch andere von jeglichem Groll und Zorn freisprechen. Denn genau diese Emotionen sind es, die schließlich zur Verurteilung im Gericht führen. Wer sie im eigenen Leben praktiziert, wird ihnen selbst zum Opfer fallen. Freude über und Dankbarkeit für Gottes Güte und Barmherzigkeit hingegen sollen die Heilsvergangenheit in die Gegenwart und Zukunft hineintragen, diese positiv gestalten und neu qualifizieren. Drittens schließlich steht am Ende der Parabel eine unverkennbare Drohung mit dem künftigen Gericht. Doch diese Drohung mit dem eschatologischen Ausgang der Dinge ist nicht das eigentliche Ziel der Parabel. Die Eschatologie ist Begründungsinstrument der Ethik, die ganz auf die Gegenwart zielt. Hier und jetzt geht es darum, dem Mitmenschen ganz im Sinne der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit zu begegnen. Ärger und Zorn stehen jeglicher Beziehung entgegen und zerstören diese. Im Zentrum der Gegenwart steht ganz der leidende Mitmensch. Gottes Zorn dagegen, der sich auf die Täter richtet, steht nicht zufällig am Ende aller Zeit. Zorn und Gericht sollen nicht nur Gott, sondern auch der Zukunft überlassen werden; der Mensch der Gegenwart darf und soll davon vollkommen frei sein: „God will do the sorting out when the time comes, not Matthean members.“173 Somit ist erinnernde Dankbarkeit das Motto der Gegenwart, nicht vorwegnehmendes Urteil.

173

OVERMAN, Church, 347.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

323

3.4 Ergebnisse In der Textanalyse der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven unter besonderer Berücksichtigung des emotiven Rezeptionsvorgangs zeigt sich, dass die polyperspektivische Erzählung aus verschiedenen Figurenstandpunkten konzipiert ist, die in jedem der vier Narrationsabschnitte wechseln. Die Hauptfiguren sind der König (er liefert die Perspektive der ersten sowie letzten Szene) und der unbarmherzige Sklave (er liefert die Perspektive der zweiten Szene). Der Mitsklave, der seinem Kollegen 100 Denare schuldet, kommt nur als Nebenfigur vor, und die Mitsklaven, die die zweite Abrechnungsszene beobachten, liefern die Perspektive der dritten Szene. Das Empathiepotential des Königs ist durch die zahlreichen Transfersignale, die in seiner Figur Gott selbst erkennen lassen, sehr gering einzuschätzen. Die Rezipienten dürften demnach seine Emotionen (erste Szene: Erbarmen; vierte Szene: Zorn) nicht als die eigenen übernehmen, sondern vielmehr sein Fühlen, Denken und Handeln aus einer Außenperspektive betrachten, was in anderen Rezeptionsemotionen resultiert (erste Szene: Überraschung, Erleichterung, Freude, Dankbarkeit; vierte Szene: Befriedigung, Genugtuung). In der ersten Szene ist ein relativ hohes Empathiepotential des Sklaven noch möglich, dies ändert sich jedoch schlagartig durch sein kaltherziges Handeln in der zweiten Szene, in der er seinem Kollegen nicht dieselbe Gnade gewährt, die ihm kurz zuvor selbst zuteilwurde. Empathisch muss die Figur an dieser Stelle neu bewertet werden; anfängliche Neutralität oder gar Sympathie lenkt die Erzählung hier nun die Rezeptionsemotionen hin zu negativen externalen Erwartungs- (Enttäuschung), Attributions- (Missbilligung, Empörung, Ärger oder gar Zorn) und Wertschätzungs-Emotionen (Verachtung) und zu einer antipathischen Haltung gegenüber der Figur. Die Mitsklaven haben ebenfalls kein hohes Empathiepotential, da ihre emotionale Reaktion auf das Geschehen der zweiten Szene (Traurigkeit) für den über das Verhalten des ersten Sklaven empörten Rezipienten absonderlich wirkt. Auch ihrer Reaktionshandlung dürfte vom Rezipienten, aufgrund der vorangegangenen Belehrung Jesu in Mt 18,15–20, nicht uneingeschränkt zugestimmt werden: Müssten sie ihn nicht zuerst allein zur Rechenschaft ziehen und ermahnen? Andererseits befriedigt ihr Handeln die Hoffnung auf Bestrafung des Sklaven, welche die drastische Beschreibung seines kaltherzigen Umgangs mit seinem Mitsklaven auslöst. Das Auftreten, Fühlen und Handeln der Mitsklaven in V. 31 hinterlässt beim Rezipienten demnach Verunsicherung. Ihre Berichterstattung an den König sowie dessen Bestrafung des Sklaven lösen wiederum externale Erwartungs-Emotionen (Befriedigung) und Empathie-Emotionen (Schadenfreude, Genugtuung) aus. Die Argumentation des Königs ist nachvollziehbar und daher sind seine Emotion (Zorn) sowie sein Handeln (Bestrafung) für den Rezipienten einleuchtend.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

V. 35 jedoch wendet die Parabel auf die gesamte Menschheit an. Wer seinen Mitmenschen nicht von Herzen vergibt, wird enden wie der unbarmherzige Sklave. Verurteilende Unbarmherzigkeit im Leben führt zur Verurteilung im Endgericht Gottes. Die ethische Forderung der Parabel wird somit temporal begründet. Diese Entsprechung entlarvt den emotionalen Rezeptionsvorgang am Ende der Parabel plötzlich als fatal: Indem der Rezipient die Bestrafung des Sklaven erhofft und darüber vielleicht sogar Genugtuung oder Schadenfreude empfindet, urteilt er selbst unbarmherzig. Hier wendet sich das Blatt erneut emotional, und v.a. V. 31 erscheint nun in neuem Licht: Die Emotion der Mitsklaven wird plötzlich klarer und tritt als implizite Forderung auf. Wie der König in V. 27 betrachten auch sie den Schuldner, das Opfer der Situation. In ihrer Traurigkeit über dessen Schicksal spiegelt sich eine angemessene emotionale Reaktion auf das Leid eines Mitmenschen, wie zuvor im Mitleid des Königs. Ihre Reaktionshandlung hingegen steht dem entgegen: Indem sie dem König Bericht erstatten, forcieren sie die Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven, womit sie zeigen, dass auch sie zu umfassender Vergebung nicht fähig sind. Durch diese Erkenntnis ergibt sich die emotionale Pragmatik der Parabel. Sie endet mit einer „Mahnung und Warnung zugleich“174, die der Rezipient durch V. 35 auf sich anwendet und erkennt, wie schwer wahre Vergebungsbereitschaft ist. Dass sich die Rezeptionsemotionen der Genugtuung und Schadenfreude dadurch schlagartig in Scham und Furcht wandeln, soll dazu motivieren, das eigene Verhalten und Handeln langfristig zu überprüfen und zu ändern. Mittels der Rezeptionsemotionen wird die ethische Forderung der Parabel somit beträchtlich verstärkt und handlungspragmatisch unterstützt. Die ethische Aufforderung der Parabel zur konstanten Vergebungsbereitschaft im Sinne der imitatio dei wird in zweierlei Hinsicht ermöglicht: Erstens soll der Mensch – wie Gott – statt der eigenen Person stets den leidenden Mitmenschen empathisch-affirmativ in den Fokus seiner Wahrnehmung stellen. Nur so kann der König Mitleid mit dem Sklaven statt Ärger über seinen eigenen materiellen Verlust empfinden. „Die Appellstruktur der Parabel setzt hier nicht auf Logik und rationale Durchdringung, sondern auf affektive Parteinahme. Der König handelt nicht logisch, sondern emotional und leidenschaftlich.“175 Und nur so gedacht, ergibt es auch Sinn, dass die Mitsklaven Traurigkeit über die zweite Abrechnungsszene empfinden, statt sich über das unbarmherzige Verhalten des Sklaven zu entrüsten. Dies ist die rechte Perspektive, um sich dem Mitmenschen in Liebe und Erbarmen zuzuwenden, statt eine Eskalation von Ärger- und Zorneshandlungen auszulösen. Dafür scheint die Niedrigkeit der eigenen Person ein besonderes Anliegen der 174 175

JEREMIAS, Gleichnisse, 210. ZIMMERMANN, Ethico-Ästhetik, 263.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

325

mt Gemeinderede zu sein (vgl. 18,1–5).176 Wer sich selbst zu wichtig nimmt und über die Bedürfnisse anderer stellt, dessen Wahrnehmung ist nicht mehr am Nächsten orientiert, sondern nur auf die eigene Person bezogen. Eine dem entgegengesetzte, demütige Selbsteinschätzung, die sich stattdessen ganz auf den Nächsten ausrichtet, ist eine häufige ethische Forderungen im Mt-Ev (vgl. 11,29 f.; 18,4; 19,14 f.; 20,24–28; 21,15 f.; 23,11 f.; 26,8). Die Emotion, welche zu diesem Perspektivwechsel führt, ist das Mitleid. Sie ist die zentrale Emotion der Parabel, steht sowohl an ihrem Anfang (V. 27) als auch an ihrem Schluss, welcher eine mitfühlende Innenperspektive des unbarmherzigen Sklaven dadurch eröffnet, dass der Rezipient sein Ergehen als ein auch für ihn mögliches Schicksal erkennt. Dabei ist der Schluss von Denis McBride „pity is not something you feel, it is a duty you are obliged to share“177 nicht sonderlich schlüssig: Denn wie soll eine Emotion rechtes Handeln hervorrufen, wenn sie nicht auch gefühlt wird? Können Mitleid und Erbarmen tatsächlich auf das Handeln beschränkt werden, das daraus resultiert? Freilich ist es denkbar, Gnade walten zu lassen, ohne dabei die Emotion des Mitleids zu empfinden. Doch ist dies auch die Forderung der Parabel? Die Rede des Königs in den V. 32 und 33, welche als das Kernstück der Narration ausgemacht wurde, deutet auf einen anderen Schluss hin: Der König gebraucht hier zweimal den Begriff ἐλεέω, nicht etwa einen der Ausdrücke, die für das konkrete Erlassen der Schuld verwendet wurden (V. 27: ἀπολύω; V. 27.32.35: ἀφίηµι). Es geht um die Emotion, welche die Handlung auslöst. Die richtige Emotion führt zur Vergebung, zum buchstäblichen „Loslassen“ (V. 27: ἀπέλυσεν), während die falschen Emotionen (Ärger, Zorn) oder Emotionslosigkeit dazu führen, dass auf die Bezahlung der Schuld bestanden wird und der Mitmensch somit buchstäblich „festgehalten“ (V. 28: κρατήσας; V: 30: ἔβαλεν εἰς φυλακήν), d.h. seiner Freiheit beraubt wird. Gerade die Emotion ist es, welche die Vergebung dabei als wahrhaftig und aufrichtig qualifiziert. In der Parabel wird somit ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen Emotionen und Ethik deutlich: Nicht nur sind Emotionen als durchaus handlungsleitend anzusehen, sondern dies ist sogar intendiert, sofern sie das rechte Handeln motivieren. Im Hinblick auf antike Vorstellungen von Emotionen als dem guten Handeln meist entgegenwirkende Mächte, welche den Menschen unwillkürlich überkommen und ihm die Kontrolle über sein autonomes Tun entziehen, tritt hier ein gänzlich anderes Modell entgegen. Dies erhält nicht zuletzt durch Gott, der selbst von Emotionen geleitet handelt, enorme Autorität und Überzeugungskraft. Es soll aus Mitleid gehandelt werden. Gleichzeitig wird destruktives Handeln aus anderen Emotionen wie Ärger oder Zorn heraus problematisiert und davor gewarnt. 176 177

Vgl. LUZ, Evangelium III, 79. MCBRIDE, Parables, 118.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Zweitens soll der Mensch – wie Gott – seinem erbarmenden Handeln keinerlei Grenzen setzen und das letztliche Urteil Gott überlassen. Die unendliche Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes, die sich in Leben, Tod und Auferstehung Christi manifestieren, gilt es nachzueifern. Damit sind alle Grenzen aufgelöst und die Forderung ist eine uneingeschränkte. Wenn Gott dem Menschen seine Schuld vergeben kann, muss ein Mensch einem jeden Mitmenschen vergeben können. Die Parabel veranschaulicht im Handeln des Königs, dass Gott eine in erster Linie emotional geartete Beziehung zu seiner Schöpfung eingeht, die aufgrund ihrer End- und Bedingungslosigkeit unhintergehbar ist, d.h. aufseiten des empfangenden Menschen nicht ins Leere laufen darf. Ein nicht reziprokes, d.h. entsprechend erwiderndes Verhalten seitens des Menschen kann gemäß dem Mt-Ev nicht ungestraft bleiben, wobei die Strafe dem Ergehen entspricht, das der Mensch anderen angedeihen lässt: „Denn die Güte des Königs machte sich davon abhängig, dass sie in anderen Beziehungen entsprechende Folgen zeitigt.“178 Entsprechend arbeitet Mt nicht nur mit der positiven Aussage (V. 27: σπλαγχνισθείς → V. 33: ἐλεῆσαι), sondern wendet sie auch negativ als präventive Abschreckung (V. 30: οὐκ ἤθελεν → V. 34: ὀργισθείς). Kommt der Mensch dieser Forderung nicht nach, muss er die Konsequenzen tragen: Denn genauso wie sich irdische und göttliche Barmherzigkeit entsprechen, folgt auf böses menschliches Handeln auch der Zorn Gottes. Die irdisch-göttliche Reziprozität wird in der Parabel emotional und aktional veranschaulicht. Die Forderung Jesu an die Jünger, in welcher sich die Instruktion des Mt an seine Gemeinde spiegelt, wird analeptisch (Gottes vorausgehende Gnade) sowie proleptisch (im Gericht drohender Zorn Gottes) begründet, der Zielpunkt liegt aber in der Gegenwart. Erbarmen und Langmut sind nicht allein Gott vorbehalten, auch der Mensch soll sie praktizieren. Entsprechend wird gerade die µακροθυµία rasch zu einer christlichen Tugend (2 Kor 6,6; Gal 5,22; Eph 4,2; Kol 1,11; 3,12; 1 Thess 5,14).179 Die Zeitspannung, die mit der Unfreiheit bis zum Erstatten der geschuldeten Geldsumme verbunden ist, durchzieht die Parabel, steht im direkten Gegensatz zu der Zeit schenkenden Langmut und verstärkt die negativen Emotionen, welche mit der Abrechnungssituation verbunden sind, zusätzlich. Diese Spannung wird durch das Erbarmen des Königs aufgelöst, der seinem Schuldner nicht nur Zeit, sondern vollkommene Freiheit schenkt. Während aus Zorn resultierendes Handeln Zeit entzieht, gewährt barmherziges Handeln Zeit im Übermaß: „Die in die erzählerische Fiktion eingewobene Geschichte des Möglichen redet einem Reichtum der Liebe das Wort, der sich verschwendet, indem er dort, wo es in Wirklichkeit an Zeit gebricht, eine un-

178 179

HARNISCH, Gleichniserzählungen, 265. Vgl. HOLLANDER, µακροθυµέω, 937.

3. Erinnernde Dankbarkeit: Mt 18,23–35

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glaubliche Fülle von Zeit einräumt.“180 Nun hat der Sklave uneingeschränkt Zeit, doch nutzt er sie falsch: Er erinnert sich nicht an die vorausgegangene Gnade, welche seine eigene Barmherzigkeit begründen und sie für seine Gegenwart und Zukunft ermöglichen sollte (V. 33). Er will sich nicht erinnern und somit weder Mitleid mit seinem Kollegen empfinden, noch dieselbe Gnade wie der König walten lassen. Sein gegenwärtiges Handeln, das seine Vergangenheit gänzlich außer Acht lässt, entscheidet über sein künftiges Schicksal. Hier begegnet ex negativo ein „integratives Zeitmodell“: Die Zeitdimensionen dürfen nicht unabhängig und voneinander getrennt betrachtet werden; sie stehen in einem kausalen Verhältnis. Für Mt ist die Gerichtsschilderung am Ende der Parabel dabei zentral, um seine ethische Botschaft „an den Mann zu bringen“: Er arbeitet abschreckend, um starke Emotionen auszulösen, welche wiederum den Lerneffekt zu erhöhen vermögen. Hier muss m.E. der Ansicht Hans Weders widersprochen werden, der die V. 34 f. der ursprünglichen Form der Parabel abspricht mit der Begründung: das „hereinbrechende Gericht dagegen darf gar nicht mehr erzählt werden, denn es relativiert die zuvorkommende Barmherzigkeit Gottes“181. Ob dies für die ursprüngliche Parabel zutrifft, soll hier nicht diskutiert werden. Doch es ist deutlich, dass das Gerichtsmotiv für den Evangelisten Mt durchaus stimmig, m.E. geradezu zwingend ist. Seine Ethik zeichnet sich maßgeblich durch die präventive Paränese aus, was in den folgenden Textanalysen noch deutlicher ersichtlich werden wird. Das Gerichtsmotiv setzt Mt bewusst ein, um die Botschaft der Parabel zu verstärken. Ziel ist eine ständige und konstante Handlungsbereitschaft gemäß der imitatio dei. Denn: „Wir ‚haben‘ Vergebung nur im ‚Bleiben‘ in der Vergebung, in der ständigen Bitte um Vergebung und dem ständigen Bewusstsein um die eigene Sündhaftigkeit und Vergebungsbedürftigkeit. […] Und wir sind zugleich solche, die Gottes Erbarmung an uns erfahren haben, als auch solche, die ihrer weiterhin bedürfen, um dem mitmenschlichen Gegenüber in Erbarmung begegnen zu können.“182

In der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven begegnet implizit ein für das Mt-Ev zentrales Motiv, nämlich das der Wachsamkeit. Um nicht in falsche Verhaltensmuster zu verfallen, muss die eigene Lebensführung einer ständigen wachsamen Reflexion unterzogen und das rechte Verhalten und Handeln eingeübt und verinnerlicht werden. Die Beziehung zwischen der ethischen Forderung der Parabel sowie den Emotionen und der Zeitdimension ist komplex und lässt sich wie folgt darstellend zusammenfassen: Begründet wird die ethische Forderung der Vergebungsbereitschaft temporal (vorangegangene Gnade Gottes und die künftige Bestrafung gegenwärtiger Unbarmherzigkeit) und wird emotional verstärkt 180

HARNISCH, Gleichniserzählungen, 273. WEDER, Gleichnisse, 215 (Hervorhebungen im Original). 182 SCHEIBER, Vergebung, 237. 181

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

(Scham angesichts der eigenen Vergebungsunfähigkeit und daraus resultierende Furcht vor dem Gericht). Ermöglicht wird die Vergebungsbereitschaft wiederum durch einen temporalen (das endgültige Urteil über einen Menschen darf und soll Gott am Ende der Zeit überlassen werden) sowie einen emotionalen Aspekt (Dankbarkeit über die Barmherzigkeit Gottes sowie sein gezeigtes Mitleid fordern zur imitatio dei auf). Diese Zusammenhänge lassen sich wie folgt veranschaulichen:

Begründung durch die Zeit: – vergangene Barmherzigkeit Gottes – gegenwärtige Unbarmherzigkeit wird im künftigen Gericht bestraft

Ermöglichung durch die Zeit: Gericht/Urteil darf Gottes Zukunft überlassen werden Ethische Forderung Konstante Vergebungsbereitschaft „von Herzen“ Ermöglichung durch Emotionen: – Dankbarkeit gegenüber Gottes Barmherzigkeit – empathisches Mitleid → imitatio dei

Verstärkung durch Emotionen: – Scham angesichts der eigenen Unfähigkeit zu vergeben – Furcht vor dem Gericht Gottes

Abb. 2: Zusammenfassende Darstellung der emotiven Mechanismen der narrativen Ethik in Mt 18,23–35

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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4. Das konstante Glück: Die Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51) 4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

Verlorene Zeit wird nicht wiedergefunden. (Benjamin Franklin) 4.1 Vorbemerkungen 45

Τίς ἄρα ἐστὶν ὁ πιστὸς δοῦλος καὶ φρόνιµος ὃν κατέστησεν ὁ κύριος ἐπὶ τῆς οἰκετείας αὐτοῦ τοῦ δοῦναι αὐτοῖς τὴν τροφὴν ἐν καιρῷ; 46 µακάριος ὁ δοῦλος ἐκεῖνος ὃν ἐλθὼν ὁ κύριος αὐτοῦ εὑρήσει οὕτως ποιοῦντα· 47 ἀµὴν λέγω ὑµῖν ὅτι ἐπὶ πᾶσιν τοῖς ὑπάρχουσιν αὐτοῦ καταστήσει αὐτόν. 48 ἐὰν δὲ εἴπῃ ὁ κακὸς δοῦλος ἐκεῖνος ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ· χρονίζει µου ὁ κύριος, 49 καὶ ἄρξηται τύπτειν τοὺς συνδούλους αὐτοῦ, ἐσθίῃ δὲ καὶ πίνῃ µετὰ τῶν µεθυόντων, 50 ἥξει ὁ κύριος τοῦ δούλου ἐκείνου ἐν ἡµέρᾳ ᾗ οὐ προσδοκᾷ καὶ ἐν ὥρᾳ ᾗ οὐ γινώσκει, 51 καὶ διχοτοµήσει αὐτὸν καὶ τὸ µέρος αὐτοῦ µετὰ τῶν ὑποκριτῶν θήσει· ἐκεῖ ἔσται ὁ κλαυθµὸς καὶ ὁ βρυγµὸς τῶν ὀδόντων.

45 Wer ist also der treue und kluge Sklave, den der Herr über seine Dienerschaft eingesetzt hat, ihnen Speise zu geben zur rechten Zeit? 46 Glückselig ist jener Sklave, den sein Herr bei seinem Kommen entsprechend handelnd finden wird. 47 Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über all seinen Besitz setzen. 48 Wenn jener aber als böser Sklave in seinem Herzen spricht: „Mein Herr lässt auf sich warten“, 49 und anfängt, seine Mitsklaven zu schlagen, und isst und trinkt mit den Betrunkenen, 50 dann wird der Herr jenes Sklaven kommen an einem Tag, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht kennt, 51 und er wird ihn entzweischneiden und ihm seinen Teil bei den Heuchlern zuweisen. Dort werden das Weinen und das Zähneknirschen herrschen.

Die Parabel verortet sich innerhalb der Endzeitrede Jesu (Mt 24–25), welche von besonderer Zentralität für das Mt-Ev ist: „This sermon has a prominent position both in its narration and also within the Gospel itself. Jesus delivers it upon the Mount of Olives at the end of his earthly mission, looking towards Jerusalem and particularly at the Temple. Directly thereafter comes his passion. Therefore, what we have here is a view both towards the future and also of his legacy.“183

Die Rede zeigt einen dreiteiligen Aufbau: Einer Schilderung der Geschehnisse der Endzeit (24,4–28) folgt die Beschreibung des Endes selbst, das plötzlich und unerwartet kommen wird (24,29–41). Dieser vorausgehende Kontext 183

WENGST, Aspects, 233.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

ist für die emotive Analyse der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven insofern von Bedeutung, als sie eine bestimmte Stimmung im Rezipienten zu wecken nahelegt: Die drastischen Darstellungen Jesu der Bedrängnisse der Endzeit (24,1–31) sowie seine Betonung der Unerwartetheit des Gerichts (24,32–44) zielen zwar nicht auf die Rezeptionsemotion Furcht (24,6), sondern sollen die Jünger geradezu durch ihr Mehrwissen beruhigen und vorbereiten (24,25), doch wird hier bereits das Wachsamkeitsmotiv erkennbar (24,32 f.). Jesu Ausführungen sollen die Aufmerksamkeit für die folgenden vier, längeren Parabeln, welche paränetische Konsequenzen dieser Beschreibungen schärfen (24,42–25,46), sowie deren Ernst steigern.184 „[T]hese statements in Matthew have their locus not in dogmatics but in ethics“185. Die Parabel vom treuen oder bösen Sklaven bildet die erste längere Parabel der Rede und steht im Anschluss an die vom Dieb in der Nacht (24,42–44) und vor der von den zehn Jungfrauen (25,1–13). Somit ist ein eschatologischer Kontext der Parabel vorgegeben, und es legt sich eine besondere Beachtung der Zeitdimension nahe, da angesichts des unbestimmten Zeitpunktes „der Ankunft des Sohnes des Menschen“ (24,37) zur Wachsamkeit aufgefordert wird (24,42.44; 25,13). Adressaten der Erzählung Jesu sind seine Jünger, die er über das Eschaton aufklärt (24,1). Wie in Mt 18 ist auch hier von einer allgemeinen Adressatenschaft auszugehen, welche alle Christusgläubigen umfasst, nicht nur die Vorsteher der Gemeinde.186 Diese Annahme findet Bestätigung in der allgemeinen Gültigkeit der eschatologischen Lehre Jesu und der Beendigung seiner Rede mit einem parabolischen Ausblick auf das Gericht über „alle Nationen“ (25,32). Eine ähnliche Version der Parabel findet sich in Lk 12,42–48. Ohne Aussagen über etwaige überlieferungs- und literarkritische Textentstehungsprozesse, Abhängigkeiten und intertextuelle Beziehungen treffen zu wollen, soll die lk Variante der Parabel stellenweise herangezogen werden, um ggf. mt Besonderheiten besser einschätzen zu können. Strukturell handelt es sich bei dieser Parabel um eine antithetische, die das Bild eines Sklaven zeichnet, der von seinem Herrn als Verwalter eingesetzt wird, als dieser außer Landes reist und nun vor einer Handlungsalternative steht.187 Darauf, dass von nur einem Sklaven die Rede ist, weist das ἐκεῖνος 184

Vgl. ebd. A.a.O., 234. 186 Gegen John P. Meier und Craig S. Keener, die in den Adressaten der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven sowie der Parabel von den anvertrauten Geldern die Gemeindevorsteher sehen (vgl. MEIER, Vision, 174.176; KEENER, Gospel, 593.600). Näheres dazu s.u. im Abschnitt 5.5.3.2 a). 187 So verstehen es die meisten Kommentatoren (vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 342; KONRADT, Evangelium, 381; LUZ, Evangelium III, 462). Dagegen François Bovon in Bezug auf Lk 12,42–46, der die Parabel als eine Geschichte vom Aufstieg und Fall eines 185

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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in V. 48 hin. Der Sklave hat nun die Wahl, „treu“ und „klug“ zu sein oder aber „böse“. Diese Wahl erinnert an die Wahl der zwei Pforten in Mt 7,13 f. Im oben abgedruckten Text ist diese Struktur erkennbar: V. 45 beschreibt die Ausgangslage. Während sodann das Tun (V. 46) und der davon abhängige Lohn (V. 47) des treuen Sklaven beschrieben werden, folgen dann ganz parallel dazu das Tun (V. 48–59) und die Bestrafung (V. 51) des bösen Sklaven. 4.2 Die Emotionskonzeption 4.2.1 Direkt Untersucht man diese Parabel deskriptiv auf die in ihr dargestellten Emotionen hin, so lässt sich zunächst der Mangel an direkt vermittelten Emotionen beobachten. Der einzige Begriff, der eine emotionale Konnotation trägt, ist das µακάριος in V. 46. Auch hier scheint das „glückselig“188 mehr im Sinne einer objektiven Beurteilung („glücklich zu schätzen ist jener Sklave“) denn einer primär emotionalen Befindlichkeit des Sklaven gemeint zu sein. Wie bei der genaueren Betrachtung des Begriffs bereits ausgeführt wurde, ist dies bei µακάριος im Mt-Ev häufig der Fall; doch wurde auch die Möglichkeit diskutiert, dass darin gleichzeitig eine implizite Aufforderung liegt, tatsächlich glücklich sein zu dürfen.189 Eine solche scheint das „glückselig“ auch an dieser Stelle wohl einzuschließen, denn der treue und kluge Sklave kann sich zweifelsfrei freuen, wenn er von seinem Herrn für sein Tun belohnt wird. Doch diese Freude wird nicht explizit ausgedrückt. Zu erwarten wäre in diesem Fall eine Form von χαρά wie in 25,21.23. Die Freude, die in µακάριος mitschwingt, ist eine eher indirekt vermittelte. Dies ist im Laufe der Analyse noch genauer abzuwägen. 4.2.2 Indirekt Bei einem genaueren Blick auf die indirekt vermittelten Emotionen der Figuren fällt ein markanter Gegensatz ins Auge: Während der einzige emotional besetzte Begriff für den treuen und klugen Sklaven gebraucht wird, findet sich im Text keine einzige Emotion für den bösen Sklaven. Dennoch wird seine emotionale Lage indirekt viel stärker vermittelt als die des treuen. Über den treuen und klugen Sklaven werden nur zwei, sehr knappe Verse verloren (V. 46 f.). Er ist glücklich zu schätzen, wenn ihn sein Herr bei der Ausführung seiner Anordnungen antrifft, und er wird für seine Treue belohnt, indem Sklaven liest (vgl. BOVON, Evangelium, 336). Ein solch chronologischer Erzählgang aber ist bei Mt (und m.E. auch bei Lk) nicht erkennbar, stattdessen vielmehr ein alternativer (vgl. GERBER, Zeit, 162). 188 Während Martin Luther den Begriff mit „selig sein“ übersetzt, wird hier „glückselig“ gewählt, um die emotionale Komponente des Begriffs zu unterstreichen. 189 S.o. Kap. 4.2.2.2.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

er noch mehr Verfügungsgewalt erhält. Wie sich der Sklave bei seinem Tun fühlt, kann schwerlich erschlossen werden, doch immerhin ist er µακάριος. Dies bezieht sich aber vielmehr auf den Folgevers und demnach auf die zukünftige Belohnung des Sklaven: Sein Glück besteht darin, dass er seinen Auftrag ausführt und dafür die Wertschätzung seines Herrn erntet, welche sich in der Erhöhung der ihm übertragenen Verantwortung manifestiert. Auffällig ist aber, dass das µακάριος als erstes Wort des Verses genannt wird und überdies keine futurische Form von ειµί nach sich zieht: Obgleich der Sklave erst bei der Rückkehr seines Herrn, d.h. in der Zukunft, belohnt werden wird (V. 47: Futur καταστήσει), ist er doch jetzt schon µακάριος: Somit kann und soll er sich in antizipierender Erwartung seiner sicheren Belohnung erfreuen. Auf die besondere zeitliche Beobachtung wird noch an späterer Stelle zurückzukommen sein. Obwohl es intuitiv einleuchtend wäre, das Glück des Sklaven dem Augenblick seiner Belohnung zuzuordnen, werden in V. 47 keine weiteren Emotionen explizit genannt. Andererseits macht das zu Anfang genannte µακάριος eine erneute Nennung der Figurenemotionen angesichts der Belohnung (wie Freude und Stolz) unnötig. Die knappe Darstellung der Parabel konzentriert sich ganz auf das Wesentliche, und zwar auf das jeweilige Ergehen des Sklaven am Ende der beiden Teile (V. 47 und V. 50 f.), worüber die Figurenemotionen nur indirekt vermittelt werden. Wie bereits gesagt, nennt der ungleich längere, zweite Teil der Parabel (V. 48–51) keine explizite Emotion. Dafür ist die Figurenschilderung hier ausführlicher und ermöglicht somit eine bessere indirekte Erschließung der Emotionen des Sklaven. Diese wird dem Rezipienten dadurch eröffnet, dass der intradiegetische, auktoriale Erzähler (Jesus) die Distanz zur Figur erheblich senkt (Wiedergabe des inneren Monologs) sowie das konkrete Figurenhandeln berichtet (in V. 46 ausgelassen): Zunächst werden die Gedanken des Sklaven geschildert (V. 48). Er geht davon aus, die Ankunft seines Herrn lasse noch auf sich warten. Daraufhin, ohne weitere Begründung, wird sein Handeln erzählt (V. 49). Er fängt an, seine Mitsklaven zu schlagen sowie im Übermaß zu essen und zu trinken. Wie sich der Sklave dabei fühlt, dürfte dem Rezipienten klar sein: Der Sklave wähnt sich sicher, unbeaufsichtigt in seiner Machtposition, tun und lassen zu können, was immer ihm beliebt. Statt seinen Mitsklaven „Speise zu geben zur rechten Zeit“ (V. 45), misshandelt er sie und isst und trinkt selbst. Dass er sich dabei gut fühlt, darauf weist bereits seine direkte Bezeichnung als κακός zu Anfang von V. 48 hin. Sich bei Taten, die anderen Menschen schaden, gut zu fühlen, charakterisiert den Bösen. Diese Charakterdisposition korrumpiert ihn vollends, als er die neue Machtstellung erlangt, was leider nicht unüblich gewesen sein mag: „[E]s scheint eine verbreitete Erfahrung gewesen zu sein, dass ein Sklave seine Arbeit schlecht tut, wenn der Herr aus dem Haus ist. So jedenfalls meint Columella, Verfasser eines landwirtschaftlichen Ratgebers im 1. Jh. n. Chr., dass die auf dem Lande beschäftigten SklavInnen wegen der Abwesenheit ihres Besitzers korrupt werden (Colum. 1,1,20),

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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und rät dazu, häufiges Erscheinen anzukündigen, damit der vilicus und seine Familie aus Furcht davor stets fleißig sind.“190

Die Gedanken des bösen Sklaven lassen keine Furcht in Bezug auf die Zukunft erkennen, sein Handeln keinerlei Mitleid oder Schuldgefühle. Wenn er überhaupt Emotionen verspürt, so sind es vermutlich hedonistische, d.h. am Augenblick und allein auf den eigenen Genuss ausgerichtete. Es folgt die ausführliche Darstellung seines Ergehens: Sein Herr kehrt unerwartet zurück, schneidet ihn entzwei und setzt ihm (danach!) seinen Teil bei den Heuchlern fest; der letzte Halbvers beschreibt durch das Heulen und Zähneknirschen anschaulich, wie es ihm dort ergeht. Während am Ende des ersten Teils der Parabel nicht noch einmal eigens auf das Innenleben des guten Sklaven eingegangen wird, ist hier der parallele Aufbau der Parabel durchbrochen, indem der letzte Vers genau das tut: Die Erzählung endet nicht mit dem passiven Ergehen des bösen Sklaven (V. 51a), sondern mit seinem reaktiven Verhalten auf seine Bestrafung (V. 51b). Selbst an dieser Stelle werden keine direkten Emotionen genannt. Doch scheint dies auch nicht nötig zu sein. Der Sklave erlangt seine verdiente Strafe, und seine bisherigen Emotionen der Selbstsicherheit und egoistischen Freude an Macht und Luxus verkehren sich ins Gegenteil: Das Kommen seines Herrn „inspires absolute fear for the punishment that it is to bring. In this context the angst of the household becomes more intense.“191 Seine Strafe zielt auf drei Ebenen und umfasst somit seine ganze Person: Sie äußert sich in körperlicher Strafe (Entzweischneiden), in gesellschaftlicher Degradierung (Hinauswurf aus dem Haus sowie aus dem Beschäftigungsverhältnis bei seinem Herrn) sowie psychologischer Folgen (Weinen und Zähneknirschen). Dabei fällt die Ordnung der Ereignisse ins Auge, wird der Sklave doch zuerst entzweigeschnitten, d.h. getötet, und leidet erst darauf Qualen. Diese unlogisch anmutende Reihenfolge ist folglich als Transfersignal zu deuten: Die Bestrafung in Gottes Gericht endet nicht mit dem bloßen Tod der Verurteilten; ihre Strafe währt ewig (vgl. 18,34). Während die ersten beiden Bestrafungen somit unzweifelhaft Emotionen wie Leid, Trauer, Verzweiflung und Reue aufseiten des Sklaven vermitteln, muss das Weinen und Zähneknirschen genauer betrachtet werden, da dieser Ausdruck kein traditioneller Topos zu sein scheint, für Mt aber paradigmatisch für das eschatologische Ergehen der Ungläubigen verwendet wird (vgl. 8,12; 13,41.50; 22,13 und 25,30). „Weinen“ ist ein klares Indiz für Trauer und Klage.192 Wird es dazu noch mit dem bestimmten Artikel versehen, drückt es extremes Verhalten aus und

190

GERBER, Zeit, 165. HARTIN, Angst, 382. 192 Vgl. STRACK/BILLERBECK, Kommentar I, 673. 191

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

vermag die Intensität des Begriffsinhalts noch zu steigern.193 Das „Zähneknirschen“ scheint in dieselbe Richtung zu weisen; hinzu kommt die emotionale Nuance der Wut und der Verzweiflung.194 William Herzog nimmt die parabolische Bildebene ernst, wenn er abwägt: „Gnashing of teeth can refer to the sound of chattering teeth caused by being in the cold without adequate clothing or shelter, or it can refer to the sound of teeth grinding because one is in pain or deep anguish.“195 Kälte und Qual sind demnach die beiden Seiten, die der Ausdruck zu veranschaulichen vermag. Beide sind zu beachten. Die Wortverbindung ist sicherlich nicht lediglich „Ausdruck fürchterlichen Schmerzes“196. Der Mehrwert dieser Metapher ist, dass sie sowohl die körperliche als auch die emotionale Qual auszudrücken vermag.197 Es ist also sehr wahrscheinlich, dass dieser Ausdruck eine ganze Palette an Emotionen auslösen will und ein umfassendes Bild der Verzweiflung des bösen Sklaven zeichnen möchte.198 Darauf weist zum einen hin, dass hier zwei ganz gegensätzliche physiologische Bewegungsabläufe beschrieben werden: zum einen das weinende Klagen, das in Israel meist laut und folglich mit geöffnetem Mund oder zumindest nicht zusammengepresstem Kiefer ausgelebt wurde199; zum anderen das Zähneknirschen, welches geradezu die gegensätzliche Bewegung des Wehklagens darstellt: „Das Zähneknirschen der Grimmenden macht eine explizite Aussprache geradezu unmöglich.“200 Die Qual wird somit auf umfassend-ganzheitliche Weise ausgedrückt: Öffnung und Zusammenkrampfen. Dieser Grad an Variabilität des Ausdrucks erhöht nicht nur die Intensität der vermittelten Emotionen, sondern legt auch nahe, dass der Text auf unterschiedliche Emotionsnuancen abzielt. Weinen geschieht nicht nur aus Trauer oder Schmerz, sondern auch aus Reue (Jer 3,21; 50,4; Mt 26,75).201 Es erscheint m.E. sehr plausibel, dass der Text diese „Reue über die endgültige Trennung von Gott“202 sowie den gesamten verzweifelnden Emotionskomplex (Reue und Trauer) abruft.

193 Vgl. HERZOG, Parables, 166. Jan Lambrecht spricht sich dafür aus, dass der Artikel darauf verweise, dass das Motiv bereits bekannt sei, etwa aus Q (vgl. LAMBRECHT, Treasure, 193–195). Ohne diese Möglichkeit ausschließen zu wollen, spricht m.E. sprachlich mehr dafür, hinter dem Artikel in erster Linie eine Intensitätsverstärkung zu vermuten. 194 Vgl. STRACK/BILLERBECK, Kommentar I, 673. 195 HERZOG, Parables, 166. 196 LUZ, Evangelium II, 16. 197 Vgl. ROSELT, Emotionalität, 321. 198 Auch Joachim Jeremias hebt die Verzweiflung des Ausdrucks hervor, jedoch sieht er sie bereits als übertragene „stets für die Verzweiflung über das durch eigene Schuld verscherzte Heil“ stehend (JEREMIAS, Gleichnisse, 104). 199 Vgl. HEIDLER, Art. „Weinen“, 1450. 200 ROSELT, Emotionalität, 321. 201 Vgl. HEIDLER, Art. „Weinen“, 1450. 202 KLAIBER, Matthäusevangelium, 187.

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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Ulrich Luz scheint hier einen rein körperlichen Schmerz anzunehmen, der mit dem Entzweischneiden einhergeht. Doch m.E. fällt dieser Vers durch seinen Bezug auf seine vorherigen Verwendungen bei Mt insofern aus der Erzählung heraus, als er sie durchbricht203 und als Transfersignal fungiert, die Parabel auf das Eschaton hin zu deuten (vgl. Mt 13).204 Demnach geht es um die Qualen der Hölle, die aber nicht konkret geschildert werden. Mt beschränkt sich auf die Umschreibung mittels dieses Ausdrucks. Die Stärke dieses Vorgehens liegt in der Emotionalität, die trotz geringer inhaltlicher Konkretion beim Rezipienten wirkt. Ohne dadurch bezweifeln zu wollen, dass Mt den Schmerz der Hölle physiologisch verstanden wissen wollte, wird hier auch auf die psychologische Komponente des Schmerzes abgehoben. Dieser emotionale Appell wird dreifach intensiviert: Erstens durch die Variabilität des Ausdrucks – Weinen und Zähneknirschen –, zweitens durch die Stellung – der Vers bleibt durch den Rezenzeffekt am stärksten in Erinnerung – und drittens durch die Erzählperspektive – der erneute Fokus auf das Innenleben der Figur durchbricht den bisherigen Erzählungsaufbau, und der intratextuelle Bezug zu bereits bekannten Worten Jesu über das Eschaton verleiht dem Ausdruck zusätzliches Gewicht. Auf diese Beobachtungen wird noch bei den Rezeptionsemotionen zurückzukommen sein. An dieser Stelle soll es genügen festzuhalten, dass die Parabel mit V. 51b das emotionale Ergehen des Sklaven indirekt erschließt, indem dem Rezipienten dessen Lage durch das Weinen und Zähneknirschen äußerst anschaulich vor Augen geführt wird. Dadurch erhalten die bereits durch das Enzweischneiden und den Hinauswurf vermittelten Figurenemotionen wie Furcht, Leid (als besonders starke Form der Trauer), Verzweiflung, Reue und ggf. Scham durch diesen mt Topos Bestätigung und Nachdruck. Nun kommen in der Parabel noch zwei bzw. vier weitere Figuren(gruppen) vor: zum einen der Hausherr und das Figurenkollektiv der übrigen Sklaven (V. 45: οἰκετεία; V. 49: συνδούλοι), zum anderen die Gruppe der Betrunkenen (V. 49) sowie die Gruppe der Heuchler (V. 51). Die beiden Letzteren können hier unberücksichtigt bleiben, da sie für die Erzählung keine tragende Rolle spielen, sondern lediglich die Beschreibung des Handelns sowie des Ergehens des bösen Sklaven veranschaulichen (nur erwähnte, passiv bleibende Randfiguren).205

203

So konstatiert auch Ulrich Luz: „In V 51b wird die Erzählebene verlassen“ (LUZ, Evangelium III, 459). 204 Als ein solches Transfersignal dienen in gewisser Weise bereits das µακάριος aus V. 46, das auf die Seligpreisungen in Mt 5 zurückverweist (vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 343), sowie das ἀµὴν λέγω ὑµῖν in V. 47. Auch dieses vollmächtige Wort Jesu legt den Schluss nahe, dass es „auf einen nicht mehr menschlichen, sondern göttlichen Lohn“ hinweist (LUZ, Evangelium III, 461). 205 Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 206.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Auch die Mitsklaven übernehmen keinen aktiven Part in der Erzählung und werden nicht ausführlicher geschildert. Auch sie dienen als instrumentale Erzählelemente zur Illustration der Grausamkeit des bösen Sklaven. Trotzdem verfügt dieses Figurenkollektiv über eine stärkere emotionale Wirkung auf die Rezipienten als etwa die genannten Betrunkenen oder die Heuchler. Da Machtmissbrauch von Höhergestellten in der Antike kein seltenes Phänomen darstellt und sich der Rezipient aufgrund der direkten Charakterisierung „jenes Sklaven“ als κακός nicht mit diesem identifizieren wollen wird, ist es wahrscheinlicher, dass er in dieser Szene eine zumindest solidarische Haltung mit den Mitsklaven einnimmt. Ihre Emotionen der Furcht, Verzweiflung, ggf. auch der Verachtung und des Zorns können aus ihrem Ergehen indirekt erschlossen werden. Hierdurch wird die Antipathie gegenüber dem Sklaven noch zusätzlich verstärkt. Obwohl sie als episodische Nebenfiguren eine nur untergeordnete Rolle im Handlungsverlauf spielen206, sind sie für die emotionale Rezeption des bösen Sklaven von ausschlaggebender Bedeutung. An ihnen wird kenntlich, wie schutzlos antike Sklaven jeder Form von Gewalt ausgeliefert waren207 und wie schnell errungene Macht dazu verleitete, diese Spirale der Gewalt an die Untergebenen – zuvor doch auf derselben Stufe stehenden Mit-Sklaven – weiterzugeben. Macht wird zuungunsten der Beziehung zum Mitmenschen errungen und ausgeübt. Obgleich es häufig den Anschein macht, dass Jesus in seinen Herr-Sklave-Parabeln die Sklaverei unkritisch als Bild für das Reich Gottes übernimmt, klingt hier eine klare Kritik an der korrumpierenden Kraft der Macht an, welche dazu verleitet, egoistische Ziele auf Kosten Anderer zu verfolgen. Im Gegensatz dazu tritt der Hausherr stets als aktiv Handelnder auf: Er setzt einen Sklaven über die übrigen, verlässt sein Anwesen (was nicht explizit erzählt wird), kehrt zurück und belohnt oder aber bestraft seinen Sklaven für dessen Handeln in seiner Abwesenheit. Es wird keine Innensicht der Figur geschildert. Es kann daher nur durch sein Handeln auf seine Emotionen geschlossen werden. Dabei ist naheliegend, dass er sich über das Tun des klugen und treuen Sklaven freut, während er über das Tun des bösen Sklaven zornig wird. V.a. der Zorn liegt für den Rezipienten auf der Hand, aktiviert die Sklavenparabel doch die bereits gehörten über den unbarmherzigen Sklaven und das Hochzeitsmahl sowie die dort ähnlich beschriebene und explizit zornige Reaktion des Herrn (18,34; 22,7). Die Freude des Herrn kommt dann auch in der Parabel von den anvertrauten Geldern (25,14–30) direkt zur Sprache.

206 207

Vgl. a.a.O., 205 f. Vgl. GLANCY, Slaves, 80.

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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4.3 Die Rezeptionsemotionen Nach dieser deskriptiven Beschreibung des Textes kann nach den Rezeptionsemotionen gefragt werden, welche die Narration im Rezipienten auslöst. Situationen und Geschehnisse sind für diese Parabel weniger von Belang, weshalb eine kurze Betrachtung vorab ausreicht, um ihren emotiven Gehalt zu klären. Der stärkste Auslöser von Emotionen sind demgegenüber die Figuren der Parabel, welche die tragende Rolle im Geschehen innehaben. Die Figurenanalyse dient als sinnvolle Grundlage, um daran die Untersuchung der Raum- und schließlich der Zeitdimension anzuschließen. Bei den einzelnen Beobachtungen zu den Emotionen werden diese sogleich auf ihre Intensität hin geprüft. 4.3.1 Situationen/Geschehnisse Geschehnisse können bei der Analyse dieser Parabel außer Acht gelassen werden, da jedes Ereignis direkt auf eine Handlung der Figuren zurückgeführt werden kann. Es begegnen indes drei Situationen in der Erzählung: V. 45 schildert die Situation eines Hausherrn, der einen seiner Sklaven über seinen Haushalt einsetzt. V. 46 und 48 f. beschreiben die Situation der Abwesenheit des Hausherrn, in welcher der Sklave entweder gut (V. 46) oder schlecht (V. 48 f.) handelt. Letztlich stellen die V. 47 und 50 f. die Situation der Rückkehr des Hausherrn dar, welche mit der Belohnung des guten (V. 47) und Bestrafung des schlechten Sklaven (V. 50 f.) endet. Während die ersten beiden Situationen neutral gehalten sind und auch aufgrund der knappen Erzählweise nicht angezeigt ist, hier von einer emotionalisierenden Autorintention auszugehen, unterscheidet sich hiervon die dritte Situation deutlich: Die Rückkehr des Herrn kann insofern als eine Situation gewertet werden, als sie einer Abrechnungsszene – ganz ähnlich der in Mt 18 – gleichkommt. Der Herr überprüft, ob der seinem Sklaven anvertraute Haushalt so geführt wurde, wie er es erwartet hat. Emotionsauslösend sind insbesondere die erste und letzte Situation: Die Übergabe des Haushalts an den Sklaven kann beim Rezipienten im Falle einer Perspektivübernahme starke positive Emotionen wie Zufriedenheit, Stolz und Freude wecken. Die Abrechnung des Herrn hingegen bestätigt entweder die positiven Emotionen der ersten Situation (im Falle des guten Sklaven) oder will plötzliche Furcht und Verzweiflung im Angesicht der Bestrafung und Reue über das verpasste gute Handeln auslösen. Entscheidend ist aber, wie in der bereits betrachteten Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,24–35), insbesondere der Transfer der Erzählebene auf die Aussage über das Reich Gottes, das veranschaulicht wird und den emotionalen Gehalt der geschilderten Situationen verstärkt: Aufgrund des Kontextes der Rede Jesu über die Endzeit und das Gericht Gottes (Mt 24) und der Transfersignale wie das an die Seligpreisungen erinnernde µακάριος (V. 46), das das Aus-

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

bleiben der erwarteten Parusie Christi aufgreifende χρονίζειν (V. 48), sowie die eschatologisch aufgeladenen Begriffe ἡµέρα und ὥρα (V. 50) lassen hinter der Situation der Rückkehr eines Hausherrn die Rückkehr Christi zum endgültigen Gericht Gottes erkennen (vgl. 24,36.44). Hierdurch verstärken sich alle Emotionen, die mit der Situation verbunden sind immens, und selbst Rezipienten, die sich nicht leicht in diese Situation hineinversetzen können, dürfte sie dennoch emotional berühren. Das Gericht Gottes spricht alle Menschen an und zielt – wie schon in Mt 18 – auf bestimmte ErwartungsEmotionen wie Hoffnung auf Erlösung von der jetzigen Welt und die Ewigkeit im Reich Gottes sowie Hoffnung oder Furcht, die jeweils davon abhängen, wie die eigenen Chancen, im Gericht Gottes zu bestehen, eingeschätzt werden. Daraus resultieren wiederum Wohlergehen-Emotionen wie Freude oder Leid (als besonders starke Form der Trauer) bzw. Selbstzufriedenheit oder -unzufriedenheit. 4.3.2 Figuren Emotionen werden v.a. anhand des Verhaltens, Handelns und der Charakterisierung von Figuren ausgelöst. Letzteres lässt sich in dieser Parabel leicht finden. Der Autor macht keinen Hehl aus der moralischen Bewertung der Figuren und überlässt diese auch nicht dem Rezipienten. Er charakterisiert den Sklaven als entweder „treu und klug“ (V. 45) oder „böse“ (V. 48). Dadurch dass es sich um ein und denselben Sklaven handelt, ist jedoch anzunehmen, dass hier weniger auf eine charakterliche Disposition abgehoben wird als vielmehr auf die existentielle Entscheidung, vor der jeder Mensch individuell tagtäglich steht: Er kann sich treu und klug oder böse verhalten. Die Parabel legt ihren Fokus auf diese Einzelentscheidungen, die sodann den Charakter erkennen lassen. Der Autor des Mt-Ev vertritt keine Tugendlehre im Sinne Platons, bei der ein guter Mensch durch schlechtes Handeln nicht analog einen schlechten Charakter erlangt, weil nur Letzterer entscheidend sei, nicht notwendigerweise das Handeln.208 Vielmehr gleicht seine Einstellung der aristotelischen Sicht, die erst vom Handeln auf den Charakter eines Menschen schließt.209 Ob der Sklave treu und klug ist oder nicht, zeigt sich ausschließlich an seinem Tun (V. 45 f.). Während die Adjektive πιστός, φρόνιµος und µακάριος auf der einen sowie κακός auf der anderen Seite positive sowie negative Emotionen wecken, ist letztlich das Verhalten und Handeln der Figuren das ausschlaggebende Moment, das diese oder jene Emotionen inhaltlich begründet. Die Adjektive lenken den Leser jedoch bereits vom ersten Vers an auf eine bestimmte moralische Bewertung hin. Mt ergänzt hier das κακός, im Gegensatz zu Lk 12,45. Es lässt sich schwerlich darüber spekulieren, ob er dies 208 209

Vgl. NUSSBAUM, Fragility, 379 f. Vgl. ebd.

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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zugunsten einer stärker ethisch-moralischen Bewertung210 oder lediglich der parallelen Struktur zuliebe oder gar aus beiden Gründen tut. Mit diesen stark wertenden Begriffen sind unweigerlich positive sowie negative Wertschätzungs-Emotionen (Bewunderung bzw. Verachtung) verbunden. Auch aufgrund des Rollen-Frames ist eine empathische Perspektive auf den Sklaven wahrscheinlich: Der Kontext der Parabel, welcher das Kommen des Reiches Gottes am Ende der Zeit thematisiert (Mt 24), legt eine sofortige Übertragung der Erzählung auf den existentiellen Bezug der Gott-Mensch-Beziehung nahe. Dass der Mensch im Vergleich zu Gott als „Sklave“ bezeichnet wird, dürfte für die religiös sozialisierten Rezipienten des 1. Jh. n. Chr. ein vertrautes Motiv sein.211 Der Mensch ist vor Gott wie ein Diener. Besonders breit diskutiert wird vor diesem Hintergrund der exakte Adressatenkreis der Parabel und ob durch den über die übrigen Sklaven gesetzten Haushalter nur die geistlichen Führer Israels angesprochen würden.212 Alfons Weiser führt zwei Argumente gegen diese verengende Lesart an, indem er zum einen argumentiert, dass καθιστάναι (V. 45) keine gemeindespezifische Amtsbesetzungssprache sei, und zum anderen, dass der intertextuelle Bezug zur Josefsgeschichte den Adressatenkreis ebenfalls offenhalte.213 Des Weiteren kann die unmittelbar vorangestellte Parabel vom Dieb in der Nacht angeführt werden: Mt 24,42–44 spricht gar von einem Hausvater (οἰκοδεσπότης) und dennoch sind sowohl der einleitende Imperativ (V. 42: γρηγορεῖτε οὖν) als auch der direkt folgende (V. 44: διὰ τοῦτο καὶ ὑµεῖς γίνεσθε ἕτοιµοι) an alle, d.h. an die Jünger Jesu (24,1) gerichtet.214 Wenn sich der Gläubige demnach sogar mit einem Hausherrn identifizieren soll, warum dann nicht erst recht mit einem mit besonderen Privilegien ausgestatteten Sklaven? So ist Christine Gerber zuzustimmen, die zusammenfasst: „Nicht, an welcher Aufgabe der treue Sklave sich bewährt bzw. versagt, ist wesentlich für die Reaktion des Herrn, sondern ob er seine Aufgabe erfüllt.“215

210 Darauf würde auch eine weitere begriffliche Differenz zum lk Text hinweisen: Mt 24,51 spricht von ὑπόκριται, Lk 12,46 von ἀπίστοι. 211 Vgl. dazu WEISER, Knechtsgleichnisse, 22–46. 212 So z.B. JEREMIAS, Gleichnisse, 54 f. 213 Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 184 f. Näheres zum intertextuellen Bezug zu Gen 39 und 41 s.u. in diesem Abschnitt. 214 So weist Ulrich Luz auf den Adressatenkreis aller Jünger hin (vgl. LUZ, Evangelium III, 464 f.). 215 GERBER, Zeit, 168 (Hervorhebungen im Original). Ähnlich folgert Jan Lambrecht: „All of us detect in that servant our own destiny, for each of us is ‚set over‘ a household, a task. All of us can say: I am that servant. The choice is one which I myself must make; it is the option of my life.“ (LAMBRECHT, Treasure, 196; Hervorhebungen im Original).

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

a) Der als „treu“ und „klug“ geschilderte Sklave Da der Erzähler durch seine Charakterisierung das Empathiepotential der Figur des Sklaven maßgeblich lenkt216, ist es überaus wahrscheinlich, dass der Rezipient das Handeln und Ergehen des treuen und klugen Sklaven nicht nur external, sondern auch internal verfolgt: Die empathische Perspektive wird hier sowohl die bewertende als auch die erlebende Komponente umfassen. Dies impliziert eine ganze Bandbreite an positiven Emotionen, die gemäß der außen- oder innenperspektivischen Sicht zugeordnet werden können: Als Beobachter/Hörer verfolgt der Rezipient das Geschehen und fühlt mit, als der Sklave gemäß seinem Auftrag handelt, d.h. seine Mitsklaven gut behandelt, und danach seinen Lohn empfängt, d.h. von seinem Herrn mit noch mehr Rechten ausgestattet wird. Dies resultiert in externalen Empathie-Emotionen (Mitfreude mit dem Sklaven über seine Belohnung), externalen AttributionsEmotionen (Zufriedenheit über das Handeln des Sklaven) und externalen Wertschätzungs-Emotionen (Bewunderung des konsequenten Sklaven). Aus einer Identifikation mit dem guten Sklaven wiederum verschiebt sich der Wahrnehmungsfokus nach innen und resultiert in internalen ErwartungsEmotionen (Hoffnung auf Belohnung und Befriedigung über die Bestätigung derselben in V. 47), internalen Wohlergehen-Emotionen (Freude über die Belohnung durch den Herrn) und internalen Attributions-Emotionen (Stolz über das rechte Verhalten und dessen Lohn). Wie stark diese Emotionen beim Rezipienten zum Tragen kommen sollen, ist schwer einzuschätzen: Die Erzählung ist aus dem Alltag gegriffen und damit hochplausibel217, sodass die Erwartungshaltung der Rezipienten nicht enttäuscht wird und somit kein Überraschungs-Effekt bestimmte Emotionen verstärkt. Hinsichtlich der Textästhetik ist jedoch auf das dynamisch antreibende µακάριος sowie das ἀµὴν λέγω ὑµῖν zu Beginn der Verse 46 und 47 hinzuweisen, welche die positiven Emotionen unterstützen und das Identifikationspotential zusätzlich steigern. Dieses Potential, angelegt durch die Attribute „treu“ und „klug“, wird nun durch die Schilderung des Handelns des Sklaven und seiner Belohnung gewissermaßen zur Vollendung gebracht. Sowohl die besondere emotionale Qualität des µακάριος als auch die autoritative Erzählerkommentierung ἀµὴν λέγω ὑµῖν werden durch intratextuelle Bezüge verstärkt: Während µακάριος auf die Bergpredigt (5,3–11) und auf die Gleichnisrede (13,16) rekurriert, stellt ἀµὴν λέγω ὑµῖν die Aussage in den Kontext der vorangegangenen vollmächtigen Reden Jesu (bspw. in der Bergpredigt v.a. 6,2.5.16; in der Gleichnisrede 13,17 und im näheren Kontext 21,21.31; 23,36; 24,2.34). Insbesondere der wortgetreue Anklang von 13,16 f. vollendet die Verbindung zur Parabelgattung und fordert zum Transfer des Gehörten auf. Eine eschatologische Deutung der Parabel liegt schon durch 216 217

Vgl. LUZ, Evangelium III, 459. Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 343.

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den Kontext von Mt 24 nahe, der sich auch in Mt 13 zeigt. Hiervon wird bei der Analyse der Zeitdimension noch genauer zu sprechen sein. Letztlich können intertextuelle Bezüge die positiven Emotionen noch verstärken: Die Freude über die Belohnung des treuen Sklaven dürfte nicht nur aufgrund ihres realistischen Zuges eine solche auslösen: Der – in der Antike häufig als fehlend bemängelte – Gehorsam von Sklaven gegenüber ihrem Herrn konnte im besten Fall mit mehr Verantwortung und somit einer verbesserten, weil engeren Beziehung zum Herrn belohnt werden.218 Gesteigert wird diese Freude zusätzlich durch die Verbindung zu Josef, der ebenfalls vom Pharao als sein Verwalter eingesetzt wird (Gen 39,4; 41,37–46; Ps 105,21) und als besonderes Vorbild aktiver Herren-Treue betrachtet werden kann.219 Auch stellt die Erzählung mittels des Topos des „Speise Gebens zur rechten Zeit“ Bezug zu den Psalmen her (Ps 104,27; 145,15) und nutzt diese Intertextualität als Emotionsverstärker: Der Sklave handelt hier ganz im Bilde seines Schöpfers, indem er sich um das ihm anvertraute Gesinde kümmert. Auf solch ein Tun im Sinne einer imitatio dei, die bei Mt durchgehend gefordert wird (5,48; 12,50; 18,33; 19,21; 20,27 f.), kann der Mensch wahrlich stolz und sich seines Lohns bei Gott voller Vorfreude sicher sein (vgl. 25,31–46). Obgleich diese intertextuellen Bezüge nicht explizit gemacht werden wie etwa die Reflexionszitate, ist anzunehmen, dass ein jüdisch gebildeter Rezipient diese Anspielungen erfasst.220 Trotz dieser Intensitätsverstärker sprechen zwei gewichtige Gründe gegen ein ausgeprägtes feeling with des Rezipienten: Erstens erschwert die extreme Kürze der Erzählung die Identifikation im Sinne eines völligen „Hineinfindens“ in die Figur des treuen Sklaven. Zweitens ist die prompte Überleitung zum zweiten Teil der Parabel ein starker Dämpfer der soeben geweckten, positiven Emotionen. Der Rezipient wird sogleich herausgefordert, neue Bewertungen anzustellen, die um einiges negativer ausfallen. Ob somit die internalen Sympathie-Emotionen im Sinne einer Identifikation mit dem treuen Sklaven (wie etwa Hoffnung oder Stolz) beim Rezipienten ausgelöst werden, bleibt sehr fraglich. Letztlich scheint es zur Entwicklung dieser Perspektivverschiebung von außen nach innen schlicht an Zeit, d.h. an Erzählzeit und narrativer Ausführlichkeit zu fehlen. Dass der gute Sklave so sparsam beschrieben und weder auf sein Innenleben noch auf seine Beweggründe näher eingegangen wird, scheint durch starke, emotional positiv besetzte Termini der Schilderung nicht nötig zu sein. Man könnte argumentieren, dass der Text sich an die erste Grice’sche Konversationsmaxime hält, d.h. nicht mehr Informationen angibt, als zum Verständnis nötig sind, und der Rezipient selbst die Möglichkeit erhält, sich in die Leerstellen des Textes entsprechend hin218

Vgl. GLANCY, Slaves, 70. Vgl. LUZ, Evangelium III, 462. 220 Vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 207 f. 219

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einzudenken, zu fühlen und selbst die Gründe anzubringen, aufgrund derer der Sklave treu und gut handelt. Um es mit Umberto Ecos Worten auszudrücken: Er wird zu „inferentiellen Spaziergängen“ aufgefordert.221 Allerdings lässt die extreme Raffung der Erzählung, welche die Erzählzeit stark verkürzt, kaum Raum für den Rezipienten, sich darin wiederzufinden und sich selbst aktiv in die Figur hineinzuversetzen, geschweige denn, sich selbst mit seinen Erfahrungen und Vorstellungen in die Geschichte einzutragen. Da die Erzählung an dieser Stelle nicht endet, hat der Rezipient kaum die Möglichkeit dazu. Demnach lässt die Art und Weise der Erzählung erkennen, dass der Autor zwar starke positive Emotionen für den treuen und klugen Sklaven und eine Identifikation mit diesem im Rezipienten intendiert, dass aber die Emotionen aufgrund der Knappheit eher auf der externalen Beobachter-Ebene verbleiben sollen. Der Rezipient soll nicht zu sehr in diesem Teil der Geschichte aufgehen, da der gewichtigere Teil der Erzählung erst noch folgt.222 b) Der als „böse“ geschilderte Sklave Der Übergang zum zweiten Teil ist plötzlich: ἐὰν δὲ εἴπῃ ὁ κακὸς δοῦλος. Obwohl die Distanz zu dieser Figur viel geringer ist, da sogar ihre Gedanken direkt wiedergegeben werden, wird ihr Empathiepotential durch die direkte Charakterisierung als „böse“ von vornherein niedrig gehalten. Obgleich eine Begründung für das Handeln des Sklaven gegeben (V.48: „Mein Herr bleibt noch aus“) und damit ein strikt paralleler Aufbau zum ersten Teil durch eine fokalisierende „Nahaufnahme“ des Innenlebens des Sklaven durchbrochen wird, versetzt sich der Rezipient wohl nicht in dessen Lage. Außerdem bleibt des Sklaven Begründung letztlich unverständlich: Was genau denkt er sich dabei? Dass er sein Handeln noch rechtzeitig korrigieren könne? Dass er bis dahin aber tun könne, was immer er will? Für den aufmerksamen Rezipienten ist vollkommen klar: Selbst wenn sein Herr später zurückkehrt als erwartet, wird er doch schließlich von ihm für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen werden. Die Argumentation an dieser Stelle ist eine zeitliche und soll daher an späterer Stelle genauer betrachtet werden. Das Handeln des „bösen“ Sklaven wird im Gegensatz zu dem des guten Sklaven ausführlich geschildert: Er beginnt, seine Mitsklaven zu schlagen (V. 49). Die Brutalität zielt zusätzlich auf ein empathisch-deviantes Urteil und Antipathie gegenüber der Figur. Die emotionale Reaktion auf das Ergehen der Mitsklaven muss an dieser Stelle eingeschoben werden, denn sie steuert ganz erheblich die weiteren Rezeptionsemotionen dem bösen Sklaven gegenüber: Es fällt sogleich auf, dass nicht das οἰκετεία aus V. 45 verwendet wird, sondern σύνδουλοι. Das Präfix συν- hebt die generell gleichgestellte Beziehung der Sklaven untereinander hervor. Sie waren zumindest bisher alle 221 222

ECO, Lector, 149. Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 342.

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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gleich. Nun erhebt sich einer über die anderen, indem er für jene an Stelle des Hausherrn sorgen soll. Indem er seine Mitsklaven misshandelt, stellt er sich über sie, missbraucht seine Machtposition und bewertet die Beziehung neu – und falsch, suggeriert dieser Ausdruck doch, dass er noch immer einer von ihnen ist. Aufgrund der Bezeichnung des Sklaven als „böse“ sowie seines moralisch verwerflichen Handelns wird das Empathiepotential dieser Figur niedrig gehalten. Wie bereits erwähnt, erhöht sich demgegenüber das der Mitsklaven: Die Nennung ihres unverdienten Leidens ist darauf ausgelegt, im Rezipienten jeweils externale Empathie-Emotionen (Mitleid über ihr Schicksal) sowie Erwartungs-Emotionen (Hoffnung auf Wiederherstellung von Gerechtigkeit zu wecken.223 Diese Emotionen sind aufgrund der Glaubwürdigkeit der Erzählung sehr intensiv einzuschätzen: Machtmissbrauch unter Sklaven war kein seltenes Phänomen, wie verschiedene jüdische und griechische Erzählungen belegen.224 Das ausschweifende Frönen des Genusses von Essen und Alkohol zeigt darüber hinaus, dass der Sklave seine Macht ausnutzt, um selbst Luxus zu haben. Die Trunkenheit ist dabei nicht nur ein frühchristlicher Topos im Gegensatz zum nüchternen Wachen (vgl. 1 Thess 5,6–8; 1 Petr 1,13; 5,8)225, sondern auch die bloße Anzeige, dass der Sklave – selbst wenn er wollte – nicht mehr nüchtern und aufmerksam genug ist, seinem Auftrag nachzukommen. Aus dem vordergründigen Nicht-Wollen resultiert ein Nicht-Können. Obgleich das empathische Potential der Mitsklaven recht hoch einzuschätzen ist, ist eine sympathetische Übernahme ihrer Innenperspektive trotzdem nicht sonderlich wahrscheinlich, da auch hier die Schilderung der Parabel zu knapp ausfällt, um dem Rezipienten eine solche zu ermöglichen. Dennoch ist zu betonen, dass der Erzähler diese Figurengruppe hier nicht umsonst nennt; er hätte er auch lediglich ausdrücken können, dass der Sklave seiner Aufgabe nicht angemessen nachkommt. Indem er seine Verfehlung in Bezug auf seine Mitsklaven schildert, wird eine moralische Dimension eröffnet, welche Emotionen beträchtlich zu verstärken vermag. Diese emotionale Reaktion und Solidarisierung des Rezipienten auf das Figurenkollektiv der Mitsklaven lässt folglich die Rezeption des bösen Sklaven noch negativer ausfallen. Bewertet man sodann dessen Empathiepotential, ist nicht anzunehmen, dass der Rezipient, nachdem er vom Autor bereits zu einer Identifikation mit dem treuen und klugen Sklaven hingelenkt wurde, sowie nach der direkten Charakterisierung des zweiten Sklaven als „böse“, seiner unlogischen Überlegung hinsichtlich des längeren Ausbleibens 223

Obgleich das empathische Potential der Mitsklaven also recht hoch einzuschätzen ist, ist eine sympathetische Übernahme ihrer Innenperspektive trotzdem nicht sonderlich wahrscheinlich, da auch hier die Schilderung der Parabel zu knapp ausfällt, um eine solche Innensicht nahezulegen. 224 Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 194 f. und LUZ, Evangelium III, 463. 225 Vgl. ebd.

