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German Pages [401] Year 2009
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
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Jenseits von Indikativ und Imperativ Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics Band I
Herausgegeben von
Friedrich Wilhelm Horn und Ruben Zimmermann
Mohr Siebeck
Friedrich Wilhelm Horn ist Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ruben Zimmermann ist Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
e-ISBN PDF 978-3-16-151527-9 ISBN 978-3-16-149997-5 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band nimmt Beiträge eines von Friedrich Wilhelm Horn, Universität Mainz, und Ruben Zimmermann, damals noch Universität Bielefeld, gemeinsam initiierten DFG-Rundgesprächs auf, das im September 2007 auf der Ebernburg in Bad Münster am Stein-Ebernburg unter dem Thema „Begründungszusammenhänge neutestamentlicher Ethik“ stattgefunden hat. Ziel dieses Rundgesprächs war vor allem, das jahrzehntelang bestimmende sogenannte Indikativ-Imperativ-Modell zu problematisieren und gleichzeitig alternative Begründungszusammenhänge neutestamentlicher Ethik aufzuzeigen. Als Teilnehmer für das Rundgespräch wurden Neutestamentler und Wissenschaftler angrenzender Disziplinen mit dem Forschungsschwerpunkt Ethik eingeladen, wobei auf zweierlei insbesondere Wert gelegt wurde: a) Das sogenannte Indikativ-Imperativ-Modell hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem innerhalb der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft durchgesetzt, ganz sicher auch unter dem nachhaltigen Eindruck der Theologie Rudolf Bultmanns sowie einer Konzentration neutestamentlicher Ethik auf das Corpus Paulinum. Im angloamerikanischen und skandinavischen Raum hat sich dieses Modell so nie etablieren können, wohl auch, weil der prägende Einfluss der lutherischen Theologie in diesen Ländern zumindest teilweise nicht so dominant wie in Deutschland gegeben ist. Daher haben die Initiatoren von vornherein Wert darauf gelegt, prominente Wissenschaftler aus diesem Raum zu gewinnen. Zugesagt haben die Teilnahme sodann Prof. David G. Horrell, University of Exeter, Professor Matthias Konradt, Universität Bern, und Prof. Troels Engberg-Pedersen, University of Copenhagen. b) Gleichzeitig war es den Einladenden wichtig, nicht ausschließlich Neutestamentler zu diesem Rundgespräch zu gewinnen, sondern auch Wissenschaftler aus den sogenannten Nachbardisziplinen, hier vor allem Wissenschaftler aus der alttestamentlichen Wissenschaft, der Judaistik sowie der Altphilologie und Philosophie. Im Blick auf den Austausch mit diesen Disziplinen konnten die Wissenschaftler Prof. Eckart Otto, Universität München, Prof. Maximilian Forschner, Universität Erlangen, und Prof. Manuel Vogel, Universität Jena, gewonnen werden. Der Patristiker Prof. Ulrich Volp, Universität Mainz, konnte an dem Rundgespräch leider nicht teilnehmen, hat aber einen Beitrag zur antiken Kritik an den Begründungszusammenhängen christlicher Ethik für diesen Band verfasst. Ebenso
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Vorwort
wurde der Beitrag des Philosophen Christoph Horn, Universität Bonn, zum antiken Zeitverständnis im Horizont der Ethik in das Ensemble integriert. Die Auswahl der Referenten bzw. Beiträger zeigt zugleich die Fokussierung der Diskussion auf bestimmte Schwerpunkte an, die sowohl bei der Strukturierung des Rundgesprächs als auch dieses Bandes leitend wurden: In einem ersten Block wurde die neutestamentliche Ethik in einen Dialog mit Ethiken im Vor- und Umfeld des Neuen Testaments gebracht, sei es des Alten Testaments und antiken Judentums, sei es der griechischen Philosophie. Ein eigener Schwerpunkt der Diskussion innerhalb der neutestamentlichen Schriften lag traditionsgemäß bei Paulus, was zu einem zweiten Teil „Begründungsstrukturen bei Paulus“ führt. Schließlich wurden die Beiträge zu Begründungszusammenhängen der Ethik in den Evangelien, im Jakobusbrief und in der Alten Kirche in einem dritten Teil zusammengefasst. Dieser Band eröffnet eine Reihe weiterer geplanter Publikationen unter dem Rahmenthema „Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik“. Die Frage der Begründungszusammenhänge neutestamentlicher Ethik soll unter verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Ferner möchten wir Jutta Nennstiel sehr herzlich für die organisatorische Vorbereitung und Durchführung des Rundgesprächs sowie für die in Zusammenarbeit mit Christoph Brinker vorgenommene akribische Bearbeitung der einzelnen Beiträge für die Drucklegung und für das Erstellen der Register danken.
Mainz, im März 2009
Friedrich Wilhelm Horn Ruben Zimmermann
Inhalt Vorwort ........................................................................................................... V Abkürzungsverzeichnis ................................................................................. XI
Friedrich Wilhelm Horn und Ruben Zimmermann Einführung ....................................................................................................... 1
Neutestamentliche Ethik im Dialog mit Ethiken im Vor- und Umfeld des Neuen Testaments Maximilian Forschner Das Selbst- und Weltverhältnis des Weisen. Über die stoische Begründung des Guten und Wertvollen ........................... 19 Hermut Löhr Elemente eudämonistischer Ethik im Neuen Testament? ............................. 39 Manfred Lang Lebenskunst und Ethos. Beobachtungen zu Plutarch, Seneca, Philo von Alexandrien und dem 1. Petrusbrief .............................................. 57 Eckart Otto Narrative Begründungen von Ethos in der Ethik des Alten und Neuen Testaments .................................................................. 77 Eckart Reinmuth Das Alter würdigen. Antike Anerkennungsdiskurse und Neues Testament ................................... 97 Christoph Horn Der Zeitbegriff der antiken Moralphilosophie und das Zeitverständnis des Neuen Testaments .......................................... 117
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Inhalt
Begründungsstrukturen bei Paulus Udo Schnelle Paulus und Epiktet – zwei ethische Modelle ............................................... 137 Manuel Vogel Ob Tugend lehrbar sei. Stimmen und Gegenstimmen im hellenistischen Judentum mit einem Ausblick auf Paulus ..................... 159 Christof Landmesser Begründungsstrukturen paulinischer Ethik ................................................. 177 David G. Horrell Particular Identity and Common Ethics. Reflections on the Foundations and Content of Pauline Ethics in 1 Corinthians 5 ........................................ 197 Friedrich Wilhelm Horn Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective ................................................................................. 213
Begründungsstrukturen in den Evangelien, im Jakobusbrief und in der Alten Kirche Ruben Zimmermann Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu. Ethik durch literarische Ästhetik am Beispiel der Parabeln im Matthäus-Evangelium ..................... 235 Troels Engberg-Pedersen Giving and Doing. The Philosophical Coherence of the Sermon on the Plain .......................... 267 Rainer Hirsch-Luipold Prinzipiell-theologische Ethik in der johanneischen Literatur .................... 289 Matthias Konradt Werke als Handlungsdimension des Glaubens. Erwägungen zum Verhältnis von Theologie und Ethik im Jakobusbrief .... 309 Karl-Wilhelm Niebuhr Ethik und Anthropologie nach dem Jakobusbrief. Eine Skizze .................. 329
Inhalt
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Ulrich Volp Beobachtungen zur antiken Kritik an den Begründungszusammenhängen christlicher Ethik ........................... 347 Stellenregister .............................................................................................. 367 Sachregister ................................................................................................. 379 Verzeichnis der Autoren............................................................................... 385
Abkürzungsverzeichnis Die innerhalb des Bandes verwendeten Abkürzungen orientieren sich am Abkürzungsverzeichnis der 4. Aufl. der RGG (vgl. Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4, hg. v. der Redaktion der RGG4, UTB 2868, Tübingen 2007). Darüber hinaus wurden folgende Abkürzungen verwendet:
Antike Schriften Arist.rhet. CD Cic.Cluent. Cic.fin. Cic.leg. Cic.parad. Cic.part. Cic.sen. Cic.Tusc. Dio Chrys.orat. Diod.S. Ep.Pyth. Ep.Cyn.Ps.Diog. Epict.diss. Epik.Men. Greg.Thaum.or. grLAE Hor.sat. Isocr.or. Luc.fug. Mac.apocrit. Manil. Max.Tyr. Menand.sent. Minuc.Fel.Oct. Muson.diatr. Muson.diss.
Aristoteles, Rhetorica Damaskusschrift Cicero, pro Cluentio Cicero, de finibus Cicero, de legibus Cicero, paradoxa Stoicorum Cicero, partitiones oratoriae Cicero, Cato maior de senectute Cicero, Tusculanae disputationes Dio Chrysostomus, orationes Diodoros Siculus Epistulae Pythagorae et Pythagoreorum Kynikerbriefe Pseudo-Diogenes Epictetus, dissertationes Epikur, Brief an Menoikeus Gregorius Thaumaturgus, oratio prosphonetica ac panegyrica in Originem Griechisches Leben Adams und Evas / Apokalypse des Mose Horatius, saturae sive sermones Isocrates, orationes Lucianus, fugitivi Macarius Magnes, apocriticus Manilius Maximus von Tyros Menander, sententiae M. Minucius Felix, Octavius G. Musonius Rufus, diatribes G. Musonius Rufus, dissertationes
XII OrJak Philo fug. Plato leg. Plato Men. Plin.nat.hist. Plut.Camill. Plut.Stoic. Plut.super. Polyb. Ps.Arist.rhet. Ps.IgnEph Ps.Luc.Cyn. Ps.Philo Jona Ps.Plato Epin. Quint.inst. Sall.hist.fr. Sen.benef. Sen.brev. Sen.const.sap. Sen.ira Sen.nat.quaest. Sen.otio Sen.tran. Sen.vit. Sext.Emp.math. Sext.Emp.Pyrrh. Theon progym. Xenoph.mem.
