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German Pages 490 [491] Year 2013
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) Tobias Nicklas (Regensburg)
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Ethische Normen des frühen Christentums Gut – Leben – Leib – Tugend Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics Band IV Herausgegeben von
Friedrich W. Horn, Ulrich Volp und Ruben Zimmermann in Zusammenarbeit mit
Esther Verwold
Mohr Siebeck
Friedrich W. Horn: geboren 1953; 1982 Promotion; 1990 Habilitation; seit 1996 Professor für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ulrich Volp: geboren 1971; 2001 Promotion; 2006 Habilitation; seit 2008 Professor für Kirchengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ruben Zimmermann: geboren 1968; 1999 Promotion; 2003 Habilitation; seit 2009 Professor für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Esther Verwold: geboren 1982; seit 2010 Doktorandin am Seminar für Kirchengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
e-ISBN PDF 978-3-16-152500-1 ISBN 978-3-16-152499-8 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Im Jahr 2010 haben die Neutestamentler Professoren Friedrich W. Horn und Ruben Zimmermann sowie der Kirchengeschichtler Prof. Ulrich Volp an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes GutenbergUniversität Mainz das Zentrum für Ethik in Antike und Christentum (EAC) begründet. Diesem Zentrum gehören neben den Genannten auch Doktorandinnen und Doktoranden aus den Bereichen des Neuen Testaments und der Alten Kirchengeschichte an. Zwischenzeitlich wurde die Juniorprofessorin Blossom Stefaniw mit der Absicht berufen, die Arbeit in diesem Zentrum zu intensivieren. Ziel ist die Etablierung eines interdisziplinären Ansatzes zur Erforschung der ethischen Bildung, der literarischen und rhetorischen Konstruktionen von ethischen Normen und der diskursiven Grundlagen für Ethik im frühen Christentum. Im Rahmen des Zentrums wird derzeit eine Reihe von internationalen Kooperationen entwickelt, es existiert eine wachsende DoktorandInnengruppe und darüber hinaus finden regelmäßig Kolloquien statt: die Mainz Moral Meetings (MMM). In diesen Mainz Moral Meetings werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zu einem engen Themenfeld zusammengeführt, vorrangig aus dem Bereich des frühen Christentums und der Antike (Altphilologie, Philosophie, Judaistik). Es werden aber auch Brückenschläge zur späteren Kirchengeschichte, Systematischen und Praktischen Theologie oder Moralphilosophie gesucht. Die Zahl der Teilnehmenden wird in überschaubaren Grenzen gehalten, damit der wissenschaftliche Austausch und das Gespräch nicht zu kurz kommen. Bewusst werden auch NachwuchswissenschaftlerInnen als ReferentInnen und TeilnehmerInnen einbezogen. In diesem Band werden die Vorträge der ersten vier Mainz Moral Meetings wiedergegeben, die sich einzelnen Normen frühchristlicher und antiker Ethik widmeten. Ein Beitrag konnte leider nicht publiziert werden. Zusätzlich wurden zwei Beiträge von Gerd Theißen und Werner Zager aufgenommen. 1 Die Einführungsworte zu den Kolloquien, die von den Unterzeichneten gehalten wurden, stehen den Tagungsbeiträgen voran. MMM 1 wurde im Juli 2009 ausgerichtet und stand unter dem Thema ‚Gut, Güter, Güterabwägung‘. Es schloss sich im November 2009 als MMM 2 1
Gerd Theißens Aufsatz wurde als Vortrag im Rahmen der „Mainzer Theologischen Gespräche“ gehalten; der Beitrag von Werner Zager erwuchs aus seiner Teilnahme am MMM 2.
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Vorwort
das Thema ‚Leben zur vollen Genüge – Lebenskunst. Der Lebensbegriff als ethische Norm in Antike und Christentum‘ an. Im Juli 2010 folgte MMM 3 mit dem Thema ‚Der Grundbegriff Leib/ und die Begründungszusammenhänge antiker christlicher Ethik‘. Schließlich folgte im Februar 2011 MMM 4 mit ‚Tugend und Tugendbegriff in griechisch-hellenistischer Philosophie, biblischer, jüdischer und frühchristlicher Theologie‘. Die zweite Reihe der Tagessymposien wurde zwischenzeitlich fortgesetzt und thematisch auf die Begründungsformen antiker Ethik bezogen. Auch deren Vorträge werden bald publiziert. Wir danken allen Vortragenden, Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Mitwirkung an den Mainz Moral Meetings. Wir danken Jutta Nennstiel für ihre Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes. Esther Verwold, Mitglied der DoktorandInnengruppe ‚Begründungszusammenhänge der christlichen Ethik in Neuem Testament und Alter Kirche‘, hat die elektronische Erfassung aller Artikel, die Korrekturarbeit und die redaktionelle Arbeit mit dem Verlag sowie mit den Beiträgerinnen und Beiträgern bis hin zur Anfertigung der Druckvorlage geleistet und in alledem große Sorgfalt walten lassen. Auch ihr danken wir sehr herzlich. Mainz, im Januar 2013
Friedrich W. Horn Ulrich Volp Ruben Zimmermann
Inhalt Vorwort .............................................................................................. V Abkürzungsverzeichnis ...................................................................... XI Hinführung Ruben Zimmermann Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften ............... 3 Gerd Theißen Bibelhermeneutik und Ethikbegründung. Wie können Imperative in religiösen Erfahrungen begründet werden? .. 29 I. ‚Gut /das ‚Gute als ethische Norm in Antike und Christentum Ruben Zimmermann Das ‚Gute‘ als ethische Norm in Antike und Christentum. Gut, Güter, Güterabwägung in philosophischen und christlichen Ethiken ........................................ 53 Christoph Horn Der Güterbegriff der antiken Moralphilosophie ................................... 61 Jan G. van der Watt Reflections on doing what is good and true in the Gospel of John ......... 73 Jörg Röder Was ist ‚gut‘ im Neuen Testament? Funktionale Bedeutungsmöglichkeiten des avgaqo,j-Begriffs in der ethischen Argumentation .................. 93 Ruben Zimmermann Güterabwägung als Verfahren einer frühchristlichen Ethik? Zur Begründung von Normen am Beispiel des 1. Korintherbriefs ........ 131
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Inhalt
Notger Slenczka Was heißt ‚gut‘? Plädoyer für eine deskriptive christliche Ethik im Anschluss an Friedrich Schleiermacher und Max Scheler ............... 155 II. ‚Leben als ethische Norm in Antike und Christentum Ruben Zimmermann ‚Leben‘ als ethische Norm in Antike und Christentum. Begriff und Funktion des Lebens im ethischen Diskurs ....................... 179 Nikolaus Schneider Wie viel Naturwissenschaft verträgt die Theologie? ............................ 185 Maren R. Niehoff Halacha, Nomos oder Tugend im hellenistischen Judentum ................. 193 Manfred Lang Lebenskunst und Kohärenz. Beobachtungen anhand von Epiktet und dem Römerbrief .................... 207 Eckart David Schmidt Kult und Ethik: Leben ‚heiliger‘ Gemeinden. Der Heiligkeitsbegriff in ethischen Begründungszusammenhängen im 1. Petrusbrief ............. 225 Mira Stare Der Lebensbegriff als ethische Norm im Johannesevangelium ............. 257 Werner Zager Zwischen Schopenhauer und Nietzsche: Albert Schweitzers Lebensethik ......................................................... 281 III. ‚Leib als ethische Norm in Antike und Christentum Ulrich Volp ‚Leib als ethische Norm in Antike und Christentum. Der Grundbegriff ‚Leib /sw/ma und die Begründungszusammenhänge antiker christlicher Ethik ......................................................... 307
Inhalt
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Jochen Althoff Die Rolle des Körpers und seiner Bedürfnisse in der aristotelischen Ethik ................................................................ 313 Lorenzo Scornaienchi Die Unterscheidung von sa,rx und sw/ma und ihre Konsequenzen für die Ethik des Paulus ................................. 329 David G. Horrell Sw/ma as a Basis for Ethics in Paul ...................................................... 351 Sebastian Moll Marcions trotzige Ethik ..................................................................... 365 Frederick D. Aquino Maximus on the Beginning and End of Rational Creatures .................. 371 IV. ‚Tugend als ethische Norm in Antike und Christentum Friedrich W. Horn ‚Tugend als ethische Norm in Antike und Christentum. Tugend und Tugendbegriff in griechisch-hellenistischer Philosophie, biblischer, jüdischer und frühchristlicher Theologie ............................ 385 Wilhelm Blümer Schicksalswille und Willensfreiheit im 8. Jahrhundert vor Christus. Die Verpflichtung auf ein tugendhaftes Leben bei Hesiod ................... 389 Maximilian Forschner Mens perfecta. Bemerkungen zum stoischen Tugendbegriff ................ 399 Friedrich W. Horn Tugendlehre im Neuen Testament? Eine Problemanzeige .....................417 Christian Hengstermann Leben des Einen – Der Tugendbegriff des Origenes ............................ 433 Ulrich Volp Der Tugendbegriff des Origenes – eine Erwiderung auf Christian Hengstermann ..................................... 455
X
Inhalt
Verzeichnis der Autoren .................................................................... 465 Stellenregister ................................................................................... 469 Sachregister ...................................................................................... 473
Abkürzungsverzeichnis Die innerhalb des Bandes verwendeten Abkürzungen orientieren sich am Abkürzungsverzeichnis der 4. Aufl. der RGG (vgl. Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG 4 , hg. v. der Redaktion der RGG4 , UTB 2868, Tübingen 2007). Die in den englischsprachigen Aufsätzen verwendeten Abkürzungen richten sich nach The SBL Handbook of Style. For Ancient Near Eastern, Biblical, and Early Christian Studies, edited by Patrick H. Alexander u.a., Peabody MA 1999. Darüber hinaus wurden folgende Abkürzungen verwendet:
Antike Schriften Acad. libri Lucullus Adam. Arist.rhet. Arist.MM Aristob. apud Eus.praep.
Academici libri Lucullus Adamantius-Dialog Aristoteles, Rhetorica Aristoteles, Magna Moralia Aristobulos, apud Eusebius praeparatio evangelica Cic.Acad.Libri Lucullus Cicero, Academica libri Lucullus Cic.fin. Cicero, De finibus Cic.Tusc. Cicero, Tusculanae disputations Clem.Al.strom. Clemens von Alexandria, Stromateis Corp.Herm. Corpus Hermeticum Epict.diss. Epictetus, dissertationes Epiph.Pan. Epiphanius, Panarion Eur.Med. Euripides, Medea Hier.Jov. Hieronymus, Contra Iovinianum Mus.rel. C. Musonii Rufi reliquiae Or.Dial. Origines, Dialogos Or.pan. Origines, Panegyrikos Philo fug. Philo, De fuga et inventione Plato leg. Plato, leges Plato Theat. Plato, Theaitetos Plin.ep. Plinius, Epistulae Plot.Enn. Plotin, Enneaden Plut.comm.not. Plutarchus, De communibus notitiis Plut.stoic.rep. Plutarchus, De stoicorum repugnantiis
XII Polybios hist. Sen.brev. Sen.ep.mor. Sen.ira Sen.nat.quest. Sextus Emp.math. Stob.Ecl. Tert.Haer.
Abkürzungsverzeichnis
Polybios, Historiai Seneca, De brevitate vitae Seneca, Epistulae morales Seneca, De ira Seneca, Naturales quaestiones Sextus Empiricus, Adversus mathematicos Johannes Stobaeus, Eclogarum physicarum et ethicorum Tertullianus, De praescriptione haereticorum
Lexika, Quellenschriften, Serien, Zeitschriften BDR BoA AMP ANTF ECNT EÜ GAufs. GW ILPP JETS JHP LSJ ML.T NTAK OWD QVetChr SUPa.KT TThS TW RVV SAPERE ZGB
F. Blass/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 18 2001 Luther, Martin: Luthers Werke in Auswahl, hg. v. Otto Clemen, Bonn Ancient and medieval philosophy Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung Exegetical Commentary on the New Testament Einheitsübersetzung Gesammelte Aufsätze (Rudolf Bultmann) Gesammelte Werke (Albert Schweitzer) International library of philosophy and theology Journal of the Evangelical Theological Society Journal of the history of philosophy Liddell-Scott-Jones Museum Lessianum, Section théologique Neues Testament und Antike Kultur Origines Werke Deutsch Quaderni di Vetera Christianorum Stanford University publications, Reihe Katholische Theologie Tübinger Theologische Studien Theologie und Wirklichkeit Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten Scripta Antiquitatis Posterioris Ethicam Religionemque pertinentia Zürcher Grundrisse der Bibel
Hinführung
Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften Ruben Zimmermann
1. Zum Problem der Begründung in der Ethik 1.1 Ethik als Handlungsbegründung Ethik ist die reflexive Durchdringung von Handlungsentscheidungen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung. Damit ist dreierlei gesagt: Wer Ethik betreibt, denkt darüber nach, warum Menschen in einer bestimmten Weise handeln. Er oder sie nimmt eine MetaPerspektive auf das Handeln ein, die mittels Vernunftgebrauch und Sprache eine Handlung retrospektiv oder prospektiv hinsichtlich ihrer moralischen Signifikanz zu durchdringen versucht. In welcher Weise sich Reflexion und Vernunftgebrauch hierbei vollziehen, gilt es eigens zu diskutieren und kann sich ebenso als rationale Argumentation wie als narrative Entfaltung zeigen, 1 um nur zwei Beispiele zu nennen. Das Erkennen, Benennen oder auch Erzeugen der moralischen Signifikanz erfolgt mittels Sprache. Durch einen Sprechakt werden Normen genannt, die das Handeln bestimmen und bewerten. Damit wird postuliert, dass die ethische Bedeutung eines Satzes nicht erst ex post im Gebrauch desselben beigelegt wird. Dass es solche retrospektiven moralischen Sekundärzuschreibungen gerade auch bei kanonischen Texten gibt, soll keineswegs bestritten werden. Allerdings kann man davon ausgehen, dass anhand von grammatischen, semantischen und pragmatischen Merkmalen ein Text schon als Text eine ethische Struktur aufweist, d.h. als ein Arte1
Vgl. zur narrativen wie auch rationalen Ethikreflexion die Auseinandersetzung zwischen Marcus Düwell und Johannes Fischer in der ZEE: J. FISCHER , Ethik als rationale Begründung der Moral?, ZEE 55 (2011), 192–204; M. DÜWELL, Rationalisten sind auch Menschen. Über hartnäckige Vorurteile am Beispiel eines Beitrags von Johannes Fischer, ZEE 55 (2011), 205–213; J. FISCHER , Wo ist das Argument?, ZEE 55 (2011), 214–217 (Replik auf Düwell). Gegenüber einer radikalen Alternative versuchen wir die Formen komplementär zu verstehen und durch andere, wie z.B. der ‚metaphorischen Ethik‘ zu erweitern.
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fakt mit einem ethischen Anspruch erkannt werden kann. 2 Wie genau der normative Charakter erreicht wird, welche Zeichen im Kontext und Gebrauch als ethisch wahrgenommen werden, muss näher untersucht werden und soll nicht von vornherein auf die grammatische Form des Imperativs oder den expliziten Bezug auf klassische normative Instanzen wie z.B. Gesetz, Gerechtigkeit oder Gewissen begrenzt werden. Auch Personen, die als Vorbilder das eigene Handeln begründen, können zu Normen werden; ebenso Gefühle (z.B. innerer Zwang), auf die rechtfertigend verwiesen wird. Jedes Zeichen, das für ein ethisches Urteil begründenden Charakter besitzt, kann als Norm fungieren. Die Nennung von Normen wird erst dann zur Ethik, wenn damit zugleich eine Wertung verbunden ist. Aufgrund einer Gewichtung der Normen kann eine Handlung als ‚gut‘ und ‚richtig‘ oder gemäß einer komparativen Axiologie zumindest als ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ bewertet werden. Ethische Begründung ist deshalb mehr als die traditionsgeschichtliche Analyse einzelner Normen oder die rhetorische Deskription des Argumentationsmusters, auch wenn diese bei der Wahrnehmung der ethischen Begründungszusammenhänge von großem Nutzen sein können. Ethik zielt auf solche Wertsetzungen. Die Aufgabe der Ethikanalyse besteht gerade darin, diese Bewertungen einer Handlung offen zu legen. Ob aus dieser Analyse ein präskriptiver Anspruch erwächst, dass künftig auch so oder gerade anders gehandelt werden soll, ist dabei zunächst offen. 1.2 Modelle der Ethikbegründung in der moralphilosophischen Diskussion Wie vollzieht sich die ethische Begründung? Wie werden in einem Satz oder konkreter in einem Text ethische Plausibilität und Wertung erzeugt? Es geht bei einer ethischen Begründung um das Erzeugen von „moralischer Signifikanz“3, d.h. ein Ordnen von Normen und Werten auf einen Geltungsanspruch hin, wobei grundsätzlich jedes Zeichen zur moralischen Signifikanz beitragen kann. Versuchen wir diesen Prozess der ethischen 2 Gegenüber Wittgensteins Kritik einer Sprache der Ethik (den auch Theißen in seinem Beitrag in diesem Band aufnimmt) gehen wir von einer grundsätzlichen Moralfähigkeit der Sprache aus. Vgl. L. WITTGENSTEIN , Tractatus Logico-philosophicus, zit. nach Suhrkamp-Edition 12, Frankfurt a.M. 1963, 6.42: „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.“ Vgl. zum Grundproblem die Basisstudie von R.M. HARE, The Language of Morals, Oxford 1964; ferner die instruktive Aufsatzsammlung G. GREWENDORF/G. MEGGLE (Hgg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, stw 91, Frankfurt a.M. 1974 sowie meine Ausführungen in R. ZIMMERMANN , Ethics in the New Testament and Language: Basic Explorations and Eph 5:21–33 as Test Case, in: ders./J.G. van der Watt in Kooperation mit S. Luther (Hgg.), Moral Language in the New Testament, WUNT 2/296, Tübingen 2010, 19–50. 3 So FISCHER , Ethik als rationale Begründung (s. Anm. 1), 193, der diesen Begriff im Zusammenhang mit der narrativen Vergegenwärtigung von Situationen verwendet.