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seines Herrn und des daraus resultierenden Handelns (übermäßiges Essen, Trinken und Schlagen seiner Mitsklaven) irgendeinen Drang zur Identifikation mit diesem verspürt. Mit Alfons Weiser gesprochen: „Das Benehmen des bösen Sklaven wird in grellen Farben gemalt, damit seine Verwerflichkeit ganz deutlich werde.“226 Während „treu und klug“ sowie „glückselig“ Attribute sind, die auf eine Selbstidentifikation zielen, will der zweite Teil der Parabel schwerlich eine solche oder existenziale Identifikation im Rezipienten hervorrufen. Ggf. wird in V. 51 eine Fremdidentifikation nahegelegt, indem der Begriff der „Heuchler“ intratextuelle Bezüge zu den Schriftgelehrten und Pharisäern weckt (6,2.5.16; 23,13.23.27.29). Aus diesem niedrigen Empathiepotential ergeben sich auf sympathetischer Ebene eine in der Beobachter-Perspektive verbleibende Antipathie gegenüber der Figur und folglich gänzlich andere Emotionen als die der Figur selbst: Wohingegen anzunehmen ist, dass sich der Sklave während seines machtmissbrauchenden Tuns gut fühlt, reagiert der Rezipient vielmehr mit jeweils externalen Wertschätzungs-Emotionen (Verachtung), Attraktivitäts-Emotionen (Ärger) und Erwartungs-Emotionen (Hoffnung auf Bestrafung des Sklaven). Im Falle ähnlicher persönlicher Erfahrungen könnte die Rezeption des bösen Sklaven sogar noch stärkere Emotionen auslösen, wie etwa Attraktivitäts-Emotionen (Hass). Die plötzliche Rückkehr des Herrn und die Bestrafung des Sklaven mag in diesem Verzweiflung und Reue hervorrufen, nicht aber im Rezipienten. Der Rezipient empfindet dabei vielmehr externale Empathie-Emotionen wie Genugtuung über die Bestrafung.227 Dennoch muss genauer geprüft werden, ob das Empathiepotential des bösen Sklaven tatsächlich vollständig gegen Null geht. Dies kann zwar bis V. 51a durchaus stark gemacht werden, weil der Aufbau bis hierher parallel an V. 46 f. angelegt ist. Entgegen der bisher klaren Struktur – aktives Handeln des Sklaven, gefolgt von passivem Empfangen von Lohn oder Strafe – schildert V. 51b aber den Sklaven noch einmal näher; er „zoomt“ quasi abschließend auf ihn und zeigt seine verzweifelte Reaktion in Nahaufnahme: Er weint und knirscht mit den Zähnen. Dieses Bild verstärkt die metaphorische Funktion der Parabel immens: Denn dem aufmerksamen Leser/Hörer ist klar, dass die Rückkehr des Herrn die Rückkehr des Christus zum Gericht Gottes am Ende der Zeit darstellt (vgl. 24,27.39). Damit betrifft das Schicksal des bösen Sklaven nicht lediglich eine kleine Gruppe ihre Macht missbrauchender Haussklaven, sondern jeden einzelnen Menschen ganz existentiell. Auch der Rezipient wird eines Tages vor Gottes Richterstuhl stehen. Dieser Transfer 226

WEISER, Knechtsgleichnisse, 193. Hier kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Unterschied zwischen damaliger und heutiger Rezeption zu beachten ist. War eine so harte Sklavenbestrafung in der Antike durchaus üblich (vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 344 und LUZ, Evangelium III, 463 f.), mag heutigen Lesern die brutale Bestrafung um einiges abstoßender erscheinen. 227

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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intensiviert die empathisch-affirmative Valenz des Weinens und Zähneknirschens des Sklaven maßgeblich. Sein Ende wird für den Rezipienten mit einem Mal zur grausamen, realen Option seines eigenen Schicksals. Damit öffnet sich eine Innenperspektive, ein Hineinversetzen des Rezipienten in den bösen Sklaven durch den hochemotionalen Schluss der Parabel, und bewirkt Rezeptionsemotionen, die den oben genannten, indirekt vermittelten Figurenemotionen entsprechen wie etwa externale Empathie-Emotionen (Mitleid über das Schicksal des Sklaven), internale Erwartungs- und WohlergehenEmotionen (Furcht, Leid – als besonders starke Form der Trauer –, Verzweiflung angesichts des Endgerichts) und internale Attributions-Emotionen (Selbstunzufriedenheit, Scham und Reue über eigene Verfehlungen). Auch wenn der Rezipient das Handeln des Sklaven verurteilt, kann er dessen Weinen und Zähneknirschen nachfühlen. Hier kommt ein Zug des Mitleids zum Tragen, den Aristoteles seiner Zeit übersieht: Aristoteles gemäß wird Mitleid mit jenen empfunden, die ihr Leid nicht verdient haben. Obgleich dieser Aspekt die Emotion zweifelsfrei zu beeinflussen vermag, stehen gerade Narrationen mannigfaltige Werkzeuge der Leserlenkung zur Verfügung, um dennoch Mitleid zu erregen. Je stärker bspw. die Innenperspektive einer Figur, desto stärker kann diese die Emotionen und Gedanken der Figur dem Rezipienten vermitteln. Somit kann Mitleid entstehen, selbst dann, wenn das Schicksal auf den ersten Blick verdient erscheint.228 Da die Parabel nicht in V. 51a mit einem zu V. 47 parallelen Schluss (vgl. Lk 12,46), sondern in V. 51b in der Innenperspektive der Figur endet, liegt es nahe, dass der Text genau ein solches Mitleid, trotz allem, zu evozieren intendiert. Durch diesen Schluss der Parabel übersteigt die affektive Anteilnahme am Schicksal des bösen Sklaven die des guten, da erstens das Geschehen ausführlicher geschildert, zweitens die Distanz zur Figur erzähltechnisch verringert wird und drittens seine warnende Bestrafung am Schluss den Rezipienten in die Sphäre seiner Furcht und Reue, Verzweiflung und seines Schreckens hineinnimmt. Auf diese Weise dient der Vers als ausschlaggebender Auslöser des pragmatischen Rezeptionsvorgangs der Parabel: Die Moral von der Geschichte erscheint, indem das Ergehen des bösen Sklaven erlebbar gemacht und gleichzeitig aus dem profanen Bereich der Erzählung auf die existentielle Sphäre der Frage nach dem Schicksal eines jeden Menschen beim Jüngsten Gericht gehoben wird. Dadurch dass der Schrecken der Hölle die Parabel beschließt, sollen diese negativen, furchterregenden Emotionen am nachhaltigsten im Gedächtnis des Rezipienten bleiben und den ethischen Gehalt der Parabel langfristig unterstützen. Das Handeln des bösen Sklaven mitsamt seinem grausamen Schicksal stehen als emotional stark aufgeladene Präventivsignale, die im Rezipienten Furcht auslösen und ihn davor bewahren sollen, selbst so zu handeln. 228

Vgl. dazu LEIGHTON, Pity, 102–109, und ROBERTS, Compassion, 124–127.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

c) Der Hausherr Jetzt muss die Figur des Herrn noch genauer betrachtet werden. Diese nimmt eine besondere Stellung ein, weil auf ihr zunächst einmal nicht der Fokus der Erzählung liegt. Wie die Mitsklaven ist auch der Herr nur eine Nebenfigur, mit dem Unterschied, dass er die Handlung aktiv voranbringt, was ihn zu einer wichtigen Hilfsfigur macht.229 Als Hausherr setzt er durch die Einsetzung des Sklaven als seinen Statthalter den Erzählverlauf in Gang und bringt die Erzählung durch sein Handeln bei seiner Rückkehr auch zu einem Abschluss, wobei seine aktive Billigung und Belohnung bzw. Missbilligung und Bestrafung des Handelns seines Sklaven maximale Macht und Autorität vermitteln. Das Rollen-Frame des Hausherrn als Argument gegen eine Identifikation mit ihm ist etwas genauer anzuschauen: Die wenigsten Rezipienten des MtEv dürften selbst ein solcher Hausherr sein. Des Weiteren bleibt er durch die bloße Beschreibung seines Tuns unfokalisiert und die Distanz zu dieser Figur ist durchgehend hoch. Dieser Sachverhalt erschwert zusätzlich das Empathiepotential der Figur des Hausherrn, der ohnehin enorm flach gezeichnet wird (flat character). Freilich kann bei einer solch kurzen Narration keine der Figuren ausführlich genug geschildert werden, um als round character zu gelten. Trotzdem scheint der Hausherr von allen hier am wenigsten Profil zu haben: Er wird nicht charakterisiert, weder als gut noch als böse. Sein Handeln wird außerdem als logische Reaktion auf das Verhalten seiner Sklaven dargestellt, wodurch die eigene Figur instrumental und schemenhaft bleibt. Sie ist die evaluative Instanz, die das Handeln des Sklaven beurteilt und vergilt. Seine Perspektive vollendet die negative Bewertung des bösen Sklaven, indem sie klarstellt, „that a servant who can be trusted only when his master is present is a worthless servant“230. Darüber hinaus erscheint es äußerst einleuchtend, die Figur des Herrn christologisch oder auf Gott hin zu deuten, zumal der unmittelbare Kontext der Endzeitrede (Mt 24–25) dies ebenfalls nahelegt. Das vollmächtige Handeln des Hausherrn erinnert stark an bisherige Herr-Sklave-Parabeln (v.a. Mt 13, worauf Mt 24,45–51 mehrmals rekurriert), in denen der Herr als Metapher für Gott verwendet wird. Neben dem intratextuellen ist auch ein intertextueller Bezug nicht zu vernachlässigen, wird doch JHWH in der LXX mit κύριος wiedergegeben. In229 Vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden, 205. Man könnte den Hausherrn u.U. auch als zweite Hauptfigur verstehen, da sein Handeln den Verlauf der Erzählung erst ins Rollen bringt und diesen wiederum beschließt. Hier soll dennoch nur der Sklave als Hauptfigur und alle weiteren Figuren als untergeordnet angesehen werden: Der Sklave ist insofern Fokus der Erzählung, als es gänzlich um seine Entscheidungen, sein Handeln und sein Schicksal geht, die dem Rezipienten als Vorbild oder Warnung für die eigene Lebensführung dienen sollen. Alle weiteren Figuren stehen im Hinblick auf diese ethische Pragmatik der Parabel nicht im Vordergrund. 230 SCOTT, Parable, 212.

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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folgedessen wird der Begriff im NT rasch ein Hoheitstitel Jesu (Phil 2,11).231 Liest man die Parabel mit der vom Dieb in der Nacht (24,42–44) zusammen, ist äußerst wahrscheinlich, dass mit dem κύριος in V. 45 ebenfalls Jesus gemeint ist. Wenn im Folgenden immer wieder vom Gericht Gottes gesprochen wird, soll dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gemäß der mt Endzeitrede Jesus ist, der dieses Gericht vollzieht (25,31 f.). Diese Transfersignale machen unwahrscheinlich, dass sich der aufmerksame Rezipient mit dem Hausherrn identifizieren soll. Dies steuert der Erzähler durch den ersten Teil der Parabel überaus geschickt, indem er mittels der Frage zu Anfang die Aufmerksamkeit des Rezipienten ganz auf die Figur des Sklaven statt auf den Herrn lenkt.232 Die Frage lautet etwa nicht „Was würde ein Hausherr tun, wenn der Sklave, den er über seine Habe gesetzt hat, …?“ In diesem Fall wäre der Rezipient aufgefordert, sich in die Rolle des Hausherrn hineinzuversetzen. So formuliert es die Parabel jedoch nicht. Vergleicht man die lukanische Lesart, so fällt auf, dass an dieser Stelle Mt den Aorist verwendet, während Lk – wie in der gesamten Erzählung – ein Futur setzt (Mt: κατέστησεν; Lk: καταστήσει). Das Futur bei Lk lässt eine Identifikation mit dem Hausherrn eher zu als die mt Version: Denn indem der lk Herr den Sklaven erst einsetzen wird, kann sich der Rezipient fragen, wen er einsetzen würde, wäre er selbst der Hausherr. Dass der mt Hausherr ihn jedoch bereits eingesetzt hat, bewahrt die Außenperspektive, aus welcher der Rezipient dessen Handeln wahrnimmt. Er wird darum das Handeln des Hausherrn emotional rein external bewerten. Hier sind bis V. 51a externale Erwartungs-Emotionen und Attributions-Emotionen (Hoffnung auf, Befriedigung über und Zufriedenheit angesichts der Belohnung des treuen und der Bestrafung des bösen Sklaven durch den Hausherrn) naheliegend. Demgegenüber dürfte V. 51b dann auch negative Emotionen wecken, wie etwa externale/internale ErwartungsEmotionen (Furcht vor der Strafe Gottes angesichts des Schicksals des bösen Sklaven). Das bisher gerechtfertigt erscheinende Handeln des Hausherrn wird erst durch V. 51b in seiner ganzen Tragweite erfasst. Er ist fair und gerecht, was für den Sklaven jedoch verheerende Folgen hat. Berücksichtigt man die damalige Zeit, ist anzunehmen, dass sich Rezipienten über die brutale Strafe nicht empört haben, war doch eine harte Bestrafung von Sklaven zu jener Zeit üblich.233 Dennoch dürfte die intensive Schilderung der Strafe des Sklaven auf die Furcht vor dem Hausherrn abzielen, zumal der Vers die bisherige Struktur der Parabel durchbricht, über das sonstige Maß an Informationen hinausgeht und somit als abschließendes Transfersignal gelten kann.234 Hier 231

Vgl. GERBER, Zeit, 164. Vgl. LUZ, Evangelium III, 462. 233 S. o. Kap. 5.3.2.2. 234 Vgl. SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium, 243. 232

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wird erneut die pragmatische Perspektive der Erzählung deutlich: Das Ergehen des Sklaven soll als Warnung, als Prävention falschen Handelns dienen. Und zwar für jeden. Deshalb endet die antithetisch aufgebaute Erzählung mit dem Schicksal des bösen und nicht mit dem des treuen Sklaven. Sein Tun und Ergehen hallen als Verheißung zwar noch nach, doch am Ende steht die Mahnung.235 Die Aufmerksamkeit soll auf dem Weinen und Zähneknirschen bleiben, sodass das eigene Handeln vor dem Hintergrund des Zorns des Hausherrn genau reflektiert und überprüft wird.236 Dieser Rezenzeffekt und das stark emotionale Ansprechen des Rezipienten sichert diese ethische Pragmatik. 4.3.3 Raum Es werden in der Parabel nur wenige Räume explizit erwähnt. Damit stellt sich die Frage, inwiefern diese Dimension beachtenswerte Emotionen auslösen kann. Einige wenige Beobachtungen sind jedoch von Interesse. Implizit im Hintergrund der Erzählung, als setting des Geschehens, steht die οἰκία, das Haus des Herrn. Dieser Raum ist als Raum der Familie, der Gemeinschaft, des sozialen Miteinanders ein auf besondere Weise konnotierter. Es ist anzunehmen, dass er auch emotional besetzt ist. Durch seine ausschließlich implizite Erwähnung aber dürfte seine emotive Bedeutung erst am Schluss der Parabel hervortreten. Denn erst im letzten Vers erscheinen die beiden einzigen explizit räumlichen Begriffe der Parabel: µέρος und ἐκεῖ (V. 51). Diese plötzliche Valenz des Ortes erklärt sich durch einen Ortswechsel. Der böse Sklave darf nicht länger im Haus seines Herrn bleiben und wird an einen Ort mit den Heuchlern verwiesen (µετὰ τῶν ὑποκριτῶν). Das Verhalten im Raum entscheidet schließlich über das weitere Verbleiben darin: Während der treue und kluge Sklave aufgrund seines rechten Handelns von seinem Herrn „über alle Habe“ gesetzt wird (V. 47), muss der böse Sklave nicht nur seine Machtposition aufgeben, sondern das Haus sogar verlassen. Aufgrund seines Verhaltens, das sowohl die Beziehung zu den anderen Sklaven als auch das Vertrauensverhätlnis zu seinem Herrn zerstört hat, muss er die οἰκία, den Zugehörigkeits- und Beziehungs-Raum, verlassen. Der Raum gewinnt folglich erst dadurch an Bedeutung, dass er seine Selbstverständlichkeit verliert. In diesem Zusammenhang muss v.a. der neue Ort, der im qualitativen Gegensatz zur Sicherheit und menschlichen Nähe der οἰκία steht, genauer betrachtet werden. Räumlich sowie inhaltlich bleibt der neue Ort völlig unbestimmt. Der Rezipient erfährt weder, wo genau sich der „Teil bei den Heuchlern“ befindet, noch wie es dort genau aussieht. Dieser lediglich mit einem 235

Diese doppelte Pragmatik wird in der Forschungsliteratur stets hervorgehoben, vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 214. 236 Vgl. LUZ, Evangelium III, 462.

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ἐκεῖ beschriebene Ort verbindet sich mit negativen Emotionen durch die einzigen drei Aspekte, die über diesen Raum zu sagen sind: Erstens sein rein formaler Gegensatz zu V. 47, zweitens seine personenverknüpfte Füllung mit den „Heuchlern“ und drittens die handlungskonkretisierende Füllung des „Weinens und Zähneknirschens“, das „dort“ geschehen wird. Diese wenn auch äußerst knappe und unvollständige Beschreibung des Raums zielt darauf, im Rezipienten ablehnende Emotionen zu wecken. Ein vierter Aspekt verstärkt die Intensität dieser negativen Emotionen noch entscheidend: Die Intratextualität des Verses 51b lässt spätestens jetzt deutlich werden, worauf die Parabel zielt, nämlich auf den Gegensatz zwischen Himmelreich und Hölle. Das Weinen und Zähneknirschen hallt aus den vorherigen Erwähnungen in Mt 8; 13 und 22 in den Ohren der Rezipienten nach, wodurch sich das Bild von diesem Raum sogleich erweitert, auch ohne explizites Zutun des Erzählers. Assoziiert werden dürften die Attribute der „Finsternis“ (vgl. 8,12; 22,13) sowie des „Feuerofens“ (vgl. 13,42.50). Auf diese ausführlichere Beschreibung des Ortes kann der Autor des Mt-Ev daher bei den letzten beiden Nennungen des Weinens und Zähneknirschens verzichten (24,51 und 25,30). Hierbei ist nicht nur interessant, dass der Autor aufgrund der häufigen Verwendung des Begriffs auf die assoziative Leistung der Rezipienten vertrauen kann, sondern auch, dass er sich gerade für diesen Ausdruck als Metonymie für den Ort der Gerichteten und Verurteilten entscheidet und nicht etwa für die Finsternis oder den Feuerofen. Für diese Vermutung spricht, dass der emotional-empathische Appell der Finsternis oder des Feuerofens weniger intensiv ist, da nicht das Ergehen der Figur im Vordergrund steht. Letztlich darf angenommen werden, dass der eröffnete intratextuelle Hintergrund gleichzeitig das komplette setting der „Vollendung des Zeitalters“ (13,39 f.49; 24,3; 28,20) im Rezipienten wachruft, wenn „Ärgernisse“, „Gesetzlose“ (13,41) und „Böse“ (13,49) von den guten und gerechten Menschen geschieden werden und nur Letztere ins „Reich der Himmel“ (8,11; 13,24.47; 22,2) kommen. Durch diesen Bezug zum Eschaton, das nun den Rezipienten jeweils in seiner eigenen Person anspricht, wird ebenso die emotionale Reaktion auf diesen Raum erweitert. Er blüht jetzt nicht mehr nur dem bösen Sklaven, sondern allen Menschen, die nicht gemäß dem Auftrag Gottes handeln, und löst somit jeweils internale Erwartungs-Emotionen (Furcht), Attributions-Emotionen (Selbstunzufriedenheit, Reue und Scham über etwaige eigene Taten, die dem Menschen eine Verurteilung im Gericht Gottes einbringen könnten) und Wohlergehen-Emotionen (Trauer über solche Verfehlungen) aus. 4.3.4 Zeit Um die emotive Besetzung der Zeit zu prüfen, soll als Erstes narratologisch untersucht werden, wie die Zeit in der Parabel zu Tage tritt, wie der Autor mit

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ihr spielt und was die Erzählweise für die Zeitwahrnehmung bewirkt. Dadurch lässt sich abwägen, ob und wenn ja, welche Emotionen zum einen durch die Spannung der Zeit und zum anderen durch das Zeitverständnis geweckt werden. Schaut man auf die grammatischen Zeitformen, fällt – besonders im synoptischen Vergleich mit Lk 12,42–48 – auf, dass Mt eine – aber auch nur eine einzige – Vergangenheitsform verwendet, und zwar κατέστησεν, während bei Lk die gesamte Parabel, wie gesagt, im Futur gehalten steht (καταστήσει). Mt erzählt eine Geschichte, keinen hypothetischen künftigen Fall.237 Wie Harald Weinrich für die griechische Sprache darstellt, gehört der Aorist zu den erzählenden Tempora.238 „Das Erzählen ist offenbar ein charakteristisches Verhalten des Menschen […]. Wir können uns zur Welt verhalten, indem wir sie erzählen. Wenn wir sie erzählen, benutzen wir jene Signale der Sprache, die fürs Erzählen vorgesehen sind. Wir benutzen insbesondere die erzählenden Tempora. Ihre Funktion in der Sprache ist es, dem Hörer einer Mitteilung Nachricht davon zu geben, dass die Mitteilung ‚nur‘ eine Erzählung ist, so dass der Hörer mit einer gewissen Gelassenheit zuhören kann.“239

Für ihn passt dieses Tempus demnach außerordentlich gut zur Gattung der Parabel, denn „[d]ie Weisheit des Gleichnisses wird erzählend gewonnen“240. Dadurch dass Mt seine Parabel mit einer Form im Aorist einleitet – sieht man von der rhetorischen Frage (Τίς ἄρα ἐστὶν ὁ πιστὸς δοῦλος καὶ φρόνιµος) ab, die mehr eine metanarrative Leseanweisung als bereits Teil der Erzählung ist –, markiert er gleich zu Beginn ihren narrativen Charakter. Es lässt sich aber auch feststellen, dass dieses Vergangenheitstempus eine dritte Zeitsphäre eröffnet, welche bei Lk fehlt: die der Vergangenheit, in der sich der Sklave bewährt hat. Denn sonst hätte ihn sein Herr nicht zu seinem Verwalter ernannt. Ein Verdienst, so lässt sich sehen, hat bereits stattgefunden: Der Sklave kann gut handeln, denn er hat es bereits bewiesen. Jetzt steht er am Scheideweg, ob er es auch weiterhin tun will. Dies ist der Grund, die Parabel explizit „Vom treuen oder bösen Sklaven“ zu nennen.241 Es geht allerdings nicht um zwei Sklaven, von denen einer gut und der andere böse

237

Diese Ansicht stellt sich gegen Ulrich Luz, der der Auffassung ist, es sei „formal keine Geschichte, sondern setzt eine solche voraus“, und meint, dass der Text sogleich in die Sachhälfte übergehe und vom Jüngsten Gericht spreche (a.a.O., 459, ganz ähnlich vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 217). M.E. kann die Parabel durchaus als formale Geschichte mit alternativem Handlungsverlauf betrachtet werden. 238 Vgl. WEINRICH, Tempus, 289–291. 239 A.a.O., 36 f. 240 A.a.O., 291. 241 Diese Crux der Handlungsentscheidung kommt bei der Wahl einer beiordnenden Überschrift („Vom treuen und bösen Sklaven“) nicht ausreichend zur Geltung (so bspw. FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 412 und KONRADT, Evangelium, 381).

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ist, sondern um die konkrete Entscheidung eines jeden Einzelnen in der jeweils gegenwärtigen Situation. Die Zeit des Verdienstes ist die Vergangenheit; jetzt steht die Bewährung im Ernstfall der Gegenwart an, die dann über Belohnung oder Bestrafung in der Zukunft entscheidet. Die Vergangenheit ist somit emotional positiv besetzt. Dies ist jedoch die einzige Vergangenheitsform im Text, während die Formen des Präsens und des Futurs jeweils zwei Möglichkeiten aufzeigen: Der Sklave ist entweder glückselig, indem er den Anweisungen seines Herrn gemäß handelt, oder er sagt zu sich, dass die Abwesenheit seines Herrn für ihn eine besondere Handlungschance bietet, und fängt an, dementsprechend zu handeln. Folglich wird der Sklave entweder über alle Habe des Herrn gesetzt oder aber bestraft werden. Hier ist eine kohärente, chronologische Ordnung der Ereignisse erkennbar, die kausal aufeinander aufbauen und die Wahl der Tempora entsprechend der konditionalen Syntax wählen.242 Der Übergang in eine Hypothese trotz der erzählenden Einleitung dient nicht zuletzt der Spannung der Erzählung: „Er [d.h. der spannend erzählende Erzähler] benutzt dabei […] weitgehend die syntaktischen Signale des Besprechens, insbesondere auch die besprechenden Tempora (direkte Rede, historisches Präsens usw.). Er erzählt also, als ob er bespräche.“243 Indem er die Sprechperspektive dadurch prospektiv nach vorn richtet, rafft er die erzählte Zeit, welche einen um vieles längeren Zeitraum umfasst als die Erzählzeit. Die Parabel ergießt sich nicht in anschaulichen Beschreibungen des Geschehens, sondern konzentriert sich auf die wichtigsten Eckpunkte der Handlung, zu denen sie zielgerichtet, elliptisch erzählend springt: Auftrag – Handeln des Sklaven – Reaktion des Herrn. Dabei ist der zeitliche Standpunkt des Rezipienten derselbe wie der der Figuren. Es „konvergiert die Zeit der Erzählung mit der erzählten Zeit in ihrem chronologischen Standpunkt: Wir Lesenden befinden uns mit dem Sklaven zwischen dessen Beauftragung und dem Kommen des Herrn zur Rechenschaftsabnahme und ahnen ebenso wie dieser nicht, wann der Herr kommt.“244

Diese temporal-narratologische Beobachtung spricht stark dafür, dass als Hintergrund der Parabel die so genannte Parusieverzögerung angesehen werden kann. Allein der Kontext der Endzeitrede (Mt 24–25) legt dies nahe und die direkt zuvor genannte Parabel vom Dieb in der Nacht (24,42–44) thematisiert die unerwartete Wiederkehr (Parusie) Jesu. Die folgenden drei Parabeln vom treuen oder bösen Sklaven, von den zehn Jungfrauen und von den anvertrauten Geldern mahnen zum rechten Verhalten und Handeln in dieser nicht determinierten Zeitspanne von Jesu Tod bis zu seiner Rückkehr. Da sich diese 242 Vgl. die Regeln des speziell-prospektiven Eventualis: ἐὰν + Konj. in der Protasis und Futur in der Apodosis (vgl. VON SIEBENTHAL, Grammatik, 537). 243 WEINRICH, Tempus, 38 (Hervorhebung im Original). 244 GERBER, Zeit, 164.

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mit dem endgültigen Gericht Gottes verbindet (25,31 f.), ist die Zwischenzeit, welche die gegenwärtige Zeit der Gemeinde des Mt darstellt und sich in der Gegenwart des Sklaven in Mt 24,45 f. abbildet, eine in besonderer Weise qualifizierte: Sie gilt als die letzte Möglichkeit der Bewährung. Es ist – um es mit Christine Gerbers Worten zu sagen – „stets höchste Zeit“, gemäß dem Willen Gottes zu handeln: „Die Annahme, ‚das hat Zeit‘ […] charakterisiert Menschen, die nachlassen im Ernst der Erwartung des zum Gericht Kommenden. Diese Erfahrung scheint bereits früh verbreitet gewesen zu sein.“245 Die beiden antithetischen Parabel-Teile umfassen im Sinne der erzählten Zeit wohl denselben Umfang, hingegen ist die Erzählzeit des ersten Handlungsstranges merklich kürzer als die des zweiten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese stark geraffte Erzähltechnik die Identifikation mit dem treuen und klugen Sklaven erschwert, indem weder sein Innenleben noch sein Handeln genauer geschildert werden. Obgleich die rhetorische Frage zu Anfang darauf hinweist, dass der Erzähler eine Identifikation mit dem ersten Sklaven intendiert, liegt der Fokus der Erzählung auf dem zweiten Teil der Parabel, welche, mit Joachim Gnilka gesprochen, ein starkes „Achtergewicht“246 aufweist. Es bleibt darüber hinaus unklar, welchen Zeitraum das Geschehen tatsächlich umfasst, da die Abwesenheit des Hausherrn zeitlich nicht bestimmt wird. Die Parabel spielt demgemäß mit der Ungewissheit der Zeit. Obgleich die Abwesenheit des Hausherrn einen zunächst räumlichen Faktor markiert, ist sie stärker zeitlich konnotiert: Der Rezipient kann nur indirekt erschließen, dass der Herr abreist, explizit wird dies nicht genannt. Auch wird dadurch mehr der folgende Zeitraum denn der tatsächliche Raum besonders qualifiziert. Es ist die Zeit der Bewährung, die sich an der Beziehung zu den Mitsklaven entscheidet, nicht etwa an der Pflege des Hauses oder der Verwaltung des Besitzes des Hausherrn.247 Interessant fällt nun die unterschiedliche emotionale Bewertung der verschiedenen Zeitdimensionen aus. Während die Vergangenheit für beide Szenarien dieselbe und positiv konnotiert ist, bleiben auch die Gegenwart sowie die Zukunft des treuen Sklaven positiv besetzt: Er handelt gemäß dem Auftrag seines Herrn und wird für dieses verantwortungsbewusste Handeln belohnt. Hier könnte man von einer kaum merklichen Verschmelzung von Gegenwart und Zukunft sprechen, da sie sich qualitativ entsprechen. Für diese Verschmelzung ist das ἀµὴν λέγω ὑµῖν in V. 47 verantwortlich: Denn hier erscheint Jesus als Erzähler in seiner göttlichen Autorität.248 Hierdurch wird 245

A.a.O., 168. GNILKA, Matthäusevangelium II, 342. 247 Dass es der Parabel im Sinne dieser reinen „Fürsorgefunktion“ in erster Linie um „mitmenschliche Verantwortung“ geht, darauf weist auch Christine Gerber hin (GERBER, Zeit, 162). 248 Vgl. zu ἀµὴν λέγω ὑµῖν als religiös autoritativer Redeweise: MÜNCH, Gleichnisse, 216 f. 246

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nicht nur angezeigt, dass die Parabel auf eine Deutung hinsichtlich des Gottesreiches drängt (Transfersignal), sondern auch die Intensität der positiven Emotionen verstärkt. Indem der auktoriale Erzähler hier selbst kommentiert, gewinnt die Belohnung des Sklaven an präsentischer Gewissheit, obgleich sie noch immer in der Zukunft liegt. Zeitlich kommt dieser Prolepse enorme Bedeutung zu: Jesus als der nicht lediglich auktoriale, sondern in besonderem Maße göttlich-auktoriale Erzähler ist Herr über die Zeit. Er kann voraussagen, was in Zukunft geschehen wird, und vermittelt den Rezipienten die Zukunft als eine verfügbare, ja kontrollierbare. Dadurch können sich die Emotionen, welche an der Zukunft hängen und durch ihre Unverfügbarkeit rasch negativ auszufallen drohen, ins Positive wenden. Die Zukunft bleibt nicht mehr gänzlich unbekannt und unberechenbar. Dieses Anliegen bestätigen die zahlreichen Imperative im Mt-Ev, die Furcht und Sorge ablehnen (vgl. 1,20; 6,25.31.34; 10,19.26.27.30; 14,27; 17,17; 24,6; 28,5.10). Wie bereits erwähnt, stellt das µακάριος in V. 46 dadurch, dass es nicht futurisch gebraucht wird, ein vergegenwärtigendes Moment dar. Der Sklave scheint schon jetzt, da sein Herr noch abwesend ist, glückselig zu sein. Diese gegenwärtige emotionale Gelassenheit hängt damit zusammen, dass für ihn der Zeitpunkt der Rückkehr seines Herrn irrelevant ist. Auf diese Weise wird die Gegenwart durch Vorfreude positiv qualifiziert. Interessant ist dabei auch die räumlich-syntaktische Nähe des Begriffes zum einzigen temporalen Begriff im ersten Teil: Der nur bei Mt vorkommende καιρός hier am Ende von V. 45249 deutet auf eine gewissermaßen „temporale Kompetenz“ des Sklaven hin, der weiß, wann seine Mitsklaven der Speise bedürfen, und sie ihnen bereitstellt. Die Parabel formuliert dazu keine quantitative oder qualitative Bewertung im Sinne von: „um ihnen das rechte Maß an Speise zu geben“, oder „um ihnen gute Speise zu geben“. Es könnte an dieser Stelle der Einwand aufkommen, dass hier offensichtlich die Intertexte Ps 104 und 145 im Hintergrund stehen; doch sei darauf hingewiesen, dass auch Ps 104,28 die gute Speise nennt. Diese Perspektive auf die Arbeit des Sklaven bleibt hier aber außen vor zugunsten des rein zeitlichen Moments. Das sofort darauffolgende µακάριος charakterisiert seine Fähigkeit und sein Handeln als besonders gut und verbindet die Zeit zusätzlich mit positiven Emotionen, d.h. dass er die Zeit recht einschätzen kann und ein gutes Zeitgefühl hat. Genau das scheint den Sklaven als φρόνιµος auszuzeichnen.250 Wie bereits erläutert, fällt die Zeit als solche nur dort auf, wo sie in ihrer Spannung zu Tage tritt: Sie kommt ins Gespür, wenn sie ungleichzeitig zur Umwelt erfahren wird, d.h. zu schnell oder zu langsam zu vergehen scheint. Im Falle des klugen Sklaven ist solch ein Zeitkonflikt nicht erkennbar. Die Zeit als solche ist kaum spürbar, was noch verdeutlicht, dass alle Zeitebenen der Vergangenheit, 249 250

Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 342. Vgl. auch JEREMIAS, Gleichnisse, 43.

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Gegenwart und Zukunft qualitativ gleich zu bewerten sind. Man könnte hier von einem „integrativen“ Zeiterleben sprechen. Der Sklave trennt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht radikal voneinander, sondern handelt gemäß seiner Vergangenheit, seiner bisherigen Bewährung. Er bleibt konsequent in seinem Verhalten und Handeln. Man könnte sagen, er bleibt nicht nur seinem Herrn, sondern auch sich selbst „treu“. Dieser konstante Charakter setzt die Zeit gleichsam außer Kraft, für diesen Menschen spielt Zeit keine Rolle. Er ist der treue, kluge und glückliche Sklave, dessen Glück nicht nur Verheißung, sondern bereits Gegenwart ist. Sein Zeitverständnis steht in deutlichem Kontrast zum bösen Sklaven, um den es nun gehen soll. Was den bösen Sklaven als „böse“ auszeichnet, ist in erster Linie freilich, wie dargelegt, sein Handeln – er schlägt, er isst und trinkt im Übermaß –, doch bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Handeln als Konsequenz aus einer temporalen Fehleinschätzung: Der Sklave macht in diesem Szenario einen sichtlichen Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft und nutzt seine Macht aus, indem er nur seinen eigenen aktuellen Vergnügungen nachgeht, weil er denkt, er habe noch viel Zeit bis zur Rückkehr seines Herrn. Schon anhand der hier verwendeten Erzähltechnik zeigt sich diese Zeitlichkeit: Durch die direkte Wiedergabe seiner Gedanken in Form des kurzen inneren Monologs baut der Erzähler nicht nur Distanz zu der Figur ab und stellt sie direkt vor Augen, sondern er vergegenwärtigt zugleich das Geschehen.251 Hiermit veranschaulicht er geschickt, wie bei der Begründung seines Verhaltens der Faktor Zeit die ausschlaggebende Rolle spielt. Der Sklave argumentiert hier rein gegenwartsbezogen. Sein Herr verspätet sich, d.h. seine Ankunft bleibt im Moment noch aus. Für den aufmerksamen Hörer/Leser wird es an dieser Stelle schwierig zu folgen; denn dass der Herr momentan noch ausbleibt, heißt nicht, dass er überhaupt nicht zurückkehren und den Sklaven für sein Verhalten gar nicht zur Rechenschaft ziehen wird. Diese Inkohärenz löst August Strobel, indem er das χρονίζειν als ein völliges Ausbleiben versteht.252 Aufgrund der sonstigen Verwendung des Begriffs in der LXX sowie der Betonung des unerwarteten Zeitpunktes der Rückkehr des Herrn – nicht seiner Rückkehr als solcher – ist dieses besondere Verständnis von χρονίζειν hier allerdings nicht von allzu starker Plausibilität.253 Stattdessen ist es überaus wahrscheinlich, dass die Parabel gerade durch diese unlogische Argumentation des Sklaven sein Empathiepotential zusätzlich niedrig halten will, indem in seiner Begründung „das Versuchliche der Lage illustriert“ wird.254 Besonders wichtig an der Begründung des Sklaven für sein Verhalten ist aber, dass sie eine zeitliche ist: Der Sklave denkt nicht an 251

Vgl. FEHLBERG, Gefühle, 262 f. Vgl. STROBEL, Untersuchungen, 217 f. 253 Vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 190 f. 254 JEREMIAS, Gleichnisse, 54. 252

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die Zukunft, sondern ist ganz in der momentanen Situation verhaftet. Seine zeitliche Einschätzung ist, im Gegensatz zum ersten Szenario, handlungsrelevant. Denn er irrt sich, wie dem Rezipienten hier bereits aufgrund der zeitlich einseitigen Argumentation klar sein dürfte. Laut Alfons Weiser drückt die Formulierung εἴπῃ […] ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ „eine Selbsttäuschung aus und manchmal eine solche, der Gottes Strafgericht folgt“255. Ob dies hier tatsächlich angezeigt ist, ist m.E. nicht eindeutig. Das Herz ist in erster Linie der Sitz der noetischen und voluntativen Funktionen des Menschen.256 Ob er in diesem Moment richtig erkennt oder es sich nur wünscht, dass sein Herr noch lange Zeit auf sich warten lässt, ist zunächst offen. Doch für den aufmerksamen Rezipienten, der von V. 46 f. her mit der Rückkehr des Herrn rechnet, stellt sich bereits hier „die Frage, ob der Sklave seine Zeit richtig einschätzt“257. Spätestens seine Taten, das Schlagen, das Essen und Trinken, das ausschweifende Leben im Augenblick zeigen an, dass er dazu spätestens an dieser Stelle unfähig wird. Darauf weist nicht zuletzt die Trunkenheit hin, die einen aufmerksamen Blick in die Zukunft verhindert. Er verkennt die Zeit. Da er sich so verhält, als stünde die Zeit still, ist der Zeitkonflikt vorprogrammiert, der mit V. 50 im wahrsten Sinne des Wortes „ins Haus fällt“: ἥξει ὁ κύριος. Der futurisch gebrauchte, dynamische Ausdruck des „Kommens“ löst diesen Konflikt schlagartig aus. Auch wenn der Sklave versucht, die Gegenwart festzuhalten, wird die Zukunft dennoch geschehen. So entsteht eine emotionale Achterbahn, und die indirekt vermittelten Figurenemotionen, die oben bereits herausgearbeitet wurden, finden nun eine zeitliche Begründung: Aus der falschen Einschätzung des Zeitraums der Abwesenheit seines Herrn resultiert sein gelassener und gleichzeitig leichtsinniger Machtmissbrauch. Aus der trügerischen Überzeugung, alles unter Kontrolle zu haben und seine Macht einsetzen zu können, wie es ihm beliebt, resultiert zunächst Zufriedenheit. Diese Gelassenheit schwingt bei der unerwarteten Rückkehr seines Herrn jedoch schlagartig um; die Zeit ist plötzlich nicht mehr lang, sondern gedrängt: Er hat keine Zeit mehr. Mit diesem „zu spät“ verbinden sich Panik, Verzweiflung und Furcht – Emotionen, welche die Ohnmacht, in der er sich jetzt befindet, widerspiegeln. Im Gegensatz zum guten Sklaven erweist sich nun gnadenlos, dass der böse Sklave ein „Mensch des Augenblicks“ ist, der unbeständig und egoistisch der Gegenwart hingegeben handelt und dadurch den rechten Zeitpunkt zum Handeln verpasst – er lebt im buchstäblichen Sinne πρόσ-καιρός (vgl. 13,21). Er verkennt das wechselseitige Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und somit die Integrität der Zeitdimensionen. Diese Fehleinschät255 WEISER, Knechtsgleichnisse, 188. Dafür führt er Stellen wie Dtn 8,17; 9,4; Ps 14,1; Jes 47,8; Offb 18,7 an. 256 Vgl. WOLFF/JANOWSKI, Anthropologie, 96. 257 GERBER, Zeit, 163.

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zung führt dazu, dass ihm die Zeit zuletzt fehlt, sein Handeln zu korrigieren oder wiedergutzumachen. Durch seine nur partielle Zeitwahrnehmung handelt er in der Gegenwart falsch. Er denkt nur an seine momentane machtvolle Position und nicht an die Zukunft, in der ihn sein Herrn zur Rechenschaft ziehen wird. Betrachtete er seine Gegenwart im Lichte der Zukunft, würde ihm die Bedeutung seines jetzigen Tuns bewusst. „The servant fails in the parable by failing to realize that the kingdom is now.“258 Aus emotiv-pragmatischer Perspektive kann nun gefragt werden, ob die an der Zeit hängenden Emotionen für den paränetisch-ethischen Effekt der Parabel von Bedeutung sind. Auch hier wird deutlich, dass dieser im Grunde ein zeitlich bedingter ist. Wie Matthias Konradt in seinem Kommentar schreibt, warnt die Parabel davor, heuchlerisch zu sein, indem Bekenntnis und Verhalten auseinandertreten.259 Diese ethische Forderung ist für Mt ein durchgehendes Anliegen (vgl. 6,2.5.16; 7,15–20; 21,28–32; 23,3.13–15). Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass Menschen heuchlerisch handeln? Die Parabel gibt darauf eine Antwort, und zwar eine zeitliche:260 Wer nicht an die Zukunft denkt, stattdessen ganz im Augenblick seines irdischen Geltungsbereiches aufgeht und annimmt, sein jetziges Handeln habe keinen Einfluss auf die Zukunft, der ist versucht, entweder aus den falschen Gründen gut zu handeln (wie die Pharisäer und Schriftgelehrten für ihr Ansehen unter den Menschen Frömmigkeit heucheln) oder aber seine Macht zu missbrauchen (wie der Sklave im Gleichnis). Indem die Parabel nun die Zukunft anschaulich vor Augen stellt und emotional vergegenwärtigt, will sie vor solchem Verhalten warnen. Es handelt sich also um eine temporale Begründung ethischen Tuns in der Gegenwart: Es soll jetzt richtig gehandelt werden, weil in der Zukunft einmal alles vergolten wird. Weder ein Verschieben des guten Handelns auf später noch eine Korrektur des jetzigen Tuns sind möglich. Vielmehr gilt: An der aktuellen Gegenwart entscheidet sich die Zukunft.261 Nur wer diese beiden aufeinander bezieht, kann jetzt richtig handeln: „The negation of the angst will occur in the affirmation of the presence, while the affirmation and 258

SCOTT, Parable, 212. Vgl. KONRADT, Evangelium, 382. 260 Auch Christine Gerber sieht diese besondere Valenz der Zeitdimension in der Parabel, indem sie sie an den temporalen Wortfeldern festmacht: „Und besonders wichtig ist die ‚rechte Zeit‘ (vgl. die Sinnlinie ‚zur rechten Zeit‘ V. 42, ‚sich Zeit lassen‘ V. 45, ‚Tag erwarten‘, ‚Stunde kennen‘ V. 46)“, hier in Bezug auf Lk 12,42–46 (GERBER, Zeit, 163). 261 Durch die emotionale Teilnahme an der Erzählung gewinnt der Hörer/Leser emotionalen Einblick in den Sachverhalt, den Mt im folgenden Kapitel mit den einfachen Worten beschreibt: „Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen; und vor ihm werden versammelt werden alle Nationen, und er wird sie voneinander scheiden“ (25,31 f.). Dieser Satz ist nun aber durch die vielen Parabeln zuvor emotional valenter, als er es noch in der Bergpredigt zu Beginn des Evangeliums war (7,1 f.12). 259

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realisation of the angst will occur with the negation of the presence.“262 An dieser Parabel wird deutlich ersichtlich, dass das Eschaton bei Mt keinen dogmatischen Selbstzweck erfüllt – wie man von 24,1–31 her noch annehmen könnte –, sondern vielmehr aufgrund seiner emotiven Wirksamkeit zur Paränese genutzt wird und ethisches Handeln in der Gegenwart plausibilisieren will. Um die Zukunft für die Gegenwart relevant zu machen, muss sie in ihrer Bedeutung vergegenwärtigt werden. Dies vollzielt die Parabel narrativ, indem sie die Zukunft vorwegnimmt und sie emotional stärker auflädt als die Gegenwart. Dies zeigt sich an den expliziten zeitlichen Termini der Parabel (V. 45: καιρός; V. 48: χρονίζειν; V. 49: ἄρξηται; V. 50: ἡµέρα und ὥρα). Es fällt auf, dass es sich dabei bis auf eine Ausnahme um Zeitpunkte handelt. Nur das χρονίζειν zeigt einen unbestimmten Zeitraum an. Alle anderen Begriffe deuten auf einen bestimmten Handlungsimpuls hin, der sich an der Zeit festmachen lässt: Der „rechte Zeitpunkt“ zum Geben der Speise, der Zeitpunkt des „Anfangens“, der „Tag“ und schließlich noch zugespitzter die „Stunde“ der einmaligen und punktuellen Rückkehr des Herrn.263 Die Begriffe der Gegenwart (καιρός, χρονίζειν264, ἄρξηται) sind hierbei emotional entweder positiv konnotiert (καιρός) oder neutral (χρονίζειν, ἄρξηται). Der Umschlag zwischen Gegenwart und Zukunft vollzieht sich an einem unbekannten „Tag“ zu einer unbestimmten „Stunde“ (V. 50). Erst diese Zeitbegriffe der Zukunft sind besonders stark emotionalisierend. Zum einen durch den Überraschungseffekt des Geschehens: Für den Sklaven, der die Zeit als gedehnt und entspannt wahrgenommen hat, wird sie plötzlich zusammengedrängt, und sein Schicksal entscheidet sich in einem kleinen Zeitraum, den er nicht mehr kontrollieren kann.265 Zum anderen durch den intra- und intertextuellen Bezug zu unzähligen Texten, die mit dem „Tag“ oder der „Stunde des Herrn“ das Gericht Gottes wiedergeben (vgl. bei Mt: 7,22; 10,15; 11,22; 11,24; 12,36; 24,36; 24,42.44; 25,13; vgl. auch die folgenden Intertexte: Jes 13,9; 58,5; 61,2; Ez 30,3; Am 5,18–20; Mk 13,32; 262

HARTIN, Angst, 384. M.E. nutzt der Erzähler diese zeitlichen Termini in wohlgewählter Reihenfolge und Variabilität, um das exakte Zeitmoment hervorzuheben, und formuliert nicht „umständlich“, wie es Ulrich Luz nennt (LUZ, Evangelium III, 459). 264 Im Falle einer negativen Bewertung der sich dehnenden Zeit bis zur Parusie Christi könnte der Begriff auch negative Emotionen wecken. Doch ist eine allzu gespannte Naherwartung im Mt-Ev nicht erkennbar, und das Motiv des Ausbleibens Jesu kommt nur in den Endzeitparabeln vor, weswegen es schwerlich als ein zentrales Problem der mt Gemeinde angenommen werden kann (vgl. SCHMIDT, Ende, 236–240). 265 Ähnlich stellt Alfons Weiser fest: „Der Parallelismus mit den beiden Begriffen ‚Tag‘ und ‚Stunde‘ ist ein hervorragendes Gestaltungsmittel innerhalb der Bildhälfte, Überraschung und Plötzlichkeit der Ankunft des Herrn eindringlich darzustellen.“ (WEISER, Knechtsgleichnisse, 197). 263

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Lk 12,39 f.; 17,22–31; Apg 2,20; 1 Kor 1,8; 5,5; 1 Thess 5,2.4; 2 Thess 1,10; 2 Petr 3,10; Offb 3,3.10; 11,13; 14,7.15). Damit wird der eschatologische Horizont der Parabel noch einmal deutlich. Hinter dem Zeitverständnis der Parabel steht das übergeordnete Zeitverständnis der Trennung zwischen irdischer (in der Parabel: Zeit der Abwesenheit des Herrn) und göttlicher Zeit (in der Parabel: Zeit ab der Rückkehr des Herrn). Indem der Rezipient die Rückkehr des Hausherrn mit der Rückkehr Jesu Christi am Tag des Gerichts gleichsetzt, verstärken sich die damit verbundenen Emotionen immens. Hierin liegt ein weiterer Grund für die oben erläuterte Übernahme der Innensicht des bösen Sklaven durch den Rezipienten: Denn da diese ἡµέρα und diese ὥρα allen Menschen bevorsteht, dürfte dieser Zeitpunkt selbst von den frommsten Rezipienten mit zumindest gemischten Gefühlen erwartet werden (internale Erwartungs-Emotionen wie Furcht, ggf. Hoffnung). Diese Furcht vor dem „Tag des Herrn“ eröffnet die oben herausgearbeitete empathisch-affirmative Perspektive auf den bösen Sklaven. Erst hierdurch wird die Parabel pragmatisch wirksam, indem der Rezipient das „oder sonst“ der ethischen Forderung zumindest in einem gewissen Maße zu spüren bekommt. Interessant ist die ausführliche Beschreibung dieses punktuellen Geschehens: Der zweigeteilte, parallele Halbsatz ἐν ἡµέρᾳ ᾗ οὐ προσδοκᾷ καὶ ἐν ὥρᾳ ᾗ οὐ γινώσκει ist auffallend lang für die sonst so knappe Erzählweise der Parabel. Der Augenblick der unerwarteten Rückkehr des Herrn wird auf diese Weise unverhältnismäßig gedehnt und weist darauf hin, dass dies der alles entscheidende Moment ist, auf welchen die Erzählung von Anfang an unausweichlich zusteuert. Dem aufmerksamen Rezipienten ist dies erstens aufgrund der Rückkehr des Herrn im ersten Teil der Parabel und zweitens aufgrund des näheren Kontextes des Evangeliums, v.a. der vorausgehenden Parabel vom Dieb in der Nacht (24,42–44), klar. Die Parabel ruft somit gekonnt die direkt zuvor genannten Imperative γρηγορεῖτε οὖν (24,42) sowie διὰ τοῦτο καὶ ὑµεῖς γίνεσθε ἕτοιµοι, ὅτι ᾗ οὐ δοκεῖτε ὥρᾳ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἔρχεται (24,44) in Erinnerung, sodass eine erneute Aufforderung an dieser Stelle ausbleiben kann. V. 50 reaktiviert den ethischen Imperativ zur Wachsamkeit gerade durch das gegenteilige Verhalten des bösen Sklaven. Die wachsame Einstellung ist, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, für zwei Emotionen charakteristisch: für Freude und für Furcht. Wer sich freut und im Augenblick glücklich ist, geht ganz in diesem auf, kostet ihn aus und wird sich der Dinge um ihn herum gewahr. Wer sich vor etwas oder jemandem fürchtet, wird ebenso wachsam und schärft seinen Blick für mögliche Gefahren. In der Parabel erscheinen beide Sklaven zunächst glücklich – doch nur einer von ihnen ist wahrhaft wachsam. Der kluge Sklave scheint gerade deshalb klug zu sein, weil er seinem Auftrag gemäß handelt und sich des Lohnes durch seinen Herrn gewiss sein kann, da er die Dienerschaft vorbildmäßig über-wacht. Der böse Sklave allerdings gibt sich seinem hedonistischegoistischen Streben hin und verliert somit den Blick für Andere und seine

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Umgebung, d.h. jegliche Wachsamkeit für sein Handeln in Bezug darauf: „Instead of caring for the needs of those entrusted to his care by the master, the servant is careful of his own needs. He fulfils his cares and concerns for himself alone.“266 Er lässt sich vom ungewiss langen Zeitraum der Abwesenheit seines Herrn insofern korrumpieren, als er vernachlässigt, die Zeit richtig zu nutzen. Seine Freude ist keine wahre Freude im Sinne der mt χαρά, die sich über Begegnungen und Beziehungen freut, d.h. einen wachen Blick auf ihr Umfeld hat. Seine Wachsamkeit gilt nur seinen eigenen Interessen, nicht seinem Umfeld und ist demnach keine vollkommene Wachsamkeit. Sein ausschweifender Lebensstil versperrt ihm vollends einen angemessenen Blick in die Zukunft. Ihm fehlt die Wachsamkeit sowohl auf gegenwärtige als auch auf künftige Dinge. Somit ist sein momentanes „Glück“ auch deshalb trügerisch, weil es nicht bestehen kann. Vor einer solch hedonistischen „Wachsamkeit“ warnt die Parabel. Es geht ihrem Verfasser um die wahre Wachsamkeit in Bezug auf den eigenen Lebenswandel in der Welt gemäß dem Willen Gottes, d.h. in Bezug auf Gott sowie die Mitmenschen. Nur eine solch wachsame Lebensführung resultiert in konstanter Glückseligkeit. Dem bösen Sklaven fehlt sowohl diese Perspektive auf sein Umfeld als auch respektvolle Furcht vor seinem Herrn. Dieser Sklave versagt demnach emotional in zweierlei Hinsicht, was wiederum sein Handeln negativ beeinflusst: Ihn erfüllt weder wahre Freude über seine Aufgabe, welche ihn für diese wachsam machen würde, noch das nötige Maß an Furcht, welche ebenfalls wachsames Verhalten motivieren könnte. Somit verdeutlichen die zeitlichen Termini in der Parabel, dass es ihr ganz um den jeweils gegenwärtigen Augenblick einer Entscheidung geht. Ob sich ein Mensch „treu und klug“ oder „böse“ verhält, zeigt sich an seinen Entscheidungen. Doch diese gegenwärtige Entscheidung kann er nur richtig treffen, wenn er die Zukunft bereits antizipierend berücksichtigt. Die sich mit der Zukunft verbindenden Emotionen (im ersten Teil: Vorfreude; im zweiten Teil: Furcht und Verzweiflung) werden durch diese Vergegenwärtigung bereits jetzt erfahren und motivieren eine wachsame Reflexion der eigenen Lebensweise sowie ggf. eine entsprechende Verhaltensänderung in der Gegenwart. Für die ethische Pragmatik der Parabel spielen die Emotionen folglich eine beträchtlich verstärkende Rolle. 4.4 Ergebnisse Nach all diesen Betrachtungen ist deutlich: Die narrative Ethik der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven wird maßgeblich durch Emotionen vermittelt, die sich v.a. mit den Figuren und der Zeitdimension verbinden. Das Verhältnis zwischen diesen drei Parametern soll hier kurz zusammengefasst werden. 266

HARTIN, Angst, 380 (Hervorhebungen im Original).

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Es lässt sich eine starke emotive Leserlenkung im Text erkennen: Die Hauptfigur der Parabel, die ihr Herr über die anderen Sklaven einsetzt, wird den sich ihr eröffnenden beiden Handlungsmöglichkeiten gemäß einmal als gehorsam und einmal als ungehorsam geschildert: Durch explizit-auktoriale Charakterisierung („treu“ und „klug“/„böse“) sowie figurale, d.h. implizite Darstellung (Handeln gemäß/entgegen seinem Auftrag) zeichnet sich der gute Sklave durch seinen verantwortungsvollen Bezug zu seinem Herrn aus, der böse Sklave dagegen durch seinen rücksichtslosen Selbstbezug, seine missachtende Haltung seinem Herrn gegenüber und seine verantwortungslose Einstellung gegenüber seinen Mitsklaven. Hierdurch weckt die Erzählung positive und negative soziale Emotionen: Die Beschreibung des Verhaltens des Sklaven zielt im ersten Teil auf Zufriedenheit und Wohlwollen aufseiten des Rezipienten, im zweiten Teil auf Entrüstung und Abneigung. Dementsprechend soll die Belohnung des guten Sklaven mit befriedigender Freude rezipiert werden, die Bestrafung des dann bösen hingegen mit befriedigender Genugtuung. Das Empathiepotential des guten Sklaven ist demnach sehr hoch und aufgrund der mehr rhetorischen Frage zu Beginn der Parabel ist das Abzielen auf eine Identifikation mit diesem anzunehmen. Es fällt aber auf, dass der gute Sklave um einiges knapper dargestellt ist als der böse (zwei gegenüber vier Versen). Diese kurze Erzählzeit sowie die skizzenhafte Darstellung des guten Sklaven, der nur von außen geschildert wird, erschweren die Übernahme einer Innenperspektive dieser Figur immens. Ob es daher zu einer Identifikation des Rezipienten mit diesem guten Sklaven kommt, bleibt äußerst fraglich. Für die Behandlung des bösen Sklaven hingegen wendet Mt nicht nur mehr Erzählzeit auf, sondern er fokussiert diese Figur zusätzlich durch einen inneren Monolog (V. 48) und ausführliche Schilderung ihres Tuns (V. 49). Mittels dieses Distanzabbaus wird der Rezipient in Richtung eines moralischen Urteils und starker Antipathie gegenüber dem bösen Sklaven gelenkt. Bis zu dieser Stelle fällt die Schilderung des Sklaven in seinen beiden Handlungsoptionen knapp, aber durchaus kohärent, realistisch, zwar in antithetischem Gegensatz, aber in auffallender formaler Parallelität aus: Er handelt gut oder schlecht und wird bei der Rückkehr seines Herrn entsprechend belohnt oder bestraft. Die jeweilige emotionale Reaktion der Rezipienten auf die Figur ist dementsprechend external-positiv (Mitfreude, Zufriedenheit) oder negativ (Ärger, Verachtung, Genugtuung). Die implizite ethische Forderung der Parabel nach einer konstant wachsamen Lebensführung gemäß dem Willen Gottes steht hier bereits deutlich im Raum und ist temporal begründet: Die Pragmatik der Parabel zielt auf ein „integratives Zeitverständnis“, welches die Zukunft so in die Gegenwart hineinnimmt, dass ein dauerhaft und beständig richtiges Handeln daraus resultiert. Dies zeigt sich am treuen und klugen Sklaven, für den die Zeit

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überhaupt keine Rolle spielt. Er erntet für sein Handeln sozusagen konstantes Glück, er ist µακάριος (V. 46). Dass er noch belohnt werden wird, ist abzusehen. Sein Schicksal ist ebenso determiniert wie das des bösen Sklaven, nur kann er sich über seinen Lohn bereits jetzt freuen. Die Zeit ist für den gut Handelnden irrelevant, er tritt sogleich in die göttliche Zeitdimension ein, in welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander fließen und ein dauerhaftes Glück im Tun des göttlichen Willens herrscht: Ihm steht sein „ewiger Lohn“ bereits vor Augen.267 Dagegen ist die Zeitauffassung des bösen Sklaven gänzlich verhängnisvoll. Deswegen wird ihm vor Augen geführt, dass seine Zeit nicht endlos ist. Der Rezipient findet sich durch den näheren Kontext sowie den ersten Teil der Parabel bereits in die Erwartungshaltung versetzt, dass der Hausherr wiederkommen wird. Beim Transfer auf die existentielle Ebene wird dementsprechend klar, dass Christus genauso gewiss zurückkehren wird. Die Zeit ist auch hier stark determiniert. Ihr Gang lässt sich nicht aufhalten und der Sklave kann sein Handeln nicht mehr rückgängig machen oder sühnen. Er hat im Moment seiner Entscheidung die Tragweite derselben nicht erkannt und somit den καιρός zum rechten Handeln verpasst (vgl. V. 45). Der Zusammenhang von Zeit und Ethik liegt insofern auf der Hand, als die sich dehnende Zeit bis zur Parusie Christi das Handeln der Menschen beeinflusst. Mt kämpft enorm mit dieser Ungewissheit der Zeit. Sie ist eine nach vorn hin offene Dimension, und obwohl die Apokalyptik grundsätzlich versucht, die Zukunft einigermaßen zu bestimmen und vorauszusagen (vgl. 24,1–28), bleibt doch der Zeitraum bis zum Zeitpunkt des Gerichts Gottes ungewiss (vgl. 24,36). Die ungewisse Abwesenheitsspanne des Hausherrn symbolisiert diese Ungewissheit. Doch sie wird in dieser Parabel zweifach aufgelöst: Der Christusgläubige muss nicht in eine ungewisse, sich endlos dehnende Zeit hinein leben und handeln, denn die irdische Zeit ist determiniert. Sie läuft unausweichlich auf das göttliche Gericht zu, dem kein Mensch entgehen kann. Dieser Lauf der Dinge steht fest. Somit ist die dazwischenliegende Zeit von besonderer Qualität und erscheint gedrängt, ja geradezu knapp, auch wenn nicht deutlich wird, wie lange diese Zeitspanne effektiv andauert. Der böse Sklave hat letztendlich keine Zeit mehr, sein Verhalten zu ändern, sein Tun zu bessern; er hat die Brisanz seiner Zeit verkannt, hat sie nicht zielgerichtet genutzt. Damit diese Determiniertheit der Zeit jedoch nicht zum Verhängnis wird, ist sie stets im Horizont der göttlichen Zeit zu sehen. Denn zuletzt wird die irdische Zeit beendet und ersetzt durch das Handeln Gottes. Gottes Gerechtigkeit rückt am Ende der Zeit alles ins Lot, belohnt die, die Gutes getan haben, und führt die Bösen ihrer gerechten Strafe zu. Die göttliche Zeit ist somit gleichzeitig gerechte Zeit, sie gewinnt an Qualität und 267

WEISER, Knechtsgleichnisse, 203.

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verliert ihre veränderlich-unbeständige Charakteristik. Der gut handelnde Mensch ist dabei dem zeitlichen Ablauf enthoben. Handelt er nämlich gemäß dem Willen Gottes, hat er schon jetzt Gemeinschaft mit ihm und kann sich an der göttlichen Glückseligkeit schon jetzt freuen. Entscheidend ist demnach die Einsicht, dass sich das gegenwärtige Tun unmittelbar auf das künftige Ergehen im Gericht Gottes auswirkt, und dieser temporal-kausale Zusammenhang begründet die ethische Botschaft der Parabel: „Anyone who thinks that they can act without responsibility, because there will be no consequences to their actions, is mistaken.“268 Dass ein Mensch dieser Forderung tatsächlich nachkommt, vermögen die Rezeptionsemotionen zu gewährleisten, welche sich am Schluss der Parabel drastisch ändern. Denn durch V. 51b bleibt es nicht bei Genugtuung als Reaktion auf die unerwartete Rückkehr des Herrn. Hier ist die Zeitdimension der ausschlaggebende Faktor für einen emotionalen Perspektivwechsel: Die ἡμέρα und die ὥρα in V. 50 rufen als starke Transfersignale im Rezipienten Emotionen hervor, die mit dem „Tag“ und der „Stunde“ des Gerichts Gottes verbunden sind. Die unverhältnismäßig harte Bestrafung des Herrn (V. 51) ist ein weiteres Signal dafür, die Erzählung in ihrer metaphorischen, auf das Gericht Gottes zielenden Bedeutung zu erfassen. Sie geht durch das „Entzweischneiden“ über das als gerecht erachtete Maß einer Strafe, die noch Genugtuung oder gar Schadenfreude hervorruft, hinaus.269 Freilich ist ein Entzweischneiden, auf das ein Weinen und Zähneknirschen erst noch folgt, kein kohärent geschilderter Vorgang, wodurch die Transferleistung des Rezipienten mehr denn je gefragt ist.270 Es geht um das Ergehen der Bösen im Gericht Gottes. Die Erwartung des Jüngsten Gerichts dürfte im Rezipienten im besten Fall Hoffnung, aber sicher auch ein gewisses Maß an Furcht auslösen. Diese Furcht erhöht das Empathiepotential der Figur und ermöglicht sogar eine sympathetische Innenperspektive auf den bösen Sklaven. Obgleich der Rezipient nicht hinsichtlich einer sympathetisch-identifizierenden Rezeption des Sklaven gelenkt wird, löst sein Schicksal unweigerlich Mitleid aus, und die Erzählweise eröffnet durch die Innenperspektive der Figur eine wenigstens punktuelle Perspektivübernahme, die in deren verzweifelten „Weinen und Zähneknirschen“ ihren Höhe- und Zielpunkt erreicht. Die Übertragung der Erzählung auf ihre existentielle Relevanz ermöglicht ein Hineinversetzen und Mitfühlen, wodurch das Handeln und das Schicksal des bösen Sklaven als paränetische Warnung erschlossen werden. Diese ethische Forderung, das eigene Handeln stets auf seine Auswirkungen am Jüngsten Tag hin zu prüfen (Wachsamkeit), wird durch die emotionale Anteilnahme an der Erzählung wirksam. 268

WENGST, Aspects, 241. Vgl. MEES, Struktur, 99. 270 Vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 179. 269

4. Das konstante Glück: Mt 24,45–51

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Einerseits ist also der Rezenzeffekt der Parabel nicht zu unterschätzen: Indem ihr Ende dem Rezipienten die Verdammnis im Gericht Gottes furchterregend vor Augen stellt, sichert dies die ethische Pragmatik des Textes langfristig, da eine starke emotionale Reaktion auf eine Erzählung ihr Erinnerungspotential steigert.271 Andererseits muss hier abschließend festgehalten werden, dass die Botschaft keine ausschließlich negative ist: Zwar kann die Argumentation „Du wirst für dein Handeln zur Rechenschaft gezogen werden“ das jetzige Handeln egoistisch veranlagter Menschen, die nur im Augenblick leben, emotional im Sinne eines „Fürchte deine Strafe“ vielleicht verändern. Der rational-logische Aspekt „Handle im Hier und Jetzt gut, denn all dein Tun wird im Gericht Gottes vergolten“ scheint für den bösen Sklaven jedoch nicht auszureichen, um moralisch angemessenes Handeln aufrechtzuerhalten. Mt hat offenbar beobachtet, dass rein logische Begründungen angesichts der sich dehnenden und ungewissen Zeit nicht ausreichen, um ethisches Handeln auf Dauer aufrechtzuerhalten (vgl. 24,37–42). Insbesondere für Menschen, die nur nach ihrem eigenen, gegenwärtigen Wohl trachten, vermögen nur starke Furcht und Angst eben dieses herbeizuführen.272 Emotionen nehmen bei Mt demgemäß eine zentrale Rolle in der Verstärkung der ethischen Botschaft ein: Indem die zukünftigen Emotionen gedanklich antizipiert, d.h. schon in der Gegenwart ahnungsweise empfunden werden, soll zu jetzt gefordertem Handeln motiviert werden. Doch ist es Mt auch wichtig, dass Gott letztendlich aus Furcht und Angst befreien möchte. Der treue und kluge Gläubige muss sich nicht sorgen, sondern darf schon jetzt glücklich sein (vgl. 7,33 f.). Fazit: Die Zeitdimension ist ein ausschlaggebender Emotionsauslöser der Parabel. Die Furcht, die durch die „Stunde“ und den „Tag“ der Rückkehr des Hausherrn bzw. des Gerichts Gottes im Rezipienten ausgelöst wird, beeinflusst die emotive Figurenrezeption. Das Empathiepotential des bösen Sklaven erhöht sich, da der Rezipient seine Furcht in gewissem Maße nachempfinden kann. V. 51b leistet den letzten Beitrag für eine Übernahme der Innensicht dieser Figur. Durch das punktuelle Nachfühlen der Verzweiflung des bösen Sklaven wird die narrative Ethik der Parabel wirksam: Die Emotionen motivieren die Wachsamkeit für das eigene Handeln und hinterfragen es auf seine angemessene Ausrichtung auf die Zukunft. Die Zeitdimension ist somit nicht nur ein gewichtiger Auslöser für die emotionale Figurenrezeption, sondern sie begründet auch die ethische Pragmatik der Parabel. Das richtige Handeln ist aufgrund des kommenden Gerichts Gottes nötig. Diese Zukunft muss stets antizipiert und in den Prozess der gegenwärtigen Handlungsent271

S.o. Kap. 2.2.2. Diese ethische Plausibilisierung sei hier nur festgestellt, nicht ihrerseits moralisch bewertet. Eine Problematisierung und Würdigung der mt ethischen Unterweisung wird im nächsten Kapitel erfolgen (s.u. Kap. 6.3). 272

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

scheidung mit einbezogen werden. Die durch die Erzählung geweckten Emotionen verstärken dabei die Motivation zur rechten Lebensweise entscheidend. Folgendes Schaubild soll diesen Zusammenhang von Zeit, Emotionen und ethischer Pragmatik in der Parabelerzählung noch einmal veranschaulichen:

Rezeptionsemotionen (Zeit)

Rezeptionsemotionen (Figur)

ἡμέρα und ὥρα lösen Furcht vor dem Gericht Gottes aus

– Die eigene Furcht erhöht das Empathiepotential des bösen Sklaven – Dieses erschließt seine Emotionen

Ethische Pragmatik Diese Emotionen (Furcht, Verzweiflung, Reue) motivieren eine konstantwachsame Lebensführung

Abb. 3: Zusammenfassende Darstellung der emotiven Mechanismen der narrativen Ethik in Mt 24,45–51

5. Wenn Angst am Handeln hindert: Mt 25,14–30

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5. Wenn Angst am Handeln hindert: Die Parabel von den anvertrauten Geldern (Mt 25,14–30) 5. Wenn Angst am Handeln hindert: Mt 25,14–30

Des Menschen Gemüt ist sein Schicksal. (Ferdinand Lasalle) 5.1 Vorbemerkungen 14

Ὥσπερ γὰρ ἄνθρωπος ἀποδηµῶν ἐκάλεσεν τοὺς ἰδίους δούλους καὶ παρέδωκεν αὐτοῖς τὰ ὑπάρχοντα αὐτοῦ, 15 καὶ ᾧ µὲν ἔδωκεν πέντε τάλαντα, ᾧ δὲ δύο, ᾧ δὲ ἕν, ἑκάστῳ κατὰ τὴν ἰδίαν δύναµιν, καὶ ἀπεδήµησεν.