Abkürzungsverzeichnis
Gebet Jakobs Philo, de fuga et inventione Plato, leges Plato, Menon Plinius, naturalis historia Plutarch, Camillus Plutarch, de Stoicorum repugnantiis Plutarch, de superstitione Polybius Pseudo-Aristoteles, rhetorica ad Alexandrum Pseudo-Ignatius an die Epheser Pseudo-Lucianus, Cyniais Pseudo-Philo, de Jona Pseudo-Plato, Epinomis Quintilianus, institutio oratoria Sallustius, fragmenta historiarum Seneca, de beneficiis Seneca, de brevitate vitae Seneca, de constantia sapientis Seneca, de ira Seneca, naturales quaestiones Seneca, de otio Seneca, de tranquillitate animi Seneca, de vita beata Sextus Empiricus, adversus mathematicos Sextus Empiricus, Pyrrhoneae Hypotyposes Ailios Theon von Alexandria, progymnasmata Xenophon, memorabilia Socratis
Lexika, Quellenschriften, Serien, Zeitschriften AUL.NF AzBG DZPh EvTh.S LHB NTAK OPB RUB SAPERE
Acta Universitatis Ludensis, Neue Folge Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte Deutsche Zeitschrift für Philosophie Evangelische Theologie, Sonderheft Library of Hebrew Bible Neues Testament und Antike Kultur Oxford Paperbacks Revue de l’Université de Bruxelles Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam Religionemque pertinentia
Abkürzungsverzeichnis
SDSRL STusc TRT WKLGS ZAAK ZGB ZPT
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Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature Sammlung Tusculum Taschenlexikon Religion und Theologie Wissenschaftliche Kommentare zu lateinischen und griechischen Schriftstellern Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Zürcher Grundrisse zur Bibel Zeitschrift für Pädagogik und Theologie
Einführung Friedrich Wilhelm Horn und Ruben Zimmermann In der neutestamentlichen Wissenschaft war die Verhältnisbestimmung der soteriologischen zu den ethischen Aussagen innerhalb der Paulusbriefe unter den Stichworten Indikativ und Imperativ nahezu ein Jahrhundert lang unbestritten. Bereits im Jahr 1897 benutzte Paul Wernle in seiner einflussreichen Studie ‚Der Christ und die Sünde bei Paulus‘ diese Terminologie.1 Hans Windisch und Rudolf Bultmann folgten ihm darin bald in kleineren Einzelstudien,2 Letzterer auch in seiner die weitere Forschung nachhaltig bestimmenden ‚Theologie des Neuen Testaments‘ aus dem Jahr 1958.3 Als etwa zwanzig Jahre später unter dem Einfluss drängender Fragen nach ethischer Neuorientierung innerhalb der Gesellschaft mehrere Lehrbücher zur neutestamentlichen Ethik verfasst wurden, griffen auch sie auf das Raster von Indikativ und Imperativ zurück, um die Struktur der paulinischen Ethik zu beschreiben.4 Allerdings hatte sich zwischenzeitlich die Diskussionslage erheblich verschoben. Rudolf Bultmann hatte die materialethischen Fragen an sich nicht wirklich thematisiert. Ihm lag vielmehr an der Struktur der menschlichen Existenz im Glauben und am Verstehen des Handelns unter den Bedingungen des Glaubens. Jetzt aber wandte sich die Forschung den materialen Aspekten der Ethik konsequent zu und stellte die Ethik oder die Paränese der neutestamentlichen Schriften differenziert dar. Obwohl bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich war, dass die Aussagen 1
P. WERNLE, Der Christ und die Sünde bei Paulus, Freiburg i. Br./Leipzig 1897. H. W INDISCH, Das Problem des paulinischen Imperativs, ZNW 23 (1924), 265–281; R. B ULTMANN, Das Problem der Ethik bei Paulus, ZNW 23 (1924), 123–140 (wieder in: DERS., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 36–54). 3 R. B ULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchges. und erg. v. O. Merk, Tübingen 1984, 332–341. 4 Vgl. W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 5., neubearb. u. erw. Aufl. 1989, besonders 170–191; vgl. den Überblick bei F.W. H ORN, Ethik des Neuen Testaments 1982–1992, ThR 60 (1995), 32–86; außerdem K. KERTELGE (Hg.), Ethik im Neuen Testament, QD 102, Freiburg i. Br. u. a. 1984, darin etwa: J. E CKERT, Indikativ und Imperativ bei Paulus, 168–189; D. ZELLER, Wie imperativ ist der Indikativ?, 190–196; M. P ARSONS, Being precedes Act. Indicative and Imperative in Paul’s Writings, in: B.S. Rosner (Hg.), Understanding Paul’s Ethics. Twentieth Century Approaches, Grand Rapids 1995 (zuerst 1988), 217–249. 2
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der Texte und die Begründungsstruktur der Ethik mittels einer Zuordnung von Indikativ und Imperativ nur noch unzureichend beschrieben werden konnte, hielt man relativ unbeirrt an der Formel fest. Dies zeigt gewiss auch an, dass dieses Schema durchaus in einer bestimmten Zeit und Auslegungstradition seine Verdienste und seine Plausibilität hatte. Erst in den vergangenen Jahren wurde durch Knut Backhaus, Udo Schnelle, Folker Blischke, David Horrell, Hermut Löhr und Ruben Zimmermann eine massivere Kritik vorgetragen, die teilweise dazu aufforderte, von diesem Schema gänzlich Abstand zu nehmen. Welche Kritikpunkte aber berechtigen gegenwärtig dazu, sich jenseits von Indikativ und Imperativ zu positionieren? Knut Backhaus5 kritisiert, dass bislang Ethik stets als etwas Sekundäres, auf die Soteriologie Folgendes bestimmt wurde. Für Paulus aber stehe die Christusbeziehung im Mittelpunkt, die den gesamten Lebensbezug der Glaubenden umfasse. Auch Udo Schnelle und ihm folgend Folker Blischke6 erkennen bei Paulus einen umfassenden Seins- und Lebenszusammenhang für diejenigen, die sich in Christus befinden, der nicht künstlich nachträglich aufgeteilt werden könne. Außerdem verbinde sich mit dem Indikativ-Imperativ-Schema ein statisches Denken, welches die dynamischen Strukturen innerhalb der paulinischen Theologie missachte. David Horrell7 verknüpft Theologie und Ethik unter Verweis auf die Korrespondenzen zwischen Mythos, Ritus und Ethos innerhalb des Denkens des Apostels. Hermut Löhr8 verweist auf die vielfältigen Argumentations- und Begründungsstrukturen innerhalb der paulinischen Ethik, die mittels des überkommenen Indikativ-ImperativSchemas nicht zu erfassen sind. Ruben Zimmermann9 hat schließlich seine Kritik unter vier Dimensionen gegliedert, indem er den Textbefund, die Sachgemäßheit, die Theologie und die Sprach- und Moralphilosophie differenziert. Seine Kritik geht davon aus, dass das Indikativ-ImperativModell ein Forschungskonstrukt sei, das dem Textbefund widerspricht. 5
K. B ACKHAUS, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle u. a. (Hg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge, FS H. Hübner, Göttingen 2000, 9–31. 6 U. SCHNELLE, Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer/M. Meiser (Hgg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums, FS O. Merk, MThSt 76, Marburg 2003, 109–131; DERS., Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 629–644; F. BLISCHKE, Die Begründung und Durchsetzung der Ethik bei Paulus, AzBG 25, Leipzig 2007. 7 D.G. HORRELL, Solidarity and Difference. A Contemporary Reading of Paul’s Ethics, London 2005. 8 H. LÖHR, Ethik und Tugendlehre, in: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 2005, 151–180. 9 R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259–284.
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Das Schema suggeriere eine zeitliche oder logische Abfolge, es sei reduktionistisch und könne die Vielfalt und Dynamik der paulinischen Ethik nicht erfassen. Theologisch führe das Modell in erhebliche Aporien und missachte überdies die breite Anlehnung des Apostels an das allgemeine, konventionelle Ethos. Die Begründungsmuster der paulinischen Ethik seien vielfältig und von dem Modell in keiner Weise zu erfassen. Insofern schließt auch sein Beitrag mit der Aufforderung, sich von diesem Modell zu verabschieden, da es letztlich mehr Probleme schaffe, als es lösen könne. Auch wenn die Debatte vielfach am Beispiel der paulinischen Ethik geführt wurde, gelten die Kritikpunkte gleichermaßen für die Deskription der Ethik aller neutestamentlichen Schriften. Wenn sich aber das IndikativImperativ-Schema als grundsätzlich untauglich zur systematischen Erfassung neutestamentlicher Ethik erweist, stellt sich umso dringlicher die Frage, in welcher Weise die Begründung des rechten Tuns in den neutestamentlichen Schriften erfolgt oder retrospektiv analysiert werden kann. Alternative Zugänge der jüngeren Forschung, die die traditionsgeschichtlichen, theologischen, sprachlichen oder sozialgeschichtlichen Begründungen in den Mittelpunkt rückten,10 stehen in der Gefahr, sich nur auf Einzelaspekte zu beschränken oder die Frage nach Ethik in Richtung anderer Fragestellungen zu verschieben. Im Extrem wird hier sogar die Frage nach einer Ethik, im Sinne einer reflektierten Handlungsbegründung, ganz ausgeblendet und z. B. nur noch nach dem hinter den neutestamentlichen Schriften stehenden gelebten ‚Ethos‘ einer Gemeinde oder nach religionsgeschichtlichen Bezügen gefahndet. Obgleich die neutestamentlichen Texte keine Meta-Reflexion über Handlungsnormen oder gar eine systematische Handlungstheorie entfalten, ist in den einzelnen Schriften das Bemühen um reflexive und argumentative Begründung des rechten Tuns bzw. des Guten zu erkennen. In dieser Weise erscheint es unseres Erachtens gerechtfertigt, zumindest von einer ‚impliziten Ethik‘ der neutestamentlichen Texte zu sprechen. Anerkennt man diese Einschätzung, so ist der neutestamentlichen Wissenschaft die Aufgabe gestellt, die Begründungszusammenhänge dieser ‚impliziten Ethik‘ systematisch zu erfassen. Ruben Zimmermann hat hierzu eine Methodologie vorgeschlagen, die es ermöglichen soll, jenseits von Indikativ und Imperativ anhand von acht Kategorien die Handlungsbegründung in neutestamentlichen Schriften zu erfassen.11 10
Vgl. dazu die Diskussion bei ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, 265–272. 11 Vgl. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, 274–276; R. ZIMMER MANN, The “Implicit Ethics” of New Testament Writings. A Draft on a New Methodology for Analysing New Testament Ethics, Neotestamentica 43, (2009) (im Erscheinen).