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Plausibilisierung oder auch Reflexion näher in den Blick zu nehmen. Welche Formen der Begründung, welche Begründungsstrukturen werden in der moralphilosophischen Diskussion unterschieden? Annemarie Pieper hat insgesamt dreizehn Grundformen moralischer und ethischer Argumentation benannt, wobei sie strikt zwischen moralischen und ethischen Begründungen differenziert. 4 Unter moralischen Begründungen versteht sie die Bezugnahme auf ‚gute‘ Gründe, „die geeignet sind, die Handlung und das darin sich äußernde moralische Urteil des Handelnden zu rechtfertigen“5. Konkret wird die Bezugnahme auf ein Faktum, auf Gefühle, mögliche Folgen, einen Moralkodex, moralische Kompetenz oder das Gewissen genannt. Ethische Begründungen haben hingegen die Aufgabe, „moralisches Handeln und Urteilen schlechthin vom Begriff der Moralität her zu begründen und als sinnvoll einsichtig zu machen“ 6. Als ethische Begründungsmuster werden die logische, diskursive, dialektische, analogische, transzendentale, analytische und hermeneutische Methode differenziert.7 Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Unterscheidung wirklich überzeugend ist. Zwar differieren die angeführten Begründungen in Bezug auf den Vernunftgebrauch und ein unterschiedliches Maß an Universalisierbarkeit. Es ist aber nicht einsichtig, warum die Rechtfertigung von Handeln unter Bezugnahme auf unterschiedliche Instanzen keine ‚Ethik‘ im Vollsinn des Begriffs sein soll. Schon allein die reflektierte Bezugnahme auf Gefühle, wie sie einst von den Emotivisten vertreten und neuerdings wieder von der empirischen Moralforschung aufgegriffen wurde,8 kann keineswegs der Charakter des Ethischen abgesprochen werden. Man mag anerkennen, dass die im ersten Block genannten Begründungen alle dem Muster der ‚Bezugnahme‘ im Sinne einer Ableitung folgen. Die Bewertung der Handlung wird an eine externe Instanz gebunden, die in unterschiedlichem Maße ethische Geltung beanspruchen kann. Die im zweiten Block genannten Begründungsformen sind hingegen eher Deskriptionen einzelner, im Laufe der Ethik-Geschichte vertretenen Begründungstypen, was auch daran sichtbar wird, dass Pieper hier durchweg von Begründungs-‚methoden‘ im Gegensatz zu ‚Bezugnahmen‘ im ersten Block spricht. Hier wird dann aber der Übergang zu den bei Pieper selbst aufgeführten „Grundtypen ethischer Theorie“ fließend. 4
Vgl. A. PIEPER, Einführung in die Ethik. Tübingen/Basel 6 2007, 189–237. PIEPER, a.a.O., 189. 6 PIEPER, a.a.O., 204. 7 Vgl. zu den unterschiedlichen Methoden ethischer Begründung z.B. die Auflistung bei PIEPER, Einführung (s. Anm. 4), 204–236. 8 Vgl. J. FISCHER , Grundlagen der Moral aus ethischer Perspektive und aus der Perspektive der empirischen Moralforschung, in: ders./S. Gruden, Die Struktur der moralischen Orientierung, Berlin 2010, 19–48; CHR. AMMANN, Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für die christliche Ethik, Stuttgart 2007. 5
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Wie komplex und uneinheitlich die philosophische Diskussion um Ethik-Begründung ist, wird spätestens dort deutlich, wo gleiche Begriffe für unterschiedliche Begründungsformen herangezogen werden. So wird von Annemarie Pieper unter „dialektischer Methode“ auf Platons Letztbegründung durch die Idee des Guten verwiesen, 9 während Klaus Steigleder im Anschluss an Alain Gerwith mit „dialektisch notwendiger Methode“ (dialectical neccesary method), eine handlungsreflexive Moralbegründung bezeichnet, bei der mit dem rationalen „Principle of Generic Consistency“ (PGC) das Verhältnis des Urteilenden zu seinem Urteilsgegenstand beschrieben werden soll (s.u.). Nähern wir uns der Grundfrage zunächst anhand einiger elementarer Aspekte: Für die Analyse der ethischen Begründungsstruktur ist die seit Charlie D. Broad10 innerhalb ethischer Theorie geläufige Differenzierung zwischen ‚deontologischer‘ und ‚teleologischer‘ Reflexionsform instruktiv, die in der moralphilosophischen Diskussion immer noch als konstitutiv betrachtet wird.11 Deontologisch heißt die ethische Argumentation, wenn aus einer vorgegebenen Norm (griech. to. de,on – das Erforderliche, die Pflicht) die sittlich richtige Handlung deduziert wird (Imperativ: Tue das vorgegebene Gute um seiner selbst willen). Teleologisch oder konsequentialistisch verläuft die Begründung, wenn sich der Wert einer Handlung an den Handlungszielen (griech. to. te,loj) bzw. -folgen bemisst (Imperativ: Handle so, dass ein gesetztes Ziel erreicht wird). Allerdings ist die Argumentationsrichtung nur ein Aspekt im Begründungsvorgang. Wolfgang Kuhlmann unterscheidet weiterhin zwischen linearen, kohärentischen und reflexiven Begründungstypen: 12 Eine lineare Begründung etwa bedeutet, dass Y als Fundament für X dienen soll und nicht umgekehrt. Kuhlmann nennt diesen Begründungstyp auch „Ableitung“, wobei er zusätzlich zwischen fundamentalen Letztbegründungen und schwachen Begründungen mit begrenzter Reichweite differenziert. 13 Bei einer linearen Begründung durch Ableitung werde eine schon vorhan9
PIEPER, Einführung (s. Anm. 4), 216–224 (= 6.2.3. Dialektische Methode). Vgl. C.D. BROAD, Five Types of Ethical Theory, ILPP, London 1930, 206f.; sachlich – wenn auch unter anderer Terminologie – bereits bei H. SIDGWICK, The Methods of Ethics, London 1874, 200, bzw. F. PAULSEN, System der Ethik. Mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, Berlin 1889, 221–250. 11 So z.B. D. BIRNBACHER, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2 2007 als klassifikatorisch für Kapitel 4 (Deontologische Ethik, 113–172) und Kapitel 5 (Konsequentialistische Ethik, 173–240); ebenso die Basisunterscheidung der normativen Ethiken bei M. DÜWELL/CHR. HÜBENTHAL/M.H. WERNER (Hgg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 3 2011, 61–190. 12 Vgl. W. KUHLMANN, Art. Begründung, in: Handbuch Ethik (s. Anm. 11), 319–325, 321f. 13 Vgl. KUHLMANN, Begründung (s. Anm. 12), 321. 10
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dene ethische Sicherheit 14 an einen anderen Ort übertragen. X wird also im Rekurs auf Y begründet, wobei Y bereits als ethisch begründet bzw. ‚sicher‘ gilt, sei es durch Konvention, sei es dadurch, dass Y selbst gegenüber jeglichen Zweifeln und Einwänden erhaben ist. Dieser Begründungstyp ist deshalb prinzipiell anfällig für einen unendlichen Regress. Man kann im Sinne einer Ableitung immer wieder nach den Gründen für die Gründe fragen, so dass eine nicht abreißende Begründungskette die ganze Begründung fraglich erscheinen lässt. Um dieser Endlosschleife zu entkommen, hatte sich die moralphilosophische Diskussion lange mit dem „Postulat einer zureichenden Begründung höchster Prinzipien“ 15 befasst. Kuhlmann bezeichnet diese Begründung als die „reflexive Letztbegründung“, die vor allem der Begründung höchster Prinzipien und letzter Standards mittels rationaler Argumentation dient. Sie erhebt den „Anspruch auf absolute Sicherheit“16, denn „bestimmte Überzeugungen, die bei jeder Vernunftleistung vorausgesetzt werden, (könne man) nicht ohne Selbstwiderspruch bestreiten“17. Inzwischen wurde jedoch von verschiedener Seite das Postulat der zureichenden Begründung in Frage gestellt. So hat z.B. Ernst Tugendhat die radikale Alternative kritisiert, dass es nur eine „schlichte (absolute) Begründung oder gar keine gibt“18. Mit Konrad Ott ist gerade auch die Reduktion der Begründungsanforderung eine Errungenschaft moderner Wissenschaftstheorie. 19 Es kann demnach „in der Ethik gute Begründungen geben, die nicht zureichend sind.“ 20 Auf den Begründungstyp der linearen Begründung bezogen, kann man moralische Signifikanz durch Verweis auf 14
Für Kuhlmann ist „Sicherheit und Kontrolle“ ohnehin die wesentliche Funktion der ethischen Begründung: „Bei der Argumentation und Begründung geht es um Sicherheit und Kontrolle (bzw. größere Sicherheit, stärkere Kontrolle) angesichts des für unsere Leistungen konstitutiven Risikos. […] Genaugenommen geht es bei der Begründung um Sicherheit, Gewissheit, Kontrolle. Argumente, Begründungen können nichts wahrer oder richtiger machen als es ist, wohl aber machen sie uns sicherer, verschaffen uns größere Gewissheiten, dass Aussagen wahr, Handlungen richtig (oder eben gerade nicht) sind.“ KUHLMANN, Begründung (s. Anm. 12), 320. 15 Vgl. zu dieser Diskussion K. OTT, Moralbegründungen. Zur Einführung, Hamburg 2001, 63–76. Jeder Versuch, Moralprinzipien mit Voraussetzungen zureichend zu begründen, stehe unter dem Problem des „Münchhausen-Trilemmas“: 1. Zirkelschluss (petitio principii); 2. Unendlicher Regress (regressus ad infinitum) und 3. Dogmatischer Abbruch (‚Setzungen‘ von Axiomen), vgl. a.a.O., 64f. 16 OTT, a.a.O., 322 wie auch ausführlich W. KUHLMANN, Reflexive Letztbegründung. Eine Theorie theoretischer und praktischer Rationalität, Frankfurt a.M. 1992. 17 KUHLMANN, Begründung (s. Anm. 12), 322. 18 E. T UGENDHAT , Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1994, 25. 19 Vgl. OTT, Moralbegründungen (s. Anm. 15), 66f., etwa mit Verweis auf J. NIDARÜMELIN, Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche, in: ders. (Hg.), Angewandte Ethik, Stuttgart 1996, 2–85. 20 OTT, Moralbegründungen (s. Anm. 15), 67.
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eine vorausliegende Norm erzeugen, auch wenn man auf die Letztbegründung verzichtet. Kuhlmann spricht ferner von einer „kohärenten Begründung“, bei der moralische Signifikanz nicht nur transportiert, sondern gerade erst erzeugt wird. Im Sinne kohärenter Begründung gilt ein ethisches Urteil als begründet, „wenn es als Knotenpunkt in einem Netzwerk von wechselseitigen inferentiellen (logischen und Erklärungs-)Beziehungen verstanden werden kann“21. Die kohärente Begründung verzichtet auf absolute Sicherheiten und bemüht sich stattdessen um die Stabilität von Aussagen begrenzter Reichweite. Durch einen ständigen Austausch von Informationen über einen Gegenstandsbereich könne ein immer engeres Netz von „wechselseitigen Erklärungs- und Begründungsbeziehungen“22 über einen Gegenstandsbereich geknüpft werden. Michael Quante unterscheidet neben dem „Kohärentismus“ außerdem zwischen „Deduktivismus“ und „Induktivismus“23, wobei man unschwer eine Entsprechung zwischen dem linearen Begründungstyp und dem Deduktivismus erkennen kann. Quante beschreibt die Begründung im deduktionistischen Modell als „Einbahnstraße“, die idealiter vom Allgemeinen zum Speziellen bzw. vom allgemeinen Prinzip zum Einzelfall verläuft.24 Beim Induktivismus kehre sich diese Einbahnstraße um, indem nun die einzelne Handlung oder Situation die basale ethische Größe sei, von denen aus allgemeine Aussagen abgeleitet werden können. „Allgemeine Prinzipien sind dann zu verstehen als durch ethische Erfahrung gewonnene Verallgemeinerungen.“25 Allerdings ist fraglich, ob hier der Begriff des „allgemeinen Prinzips“ wirklich angemessen ist, denn nach Quante handle es sich lediglich um „Daumenregeln“, die zwar Orientierungshilfen bieten, aber in jedem Fall durch die Einzelfallbewertung korrigiert werden müssten.26 Ferner bleibt unklar, warum einzelnen Handlungen überhaupt ethische Geltung zugesprochen werden soll. Als induktives Begründungsmuster kann man auch die vielbeachtete Theorie der Ethikbegründung von Alan Gerwith 27 bezeichnen, die von 21
KUHLMANN, Begründung (s. Anm. 12), 321. Ebd. 23 Siehe M. QUANTE, Einführung in die allgemeine Ethik, Darmstadt 42011, 155–158. 24 Vgl. QUANTE, Einführung (s. Anm. 23), 156. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. A. GERWITH, Reason and Morality, Chicago/London 1978; vgl. ferner ders., Die rationalen Grundlagen der Ethik, in: K. Steigleder/D. Mieth (Hgg.), Ethik in den Wissenschaften. Ariadnefaden im technischen Labyrinth?, Tübingen 1990, 3–34; dazu etwa OTT, Moralbegründungen (s. Anm. 15), 139–149 (Ansatz von Alan Gerwith); ferner F. VON KUTSCHERA, Drei Versuche einer rationalen Begründung der Ethik: Singer, Hare, Gerwith, in: C. Fehige/G. Meggle (Hgg.), Zum moralischen Denken, stw 1122, Frankfurt a.M. 1995, 54–76, insb. 71–74. 22
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Klaus Steigleder aufgenommen und weiterentwickelt wurde.28 Es versucht vereinfacht gesprochen aus der Handlung des einzelnen auf ein allgemeines rationales Prinzip zu schließen. Die Hauptthese dieses Ansatzes besteht darin, „dass jeder Handelnde aufgrund der Tatsache, daß er handelt, logisch genötigt ist, ein in seinem Gehalt festumrissenes oberstes moralisches Prinzip anzuerkennen. Da jeder Handelnde, der dieses Prinzip in Abrede stellt oder verletzt, sich in einen Selbstwiderspruch verwickelt, stellt das Prinzip unbestreitbar das Kriterium moralischer Richtigkeit dar, und ist es kategorisch verpflichtend, ihm zu entsprechen.“29
Gerwith stellt folglich die Frage nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeiten von Handeln. Er versucht hierbei nicht aus übergeordneten Normen, sondern aus der Analyse der Handlung („conceptual analysis of action“) sowie den notwendigen Überzeugungen des Handelnden („necessary beliefs“) durch Ableitung („entailment transfer“) eine streng rationale Begründung von Ethik zu finden. Es ist hier nicht der Ort, diesen komplexen Ansatz30 umfassend darzustellen oder zu bewerten. Nicht nur gegenüber der Durchführbarkeit, sondern bereits gegenüber dem hier wieder vertretenen Anspruch rationaler (Letzt-)Begründung bestehen berechtigte Zweifel. Eine in unserem Zusammenhang jedoch weiterführende Anregung besteht in der Unterscheidung zwischen „dialektischen“31 und „assertorischen“ ethischen Urteilen. Ein assertorisches Urteil hat die Form „Z ist gut“, was so viel bedeutet wie „Z ist schlechterdings gut“ oder „Z ist objektiv gut.“32 Ein dialektisches Urteil – im Sinne von Gerwith – lautet hingegen: „Ich (der Handelnde) halte Z für gut“ oder „Z ist für mich gut“. 33 Oder allgemeiner: „X ist der Überzeugung (meint, denkt, anerkennt etc.), dass Z gut ist.“
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Vgl. K. STEIGLEDER , Die Begründung des moralischen Sollens. Studien zur Möglichkeit einer normativen Ethik, Tübingen 1992, insbesondere im zweiten Teil der Arbeit STEIGLEDER , a.a.O., 115–288. 29 Nach GERWITH, Reason (s. Anm. 27), 48; Übersetzung S TEIGLEDER , Begründung (s. Anm. 28), 119. 30 Kutschera hat eine siebenstufige Argumentationskette aufgezeigt (KUTSCHERA, Versuche [s. Anm. 27], 72), während STEIGLEDER , Begründung (s. Anm. 28), 127–210, eine Begründungskette von 21 Gliedern differenziert, die Ott wiederum auf 19 reduziert (OTT, Moralbegründungen [s. Anm. 15], 141). 31 Vgl. GERWITH, Reason (s. Anm. 27), 43: „Among the wide variety of meanings attached to the word ‚dialectical‘ in philosophy, one of the most central and traditional […] refers to a method of argument that begins from assumptions, opinions, statements, or claims made by protagonists or interlocutors and then proceeds to examine what these logically imply. It will be in this sense that my method is dialectical.“ 32 Vgl. GERWITH, Reason (s. Anm. 27), 44.152; vgl. ferner S TEIGLEDER (s. Anm. 28), Begründung, 126. 33 Ebd.
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Ethik hat mit Werturteilen zu tun, die in hohem Maße subjektiv und persönlich sind. Diese individuellen Überzeugungen sind für Gerwith der Ausgangspunkt der ethischen Begründung. Allerdings geht es ihm nicht um die Entfaltung beliebiger Urteile von einzelnen. Folgerichtig unterscheidet er zwischen „dialectically contingent method“ und „dialectically necessary method“34. Nur letztere Methode ist dann im Weiteren im Blick. Es geht um die Entfaltung der Implikationen von notwendigen Urteilen des Handelnden, die kein Handelnder ohne Selbstwiderspruch bestreiten kann. Entsprechend münden dialektische Urteile letztlich in ein assertorisches Urteil über das oberste moralische Prinzip. „This necessary content of morality is to be found in action and its generic features.“35 Gerade die Möglichkeit dieses Übergangs wurde allerdings in der Moralphilosophie bestritten.36 Fazit: Diesen skizzenhaften Durchgang durch moralphilosophische Diskussionen um Ethikbegründung möchte ich abschließen, indem einige Ergebnisse der Debatte für die Begründung der frühchristlichen Ethik nutzbar gemacht werden. Die Begründung von Ethik erfolgt auf sehr unterschiedliche Weise. Dabei sind Argumentationsrichtung wie überhaupt die Argumentation und Rationalität zentrale Aspekte. Hatte man im Rahmen einer modernen Überhöhung der Vernunft bis in jüngere Zeit eine reflexive Letztbegründung der Ethik gefordert, so zeigt sich jetzt auch ein Trend, auf dieses Postulat zu verzichten und dennoch an einer begrenzten und pragmatischen Teilbegründung festzuhalten. Obgleich Gerwith in seinem Gesamtkonzept ebenfalls am Nachweis eines obersten moralischen Prinzips interessiert ist (was hier nicht geteilt wird), halte ich seine Unterscheidung von dialektischen und assertorischen Urteilen für weiterführend. Um Missverständnisse mit der philosophischen Tradition zu vermeiden, wäre es gleichwohl präziser, ein logisch notwendiges Urteil statt assertorisch ‚apodiktisch‘ zu nennen. 37 Es gelingt damit nicht nur, die subjektive Komponente der Ethikbegründung zur Geltung zu bringen, sondern zugleich den Anspruch auf Intersubjektivität aufrecht zu halten. 34
Vgl. GERWITH, Reason (s. Anm. 27), 42–44; sowie dazu STEIGLEDER , Begründung (s. Anm. 28), 124–127. 35 GERWITH, Reason (s. Anm. 27), 25. 36 Vgl. etwa KUTSCHERA, Versuche (s. Anm. 27), 74: „Der Grundfehler im Argument von Gerwith ist also, daß er aufgrund einer mangelnden Unterscheidung zwischen subjektiven Ansprüchen und objektiven Rechten von Ansprüchen zu Rechten übergeht.“ 37 In der Scholastik und bei Kant wird zwischen drei Sätzen bzw. Urteilen unterschieden: 1) problematische (eine Möglichkeit ausdrückende, z.B. es ist möglich, dass x y ist); 2) assertorische (die Wirklichkeit behauptende, z.B. es ist in der Tat so, dass x y ist); 3) apodiktische (eine logische Notwendigkeit meinende, z.B. es ist notwendigerweise so, dass x y ist). So gesehen wäre das assertorische Urteil genau das, was bei Gerwith das dialektische ist.
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Für die Analyse der frühchristlichen Ethik können wir folgern, dass die philosophische Debatte dazu ermutigt, nach Begründungszusammenhängen jenseits von Letztbegründungen zu suchen. Ethische Urteile, wie sie in den frühchristlichen Gebrauchstexten sichtbar werden, können auch mit begrenzter Reichweite Gültigkeit bzw. Überzeugungskraft besitzen. Die offene Frage lautet dann: Welche Analyseformen und Deutungsmuster werden der Flexibilität bzw. Pluralität der Begründungsstrukturen frühchristlicher Texte am ehesten gerecht?
2. Begründungszusammenhänge der frühchristlichen Ethik – ein Neuansatz 2.1 Handlungsreflexion jenseits des ‚Indikativ-Imperativ-Modells‘ Die Frage nach der Begründung von Ethik im frühen Christentum steht im Zentrum des Mainzer Forschungsbereichs ‚Ethik in Antike und Christentum‘.38 Ein vorrangiges Interesse dieser Arbeitsgruppe besteht darin, in der Verwendung von Begriffen und Methoden ein Theorieniveau der metaethischen Reflexion zu erlangen, das Anschlussfähigkeit an die theologischethischen sowie die moralphilosophischen Ethik-Diskurse bietet. Die christliche und näherhin auch frühchristliche Ethik sieht sich innerhalb der philosophischen Debatte mit einem doppelten Vorurteil konfrontiert: Die einen behaupten, dass religiöse Ethikbegründung immer eine dogmatische Normenethik sei. 39 Die Theologie löse das Begründungsproblem des regressus ad infinitum durch dogmatische Setzung. Alle ethischen Urteile basierten auf der fundamentalen Behauptung, dass der Sollensanspruch an den Menschen durch Gott bestimmt ist. Wer diese These nicht teile, werde auch keine andere christliche Argumentation anerkennen. Die anderen sprechen der frühchristlichen Ethik grundsätzlich ab, rationale oder wenigstens allgemein nachvollziehbare Begründungswege zu gehen. Für Wolfgang Weimer ist etwa ein Abschnitt aus dem 1. Korintherbrief ein Paradebeispiel für die Kunst der „Überredung“, die er streng von „Überzeugen“ mittels Vernunftgebrauch abgrenzt. „Das ganze Neue Testament enthält keine eigentlichen, logischen Argumente […]. Man kann wohl sagen: Wo Gläubige Glauben predigen, dort ist die Domäne des Überredens. In dieser Hinsicht darf man sich auch durch häufigen Gebrauch von Worten
38
Vgl. http://Ethik.Patristik.de (Zugriff am 30.12.2012) Vgl. etwa A. PIEPER, Art. Norm, in: H. Krings (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe IV, München 1973, 1009–1021, 1011. 39
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Ruben Zimmermann wie ‚weil‘, ‚deshalb‘ u.ä. nicht irreführen lassen, die vielleicht nur den Eindruck erwecken sollen, der Sprecher bringe jetzt ein Argument.“40
Simplifizierende Modelle wie etwa das binnentheologisch beliebte Indikativ-Imperativ-Schema sind ungeeignet, diese Vorurteile zu durchbrechen. 41 Genau genommen war es nie die Absicht der Erfinder und Vertreter dieses Schemas, eine ausgereifte Methodologie für die Analyse von Handlungsnormen bereitzustellen. 42 Das Indikativ-Imperativ-Modell in dieser Hinsicht zu verwenden, würde bedeuten, eine in bestimmten Kommunikationszusammenhängen (wie z.B. der Predigt) durchaus hilfreiche Kurzformel auf das Prokrustesbett ethischer Theorie pressen zu wollen. 43 Das in diesem Modell liegende Grundbekenntnis, dass das Handeln des Menschen einen Antwortcharakter gegenüber dem Handeln Gottes hat, muss auch bei komplexeren Begründungsmodellen keineswegs verworfen werden. Es kann aber nur dann kommunikativ in einem Ethik-Diskurs vermittelt werden, wenn die konkrete Inanspruchnahme dieser theologischen Grundfigur in einem Text hinsichtlich ihrer Sprachform (z.B. Imperativ innerhalb ei40
W. WEIMER, Logisches Argumentieren, Stuttgart 2008, 15; das Zitat aus 1Kor 1 WEIMER, a.a.O., 13f. 41 Vgl. zur Darstellung und Kritik dieses Modells R. ZIMMERMANN , Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259–284, hier: 260–265; ferner die Kritik am Schema bei U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Werk, Berlin/New York 2003, 629–644; K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding in Verbindung mit M. Labahn (Hgg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 9–31. 42 Vgl. R. BULTMANN , Das Problem der Ethik bei Paulus, ZNW 23 (1924), 123–140; für Bultmann stand die Klärung der theologischen Problematik im Vordergrund, die er mit einer paradoxen Zuordnung lösen wollte. Als Anwalt des Indikativ-ImperativModells hat sich in jüngerer Zeit Michael Wolter hervorgetan, der im Ethik-Kapitel seines Paulusbuches gerade versucht, die Sprachmetaphern im Sinne eines ethischen Begründungsmodells zu deuten; siehe M. WOLTER, Die Ethik, in: ders., Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 310–338; vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Wolter R. ZIMMERMANN , Begründung der Ethik – nicht nur bei Paulus. Die bleibende Attraktivität und Insuffizienz des Indikativ-Imperativ-Modells. Ein Gespräch mit Michael Wolter, ZEE 57 (2013) (im Erscheinen). 43 Ein Vergleich aus einem anderen Feld der exegetischen Theorie mag das verdeutlichen. Die Kurzformel ‚Gotteswort im Menschenwort‘ stellt eine zweifellos wertvolle und theologisch weiterführende Beschreibung des komplexen Sachverhalts dar, dass der Text der Bibel einerseits in historisch kontingenten Kontexten entstanden ist, andererseits aber aufgrund seines kanonischen Rangs gegenwärtig Relevanz für die gottbezogene Lebensorientierung beanspruchen darf. Um diesen Zusammenhang zwischen historischer Entstehung und gegenwärtiger Bedeutung methodisch kontrolliert zu erhellen, bedarf es aber eines differenzierten Methodenarsenals, das eine wissenschaftlich verantwortete Exegese von einer assoziativen Bibelauslegung unterscheidet. Kein Wissenschaftler würde die Notwendigkeit von historisch-kritischen oder rezeptions-ästhetischen Auslegungsmethoden mit Verweis auf die ‚Gotteswort-Menschenwort-Formel‘ bestreiten.