εὐθέως 16 πορευθεὶς ὁ τὰ πέντε τάλαντα λαβὼν ἠργάσατο ἐν αὐτοῖς καὶ ἐκέρδησεν ἄλλα πέντε· 17 ὡσαύτως ὁ τὰ δύο ἐκέρδησεν ἄλλα δύο. 18 ὁ δὲ τὸ ἓν λαβὼν ἀπελθὼν ὤρυξεν γῆν καὶ ἔκρυψεν τὸ ἀργύριον τοῦ κυρίου αὐτοῦ. 19 Μετὰ δὲ πολὺν χρόνον ἔρχεται ὁ κύριος τῶν δούλων ἐκείνων καὶ συναίρει λόγον µετ’ αὐτῶν. 20 καὶ προσελθὼν ὁ τὰ πέντε τάλαντα λαβὼν προσήνεγκεν ἄλλα πέντε τάλαντα λέγων· κύριε, πέντε τάλαντά µοι παρέδωκας· ἴδε ἄλλα πέντε τάλαντα ἐκέρδησα. 21 ἔφη αὐτῷ ὁ κύριος αὐτοῦ· εὖ, δοῦλε ἀγαθὲ καὶ πιστέ, ἐπὶ ὀλίγα ἦς πιστός, ἐπὶ πολλῶν σε καταστήσω· εἴσελθε εἰς τὴν χαρὰν τοῦ κυρίου σου. 22 Προσελθὼν [δὲ] καὶ ὁ τὰ δύο τάλαντα εἶπεν· κύριε, δύο τάλαντά µοι παρέδωκας· ἴδε ἄλλα δύο τάλαντα ἐκέρδησα. 23 ἔφη αὐτῷ ὁ κύριος αὐτοῦ· εὖ, δοῦλε ἀγαθὲ καὶ πιστέ, ἐπὶ ὀλίγα ἦς πιστός, ἐπὶ πολλῶν σε καταστήσω· εἴσελθε εἰς τὴν χαρὰν τοῦ κυρίου σου. 24 Προσελθὼν δὲ καὶ ὁ τὸ ἓν τάλαντον εἰληφὼς εἶπεν· κύριε, ἔγνων σε ὅτι σκληρὸς εἶ ἄνθρωπος, θερίζων ὅπου οὐκ ἔσπειρας καὶ συνάγων ὅθεν οὐ διεσκόρπισας, 25 καὶ φοβηθεὶς ἀπελθὼν ἔκρυψα τὸ τάλαντόν σου ἐν τῇ γῇ· ἴδε ἔχεις τὸ σόν. 26 Ἀποκριθεὶς δὲ ὁ κύριος αὐτοῦ εἶπεν αὐτῷ· πονηρὲ δοῦλε καὶ ὀκνηρέ, ᾔδεις ὅτι θερίζω ὅπου οὐκ ἔσπειρα καὶ συνάγω ὅθεν οὐ διεσκόρπισα; 27 ἔδει σε οὖν βαλεῖν τὰ ἀργύριά µου τοῖς τραπεζίταις, καὶ ἐλθὼν ἐγὼ ἐκοµισάµην ἂν τὸ ἐµὸν σὺν τόκῳ. 28 ἄρατε οὖν ἀπ’ αὐτοῦ τὸ τάλαντον καὶ δότε τῷ ἔχοντι τὰ δέκα 29 τάλαντα· Τῷ γὰρ ἔχοντι παντὶ δοθήσεται καὶ περισσευθήσεται, τοῦ δὲ µὴ ἔχοντος καὶ ὃ ἔχει ἀρθήσεται ἀπ’ αὐτοῦ. 30 καὶ τὸν ἀχρεῖον δοῦλον ἐκβάλετε εἰς τὸ σκότος τὸ ἐξώτερον· ἐκεῖ ἔσται ὁ κλαυθµὸς καὶ ὁ βρυγµὸς τῶν ὀδόντων. 14

Es ist nämlich wie bei einem Menschen, der auf Reisen gehen wollte und seine Sklaven zu sich rief und ihnen sein Vermögen übergab, 15 und dem einen gab er fünf Talente, einem anderen zwei, einem anderen eines, einem jeden nach seiner Fähigkeit, und er reiste ab.

Sogleich 16 ging der, der die fünf Talente empfangen hatte, und begann damit zu arbeiten und gewann weitere fünf dazu.17 Ebenso gewann der, der die zwei empfangen hatte, weitere zwei dazu.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln 18

Der aber, der das eine Talent empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn darin.

19

Nach langer Zeit kommt der Herr jener Sklaven zurück und rechnet mit ihnen ab. 20 Und es trat herbei, der die fünf Talente empfangen hatte, brachte weitere fünf Talente mit und sprach: „Herr, fünf Talente hast du mir übergeben; siehe, weitere fünf Talente habe ich hinzugewonnen.“ 21 Sein Herr sagte zu ihm: „Recht so, du guter und treuer Sklave, über weniges bist du treu gewesen, über vieles werde ich dich setzen; geh hinein in die Freude deines Herrn.“ 22 Es trat auch herzu, der die zwei Talente empfangen hatte, und sprach: „Herr, zwei Talente hast du mir übergeben; siehe, weitere zwei Talente habe ich hinzugewonnen.“ 23 Sein Herr sagte zu ihm: „Recht so, du guter und treuer Sklave, über weniges bist du treu gewesen, über vieles werde ich dich setzen; geh hinein in die Freude deines Herrn.“ 24 Da trat aber auch der herzu, der das eine Talent bekommen hatte, und sprach: „Herr, ich wusste, dass du ein harter Mensch bist, der du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast, 25 und ich fürchtete mich und ging hin und verbarg dein Talent in der Erde; siehe, da hast du das Deine.“ 26 Da antwortete sein Herr und sprach zu ihm: „Du böser und fauler Sklave, du wusstest, dass ich ernte, wo ich nicht gesät, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe? 27 Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und bei meiner Rückkehr hätte ich das Meine mit Zinsen erhalten. 28 Nehmt ihm nun das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat. 29 Denn jedem, der hat, wird gegeben, und er wird überreich gemacht werden, der aber nicht hat, von dem wird auch das weggenommen werden, was er hat. 30 Und den unnützen Sklaven werft hinaus in die äußerste Finsternis; dort werden das Weinen und das Zähneknirschen herrschen.“

Die Parabel von den anvertrauten Geldern steht, wie schon die zuvor betrachtete, innerhalb der Endzeitrede Jesu (Mt 24–25). Ihr liegt somit dieselbe ernste, furchtbesetzte Stimmung zugrunde.273 Zwischen der Parabel von den zehn Jungfrauen (25,1–13) und der von den Schafen und Böcken (25,31–46) liegend, ist sie die vorletzte parabolische Erzählung des Evangeliums und damit besonders interessant. Welchen Akzent setzt Mt am Schluss der parabolischen Reden Jesu? Die Parabel schließt sich mit ὥσπερ γὰρ (V. 14) direkt an die vorausgehende Parabel von den zehn Jungfrauen an, die mit dem Imperativ zur Wachsamkeit (V. 13: γρηγορεῖτε οὖν) endet. Es wird also suggeriert, dass es weiterhin darum geht zu veranschaulichen, worin genau diese „Wachsamkeit angesichts der ungewissen Stunde der Parusie“ besteht.274 Adressaten sind folglich ebenfalls noch die Jünger. Die Parabel begegnet in stark veränderter Form auch im Lk-Ev (vgl. Lk 19,11–27). Zwar wird sie hier mit einem weiteren Narrativ, einer Erzählung von einem Thronprätendenten, verbunden und weist insofern starke 273 274

S.o. Kap. 5.4.1. JEREMIAS, Gleichnisse, 57.

5. Wenn Angst am Handeln hindert: Mt 25,14–30

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Abweichungen vom mt Text auf, dennoch kann sie an geeigneten Stellen zum Vergleich herangezogen werden. Der oben abgedruckte Text bildet eine zweigliedrige Struktur ab, für die hier plädiert wird. Zwar legen die drei Sklaven zunächst einen entsprechend dreigliedrigen Aufbau nahe, doch sprechen sowohl inhaltliche (gleicher Erfolg und Lohn) als auch formale Aspekte (wörtliche Wiederholungen) stark dafür, die Handlungsstränge der beiden ersten Sklaven zusammenzufassen. Es ergibt sich daraus eine diametrale Gegenüberstellung der ersten beiden Sklaven auf der einen Seite und des dritten Sklaven auf der anderen, welche unter emotiven Aspekten besonders spannend ist und weiter zu analysieren sein wird. Darüber hinaus ist die Parabel für diese Arbeit in zweierlei Hinsicht von besonderem Interesse: Erstens begegnen in ihr mit der Freude (V. 21.23: χαρά) und der Furcht (V. 25: φοβέοµαι) zwei im Mt-Ev zentrale Emotionen.275 Ein genauerer Blick lohnt sich daher bereits aufgrund dieser expliziten Nennung. Zweitens spricht der dritte Sklave seine Furcht in unmittelbarem Zusammenhang zu seinem Handeln an (V. 25), was die Emotion in ethischer Hinsicht interessant macht und nahelegt, sie in Relation zur Furcht, welche in den zuvor betrachteten Parabeln im Rezipienten geweckt werden, zu betrachten. 5.2 Die Emotionskonzeption 5.2.1 Direkt Wie bereits erwähnt, werden zwei Emotionen direkt im Text genannt: Freude (V. 21.23: χαρά) und Furcht (V. 25: φοβέοµαι). Beide Emotionen sind dabei nicht vollkommen unmissverständlich, sodass sie eine nähere Betrachtung erforderlich machen. Zunächst einmal begegnet die Freude an einer recht unklaren Stelle: Der Herr lobt die beiden Sklaven, welche mit seinem Geld gewirtschaftet und Gewinn erzielt haben. Dabei mutet die Aufforderung, „in die Freude des Herrn hineinzugehen“, seltsam an (V. 21.23: εἴσελθε εἰς τὴν χαρὰν τοῦ κυρίου σου). Wie kann eine Emotion als Raum gedacht werden, der betreten werden kann? Aufgrund dieser untypischen Verwendung des Ausdrucks wird in der exegetischen Forschung weithin davon ausgegangen, dass es sich bei der hier erwähnten χαρά nicht primär um die Emotion der Freude, sondern um ein Freudenmahl handle, welches auf das eschatologische Heil verweise, für das häufig die Metapher eines Hochzeits- oder Freudenmahls verwendet wird.276 Die Freude ist folglich nicht nur als bloße Emotion, sondern als 275

Die Furcht kommt im Mt-Ev mit 32 Belegen am häufigsten, die Freude mit 26 Belegen am zweithäufigsten vor (s.o. Kap. 4.2.1). 276 Vgl. dazu BAUER, Wörterbuch, 1747, und JEREMIAS, Gleichnisse, 57.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Transfersignal für die messianische Zeit und die Gemeinschaft mit dem Menschensohn zu verstehen: „Hier leuchtet im Gleichnis schon die Deutung auf. Hineingehen zu dürfen in das Reich der Himmel (5,20; 7,21; 18,3), das oft als himmlisches Freudenmahl dargestellt wird (vgl. 8,11; 22,2–4), ist die entscheidende Anerkennung für die, die das, was Gott an Gaben in ihr Leben gelegt hat, gut genutzt haben.“277

Dieses Verständnis erweitert die Emotion um einen christologisch/göttlicheschatologischen Charakter und steigert sie erheblich.278 Denn „Freude steht für die subjektive Seite der Zueignung des eschatologischen Heilsgutes und daher parallel zu ‚Reich Gottes‘, was aus der Entsprechung zwischen Mt 25,21.23 (‚Geh ein in die Freude deines Herrn!‘) und Röm 14,17 (‚Das Reich Gottes besteht in … Freude …‘) hervorgeht“279.

Damit steht die Freude an dieser Stelle nicht nur stilistisch-syntaktisch, sondern auch inhaltlich in direktem Gegensatz zum „Weinen und Zähneknirschen“ des dritten Sklaven, welches die Parabel abschließt (V. 30). Dass Mt mit beiden Motiven klare Transfersignale liefert, zeigt der Vergleich zur lk Version deutlich, die hier ganz im Bildfeld der Erzählebene verbleibt und lediglich von weiterer Verantwortung für die Tüchtigen und vom Entzug des Geldes des dritten Sklaven spricht (vgl. Lk 19,17.19.24).280 Noch ein anderes Element ist an der mt Freude bemerkenswert, nämlich das Subjekt: Da ein genitivus objectivus an dieser Stelle nicht passend erscheint, sind es nicht die Sklaven, die die Freude empfinden, sondern es ist die Freude ihres Herrn. Es ist demnach der Herr, welcher hier durch die Emotion charakterisiert wird: Er ist erfreut über den Fleiß und Erfolg seiner Sklaven und belohnt sie mit Freuden. An dieser Freude sollen sie teilhaben. Die Aufforderung, in seine Freude einzugehen, kann durchaus wörtlich genommen werden: Es handelt sich um einen emotiven Imperativ. Sie können und dürfen nicht nur stolz und erfreut über ihre Leistung sein, sie sollen es sogar sein. Dass hier die frühchristliche Metapher vom endzeitlichen Freudenmahl verarbeitet wurde, soll durch diese Deutung nicht bestritten sein. Es soll jedoch festgehalten werden, dass Mt an dieser Stelle ein Freudenmahl nicht explizit erwähnt, obgleich er dies konkretisieren könnte. Stattdessen verwendet er den objektlosen Ausdruck der Emotion. Daraus lässt sich schließen, dass diese hier von Bedeutung ist. Eine Emotion, hier die Freude, zu betreten, bereitet auf den ersten Blick Schwierigkeiten, doch ist die Dimension des Raumes hier als wichtiger Gegensatz zum späteren Hinauswerfen des dritten Sklaven und als Bezeichnung 277

KLAIBER, Matthäusevangelium, 198 (Hervorhebung im Original). Vgl. HEILIGENTHAL, Gott, 88. 279 BERGER, χαρά, 1090 (Hervorhebungen im Original). 280 Vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 57 f. 278

5. Wenn Angst am Handeln hindert: Mt 25,14–30

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der engen, guten Beziehung zum Herrn zu verstehen und kann somit die Teilhabe an seinen Emotionen sehr schön zum Ausdruck bringen. Diese Verbindung von Raum und Emotionen soll noch ausführlicher an späterer Stelle betrachtet werden. Genauso muss die Freude später noch einmal bei der Charakterisierung und der emotiven Rezeption der Figur des Herrn Berücksichtigung finden. An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass die von Mt erwähnte „Freude des Herrn“ ein wichtiges Element der Erzählung darstellt, das angesichts des synoptischen Vergleichs nicht übergangen werden darf. Mt setzt diesen Emotionsausdruck ganz bewusst gleich zweimal und stellt ihn so dem Schreckensbild intensiviert entgegen, das V. 30 vermittelt. Im Vergleich dazu scheint die in V. 25 erwähnte Furcht des dritten Sklaven einfacher verständlich. Mittels des Partizips φοβηθείς begründet er sein Handeln bzw. seine Untätigkeit mit seiner emotionalen Disposition. Doch bei näherem Hinsehen ist auch diese Emotion nicht gänzlich klar: Wie ist die Furcht genau zu verstehen? Handelt es sich um konkrete Furcht vor Bestrafung im Falle des Verlustes des Anvertrauten oder um Angst im Sinne des heutigen Verständnisses, d.h. um eine charakterliche, ängstliche Disposition? Hat er sich wirklich gefürchtet – in V. 18 wird dieser Aspekt nicht erwähnt –, oder handelt es sich lediglich um eine Ausrede für seine Faulheit? Gerade der offensichtliche Fehler seiner Logik, welche sein Herr in V. 27 aufdeckt, wirft diese Fragen nachdrücklich auf: Wenn er wusste, dass sein Herr eine Vermehrung des Talents erwartete, wie konnte er dann nicht wenigstens unter den ungefährlichsten Umständen dieser Forderung nachkommen und das Geld unter Zinsgewinn verleihen?281 Da rationale Logik hier versagt, rückt die Emotion ins Rampenlicht. Es scheint ganz so, als trübe sie sein Urteilsvermögen und halte ihn von vernünftigem Handeln ab. Dadurch vermittelt der Text auch den Eindruck, dass der Sklave seinen Herrn nicht anlügt. Es ist keine „faule Ausrede“. Dafür spricht auch, dass für die Vermittlung bloßer Faulheit des Sklaven das in V. 18 sowie in V. 26 und 30 gezeichnete Bild der Figur ausreichen würde. Er bleibt untätig (V. 18) und wird von seinem Herrn dafür als „böse“ (πονηρός), „träge“ (ὀκνηρός) (V. 26) und „unnütz“ (ἀχρεῖος) (V. 30) bezeichnet. Diese Charakterisierung würde sich für den Rezipienten auch bestätigen, bliebe der Sklave stumm und versuchte nicht, sich vor seinem Herrn zu rechtfertigen.282 Diese Erwägung ist durchaus angebracht, berücksichtigt man, dass die „bösen Sklaven“ in mt Parabeln am Ende meist stumm bleiben (vgl. 18,34; 20,33 f.; 22,12; 24,50 f.). Hier geschieht es zum ersten Mal, dass sich ein „angeklagter Sklave“ verteidigen darf. Umso mehr muss diese Verteidigung beachtet und als zusätzliche In281

Vgl. MÜNCH, Gewinnen, 241 f. Gegen Rudolf Schnackenburg, der im Dialog zwischen Sklave und Herrn nur die Betonung der „Faulheit und Schuld jenes Knechtes“ sieht (SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium, 247). 282

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

formation über den Sklaven beurteilt werden.283 Wollte der Text lediglich das Bild eines untätigen, unfähigen oder faulen Sklaven vermitteln, erreichte er dies einfacher, indem er dessen Rechtfertigung ausließe. Umso wichtiger ist die Rolle der Furcht, die der Sklave als Grund für sein Handeln anführt. Auch über diese lassen sich einige Überlegungen anstellen. War es Furcht oder Angst? Der in V. 19 erwähnte lange Zeitraum der Abwesenheit des Herrn lässt am ehesten eine trait-Angst des Sklaven vermuten.284 Er scheint ein ängstlicher Mensch zu sein, der das Risiko grundsätzlich scheut. Dafür spricht, dass er es sich in all der Zeit nicht anders überlegt. Er scheint den Fehler seiner eigenen Logik all die „lange Zeit“ (V. 19) nicht zu erkennen. Wie lange dieser Zeitraum genau ist, spielt dabei für die Parabel keine Rolle. Freilich äußert sich seine Angst letztendlich in konkreter Furcht vor seinem Herrn und etwaiger Strafe – obgleich er dies in seiner Verteidigung in V. 24 f. nicht expliziert, sondern nur angenommen werden kann –, wodurch sich die beiden Emotionen nicht strikt voneinander trennen lassen. Doch lässt sich festhalten, dass die seinem Handeln zugrunde liegende Emotion, die Angst, im Sinne einer langfristigen charakterlichen Disposition (trait-Angst) darstellt: „In der Furcht des Mannes mit dem einen Talent sehen wir die Furchtsamkeit eines Menschen, der den Schritt ins Unbekannte nicht wagt. […] Handlung wird durch Furchtsamkeit paralysiert, und das Selbst unserer Hauptfigur ist nur ein Schatten von dem, was es potentiell ist.“285

Diese Angst ist eine starke explizite Charakterisierung des dritten Sklaven, welche ihn von den anderen beiden Figuren abhebt und sein tragisches Schicksal begründet. Zuletzt kann die Intensität dieser explizit erwähnten Emotionen abgeschätzt werden. Zuallererst fällt auf, dass die Freude gleich zweimal erwähnt wird, was ihre Intensität maßgeblich verstärkt. Zwar muss der Furcht die Wirkung des Rezenzeffektes am Schluss der Parabel zugestanden werden, doch dürfte die Erzählung durch die höhere Intensität der Freude auf diese abzielen. Wollte sie dies nicht, hätte die Gegenüberstellung nur zweier Sklaven genügt. Diese Beobachtung wird dadurch unterstützt, dass die Furcht im Ausdruck des Weinens und Zähneknirschens kontrapunktisch, allerdings nur implizit am Schluss der Parabel steht und als Warnung auf die Freude zurückverweist: Denn die Bestrafung des faulen Sklaven am Ende nimmt die 283 So beurteilt auch Bernard Scott die Rechtfertigung des Sklaven als „the story’s most important element“ (SCOTT, Parable, 229). Doch zieht er den Schluss, dass sie den Standpunkt des Sklaven nachvollziehbar mache und damit den Rezipienten auf dessen Seite zöge (vgl. a.a.O., 229 f.). Dem widerspricht jedoch, dass die Rechtfertigung logisch nicht überzeugt. 284 S.o. Kap. 4.2.2.1. 285 VIA, Gleichnisse, 116 (Hervorhebung im Original).

5. Wenn Angst am Handeln hindert: Mt 25,14–30

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Freude in variierter Form wieder auf, indem das Leid als ihr Gegensatz geschildert wird: Das „Weinen und Zähneknirschen“ des dritten Sklaven könnte ebenso gut das „Eingehen in die Freude seines Herrn“ sein, hätte ihn seine Angst nicht am Handeln gehindert. Die Motivation, die das rechte Handeln hervorbringen soll, ist demnach gerade die Antizipation der zweimal ausgeführten Freude, nicht die Furcht vor Bestrafung, die ja erst das falsche Handeln hervorgebracht hat. 5.2.2 Indirekt Neben diesen beiden expliziten Emotionen vermittelt die Parabel auf indirekte Weise noch weitere Figurenemotionen. Betrachtet man die erste Szene der Parabel, in der sich ein Mensch anschickt, außer Landes zu reisen, und zuvor seinen Sklaven jeweils einen Teil seines Vermögens anvertraut, so tauchen hier keine Emotionen auf. Es kann nur spekuliert werden, ob sich die Sklaven über den Vertrauensbeweis ihres Herrn freuen und ob sie die unterschiedliche Höhe des anvertrauten Geldes (fünf – zwei – ein Talent) als gerecht und gut erachten, oder ob sich der dritte Sklave ggf. zurückgesetzt fühlt. Der Ausdruck ἑκάστῳ κατὰ τὴν ἰδίαν δύναµιν (V. 15) suggeriert zwar, dass keiner von ihnen überfordert werden soll; doch macht der Text nicht ersichtlich, ob damit Emotionen der Sklaven verbunden sind, ja, es lässt sich nicht einmal sagen, ob die Sklaven jeweils voneinander und von den verschiedenen Geldsummen wissen. Auch in der zweiten Szene, die beschreibt, wie die drei Sklaven jeweils mit dem anvertrauten Geld verfahren, werden keine Emotionen erkennbar. Zwei handeln mit dem Geld und gewinnen jeweils das Doppelte dazu. Hier sind positive Emotionen wie Freude, Zufriedenheit und Stolz anzunehmen. Der dritte dagegen vergräbt sein Talent in der Erde. Hier wird noch nicht ersichtlich, warum er dies tut, und der Rezipient wird vollkommen im Dunkeln darüber gelassen, wie sich dieser Sklave fühlt. Fühlt er sich überfordert, hat er Angst, oder sind keine Emotionen im Spiel und er ist einfach nur unfähig oder faul? An dieser Stelle gibt der Text keinerlei Anhaltspunkte für indirekt vermittelte Figurenemotionen. Erst in der dritten, der am ausführlichsten geschilderten Szene der Rückkehr des Herrn und seiner Abrechnung mit den drei Sklaven bekommt der Rezipient einen besseren Eindruck von den Emotionen der jeweiligen Figuren. Die ersten beiden Sklaven treten vor ihren Herrn und präsentieren ihm das Doppelte der ursprünglich anvertrauten Summe. Ihre zu vermutende Zufriedenheit und ihr Stolz werden in der freudigen, lobenden und belohnenden Reaktion des Herrn bestätigt: Sie waren „gut“ (ἀγαθός) und „treu“ (πιστός), ihre Verantwortung wird noch ausgeweitet und sie sollen sich mit ihrem Herrn an ihrem Erfolg freuen. Dieser emotive Imperativ legt die Emotion der Freude für beide Figuren nahe, auch wenn der Text dies nicht mehr expliziert.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Der dritte Sklave hingegen kann nichts vorweisen. Er rechtfertigt sich damit, dass er erklärt, warum er das ihm anvertraute Talent lediglich in der Erde vergraben hat, statt damit gehandelt zu haben: Er hielt seinen Herrn für σκληρός, den es daher zu fürchten galt (V. 24 f.). Die Erklärung des Sklaven ist indes schwer einzuschätzen. Von der Angst, die er als Grund für sein Handeln vorbringt, scheint in seiner kurzen Rede nichts durch. So wird häufig darauf hingewiesen, dass seine Rechtfertigung defensiv und anklagend, ja trotzig und unverschämt klinge.286 Wenngleich dies etwas weit gehen mag, ist m.E. Craig S. Keener zuzustimmen, wenn er in dieser Antwort des Sklaven sieht, dass „he refuses to acknowledge responsibility“ und beleidige damit den Vertrauensvorschuss seines Herrn: „by failing the master’s trust, he insults the master“287. Von Reue darüber seitens des Sklaven ist in der sprachlichen Komposition der Parabel ebenfalls nichts zu spüren. Der Ausdruck σκληρός scheint gegenüber dem αὐστηρός der lk Version (Lk 19,21 f.) stärker negativ konnotiert zu sein, bedenkt man, dass αὐστηρός auch im positiven Sinne „streng“ bedeuten kann.288 Die Bedeutung von „grausam“ und „unbarmherzig“ des σκληρός289 erscheint demgegenüber emotional aufgeladener. Doch lässt sich darüber, warum Mt und Lk hier verschiedene Begriffe verwenden, nur spekulieren, und da es sich bei beiden um Hapax legomena im NT handelt, lässt sich keine fundierte Beurteilung der beiden Begriffe sowie eine Abwägung ihrer emotiven Wirkung treffen. Sicher ist nur, dass der dritte Sklave seinen Herrn hier seltsam offenherzig, geradezu kühn beurteilt. Dabei liefert der Text über die Emotionen, welche der Sklave in dieser Situation empfindet, keinerlei Anhaltspunkte. Es gibt daher aber auch keinen Grund anzunehmen, dass sich der Sklave nicht, wie er selbst sagt, fürchtet. Er kann angesichts dessen, dass er keinen Gewinn vorzuweisen hat, nichts anderes tun, als auf das Verständnis und Mitgefühl seines Herrn zu hoffen. Doch geht der Herr darauf überhaupt nicht ein. Er bezeichnet den Sklaven als „böse“ (πονηρός), „träge“ (ὀκνηρός) und „unnütz“ (ἀχρεῖος). Im Vergleich zur lk Parabelversion fällt auf, dass Mt sowohl für die ersten beiden als auch für den dritten Sklaven mehr Adjektive verwendet (vgl. Lk 19,17: es begegnet nur einmal das Adjektiv ἀγαθός). Hierdurch betont er die positive bzw. negative Charakterisierung der verschiedenen Figuren und steigert auch die mit ihnen verbundenen Emotionen bzw. die empathische Perspektivübernahme oder Abgrenzung von ihnen. Bei der Betrachtung der Adjektive, mit denen der Herr den dritten Sklaven beschreibt, fällt jedoch auf, dass ihm seine Ängstlichkeit nicht vorgeworfen wird, es sei 286

Vgl. KÄHLER, Gleichnisse, 172; LUZ, Evangelium III, 501; WEISER, Knechtsgleichnisse, 246. 287 KEENER, Gospel, 601. 288 Vgl. BAUER, Wörterbuch, 245. 289 Vgl. a.a.O., 1510.

5. Wenn Angst am Handeln hindert: Mt 25,14–30

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denn, für die zeitgenössischen Rezipienten enthielt der Ausdruck ὀκνηρός eine an das Verb ὀκνέω erinnernde Konnotation.290 In diesem Fall wäre das Adjektiv „träge“ aufgrund zu vieler Bedenken und zu großer Zögerlichkeit in Richtung der Angst zu deuten. Trotzdem liegt der Fokus des Herrn gänzlich auf dem unterlassenen Handeln des Sklaven, nicht auf dessen Beweggründen. Er beurteilt nur das Ergebnis: Sein Besitz wurde nicht gut verwaltet, er wurde lediglich erhalten. Dafür bestraft er den Sklaven, wobei er seine Bestrafung an der vorherigen Belohnung der beiden ersten Sklaven orientiert: Während jene über vieles gesetzt werden (V. 21.23), wird dem dritten Sklaven das übergebene Talent entzogen (V. 28), und während jene hineingehen und sich mit ihrem Herrn freuen sollen (V. 21.23), wird der dritte Sklave hinausgeworfen in die äußerste Finsternis, wo Weinen und Zähneknirschen herrschen werden (V. 30). Auch hier verdoppelt Mt im Vergleich zu Lk Lohn und Strafe und intensiviert somit die Rezeptionsemotionen gekonnt (vgl. den einfachen Lohn in Lk 19,17.19 und die einfache Strafe in Lk 19,24). Doch dazu später Näheres. Die im Vergleich zur Belohnung ausführlicher geschilderte Bestrafung des dritten Sklaven vermittelt ein reiches Repertoire an möglichen Figurenemotionen: Der Sklave dürfte sich zunächst entrüstet und ggf. sogar wütend über die vielleicht als ungerecht und allzu hart empfundene Strafe des Herrn empören. Betrachtet man sein Handeln rein rechtlich, hat er legal gehandelt: Ein in der Erde verborgenes Darlehen galt als sicher verwahrt und musste bei Verlust nicht erstattet werden.291 Diese Empörung dürfte angesichts des Hinauswurfs in die Finsternis rasch umschlagen in Furcht, Verzweiflung, Reue und Leid, als verstärkte Form der Trauer. Der Herr letztlich freut sich explizit über die ersten beiden Sklaven. In Bezug auf den dritten empfindet er keine direkt geschilderten Emotionen. Dennoch stecken in der Schmähung des dritten Sklaven als „böse“ (πονηρός), „träge“ (ὀκνηρός) und „unnütz“ (ἀχρεῖος) durchaus Emotionen der Unzufriedenheit, der Missbilligung, des Ärgers, vielleicht sogar des Zorns. Der Sklave hat nicht gemäß den Erwartungen seines Herrn gehandelt, obwohl er doch offenbar um diese wusste. Die Wut des Herrn legt sich dem Rezipienten aufgrund vorangegangener Herr-Sklave-Parabeln nahe, in denen der Herr vor seiner ultimativen Vergeltungstat in Zorn gerät (vgl. 18,34; 22,7). Doch diese Emotion wird hier nicht explizit ausgedrückt, wodurch die Bestrafung des Herrn in starkem Gegensatz zu seiner zuvor zweimal betonten Freude steht: Damit legt die Parabel unter sprachlichen Gesichtspunkten ihren Fokus stärker auf die freudige Belohnung der ersten beiden Sklaven als auf die wütende Vergeltung gegenüber dem dritten.

290 291

Vgl. a.a.O., 1141. Vgl. dazu JEREMIAS, Gleichnisse, 58 f.

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

5.3 Die Rezeptionsemotionen Im Hinblick auf die emotive Leserlenkung des Textes stellen sich folgende Fragen: Welche Emotionen löst der Text anhand der verschiedenen Dimensionen der Erzählebene aus? Und wie beeinflussen diese Rezeptionsemotionen das Verständnis der Parabel? In der Parabel ist besonders das Figurenhandeln emotionsauslösend. Doch auch die Dimensionen des Raumes und der Zeit sind von besonderem Interesse. Geschehnisse und Situationen hingegen können vorab und sehr knapp betrachtet werden, da sie für die emotionale Textrezeption kaum ausschlaggebend sind. 5.3.1 Situationen/Geschehnisse In der Parabel begegnen keinerlei Geschehnisse. Jeder Handlungsstrang ist direkt von einer Figur verursacht. Dagegen finden sich drei Situationen, die denen entsprechen, die bereits in der zuvor analysierten Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51) begegnen und die Parabel als solche strukturieren: – Situation 1: Verreisen des Herrn und Übergabe seines Vermögens an ausgewählte Sklaven (V. 14 f.). – Situation 2: Abwesenheit des Herrn und Handeln der Sklaven (V. 16–18). – Situation 3: Rückkehr des Herrn und Abrechnung mit den Sklaven (V. 19–30). Situation 1 und 2 werden emotiv sehr neutral dargestellt, was hauptsächlich der Kürze der beiden Szenen geschuldet ist. Das Übergeben von Geldbesitz an Sklaven, damit diese in der Zeit der Abwesenheit des Herrn für jenen Geschäfte betreiben sollen, ist nichts Außergewöhnliches und beschreibt ein durchaus alltägliches Ereignis.292 Auch Situation 2 dürfte per se keine Emotionen beim Rezipienten auslösen. Sie ist maßgeblich durch das Handeln der Sklaven während der Abwesenheit des Herrn bestimmt und kann daher gänzlich im nächsten Abschnitt diskutiert werden. Dennoch ist im Vergleich zu Lk 19 festzuhalten, dass Mt diese Situation expliziert. Lk lässt sie aus und nimmt darauf in der Abrechnungsszene analeptisch Bezug. Die Zeit der Abwesenheit des Herrn scheint Mt aber wichtig zu sein, da er sie gesondert erwähnt.293 Dies wird noch in der Analyse der Zeitdimension der Parabel näher zu betrachten sein. Die letzte Situation 3 dagegen ist darauf ausgelegt, starke Emotionen aufseiten des Rezipienten auszulösen. Wie bereits in den vorangegangenen Text292 293

Vgl. MÜNCH, Gewinnen, 243. Vgl. WEDER, Gleichnisse, 208.

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analysen beschrieben, ist es besonders der Transfer der alltäglichen Abrechnungssituation zwischen Herr und Sklave auf die eschatologische Gerichtssituation zwischen Gott und Mensch, der Emotionen hervorruft und durch den Text anhand mehrerer Signale suggeriert wird: Dazu zählen termini technici eines Abrechnungsszenarios wie δούλος + Adjektive, τάλαντον und συναίρω λόγον, der Endzeitreden-Kontext Mt 24–25, die Beziehung zwischen Herr und Sklave als Bild für die Gott-Mensch-Beziehung, die Zeitangabe „nach langer Zeit“ in V. 19 sowie die Freude als eschatologisches Element in V. 21 und 23. Dadurch wird ein deutlicher Bezug zum traditionellen Gedanken, dass Gott einmal von jedem Menschen Rechenschaft fordern wird, hergestellt (Dtn 18,19; Ijob 10,6; Ps 10,4.13; 2 Chr 24,22; Mt 12,36; Röm 14,12; Phil 4,17; Hebr 13,17; 1 Petr 4,5).294 Dieser existentiellen Bedeutung der Parabel, welche über den profanen Alltag der Menschen weit hinausgeht und das Schicksal eines jeden am Ende aller Zeit betrifft, kann sich kein Rezipient entziehen. Diese Situation der Abrechnung zwischen Herr und Sklave, die auf das Richten Gottes am Ende der Zeit verweist, dürfte beim Rezipienten demnach vielfältige Emotionen auslösen, welche mit denen übereinstimmen, die in den bereits besprochenen Parabeln Thema sind (Mt 18,23–35 und Mt 24,45–51): Etwa Erwartungs-Emotionen (Hoffnung auf Erlösung von der jetzigen Welt und auf die Ewigkeit im Reich Gottes sowie ggf. Furcht, die davon abhängt, wie die eigenen Chancen, im Gericht Gottes zu bestehen, eingeschätzt werden). Daraus resultieren Wohlergehen-Emotionen wie Freude oder Leid (als starke Form der Trauer) bzw. Selbstzufriedenheit oder -unzufriedenheit. Ob diese Emotionen gemindert oder verstärkt werden, hängt v.a. vom empathischen Rezeptionsvorgang der Figuren ab. Versetzt sich der Hörer/Leser in die Lage der beiden ersten Sklaven, dürfte die Situation der Abrechnung positive Emotionen wecken, während ein Hineinversetzen in die Lage des dritten Sklaven wohl eher Furcht und Verzweiflung auslöst. Aber wird ein empathisches Hineinversetzen in die Figuren von der Erzählung gleichermaßen nahegelegt? 5.3.2 Figuren Wie werden die verschiedenen Figuren der Parabel emotiv vermittelt, und wie beeinflusst dies die Textrezeption? Um diesen Fragen nachzugehen, soll zunächst die übergeordnete Struktur der Figurendarstellung in der Parabel betrachtet und gezielt Parallelitäten und Kontraste herausgearbeitet werden. Danach gilt es, den Rezeptionsvorgang für die einzelnen Figuren zu bestimmen, wobei die ersten beiden Sklaven zusammen gesehen, dann der dritte und zuletzt der Herr der Sklaven betrachtet werden. 294

Vgl. MÜNCH, Gewinnen, 246.

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a) Die Struktur der Figurendarstellung Bei der charakterisierenden Darstellung der Figuren fällt eine klare Parallelität auf: 1.a Fähigkeitseinschätzung durch den Herrn (V. 15: fünf – zwei – ein Talent) 2.a Handeln der Sklaven (V. 16–18: handeln – vergraben) 1.b Fähigkeitseinschätzung durch den Herrn (V.21.23.26: gut – böse) 2.b Ergehen der Sklaven (V. 21.23.28–30: Belohnung – Bestrafung) Jeder Sklave wird zuallererst durch die Fähigkeitseinschätzung des Herrn charakterisiert, wobei eine absteigende Befähigung von Sklave zu Sklave suggeriert wird (V. 15). Zunächst ist klar, dass der Herr all seinen Sklaven grundsätzlich etwas zutraut, sonst hätte er dem dritten Sklaven überhaupt nichts übergeben. Alle Sklaven haben sich in der Vergangenheit bewährt, sodass er ihnen sein Vermögen anvertrauen kann.295 Hier drängt sich die Frage auf, inwiefern die erwähnten „Fähigkeiten“ die Figuren charakterisieren. Worauf spielen sie an? Das Nomen δύναµις bedeutet grundsätzlich Kraft, Macht oder Stärke, kann aber auch das Vermögen im Sinne von Fähigkeit beschreiben, das an dieser Stelle passend scheint.296 Wie diese Fähigkeiten zu verstehen sind, hängt an der Deutung der Talente, denn sie sind es, die mittels der Fähigkeiten genutzt werden sollen. Kurt Erlemann bezeichnet sie zu Recht als „metaphorisch“ und „polyvalent“.297 Ebenso sieht es auch Christian Münch: „Der deutsche Sprachgebrauch in der Übersetzung legt einen metaphorischen Gehalt der ‚Talente‘ in 25,14ff nahe. Auch aus dem Text selbst lassen sich dafür Indizien erheben. Erneut geht es um jenes Element, an dem im Gericht gemessen wird. Die Summen sind exorbitant, wie auch in 18,23ff. In beiden Fällen könnte dies Indiz für einen hintergründigen Sinn sein. Der Kontext ist freilich jeweils ein anderer. Im [sic!] 18,23ff geht es um Schulden, in 25,14ff um anvertrautes Gut. Geprägte Metaphorik ist deshalb unwahrscheinlich. Bemerkenswert ist auch das Anvertrauen unterschiedlicher Summen ‚jedem nach den eigenen Fähigkeiten‘ (25,15), was später keinerlei Funktion oder Bedeutung mehr hat. Es leuchtet ein, wenn hier viele Ausleger einen metaphorischen Sinn vermuten.“298

Das Depositum hat bereits zahlreiche Deutungen erfahren: als die Seele des Menschen, die Tora, die Güter der Welt, aber auch als das Reich Gottes bzw. den Anteil daran.299 M.E. kann hier ergänzt werden: das Evangelium, die Lehre Jesu. In Entsprechung zur Tora ist es denkbar, unter anvertrautem Gut das Wort Gottes in Jesu Botschaft zu verstehen. Sie ist die Heilsbotschaft von 295

Vgl. HERZOG, Parables, 159. Vgl. BAUER, Wörterbuch, 417. 297 ERLEMANN, Bild, 205. 298 MÜNCH, Gleichnisse, 230. 299 Vgl. dazu die Übersicht bei WEISER, Knechtsgleichnisse, 263 f., und MÜNCH, Gleichnisse, 230. 296

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Gottes Liebe, der es nachzueifern gilt. Dieses Verständnis passt sehr gut in die Parabel, obgleich sie auf den ersten Blick keinerlei soziale Dimension enthält. Ganz anders als die bereits betrachteten Parabeln in Mt 18 und 24 begegnet keine klare ethische Forderung, die sich auf den Umgang mit dem Mitmenschen bezieht. Die Parabel von den anvertrauten Geldern weist einen höheren Abstraktionsgrad auf, indem sie lediglich vom „Handel mit Geld“ spricht. Daraus ergibt sich ein größerer Interpretationsspielraum, der zwar eine Deutung erschwert. Doch kann auch vermutet werden, dass dieser beabsichtigt ist, um die ethische Forderung der Parabel nicht unnötig einzuschränken. Es geht jedenfalls ganz allgemein um das rechte Handeln. Schließlich kann der folgende Abschnitt herangezogen werden, um die Deutung der Talente zu untermauern, kommt doch jetzt die soziale Komponente in 25,31–46 explizit zum Ausdruck: „Die Lehre Jesu, mit der es zu wuchern gilt, sind die Gebote der Nächstenliebe.“300 Auch dürfte dem Rezipienten bei der Erzählung, in der verschiedene Figuren ein unterschiedliches Maß an Gewinn bzw. gar keinen machen, die Parabel vom Sämann und das unterschiedliche „Fruchtbringen“ der Menschen (13,8.23) in Erinnerung gerufen werden. Hier wird das Wort Gottes gesät, weshalb es sehr wahrscheinlich ist, dass auch Mt 25 mit den übergebenen Talenten die übergebene Lehre Jesu meint, die in seiner Abwesenheit recht genutzt werden soll. Daher spricht dieser intratextuelle Bezug m.E. dagegen, die Parabel von den anvertrauten Geldern lediglich an die religiösen Führer des Volkes gerichtet zu sehen.301 Wie auch in Mt 13 ist das Wort Gottes in alle Menschen gesät, und es ist entscheidend, was jeder Einzelne daraus macht. Alle Menschen sind hier angesprochen und gefordert.302 Dafür spricht nicht nur die unterschiedliche Höhe der anvertrauten Summen, die suggeriert, dass es um verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten geht. Auch der Blick auf die Entwicklung durch die Parabeln von Mt 24 und 25 hindurch bestätigt eine allgemeine Adressatenschaft: Schon 24,45–51 spricht jeden einzelnen Menschen an, indem die Rede von einem Sklaven ist, der vor zwei Handlungsalternativen steht. 25,1–13 behandelt hingegen zwei Personengruppen und stellt somit jene Menschen, die vorbereitet sind auf das Kommen Gottes, denen gegenüber, die es nicht sind. In 25,14–30 wird dann der Blick noch weiter

300

HEILIGENTHAL, Gott, 90. Vgl. bspw. BINDEMANN, Herr, 132; JEREMIAS, Gleichnisse, 59, KEENER, Gospel, 600; LAMBRECHT, Treasure, 234 f.; MEIER, Vision, 176; VIA, Gleichnisse, 113. 302 So auch Ulrich Luz, der „hinter dem dritten Sklaven wohl eher de[n] Typus des ängstlichen Menschen, der auf Sicherheit bedacht ist“ erkennt (LUZ, Evangelium III, 504). Auch Christian Münch ist der Ansicht, dass die Parabel alle Menschen gewinnen möchte (vgl. MÜNCH, Gewinnen, 248 f.). Dies betont ebenso Alfons Weiser und weist dazu auf die ersten beiden Sklaven hin, die für die Erzählung von Bedeutung sind (vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 261 f.). 301

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ausdifferenziert, indem drei Personengruppen vorgestellt werden.303 Mit 25,31–46 schließlich gipfelt Jesu Rede in seiner Schilderung des Weltgerichts, wo dann endgültig alle Menschen explizit in den Blick kommen (25,32: πάντα τὰ ἔθνη). Die wachsende Ausdifferenzierung der Figuren lässt annehmen, dass Mt mit der Endzeitrede Jesu alle Menschen ansprechen und nicht nur gegen eine bestimmte Menschengruppe polemisieren will. Dafür ist der Gegenstand, um den es geht, zu allgemein gültig: Das Gericht betrifft jedermann und jeder Einzelne muss daher sein Verhalten und Handeln dahingehend prüfen und überwachen. Dass nicht von einem vierten Sklaven die Rede ist, der sein anvertrautes Gut gänzlich verliert, bezeichnet Ulrich Luz als „schade“.304 Doch steckt dahinter vielleicht mehr? Vielleicht erwägt Mt dieses Szenario absichtlich nicht, weil die Gabe Gottes, die Botschaft von seiner Liebe und seinem Reich, nur gute Taten der Nächstenliebe hervorbringen kann – oder eben verfehlt werden kann, indem keine Taten folgen. Wie hätte ein Verlust des anvertrauten Gutes gedeutet werden sollen? Und hätte diese Möglichkeit die Angst, die es doch zu bekämpfen gilt, nicht nur verstärkt? Es scheint Mt nicht darum zu gehen, Gottes Gaben falsch zu nutzen, sondern gerade darum, sie gar nicht zu nutzen. Es spielt keine Rolle, wie viel „Gewinn“ gemacht wird, Hauptsache es wird mit den Talenten etwas Nützliches getan. Dieses Tun ist vollkommen ungefährlich und risikolos (V. 21.23). Somit spricht einiges dafür, dass im Depositum des Hausherrn die Lehre Jesu zu sehen ist. Damit steht hinter der ethischen Forderung der Parabel, das anvertraute Geld des Hausherrn angemessen zu vermehren, die transferierende Aufforderung, der Liebe Gottes entsprechend zu handeln und tätige Nächstenliebe zu üben. Diese Aufforderung zum Handeln geht aus der Parabel genauso implizit hervor, wie der Auftrag des Herrn unausgesprochen mit der Übergabe seines Vermögens an die Sklaven ergeht. Die angemessene Reaktion auf diese Gabe ist konkret tätiger Umgang damit, wodurch sie sich vermehren kann. Durch solche „Früchte“ kann und soll das Reich Gottes schon jetzt auf Erden wachsen (vgl. 13,31–33 und 24,14).305 Alfons Weiser formuliert dies sehr treffend, wenn er schreibt: „Die Botschaft Jesu vom Reiche Gottes […] fordert den Menschen in einer Weise, in der es nicht um die Erfüllung einzelner Vorschriften geht, sondern um eine Grundhaltung Gott und dem Nächsten gegenüber, die den Menschen ganz in Anspruch nimmt und in ihm nie die Meinung aufkommen lässt, er habe genug oder gar alles getan. Nur die Liebe macht für diesen Anspruch aufgeschlossen. Es ist jener Anspruch, der z.B. aus empfangener Barmherzigkeit (Mt 18,23–35), aus dem Wissen, dass Gott zu allen gut ist und man selbst stän-

303

Vgl. FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 418. LUZ, Evangelium III, 505 f., Anm. 74. 305 So fällt auch die Deutung Hans Weders aus (vgl. WEDER, Gleichnisse, 206). 304

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dig aus seiner Güte empfängt (Mt 5,43–48), oder aus der Not und Bedürftigkeit des Mitmenschen (Lk 10,30–37; Mt 25,31–46) erwächst.“306

Der ersten Einschätzung der Sklaven folgt ihr aktives Tun, das diese Beurteilung des Herrn bestätigt (V. 16; 17 und 18): Der Sklave, der fünf Talente erhalten hat, ist offenbar sehr fähig im Geldhandel, vermag er doch immerhin diese beträchtliche Summe zu verdoppeln. Auch der zweite Sklave verdoppelt seine zwei Talente. Der letzte Sklave scheint jedoch noch hinter den Erwartungen des Herrn zu bleiben, indem er das Geld vergräbt. Hätte der Herr von ihm nichts erwartet, hätte er ihm vermutlich gar kein Geld übertragen und es stattdessen sogleich dem ersten oder zweiten Sklaven gegeben. Diesem Tun gemäß folgt eine erneute Fähigkeitseinschätzung durch den Herrn (V. 21; 23 und 26). Hierbei wird explizit, was bisher nur vermutet werden konnte: Der Herr hielt die ersten beiden Sklaven für gut und treu. Dieses Bild hat sich für ihn bestätigt. Vom dritten Sklaven aber hat er mehr erwartet: Er hätte das Geld wenigstens zu den Wechslern bringen können (V. 27). Er hat ihm eine Chance gegeben, die dieser nicht genutzt hat. Er beurteilt ihn daher nun als träge und nichtsnutzig. Schließlich werden die Figuren noch durch ihr nachfolgendes Ergehen, d.h. mittels ihres Lohnes bzw. ihrer Strafe charakterisiert (V. 21.23.28–30). Wie bereits die beiden Fähigkeitseinschätzungen durch ihren Herrn entsprechen sich auch Tun und Ergehen der Sklaven. Wer das Vermögen des Herrn vermehrte, bekommt zum Lohn noch mehr. Wer es dagegen nur verwahrte, dem wird es weggenommen und er wird aus dem Haushalt des Herrn verbannt, weil er ihm keinen Gewinn einbringt. Die Zeichnung der ersten beiden Sklaven bleibt anhand der Charakterisierung der Figuren konstant positiv, die des dritten Sklaven hingegen wird immer negativer. Insgesamt aber ergibt sich ein stimmiges Bild der Figuren, es sind keine Brüche in der Figurendarstellung und -charakterisierung erkennbar, durch die der Rezipient sich veranlasst fühlte, an einer bestimmten Stelle das Bild, das er sich über eine Figur gemacht hat, zu ändern. Einzige Ausnahme ist die Figur des Herrn. Doch dazu im letzten Abschnitt. b) Der erste und der zweite Sklave Der erste und zweite Sklave können wie eine Figur behandelt werden. Zwar bekommt der erste fünf und der zweite „lediglich“ zwei Talente anvertraut, doch handeln sie beide mit demselben Erfolg: Beide verdoppeln die Grundsumme und werden vom Herrn auf dieselbe Weise entlohnt. Der Aufbau der Erzählung ist bei der Schilderung dieser beiden Figuren parallel. Die Rede des Herrn, welche die Sklaven lobt, ihnen Belohnung verspricht und sie auffordert, hineinzugehen und sich zu freuen, entspricht einander im Wortlaut exakt. Dass die Parabel, die ansonsten dem stilistischen Anspruch der 306

WEISER, Knechtsgleichnisse, 264.

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brevitas verpflichtet ist und der Handlung keine überflüssigen oder ausschweifenden Beschreibungen hinzufügt, an dieser Stelle wertvolle Erzählzeit aufwendet, um zweimal dasselbe zu berichten, ist bemerkenswert. Es scheint, als wolle die Erzählung gerade durch die Wiederholung das im Vergleich zum letzten Erzählstrang kürzer ausfallende Ereignis betonen. Die Kürze wird dadurch ausgeglichen, und dem Rezipienten bleibt die Belohnung der guten und treuen Sklaven sicherlich stärker im Gedächtnis, als wenn diese nur einmal geschildert würde. Aufgrund dieser Beobachtungen wäre es verfehlt, den Fokus gänzlich auf den dritten Sklaven zu legen. Es geht genauso um die ersten beiden.307 Betrachtet man den emotiven Rezeptionsvorgang, so fällt das Urteil über die beiden ersten Sklaven, wie gesagt, von Anfang an positiv aus. Schon in der ersten Situation werden sie als verantwortungsvoll und fähig charakterisiert, indem der Herr ihnen eine große Menge Geld anvertraut, „einem jeden nach seiner Fähigkeit“. Im Vergleich zur lk Variante der Parabel hat Mt die Geldsummen erhöht, und er spricht von Talenten, nicht von Minen (vgl. Lk 19,13).308 Mt ist es offenbar wichtig zu betonen, dass es eine große Aufgabe ist, die den Sklaven anvertraut wird. Dies vergrößert nicht nur das Vertrauen, das der Herr offenbar in diese setzt, sondern auch die Verantwortung, die er seinen Sklaven damit überträgt. Die positive Charakterisierung der ersten beiden Sklaven leitet einen ersten empathisch-affirmativen Rezeptionsvorgang ein. Wer wäre nicht gern der Vertraute, dem sein Herr ein so immenses Vermögen überträgt? Die darauffolgende zweite Szene erzählt ohne Umschweife die Reaktion der Sklaven: Der erste geht sogleich, um mit den Talenten zu handeln und gewinnt weitere fünf Talente. Auch der zweite vermag seine zwei Talente zu verdoppeln. Obwohl nicht gesagt wird, wie lange der Herr tatsächlich verreist ist, wird klar, dass selbst bei einem sehr langen Zeitraum diese Gewinne abnorm hoch sind.309 Daher können die Gewinne der Sklaven mehr als hyperbolische Stilisierung der Erzählung betrachtet werden: „to draw an astonished gasp from the listening audience“310. Auch diese Summen müssen daher als Transfersignale gelten: Wer Gottes Gabe nutzt, vermehrt sie in unvorstellbaren Größen. Umso positiver dürfte das empathische Urteil über diese Figuren ausfallen. Gelegentliche moderne Auslegungen nehmen hierbei an, zeitgenössische Rezipienten hätten diese Gewinne anstößig und empörend finden müssen, weil sie nur durch verwerflichen Geldwucher und Ausbeutung anderer Menschen zustande gekommen sein könnten. In diesem Sinne legt Richard 307

Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 356, und MÜNCH, Gewinnen, 251. Eine Mine entsprach in etwa hundert Denaren, ein Talent wiederum sechstausend Denaren (vgl. dazu MCBRIDE, Parables, 84). 309 Kapitalerträge von 10–60 % pro Jahr waren möglich, wobei nur ungefähr 15 % üblich waren (vgl. dazu MÜNCH, Gewinnen, 244). 310 ROHRBAUGH, Reading, 35. 308

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Rohrbaugh die Parabel vor dem kulturell-ökonomischen Hintergrund der palästinischen Bauernschicht und dem Prinzip der beschränkten Güter aus.311 „A larger share for one automatically means a smaller share for someone else“.312 Die Vermehrung von Geld komme demnach stets einem Stehlen von Anderen gleich und somit seien alle Reichen ausbeuterisch, gierig und daher böse.313 In diesem Sinne wolle die Parabel vielmehr den dritten Sklaven loben und die ersten beiden sowie den Herrn der Parabel kritisieren.314 Ganz ähnlich bezeichnet auch William Herzog den dritten Sklaven als den Helden der Parabel, der sich gegen das ausbeuterische Gesellschaftssystem auflehne: „When the hero speaks, he utters in the full light of day what he has learned in the dark; he reveals what has been covered beneath the public rhetoric of praise and promise, makes known what has been hidden beneath the mystifications of the elites, proclaims clearly what has only been whispered among the elites and their retainers […] He realizes that he will pay a price, but he has decided to accept the cost rather than continue to pursue his exploitative path.“315

Auch Christoph Kähler sieht in der Furcht des Sklaven „nicht die knechtgemäße Furcht vor einem gestrengen Herrn, sondern die vor einem solchen Blutsauger“316. Denis McBride erkennt ebenfalls im Herrn einen ausbeuterischen Kapitalisten, der von seinen Untergebenen erwartet, sein erbarmungsloses Vorgehen zu imitieren. Der dritte Sklave sei daher der moralische Held der Geschichte, indem er aus diesem Teufelskreis ausbreche.317 Auch Marlene Crüsemann spricht sich für diese sozialkritische Lesart aus und stützt sich dabei auf die Arbeiten von Luise Schottroff, die im dritten Sklaven die Entsprechung der „Schafe“, der Gerechten aus Mt 25,37, sieht, die unbewusst das Rechte tun.318 Bei diesen Auslegungen ist zu beachten, dass sie die jeweils ursprüngliche jesuanische Parabel wiederzugeben suchen, während die Möglichkeit, dass die Evangelisten die Parabel gänzlich anders verstehen, unangetastet bleibt. Dieses Detail darf bei der Abwägung solcher Deutungen nicht außer Acht gelassen werden. Dennoch erscheint es einigermaßen unwahrscheinlich, dass sowohl Mt als auch Lk die Parabel beide auf dieselbe Weise missverstehen. Des Weiteren ist eine empörte, sozialkritische Rezeptionsreaktion auf die Parabel in der Leserlenkung nicht ersichtlich. Zum einen begegnen in der Parabel keine eindeutigen sozialkritischen Aspekte: Es wird geradezu als selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Herr von seinen Sklaven erwartet, 311

Vgl. a.a.O., 32–38. A.a.O., 33 313 vgl. a.a.O., 34 f. 314 Vgl. a.a.O., 38. 315 HERZOG, Parables, 167. 316 KÄHLER, Gleichnisse, 172. 317 Vgl. MCBRIDE, Parables, 84–88. 318 Vgl. CRÜSEMANN, Herrschaft, 56–64; vgl. SCHOTTROFF, Gleichnisse, 293. 312

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dass sie mit dem Geld handeln und es vermehren (vgl. Lk 19,13). Auch in der Rede des dritten Sklaven begegnet keine Sozialkritik: Er begründet sein Verhalten nicht damit, dass er keine anderen Menschen ausbeuten wollte, sondern nur mit seiner Angst.319 Das Tun der Sklaven wird weniger aus der Perspektive anderer – die in der Parabel überhaupt nicht vorkommen –, sondern nur aus dem Blickwinkel ihres Herrn betrachtet. Diese Perspektive gilt es in Rechnung zu stellen, soll die Parabel richtig verstanden werden. So stellt Richard Rohrbaugh bspw. in Frage, dass die Parabel aus der Perspektive des Herrn geschildert werde, und bezeichnet diese Rezeption als eine der westlichen Kultur geschuldete Lesart.320 Doch auch bei objektiver Lektüre fällt auf, dass die Perspektive der beiden ersten Sklaven kaum in den Blick kommt (die Motivation für ihr Handeln oder wie genau dieses Handeln aussieht, wird nicht geschildert), und die Sicht des dritten Sklaven vermag logisch nicht zu überzeugen, wodurch eine Übernahme der Perspektive dieser Figur durch den Rezipienten unwahrscheinlich wird. Die Perspektive des Herrn bleibt demnach von Beginn der Parabel an bis zu ihrem Schluss rezeptionsleitend. Ein weiterer Aspekt: Es geht weniger um den sozialen Hintergrund und um das Wie? des Vermehrens des Besitzes, sondern im übertragenen Sinne um das Vermehren guter Taten, um im Gericht Gottes zu bestehen. Wie der Gewinn zustande kommt, interessiert die Erzählung nicht: Dies wird weder explizit ausgeführt noch treten weitere Figuren auf, weshalb diese auch nicht hineingelesen werden sollten. Es wäre wohl verheerend, die Parabel vollkommen allegorisierend lesen zu wollen.321 Der Gewinn wird außerdem kaum problematisiert. Negative Emotionen wie Neid oder Gier, die dem Herrn und den beiden ersten Sklaven gern unterstellt werden322, kommen in der Erzählung nicht in den Blick: Die beiden Sklaven arbeiten für ihren Herrn, nicht für sich selbst. Und der Herr argumentiert dem dritten Sklaven gegenüber nicht anhand seiner Erwartung an den Sklaven, sondern vielmehr mit dessen eigener Erwartung, der er nicht gerecht wurde. Außerdem bliebe zu fragen, inwiefern das Vergraben, d.h. das Nicht-Nutzen der Gabe Gottes einem Vermehren derselben vorzuziehen sei. Diese Deutung vermag ausschließlich vor dem Hintergrund der bäuerlichen Gesellschaft sinnvoll erscheinen; doch überträgt man das Bild auf das Reich Gottes, muss das Vermehren dem bloßen Erhalt gegenüber doch zweifelsfrei als besser eingeschätzt werden. Dass dieser Transfer in der Parabel angelegt ist, zeigt sich darin, dass im Herrn der Parabel deutlich Jesus Christus selbst zu erkennen ist: Dies legt nicht nur der Kontext nahe, der von Jesu Wiederkehr zum Gericht Gottes spricht (vgl.

319

Vgl. BLOMBERG, Parables, 274. Vgl. ROHRBAUGH, Reading, 35. 321 Vgl. FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 419. 322 Vgl. ROHRBAUGH, Reading, 36. 320

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Mt 24–25)323, Jesu Bezeichnung zunächst als ἄνθρωπος (V. 14) und bei seiner Rückkehr als κύριος (V. 19)324, sondern auch die Metapher der Beziehung zwischen Herr und Sklave, welche die Beziehung zwischen Gott und Mensch abbildet. Die ersten beiden Sklaven werden von Christus selbst als „gut“ und „treu“ bezeichnet. Ihre Belohnung mittels des eschatologischen Freuden-Motivs sowie die Bestrafung des dritten Sklaven mittels göttlich-eschatologischer Höllen-Motive lassen dann kaum den Schluss zu, dass hier eine Kritik vorliegt, welche die Rollen der Figuren umkehrt. Die beiden ersten Sklaven werden positiv geschildert und der Rezipient soll entsprechend ein sympathisches Urteil über sie fällen. Dies bestätigt sich in den Versen 21 und 23, welche überdies deutlich machen, dass es keine Rolle spielt, ob man nun jener mit zehn oder jener mit vier Talenten ist. Das Lob ist dasselbe, der Lohn der gleiche, die Freude gleich groß. „Die Abrechnung geschieht nicht nach Maßgabe ihres Erfolges. Maßgebend ist nur, dass sie den Anspruch der Gelder wahrgenommen haben.“325 Damit ist in der Erzählung angelegt, dass der Rezipient sich im Verlauf der Erzählung in diese Figuren hineinversetzt und ihren Stolz und ihre Freude empfindet. Genau dieses Mitempfinden unterstützt den pragmatischen Rezeptionsvorgang beträchtlich und spornt zu eigenem Handeln an. Darüber hinaus ruft die Gleichheit der Belohnung die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (20,1–16) ins Gedächtnis, wodurch sich die positiven Emotionen noch verstärken. Jedem, der sich bemüht, ist Gottes großzügiger Lohn sicher. Diese Sicherheit und antizipierende Freude sollen zum Handeln motivieren und die beiden Sklaven als Vorbilder darstellen. Diese Überlegungen hinsichtlich sozialkritischer Auslegungsversuche der Parabeln Jesu lassen sich mit der Beobachtung beschließen, dass eine Kritik an den gesellschaftlichen Kapitalverteilungsstrukturen in den Parabeln des Mt nicht ohne Missachtung der Textgestaltung gesehen werden kann. Denn, um mit Roland Deines zu sprechen, „the rich characters in the parables are not necessarily the ‚bad guys‘. They are mostly described in neutral terms“326. Und entsprechend „the less-well-off are not necessarily the good ones. Quite the opposite can be said, as mercilessness (or indifference) is neither a common nor an exclusive characteristic of the rich, as Matthew 18:29–33 and 20:11f. unequivocally make clear: The one freed generously by the king from his huge debts pursues his own debtor mercilessly for a rather small sum, and the workers in the vineyard are described as begrudging their fellow workers’ generous pay. Furthermore, in the parable about the tenants in the vineyard (Mark 12:1–

323

Vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 198. Vgl. MCBRIDE, Parables, 84 f. 325 WEDER, Gleichnisse, 204 (Hervorhebung im Original). 326 DEINES, God, 333. 324

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

12), the tenants are the ‚bad guys‘ who mutilate and finally kill those who want to collect the profit“327.

Die letzte Bemerkung trifft auch für die mt Version der Parabel zu (vgl. Mt 21,33–41). Die Leserlenkung legt demnach ein positives empathisch-sympathetisches Urteil über die beiden ersten Sklaven nahe, das sich letztlich in ihrer Belohnung bestätigt und zu ethisch-pragmatischem Ansporn führt. Dass die Figuren letztlich aufgefordert werden, die Freude ihres Herrn und d.h. letztlich der Mensch dazu aufgefordert wird, an der Freude Gottes selbst teilzuhaben, intensiviert die Rezeptionsemotionen auf besondere Weise und bringt die Freude als das zentrale Element der Erzählung zu ihrer vollen Entfaltung. Der Rezipient hofft, selbst einmal von Gott als „gut“ und „treu“ bezeichnet und so großzügig belohnt zu werden. Dementsprechend sind folgende beabsichte Rezeptionsemotionen, welche die ersten beiden Sklaven auslösen, feststellbar: Wertschätzungs-Emotionen (Bewunderung), externale ErwartungsEmotionen (Hoffnung auf und Befriedigung angesichts ihrer Belohnung), Empathie-Emotionen (Mitfreude bei der Belohnung der Sklaven) und internale Erwartungs-Emotionen (Hoffnung, Vorfreude auf ein ähnliches, positives Schicksal). c) Der dritte Sklave Der dritte Sklave wird in konsequenter Abgrenzung von den ersten beiden geschildert. Dies zeigt sich schon sprachlich am wiederkehrenden δέ (V. 18.24), welches den Rezipienten darauf vorbereitet, dass dieser Sklave anders handelt als die beiden ersten. Hier sei angemerkt, dass man diese Abgrenzung schon im Laufe der Texttradition sah, weshalb das δέ in V. 22 von einigen Handschriften ausgelassen wird. Zwar ist das δέ den äußeren Kriterien nach besser bezeugt, doch ist m.E. nicht auszuschließen, dass es um der parallelen Ausdrucksweise der V. 22 und 24 willen recht schnell Eingang in den Text fand, obgleich es die eigentliche Intention des Textes (Parallelität des ersten und zweiten Sklaven gegenüber Abgrenzung des dritten) verschleiert. Vermittels dieser sprachlichen Absetzung soll der Rezipient den dritten Sklaven in aufmerksamer Vorsicht betrachten. Darüber hinaus sensibilisieren die vorausgehenden Parabeln und die mt Vorliebe für starke, dualistische Gegensatzdarstellungen dafür, ein negatives Pendant zu den ersten Sklaven zu erwarten.328 Dies zeigt sich bereits in der ersten Situation: Der Herr übergibt dem dritten Sklaven nur ein Talent und damit viel weniger als den anderen beiden. Anhand des Zusatzes „einem jeden nach seiner Fähigkeit“ wird der Rezipient hier bereits aufmerksam für eine mögliche negative – zumin327 328

Ebd. Vgl. HEILIGENTHAL, Gott, 87.

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dest negativere als die der beiden ersten Sklaven – Charakterisierung des letzten Sklaven.329 In der zweiten Situation wird dies sogleich ersichtlich: Im Gegensatz zu den handelnden Sklaven vergräbt er sein empfangenes Talent in der Erde (V. 18). Er will offensichtlich „auf Nummer Sicher“ gehen, ohne selbst tätig zu werden. Hierzu wird an dieser Stelle noch nichts über seine Beweggründe ausgesagt. Genauso unklar ist, welche Emotionen diese knappe Schilderung im Rezipienten auslöst bzw. ob sie überhaupt Emotionen weckt. Das Handeln des dritten Sklaven steht, wie bereits betrachtet, im direkten Gegensatz zu dem der ersten beiden, und die Leserlenkung legt nahe, dass es im Vergleich zu deren Handeln negativ zu bewerten ist. Doch noch hält sich der Text zurück zu begründen, inwiefern es falsch ist. Der damalige Rezipient weiß, dass das Vorgehen dieses Sklaven legal und möglich ist. Wieso entsteht dann der Eindruck, es sei im Vergleich zu dem der ersten beiden schlechter? Diese Spannung muss der Rezipient vorerst aushalten, schildert die Parabel doch zunächst die Abrechnungen mit den ersten beiden Figuren, die ganz entsprechend der Erwartung des Rezipienten ausfallen und durch die Wiederholung „als retardierendes Moment“ die Spannung noch steigern.330 In V. 24 endlich, wiederum angezeigt durch das absetzende δέ, wird die Spannung gelöst:331 Der dritte Sklave tritt vor seinen Herrn und rechtfertigt sein Tun. Nur bei dieser Figur wird der oben erwähnte, klare Aufbau ihrer Darstellung unterbrochen, indem sie ihr Tun verteidigt. Dies tut sie mittels ihres Wissens bzw. ihrer Meinung über ihren Herrn und ihrer Emotionen. Ob die Meinung, die der Sklave von seinem Herrn hat, berechtigt ist, bleibt zunächst offen. Dass er sich von seiner Angst leiten ließ, dürfte jedoch die Ahnung des Rezipienten, dass diese Figur die negative Kontrastfigur der Erzählung ist, bestätigen. „Tatsache bleibt jedoch, dass er sich fürchtet. Deshalb handelte er so, dass er seine Sicherheit bewahrte. Oder, um genauer zu sein, er handelte so wenig wie möglich.“332 Berücksichtigt man das antike Verständnis von Emotionen, die weitgehend als vom rechten Handeln abhaltende, dämonische Mächte galten, musste dieser ängstliche Charakterzug der Figur beim zeitgenössischen Rezipienten auf starke Ablehnung stoßen. Dass hier eine negative Charakterisierung der Figur vorliegt, bestätigt auch ein Vergleich mit Lk 19, wo die Ausdrucksweise variiert und ἐφοβούµην γάρ σε (Lk 19,21) verwendet wird. „Damit wird auf die Formel ‚Gott fürchten‘ angespielt“333, das gläubige Menschen im AT

329

Gegen Ulrich Luz, der davon ausgeht, dass die Rezipienten an dieser Stelle nur „mit üblicher erzählerischer Variation gerechnet haben.“ (LUZ, Evangelium III, 507). 330 A.a.O., 495. 331 Vgl. TURNER, Matthew, 601. 332 VIA, Gleichnisse, 116. 333 BINDEMANN, Herr, 132.