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Folgende Aspekte können dabei unterschieden werden: 1. Sprachform: In welcher sprachlichen Gestalt begegnet die ethische Aussage? 2. Normen: Welche leitenden Normen und Handlungsmaximen werden genannt? 3. Traditionsgeschichte: In welchem traditions- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang stehen diese Normen? 4. Wertelogik: Welche Gewichtung der Normen, welche Wertehierarchie ist im Text erkennbar? 5. Begründungsform: Nach welcher ethischen Argumentationsweise erfolgt das ethische Urteil? 6. Ethischer Urteilsträger: Wer ist ethisches Subjekt bzw. ethischer Entscheidungsträger? 7. Gelebtes Ethos: Welchem konkreten Ethos korrespondiert oder widerspricht das ethische Urteil? 8. Geltungsbereich/Adressaten: Welche Nah- oder Fernhorizonte des ethischen Urteils sind im Blick?
Das vorgenannte Modell möchte unterschiedliche Zugänge zur Ethik in heuristischer Absicht vernetzen und darf nicht im Sinne einer linearen Schrittfolge missverstanden werden. Gleichwohl können und müssen einzelne Aspekte in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt werden. So gilt es z. B. zunächst maßgebliche Normen in einem Text wahrzunehmen (2.), bevor ich sie in ihren traditionsgeschichtlichen Kontext einordnen kann (3.). Ebenso setzt die Ermittlung einer Wertehierarchie (4.) eine genaue Analyse der sprachlichen Form des Textes (1.) voraus, die ihrerseits Übergänge zur rhetorischen oder logischen Gestalt der Argumentation und Begründung (5.) erlaubt. Die Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen in unterschiedlicher Weise auf das genannte Raster Bezug. Einige rücken einzelne Aspekte in den Mittelpunkt und fragen z. B. nach traditionsgeschichtlichen Hintergründen, sei es ganzer Schriftbereiche (z. B. Paulus und Epiktet bei U. Schnelle) oder einzelner Motive (z. B. ‚Zeitverständnis‘ bei Chr. Horn oder ‚Lebenskunst‘ bei M. Lang). Andere nehmen ethische Grundnormen und die damit verbundenen Argumentationsweisen (z. B. Güterabwägung im Eudämonismus bei H. Löhr) näher in den Blick. Wieder andere fokussieren die Sprachform (z. B. Ethik mit Narration bei E. Otto oder durch die Parabel-Gattung bei R. Zimmermann) oder Aussagen zum ethischen Subjekt (z. B. Anthropologie im Jakobusbrief bei K.-W. Niebuhr). Einige Beiträge versuchen auch das Raster in seiner Gesamtheit auf einen konkreten Textbereich anzuwenden (so z. B. auf die Feldrede des Lukas bei T. Engberg-Pedersen). Trotz der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen treffen sich alle Beiträge darin, dass sie Begründungszusammenhänge einer ‚impliziten Ethik‘
Einführung
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neutestamentlicher Schriften jenseits des simplifizierenden Rasters von Indikativ und Imperativ erschließen wollen. Der Band erhebt dabei nicht den Anspruch, dieses Feld bereits umfassend bearbeitet zu haben, sondern möchte ganz im Gegenteil die weiterführende Diskussion durch erste Gehversuche anregen. Bei der Konzentration auf Begründungszusammenhänge neutestamentlicher Ethik wird die derzeit in der Forschung vernachlässigte Frage nach den hinter den materialethischen Debatten und kontextuellen Äußerungen sichtbar werdenden Wertesystemen und deren argumentativer Legitimation zentral gewichtet. Werden auf diese Weise Handlungsnormen und Begründungsmuster neutestamentlicher Ethik systematisch und differenziert erfasst, kann die Frage, ob und wie die biblische Normenbegründung für gegenwärtige ethische Probleme anschlussfähig ist, sachgerechter hermeneutisch reflektiert werden.
Die Beiträge des Sammelbandes Maximilian Forschner stellt das Selbst- und Weltverhältnis des Weisen dar und fragt nach der stoischen Begründung des Guten und Wertvollen. Die prinzipiell eudämonistische, naturalistische und moralistische Ausrichtung wird vorausgesetzt. Ausgangspunkte der stoischen Ethik sind a) der physiko-theologische Weg, der von der Naturphilosophie her argumentiert. Forschner entfaltet diesen Erkenntnisweg im Anschluss an Ciceros Tusculanen V 69–72. b) Der zweite Weg orientiert sich an den Gütern oder an den Dingen, die Wert haben. Dies belegt der Beitrag in Bezugnahme auf einige Passagen der Ethik des Stobaeus, im Referat des Diogenes Laertius und in Ciceros Schrift de finibus. Hierbei wird auch das Problem des Zielund Mittelkonflikts bedacht. c) Der dritte Weg orientiert sich an der Oikeiosislehre. Nach stoischem Verständnis ist die Oikeiosis ein Prozess des schrittweisen Innewerdens von Vorhandenem als zu sich gehörig oder sich fremd bzw. abstoßend gegenüberstehend. Das Argumentationsziel der stoischen Oikeiosislehre besteht in der sittlichen Vollkommenheit der Seele des Weisen. Diese ist nach Seneca dem Menschen wahrhaft eigen und zugleich das vollkommene Ziel seines Lebens, weil sie das einzige Gut ist, das der Mensch auf absolute, unverlierbare Weise sein Eigen nennen kann und das, wenn er es besitzt, sein Glück auch tatsächlich vollendet. Die Ethik der Antike wird vielfach insgesamt als Glücksethik bzw. als eudämonistische Handlungslehre beschrieben. Hermut Löhr stellt deshalb die Frage, ob und inwiefern auch das Neue Testament innerhalb dieses Rasters eingeordnet werden kann. Obgleich das Lexem euvdaimoni,a im
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Neuen Testament nirgends vorkommt, könne man einen eudämonistischen Charakter der neutestamentlichen Ethik erkennen, besonders dann, wenn man den Eudämonismus hinsichtlich seiner Begründungsstrukturen in den weiteren Bereich der ethischen Güterlehre einordne. So werde etwa häufig die Frage nach dem höchsten Gut als Ziel des Handelns thematisiert und inhaltlich in der Reich-Gottes-Verkündigung oder formal z. B. in Gestalt von Makarismen konkretisiert. Löhr nennt weiter mancherlei neutestamentliche Texte, in denen eine reflektierte Güterabwägung zu erkennen sei bzw. ethisches Nachdenken zielorientiert, also teleologisch, ausgerichtet sei. Dies schließe die Vorstellung eines ethischen Fortschritts bis zur Vollkommenheit mit ein. Ethische Aussagen, die das Glück des Alltags im Blick haben, stehen neben Texten, die ethisch-theologische Argumentationsstrategien bewusst mit der soteriologischen Rede vom Heil oder anthropologischen Grundunterscheidungen zu vermitteln versuchen. Selbst die Leidensparänese steht für Löhr nicht im Gegensatz zur eudämonistischen Ausrichtung, sondern trage vielmehr zu ihrem spezifisch christlichen Profil bei. Manfred Lang greift das derzeit im Diskurs über antike Ethik beliebte Stichwort der Lebenskunst auf, die er als präfiguriertes Beziehungsethos definiert. Mit dem Begriff Beziehungsethos möchte er das allgemeine Gefüge bezeichnen, in das menschliches Handeln eingebunden ist. Dieses sei präfiguriert, d. h. es sei durch eine äußere Form sichtbar, in der sich eine Geisteshaltung widerspiegele. Lang rekurriert in seinem Beitrag zunächst auf die Lebenskunst-Entwürfe von Plutarch, Seneca und Philo von Alexandrien. Plutarch verwendet den Begriff der te,cnh peri. bi,on in seinen Tischreden, um auf eine kohärente und transparente Lebensführung hinzuweisen, in der durch Bilder und Erzählungen ein Zusammenhang von Urteilen und Handeln erzeugt werde. Seneca fokussiert das handelnde Subjekt, den artefix vivendi, der als denkender und handelnder Mensch in Gemeinschaft beschrieben wird. Nach Sen.ep. 90 sei es die Aufgabe des Menschen, das gottgeschenkte Leben unter einem sittlichen Anspruch und damit naturgemäß zu führen. Für Philo von Alexandrien wird das naturgemäße Leben durch eine Lebenskunst in Weisheit übertroffen, die einerseits dem göttlichen Willen entspreche, andererseits aber auf Nous, Logik und Physik basiere und gerade so ein tugendhaftes Leben ermögliche. Lang wendet sich nun dem Ethos im 1Petr zu, das vor dem Hintergrund dieser kulturhistorischen Signatur der Lebenskunst interpretiert werden könne, auch wenn der Brief selbst nicht den Terminus verwendet. Lebensführung sei durch die Person Jesu Christi präfiguriert (z. B. Leiden) und könne als Lebensbewältigungsstrategie beschrieben werden, die über die Gegenwart hinaus ins Eschaton reiche. Die Konsequenzen für ausgewählte Bereiche des Beziehungsethos (Sklaven, Frauen) werden