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nes Briefes) wahrgenommen, im Blick auf maßgebliche Normen (wie z.B. das Kreuz Christi oder Gnade) analysiert und bezüglich der ethischen Argumentationsrichtung (z.B. als kausale Ableitung) erfasst wird. Ferner muss der glaubende Mensch als ethisches Subjekt gewürdigt und der Geltungsanspruch dieses Werturteils bezüglich der Frage der Abstraktionsfähigkeit bemessen werden. Kurzum: Die Begründungswege auch einer dezidiert theologischen Begründung müssen präziser analysiert werden. Komplexitätsgrad und Terminologie einer solchen Analyse frühchristlicher Ethik werden nicht nur der Diversität der Texte eher gerecht, sondern sind auch im Expertengespräch über die antike Ethik verstehbar und kommunizierbar. 44 Innerhalb des Mainzer Zentrums für ‚Ethik in Antike und Christentum‘ wird deshalb der Versuch unternommen, jenseits des verbreiteten, aber insuffizienten Indikativ-Imperativ-Modells 45 die frühchristliche Ethik methodisch verantwortet zu reflektieren. Hierbei soll eine Anknüpfung sowohl an traditionsgeschichtliche bzw. kulturanthropologische als auch metaethische Diskurse gesucht werden. Bevor Aspekte dieses Ansatzes näher vorgestellt werden, ist noch auf das besondere Problem von Historie und Texten einzugehen. 2.2 Ethik als ethische Analyse von antiken Texten Bei der ethischen Analyse antiker Texte – und das ist der Fokus im vorliegenden Band – verschiebt sich die Perspektive des Nachdenkens über ethische Begründungsmuster auf die textbasierte Deskription bereits vollzogener wertender Handlungsreflexionen. Entsprechend können wir fragen, wie und wodurch ein Text moralische Signifikanz erzeugt. Betrachten wir Texte als historische Quellen aus realen Kommunikations- und Handlungssituationen, können wir zugleich fragen, inwiefern der Text auf solche Kontexte referiert. Mit einem autorenzentrierten Textmodell kann man etwa fragen, wie der Verfasser einer Schrift (z.B. Paulus als Briefautor) als ethisches Subjekt vollzogene oder künftige Handlungen seiner Adressaten bewertet und reflektiert. Teilweise referiert der Text explizit auf solche Handlungen der Vergangenheit. Bis auf wenige Ausnahmen ist umgekehrt die historische Wirkung eines Textes innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft nicht dokumentiert und kann deshalb nur hypothetisch aus dem Quellentext selbst postuliert werden. 44 Wer diesen m.E. notwendigen interdisziplinären Brückenschlag als ein überflüssiges Einlesen frühchristlicher Texte „in die technische Nomenklatur“ abwertet, hat offenbar kein Interesse an diesem Dialog, so W OLTER, Paulus (s. Anm. 42), 312. 45 So der Buchtitel der ersten gemeinsamen Publikation dieses Forschungsbereichs, F.W. HORN /R. ZIMMERMANN (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics I, WUNT 238, Tübingen 2009.
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Die Deskription und Durchdringung der im Text vollzogenen Handlungsreflexion ist jedoch streng genommen nicht von den Referenzen auf textexterne Handlungen oder ihrer (un)möglichen Rekonstruierbarkeit abhängig. Nur die historische Frage nach dem korrespondierenden Ethos bzw. der Wirkung oder Relevanz der Handlungsreflexion setzt sich dieser Unsicherheit aus. Wird der Text selbst als Untersuchungsgegenstand betrachtet, so kann er als vorliegendes Artefakt hinsichtlich seiner moralischen Signifikanz befragt werden. Dabei werden analog zu einer gegenwärtigen ethischen Diskussion Begründungszusammenhänge erfasst, die im Text erzeugt werden. Der Text ist gewissermaßen wie ein Gesprächspartner im ethischen Diskurs, dessen ethische Reflexion und Plausibilisierungsstrategie erkannt werden soll. Ethische Urteile, die aus der Analyse frühchristlicher Texte gewonnen werden, haben zunächst grundsätzlich einen ‚dialektischen Charakter‘ im Sinne von Gerwith. Das ethische Urteil lautet entsprechend nicht „Z ist gut“, sondern: „Der Text sagt, dass Z gut ist.“ Ob und inwiefern aus einem Geltungsanspruch im historischen Text z.B. aufgrund der kanonischen Stellung des Textes auch gegenwärtig ein ethischer Anspruch im Sinne einer präskriptiven Ethik erwächst, ob man also bereit ist, der im Text erkennbaren ethischen Stimme auch Relevanz beizumessen, ist gesondert zu fragen. 2.3 Das Modell einer ‚impliziten Ethik‘ als pluralistisches Begründungskonzept Ein Versuch, die Ethik der frühchristlichen Schriften differenziert zu beschreiben, stellt das Modell einer ‚impliziten Ethik‘ dar. 46 Dabei handelt es sich um einen methodologischen Entwurf, der in acht heuristisch geschiedenen Perspektiven (1. Sprachform; 2. Normenerfassung; 3. Traditionsgeschichte einzelner Normen; 4. Wertehierarchie; 5. Reflexionsform; 6. Ethisches Subjekt; 7. Referenzialität auf gelebten Ethos; 8. Geltungsbereich) die einem antiken Text unterliegende ‚Handlungstheorie‘ möglichst präzise erfassen will. Während das Indikativ-Imperativ-Modell letztlich auf eine Handlungsbegründung im Sinne einer normativen Letztbegründung hinausläuft, versteht sich das Raster der impliziten Ethik bewusst als ein pluralistisches und pragmatisches Begründungskonzept.47 Das heißt nicht, 46 Vgl. R. ZIMMERMANN , Jenseits von Indikativ und Imperativ (s. Anm. 41), 260–284, 274–276; R. ZIMMERMANN , The ‚Implicit Ethics‘ of New Testament Writings. A Draft on a New Methodology for Analysing New Testament Ethics, Neotest. 43 (2009), 399– 423, eine Applikation der einzelnen Schritte jetzt in R. Z IMMERMANN , Mission versus Ethics in 1Cor 9? ‚Implicit Ethics‘ as an aid in analysing New Testament texts, HTS 68 (2012), 1–8. 47 Vgl. zu dieser Differenz auch OTT, Moralbegründungen (s. Anm. 15), 63–76.
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dass es im frühen Christentum nicht auch ethische Diskurse gegeben hat, die nach dem Modell einer Letztbegründung verlaufen (etwa im Muster: ‚es ist Gottes Wille, dass …‘). Allerdings beweist schon ein flüchtiger Blick in die Texte, dass die Begründung der frühchristlichen Ethik nicht ständig nach diesem Muster verläuft. Es finden sich zahlreiche ethische Diskurse, die sich mit pragmatischen Begründungen zufrieden geben, die auf Sitte und Gewohnheit, auf kurz- und mittelfristige Lösungen sowie auf Kompromisse und Abwägungsurteile ausgerichtet sind. Dass die christliche Ethik letztlich bei einem regressus ad infinitum auf transzendenten und nicht mehr rationalen Gründen basiert, besagt nicht, dass nicht auch ethische Entscheidungen weit unter der Ebene der Letztbegründung gefällt werden. Gerade die ‚praktische Ethik‘ z.B. der Lösung von Alltagsproblemen der paulinischen Gemeinden zeigt eine große Variationsbreite an ethischen Reflexionsformen, deren Beschreibung durch Verweis auf eine bekenntnishafte Letztbegründung gerade nicht ermöglicht, sondern verhindert wird. Es geht deshalb bei der ‚impliziten Ethik‘ keineswegs um ein Modell, bei dem die theologische Basis der frühchristlichen Ethik untergraben werden soll – im Sinne von Ethik versus Theologie. Es soll jedoch sichtbar werden, dass z.B. Gnade, Worte Jesu etc. als Handlungsnormen benannt sind, die neben und im Verbund mit anderen Normen verwendet werden. Diese Normen stehen nicht alle gleichberechtigt nebeneinander, sondern treten durchaus in eine Konkurrenz oder werden in ein System der Vorund Unterordnung einsortiert. Aber gerade so kann differenziert ein Wertesystem erkannt werden, bei dem nicht pauschal etwa die Tora ab- oder völlig entwertet wird, wie es das simplifizierende Indikativ-Imperativ-Modell nahelegen musste. Die Frage, was nun neu oder besonders an der frühchristlichen Ethik ist, scheiterte oftmals an dieser mangelnden Differenzierungsmöglichkeit. Natürlich rekurrieren die frühchristlichen Texte auf bekannte ethische Argumentationsmuster und Normen. Gleichwohl zeigt ihr Gebrauch doch ein spezifisches Profil, dessen präzisere Analyse auch mehr Einblicke in das Spezifikum christlicher Ethik ermöglicht.
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3. Normen als Begründungsinstanzen einer frühchristlichen Ethik Nach einer eher allgemeinen Problemanzeige und der Suche nach einer Ethik „jenseits von Indikativ und Imperativ“ 48 und der differenzierten Wahrnehmung der „Sprache der Moral“49 stand nun die Analyse und Reflexion von Normen als Teilaspekt des Modells der ‚impliziten Ethik‘ im Zentrum der vier Tagessymposien ‚Mainz Moral Meetings‘ sowie der daraus erwachsenen, hier vorliegenden Publikation. „Menschliches Handeln wird gerechtfertigt durch Normen.“ 50 Die Normenanalyse ist deshalb ein notwendiger Bestandteil der Ethik, sofern Ethik die Reflexion von Handlungen hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, Gründe und Wirkungen darstellt. Wenn wir uns der Normendiskussion zuwenden, dann ist damit noch keine Entscheidung zur ‚normativen Ethik‘ im engeren Sinn des Begriffs 51 gefällt. Auch eine empirische oder historische Ethik, d.h. eine deskriptive Ethik, deren Ziel darin besteht, möglichst präzise bestimmte historische Ausprägungen oder gegenwärtig vorfindliche Systeme der Moral zu beschreiben, bedarf der Erfassung und Analyse von ‚Normen‘. Obgleich sich eine deskriptive Ethik einer präskriptiven Schlussfolgerung über das gebotene Tun enthalten will, kann sie nicht auf eine Normenanalyse verzichten, wenn sie die Begründung und Erklärung von Handeln analysieren will. Wie christliche Ethik allgemein wird auch die frühchristliche Ethik aber in der Tat eine ‚normative Ethik‘ sein, die den Anspruch erhebt, Gründe für ein richtiges oder gutes Handeln zu benennen.
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Vgl. dazu HORN /ZIMMERMANN , Jenseits von Indikativ und Imperativ (s. Anm. 45). Vgl. hierzu R. ZIMMERMANN /J.G. VAN DER W ATT (Hgg.), Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings, WUNT II/296, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics II, Tübingen 2010. 50 PIEPER, Norm (s. Anm. 39), 1017. 51 Nach N. Scarano können drei Typen von Ethiken unterschieden werden: 1) normative Ethiken, die selbst moralische Urteile formulieren und zu begründen versuchen; 2) deskriptive Ethiken, die keine moralischen Urteile fällen, sondern moralische Phänomene lediglich beschreiben; 3) Meta-Ethik, deren Ziel es ist, „die begrifflichen Grundlagen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Moral bereitzustellen“, vgl. N. SCARANO , Metaethik – ein systematischer Überblick, in: Handbuch Ethik (s. Anm. 11), 25–35; vgl. auch O. HÖFFE, Art. Normative Ethik, in: ders. u.a. (Hgg.), Lexikon der Ethik, München 7., neubearb. und erw. Aufl. 2008, 230–232. 49
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3.1 Was ist eine Norm? Innerhalb der moralphilosophischen Diskussion finden sich ganz unterschiedliche Definitionen einer „ethischen Norm“ 52 und besonders auch ein synonymer Gebrauch des Begriffs ‚Norm‘ mit anderen Begriffen wie „Gut“, „Wert“, „Maxime“, „Regel“ oder auch „Prinzip“. 53 Nach Maximilian Forschner ist eine „Norm“ im moralischen Sinn ein Grundsatz, der „sittliches Handeln von Einzelnen u. Gruppen orientiert“ 54. Für Wilfried Härle ist eine ethische Norm ein „Maßstab […], an dem sich etwas messen lassen kann und muss“ 55 oder auch die Zusammenfassung der „handlungsleitenden Überzeugungen“56. Ich möchte die Definition noch weiter fassen: Eine ‚Norm‘ ist ein Zeichen, das in einem ethischen Satz bzw. Diskurs einen Sollensanspruch an das Verhalten eines Einzelnen bzw. einer Gruppe begründet oder das mit einer Wertzuschreibung belegt wird. Damit können sowohl vorausliegende Prinzipien wie auch folgende Handlungskonsequenzen und Ziele zu einer Norm werden. Ferner bringen die Begriffe ‚Anspruch‘, ‚Diskurs‘ und ‚begründet‘ zum Ausdruck, dass es Normen nicht an und für sich gibt, sondern sie immer an Kommunikation und Kommunikationsgemeinschaften gebunden sind. 57 Es braucht ein Medium (in der Regel die Sprache), durch das ein Zeichen zur Norm erklärt wird; ferner wird ein konstruktivistisches Moment deutlich, indem die Norm von einem ethischen Subjekt formuliert bzw. behauptet wird, ohne schon zu wissen, ob der Sollensanspruch bzw. die Wertzuschreibung überzeugend sind oder wirksam werden. Der Anspruch wird nicht nur von einer normgebenden oder -vertretenden Instanz (von wem?) formuliert, sondern 52 Es soll im Folgenden immer um „ethische bzw. sittliche Normen“ gehen; der Normbegriff kann auch in einem technischen Sinne z.B. als DIN-Norm verwendet werden. 53 Vgl. etwa K. OTT, Art. Prinzip/Maxime/Norm/Regel, in: Handbuch Ethik (s. Anm. 11), 474–480. 54 M. FORSCHNER, Art. Norm, in: Lexikon der Ethik (s. Anm. 51), 229f. Forschner unterscheidet den Begriffsgebrauch nach a) Norm als empirisch ermittelter Durchschnittswert; b) Norm als ideativer Grenzbegriff; c) Norm im technisch-pragmatischen Sinn als konventionale Maßeinheit und Regel (ebd.). In ähnlicher Weise unterscheidet A. Pieper verschiedene Klassen von Normen: a) Durchschnittsnormen; b) Technisch-pragmatische Normen; c) logische Normen; d) wissenschaftliche Normen; e) ästhetische Normen; e) sittliche Normen; vgl. PIEPER, Art. Norm (s. Anm. 39), 1013f.; ähnlich auch W. LIENEMANN, Werte und Normen, in: ders., Grundinformation theologische Ethik, Göttingen 2008, 289–302. 55 W. HÄRLE, Ethik, Berlin/New York 2011, 17. 56 Ebd. 57 Mit anderen Rahmenbegriffen, aber in der Sache ähnlich PIEPER, Norm (s. Anm. 39), 1015f.
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auf einen Geltungsbereich (für wen?) bezogen. 58 Der Begriff ‚Norm‘ wird also erst im Gebrauch erkennbar. Eine Norm ist zugleich eine Begründungsinstanz und unterscheidet sich deshalb von einem ethischen Satz, etwa einem Imperativ: ‚Tu dies!‘, der zwar einen Sollensanspruch formuliert, ihn aber nicht begründet. Bezogen auf ethische Texte kann eine Norm im weitesten Sinn jedes Zeichen sein, das einen begründenden Charakter für einen ethischen Satz besitzt. Dabei ist zunächst offen, ob die grammatische Form (z.B. des Imperativs), ein Gefühl (z.B. Mitleid) oder eine traditionelle Moralinstanz (z.B. ein Gesetz) zur Norm eines Satzes wird. In einem engeren Sinn kann man eine Norm als eine begrifflich verdichtete Moralinstanz bezeichnen, auf die direkt oder indirekt Bezug genommen wird. Ethik als Reflexionsform neigt zur Abstraktion. Insofern liegen viele Moralinstanzen in einer begrifflichen Verdichtung vor, so dass mit einem Begriff wie z.B. ‚Gewissen‘ oder ‚Gerechtigkeit‘ ein ganzes Konzept abgerufen werden kann. Ethik funktioniert gerade auch durch die Bildung und Inanspruchnahme derart verkürzter Begründungszusammenhänge.59 So hilfreich die Konzentration auf einzelne Begriffe in der ethischen Argumentation sein mag, so problematisch ist sie, wenn einzelne Begriffe wie z.B. ‚Gerechtigkeit‘ in ganz unterschiedlicher Weise definiert werden. Die Erfassung von ethischen Begriffs-Normen in antiken Texten muss deshalb immer auch die Analyse der Traditionen und Kontexte dieser Begriffe einschließen (s.u.).
58 Härle unterscheidet ‚vier Kriterien‘, die eine Norm charakterisieren: 1) Geltungsbereich, d.h. für wen beanspruchen die Normen Geltung?; 2) Geltungsgrund, d.h. woraufhin beanspruchen sie Geltung?; 3) Funktion, d.h. wozu beanspruchen sie Geltung?; 4) Sanktion, d.h. wodurch wird die Geltung einer Norm bekräftigt bzw. durchgesetzt, siehe HÄRLE, Ethik (s. Anm. 55), 17 (kursiv im Original); während 3) in dieser Kriteriologie als causa finalis erscheint, erläutert Härle weiter unten Geltungsgrund als „persönliche Einsicht“ (HÄRLE, a.a.O., 19), die er von einem „universalen Geltungsanspruch“ abgrenzt; ob die Unterscheidung zwischen „Normen des Ethos bzw. der Moral“ von „anderen Handlungsnormen“ (Normen der Sitte, religiöse Normen, Rechtsnormen etc.) wirklich greift, scheint mir fraglich. Sie setzt bereits einen bestimmten Ethik-Begriff voraus, müssten dann aber ‚Normen der Ethik‘ heißen; die Kriterien von Härle binden sich an den Begriff ‚Geltung‘, der jedoch kulturwissenschaftlich nicht hinreichend geklärt ist, vgl. etwa H. SCHMITZ, Geltung, Rostock 2010; O. MICHAELIS, Das Problem der Geltung im Recht, München 2009; J. RENN (Hg.), Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie, Wiesbaden 2012. 59 Ein Beispiel aus dem Gegenwartsdiskurs der (praktischen) christlichen Ethik ist etwa das Kürzel ‚W.W.J.D.‘ (What would Jesus do?), bei dem Christus als Norm für ein analogisches Bewertungsverfahren herangezogen wird und das insbesondere in evangelikalen Kreisen der amerikanischen Jugendkultur weite Verbreitung fand, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/W.W.J.D. (Zugriff am 21. Jan. 2012); ferner R. B ALMER, Art. W.W.J.D. Encyclopedia of Evangelicalism. Baylor University Press, Waco 2004, 769.