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auszeichnet. Mt macht von diesem Ausdruck hier nicht Gebrauch, um dem Rezipienten keinen Anlass zu geben, die Figur positiv zu bewerten.334 Schließlich ist bei einer Deutung des Despositums auf die Lehre Jesu zu bedenken, dass im jüdischen Kontext, Gottes Wort zu studieren und seine Gebote zu halten, stets Grund zur Freude ist, nicht zur Furcht.335 Die Angst des Sklaven ist folglich durch und durch negativ zu beurteilen. Bei der Rechtfertigungsrede des Sklaven fällt im Vergleich mit Lk auf, dass dieser die genau umgekehrte Reihenfolge wählt336: Tabelle 10: Vergleich des Geschehensablaufs von Mt 25,24 f. und Lk 19,20 f. 1. 2. 3. 4.

Mt 25,24 f. Bild vom Herrn Nennung der Angst Beschreibung des Handelns Rückgabe des Geldes

Lk 19,20 f. Rückgabe des Geldes Beschreibung des Handelns Nennung der Angst Bild vom Herrn

Es ist m.E. nicht sinnvoll, darüber zu spekulieren, wer hier die ursprüngliche Reihenfolge erhält und wer Änderungen vornimmt. Dagegen ist es durchaus angebracht zu fragen, welche Auswirkungen die unterschiedliche Reihenfolge auf das Darstellungsziel der Erzählung hat. Am Ende der Argumentation des mt Sklaven steht sein Handeln: Er vergrub das Geld in der Erde und kann es jetzt zurückgeben. Geht man von einer klimaktischen Stilisierung aus, kann man vermuten, dass Mt den Fokus stärker als Lk auf das Handeln des Sklaven legt, während es Letzterem mehr auf die Motivation seines Handelns ankommt. Damit deckt sich auch der Befund, dass sich die mt und lk Subjekte an dieser Stelle unterscheiden: Während in Mt 25,20.22 die Sklaven das Geld vermehren, vermehrt sich dieses in Lk 19,16.18 selbst. Auch betont der bei Mt fehlende explizite Auftrag des Herrn an seine Sklaven, mit dem Geld zu wirtschaften (vgl. Lk 19,13), dass es nicht auf bloße Pflichterfüllung, sondern auf eigenes, initiatives Handeln ankommt. Die Begründung des Sklaven muss für den Rezipienten jedoch unbefriedigend sein, mangelt ihr es doch an schlüssiger Logik: Er kennt seinen Herrn als einen „harten“ Herrn, der „erntet, wo er nicht gesät, und sammelt, wo er nicht ausgestreut hat“ (V. 24); deshalb fürchtet er sich und vergräbt das Talent in der Erde, um es ihm nun unbeschadet zurückgeben zu können (V. 25). 334

Vgl. KÄHLER, Gleichnisse, 186. Vgl. SCOTT, Parable, 233. 336 Vgl. dazu Alfons Weiser, der die Argumentation in Motiv, Verhalten und Folge einteilt, wobei er die Emotion nicht eigens abtrennt, sondern sie zum Verhalten hinzunimmt (vgl. WEISER, Knechtsgleichnisse, 245). M.E. ist ein Abtrennen der Furcht jedoch angebrachter, denn sie dient als Bindeglied zwischen Motiv und Verhalten und kann nicht eindeutig dem einen oder anderen zugeordnet werden. Der Sklave fürchtete sich aufgrund seiner Einschätzung seines Herrn und er handelte aufgrund dieser Furcht (nicht). 335

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Zwei Dinge dürften dem aufmerksamen Rezipienten an dieser Argumentation auffallen: Erstens wirft er dem Herrn etwas vor, was offensichtlich nicht stimmt. Selbst wenn der Herr am Handel, durch den seine Sklaven sein Vermögen vermehren, nicht direkt beteiligt ist, so ist er es doch, der die Summe bereitstellt. Er hat demnach durchaus gesät und ausgestreut.337 Darüber hinaus muss der Sklavenstatus berücksichtigt werden: Sie sind seine direkten Untergebenen und ihr Gewinn ist somit auch immer der seine.338 Ob den Rezipienten das Tun des Herrn als anstößig und der Herr als jemand erscheinen mag, der „ungerechtfertigte Gewinne“ mache,339 ist m.E. höchst unwahrscheinlich, zumal die Formulierung an die Aussaat-Parabeln erinnert, in denen Gott ebenfalls sät und erntet, was keinesfalls negativ konnotiert ist (vgl. 13,1–9.18–32.36–43). Zweitens fällt sofort der Fehler der Logik des dritten Sklaven auf: Wenn er doch annahm, dass sein Herr ein Vermehren seines Besitzes erwartete, erscheint seine Reaktion des Nichtstuns vollkommen unangemessen. Wäre es nicht klüger gewesen, das Risiko des Handelns einzugehen und wenigstens die Chance auf Gewinn zu haben, statt die Erwartung des Herrn von vornherein zu enttäuschen? War das Bild, das er von seinem Herrn hatte, so furchteinflößend, dass er im Falle des Verlustes des Talents eine härtere Strafe befürchtete als im Falle des offensichtlichen Ignorierens seiner Erwartung?340 Ein empathisch-sympathisches Urteil wird dadurch extrem erschwert, und die folgende Antwort des Herrn bestätigt das negative Bild, indem sie den Logikfehler des Sklaven explizit aufdeckt und ihn überdies dreifach negativ charakterisiert: Er ist „böse“ (πονηρός), „träge“ (ὀκνηρός) und „unnütz“ (ἀχρεῖος). Spätestens aufgrund dieser direkten Charakterisierung durch den Herrn, d.h. im Endeffekt durch Christus selbst, soll sich der Rezipient vollends von der Figur dieses Sklaven abgrenzen. Selbst wenn er dessen Angst in gewissem Maße nachvollziehen kann, will er dennoch nicht so sein wie er. Die Strafe, die den Sklaven nun ereilt, erscheint folgerichtig: Wenn er mit dem Talent nichts anzufangen weiß, will der Herr es einem Sklaven geben, der erfolgreicher gehandelt hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Rezipient über diese Konsequenz zunächst Zufriedenheit empfindet. Auch hier ist kein Grund ersichtlich, warum der Rezipient in V. 29 einen Affront sehen sollte, als spiegele sich darin die frustrierende soziale Ungerechtigkeit, nach welcher die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden.341 Das Logion ist geradezu „gegensinnig – als Hoffnung – auf die religiöse Ebene [zu] übertragen. Als Doppelspruch benennt sie die eschatologische Erwartung, dass menschliche Treue auf Erden sich bis ins 337

Vgl. KLAIBER, Matthäusevangelium, 198, und KONRADT, Evangelium, 388. Vgl. ebd. 339 LUZ, Evangelium III, 501. 340 Vgl. JEREMIAS, Gleichnisse, 58. 341 Vgl. MÜNCH, Gewinnen, 242. 338

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Endgericht wider alle Hiob-Erfahrung als bleibendes Verhältnis zu Gott bewahrheitet. Zugleich wird aber noch auf der Bildebene die Gefahr statischen Verständnisses (GlaubenHaben als Besitz) durch die Markierung des Prozesses und des Gabecharakters abgewehrt.“342

Man sollte nicht vergessen, dass die Parabel – so ihr großer mt Kontext – vom Reich Gottes erzählt. Der profan-alltägliche Hintergrund dient der Veranschaulichung eines überirdischen Sachverhalts und darf m.E. nicht überbetont werden. Robert Gundry formuliert demgemäß sehr treffend: „The portrait of the master as taking what does not belong to him should bother us no more than the comparison of Jesus’ coming to that of ‚a thief in the night‘ bothers us. The point of comparison does not have to do with thievery, but with unexpectedness. So also here, the portrait has to do with the forcefulness of Jesus’ demand for good works, not with the ethics of taking what belongs to others.“343

In diesem Zusammenhang sei ein kurzer Blick auf die interessante Deutung der Parabel von Markus Locker geworfen.344 Er ist der Ansicht, die Parabel handle – genau wie die vorausgehende von den zehn Jungfrauen – vom Teilen: Hätte der erste Sklave seine Talente mit dem dritten geteilt, sodass auch dieser wenigstens zwei Talente gehabt hätte, hätte er dessen Angst lindern und ein aktives Handeln erleichtern können.345 Er interpretiert mehrere der tragischen Parabeln auf diese Weise: „Like the reader’s experience brought into the interpretation to the parables of the talents, the reader of the tragic parables could creatively assume the role of the inviting servant (Mt 22,3) as well as the wise virgins (Mt 25,4). The knowledge that the king judges his guests according to proper clothing (ἐνδύμα in Mt 22,11) brings any servant to the realization to provide these necessary garments for those who he invites of the streets […]. And as shown above, knowing how foolish some persons can be, will likewise lead any reader who enters into the parable of the foolish virgins to bring an extra ration of oil on the journey. In both cases, these realizations offer new possibilities to transform these two parables from tragedy into comedy, in due course depicting a world in which also foolish and unprepared people will find redemption.“346

Diese Auslegung ist zweifellos interessant. Doch ist sie im Kontext des MtEv glaubwürdig? Obgleich Nächstenliebe, die sich aktiv für den Mitmenschen einsetzt, ein für Mt durchgehendes Anliegen ist (vgl. 5,9.38–48; 18,5.12–14.15–20; 25,37–40), darf darüber nicht ignoriert werden, dass das Mt-Ev auch das Bild vermittelt, dass es einigen gegeben ist, das Reich der Himmel zu erben, und anderen nicht. Dass Letzteren geholfen werden kann oder soll, widersprechen Stellen wie 13,10–15 – und hier muss beachtet wer342

KÄHLER, Gleichnisse, 185 (Hervorhebung im Original). GUNDRY, Matthew, 508. 344 LOCKER, Parable. 345 Vgl. a.a.O., 168. 346 A.a.O., 172. 343

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den, dass die Parabel von den anvertrauten Geldern gerade auf diese Stelle anspielt (vgl. 25,29 = 13,12)! –, sowie 20,16 und 22,14 („Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte“), ferner 21,19 (Verdammung des Feigenbaums), 24,22 (die Endzeit wird nur um der Auserwählten willen verkürzt), 24,38–41 (Dualismus bei der Wiederkunft Christi) und schließlich die Parabeln selbst: Die Parabeln vom Unkraut auf dem Acker (13,24–30.36–43), vom unbarmherzigen Sklaven (18,24–35), von den Weingärtnern (21,33–40), vom treuen oder bösen Sklaven (24,45–51) und letztlich die von den anvertrauten Geldern vermitteln geradezu das Bild, dass es Menschen gibt, die sich in all der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit nicht ändern. Trotz aller Rufe und Aufträge des Herrn erkennen sie nicht, was ihre Aufgabe ist, und handeln falsch. Dass die Gläubigen und Gerechten, die die Botschaft Gottes verstanden haben, sich um diese kümmern sollen, wird indes nicht deutlich. Allenfalls 18,15–17 und 18,31 sprächen gegebenenfalls für eine solche Auslegung. Schließlich dürfen m.E. die zahlreichen Anwendungen der Parabeln, die an ihrem Ende stehen, nicht außer Acht gelassen werden, welche den ausschlaggebenden Punkt der Erzählungen explizieren. Verse wie 18,35; 21,43; 22,14; 24,44; 25,13 nehmen eine allgemeine Perspektive ein: Es gibt grundsätzlich zwei Sorten von Menschen, denen ein unterschiedliches Schicksal im Gericht Gottes bevorsteht. Dabei klingt der Grundtenor am Ende der Parabeln eher so, als müsse jeder Einzelne für sich gewährleisten, zu den Auserwählten zu gehören: „Das Gleichnis vom anvertrauten Geld appelliert an seine Hörer, ihre Identität zu überdenken und zu verändern.“347 Schließlich sprechen auch die Einleitungen der Parabeln, die einen positiven Vergleich zwischen Parabel und Reich Gottes suggerieren, gegen Markus Lockers Lesart. Würden die Parabeln die Botschaft vermitteln, es solle gelernt werden, den Ausgang der Parabeln zu vermeiden, indem den tragischen Figuren geholfen werde, wäre das Reich Gottes eben gerade nicht wie die Geschichte. Das Reich Gottes wäre dann zu vergleichen mit Sklaven, die ihrem unbarmherzigen Kollegen dabei helfen zu vergeben; mit einem guten Diener, der die Gäste seines Herrn mit angemessener Kleidung für ein Fest ausstattet; mit fünf Jungfrauen, die ihren weniger klugen Freundinnen von ihrem Öl abgeben, sowie mit klug wirtschaftenden Sklaven, die ihrem ängstlichen Mitsklaven dabei helfen, seine Angst zu überwinden. Aus dieser Perspektive werden die Parabeln jedoch nicht erzählt und die Einleitung ist dennoch eine positive. Doch müsste es im Falle dieser Auslegung nicht eigentlich heißen: „Das Reich der Himmel wird nicht sein wie…“ (25,1), oder „denn es ist nicht wie bei einem Menschen, der…“ (25,14)? Obgleich m.E. eine negative Rezeption des dritten Sklaven in der Parabel deutlich intendiert ist und der Rezipient sich von diesem distanzieren dürfte, darf hier noch nicht stehen geblieben werden. Denn trotz der Abgrenzung des 347

BINDEMANN, Herr, 139 (Hervorhebung T.D.).

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Rezipienten vom dritten Sklaven und der offensichtlich durch den Text hervorgerufenen Antipathie gegenüber dieser Figur wendet sich das Blatt – ganz ähnlich wie in der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51) – noch einmal am Ende der Parabel: Denn die Bestrafung des Sklaven ist noch nicht beendet. Ihm wurde das Talent weggenommen, doch damit nicht genug. Der Herr ordnet überdies noch an, ihn hinauszuwerfen „in die äußerste Finsternis“, wo „Weinen und Zähneknirschen“ herrschen werden (V. 30). Diese drastische Bestrafung ist in kritischem Verhältnis zum Verhalten des Sklaven zu betrachten: Hatte er nicht einfach nur Angst und konnte im Bann dieser Emotion offensichtlich nicht klar denken? Und hat er nicht trotz allem legal gehandelt? Seine Angst vereinnahmte ihn vollkommen, paralysierte ihn, besiegelte schließlich sein Schicksal und machte seine Befürchtung zu einer self-fulfilling prophecy. Wie bereits festgestellt, kann ihm vollkommene Unfähigkeit nicht unterstellt werden, denn sonst hätte ihm sein Herr überhaupt kein Geld anvertraut.348 Seine Angst hält ihn davon ab, sich (weiterhin) zu bewähren. Eine solche paralysierende Angst hat sicher jeder Mensch schon einmal erlebt, und der Rezipient wird hierdurch in die Lage versetzt, die Situation des Sklaven trotz aller Abneigung – zumindest ein Stück weit – nachzuvollziehen. Gerade die erbarmungslose Unfähigkeit oder die willentliche Ablehnung jeglicher Empathie aufseiten des Herrn weckt dieses im Rezipienten.349 Der Herr bringt keinerlei Verständnis für die Angst des Sklaven auf. Er sieht nur das Resultat: Der Sklave ist zu nichts nütze, er bringt keinen Gewinn, er ist dem Herrn nichts mehr wert, er wird verstoßen. Die Unverhältnismäßigkeit der Strafe zur begangenen Tat legt nahe, dass sich an dieser Stelle die anfängliche Genugtuung in Mitleid wendet.350 Dies unterstützt die Erzählung gekonnt durch die emotional starke Aufladung der hier verwendeten Begriffe „Finsternis“ und „Weinen und Zähneknirschen“.351 Dass eine Innenperspektive der Figur übernommen wird, bleibt zwar weiterhin unwahrscheinlich, doch dürften zu den bisherigen reinen WertschätzungsEmotionen (Verachtung, weil er nicht gewinnbringend handelt wie die andern beiden) neue Emotionen hinzukommen wie etwa Empathie-Emotionen (Mitleid), externale Attributions-Emotionen (Bestürzung über die als allzu hart

348 Diese Veränderung des Sklaven aufgrund seiner emotionalen Disposition sieht auch Denis McBride, auch wenn er dabei betont, die Furcht richte sich gegen „his master’s harshness in business dealings“, die er nicht imitieren wolle und interpretiert sein Vergraben des Talents durchaus positiv „as a way of limiting what he feared, his master’s power“ (MCBRIDE, Parables, 87). 349 Dass der Sklave mit seiner Furcht an das Mitgefühl des Herrn appelliert, das jedoch ausbleibt, sieht auch Christian Münch (vgl. MÜNCH, Gewinnen, 241). 350 Vgl. MEES, Struktur, 99. 351 Zum Motiv der „Finsternis“ s.u. Kap. 5.5.3.3; zum Motiv des „Weinens und Zähneknirschens“ s.o. Kap. 5.4.2.2.

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empfundene Strafe) und externale Erwartungs-Emotionen (Furcht vor dem Gericht Gottes). Der Rezipient könnte hier auf die Legalität des Handelns des Sklaven verweisen: Rechtlich gesehen hat er nichts falsch gemacht, und im Vergleich zu der lk Version der Parabel hat er auch keinen expliziten Auftrag seines Herrn ignoriert.352 Dies mag nicht nur zu einer schockierten Reaktion aufseiten des Rezipienten führen.353 Er kann sich nun für die Figur sogar starkmachen, die Situation doch aus seinen Augen wahrnehmen oder wenigstens als ihr Anwalt auftreten. Das Ergehen des dritten Sklaven war so lange gerechtfertigt, als es im rechten Maßstab zu seinem Vergehen stand. Er hat seine Chance zum Handeln nicht genutzt, das ihm Übergebene nicht vermehrt, infolgedessen wird es ihm entzogen. Doch V. 30 geht über dieses Maß weit hinaus: „The sentence now passed on the slave is no part of the picture of financial reckonings.“354 Von der äußersten Finsternis gibt es keine Rückkehr mehr. Der Sklave ist verloren.355 Er kann nicht mehr aus seinen Fehlern lernen, nichts mehr wiedergutmachen. Letztlich ist es der Transfer des Geschehens der Erzählung auf das Endgericht Gottes, der die Ernsthaftigkeit und Tragik der Erzählung unterstreicht und dem Rezipienten den Blickwinkel des dritten Sklaven eröffnet. Das Mitleid, das sich nun für diesen einstellt, führt zu einer unwillkürlichen Präventivhaltung („So soll es mir nicht ergehen!“) und verstärkt die Pragmatik des Textes erheblich. Die Neuigkeit über das Reich Gottes, die durch die Parabel vermittelt wird, mag für den Rezipienten angesichts der zum Vergleich herangezogenen Alltagswelt zunächst irritierend und empörend sein: Mag ein bloßes Verwahren von Anvertrautem dort gebilligt werden, ist es bei Gott nicht genug. Gerade an der schmerzlichen Veranschaulichung des Schicksals des Sklaven lernt der Rezipient, dass es Gott auf die guten Taten eines Menschen ankommt. Diese aus Sicherheitsstreben und Ängstlichkeit zu unterlassen kommt der Sünde, d.h. der Trennung von Gott gleich, weil sie seine Gabe verachtet. Nichts zu tun reicht nicht aus, um in Gottes Gericht zu bestehen. Auf diese Weise kommt die Parabel erst durch ihre emotive Wirksamkeit zu ihrer vollen Entfaltung. Man stelle sich vor, die Parabel endete mit V. 29: Ohne den letzten, den Rezipienten emotional ansprechenden Vers bleibt es äußerst fraglich, ob die Pragmatik des Textes, welche zur wachsamen Selbstreflexion aufruft, wirksam würde. Die bildhafte Anschaulichkeit der Erzählung sorgt dafür, dass ein empathisch-affirmatives Urteil ausgelöst und der Figur nun Mitleid entgegengebracht, ggf. sogar Furcht vor dem Gericht Got352

Vgl. ERLEMANN, Bild, 199. Vgl. BLOMBERG, Parables, 272. 354 BEARE, Gospel, 491. 355 Vgl. MCBRIDE, Parables, 87. 353

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tes ausgelöst wird. Hier kann man mit Walter Klaiber „fragen, ob solche Drohungen nicht gerade solche Ängste auslösen, die den dritten Sklaven gelähmt haben“356. Auch Ulrich Luz ist der Ansicht, dass die Angst als paradoxes Phänomen in der Parabel begegne, da sie einerseits „ein schlechter Ratgeber“ sei und überwunden werden müsse, andererseits aber am Ende der Parabel stünde und in den Rezipienten ein Handeln vielleicht nur deshalb auslöse, „weil sie sich vor dem ‚Heulen und Zähneknirschen‘ fürchten“357. Dieser Eindruck entsteht leicht, betrachtet man ausschließlich die emotive Motivierungsstrategie des Mt. Diese ist in V. 30 in der Tat eine mit der Furcht operierende, während V. 25 geradezu vor der Furcht warnt. Doch ist es nicht die Furcht per se, die Mt hier kritisiert und sodann wiederum gutheißt, sondern es sind vielmehr die handlungspragmatischen Auswirkungen der Furcht. Es wird kritisiert, dass die Angst des dritten Sklaven zu paralysierter Untätigkeit führt: „Fear, if allowed to dominate a disciple’s life, brings on a paralysis of good works; there is no growth.“358 Resultiert sie aber in handlungsbereiter Wachsamkeit, ist sie durchaus ein sinnvolles Instrument der ethischen Motivation. Furcht kann somit hilfreich oder aber fatal sein. Während Texte wie Mt 18,23–35 und Mt 24,45–51 die positive Konsequenz der Furcht aufzeigen, deckt die hier betrachtete Parabel eine mögliche Fatalität der Angst auf und macht dem Rezipienten klar, wie verhängnisvoll es ist, sich der Angst zu ergeben. In den noch folgenden Betrachtungen ist daher die Begriffsdifferenzierung zwischen Furcht und Angst ausschlaggebend, um die Furcht, welche Mt oft zur Motivierung zur Wachsamkeit anwendet, von der in dieser Parabel kritisierten Angst, die am Handeln hindert, zu unterscheiden. Dieser Zusammenhang zwischen Furcht und Wachsamkeit ist hier besonders interessant: Wie bereits erläutert, erhöhen eine punktuelle, zielgerichtete Furcht vor einem bestimmten Objekt (state-Angst) als auch die längerfristige Ängstlichkeit im Sinne der trait-Angst die Wachsamkeit.359 Doch differenziert Mt auch diese Wachsamkeit weiter aus, indem er diese in einem altruistischen, am Umfeld orientierten Sinne einfordert (vgl. 18,33; 24,46) und sie in egoistischem Selbstbezug kritisiert (25,25). Somit versteht Mt wahrhaft gute Wachsamkeit immer als eine aktive Handlung: die konstante, Jesu Nächstenliebe umsetzende Handlungsbereitschaft, die ganz auf den Mitmenschen gerichtet ist und wachsam das eigene Handeln anhand göttlicher Maßstäbe überprüft. Für dieses Handeln ist die paralysierende Wirkung von Angst kein hilfreicher Faktor. Im Gegenteil: Sie hindert am rechten Handeln, weil sie nur die Wachsamkeit für die eigene Sicherheit erhöht, den Mitmenschen aber aus dem Blick verliert. Gerade aber für Menschen, für die das Wohl des 356

KLAIBER, Matthäusevangelium, 200. LUZ, Evangelium III, 509 f. 358 MEIER, Vision, 176. 359 S.o. Kap. 4.2.2.1. 357

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Nächsten keine ausreichende Motivation darstellt, verfasst Mt diese Parabel: Sie deckt auf, dass auch die Wachsamkeit für die eigene Sicherheit im Endeffekt zum Handeln führen muss – denn Nichtstun ist nicht Sicherheit, sondern Grund für das Nichtbestehen in Gottes Gericht. Wer also ängstlich auf das eigene Wohl bedacht ist, sollte erst recht sein Handeln überwachen und aktiv werden, hängt doch sein eschatologisches Schicksal davon ab. Angesichts dieser Überlegungen ist die Furcht nicht unbedingt so „paradox“, wie es zunächst scheinen mag, sondern sie wird lediglich hinsichtlich ihrer Folgen problematisiert. Angst wird als unlogische und am rechten Handeln hindernde Emotion entlarvt und ist insofern gefährlich, als sie sich selbst nährt und erfüllt. Angst vor Strafe löst im Endeffekt genau diese aus. Obgleich die drohende ewige Verdammnis am Ende der Parabel steht, durch welche das Schicksal des dritten Sklaven dem Rezipienten narrativ-emotiv in ihrer vollständigen Tragweite bewusst wird, sieht sich der Mensch einer Entscheidung gegenüber: paralysiert vor Angst, sich diesem Schicksal hinzugeben oder aber sein Handeln zu überprüfen und sich aktiv darum zu bemühen, wie einer der ersten beiden Sklaven zu sein. d) Der Herr Letztlich ist noch zu fragen, welche Emotionen die Figur des Herrn auslöst. Wie bereits bei den beiden zuvor besprochenen Parabeln erschweren einige Aspekte die Empathie des Rezipienten dieser Figur gegenüber: Erstens kann sich ein zeitgenössischer Hörer der Parabel weniger wahrscheinlich mit einem reichen Hausherrn identifizieren, und zweitens ist diese Figur anhand verschiedener, bereits oben genannter Transfersignale auf Christus zu deuten. Nicht so sehr aufgrund emotional antipathischer Abgrenzung, sondern vielmehr aufgrund eines unpassenden Rollen-Frames wird der Rezipient eine mehr abgrenzende Haltung zu der Figur einnehmen und sie mehr aus einer Außen- denn Innenperspektive verfolgen.360 Der Herr übergibt vor seiner Abreise drei Sklaven einen bestimmten Betrag seines Vermögens und verreist dann „für lange Zeit“. Dass er dabei „einem jeden nach seiner Fähigkeit“ unterschiedliche Geldsummen zuteilt, vermag ein positives Bild der Figur zu zeichnen: Der Herr kennt seine Sklaven 360 Dass der Herr eine negative Figur ist, die als Heide betrachtet werden muss, weil sie das Zinsnehmen nicht gemäß jüdischer Sitte verurteilt (Ex 22,24; Lev 25,36 f.; Dtn 23,20 f.; Ez 18,17; vgl. dazu MÜNCH, Gewinnen, 245), geldgierig und rücksichtslos und ausbeuterisch nur am eigenen Gewinn orientiert ist, ist aufgrund der Transfersignale auszuschließen. Hier soll nicht weiter diskutiert werden, ob die Zinsnahme für die zeitgenössischen Rezipienten wohl negativ auffiel oder bereits zum wirtschaftlichen Alltag zählte (vgl. dazu KÄHLER, Gleichnisse, 174–179). Dass die Parabel hierdurch ein kritisches Gottesbild zeichnen will, ist m.E. äußerst unwahrscheinlich (vgl. SNODGRASS, Stories, 68 f.). Dagegen ist anzunehmen, dass auch hier eine zu strenge allegorisierende Auslegung dem Verständnis der Parabel das Genick bricht (vgl. LAMBRECHT, Treasure, 233).

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und will sie nicht überfordern.361 Der Auftrag, mit dem Geld zu wirtschaften, schwingt implizit mit: Schon die Einschätzung der „Fähigkeiten“ der einzelnen Sklaven legt dem Rezipienten nahe, dass etwas mit den Talenten getan werden soll. Insgesamt wird in diesen ersten Versen ein neutraler, fairer Eindruck vom Herrn der Sklaven vermittelt: Er vertraut seinen Sklaven einen sehr hohen Geldbetrag an und achtet darauf, damit niemanden zu überfordern. Nach langer Abwesenheit kehrt er zurück und „rechnet mit seinen Sklaven ab“. Auch in dieser Szene wird der Herr zunächst sehr positiv dargestellt: Er lobt seine beiden ersten Sklaven als „gut“ und „treu“, verspricht, ihnen noch mehr anzuvertrauen, und fordert sie auf, „in seine Freude einzugehen“. Das Bild eines fairen Herrn wird bestätigt: Wer sich verdient gemacht hat, wird belohnt und auch in Zukunft von dieser Bewährung profitieren. Die Freude zeichnet ihn zusätzlich als sympathische Figur aus (vgl. die Version in Lk 19, in welcher keine emotionale Reaktion des Herrn beschrieben ist). Er freut sich am Erfolg seiner Sklaven, der letztlich auch Erfolg für ihn bedeutet. Doch er streicht den Gewinn nicht nur ein und freut sich dann allein daran, sondern er gibt vom Gewinn erneut ab, verspricht ihn seinen Sklaven und möchte, dass sie sich mit ihm freuen. Auf diese Weise schildert der Text eine reziprok optimale Beziehung zwischen Herr und Sklave. Dementsprechend dargestellt dürfte die Figur des Herrn beim Rezipienten positive Emotionen wecken. Der Transfer der Parabel intensiviert diese Emotionen zusätzlich: Im zurückkehrenden und abrechnenden Herrn kann Jesus gesehen werden, und derjenige, der Jesu Lehre angenommen und ihr gemäß gehandelt hat, darf sich bereits jetzt an seinem ihm gewissen Lohn freuen. Dadurch dass Jesus wiederkehrt, um Gottes Gericht auszuführen (24,36; 25,31), darf letztlich Gott selbst hinter der Figur des Herrn erkannt und Aussagen über das mt Gottesbild angestellt werden: Gott ist ein großzügiger Gott, der keinen Menschen überfordert, ihn für sein rechtes Tun und seinen Fleiß überreichlich belohnt und sich mit dem Menschen gemeinsam über dessen Heil freut. Dieses positive Bild wandelt sich beim Auftritt des dritten Sklaven. Dessen Vorwurf, der Herr sei hart und unbarmherzig, steht zunächst nur im Gegensatz zur bisherigen positiven Schilderung der Figur. Dazu kommt, dass der Herr auf diese Bezeichnung nicht weiter eingeht. Insofern bleibt das σκληρός als subjektives Urteil im Raum stehen. Der Rezipient muss anhand des Handelns des Hausherrn überprüfen, ob diese Unterstellung zutreffend ist oder nicht: Der Sklave jedenfalls wird vom Herrn explizit als „böse“ und „träge“ bezeichnet, dann sein Handeln in nüchternem Tonfall als unlogisch kritisiert und schließlich die Konsequenz gezogen: Es folgt die Aufforderung, dem Sklaven das Talent abzunehmen. Auch bis dahin erscheint der Herr noch als fair. Das Logion in V. 29 begründet sein Handeln: „Denn jedem, der hat, wird 361

Vgl. WENGST, Aspects, 239.

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gegeben und überreichlich gewährt werden; von dem aber, der nicht hat, von dem wird selbst, was er hat, weggenommen werden.“ In der Auslegungstradition wird bisweilen darauf hingewiesen, dass das Logion an dieser Stelle wenig passend und daher als sekundär anzunehmen sei.362 Denn es gehe in der Parabel nicht um den, der (nichts) habe, sondern um den, der (nichts) tue. Da dieser Studie nicht daran gelegen ist, die ursprüngliche Form der Parabel zu rekonstruieren, kann hier lediglich festgestellt werden, dass Mt das Logion offenbar als sehr passend empfindet, ungeachtet dessen, ob er es in der ihm vorliegenden Parabelversion belässt oder es erst nachträglich in sie integriert. Interessant ist zu bemerken, dass sich das Logion auch in der lk Version der Parabel findet (Lk 19,26) und es bei beiden Evangelisten jeweils an einer früheren Stelle ihres Evangeliums schon einmal begegnet – jedoch in unterschiedlichem Kontext: Während Lk das Logion ans Ende der Parabel von der Lampe stellt (Lk 8,18) und sich damit an die mk Vorlage anlehnt (Mk 4,25), wählt Mt einen leicht veränderten Standort für das Logion Jesu (Mt 13,12). Er hängt es nicht an die Parabel von der Lampe an, die sich bei ihm in der Bergpredigt findet (Mt 5,15 f.), sondern behält sie nur im selben Kontext wie Mk und Lk, d.h. in der Gleichnisrede Jesu, setzt es aber nach der Parabel vom Sämann und vor die Parabel vom Unkraut im Acker. Dazwischen schiebt er die Erklärung Jesu ein, wieso er zu den Menschen in Gleichnissen spricht. Weder bei Mk noch bei Lk dient das Logion dieser Begründung. Mt erhält demnach den Kontext, in dem er das Logion vorfindet, verleiht ihm aber eine deutlichere Zuspitzung, indem er es Jesus als Antwort auf die Frage der Jünger, warum er in Gleichnissen spreche, in den Mund legt. Das Verstockungsmotiv der Antwort Jesu klingt auch bei Mk (Mk 4,23.24a) und Lk (Lk 8,18a) an, doch ist es nicht so explizit ausgeführt wie bei Mt (Mt 13,11.13–15). Jesus spricht in Gleichnissen zu den Menschen, da zwar seinen Jüngern deren Verstehen gegeben ist, vielen anderen Menschen jedoch verschlossen bleibt. Wem es nicht gegeben ist, der wird seine Rede nicht verstehen, wem es aber gegeben ist, dessen Verständnis für das Reich Gottes wird umso mehr wachsen und Früchte tragen. Indem Mt das Logion in der Parabel von den anvertrauten Geldern noch einmal aufnimmt, rekurriert er deutlich auf Mt 13,11f. und merkt nochmals explizit an, dass es nicht allen Menschen gegeben ist, das Reich Gottes zu erkennen und zu verstehen. Der dritte Sklave gehört zu diesen Menschen. Er hat nicht verstanden, worauf es in der Zeit der Abwesenheit seines Herrn ankam und wie er mit dem Anvertrauten hätte umgehen sollen. Seine Angst spiegelt dieses Unwissen wider: Er hat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, indem er das Geld vergrub, dachte er doch, damit kein Risiko einzugehen und zumindest denselben Betrag unbeschadet zurückerstatten zu können. Er hat nicht verstanden, dass es

362

Vgl. LAMBRECHT, Treasure, 230 f.

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um Zugewinn ging; dies war das Ziel, wozu ihm das Geld überhaupt anvertraut worden war. Am Ende der Parabel steht die Warnung, sich zu prüfen: Habe ich die Botschaft des Reiches Gottes verstanden? Und handle ich auch demgemäß? Wenn ja, führt ein neuer Blick auf die Welt zu Taten, die Früchte tragen und somit eine Spirale des Guten auslösen können (vgl. 7,17–20; 12,33). Hier soll auf eine weitere Besonderheit der mt Version des Logions hingewiesen werden: Wie so häufig verwendet Mt eine gesteigerte sprachliche Stilisierung, indem er das περισσευθήσεται hinzufügt. Dem Menschen wird „im Überfluss“ gewährt werden. Damit unterstreicht Mt die positive Perspektive und weist zurück auf die Freude des Herrn in V. 21 und 23 und auf das „understatement“363, die Sklaven seien über ὀλίγα treu gewesen. Dies ist angesichts der hohen Geldsummen tatsächlich eine Untertreibung, doch betont das περισσευθήσεται hier zusätzlich, dass der himmlische Lohn alle vom Menschen nur denkbaren Höhen übertreffen wird.364 Er betont so den Ansporn stärker als die Abschreckung.365 Mittels dieses Logions vollendet Mt Ansporn und Warnung der Parabelbotschaft auf rational-logische Weise. Der Herr begründet die Bestrafung des dritten Sklaven logisch: Er hat nicht verstanden, worum es ging, er hat sich nicht bewährt und ihm wird jede weitere Chance entzogen. „Im Vergleich zu 24,48–51 bedeutet 25,24–30 eine Verschärfung: Dort wurde der Knecht wegen seines frevelhaften Verhaltens bestraft; nun wird deutlich, dass schon das Unterlassen des positiv Geforderten genügt, um in die äußerste Finsternis hinausgestoßen zu werden.“366 Damit passt das Logion durchaus in den Kontext, fasst man das Haben als einen von seinem Ende her betrachteten aktiven Vorgang auf, welcher das Erreichte in den Blick nimmt: „Haben bzw. Nichthaben besagen im Gerichtskontext dasselbe, was Mt sonst Früchtebringen nennt. Trägheit als Grundsünde verhindert Früchte.“367 Doch dabei bleibt es nicht. Die Parabel geht – wie schon Mt 24,45–51 – über die reine Logik hinaus und appelliert an ein ganzheitliches Verständnis des Sachverhaltes, indem sie die Emotionen des Rezipienten anspricht. Dies geschieht durch den letzten Vers. Die Strafe des Sklaven wird nämlich noch verdoppelt, wie schon die Belohnung der ersten beiden Sklaven zweifach ausfiel. Hier zeigt sich eine deutliche Parallelität:

363

GNILKA, Matthäusevangelium II, 360. Vgl. SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium, 246. 365 Vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 362. 366 KONRADT, Evangelium, 389 (Hervorhebungen T.D.). 367 KÄHLER, Gleichnisse, 188. 364

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Tabelle 11: Vergleich der verschiedenen Handlungsstränge in Mt 25,21–30 A: Charakterisierung des Sklaven B: Tun und Ergehen des Sklaven

C: Beziehung zum Herrn

V. 21.23 Lob: „gut“ und „treu“ Vergangenheit und Zukunft: Lohn 1: Gutes Handeln führt zu mehr Verantwortung

Imperativ Lohn 2: Hineingehen und Mitfreuen

V. 26–30 Schmähung: „böse“ und „träge“ Vergangenheit und Zukunft: Strafe 1: Untätigkeit führt zu Entzug der Verantwortung Imperativ Strafe 2: Hinauswurf sowie Weinen und Zähneknirschen

Die überaus harte Strafe des Herrn in V. 30 bestätigt letztendlich doch dessen Bezeichnung durch den dritten Sklaven, der den Herrn als „harten“, d.h. kaltund unbarmherzigen Mann charakterisiert (σκληρός)368, und steht dem bisherigen Bild gegenüber, das ihn als durchaus fairen Herrn zeichnete. Das Bild des Herrn und d.h. letzten Endes das im Hintergrund stehende Gottesbild des Mt scheint dementsprechend ambivalent.369 Die Reaktion des Herrn auf die Unterstellung des Sklaven bleibt kühl, logisch und rational argumentierend, zeigt keine Empathie, kein Mitgefühl, er handelt konsequent; man könnte ihn damit aber auch als unbarmherzig bezeichnen – ganz anders als bspw. den König in Mt 18,27. Doch gerade die Gefühlskälte des Herrn weckt die Emotionen des Rezipienten: Ihm wird dadurch der Ernst der Lage klar; schließlich und endlich geht es um das Endgericht Gottes am Ende aller Zeit und hier ist keine Zeit mehr für zweite Chancen. Dies ist Mt in seinen Parabeln durchgehend wichtig. Davon wird noch unter dem Aspekt der Zeit ausführlicher zu sprechen sein. Es sollte daher m.E. weniger das Gottesbild der Parabel über Gebühr kritisiert, als vielmehr die emotive Pragmatik dahinter beachtet werden: Erst durch die unbarmherzige und über die Maßen hart anmutende zweite Bestrafung des Sklaven durch seinen Herrn, die ihn in die Verbannung schickt, jegliche Beziehung zu ihm abbricht und ihn seiner Verzweiflung überlässt, werden im letzten Moment Empathie und Sympathie für diese Figur geweckt. Der Rezipient spürt ihre Verzweiflung, ihre Furcht, ihre Reue in ihrem „Weinen und Zähneknirschen“ und erschließt die gesamte Tragweite einer Verurteilung im Gericht Gottes. Erst die dadurch ausgelösten Rezeptionsemotionen unterstützen die Pragmatik des Textes maßgeblich, welche auf Selbstreflexion und den Ansporn zum rechten Handeln durch die Prävention falschen Handelns bzw. Untätigkeit zielt. 368

Vgl. LUZ, Evangelium III, 501. Dies bleibt auch für Deutungen der Fall, welche den Herrn nicht als ausbeuterischen Kapitalisten sozialkritisch betrachten (vgl. MÜNCH, Gewinnen, 243). 369

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Fazit: Das Gottesbild der Parabel ist „zeitlich gegliedert“ und charakterisiert Gott zunächst als einen vertrauenden, großzügigen Herrn (V. 14 f.), der den Menschen in seiner Eigenverantwortlichkeit fordert (V. 16–18), und sodann als einen kommenden und Rechenschaft verlangenden Richter (V. 19–30).370 Damit ist die scheinbare Ambivalenz des Richtergottes, der entweder belohnt oder straft, am Ende gar nicht so ambivalent, wie es auf den ersten Blick hin scheinen mag, da es nur Folge der zweiten Aussage über Gott ist: Er fordert den Menschen zum Tun auf, an welchem er ihn messen wird. Mt vermittelt das Bild eines Gottes, den sich der Mensch selbst erschafft. Das Bild, das sich der dritte Sklave von seinem Herrn macht, bestätigt sich infolge dessen. Er hätte sich dagegen auch auf die Belohnung durch seinen Herrn konzentrieren und anders handeln können. Stattdessen hat er sein eigenes Schicksal besiegelt. Der Mensch hat auch hier selbst die Wahl. Der Herr der Parabel berichtigt den Sklaven nicht und behandelt ihn mit derselben Logik, mit welcher dieser argumentiert. Fatal nur, dass sie fehlerhaft ist und gegen ihn arbeitet. Der Rezipient erkennt daher: Angst hat im Gottesbild nichts verloren, sie führt zu falschen Schlüssen, zu verhängnisvollem Fehlverhalten und schließlich zur Erfüllung der ursprünglichen Befürchtung. Letztlich wird der aufmerksame Rezipient dem Bild des Herrn, hinter dem Christus selbst zu erkennen ist, anhand anderer christologischer Aussagen im Mt-Ev begegnen, die eine solche Härte verneinen: „Ihn kennzeichnen vielmehr Sanftmut (11,29; 21,5), Demut (11,29) und Barmherzigkeit (9,36; 14,14 u. ö.), die sich in seiner Zuwendung zu Sündern manifestiert (9,2–13). […] Angst ist demnach unbegründet.“371 Auch fällt auf, dass der Satz des Sklaven dem alttestamentlichen Bekenntnis „Ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist“ parallel formuliert gegenübersteht (Jona 4,2; variiert in: Ex 34,6; Ps 103,8).372 Diese intertextuelle Anspielung legt den Schluss nahe, dass Mt hier ein Gottesbild zu vermitteln beabsichtigt, das durchaus dualistisch ist, doch letztlich vom menschlichen Handeln abhängt: „Welches Gesicht der Mensch zu sehen bekommt, liegt an ihm. Wenn wir mit Gottes Gaben falsch umgehen, wird aus dem gnädig gebenden Gott der richtende.“373 Wie bereits gesehen, begegnet dieses Bild auch in Mt 18,24–35 und 24,45–51: Der unbarmherzige Sklaven erntet schließlich dieselbe Erbarmungslosigkeit, die er selbst seinem Schuldner gegenüber zeigte; und gegenüber der Belohnung des treuen Sklaven, dessen zur Zufriedenheit seines 370

Vgl. ERLEMANN, Bild, 207 f. KONRADT, Evangelium, 389. 372 Vgl. BINDEMANN, Herr, 133. Diese Intertextualität steht der Auslegung Marlene Crüsemanns und Christoph Kählers entgegen, die vielmehr betonen, dass die Fromulierungen des Sklaven „alttestamentlichen Fluchformeln“ entsprechen und der Herr somit von ihm als „gemeiner Dieb bezeichnet“ wird (KÄHLER, Gleichnisse, 171 f.; vgl. CRÜSEMANN, Herrschaft, 61 f.). 373 BINDEMANN, Herr, 135. 371

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Herrn ausgeführter Auftrag ausgeweitet wird, widerfährt dem bösen Sklaven ebenso schlechte Behandlung, wie er seinen Mitsklaven zuteilwerden ließ. Die Leserlenkung der Parabel legt folgende, sich im Verlauf der Erzählung wandelnde Rezeptionsemotionen gegenüber der Figur des Hausherrn nahe: Erstens externale oder internale Attributions-Emotionen (billigende Zufriedenheit oder Freude über die Belohnung der ersten beiden Sklaven), zweitens externale Attributions-Emotionen (Bestürzung, ggf. Empörung über die als unangemessen hart empfundene Strafe des dritten Sklaven) und drittens internale Erwartungs-Emotionen (gemischte Gefühle im Sinne von Furcht vor dem Urteil Gottes und gleichzeitige Hoffnung im Sinne der Freude der ersten beiden Sklaven). 5.3.3 Raum Analysiert man die Raumdimension als potentiellen Auslöser von Emotionen, werden in der Parabel von den anvertrauten Geldern zunächst einmal vier Angaben, die räumlich zu deuten sind, ersichtlich: das Haus des Herrn; der Ort, an welchen der Herr verreist; das Loch, in dem der dritte Sklave das Talent verbirgt; die „äußerste Finsternis“, in die er schließlich verbannt wird. Erstens wird gesagt, dass der Herr der Sklaven „verreist“ (V. 14 f.: ἀποδηµέω). Wohin genau, ist für den Verlauf der Erzählung offenbar nicht weiter von Belang. Mt verzichtet jedenfalls auf jegliche weitere Spezifikation im Gegensatz zu Lk, der hier zumindest von einem „fernen Land“ spricht (Lk 19,12). Diese ungenaue und neutral gehaltene Angabe dürfte in den Rezipienten folglich keine starken Emotionen auslösen. Ggf. könnten negative Emotionen möglich sein, wenn der Leser/Hörer die Abreise des Herrn auf den Tod und die Auferstehung Christi hin deutet: Dann könnten Rezeptionsemotionen wie Trauer über Jesu Tod und Traurigkeit darüber, dass die Gemeinde von ihm getrennt wurde, aufkommen. Die Parabel schildert diese Szene jedoch nicht ausführlich genug, um zu zeigen, dass hier eine emotionale Reaktion des Rezipienten intendiert ist. Im Gegenteil: Der neutrale Vergleich mit dem Verreisen eines Hausherrn vermittelt eher den Eindruck eines Geschehens, auf den es nicht sonderlich emotional zu reagieren gilt: Der Herr wird wiederkommen und sein Vermögen zurückfordern. So auch Christus. Angesichts dieser Ähnlichkeit vermag das Verreisen des Herrn in der Parabel sogar Trost zu spenden, weil es die Sicherheit einer Rückkehr impliziert. Die zweite Angabe ist die von der Rückkehr des Herrn (ἔρχοµαι: V. 19). Diese Angabe könnte emotiv besetzt sein, da sie als Transfersignal das Geschehen auf das „Kommen des Herrn“ am Jüngsten Tag durchsichtig werden lässt (vgl. 10,23; 16,27; 18,11; 24,42 f.; 25,31). Hier beziehen sich die Rezeptionsemotionen allerdings weniger auf den nicht weiter geschilderten Raum, als vielmehr auf die zu erwartende Situation. Es sei daher auf die bereits thematisierten Auslöser der Situationen und Geschehnisse verwiesen.

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Die nächste räumliche Angabe ist der Ort, wo der dritte Sklave das Geld seines Herrn versteckt: Er gräbt ein Loch in die Erde und verbirgt das Talent darin (V. 18: ὤρυξεν γῆν καὶ ἔκρυψεν τὸ ἀργύριον). Diese Angabe ist ebenfalls sehr neutral gehalten. Im Vergleich zu Lk fällt auf, dass der dritte Sklave des Mt einen sichereren Weg wählt: Das Geld nur in einem Tuch aufzubewahren (Lk 19,20) wäre fahrlässig.374 Doch es zu vergraben ist eine legale Variante des Verwahrens von Geld, wobei im Falle des Verlustes der mt Sklave, im Gegensatz zum lk, nicht haftbar wäre. Das leichtfertige Element fehlt bei Mt, und somit kann auch nicht einwandfrei gesagt werden, dass der Rezipient auf diese Ortsangabe sogleich negativ reagiert. Wie bereits diskutiert, wird der Rezipient durch die sprachliche Gestaltung und den Aufbau der Erzählung darauf vorbereitet, dass dieses Handeln nicht das geforderte ist; doch dürfte er dieses Tun zunächst einmal so neutral zur Kenntnis nehmen, wie es geschildert wird. Die Frage, die sich vielmehr aufdrängt, ist die nach dem Grund für das Vergraben des Geldes, nicht die nach dem Ort als solchem. Im letzten Abschnitt der Erzählung stehen sich zwei hochemotional besetzte Orte gegenüber: Wie im Zuge des Vergleichs zwischen Belohnung (V. 21 und 23) und Bestrafung (V. 26–30) bereits ersichtlich wurde, stehen sich hier das Drinnen und das Draußen diametral entgegen. Die ersten beiden Sklaven werden aufgefordert hineinzugehen (εἴσερχοµαι), wohingegen der dritte Sklave hinausgeworfen wird (ἐκβάλλω). Diese Termini bilden im metaphorischen Sinne die Beziehung mit bzw. die Trennung von Gott nach seinem endgültigen Gericht ab. Hier entscheidet sich, ob der Mensch in das Reich Gottes hineinkommt und sich der ewigen Gemeinschaft mit Gott „erfreuen“ oder ob er fern von Gott in der ewigen Verdammnis der Hölle „weinen und mit den Zähnen knirschen“ wird. Der Raum ist demnach die Abbildung der Beziehung der Sklaven zu ihrem Herrn. Dabei sind diese Räume nicht nur indirekt, sondern auch explizit emotional besetzt. Das Hineingehen der ersten beiden Sklaven ist gleichzeitig ein Eingehen in die Freude. Diese eschatologische Freude über das Heil der Gottesgemeinschaft wird durch die Narration für den Rezipienten vergegenwärtigt und so schon in seiner jetzigen Situation, in der Christus noch so schmerzlich abwesend ist, spür- und erfahrbar. Im Gegensatz dazu steht der Ort der „äußersten Finsternis“ (V. 30: τὸ σκότος τὸ ἐξώτερον), in welche der dritte Sklave hinausgeworfen wird. Dieser Ort ist auf vielfältige Weise mit negativen Emotionen besetzt: Zunächst ist die Finsternis Element von Gefängnis und Unfreiheit: Der Ausdruck „also evokes the darkness of prison cells that slave owners maintained in their repertoire of disciplinary apparatuses“375. Zweitens kann die Dunkelheit als eine Metapher für den Tod verwendet werden (vgl. Ijob 3,5; 10,21; 374 375

Vgl. dazu JEREMIAS, Gleichnisse, 58 f. GLANCY, Slaves, 84.

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Ps 143,3; Jer 13,16; Klgl 3,2; Mt 4,16). Auch steht sie allgemein für die Trennung von Gott, der als Licht der Finsternis entgegensteht (Ps 88,6 f.; 107,10.14; Jes 49,9; 60,1 f.; Dan 2,22; Mt 4,16; 1 Joh 1,5). Viertens ist die Finsternis ein zentrales Element am Tag des Kommens Gottes zum Gericht (Jes 5,30; 8,22; Joël 2,2.10; 3,4; Am 5,20; Nah 1,8; Zef 1,15; Mt 24,29; Mk 13,24; Apg 2,20). In diesem Zusammenhang ist sie auch eine Metapher für das Schicksal der beim Gericht Verdammten (1 Sam 2,9; Ijob 18,18; Jes 47,5; Mt 8,12; 22,13; 2 Petr 2,4; Jud 1,6). Schließlich hat die Finsternis häufig, v.a. im NT, eine ethische Komponente: Es sind die Werke der Dunkelheit, die den Menschen am Tag des Gerichts in eben jene verbannen werden (Spr 2,13; 4,19; Koh 2,13 f.; Röm 2,19; 13,12; 2 Kor 6,14; Eph 5,11; 1 Joh 1,6; 2,9.11). Überdies gesteigert wird der Ausdruck durch das Adjektiv ἐξώτερον, das die räumliche Distanz und Trennung vom Herrn der Parabel, d.h. von Gott noch zusätzlich unterstreicht. Eine weitere Entfernung als räumlich durch das „äußerste“ und qualitativ durch die Gott entgegenstehende „Dunkelheit“ ist nicht zu denken. Τὸ σκότος τὸ ἐξώτερον bereitet somit all die negativen Emotionen vor, die durch das „Weinen und Zähneknirschen“ komplettiert werden (V. 30: ὁ κλαυθµὸς καὶ ὁ βρυγµὸς τῶν ὀδόντων). Dieser Vorgang beschreibt die Finsternis noch näher (ἐκεῖ ἔσται), indem mit der Beschreibung des räumlichen Verbleibens des Sklaven auch sein persönlich-emotionales Ergehen spürbar wird. Wie ὁ κλαυθµὸς καὶ ὁ βρυγµὸς τῶν ὀδόντων zu verstehen ist und welche emotive Qualität und Intensität diese Formulierung vermittelt, wurde bereits ausführlich in der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven dargestellt.376 Es genügt an dieser Stelle zu erinnern, dass die Parabel in ihrem letzten Vers vornehmlich die Emotionen des Rezipienten anspricht, indem sie durch Finsternis, Weinen und Zähneknirschen ein umfassendes Bild der Verzweiflung des dritten Sklaven zeichnet. Durch die damit eröffnete Innenperspektive kommen diese nicht nur als externale, sondern auch internale Emotionen in Frage. In letzterem Fall fielen die mit der Finsternis verbundenen Emotionen mit denen zusammen, welche als indirekt vermittelte Emotionen des dritten Sklaven oben herausgearbeitet wurden. Das bedeutet, dass die jeweils externalen Attributions-Emotionen (Bestürzung) und Empathie-Emotionen (Mitleid) jeweils internale Wohlergehen-Emotionen (Verzweiflung und Leid als verstärkte Form der Trauer), Attributions-Emotionen (Reue angesichts eigener Untätigkeit) und Erwartungs-Emotionen (Furcht vor dem Gericht Gottes) hervorrufen.

376

S.o. Kap. 5.4.2.2.

402

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5.3.4 Zeit Aufgrund des eschatologischen Kontextes der Parabel ist anzunehmen, dass die Zeit für die Parabel einen maßgebenden Faktor darstellt. Tritt die Zeit in einer bestimmten Spannung zutage, sodass sie Emotionen auslöst oder bereits vorhandene Rezeptionsemotionen verstärkt? Begegnet dem Rezipienten ein der Parabel inhärentes Zeitverständnis, das in ihm Emotionen weckt? Diesen Fragen wendet sich der folgende Abschnitt zu. Als Grundlage der Betrachtungen soll eine Analyse des Tempusgebrauchs in der Erzählung dienen, bevor die expliziten Zeitangaben untersucht werden. Das vorherrschende Tempus der Parabel ist wie so oft der Aorist. Doch kommen in dieser Erzählung noch andere Tempora vor, welche Mt in seinen übrigen narrativen Abschnitten kaum verwendet: Zum einen begegnet das Imperfekt an drei Stellen (V. 21 und 23: ἔφη, ἦς und V. 27: ἔδει). Besonders das ἔφη des Herrn fällt auf. Hier könnte es sich auch um eine Form des Aorist 2 handeln. Doch muss dann gefragt werden, warum Mt hier von seiner sonstigen Verwendung des Aorists abweicht (vgl. V. 24.26: εἶπεν). U.U. will das Imperfekt hier den iterativen Vorgang des Lobes unterstreichen: Der Herr lobt beide Sklaven, die sein Geld vermehrt haben, in gleicher Weise. Den langen Zeitraum der konstanten Treue und des nicht nachlassenden Fleißes für ihren Herrn betont das ἦς. Das ἔδει zeigt lediglich die Nichtwirklichkeit des vom Herrn nun explizit geforderten Handelns des dritten Sklaven an. Auch das Plusquamperfekt wird einmal verwendet (V. 26: ᾔδεις). Ein Partizip Perfekt erscheint ebenfalls an einer Stelle (V. 24: εἰληφώς). Dies unterscheidet sich zwar vom in V. 20 verwendeten Partizip Aorist (λαβών), doch wird keine inhaltliche Differenz erkennbar. Einmal wechselt die Erzählung ins historische Präsens (V. 19). Dies zeigt an, dass die Erzählung, deren Verlauf bis dahin stark gerafft erscheint, nun ihren eigentlichen Zielpunkt erreicht: Mit der Rückkehr des Herrn wird der glückliche oder fatale Handlungsverlauf eingeleitet. Durch den Tempuswechsel nimmt die Erzählung an Fahrt auf und der Rezipient wird für das Folgende aufmerksam gemacht. Gleichzeitig vermittelt das Präsens eine gewisse Plötzlichkeit des Kommens des Herrn nach so langer Zeit und nimmt damit das Motiv der schlagartigen und letztlich unerwarteten Wiederkehr Christi zum Gericht auf, welche Jesus bereits in seiner Rede über die Endzeit explizit thematisiert (24,27.36.42) und in den vorherigen Parabeln narrativmetaphorisch verarbeitet (24,43–44.50; 25,5 f.13). Zuletzt kommt auch das Futur an mehreren Stellen vor: Zunächst begegnet es in der verheißenen Belohnung der beiden ersten Sklaven, die der Herr über Vieles setzen wird (V. 21.23: καταστήσω). Entsprechend findet es auch in der Bestrafung des dritten Sklaven Verwendung: Während die anderen beiden über vieles gesetzt werden, widerfährt jenem Weinen und Zähneknirschen (V. 30: ἔσται). Auch das Logion in V. 29 ist im Futur formuliert und drückt

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somit eine Verheißung aus, die für alle Menschen gilt und dem Rezipienten den Transfer der Parabel auf das Schicksal eines jeden im kommenden Gericht Gottes erleichtert. Wichtig ist noch der Hinweis auf die Parallelität der Lohn- bzw. Strafdarstellung, welche im Tempusgebrauch variiert: Während der erste Lohn der beiden Sklaven futurisch gehalten ist (sie werden über vieles gesetzt werden) und der zweite Lohn präsentisch (sie sollen jetzt hineingehen in die Freude ihres Herrn), ist die erste Strafe des dritten Sklaven präsentisch (ihm wird sein Talent jetzt weggenommen) und seine zweite Strafe sowohl präsentisch als auch futurisch formuliert (er wird jetzt hinausgeworfen und wird dort Qualen leiden). Obgleich das Futur an den genannten Stellen unterstreicht, dass Mt hier konkret an das Endgericht Gottes denkt377, ist der Kontrast zwischen dem emotionalen Ergehen wichtig: Während das Leiden des dritten Sklaven in der Zukunft liegt, ist die Freude der ersten beiden durchaus eine präsentische Aufforderung. Ihre Freude soll keine nur zukünftige Verheißung sein wie die Qualen des dritten Sklaven, sondern sie darf die Figuren bereits jetzt erfüllen. Welche Aussagen lassen sich auf dieser Basis über das Zeitverständnis der Parabel treffen? Zunächst fällt auf, dass die dreiteilige Struktur der Erzählung scheinbar einen dreiteiligen Geschichtsverlauf abbildet: In der ersten Szene ist der Herr, hinter dem, wie bereits plausibel gemacht wurde, Christus vermutet werden muss, anwesend und übergibt seine Habe seinen Untergebenen. Dies mag Jesu Zeit auf Erden entsprechen, in welcher er seine Lehre unter die Menschen bringt und von jenen, die sie verstehen, Früchte erwartet (vgl. 13,10–23). Dieser „Zeit der Früchte“ entspricht der nun folgende Zeitraum der Abwesenheit des Herrn, d.h. der Zeit nach Jesu Tod und Auferstehung. Dies ist die Gegenwart der Gemeinde, in die hinein der Evangelist Mt mit seinem Evangelium und dieser Parabel spricht. Der dritte Abschnitt ist die Zeit der Rückkehr des Herrn, worin die Parusie Christi und sein Kommen zum Gericht bei „Vollendung des Zeitalters“ erkennbar werden (13,39 f.49; 24,3; 28,20). Dieses dreigliedrige Zeitkonzept hat sich bereits in den Parabeln vom unbarmherzigen Sklaven (Mt 18,24–35) und vom treuen oder bösen Sklaven (Mt 24,45–51) gezeigt und beschreibt das Geschichtsverständnis des Mt. Die Zeit der Abwesenheit des Herrn ist „lang“. Er kehrt erst µετὰ πολὺν χρόνον (V. 19) zurück. Die Erzählung arbeitet hier mit einer unbestimmten Ellipse, welche die Erzählzeit verringert, indem ein unbekannter Zeitraum der erzählten Zeit übersprungen wird. Dieser „lange Zeitraum“ der Abwesenheit des Herrn dürfte auf der Erzählebene kaum Emotionen auslösen und er wäre für den Handlungsverlauf auch nicht weiter relevant. Für Mt scheint die Zeit aber besonders wichtig zu sein, weswegen er sie explizit schildert (im Gegensatz zu Lk 19,15). Der unscheinbar wirkende Ausdruck µετὰ πολὺν χρόνον 377

Vgl. LAMBRECHT, Treasure, 242.

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ist im Kontext von Mt 24–25 ein wichtiges Transfersignal: Es geht um die Zeit der Abwesenheit Christi, die lange (24,6.8.22) und ungewiss ist (24,36) bis zu seiner Rückkehr (24,3), die erwartet (24,33) und als sicher erachtet werden kann (24,35). Die Parabeln in Mt 24–25 thematisieren sämtlich diese Zwischenzeit der Abwesenheit Christi bis zu seiner Parusie und das optimale Verhalten des Menschen in dieser Zeit. Wachsamkeit ist dabei das zentrale Motiv (24,38– 44.50; 25,13) und findet sich in 25,14–30 noch näher ausgeführt (V. 14: ὥσπερ γάρ). Während die „lange Zeit“ auf der reinen Erzählebene als neutral gelten kann, ist sie in ihrer Funktion als Transfersignal hoch emotional besetzt, bei deren Nennung der Rezipient zusammenzucken wird: Es gilt noch, πολὺν χρόνον durchzuhalten, obgleich unklar ist, wie lange dieser Zeitraum andauern wird. Mt vermittelt hier schonungslos, dass die Zeit des Wartens noch lang sein wird. Die Erzählung ist auf diese Weise Auslöser einer Mischung ambivalenter Erwartungs-Emotionen (Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr Christi und Erlösung der Gläubigen aus der Welt und Erleichterung über die Gewissheit, welche die Parabel darüber vermittelt: Wie lange der Herr der Sklaven auch weg sein mag, er ist nur verreist, seine Rückkehr ist gewiss). Diese Gewissheit spendet wiederum Trost, Hoffnung und antizipierende Freude in einer sich dehnenden und ungewissen Zeitspanne der Abwesenheit Christi, welche durch die „Sorgen der Zeit“ (6,25–34; 13,22) erschwert wird. Gleichzeitig ist Furcht angesichts des ungewissen Zeitraums und der Verführungen der irdischen Welt zu erwarten, auch etwaige Enttäuschung darüber, dass die schon sehr bald erwartete Parusie länger ausbleiben könnte, als gedacht. Über das Zeitverständnis der Parabel lässt sich demnach Folgendes resümieren: Die Parabel bildet ein dreigliedriges Zeitkonzept ab, dem Christi Leben auf Erden, seine Abwesenheit nach Tod und Auferstehung und schließlich seine Wiederkunft zum Gericht Gottes entspricht. Dabei geht die Parabel vordergründig mit dem Problem der Parusieverzögerung um. Diese Zwischenzeit ist die Gegenwart der mt Gemeinde und insofern von zentraler Bedeutung. Dabei wird dieser Zeitraum länger ausfallen, als gedacht. Dennoch vermittelt die Parabel zuversichtliche Gelassenheit in einer sich dehnenden Zeit. Weder euphorische Antizipation des Kommenden noch verzweifelte Hoffnungslosigkeit sind angebracht. Christus wird wiederkommen. Die Zwischenzeit gilt es nicht bloß zu überstehen und durchzuhalten, sondern als geschenkte Zeit anzusehen und sie aktiv zu nutzen.378 Mt betont die Gegenwartsbedeutung für seine Gemeinde. Ihre Zeit ist wichtig, sie ist nicht bloße Zwischenzeit zwischen Ostern und Parusie. In ihrer Zeit entscheidet sich ihr Schicksal. Das Figurenhandeln und die Zeit sind zusammen die glückseligen 378 So bezeichnet auch Joachim Gnilka das Gut als Geschenk, was jedoch ein Verhältnis von Gabe und Aufgabe nach sich ziehe (vgl. GNILKA, Matthäusevangelium II, 362).

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oder aber fatalen Dimensionen der Parabel. Auf diese Weise wird dem Rezipienten vermittelt, worauf es ankommt: Das Nutzen der Zeit. Vor diesem Hintergrund wird eine Zeitspannung in der Parabel erkennbar, welche ihre ethische Botschaft zu verstärken vermag: Neben der soeben betrachteten Zeitangabe in V. 19 (µετὰ πολὺν χρόνον) kommt die Zeit nur noch an einer Stelle explizit zur Sprache: In V. 15 geht der erste Sklave „sogleich“ (εὐθέως) los, um mit den fünf Talenten zu handeln.379 Zwar zielt das Adverb schwerlich erkennbar auf Emotionen seitens des Rezipienten, doch hilft es bei der Einschätzung und Beurteilung der Figur des Sklaven: Der Sklave verschwendet keine Zeit. Er ist motiviert, die gesamte Zeit der Abwesenheit seines Herrn, so ungewiss ihr Zeitraum auch sein mag, zu nutzen. Er scheint gar nicht an die Zukunft zu denken. Weder etwaige temporale Überlegungen wie, dass ihm noch genügend Zeit zum Handeln bleibe (vgl. 24,48), noch ein Nachlassen seines Eifers im Laufe der Zeit (vgl. 25,5) werden ersichtlich. Das εὐθέως charakterisiert die Figur eindeutig positiv als eifrig und fleißig, was sich vollends durch ihren immensen Erfolg abrundet. Sie wird damit aber auch in direkten Gegensatz zum dritten Sklaven gestellt, der die Zeit nicht nutzt, sein Talent vergräbt und nichts weiter damit anfängt. Die Sklaven werden demnach in erster Linie dadurch charakterisiert, wie sie ihre Zeit nutzen. Eine solche „temporale Kompetenz“ begegnet bereits in Mt 24,45–51.380 Zeit ist gegeben, um genutzt zu werden. Dieser Aspekt hat gerade im Hinblick auf das Zeitverständnis des Mt enorme Wichtigkeit: Die Gegenwart ist nicht inhaltsleere Zwischenzeit bis zur Parusie, sondern die Zeit, in der das eigene Schicksal selbst in die Hand genommen werden muss. Jesu Kommen und Botschaft sind nicht nur Geschenk, sie sind auch Auftrag. Insofern ist „die Gegenwart […] Zeit für eine Tat des Risikos. Indem der Mann mit dem einen Talent sich aus dieser Gegenwart zurückzieht, verliert er seine Zeit insgesamt; dh. er verliert die Möglichkeit, sich selbst zu engagieren, was die Gegenwart konstituiert.“381 Das Kommen des Herrn in V. 19 deckt diese temporale Spannung auf: Indem vom Aorist ins Präsens gewechselt wird, hebt die Erzählung hervor, dass die Zeit des Sklaven abgelaufen ist. Im Gegensatz zu Mt 24,48 f. scheint dieser Sklave jedoch nicht aufgrund einer temporalen Fehleinschätzung falsch zu handeln, sondern aufgrund seiner Angst vor der Zeit an sich. Er hat offenbar Angst davor, im Laufe der Zeit das ihm anvertraute Gut zu verlieren. Aufgrund dieser Angst vor einem möglichen Zukunftsszenario, d.h. letztlich der Zeit selbst, steht er ihr paralysiert gegen379

An dieser Stelle folge ich aus inhaltlichen Gründen der Lesart des NTG28, welche das εὐθέως zu πορευθείς zieht, statt es καὶ ἀπεδήµησεν zuzuordnen (vgl. dazu a.a.O., 359). 380 S.o. Kap. 5.4.3.4. 381 VIA, Gleichnisse, 118 (Hervorhebung im Original).