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ebenso benannt wie die Differenzen und Konvergenzen christlicher und paganer Vorstellung von Lebenskunst. Eckart Otto begreift die Aufgabe der Darstellung einer biblischen Ethik als ein konsequent historisches Unterfangen, das rein deskriptiv die antiken Reflexionen auf das Ethos, das in einer Gemeinschaft verbindlich sein soll, bedenkt. Zu unterscheiden ist zwischen Ethos und Ethik. Ethos ist als das an Werten und Normen ausgerichtete Handeln verstanden, Ethik aber als Reflexion auf ein derartiges Handeln unter den Gesichtspunkten der Legitimität oder Legitimation von Werten und Normen. Während Rechtsund Weisheitsüberlieferungen als Normenüberlieferungen vornehmlich einen Ort in der Ethik des Alten Testaments einnehmen, bringen narrative Überlieferungen, sofern sie nicht Rechtstexte legitimieren, vornehmlich ein Ethos zum Ausdruck. Otto möchte nun nach der Legitimation von Ethos in der Ethik fragen oder nach der Ethik als einer Theorie des Ethos. Hierzu untersucht er zunächst die narrative Begründung von Ethos im Pentateuch, sodann die narrative Begründung von Ethos in der Tempelrolle und im Jubiläenbuch und schließlich die narrative Legitimation von Ethos bei Paulus. Der Alttestamentler stimmt Ruben Zimmermann nachdrücklich zu, wenn er eine erneute Wiedereinführung der Kategorien von Indikativ und Imperativ zurückweist. Die letzten beiden Beiträge des ersten Teils konzentrieren sich auf Einzelfragen im Horizont der Ethik, sei es, dass Christoph Horn die ethische Dimension des Zeitbegriffs der antiken Philosophie und des Neuen Testaments vergleicht, sei es, dass Eckart Reinmuth die Anerkennungsdiskurse zum Alter untersucht. Ausgehend von gegenwärtigen Debatten über die demographische Entwicklung westlicher Industriegesellschaften wählt Eckart Reinmuth das Thema ‚Alter‘ als Paradigma eines kulturellen Konstruktes, an dem Begründungsstrukturen der Ethik sichtbar werden. Nach einer kurzen Reflexion des Theorems ‚Anerkennung‘ führt er Anerkennungsdiskurse zum Thema ‚Alter‘ aus der hellenistisch-römischen Antike (Cicero, Plutarch) sowie dem antiken Judentum (Philo, Ps-Phokylides, Josephus) vor. Angesichts einer ambivalenten Einschätzung des Alters in der Antike suchten die genannten Autoren auf unterschiedliche Weise nach rationalen Plausibilisierungen, um die Würdigung des Alters bzw. der Alten zu begründen. Während im hellenistisch-römischen Diskurs besonders die gesellschaftliche Nützlichkeit der Alten hervorgehoben wird, wird im antiken Judentum der Respekt vor der älteren Generation aus einer verallgemeinernden Applikation des Elterngebots, d. h. letztlich aus dem in der Tora gegebenen Willen Gottes abgeleitet. Es ist auffällig, dass das Neue Testament eine ausschließlich positive Bewertung des Alters zeigt, bei der gängige Werte und Tugenden aus den zeitgenössischen Anerkennungsdiskursen übernommen werden. Trotz der erkennbaren Analogien im
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antiken und gegenwärtigen Anerkennungsdiskurs könne der Blick auf die Antike vor allem in heuristischer und methodischer Weise die aktuelle Debatte befruchten, indem die kontextuelle und kulturelle Bedingtheit von Wertediskursen vor Augen kommt. Christoph Horn rückt das antike Zeitverständnis in den Mittelpunkt und setzt sich vor allem mit der von Philosophen wie Heidegger und Agamben vorgetragenen Einschätzung auseinander, dass das messianische Zeitverständnis des Neuen Testaments, insbesondere des Paulus, existenziell besonders angemessen sei und dabei im Kontrast zu einer objektivierenden Zeitvorstellung der zeitgenössischen hellenistisch-römischen Philosophen stehe (Kontrasthypothese). Horn differenziert zunächst vier Ebenen, auf welchen das Zeitphänomen von den vor- und nichtchristlichen Philosophen der Antike diskutiert wurde, sei es innerhalb eines a) naturphilosophischen, b) kosmologisch-physikalischen, c) geschichtsphilosophischen und d) moralisch-biographischen Problemkontextes. Seine These lautet, dass es auf den ersten drei Ebenen keine besondere Affinität zwischen dem Neuen Testament und den philosophischen Diskursen gebe, wohl aber auf der Ebene der Moralphilosophie. Die Kontrasthypothese basiere ferner auf der Einschätzung, dass die antike Philosophie, ausgehend von Aristoteles, die personale Zeiterfahrung in die Großperspektive eines Lebenskontinuums einordne und dabei ein inklusives Verständnis des Glücks zu erkennen gebe, während die moderne Existenzialphilosophie die Auffassung vertrete, dass die augenblickliche Selbstwahl mit ihren Momenten Unableitbarkeit, Fragmenthaftigkeit, Relativität etc. glücksadäquater sei. Heidegger und Agamben erkennen nun eine solche existenziell adäquate Reflexionsform des Zeitbesitzes schon bei Paulus und im frühen Christentum, was allerdings in späterer Rezeption verdeckt wurde. Horn kritisiert die existenziale Paulus-Interpretation, indem er auf Momente maßvoller Selbstlimitierung und rationaler Selbstkonstitution innerhalb paulinischer Ethik hinweist. Statt eines zur antiken Philosophie kontrastiven Zeitverständnisses zeige das paulinische Denken Analogien mit dem antiken Lebenskunstparadigma etwa der Stoiker, wie er unter anderem am Beispiel der Handlungsbegründung mit dem Motiv der Zeitverknappung bei Seneca (im Anschluss an Sen.ep. 12) und Paulus (z. B. Röm 13,1114) nachweist. Auch wenn sich die Beiträge des vorliegenden Bandes bewusst nicht auf die paulinischen Schriften beschränken wollten, kann doch die Handlungsbegründung des frühen Christentums in besonderer Weise an der Briefkorrespondenz des Apostels mit einigen Gemeinden wahrgenommen werden. So werden im zweiten Block Begründungsstrukturen bei Paulus in den Blick genommen. Eine Überleitung zwischen erstem und zweitem Teil
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stellen die beiden Beiträge von Udo Schnelle und Manuel Vogel dar, die das paulinische Denken traditionsgeschichtlich einzuordnen versuchen. Paulus vereint in seiner Person eine jüdische Herkunft und eine hellenistische Sozialisation. Udo Schnelle fragt, wie sich beides zum Ethikkonzept des Apostels verhält. Er setzt hierbei voraus, dass alle zentralen Begriffe des paulinischen Denkens eine jüdische und eine griechischrömische Geschichte haben und sich teilweise überlagern. Ein Vergleich des Paulus mit Epiktet soll die jeweiligen Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und Differenzen der ethischen Konzeptionen klären. Die Grundkonzeption des paulinischen Denkens ergibt sich für Schnelle aus der Logik von Transformation und Partizipation. Durch den Statuswechsel des Sohnes befinden sich auch die Glaubenden und Getauften in einem neuen Status der Gnade. Die Ethik des Apostels werde daher nicht vom autonomen Subjekt her entworfen, sondern von der Vorstellung der Teilhabe am neuen Sein. Hinsichtlich dieser Begründung gelangt Paulus zu einer neuen Existenz- und Zeitdeutung, die ihn grundlegend von einer hellenistischen Vernunftethik unterscheide. Der Ausgangspunkt des Stoikers Epiktet sei hingegen eine Selbsteinsicht, die zugleich Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen des Menschlichen ist, nämlich die Unterscheidung zwischen dem, was in unserer Macht ist, und dem, was nicht in unserer Macht ist. Neben den vielfältigen Gemeinsamkeiten der ethischen Systeme des Paulus und des Epiktet fallen gravierende Unterschiede auf. Paulus misst der Vernunft eine begrenzte Funktion bei, da die Macht der Sünde das menschliche Wollen des Guten konterkariert. Insofern kann Paulus nicht wie Epiktet ein Modell der ethischen Selbstwahrnehmung und Selbsteinsicht lehren, in deren Folge ein Prozess der ethischen Fortentwicklung entsteht. Schließlich hat das Liebesgebot bei Paulus eine exklusivere Stellung als bei Epiktet. Manuel Vogel stellt Stimmen und Gegenstimmen im hellenistischen Judentum zu der Frage, ob Tugend lehrbar sei, zusammen und schließt mit einem Ausblick auf Paulus. Ausführlich wird das 4. Makkabäerbuch vorgestellt, in dem Vogel das unüberhörbare Selbstbewusstsein des hellenistischen Judentums wiederfindet, demzufolge eine am Mosegesetz orientierte Lebensweise Modellcharakter für eine von der Unterordnung unter die Vernunft bestimmte Praxis hat. Bereits im Exordium des Werkes formuliert der Verfasser dieser Schrift die These von der Herrschaft des euvsebh.j logismo,j über die Leidenschaften, und der Beweis dieser These wird an den exempla der makkabäischen Märtyrer erbracht. Vogel erkennt hier einen Vernunftoptimismus, dessen letztes Ziel nicht die Eliminierung des Begehrungsvermögens, sondern seine Domestizierung ist. Völlig abweichend von dieser Position formuliert das 4. Esrabuch eine Geschichtsperspektive, die durch die beständige Anfälligkeit des Menschen für das Böse