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3.2. Binnendifferenzierung der Normbegriffe Um mehr Präzision im synonymen Begriffsgebrauch von ‚Norm‘ mit ‚Gut‘, ‚Wert‘, ‚Maxime‘ oder ‚Prinzip‘ zu erlangen, scheint es mir hilfreich, im heuristischen Sinne Differenzierungen vorzunehmen (s. Abb. 1: Differenzierung der Normbegriffe). Dabei soll ‚Norm‘ als übergeordneter und weiter Rahmenbegriff verwendet werden. Darunter können dann formalethische Prinzipien oder Maximen und materialethische Güter und Werte differenziert werden. ‚Prinzip‘ oder ‚Maxime‘ sind Normen, die formal bestimmt sind (wie z.B. die Goldene Regel). Ein Prinzip soll dabei dem Wortsinn (von lat. principium – Anfang, Beginn, Grund) folgend eine Norm sein, die dem Handeln vorausliegt und aus der dann das richtige Tun abgeleitet wird. Im Extrem etwa in transzendental-philosophischer Sprache handelt es sich beim Prinzip um den letzten, einheitsstiftenden Grundsatz60, auf den alle anderen Normen zurückgeführt werden können. In der stoischen Ethik wäre z.B. ‚die vernünftige Natur‘, in bestimmten theologischen Ethiken ‚der Wille Gottes‘ ein solches grundlegendes Prinzip. Eine Maxime kann z.B. auch als Ziel des Handelns induktiv bestimmt werden. Für Forschner sind Maximen „subjektiv-praktische Grundsätze“ bzw. „persönliche Lebensgrundsätze“, die zu Zwecksetzungen oder Handlungen auffordern.61 Güter oder Werte sind hingegen eher material festgelegte Normen (z.B. Liebe, Nahrung). Ob eine Unterscheidung der oft auch synonym verwendeten Unterbegriffe sinnvoll ist, mag kontrovers diskutiert werden. Man könnte ein Gut als eine in bestimmter Weise inhaltlich festgelegte Norm betrachten. Gemäß der Begriffstradition ist ein Gut nicht bloß auf die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen ausgerichtet, sondern zielt auf übergeordnete, allgemeine Ziele. Häufig finden sich die Differenzierungen zwischen dem Guten (Singular) als auf absolute Wertsetzung zielende Norm, als einem Ideal, das einem Seienden an sich oder in Erfüllung einer Tauglichkeit zukommt, und den Gütern (Plural!) als Normen begrenzter Reichweite, die etwa mit dem Verfahren der ‚Güterabwägung‘ in Beziehung gesetzt werden können. 62 Güter können in dieser Hinsicht „jede Art von Voroder Nachteil bzw. jedes Objekt eines Wunsches“ 63 sein. Chr. Horn unterscheidet zwischen „Grundgütern“ (Leben, Gesundheit, körperliche und 60
Vgl. M. FORSCHNER, Art. Moralprinzip, in: Lexikon der Ethik (s. Anm. 51), 217– 219, 217. 61 FORSCHNER, Norm (s. Anm. 54), 201. 62 Vgl. dazu M. HOFMANN-RIEDINGER, Art. gut/das Gute/das Böse, in: Handbuch Ethik (s. Anm. 11), 387–391; ferner die Einführung zu ‚Gut, Güter, Güterabwägung‘ in diesem Band. 63 Vgl. CHR. HORN , Art. Güterabwägung, in: Handbuch Ethik (s. Anm. 11), 391–396, 391.
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psychische Integrität), „Bedarfsgütern“ (Nahrung, Kleidung, medizin. Grundversorgung etc.) sowie einer inhomogenen Gruppe weiterer Güter (Rechte, Kompetenzen, Vermögen, Bildung etc.).64
Norm (übergeordnete Begründungsinstanz)
Formal bestimmte Normen Prinzip (letzter Grund vorausliegend)
Maxime (subjektiv-praktischer Grundsatz)
Material bestimmte Normen Gut/Güter (Ideal oder Objekt eines Wunsches)
Wert (geltungsdifferentes Sinngebilde)
Abbildung 1: Differenzierung der Normbegriffe
Wert ist hingegen begriffsgeschichtlich der jüngste Begriff, 65 der seinen Anschauungsbereich aus Wirtschaft und Mathematik erhält und als neutrale Beschreibungskategorie für alle Akte der Bedeutungszuschreibung fungieren kann. Nach Joas tritt „der Begriff ‚Wert‘ […] an die Stelle, an der in der philosophischen Tradition der Begriff des ‚Guten‘ stand.“ 66 Während dem Begriff des Guten traditionell ein ontologischer oder gar metaphysischer Status anhaftet, impliziert der Wertbegriff den Aspekt des subjektiven Wertempfindens, obgleich die Wertephilosophie dann gerade auch die 64
Ebd. Vgl. A. HÜGLI u.a., Art. Wert, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie XII (2004), 556–583; ferner H. JOAS, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1999, 37–40. Der Begriff ‚Wert‘ kommt aus dem Wirtschaftsleben, gelangte über die Wirtschaftswissenschaft zur Philosophie des 19. Jahrhunderts und hatte seine Hochphase zu Beginn des 20. Jh., wo er im Rahmen der Wertephilosophie sogar zu einem Leitbegriff avancierte, vgl. H. RICKERT , System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921; J. COHN, Wertwissenschaft, Stuttgart 1932, oder ethisch zugespitzt M. SCHELER , Der Formalismus in der Ethik und die materiale Werteethik, in: ders., Gesammelte Werke II, Bern/München 51966. 66 Vgl. JOAS, Werte (s. Anm. 65), 39. 65
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Intersubjektivität der Werturteile einfordert. Der Wertbegriff bezeichnet damit „alle Gebilde, die nicht bloß ‚sind‘ (im Sinne bloßer Existenz: Mathematisches, Sinnliches usw.), sondern über ihr ‚Sein‘ hinaus noch die entscheidende kategoriale Eigenschaft besitzen, geltungsdifferent zu sein: Sie sind gültig oder ungültig […]. Derartige Gebilde sind ‚Sinngebilde‘.“67
Krijnen unterscheidet zwischen „individuell-subjekten Werten“ (die nur für dieses oder jenes Subjekt gelten), „allgemein-subjektiven Werten“ (die für eine numerische Allheit von Subjekten gelten) und „objektiven Werten“ (die unabhängig vom Akt der faktischen Anerkennung für alle Subjekte gelten).68 Man sieht hier zugleich, dass eine kategoriale Begriffstrennung kaum möglich ist, denn ‚objektive Werte‘ haben eine Nähe zur Norm des absolut Guten wie auch zum Prinzip. Wenn man unter ‚Wert‘ den allgemeinsten Begriff der Normen verstehen wollte, 69 dann wären wiederum ‚Norm‘ und ‚Wert‘ austauschbar. Ferner wird in dem Begriff ‚Wertehierarchie‘ die Axiologie unterschiedlicher Normen untersucht, so dass er ebenso ‚Normenhierarchie‘ heißen könnte, hier aber aus Gründen des geprägten Begriffsgebrauchs im ethischen Diskurs beibehalten wird. Ebenso lässt sich z.B. auch die strenge Differenzierung zwischen ‚formal‘ und ‚material‘ hinterfragen, da etwa die Goldene Regel nur unter gewissen inhaltlichen Rahmenbedingungen zu einer ethischen Maxime werden kann. 70 Oder es stellt sich die Frage, ob ‚Gerechtigkeit‘ eine materiale Norm ist oder nicht eher eine begrifflich verdichtete formale Norm, indem z.B. proportionale Verteilung zum Ausdruck kommt. Diese Überlappungszonen zeigen, dass die begriffliche Feindifferenzierung insbesondere heuristisch wertvoll ist und stets durch den im ethischen Diskurs eingeübten (und vielfach indifferenten) Begriffsgebrauch überlagert wird. Diese konzise Unschärfe sollte allerdings nicht von vornherein von der Pflicht eines präzisen Begriffsgebrauchs entbinden.
67
C. KRIJNEN, Art. Wert, in: Handbuch Ethik (s. Anm. 11), 548–553, 550. Vgl. KRIJNEN, a.a.O., 551. 69 So etwa die Ordnung bei Lienemann, der zunächst allgemein den Wertbegriff erläutert, bevor er dann zu ‚Normen‘, ‚Relationen‘, ‚Konflikte‘ etc. weitergeht, vgl. L IENEMANN , Ethik (s. Anm. 54), 285–296. Zugleich schlägt er eine Brücke zwischen modernem Wertbegriff und der Idee des Guten: „Der moderne Wertbegriff ist (auch) ein Erbe des traditionellen Begriffs der Idee des Guten. Insofern steht die moderne ‚Wertethik‘ auch in der Tradition der antiken wie der neuzeitlichen ‚Güterethik‘“ (LIENEMANN, a.a.O., 286). 70 Entsprechend könnte ein Masochist anderen mit Verweis auf die goldene Regel Leid zufügen, da er ja selbst auch will, dass ihm andere Leid zufügen. 68
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3.3 Zur Methode der Normenanalyse im Horizont der ‚impliziten Ethik‘ Das Modell der ‚impliziten Ethik‘ möchte nicht nur das Grundbekenntnis formulieren, dass die Schriften des frühen Christentums trotz ihrer gebrauchsspezifischen Textform (z.B. als Brief oder Predigt) eine je eigene kohärente Ethik erkennen lassen, sondern versteht sich auch als ein Vorschlag, wie diese Ethik methodisch erfasst werden kann. Im Fokus des vorliegenden Bandes stehen die ‚Normen‘, so dass hier die Methode der Normenanalyse konkretisiert werden soll. 71 Die Normenanalyse umfasst verschiedene Aspekte, die im heuristischen Sinn unterschieden werden können: 3.3.1 Erfassung der Normen Zunächst muss bestimmt werden, welche Normen in einem Text eine Rolle spielen. Dabei soll es noch nicht um die Frage gehen, welche Normen dann innerhalb der wertenden Argumentation maßgeblich werden. Es können auch Normen genannt werden, die relativiert oder nivelliert werden oder von denen sich der Text explizit abgrenzt. Im ersten Schritt sollen möglichst umfassend alle Normen benannt werden, die im weiteren Sinne für den ethischen Gehalt des Textes eine Rolle spielen. Maßgeblich ist also die Frage, was in einem spezifischen Text als ein normatives Zeichen gebraucht wird. Wie lässt sich eine Norm als solche erkennen? Bei der Bestimmung der Normen ist zunächst die immanente Bezugnahme auf bestimmte Normen hilfreich. Eine direkte Bezugnahme besteht darin, dass in materialer oder abstrakter Form auf eine normative Instanz verwiesen wird. Paulus kann z.B. auf die Tora als Begründungsinstanz verweisen, indem er in materialer Weise eine Weisung aus der Tora zitiert (z.B. 1Kor 9,9: evn ga.r tw/| Mwu?se,wj no,mw| ge,graptai\ […] – „Denn im Gesetz des Mose ist geschrieben: […]“) oder aber in abstrakter Weise die Tora als ganze benennt (1Kor 14,34: […], kaqw.j kai. o` no,moj le,gei – „[…], wie auch das Gesetz sagt“). Eine indirekte Bezugnahme liegt dann vor, wenn ein Autor auf Normen zugreift, ohne sie explizit zu benennen. Sofern Paulus z.B. auf ein Wort aus der Tora anspielt oder es gar zitiert, ohne aber eine Zitationsformel zu benutzen, lässt sich aufgrund der Sekundärbezeugung diese Bezugnahme nachweisen. Ob für den Verfasser eines Textes oder seine Adressaten allerdings dieser Bezug bewusst ist und als solcher in der ethischen Begrün71
Innerhalb der acht Perspektiven der ‚impliziten Ethik‘ werden hierbei drei Dimensionen näher beleuchtet: die Normenerhebung (2.), die Traditionsgeschichte einzelner Normen (3.) sowie die gewichtende Wertung dieser Normen, d.h. die Wertehierarchie (4.), vgl. ZIMMERMANN , Jenseits von Indikativ und Imperativ (s. Anm. 41), 274– 275.
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dung maßgeblich wird, kann nur mit einer gewissen Plausibilität angenommen werden. Für die Bewertung einer solchen Plausibilität ist auch maßgeblich, ob diese Norm in einer Kommunikationsgemeinschaft als traditionell anerkannt wird (z.B. die Tora im frühen Christentum) oder ob sie erst neu eingeführt wird (z.B. das Vorbild Jesu). Recht eindeutig ist die Analyse, wenn ein Verfasser im Rahmen einer ethischen Argumentation selbst auf eine anerkannte Moralinstanz (wie z.B. ein Jesuswort in 1Kor 7,10 oder die Toragebote in Lk 10,26) Bezug nimmt. Wenn diese Instanzen begrifflich verdichtete anerkannte Normen wie ‚Freiheit‘ (2Kor 3,17; Gal 5,1) oder ‚Gewissen‘ (1Kor 8,7–12) sind, die mit einem einzelnen Wort oder Syntagma ganze ethische Konzepte abrufen, lassen sie sich auch ohne explizite Zitation oder Anspielung recht klar benennen. So können z.B. ‚Natur‘, ‚Sitte‘, ‚Gesetz‘ oder auch ‚Gerechtigkeit‘, ‚das Gute‘ etc. als Normen erfasst werden. Ebenso können Normen aber auch narrativ eingespielt werden, indem z.B. ein Ereignis mit normierender Funktion erzählt wird (1Kor 11,23–25; 1Thess 2,14), aus dem dann z.B. im Analogieschluss Werturteile für gegenwärtiges Handeln gewonnen werden. Auch Metaphern wie die „Gemeinde als Leib“ (1Kor 12) oder „Leib als Tempel des Heiligen Geistes“ (1Kor 6,19) können Normen sein, die durch die Imaginationskraft und Übertragung der Bilder Handlungsimpulse begründen. Ferner können einzelne Personen oder Figuren der Tradition als Vorbilder des Verhaltens normativen Charakter erlangen (1Kor 4,16; 11,1; Hebr 6,12). Schließlich spielt der Bezug auf Affekte eine Rolle, wenn z.B. aus Freude (und nicht aus Betrübnis oder Zwang) zur Gabe ermutigt wird (2Kor 9,7). 3.3.2 Tradition und Kontext der Normen Normen sind meist innerhalb einer Sprach- und Kulturgemeinschaft geprägt. Die Bedeutung und Relevanz einzelner Normen bezieht gerade aus diesem Kontext ihre Überzeugungskraft. Um den spezifischen Verweis auf eine Norm beurteilen zu können, gilt es zunächst, die Prägung und Kontexte einer Norm zu bestimmen. Normen verhalten sich hierbei wie Semanteme. Sie können eine Art ‚denotativer‘ oder gar ‚lexikalischer‘ Bedeutung haben, aber tragen auch ‚konnotative‘, d.h. subtile oder ganz spezielle Untertöne. Bei der Traditionsanalyse geprägter Normen ist zunächst anhand von Texten und MetaReflexionen (z.B. innerhalb antiker Ethiken) diese ‚denotative‘ Grundbedeutung sowie der Herkunftsbereich zu erfassen. Dies ist bei einigen Nor-
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men wie z.B. dem Gewissen (sunei,dhsij) mit der Prägung in der stoischen Philosophie relativ klar benennbar. 72 Andere Normen sind zeit- und kulturübergreifend verbreitet (z.B. Gerechtigkeit), so dass der spezifische Normgebrauch einer Zeit bzw. einer Kommunikationsgemeinschaft und ihrer Schriften ermittelt werden muss. So ist no,moj (Gesetz) eine Norm, die in Gestalt von Tora und Halaka im Judentum eine immense Bedeutung erlangt hat. Allerdings findet sich das Gesetz auch in der hellenistisch-philosophischen Ethik-Diskussion, 73 so dass die Rückbindung an eine bestimmte Tradition nicht von vornherein feststeht. Wird vom „Gesetz des Mose“ (1Kor 9,9) gesprochen, ist die Bezugnahme auf die jüdische Tradition eindeutig. Was aber ist das „Gesetz Christi“ (Gal 6,2) oder das „neue Gebot“ (Joh 13,34) aus dem Mund Jesu? Wird hierbei eine bekannte Norm (jüdisches Gesetz) vorausgesetzt und in einer kreativen Genitiv-Metapher bzw. durch wertende Attribuierung eine neue normative Instanz geschaffen? Die letzten Beispiele zeigen, dass die Traditionsgeschichte allein noch keineswegs eine ethische Analyse vollendet. Vielmehr ist der spezifische Gebrauch der Normen für die ethische Begründung maßgeblich. 3.3.3 Gebrauch der Normen Wie wird die Norm innerhalb des Textes erzeugt bzw. welche Rolle spielt sie in der ethischen Aussage bzw. Argumentation? Die Analyse des Gebrauchs der Norm ist somit eng vernetzt mit den im heuristischen Raster der impliziten Ethik eigens benannten Aspekten der „Sprache der Moral“ sowie der „ethischen Reflexionsform“ und auch „Wertehierarchie“, die je eigener Untersuchungen bedürften. Bezüglich der Sprachformen hat es sich als hilfreich erwiesen, zwischen einer intratextuellen, intertextuellen und extratextuellen Ebene zu unterscheiden. 74 Auf der intratextuellen Ebene stellt sich z.B. die Frage, wie die Norm syntaktisch und stilistisch eingebunden ist. Wird eine Norm mit wertenden Attributen belegt, indem etwa vom „schwachen“ (1Kor 8,12), „schlechten“ (Röm 14,20), „bösen“ (Hebr 10,22) oder „guten Gewissen“ (Hebr 13,18) 72 Vgl. dazu etwa H.-J. KLAUCK, ‚Der Gott in dir‘ (Ep. 41,1). Autonomie des Gewissens bei Seneca und Paulus, in: ders., Alte Welt und neuer Glaube, Freiburg i. Brsg. 1994, 11–32; zum Begriff sunei,dhsij bei Paulus H.-J. E CKSTEIN, Der Begriff Syneidesis bei Paulus, WUNT II/10, Tübingen 1983. 73 Siehe H. SONNTAG , NOMOS SWTHR. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen 2000; K. HAACKER, Der ‚Antinomismus des Paulus im Kontext antiker Gesetzestheorie, in: ders., Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2002, 171–188. 74 Vgl. dazu die Einzelheiten bei R. ZIMMERMANN /S. LUTHER , Moral Language in the New Testament, in: Zimmermann/van der Watt, Moral Language (s. Anm. 49), 1–16, 4f.; ZIMMERMANN , Ethics (s. Anm. 2), 28–45.