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über und wird am Handeln gehindert. Doch gerade dadurch verspielt er seine Aussichten auf eine gute Zukunft.382 Im Gegensatz zu den ersten beiden Sklaven, die εὐθέως an die Arbeit gehen383, wird er hier durch einen temporalen Aspekt seines Charakters negativ dargestellt. Er blickt der Zukunft ängstlich entgegen, woraus ein verhängnisvolles Handeln in der Gegenwart resultiert, wodurch seine Zukunft wiederum erst zum Verhängnis wird. Hier vermittelt die Zeitdimension die ethische Botschaft der Parabel: Der Mensch lebt nur einmal und seine Zeit des Handelns ist jetzt. Die Zeit ist lang und durch Anspruch zum Handeln gefüllt. Wie der böse Sklave in Mt 24,45– 51 kann auch der dritte Sklave in Mt 25,14–30 seine verlorene Zeit nicht mehr einholen, seine verpasste Chance nicht zurückholen, seine Fehler nicht wiedergutmachen. Zeit ist eine verrinnende und selbst eine „lang“ vorkommende Zeit wird an den Früchten gemessen, die sie hervorbringt. Die Wachsamkeit, um die es in Mt 24–25 geht, ist demnach das gute Handeln, das Jesus durch das „Fruchtbringen“ bildlich umschreibt. Der dritte Sklave „wacht“ falsch über das ihm Anvertraute: „Wachsam sein heißt dann, die anvertraute begrenzte Zeit mit den Gaben füllen, die der Herr seinem Jünger gewährt. Diese Zeit verspielen, ist das abschreckende Gegenbild, das der träge und zum Risiko nicht bereite Sklave abgibt.“384 Zeit ist eine zu nutzende, sonst ist sie vertan und auf ewig verschenkt. Zeit begegnet als Geschenk, als Möglichkeit zum Handeln, welche in direkter Beziehung zum ultimativen Geschenk Gottes am Ende der Zeit steht – dem ewigen Heil des Menschen. Hat er die ihm geschenkte Zeit genutzt, wird er die Ewigkeit in der Gemeinschaft Gottes als Lohn erhalten. Nutzt er sie dagegen nicht, wird er dies auf ewig bereuen, „weinend“ und „mit den Zähnen knirschend“ (V. 30). Hierbei stehen Gegenwart und Zukunft in der Parabel in sich ergänzender Spannung: Es ist das prophezeite Geschehen, welches auf die Gegenwart der Rezipienten abzielt. Damit es ihnen einmal nicht so ergehen wird, müssen sie jetzt anders handeln als der dritte Sklave. Seine gegenwärtige Angst löst erst seine fatale Zukunft aus (vgl. die futurischen Verheißungen in V. 29 und 30). Dennoch dient dieses Zukunftsszenario der Begründung der ethischen Forderung, die angesichts des Schicksals des Sklaven emotional verstärkt wird und so gegenwärtiges Handeln motiviert. Dass auf diese abgezielt wird, betont nicht zuletzt der 382 Vgl. SCOTT, Parable, 233: „By burying the property the servant forfeits any future. The cases of the first two servants show what the future is. But the yoke was to be borne in order to have a future.“ Obgleich diese Beobachtung der Bedeutung der Zukunft richtig ist, vernachlässigt Bernard Scott hier m.E. die wichtige Beobachtung, dass diese Zukunft antizipiert werden soll und somit bereits präsentische Auswirkungen hat (vgl. die Freude der ersten beiden Sklaven). 383 Dass ebenfalls der zweite Sklave „sogleich“ an die Arbeit geht, ist auch ohne wörtliche Wiederholung stark anzunehmen. Dies steckt zum einen im ὡσαύτως in V. 17, zum anderen im Ergebnis, dass beide Sklaven die ihnen anvertraute Geldsumme verdoppeln. 384 GNILKA, Matthäusevangelium II, 363.

5. Wenn Angst am Handeln hindert: Mt 25,14–30

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Freuden-Imperativ in der Belohnung der ersten beiden Sklaven (V. 21.23). Der Mensch darf und soll seinen Lohn durchaus jetzt schon antizipieren und sich an diesem freuen (vgl. 5,3–11). Genau diese antizipierende Freude ist es, die das rechte Handeln motivieren soll. Die Zeit ist Grund zur Freude – nicht zur Angst. Über die Zeitspannung in der Parabel kann somit Folgendes zusammengefasst werden: Die Zeitdimension der Erzählung ist insofern emotiv interessant, als jene sie von vornherein explizit emotionalisiert: Die Zeit wird durch die Emotionen der Freude und der Angst gegensätzlich gekennzeichnet. Wer seiner Zukunft voll Angst entgegensieht, ist in der Gegenwart nicht in der Lage, ethisch angemessen zu handeln. Wer dagegen optimistisch und freudig in die Zukunft blickt, ist zu den rechten Taten bereit und fähig. Diese Emotionen sind somit ein wichtiger Aspekt der ethischen Plausibilisierungsstrategie des Mt. Der Rezipient nimmt im Verlauf der Erzählung sowohl Anteil an der Freude der ersten beiden Sklaven als auch an der Qual des dritten Sklaven und sieht sich vor eine emotional konstituierte, ethische Entscheidung gestellt: Es geht darum, die Zukunft nicht zu fürchten, sondern das Heil freudig zu antizipieren und aufgrund dessen in der Gegenwart mutig zu agieren. 5.4 Ergebnisse Wie die bereits analysierten Texte (Mt 18,24–35; Mt 24,45–51) schildert auch diese Parabel von den anvertrauten Geldern ein Geschehen zwischen einem Hausherrn und seinen Sklaven, das mit einer Abrechnungsszene endet und einen figural vermittelten Gegensatz zwischen gutem und falschem Handeln darstellt. Die emotive Rezeption der Erzählung wird durch die Darstellung der Figuren stark in eine positive sowie eine negative Richtung gelenkt: Die ersten beiden Sklaven bezeichnet deren Herr, hinter dem letztlich Jesus Christus als der Weltenrichter (vgl. 25,31–46) zu erkennen ist, als „gut“ und „treu“ und belohnt sie doppelt: Er betreut sie nicht nur mit zusätzlichen Aufgaben, sondern sie dürfen auch „eingehen in die Freude ihres Herrn“ (V.21.23), wohinter das eschatologische Freudenmahl in ewiger Gemeinschaft mit Gott steht. Das Empathiepotential dieser Figuren ist entsprechend hoch; der Rezipient soll zu einem sympathischen Urteil kommen, so sein wollen wie sie und ihre Freude empfinden. Der dritte Sklave hingegen erscheint diesen beiden entgegengesetzt. Der Rezipient wird zu einem negativen Urteil über ihn gelenkt: nicht nur, weil dessen Begründung für sein passives Verhalten dem Rezipienten unlogisch und unverständlich erscheinen dürfte; spätestens die Bezeichnung durch den Herrn als „böse“, „träge“ und „unnütz“ sollen den Rezipienten eine antipathische, abgrenzende Haltung zu der Figur einnehmen lassen. Er soll keinesfalls so sein wollen wie er. Die für Mt typischen Steigerungen der Erzählelemente

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

(Geldsummen, Freude, doppelte Belohnung/Strafe, überreichliches Gewähren) intensivieren dabei die Rezeptionsemotionen maßgeblich.385 Mit der bitteren Verurteilung am Schluss der Parabel, welche die Untätigkeit des Sklaven – die doch wenigstens als legal bezeichnet werden muss – vergilt, wird dem Rezipienten schließlich doch eine empathisch-affirmative Haltung gegenüber dem Sklaven eröffnet. Dessen Angst mag zu einem schlechten Verhalten geführt haben; aber rechtfertigt dies tatsächlich die doppelte Bestrafung, welche ihm nicht nur sein Talent entzieht, sondern ihn auch noch in die „äußerste Finsternis“ hinauswirft, wo „Weinen und Zähneknirschen“ herrschen werden? Hat nicht jeder Mensch einmal Angst und wird von dieser gelähmt? Wie fatal diese Angst ist, erschließt sich dem Rezipienten erst im letzten Vers der Parabel, durch den er emotionalen Anteil am Schicksal des dritten Sklaven nehmen und aufgrund dessen er sein eigenes Handeln hinterfragen soll. Besonders stark wirkt hier auch die emotionale Gegenüberstellung der Räume: Während die ersten beiden Sklaven hineingehen in die Freude, wird der dritte Sklave in die Finsternis hinausgeworfen, wo er unendliche Qualen leiden wird. Diese stark emotionalisierenden Bilder vermitteln das Ergehen der Figuren umso intensiver und ermöglichen es dem Rezipienten, sich in ihre Lage hineinzuversetzen. Diese Perspektivübernahme führt wiederum dazu, das eigene Leben und Handeln zu überprüfen. Die Emotionen sind demnach wichtige Elemente in der Verstärkung der pragmatisch-ethischen Botschaft der Parabel, welche ein aktives Nutzen der Gabe Gottes fordert. Die ethische Botschaft ist hier außerdem eng mit der Zeitdimension verknüpft. Es gilt, die Gegenwart aktiv zu nutzen, statt die Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Angst vor der Zukunft ist dabei nicht angebracht, weil diese Angst das Handeln verhindert. Dadurch, dass der dritte Sklave seine Zeit aus Angst nicht nutzt, löst er sein befürchtetes, verhängnisvolles Schicksal selbst aus. Mt betrachtet die Angst demnach nicht als eine sinnvolle Schutzfunktion, die vor Gefahren bewahrt, sondern vielmehr als die negative Antizipation der Zukunft, welche diese wiederum auslöst, d.h. als einen Teufelskreis.386 Damit gibt er ganz das antike negative Bild der Emotionen wieder, das in diesen dem guten Handeln entgegenwirkende Mächte sieht.387 Durch den Transfer des in der Parabel geschilderten Bildes auf das Gericht Gottes wird dem Rezipienten die zentrale Bedeutung seiner Gegenwart klar und indem er Anteil am Leid des dritten Sklaven nimmt, sieht er sich einer eigenen potentiellen Zukunft gegenüber. Diese Schreckensvorstellung gilt es jedoch nicht voller Angst zu antizipieren, wodurch genau das eintritt, was dem dritten Sklaven passiert ist. Im Gegenteil: Diese Zukunft kann nur abge385

Vgl. MÜNCH, Gleichnisse, 179. Vgl. VIA, Gleichnisse, 117. 387 S.o. Kap. 2.1.1. 386

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wendet werden, wenn mutig gehandelt wird. „Dies war zu seiner [d.h. Jesu] Zeit nicht ohne Risiko möglich, denn ‚die Jünger sind wie Schafe unter die Wölfe‘ gesandt. Nur ein solches, die eigene Angst überwendende [sic!] Engagement, findet Anerkennung vor Gott.“388 Die Parabel vermittelt hierzu Freude statt lähmende Angst als die motivierende Emotion: Die Freude der beiden ersten Sklaven antizipierend soll voll Eifer und Fleiß an die Arbeit gegangen und Taten der Liebe, die Jesu Botschaft verbreiten, getan werden: „The words of promise from Jesus, inviting disciples into the joy of his kingdom, are meant to be heard by all who do not worry too much about securing their own lives, but get on with lives of self-abandon and witness, knowing that the grace of God in Christ will more than compensate for any mistakes they might make.“389

Die Zeit ist Geschenk und Aufgabe Gottes, die es freudig anzunehmen und zu nutzen gilt. Schließlich darf die Tatsache, dass von keinem scheiternden Sklaven die Rede ist, der sein anvertrautes Geld verliert, den Rezipienten bestärken: Ein „Handeln“ mit der Gabe Gottes ist stets erfolgreich. Die sehr intensiv vermittelte Freude ist in dieser Parabel, die kurz vor der Endgerichtschilderung Jesu steht (25,31–46), nicht zu unterschätzen. Demgegenüber darf die Angst vor der Zeit nicht das letzte Wort haben. Obgleich die Parabel mit einem furchterregenden Bild vom Gericht Gottes endet, ist die Pragmatik eine andere: Genau dieses Szenario gilt es abzuwenden, indem stattdessen furchtlos, ja sogar freudig in die Zukunft geblickt wird. Lähmende Angst ist letztlich das fatale Element, das erst zum Gericht führt. Auch in dieser Parabel liegen somit eine „Mahnung (gemäß 20–23) und Warnung (gemäß 24–30)“ vor.390 „The fact that Matthew motivates this emphatic exhortation by reference to the future judgment is equally characteristic of his gospel.“391 Die Emotion Angst ist hier von der der Furcht zu scheiden, welche Mt in seinen Parabeln häufig nutzt, um die ethische Forderung darin zu verstärken. Letztere Form der Furcht wird dort verwendet, um andere Handlungswirkungen zu zeitigen: Furcht soll zu handlungsbereiter Wachsamkeit – und damit zur selben Folge wie die Freude – führen. Dagegen erfährt die Angst des dritten Sklaven als eine charakterliche Disposition, die zu paralysierter Untätigkeit führt, deutliche Kritik. Zusammengefasst heißt dies: Das im Hintergrund der Parabel stehende Zeitverständnis ist Begründung für die ethische Botschaft der Parabel. Damit diese zu ihrer vollen Wirksamkeit kommt, platziert Mt gezielt Emotionen im Text, um den Rezipienten emotional in die Erzählung hineinzunehmen, am Schicksal der Figuren teilhaben zu lassen und dadurch einen Transfer der 388

HEILIGENTHAL, Gott, 90. HULTGREN, Parables, 280. 390 FRANKEMÖLLE, Matthäus II, 420. 391 LAMBRECHT, Treasure, 243. 389

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Forderung der Parabel auf sein eigenes Leben zu erreichen. Hierbei geht es gänzlich um die Erkenntnis, dass der Mensch seine Gegenwart aktiv im Sinne Gottes nutzen muss, um seine Zukunft zu gestalten. Zeit wird als ein unwiederbringliches Geschenk dargestellt. Trotz der Abwesenheit Christi ist der Mensch in dieser Zeit nicht verlassen, sondern in der Zeit als einer Gabe Gottes aufgehoben und geborgen, und darf und soll diese entsprechend nutzen. Jegliche Emotionen, die sich mit diesem Zeitverständnis verbinden, sei es zuversichtliche Freude oder respektvolle Furcht, sind angemessen. Sie dürfen jedoch keine negativen handlungspragmatischen Auswirkungen haben, wie etwa aktives Handeln hemmende Angst. Das Verhältnis, das die Parabel von den anvertrauten Geldern zwischen Ethik, Emotionen und Zeit vermittelt, kann demnach in folgendem Schaubild dargestellt werden: Begründung durch die Zeit: – Die Zeit ist von ungewisser Dauer und unwiederbringlich. – Die Gegenwart ist die einzig verfügbare Zeit. Sie bestimmt die Zukunft.

Ethische Forderung: unermüdliches Handeln gemäß der Lehre Jesu (tätige Gottes-, Nächstenliebe)

Emotive Motivation: positiv: Freude/ Furcht → Wachsamkeit, Handlungsbereitschaft ex negativo: Angst → Untätigkeit

Abb. 4: Zusammenfassende Darstellung der emotiven Mechanismen der narrativen Ethik in Mt 25,14–30

6. Resümee: Der Mehrwert einer emotiven Textanalyse matthäischer Parabeln 6. Resümee

Während die spezifischen Ergebnisse der einzelnen Textanalysen bereits am Ende eines jeden Abschnitts nochmals komprimiert dargestellt sind, holt diese abschließende Betrachtung den Parabeln gemeinsame Aspekte ihrer emotiven Leserlenkung in den Blick. Die im dritten Kapitel vorgestellte Methodik hat an drei Parabeln des MtEv (18,23–35; 24,45–51; 25,14–30) exemplarisch Anwendung gefunden und erweist sich als effizient anwendbar sowie heuristisch gewinnbringend. Konkret: Bereits die genauere Betrachtung der im Text explizit genannten Emotionen fördert interessante Ergebnisse hinsichtlich der Leserlenkung zutage, wie etwa im Falle der zunächst unpassend erscheinenden Traurigkeit der Mitsklaven in 18,31. Insbesondere durch eine Analyse der indirekten Emotionsauslöser (Situation/Geschehnisse, Figuren/-handeln, Raum, Zeit) anhand narratologischer und historisch-kritischer Methoden ist der emotionale Rezeptionsvorgang (empathisch, sympathetisch, pragmatisch) nachzuvollziehen.

6. Resümee

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Hierdurch werden zum einen allgemein interessante Aspekte der Textrezeption sichtbar: Der empathische Rezeptionsvorgang vermag die verschiedenen Rollen aufzuzeigen, welche der Rezipient im Verlauf einer Erzählung einnehmen kann. Verläuft der empathische Vorgang affirmativ, d.h. das Hineinversetzen des Rezipienten in die Situation einer geschilderten Figur und der Abgleich der jeweiligen Emotionen führen zu deren Übereinstimmung, wird der sympathetische Rezeptionsvorgang in Richtung einer anteilnehmenden bis hin zur identifizierenden Sympathie gelenkt. Mit anderen Worten: Ein empathisch-affirmativer Rezeptionsvorgang begünstigt eine Innenperspektive des Rezipienten auf die Figuren. Demgegenüber folgt einem empathischdevianten Urteil eine stärker antipathische Haltung gegenüber der geschilderten Figur, wodurch eine Außenperspektive auf das Geschehen eingenommen wird. Dadurch tendieren die Rezeptionsemotionen dazu, sich stärker von denen der Figuren zu unterscheiden als im Falle des empathisch-affirmativen, sympathisch ausfallenden Rezeptionsvorgangs. Auch der pragmatische Rezeptionsvorgang kann unterschiedlich ausfallen: entweder im Sinne eines Ansporns oder präventiver Maßnahmen. In den analysierten mt Parabeln sind beide Möglichkeiten der Textrezeption zu beobachten, da sowohl positive als auch negative Handlungsstränge geschildert werden: Im Falle des unbarmherzigen Sklaven (18,28–30), des bösen Sklaven (24,48 f.) und des faulen Sklaven (25,18.24 f.) zielt der Text auf eine Abgrenzung des Rezipienten von den dargestellten Figuren. Im Falle der Mitsklaven (18,31), des treuen Sklaven (24,46 f.) und der beiden guten Sklaven (25,16 f.20–23) hingegen wird Sympathie angeregt. Auf diese Weise wird dem Rezipienten maximale Flexibilität abverlangt; doch ermöglicht diese Offenheit auch einen weiteren, beobachteten Zug der mt Parabeln. Denn zum anderen werden anhand des emotiven Rezeptionsvorgangs die spannenden hermeneutischen Wendungen am Ende der mt Parabeln deutlich: Die vorerst empfundene Befriedigung über die Bestrafung der bösen Sklaven soll der Rezipient vermittels des als grausam geschilderten Schicksals und dessen metaphorische Deutung auf das alle Menschen betreffende Gericht Gottes empathisch neu bewerten, wodurch sich der sympathetische Rezeptionsvorgang von Antipathie in Sympathie wandelt und aufseiten des Rezipienten Bestürzung, Mitleid und Furcht entstehen. Diese Emotionen haben wiederum direkten Einfluss auf den pragmatischen Rezeptionsvorgang und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass entsprechend der ethischen Forderungen der Parabeln gehandelt wird. Darüber hinaus liefern die Ergebnisse der emotiven Analyse der mt Parabeln eine Antwort auf die Frage nach ihrem gattungsspezifischen Mehrwert in den Reden Jesu. Auffällig ist, dass Jesus seine Parabeln stets im Anschluss an deliberative Reden erzählt: Die Parabel vom unbarmherzigen Sklaven folgt der Lehre über den Umgang mit sündigenden Gemeindemitgliedern und seiner Forderung nach grenzenloser Vergebung (18,15–22); die betrachteten

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Kap. 5: Emotive Analyse ausgewählter matthäischer Parabeln

Endzeitparabeln folgen einer Rede Jesu über die Ereignisse der Endzeit sowie seiner Forderung zur Wachsamkeit (24,1–42). Sie setzen also bereits Gesagtes neu in Szene. Der besondere Mehrwert dieser spezifisch narrativen Veranschaulichung liegt in der aktiven, vom Rezipienten eigens zu vollziehenden Deutung der Metaphorizität der Parabeln unter Einbeziehung seiner ganzen Person: Parabeln sprechen den Rezipienten nicht nur kognitiv, sondern auch emotional an, indem dieser sich nicht (nur) zu einer Sache, sondern zu Figuren und deren Handeln und Ergehen in Beziehung setzt. Darüber hinaus kann er sich aufgrund des metaphorischen Charakters der Parabeln ihrer Botschaft nicht entziehen, welche ihn ebenso betrifft wie die dargestellten Figuren. All dies unterstützt die ethische Textpragmatik in einer Weise, wie es nur parabolische Narrationen vermögen. In den mt Parabeln nehmen die Rezeptionsemotionen somit eine zweifach wichtige Rolle ein: Zum einen verstärken sie die ethische Pragmatik der Erzählungen erheblich. Die Bestürzung und Scham des Rezipienten angesichts seiner eigenen Unfähigkeit zur Vergebung in 18,35 betonen die Forderung zur grenzenlosen Vergebungsbereitschaft; die Furcht vor dem „Tag“ und der „Stunde“ sowie die daraus resultierende Betroffenheit und das Mitleid angesichts des „Weinens und Zähneknirschens“ des bösen Sklaven in 24,51 intensivieren die Wachsamkeit hinsichtlich der eigenen Lebensführung; das Entsetzen und das Mitleid angesichts der harten Bestrafung des ängstlichen Sklaven in 25,30 steigern den eigenen Tatendrang allen Widrigkeiten zum Trotz. Indem alle drei analysierten Parabeln mit stark emotionalisierenden Schlüssen arbeiten (vgl. den Zorn des Königs und die Folter in 18,34 f., das Entzweischneiden in 24,51, das Hinauswerfen in die äußerste Finsternis in 25,30 sowie das Weinen und Zähneknirschen in 24,51 und 25,30) verstärken sie ihren Handlungsimpuls beträchtlich. Zum anderen übernehmen die Rezeptionsemotionen eine bedeutende Stellung in der Plausibilisierungsstrategie der mt Moral. Denn in den betrachteten Parabeln wird deutlich, dass das Mt-Ev seine ethischen Forderungen maßgeblich anhand zukünftiger Ereignisse plausibilisiert: Belohnung bzw. Bestrafung im Gericht Gottes motivieren gute Taten.392 Entsprechend lautet das Urteil Richard Hays’ über die Parabeln in der Endzeitrede Jesu: „The aim of such stories is to instill godly fear in the hearers and to motivate them to do the will of God while they still have opportunity, before the judgment comes upon them.“393 Dies trifft ebenso auf Mt 18,23–35 zu. Schwachpunkt dieser Moral des Mt-Ev ist es jedoch, dass ihr Bezugspunkt in einer noch fernen Zukunft liegt und eine solche Motivation gefährdet ist, mit wachsender temporaler Distanz nachzulassen.394 Darum muss der künftige Handlungs392

Vgl. MOHRLANG, Matthew, 48–52. HAYS, Vision, 107. 394 Vgl. DE SOUSA, Rationality, 224–226. 393

6. Resümee

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grund in der Gegenwart der Rezipienten wachgehalten werden, sodass er etwaige aktuell-akute Bedürfnisse zu überbieten vermag. Narrationen eignen sich in besonderem Maße für eine solche Vergegenwärtigung, indem die narrativ ausgelösten Emotionen das künftige Geschehen bereits in der Gegenwart der Rezipienten erfahrbar und wirksam machen. Auf diese Weise gewährleistet die antizipatorische Wirkung der in den Parabeln des Mt ausgelösten Emotionen, d.h. das vorwegnehmende Wahrnehmen eines möglichen, künftigen Ereignisses, ihre ethisch-moralische Wirksamkeit in der Gegenwart. Somit hat sich die anfangs formulierte Arbeitsthese hinsichtlich des Nutzens einer besonderen Berücksichtigung emotionaler Prozesse im Rezeptionsvorgang narrativer Texte anhand der Betrachtung mt Parabeln bestätigt. Die deskriptive Analyse der in den Parabeln direkt oder indirekt vermittelten Figurenemotionen sowie die Ermittlung der aus der Erzählung resultierenden Rezeptionsemotionen erbringen genauere Ergebnisse hinsichtlich ihrer Bedeutung für den hermeneutischen Rezeptionsprozess und die narrativ-ethische Textpragmatik. Hier soll noch einmal betont werden, dass die dargestellte Leserlenkung auf Textebene operiert und somit lediglich mögliche Spielräume der Rezeption eröffnet, welche für einen empirischen Rezipienten nicht zwangsläufig zutreffen müssen. Für das hier angestrebte Ziel einer exakteren Textanalyse erweist sich die vorliegende „emotive Heuristik“ jedoch als aufschlussreich und nutzbringend. Den Ertrag dieser Ergebnisse für ein vertieftes Verständnis der narrativen Ethik des Mt-Ev gilt es im folgenden Kapitel zu prüfen.

Kapitel 6

Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der matthäischen Ethik Handeln, das ist es, wozu wir da sind. (Johann Gottlieb Fichte) Bevor nun der letzte Schritt dieser Studie vollzogen wird, sollen die vorausgehenden Untersuchungen wie folgt zusammengefasst werden: Im Zuge einer ersten, praktisch-alltäglichen Annäherung an den Gegenstand dieser Studie ergab sich der Appell, bei einer Untersuchung narrativ vermittelter Ethik die Rolle der Emotionen im Rezeptionsprozess zu berücksichtigen sowie zu fragen, ob bzw. wie diese genutzt werden, um die Textpragmatik zu unterstützen (Einleitung). Das erste und das zweite Kapitel legten für dieses Anliegen sodann die wissenschaftlich-theoretischen Grundlagen, indem sie die für die Thematik relevanten Themen im aktuellen und interdisziplinären Forschungsdiskurs darstellten sowie eine Begründung der besonderen Rolle von Emotionen in ethischen Belangen aus verschiedenen Forschungsperspektiven erbrachten. Es folgte der methodische Hauptteil der Studie, der eine gezielte Analyse emotionaler Prozesse während des Rezeptionsvorgangs für die Exegese mittels eines inhaltlich begründeten und methodisch detaillierten Vorschlags einer „emotiven Heuristik“ bot (Kapitel 3). Danach wurde diese Methode auf der Grundlage des Mt-Ev angewendet, indem die Schrift zunächst auf ihre explizit genannten Emotionen und deren ethische Relevanz hin geprüft (Kapitel 4) und sodann die Rolle der Emotionen für die ethische Botschaft in ausgewählten mt Parabeln untersucht wurde (Kapitel 5). Doch das erklärte Ziel dieser Studie umfasst nicht nur, den Emotionen einen eigenen Raum innerhalb der exegetischen Textanalyse zu schaffen, sondern auch anhand dieser emotiven Textanalyse genaueren Aufschluss über die Mechanismen narrativ vermittelter Ethik zu gewinnen. Daher geht es in diesem letzten Arbeitsschritt nun darum, die Ergebnisse der Textanalysen noch einmal hinsichtlich ihres Mehrwerts für ein vertieftes Verständnis der narrativen Ethik im Mt-Ev zu bündeln und sie anhand des Gesamttextkorpus’ überprüfend genauer auszuführen. Dazu seien drei bereits bekannte Aspekte der narrativ-parabolischen Ethik des Mt-Ev nun näher betrachtet: erstens das Verständnis sowie die textpragmatische Nutzung des Mt von Emotionen, zweitens die mt Zeitkonzeption

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

und der besondere Zusammenhang zwischen Ethik, Emotionen und Zeit, welcher in den Textanalysen des letzten Kapitels immer wieder sichtbar wurde und drittens die Stärken dieser emotiven Strategien des Mt-Ev.

1. Emotionen im Matthäus-Evangelium 1. Emotionen im Matthäus-Evangelium

1.1 Die ethische Relevanz von Emotionen Sowohl der Blick in diverse antike, philosophische sowie biblische Texte als auch in die modernen Wissenschaften hat ergeben, dass zwischen Emotionen und Handeln ein deutlicher Zusammenhang besteht.1 In der Antike ist der Einfluss der Emotionen auf das menschliche Verhalten und Handeln bekannt. Vor allem griechische Philosophen sind sich möglicher negativer, handlungspragmatischer Auswirkungen von Emotionen bewusster als positiver, weswegen eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber den Emotionen überwiegt und sich unterschiedlich ausgeprägte Ansätze der Affektkontrolle finden: Während bspw. die Akademie und der Peripatos in der Metriopathie, der maßvollen Emotionalität, das Ideal sehen, strebt die Stoa sogar nach Apathie, der völligen Vermeidung jeglicher Emotionen.2 In frühjüdischen Texten und der Bibel begegnen Emotionen als weitaus höher geschätzte Elemente der Anthropologie, und sowohl das rechte Verhältnis zum Mitmenschen, als auch das zu Gott konstituieren sich ausdrücklich emotional. Es zeigt sich außerdem, dass die Naturwissenschaften die maßgebliche Rolle der Emotionen für das menschliche Handeln in vielerlei Hinsicht belegen. So werden viele emotionale Prozesse evolutionsbiologisch erklärt und verschiedenste kognitive sowie behaviorale Auswirkungen von Emotionen in zahlreichen Studien erforscht. Dieser genuine Zusammenhang zwischen Emotion, Kognition, Handeln und dem menschlichen Leben in Gemeinschaft zeigt auch eine direkte Verbindung zwischen Emotion und Moral auf und deckt sich mit Emotionsforschungen, welche vielen Emotionen eine moralische Konnotation zuschreiben (bspw. Ekel, Verachtung, Entrüstung u.a.). Diese Erkenntnisse machen es notwendig, Emotionen auch in der Ethik, der Reflexion auf die moralische Dimension menschlicher Verhaltens- und Handlungsweisen, zu berücksichtigen. Der Blick in das Mt-Ev hat diese Verbindung bestätigt.3 Schon die Aufstellung aller explizit im Mt-Ev genannten Emotionen macht deutlich, dass Emotionen für Mt eine durchaus wichtige Komponente der Anthropologie darstel1

S.o. Kap. 2. Vgl. VON GEMÜNDEN, Affektkultivierung, 37. Für einen ausführlicheren Überblick über antike Konzepte der Affektkontrolle vgl. a.a.O., 38–46. 3 S.o. Kap. 4. 2

1. Emotionen im Matthäus-Evangelium

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len. V.a. aber, wenn diese auf ihren Zusammenhang zum Handeln hin geprüft werden, wird klar, dass Emotionen eine starke ethische Relevanz aufweisen, da sie häufig ein bestimmtes Handeln motivieren (vgl. 13,19–23; 18,27.34; 21,29; 22,7; 25,25). Dabei ist eine ständige Ambivalenz der Emotionen feststellbar: Emotionen können zum guten und rechten Handeln führen. Dies tun insbesondere die positiven Emotionen Liebe und Freude (vgl. 5,44; 13,44). Genauso aber können negativ erlebte Emotionen wie Furcht, Mitleid oder Reue/Scham gute Taten hervorrufen (vgl. 9,8; 20,34; 27,3 f.), wenn ihnen ein positiver Bezug zum Nächsten und/oder Gott zugrunde liegt. Gleichzeitig sind gerade die negativ erlebten Emotionen ethisch hochgradig gefährlich einzustufen, da sie häufig egoistisches Handeln auslösen und diesen Bezug sowohl zum Mitmenschen als auch zu Gott verlieren. Dabei fällt der vorwiegend grammatisch aktive Gebrauch der Emotionen auf, d.h. sie werden als vom Menschen beeinflussbare Elemente ihrer Anthropologie betrachtet. Dies bestätigen nicht zuletzt die zahlreichen emotiven Imperative, die sich durchgängig im Mt-Ev finden (vgl. 5,12; 11,6; 18,10.35; 24,6). Der rechte Umgang mit Emotionen kann und soll geübt werden. Je selbstverständlicher dieser wird, desto wahrscheinlicher ist auch ethisches Handeln. Emotive Imperative zeigen ein weiteres, bereits angedeutetes Element der mt Emotionen auf: Sie vermitteln den Eindruck, Emotionen könnten aktiv hervorgerufen werden. Dies scheint im Mt-Ev in der Tat der Fall zu sein, wenn man die Perspektive beachtet, welche Emotionen zugrunde liegen: Bereits die Betrachtung der als positiv empfundenen Emotionen hat ergeben, dass diesen eine auffällige Orientierung am Gegenüber eignet. Die Freude, zu welcher das Mt-Ev auffordert, ist eine sich auf Jesus und Gott ausrichtende, d.h. aus dem Glauben resultierende Freude, keineswegs eine egoistische (vgl. 2,10–12; 5,12; 13,44; 28,8). Auch Dankbarkeit (vgl. 21,9; 23,39) und Hoffnung weisen denselben ausdrücklichen Glaubensbezug auf (vgl. 12,17–21). Liebe und Sanftmut sind die deutlichsten Vertreter für eine altruistisch geprägte Emotionalität. Während das Mt-Ev Liebe, welche sich auf profane Dinge richtet, kritisiert, fordert es zur bedingungslosen Nächstenliebe auf (vgl. 6,5; 23,6 gegenüber 5,43 f.). Sanftmut wird Jesus als ein charakteristisches Merkmal zugeschrieben, das die Menschen imitieren sollen (vgl. 11,29; 21,5). Liebe und Sanftmut stehen in der Antike üblicherweise Hass und Zorn gegenüber, was deutlich macht, dass eine der Liebe und der Sanftmut inhärente, wohlwollende Ausrichtung auf das Gegenüber vor relational desaströsen Handlungen schützt. Die Ausrichtung auf den Mitmenschen wird als eine wichtige Komponente der Emotionen im Mt-Ev sichtbar. Positive Emotionen resultieren aus der Orientierung an Gott und dem Nächsten. Diese emotionale Disposition kann der Leser/Hörer, wie gesagt, einüben, indem er die Perspektive des Anderen übernimmt.

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

Hier wird der „empathische Rezeptionsvorgang“, welcher der hier dargestellten „emotiven Heuristik“ zugrunde liegt, sichtbar:4 Der Mensch versetzt sich in die Situation des Gegenübers und gleicht seine daraus resultierenden Emotionen mit dessen Emotionen ab. Fällt dieser Abgleich affirmativ aus, empfindet er dieselbe Emotion, welche zu genuin altruistischen Taten motivieren kann: zu einer Liebe zum Nächsten, welche diesen so radikal ins Zentrum der eigenen Interessen stellt, wie sich sonst nur die Liebe zu sich selbst äußerst (5,44; 19,19; 22,39), und ein Mitleid, dass den Anderen in seinem Leiden vollständig ernst nimmt (18,27). Mitleid ist das deutlichste Beispiel für eine empathisch-affirmative Haltung: Jesu mitfühlende Zuwendung zu den Menschen begegnet im Mt-Ev immer wieder prominent (vgl. 9,36; 14,14; 15,32; 20,34), und entsprechend sind auch die Menschen zu imitierender Barmherzigkeit aufgefordert (vgl. 9,13; 12,7; 23,23). Dabei ist auffällig, dass Mitleid mit allen Menschen empfunden werden kann, nicht – wie es etwa Aristoteles lehrt – nur mit Personen, die der eigenen Person besonders ähnlich sind oder persönlich nahestehen (Aristot., rhet. II,1385b-1386a). Damit vermittelt das Mt-Ev das Bild einer emotionalen Disposition, die in der Weise eingeübt werden kann, dass die Perspektive der Mitmenschen übernommen und über eigene Interessen gestellt wird. Diese Orientierung am Anderen imitiert die bedingungslose Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen und ist eine zentrale Konstituente des Glaubens (vgl. 5,45). Ebenfalls sichtbar wird diese empathische Perspektive in der analysierten Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (18,23–35): Sowohl das Mitleid des Königs als auch die Traurigkeit der Mitsklaven sind Emotionen, die dadurch ausgelöst werden, dass die Perspektive des leidenden Gegenübers eingenommen wird. Die Parabel vom verlorenen Schaf (18,12–14) vermittelt ebenfalls die Freude über das Schicksal eines Geretteten. Schließlich ist auch die Pointe der Parabel von den Schafen und den Böcken (25,31–46), dass diejenigen, die Gottes Willen tun, sich aufopferungsvoll und ganz selbstverständlich ihren Nächsten zuwenden, ohne dabei auf ihren eigenen Nutzen zu schauen. Bei der Nennung negativ empfundener Emotionen wird diese empathische Perspektive ex negativo sichtbar: Emotionen wie Verachtung (vgl. 27,39–44), Ärger (vgl. vgl. 11,6; 13,21), Neid (vgl. 20,24; 27,18), Zorn (vgl. 2,16; 5,22) und Hass (vgl. 6,24; 24,9 f.) weisen deutlichen Selbstbezug auf, der die Perspektive des Gegenübers verstellt und allein am eigenen Status interessiert ist. Solche Emotionen begegnen im Mt-Ev entsprechend dort, wo Menschen unfähig sind, sich an Gott und Jesus sowie am Wohl des Mitmenschen zu orientieren und stattdessen sich selbst ins Zentrum ihrer Wahrnehmung stellen. Dies zeigt sich bspw. in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg, die missgünstig auf die gleichhohe Lohnauszahlung jener Arbeiter schauen, die weniger lang gearbeitet haben als sie selbst (20,11). Ebenso sind die Pächter 4

S.o. Kap. 3.2.1.2.

1. Emotionen im Matthäus-Evangelium

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in der Parabel von den bösen Weingärtnern nur am eigenen Gewinn orientiert und empfinden kein Mitleid, weder mit den vom Besitzer des Weinbergs gesandten Sklaven noch mit dessen Sohn (21,35–39). Stattdessen sollte empathisch auf Andere reagiert, d.h. die eigene Perspektive zugunsten der des Gegenübers zurückgenommen werden: Dies äußert sich in einer Liebe, die selbst gegenüber Feinden wirkt (5,44), in bedingungs- und grenzenlosem Mitleid und weitherziger Vergebungsbereitschaft (18,35), in einer sanftmütigen Einstellung dem Anderen gegenüber, welche die Sanftmut Jesu zum Vorbild nimmt (11,29 f.), und in einer Freude und Hoffnung, welche sich auf das allgemeine, göttliche Heil statt auf irdische Dimensionen ausrichten (5,12; 12,21). Ein solcher Perspektivwechsel wird auch bei Reue und Schuldgefühlen erkennbar: Hier wird die eigene, egoistische Tat in ein neues Licht gerückt und plötzlich verändert beurteilt (vgl. 21,29; 27,3). Diese empathische Ausrichtung auf den Nächsten konstituiert das Leben des Gläubigen im Mt-Ev und unterscheidet ihn von Menschen, die rein an egoistischen und profanen Bedürfnissen orientiert sind (vgl. 5,44–48; 13,21 f.; 24,48 f.). Bei allen eigenen Empfindungen darf der Nächste in seiner Situation, seinen Emotionen und seinem Ergehen nicht aus den Augen verloren werden. In dieser Hinsicht darf auch die Goldene Regel (7,12) letztendlich nicht als egoistische, dem Tun-Ergehen-Zusammenhang verpflichtete Forderung verstanden werden, sondern vielmehr „as an ethic of other-regard demonstrated through deeds“5. Ihr zugrunde liegt das empathische Hineinversetzen in den Nächsten, woraus wiederum auf dessen Wohl ausgerichtete Taten erwachsen. Die aus der empathischen Orientierung am Nächsten resultierenden Emotionen geben den Impuls für rechtes Handeln, das ganz am Nächsten ausgerichtet ist. Damit bilden sie nicht nur wichtige Parameter des Glaubens überhaupt, sondern v.a. des aktiv gelebten Glaubens. Der motivationale Impuls der Emotionen wird im Mt-Ev immer wieder aufs Neue sichtbar. Emotionen nennt Mt selten um ihrer selbst willen, sondern meist in direkter Verbindung mit Folgehandlungen (vgl. 2,16; 8,10–13; 9,36; 13,21 f.44; 14,14.19 f.; 15,31.32.36 f.; 20,34; 22,22; 26,22.37–39; 27,3 f.18; 28,8). Es wird somit nicht nur die ethische Relevanz von Emotionen deutlich, sondern diese Art der Handlungsmotivation außerdem hoch geschätzt und bestärkt, so sie zu moralischem Handeln führt (vgl. 9,13; 12,7; 19,8). Damit weist Mt den Emotionen einen hohen Stellenwert im Gemeinschaftsleben der Glaubenden zu, wodurch ihnen ekklesiologische Bedeutung zukommt: Die empathische Perspektive auf den Nächsten erscheint im Mt-Ev als Grundlage eines intakten sozialen Gemeindegefüges (vgl. 5,21–26.44–48; 7,1–5; 18,21–35; 20,16.24– 28; 25,33–46), welches sich wiederum christologisch im Vorbild der demüti-

5

STASSEN/GUSHEE, Kingdom 2016, 443.

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

gen und liebevollen Zuwendung Jesu zu den Menschen begründet (vgl. 10,1; 16,24–26; 20,26–28; 23,10–12; 26,28). Wenn dem Evangelisten Mt also bewusst ist, dass Emotionen einen solchen Einfluss auf das menschliche Handeln zu nehmen vermögen, ist anzunehmen, dass er sie auch bei der Verfassung des Evangeliums selbst nutzt. Wie bereits ausführlich dargelegt, arbeiten Narrationen stark mit emotionalisierenden Sprachmitteln.6 Dieser emotive Effekt muss daher bei einer Analyse der narrativen Ethik des Mt-Ev berücksichtigt werden. 1.2 Emotionen als Verstärkungsinstrumente der ethischen Pragmatik Die im Mt-Ev von Jesus häufig eingesetzte Betonung eines möglichen negativen Ausgangs des Gottesgerichtes (vgl. 3,9–12; 7,13 f.21–23; 8,11 f.; 11,20–24; 16,26; 20,16; 21,32.43; 22,14; 23,1–39) gewinnt gerade in ihren narrativen Verarbeitungen an Bedeutung, indem die Aussagen nicht nur gehört und rational verstanden, sondern vielmehr auch emotional erfahren werden. Wie im zweiten Kapitel ausführlich gezeigt, sind emotionalisierende Narrationen gegenüber rein rationalen Überlegungen insofern im Vorteil, als das erzählte Geschehen ganzheitlich nachvollziehbar wird, was die Wahrscheinlichkeit handlungspragmatischer Auswirkungen erhöht: Geschichten, die Emotionen im Rezipienten wecken, bleiben bei diesem länger „aktiv“, d.h. sie beschäftigen ihn und beeinflussen seine Emotionen und seine Stimmung, was unweigerlich Konsequenzen für sein Handeln nach sich zieht. Durch das längere Nachdenken über eine aufwühlende Geschichte erlangt diese zudem an Überzeugungskraft, weil die neue, häufig nur implizit vermittelte Erkenntnis vom Rezipienten selbst erschlossen, statt von außen aufgedrängt wird. Durch das starke Zusammenspiel von Emotionen und moralischer Wahrnehmung vermögen emotionalisierende Geschichten außerdem, moralischen Botschaften mehr Gewicht zu verleihen als bloße Gebots- oder Verbotskataloge. Die ausgelösten Emotionen drängen auf eine sofortige Reaktion, weil das positive bzw. negative Gefühl beibehalten bzw. aufgelöst werden soll.7 Überdies bleiben Geschichten, die auch emotional erinnert werden, besser im Gedächtnis. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Botschaft der Erzählung auch für das eigene Leben Bedeutsamkeit erhält. Kurz gesagt: Je stärker eine ethische Norm emotional markiert wird, desto wahrscheinlicher findet sie den Weg ins Tun, die Nachfolge. Entsprechend stehen mt Parabeln meist am Ende einer Belehrung Jesu und verstärken deren ethische Forderungen mittels eines gezielt narrativen Schlusses: „The embedding of the parables in the macro context of the entire Gospel correlates to the sensitive structuring of the micro contexts. The parables often bring confirmatory speeches 6 7

S.o. Kap. 2.4. Vgl. GREENSPAN, Right, 43 f.

1. Emotionen im Matthäus-Evangelium

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that intend to create an impulse to action to a close. For example in Matt 7,24–26 (wise and foolish builders) in the Sermon on the Mount; in 11,16–19 (playing children); in 13,52 in the parabolic discourse or in Matt 18,23–35 (unforgiving servant) in the discourse on the church.“8

Die einzelnen Textanalysen der Parabeln vom unbarmherzigen Sklaven (18,23–35), vom treuen oder bösen Sklaven (24,45–51) sowie von den anvertrauten Geldern (25,14–30) fördern eine klare Unterstützungsfunktion der Rezeptionsemotionen bezüglich der vermittelten ethischen Botschaft zutage. Die Parabel vom unbarmherzigen Sklaven (18,23–35) motiviert zu einer aktiven Übernahme der Vergebungsbereitschaft beim Rezipienten erheblich durch die empathisch hervorgerufenen Rezeptionsemotionen: Das Mitleid des Königs angesichts der verzweifelten Lage seines Sklaven sowie die Traurigkeit der Mitsklaven angesichts ihres in Schuldhaft genommenen Kollegen vermitteln hierfür die rechte Perspektive: Die Situation der Betroffenen wird nachgefühlt und dadurch helfendes Handeln motiviert. Am Handeln der Mitsklaven wird indessen ersichtlich, dass sie zu solchem noch nicht wirklich fähig sind: Sie berichten dem König vom Verhalten des unbarmherzigen Sklaven. Ihre darin vermittelte Empörung und ihr Ärger über die Erbarmungslosigkeit des Sklaven provozieren auch den Zorn des Königs und führen schließlich zu seiner verhängnisvollen Bestrafung. Die Erzählung zeigt das gefährliche Potenzierungspotential dieser Emotionen auf (Empörung, Ärger, Zorn lösen eben diese Folgeemotionen wiederum aus) und stellt somit den tragischen Verlauf der Parabel der geforderten wohlgesonnenen, barmherzigen und geduldigen Einstellung gegenüber dem Nächsten entgegen. Anhand dieser Figuren wird die ethische Forderung nach steter Vergebungsbereitschaft illustriert, welche von den Rezeptionsemotionen noch verstärkt wird: Die Empörung über das unbarmherzige Verhalten des Sklaven angesichts der vorausgegangenen Gnade des Königs lösen Zufriedenheit über die Anzeige der Mitsklaven und Genugtuung über die Rücknahme der Gnade des Königs aus. Der Transfer des Königs auf Gott verstärkt die verknüpften Emotionen erheblich: Die zuteilgewordene Gnade ist nicht nur großzügige Tat, sondern v.a. eine Beziehungstat: Gott setzt sich zum Menschen barmherzig in Beziehung – bedingungs- und grenzenlos. Diese (unverdiente) wohlwollende Relation, welche grundsätzlich Dankbarkeit auslösen sollte, verstärkt die Empörung und den Wunsch nach Bestrafung angesichts des folgenden unbarmherzigen Handelns des Sklaven. Doch V. 35 („So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.“) führt am Ende der Parabel drastisch vor Augen, dass eben diese Emotionen den Rezipienten als Belastungsmomente seiner eigenen Vergebungsunfähigkeit selbst verurteilen. Diese Erkenntnis zielt sodann auf andere Emotionen wie Scham und Reue und lenkt in Richtung einer sympa8

ZIMMERMANN, Parables, 181.

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

thischen Rezeptionshaltung dem unbarmherzigen Sklaven gegenüber – obgleich im bisherigen Verlauf der Geschichte eine starke Abgrenzung zu dieser Figur vollzogen wurde. Der Zorn des Königs, das leidvolle Ergehen des Sklaven sowie der furchterregende Raum des Gefängnisses als Ort der Folter führen das kommende Gericht Gottes auf intensive Weise vor Augen und lösen Furcht vor diesem aus. Damit wird die Handlungspragmatik der Parabel ungemein unterstützt, indem aus dieser Furcht wachsame Reflexion der eigenen Vergebungspraxis resultiert. Die Parabel vom treuen oder bösen Sklaven (24,45–51) schildert die Handlungsalternative eines Sklaven, der von seinem Hausherrn während dessen Abwesenheit über seinen Haushalt gesetzt wird und nun die Wahl hat, gemäß dessen Anweisungen zu handeln oder aber seine Macht für seine eigenen Bedürfnisse auszunutzen und seine eigentliche Aufgabe zu vernachlässigen. Aufgrund der knappen Erzählzeit des ersten Erzählstrangs, in dem der glückselig gesprochene Sklave seiner Aufgabe gewissenhaft nachkommt und bei der Rückkehr seines Herrn entsprechend belohnt wird, wird trotz positiven Ablaufs des empathischen sowie sympathetischen Rezeptionsvorgangs eine Identifikation mit diesem Sklaven erschwert. Der Fokus der Parabel liegt auf der Darstellung der zweiten Handlungsoption: Viel ausführlicher ist beschrieben, wie der Sklave aufgrund der Annahme des längeren Ausbleibens seines Herrn einer ausschweifenden Lebensweise frönt, während er seine Kollegen misshandelt, statt „ihnen Speise zu geben zur rechten Zeit“. Entsprechend endet die Parabel mit der harten Bestrafung „jenes bösen Sklaven“, der von der Rückkehr seines Herrn überrascht, entzweigeschnitten und zu den Heuchlern hinausgeworfen wird, wo „Weinen und Zähneknirschen“ herrschen. Durch diesen Raum, das dortige Ergehen des Sklaven sowie seine fatale Zeiteinschätzung werden starke Rezeptionsemotionen ausgelöst, welche die ethische Forderung zur konstant wachsamen Lebensführung gemäß dem Willen Gottes unterstützen: Indem die Parabel mit der so harsch vor Augen gestellten Strafe des bösen Sklaven endet und indem Transfersignale wie der „Tag“ und die „Stunde“ eine existentielle Übertragung auf das Gericht Gottes nahelegen, zielt sie auf unwillkürliche Furcht vor dem Gericht Gottes aufseiten des Rezipienten. Diese wird trotz aller Abgrenzung von der Figur dennoch ein gewisses Maß an empathisch-affirmativer Anteilnahme an ihrem Schicksal sowie Mitleid provozieren. Die vom Motiv des Gerichts ausgelöste Furcht sowie das dadurch ausgelöste Mitleid, welches einen emotionalen Einblick in die Bestrafung des Sklaven bietet, vermögen wiederum eine wachsame Reflexion des eigenen Handelns zu motivieren und damit die ethisch-handlungspragmatischen Effekte der Parabel zu unterstützen. Die Parabel von den anvertrauten Geldern (25,14–30) ist emotiv stark durch die explizite Nennung dreier Emotionsbegriffe geprägt: Zweimal begegnet die „Freude des Herrn“, in die die beiden ersten Sklaven, welche die

1. Emotionen im Matthäus-Evangelium

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ihnen anvertraute Geldsumme ihres Herrn in der Zeit seiner Abwesenheit verdoppelt haben, eingehen sollen. Demgegenüber steht die Begründung des dritten Sklaven für sein Vergraben des anvertrauten Geldes mit seiner Angst. Während die starke positive Darstellung der ersten beiden Sklaven auf Sympathie und Bewunderung und eine möglichen Selbstidentifikation („So will ich auch sein!“) abzielt, beabsichtigt die Darstellung des dritten Sklaven eine Abgrenzung von dieser Figur. Entsprechend liegt nahe, dass der Rezipient auf dessen erste Bestrafung (Entzug des ihm anvertrauten Geldes) mit Zufriedenheit und Genugtuung reagieren soll. Doch auch hier vollzieht sich ein emotionaler Twist am Ende der Parabel: Die zweite Strafe in V. 30 (Hinauswerfen in die „äußerste Finsternis“, wo „Weinen und Zähneknirschen“ herrschen werden) geht weit über eine als angemessen empfundene Strafe hinaus, ist der Sklave mit dem Vergraben des Geldes doch wenigstens im legalen Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten geblieben. Diese überaus harte Strafe sowie die hoch emotionalisierende Beschreibung der Raumdimension sowie des Ergehens der Figur eröffnen wiederum einen empathischen Rezeptionsvorgang, welcher vielleicht sogar zu Sympathie, wenigstens aber zu mitfühlender Anteilnahme am Schicksal der Figur zu führen vermag. Der Transfer des Geschehens auf das Gericht Gottes, das diejenigen bestrafen wird, die mit den Gaben Gottes nicht „wirtschaften“, d.h. sie nicht tätig entfalten und vermehren, stellt die ethische Forderung deutlich heraus. Diese wird verstärkt durch den emotionalen Nachvollzug des Schicksals des dritten Sklaven. Die dadurch ausgelöste Bestürzung führt zu unweigerlicher Furcht vor dem Gericht Gottes und veranlasst eine Überprüfung des eigenen Handelns. Als Fazit lässt sich für alle drei Parabeln formulieren, dass zur Anwendung der ethischen Forderung im eigenen Leben des Rezipienten maßgeblich durch emotionale Anteilnahme an der Erzählung motiviert wird. Am Schluss einer jeden Parabel ist ein spannender erzählerischer Kniff erkennbar, der die Emotionen des Rezipienten durch den Transfer des Erzählten auf das Gerichtsgeschehen am Ende der Zeit in einer bestimmten Weise nochmals wendet: Die Genugtuung über die Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven entlarvt in Mt 18 die eigene Unfähigkeit zur Vergebung; das Schicksal des bösen Sklaven am unerwarteten „Tag“ und in der unbekannten „Stunde“ der Rückkehr seines Herrn in Mt 24 macht einen möglichen tragischen Ausgang des Gerichts für den Rezipienten selbst nachfühlbar; die Bestürzung über die harte Strafe des dritten Sklaven für sein Nichtstun in Mt 25 verleiht der eigenen Handlungsbereitschaft umso stärkere Notwendigkeit. Ohne diese emotional verstärkten Erkenntnisprozesse wäre eine aktive Übernahme der ethischen Forderung der Parabeln nicht in gleicher Weise gewährleistet. Bei dieser gekonnten Rezeptionslenkung führt der Evangelist den Rezipienten mittels verschiedener sprachlicher Konstruktionen des Textes in eine stark dualistische Schwarz-Weiß-Welt: Gutes Handeln steht unmittelbar dem

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

bösen gegenüber. Die Gegensätze werden so klar gezeichnet, dass es sich jedem Rezipienten aufdrängt, ein Urteil in Richtung „dies ist gut“ und „jenes ist schlecht“ zu treffen. Die Rezeptionsemotionen, die sich durch das starke Zeichnen des „Schlechten“ einstellen, stützen dieses Urteil. Damit lenkt der Evangelist den Rezipienten jedoch in eine clevere „hermeneutische Falle“: Er muss seine im Laufe der Erzählung getroffenen Urteile überdenken, ggf. aktualisieren und auf sein eigenes Leben anwenden. Diese Selbsterkenntnis löst respektvolle Furcht vor dem kommenden Gericht Gottes aus, bei dem über die eigene Lebensführung genauso hart geurteilt werden wird wie über die der Sklaven. Die Furcht vermag wiederum, die wachsame Reflexion sowie ggf. Veränderung der eigenen Lebensweise stark zu motivieren. Dass Mt dies beabsichtigt, zeigt sich nicht zuletzt in den zahlreichen Aufforderungen zur Wachsamkeit im Anschluss solcher Narrationen (24,42.44; 25,13). Außerdem bestätigt ein Blick in weitere mt Parabeln diese narrativ-ethische Strategie des Mt: Am Ende der Parabel von den Arbeitern im Weinberg stellt er die – für den Rezipienten anhand der ausführlichen Rede der Arbeiter in V. 12 – nachvollziehbare Empörung der ersten Arbeiter der Güte des Weinbergbesitzers gegenüber, überführt und kritisiert ihren Ärger als selbstbezogene Missgunst (20,15). In der Parabel von den ungleichen Söhnen sowie in der von den bösen Weingärtnern wird die rhetorisch anmutende Frage Jesu jeweils auf die Antwortenden selbst zurückgewendet und lässt jene sich selbst verurteilen (21,32.42–45). Auch die Parabel vom Hochzeitsmahl wendet sich am Schluss nochmals gegen die Hörer, die hinterfragen sollen, ob sie selbst tatsächlich nicht nur geladen, sondern auch angemessen gekleidet sind (22,12–14). In all diesen Parabeln lässt sich also eine emotive Unterstützung der narrativ gewonnenen Selbsterkenntnis anhand der sprachlichen Gestaltung feststellen (vgl. bspw. die explizite Gegenüberstellung der Begriffe πονηρός und ἀγαθός in 20,15; das zweimal explizit genannte µεταµέλοµαι in 21,32; die Betonung der unerbittlichen Härte des Weinbergbesitzers bei seiner Rückkehr (κακοὺς κακῶς) durch die Hohepriester und Ältesten selbst in 21,41; die harte Bestrafung des unangemessen gekleideten Gastes und die Aufnahme des Leidenstopos ὁ κλαυθµὸς καὶ ὁ βρυγµὸς τῶν ὀδόντων in 22,13).

2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik 2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik

2.1 Das narrative Spiel mit der Zeit Bereits Aristoteles weist in seiner Rhetorik darauf hin, dass sich die drei Redegattungen (iudicale, deliberativum, demonstrativum) auf verschiedene Zeitdimensionen bezögen. Die deliberative Rede bspw., welche ethisch hochrelevant ist, da sie von etwas ab- oder zu etwas rät, ziele ausdrücklich auf die

2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik

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Zukunft (Aristot., rhet. I,1358b). Auch die in diesem Zusammenhang vom Redner gern geweckten Emotionen seien dementsprechend zukunftsgerichtet (Furcht, Zuversicht, Hoffnung).9 Narrationen gehen über diese spezifische temporale Charakteristik von Reden hinaus, indem sie sich auf jede Zeitdimension zu beziehen vermögen. Narrationen können in extrem kurzer Erzählzeit eine enorme Spannweite an erzählter Zeit umfassen. Dabei ist der Bezug auf die Zukunft freilich heikel: „Zeiträume in der Zukunft sind erkenntnismäßig problematisch, weil wir im Allgemeinen davon ausgehen, dass die Zukunft nicht festgelegt ist und sich insofern nichts Bestimmtes darüber aussagen lässt.“10 Hier ist die Metaphorizität der Parabeln ein cleverer Kniff, um über die prinzipiell unbekannte und unverfügbare Zukunft anhand alltäglicher, bekannter Szenarien Aussagen treffen zu können. Parabeln stellen somit zeitliche sowie unzeitliche, narrative Verknüpfungen her: Sie bilden nicht nur eine narrative Zeitlinie ab, sondern zielen auch auf eine metaphorische Äquivalenz zwischen zwei Elementen.11 Auf diese Weise erschließen Parabeln nicht nur die unbekannte Zukunft anhand bekannter, alltäglicher Geschehnisse, sondern holen auch vergangene und zukünftige Ereignisse sowie die damit verbundenen Emotionen in die Gegenwart. Hierdurch wird eine Erzählung umso effektiver für das eigene Leben. Die Vergegenwärtigung macht narrative Ethik so wirksam: Ohne das erzählte Geschehen selbst, und zwar in Echtzeit durchleben und erfahren zu müssen, kann durch sie gelernt werden und ein sofortiger Effekt eintreten. Dieser Effekt fußt auf dem paradox of fiction und dem seit Kendall L. Walton als make-believe-theory bezeichneten „Spiel der Fiktion“, welche die Haltung des Lesers beschreibt, sich selbst eine Geschichte glauben zu machen, wodurch diese für den Rezipienten persönliche Bedeutung erlangt.12 Zunächst ein genauerer Blick auf die zeitliche Verknüpfung dieses Vergegenwärtigungsmechanismus: Indem eine Narration die Vergangenheit oder die Zukunft emotional vergegenwärtigt, kann sie die Emotionen, welche mit diesen Zeitdimensionen verknüpft sind (Vergangenheit: bspw. Trauer, Reue, Erleichterung, Dankbarkeit; Zukunft: bspw. Furcht, Vorfreude, Zuversicht, Hoffnung), „(re-)aktivieren“ und sie etwaige, auf die Gegenwart bezogene Emotionen überwiegen lassen (bspw. auf aktuelle Objekte bezogener Ärger, Zorn, Verachtung, Schadenfreude). Der Philosoph Ronald de Sousa unterscheidet entsprechend zeitbezogene von sofortigen emotionalen Bedürfnissen: „T-desires [d.h. ‚time-indexed desires‘] may involve reference to particular temporal locations. […] They are the sort of desires that we can intend to realize. […] I-desires [d.h. 9

Vgl. SANDERS, Persuasion, 59. ZIPFEL, Fiktion (2015), 18. 11 Vgl. SCHMID, Elemente, 9. 12 Vgl. GERTKEN/KÖPPE, Fiktionalität, 245–249. 10

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

‚immediate desires‘] come without any such time index; we might say they are always, phenomenologically, desires for something right away.“13

Indem vergangene oder künftige Szenarien vergegenwärtigt werden, können diese Zeitdimensionen das Erleben in der Gegenwart verändern und unmittelbare emotionale Bedürfnisse zurückstecken.14 Solche zeitbezogenen Emotionen vermögen somit dem Umstand entgegenzuwirken, dass die Handlungsmotivation umso mehr nachlässt, je entfernter das angestrebte Ziel ist: „Wenn ein Individuum gewarnt wird, dass ein künftiges negatives Ereignis mit Sicherheit eintreten wird, dass aber der Zeitpunkt des Eintretens dieses Ereignisses unbestimmt ist, so zeigt sich in empirischen Untersuchungen, dass die Intensitätskurve der Furcht nach der Warnung allmählich abfällt […]. Es ist denkbar, dass hier die Intensität der globalen Variable des ‚Etwas-als-wirklich-auffassen‘ abnimmt – das angekündigte unerwünschte Ereignis wird gewissermaßen ‚unwirklich‘, es ‚verblasst‘: Der Aufmerksamkeitsfokus wird von diesem Ereignis abgewendet. Umgekehrt steigt die subjektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses (die ‚Ereignisgewissheit‘), wenn man sich dieses Ereignis lebhaft vorstellt“15.

Narrationen dagegen vermögen, diese Bedürfnisse wachzuhalten, so fern ihre Umsetzung auch sein mag. Die emotionale Rezeption in den mt Parabeln dient hier der Auflösung zeitlicher Distanz. Indem sich die zum Schluss der Erzählung ausgelösten Emotionen größtenteils auf die Zukunft beziehen (Ronald de Sousas time-indexed desires), kann das Verhalten und Handeln in der Gegenwart gar nicht losgelöst von dieser ausfallen. Die gegenwärtige Kaltherzigkeit des unbarmherzigen Sklaven angesichts des Leids seines Schuldners wird dem vorausgegangenen Erbarmen des Königs gegenübergestellt, und dieses die Vergangenheit vergessende Verhalten bleibt für die Zukunft des Sklaven nicht folgenlos (18,27–30); der böse Sklave wird für sein egoistisches, allein auf seinen gegenwärtigen Luxus ausgerichtetes Handeln bei der Rückkehr seines Herrn bitter bezahlen (24,48–51); das von gegenwärtiger Sorge und Angst gelähmte Verhalten des dritten Sklaven wird am Ende stark kritisiert und bestraft. Damit bleibt am Ende der untersuchten Parabeln ein emotionaler Ausblick auf die Zukunft, welcher gegenwärtige Bedürfnisse überwiegen soll (Mt 18: eigener Gewinn; Mt 24: hedonistischer Lebensstil; Mt 25: Sicherheit). Der metaphorische Charakter der Parabeln macht den Zukunftsausblick auf die Belohnung oder Bestrafung der verschiedenen Sklaven existentiell bedeutsam, indem die Abrechnung auf das Gericht Gottes übertragen wird, das einen noch weiter entfernten, jedoch für alle Menschen gleichermaßen schicksalshaften Ausblick gibt. Das Gericht Gottes, so fern es noch sein mag, wird auf diese Weise vergegenwärtigt, im Hier und Jetzt der Rezipienten nachvoll13

DE SOUSA, Rationality, 211 (Hervorhebungen im Original). Vgl. a.a.O., 220–223. 15 MEES, Struktur, 79. 14

2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik

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ziehbar, erfahr- und fühlbar. Der Rezipient soll das künftige Geschehen mit all seinen möglichen – positiven sowie negativen – Facetten erfassen. Dieses antizipatorische Empfinden der Zukunft verleiht der ethischen Handlungsforderung an die Gegenwart mehr Gewicht, denn die Zukunft wird so ausfallen, wie jetzt bereits gelebt wird. Dies ist eine erkennbare Strategie der mt Parabeln, nicht nur der drei hier fokussierten: „It is well known that eschatological motivation and the idea of judgment are favorite Matthean themes“, weswegen Jan Lambrecht von „judgment parenesis“ spricht.16 Helmut Merklein drückt diesen ethischen Zusammenhang zwischen Gegenwart und Zukunft wie folgt aus: „Mit Johannes stimmt Jesus darin überein, dass die Zukunft das entscheidende Handlungsprinzip darstellt. Die ‚Ethik‘ Jesu ist deshalb eschatologische Ethik im strengen Sinn des Wortes: Die von Jesus geforderte Neuorientierung des Handelns verlangt ein Handeln von der Zukunft her und auf die Zukunft hin. Dieser Satz wird auch durch die präsentischen Basileia-Aussagen nicht aufgehoben, sondern eher verschärft, da es die kommende Basileia ist, die in die Gegenwart einbricht. Die Zukunft bestimmt also die Gegenwart nicht nur als auf sie zu-kommende, sondern als bereits in ihr wirksame Größe.“17

Nun kann auch die genannte unzeitliche Verknüpfung des narrativen Vergegenwärtigungsmechanismus genauer betrachtet werden: Durch ihren metaphorischen Charakter legen die Parabeln eine Äquivalenz zwsichen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Sklaven und der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Rezipienten nahe. Damit werden zum einen die Vergangenheit und die Gegenwart als Zeit der Gnade und Barmherzigkeit Gottes ausgezeichnet sowie als Gabe und Aufgabe zugleich ethisch aufgeladen (vgl. 18,27 und 18,35; 24,45 und 46 sowie 25,14 f. und 25,27). Durch die Vergegenwärtigung der zukünftigen Zeitdimension nimmt eine parabolische Erzählung ihr zugleich den ihr inhärenten Charakter der Ungewissheit und Unkontrollierbarkeit. Diese Ohnmacht des Menschen bezüglich der Zeit äußert sich darin, dass er – wie es Søren Kierkegaard so treffend ausdrückt – nach vorn leben muss, seinem sinnverleihenden Streben aber nur rückwärts nachkommen kann, weil er nur das Gestern, nicht aber das Morgen kennt.18 Aus der Ungewissheit der Zukunft ergibt sich eine aporetische Notwendigkeit und zugleich eine Unfähigkeit, tatsächlich nach vorn leben zu können. Narrationen vermögen nun, auf ganz besondere Art und Weise mit diesem Ohnmachtsverhältnis umzugehen: Die Tatsache, dass erzählende Tempora stets Vergangenheitstempora darstellen19, bildet den Mechanismus des menschlichen Daseins ab, das erst rückblickend Verlauf und Sinn des Lebens erkennen kann. Sie sind gleichsam Fixpunkte in der sich unaufhörlich weiterbewegen16

LAMBRECHT, Treasure, 191 (Hervorhebung im Original). MERKLEIN, Gottesherrschaft, 166. 18 Vgl. KIERKEGAARD, Tagebücher, 203. 19 Vgl. dazu WEINRICH, Tempus. 17

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den Zeit, die zum Innehalten aufrufen. Gleichzeitig können sie auf diese Weise alle Zeitdimensionen erzählen und nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die Zukunft darstellen, als sei sie bereits geschehen. Indem ein mögliches Zukunftsszenario aufgezeigt wird, wird durch das Medium der Erzählung eine Rückschau ermöglicht, durch die der Mensch nicht nur Sinn erkennen, sondern auch Orientierungshilfen für gegenwärtiges Handeln finden kann. Dies erleichtert es ihm, trotz aller Kontingenz nach vorn zu leben. Der Gottesglaube stellt hierbei den ultimativen Fixpunkt dar, der zwar nicht davon befreit, in der Zeit leben zu müssen, aber zu einer veränderten Zeitwahrnehmung führt: Wohin auch immer die Zeit, d.h. das Leben führen wird, es führt letztlich immer zu Gott. Dieses übergeordnete Ziel befähigt zum gelingenden Nach-vorn-Leben in der Gegenwart. Das eschatologische Element vieler frühchristlicher Erzählungen tut dies, indem es den Menschen in der Zeit regelrecht nach vorn „katapultiert“, nämlich sogleich ans Ende aller Zeit, und das Leben – zumindest kurz – aus dieser künftigen Perspektive rückblickend betrachten lässt. Durch diese extreme Prolepse soll die Gegenwart neu bestimmt werden, indem schon jetzt auf das Leben zurückgeblickt wird. „So gesehen wird die Eschatologie zur Anfrage an unser Zeitverständnis: Nicht um Freiheit von der Zeit, sondern um Freiheit gegenüber der Zeit geht es“20. Auch in den Parabeln des Mt begegnet diese narrativ-proleptische Strategie. Indem er das Gericht Gottes als durch das jetzige Handeln bestimmt darstellt, wird die Zukunft in gewisser Weise beeinfluss- und kontrollierbar. Damit kann er zugleich negativ erlebte Emotionen der Ohnmacht (wie die Angst des dritten Sklaven in 25,25) als unnötig markieren und auflösen. Die Zukunft muss nicht als ungewisse gefürchtet werden; jeder Einzelne hat sie hier und jetzt gänzlich in der Hand. Dabei kann er auf die grundsätzliche Barmherzigkeit Gottes vertrauen (18,27) und den sicheren Lohn Gottes für konstant bemühtes Handeln voll Vorfreude antizipieren (24,46 f.; 25,20–23). Schließlich versichert die Zusage der Allgegenwärtigkeit Jesu Christi (vgl. 28,20), „dass die Unverfügbarkeit der Zukunft zwar nicht aufgehoben, wohl aber aus der Perspektive Jesu, also hoffnungsvoll, betrachtet werden muss. […] Der kommende Gott ist auch schon gegenwärtig nahe, ohne dass dadurch sein Kommen überflüssig geworden wäre.“21 Diese Aspekte gestalten parabolische Narrationen im Hinblick auf ihre ethische Expertise effektiv und liefern die Erklärung dafür, warum Jesu Endzeitrede überwiegend aus Parabeln besteht (vgl. den nicht-narrativen Teil 24,1–31.34–39.42.44 gegenüber 24,32 f.40 f.43.45–51; 25,1–46). Die narrative Vergegenwärtigung vergangener oder künftiger Zeitebenen vermag diese 20 21

SCHMIDT, Ende, 424 (Hervorhebung im Original). A.a.O., 386 f.