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gezeichnet ist. Die gegebene Entscheidungsfreiheit zwischen Gut und Böse wird beständig einseitig zum Negativen ergriffen. Auch Paulus demonstriert in Römer 7 einen Schuld- und Zwangscharakter des ständigen SichVerfehlens des Menschen, welcher gerade durch das Gesetz provoziert wird. Allerdings fächert Paulus die menschliche Motivationsstruktur innerhalb der Ethik breiter auf und lehrt im Gegensatz zu 4. Esra keinen undifferenzierten Pessimismus. So ist für Paulus die Übermacht der Affekte auch nicht Ziel-, sondern Ausgangspunkt der Argumentation. Christof Landmesser nimmt den Begriff der impliziten Ethik in den Paulusbriefen auf. Um ihn zu verstehen, erinnert er an die Rahmenbedingungen, nämlich die Gewissheit des Heils und die Endlichkeit der Glaubenden und die mit beidem gegebene Strittigkeit des Handelns. Hinsichtlich der engeren Begründungsstrukturen möchte er die prominenten Begründungsfiguren identifizieren und spricht hierbei a) über das Christusgeschehen als Fundament der Ethik. Mit dieser fundamentalen Begründung der paulinischen Ethik ist tatsächlich das veränderte Leben gegründet in dem Sinne, dass es seinen Halt außerhalb seiner selbst im Handeln Gottes hat; b) über die lokalisierende (ekklesiologische) Begründung der paulinischen Ethik; c) über die mediale (pneumatologische) Begründung der paulinischen Ethik und d) über die temporale (futurischeschatologische) Begründung der paulinischen Ethik. Übergreifend allerdings sei in allen vier Dimensionen die Liebe zu nennen, die der umfassenden teleologischen Begründung der Ethik diene, ja die Liebe stelle durchaus den Hauptbegriff der paulinischen Ethik dar. David G. Horrell trägt im Anschluss an eine Untersuchung von 1. Korinther 5 ein Modell vor, das vom Identitätsbegriff ausgeht und eine Alternative zum Indikativ-Imperativ-Modell sein möchte. Was konstruiert christliche Identität in ihrer kirchlichen, überindividuellen Gestalt? Die Indikative greifen Formulierungen auf, die das Wesen oder eben die Identität der christlichen Gemeinde beschreiben. Die Imperative hingegen benennen eher die Lebensvollzüge dieser Gemeinde oder auch die Formen, in denen ihr Leben aufrechterhalten werden kann. Die ethischen Normen entsprechen hierbei weitgehend den allgemein akzeptierten ethischen Grundsätzen. Aber die Begründungen und Motivationen sind Teil eines auf die Schrift bezogenen christlichen Diskurses, der von der Voraussetzung ausgeht, dass die neue Identität der Mitglieder der christlichen Gemeinde in Christus besteht. Die Imperative bringen also nicht einfach die neue Identität zum Ausdruck. Dies wirft gerade in der Zeit der existentialen Interpretation ein oftmals übersehenes Licht auf den Sachverhalt, dass Paulus primär nicht eine Individualethik entwirft, sondern eine Gruppenethik, diejenige also der entstehenden christlichen Kirche.
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Die new perspective on Paul hat in den beiden vergangenen Jahrzehnten die deutsche, lutherische Paulusauslegung scharf kritisiert. Teil dieser Auslegung war bekanntlich die Darstellung der Ethik mittels des IndikativImperativ-Modells. Friedrich Wilhelm Horn fragt in seinem Beitrag nach der Darstellung und Begründung der Ethik des Paulus in der new perspective. Was sind ihre leitenden Motive? Vor allem die Paulus-Darstellung von James D. G. Dunn hält an dem überkommenen Modell fest, spannt es aber in einen von lutherisch geprägter Theologie unterschiedenen Rahmen ein. Dunn, ein Presbyterian, verweist auf seine Prägung durch die calvinistische Tradition. Die Rechtfertigung stellt in seiner Paulus-Darstellung den Anfangs- und Endpunkt eines Prozesses dar, der wiederum als Heiligung, als Erneuerung, als Transformation beschrieben wird. Auf diesem Weg spielt die Orientierung an den alttestamentlichen Geboten und den Weisungen Jesu eine wesentliche Rolle. Der tertius usus legis wird daher von Dunn selbstverständlich gelehrt und das Endgericht orientiert sich an der Ethik der Christen. Innerhalb der new perspective wird ein Modell der paulinischen Ethik entworfen, das betont in den Bahnen der calvinistisch reformatorischen Lehrbildung verbleibt. Der konfessionelle Standpunkt des Exegeten sollte daher bei der Würdigung seiner Arbeit stets mitbedacht werden. Friedrich Wilhelm Horn hält der new perspective vor, dass sie mit dieser einseitig theologisch ausgerichteten Rekonstruktion der paulinischen Ethik den gegenwärtig erreichten Diskussionsstand nicht wahrnimmt und würdigt. Im letzten Teil des Bandes werden schließlich Begründungszusammenhänge in weiteren Schriften des Neuen Testaments in den Blick genommen, wobei zunächst drei Beiträge unter je eigener Fragestellung die Evangelien Matthäus, Lukas und Johannes und zwei Erörterungen den Jakobusbrief zum Gegenstand haben. Der Band schließt mit einem Ausblick zu den ethischen Begründungszusammenhängen in altkirchlichen Schriften. Im Beitrag von Ruben Zimmermann wird die Sprachform der Ethik ins Zentrum gerückt. Dabei wird eine grundlegende Einsicht vorausgesetzt: Ethik bedient sich nicht nur der Sprache als Äußerungsmedium, sie vollzieht sich gerade auch durch und mit Sprache. Der ethische Gehalt sprachlicher Äußerungen ist hierbei keineswegs an die grammatische Form des Imperativs geknüpft, sondern kann sich auch durch ästhetische Sprachformen wie z. B. Gleichnisse realisieren. Der Beitrag versucht durch eine Anknüpfung an neuere philosophische Entwürfe die Frage in den weiten Horizont des Beziehungsgeflechts von Ethik und Ästhetik zu stellen. Welschs Wiederentdeckung der aisthesis, MacIntyres Rekurs auf Tugend und Nussbaums „Theorie des guten Lebens“ verbindet dabei nicht nur der Versuch einer Annäherung von Ethik und Ästhetik und der Rückgriff auf
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ethische Entwürfe der Antike, sondern auch die sprachliche Konstitution wie z. B. ‚Erzählbarkeit‘ von Ethik. Zimmermann weist am Beispiel der Parabel-Texte nach, wie gerade durch sprachliche Merkmale dieser Gattung, sei es die Narrativität, die Metaphorizität, der Realitätsbezug und die Appellstruktur ethische Reflexion und Wirkung erzielt werden. Applikationsfeld dieser Beobachtungen sind dann ausgewählte Parabeln im Matthäusevangelium. Wird hier eine „Ethisierung der Parabeln“ durch die matthäische Redaktion (z. B. Einleitungen, Schlüsse) allgemein anerkannt, so arbeitet Zimmermann besonders die „Ästhetisierung der Ethik durch Parabeln“ heraus, indem er auf die spezifisch parabolische Bearbeitung von ethischen Grundmotiven wie z. B. Reich Gottes, Gerechtigkeit oder Tora hinweist. Die Ethico-Ästhetik der matthäischen Parabeln durchbricht hierbei Begriffslogik und einfache Deutungsraster (wie das IndikativImperativ-Schema) und erweist sich als ganzheitliche, affektive und polyvalente Ethik. Troels Engberg-Pedersen leistet in seinem Artikel eine konsequente Anwendung des o. g. methodischen Rasters auf die Feldrede des Lukas (Lk 6,20–49). In einer detaillierten Analyse des Textes zeigt er auf, wie die Fragen nach der Sprachform (z. B. Weherufe oder Parabeln), den Normen (z. B. Gebot der Feindesliebe, Goldene Regel), der Begründungsstruktur (z. B. Logik des ca,rij-Systems) oder dem ethischen Urteilsträger (z. B. Jesus) usw. helfen können, die ethische Kohärenz des Abschnitts herauszuarbeiten. Engberg-Pedersen unterteilt die Feldrede in zwei Teile (Lk 6,20–38 und Lk 6,39–49), die sich vor allem hinsichtlich der Pragmatik und Adressatenschaft differenzieren lassen. Arbeitet der erste Teil die ethische Maxime des Gebens in Zuspitzung auf eine konkrete Zielgruppe heraus („altruistic doing“; „advice to teachers“), so zielt der zweite Abschnitt in eher universalistischer Ausweitung auf das Tun („universal exhortation to doing“). Beide Teile werden allerdings bewusst aufeinander bezogen: So wird die ethische Norm der einseitigen Wohltätigkeit durch das Motiv des himmlischen Lohns abgesichert, womit zugleich griechischrömisches Denken (z. B. ca,rij-System) und jüdische Traditionen (z. B. die Rede vom gnädigen Gott und Endgericht) verknüpft werden. EngbergPedersen kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass die Feldrede im Vergleich zur parallelen Bergpredigt des Matthäus in ihrer literarischen und argumentativen Gestalt zu Unrecht abgewertet werde. In expliziter Auseinandersetzung mit Hans Dieter Betz vertritt Engberg-Pedersen die Auffassung, dass die innere Kohärenz der Feldrede besonders hinsichtlich ihrer ethischen Begründungszusammenhänge aufgezeigt werden könne. Rainer Hirsch-Luipold knüpft zunächst an die Mehrheitsmeinung der Exegeten an, dass das Johannesevangelium und die Johannesbriefe kein Interesse an situativen Handlungsanweisungen haben und somit letztlich