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gesprochen wird? Wird die Norm als personifizierte Lehrmeisterin stilisiert (so z.B. 1Kor 11,14: ouvde. h` fu,sij auvth. dida,skei u`ma/j) oder anhand präpositionaler Wendungen als binäre Opposition dargestellt (vgl. Röm 1,26; 11,24.26: kata. fu,sin – para. fu,sin)? Wird die Norm in einer Reihe mit anderen genannt (1Kor 13,13: pi,stij( evlpi,j( avga,ph( ta. tri,a tau/ta) oder wird sie als oberstes Ziel bewusst von anderen abgesetzt (1Kor 9,23: pa,nta de. poiw/ dia. to. euvagge,lion)? Wird sie als Proposition (z.B. Gal 5,1: Th/| evleuqeri,a| h`ma/j Cristo.j hvleuqe,rwsen), als Frage (1Kor 10,29: i`nati, ga.r h` evleuqeri,a mou kri,netai;) – oder gar als rhetorische Frage (z.B. 1Kor 9,1: Ouvk eivmi. evleu,qeroj;) formuliert? Für die Analyse des Sprechakts bzw. der Reflexionsform und Hierarchisierung der Normen möchte ich beispielhaft auf die rhetorische Analyse von 1Kor 9,7–15 verweisen. 75 Im Rahmen der Auseinandersetzung zum Unterhaltsrecht des Apostels verweist Paulus auf unterschiedliche Normen und ordnet sie innerhalb einer feinsinnigen Argumentation. Nach Sundermann kann man die Verse als probatio (Beweis) innerhalb einer klassisch rhetorischen Begründungsform bezeichnen: 76 Rhetorische Struktur
Ethische Norm
9,7–12ab refutatio I (drei Argumente) 9,7 Erstes argumentum secundum hominem 9,8–10 argumentum secundum legem (Dtn 25,4) 9,11.12ab argumentum a comparatione
Ethos in weltlichen Berufen Tora/Gesetz (Mosewort)
9,12c–e
Erste Zusammenfassung als correctio (evpidio,rqwsij)
9,13f. refutatio II (zwei Argumente) 9,13 Zweites argumentum secundum hominem Ethos in sakralen Berufen 9,14 argumentum secundum praeceptum Domini Jesuswort 9,15a Zweite Zusammenfassung als correctio (evpidio,rqwsij)
Versucht man in der rhetorischen Anordnung dieser Normen eine implizite Wertehierarchie zu erkennen, kann man feststellen, dass Sitte und Alltagsmoral jeweils zuerst genannt werden, während no,moj und lo,g oj kuri,ou in steigernder Absicht am Ende der jeweiligen Unterabschnitte genannt werden. Anerkennt man darüber hinaus eine Klimax innerhalb des gesamten Abschnitts, dann kann man wiederum eine Höherwertung vom Sakralen gegenüber dem profanen Alltagsethos und vom Jesuswort gegenüber 75
Vgl. dazu ausführlicher ZIMMERMANN , Mission (s. Anm. 4), 5f. Vgl. H.-G. SUNDERMANN, Der schwache Apostel und die Kraft der Rede. Eine rhetorische Analyse von 2Kor 10–13, EHS.T 575, Frankfurt a.M. u.a. 1996, 243.248; ihm folgend auch W. HARNISCH, Der paulinische Lohn (I Kor 9,1–23), ZThK 104 (2007), 25– 43, 34. 76
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dem alttestamentlichen Gesetz erkennen. Das Jesuslogion markiert dann den „Höhepunkt in der Argumentation“77. Die rhetorisch-kompositionelle Analyse des Abschnitts zeigt also zugleich die hinter der Argumentationskette stehende Wertehierarchie des Apostels, die bezüglich der genannten Normen wie folgt aussieht: Ethos (profan – sakral) > Tora > Herrenwort .78 3.4 Die Vielfalt der ethischen Normen in frühchristlichen Schriften In frühchristlichen Texten werden ganz unterschiedliche Normen herangezogen, um innerhalb einer ethischen Argumentation bzw. Reflexion Überzeugungskraft zu erlangen. Bezogen auf den 1. Korintherbrief oder Galaterbrief wurden erste Versuche unternommen, diese Normen systematisch zu erfassen und zu benennen. 79 Die oben genannte Differenzierung aufnehmend, kann man zwischen formalethischen Prinzipien (z.B. „Pflicht“ in 1Kor 11,10; 2Kor 12,14; „Sitte/allgemeine Gewohnheit“ 1Kor 8,7; 9,7; 11,3) und einzelnen materialethischen Gütern bzw. Werten (z.B. „Liebe“ in 1Kor 13; Gal 5,13f.) unterscheiden. Materiale Güter sind ihrerseits in körperliche (z.B. 1Kor 6,13; Phil 3,19: Bauch) oder geistige Güter (z.B. Gal 5,22: „Friede“, „Geduld“, „Treue“) zu gliedern. Man kann ferner explizit religiösen Normen wie z.B. ‚Wille Gottes‘, ‚Christus‘ oder ‚Tora‘ von allgemein menschlichen Normen wie z.B. „Gewissen“ (1Kor 8,7.10.12; 10,27–29), „Gerechtigkeit“ (Mt 5,6.10; Tit 3,5) oder „Natur“ (Röm 1,26; 1Kor 11,14) absondern. Gerade die letzten Beispiele zeigen jedoch, dass die Normenanalyse wiederum eng auf den zweiten Schritt der traditionsgeschichtlichen Verortung bzw. der Analyse eines geprägten Gebrauchs von Normen verwiesen bleibt (s.o.), denn ‚Gerechtigkeit‘ als Norm wird schon innerhalb der neutestamentlichen Schriften ganz unterschiedlich gebraucht (vgl. Matthäus – Paulus) und 77 CHR. WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7/1, Leipzig 1996, 195: „Höhepunkt in der Argumentation.“; H.-J. KLAUCK, 1. Korintherbrief, NEB 7, Würzburg 1984, 66: Der Apostel führe als „letzte und schwerste Waffe […] ein Herrenwort ins Feld.“ W. PRATSCHER, Der Verzicht des Paulus auf finanziellen Unterhalt durch seine Gemeinden. Ein Aspekt seiner Missionsweise, NTS 25 (1979), 284–298, 285 u. a. 78 Vgl. so auch W. SCHRAGE, Der Erste Brief an die Korinther, EKK VII/2, Zürich u.a. 1995, 295.308; ferner D. HORRELL, Solidarity and Difference, London 2005, 214f. Diese Feinanalyse bezieht sich natürlich nur auf die inneren Verse; im gesamten Abschnitt werden dann weiterhin ‚Freiheit‘ und ‚Evangelium‘ als übergeordnete Normen eingebracht, vgl. dazu ZIMMERMANN , Mission (s. Anm. 46), 6–8. 79 Vgl. ZIMMERMANN , Jenseits von Indikativ und Imperativ (s. Anm. 41), 276–277; ferner C. SUNWOO, Ethik im Galaterbrief. Ein Beitrag zur ‚impliziten Ethik‘ des Paulus, Diss. Universität Bielefeld 2010. Ferner die Normentabelle in R. ZIMMERMANN , Normen, Begründungen, Strukturen, Argumentation (= C.III.5.5.1.), in: F.W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 438.
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schon gar unterscheidet sich die frühchristliche oder antike Norm von modernen und postmodernen Gerechtigkeitskonzeptionen. Das heißt gleichwohl nicht, dass sich die ethische Analyse ganz auf die Traditionsgeschichte konzentriert, wie dies innerhalb der exegetischen Wissenschaften häufig geschehen ist und geschieht. Es bedarf darüber hinaus auch der präzisen Analyse, welchen Ort eine Norm innerhalb der ethischen Reflexion einnimmt und wie unterschiedliche Normen zueinander in Beziehung stehen. Eine genaue Normenanalyse vermag nicht nur die Anordnung unterschiedlicher Normen im Rahmen einer Werteordnung nachzuzeichnen. Es wird auch deutlich, dass es innerhalb der (früh)christlichen Ethik keineswegs nur eine oberste oder gar absolute Norm im Sinne eines regressus ad Dominum gibt. Entsprechend muss man mit Blick auf die Normenvielfalt der frühchristlichen Texte dem Urteil von Annemarie Pieper widersprechen. Sie schreibt: „Wenn der Theologe von Handlungsnormen spricht, so versteht er darunter vornehmlich den Maßstab eines an und auf Gott hin ausgerichteten, religiös orientierten Handelns, das dem sich in religiösen Geboten manifestierenden göttlichen Willen gehorcht. Die religiöse Norm tritt mithin als Ausdruck eines absolut verpflichtenden Anspruchs Gottes an den Menschen auf, als strikte Mitteilung eines ‚Du sollst …‘ bzw. eines ‚Du sollst nicht …‘. Religiöse Normen gebieten unbedingt, indem sie die menschliche Freiheit dazu aufrufen, sich schlechthin als eine auf Gott bezogene Praxis zu realisieren.“80
Auch wenn das Handeln des religiösen Menschen letztlich „als eine auf Gott bezogene Praxis“ verstanden wird, besagt dies nicht, dass es nicht auch Normen im Sinne von Maximen und Werten mit begrenzter Reichweite im christlich-ethischen Diskurs gibt. Ob diese Normen dann noch als „religiöse Normen“ im engeren Sinne von Pieper bezeichnet werden sollen oder nicht eher als Anleihe von allgemeinen Normen innerhalb der christlichen Ethikreflexion, kann diskutiert werden. Gleichwohl zeigt es sich, dass auch explizit „religiöse Normen“ wie z.B. ein Wort Jesu oder das Gebot der Elternehrung innerhalb ethischer Praxis im Neuen Testament keineswegs ‚absolut‘ verwendet werden (vgl. 1Kor 7,10f.; Mk 3,31–34), sondern in eine Wertediskussion eingebunden werden, die eine beträchtliche Flexibilität aufweist. Für die umfangreichere Erfassung, traditionsgeschichtliche Verankerung und den spezifischen Gebrauch von Normen innerhalb der ethischen Reflexion des frühen Christentums stehen noch weitere Arbeiten aus. Der vorliegende Band in der Fokussierung von vier Normbereichen ist hierbei ein erster Schritt.
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PIEPER, Art. Norm (s. Anm. 39), 1011.
Bibelhermeneutik und Ethikbegründung Wie können Imperative in religiösen Erfahrungen begründet werden? 1 Gerd Theißen Keiner muss die Moral neu erfinden. Wir alle haben sie vorgefunden. Meist legen Eltern die Grundlagen zu ihr, bei mir war es eine Großmutter. Unsere Mutter war gestorben, der Vater in Kriegsgefangenschaft. Die Großmutter las jeden Tag im Neukirchener Kalender eine Betrachtung zu einem Bibeltext. Als kleiner Junge hatte ich den Eindruck, dass sie dabei in Kontakt mit Gott war. Denn sie wusste immer genau, was gut und böse ist. Ich war überzeugt: Ihr Wissen um Gut und Böse musste aus diesem Kontakt mit Gott stammen. Eine alte Frau wurde mein Moses. Meine Gedanken zur Bibelhermeneutik und Ethikbegründung versuchen, das Geheimnis meiner Großmutter zu verstehen. Wie entstehen mit Hilfe der Bibel aus religiösen Überzeugungen moralische Gewissheiten? Dabei geht es zunächst um die sachliche Begründung von Normen in der Religion. Ist sie überhaupt möglich? Ist sie wünschenswert? Damit verbindet sich ein zweites Problem. Wenn meine Großmutter sagte: „Gott sieht alles und er bestraft, wenn man Böses tut!“ – so war das Machtausübung. Harmlos sind solche Überzeugungen nicht. Als mein Vater aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und ich die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestanden hatte, drohte er mir, wenn ich keine guten Arbeiten schriebe, werde er mich vom Gymnasium nehmen. Meine erste Arbeit war eine ‚Sechs‘; ich verheimlichte sie. Als ich bald danach krank wurde, war ich überzeugt: Dass ist Gottes Strafe für meine Lügen – weniger für die ‚Sechs‘, die mir in den Augen Gottes nie ein großes Problem zu sein schien. Zufällig bekam ich mit, wie der Arzt sagte, dass man gegebenenfalls ein Bein amputieren müsse, wenn die Krankheit sich aus1
Überarbeitete Fassung eines Vortrags in der Reihe: Theologische Gespräche, vor der Ev.-Theologischen Fakultät der Universität Mainz am 24.11.11. Zur Unterscheidung von Ethik, Ethos und Moral vgl. W. HÄRLE, Ethik, Berlin/New York 2011, 9–12. Ethos und Moral sind gleichbedeutend, der Begriff ‚Ethos‘ bindet Moral eher an eine Gruppe oder Person; der Begriff ‚Moral‘ zielt mehr auf eine Qualität von Handlungen und Normen. ‚Ethik‘ bezeichnet die Reflexion von Moral und Ethos.
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Gerd Theißen
breite. Damals habe ich Kinderängste ausgestanden. Bildungs- und Gesundheitskrise kamen da zusammen – und ich konnte mich mit niemandem darüber unterhalten. Es ging aber alles gut: Ich behielt mein Bein, blieb auf dem Gymnasium, die ‚Sechs‘ wurde zu Hause nie bekannt. Mein zweites Problem ist heute: Wird durch religiös verstärkte moralische Überzeugungen nicht Macht ausgeübt, oft auch eine destruktive Macht? Hier geht es weniger um die religiöse Begründung von Normen, sondern um deren Funktion im Leben. Am Ende werde ich ein drittes Problem kurz diskutieren: Ist eine Konvergenz zwischen religiös und nicht-religiös begründeter Ethik denkbar? Konvergenz heißt nicht: Übereinstimmung, wohl aber eine Vergleichbarkeit, die es ermöglicht, dass religiöse und nicht-religiöse Menschen zusammen arbeiten. Ganz am Ende kann ich nur kurz als Ausklang die Frage stellen: Wie geht Religion damit um, dass wir das Gute nicht tun? Das ist deshalb so wichtig, weil Religion mehr ist als Moral.
I. Das Problem einer Begründung von Ethik in religiösen Überzeugungen rührt an ein Tabu: Ethik muss autonom sein – einmal deshalb, weil nur das gut ist, was um seiner selbst willen getan wird, dann aber auch, damit religiöse und nicht-religiöse Menschen kooperieren können. Aber die moderne nicht-religiöse Ethik hat ein Begründungsdefizit. Wir können Wissen über Fakten sammeln, aber aus unserem Wissen kein Sollen ableiten. 2 Das ist seit David Hume anerkannt, auch wenn zwischen Sein und Sollen immer wieder Brücken geschlagen werden.3 Jedoch führen sie zu keiner Letztbegründung der Ethik. Was das bedeutet, zeigt der Vorschlag eines Philosophen, 4 auf sie zu verzichten, weil die vergebliche Suche nach ihr an der 2
Zum Problem vgl. HÄRLE, Ethik (s. Anm. 1), 22–26. D. HUME, Ein Traktat über die menschliche Natur, 3. Buch ‚Über Moral‘ 1,1, PhBM 283b, Hamburg 1978, 211f. Es gibt Brückenprinzipien, die zwischen Sein und Sollen vermitteln. Wissenschaftlich erforscht werden können 1. die Realisierbarkeit von Imperativen (entsprechend dem römischen Grundsatz: ultra posse nemo obligatur), 2. die ungewollten Nebenfolgen, 3. die implizierten Sachurteile, 4. die Kohärenz und Widerspruchsfreiheit von Normen, 5. die Geschichte der Normen, 6. ihre faktische Geltung und ihre wahrscheinliche Konsensfähigkeit. Auch wenn man Sollen nicht aus Sein ableiten kann, kann man eine argumentative Klärung ethischer Fragen für möglich halten. Ein kognitivistischer Ansatz in der Ethik muss daher keinen Letztbegründungsanspruch vertreten. 4 B. WILLIAMS, Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985 = Ethik und die Grenzen der Philosophie, Hamburg 1999, dort 39–49, Kap. 2: „Der archimedische Punkt“. Zum Problem vgl. M. QUANTE, Einführung in die allgemeine Ethik, Darmstadt 2003/ 32008, 141–164. 3
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Begründbarkeit aller Ethik zweifeln lässt und moralisches Handeln untergräbt. Reicht es nicht aus, wenn wir die Moral unserer Vorfahren übernehmen und sie nur dort korrigieren, wo es Schwierigkeiten mit ihr gibt? Wir müssen Moral nicht erfinden, wir müssen sie nur hin und wieder korrigieren und weiterschreiben. 5 Wahrscheinlich gibt es für die Ethik so wenig eine Letztbegründung wie für unser Wissen überhaupt. Auch Religion kann die fehlende Letztbegründung nicht nachliefern, wohl aber lässt sie den Mangel an Letztbegründung leichter ertragen: Denn religiöse Erfahrungen stoßen auf etwas, das in sich wertvoll ist und als in sich wertvoll erlebt wird. Dazu müssen wir zwei Fragen erörtern: (1) Was sind das für religiöse Erfahrungen? (2) Wie ergeben sich aus ihnen Imperative? Es folgt daher zunächst eine kurze Skizze einiger religionsphilosophischer Gedanken. 6 Zuerst zu der Frage: Was sind das für Erfahrungen? Wittgenstein hat in seinem „Vortrag über Ethik“ drei religiöse Grunderfahrungen nebeneinander gestellt, die nach seiner Meinung der Religionskritik entzogen sind. M.E. sollte man eine weitere Grunderfahrung hinzufügen: 7 Die erste Grunderfahrung ist das Staunen über die Existenz der Welt. Die zweite (von mir hinzugefügte) Erfahrung ist die Erfahrung von Sinn, die dritte die Erfahrung einer absoluten Sicherheit oder Geborgenheit, die vierte die Erfahrung von Schuld (ich würde sagen: von Verantwortung).
Die erste Erfahrung ist das Staunen über die Existenz der Welt. Sie ist keine ‚Meinung‘ über die Entstehung dieser Welt, also keine Theorie darüber, dass sie vor 4.000 Jahren entstand oder vor Milliarden von Jahren. Über solche Meinungen und Theorien kann man streiten, nicht aber darüber, dass Menschen von dem Wunder ergriffen sind, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Denn das Geheimnis, dass überhaupt etwas existiert, 5
So die Position von M. WALZER, Interpretation and Social Criticism, Cambridge MA 1987 = Kritik und Gemeinsinn, Berlin 1990. 6 Vgl. G. T HEIßEN, Religionsphilosophische Gedanken über ‚Gott‘ und religiöse Erfahrung als hermeneutisches Problem, in: M. Wladika (Hg.), Gedachter Glaube (FS H. Hofmeister), Würzburg 2005, 88–110; DERS., Glauben als unbedingtes Vertrauen. Theologische Aspekte, in: K. Sonntag (Hg.), Vertrauen, Studium Generale, Heidelberg 2011, 9–39. 7 L. WITTGENSTEIN, Vortrag über Ethik, in: L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. v. J. Schulte, stw 770, Frankfurt 1989, 9–19, bes. 14–19. „Denn das erste dieser Erlebnisse [sc. das Staunen über die Existenz der Welt] ist, glaube ich, genau das, worauf sich die Menschen früher bezogen, wenn sie sagten, Gott habe die Welt erschaffen. Und das Erlebnis der absoluten Sicherheit ist mit den Worten beschrieben worden, dass wir uns in Gottes Hand geborgen fühlen. Ein drittes Erlebnis der gleichen Art ist das des Schuldgefühls, und dies wiederum hat man mit der Formulierung gekennzeichnet, Gott missbillige unser Benehmen. In der ethischen und religiösen Sprache verwenden wir also, wie es scheint, ständig Gleichnisse“ (16).
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besteht unabhängig von allen Theorien über die Welt. Es ist souverän gegenüber unseren Meinungen von der Entstehung der Welt. Es ist eine alles umfassende Erfahrung – genauer: eine Erfahrung mit der Erfahrung, weil die Existenz aller Dinge einschließlich unserer selbst die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass wir überhaupt Erfahrung haben. Die zweite Grunderfahrung ist die Erfahrung von Sinn, d.h. von etwas, das wir bejahen können. Wenn wir auf das Wunder des Seins stoßen, lautet die Frage: Gibt es einen Grund, das Sein zu bejahen? Wenn uns etwas in der ersten Grunderfahrung des Wunders des Seins zu einem ‚Ja‘ drängt, so nicht, weil die Dinge kontingent existieren, sondern weil sie in uns etwas zum Schwingen bringen: Das Wunder der Existenz findet Resonanz in unserer eigenen kontingenten Existenz. 8 Denn wir existieren genauso grundlos wie alles Sein. Wir erleben diese Entsprechung intensiv, wenn wir für unser Leben dankbar sind. Oder wenn uns jemand sagt: „Es ist gut, dass es dich gibt.“ Resonanzerfahrung ist Erfahrung von Sinn. 9 Auch sie ist eine Bedingung von Möglichkeit von Erfahrung überhaupt: Gäbe es keine Entsprechung zwischen uns und der Wirklichkeit, könnte es auch keine Erfahrung geben. Solche Resonanzerfahrung entzündet sich freilich nicht nur am bloßen Dasein der Wirklichkeit, sondern ihrem ‚Sosein‘ oder ihrem ‚Sound nicht Anderssein‘, vor allem an der Ordnung in der Natur, „in der“, wie Albert Einstein sagt, „sich eine so überlegene Vernunft offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist.“ 10 Jedoch sei betont: Die Erfahrung der Naturordnung ist an sich keine religiöse Erfahrung. Sie wird es erst, wenn wir diese Ordnung als kontingent erfahren: als ein Wunder, das ebenso gut nicht sein könnte und das wir bejahen können. Die dritte religiöse Grunderfahrung ist Geborgenheit. Auch diese Erfahrung setzt sich souverän gegen unsere Meinungen durch. Wir spüren etwas von dieser Geborgenheit, wenn wir nachts ein Kind mit den Worten trösten: „Es ist alles gut!“ Wir wissen sehr wohl: Es ist nicht alles gut, aber 8 Religiöse Erfahrungen habe ich als ‚Resonanzerfahrungen‘ analysiert in G. T HEIßEN, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand? TEH 202, München 1978 = KT 36, München 3 1988, 42–74. Meine ‚Resonanzerfahrungen‘ haben in der offiziellen Theologie wenig ‚Resonanz‘ gefunden, wohl aber bei vielen Menschen, die mir versichert haben, dass ihnen diese Deutung – oft in einer Krise ihrer religiösen Orientierung – wichtig gewesen ist. 9 Man kann ‚Resonanz‘ mit ‚Sinn‘ übersetzen. Dieser mehrdeutige Begriff meint (1) das Ziel von Handlungen, (2) die Bedeutung von Zeichen und (3) den Wert von Leben und Seiendem. Resonanz umfasst alle Aspekte: Etwas wird (2) als ein Appell erlebt, auf den der Mensch antwortet – als sei er durch bedeutungsvolle ‚Zeichen‘ angesprochen. Er bejaht (3) dieses Erleben als ‚wertvoll‘ und verpflichtet sich, den erfahrenen Sinn (1) durch sein ‚Handeln‘ zu bewahren und zu fördern. 10 A. EINSTEIN, Mein Weltbild (1934), hg. v. C. Seelig, Zürich 1963/2005, 21f.