2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik

429

in der Gegenwart des Rezipienten greif- und erfahrbar, ihren Zusammenhang klar und ihre ethisch plausibilisierende Relevanz deutlich werden zu lassen: Es muss an dieser Stelle nochmals betont werden, dass eine durch künftige Ereignisse begründete Motivation umso mehr nachlässt, je weiter diese vom gegenwärtigen Zeitpunkt entfernt sind.22 Das Mt-Ev erklärt mit Nachdruck, dass das Gericht Gottes zu einem unbekannten Zeitpunkt kommen wird (vgl. Mt 24,36). Dass dieser womöglich noch weit in der Zukunft liegt, belegen die Parabeln der Endzeitrede eindrücklich (vgl. Mt 24,48; 25,5.19). Je weiter aber dieses erwartete Ereignis als ausschlaggebender Handlungsgrund in die Zukunft rückt, desto mehr verliert die ethische Plausibilisierung des Mt-Ev in seiner Gegenwart an Wirkung. Doch genau dieser Gefahr begegnet der mt Jesus durch das Medium der Parabel, um das zukünftige Gericht immer wieder neu in die Gegenwart der Leser und Hörer zu ziehen. Es zeigt sich somit: Die narrativ zeitliche sowie unzeitliche Verknüpfungsfunktion der mt Parabeln kann sowohl vergangene als auch zukünftige Geschehnisse in der Gegenwart des Rezipienten wachhalten und diese für seine Gegenwart bedeutsam machen. Damit werden diese (fernen) Zeiten nicht nur gegenwärtig ethisch relevant, sondern auch zugleich – insbesondere im Fall der Zukunft – ihrer Unverfügbarkeit enthoben. Diese Vergegenwärtigungsstrategie eignet Narrationen in besonderem Maße, weswegen Parabeln eine so zentrale Rangstellung in der Lehre Jesu im Mt-Ev einnehmen. 2.2 Die emotionale Antizipation der Zukunft Die narrative Vergegenwärtigung vergangener oder zukünftiger Ereignisse wird anhand der emotiven Gestaltung der mt Parabeln maßgeblich verstärkt. Die durch die Erzählung ausgelösten Emotionen, welche sich zwar auf nicht Gegenwärtiges beziehen, jedoch in der Gegenwart erlebt werden, gewährleisten, dass diese unverfügbaren, fernen Zeitdimensionen in der Gegenwart Bedeutung aufzuweisen und moralisch-ethische Orientierung zu bieten vermögen. Hierbei ist in den analysierten Parabeln ein deutlicher Fokus auf das emotionale Erfahren der Zukunft eines jeden Menschen im Gericht Gottes gerichtet. Die Untersuchungen dieser Studie zeigen, wie die im Verlauf der Parabeln aufgebauten Zeitspannungen sich am Ende auf grausame Weise in der Bestrafung der schlechten Sklaven auflösen. Ihr Ergehen entspricht ihrem Handeln: Wer nicht von Anfang an ein positives, d.h. loyales und vertrauensvolles Verhältnis zu seinem Herrn geübt hat, wird von ihm mit der endgültigen Trennung bestraft. Das emotionale Erleben dieser fatalen Zukunft ist der zentrale Faktor in den Parabeln des Mt. Dementsprechend nimmt die antizipatorische emotionale Wahrnehmung der Zukunft einen so prominenten 22

Vgl. DE SOUSA, Rationality, 224–226.

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Ort in den Parabeln des Mt-Ev ein, und zwar jeweils an deren Schluss, und verstärkt durch den Rezenzeffekt die Wirkungen dieser Emotionen. Die Zukunftsszenarien der schlechten Sklaven werden vom Rezipienten voll Verzweiflung, Reue und Leid nachvollzogen: Der unbarmherzige Sklave wird ins Gefängnis geworfen und den Foltersklaven übergeben (18,34); der böse Sklave wird entzweigeschnitten, zu den Heuchlern geschickt, wo „Weinen und Zähneknirschen“ herrschen (24,51); der dritte Sklave wird hinausgeworfen in die „äußerste Finsternis“, welche ebenfalls von „Weinen und Zähneknirschen“ erfüllt ist (25,30). All diesen Bestrafungen haftet etwas Endgültiges an, von dem es keine Rückkehr mehr gibt: Der unbarmherzige Sklave in Mt 18 wird so lange im Gefängnis bleiben, bis er seine Schuld beglichen hat, die allerdings so immens hoch ist, dass eine Rückzahlung zu seinen Lebzeiten überaus unwahrscheinlich ist. Dieser zeitlichen Dimension der Schuld entspricht in Mt 25 eine räumliche: Der dritte Sklave ist in der „äußersten“ Finsternis so weit von seinem Herrn entfernt, dass eine Rückkehr ebenfalls unwahrscheinlich wirkt; der böse Sklave in Mt 24 schließlich wird „entzweigeschnitten“ und ihm damit sogar jegliche Handlungsmöglichkeit entzogen. Hinter diesen emotionalen Erschließungen der Zukunft scheint die Ewigkeit im Reich Gottes auf oder aber in der Verdammnis; die leidvollen Emotionen der bösen Sklaven berühren außerdem auch den Rezipienten, der sich von diesen Figuren zuvor abgegrenzt hatte. Denn hier wird nochmals deutlich, dass das Schicksal eines jeden auf dem Spiel steht. Dieses Element zeigt sich auch in anderen mt Parabeln: „In zahlreichen Gleichnissen wird vor dem drohenden Gericht gewarnt. Es gibt offensichtlich ein drohendes ‚Zuspät‘ für die Jünger, wie die Gleichnisse von den zehn Jungfrauen und vom großen Abendmahl veranschaulichen sollen. In beiden Fällen geht es um die drohende Gefahr für alle Zögerlichen, die Tür zum Festsaal verschlossen zu finden und so vom endzeitlichen Festmahl ausgeschlossen zu sein.“23

Die in der Bestrafung des Herrn liegende Endgültigkeit erschließt dem Rezipienten aber nicht nur eine Innensicht auf die leidenden Figuren, sondern löst außerdem eigene Furcht vor dem Gottesgericht aus. Diese emotionale, umfassend bedrohliche Vergegenwärtigung der Gerichtssituation vermag gegenwartsbezogene Emotionen zu überwiegen und somit gegenwärtiges Handeln auszulösen, das auf eine gelingende Zukunft ausgerichtet ist. Die temporale Begründung der ethischen Forderung des Mt („Handle in der Gegenwart gut, weil das künftige Gericht Gottes entsprechend deiner jetzigen Taten ausfallen wird!“) findet sich also in den Parabeln handlungspragmatisch durch deren emotionalisierende Wirkung verstärkt, indem „die Vollendung des Zeitalters“ (13,39 f.49; 24,3; 28,20) emotional vergegenwärtigt wird. 23

SCHMIDT, Ende, 203.

2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik

431

Es zeigt sich somit: Die in den mt Parabeln vermittelten ethischen Forderungen werden durch die anhand der narrativen Zeitdimension ausgelösten Emotionen entschieden akzentuiert, wodurch ihre Handlungspragmatik wiederum verstärkt wird. Auf diese Weise bilden in den Parabeln das narrative vor Augen Stellen einer möglichen Zukunft sowie die antizipatorische emotionale Anteilnahme daran ein besonders fruchtbares Zusammenspiel für die mt Gegenwartsethik. 2.3 Zeit-Kompetenz im Matthäus-Evangelium Auf Grundlage dieser Ergebnisse lassen sich Schlüsse bezüglich des mt Zeitverständnisses ziehen und anhand des Gesamttextkorpus des Evangeliums prüfen. Wie in den betrachteten Parabeln deutlich wird, ist im Mt-Ev die Vermittlung einer „temporalen Kompetenz“ erkennbar, welche die verschiedenen Zeitdimensionen der Vergangenheit, der Zukunft und der Gegenwart in besonderer Weise qualifiziert, zusammenbindet und ethische Konsequenzen plausibilisiert. Zunächst ist es für das Mt-Ev von enormer Wichtigkeit, die Vergangenheit zu verstehen und aus ihr heraus das eigene Leben zu gestalten. Die Kontinuität, in welcher die Lehre Jesu zur Tora steht, wird unermüdlich betont: Jesus ist der Punkt, auf den die Heilsgeschichte Gottes seit jeher zuläuft (vgl. 1,1–17; 1,22 f.; 2,5 f.15.17 f.; 5,17–20). Damit wird das Christusgeschehen für die Adressaten des Mt zum zentralen Moment der Vergangenheit, welche sowohl die Barmherzigkeit und Liebe Gottes endgültig demonstriert (vgl. 20,28; 26,28), als auch ihren ekklesiologisch-identifikatorischen Bezugspunkt schafft (vgl. 16,18; 28,18–20). Die mt Vergangenheitswahrnehmung ist somit durch das christologische Heilsgeschehen auf besondere Weise qualifiziert und neu bestimmt, von der sich der an Christus Glaubende nicht lösen darf (vgl. 3,2; 4,17; 10,7). Aus der Zusage der nicht mit Tod und Auferstehung Jesu beendeten, sondern ab jetzt immerwährenden Gegenwart Christi (vgl. 28,20) ergibt sich die ethische Forderung, diese Zeit entsprechend Jesu Lehre zu gestalten und zu nutzen. In der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven wird diese Bedeutung der Vergangenheit veranschaulicht: Durch die vorausgehende Beziehungstat Gottes, welche der Sklave später versäumt erwidernd weiterzugeben, wird ein „Kreislauf der Barmherzigkeit“ deutlich, „der bei Gott seinen Anfang nimmt und auf Gott wieder zuläuft, der aber unterbrochen wird und abbricht, wenn der Mensch sich von der Erfahrung der ihm zuteilgewordenen und zuteilwerdenden Barmherzigkeit in seinem eigenen handeln nicht grundlegend bestimmten lässt.“24

24

KONRADT, Mitleid, 420.

432

Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

Hier wird eine Pragmatik der Parabeln erkennbar, welche bereits Hans Weder ihnen zuschrieb: Ziel der Parabeln sei es, dass der Mensch sich im Lichte der vorgängigen Liebe Gottes, durch die er als dessen Ebenbild sein ganzes positives Potential beantwortend-tätig nutzen könne, selbst besser zu verstehen lerne.25 Und nicht nur das vergangene Heilsgeschehen, auch der Vorgriff auf die Zukunft ermöglicht das rechte Handeln. In den analysierten mt Parabeln fällt auf, dass in ethischer Hinsicht hauptsächlich die Zukunft die prominente Rolle spielt: Der auf die Zukunft gerichtete Wunsch, zu den „vielen“ zu gehören, die auserwählt und gerettet werden (vgl. 20,16.28; 22,14; 25,34; 26,28), ist zentrales Motivationsmoment der Parabeln Jesu. Nicht zuletzt zeigt sich auch daran, dass alle fünf großen Reden Jesu mit einem eschatologischen Ausblick enden, die Zentralität der zukünftigen Zeitdimension auf.26 Durch Jesu Ausblick auf das Ende der Zeit kann sich der Hörer/Leser darin verorten (vgl. 16,28; 24,34), die Geschehnisse der Endzeit (vgl. 24,1–31) sowie die „Zeichen der Zeit“ (vgl. 16,3; 24,33) erkennen. Er darf indes darauf vertrauen, ihnen gewachsen zu sein (vgl. 5,11 f.; 7,7–11; 24,4.6.13.16–18.22.23.26), und kann voller Vorfreude auf das Heil hoffen (vgl. 5,12; 24,46; 25,21.23). Dabei wird die Verzögerung der Parusie in ein neues Licht gerückt: Es geht nicht so sehr darum, wann genau Christus zum Gericht kommen wird. Die Gegenwart soll nicht als unbedeutende Zwischen- oder bloße Wartezeit, sondern als Chance und Bewährung wahrgenommen werden, die es zu nutzen gilt (vgl. 4,17; 11,20–24). An diesen Überlegungen wird bereits deutlich, wie eng die Zeitdimensionen der Vergangenheit und Zukunft stets an die Gegenwart gebunden sind: Das Wissen um die Vergangenheit sowie um die Zukunft dient der Ermöglichung der gegenwärtigen Lebensgestaltung; sie ist stets der wahre Haftpunkt dieser beiden zeitlichen Achsen. Denn nur und immer wieder aufs Neue entscheidet sich in der Gegenwart, ob der Mensch seine Vergangenheit und seine Zukunft begreift und danach handelt: „Die Zeit Jesu […] begründet und mit ihr beginnt die paradoxe Gegenwart des Heils unter den Bedingungen der Zeitlichkeit“, die unter dem Missionsbefehl steht (vgl. 28,18–20).27 Entsprechend stellt Mt den Zeit-verständigen Menschen dem temporal inkompetenten, an der Zeit vorbeilebenden (13,21: πρόσκαιρός) explizit gegenüber (vgl. 13,18–23; 24,32–36). Ersterer hat die Zeit in ihrer Weite sowie in ihrer Momenthaftigkeit voll erfasst: Sowohl das vergangene Heilsgeschehen als auch das kommende Gericht Gottes stellen die Gegenwart unter die Möglichkeit und Forderung, das Leben am Willen Gottes auszurichten:

25

Vgl. WEDER, Gleichnisse, 282. Vgl. COMBRINK, Challenge, 40. 27 KLEIN, Eschatologie, 292. 26

2. Die Rolle der Zeit in der matthäischen Ethik

433

„Wer sich auf den eschatologisch handelnden Gott einlässt, kann fortan leben aus der in der Annullierung der eigenen Schuldvergangenheit erfahrenen radikalen Güte bzw. im Vertrauen auf die für die eigene Zukunft zugesagte grenzenlose Fürsorge des Vaters. Allmählich dürfte deutlich werden, was die Basileia als Handlungsprinzip […] konkret und auch material meint: ein gefordertes und zugleich ermöglichtes Leben aus dem neuen Existenzverständnis, wie es aus der Erfahrung dessen resultiert, der sich auf Jesu Botschaft einlässt.“28

Diese Betrachtungen machen nicht nur evident, wie eng die ethische Pragmatik im Mt-Ev an die Zeitdimensionen rückgebunden ist, sondern offenbaren auch das „integrative“ Moment des mt Zeitverständnisses. Obgleich ein systematisch ausgearbeitetes Zeitverständnis nicht entfaltet wird, ist davon auszugehen, dass ein solches im Hintergrund des Evangeliums steht, und es lässt sich erkennen, dass er den Fokus auf die gelingende Gegenwart legt. Denn dies ist der relevante Zeitabschnitt, den der Mensch als einzigen tatsächlich gestalten kann; tut er dies aber unter Absehung von Vergangenheit und Zukunft, kann sie doch nicht gelingen.29 Diese Erwägungen finden sich anhand der Ergebnisse der Parabelexegesen bestätigt: In den negativen Handlungssträngen zeigen schroffe Zeitspannungen und -konflikte die Fatalität einer Trennung der Zeitdimensionen: Der unbarmherzige Sklave in Mt 18 will sich an die ihm zuteilgewordene Gnade nicht erinnern und handelt ihr nicht entsprechend, als er selbst in die Gläubiger-Position kommt; der böse Sklave in Mt 24 denkt nicht daran, dass sein jetziges Handeln Konsequenzen in der Zukunft haben wird; der dritte Sklave in Mt 25 ist von seiner aktuellen Angst so vereinnahmt, dass sie ihm einen angemessen Blick auf die Zukunft versperrt. Entsprechend des engen Zusammenhangs zwischen Lebens- und Zeit-Kompetenz bauen sich darauf deutliche Zeitspannungen und -konflikte auf, die verraten, dass die schlechten Sklaven nicht über die notwendige Zeit-Kompetenz verfügen und so ihre Zukunft verspielen. Der aufmerksame Rezipient erkennt bereits am Verlauf der Erzählung einen verhängnisvollen Zug, indem ein Gegensatz zwischen „gut“ und „schlecht“ eröffnet wird: Das unbarmherzige Verhalten des Sklaven steht im krassen Gegensatz zur Gnade seines Königs (18,27 gegenüber 18,30); dem glückseligen, konstanten Handeln des treuen Sklaven steht das egoistische Verhalten des bösen Sklaven entgegen (24,46 gegenüber 24,48 f.); dem gelobten Gewinn der ersten beiden Sklaven wird das kritisierte Sicherheitsbedürfnis des dritten Sklaven geegnübergestellt (25,21–23 gegenüber 25,25 f.). Dem entgegengesetzt ist Mt die Integrität der Zeitdimensionen wichtig: Das vorausgegangene Erbarmen hätte, so die Forderung des Königs in Mt 18,33, als Handlungsprinzip in der Zukunft wirksam werden müssen. In den positiven Handlungssträngen der Endzeitparabeln wird das Zeitverständ28 29

MERKLEIN, Gottesherrschaft, 215 (Hervorhebung im Original). Vgl. OVERMAN, Church, 337–339.

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

nis daran kenntlich, dass die einzelnen Zeitdimensionen kaum wahrnehmbar sind, so unmerklich gehen sie ineinander über: Den treuen Sklaven macht sein gutes Handeln schon jetzt glückselig, obgleich seine Belohnung noch aussteht (24,46); die beiden ersten Sklaven in 25,21.23 sollen sich über ihren künftigen Lohn schon jetzt freuen. Mittels dieses interessanten narrativen Zeitgebrauchs illustriert Mt die temporale Begründung seiner ethischen Botschaft: Die Zukunft, d.h. eines jeden Menschen Schicksal beim Gericht Gottes, wird durch das Verhalten und Handeln in der Gegenwart bestimmt. Diese beiden Zeitdimensionen strikt auseinanderzuhalten, als beeinflussten sie sich nicht gegenseitig, kann nur fatal enden. Doch trotz dieser temporalen Kompetenz, welche die einzelnen Zeitdimensionen nicht gegeneinander ausspielt, bleibt die „Vollendung des Zeitalters“ (συντέλεια τοῦ αἰῶνος: 13,39 f.49; 24,3; 28,20), d.h. das Ende der irdischen Zeit, dennoch ganz der Zukunft Gottes überlassen. Gott ist und bleibt stets Souverän der Zeit (vgl. 24,36): „Gott […] ist als Herr der Geschichte auch Herr der Zeit. Er bestimmt Chronos wie Kairos.“30 Diese Dimension unterscheidet sich räumlich (Himmel), zeitlich (Zukunft) sowie durch die aktiv handelnde Macht (Gott) von der irdischen, gegenwärtigen und menschlichen Sphäre. Daraus ergeben sich entsprechende ethische Implikationen: Der Mensch darf das himmlische Gericht, das von Gott und Jesus Christus vollzogen werden wird, nicht vorwegnehmen: „[T]he final separation of good and evil […] takes place at the end-time, and it is to be done by God, not by humans.“31 Mit einem antizipierten Gericht wie in Mt 18,31 überschreitet der Mensch seine Kompetenzen (vgl. 7,1–5). Durch die eigene Empörung gegenüber dem Verhalten des unbarmherzigen Sklaven erkennt der Rezipient seine eigene Vergebungsunfähigkeit, und indem er die Anzeige der Mitsklaven und die Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven gutheißt, wird ihm klar, dass er selbst das Gericht Gottes vollziehen wollte (18,35). Dieses muss und darf aber ganz dem kommenden Reich Gottes überlassen werden. Tatsächlich richtet diese Zeit-Kompetenz ihren ethischen Appell an die Gegenwart eines jeden Einzelnen, an die Sphäre des Menschenmöglichen. Denn die Zeit ist Geschenk und Aufgabe zugleich (vgl. 13,12; 25,29). Der Mensch kann weder so tun, als sei seine Zeit unbegrenzt (vgl. 24,48), noch als sei sie überhaupt nicht beeinflussbar, weil bereits determiniert (vgl. 7,21) oder aber völlig kontingent (vgl. 25,24 f.). Es ist in diesem Zusammenhang durchaus interessant, dass in der mt Version der Parabel von den bösen Weingärtnern „offensichtlich die geschehene Verwerfung Israels und die erfolgte Übertragung des Weinbergs […] ins Zukünftige übersetzt wird, so dass nun die Jüngerschaft selbst in das Gericht

30 31

SCHMIDT, Ende, 385. REID, Endings, 253.

3. Würdigung

435

einbezogen und ihr damit die vorerst noch offene Frage gestellt wird, ob sie das Volk ist, das seine Früchte bringt (21,43)“32.

Die Zukunft liegt ganz in der Hand Gottes; der Mensch kann sie nicht kennen. Er kann lediglich versuchen, die Gegenwart durch „fruchtbares“ Verhalten und Handeln positiv zu gestalten, womit er gleichzeitig bereits seine Zukunft gestaltet. So zeigt sich der Glaube des Menschen auch und gerade an seinem Blick auf die Zeit (13,21 f.). Wenn er die Vergangenheit versteht und voll hoffnungsfroher Erwartung in die Zukunft sieht und dabei die Gewissheit hat, dass sein jetziges Tun nicht ohne Lohn bleiben wird, kann er im Hier und Jetzt gemäß dem Willen Gottes handeln. Die Furcht vor einer divergenten Lebensweise soll wiederum dazu motivieren, das eigene Handeln stets zu überwachen und zu prüfen. Die Zukunft scheint in der Gegenwart der jeweiligen wachsamen Entscheidung auf – so sie das tut, ist eine glückliche Zukunft sicher, tut sie es nicht, wird das Er-Wachen schmerzhaft, da zu spät sein. Es zeigt sich somit: Die Parabeln des Mt-Ev demonstrieren eine temporale Kompetenz im Sinne eines „integrativen Zeitverständnisses“, indem sie den Zusammenhang aller Zeitebenen anschaulich machen. Die Berücksichtigung dieser Integrität der Zeit soll ein von Mt als klug und gut dargestelltes Handeln bewirken, welches den Horizont des Handelns nie auf nur eine Zeitdimension beschränkt. Gleichzeitig verbindet sich mit dieser temporalen Kompetenz die Anerkennung Gottes als dem alleinigen Souverän der Zeit. Diese ultimative Grenze des Menschen ermöglicht ihm dort gelingendes Leben in der Gegenwart, wo er an seine Grenzen stößt und diese zu überschreiten droht.

3. Würdigung 3. Würdigung

Zum Schluss sollen verschiedene Mechanismen der mt narrativen Ethik nochmals fokussiert sowie im Dialog mit dem Forschungsdiskurs problematisiert und gewürdigt werden. 3.1 Das unmittelbare Ziel: eine konstant wachsame Lebensführung Wie verschiedentlich gezeigt, liegt die Begründung für die ethische Forderung des Mt nach konstanter Reflexion des Lebenswandels in seinem „integrativen Zeitverständnis“, das eine Reziprozität zwischen Gegenwart und Zukunft annimmt. Dieses Wechselverhältnis von Gegenwart und Zukunft betont er, wie ausführlich analysiert, häufig im Verlauf seines Evangeliums (vgl.

32

BORNKAMM, Studien, 35 (Hervorhebungen im Original).

436

Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

5,10–12.19.22; 7,1 f.; 16,27; 18,18 f.).33 Falls diese Begründung allein nicht ausreicht, um handlungspragmatische Auswirkungen zu zeitigen, vermögen die Narrationen Jesu sie zu verstärken, Narrationen, welche diese Reziprozität anschaulich vor Augen führen, intensive Emotionen wecken und so zur geforderten Wachsamkeit motivieren. Immer wieder wird ersichtlich, wie Mt auf diese Weise geschickt Emotionen hervorruft, um seiner ethischen Forderung Gewicht zu verleihen. Dadurch bannt er zugleich die Gefahr, dass die Zukunft aufgrund ihrer Ferne nicht ausreicht, um gegenwärtiges Handeln zu evozieren: Narrationen und insbesondere die emotionale Anteilnahme daran vermögen das zukünftige Geschehen zu vergegenwärtigen und in der Gegenwart antizipatorisch erfahrbar und wirksam zu machen. So überwiegt der Zukunftsbezug etwaige, kurzsichtige Bedürfnisse der Gegenwart und führt zu einer habituellen Einstellungsänderung: zu Wachsamkeit gegenüber der eigenen Lebensführung. Auf drei Aspekte dieser ethischen Plausibilisierungsstrategie der Parabeln im Mt-Ev soll nun genauer eingegangen werden: Erstens auf die Begründung der mt Ethik anhand künftiger Szenarien (Lohn oder Bestrafung im Gericht Gottes), zweitens auf die stark emotionalisierende Sprache des Mt und drittens auf die narrativ-implizite Vermittlung der ethischen Botschaft. (1) Zunächst zum Zukunftsbezug der mt Ethik: Darauf, dass die Zukunftsdimension in der moralischen Begründung des Mt, die darum häufig als eschatologische Ethik bezeichnet wird, eine gewichtige Rolle spielt, wird häufig hingewiesen.34 Obgleich, wie hier bereits verschiedenltlich gesehen, auch der Vergangenheits- und Gegenwartsbezug des Reiches Gottes für die Ethik des Mt-Ev eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, ist insbesondere in den Parabeln ein deutlicher Fokus auf die Zukunft, konkret das Gericht Gottes, erkennbar. Diese Zukunftserschließung geschieht indes nicht um ihrer selbst willen oder im Sinne einer apokalyptischen Trostvision. Denn aus dieser temporalen Kompetenz soll ein aktiver Impuls an die Gegenwart ergehen. Dieser Gegenwartsbezug wird in den Parabeln narrativ veranschaulicht und zugleich durch die deutungsaktive Metaphorizität der Parabeln verstärkt, deren Zeitdimension sich nicht nur konkret zeitlich erschöpft, sondern ebenfalls gedeutet werden will. Die metaphorische Bedeutung der in den Evangelien ausgesagten „Nähe Gottes“ arbeitet Thomas Schmidt in seiner Arbeit über Das Ende der Zeit detailliert heraus.35 Seinen Ausführungen zufolge dürfe die Zeitdimension der Parabeln Jesu gemäß ihrer Gattungsphänomenologie nicht nur rein linear-chronologisch verstanden, sondern auch metaphorisch erschlossen und die „Nähe Gottes“ sowohl räumlich als auch dyna33 34

Vgl. SCRIBA, Antithesen, 184. Vgl. bspw. POPKES, Paränese, 177; SCHRAGE, Ethik, 23–45; WENDLAND, Ethik, 4–

33. 35

SCHMIDT, Ende, 366–389.

3. Würdigung

437

misch-relational gedacht werden: „Gott selbst ist nahe in Jesus.“36 Dafür spreche unter anderem, dass ein genauer Termin des Endes für das Mt-Ev nicht bedeutsam sei.37 Freilich dürfe der metaphorische Charakter den in den Parabeln begegnenden Zeitdimensionen ihre Zeitlichkeit nicht vollkommen absprechen; doch müsse berücksichtigt werden, dass diese parabolische Dimension über ihre rein temporalen Angaben hinausreiche.38 Es gehe demnach weniger um exakte Zeitpunkte und Termine (chronologische Deutung) als vielmehr um die Nutzbarmachung dieser Zeitdimension für die Gegenwart, welche sich durch Gottes Nähe kairologisch qualifiziere: Die personale Nähe Gottes in Jesus dürfe nicht nur soteriologisch erinnert oder eschatologisch erhofft werden, sondern sei gemäß Mt 28,20 ekklesiologisch gegenwärtig im Christus praesens zugesagt.39 Der Schluss des Evangeliums in 28,18–20 vereine somit die für Mt zentralen christologischen Punkte: „In diesem programmatischen Schlusswort verbinden sich göttlicher Offenbarungsanspruch (V. 18), ethische Weisung (V. 19f.) und eschatologische Verheißung (V. 20) zu einem fulminanten Schlussakkord, der zuvor in vielen Variationen im Evangelium nach Matthäus angeklungen ist.“40

Der eschatologische Endzeitmythos wolle weniger die Bestimmung eines genauen Termins des Weltendes vornehmen, als vielmehr die Gegenwart in neues, von hoffnungsvoller Erwartung erfülltes Licht rücken, was ethische Konsequenzen nach sich ziehe: „[D]ie gegenwärtige Erfahrung des Absoluten im geschichtlich Kontingenten ist nur durch die Zukunftseschatologie als Gegenwartseschatologie zu qualifizieren, ‚unsere Sinnerfahrungen sind zugleich präsentisch und proleptisch.‘ Wer dies übersieht, kann zwar die Eschatologie als Aufruf zur Entscheidung verstehen, wird aber vermutlich an seiner gegenwartseschatologischen Selbstbeschränkung scheitern, die durch keinerlei zukunftseschatologische Verobjektivierungen abgesichert sein soll, in Wahrheit aber gerade die Gegenwartseschatologie zu verobjektivieren und dadurch die soteriologisch ambivalente Gegenwart zu überfordern droht.“41

Dieses Vergegenwärtigungsmotiv der Zukunftsaussagen um der Ethik willen wurde in dieser Arbeit schon deutlich dargestellt und es kann festgehalten werden, dass der zukünftigen Zeitdimension, wie sie in den Parabeln des MtEv begegnet, sowohl ihr temporal-eschatologisches Eigenrecht als auch eine ethisch-instrumentale Funktion zukommt, indem sie stets auf ein bestimmtes Handeln in der Gegenwart zielt. 36

A.a.O., 376. Vgl. a.a.O., 375. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. a.a.O., 374–378. 40 A.a.O., 236. 41 A.a.O., 376; dortiges Zitat aus: OHLIG, Fundamentalchristologie, 644, Anm. 30 (Hervorhebungen in den jeweiligen Originalen). 37

438

Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

Dieser herausstechende Zeitbezug im Dienste ethischer Plausibilisierung und Motivierung sei hier unter einem sozialgeschichtlichen Apsekt gewürdigt. Denn einem heutigen Rezipienten mag diese Motivierung zum rechten Handeln anhand ferner Zukunftsszenarien nicht allzu ungewöhnlich erscheinen. In der heutigen Gesellschaft ist es geradezu eine Tugend, weit vorauszudenken, zu planen und gegenwärtige Bedürfnisse zugunsten längerfristiger Ziele zurückzustecken. Dabei wird prinzipiell davon ausgegangen, ein langes Leben zu haben, das geplant, vorbereitet und in die richtigen Bahnen geleitet werden will. Diese temporal bestimmten Lebensweisen reichen von der Entscheidung eines Schülers, auf eine Party zu verzichten, um stattdessen auf eine wichtige Prüfung zu lernen, bis hin zur Altersvorsorge, die bereits ab dem ersten Arbeitstag eingeleitet wird. Doch diese weitreichenden Horizonte sind von denen der Menschen des 1. Jh. n. Chr. zu unterscheiden, wie Bruce Malina in seiner Untersuchung der frühchristlichen Zeitkonzeptionen aufzeigt: „[T]he ancients were quite different from us moderns in time perception.“42 Auch er betont die zukunftsorientierte Lebensweise der heutigen Gesellschaft43 und stellt diese der bäuerlichen Gesellschaft antiker Verhältnisse gegenüber: „Peasant societies invariably have the present as first order temporal preference. Secondary preference is past. The future comes in as third choice.“44 Entsprechend führt Bruce Malina nur Stellen des Mt-Ev an, bei denen die Zukunftsdimension im Sinne eines „Sorge dich nicht“ und allein die Gegenwart als bedeutende Zeitdimension begegnet (6,11.34; 20,8; 16,20; 24,3)45, und konstatiert: „There surely is no expressed concern for the future in the Synoptic story line.“46 Doch deckt sich diese Annahme mit dem Befund der vorliegenden Studie? Indem Mt das Gericht Gottes immer wieder prominent in den Fokus stellt und daraus Konsequenzen für das jetzige Handeln zieht, sprengt er die ganz an der Gegenwart orientierte Lebensausrichtung der damaligen Rezipienten bewusst. Die Zukunft Gottes soll und muss stattdessen ständiger Horizont des eigenen Lebens sein.47 Dieser Ausblick erfolgt in der jeweils gegenwärtigen Situation des Angesprochen-Werdens 42

MALINA, Christ, 2. Vgl. a.a.O., 4. 44 A.a.O., 5. 45 Vgl. a.a.O., 6 f. 46 A.a.O., 7. 47 Hier kann freilich eingewendet werden, das Gericht Gottes betreffe nicht die konkrete (irdische) Zukunft der damaligen Rezipienten, sondern müsse als eine sich an die irdische Zeit anschließende, besonders qualifizierte Zeit gedacht werden. Worauf Bruce Malina jedoch abzielt, ist die Zeitdimensionen herauszuarbeiten, welche Orientierung für das Handeln bereitstellen. Hierbei setzt er die Gegenwart und die Tradition der Vergangenheit an erste Stelle, die Zukunft hingegen diene erst in letzter Hinsicht als Handlungsorientierung (vgl. a.a.O., 5). Das Gottesgericht im Mt-Ev jedoch wird deutlich als in der Zukunft liegende (vgl. 24,29–31; 25,31 f.), handlungsorientierende (vgl. 7,1 f.; 18,35; 25,13.33–46) Größe geschildert. 43

3. Würdigung

439

durch das Wort Jesu, zielt dabei gänzlich auf die gegenwärtige Situation und ermöglicht in ihr gelingendes Handeln. Der zeitlich kompetente Mensch ist sich dieser Verschränkung der Zeitdimensionen bewusst (24,45 f.) und in der Lage, sein Leben im Hier und Jetzt durch angemessenen Bezug auf Vergangenheit (Heilsgeschehen von Jesu Tod und Auferstehung) und Zukunft (Gericht Gottes) zu leben. So schafft er gewissermaßen den Ausgleich zwischen allen Zeitebenen und findet die Balance zwischen gestern, heute und morgen. Wenn Bruce Malina damit richtig liegt, dass der antike Mensch einer bäuerlichen Gesellschaft stärker an der Gegenwart und kaum an der Zukunft orientiert ist, sprechen die hier angestellten Beobachtungen dafür, dass Mt eine besondere „Zeit-Kompetenz“ zu vermitteln beabsichtigt, die über den bisherigen Horizont der Rezipienten hinausgehen soll. (2) Zweitens sollen in Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden die Vorzüge und Gefahren der emotionalisierenden Wirkung der parabolisch vermittelten Ethik des Mt betrachtet werden: Die temporale Dimension der Parabeln zielt also durch ihre metaphorische Qualität auf eine nicht ausschließlich in der Zukunft liegende „Nähe Gottes“, sondern vermittelt diese bereits wirksam für die Gegenwart, woraus sich ethische Ansprüche ableiten. Diese Gegenwartseschatologie wird jedoch nicht nur anhand der Zeitdimension ersichtlich, sondern auch anhand der emotiven Wirkungsmechanismen der Narrationen. Durch die Weckung bestimmter Emotionen vermag es Mt, die ethische Botschaft der Parabeln Jesu gezielt zu verstärken. Hierbei fällt auf, dass der Evangelist größtenteils durch Furcht motiviert. Dass solch eine „Heuristik der Furcht“ als Mittel der moralischen Unterweisung zwar argwöhnisch betrachtet wird, ethisch aber von höchster Brisanz und Effektivität ist, legt Hans Jonas in seiner ethischen Arbeit Das Prinzip Verantwortung dar.48 Auch er misst der Emotion der Furcht eine bedeutende Rolle in der moralisch-ethischen Entscheidungssituation zu, denn um „das Richtige“ zu tun, bedürfe es sowohl der rationalen als auch der subjektiv-emotionalen Zustimmung durch die Person: „Wie jede ethische Theorie, muss auch eine Theorie der Verantwortung beides ins Auge fassen: den rationalen Grund der Verpflichtung, das heißt das legitimierende Prinzip hinter dem Anspruch auf ein verbindliches ‚Soll‘, und den psychologischen Grund seiner Fähigkeit, den Willen zu bewegen, das heißt für ein Subjekt die die Ursache zu werden, sein Handeln von ihm bestimmen zu lassen. Das besagt, dass Ethik eine objektive und eine subjektive Seite hat, deren eine es mit der Vernunft, die andere mit dem Gefühl zu tun hat.“49

Auch Hans Jonas sieht die beträchtliche Rolle, die Emotionen in der handlungspragmatischen Wirksamkeit ethischer Gebote zukommt, denn „[w]ären wir nicht, mindestens nach Anlage, empfänglich für den Ruf der Pflicht durch 48 49

JONAS, Prinzip. A.a.O., 163 (Hervorhebungen im Original).

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ein antwortendes Gefühl, so wäre selbst der zwingendste Beweis seines Rechtes, dem die Vernunft zustimmen muss, doch machtlos, das Erwiesene auch zu einer motivierenden Kraft zu machen.“50 Allein das Gefühl könne den Willen zur konkreten Tat anregen.51 Dieses „Gefühl der Verantwortung“ äußert sich für Hans Jonas maßgeblich in Hoffnung und Furcht. Der Befund, dass Mt all seine Parabeln mit dem furchterregenden Moment beendet, lässt erkennen, dass ihm bewusst gewesen sein dürfte, dass die Furcht über eine stärkere motivationale Kraft verfügt: „Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass positive Emotionen in der Regel ebenfalls schwächere Aktivierungsgrade aufweisen, ja vielfach geradezu ‚entspannende‘ Wirkung haben. Als prototypisch für den Bereich des movere dürften Emotionen mit starker kognitiver Aktivierung angesehen werden, die den Rezipienten sozusagen mit einer unabgeschlossenen Emotionsepisode zurücklassen, sodass seine kognitiven Bewältigungsanstrengungen ggf. noch über den literarischen Stimulus hinaus aktiv werden. Dies gilt z.B. für Mitleidsemotionen, wenn die ins Unglück gestürzten Figuren im Rahmen der literarischen Handlung nicht umfassend salviert werden, oder für Emotionen der Angst, Beklemmung und Verstörung, wenn eine im literarischen Werk aufgebaute Bedrohung darin nicht vollständig beseitigt oder ein Rätsel nur unzureichend aufgeklärt wird.“52

Indem die Furcht maßgeblich dazu beiträgt, den guten vom schlechten Ausgang der Dinge zu scheiden, kann sie eine durch positive Freude und Hoffnung bisweilen nicht ersetzbare Rolle in der Initiation des Handlungsdrangs spielen: „Wen diese Quelle dafür, ‚Furcht und Zittern‘ – nie natürlich die einzige, aber manchmal angemessen die dominante – nicht vornehm genug für den Status des Menschen dünkt, dem ist unser Schicksal nicht anzuvertrauen.“53 In diesem Zusammenhang ist die mögliche Aversion heutiger Rezipienten gegen eine solche „Heuristik der Furcht“ zu hinterfragen: Ist das narrative vor Augen Stellen einer drohenden Zukunft sogleich als eine pädagogisch zweifelhafte „Drohethik“ zu verstehen?54 Oder ist die Imagination eines positiv oder negativ gearteten Ausgangs der Dinge nicht eine geradezu narrative Charakteristik und Kompetenz menschlichen Lebens, welche alle Handlungsweisen des Menschen durchzieht und konstituiert? Die Betrachtung der mt Parabeln zeigt, dass Mt stark mit solchen dualistischen Narrativen arbeitet. Entsprechend thematisiert er auch die Gottesherr50

Ebd (Hervorhebung im Original). Vgl. a.a.O., 163–165. 52 MELLMANN, Emotionsforschung, 179 (Hervorhebung im Original). 53 JONAS, Prinzip, 392. 54 „Es kann als sicher gelten, dass derartige Angst-Phantasmen von der Geistlichkeit auch eingesetzt wurden, um die Sünder zu erschrecken, zu Gehorsam und Sittlichkeit anzuhalten, Konformität zu erzwingen und den Bann der Untertänigkeit zu prolongieren. Schmerzangst ist ein probates Herrschaftsmittel immer dort, wo Normen nicht verinnerlicht sind und über symbolische Drohungen (und reale Gewalt) durchgesetzt werden müssen.“ (BÖHME, Himmel, 77.) 51

3. Würdigung

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schaft stets mit ihren zwei Seiten: „Der Gerichtsgedanke tritt nicht in Konkurrenz zur Gottesherrschaft als Handlungsprinzip, sondern ergibt sich aus ihm, indem er mit Nachdruck unterstreicht, dass das ermöglichte Handeln realisiert werden muss, und das Gericht als Folge der Nichtrealisierung androht.“55 Solche Polaritäten sind keineswegs ungewöhnlich, werden im Judentum und frühen Christentum doch Liebe und Gerechtigkeit, Gnade und Gericht Gottes stets zusammengedacht.56 Die Furcht soll indes zu hoffnungsvoller Anstrengung führen, um das furchtbehaftete Szenario abzuwenden. Diese präventiv-paränetische Funktion der mt Parabeln darf keinesfalls unbeachtet bleiben: „[W]e are dealing with stories told with paraenetic intention, that is, so that the events which are told will not happen.“57 Die Würdigung einer solchen dualistischen Imagination fordert auch Hans Jonas: „Auch Ehrfurcht und Schaudern sind wieder zu lernen, dass sie uns vor Irrwegen unserer Macht schützen […]. Das Paradoxe unserer Lage besteht darin, dass wir die verlorene Ehrfurcht vom Schaudern, das Positive vom vorgestellten Negativen zurückgewinnen müssen: die Ehrfurcht für das, was der Mensch war und ist, aus dem Zurückschaudern vor dem, was er werden könnte und uns als diese Möglichkeit aus der vorgedachten Zukunft anstarrt.“58

Dieses Anstarren begegnet im weinenden und zähneknirschenden Schicksal der bösen Sklaven der mt Parabeln, deren Schicksal es abzuwenden gilt. Obgleich dieser, m.E. gewichtigen Würdigung der emotiven Strategie zur ethsichen Motivation des Mt, muss an dieser Stelle vor allzu einseitigpositiven Aussagen gewarnt werden. Es stellt sich die Frage, ob die brutalen Foltermaßnahmen (18,34; 24,51) und das Weinen und Zähneknirschen (24,51; 25,30) am Ende mt Parabeln nicht weit über das „Schaudern“ und die „Ehrfurcht“ hinausgehen, von denen Hans Jonas spricht. Zentral ist hier, ob ein Unterschied zwischen Narration und Realität besteht: Wollen die mt Erzählungen tatsächlich nur motivieren und enthalten letztlich „leere Drohungen“ oder transportieren sie eine übergeordnete theologisch-eschatologische Wahrheit, die genauso umgesetzt werden wird wie geschildert? Nimmt man die Texte ernst, die mit positiven Vergleichen mit dem Reich Gottes beginnen oder enden (18,23.35; 25,1.14), handelt sich der Theologe freilich dogmatische Probleme ein, die mit der Lehre von einem brutalen Gott zusammenhängen und mit vielen Aussagen des NT schwer vereinbar scheinen (vgl. Röm 11,30–32; 1 Joh 4,8). Und dennoch zieht sich diese Spannung durch den gesamten Kanon (vgl. Gal 6,1–10; Jak 2,13; 2 Petr 3,7). Auch für Mt ist diese Spannung auszuhalten. Im Hinblick auf den Einsatz von Emotionen zur Ethikvermittlung jedoch bleibt die Frage aufgeworfen, ob die Verwendung 55

MERKLEIN, Gottesherrschaft, 242. Vgl. WENGST, Aspects, 244. 57 A.a.O., 240 (Hervorhebung im Original). 58 JONAS, Prinzip, 392 f. 56

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von Furcht zur ethischen Motivation nicht deutlicher Grenzen bedarf, damit nicht der achtsame Blick auf etwaige negative, psychologische Konsequenzen der Betonung ihrer Effektivität zum Opfer fällt. Es kann hier auf diese Problematik lediglich hingewiesen werden; eine Lösung dieser ethischen Frage geht über das Anliegen der vorliegenden Studie hinaus und ist an anderer Stelle zu suchen. Für das Mt-Ev sprechen jedoch zwei Aspekte dafür, dass der Evangelist diese Grenzen sah; das ist zum einen der Ausgleich zwischen Furcht und Freude und zum anderen die Unterscheidung zwischen Furcht und Angst: Demgemäß steht die Furcht selten allein in den mt Parabeln, sondern es tritt meist die Freude hinzu, welche ebenso zu wachsamem Verhalten und Handeln motivieren kann und soll. Dem entspricht die Hoffnung, wie sie Hans Jonas, die „Bedingung jeden Handels“ nennt, „da es voraussetzt, etwas ausrichten zu können“59. Dem Mut zum Handeln liegt eine solche Hoffnung zugrunde, welche der mt Gewissheit und Vorfreude auf die Freude Gottes entspricht (vgl. 25,21.23). Auf diese Weise kann man die Freude als positive, affektive Komponente des freien ethischen Vollzuges betrachten, wie es Jörg Hübner in seiner Ethik der Freiheit ausführt.60 Freiheit versteht er als „freudigen Vollzug sinnstiftenden Selbstseins“61. Der freudig-emotionale Anteil an dieser ethischen Freiheit ist für Jörg Hübner zentral, und obgleich er seine Ethik insbesondere auf Grundlage paulinischer Texte entwickelt, lässt sich seine folgende Aussage auch für das Mt-Ev bestätigen: „Ihre [d.h. der Taten Gottes] Heilswirkungen werden ihm so zugeeignet, dass sich der davon ergriffene Mensch als verändert erfährt. Insofern ist das Wirken der Macht des Geistes Gottes mit einer positiven Affektivität des Menschen verbunden, mit Freude und Aufbruch, mit Selbstzurücknahme und Entdeckung der sozialen Umwelt.“62

Diese affektive Veränderung zeigt sich ex negativo in Mt 18: Eine dankbare Freude an der erfahrenen Gnade hätte den unbarmherzigen Sklaven ergreifen sollen, sodass sie ihn selbst zu Barmherzigkeit bewegt hätte (18,33). Entschlossenheit und Selbsterniedrigung zum Wohl der Mitmenschen wird in der Parabel vom treuen oder bösen Sklaven gefordert: Ihn zeichnen die Werte der „Treue“ und „Klugheit“ als „glückselig“ aus, was wiederum nicht erst einen künftigen Lohn verspricht, sondern bereits der gegenwärtigen Ausführung seines Auftrags eignet (24,45 f.). Der entschlossene Aufbruch wird schließlich auch in Mt 25 offenbar: Das mutige, optimistische Handeln der beiden ersten Sklaven wird mit mehr Freude belohnt (25,21.23). Auch an anderen Stellen des Evangeliums begegnet das Motiv der verändernden Freude, welche handlungspragmatische Auswirkungen zeitigt (vgl. 13,44; 28,8). Gleich59

A.a.O., 391. HÜBNER, Ethik. 61 A.a.O., 164. 62 A.a.O., 118. 60

3. Würdigung

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zeitig ist die Freude ein wichtiges Ausgleichsmoment zur Emotion der Angst: Die Barmherzigkeit Gottes ermöglicht sinnvoll gestaltendes, gutes Handeln und bewahrt vor der Angst, nichts ausrichten zu können, was sich in paralysierter Handlungsverweigerung oder verzweifelter Aggressionswut äußern kann.63 Dass das Mt-Ev diese Art der Angst zu verhindern intendiert, wurde bereits ausführlich dargestellt (vgl. 25,25). Dabei wurde auch bereits ersichtlich, dass in ethischer Hinsicht die Furcht vor etwaigem Versagen nicht ohne ihr positives Pendant, die Freude angesichts erfolgreichen Handelns, zu denken ist. Die Freude steht der Furcht sowohl in den Ethiken Hans Jonas’ und Jörg Hübners als auch im Mt-Ev komplementär gegenüber: Was bei Hans Jonas die Verantwortung, das stellt bei Jörg Hübner die Freiheit dar, und wie für Ersteren die Verantwortung (auch) aus der Furcht vor etwaigen negativen Konsequenzen des eigenen Handelns erwächst, eignet der Freiheit Jörg Hübners als notwendige affektive Komponente der ethischen Lebensgestaltung die Freude. Das Mt-Ev zeichnet in seinen Parabeln greifbar die Verbindung zwischen den beiden Emotionen: Hier begegnen Furcht und Freude stets als zwei Seiten derselben Medaille – dem Handeln coram deo. Dafür spricht nicht nur der sprachliche Befund, der beide als die prominentesten Emotionen des Evangeliums belegt: Sie kommen insgesamt am häufigsten vor (Furcht: 32x; Freude: 26x) und tauchen sowohl zu Beginn als auch am Schluss des Evangeliums vermehrt auf (vgl. 1,20; 2,10.22 und 28,4.5.8.10). Darüber hinaus wird in der Komposition der mt Parabeln ersichtlich, dass Mt Freude und Furcht planmäßig gegenüberstellt: Die Parabel vom Schatz im Acker und der Perle betonen das Motiv der Freude (13,44) und stehen somit als Kontrast zwischen den drohenden Tönen von 13,41 f. und 13,49 f.64 Auch die Parabel vom verlorenen Schaf betont die Freude (18,13) und steht so der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven als geglücktes Beispiel der Umkehr gegenüber. An den analysierten Parabeln wird überdies ersichtlich, dass die am Schluss stehende Furcht vor dem Gericht mit einem positiven Handlungsstrang konfrontiert wird, welcher Freude am rechten Tun und am daraus resultierenden Heil vermittelt (vgl. 24,45 f.; 25,21.23). Es wird somit deutlich, dass es diese Freude ist, um die es Mt eigentlich geht. Um die mt Ethik zu würdigen, muss die Motivierung mittels Furcht also stets vom übergeordneten ethischen Interesse des Mt her betrachtet werden. Wie bereits ausgeführt, geht es Mt darum, eine konstante Haltung des Lebenswandels zu erreichen. Für eine solche konstante Einstellung und Handlungsbereitschaft bedarf es der Wachsamkeit, die er deshalb so vehement einfordert. Wachsamkeit aber kann durch zweierlei hervorgerufen werden: Entweder ist das intrinsische Interesse an einer Sache so groß, dass sich das 63 64

Vgl. ebd. Vgl. WEDER, Gleichnisse, 139.

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Leben konstant an dieser Sache orientiert. Hierzu verhilft die Emotion der Freude, die sich mit diesem Interesse koppelt. Sie begegnet daher in mehreren mt Parabeln in der Schilderung der positiven Handlungsstränge (vgl. 13,20.44; 18,13; 24,46; 25,21.23). Pointiert ausgedrückt: Ist die aktive Hingabe an Gottes Gebote und die altruistische Orientierung am Nächsten groß genug, wird das Gute getan, weil sich die Lebensweise an diesen Idealen ausrichtet. Oder aber es reicht diese intrinsische Motivation nicht aus; weil bspw. eigene, aktuelle Interessen in den Fokus der Wahrnehmung gerückt werden. Da Mt allerdings auch diese Menschen zum rechten Handeln motivieren möchte, greift er zur zweiten Emotion, die Wachsamkeit hervorruft: zur Furcht. Diese löst Wachsamkeit in Bezug auf das gefürchtete Objekt aus. Besonders aber im Hinblick auf zu vermeidende Objekte, die sich durch eine große zeitliche und/oder räumliche Distanz zu der betroffenen Person auszeichnen, muss Furcht als Stimulans „reaktiviert“ und aktualisiert werden, indem das Objekt lebhaft vor Augen gestellt und somit seine Distanz überbrückt wird. In Hans Jonas’ Worten: „Und je weiter noch in der Zukunft, je entfernter vom eigenen Wohl und Wehe und je unvertrauter in seiner Art das zu Fürchtende ist, desto mehr müssen Hellsicht und Einbildungskraft und Empfindlichkeit des Gefühls geflissentlich dafür mobilisiert werden: eine aufspürende Heuristik der Furcht wird nötig, die nicht nur ihr das neuartige Objekt überhaupt entdeckt und darstellt, sondern sogar das davon (und nie vorher) angerufene, besondere sittliche Interesse erst mit sich selbst bekannt macht“65.

Diese Überbrückung leistet Mt narrativ. Durch Parabeln, die mit dem schrecklichen Ausblick auf das Gericht Gottes enden, durchzieht er sein komplettes Evangelium und hält selbst für den Menschen, der πρόσκαιρός ist (vgl. 13,21), also nur für den Augenblick lebt, die Furcht vor der Zukunft wach. Auf diese Weise will er auch für solche Personen Wachsamkeit hinsichtlich ihres Lebenswandels erreichen. Abermals pointiert ausgedrückt: Ist die aktive Hingabe an Gottes Gebote und die altruistische Orientierung am Nächsten schwächer als egoistische Interessen, muss die Furcht vor den Konsequenzen des eigenen Handelns für das eigene Wohl dazu führen, dass richtig gehandelt wird. Mt nutzt die Furcht folglich zur Aufrechterhaltung der Wachsamkeit hinsichtlich der eigenen Lebensführung. Doch das macht sein Evangelium keineswegs zu einem Evangelium der Angst. Mt will einzig die positiven handlungspragmatischen Wirkungen der Emotion hervorrufen. Auch Hans Jonas betont ganz entschieden: „Nicht die vom Handeln abratende, sondern die zu ihm auffordernde Furcht meinen wir mit der, die zur Verantwortung wesenhaft gehört“66. Während er dies die „begründete Furcht, nicht Zaghaftigkeit; vielleicht gar Angst, doch nicht Ängstlichkeit“ der hoffnungsvollen Verant65 66

JONAS, Prinzip, 391 f. (Hervorhebung im Original). A.a.O., 391.

3. Würdigung

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wortung nennt67, stellt Mt diese Tatsache ebenfalls auf narrativ-implizite Weise vor Augen, indem er dem Negativ stets das Positiv zur Seite stellt. Handeln kann und soll gelingen. Diese hoffnungsvolle Vorfreude soll entschieden und primär das Hier und Jetzt bestimmen, nicht aber die Angst vor der ungewissen Zukunft. Dementsprechend muss als wesentlich angesehen werden, dass Mt seine Endzeitparabeln mit der Furcht vor der Angst selbst enden lässt: 25,24–30 vermittelt ganz deutlich, dass die Angst vor etwaigem Versagen das Handeln nicht lähmen darf. Die Angst des dritten Sklaven enthebt ihn nicht seiner Verantwortung, im Gegenteil: Sein Wissen um die Erwartungen seines Herrn machen ihn darauf aufmerksam, dass Handeln trotz aller Ungewissheit und Kontingenz notwendig ist. Diese Botschaft verstärkt sich durch die zahlreichen Imperative, sich nicht zu sorgen und sich nicht zu fürchten (vgl. 6,25–34; 10,19–31; 13,22; 14,27; 17,7; 24,6; 28,5.10). Insofern ist das von Ulrich Luz als paradoxe Spannung bezeichnete Bild der zu vermeidenden Angst auf der einen und der aktiv hervorgerufenen Furcht auf der anderen Seite nur eine scheinbare.68 Erneut sei auf die Ergebnisse des vierten Kapitels hingewiesen, die ergeben haben, dass für Mt Emotionen nie einen Selbstzweck darstellen, sondern zu etwas hinbewegen sollen. Sie sind ethisch hochrelevant, weil sie das Handeln beeinflussen. Dementsprechend bewertet er Emotionen anhand ihrer behavioralen Auswirkungen. Furcht, welche zu wachsamem Handeln führt, gilt für ihn daher als eine positive Emotion, da sie dieselbe Wirkung wie ihr positives Pendant, die Freude, zeitigt. Demgegenüber ist eine Angst, welche den Menschen lähmt und ihn am guten Handeln hindert, als negativ zu bewerten. Damit stellt Mt klar, dass, wie auch immer die emotionale Einstellung dem Gericht Gottes gegenüber ausfallen mag (ob freudig oder furchtsam), es stets auf die Handlungsfolgen dieser Emotionen ankommt. Er ruft zu wachsamer Selbstreflexion der Lebensführung und konstanter Handlungsbereitschaft gemäß dem Willen Gottes auf und kritisiert jeden Impuls von Emotionen, welcher diesem Handeln entgegenwirkt. Gleichzeitig macht er so deutlich, dass er etwaige psychologische Gefahren einer einseitigen und übermächtigen Angst gesehen hat und diese abwehren möchte. (3) Noch eine dritte Dimension der narrativen Ethik des Mt sei anerkennend angesprochen, und zwar deren implizite Charakteristik: Der konkrete, temporal begründete Handlungsimpuls, der als übergeordneter Anspruch erscheint, ist die von Mt mit Nachdruck einforderte Wachsamkeit (vgl. 24,42–44; 25,13), die zu seinem Appell passt, „Früchte zu tragen“, d.h. ständig den Willen Gottes zu tun (vgl. 7,16–21; 12,33; 21,18 f.; dazu zählen auch die zahlreichen Bildfelder vom Fruchtbringen in den Parabeln: 13,1–43; 20,1–16; 21,33–46). Die mt ekklesiologische Toleranz, welche die ἐκκλησία 67 68

A.a.O., 392. Vgl. LUZ, Evangelium III, 508.

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als ein corpus permixtum betrachtet, das sich sowohl aus Gerechten als auch Ungerechten zusammensetze und erst von Gott am Ende aller Zeit geschieden werde (vgl. 5,45; 13,36–43.47–50; 25,31–46), führt keineswegs zu ethischer Verwässerung. Der scharfe Furchtimpuls am Ende der mt Parabeln betont die Verpflichtung des Gesetzes (vgl. 5,17–20): Christliches Handeln darf nie gottvergessen, d.h. weder willkürlich (vgl. 18,30), noch egoistisch (24,49), noch zögerlich (25,25) sein. Die Ausrichtung auf das, „was am Ende zählt“, nämlich das Schicksal im Gericht Gottes, hilft dabei, das eigene Handeln stets dahingehend zu überwachen. Dafür müssen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen im Blick bleiben und reflektiert werden, denn jeder Mensch hat Verantwortung für die Integrität seiner Person jenseits dieser zeitlichen Dimensionstrennungen: „Die Hütung des Erbes in seinem ‚ebenbildlichen‘ Ansinnen, also negativ auch Behütung vor Degradation, ist Sache jeden Augenblicks; keine Pause darin zu verstatten die beste Garantie der Dauer: sie ist, wenn nicht die Zusicherung, gewiss die Vorbedingung auch künftiger Integrität des ‚Ebenbildes‘.“69

Obgleich Hans Jonas diese Ebenbildlichkeit stärker im Sinne eines unveränderlichen Anspruchs des Menschseins versteht, lässt sie sich hier durchaus in beiderlei Hinsicht verstehen: Mt möchte erreichen, dass der Mensch sich selbst und einer Gottes Willen entsprechenden Lebensweise treu und in seinen Anstrengungen konstant bleibt. Damit bewahrt der Mensch nicht nur seine persönliche Identität, sondern auch die Zusage an ihn, imago dei zu sein (vgl. 5,48). Wie genau diese Wachsamkeit handlungspragmatisch ausfallen soll, bleibt dabei auffällig unterbestimmt. Die Ausnahme in den analysierten Parabeln bildet Mt 18,23–35, in der konkret aktive Vergebungsbereitschaft gefordert wird. Doch die Parabeln geben meist keine Anleitung zur konkreten Handlungsweise, vermitteln keine ethischen Dogmen.70 Dies zeigt die Parabel in Mt 25,14–30 ganz deutlich, die bis zuletzt nicht expliziert, wie der Handel mit dem Anvertrauten und das Vermehren des Geldes des Herrn durch seine Sklaven konkret gedacht ist. Durch diese Deutungsoffenheit von Parabeln sensibilisieren sie geradezu dafür, dass es nicht darum geht, blind irgendwelche Gesetze und Gebote zu befolgen, sondern immer und immer wieder aufs Neue genau hinzuschauen und zu fragen, ob gerade der Wille Gottes im Sinne der Gottes- und Nächstenliebe getan wird. Die Stärke der narrativ-implizit vermittelten Ethik ist es somit, dass sie die Verantwortung für das eigene Handeln nicht erst bei der Tat selbst, sondern bereits bei der ethischen Überlegung, Reflexion und Rechtfertigung einsetzen lässt. Gemäß Mt bedarf es für diese „nur“ einer konstant wachsamen Grundhaltung. 69 70

JONAS, Prinzip, 393. Vgl. ZIMMERMANN, Parables, 180–184.

3. Würdigung

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Interessant ist letztlich, dass am Ende des Evangeliums die Wachsamkeit noch einmal in anderer Form begegnet. Sie wird auch in Gethsemane von Jesus gefordert (vgl. 26,38): Während Jesus hier sein Verhalten furchtsam überwacht und durch Gebet verhindert, dass er seiner Angst zum Opfer fällt und flieht, statt sich dem Willen Gottes zu stellen, versagen seine Jünger kläglich: Sie schlafen ein – genau wie die zehn Jungfrauen beim Warten auf den Bräutigam (25,5) – und werden von den folgenden Ereignissen so überrascht, dass einer von ihnen gewalttätig wird (26,51), sie alle Jesus dann verlassen (26,56b) und Petrus ihn sogar verleugnet (26,69–75). Hier illustriert Mt noch einmal eindrücklich und auf narrativ-implizite Weise, dass allzu leicht zum falschen Handeln neigt, wer nicht wachsam ist, und stellt den positiven Auswirkungen der Furcht (Jesu Gebet) die negativen gegenüber und verleiht seiner Forderung zum Ende seines Evangeliums am tragischen Wendepunkt Jesu Lebens so noch einmal zusätzliches Gewicht. 3.2 Das langfristige Ziel: die narrative Einübung einer empathisch-moralischen Kompetenz mithilfe der Parabeln des Matthäus? Abschließend soll an dieser Stelle eine eigene, die Ethik des Mt würdigende These vorgetragen und erörtert werden. Sie begegnet der Aussage Johannes Fischers zur mt Ethik, der den Tun-Ergehen-Zusammenhang mit der Ausrichtung auf die Wirkung des menschlichen Handelns auf Gott als bestimmendes Motiv der sittlichen Praxis für unvereinbar mit einem Ethos der Liebe hält.71 Mit anderen Worten: Ist es wirklich authentische christliche Nächstenliebe, wenn das Rechte nur getan wird, um von Gott belohnt bzw. nicht bestraft zu werden? Moralisch betrachtet, scheinen solche Beweggründe des Handelns, und sei dieses noch so richtig, nicht genuin „gut“ zu sein: „Wenn zum Beispiel jemand eine gerechte Handlung aus Furcht vor Bestrafung ausgeführt hat, dann ist das noch nicht die Art von Motivation, die wir von einer wirklich gerechten Person erwarten würden.“72 Die mt Furcht am Ende seiner Parabeln scheint aber genau so eine „unangemessene Emotion“ zu sein. Auch Hans Jonas charakterisiert die ethisch gutzuheißende Furcht als selbstlos und stellt klar, dass „der gute Mensch […] nicht der [ist], der sich gut gemacht hat, sondern der, der das Gute um seinetwillen getan hat“73. Und: „Als Potential aber steckt die Furcht schon in der ursprünglichen Frage, mit der man sich jede aktive Verantwortung beginnend vorstellen kann: was wird ihm zustoßen, wenn ich mich seiner nicht annehme?“74 Mit einer hoffnungsvollen Ver-

71

Vgl. FISCHER, Ebenen, 251. KRAJCZYNSKI/RAPP, Emotionen, 52 f. 73 JONAS, Prinzip, 162. 74 A.a.O., 391(Hervorhebungen im Original). 72

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

antwortung meint er stets die Verantwortung des Menschen für die Welt, welcher daher die Angst um sich selbst in fataler Weise gegenübersteht: „In einer solchen Lage […] wird also die bewusste Anstrengung zu selbstloser Furcht, in der mit dem Übel das davor zu rettende Gute sichtbar wird, mit dem Unheil das nicht illusionär überforderte Heil – wird also Fürchten selber zur ersten, präliminaren Pflicht einer Ethik geschichtlicher Verantwortung werden.“75

Demgegenüber vermittelt Mt das Bild vom eigenen Ergehen in Gottes Gericht und damit entsprechend die Hoffnung auf das eigene Heil oder die Furcht vor der eigenen Verdammnis. An der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven zeigt auch Hans Weder das egoistische Moment der mt Motivation auf: „Movens der menschlichen Vergebung ist nicht mehr die zuvorkommende Freisprechung durch Gott, sondern die dem menschlichen Versagen nachfolgende Verurteilung.“76 Erstrebt Mt tatsächlich eine solch rigoros egoistisch anmutende Ethik? Dies muss auf Grundlage der hier angestellten Beobachtungen prüfend in Frage gestellt werden. Als Hintergrund dieser Thematik ist die mimetische Ethik im Sinne der imitatio dei im Mt-Ev von Bedeutung (vgl. 5,43–48; 9,38–10,15; 18,33; 20,24–28). Albrecht Scriba konstatiert entsprechend für die Bergpredigt: „Der für Matthäus wahrscheinlich bedeutendste Horizont für den Inhalt der Weisungen stellt die geforderte Gottgleichheit im Verhalten dar, die in der letzten Antithese und im abschließenden Rahmen explizit genannt und betont wird und wohl auch hinter der ersten Antithese gegen Zornverhalten und der fünften gegen Inanspruchnahme von Vergeltung steht, vielleicht auch hinter der Ablehnung der Ehescheidung in der dritten Antithese.“77

In 5,43–48 wird dabei ersichtlich, dass das τέλειος, „vollkommen“ wie der göttliche Vater zu sein, sich nicht nur praktisch (im Handeln) konstituiert, sondern auch emotional (V. 44: „Liebt eure Feinde!“). Es liegt m.E. der Satzstellung gemäß sogar nahe, dass erst aus dieser Liebe sodann das entsprechende Handeln resultiert, d.h. konkret das Beten für die eigenen Verfolger. V. 45b („Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“) impliziert, dass Gottes Güte allen Menschen zugutekommt; der im Hintergrund stehende Ps 145 lobt demgemäß Gottes Güte (V. 7), Barmherzigkeit, Gnade und Langmut (V. 8). Mt 5,44 f. suggerieren, dass es die allem voranstehende, bedingungslose Liebe Gottes zum Menschen ist, die es einzuüben gilt und der konkrete Taten folgen sollen. Mt vermittelt die emotionale Einstellung demnach sehr wohl als motivierende Grundlage des rechten Handelns. Dies bestätigt auch das mt Anliegen des „reinen Herzens“, welches das zentrale Fundament in der Gesetzeslehre

75

A.a.O., 392. WEDER, Gleichnisse, 218. 77 SCRIBA, Antithesen, 187. 76

3. Würdigung

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Jesu darstellt (5,8.28; 18,35). Daraus folgt demgemäß die gute Tat: Der, der reinen Herzens ist, tut auch Gutes (12,35).78 In diesen Forderungen ist der empathische Vorgang erkennbar, gemäß dem sich jemand in die Perspektive des Mitmenschen hineinversetzt und dann aus der dabei erwachsenden Emotion heraus handelt. Dieser Perspektivwechsel ist ein wichtiges Kennzeichen der imitatio dei, denn auch Gott denkt immer vom Menschen her und ist an dessen Wohl orientiert (vgl. 5,45b; 7,7–11; 18,27). Ein Nacheifern dieses Gottes bedeutet damit zugleich eine entsprechende Orientierung am Nächsten: „Einem Gott, der sich radikal dem Menschen zuwendet, kann man sich nicht unter Außerachtlassung des Menschen zuwenden.“79 Wie bereits zu Anfang des Kapitels gezeigt, befreit diese empathische Ausrichtung der eigenen Emotionen auf den Nächsten diese von ihrem ambivalenten Charakter, indem etwaige egoistische Handlungen verhindert werden. Auch hier zeigt sich die mt Einstellung zu Emotionen: Diese sind nicht per se gut oder schlecht; ihr Charakter offenbart sich daran, ob sie im Hinblick auf Gott und den Nächsten gute oder schlechte Taten zeitigen. Insofern macht Mt hier bereits eine wichtige Unterscheidung, welche bis heute in der Emotionsforschung bei der Bewertung verschiedener Emotionen immer wieder betont wird.80 Doch im Gegensatz zur europäischen Philosophie scheint der ausschlaggebende Faktor, wie sie zu guten Handlungen führen können, nicht der Abgleich mit der Vernunft zu sein81, als vielmehr die empathische Orientierung der Emotionen am Gegenüber, welche sich, die eigenen Interessen zurücknehmend, vollständig auf den Anderen einlässt (vgl. 5,38–48; 18,4; 20,24–28; 23,11 f.). Wie wichtig Mt dieser Perspektivwechsel ist, belegt nicht zuletzt die Goldene Regel (7,12): Zwar wird ihr mitunter vorgeworfen, dass ihr stärker ein Selbst- als ein Nächstenbezug zugrunde liege, der weniger ein Einfühlen in den Anderen als vielmehr eine Projektion eigener Bedürfnisse auf jenen fördere82; doch ist dem zu entgegnen: „Eigeninteresse, konkret der Wunsch nach Wohlergehen bzw. die Abneigung gegenüber Leidenserfahrungen, stellt in der Goldenen Regel keinen Widerspruch zu Empathie dar, sondern bedingt gerade die Fähigkeit zum Einfühlen in andere Menschen.“83 Der empathische Schritt aus der eigenen Situation heraus, d.h. dass imaginativ der Platz des Anderen eingenommen wird und die eigenen Emotionen mit dessen abgeglichen werden, ist ein entscheidender Zug der mt Ethik, welcher den Anderen in den Fokus der eigenen Wahrnehmung stellt, die dadurch buchstäblich selbst-loser wird. In diesem Sinne dient auch die geforderte selbsterniedri78

Vgl. WESTERHOLM, Law, 160 f. MERKLEIN, Gottesherrschaft, 293. 80 Vgl. BREITSAMETER, Semantik, 256. 81 Vgl. FISCHER, Menschenwürde, 63 f. 82 Vgl. KOLLMANN, Regel, 110. 83 A.a.O., 111. 79

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Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

gende Demut keinem Selbst-zweck (vgl. 18,4; 19,14 f.; 20,24–28; 23,11 f.): „The aim of the servant-ethic […] is not simply self-denial but also otherdirectedness.“84 Freilich ist einzuräumen, dass der empathische Abgleich nicht immer affirmativ ausfallen, d.h. in derselben Emotion resultieren kann, welche das Gegenüber empfindet, etwa bis hin zur Selbstverleugnung inklusive eigener Empfindungen. Das Feindesliebegebot würde ad absurdum geführt, sollte es in Selbsthass resultieren. Dennoch wird auch hier die empathische Perspektivübernahme nicht aufgegeben, indem eine wohlwollende Haltung gegenüber dem Denken, Fühlen und Handeln des Anderen eingenommen werden soll, was handlungspragmatisch deeskalierend wirkt, statt zu sehr auf das eigene Ergehen zu fokussieren (5,21–26.44; 18,27; 26,3985). Die Aufforderung zur demütigen Selbsterniedrigung wurzelt in der theologisch sowie christologisch konstituierten imitatio dei: Auch Gott denkt immer vom Menschen her und ist an dessen Wohl orientiert (vgl. 5,45b; 7,7–11; 18,27). Ein Nacheifern dieses Gottes bedeutet damit zugleich eine entsprechende Orientierung am Nächsten: „Einem Gott, der sich radikal dem Menschen zuwendet, kann man sich nicht unter Außerachtlassung des Menschen zuwenden.“86 Das eine solche Nacheiferung für den Menschen möglich ist, macht die Aufforderung zur Nachfolge Jesu deutlich (11,29 f.; 16,24 f.), welche sich nicht nur durch konkrete Taten auszeichnet, sondern auch durch die Nachahmung seiner empathisch-emotionalen Einstellung den Menschen gegenüber (vgl. 5,43–48; 9,13; 12,7; 14,14; 15,32; 18,13.27; 19,8; 20,15.34; 21,5; 25,21.23). Anhand seiner Emotionen kann demnach jeder Einzelne überprüfen, ob Jesus „mit ihm ist“ (vgl. 1,22 f.; 18,20; 28,20).87 Wie in der Stoa dienen Emotionen der Überprüfung der Lebensweise88; mit dem Unterschied, dass nicht sichergestellt wird, dass keine Emotionen aufkommen, sondern die richtigen. Dementsprechend begegnen im Mikrokontext der Stellen Jesu Zusage seiner Gegenwart zu Beginn (1,22 f.), in der Mitte (18,20) und am Schluss des Evangeliums (28,20) gehäuft Emotionen.89 Dieser christologische Aspekt führt direkt hinüber zum ekklesiologischen: Denn das Sein in Christus bildet wiederum das übergeordnete, ultimative Ziel der eigenen Lebensführung und Grundlage für die ethische Komponente der Ekklesiologie des Mt, welche ein fruchtbares Leben in der christlichen Ge84

CARTER, Servant-Ethic, 35. In 26,39 ist die Unterwerfung Jesu unter den Willen Gottes gemeint: Auch Jesus vollzieht hier einen Perspektivwechsel und stellt seinen Wunsch zu leben zugunsten des Willens Gottes zurück. Diese Selbstbescheidung drückt sich auch in der noch immer wohlwollenden Haltung gegenüber Judas aus (26,50: ἑταῖρε) und wirkt insofern deeskalierend, als er bei seiner Verhaftung keinen Kampf provoziert (26,51 f.). 86 MERKLEIN, Gottesherrschaft, 293. 87 Vgl. HAYS, Vision, 105. 88 S.o. Kap. 2.1.1.4. 89 S.o. Kap. 4.2.1. 85

3. Würdigung

451

meinschaft anstrebt (vgl. 5,24 f.; 6,1–3; 7,1–5; 18,15–22; 22,34–40; 23,8; 25,31–46; 28,19 f.). Die Emotionen dem Nächsten gegenüber spielen eine zentrale Rolle in der Ermöglichung eines erfolgreichen Gemeinschaftslebens. In diesem Sinne ist wichtig, zu beachten, dass nicht nur das gemeinsame Toraverständnis eine den Zusammenhalt stärkende Rolle einnimmt90, sondern dass die Parabeln Jesu und die darin transportierte Ethik durch ihre emotionale Markierung mit einer besonderen identitätsstiftenden Wirkung aufwarten. Dass diese liebende imitatio dei das übergeordnete Ziel des Mt darstellt, d.h. er zum rechten Handeln aufgrund der rechten emotionalen Einstellung gegenüber Gott und den Mitmenschen motiviert, bestätigt sich an den Parabeln: Auch hier wird eine moralische Anleitung gegeben, die emotionalempathisch das Hineinversetzen in die Lage Anderer und die emotionale Anteilnahme an ihr bzw. ihnen propagiert. Dafür sprechen zunächst die Perspektivlenkungen in den analysierten Parabeln: Das Mitleid des Königs in 18,27 vermittelt bereits die rechte Perspektive: Der König nimmt sein eigenes Interesse (an seinem Vermögen oder seinem Ruf) zurück und fühlt mit der verzweifelten Lage seines Schuldners. Auch die Traurigkeit der Mitsklaven in 18,31 gibt dem Rezipienten die rechte Perspektive auf, welche mit dem Opfer der Szene sympathisiert, statt sich über den unbarmherzigen Sklaven zu entrüsten. Schließlich aber ist es v.a. der Schluss der Parabel, welcher klarstellt: Der Sklave hat nicht gelernt, selbst Barmherzigkeit zu üben, er ist Opfer seiner Vergebungsunfähigkeit. Wenn ein Rezipient aber die Bestrafung des unbarmherzigen Sklaven gutheißt, dann ist er selbst nicht zu diesem barmherzigen Blick auf ihn fähig, der dem Sklaven noch 77 Chancen zur Änderung seines Verhaltens gegeben hätte (18,22). Auch in 24,51 wird ein Perspektivwechsel initiiert: Die Furcht vor dem unerwartet und plötzlich drohenden Gericht sowie die Selbsterkenntnis, dass keiner vor solch einem Schicksal vollkommen sicher ist, wenn er nicht ständig wachsam handelt, verbindet den Rezipienten mit der Figur des leidenden Sklaven. Dieser wird „entzweigeschnitten“ und zum „Weinen und Zähneknirschen“ verurteilt. Diese in grausamen Bildern gezeichnete Bestrafung und Qual des bösen Sklaven wecken das Mitleid des Rezipienten sowie den Wunsch, niemals selbst reuevoll „weinen“ und „mit den Zähnen knirschen“ zu müssen. In 25,26–30 wird ebenso eine sympathisierende Perspektive auf den dritten Sklaven der Parabel eröffnet: Denn seine Bestrafung erscheint doch unangemessen hart im Vergleich zu seinem Vergehen. Das Verständnis des Rezipienten für die Angst des Sklaven verändert den Blick auf sein Schicksal und fördert wiederum die Aufmerksamkeit für eigene etwaige Unterlassungen aus Angst.