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auch jede Form einer materialen Ethik vermissen lassen. Obgleich keine lebenspraktischen Anweisungen gegeben werden, sei das Johannesevangelium – so die These von Hirsch-Luipold – ein zutiefst ethischer Text. Die Frage nach dem (guten) Leben werde hier aber nicht durch Imperative beantwortet, sondern als „prinzipielle Frage“ nach der Herkunft des Lebens aufgefasst. Auch der sprachliche Befund unterstützt diese These, denn imperativische Sprachformen sind zwar vorhanden, werden aber im Ensemble anderer Begründungsformen relativiert bzw. in prinzipieller Weise auf die Orientierung an der in Christus gegenwärtig gewordenen göttlichen Liebe bezogen. In einer Reihe mit sieben Thesen entfaltet Hirsch-Luipold diese „prinzipiell-theologische Ethik“, die sich als geschichtliche, inkarnatorische, christologische und gemeinschaftsorientierte Handlungstheorie gestaltet. Erwägungen zum Verhältnis von Theologie und Ethik legt auch Matthias Konradt mit Blick auf den Jakobusbrief vor. In der traditionellen Sicht klaffen in diesem Schreiben beide Aspekte schroff und unverbunden auseinander und verbinden sich mit dem Vorwurf, das Schreiben lehre eine Werkgerechtigkeit und verstehe das Gesetz als einen Heilsweg. Demgegenüber zeigt diese Studie auf, dass das christliche Handeln im Jakobusbrief seine Grundlegung in der Einstiftung des wirkmächtigen Wortes findet und durch die Gabe der Weisheit gefördert wird. Das Wort Gottes wird im Jakobusbrief als Leben schaffende und Leben erneuernde Größe verstanden. Gleich einer Geburtsaussage hat Gott die Christen ins Leben geführt, indem er ihnen das Wort eingestiftet hat. Matthias Konradt beschreibt daher das geforderte christliche Handeln im Jakobusbrief als Ausdruck des Glaubens, das seine Plausibilität im Rahmen der aus dem Glauben folgenden Sicht der Wirklichkeit gewinnt. Die im Jakobusbrief angesprochenen Werke sind folglich eine Handlungsdimension des Glaubens und wo diese Handlungsdimension in Werken unterbleibt, liegt defizitärer Glaube vor. Wenn diese Korrelation zwischen dem Gottesbild und dem Ethos fehlt und in der Folge ein falsches Verhalten um sich greift, entsteht auf Seiten des Menschen eine Gespaltenheit, die in der Rede von den ‚Zweiseelern‘ ihren Ausdruck findet. Karl-Wilhelm Niebuhrs Beitrag zu Ethik und Anthropologie nach dem Jakobusbrief legt Wert auf den Ausgangspunkt, dass dieser Brief von seinem Selbstanspruch her als Brief des Herrenbruders Jakobus aus Jerusalem verstanden werden will. Die Anthropologie des Briefes sei durch ein Insistieren auf Ganzheitlichkeit gezeichnet, welche in der Überwindung jeglicher Gegensätzlichkeit zum Ausdruck komme. Orientierung findet der Glaubende in der von oben kommenden Weisheit und in dem Gesetz. Dieses begegnet nicht primär als Forderung, sondern eher als Forum, vor dem sich das Leben des Menschen vollzieht, geradezu als personales Ge-
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genüber des Menschen. Als Anwendungsfelder solcher Orientierung dienen dem Jakobusbrief die Bereiche der Sozialethik, der Sexualethik und der sog. Zungensünden. Diese Ausrichtung verbindet den Jakobusbrief mit einer weisheitlich-paränetischen Interpretation der Tora im Frühjudentum, unterscheidet ihn aber deutlich von jeglicher halachischen Interpretation, die etwa im rabbinischen Judentum bestimmend wird. Niebuhr erkennt in der Konzentration der Verhaltensausrichtung auf die Grundforderung der Liebe gegenüber Gott und dem Nächsten die Aufnahme eines Anliegens innerhalb frühjüdischer Toraparänese, welches für Jakobus allerdings durch die Verkündigung Jesu intensiviert worden sei. Die Ethik des Jakobusbriefes sei nur zu verstehen durch ihren theologischen Rückbezug auf Jesus als Ursprung und Maßstab für die christliche Verkündigung. Bereits im Präskript des Briefes komme dieser Anspruch durch die Selbstvorstellung des Autors zum Ausdruck. Darüber hinaus allerdings sei für den Jakobusbrief der Rückbezug auf die Glaubensüberlieferungen Israels unübersehbar und theologisch von zentraler Bedeutung. Nachdem das Christentum etwa bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts von den Vertretern paganer Philosophie kaum wahrgenommen worden war, entzündete sich ein erster Dialog besonders an Fragen der Ethik. Ulrich Volp wendet sich in seinem Beitrag den Schriften der sog. christlichen Apologeten Justin, Origenes und Makarios Magnes zu, die auf die Kritik paganer Philosophen an Glauben und Sittlichkeit der Christen reagierten. Justin wies dabei zunächst auf das ehrwürdige Alter der Lehren sowie die Loyalität der Christen gegenüber den römischen Behörden hin. In seiner Lehre vom Logos spermatikos gelang ihm eine Synthese aus Kosmologie, Inkarnationslehre und Ethik, die für das gesamte Denken der Alten Kirche eine bestimmende Rolle spielen sollte. Der Mensch sei durch den Logos zur Auferstehung und Erlösung fähig, weil er als vernunftbegabtes Wesen den Logos erkennen und entsprechend sittlich handeln könne. Volp diskutiert weiterhin zwei Auseinandersetzungen, wobei die Kritik der paganen Philosophen jeweils nur aus längeren zitierten Fragmenten innerhalb der christlichen Schrift rekonstruiert werden kann. Die erste Schrift ist das bekannte Werk Contra Celsum, in dem Origines zu den Vorwürfen des Kelsos gegen die fehlgeleiteten ethischen Prinzipien der Christen Stellung nimmt. Gegenüber dem Vorwurf der Irrationalität und Ablehnung einer stufenweisen Überwindung menschlicher Erkenntnisschwächen betont Origenes, dass gerade aus dem „vernunftgemäßen Staunen“ über die Welt die Möglichkeit für Ethik und Gotteslehre erwachse, die wiederum die Basis von der biblischen Offenbarungslehre lege. Indem Gotteserkenntnis als Angleichung an Gott beschrieben wird, fallen Erkenntnisweg und ethische Vervollkommnung in eins.
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Der Apokritikos des Makarius Magnes, den Volp auf das Ende des 4. Jahrhunderts datiert, enthält ebenso Fragmente eines anonymen Christentum-Kritikers, der vor allem der christlichen Ethik eine methodisch nachprüfbare und vernünftige Grundlage abstreitet. An vielen Beispielen werden die Gründergestalten Jesus, Petrus und Paulus als wankelmütig und widersprüchlich beschrieben. Ferner verwehre das Evangelium an unsittliche Arme und Sünder oder die Lehre von der Vergänglichkeit der Welt die Entfaltung einer vernunftbasierten Ethik. Inmitten unterschiedlicher Antwortstrategien des Makarius nimmt die Lehre vom göttlichen Heilsplan eine zentrale Stellung ein. Durch eine strikte Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf könne hierbei nicht nur die Begrenzung menschlicher Erkenntnis, sondern auch menschlichen Handelns erklärt werden. Ein christlicher Lebenswandel müsse sich zwar um Vergeistigung bemühen, letztlich bleibe der Mensch aber bis zum Jüngsten Tag in leiblicher Existenz und ethischen Verfehlungen gefangen. Die drei Auseinandersetzungen lassen erkennen, dass die Ethik als maßgeblicher Teil der Identität der christlichen Gemeinschaften betrachtet wurde. Es ist bezeichnend, dass die Kritiker zwar die Verbindung von Kosmologie und Ethik zu Recht erkennen, aber in einer einfachen Zuordnung etwa im Sinne des Indikativ-Imperativ-Schemas missverstehen. Die christlichen Entgegnungen hingegen versuchen unter Einbeziehung zeitgenössischer Ethik eine vernunftgemäße Begründung zu liefern, die das enge Ineinander von Ethik und Epistemologie, von Leben und (Gottes-) Lehre bzw. Glauben und Vernunft betont und in einer komplexen Verweisstruktur jenseits von Indikativ und Imperativ liegt.