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wir nehmen einem Kind nicht dieses Grundvertrauen zum Leben. Wittgenstein hat diese religiöse Erfahrung nicht in Zusammenhang mit dem Wunder der Existenz gebracht. Aber es gibt eine evidente Verbindung: Das Staunen, dass etwas existiert und nicht nichts, umfasst auch unsere eigene Existenz. Es schließt uns zusammen mit allen Dingen von den fernsten Galaxien bis zu den kleinsten Elementarteilchen. Das Geheimnis des Seins durchzieht alles wie eine Musik und umfasst auch uns selbst. Wie alle auf Totalität bezogene Erfahrung ist auch das eine Erfahrung mit der Erfahrung: Das Ganze wirkt nie direkt auf uns ein, sondern wir erleben es nur, wenn wir dem Ganzen entzogen oder neu gegeben werden – wenn wir vom Schlaf erwachen oder beim Einschlafen. Kein Wunder, dass an beiden Schwellen das Gebet seinen Ort hat. Die vierte religiöse Grunderfahrung ist die Erfahrung von Schuld – oder von Verantwortung und Gewissen. Hier begegnet nicht das Geheimnis des Seins, sondern des Sollens. Auch hier stellt Wittgenstein keine Verbindung zu anderen religiösen Grunderfahrungen her. Aber sie ist m.E. evident. Noch einmal sei wiederholt: Wir erleben im Staunen über die Existenz aller Dinge deren Kontingenz; d.h. sie könnten auch nicht sein und könnten auch anders sein. In der Erfahrung von Verantwortung erleben wir eben diese Kontingenz in unserem eigenen Handeln. Wir könnten anders handeln und könnten auch nicht handeln. Deshalb fühlen wir uns für unser Handeln verantwortlich, unabhängig davon, was wir für Meinungen über Freiheit und Determinismus haben. Während ein unbedingtes Geborgenheitsgefühl uns in den Zusammenhang aller Dinge einbettet, löst uns dieses Freiheitsbewusstsein aus allen Zusammenhängen. Auch hier handelt es sich um eine Erfahrung mit der Erfahrung: Verantwortung und Freiheit können nicht Gegenstand empirischer Erfahrung werden, aber ohne sie ist Erfahrung und Handeln nicht denkbar. Religionen brauchen mythische Bilder, Symbole und Gleichnisse, um solche Erfahrungen mitzuteilen. So werden die vier religiösen Grunderfahrungen in der Bibel in vier Bildern von Gott kommuniziert. Wenn die Bibel von ‚Gott dem Schöpfer‘ spricht, weist dieses Bild auf das Wunder, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Wenn sie von Gottes ‚wunderbaren Werken‘ spricht, werden Sinnerfahrungen zum Ausdruck gebracht. Wenn sie von ‚Gott dem Vater‘ spricht, werden Erfahrungen unbedingter Geborgenheit kodiert. Wenn schließlich in der Bibel von ‚Gott als Herrscher, Gesetzgeber und Richter‘ die Rede ist, so weist das auf Imperative, die wir uns nicht selbst geben wie die Gebote: „Du sollst nicht töten! Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht falsch Zeugnis reden gegen deinen Nächsten!“ (Ex 20,13–16). Erst durch die sprachliche Formulierung werden religiöse Erfahrungen zu Erfahrungen ‚Gottes‘. Sprachliche Bilder öffnen die ‚Augen‘ für etwas, das wir nur mit Hilfe dieser Bilder sehen. Deshalb kann man sagen: Erst
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die Sprache öffnet jene Tiefendimension religiöser Erfahrung, die wir ‚Gott‘ nennen, oder anders gesagt: Gott erschließt sich in der Sprache. Daher spielt das Wort eine zentrale Rolle in den biblischen Religionen. Sie sind überzeugt, dass Gott sich erst in seinem Wort erschließt. Im Zentrum der christlichen Religion steht dabei Jesus, der von Gott in Bildern und Gleichnissen redete – und den seine Anhänger später als das ‚Wort Gottes‘ schlechthin verehrten. Nun zu unserer zweiten Frage: Wie ergeben sich aus diesen vier religiösen Erfahrungen ethische Imperative? Grundsätzlich gilt: Jedes ethische Sollen setzt eine Differenz voraus. Das, was sein soll, muss abweichen von dem, was ist. Dann kann der Mensch aktiviert werden, um diese Differenz zu überwinden. Das gilt auch dann, wenn Menschen motiviert sind, nicht nur vorhandene Differenzen zu überwinden, sondern neue zu schaffen. Gerade kreative Menschen schaffen die Probleme, die sie zu ihren Leistungen herausfordern. Aber auch dann motivieren sie sich durch das Ziel, die von ihnen geschaffenen Differenzen auf einer höheren Stufe zu überwinden. Erfahrung von Differenz ist die Wurzel der Ethik. Alle soeben skizzierten religiösen Ganzheitserfahrungen können nun zweifellos in Differenz zu den konkreten Erfahrungen in unserer Lebenswelt treten. Religiöse Erfahrung ist Erfahrung mit der Erfahrung. Sie bezieht sich immer auch auf das Ganze, mag sie auch an Teilen unserer Lebenswelt ansetzen. Begrenzte Teilerfahrungen in unserer Lebenswelt können von ihr abweichen. Diese Differenz kann Sollen begründen. Insofern kann durch religiöse Erfahrungen eines Seins ein Sollen begründet werden, wenn es in diesem Sein eine Differenz gibt.11 Gehen wir dazu die vier Grunderfahrungen noch einmal durch: 11 HÄRLE, Ethik (s. Anm. 1), 25f., weist auf eine dreifache Begründung eines Imperativs in einem indikativischen Urteil. In einem Imperativ ist vorausgesetzt (1) ein Urteil über seine Realisierbarkeit, (2) ein Wollen, das diesen Imperativ zu einem Sollen macht, (3) eine Bewertung, die etwas einem anderen vorzieht. Bei einer religiösen Begründung von ethischen Imperativen müsste man diese drei Bedingungen so formulieren: Grundlegend ist eine Differenz von Wert und Unwert. In der Ethik wird diese Differenz (1) durch Realisierung aufgehoben. Die Religion kennt aber darüber hinaus die Möglichkeit, sie durch Vergebung zu überwinden. Daher kann sie unrealisierbare Forderungen formulieren, die dazu dienen, dass der Mensch seinen Abstand vor Gott und seine Angewiesenheit auf Vergebung erkennt. Fast in allen moralischen Normen sind solche unerfüllbaren Normen enthalten. „Du sollst nicht lügen!“ stimmt im Prinzip. Aber kein Mensch kann diesen Imperativ immer erfüllen. Werden Normen zu moralischen Geboten, müssen sie freilich realisierbar sein. Das setzt (2) ein Wollen voraus, die Differenz zwischen Wertund Unwert zu überwinden. Das ist nicht selbstverständlich. Kreative Menschen wollen nicht Spannungen reduzieren, sondern aufbauen, um sich nur zu noch größeren Leistungen zu motivieren. Aber die neu geschaffenen Differenzen sollen auf einer höheren Ebene dann doch überwunden werden. Auch die Religion führt zu solchen neuen Spannungen – etwa wenn Abraham in Genesis 22 seinen Sohn opfern soll. Eine Erfahrung von
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a) Die Erfahrung des Geheimnisses der Existenz stellt uns vor eine grundlegende Alternative: Warum sollen wir das Sein dem Nichts vorziehen? Für den Buddhismus ist das Nichts ein unendlicher Wert, das Sein eine Illusion und ein Unwert. Denn alles Sein ist Leid, und alles Leid löst sich auf, wenn es im Nichts verweht. Es ist völlig unbegründbar, wenn wir sagen: Sein ist besser als Nichtsein. Aber wenn einmal die Entscheidung für das Dasein geschehen ist, so ist darin Dankbarkeit für das Leben begründet. In unserer Lebenswelt aber stoßen wir zweifellos auf vieles, wofür wir nicht dankbar sein können. Alles ist dem Nichtsein und Tod ausgeliefert. Aus dieser Differenz zwischen religiöser Grunderfahrung und Lebenswelt kann ein Imperativ entstehen: Es soll etwas sein, das wir bejahen können. Das bloße Dasein der Welt fordert zu diesem ‚Ja‘ auf, kann es aber nicht begründen. Das ist nur durch ihr Sosein möglich: Wo immer die Welt als sinnvoll erlebt wird, gibt es ein Motiv, Leben und Welt zu bejahen. Aber es gibt keine Notwendigkeit dazu. Das ‚Ja‘ zu ihr ist letztlich so kontingent wie die Existenz der Welt selbst. In ihrer Existenz wurzelt in diesem Sinne ein ethischer Seins-Imperativ, Sein und Leben zu bejahen (Hans Jonas). 12 Sein religiöses Symbol ist Gott der Schöpfer, der die Welt schafft und sagt: Siehe, es war gut. b) Die zweite religiöse Grunderfahrung ist die Erfahrung von Sinn: Die Natur beeindruckt durch ihre Regelmäßigkeit. Wir erfassen sie mit einer Mathematik, die wir unabhängig von den Dingen entworfen haben. 13 Das ist so, als würden wir nach von uns konstruierten Regeln Schach spielen – und plötzlich entdecken wir, dass in der ganzen Welt noch jemand nach diesen Regeln spielt. Diese Regelentsprechung tritt in Differenz mit den Regelverletzungen in unserem Leben. Daraus ergibt sich ein Imperativ: Da wir in der ganzen Wirklichkeit universale Gesetze finden, sind wir auch in unserem Bereich verantwortlich, wie ein Gesetzgeber zu handeln. Das ist der kategorische Imperativ, ein Fundament jeder Ethik: Wir sollen so hanDifferenz kann schließlich nur entstehen, wenn (3) Sachverhalte und Handlungen verschieden bewertet werden. Das Leben muss dem Tod vorgezogen werden, ein Leben ohne Schmerzen den Schmerzen. Aber auch diese Differenz wird in der Religion am Ende überwunden: Ein mystisches Geborgenheitsgefühl oder Entleerungsgefühl weiß sich mit allem eins – jenseits aller Konflikte und Abstufungen. Religion begründet Moral, aber führt über sie hinaus. 12 Zu solch einem grundlegenden Imperativ vgl. H. J ONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1979, vgl. „Sein und Sollen“ (153ff.) mit Abschnitten wie: „Das Ja des Lebens emphatisch als Nein zum Nichtsein“ (156f.) oder „Sollenskraft des ontologischen Ja für den Menschen“ (157f.). Auch R. SPAEMANN , Moralische Grundbegriffe, München 1982/ 31986, 91, rekurriert letztlich auf das Sein, um zu erklären was ‚gut‘ ist: „Was macht eine Handlung gut? – so fragten wir. Und die Antwort lautet nun: dass sie dem, was ist, Rechnung trägt.“ 13 Vgl. dazu J. POLKINGHORNE, Theologie und Naturwissenschaften. Eine Einführung, Gütersloh 2001, 95–105.
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deln, dass die Maxime unseres Willens Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein kann. Dieser Imperativ ist m.E. mehr als eine Selbstverpflichtung der Vernunft. Er ist Resonanz auf die Rationalität in der Welt, die wir nicht nur konstruieren, sondern durch unsere Konstruktionen auch ‚entdecken‘. Sein religiöses Symbol ist Gott der Gesetzgeber, der die Welt geschaffen und dem Menschen allgemeine Gebote gegeben hat. Achtung vor Regeln ist eine erste Quelle der Moral – und zwar mit einer Tendenz zur Universalisierung dieser Regeln. Die universale Regel ist der partikularen vorzuziehen. c) Die dritte religiöse Grunderfahrung ist die der Verwandtschaft mit allem Sein. Wenn wir uns in der Wirklichkeit geborgen fühlen, unterscheiden wir nicht nach gut und böse. Es ist eine Erfahrung, die alles umfasst und keine Unterschiede macht. Es ist die Erfahrung eines tiefen ‚Friedens‘, der höher ist als unsere Vernunft. Diese ganzheitliche Erfahrung einer Verbundenheit mit allem ist m.E. eine wichtige Quelle der Ethik: In unserer Lebenswelt müssen wir nämlich ständig zwischen dem unterscheiden, was das Leben fördert oder bedroht. Wir stehen in lauter Konflikten. Aus der Differenz zwischen der religiösen Geborgenheit in allen Dingen und dem Konflikt im Konkreten entsteht ein sozialer Imperativ: Nicht gegen andere, sondern für andere zu leben! 14 Die Verwandtschaft allen Lebens verpflichtet zur Solidarität mit allem Leben, insbesondere mit dem Leben, in das wir uns durch Empathie versetzen können: Das führt in der Nächstenliebe zu einem Handeln, als stünden wir an der Stelle des anderen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Auch dafür gibt es ein religiöses Symbol in der Bibel: das Bild vom Gott im Bruder, der unerkannt in anderen Menschen, besonders aber den Geringsten und Leidenden begegnet (Mt 25,31–46). Achtung vor anderen Menschen ist eine zweite Quelle der Moral – und zwar mit einer Tendenz zur Ausweitung dieser Achtung auch auf die, denen Achtung entzogen wird. d) Die vierte religiöse Grunderfahrung ist die der Verantwortung. Sie begründet einen vierten Wert: Weil unser Handeln so kontingent ist wie das Sein selbst, erfahren wir uns als frei. Wir sind ein Nichts im All, aber wir können aus dem Nichts etwas entstehen lassen. Kein Stein, keine Pflanze, kein Tier kann das. Weil wir etwas wie aus dem Nichts entstehen lassen können, sind wir Ebenbild der Macht, die aus dem Nichts schafft. In uns und in allen anderen Menschen müssen wir diese Freiheit respektieren. Das stößt in unserer Lebenswelt auf faktische Einschränkungen von Freiheit. Daraus ergibt sich ein freiheitlicher Imperativ: Wir sind verpflichtet, 14 Exemplarisch ist für mich hier Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“. Sie ist zunächst keine Ethik, sondern eine religiöse Erfahrung. Vgl. A. S CHWEITZER, Straßburger Predigten über die Ehrfurcht vor dem Leben, in: Gesammelte Werke V, München o.J., 117–134.
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Freiheit zu ermöglichen – im eigenen Leben und im Leben anderer. 15 Das religiöse Symbol dieser Ethik ist der Mensch als Ebenbild des Gottes. Jeder ist ein Ebenbild Gottes mit der Fähigkeit, in seinem Leben etwas Neues zu beginnen, für das nur er verantwortlich ist. Wir müssen also in jedem Menschen respektieren, dass er die unverwechselbare Melodie seines eigenen Lebens sucht – und müssen unsere eigene Melodie finden: unsere Identität. Freiheit ist, tun zu können, was nur wir tun können und kein anderer. Was zu unserer Identität nicht passt, sollten wir auf keinen Fall tun. Auch dieser Ansatz kann an die Bibel anknüpfen: Im Alten Orient war nur der König Ebenbild Gottes. Seine Ebenbildlichkeit wurde in der Bibel ‚demokratisiert‘. Alle Menschen sind sein Ebenbild. Alle können im Kleinen etwas Neues beginnen wie Gott bei seiner Schöpfung. 16 Achtung vor sich selbst als Lebewesen mit solch einer Freiheit ist eine dritte Quelle der Moral – mit der Tendenz, diese Selbstachtung jedem zuzubilligen, in dem dieselbe Freiheit zu spüren ist. Aus den vier religiösen Grunderfahrungen folgen vier Werte: Dankbarkeit für das Leben als religiöse Grundstimmung und für unsere Moral: Regelbefolgung im Handeln, Nächstenliebe durch Verbundenheit mit anderen und ein Wille zur Freiheit. Anders gesagt: Eine allgemeine Lebensbejahung, verbunden mit Achtung vor Regeln, Achtung vor anderen und Achtung vor uns selbst sind die Werte, die durch religiöse Grunderfahrungen bestätigt, unterstützt und immer wieder erneuert werden. Für den, der diese Erfahrungen hat, sind sie ausreichend begründet. Aber nicht alle haben solche Erfahrungen. Selbst unter Theologen findet der Rückgriff auf religiöse Erfahrungen bekanntlich oft heftige Ablehnung. Lassen Sie mich daher als Abschluss des ersten Teils meine Gedanken zum Zusammenhang von Ethik und religiösen Erfahrungen in Form eines meditativen Textes zusammenfassen, um eine Ahnung von solchen Erfahrungen zu geben. Sie sind weder etwas Exotisches noch Esoterisches. Sie gehören zum Leben:
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Das in der Gegenwart eine katholische Ethik den Freiheitsgedanken in den Mittelpunkt stellt (vgl. F. RICKEN, Allgemeine Ethik, UB 348, Stuttgart 21983), ist bemerkenswert: Katholische Theologen und Religionsphilosophen sind bei diesem Grundwert sensibler als andere, weil er sich in ihrer Kirche noch nicht durchgesetzt hat. 16 Dieser Gedanke findet sich bei H. ARENDT, z.B. in: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960), Zürich 1981, 166: „Handeln und etwas Neues Anfangen“ ist „dasselbe“. Die Fähigkeit zum Neubeginn ist auch der Geist der Revolution. So H. ARENDT, Über die Revolution, München 1963, 260.
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Gerd Theißen In der Religion geht es uns wie jenem Menschen, der im Winter in den Alpen zum Skifahren fährt. Er nähert sich dem Ort und der Landschaft in der Hoffnung, dass er hier Luft und Bewegung findet. Er braucht die Alpenlandschaft, Um sich zu erholen. Aber wenn er eines Morgens vor einer noch unberührten Schneelandschaft steht und die Sonne alles mit ihrem Licht verklärt, spürt er die Aufforderung, in die Schneedecke eine besonders schöne Kurve zu ziehen, um ihrer Schönheit gerecht zu werden. Alles andere erschiene ihm wie eine Verfehlung gegenüber der Landschaft. Er hört in ihr einen Appell. Er fragt nicht mehr, ob sie seinen Bedürfnissen entspricht. Er wird von der Landschaft engagiert, sie zu vollenden. So geht es uns in der Religion: Wir finden uns in dieser Wirklichkeit vor, verfolgen in ihr unsere Ziele und fragen, ob sie unseren Bedürfnissen entspricht, bis wir eine Umkehr erfahren, einen mächtigen Appell, der uns dazu bewegt, unser Leben als Antwort zu verstehen und nicht mehr zu fragen, ob die Wirklichkeit unseren Bedürfnissen entspricht, sondern ob wir ihrer Herausforderung entsprechen.17
Aber auch eine Theologie, die sich allein durch Offenbarung begründen will, kann unseren religiös-ethischen Grunderfahrungen zustimmen. Denn gerade dort, wo sich der biblische Gott definiert und sich offenbart¸ treten diese Grunderfahrungen in Verbindung mit ethischen Imperativen hervor: Gott definiert sich zum ersten Mal am Dornbusch. Unabhängig davon, wie man diese Selbstdefinition JHWHs im Einzelnen deutet, hat schon Philo sie als Hinweis auf das Geheimnis des Seins verstanden. Mose soll seinem Volk mitteilen: „Zuerst sage ihnen, dass ich der Seiende bin, damit sie, über den Unterschied zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden belehrt, auch die Lehre vernehmen, dass es für mich, dem allein das Sein zukommt, überhaupt keinen mein Wesen treffenden Namen gibt“ (Philo Mos. I 75). Gott ist hier das Geheimnis des Seins. Mit seiner Offenbarung ist die Verheißung verbunden, dass auch sein Volk eine Lebenschance hat. Es soll auch leben. Wir begegnen einem Indikativ und Imperativ des Seins. 17 Aus G. T HEIßEN, Vom wieder gefundenen Paradies. Meditative Texte, Stuttgart 2005, 36f. = Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, Gütersloh 2012, 83f.
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Gott offenbart sich zum zweiten Mal am Sinai dem Volk mit dem Namen: „Ich bin JHWH, dein Gott, der ich dich aus Ägypten aus der Sklaverei geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (Ex 20,2). Nur ein Gott, der in die Freiheit führt, ist der wahre Gott. Gott offenbart sich als Grund der Freiheit. Wir begegnen einem Indikativ und Imperativ der Freiheit. Danach offenbart sich Gott noch ein drittes Mal mit seinem Namen: Mose verzweifelt, weil das Volk das Goldene Kalb verehrt. Aber Gott offenbart sich ihm als der Barmherzige: „Und will vor dir kundtun den NAMEN des Herrn. Ich bin gnädig, dem ich gnädig bin, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (Ex 33,19). Gott ist bereit, dem Volk zu verzeihen, das eben noch von ihm abgefallen ist. Mose erfährt hier trotz aller Brüche Geborgenheit in Gottes Güte. Gott offenbart sich als Grund des Vertrauens. Hier begegnet ein Indikativ und Imperativ von Geborgenheit. Unter den vier religiösen Grunderfahrungen – das Geheimnis des Seins, Freiheit und Geborgenheit – fehlt jetzt nur noch die Sinnerfahrung. Diese finden wir in den drei Definitionen Gottes im Neuen Testament in den johanneischen Schriften. Gott offenbart sich in ihnen als Geist, Licht und Liebe. Jesus sagt zur Samaritanerin: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4,24). Weil Gott Geist ist, sollen Menschen Geist sein. Der Johannesbrief definiert Gott als Licht: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis“ (1Joh 1,5). Er fordert dazu auf, das Leben nicht in der Finsternis zu führen. Weil Gott Licht ist, sollen auch Menschen Licht sein. Später definiert derselbe Johannesbrief Gott als Liebe: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1Joh 4,16). Weil Gott Liebe ist, sollen Menschen Liebe sein. Menschen werden Gottes Ebenbild durch Geist, Licht und Liebe. Sie sollen seinem Wesen entsprechen. Die Erfahrungen Gottes als Geist, Licht und Liebe sind Resonanzerfahrungen.