90

Vgl. KONRADT, Erfüllung, 288–315.

452

Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

Während jede Bestrafung der schlechten Sklaven zunächst vom Rezipienten erwartet und ggf. gutgeheißen wird, bleibt keine der Parabeln an diesem Punkt stehen. Hartmut Böhme betont am Höllenmotiv in christlichen Texten den Aspekt der Vergeltung als durchaus positiv, weil die Idee von ausgleichender Gerechtigkeit manch leidenden Rezipienten in ihrer Situation Trost zu spenden vermöge: „An den Texten ist aber auch nachweisbar, dass die Hölle einem der intensivsten Gelüste Raum verschafft: dem der Rache.“91 Es muss aber festgestellt werden, dass Mt über den Gedanken der Vergeltung immer wieder hinausgeht, indem er die Perspektive der leidenden Figur vermittelt und den Rezipienten, der zunächst vielleicht tatsächlich Genugtuung empfindet, so zur Wachsamkeit und Selbstreflexion des eigenen Verhaltens aufruft (18,35; 25,13). Mt bleibt nicht bei der Freude über die Bestrafung eines „bösen Sklaven“ stehen, sondern wendet diese stets gegen den Rezipienten selbst. Diese Wendung findet sich, wie bereits gesehen, auch am Ende anderer Parabeln im Mt-Ev (21,32.42–44; 22,12–14). Wenn Mt eine solche Perspektivübernahme des Anderen in seinen Parabeln intendiert, kann gefragt werden, welche langfristigen Folgen diese Erzählstrategie hat. Narrationen sind insofern prädestiniert dazu, den (moralischen) Lernprozess anzuleiten, als sie bestimmte Szenarien mit bestimmten Emotionen besetzen, was wiederum Auswirkungen auf das Erleben der Wirklichkeit und das aktive Handeln der Rezipienten hat.92 Dies führt zur hier vertretenen These: Es darf angenommen werden, dass, wird dieser Perspektivwechsel häufig genug vollzogen und narrativ eingeübt, er sich auch im eigenen alltäglichen Umgang mit anderen Menschen etabliert. Die empathische Anteilnahme am Schicksal Anderer würde dann – langfristig betrachtet – zum von Mt als das übergeordnete imitatio dei-Ideal der unermüdlichen Nachfolge Jesu und sanft- und demütigen Orientierung am Nächsten führen (vgl. 11,29 f.). Wie gesehen wurde, ist v.a. das Mitleid hierbei eine besonders effektive Emotion, um Beziehungen zum Nächsten aufzubauen und diesen in den Mittelpunkt des eigenen Denkens und Handelns zu stellen.93 Der Mehrwert der Parabeln bestünde dann – über die emotionale Verstärkung der ethischen Botschaft hinaus – darin, eine emotional kompetente Reaktion auf den Mitmenschen einzuüben, und somit in einer emotional-moralischen Kompetenzausbildung. Diese Strategie lässt sich nochmals in scharfen Kontrast zur griechischen Philosophie des Platon setzen, der die Dichtkunst als Erzieherin des Volkes gerade aufgrund ihrer starken emotionalisierenden Wirkung ablehnt: Während Platon gutes Handeln allein der die Emotionen vollkom-

91

BÖHME, Himmel, 78. Vgl. FISCHER, Menschenwürde, 63. 93 Vgl. STREBEL, Mitleid, 287. 92

4. Resümee

453

men beherrschenden Vernunft zugesteht, wird das rechte Handeln bei Mt erheblich durch die rechte emotionale Einstellung motiviert.94 Abschließend lässt sich mit den sehr treffenden Worten der US-amerikanischen Neutestamentlerin Michal B. Dinkler zusammenfassen, „that in and through narrative texts, emotions lead listeners/readers to engage with the narrated world – and, by extension, the ‚real‘ (extratextual) world – in new ways. Narratives are not merely demonstrative and/or evocative of emotion; they are also formative.“95

4. Resümee 4. Resümee

Die Prüfung des Mehrwerts der hier erarbeiteten „emotiven Heuristik“ ergibt, dass eine Analyse der narrativen Ethik des Mt ohne eine Berücksichtigung der Rezeptionsemotionen hinsichtlich ihrer Pragmatik unvollständig bliebe. Die Analyse der emotiven Rezeptionsprozesse erbringt folgende Ergebnisse über die allgemeine ethische Relevanz von Emotionen sowie ihren ethisch bedeutsamen Zeitbezug im Mt-Ev: (1) Es wurde ein interessanter temporaler Zug der narrativen Ethik des Mt sichtbar: Die in den mt Parabeln geweckten Rezeptionsemotionen beziehen sich hauptsächlich auf ein künftiges Geschehen, das Gericht Gottes. Auf diese Weise helfen sie, zukunftsbezogene Bedürfnisse in der Gegenwart wachzuhalten und über etwaige unmittelbar aktuelle Bedürfnisse zu stellen. Dieses „Spiel mit der Zeit“ offenbart sich deutlich in den analysierten Texten, den Parabeln vom unbarmherzigen Sklaven (18,23–35), vom treuen oder bösen Sklaven (24,45–51) und von den anvertrauten Geldern (25,14–30): Die Parabeln enden stets mit einem Ausblick in die Zukunft. Diese Zeitdimension wird so in die Gegenwart der Rezipienten geholt. Ihre Antizipation macht sie bereits in der Gegenwart erfahrbar und bedeutsam. Mt vermittelt hierbei eine besondere „Zeit-Kompetenz“, welche sich durch ein Zeitverständnis auszeichnet, das die verschiedenen Zeitdimensionen „integrativ“, d.h. zusammengehörig und untrennbar voneinander abhängig denkt. Die gegenwärtigen Taten zeitigen unmittelbaren Einfluss auf das künftige Gericht Gottes. Die Annahme, die Gegenwart habe keinen Einfluss auf dieses, wird als fatal dargestellt, indem die bösen Sklaven in den Parabeln ihre Zukunft stets durch eine fehlerhafte Zeiteinschätzung verspielen. Die narrative Schilderung der Zukunft nimmt ihr gleichzeitig die Ungewissheit und Kontingenz und erschließt konkrete Handlungsoptionen, um sie zu beeinflussen. Diese Handlungen, welche von bedingungsloser Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den Mitmenschen geprägt sein sollen (vgl. 5,43–48; 18,15–35; 22,39), wer94 95

S.o. Kap. 2.1.1.2. DINKLER, Reflexivity, 272 (Hervorhebung T.D.).

454

Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

den schließlich dadurch möglich, dass das Gericht über die Menschen ganz der Zukunft und Gott überlassen wird: Der Mensch soll nicht über seine Mitmenschen urteilen und das Gericht Gottes vorwegnehmen (vgl. 7,1–5; 18,21– 23); er darf und soll sich ganz auf seine jeweilige Gegenwart und das Wohlergehen seines derzeitigen Gegenübers konzentrieren (vgl. 25,31–46). Die ethische Botschaft der Parabeln, die ein dem Willen Gottes gemäßes Handeln in der Gegenwart motivieren möchte, wird auf diese Weise temporal plausibilisiert: Das Gericht Gottes am Ende der Zeit wird alle Taten der Menschen im Hier und Jetzt vergelten und entsprechend der jetzigen Lebensweise ausfallen, auf die es deswegen ankommt. Die Emotionen, welche durch die Schilderung der künftigen Ereignisse geweckt werden, verstärken diese ethische Botschaft beträchtlich. Indem die Schilderung der Abrechnung und Bestrafung der bösen Sklaven auf das Ergehen im Gericht Gottes übertragen werden, zielen die Parabeln auf unwillkürliche Furcht vor diesem und verleihen dem Appell an die Lebensführung im Hier und Jetzt zusätzliches Gewicht. Indem Mt seine Rezipienten die „Vollendung des Zeitalters“ antizipatorisch empfinden lässt, kann er die Auswirkungen derselben auf die jeweilige Gegenwart jener steigern. In seiner narrativen Ethik begegnen Emotionen folglich als maßgebliche Handlungsmotivatoren, und bestätigen den intuitiven Eindruck, dass – um es in den Worten Johannes Fischers zu sagen – „[o]hne dieses Antriebspotential […] die Vernunft in der Welt nichts bewirken“ kann.96 Emotionen erfüllen demnach eine wichtige Verstärkungsfunktion in der ethischen Botschaft der mt Parabeln. Dementsprechend sind für die Beurteilung der Emotionen hinsichtlich ihrer ethischen Relevanz im Mt-Ev Folgendes festzuhalten: (2) Aus der Analyse der Emotionstermini im Mt-Ev ging hervor, dass Mt Emotionen nicht per se positiv oder negativ bewertet, sondern gänzlich anhand ihrer pragmatischen Handlungsfolgen beurteilt. Entsprechend wird auch in seinen Parabeln bspw. Angst, die paralysiert, kritisiert (vgl. 25,25), Furcht dagegen als Mittel genutzt, um eine aktiv-wachsame Lebensweise zu motivieren. Demnach ist der mt Emotionskomplex der Furcht (φοβέοµαι κτλ., µεριµνάω κτλ., δειλός, ἐντρέπω, θροέω, ἀδηµονέω) stets anhand seiner handlungspragmatischen Auswirkungen zu beurteilen: Die am Ende der Parabeln heraufbeschworene Furcht vor dem Ausgang des Gerichts Gottes soll Selbstreflexion und Wachsamkeit gegenüber der eigenen Lebensführung evozieren. Das Vorgehen des Mt lässt sich hierbei mit der antiken Tragödie vergleichen, die „die Zuschauer zur ‚Furcht‘ angesichts der Unausweichlichkeit des menschlichen Schicksals führen“ wollte.97 Um dieses Vorgehen würdigen zu können, sind sowohl die mt Ekklesiologie als auch die paränetische Pragmatik der Texte zu beachten: Die tolerante 96 97

FISCHER, Menschenwürde, 63 (vgl. Aristot., poet. 1449b). BALZ, φοβέοµαι, 1027.

4. Resümee

455

Ansicht der ἐκκλησία als ein corpus permixtum (vgl. 5,45; 13,36–43.47–50; 25,31–46) darf keineswegs gegen die Ethik ausgespielt werden. Mt frönt mitnichten einem ethischen laissez faire- oder anything goes-Prinzip. Mittels des scharfen Furchtimpulses am Ende seiner Parabeln vermittelt er eine klare Botschaft: Das Gesetz verpflichtet (vgl. 5,17–20); Jesu Parabeln führen ausdrucksvoll vor Augen, dass das Handeln eines jeden Gläubigen nie gottvergessen, d.h. weder willkürlich (vgl. 18,30), noch egoistisch (24,49), noch zögerlich (25,25) sein darf. Gleichzeitig darf der narrativ-paränetische Charakter der Parabeln nicht unberücksichtigt bleiben: Die negativ gearteten Handlungsstränge werden mittels solch intensiv emotionalisierender Facetten dargestellt, damit diese gerade nicht eintreten. Die mt Furcht ist demnach nie bezogen auf eine Darstellung der Grausamkeit um ihrer selbst willen, wie dies etwa in so manchen modernen Horrorstreifen der Fall sein mag. Mt möchte durch das furchteinflößende Element seiner Parabeln etwas erreichen, eine aktive Reaktion des Rezipienten hervorrufen: Er intendiert nicht, eine lähmende, am Handeln hindernde Furcht auszulösen, sondern vielmehr einen wachsamen, guten Lebenswandel zu motivieren. Es ist an dieser Stelle enorm wichtig zu bedenken, dass die Parabel von den anvertrauten Geldern mit ihrer prominenten Stelle am Ende des Evangeliums resümierend verdeutlicht, dass die Furcht nicht überwältigend sein, nicht das letzte Wort haben soll. Die aktive Reaktion auf die Furcht ist es, welche sie moralisch unbedenklich, ja, sogar fruchtbar macht, während eine paralysierende Wirkung sie als ethisch problematisch einstuft (vgl. 26,38 f. gegenüber 25,25). Die recht empfundene „Gottesfurcht“ soll Orientierung und Aktivierung des Handelns gewährleisten, keineswegs aber zu negativen Konsequenzen führen. (3) Allerdings ist einzuräumen, dass dieser Einsatz der Furcht für moralische Zwecke nicht vollkommen unproblematisch zu beurteilen ist und in Bezug auf das Mt-Ev unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden muss: Zum einen muss eine übermäßige Evokation von Furcht vor Gottes Bestrafung als pädagogisch und theologisch riskant beurteilt und somit notwendig in gewisse Schranken gewiesen werden. Wo das Bild eines grausamen und brutalen Gottes psychologische Schädigungen der Adressaten bewirken kann, geht es weit über das Ziel des Mt hinaus. Dieser lässt indes durchaus erkennen, dass ihm die potentielle Problematik der Angst bewusst ist, indem er wiederholt vor übermäßiger Angst (vgl. 6,25–34; 10,26–30; 14,28–33) sowie vor zu extremer Furcht vor Gott warnt (explizit: 1,10; 14,26 f.; 28,4–10; narrativ-implizit: 25,14–30). Ebenso nutzt Mt die Furcht selten allein, sondern stellt ihr ihr positives Pendant, die Freude, an die Seite. Diese soll ebenfalls eine wachsame Lebensführung motivieren und wird als Lohn verheißen (vgl. 5,12; 13,44; 18,13; 24,46; 25,21.23; 28,8). Dies zeigt sich nicht zuletzt am Ausklang des Mt-Ev, wo eine gegenüber der Version des Mk abgeschwächte Form der Furcht begegnet (Mt 28,8: µετὰ φόβου gegenüber Mk 16,8: τρόµος; ἔκστασις; ἐφοβοῦντο) und das Motiv der Freude hinzugenommen

456

Kap. 6: Die Rolle antizipatorischer Emotionen in der mt Ethik

wird (Mt 28,8: χαρᾶς µεγάλης).98 Beide Emotionen führen zur aktiven Verbreitung des Evangeliums und sind somit hochintensive Motivatoren rechten Handelns. Es sollte daher hinter den stark dualistischen Schwarz-WeißSchilderungen des Mt keine Drohethik vermutet, sondern vielmehr die anthropologisch-ethische Grundkompetenz des narrativ-imaginativen Erwägens verschiedener Handlungsalternativen gesehen werden. Zum anderen darf gefragt werden, ob eine Motivation zum ethischen Handeln durch die Furcht vor Bestrafung dem altruistischen Grundcharakter der Ethik nicht widerspricht. Dies mag im ersten Moment so erscheinen, doch unterschlägt ein solch einseitiger Blick mögliche langfristige Wirkungen der narrativ-emotiven Strategien des Mt-Ev: Die unmittelbare Wirkung der Parabeln des Mt ist die mit Nachdruck geforderte Wachsamkeit (vgl. 24,42.44; 25,13), die anerkennt, dass es einer konstant guten Lebensführung bedarf, um im Gericht zu bestehen (vgl. 5,48; 7,1 f.; 13,23; 18,23.35; 24,13; 25,31–46), dessen genauen Zeitpunkt niemand kennt (vgl. 24,36.42; 25,13) und das keine Chance zur Umkehr und Buße „in letzter Sekunde“ offenlässt (vgl. 24,27.40– 44.50). Eine solche Lebensführung gemäß dem Willen Gottes, welche die Gottes- und Nächstenliebe als übergeordnetes und oberstes Gebot Gottes (vgl. 22,34–40) in konkreten Taten übt, mag für Menschen, die über eine altruistische Einstellung gegenüber ihrer Umwelt verfügen, eine intrinsische Motivation darstellen und konstante Bemühungen nach sich ziehen. Für jene aber, die stärker an den eigenen, aktuellen Bedürfnissen orientiert sind, bedarf es einer weiteren Begründung für ein solch gutes Handeln. Mt muss in diesen Fällen einen „Umweg“ in der moralisch-ethischen Motivation gehen: Wird der Nächste in seiner individuellen Situation und Lage nicht empathisch, d.h. emotional anteilnehmend betrachtet, was zur intrinsischen Motivation führen würde, an ihm gemäß dem Willen Gottes zu handeln, gilt es, diese Empathie einzuüben. Die mt Parabeln vermitteln eine solche empathische Haltung dem Nächsten gegenüber, indem sie immer wieder Mitleid mit den Parabelfiguren wecken und emotionale Anteilnahme fördern, aus der wiederum genuine Nächstenliebe erwachsen kann. Zwar mag der erste Motivationsimpuls noch das eigene Ergehen im künftigen Gericht Gottes sein, doch eröffnen die Parabeln die Innenperspektive der geschilderten Figuren und ermöglichen somit langfristig eine wachsende Empathie- und Gemeinschaftsfähigkeit. Es spricht daher einiges dafür, anzunehmen, dass das Mt-Ev eine solche, man könnte sagen, emotional kompetente Parabelrezeption intendiert und langfristig auf eine wachsame und selbstreflektierte, fortwährend praktizierte imitatio dei im Sinne einer Nacheiferung Gottes in seiner bedingungslos liebenden Einstellung gegenüber den Menschen abzielt (vgl. 5,45.48); eine Nächstenliebe, die den Anderen stets im Lichte desselben Bedürfnisses nach Wohlergehen betrachtet, das man sich selbst wünscht (vgl. 98

Vgl. a.a.O., 1029.

4. Resümee

457

5,44; 19,19; 22,39). Diese narrativ-ethische Strategie des Mt lässt sich wie folgt veranschaulichen:

Intrinsisch motivierte, altruistische Einstellung gegenüber dem Nächsten

Umweg: narrativ-emotive Einübung der rechten, moralischen Einstellung Emotionale Antizipation der Zukunft (Furcht vor Gottes Gericht)

Mitleid angesichts des Schicksals der bestraften Sklaven

Empathische Einstellung gegenüber dem Nächsten

imitatio dei: bedingungslose Liebe

Umsetzung des Gotteswillens in konkrete Taten

Abb. 5: Die narrativ-ethische Strategie in mt Herr-Sklave-Parabeln

Die aufgezeigten emotiven Mechanismen in den mt Parabeln liefern die begründete Orientierung (das gegenwärtige Handeln wirkt sich auf die Zukunft aus) und die emotionale Befähigung (empathische Anteilnahme an der Situation des Nächsten), den Willen Gottes in konkrete Taten umzusetzen. So verbinden sich die emotive Wirkung und die Zeitdimension zu zentralen Parametern der mt Ethik. Es kann mit Thomas Schmidt geschlossen werden: „Die Liebe allein hat Zukunft. […] In dieser Hoffnung wird die ambivalent erfahrene Gegenwart transparent für die Möglichkeiten der Zukunft. In der Orientierung an Jesus, dem Paradigma des Humanen, dem Gleichnis der Gottesgegenwart, dem Symbol der Liebe und der Solidarität, hofft der Mensch auf Zukunft, die schon jetzt die Gegenwart weniger trostlos erscheinen lässt.“99

99

SCHMIDT, Ende, 421.

Ausblick und Schluss Der wahre Zweck eines Buches ist, den Geist hinterrücks zum eigenen Denken zu verleiten. (Marie von Ebner-Eschenbach)

1. Chancen und Grenzen einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese 1. Chancen und Grenzen einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese

Da die Ergebnisse der einzelnen Kapitel jeweils an deren Ende komprimiert zusammengefasst wurden, kann eine Wiederholung derselben an dieser Stelle unterbleiben. Nun soll es noch darum gehen, einen Ausblick auf den wissenschaftlichen Mehrwert der vorliegenden Arbeit zu geben und zu erörtern, inwiefern die Ergebnisse dieser Arbeit zu bestehenden Forschungsdiskussionen beizutragen vermögen. Selbstverständlich ist es sowohl möglich als auch in hohem Maße wünschenswert, die hier entfaltete Thematik der Emotionen hinsichtlich ihrer Rolle in der biblischen Exegese und Ethik in viele Richtungen weiterzuverfolgen und zu erforschen. So drängt sich am Ende dieser Betrachtungen bspw. die Frage nach einem synoptischen bzw. innertestamentarischen Vergleich auf: Wie verwenden die anderen Evangelien oder Paulus Emotionen, und welches Gewicht kommt ihnen im Hinblick auf die ethische Textpragmatik zu? Es liegen aber auch zahlreiche Fragestellungen auf der Hand, die über die neutestamentliche Forschung hinaus in andere Teilbereiche der Theologie führen: Nahe liegt die Anwendung der vorgeschlagenen Methodik auf die alttestamentliche Exegese: Hat die mt ethische Motivierung anhand des künftigen Gerichts Gottes und deren Verstärkung durch Freude und Furcht alttestamentliche Wurzeln oder begegnen im AT andere narrativ-emotive Strategien der ethischen Motivation? Und selbst darüber hinaus regt die Arbeit einen religionswissenschaftlichen Vergleich an: Welche Rolle spielen Emotionen für die ethische Unterweisung etwa in Narrationen des Koran, in JātakaErzählungen des Buddhismus oder in hinduistischen Puranas? Desgleichen ist es möglich, die wirkungsgeschichtliche Prüfung der hier erarbeiteten Ergebnisse aus Sicht der Patristik anzustellen: Wurden die mt Parabeln in verschiedenen Epochen den hier erarbeiteten Auslegungen gemäß rezipiert und wie

460

Ausblick und Schluss

beeinflussten kontextuelle Begebenheiten diese Rezeption? Letztlich ließe sich auch die Frage nach einem möglichen Mehrwert einer „emotiven Heuristik“ für Homiletik und Religionspädagogik stellen: Wie können und dürfen Emotionen in der Predigt und im Unterricht genutzt werden, um Inhalte emotional zu unterstützen und einen Kontrapunkt zur rein rational vermittelten Wissensvermittlung zu setzen? Und darf, um bewusst provokativ zu fragen, dabei Ansätzen wie dem mt gefolgt werden und auch mit Furcht gearbeitet werden, und zwar nur deshalb, damit, wie es Hans Jonas fordert, die Ehrfurcht wieder Einzug in menschliche Lebensführung hält?1 Wie diese ersten Assoziationen weiterer interessanter Fragestellungen aufzeigen, welche die bereits mehrfach genannte Komplexität der Emotionsthematik abbilden, eröffnet sich eine enorme Weitläufigkeit des möglichen Forschungsfeldes. Dazu sollen hier nun thematisch-punktuelle Impulse angeboten werden, die eine selbstkritische Auseinandersetzung mit ausgewählten, sowohl methodischen als auch inhaltlichen Gesichtspunkten hinsichtlich ihrer möglichen Konsequenzen für den theologischen Diskurs anstellen und sich auf Exegese und Ethik beschränken. Hieran soll noch einmal ersichtlich gemacht werden, wie die Ergebnisse dieser Studie den theologischen Forschungsdiskurs zu bereichern vermögen. 1.1 Beitrag zur Methodik der Exegese Der breit ausgeführte Vorschlag, die emotiven Wirkungen eines Textes mittels einer konkreten Methode systematisch in die Exegese aufzunehmen, versteht sich in erster Linie als Beitrag zur neutestamentlichen Exegese. Der erste Teil der Arbeit legt hinreichend dar, dass Emotionen inzwischen zwar wachsende Aufmerksamkeit in verschiedenen Bereichen der Forschung zukommt, in der Exegese dieses Interesse jedoch erst selten dazu führt, dass Emotionen bei der Textanalyse besonders berücksichtigt werden. Für eine solche Berücksichtigung ist eine fundierte emotionspsychologische sowie literaturwissenschaftliche Erweiterung der bisherigen Methoden der Exegese nötig. Eine solche interdisziplinäre Bereicherung ist in der Geschichte der Theologie nichts Neues. Seit der Ausdifferenzierung der Disziplinen in der frühen Neuzeit profitiert die Theologie von Nachbarwissenschaften wie der Archäologie, der Geschichtswissenschaft sowie der Soziologie. Auch Literaturwissenschaften und Psychologie werden häufig herangezogen, um die Methoden der Textauslegung gewinnbringend zu erweitern. Dabei liegt das Interesse jedoch stärker auf hermeneutischen Prozessen des rationalen Textverständnisses. Doch auch Emotionen bzw. deren Befragung tragen dazu bei, einen Text zu erfassen, zu durchdringen und zu verstehen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil des Rezeptionsprozesses, und insbesondere Erzähltexte wie 1

Vgl. JONAS, Prinzip, 392 f.

1. Chancen und Grenzen einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese

461

die hier untersuchten Parabeln sind reich an emotionalisierenden Mitteln der Erzählweise. Da diese Dimension biblischer Texte in der Exegese bislang noch zu wenig in den Blick genommen wird, erfüllt die hier erarbeitete Methode ein Desiderat der Theologie und versteht sich als Beitrag zu einer holistisch ausgerichteten biblischen Textauslegung, die sich neben den kognitiven auch ihren emotionalen Komponenten widmet. Die hier erarbeitete Methode zur „emotiven Textanalyse“ eignet sich indes nicht nur für biblische Parabeln, sondern kann prinzipiell auf alle Erzähltexte und darüber hinaus, mit ggf. entsprechend modifizierter Methodik, auf weitere Textgattungen angewandt werden. Dies müsste anhand weiterführender, die Methode erprobender Studien entfaltet werden. Der ihr zugrunde liegende Prozess der emotionalen Textrezeption, der sowohl die Rezeption der im Text deskriptiv dargestellten Emotionen als auch den reaktiv-emotionalen Rezeptionsvorgang (empathisch, sympathetisch und pragmatisch) berücksichtigt, erfasst die emotive Textwirkung in ihrer ersten (Textebene) sowie ihrer zweiten Phase (Wirkungsebene). Auf diese Weise kann sinnvoll untersucht werden, ob ein Text erkennbar Emotionen wecken möchte, um seine Botschaft(en) zu verstärken. Sachtexte mögen im Vergleich zu den meisten Erzähltexten um einiges emotionsärmer ausfallen, doch kann gerade bei einer Analyse solcher Texte ein umso interessanterer Gebrauch von emotionalisierenden Sprachmitteln thematisiert werden.2 Weiterführend könnte diese Methode der emotiven Textanalyse auf andere Textgattungen des Neuen Testaments angewendet werden. So ließen sich etwa Jesu Reden oder die neutestamentlichen Briefe anhand des dargelegten emotionalen Rezeptionsvorgangs gezielt auf ihren rhetorischen Einsatz von Emotionen untersuchen. Die hier dargestellte Methode zur Textanalyse, die sich dezidiert auf die emotiven Wirkungen eines Textes konzentriert, stellt somit einen allgemeingültigen Anspruch, den es an weiteren Texten zu prüfen gilt. Doch darf und muss sie auch durchaus kritisch hinterfragt werden. Die grundsätzliche Frage, ob überhaupt mit einem heutigen Verständnis von Emotionen an die antiken Texte herangegangen werden kann, wird an mehreren Stellen dieser Studie gründlich erörtert und verschiedentlich bejaht. Trotzdem darf die Anfrage gelten, ob sich die emotionale Wahrnehmung von Sprache durch die Zeiten hindurch nicht ändern könne. Bspw. ist anzunehmen, dass viele Begriffe der Bibel bis heute durch ihre häufige Verwendung und wachsende Bedeutung emotional potenziert wurden (Höllenfeuer, Himmelreich), und es ist fraglich, inwiefern die Intensität dieser Motive schon zu Zeiten Jesu in dieser Weise bestand. Umgekehrt könnten bestimmte Begriffe damals Emotionen ausgelöst haben, die für heutige Rezipienten nicht mehr nachvollziehbar sind. Hierzu wären weitere linguistische Studien nötig. Trotz solcher Einwände muss der „emotive Vorstoß“ gewagt werden. Die Wissen2

Vgl. JAHR, Emotionen.

462

Ausblick und Schluss

schaft profitiert seit jeher von mutigen Thesen, die es zu überprüfen und nachzuweisen gilt. Wie etwa davon ausgegangen wird, dass sich rationalhermeneutische Prozesse über die Zeiten nicht verändert haben, darf auch erst einmal von der grundsätzlichen anthropologischen Gemeinsamkeit ausgegangen werden, dass sich die emotionale Rezeption von Geschichten nicht fundamental verändert hat. Wo jedoch Annahmen für das Gegenteil bestehen, müssen weitere Untersuchungen folgen, um unser Bild vom Rezeptionsprozess antiker Texte in ihrer damaligen Umwelt schrittweise zu vervollständigen. Des Weiteren ließen sich Anfragen an die konkrete Methode zur emotiven Textanalyse stellen. Bspw. mag diese auf den ersten Blick sehr komplex wirken, und in der je konkreten Anwendung könnte kritisch gefragt werden, ob die Unterscheidung der dargelegten „Emotionsauslöser“ in Texten (Situationen/Geschehnisse, Figuren, Raum, Zeit) sinnvoll aufrechtzuerhalten ist. Oftmals lässt sich tatsächlich nur schwer unterscheiden, ob eine Emotion durch eine Situation, einen Zeitaspekt oder einen Raum ausgelöst wird. Denn gerade diese drei Aspekte der Erzählebene fließen oftmals ineinander, was sich in der Narratologie an deren Verbindung zum sogenannten setting zeigt. In den Analysen offenbart sich, dass die daraus resultierenden Rezeptionsemotionen oftmals überlappen, womit eine gemeinsame Besprechung dieser Aspekte mitunter sinnvoll und erforderlich sein kann. Andererseits wird an dieser Stelle für die Aufrechterhaltung der Trennung dieser Aspekte insofern plädiert, als nur so auch etwaige Spannungen und Differenzen aufzuzeigen sind, falls bspw. gemischte oder sich widersprechende Emotionen ausgelöst werden. Dann ist interessant zu untersuchen, welcher dieser Aspekte für die Spannung verantwortlich ist. So hat sich in der Analyse von Mt 24,45–51 und Mt 25,14–30 gezeigt, wie die Gegenüberstellung von guten und bösen Figuren eine gänzlich positive oder negative Haltung gegenüber der Zeitdimension provoziert: Während im Handlungsstrang der positiv gezeichneten Figuren die Zeit gar nicht spürbar ist, treten in der Schilderung der bösen Figuren Zeitspannungen und -konflikte auf, womit sich im Weiteren negative Emotionen verbinden. Diese negativen Emotionen hängen wiederum am Figurenhandeln und der Zeit, nicht aber an den unveränderten Raum- und Situationsschilderungen. Freilich, die hier dargestellte Methode ist komplex und die vorgeschlagenen methodischen Fragestellungen im Sinne eines offenen „Werkzeugkoffers“, den es ggf. noch um weitere Werkzeuge zu ergänzen gilt, sind es ebenfalls. Dies ist allerdings dem seinerseits sehr komplexen Untersuchungsgegenstand der Emotionen geschuldet. Wie ausführlich dargestellt, wäre eine nur oberflächliche Frage wie „Welche Emotionen vermittelt dieser Text?“ bei Weitem zu unspezifisch, um darauf eine wissenschaftlich kompetente Antwort zu geben. Die verschiedenen Ebenen der Emotionsvermittlung durch Texte sowie die unterschiedlichen emotionalen Rezeptionsvorgänge müssen

1. Chancen und Grenzen einer „emotiven Heuristik“ für die Exegese

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umfänglich berücksichtigt werden, wenn die emotive Wirkung von Texten angemessen beurteilt werden will. Gleichzeitig ist es eine enorme Stärke der Methodik, sich ganz auf den vorliegenden Text zu konzentrieren und nach der darin erkennbaren Leserlenkung zu fragen. Gerade an solchen neuralgischen Punkten, an welchen Rezipienten unterschiedlich auf eine Erzählung reagieren oder Uneinigkeit darüber entsteht, wie auf eine Erzählung emotional reagiert werden kann – und somit vielleicht vorschnell die Frage nach der emotionalen Textrezeption als zu subjektiv beiseite gesechoben wird –, wendet sich die entwickelte Methode immer wieder an den Text selbst als nicht nur ihre Basis sondern auch als ihre Kontrollinstanz: Welche Indikatoren werden in diesem selbst ersichtlich, die eine bestimmte emotionale Reaktion zu lenken vermögen? 1.2 Beitrag zur Matthäus-Forschung Die hier vorgelegte Exegesemethode einer „emotiven Heuristik“ legt ihrer konkreten Textanalyse das Mt-Ev zugrunde. Damit versteht sie sich auch als gezielter Beitrag zur Mt-Forschung und zum besseren Verständnis der narrativen Ethik des Mt-Ev. Dazu seien einige Anstöße der Ergebnisse dieser Studie skizziert. (1) Auf der Grundlage der textanalytischen Kapitel dieser Studie (Kapitel 4 und 5) ist der Überlegung nachzugehen, ob die häufig konstatierte Fokussierung auf die guten Werke das ethische Hauptinteresse des Mt-Ev gänzlich trifft.3 Freilich – dies wurde in dieser Arbeit verschiedentlich gezeigt – werden Emotionen im Mt-Ev selten um ihrer selbst willen erzählt, sondern stehen meist in unmittelbarem Zusammenhang mit den ihnen folgenden Taten (vgl. 5,44; 13,44; 14,14; 15,32; 18,27; 20,34; 21,29). Doch fallen an diesen Stellen zwei Beobachtungen auf: Zunächst einmal weist die Tatsache, dass Mt die zugrunde liegenden Emotionen überhaupt erzählt, auf ihre zentrale Rolle hin. Zweitens legt die Erzählreihenfolge, welche zuerst die Emotion und sodann die konkrete Tat nennt, nahe, dass Mt in erster Linie auf eine emotionale Haltung seiner Adressaten abzielt, aus der erst die rechten Taten erwachsen können. Entsprechend kann bspw. unter der die Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten „weit übertreffenden Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) in erster Linie die – emotionale, geistige und volitionale – innere Haltung und Einstellung des Menschen und erst in zweiter Linie sein konkretes Tun zu verstehen sein.4 Dafür spricht zum einen, dass der Forderung in 5,20 sogleich 3

Vgl. bspw. SENIOR, Matthew, 28; OVERMAN, Church, 92–94; PRZYBYLSKI, Righteousness, 103 f.; STRECKER, Weg, 242. 4 Vgl. MOHRLANG, Matthew, 113. Obgleich Roger Mohrlang die mt ἀγάπη und sein δικαιοσύνη-Konzept in ein enges Verhältnis (vgl. a.a.O., 96) setzt, ist er der Meinung, dass die Gerechtigkeit das übergeordnete Ziel der mt Ethik und die Liebe nur ein daraus resultierendes Konkretum darstelle. Unter δικαιοσύνη sei vielmehr der absolute Gehorsam

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Ausblick und Schluss

die vertiefende Auslegung des Tötungsverbots folgt, die bereits den Zorn verbietet (5,22). Zum anderen werden die Pharisäer und Schriftgelehrten hinsichtlich ihrer Liebe zu profanen Dingen (Mt 6,5; 23,6) sowie ihrer fehlenden Barmherzigkeit – im Gegensatz zu ihren unermüdlichen Opferhandlungen (Mt 9,13; 12,7; 23,23) – kritisiert. Ihre emotionale Grundhaltung ist nur am eigenen Wohl statt an anderen Menschen orientiert und führt somit zu ethisch verwerflichem Handeln. Des Weiteren gehört in diese Linie, dass Jesus in seiner Rede über die Endzeit nicht die mangelnden guten Taten, sondern die schwindende Liebe bemängelt (Mt 24,12). Schließlich ist es nicht zuletzt die Offenheit und zugleich Unermesslichkeit der ethischen Forderungen, welche in den betrachteten Parabeln den Fokus auf die emotional konstituierte Gesinnung legt: Entsprechend betont Jesus am Ende der Parabel vom unbarmherzigen Sklaven, dass wahre Vergebung ἀπὸ τῶν καρδιῶν, „von Herzen“, kommen müsse (Mt 18,35).5 Dieses „reine Herz“ begegnet an mehreren Stellen als grundlegendes Ziel der mt Ethik (vgl. Mt 5,8.28; ex negativo: 15,19). Und sogar in der Parabel von den anvertrauten Geldern, in der es ganz gezielt um ständige Handlungsbereitschaft geht, werden die konkreten Taten, die zur Vermehrung des Geldes führen, nicht explizit geschildert. Die Parabel setzt vielmehr früher an und vermittelt „the need for total commitment, fidelity, and sacrifice“6. Diese Beobachtungen legen nahe, dass es Mt um die Einstellung in einem ganz allgemeinen Sinne geht, aus welcher dann gleichsam wie von selbst gute Taten resultieren und warum bisweilen gar nicht weiter ausgeführt werden muss, wie diese genau ausfallen. Dieses Ergebnis deckt sich mit dem Deutungsappell der Parabelgattung, welche immer neue Reflexion nötig macht und unaufhörlich die Frage nach dem Willen Gottes stellt. Dadurch wird die Notwendigkeit guter Taten zwar keinesfalls abgeschwächt. Trotzdem ergibt sich aus der Beachtung der Rolle der Emotionen im Mt-Ev ein klareres Bild der mt Ethik als einer empathisch grundierten Gesinnungsethik, deren emotionalen Konturen nachzugehen durchaus lohnenswert erscheint.7 (2) Darüber hinaus eröffnen die genannten Ergebnisse dieser Studie eine weiterführende Perspektive auf die ekklesiologische Dimension der mt Ethik. Die in der Mt-Forschung stark betonte Bedeutung der Ekklesiologie für das Evangelium führt mitunter dazu, seine Ethik als eine in erster Linie sozialunter den Willen Gottes zu verstehen. Seine Argumentation dafür anhand des ersten Gebotes vermag jedoch nicht zu überzeugen, da dieses gerade nach Liebe zu Gott verlangt und nicht nach Gehorsam (vgl. a.a.O., 98 f.). Somit bestätigt sich m.E. vielmehr das Bild, dass die Liebe prinzipiell die Erfüllung der mt δικαιοσύνη darstellt (vgl. GIESEN, Handeln, 138–140; KOSCH, Gesetz, 55 f.; STRECKER, Strukturen, 143). 5 Vgl. MEIER, Vision, 134. 6 A.a.O., 176, Anm. 204. 7 Gegen KECK, Sermon, 321, und SCHNACKENBURG, Botschaft, 40. So auch MERKLEIN, Gottesherrschaft, 44.

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ethisch, kollektiv ausgerichtete zu verstehen.8 Besonders die Forderung nach Feindesliebe und Gewaltverzicht könne „nur konkret im Blick auf eine bestimmte soziale Konstellation beantwortet werden“9. Die Analyse der hier betrachteten Parabeln zeigt allerdings eine starke Ausrichtung auf das Individuum: Die in den Parabeln dargestellten Sklaven sind – mit Ausnahme der Gruppe der Mitsklaven in Mt 18,31 – stets Einzelpersonen, deren individuelles Tun und Schicksal beschrieben werden. Auf diese Weise sprechen sie den Rezipienten in seiner Individualität an und fordern zu einer abgrenzenden oder identifizierenden relationalen Resonanz auf. Auch und insbesondere die Zentralität der Emotionen in der mt Ethik zielt auf das Individuum: Während Gebote und Verbote im Hinblick auf eine Gemeinschaft sozialethisch von Bedeutung sind, richten sich die emotiven Imperative demgegenüber stärker an den Einzelnen. Liebe, Freude und Mitleid sind Emotionen, welche das rechte Handeln zwar begünstigen, für ein solches aber nicht zwangsläufig notwendig sind. Trotzdem ist diese emotionale Einstellung des Einzelnen für das Mt-Ev von enormer Wichtigkeit, wie die zahlreichen Textbelege offenbaren (Abwehr von Furcht/Sorge: 1,20; 6,25.31.34; 10,19.26.27.30; 14,27; 17,17; 24,6; 28,5.10; Lob des Mitleids: 9,12.27; 12,7; 15,22; 17,15; 20,30 f.; 23,23; Aufforderung zur Zuversicht/Freude: 5,12; 9,2.22; 14,27; 25,21.23; Aufruf zur Liebe: 5,43 f.; 19,19; 22,37.39). Im Lichte dieser Ergebnisse lässt sich m.E. in Frage stellen, ob die mt Ethik hauptsächlich eine sozialethische und nicht vielmehr eine prinzipiell individualethische Perspektive aufweist. Dies schmälert die Bedeutung der mt Ekklesiologie indes keineswegs. Doch sprechen die hier angestellten Beobachtungen dafür, dass sich die mt Denkrichtung vielmehr vom individuellen Fühlen, Denken, Wollen und Tun des Einzelnen her zur Gemeinschaft hinbewegt, die sich erst auf Grundlage dieser rechten Einstellung eines jeden Einzelnen als Kirche Christi identifizieren und formieren kann: „The mercy Jesus has shown them has made them the church. The survival of the church depends on their extending what they have received: mercy without measure.“10 Diese Forderung stellt sich in erster Linie an jeden Menschen individuell, aus dessen Erfolgen und Misserfolgen sich die Kirche in der Welt als corpus permixtum konstituiert, der als solcher wachsen und gedeihen darf – in der Hoffnung, mit der Zeit mehr und mehr „gute Früchte“ zu tragen (Mt 3,10; 7,16–21; 12,33; 13,8–23; NB: das Baumund Fruchtmotiv bezieht sich im Mt-Ev stets auf den einzelnen Menschen, nicht etwa der Baum auf die Gemeinschaft und die Früchte auf den jeweils Einzelnen). (3) Ein dritter Pfad, auf den diese Arbeit hinweist und der zu erforschen lohnend wäre, ist die Rolle der Emotionen nicht nur für die Ethik des Mt-Ev, 8

Vgl. bspw. POPKES, Paränese, 70; STRECKER, Weg, 43. KONRADT, Erwägungen, 377. 10 MEIER, Vision, 135. 9

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Ausblick und Schluss

sondern für das Gesamttextkorpus. Wie gesehen, sind die narrativ vermittelten Emotionen in den Parabeln des Mt-Ev von großer Bedeutung für dessen Ethik, die sich anhand künftiger Ereignisse plausibilisiert (Gericht Gottes). Durch antizipatorische Emotionen verstärkt sich die textpragmatische Wirkung der Erzählungen, obgleich das Gericht Gottes noch in weiter Zukunft liegt. Da es sich beim Mt-Ev bereits übergeordnet um eine Narration handelt, stellt sich die Frage, ob hier die Emotionen eine ähnliche, wenn auch in die entgegengesetzte Richtung weisende Rolle spielen, indem sie das vergangene Geschehen des Lebens, Leidens, Sterbens und Auferstehens Jesu Christi im Leben der Adressaten vergegenwärtigen und wachhalten. Hier wäre zu prüfen, ob die narrativen Beschreibungen Jesu Lebens die Weckung ebenso starker Rezeptionsemotionen erkennen lassen wie die betrachteten Parabeln, oder ob diese weniger emotionalisierend gestaltet sind. Hieraus ergebe sich die spannende Frage nach der Bedeutung der Emotionen für die mt Christologie in deren Vergleich für die mt Ethik. Die Untersuchungen dieser Arbeit legen den Eindruck nahe, dass Emotionen im Mt-Ev einen so starken Handlungsbezug aufweisen, dass sie für die Ethik um vieles bedeutsamer sind als für christologische oder ekklesiologische Belange. Mt verwendet stark emotionalisierende Sprache besonders dort, wo es ihm um Handlungsmotivationen geht, dagegen weniger, wenn er das Handeln Jesu beschreibt. Gerade in Erzählungen über Jesu Wundertaten fällt auf, wie selten Emotionen genannt und wie wenig ausführlich bzw. sprachlich ausschmückend diese Passagen gestaltet sind (vgl. etwa Mt 8,1–22; 14,1–21; 15,1–17,28). Doch gelte es nun, diesen Eindruck anhand weiterer Forschungen zu überprüfen.

2. Impulse für den Ethikdiskurs 2. Impulse für den Ethikdiskurs

2.1 Beitrag zur Analyse narrativer Ethik Die Methode der „emotiven Textauslegung“ intendiert nicht nur zu ermitteln, wie die Leserlenkung im Text eine emotionale Reaktion des Rezipienten provoziert. Das besondere Interesse dieser Arbeit gilt übergeordnet der Untersuchung einer narrativ vermittelten Ethik, die oftmals implizit durch das erzählte, fiktive Geschehen transportiert und vor Augen gestellt wird, ohne explizit in Form eines Gebotes oder Verbotes gefordert zu werden. Wie im ersten Teil dieser Arbeit ausführlich dargestellt, eignen einer solchen impliziten Ethik zahlreiche Vorteile, v.a. aber der ganzheitliche Appell an den Rezipienten: Dieser wird nicht nur rational zu einem bestimmten Tun aufgefordert, sondern die Richtigkeit einer Handlungsweise erschließt sich ihm auch emotional. Wie ebenfalls erörtert, führt gerade diese emotionale Involviertheit dazu, dass die ethische Forderung nicht nur verstanden, sondern auch getan wird.

2. Impulse für den Ethikdiskurs

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Will ein Exeget die narrative Ethik in Erzählungen des Neuen Testaments untersuchen, muss er dabei den zentralen Beitrag der Emotionen beachten und ihm insofern Rechnung tragen, als er den emotionalen Rezeptionsvorgang analysiert. Auf diese Weise zeigt sich, ob ein Text vorwiegend rational und logisch argumentiert oder aber seine Ethik stärker emotional vermittelt, indem er dem Rezipienten auf besonders emotionalisierende Weise vor Augen stellt, was passiert, wenn dieser gut oder schlecht handelt. An dieser Stelle sei ein gewichtiger Einwand vorgebracht, der nach dem empirischen Rezipienten fragt: In dieser Studie geht es um die Untersuchung der Leserlenkung durch den Text, hier um mt Parabeln. Ob diese Leserlenkung aber im Sinne des Verfassers fruchtet, bleibe letztendlich unsicher. Dazu wären eigene empirische Studien nötig, wobei diese sich natürlich nicht mehr auf die ersten Rezipienten biblischer Texte bezogen durchführen lassen. Gerade die Metaphorizität sowie der Interpretationsappell der neutestamentlichen Parabeln machen diese Textgattung zu einer besonderen, welche Menschen ganzheitlich und in ihrer Individualität anspricht. Damit ist aber auch unvermeidlich, dass sich jeder Rezipient auf seine Weise, also individuell mit seinem Verständnis, seinen Erfahrungen, Assoziationen und nicht zuletzt seiner emotionalen Reaktion in die Deutung einer Erzählung einbringt. Diese Stärke der Parabeln als „discussion-starters“11, wie es William R. Herzog formuliert, impliziert auch eine individuelle Rezeptionsoffenheit, die keine eindeutige Interpretation bzw. Resonanz zulässt. In diesem Sinne kann auch der vorliegende Beitrag nur ein erster Vorstoß in die emotive Textanalyse sein und hoffen, auf Zustimmung zu treffen. Um es in den Worten Michael Roths zu sagen: „Wir können also nicht mehr tun, als anderen unsere Anschauung einer Situation vorzutragen und auf Facetten aufmerksam zu machen, die auf uns gewirkt haben – in der Hoffnung, dass sie auch auf andere wirkt. Es kann wirken, aber wir können es nicht erzwingen.“12

Die akkurate und systematisch-methodische Vorgehensweise dieser Arbeit hofft, einem Individualrealismus entgegenzuwirken, der lediglich diejenigen emotionalen Aspekte eines Textes herausstellt, die dem Ausleger intuitiv bei der Lektüre auffallen. Eine solche unpräzise Vorgehensweise müsste in der Tat mit berechtigter Kritik rechnen. Folgt man jedoch den Gesichtspunkten der hier vorgeschlagenen Auslegungsmethode, wird die emotive Leserlenkung sehr gründlich betrachtet und kommentiert. Dennoch lässt sie sich unter den Begriff einer Heuristik fassen und vor allzu definitiven Aussagen muss gewarnt sein.

11 12

HERZOG, Parables, 261. ROTH, Ethik, 137.

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2.2 Beitrag hinsichtlich der Rolle von Emotionen und ihrem Zeitbezug in der Ethik Zuletzt soll hier der Blick der philosophischen Ethik zugewandt und Impulse der vorliegenden Studie im Hinblick auf die Rolle der Emotionen in der Ethik erwogen werden. Will man der Bedeutung von Emotionen für Moral und Ethik auf den Grund gehen, steht eine archaisch anmutende, philosophische Tradition dem Türhüter des Gesetzes gleich vor dem Mann vom Lande: Wie in der bekannten Parabel von Franz Kafka hatte es sich diese Untersuchung zum Ziel gesetzt, in die Welt der Emotionen vorzudringen, um ihre Bedeutung für die Ethik – passenderweise die narrativ-parabolische Ethik – zu erforschen. Was einzig davon abhalten könnte, ist eine jahrhundertelang währende Geringschätzung der Emotionen in der kontinental-europäischen Philosophiegeschichte. Wie im zweiten Kapitel gesehen, wurzelt diese bereits in der Antike, wurde durch das stoische Ideal der Apathie auf ihre Spitze getrieben, von der frühen Kirche – etwa von Augustin – fortgeführt und trägt ihre Früchte noch bis heute.13 „Bis in die Gegenwart hinein führt diese Integration stoischer Vorstellungen in der christlichen Theologie durch Augustin dazu, den Vernunftbegriff durch den Gegensatz von Vernunft und Affekten bestimmt sein zu lassen – eine fatale Folge, da dies letztlich zu einer Verkürzung der Vorstellung von den menschlichen Antriebskräften führt.“14

Freilich wird diese Antriebskraft der Emotionen von der philosophischen Ethik keineswegs bestritten, jedoch aufs Höchste problematisiert. So kommt es dazu, dass der kantischen Tradition verpflichtete Ethikansätze häufig „Gefühle als Motive für moralisches Handeln an[erkennen], nicht aber als Bestandteile moralischer Urteile“15. Emotionen könnten das Handeln maximal erklären, für eine Begründung seien sie jedoch ungeeignet.16 Denn die Ethik postuliert, die rationale Reflexion menschlicher Verhaltens- und Handlungsweisen zu sein, mit dem Ziel, das Gute zu er- und zu begründen; emotionale Reaktionen stünden dieser Intention hingegen aufgrund ihrer Irrationalität, welche den Menschen seiner Autonomie und vernünftigen Willenskraft beraube, und ihrer subjektiven Relativität, die eine allgemeingültige Begründung moralischer Handlungsnormen a priori ausschließe, entgegen.17 Solche Ansätze setzen sich bis heute fort, was sich durch einen Blick in aktuelle Ethikhandbücher und -einführungen bestätigt. 13 Für einen Überblick über die Rolle der Emotionen in verschiedenen Ethikansätzen seit der Aufklärung vgl. WEGENER, Emotionen. 14 HÜBNER, Ethik, 97. 15 DÜWELL/HÜBENTHAL/WERNER, Handbuch, 370. 16 Vgl. FISCHER, Grundlagen, 23. 17 Vgl. bspw. FISCHER, Einführung, 260; MORSCHER, Kognitivismus, 41; QUANTE, Einführung, 51.

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Exkurs : Emotionen in aktuellen Ethikhandbüchern und -einführungen Hier kann nur ein exemplarischer Blick in drei Handbücher sowie zwei Einführungen in die Ethik erfolgen: So findet sich im Lexikon der Ethik der Beck’schen Reihe18 kein Eintrag „Emotion“, sondern lediglich einer über „Leidenschaft“. Dort stellt der Autor Christoph Horn lediglich fest: „Man bezeichnet Emotionen, Affekte oder Gefühle traditionell auch als L.en (griech. pathē, lat. passiones), um damit die Passivität des Subjekts zu bezeichnen: Emotionen sind eher unwillkürliche Widerfahrnisse als selbst herbeigeführte Zustände.“19

Auf eine Bedeutung der Emotionen für die Ethik geht der Autor daher gar nicht ein. Es ist anzunehmen, dass diese Passivität der Emotionen der aktiven, rationalen Reflexionstätigkeit der Ethik für die Verfasser des Lexikons per se widerspricht. Des Weiteren werden wir für den Begriff „Gefühl“ fündig. Über sensorische Sinne hinaus bezeichnet Maximilian Forschner diese als „seelische Zustände“, als Benennungsmittel einer „Selbst- und Welterfahrung“20. Der Autor konstatiert weiter, dass seit der Antike ein besonderes Interesse der Ethik an den Emotionen zu erkennen sei, dabei aber meist eine Unterordnung derselben unter die Vernunft gefordert werde, und erst im 18. Jh. im Zusammenhang der Ästhetik und Religionsphilosophie „der Begriff reflektiert u. terminologisch schärfer umrissen“ und der moral sense „zum spezifischen Erkenntnisorgan wie zur primären Motivationskraft für Moralität erkoren“ wurde.21 Darauf lässt der Autor sogleich Immanuel Kants und Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kritik an dieser Gefühlsmoral folgen.22 In ihrem 2011 zum dritten Mal aufgelegten Handbuch Ethik werden Emotionen von den Herausgebern Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner bereits häufiger berücksichtigt.23 Als Erstes begegnen Emotionen im Zuge der Darstellung des Emotivismus: Diese metaethische Theorie besagt, dass ethischen Aussagen eine grundsätzlich emotive Funktion zukomme, d.h. dass solche Aussagen zum einen getroffen werden, um eigene Emotionen auszudrücken, und zum anderen, um diese im Gegenüber zu wecken. Die Herausgeber kritisieren daran die fehlende Rationalität der ethischen Argumentation, welche zu einer reinen subjektiven Bewertung verkomme.24 Im Kapitel der zentralen Begriffe der Ethik findet sich ein Unterkapitel von Hilge Landweer zu „Gefühl/moral sense“. Hier wird von vornherein festgehalten, dass die Beschäftigung mit den Emotionen in der philosophischen Ethik in erster Linie von der Frage nach der Kontrollierbarkeit und 18

HÖFFE/FORSCHNER, Lexikon. HORN, Leidenschaft, 151. 20 FORSCHNER, Gefühl, 75. 21 A.a.O., 76. 22 Ebd. 23 DÜWELL/HÜBENTHAL/WERNER, Handbuch. 24 Vgl. MORSCHER, Kognitivismus, 41. 19

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Ausblick und Schluss

Beherrschung der Emotionen geleitet war, da Emotionen als die Autonomie gefährdende Kräfte angesehen wurden, die den Menschen unwillkürlich ergreifen und vernünftiges Handeln boykottieren.25 Insofern ging es in der Ethik in Bezug auf die Affektenlehre stets darum, „einen sozial und moralisch angemessenen Umgang mit den Affekten zu finden“26. Im Folgenden werden solche moral sense-Ansätze besprochen, die davon ausgehen, dass Emotionen zentrale Handlungsmotive sein könnten und die moralische Bewertung grundsätzlich eine emotionale sei. So werden die Auffassungen von Anthony A.-C. Shaftesbury, Francis Hutcheson, David Hume, Adam Smith und Arthur Schopenhauer betrachtet, wobei die letzten drei den moral sense an das Mitgefühl (sympathy) binden.27 Hilge Landweer betont aber die kognitive Struktur des Mitgefühls an dieser Stelle: Es handle sich um ein Hineinversetzen in die Situation des Anderen; zugleich erfordere es entsprechende Vorerfahrungen, um dieses Hineindenken zu ermöglichen.28 Und obgleich es „Vorstellungen über die Angemessenheit der Gefühle des anderen in Bezug auf seine Situation [transportiert] und [ist] insofern urteilend“ sei, mache es ganz den Anschein, als würde dieser „explorative“ Charakter des Mitgefühls als zu relativ und daher ungeeignet für die ethische Debatte beurteilt.29 Zwar hält Hilge Landweer auch fest: „Die Bedeutung der Gefühle für die praktische Philosophie insgesamt ist aber in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren immer deutlicher geworden.“30 Doch ist hierbei ein Vergleich mit dem Unterkapitel „Rationalität“ von Herbert Schnädelbach interessant, wo wiederum konstatiert wird, dass diese nach wie vor den Grundstein der Ethik bilde: „Die These von Jürgen Habermas, dass die verschiedenen philosophischen Strömungen der Gegenwart in einer Theorie der Rationalität konvergieren (Habermas 1981, Bd. 1, S. 16), wird zumindest dadurch bestätigt, dass in den beiden letzten Jahrzehnten eine beträchtliche Anzahl von philosophischen Monographien und Sammelbänden zum Rationalitätsthema erschienen sind“31.

In Peter Fischers Einführung in die Ethik werden Emotionen und ihre Rolle in der Ethik nicht eigens behandelt.32 Zwar räumt er ein, dass eine emotional positive Stimmung wichtig für die Ethik sei, da das Glück übergeordnetes Ziel und Wirkung der guten Lebensführung sei; doch kommen Emotionen insofern nur oberflächlich zum Tragen und bleiben intentionaler Zweck des Handelns, ohne ihre motivierende Kraft zu besprechen.33 Emotionen begeg25

Vgl. LANDWEER, Gefühl, 367. Ebd. 27 Vgl. a.a.O., 367 f. 28 Vgl. a.a.O., 370. 29 Ebd. 30 A.a.O., 368. 31 SCHNÄDELBACH, Rationalität, 483. 32 FISCHER, Einführung. 33 Vgl. a.a.O., 248. 26

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nen in dieser Einführung sonst nur in seiner Darstellung der Mitleidsethik von Arthur Schopenhauer. Dort kritisiert Peter Fischer die emotionale Komponente, indem er auch die von Arthur Schopenhauer angeführten Grundtriebfedern menschlicher Handlungen, Mitleid, Egoismus und Bosheit, auf den Egoismus reduziert und die altruistische Dimension des Mitleids – und damit eine genuin emotional am Andern orientierte Handlungsmotivation – in Frage stellt.34 Außerdem wirkt es, als beurteile er die Emotion des Mitleids als per se zu relativ, variabel und subjektiv, als dass sie der Moral als übergeordnetes, universales Leitprinzip dienen könnte.35 Letztlich unterstellt er den Emotionen einen Mangel an Gerechtigkeit und Vernünftigkeit, die er dann als gegeben sieht, „wenn ein Kriterium der Handlungsentscheidung den Interessen aller in gleicher Weise gerecht wird“36. Emotionen, deren Qualität und Intensität sich vordergründig von der Unmittelbarkeit und Beziehung zum Gegenüber her bestimmten, würden diesen allgemeinen Bedingungen nicht gerecht.37 Die Vernunft bleibt für ihn somit das letztgültige Prinzip der Moral und der Ethik, welche alles hinterfragen muss – auch und nicht zuletzt die Emotionen.38 In der 2011 erschienenen Einführung in die Allgemeine Ethik von Michael Quante werden Emotionen lediglich auf einer einzigen Seite erwähnt, und der Begriff „Gefühl“ kommt im Sachregister überhaupt nicht vor.39 Nur im Zusammenhang des starken ethischen Realismus wird hier jene ethische Form beschrieben, in welcher „dem Emotionalen eine fundamentale Rolle in der Ethik zuerkannt wird“40. Allerdings wird sogleich betont, dass die Emotionen in den hier vorgestellten Ansätzen von Franz Brentano, Max Scheler und P. Nicolai Hartmann kognitiv verstanden würden. Nur auf diese Weise erschienen sie für die Ethik fruchtbar. Die Rolle der Emotionen wird außerdem im Überblick über die non-kognitivistischen Ethikkonzeptionen des Emotivismus (Alfred Ayer, Charles Stevenson, Richard Hare) behandelt. Doch beschränkt diese sich hier auf die emotive, nicht rationale Funktion des ethischen Sprechaktes.41 Diese Irrationalität wird jedoch sogleich als „Nachteil“ und insgesamt kritisch beurteilt, da die ethische Persuasion anhand emotiver Elemente doch sehr in die Nähe „bloßer Überredung“, „Werbung oder Propaganda“ und „Manipulation“ statt „ethischer Begründung“ rücke, deren „Ideal [die] Möglichkeit rationaler Begründung“ sei.42 34

Vgl. a.a.O., 113. Vgl. a.a.O., 117. 36 A.a.O., 298. 37 Vgl. a.a.O., 299 f. 38 Vgl. a.a.O., 260. 39 QUANTE, Einführung. 40 A.a.O., 98. 41 Vgl. a.a.O., 49–52. 42 A.a.O., 51. 35

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Ausblick und Schluss

Dieser exemplarische Einblick zeigt, dass den Emotionen in der philosophischen Ethik lediglich eine untergeordnete Betrachtung zugestanden wird, wobei diese alles andere als einheitlich ausfällt. Ihre Rolle wird lediglich im Zusammenhang einzelner, spezifischer Ethikansätze besprochen. Dies sind bspw. Theorien des moral sense des 18. Jh. sowie Ansätze des Emotivismus des 20. Jh. Diesen gemeinsam ist indes, dass sie heute vordergründig im Interesse der Entwicklung der Geistesgeschichte besprochen werden, darüber hinaus aber als obsolet gelten. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich die Emotionsforschung der letzten Jahrzehnte sehr um den kognitiven Anteil der Emotionen bemüht hat.43 Dennoch wirkt die trennende Gegenüberstellung von Vernunft und Emotion bis heute nach: „Die Trennung von Kognition und Emotion, von Denken und Fühlen hat eine sehr lange Tradition: Die gesamte neuzeitliche Forschung ist durch einen tiefgreifenden Dualismus hinsichtlich Geist und Körper sowie Verstand und Gefühl geprägt“44.

Nun legt jedoch bereits die Betrachtung der Emotionen aus naturwissenschaftlicher Perspektive nahe, dass „jede Trennung von Stimmung [affektiv], Wollen [konativ] und Urteilen [kognitiv] in Frage gestellt und als sachfern verabschiedet werden [muss]. Denn […] jedes Wollen und Handeln [ist] gestimmt und umgekehrt jede Stimmung bereits die Welt durchgliedernd mit Wille und Handlungen und Erwägung“45.

Emotionen sind gewichtige Bestandteile der Person, haben Einfluss auf die Persönlichkeit sowie die Eigenwahrnehmung.46 Darüber hinaus beeinflussen sie den Blick auf die Umwelt und Andere, und somit kommt ihnen eine beträchtliche Bedeutung im sozialen Gefüge zu.47 Daraus ergibt sich, dass Emotionen wichtige Motivatoren für Handeln und Verhalten darstellen, wieder jeweils individuell sowie sozial-interaktiv.48 Des Weiteren wird die besondere Bedeutung der Emotionen für die Ausbildung der Moral an den Ergebnissen der neuroscience of ethics ersichtlich, welche eine unauflösbare Verbindung zwischen Moral und Emotionen festgestellt hat. Auf Grundlage dieser engen und unauflösbar erscheinenden Verbindung zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen muss es als äußerst fragwürdig gelten, ob der von der Ethik häufig geforderte Ausschluss von Emotionen aus moralischen Entscheidungsfindungen überhaupt errungen werden kann.