Neutestamentliche Ethik im Dialog mit Ethiken im Vor- und Umfeld des Neuen Testaments
Das Selbst- und Weltverhältnis des Weisen Über die stoische Begründung des Guten und Wertvollen* Maximilian Forschner
Einleitung Die Ethiken des Hellenismus, genauer gesagt die stoische und die epikureische, wohl aber auch die peripatetische Ethik, waren, soweit dies eine fundierte Rekonstruktion des Inhalts der weitgehend verlorenen Originaltexte erkennen lässt, systematisch ausformulierte Doktrinen. Dies unterschied sie von den ethischen Reflexionen eines Platon und Aristoteles. Während diese in ihrer Gesamtstruktur noch ein eher diffuses, jedenfalls kein so ganz klares, eindeutiges und wohlgegliedertes Bild bieten, sind jene späteren auf strenge Einheit und Konsistenz ihres Konzepts praktischer Rationalität, ihrer Darstellung der Zielstruktur menschlichen Lebens und ihrer Empfehlungen der Behandlung ethischer Probleme aller Art bedacht.1 Dabei rühmte sich die Stoa ganz besonders der systematischen Gliederung und Stringenz ihrer Lehre. „Der bewundernswerte Aufbau dieser Lehre und die unglaubliche Ordnung der Sachverhalte haben mich mitgerissen“, so etwa die Dialogfigur Cato in Ciceros Darstellung der stoischen Ethik in De finibus bonorum et malorum.2 Die stoische Ethik, deren Begründungswege ethischer Werte und Normen hier vorgestellt werden sollen, lässt sich in ihrer prinzipiellen Ausrichtung als eudämonistisch, naturalistisch und moralistisch kennzeichnen.3 Sie ist eudämonistisch, insofern sie menschliche Bestheit (avreth,) bzw. Tugend und tugendhaftes Handeln im Rahmen der umfassenden Frage nach menschlichem Glück (euvdaimoni,a) erklärt und begründet. Die stoi*
Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags, der zuerst in Méthexis 17 (2004), 55–69, unter dem Titel: Über die stoische Begründung des Guten und Wertvollen erschienen ist. 1 Vgl. N. WHITE, Individual and Conflict in Greek Ethics, Oxford 2002, 294–326. 2 Cic.fin. III, 74. 3 Vgl. T.H. IRWIN, Stoic Naturalism and its Critics, in: B. Inwood (Hg.), The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, 345–364.
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sche Bestheit ist jene Disposition, die den Menschen zur Führung eines umfassend guten, eines vollendeten Lebens befähigt und geneigt macht. Der skotistische und kantische Gedanke, dass der Begriff des für das Handeln einer Person moralisch Richtigen vom Blick auf das für das Leben dieser Person Bekömmliche und Beglückende zu abstrahieren hat, ist der Stoa durchaus fremd.4 Die Stoa schreibt keine Pflicht-, sondern eine Strebens- und Glücksethik. Die stoische Ethik ist naturalistisch, insofern sie sich an der (vorgegebenen) Natur des Menschen und der (vorgegebenen) Struktur des Kosmos orientiert und das Ziel menschlichen Lebens in Begriffen der Übereinstimmung mit sich selbst im Gleichklang mit der Allnatur bestimmt. Sie ist naturalistisch auch darin, dass sie wohl ihre sämtlichen ethischen Grundbegriffe und namhaft gemachten elementaren ethischen Sachverhalte auch mit den entsprechenden physiologisch-physikalischen Begriffen und Sachverhalten zu unterlegen bestrebt war. Sie ist schließlich moralistisch, insofern sie die (nicht nur, aber auch moralisch verstandene) Bestheit zum höchsten, zum vollendeten, ja zum ausschließlichen Gut des Lebens erklärt und den Tugendhaften unter allen möglichen Lebensumständen glücklich sein lässt. Wichtig ist allerdings, den „Moralismus“ der Stoa (nicht von Kant her, sondern) von einem Tugendbegriff aus zu verstehen, der (nach der Vorgabe Platons) nicht nur charakterliche, sondern auch geistige Exzellenz umfasst. Eudämonismus, Naturalismus und Moralismus markieren nur verschiedene Aspekte der systematischen Einheit der stoischen Ethik. Die markantesten Formeln „Allein das sittlich Gute ist gut“ (mo,non to. kalo.n avgaqo,n )5 und „In Übereinstimmung (mit der Natur) leben“ (o`mologoume,nwj $th/| fu,sei% zh/n)6, die oberste Wert- und die oberste Norm-Formel, sind nur im Zusammenhang verständlich und plausibel; und sie sind dies, das gilt es mit Nachdruck zu betonen,7 allein vor dem Hintergrund eines pantheistischen Naturverständnisses und Lebensgefühls. Dieses pantheistische Na-
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Dies sei entgegen manch anderslautenden Erläuterungen des stoischen Begriffs des kaqh/kon bzw. officium in der Literatur betont. 5 Vgl. SVF (= H. VON ARNIM (Hg.), Stoicorum Veterum Fragmenta I–IV, Repr. Stuttgart 1964) III, 29–37. 6 Vgl. SVF I, 179; D.L. VII 87; Stob. II 75, II. Wa. 7 In der Darstellung der stoischen Ethik von M. H OSSENFELDER, Die Philosophie der Antike 3: Stoa Epikureismus und Skepsis, in: W. Röd (Hg.), Geschichte der Philosophie III, München 1985, 45–68, spielt der Pantheismus der Stoa keine wesentliche Rolle. Sie verfehlt damit, wie mir scheint, einen entscheidenden Plausibilitätsaspekt dieser ansonsten paradox anmutenden Ethik ebenso wie einen Aspekt, der sie von den konkurrierenden Ethikkonzepten des Peripatos, der Skepsis und des Epikureismus grundlegend unterscheidet.
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turverständnis und Lebensgefühl der Stoa ist im Zeushymnus des Kleanthes8 für uns noch in einem Originaltext eindrucksvoll greifbar. Die Stoa hat methodisch von verschiedenen Ausgangspunkten aus ihr ethisches System entwickelt und für dessen wesentliche architektonische Teile argumentiert. Den einen Weg mag man (im Anschluss an einen kantischen Sprachgebrauch) den physiko-theologischen nennen. Er betrachtet die Naturphilosophie als Basis der Ethik, und zwar deswegen, weil jemand, der der Natur entsprechend leben soll, von der ganzen Welt seinen Ausgang nehmen muss und von ihrer Lenkung. Kann doch in der Tat niemand über Gutes und Schlechtes richtig urteilen, wenn er nicht die ganze Struktur der Natur und auch des Lebens der Götter erkannt hat und (dadurch weiß), ob die Natur des Menschen mit der Allnatur übereinstimmt oder nicht. 9
Der zweite Weg ist der der Einteilung der wertvollen Dinge (ta. avxi,an e;conta), die über die sehr modern anmutende Argumentationsfigur eines Gedankenexperiments erreicht wird. Er ist im Abriss der stoischen Ethik des Arius Didymus bei Johannes Stobaeus und an einigen Stellen in Ciceros Werk De finibus greifbar. Er bietet sowohl eine grundlegende Einführung unserer Rede von Gütern überhaupt als auch eine Liste des selbstwerthaft Guten. Der dritte Weg liefert zusätzlich zur Leistung des zweiten eine Begründung der Inkommensurabilität und des singulären Rangs des sittlich Guten (to. kalo,n, honestum). Es ist dies die sog. Oikeiosislehre. Sie ist für uns am besten bei Cicero10, bei Diogenes Laertius,11 bei Seneca,12 und in der Ethischen Elementarlehre des Hierokles13 erhalten. Sie rekonstruiert die Stufen der sittlichen Entwicklung des Menschen; sie versucht auf methodisch verschlungene Weise apriorischer und empirischer, deskriptiver und normativer Argumentation aus der unpervertierten Natur des Menschen und der Entwicklung natürlicher Neigungen das Endziel des menschlichen Lebens als eines Daseins in sittlicher Konstanz und Selbstständigkeit darzutun. Ich stelle im Folgenden diese drei Wege der Reihe nach vor.