II. Doch nun zu unserem zweiten Problem: Selbst wenn es gelänge, Ethik in religiösen Erfahrungen und biblischen Aussagen zu begründen, bleibt der Verdacht: Dient Ethik nicht immer irgendjemandem, der seine Macht durchsetzen will? Und wird diese Macht nicht durch religiöse Begründungen verstärkt? Denn ethische Gebote werden dann mit religiöser Unbedingtheit formuliert. Das Problem stellt sich aber auch bei jeder nichtreligiösen Ethik. Vorausgesetzt ist bei jedem Imperativ, dass einer die Macht hat, anderen Menschen Weisung zu geben. Ethik hat daher immer etwas mit Herrschaft zu tun. Entscheidend ist: Wer sagt „Du sollst!“ Wer definiert: „Das ist gut und das ist böse.“
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Wenn wir von religiösen Grunderfahrungen ausgehen, gerät Ethik hier immer in einen Selbstwiderspruch. Ethik und Moral verlangen Freiheit, aber sie wirken faktisch oft als Einschränkung der Freiheit: als Kontrolle durch Gesellschaft und andere Menschen, die uns bis ins Innerste hinein in ihrem Interesse ‚umprogrammieren‘. Ethik verlangt Geborgenheit, aber sie verschärft in Konflikten antagonistische Auseinandersetzungen: Altruistische Unterstützung wurde oft zur Abwehr von feindlichen Gruppen entwickelt. Das Gute steigert den Konflikt. Ethik zielt auf Bejahung des Lebens. Aber das Gewissen kann wie Gift wirken, das dem Leben Vitalität und Schwung nimmt. Es entsteht dann jenes „Unbehagen in der Kultur“, das Siegmund Freud analysiert hat, weil alle moralischen Normen, je kultivierter sie sind, uns überfordern.18 Ethik verlangt nach Sinn: nach Entdeckung und Bewahrung der Resonanzfülle des Lebens. Aber wer immer etwas Großes in der Welt bewirken will, stört und verletzt, was für andere sinnvoll ist. Das ist kein Fehler oder Irrtum. Der Selbstwiderspruch der Ethik ist aber noch tiefer begründet. Er liegt letztlich darin, dass ethische Imperative aus Erfahrungen von Differenz entstehen – sie motivieren uns, weil sie uns dazu antreiben, die Differenz zwischen Wert und Unwert zu schließen. Aber menschliches Handeln dient nicht nur regulativ der Herstellung eines gestörten Gleichgewichts. Als schöpferisches Handeln reißt es Differenzen auf, um noch größere Anstrengungen herauszufordern. Friedrich Nietzsche hat diese Selbstwidersprüche der Ethik sensibel gespürt. Seine Kritik an Ethik und Moral kann man auf den Nenner bringen: Hinter moralischen Imperativen steht immer ein verborgener Wille zur Macht, der einschränkt und die Vitalität des Lebens lähmt. Nietzsche kritisierte den Willen zur Macht der kleinen Leute und der Zukurzgekommenen, der die Ansprüche der Oberschicht abwehrt. Gleichzeitig aber wollte er einen schöpferischen Willen zur Macht freisetzen, der neue Werte schafft und das Leben als Kunstwerk gestaltet.19 Bewusst reflektierte Ethik war immer schon der Versuch, Herrschaft zu reduzieren. Ethik soll nicht nur eine Frage der Macht sein. Es soll in ihr nicht nur um die Frage gehen: Wer setzt sich durch? Etwa der Wille der Mehrheit? Oder der Wille einer Werte schaffenden Elite? Oder der Herrscher? Ethische Argumente werben vielmehr darum, die Zustimmung aller zu gewinnen – ohne jeden Zwang, auch ohne psychischen Zwang. Wenn aber schon in der Form des Imperativs ein Herrschaftsanspruch verborgen 18
S. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: S. Freud, Studienausgabe IX, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 1974, 135–270. 19 Vgl. V. GERHARDT , Friedrich Nietzsche, München 1992/3 1999. Dass Nietzsche auch moralisch höchst bedenkliche Thesen vertreten hat – er verteidigte die Sklaverei und war antidemokratisch gesonnen –, sollte nicht daran hindern, seine scharfsinnigen Analysen ernst zu nehmen.
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ist, wie kann das möglich sein? In der Geschichte Europas wurden dazu grundsätzlich m.E. zwei Wege bei Griechen und Juden beschritten. 20 Wenn ich sie gegenüberstelle, vereinfache ich wieder in einer stark gedrängten Skizze und versuche knapp zusammenzufassen, was ich meine, in unseren Traditionen als praktikable Lösung dazu gefunden zu haben. 21 Eine kleine Gruppe griechischer Philosophen verwandelte die Imperative der Herrscher in Imperative, die wir uns selbst geben. Nicht andere sollen über uns herrschen, sondern wir sollen uns selbst beherrschen. Diese Ethik ist eine demokratisierte Herrschaftsethik. Sie ist eine Ethik der Autonomie und Selbstbeherrschung. Woran aber sollen sich die Menschen orientieren? Nicht an Menschen, sondern an der Natur. Gutes Verhalten entspricht der Natur (der physis), und nicht der Willkür oder der Tradition der Menschen (der thesis). Welch eine Macht in dieser Unterscheidung von Physis und Thesis lag, zeigt die älteste Kritik an der Sklaverei. Der Redner Alkidamas formulierte sie im 4./5. Jh. v. Chr., indem er sagte: „Der Gott hat alle frei geschaffen, und keinen hat die Natur zum Sklaven bestimmt“ (Arist.rhet. 1373b 18). 22 Die Natur der Dinge sagt ihm, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Sklaven und Freien gibt. Er vertrat damit eine Einsichtsethik. Man kann durch Einsicht in die Wirklichkeit erkennen, was gut und böse ist. Und man kann sich dadurch von falschen Traditionen und Vorurteilen frei machen. Vorausgesetzt ist in der griechischen Einsichtsethik ein Menschenbild, dass der Mensch tun kann, was er erkannt hat. Er ist autonom genug, um seiner Einsicht zu folgen. Hat man einmal die rechte Erkenntnis über die Wirklichkeit, folgt das rechte Verhalten entweder von selbst (so die meisten Philosophen) oder aufgrund einer durch Übung gefestigten Haltung (so die Peripatetiker). Die Ethik war kognitivistisch. Fehlverhalten basiert in ihr in einem Fehlurteil! Nun zum zweiten Weg, Herrschaft in ethischen Imperativen zu reduzieren. Er wurde in Israel beschritten. Wenn ethische Forderungen Imperative von Überlegenen gegenüber Unterlegenen sind, so wird dieses Herrschaftsverhältnis auf den Kopf gestellt, wenn vom Gleichberechtigten oder 20
Weil sich die folgende Skizze auf Europa beschränkt, sei betont: Andere Kulturen und andere Religionen haben ebenfalls eine hoch stehende Ethik entwickelt. Es gibt hier Konvergenzen, wie die Goldene Regel zeigt. 21 Ausführlicher finden sich die folgenden Gedanken in: G. T HEIßEN , Urchristliches Ethos – eine Synthese aus biblischer und griechischer Tradition, in: Chr. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift II, Kultur, Politik, Religion, Sprache – Text (FS W. Stegemann), Stuttgart 2005, 209–222. 22 Gesagt zur Verteidigung der von Sparta abgefallenen Messener, weswegen nicht ganz sicher ist, ob Alikidamas das wirklich für alle Menschen oder nur für Griechen gelten ließ.
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Unterlegenen und Schwächeren ein verpflichtender Imperativ ausgeht. Diese Ethik fordert, den Bedürfnissen des Nächsten zu entsprechen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Dieser Nächste ist der Schwächere. Das Nächstenliebegebot ist schon in seiner ältesten Formulierung in Lev 19,18 eingebettet in Gebote sozialer Rücksicht auf Schwache; es wird in Lev 19,32 sogar auf den Fremden ausgedehnt 23. Es ist kein Herrschaftsethos, sondern das Ethos von Nachbarn, die sich gegenseitig unterstützen, wenn sie in Not sind. Wie wird nun diese Forderung des Nächsten begründet? Nicht in der Natur der Dinge, sondern durch Berufung auf Gott. Es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.“ Israel formte menschliches Verhalten nicht durch rationale Einsicht in die Welt, sondern durch Disziplinierung des Willens durch Gottes Willen. Es entwickelte eine Gebotsethik: Der göttliche Wille verpflichtet unmittelbar den menschlichen Willen. Er verlangt Gehorsam. Nachträglich sinnt der Israelit darüber nach, welchen Sinn die Gebote Gottes haben. Er soll seine hebräischen Sklaven freilassen, weil die Israeliten selbst Sklaven in Ägypten waren. Auch Gebotsethik macht unabhängig von sozialer Tradition. Denn das Gesetz Gottes galt auch noch, als kein König und kein Staat es erließ – auch im Exil und in der Zeit danach. Es wurde immer wieder menschlichen Konventionen entgegengesetzt. Wichtig für die biblische Gebotsethik ist ein Unterschied im Menschenbild: Man kann sich einem Gebot widersetzen – auch gegen gute Einsicht. Der Mensch hat einen eigenständigen Willen, der gut und böse sein kann. Sein Fehlverhalten basiert nicht in einem falschen Urteil, sondern in einem bösen Willen. Die Ethik ist voluntaristisch. In Israel und Griechenland wurden so zwei Typen von Ethik entwickelt, die der Tradition widersprechen können – aufgrund menschlicher Einsicht oder aufgrund des Gehorsams gegen Gottes Willen. Leitbild ist einmal die Autonomie des Menschen, das andere Mal das Wohl des Nächsten. Beide reduzieren Herrschaft: Der erste Weg besteht darin, dass Menschen sich selbst beherrschen, um nicht beherrscht zu werden. Das ist demokratisierte Herrschaftsethik. Der andere Weg besteht darin, dem von den Mächtigen ausgehenden Imperativ einen anderen Imperativ entgegenzusetzen, der vom Gleichgestellten, Schwächeren und Ohnmächtigen ausgeht. Diese biblische Nächstenethik ist eine Ethik der Fürsorge und Solidarität. Sie ist Nachbarschaftsethik. Die Weiterentwicklung der beiden Ethiken geschah in hellenistischer Zeit. Damals begegneten sich die griechische und die biblische Tradition. 23
Vgl. H.P. MATHYS, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), OBO 71, Fribourg/Göttingen 1986.
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In der biblischen Weisheitstradition fand die griechische Einsichtsethik einen Anknüpfungspunkt. Es begegneten sich hier nicht völlig fremde Welten. An Paulus kann man sich gut die Synthese von Nächstenethik und Autonomieethik, von Gebots- und Einsichtsethik klar machen. Am Anfang der Paränese des Galaterbriefes ordnet Paulus die griechische Ethik der biblischen Ethik unter. Er ruft dazu auf, dass Christen ihre Freiheit bewahren, um „einander in Liebe zu dienen“ (Gal 5,13), d.h. sich einander wie Sklaven in Liebe gegenseitig unterzuordnen. Freiheit und Selbstbeherrschung werden hier verlangt, aber nur zu dem Zweck, sie um des anderen willen auszuüben. Gal 5 formuliert eine Synthese von Nächstenethik und Autonomieethik. Am Anfang der Römerbriefparänese verbindet Paulus Gebotsethik mit Einsichtsethik. Er schreibt: Christen sollen ihre ‚Vernunft‘ (ihren nous) erneuern, damit sie „prüfen können, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ (Röm 12,2). Gegenstand der Prüfung ist Gottes Wille. Das ist jüdische Gebotsethik. Deren Prüfung mit dem ‚Verstand‘ ist griechische Einsichtsethik. Sie erinnert an Sokrates, der nur ein der Überprüfung gewidmetes Leben für lebenswert hielt (Plato apol. 38a).24 Nun waren die Griechen überzeugt, dass sie ethische Forderungen durch Erkenntnis überprüfen konnten. Aus der wahren Einsicht in Welt und Mensch musste sich ergeben, was zu tun sei – jenseits der kulturellen Willkür von Konvention und Gesetz. Wir würden diese Grundprämisse heute einen ‚naturalistischen Fehlschluss‘ nennen. Aus der Erkenntnis dessen, was faktisch ist, folgt ein Sollen nur dann, wenn man zuvor ein Sollen in das Faktische ‚hineingeschmuggelt‘ hat. Juden waren vor diesem naturalistischen Fehlschluss gefeit, wenn sie das Gute als den Willen Gottes bestimmten, denn der war nicht aus den Strukturen der Welt ablesbar, sondern aus der Thora zu hören. Aber dieser offenbarte Wille Gottes schien oft willkürlich zu sein. Er war nicht einsichtig. Die Kritik an der griechischen Einsichtsethik sagt heute vor allem, sie sei illusionär, die Kritik an der biblischen Gebotsethik, sie sei autoritär. Die Aufgabe bestand also darin, nachträglich Einsicht und Evidenz für den Willen Gottes zu schaffen? Paulus meint: Dies geschieht nicht durch eine Erkenntnis der Welt und des Menschen, sondern durch eine Verwandlung des Menschen, die in eine Verwandlung der ganzen Welt eingebettet ist. Wenn Gott selbst seinen Geist, den Geist seiner Gebote, in das Herz 24
Wir können Paulus entnehmen, dass diese Synthese von Gebots- und Einsichtsethik vor ihm im Judentum begann. In Röm 2,18 lässt er einen jüdischen Gesetzeslehrer sprechen, der beansprucht „den Willen (Gottes) zu kennen und zu prüfen, worauf es ankommt.“ Der Gedanke der Prüfung des Willens Gottes ist schon hier vorhanden.
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von Menschen legt, dann tun die Menschen spontan, was das Gesetz fordert, ohne von außen angetrieben zu sein. Paulus folgt dabei der Jeremiaverheißung vom Neuen Bund, dass den Israeliten die Gebote ins Herz gelegt werden und keiner den anderen von außen belehren muss (Jer 31,31– 34). Eine solche innere Verwandlung setzt Paulus bei der Prüfung des Gebots voraus. Paulus mahnt nämlich in der Einleitung der Römerbriefparänese: „[...] ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist“ (Röm 12,2). Die Gebote sind den erneuerten Menschen ins Herz geschrieben. Es gilt von ihnen, was Paulus von seinem Evangelium sagt: Es ist „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen“ (2Kor 3,3). Der veränderte Mensch müsste also bei Paulus so spontan das Gute tun, wie es in der griechischen Ethik der Weise tut, der seiner richtigen Einsicht folgt. Wenn er trotzdem nicht das Gute tut, so ist er nach Paulus noch nicht vollkommen durch den Geist verwandelt. Bei den meisten Philosophen ist der, der das Gute verfehlt, dagegen in einem Fehlurteil befangen. Es fehlt ihm an der richtigen Erkenntnis, bei Paulus dagegen am richtigen Sein. Trotz der formalen Entsprechung gibt es zwischen beiden Ansätzen einen Unterschied. Nach Paulus besteht zwischen Erkenntnis und Verhalten ein Hiatus. Aus einer richtigen Erkenntnis folgt nicht das entsprechende Verhalten. In Röm 7,19 bringt er diese Erkenntnis auf eine Formel: „Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, führe ich aus“. In einer kognitivistischen Ethik müsste es heißen: „Nicht das Gute, das ich einsehe, tue ich, sondern das Böse, das ich ablehne.“ Für die voluntaristische Ethik des Paulus aber ist charakteristisch, dass er anstatt dessen sagt: „Nicht das Gute, das ich will, tue ich“. Bei Paulus macht sich diese voluntaristische Ethik auch bei positiven Anweisungen bemerkbar. So im Konflikt zwischen ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ in Korinth. Die Starken beriefen sich auf ihre ‚Erkenntnis‘, um ihre Freiheit zu begründen, Opferfleisch zu essen. Da es in ihren Augen keine Götter neben dem einen und einzigen Gott gab, konnte es auch kein durch Kontakt mit Göttern verunreinigtes Fleisch geben. Sie folgten ihrer Einsicht und verhielten sich im Sinne einer griechischen Einsichtsethik konsequent. Aus der richtigen Erkenntnis folgte für sie das rechte Verhalten! Paulus stimmt ihrer Erkenntnis zwar zu, für ihn folgt aber aus einer an sich richtigen Einsicht noch nicht das richtige Verhalten. Der Wille ist eine eigenständige Potenz. Und er wird durch das Liebesgebot an den Bedürfnissen des Nächsten ausgerichtet. Paulus plädiert daher dafür, zugunsten der Liebe auf eine an und für sich richtige Konsequenz aus einer richtigen Einsicht zu verzichten. Er ordnet der Liebe die Erkenntnis unter. Prüfung
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des Willens Gottes – das meint bei Paulus nicht eine Prüfung dieses Willens durch Einsicht in die Natur der Dinge, sondern eine Prüfung an den Bedürfnissen des Nächsten. Paulus reduziert die in jeder Ethik enthaltene Herrschaft, indem er bereit ist, sich dem schwächeren Nächsten unterzuordnen. 25 Die biblische Ethik reduziert in ihrer Weise den in jeder Ethik enthaltenen verborgenen Herrschaftsanspruch. Sie hat dabei dieselbe Intention wie die griechische Einsichtsethik: Das Gute soll eben keine Frage danach sein, wer sich durchsetzen und andere beherrschen kann, sondern wer die Zustimmung des anderen findet – sei es aufgrund einsichtiger Gedanken, sei es aufgrund dessen, dass seine Bedürfnisse berücksichtigt sind. Auch diesen Gedanken zu unserem zweiten Problem fasse ich in einem meditativen Text zusammen, der auf einen Matthäustext zurückgreift. Nicht mehr zu entfernen ist der Verdacht, in unserem Gewissen klinge die Stimme anderer Menschen nach. Zuerst die Stimme der Eltern, Vielleicht ist das Gewissen eine parasitäre Struktur, mit der wir für ihre Bedürfnisse umprogrammiert wurden. Dann die Stimme der Lehrer: Sie werden dafür bezahlt, dass sie uns für die Bedürfnisse der Gesellschaft zurechtfeilen. Schließlich die Stimme des Staates: Er fordert von uns, was zu seiner Erhaltung notwenig ist, und nicht, was zu unserem Heil erforderlich wäre. Die Bibel aber enthält ein Gegenprogramm. Sie lässt den Herrn der Welt sagen: Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. 25
Daher ist m.E. die Liebe immer mit einer Bereitschaft zur ‚Demut‘ (oder: zu Statusverzicht) verbunden. Vgl. G. T HEIßEN , Nächstenliebe und Statusverzicht als Grundzüge christlichen Ethos, in: W. Härle/H. Schmidt/M. Welker (Hgg.), Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums, Gütersloh 2000, 119–142; DERS., Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000/ 42008, 101–122.
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Gerd Theißen Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Das Gewissen wird zum Hinweis auf Gott, wenn es aus der Stimme der Mächtigen zur Stimme der Opfer wird, die keine Macht haben.
Zum ersten Problem wurde zu zeigen versucht: In religiösen Erfahrungen sind moralische Imperative begründet. Ganzheitliche Erfahrung von Wertvollem tritt in Differenz zu Wertwidrigem in partikularen Erfahrungen. Daraus entspringt ein Sollen. Ethik verstrickt sich dabei in Selbstwidersprüche, die sie zu überwinden sucht, wenn sie den in jeder Ethik enthaltenen ‚Willen zur Macht‘ reduziert. Sie ist immer ein Bemühen, die in moralischen Imperativen enthaltene Herrschaft zu reduzieren. Autonomie und Nächstenliebe sind dabei die zentralen Werte.