43

Vgl. bspw. den Sammelband von Sabine Döring, in dem ein eigenständiger Teil „Emotionen als Kognitionen“ gewidmet ist (vgl. DÖRING, Philosophie, 139–223). 44 FOOLEN/LÜDTCKE/SCHWARZ-FRIESEL, Kognition, 215. 45 CORIANDO, Affektenlehre, 254. 46 Vgl. PEKRUN, Persönlichkeit, 334–348; SCHÜTZ/LAUX, Selbst, 519–531. 47 Vgl. BANSE, Interaktion, 360–369; WALLBOTT, Empathie, 370–380. 48 Vgl. ABELE-BREHM/GENDOLLA, Motivation, 297–305; LANTERMANN, Handlung, 381–394.

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Darüber hinaus hat sowohl die Gedächtnis- als auch die Narrationsforschung den Mehrwert narrativ vermittelter Ethik zutage gefördert, was bspw. besagt, dass anhand der emotionalen Markierung des ethischen Gehalts einer Erzählung diese sowohl effektiver und langfristiger im Gedächtnis gespeichert wird, als auch persönliche Bedeutung und damit stärkeren Einfluss auf die eigene Lebensweise erlangt. Dies legt die provokative Frage nahe, ob moralische Weisung, soll sie handlungspragmatisch wirksam werden und ein Leben lang leitend sein, nicht immer emotionalisierend sein muss. Die Narrationsforschung zeigt außerdem, dass die holistische Wahrnehmung einer Situation und damit auch ihre emotionale Relevanz für die Ausbildung moralischer Urteile ausschlaggebend sind. Obgleich es Ziel der Ethik sein mag, in einem objektiv-distanzierten Schritt die theoretische Reflexion moralischer Urteile nachzuvollziehen, stellt sich hier die Frage, ob ein ethisches Urteil aus zu großer und allzu objektiver Distanz heraus die Situation mit ihrem jeweiligen emotionalen Komponenten nicht aus den Augen verliert, um die Gründe für bestimmte Handlungen zuverlässig erfassen zu können. Die Rolle der Emotionen in Entscheidungsfindungen nicht zu beachten, stünde den dargestellten Forschungsergebnissen als mangelhafte Beachtung der Wirklichkeit entgegen. Auch die spezifisch theologischen Ergebnisse der vorliegenden Studie vermögen hierzu einen Beitrag zu leisten: Das Mt-Ev vermittelt ein Bild von Emotionen, welche eine unbestreitbare Rolle im Entscheidungs- und Handlungsprozess spielen. Daraus resultierendes Handeln wird oftmals gelobt und als richtig dargestellt. So suggeriert das Mitleid des Königs in Mt 18,27 bspw. nicht nur, dass Emotionen handlungsleitend sind, sondern sogar sein sollen. In diesem Sinne werden Emotionen im Hinblick auf die aus ihnen heraus motivierten Taten sogar explizit eingefordert: Der Gläubige soll lieben (Mt 5,44), soll sich freuen (Mt 5,12), soll Mitleid haben (Mt 9,13), soll zuversichtlich sein (Mt 9,22) und soll sich nicht fürchten (Mt 28,10). Auch die in den mt Parabeln beobachtete emotive Strategie legt nahe, dass das Mt-Ev mit den am Ende der betrachteten Parabeln stehenden Rezeptionsemotionen (Mitleid, Bestürzung, Furcht) die ethische Textpragmatik zu unterstützen intendiert und bewusst nutzt, dass Emotionen das Handeln beeinflussen. Entsprechend setzen mt Parabeln Emotionen für eine ethische Unterweisung ein, um bei der Vermittlung von Werten und Normen narrativ-emotive Rezeptionsprozesse fruchtbar zu machen und zugleich eine langfristige moralischethische Wirkung zu erzielen. Angesichts dieser Befunde darf m.E. dezidiert bezweifelt werden, ob die Unterdrückung und totale Kontrolle emotionalen Erlebens ein der Situation angemessenes Verhalten hervorrufen können. Das Mt-Ev legt vielmehr nahe, dass es in manchen Situationen bestimmter Emotionen geradezu bedarf, um das „richtige Handeln“ motivierend herbeizuführen. Mangelnde Empathie, welche emotionale Anteilnahme an der Situation des Nächsten verhindert,

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Ausblick und Schluss

neigt dazu, ethisches Handeln vielmehr zu boykottieren (vgl. Mt 18,30; 24,49). Eine theologische Ethik muss diese biblische Basis bei all ihren Überlegungen in Rechnung stellen. Auch für die philosophische Ethik vermögen die anthropologischen Einsichten dieser Texte wichtige Anstöße zu geben. In der narrativen Ethik des Mt-Ev spielen Emotionen aber noch eine weitere zentrale Rolle: Denn in Bezug auf die temporal plausibilisierte, moralischethische Unterweisung des Mt vermögen sie es, die unverfügbaren Zeitdimensionen der Vergangenheit und der Zukunft narrativ zu vergegenwärtigen und sie für die Gegenwart bedeutsam zu machen. Die emotionale Reaktion auf ein noch künftiges, ja, sogar nur als möglich geglaubtes oder befürchtetes Ereignis unterstützt das Bestreben, bereits gegenwärtig Einfluss auf ein zu erwartetes Ereignis zu nehmen. Auf diese Weise vermögen Emotionen zeitbezogene Bedürfnisse in der Gegenwart wachzuhalten und zu aktualisieren. Es zeigt sich demnach eine zentrale Funktion von Emotionen in einer temporalen Begründung ethischer Normen: Die emotionale Markierung der Zeitdimension der Vergangenheit oder der Zukunft verleiht ethischen Normen, welche sich auf diese nicht-gegenwärtigen Zeiten beziehen, mehr Gewicht schon jetzt in der Gegenwart und verstärken so ihren Anspruch. Damit wäre einem Einwand zu begegnen, der häufig vorgebracht wird, um eine rationale Handlungsentscheidung generell über eine emotionale zu stellen, und der sich auf die Zeitdimension von Emotionen bezieht. Peter Fischer drückt dies so aus: „Dem Handeln um der Lust willen mangelt es zumeist an der für das menschliche Leben nötigen zeitlichen Perspektive, am Bedenken der Folgen und auch der Mittel. Dies ist der Grund dafür, dass in der Geschichte der Menschheit der Bewertung durch den denkenden Geist der Primat gegenüber der Lustevaluation in der Bestimmung des Glücks eingeräumt wurde“49.

Der den Emotionen inhärente Gegenwartsbezug wird hier als eine „hedonistische Falle“ betrachtet: Akut empfundene Emotionen (Ronald de Sousas immediate desires) bezögen sich auf ein aktuelles Bedürfnis und führten daher häufig zu Handlungsweisen, welche die künftigen Folgen nicht angemessen berücksichtigten. Wie in den Parabeln des Mt-Ev jedoch ganz deutlich zu finden ist, vermag eine narrative Ethik diese hedonistische Problematik geradezu aufzulösen: Das antizipatorische Empfinden des Gerichts Gottes in allen drei analysierten Parabeln soll dazu führen, dass gegenwärtige Bedürfnisse zurückgesteckt werden (Mt 18: eigener Gewinn; Mt 24: hedonistischer Lebensstil; Mt 25: Sicherheit). Stellt man in Rechnung, dass die Motivation durch künftige Ereignisse umso stärker nachlässt, je weiter diese in der Zukunft liegen50, hält die emotionalisierende Wirkung von Narrationen, wie die der jesuanischen Parabeln, das motivierende Ereignis in der Gegenwart der 49 50

FISCHER, Kausalität, 129 f. Vgl. DE SOUSA, Rationality, 224–226.

3. Epilog

475

Leser/Hörer wach. Es darf hier in Frage gestellt werden, ob ethische Normen mit einem vergangenen oder künftigen Zeitbezug ohne involvierte rückbezügliche (reflexive) oder vorwegnehmende (antizipatorische) Emotionen eine gleichsam stark bindende ethische Verpflichtung aufweisen. Solche Überlegungen wollen hier nur vorsichtige Anfragen an den ethischen Diskurs stellen, da es nicht Ziel dieser Arbeit ist, einen emotionalen Ethikansatz auszuarbeiten. Dennoch stützen sie nicht nur die These der vorliegenden Studie, sondern geben überdies Impulse in Richtung einer ganzheitlichen Ethik, welche sowohl antike Textbelege als auch Erkenntnisse aus aktuellen Forschungen berücksichtigt: dass der Mensch erst durch Vernunft und Emotion ganz Mensch ist und einer Ethik, welche eine Seite davon stärker gewichtet als die andere, unangemessene anthropologische Ansprüche zugrunde liegen. Es geht bei der vorliegenden Arbeit darum, die ethische Relevanz der Emotionen ernst zu nehmen; ihre ethische Ambivalenz hingegen kann hier nicht aufgelöst werden. Dennoch wird dafür plädiert, dass die komplexe textanalytische Charakteristik der Emotionen nicht zu einer Außerachtlassung bei der Untersuchung narrativ vermittelter Ethik führt. Solche Untersuchungen könnten in einem nächsten Schritt Anstöße für weitergehende Versuche liefern, mit der Ambivalenz von Emotionen produktiv umzugehen und eine fruchtbare Integration derselben in die Ethik zu erreichen. Die vorausgehenden Betrachtungen des Einsatzes von Emotionen im Mt-Ev zeigen, dass es durchaus möglich ist, trotz der ethischen Ambivalenz von Emotionen für sie zu optieren. Die hier angestellte Untersuchung der moralischen Anleitung im Mt-Ev sowie weiterer biblischer Texte vermag dabei einen sinnvollen Ausgangspunkt zu bieten, um den Umgang mit Emotionen, ihre handlungspragmatischen Auswirkungen und ihren Stellenwert in der moralischen Anleitung zu analysieren. Dass in jüngster Zeit immer häufiger solche ethischen Ansätze begegnen, wurde in dieser Arbeit bereits exemplarisch dargestellt.51 Es ist zu hoffen, dass solchen Ansätzen noch weitere folgen werden.

3. Epilog 3. Epilog

Wie der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca schreibt „Mit Büchern habe ich das meiste Gespräch“ (Sen., epist. VII,67,2), so hofft auch dieses Buch, ein Gespräch in Gang zu setzen, welches nicht nur die Wissenschaft der Theologie bereichert. Bei der Untersuchung biblischer Texte auf ihre emotiven Wirkungsweisen hin drängt sich auf, dass das Gebiet der Emotionen ein das gesamte Leben betreffendes ist. Deshalb will diese Arbeit mit der Frage schließen, wie auch fachfremde Leser von diesen Betrachtungen profitieren können. 51

S.o. Kap. 2.3 und 2.4.

476

Ausblick und Schluss

Es bedarf nicht notwendigerweise eines studierten, spezifisch gebildeten Ethikers oder Emotionsforschers, um zu wissen oder immerhin – mal mehr, mal weniger – zu spüren, dass menschliche Interaktion, sei es durch direkte Kommunikation wie Gespräche oder aber indirekte wie Literatur, Film, Kunst oder Musik emotional vonstattengeht und wirkt. Man kann nun mehr oder weniger wissenschaftlich versuchen, diese Kommunikations- und Wirkungsweisen zu erforschen. M.E. ist in erster Linie wichtig, dass ihnen auf den Grund gegangen wird. Die vorliegende Arbeit hofft, die generelle Sensibilität für emotive Argumentationen zu erhöhen und das Verständnis dafür zu schärfen, wann, wodurch und wie der Mensch sich durch Emotionen bei sich selbst und bei Anderen zu einem bestimmten Verhalten oder Handeln veranlasst fühlt. Eine solche Sensibilität kann zu einer höheren Aufmerksamkeit für emotive Beeinflussungen in Reden, Texten oder Filmen führen. Mitunter mag eine solche Wirkung als Spiel der Fiktion zur ästhetischen Lust beitragen und willkommen geheißen, bisweilen als manipulierend wahrgenommen und zurückgewiesen werden. Ein aufmerksamer Blick dafür, wo Emotionen in moralisch-ethischen Situationen eine Rolle spielen, kann die eigene Moral reflektieren, prüfen und stärken. Führen die involvierten Emotionen hier zu gutem Begegnen und Handeln? Sind sie vielleicht sogar nötig, um das rechte Handeln zu initiieren (wie etwa im Fall des Mitleids)? Oder richten sie die Aufmerksamkeit exklusiv auf ein bestimmtes Objekt und verlieren somit andere Perspektiven aus den Augen (wie etwa im Fall des Zorns)? Am Ende kann auch dieser Ausblick exemplarisch bleiben. Das weite Feld der Emotionen machte eine Einschränkung dieser Arbeit zwar unumgänglich, doch soll sie mit der hier vielfach gemachten Beobachtung enden, dass dieses Gebiet noch viele interessante Ecken bietet und vielleicht niemals genug beachtet sein wird. Insofern kann die nun getane Arbeit an diesem Punkt in die verantwortungsvollen Hände ihrer Leser gegeben werden und mit der thematisch überaus passenden Hoffnung der zu Anfang dieses Kapitels zitierten Marie von Ebner-Eschenbach geschlossen werden, dass daraus noch viele Anstöße zum Weiterdenken und Weiterforschen hervorgehen mögen.

Anhang

Literaturverzeichnis Die verwendeten Abkürzungen folgen Siegfried M. Schwertners IATG3, Berlin 2014. Soweit antike Werke und Autoren darin nicht verzeichnet sind, folgen diese Hubert Canciks DNP, Stuttgart 1996–2003. Die Abkürzung moderner Literatur in Form von Kurztiteln setzt sich aus dem Verfassernamen sowie dem ersten Substantiv des Titels und ggf. der Band-Nummer oder dem Erscheinungsjahr zusammen.

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500

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Stellenregister Die in der Arbeit genannten Stellen sind im Folgenden sämtlich genannt. Einzig bei den mannigfachen Stellen des Mt-Ev, wurde eine Auswahl getroffen. Abschnitte, die eine detaillierte exegetische Analyse eines bestimmten Textes umfassen, sind fett hervorgehoben. In solchen Fällen wurde auf die Angabe der einzelnen Verse dieser Textstellen verzichtet.

Antike Autoren Antike Aristoteles Ars rhetorica I,1354a 70 I,1356a 69 I,1358b 425 II,1378a 255 II,1380a 260 II,1385b–1386a 247, 418 II,1385b–1386b 246 II,1388b–1391b 62 III,1408a 70 De anima I,403 62 Ethica nicomachea I,1094b 51 I,1099a 62 III,1111b 63 VIII,1162a 59 Poetik 1449b 64, 134, 454 1453a 248 Cicero De inventione I,54,104–55,106 De oratore II,45,189 f. Orator 97–99

70 70 70

Autoren Tusculanae Disputationes III,52 67 III,74 f. 65 IV,12–14 68 Homer Ilias I,1

57

Philo von Alexandrien De agricultura 100 78 De decalogo 142–145 77 De mutatione nominum 81 78 De praemiis et poenis 27 78 47 f. 78 De sacrificiis Abelis et Caini 2–4 78 27–32 77 Legum allegoriae 3,15–17 78 3,128–135 77 Plato Politeia X,606d

60

502

Stellenregister

Poseidonius (bei Galen) De placitis Hippocratis et Platonis 448,9–11 66 448,15–449,8 58 Quintilian De institutione oratoria VI,2,5 70 VI,2,7 70 VI,2,29–31 70

XII,2,29 f.

135

Seneca Epistulae morales ad Lucilium I,5,8 67 I,9,2 66 III,23,4 68 VII,67,2 475 De ira I,16,7 68

Altes Testament Altes Genesis 6,5–7 6,5 6,6 6–7 7,16 29,18 30,1 39 39,4 41 41,37–46

Testament 87 84 87 205 211 91 84 339 341 339 341

Exodus 4,14 15,15 f. 16,12 16,20 20,19–23,33 22,20–26 22, 24 23,23–33 34,6 f. 34,6 34,14

81, 87 82 246 82 84 85 393 85 86, 87 88, 294, 398 87

Levitikus 10,16 17–26 19,10 19,18 19,33–37 23,40 25,55

82 84 85 80 85 82 293

25,36 f.

393

Numeri 5,14 5,30 14,18 23,21 25

80 80 88 293 87

Deuteronomium 4,37 5,29 6,5 7,1–5 8,17 9,4 10,16 10,17–19 10,18 f. 15,7–11 15,10 16,14 f. 16,22 18,19 19,6 23,4–7 23,20 f. 24,10–22 28,63 32,39

91 82 80, 82 85 355 355 262 82 80 297 297 82 87 375 81 85 393 85 87 246

Richter 9,30 16,16

82 84

503

Altes Testament 1 Samuel 1,11 18,3 2,9

293 91 401

2 Samuel 7,5 11–12 13,2 22,9

293 303 84 81

1 Könige 17,21 18 18,36 19,4 19,6 f. 21,4 f.

246 81 293 82 81 81

2 Könige 4,32–37 10

246 87

1 Chronik 16,8

82

2 Chronik 6,36–39 24,22 28,5–15

82 375 85

Nehemia 8,1–18

84

Hiob 3,5 7 9,15–23 10,6 10,21 18,18 30 30,28 40,8

400 81 87 375 400 401 81 81 87

Psalmen 1,2 2,4 4,4 f.

84 87 83

5,6 9,2 9,14 10,4 10,13 11,5 13 14,1 16,7–11 22 25,16 26,11 27,1–3 27,7 30,2 30,6 30,11 31,10 32,5 34,12 35 35,14 35,15 36,6 f. 37,13 38 38,7 41,5 42 42,10 44 44,3 48,6 f. 51 51,3 51,4–6 51,8–10 52,3 f. 52,11 56,2 58,11 59,9 69 69,10 73,21 f. 74,1 77 86,3 86,11

87 82 247 375 375 87 82 355 82 82 247 247 82 247 246 88 247 247 81 82 81 81 84 87 87 81 81 247 82 81 81 81 82 81 247 82 82 84 82 247 82 87 82 80 81 81 82 247 82

504

Stellenregister

86,15 88,6 f. 88,10 97,10 103 103,3 103,8 103,13 104 104,27 104,28 104,31 105,21 105,42 107,9 107,10 107,14 111,9 f. 113 113–118 116,18 118,21–29 123,3 136 137 143,3 145 145,8 145,15 146,7 f.

88, 294 401 81 82 82 246 398 88 353 341 353 87 341 293 246 401 401 82 82 254 293 82 247 82 82 401 353, 448 88 341 246

Sprüche 1,7 2,13 2,14 3,31 4,1–9 4,19 6,16–19 8,13 9,10 11,6 14,17–29 14,29 15,18 16,32 20,22 21,25 24,1

82 401 84 83 82 401 87 82 82 84 83 82 82 82 85 84 83

24,17 f. 24,17 25,21 25,21 f. 27,5 29,11

82, 85 83 83 85 91 83

Kohelet 2,13 f. 7,9 12,13 f.

401 83 82

Jesaja 5,6 5,20 5,30 6,5 8,22 9,16 11,2 11,4 f. 11,10 13,6 13,9 21,3 f. 22,12 f. 29,13 29,18 f. 29,19 30,30 31,5 35,1 35,5 f. 41,8–16 43,1–15 43,4 47,5 47,8 48,9 49,9 54,9 f. 58,5 59,13 60,1 f. 61,1 61,2 61,3 65,19

205 84 401 293 401 87 259 259 259, 260 87 357 82 82 321 249 250 81 87 250 249 293 293 91 401 355 88 401 88 357 80 401 249 357 250 87

505

Altes Testament Jeremia 3,21 4,4 9,17 f. 11,20 13,16 14,1 f. 17,7 f. 20,14 f. 25,15 26,21 31,20 32,41 50,4

334 262 82 81 401 205 82 82 87 82 87 87 334

Klagelieder 1,7 1,12 2,1 2,11 2,21 f. 3,2

81 87 87 81 87 401

Ezechiel 2,3 16,38 18,17 18,23 18,32 30,3 33,11 38,22

87 80 393 284 284 357 284 205

Daniel 2,22 5,6 10,17

401 82 82

Hosea 1,6 f. 3,1 6,6 11 11,1 11,8–11

88 82 42 90 91 87

11,8 f. 11,8

90 87

Joel 2,1 2,2 2,10 3,4

87 401 401 401

Amos 3,7 4,7 5,15 5,16 f. 5,18–20 5,20 5,21

293 205 82 82 357 401 87

Obadja 1,15

87

Jona 2,10 4,2 4,3 4,11

82 398 82 85

Micha 3,2

84

Nahum 1,8 2,11

401 82

Zefanja 1,15 3,17

401 87

Sacharja 9,9 f. 9,9

261 262

Maleachi 3,16

82

506

Stellenregister

Apokryphen Apokryphen Jesus Sirach 5,4 8,5–7 18,10–13 19,13–17 28,1–7 28,1–4 31,14 f.

294 74 85 75 284 85 75

Joseph und Asenath 12,5 72 12,8 72 12,13 72 15,2b–5a 73

Jubiläen 1 1,19–21 1,24 f.

73 73 74

4 Makkabäer 1,6 2,21 f. 3,2–5 3,5

777 76 76, 99 76

Syrische Baruch-Apokalypse 12,4 294 53 205 Brief des Ignatius an die Epheser 10,2 261

Neues Testament Neues Matthäus 1,20 1,22 f. 2,3 2,10 2,10–12 2,16 2,22 3,2 3,7 3,8 3,11 3,17 4,17 5,3–11 5,4 5,5 5,7 5,8 5,11 f. 5,12 5,17–20 5,20 5,22 5,28

228, 238, 443 450 228, 249 228, 239, 241, 443 241, 417 229, 256 f. 211, 221, 443 229, 251, 308 229 229, 251 229 228, 230, 244 229, 251, 308 229, 240, 323, 407 229 229, 260–262 229, 247, 282 449, 464 239, 432 228 f., 240 f., 473 431, 446, 455 463 229, 256 f. 449, 464

5,29 5,30 5,38–48 5,43–48 5,43 5,44 5,45 5,46 5,48 6,5 6,24 6,25–34 6,27–34 7,1–5 7,1 f. 7,7–11 7,12 7,13 f. 7,16–21 7,21

Testament 230, 242–244 230, 242–244 449 93, 448, 450, 453 230, 244 f. 230, 244, 417–419, 448, 457 245, 418, 446, 449 f., 455 f. 230 263, 341, 446, 456 94, 230, 244, 464 229 f., 244 f., 257 196, 228, 235, 260, 404, 445, 455 94 242, 322, 419, 434, 451, 454 256, 284, 305, 308, 356, 436, 438 432, 449 f. 301, 356, 419, 449 207, 331, 420 445, 465 190, 368, 434

Neues Testament 7,24–29 7,24–27 7,25 7,28 8,10 8,11 f. 8,12 8,13 8,25 8,26 8,27 9,2 9,8 9,13 9,14 f. 9,15 9,22 9,24 9,27 9,33 9,36 10,19–31 10,19 10,22 10,26–31 10,28 10,37 11,6 11,17 11,20–24 11,20 f. 11,20 11,21 11,29 f. 11,29 12,1–14 12,7 12,17–21 12,18 12,21 12,23

142 205, 268 204 228, 235, 249 f. 228, 249 f., 419 250, 309, 420 333, 349, 401 250, 259 94 228, 249 228, 249 94, 230, 259 228, 230, 238, 239, 249, 417 96, 229, 247 f., 282, 308, 464 250 229 229, 259, 473 229, 252 229, 235, 247 228, 249 95, 229, 246, 248, 277 260, 445 228, 445, 465 230, 257 228 94, 238 230, 244 229 f., 242, 244, 256, 417 f. 229 420, 432 251 229 229 261, 325, 398, 419, 450, 452 229, 260 f., 321, 417 261 229, 247 f., 282, 308, 418 f., 450 260, 417 228, 230, 244 94, 230, 259, 260, 419 228, 249

12,33 12,33–35 12,35 12,36 12,41 13,1–43 13,1–9 13,7 13,8–23 13,16 13,18–23 13,20 13,21 13,22 13,23 13,24–52 13,24–30 13,30 13,36–43 13,39 f. 13,41 13,44 13,45 f. 13,47–50 13,49 13,50 13,51 13,54 13,57 14,5 14,9 14,14 14,19 14,25–27 14,26–30 14,26 14,27 14,30 15,12 15,19 15,22

507 396, 445 261 449 305, 357, 375 229, 251 445 192, 271, 387 204 465 94, 229, 240, 340 192, 264, 432 228, 239, 444 230, 242–244, 355, 418 f., 432, 444 228, 404, 445 456 142 192, 205, 209, 389 204 192, 209, 389, 446, 455 349, 403, 430, 434 230, 297, 309, 333, 349 197, 241, 228, 239, 260, 442 f., 455 197 446, 455 309, 349, 403, 430, 434, 443 333 192 228, 249 95, 230, 242–244, 258 228, 238 229, 251, 280 95, 229, 248, 277, 398, 418 f., 450 230, 253–255 180 238, 260 228, 238, 249 94, 228, 230, 259 f., 353, 445 228, 239 94, 230, 242, 258 464 229, 235, 247

508 15,28 15,31 15,32 15,36 16,3 16,17 16,18 f. 16,23 16,28 17,5 17,6–8 17,6 17,7 17,15 17,23 17,27 18,4 18,6–9 18,6 18,7 18,8 18,9 18,10 18,12–14 18,12 18,13 18,14 18,15–35 18,20 18,22 18,23-35 18,27

18,30 18,31 18,33 18,34 18,35

19,8

Stellenregister 259 228, 249 f., 419 95, 229, 248, 277, 418 f., 450 230, 253–255 432 94, 229, 240 189 189, 230, 242 f. 432 228, 230, 244 94 228 228, 445 229, 235, 247, 465 229, 251, 280 95, 230, 242 271, 325, 449 f. 242–244 230 230 230, 243 230 229, 252, 264, 417 199, 268, 318, 418 192, 199, 310 228, 239, 443 f., 450, 455 192 453 450 451 205, 274–328, 421 f., 453–457 229, 264, 417 f., 417 f., 427 f., 433, 449–451 433, 446, 455 229, 410 f., 434, 451 229, 247, 433, 442, 448 229, 256, 273, 333, 336, 417, 430, 441 275, 318, 389, 412, 417, 419, 434, 449, 452 96, 230, 234, 262– 264, 450

19,16–22 19,19 19,22 19,25 19,27–30 20,1–16 20,15 20,16 20,19 20,24–28 20,24 20,30 20,31 20,34 21,5 21,9 21,15 21,18 f. 21,20 21,26 21,28–32 21,29 21,31 f. 21,32 21,33–41 21,37 21,40 21,41 21,42–45 21,42 21,43 21,46 22,1–14 22,2–13 22,7 22,12–14 22,13 22,14 22,22 22,33 22,34–40 22,36

94 230, 235, 418, 457 229, 251, 280 228 189 205, 212, 268, 271, 445 424 f., 450 389, 419 f., 432 229 242, 325, 419, 448– 450 230, 258, 418 229, 247 229, 247 229, 248, 277, 417– 419, 450 229, 260–262, 398, 417 230, 253–255, 417 228, 230, 258, 325 445 228, 249 228, 238 3, 187 f., 356 229, 251 f., 264, 302, 417, 419 192 229, 420, 424, 452 203, 205, 384 228 192 424 424 228 389, 435 94, 228, 238 169, 205, 271, 293 153, 170 229, 256, 336, 373, 417 424 , 452 297, 333, 349, 401, 424 389, 420, 432 228, 249 f., 419 228, 249 93, 451, 456 244

Neues Testament 22,37 22,39 22,40 23,1–39 23,6 23,11 f. 23,23 23,39 24,3 24,4 24,6 24,9–12 24,9 f. 24,10 24,12 24,30 24,32–34 24,33 24,37–39 24,42–44 24,42 24,44

24,45-51 24,45 24,46 24,49 24,51 25,1–46 25,1–13 25,2 25,10 25,13 25,14–30

230, 244, 465 230, 244, 418, 453, 457 244 420 94, 230, 244, 417 325, 449 f. 229, 247 f., 282, 418 230, 253–255, 417 349, 403 f., 430, 434, 438 240, 432 94, 228, 238, 330, 404, 432 244 230, 257, 418 230, 242–244 230 229 205 404, 432 211 330, 339, 347, 351, 358, 445 192, 237, 330, 357 f., 424, 456 192, 237, 330, 357 f., 389, 424, 456 164, 205, 329–364, 422, 453–457 310, 427 229, 241, 260, 392, 427,433 f., 444 306, 446, 455, 474 94, 273, 349, 412, 430, 441, 451 142, 428 164, 190, 205, 271, 330, 377 201 211 192, 237, 241, 357, 389, 404, 452 164, 205, 365–410, 422 f., 446, 453– 457

25,21 25,23 25,25 25,26 25,30 25,31–46 25,34 26,8 26,22 26,26 26,27 26,31 26,33–35 26,33 26,37 f. 26,37 26,38 f. 26,38 26,39 26,40 26,48 26,49 26,58 26,69–75 27,3 27,11–26 27,14 27,18 27,29–31 27,29 27,31 27,39–44 27,41 27,54 28,4 28,5 28,8 28,10 28,18–20

509 96, 228, 239, 260, 434, 442–444, 450 96, 228, 239, 260, 434, 442–444, 450 228, 238, 392, 428, 433, 446, 455 201, 259 94, 273, 297, 349, 412, 430, 441 284, 295, 377 f., 409, 418 230, 253–255, 432 230, 258, 325 229, 251, 419 230, 253–255 230, 253 f. 230, 244 189 230, 244 94, 250 f., 263, 280 189, 228 f., 189, 238, 250 455 229, 447 239, 450 189 230, 244 230 189 161, 189, 447 229, 251, 419 243 228, 249 f. 94, 230, 258, 418 f. 253 229 229 253, 418 229, 253 228, 238 f. 228, 234, 238, 443 94, 228, 234 f., 353, 443, 445 94, 228, 238 f., 241, 417, 442 f., 455 f. 228, 234 f., 238, 353, 443, 445 431 f., 437

510 28,20

Stellenregister 349, 403, 430, 434, 450

Markus 1,41 3,5 4,23 4,24 4,25 4,35–41 5,1–20 5,21–43 5,25–34 6,1–13 6,14–29 6,32–44 6,34 6,45–53 8,2 9,22 10,14 10,17–31 10,17–22 10,21 11,9 11,32 12,1–12 12,28–34 12,30 12,38–40 13,24 13,32 14,32–42 14,33 f. 15,10 16,8

246 94 f. 395 395 395 30 30 30 30 30 30 30 246 30 246 246 95 30 94 94 94 94 203 93 96 94 401 357 30 94 f. 94 455

Lukas 1–2 1,13 1,48 2,29 4,28 5,10 6,27–36 7,13 7,23 7,47 8,13

32 94 293 293 95 94 93 246 94 94 32

8,18 10,17–24 10,21 10,23 10,25–28 10,30–37 10,33 11,43 12,39 f. 12,42–48 12,42–46 12,45 12,46 12,50 13,28 15 15,11–32 15,20 16,13 16,23 16,28 17,22–31 18,2 18,18–23 19 19,1–10 19,11–27 19,12 19,13 19,15 19,16 19,17 19,18 19,19 19,20 f. 19,20 19,21 f. 19,21 19,24 19,26 19,41 20,9–19 20,46 22,5 23,8 24

395 32 95 94 93 379 246 94 358 330, 350 330, 356 338 339, 345 94 94 32, 94 32 246 94 295 295 358 94 94 374, 385, 394 32 366 399 380, 382, 386 403 386 368, 372 f. 386 368, 353, 373 386 400 372 385 368, 373 395 95 203 94 32 32 32

Johannes 3,16

94

511

Neues Testament 3,29 8,56 9,22 10,17 10,30 11,33 12,42 14,9 14,23 15,9–11 15,11 15,12 f. 15,13 16,22–33 16,33

94 94 94 94 95 94 94 95 93 93 96 94 95 94 238

13,8–10 13,12 13,13 14,12 14,17 15,30

92 401 92 375 92, 368 92

1 Korinther 1,8 2,3 5,5 10,22 12,26 13 13,13 15,55–57

358 83 358 95 93 91 92 93

Apostelgeschichte 2,20 5,17 13,45 17,5 20,19 20,31

358, 401 94 94 94 92 92

Römer 1,1 1,18 1,26 1,29 2,4–6 2,4 2,5 2,19 3,5–8 3,18 5,1–11 5,8 7,16–24 8,15 9,22 10,2 f. 10,2 10,19 11,30–32 12,9–21 12,9 12,10–18 12,15 12,21

293 95 92 92 95 294 95 401 95 93 92 95 96 238 95, 294 93 92 93 441 92 93 92 93 93

2 Korinther 2,4 3,17 5,11 5,14 f. 6,6 6,14 7,1 7,9–11 7,11 11,2 11,28 f. 12,20

92 96 93 92 326 401 93 93 93 92, 95 92 92

Galater 4,18 5,19–26 5,19–21 5,20 f. 5,22 6,1–10

92 92 93 92 326 441

Epheser 4,2 5,11 6,6

326 401 293

Philipper 1,3–6 1,18 2,11 2,12 f.

92 92 347 83

512

Stellenregister

2,17 f. 2,20 3,1 3,6 4,1–4 4,10 4,17

92 92 92 92 92 92 375

Kolosser 1,7 1,11 3,5 3,5–9 3,12 4, 7

306 326 92 96 326 306

1 Thessalonicher 1,3 1,6 2,14–17 2,16 3,9 f. 4,5 4,13 5,2 5,4 5,6–8 5,8 5,14

92 92 92 95 92 92 93 358 358 343 92 326

2 Thessalonicher 1,10

358

Hebräer 13, 17

375

Jakobus 1,1 2,13

293 441

1 Petrus 1,13 4,5 5,8

343 375 343

2 Petrus 2,4 3,7 3,9 3,10 3,15

401 441 294 358 294

1 Johannes 1,5 1,6 2,9 2,11 3,16 4,8 4,10 4,16–18 4,18

401 401 401 401 95 441 95 97 238

Judas 1,6

401

Offenbarung 3,3 3,10 6,11 10,7 11,13 14,7 14,10 f. 14,15 18,7 19,10 20,10 22,9

358 358 306 293 358 358 295 358 355 306 295 306

Autorenregister Abele-Brehm, A. 102, 174, 472 Alfes, H. F. 19, 62, 106, 172 Allison, D. C. 280 Ammann, C. X, 8, 114, 119, 120, 121, 126, 127, 135, 136, 303 Anz, T. 16, 17, 51, 104, 174, 176, 197, 201, 205 Ayer, A. J. 48, 113, 471 Baasland, E. 40 Bachmann-Medick, D. 16, 17 Balz, H. 237, 238, 279, 454 Banse, R. 472 Barthel, V. 19, 176, 185, 202 Beare, F. W. 279, 391 Bennema, C. 50, 170, 200 Benthien, C. 18 Berger, K. 155, 239, 368 Besier, G. 138 Bindemann, W. 268, 377, 385, 389, 398 Blomberg, C. L. 382, 391 Böhme, H. 57, 58, 59, 66, 206, 236, 238, 239, 295, 309, 440, 452 Booth, W. C. 173 Bornkamm, G. 41, 43, 435 Bovon, F. 330, 331 Brawley, R. 37, 38 Breithaupt, F. 19, 176, 178, 181, 183, 185, 186, 201 Breitsameter, C. 449 Brosch 49 Brütsch, M. 20, 176 Burger, A. 84 Burridge, R. 37, 38, 128

Busch, W. 2 Carroll, N. 26, 104 Carter, P. 37, 38, 450 Chaniotis, A. 137 Chatman, S. 173, 199 Christen, M. 6, 24, 29, 39, 42, 92, 93, 96, 103, 104, 109, 110, 166, 176 Combrink, H. J. B. 37, 432 Cooper, J. M. 145 Coriando, P.-L. 20, 62, 209, 472 Crossan, J. 144 Crüsemann, M. 381, 398 Dalferth, I. U. 26 Dalgleish, T. 49 Davies, W. D. 280 Deines, R. 383 Demmerling, C. 20, 115, 182 Dettwiler, A. 41, 43 Dibelius, M. 21, 22, 269 Dinkler, M. B. 28, 50, 136, 453 Döring, S. A. 6, 20, 472 Drewermann, E. 22, 23, 24 Düwell, M. 468, 469 Eckert, A. 257 Eco, U. 173, 191, 212, 342 Eder, J. 19, 46, 104, 176, 177, 180, 181, 183, 185, 186, 189, 202 Egger, W. 155, 156, 157 Eibl, K. 104 Eid, V. 36, 38 Ekman, P. 27, 109, 176, 179, 181, 185, 232, 237, 249, 252, 256, 257 Elhardt, S. 48

514

Autorenregister

Elliott, M. 27, 31, 32, 51, 58, 61, 62, 63, 67, 68, 71, 77, 79, 80, 81, 82, 83, 86, 88, 89, 91, 92, 93, 95, 96, 97, 105, 138, 139, 145, 147, 162, 238, 244 Engelkamp, J. 107 Erlemann, K. 140, 284, 288, 293, 307, 317, 318, 376, 391, 398 Esterbauer, R. 6 Euler, H. A. 6, 16, 17, 45, 48 Fehlberg, K. 19, 45, 133, 176, 185, 186, 189, 197, 199, 200, 201, 202, 204, 205, 211, 354 Fehr, B. 44 Feldmeier, R. 39, 40 Ferster, C. B. 109 Finnern, S. 155, 158, 159, 160, 162, 171, 199, 200, 202, 204, 206, 207, 290, 335, 346 Fischer, J. 20, 113, 132, 447, 449, 452, 454, 468 Fischer, P. 468, 470, 471, 474 Fleig, A. 18 Foolen, A. 103, 105, 170, 211, 472 Forschner, M. 469 Frankemoelle, H. 38, 41, 43 Fredrickson, D. E. 27, 28 Freyne, S. 128 Fuchs, T. 208 Gaß, E. 83, 86, 87, 88 Gemünden, P. von 24, 25, 26, 50, 76, 77, 166, 255, 256, 416 Gendolla, G. 102, 174, 472 Genette, G. 170, 173, 174, 199, 207 Gerber, C. 293, 294, 331, 333, 339, 347, 351, 352, 355, 356 Gerhardsson, B. 36, 37, 38, 43 Gertken, J. 104, 425 Geyer, D. W. 30, 51 Gibson, J. 104 Giesen, H. 464 Gill, C. 6, 65, 66, 67, 68

Glancy, J. A. 271, 272, 294, 300, 336, 341, 400 Gnilka, J. 330, 335, 340, 342, 344, 352, 353, 380, 396, 404, 406 Goldie, P. 20, 49, 119 Greenspan, P. 420 Gregory, B. 74 Greschat, K. 259 Griffiths, P. E. 49 Grundmann, W. 310 Grund-Wittenberg, A. 26 Gumbrecht, H. U. 213 Gundry, R. H. 388 Gushee, D. P. 34, 38, 39, 40, 419 Harbsmeier, M. 6, 7, 18, 56, 62 Harkins, A. K. 72, 74 Harnisch, W. 283, 294, 300, 307, 314, 326, 327 Hartin, P. J. 333, 357, 359 Hatzimoysis, A. 6, 20 Hays, R. B. 34, 36, 37, 38, 261, 263, 412, 450 Heidler, J. 334 Heiligenthal, R. 368, 377, 384, 409 Helm, B. W. 49 Hennig, J. 252 Herzog, W. R. 334, 376, 381, 467 Hillebrandt, C. 176 Hockey, K. M. 21, 262 Hodapp, V. 242 Höffe, O. 469 Hoffmann, P. 36, 38 Hollander, H. W. 314, 326 Houlden, J. L. 37 Hübenthal, C. 468, 469 Hübner, J. 442, 443, 468 Huizing, K. X, 6, 8, 17, 20, 21, 114, 122, 123, 124, 125, 126 Hultgren, A. J. 295, 409 Hunziker, A. 26 Hupka, R. B. 258 Inselmann, A. 25, 26, 29, 32, 33, 46, 50, 67, 68, 80, 84, 92, 145, 162,

Autorenregister 163, 166, 194, 196, 202, 235, 239, 240 Iser, W. 173 Iurescia, F. 70 Izard, C. E. 6, 27, 62 Jahr, S. 19, 31, 380, 461 Jannidis, F. 199 Janowski, B. 87, 88, 262, 355 Jauß, H. R. 186 Jeremias, J. 277, 294, 296, 313, 317, 321, 324, 334, 339, 353, 354, 366, 367, 368, 373, 377, 387, 400 Johncock, M. 6 Jonas, H. 439, 440, 441, 442, 443, 444, 446, 447, 460 Kähler, C. 23, 48, 166, 372, 381, 386, 388, 393, 396, 398 Kaiser, O. 77, 78 Kampmann, E. 176 Kant, I. 113 Kasten, I. 18 Kazen, T. 6, 84, 85, 110, 237, 255 Keck, L. E. 464 Keener, C. S. 330, 372, 377 Kenny, A. 49 Kierkegaard, S. A. 427 Kipfer, S. 25, 80 Klaiber, W. 320, 334, 368, 387, 392 Klein, G. 432 Klein, R. A. 64, 147 Klein, U. 6 Kleinginna, P. R. und A. M. 44, 45, 53 Knight, J. 135, 255 Köhlmoos, M. 81, 86, 87, 89, 105 Köhnlein, M. 39, 40 Kollmann, B. 449 Konradt, M. 34, 36, 40, 41, 42, 246, 247, 259, 275, 276, 278, 281, 297, 303, 318, 320, 330, 350, 356, 387, 396, 398, 431, 451, 465 Konstan, D. 61, 63, 64, 69, 70, 255 Konstantinidou, M. 19, 172, 184, 199 Köppe, T. 104, 425

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Kosch, D. 464 Krajczynski, J. 56, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 447 Kruger, P. A. 81 Kurth, W. 213 Labouvie, E. 17 Lambert, D. A. 27 Lambrecht, J. 298, 316, 319, 334, 339, 377, 393, 395, 403, 409, 427 Landweer, H. 6, 18, 20, 29, 49, 67, 69, 97, 105, 115, 182, 469, 470 Lantermann, E.-D. 472 Lauha, R. 81 Laux, L. 472 Lavee, M. 74 Leighton, S. 345 Leiner, M. 22, 23, 24, 29, 48, 50, 166, 167 Lobsien, V. O. 240 Locker, M. 388 Lohse, E. 36, 38 Loose, A. 140 Lüdemann, G. 22 Luther, S. 127, 228, 331 Luz, U. 36, 43, 279, 282, 286, 294, 300, 301, 306, 307, 314, 321, 325, 330, 334, 335, 339, 340, 341, 343, 344, 347, 348, 350, 357, 372, 377, 378, 385, 387, 392, 397, 445 Lyons, W. 49 Madsen, K. I. 21, 22 Maier, C. M. 79, 88, 91 Malina, B. J. 438, 439 Mandl, H. 6, 16, 17, 45, 48 Martínez, M. 198, 199, 200, 201, 204, 206, 207 Matera, F. J. 37, 38 Mayordomo, M. 205 Mayring, P. 57, 102, 236, 237, 240, 241, 256, 258 McBride, D. 277, 278, 279, 280, 281, 300, 325, 380, 381, 383, 390, 391 McGinn, C. 133

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Autorenregister

Meeks, W. A. 36 Mees, U. 18, 167, 176, 181, 211, 212, 213, 214, 216, 220, 242, 251, 253, 362, 390, 426 Meier, J. P. 297, 301, 330, 377, 392, 464, 465 Mellmann, K. 6, 18, 104, 133, 176, 177, 178, 179, 181, 183, 185, 186, 189, 191, 211, 440 Merklein, H. 300, 304, 305, 427, 433, 441, 449, 450, 464 Merten, J. 104 Mertens, W. 48 Meuter, N. 148 Meyer, W.-U. 205, 248 Mirguet, F. 80 Möckel, S. 6, 7, 18, 56, 62 Mohrlang, R. 38, 41, 43, 412, 463 Moore, G. E. 48 Morscher, E. 114, 468, 469 Mühling, M. 49 Müller, Karlheinz 305 Müller, Katrin 80, 81, 91 Mulligan, K. 49 Münch, C. 296, 310, 311, 341, 350, 352, 362, 369, 374, 375, 376, 377, 380, 383, 387, 390, 393, 397, 408 Netter, N. 252 Neumann, N. 6, 29 Newmark, C. 49, 67, 97, 105 Nickel-Bacon, L. 140 Niederwimmer, K. 22 Niepel, M. 248 Nünning, A. 194 Nussbaum, M. C. X, 8, 16, 20, 114, 115, 116, 117, 119, 126, 338 Ohlig, K.-H. 437 Olbricht, T. H. 27 Ortner, H. 6, 200 Otto, J. H. 6, 17, 45, 48, 258 Overman, J. A. 322, 433, 463 Paganini, S. 73, 74 Peetz, M. 86, 91, 140

Pekrun, R. 232, 472 Peper, M. 17, 45, 46, 48, 49, 103, 106, 107, 108, 226, 232, 239, 245 Petersen, W. 40 Popkes, W. 436, 465 Poplutz, U. 41, 43 Poser, R. 26 Power, M. J. 49 Prinz, J. 104 Prinz, K. 176, 180, 185, 187, 199, 200 Przybylski, B. 463 Pugmire, D. 48 Quante, M. 114, 468, 471 Rapp, C. 56, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 447 Rebell, W. 22 Reichardt, M. 22 Reid, B. E. 271, 321, 434 Reinmuth, E. 263 Reisenzein, R. 248 Renz, U. 6, 18, 29, 49, 69 Ricœur, P. 134 Rinofner-Kreidl, S. 6 Roberts, R. C. 49, 119, 345 Robinson, J. 48, 129, 130 Röcke, W. 252 Rohls, J. 48, 114 Rohrbaugh, R. L. 380, 381, 382 Rombach, U. 245, 246, 247 Roos, J. 251 Roose, H. 276, 293, 295, 304 Roselt 334 Roth, M. 131, 132, 134, 467 Röttgers, K. 272 Rüggemeier, J. 155, 158, 159, 160, 162, 199, 200, 202, 204, 206, 207, 290, 335, 346 Rühling, L. 48 Rummer, R. 107 Russell, J. A. 44 Ryssel, D. 20, 134, 176, 178, 181, 185, 190, 206 Saliers, D. E. 82, 83

Autorenregister Sand, A. 38, 41, 43, 205, 311 Sander, D. 49 Sanders, E. 6, 69, 243, 253, 425 Sanders, J. T. 38, 43 Schattner-Rieser, U. 72, 75 Scheele, B. 176, 180, 185, 189 Scheffel, M. 198, 199, 200, 201, 204, 206, 207 Scheiber, K. 302, 303, 304, 327 Schlimm, M. R. 28, 82, 86, 102 Schlüter, G. 228 Schmid, W. 173, 198, 202, 269, 425 Schmidt, T. 17, 45, 46, 48, 49, 103, 106, 107, 108, 226, 232, 239, 245, 357, 428, 430, 434, 436, 457 Schmidt, W. 254 Schmidt-Atzert, L. 17, 45, 46, 48, 49, 103, 106, 107, 108, 226, 232, 239, 245 Schmitt, A. 251 Schmitz, H. 18, 57, 58, 60, 96, 97, 122, 123 Schnackenburg, R. 36, 38, 39, 40, 43, 279, 295, 347, 369, 396, 464 Schnädelbach, H. 470 Schneider, C. 21, 22 Schneider, S. 277, 297, 298, 299 Schnelle, U. 34, 35, 36 Schottroff, L. 284, 293, 381 Schreier, M. 104 Schütz, A. 472 Schwarzer, R. 237 Schwarz-Friesel, M. 6, 44, 45, 103, 105, 111, 134, 136, 137, 170, 171, 199, 211, 472 Schweitzer, A. 21, 22 Schwender, C. 104 Scott, B. B. 21, 295, 296, 308, 346, 356, 370, 386, 406 Scriba, A. 436, 448 Seiler, P. 245, 246, 247 Selby, G. S. 27, 136, 140, 141 Senior, D. 36, 463

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Skinner, B. F. 109 Snodgrass, K. 314, 393 Solomon, R. C. 49 Sousa, R. de 19, 20, 49, 121, 205, 412, 425, 426, 429, 474 Spencer, F. S. 6, 21, 27, 28, 92 Stassen, G. H. 34, 37, 38, 39, 40, 419 Staudinger, F. 247, 282 Stemmler, G. 6, 17, 45, 46, 48, 49, 103, 106, 107, 108, 226, 232, 236, 239, 245, 253 Stevenson, C. L. 48, 113, 471 Stöber, J. 237 Stocker, M. 49 Stoellger, P. 89, 139, 245, 246 Strebel, C. 247, 452 Strecker, G. 39, 40, 463, 464, 465 Strobel, A. 354 Tappolet, C. 49 Tasker, R. V. G. 36 Theißen, G. 22, 24, 25 Thysman, R. 38, 41 Till, D. 69, 71 Todorov, T. 198 Tomkins, S. S. 26 Truscheit, K. 1, 2 Turner, D. L. 279, 385 Ulich, D. 57, 102, 236, 237, 240, 241, 256, 258 van der Watt, J. 127 Veyne, P. 58, 59, 89, 293 Via, D. O. 291, 299, 304, 315, 370, 377, 385, 405, 408 Villiers, Etienne de 128 Vogt, T. 23, 30, 51 Voorwinde, S. 27, 31, 51, 86, 95, 246, 247 Voss, C. 19 Wagener, F. 171, 199, 200, 202, 211 Wagner, A. 25, 45, 46, 79, 80, 81, 86, 89, 91 Walker, J. 61, 136, 302 Wallbott, H. G. 472

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Autorenregister

Walter, N. 17, 22, 246, 247, 310, 392 Weber, B. 294, 296, 297 Weder, H. 39, 40, 44, 155, 232, 238, 279, 293, 296, 300, 313, 327, 356, 374, 378, 383, 395, 404, 405, 432, 443, 448 Wegener, B. 6, 468 Weidemann, H.-U. 40, 43 Weinrich, H. 185, 350, 351, 427 Weiser, A. 275, 277, 279, 280, 294, 296, 301, 302, 306, 316, 339, 343, 344, 348, 354, 355, 357, 361, 372, 376, 377, 378, 379, 386 Welzer, H. 103, 106, 107, 108, 111, 137, 138 Wendland, H.-D. 36, 38, 43, 436 Wengst, K. 329, 362, 394, 441 Werner, M. H. 468, 469 Westerholm, S. 36, 37, 38, 43, 449 Wick, P. 155, 156, 157

Wiggins, D. 49 Winko, S. 19, 171, 176, 180, 185, 189, 199, 200, 204, 206, 210 Winter, J. 69 Wischmeyer, O. 154, 155, 156 Wittchow, F. 59, 258 Witte, M. 74 Wolff, H. 22 Wolff, H. W. 262, 355 Wördemann, D. 6, 33, 50, 103, 155, 156, 160, 162 Wulff, H. J. 20, 133, 134, 135, 176, 178, 181, 185, 190, 192, 206 Zeitler, U. 2 Zillmann, D. 176, 185 Zimmermann, R. 5, 127, 133, 135, 136, 139, 144, 148, 231, 269, 310, 324, 421, 446 Zipfel, F. 104, 173, 176, 177, 179, 202, 425

Sachregister Abgrenzung 185, 190, 372, 384 Abscheu 230 Adressat passim – siehe auch Rezipient – ~enkreis (Erzählebene) 173 f., 272, 275, 330, 339, 366 – impliziter ~/Rezipient 172–174, 184, 198 – realer/empirischer ~ 172–174, 184, 198 Ästhetik/ästhetisch 133, 172, 183, 340 – Erzähl~ 210, 214, 220 – Rezeptions~ 9, 47, 167 f., 172 Affekt 44–47, 53, 65–68, 169, 192 – affect theory 26 – affektiv 104 f., 133, 167, 324, 345, 442 f. – ~ivität 105 – ~regulierung/~kultivierung 77, 93, 98 – ~theorie 48 Ambivalenz 146, 264, 417, 449 Angst, siehe Furcht – state-~ 237, 392 – trait-~ 237, 370, 392 Antipathie 185–187, 193, 217, 411 Antizipation 208, 212, 214, 219 f., 429–431 – antizipatorisch 413, 427, 429–431, 436 Apathie 66–68, 77 f., 98 f., 239, 416 Ärger 230 f., 241–244, 278–281, 285 f., 307 f., 322, 373, 418 Ärgernis 230, 242 f., 349 Ataraxie 68 Attraktivitäts-Emotionen 215, 220, 295, 344

Attributions-Emotionen 214 f., 220, 295, 298–300, 305, 307, 321, 340, 345, 347, 349, 390, 399, 401 Außenperspektive 180, 182, 186, 202, 301, 347, 411 Autor 9, 102, 172–174, 195, 198 f., 273 – impliziter ~ 173 f., 198 – realer ~ 173 f., 198 Barmherzigkeit 229, 247 f., 323–328, 418, 431, 443 basic emotions 232, 255 Befriedigung 411 Belohnung 332, 373, 383, 396, 407 Bergpredigt 34–43, 52, 196, 234, 310 f., 322, 340 Bestrafung 164 f., 281 f., 309, 316, 333, 344, 362, 390, 408, 430 Bestürzung 253, 411 f., 423 Billigung 298, 346 Biografie 128, 184 brevitas 140, 168, 380 coping 76, 131, 161 Dankbarkeit 230 f., 253–255, 286, 299– 303, 417, 425, 442 Denar(e) 274, 279, 287, 290 discours 159, 162, 197–199, 207, 217 Doppelperspektive/-struktur 177, 190, 198 Dunkelheit 400 f. – siehe auch Finsternis Ehrfurcht 83, 238 f., 294, 309, 441 Ekel 232, 252 f. Emotion(en) passim – basic emotions 232, 255 – emotional 44 f.

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Sachregister

– emotional turn 6, 16–33, 51, 115, 126 – ~sauslöser 171, 193, 198 f., 204, 206 f., 210, 215, 217 f., 221, 462 – ~sdefinition/~sverständnis 44–51, 53, 221 – ~sforschung 16–51, 104, 181, 213, 221, 232–262, 449, 472 – ~skomplex 226, 231, 236–262 – ~skonzeption 171, 192 f., 195–197, 198, 200, 216–218, 276–287, 331– 336, 367–373 – ~slosigkeit/emotionslos 164 f., 203, 230, 262, 285 f., 325 – Emotionspsychologie 16, 45, 166, 175, 193, 237, 280 emotiv 47 – ~ Heuristik 5, 162–221, 413, 459– 466 – ~ Imperativ 164, 233, 235, 261, 368, 417 Emotivismus 48, 114, 469, 471 f. Empathie/empathisch 74 f., 103 f., 176–184, 449–457 – ~definition 178–182 – ~-Emotionen 214–216, 220, 298, 304, 306, 321, 340, 343–345, 384, 390, 401 – ~potential 189, 200 f., 295, 298 f., 306 f., 340–346, 354 – ~ Rezeptionsvorgang 176–184, 193, 217 f., 293, 375, 411, 416–423 – ~ Urteil 188, 203, 268, 380 Empfindung 46 empirisch 18, 129, 146, 173, 213, 467 – ~ Adressat 172–174, 184 – ~ Rezipient 172–174, 184, 198 Empörung 323, 421 Endzeit/endzeitlich 243, 295, 317, 368, 402, 412, 432 – ~rede 213, 272, 329, 366, 412, 428 f. – ~parabeln 164, 237, 241, 295, 412, 433, 445 Erinnerung 106–108, 137 f. Erwartungs-Emotionen 214–216, 220, 288 f., 298–300, 304 f., 307, 321, 338, 340, 343–345, 347, 349, 358, 375, 384, 391, 399, 401, 404

Erzählästhetik 210, 214, 220 Erzähler 173 f. Erzähltheorie 198, 218, 269 Erziehung 121, 124, 125, 134 Eschatologie/eschatologisch 259 f., 271 f., 294, 330, 367 f., 383, 428, 432, 436–439 Ethik/ethisch passim – ~definition 5 – ~ Realismus 471 – ~diskurs 126, 148, 466–475 – mimetische ~ 167, 448 – narrative ~ passim – Verkehrs~ 2 εὐδαιµονία 62 f., 68, 240 f. Evangelien 29–33, 93–95, 129, 137 f. Evangelist 174, 273, 395 Evolution 48, 103, 110, 112, 239 Exegese 20–33, 128, 155–168, 459– 466 – Psychologische Exegese 30, 166 explizit 168, 170 f., 192 f., 196, 201 f., 217, 227 feeling for 178–180, 188–191, 216, 299 feeling with 178–180, 188, 190 f., 299, 341 Figur(en) passim Fiktion 104, 138, 183, 202, 425 – fiktiv 118, 140 f., 177 – fiktional 129 f., 133, 177, 188, 268 f. Finsternis 171, 174, 273, 349, 366, 373, 390 f., 396, 399–401, 408 – siehe auch Dunkelheit Fokalisierung 190, 202 f., 218, 295, 342 Formgeschichte 194, 218 Freude 228 f., 231, 239–241, 323 f., 360, 366–371, 407–410, 442–444 Frucht/Früchte 209, 377 f., 403, 406 445 Furcht 228, 231, 236–239, 328, 362– 364, 409 f., 439–447, 454–457 Gattung 128 f., 138–142, 164, 192, 195, 231, 269 f., 411, 436, 461 – siehe auch Formgeschichte

Sachregister Gedächtnis 106–108, 137 f., 189, 191 f., 234 – ~entwicklung 103 – ~forschung 106, 112, 473 – ~leistung 188 Gefühl 45–47, 53 Gegenstand/Objekt 210 Gegenwart 2–4, 118, 311–322, 351– 359, 403–407, 425–435; 436–446 Genugtuung 231, 252 f., 272, 324., 360, 362, 390, 421, 423, 452 Gericht Gottes 272, 324, 328, 362–364, 408 f., 453–456 Geschehnis(se)/Situation(en) 198, 204– 206, 217, 221, 288–290, 337 f., 374 f. Gesetz 35 f., 41–43, 52, 84 f., 139, 261, 446, 448 Gleichnis siehe Parabel Glück 229, 240 f., 331 f. Gottesfurcht 82 f., 455 Halo-Effekt 189 Handlung passim – Folge~ 86, 146, 249, 263, 419 – ~sbereitschaft 102, 112, 320, 322, 327, 392, 410, 423, 443, 445 – ~simpuls 103, 143, 357, 412, 445 – ~skonsequenz 101, 318 – ~sleitend 264, 278, 285, 325, 473 – ~smotiv/~smotivierend 102, 143, 190, 301, 303, 419, 426, 454, 466, 470 f. – ~spragmatisch 49 f., 57, 100 f., 146, 158, 161, 302, 324, 392, 410, 444 Hass 230 f., 257, 418 heuristisch 34, 57, 163, 214 f., 220 f., 226 f., 410 Himmelreich 288, 310, 349 – siehe auch Reich Gottes histoire 159, 162, 197–199, 207, 217 Hoffnung 230, 231, 259 f., 323, 362, 440–445, 447 f. – ~slosigkeit/~slos 207, 296, 313, 315, 404 Hörer 69–71, 134, 140 f., 187, 192, 203, 272, 393, 424

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Identifikation 159, 177, 185, 187–189, 202, 299, 340–344, 422 – existenziale ~ 202 – Fremd~ 202, 344 – ~sangebot 75 – ~spotential 159, 189, 202, 291, 340 – Selbst~ 202, 294, 344, 423 imago dei 100, 125, 446 imitatio dei 283 f., 324, 327 f., 448– 452, 456 f. implizit 129, 135 f., 140, 193, 201, 217, 269, 320, 360, 436, 445–447 – impliziter ~ 172–174, 184, 198 – impliziter ~ 173 f., 198 – ~ Leser 184, 213 Innenperspektive 177 f., 182, 186, 188, 218, 291 f., 299, 321, 345, 401, 456 Instrumentarium/ „Werkzeugkoffer“ 154, 169–221, 462 Intensität 196, 210–214, 220 f., 234, 241, 257, 276, 334, 349, 370 Intertextualität 156, 211, 341 – intertextuell 184, 220, 249, 312, 330, 339–341, 346, 357, 398 Intratextualität 349 – intratextuell 190, 277, 282, 293, 309, 335, 340, 344, 346, 349, 377 Klassifizierung 49, 53, 215, 221, 226, 232, 236, 269 Kognitivität 49, 104 Kohärenz 197, 211, 214, 220, 279, 354 Kompetenz 280 – empathische ~ 284, 447–453 – narrative ~ 440 – zeitliche/temporale ~ 317, 353, 405, 431–435, 436, 439 Konnotation, emotionale 73, 184, 331 Kontext 97, 184, 213 – Makro~ 214, 220 – Mikro~ 214, 220, 450 Langmut 95, 284, 294, 308, 314, 326 Leerstelle(n) 130, 140, 157, 165, 170, 290, 298, 341 Lernen/Lerneffekt 142, 193, 217, 327 Leser 163, 171, 174, 213 – impliziter ~ 184, 213

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Sachregister

– ~lenkung 53, 167 f., 174, 189, 202, 218, 273, 360, 410 Liebe 230 f., 244 f., 261, 326, 409 f., 417–420, 431 f., 441, 447 f. – Feindes~ 244, 450 – Fremden~ 80 – Nächsten~ 377 f., 410, 417, 446 f., 456 Linguistik 17, 47, 158, 227, 233 Literarkritik 167, 218, 273, 330 Literaturwissenschaft 17–19, 29, 49, 167, 173, 175–177, 199 Metapher 162, 211, 220 – metaphorisch 138–142, 202, 268– 270, 425–427, 436 f. Methode(n) 5, 24–29, 52, 144, 460–463 – historisch-kritische ~ 21, 29 f., 154, 165–168, 194 f., 218, 273, 410 – siehe auch Instrumentarium/ „Werkzeugkoffer“ – ~kanon 165–168 – Methodik/methodisches Vorgehen 154–168, 273, 459–463 Metriopathie 65, 98, 416 Milde 229, 231, 261 Mimesis 133–142, 170, 183 – mimetisch 104, 136, 167, 448 Missbilligung 300, 346, 373 Missgunst 230, 231, 258 Mitleid 229, 231, 245–248, 276–285, 324–328, 362, 411 f., 417–422, 457 Moral/moralisch passim moral sense 132, 469, 470, 472 Motivation 42 f., 45, 190, 197, 264, 364, 410, 456 Motivgeschichte 167, 194 f., 218, 269, 273 Mythos 57, 60 f., 66, 80, 96, 98, 101, 138 Narration/narrativ passim – ~sforschung 127–142, 148, 473 – Narratologie/narratologisch 19, 28, 154, 167, 173, 194–210, 217 f., 273 Naturwissenschaft(en) 17, 102–113, 146, 148, 416 Neid 230 f., 258, 382, 418 neuroscience of ethics 109, 112, 472

Neurowissenschaft 51, 102, 105, 108 f., 137 neutral 46 f. 106, 181, 211, 213, 249 f., 255, 300 f., 337, 357, 374, 399 f. Norm(en) 5, 126, 131, 139, 143, 214 f., 220 Objekt/Gegenstand 210 Objektivität/objektiv 80, 120, 132, 184, 186, 473 Panik 199, 355 Parabel passim – ~definition 269 – Endzeit~ 164, 237, 241, 295, 412, 433, 445 – Herr-Sklave-~ 336, 346, 373, 457 paradox of fiction 104, 129, 178, 425 πάθος 60, 63, 67, 69 f., 77, 134, 231 Persönlichkeit 62, 80, 183, 472 Philosophie 6, 16 f., 29 – antike ~ 47, 65, 100 f., 452 – moderne ~ 16 f., 20, 29, 113 f. plot 162, 204 Pragmatik passim – pragmatischer Rezeptionsvorgang 191 f., 193 f., 216 f., 269, 305, 345, 383, 411 Prävention 190–193, 216 f., 318, 345, 397, 441 Primäreffekt 189, 196, 210, 234, 284 Psychologie 16, 21 f., 24, 102, 166, 175 – Emotions~ 45, 48, 166, 175, 193, 237, 280, – Historische ~ 27–29, 50 – Moral~ 145 – Psychologische Exegese 30, 166 – Verhaltens~ 74 Raum 198, 206 f., 210, 217, 219, 309 f., 348 f., 399–401, 422 f. Realität/real 139, 140, 183, 212, 236, 268–270, 318, 441 – ~/empirischer Adressat 172–174, 184, 198 – ~ Autor 173 f., 198 – ~/empirischer Rezipient 172–174, 184, 198 Redaktionskritik 167, 194, 218, 273

Sachregister Redaktor 273 Reich Gottes 175, 212, 311, 382, 389, 391, 395, 441 – siehe auch Himmelreich Religionsgeschichte 167, 205, 273 Reue 229, 231, 251, 364., 417, 419, 421, 425, 430 Rezenzeffekt 192, 196, 210, 234, 284, 310, 335, 348, 363, 370, 430 Rezeptionsemotionen 137, 158, 161, 171 f., 175 f., 192 f., 197–221, 226, 323 f., 362–364, 408, 411–413, 453 Rezeptionsvorgang 216–218, 323 f., 410–413 – deskriptiver Rezeptionsvorgang 193, 217, 271 – empathischer Rezeptionsvorgang 176–184, 193, 217, 411, 418, 423 – pragmatischer Rezeptionsvorgang 191 f., 193 f., 216 f., 269, 411 – sympathetischer Rezeptionsvorgang 185–191, 193, 217, 411, 422 Rezipient passim – siehe auch Adressat – impliziter ~ 172–174, 184, 198 – realer/empirischer ~ 172–174, 184, 198 Rhetorik/rhetorisch 69–71, 136, 148, 192, 211, 226, 292, 424 Ritus/rituell 59, 83 f., 99 Rollen-Frame 186–189, 288, 293, 295, 299, 339, 346, 393 Sanftmut 229, 231, 260 f., 417, 419 Schadenfreude 231, 252 f., 272, 324, 362 Scham 229, 231, 251, 328, 412 – Fremdschämen 182 – Schamhaftigkeit 228 Scheu 228, 231, 236 Schuld/-gefühl 231, 251 f., 325 f., 419 setting 140, 204, 210, 348 f., 462 Situation(en)/Geschehnis(se) 198, 204– 206, 217, 221, 288–290, 337 f., 374 f. Skript 187, 204 f., 219 Sorge 228, 231, 236–238, 363, 404 Sozialgeschichte 167 f., 270, 438

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Soziologie 17, 460 Spannung 205, 211, 219, 307, 326, 385 – Zeit~ 207–209, 219, 314 f., 402, 405–407, 429, 433 Spott 229, 231, 252 f. Stilistik 198, 211, 276, 368, 379 Stimmung 45–47, 53, 106, 108, 169, 174, 184, 192, 213 f., 220, 309, 330, 366, 420 – Stimmungskongruenz 106 f., 130 subjektiv 44, 102, 158, 163, 165, 169, 180–186, 468 f. Sympathie 177, 185–191, 193, 217, 323, 407, 411, 423 – sympathetischer Rezeptionsvorgang 176, 185–191, 193, 217 – sympathetisches Potential 187–190, 203, 218 – ~potential 185–188, 299 Synoptiker/synoptisch 195, 242, 267 f., 273, 350, 369 temporale/zeitliche Kompetenz 317, 353, 405, 431–435, 436, 439 Tempus 310–312 Textanalyse 166–168, 193 f., 217, 273, 460–463 Textkritik 167, 194, 218, 273 Theologie/theologisch passim Tiefenpsychologie 22 f. Tragödie 64, 121, 134, 454 Transfersignal 269 f., 422 Trauer/Traurigkeit 229, 231, 250 f., 279–281, 285, 307, 333–335, 418, 421, 451 Überlieferungskritik 195, 218, 273, 330 Überraschung 205, 212–214, 219, 228, 231, 248–250, 323, 340, 357 Unzufriedenheit 373 Verachtung 171 f., 229, 231, 252 f., 278 f., 336, 339, 360, 418 Vergangenheit 4, 209, 304, 310–322, 350–355, 376, 397, 425–435; 436– 446 Vergegenwärtigung 141 f., 353–359, 413, 425–430, 437 Verzweiflung 272, 359, 363 f., 430

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Sachregister

Vollendung des Zeitalters 209, 349, 403, 430, 434, 454 Vorfreude 208, 425, 428, 432, 442, 445 Wachsamkeit/wachsam 237, 241, 327, 330, 358–364, 392, 410, 435–447 „Werkzeugkoffer“/Instrumentarium 154, 169–221, 462 Wertschätzungs-Emotionen 215 f., 220, 295, 300, 339 f., 344, 384, 390 Wissen 133, 135, 137, 143, 180, 184, 191, 432 – Schema~ 197 – Vor~ 167, 174, 219, 270 Wohlergehen-Emotionen 214–216, 220, 288, 299, 305, 338, 340, 345, 349, 375, 401 Zähneknirschen 171, 174 f., 329, 333– 335, 366, 397, 401 f., 430, 441, 451

Zeit 2–4, 207–210, 219, 310–322, 349– 359, 402–407, 424–435 – biografische ~ 208 f., 219 – End~ 211, 243, 272 – Heils~ 259 – historische ~ 208 f., 219 – ~konflikt(e) 208 f., 219, 314, 353– 355 – zeitliche/unzeitliche Verknüpfung 425–429 – zeitliche/temporale Kompetenz 317, 353, 405, 431–435, 436, 439 – siehe auch Spannung Zorn 57, 87 f., 229, 231, 255–257, 283– 285, 421 f. Zufriedenheit 234, 337, 355, 360, 371, 387, 421, 423 Zukunft 2–4, 118, 141 f., 174, 208 f., 311–322, 351–359, 397, 403–407, 425–435; 436–446