III. Unser drittes Problem ist: Wenn sich Ethik religiös begründen lässt, wie kann sie sich mit einer nicht-religiösen Ethik verständigen? Eine Letztbegründung der Ethik, die allen einleuchtet, kann heute niemand geben. Dennoch sollten wir das Problem einer Letztbegründung nicht ausklammern, weil durch Einsicht in ihre Unmöglichkeit die Moral unnötig erschüttert würde. Vielmehr kann radikale Skepsis eine produktive ethische Kraft sein. Gerade aus einer ethischen Verzweiflung an der fehlenden Begründbarkeit der Ethik kann man (parallel zu einer Begründung in religiösen Erfahrungen) argumentativ rationale Hinweise auf ethische Grundwerte gewinnen. Wer darüber verzweifelt ist, dass wir keine allgemein überzeugenden ethischen Standards haben, bejaht zumindest einige grundlegende Werte, sonst wäre seine Verzweiflung nicht nötig. Erstens bejaht er Selbstachtung. Wir halten es mit unserer Identität für unvereinbar, nicht nach einer einsichtigen Begründung unseres Handelns zu fragen, die unser eigenes Handeln lenkt. Wir wollen nicht nur handeln, sondern begründet handeln. Dabei setzen wir Freiheit voraus. Wer sich total determiniert sieht, hätte keinen Grund um Selbstachtung zu ringen. Er könnte sagen: Ich bin halt so und nicht anders. Basta. Zweitens bejaht ethische Verzweiflung die Achtung vor anderen Menschen: Ethische Verzweiflung entsteht dadurch, dass wir der Zustimmung eines anderen Menschen nicht sicher sein können. Um die ringen wir mit all unseren Gedanken zur Moral. Wir hätten überhaupt keinen Grund zur Verzweiflung, wenn wir nicht im anderen ein freies Subjekt sehen, das
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man nicht wie Steine oder Bäume instrumentell behandeln kann, sondern dessen Zustimmung uns unendlich wertvoll ist. Wir wollen Moral und Ethik nicht zu einer Frage von Macht und Herrschaft machen. Drittens bejahen wir den Wert von allgemeinen Regeln: Wenn wir uns fragen, was denn unser Handeln und das der anderen verbinden könnte, so dass wir uns einigen könnten, dann suchen wir nach Grundsätzen, die nicht nur für uns, nicht nur für den anderen, sondern für alle, mit denen wir in Interaktion treten können, gelten. Ethische Verzweiflung ist produktiv. Sie auszuklammern oder zu vermeiden ist problematisch. Sie kann uns bewusst machen, dass Ethik drei Quellen hat: Achtung vor anderen Menschen, Achtung vor sich selbst, Achtung vor Regeln. Immer wieder komme ich auf diese drei Grundsätze: den kategorischen Imperativ der Regelbefolgung (als Achtung vor Regeln), den sozialen Imperativ der Nächstenliebe (als Achtung vor Anderen) und den Imperativ der Selbstbestimmung (aus Achtung vor sich selbst). Für mich sind sie in drei grundlegenden religiösen Erfahrungen begründet. In Erfahrungen von Sinn, Geborgenheit und Freiheit. Aus diesen Erfahrungen beziehe ich Kraft, diesen Imperativen zu folgen. Aber diese drei Grundwerte lassen sich auch nicht-religiös vertreten. Alle drei sind m.E. in der Goldenen Regel berücksichtigt, die schon in der Bibel eine Schnittstelle zwischen religiöser und allgemeiner Ethik ist: „Alles was ihr wollt, dass es die Menschen euch tun – so tut auch ihnen“ (Mt 7,12). 26 Die Goldene Regel misst das gute Verhalten an den eigenen Bedürfnissen, an dem, was unsere Selbstachtung für uns selbst wünscht. Die Goldene Regel verpflichtet zu Empathie und einem Sich-Versetzen in andere Menschen, also zur Achtung vor anderen. Die Goldene Regel ist eine Regel – auch wenn sie verschieden universal interpretiert werden kann.
26 Oft wird es für irrelevant gehalten, dass die Goldene Regel in der Bergpredigt positiv formuliert ist. Dem ist nicht so. Sie findet sich in der Antike in ihrer positiven Form sonst nur für privilegierte Verhältnisse, u.a. für das Verhältnis des Herrschers zu seinen Untertanen. In ihrer negativen Form gilt sie dagegen für alle Beziehungen. Ist es doch leichter, Böses zu unterlassen als Gutes zu tun. In der Bergpredigt wird die Goldene Regel in ihrer positiven Form für alle Menschen verpflichtend und gilt allen Menschen gegenüber (Mt 7,12). Diese Zuspitzung der verbreiteten Tradition könnte auf Jesus selbst zurückgehen. Er überträgt ein Herrscherverhalten auf alle. Vgl. G. T HEIßEN, Die Goldene Regel (Matthäus 7:12/Lukas 6:31). Über den Sitz im Leben ihrer positiven und negativen Form, Bibl.Interpr. 11 (2003), 386–399. Zur Diskussion um die Goldene Regel vgl. HÄRLE, Ethik (s. Anm. 1), 174–179.
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Mir ist bewusst: Zwischen den drei Quellen der Moral gibt es unlösbare Spannungen. 27 Nächstenliebe verpflichtet uns manchmal dazu, allgemeine Normen zu brechen. Um der Selbstbestimmung willen müssen wir oft gegen andere Interessen verstoßen. Um des kategorischen Imperativs willen verstoßen wir sogar notorisch gegen eigene und fremde Bedürfnisse. Die Goldene Regel ist hier flexibler als der kategorische Imperativ. Mit ihr kann man ggf. einen Regelbruch legitimieren – etwa das Kirchenasyl. Aber all das zeigt, dass Menschen wegen dieser Konflikte notwendig schuldig werden, auch wenn sie das Gute aufrichtig tun wollen. Schon der oben dargestellte Selbstwiderspruch der Ethik weist darauf. Wir tun immer wieder das Gute, bewirken aber Böses. Damit komme ich abschließend auf das letzte Problem zu sprechen, das ich eingangs genannt habe und nur kurz streifen kann. Wie leben Menschen damit, dass sie beim Tun des Guten scheitern? Dazu greife ich noch einmal auf meine Großmutter zurück. Sie hat gewiss moralisch gehandelt, als sie zusammen mit einer jüngeren Tochter 1946 vier Waisen übernahm und sich um sie kümmerte und außerdem einen kranken Mann pflegen musste. Sie wirkte nicht nur durch ihr moralisches Vorbild, sondern auch durch Nebensächlichkeiten. Sie hatte uns nämlich verboten, Bleistifte auf den Boden zu werfen, weil dann die Minen brechen. Im Kindergottesdienst aber war einer der Höhepunkte in der Didaktik unseres Pastors dessen Erklärung, warum der Mensch notwendig zur Sünde neigt. Er nahm einen Bleistift und ließ ihn vom Pult fallen – und sagte dazu: Wie der Bleistift zum Boden fällt, neigt der Mensch zur Sünde. Ich erstarrte. Denn dieser heilige Mann tat, was meine Großmutter verboten hatte: Bleistifte auf den Boden zu werfen. Dadurch gewann ich schon früh eine wichtige theologische Erkenntnis: Wie groß muss die Erbsünde sein, wenn sie auch diesen reformierten Pastor so sehr in der Hand hat, dass er noch nicht einmal erklären konnte, was Sünde ist, ohne eine zu begehen. Die Neigung zum Bösen ist keine physische Kraft wie die Schwerkraft, die den Bleistift zum Boden fallen lässt. Aber sie führt in eine Krise. Die Bibel zeigt, wie Menschen durch eine Krise hindurch erneuert werden können. Diese Erneuerung wird durch die Beziehung zu Christus bewirkt: Glaube ist Mut zum Leben, der mit Christus gekreuzigt wird und als ‚neue Schöpfung‘ aufersteht. Dadurch kommt es zur Erneuerung von Lebensbejahung: Dass wir das Leben letztlich bejahen, bleibt so unbegründbar wie eine creatio ex nihilo. Rechtfertigung ist ein Ruf Gottes, der aus dem 27 Vgl. G. T HEIßEN, Gesetz und Goldene Regel. Die Ethik des Matthäusevangeliums zwischen Regel- und Empathieorientierung, in: P. Lampe/M. Mayordomo/M. Sato (Hgg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium (FS U. Luz), Neukirchen 2008, 237–254.
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Nichts in das Sein ruft (Röm 4,17). Um das zu verstehen, muss man ein wenig Nihilist sein. Aber dabei stoßen wir auf einen grundlegenden Indikativ und Imperativ des Seins: Es ist gut zu leben. Es ist gut, dass überhaupt etwas existiert. Ohne diese grundlegende Erfahrung gäbe es weder Ethik noch Moral. 28
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In dieser Skizze einer Ethikbegründung durch Religions- und Bibelhermeneutik fehlt deren Einordnung in die Gesamtgeschichte. Vgl. mein Versuch: G. THEIßEN, Biblischer Glaube und Evolution. Der antiselektive Indikativ und Imperativ, in: ders., Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt, ‚Neutestamentliche Grenzgänge‘ im Dialog, NTOA 78, Göttingen 2011, 188–237. Ich nehme hier meinen ersten Versuch neu auf: G. T HEIßEN , Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984. Innerhalb der Evolution gibt es eine Evolution der Evolution (N. Luhmann). Sie verändert ihre Strategie. Leben wird durch Suspendierung des Entropieprinzips möglich, Kultur durch Suspendierung des Selektionsprinzips, Religion durch Suspendierung des Moralprinzips durch Gnade. In diesen universalgeschichtlichen Zusammenhang gehört die so genannte ‚Achsenzeit‘ (K. Jaspers), darin auch die Geschichte Israels und in ihrer Mitte Jesus von Nazareth. Die Botschaft der Bibel kann freilich ohne solch eine ‚universalgeschichtliche Hermeneutik‘ (W. Pannenberg) vertreten werden. Alle Versuche, sie durch Einbettung in ein Ganzes verständlich zu machen, bleiben ohnehin vorläufig. Diese großen Linien müssen ferner durch die sozial- und realgeschichtlichen Vorgänge konkretisiert werden, in denen sich unser Ethos verwandelt hat. Vgl. dazu G. THEIßEN , Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004.
I. ‚Gut‘/das ‚Gute‘ als ethische Norm in Antike und Christentum
Das ‚Gute‘ als ethische Norm in Antike und Christentum Gut, Güter, Güterabwägung in philosophischen und christlichen Ethiken Ruben Zimmermann Das erste ‚Mainz Moral Meeting‘ 1, dessen Vorträge im folgenden Kapitel in überarbeiteter Form dargeboten werden, stand unter dem Thema ‚Gut – Güter – Güterabwägung‘. Die semantische Nähe, die dieses Themenspektrum suggeriert, bedarf der näheren Erläuterung, wird doch hier in ethischer Perspektive durchaus Unterschiedliches unter einer Überschrift vereint. Wer Ethik betreibt, fragt nicht nur nach der Deskription von Handlungen und Sprechakten. Um eine Handlung zu begründen oder ihr gegenüber einer anderen den Vorzug zu geben, bedarf es auch der Bewertung. 2 Es geht also in der Ethik immer schon um die Frage nach ‚gut‘ und ‚böse‘ oder offener formuliert um ‚richtig‘ und ‚falsch‘ oder zumindest um ‚besser‘ und ‚schlechter‘. Gerade dadurch, dass ein Zeichen als ‚gut‘ oder ‚besser‘ dargestellt oder wahrgenommen werden kann, wird es zur ‚Norm‘3. 1
Das Tagessymposion fand am 08. Juli 2009 an der Johannes Gutenberg-Universität statt und eröffnete den Zyklus der Mainz Moral Meetings. Der genaue Titel lautete: „Gut, Güter, Güterabwägung – ein missachteter Grundbegriff der Ethik in Antike und Christentum.“ 2 Vgl. etwa die Ethik-Definition bei U.H.J. KÖRTNER, Evangelische Sozialethik, Göttingen 1999, 33: „Ethik ist die Theorie der Moral, d.h. die Reflexion, welche menschliches Handeln anhand der Beurteilungsalternative von Gut und Böse bzw. Gut und Schlecht auf seine Sittlichkeit hin überprüft. Die Aufgabe der Ethik besteht aber auch darin, die Begriffe ‚Gut‘ und ‚Böse‘ zu bestimmen und die Normen und Werte, nach denen in einer Gesellschaft üblicherweise über Gut und Böse entschieden wird, einer beständigen Prüfung zu unterziehen.“ Die Ethiktheorie hat demgegenüber die ‚deskriptive‘, rein beschreibende, von der ‚präskriptiven‘ bewertenden Ethik zu unterscheiden versucht. Dabei liegt m.E. nicht nur ein inzwischen überholtes Wissenschaftsideal der Objektivität zu Grunde, die die Möglichkeit einer unparteilichen und wertfreien Deskription postuliert. Im Blick auf die Beschreibung vollzogener ethischer Urteile (z.B. in historischen Texten) kann auch ex post eine Wertehierarchie benannt werden, die im Text Geltung beansprucht. 3 Wie im Einführungsaufsatz erläutert, soll der Normbegriff hier so weit verstanden werden, dass jegliches Zeichen, das eine Bewertung einschließt, ‚Norm‘ genannt werden
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Der Normbegriff schließt entsprechend immer schon eine Wertung mit ein. Die Frage nach dem, was ‚gut‘ ist, an den Anfang eines Bandes zu Handlungsnormen zu stellen, liegt folglich schon der Sache nach nahe. Allerdings geht es im Folgenden um mehr. Auf der Suche nach Begründungszusammenhängen der Ethik interessiert nicht nur das bloße ‚Dass‘, sondern auch die weiterführende Frage, warum und auf welche Weise eine bestimmte Norm als ‚gut‘ oder ‚besser‘ eingestuft wird. Wie wird moralische Signifikanz erzeugt? Eine fundamentale ethische Proposition wird mit der einfachen Zuschreibung eines Werturteils vollzogen, z.B. „A ist gut“. Mit Kraft kann man dabei ‚A‘ als Wertträger und ‚gut‘ als Wertprädikat bezeichnen. 4 Es stellt sich jedoch sogleich die Frage, wie überzeugend diese Zuschreibung ist. Wodurch gewinnt sie ihre Plausibilität? Gibt es Wertträger, die per se ‚gut‘ sind? Während gegenwärtig gegenüber absoluten Werten berechtigte Skepsis und Kritik besteht, ist für den antiken EthikDiskurs die Vorstellung von einem Eigenwert jedes Seienden, ja sogar von einem höchsten Gut, das alles Gutsein begründet, konstitutiv. Ferner stellt sich die Frage, wie mit einem bestimmten Konzept von ‚gut‘ bzw. ‚das Gute‘ ethisch argumentiert wird. Inwiefern wird also ‚das Gute‘ selbst als Norm in einem ethischen Diskurs eingebracht? Wie kann ‚das Gute‘ selbst ein ‚Gut‘ im moralischen Sinne sein? Diese eher abstrakte Fragestellung schließt auch die Frage nach der Form ethischer Argumentation ein, die sich auf Güter bezogen als ‚Güterabwägung‘ darstellt. Es geht also darum, wie bei der meta-ethischen Frage nach dem, was ‚gut‘ ist, nicht nur Wertungskategorien in Handlungsreflexionen (besonders in antiken Texten) aufgedeckt werden, es geht auch um ‚das Gute‘ bzw. um bestimmte ‚Güter‘, die selbst als Normen etwa im Verfahren ethischer Begründung bzw. der Güterabwägung verwendet werden. So wird ein innerer Zusammenhang erkennbar, der diese Titelbegriffe auch in ethischer Hinsicht zusammenführt. In den folgenden Artikeln werden vielfach nur einzelne Aspekte der Trias in den Blick genommen. So befasst sich Christoph Horn mit dem „Güterbegriff der antiken Moralphilosophie“, insbesondere des Platon und Aristoteles. Jan van der Watt untersucht das Konzept vom Tun des Guten und der Wahrheit im Johannesevangelium. Jörg Röder nimmt die funktionalen Bedeutungsmöglichkeiten des avgaqo,j-Begriffs in der ethischen Argumentation vorwiegend der synoptischen Evangelien und Briefe in den Blick. Auch in meinem Artikel kann. Vgl. die Definition im Beitrag R. ZIMMERMANN , Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse (in diesem Band). 4 Vgl. V. KRAFT , Wertbegriffe und Werturteile, in: H. Albert/E. Topitsch (Hgg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1971, 44: „Der Gegenstand, dem ein Wert zugeschrieben wird, ist der Wertträger; den Wert, der ihm zugeschrieben wird, spricht ein Wertprädikat aus. Dieses ist ein Wertbegriff, meist in adjektivischer, aber auch in substantivischer oder verbaler Form: x ist sündhaft, x ist eine Sünde, x sündigt.“
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steht das Verfahren der Ethik-Begründung im Zentrum, indem aufgezeigt wird, wie Paulus ‚Güterabwägung‘ im 1. Korintherbrief praktiziert. Schließlich plädiert Notger Slenczka im Anschluss an Schleiermacher und Scheler dafür, dass die ethische Reflexion ein Wissen um Gut und Böse immer schon voraussetzt. Christliche Ethik kann sich für ihn daher nur als deskriptive, nicht aber als präskriptive Ethik begreifen. 5 Die im Dialog mit den jeweiligen Schriften gewonnenen und aus unterschiedlichen Diskurswelten geliehenen Begriffe von ‚Gut‘, ‚Güter‘ und ‚Güterabwägung‘ variieren in den einzelnen Beiträgen beträchtlich. Gewiss kann es deshalb auch nicht die Absicht dieser Hinführung sein, hier übergeordnete Konzepte oder gar Definitionen der Begriffe vorauszuschicken. Gleichwohl ist es hilfreich, im Folgenden zunächst als erste Orientierung Schneisen zu den Begriffen zu schlagen, die dann mit den folgenden Beiträgen auf je eigene Weise aufgenommen, vertieft oder modifiziert werden. Gut, das Gute Die Frage nach dem ‚Guten‘ (griech. to. avgaqo,n ; lat. bonum) wird in der Antike eng mit der Frage nach dem Sein (Ontologie) verbunden. Jedes Seiende ist in dem Maße gut, wie es seinem Wesen entspricht. „Ein Seiendes ist gut, insofern es ist, was es sein kann.“6 Das Gute meint dann konkret das funktionale Tauglichsein oder auch die Zweckmäßigkeit, was zunächst von Gegenständen aber auch von Lebewesen ausgesagt werden kann. Entsprechend ist ein Hammer in dem Maße ‚gut‘ wie er seinen Zweck des ‚Hämmerns‘ erfüllen kann. Dieses funktionale Gut-sein gründet in einem höchsten Gut (summum bonum). Gemäß platonischer Philosophie 7 kann das innere Gutsein sogar durch das jeweilige Maß der Teilhabe an diesem höchsten Gut bestimmt werden. Gegenüber diesem ontologisch-funktionalen und dabei letztlich absoluten Guten kann mit Forschner eine relative Bedeutung des Begriffs unterschieden werden. Gerade weil mit Aristoteles „gut in ebensoviel Bedeutungen ausgesagt wird wie ‚ist‘ […]8, kann ‚gut‘ unmöglich etwas Übergreifend-allgemeines und nur Eines sein.“ (Arist.e.N. 1096a, 30) 5
Anders etwa W. HÄRLE, Die gewinnende Kraft des Guten. Ansatz einer evangelischen Ethik, ThLZ 129 (2004), 123–134, der für eine Leitbildethik plädiert: „Eine Leitbildethik will also eine zum Guten einladende, für das Gute gewinnende, zum Guten verlockende Ethik sein“, 132. 6 M. FORSCHNER, Art. Das Gute, in: O. Höffe (Hg.), Lexikon der Ethik, 7., neub. und erw. Aufl. München 2008, 127–129, hier 127. 7 Vgl. hier etwa die grundsätzliche Auseinandersetzung in Plato rep. VI 503–509d. 8 Aristoteles unterscheidet die Kategorien der Substanz, der Qualität, der Quantität, der Zeit und des Ortes, vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, übers. und mit einem Nachwort von F. Dirlmeier, Stuttgart 2001, 11.
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Das Gute im relativen Sinn „ist gut für jemanden, das Gute ist das, was von einem Subjekt um seiner selbst oder seiner Nützlichkeit für anderes willen erstrebt, begehrt, gewollt, geliebt wird.“9 Obgleich das höchste Gut auch hier noch im Hintergrund steht, ist das Gute doch nun als das menschlich Gute (avnqrw,pinon avgaqo,n) bestimmt, als das Erstrebte und Gewollte, als ein Strebensziel. Ein höheres Gut besteht darin, dass eine Sache um ihrer selbst willen und nicht aus fremden Zwecken erstrebt wird. Das Gute wird somit formal als ein ‚Letztstreben‘ definiert. Im Blick auf den Menschen stellt sich die Frage, wie der Mensch sein Seinsziel erreicht, was seit Aristotels in der antiken Ethik mit der Lehre der Glückseligkeit (euvdaimoni,a) beantwortet wird. Für die neutestamentlichen und frühchristlichen Autoren dürften diese differenzierten Überlegungen zum Guten kaum bekannt gewesen sein. Gleichwohl zeigt sich auch in den ntl. Schriften ein recht vielfältiges Bild der Rede vom Guten, wobei neben avgaqo,j häufig auch kalo,j gebraucht wird (siehe die Beiträge von Roeder und van der Watt). So wird ‚das Gute‘ als absoluter Wert genannt und in Aufnahme jüdischer Sprachtradition10 theologisch zugespitzt: nur Gott ist gut (vgl. Mk 10,18par.). Daneben wird ‚gut‘ als Wertbegriff attributiv und prädikativ gebraucht und bezeichnet Gegenstände, Menschen, Eigenschaften und auch Handlungen. So ist z.B. mehrfach vom „guten Gewissen“ die Rede (Apg 23,1; 1Petr 3,16.21; 1Tim 1,5.19). Unter ethischer Perspektive ist so dann die Formulierung von den „guten Werken“ (Joh 10,32f.; Apg 9,36; Röm 2,7; Tim 2,10 u.v.a.) signifikant; ferner wird abstrakt vom „Tun des Guten“ (vgl. avgaqo.n poiei/n Mk 3,4; Röm 13,3) gesprochen, was auch zu kompositionellen Begriffsbildungen wie avgaqoergei/n (Apg 14,17; 1Tim 6,18) oder avgaqopoiei/n (Lk 6,33.35; 1Petr 2,15.20; 3Joh 11 u.a.; vgl. avgaqopoii