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SVF I, 537. Cic.fin. III 73. 10 V. a. Cic.fin. III 16–21.62–68. 11 D.L. VII 85–86. 12 Sen.ep. 76; Sen.ep. 121. 13 H IEROKLES, Ethische Elementarlehre, hg. v. H. von Arnim, Berliner Klassikertexte 4, Berlin 1906. 9
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I Den Stoikern ist der Kosmos als Ganzer das Göttliche. Das Universum in seiner statischen und prozessualen Ordnung gilt ihnen als das absolut Wertvolle.14 Man kann dementsprechend den Wert von irgend etwas im menschlichen Leben nur bestimmen vor dem Hintergrund der Erkenntnis der Göttlichkeit des Kosmos. Die Erkenntnis der Struktur des Kosmos und die Erkenntnis der Ordnungsmuster, nach denen die Dinge gestaltet und die Ereignisse geregelt sind, vermittelt dem Menschen die Erkenntnis dessen, was für ihn in concreto als wertvoll zu gelten hat.15 Ferner gehört, wie etwa Seneca oder Sextus Empiricus mit Nachdruck betonen, zu den Kerndogmen stoischer Wertlehre: Was gut ist, und nur was gut ist, ist nützlich.16 Der wahre Nutzen von etwas bemisst sich durch seinen Beitrag zum glücklichen Leben. Der stoische Weise realisiert vollendetes Menschsein, wird glücklich dadurch und nur dadurch, dass er sich kognitiv, konativ und emotiv zum Kosmos ins rechte Verhältnis, nämlich in das des Gleichklangs und der Übereinstimmung (der homologia) setzt. Auf Ciceros Zeugnis in De finibus, dass nach dem Urteil der Stoiker jeder, „der im Einklang mit der Natur leben will, seinen Ausgang von der ganzen Welt und von ihrer Verwaltung nehmen muss“, wurde bereits eingangs verwiesen. Nach stoischer Lehre ist demnach Physik als seelische Disposition eine Grundtugend des Weisen.17 Nach Plutarchs Zeugnis18 hat Chrysipp jeden Traktat über Ethik mit einem Vorwort über Zeus, über Schicksal und Providenz begonnen. Er pflegte zu sagen, dass es keinen anderen oder geeigneteren Weg zur Theorie des Guten und Schlechten oder der Tugend oder des Glücks gebe als im Ausgang von der Universalnatur und der göttlichen Weltverwaltung. Die göttliche Dimension der Wirklichkeit ist dem Stoiker primär in der Ordnung der Himmelssphären fassbar. Dem entspricht, was in Darstellungen der stoischen Ethik häufig übersehen wird, die tragende Rolle, die die Theoria im Leben des stoischen Weisen spielt.19 Die Naturbetrachtung, speziell die Astronomie und die mit ihr zum Teil in eins fallende Theolo14
Vgl. SVF II, 641 = Cic.n.d. II 38–39; vgl. SVF II, 549f.1009. Vgl. W HITE, Individual and Conflict (s. Anm. 1), 312 f.; Cic.fin III 73. 16 Vgl. Sen.ep. 117, 2; A.A. Long/D.N. Sedley, The Hellenistic Philosophers I: Translations of the principal sources with philosophical commentary, London 1987, 60 GS 371 = Sext.Emp.math. XI 22–26 17 Vgl. Cic.fin. III 73. 18 Plut.Stoic. 1035 B–D. 19 Vgl. dazu ausführlich M. FORSCHNER, Theoria and Stoic Virtue, in: Th. Scaltsas/A.S. Mason (Hgg.), The Philosophy of Zeno, Larnaca 2002, 259–290, deutsch unter dem Titel: Theoria und stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae disputationes V, ZPhF 53/2 (1999), 163–187. 15
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gie, ist dem erhabenen Geist des Weisen natürliche Nahrung: erigimus, altiores fieri videmur, humana despicimus cogitantesque supera atque caelestia haec nostra ut exigua et minima contemnimus, so Cicero über den (skeptischen und) stoischen Weisen in den Akademischen Abhandlungen Lucullus.20 Die Erforschung und meditative Betrachtung der himmlischen Ordnung bildet die Seele und verschafft die richtige Lebenseinstellung; sie relativiert und minimiert das Gewicht alles Irdischen und erhebt uns ins Göttliche. Die Stoa vertritt keinen Primat der praktischen Philosophie. Die gegenteilige Auffassung ist ein eingewurzeltes Missverständnis, das sich wesentlich der Lektüre spätstoischer ethischer Texte mit neuzeitlichen, speziell mit kantischen Augen verdankt. Der stoische Tugendbegriff ist, nimmt man etwa den Zeushymnus des Kleanthes ernst, von seinem Ursprung her nicht dominant moralisch geprägt. Die Stoa übernimmt, in engem Anschluss an Platons Timaios, den alten naturphilosophischen Begriff der Weisheit, der „die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge und die Einsicht in die Ursprünge und Ursachen aller Erscheinungen“ zum Inhalt hat.21 „Wissen um die göttlichen und menschlichen Dinge“ lautet denn auch die vielfach belegte stoische Weisheitsformel.22 In Senecas Naturales Quaestiones wird gar die moralisch verstandene stoische virtus funktional auf die Theoria bezogen: virtus enim ... animum laxat et praeparat ad cognitionem caelestium.23 Die Naturales Quaestiones befassen sich exklusiv mit der (kosmologischen) Erkenntnis der Gottheit, deren Wesen sich in stoischen Augen als vollendetes Vernunft-Sein erweist und somit als Paradigma für die Herausbildung einer ebenso perfekten Seele des Menschen fungiert. Dass in stoischer Sicht Theoria eine selbstwerthafte Tätigkeit ist, ja im Zentrum dessen steht, wozu Tugend befähigt und geneigt macht, ein Tun, das seinerseits (im Sinne eines selbstverständlichen Begleitphänomens) das moralisch-praktische Gutsein des Weisen in den konkreten Lebenssituationen zur Folge hat, belegt schließlich ein genauerer Blick in das V. Buch von Ciceros Tusculanen. Die Abschnitte V, 69–72, erläutern Inhalt und epistemisch-genetische Ordnung, in dem bzw. der sich die stoische Weisheit aufbaut und betätigt.24 An die erste Stelle setzt der Text die Erforschung und Betrachtung der Sphärenbewegung, des Fixsternhimmels und der Planetenbewegung, also im Wesentlichen Astronomie. An ihr entzündet sich zweitens die Prin20
127/8. Cic.Tusc. V 7. 22 Vgl. SVF II, 35f.; Sen.ep. 8, 6. 23 Lib. I pr. 6. 24 Als weniger ausführliche Parallele zu diesen Abschnitten wäre Cic.n.d. II 153 anzusehen. 21
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zipienforschung,25 die sich auf die Ausgangspunkte und „Samen“ (initia et tamquam semina) von allem, was entstanden ist, bezieht, den Ursprung und die kosmische Stellung der Erde erfasst und die generisch verschiedenen Formen des Entstehens, Seins und Vergehens der Dinge auf ihr nachzeichnet. Der intensiven Meditation (haec tractanti animo et noctes et dies cogitanti, V, 70) über die Einheit und Vielfalt des Seins und seine schöne, gesetzliche Ordnung (die auch die kosmologische Stellung des Menschen betrifft) entspringt drittens die Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes, der sich nach Ursprung und Natur dem göttlichen Geist als wesensgleich erfasst, sich mit ihm verbunden weiß und aus diesem Bewusstsein der Einheit ein Gefühl unerschöpflicher Freude bezieht.26 Dem Bewusstsein, Geist vom göttlichen Geist zu sein, verdankt sich im Menschen als einem endlichen Vernunftwesen viertens das Bestreben zur imitatio dei. Die Verwirklichung dieses Wunsches hat verschiedene Aspekte.27 Zunächst (und, wie ich meine, vor allem) einen theoretischen (sc. die Frucht der sapientia im engeren Sinn): Der Mensch stellt in seinem Geist in sprachlich-gedanklicher Form die kausale Kraft und strukturelle Ordnung der göttlichen Weltverwaltung dar und hebt sich selbst durch die meditative Betrachtung und Verinnerlichung dieser erkennenden Darstellung über die Begrenztheit seines Lebens in die Dimension göttlicher Ewigkeit.28 Dann einen emotiven (sc. die Frucht der stoischen Affektfreiheit): Mit dem Eintritt in diese Dimension gewinnt der Mensch die Heiterkeit göttlicher Ruhe, Distanz und Gelassenheit gegenüber den menschlichen Angelegenheiten;29 er blickt 25 Cic.n.d. V 69: horum nimirum aspectus impulit illos veteres et admonuit ut plura quaererent. 26 Cic.n.d. V 70: Haec tractanti animo et noctes et dies cogitanti existit illa a deo Delphis praecepta cognitio, ut ipsa se mens agnoscat coniunctamque cum divina mente se sentiat, ex quo insatiabili gaudio compleatur. 27 In Acad. libri. Lucullus 23 ist von zwei Aspekten die Rede, nämlich davon, dass in den (stoisch verstandenen) Tugenden und in ihnen allein einmal scientia (im Sinne einer stabilis et immutabilis comprehensio rerum) und zum anderen sapientia (im Sinne einer constans ars vivendi) enthalten sei. Da es hier um ein erkenntnistheoretisches Argument geht, bleibt der emotionale Aspekt ausgespart. 28 Cic.n.d. V 70: ipsa enim cogitatio de vi et natura deorum studium incendit illius aeternitatem imitandi neque se in brevitate vitae conlocatam putat, cum rerum causas alias ex aliis aptas et necessitate nexas videt, quibus ab aeterno tempore fluentibus in aeternum ratio tamen mensque moderatur. N. W HITE, The Role of Physics in Stoic Ethics, The Southern Journal of Philosophy 23 (1985), 57–74, obgleich selbst der (interpretationsbedürftigen) Meinung, das primäre Ziel der meisten Stoiker sei die Formulierung einer Ethik gewesen (57), betont völlig zu Recht, dass die Tugend des Weisen, deren Aktualität mit der Formel o`mologoume,nwj zh/n beschrieben wird, zunächst meint, „that one’s soul actually reflects the pattern of nature, in the sense of comprehending it“ und dann, dass „one’s activities are ordered by that condition of soul“ (67). 29 Cic.n.d. V 71: Haec ille intuens atque suspiciens vel potius omnis partis orasque circumspiciens quanta rursus animi tranquillitate humana et citeriora considerat!
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auf sie herab (despicere). Und schließlich den ethischen (sc. die Frucht der prudentia): Er erkennt, was (im Kosmos und) für seine Natur das höchste Gut und das äußerste Übel ist, worin Tugend, die Vollendung seiner Disposition zur Aktualisierung dieses Gutes besteht und worauf letztlich alle officia des täglichen Lebens zu beziehen sind.30 Entscheidend für das stoische Konzept ist: Aus der (schrittweisen) meditativ-reflexiven Erkenntnis der Gesamttugend erwachsen und erblühen auch realiter die Arten und Teile der Tugenden31. Der Abschnitt 72 soll nun davon handeln, was sich aus der Weisheit, der Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge für die praktische Lebensführung des Weisen ergibt.32 Er spricht ausdrücklich davon, dass es für den Weisen die Vollendung seines Selbstverständnisses darstellt zu sehen, dass der Nutzen der Bürger in seiner prudentia eingeschlossen ist.33 Allerdings gibt er über die Auskunft hinaus, dass das Können des wissenschaftlichen Erfassens und Ordnens der Dinge (disserendi ratio et scientia) von höchstem praktischen Nutzen ist, keine Antwort auf die Frage, wie nach stoischem Verständnis die praktische Klugheit entsteht und mit der Weisheit zusammenhängt. Eine wohl nicht völlig befriedigende Antwort auf diese Frage bietet im Rahmen der vorhandenen Texte zur stoischen Philosophie nur Ciceros De officiis. Sicher scheint mir jedenfalls zu sein, dass in der Verhältnisbestimmung von Theoria und sittlicher Praxis der Stoa vor allem das späte platonische Philosophieren (etwa des Timaios und der Nomoi) zum Vorbild diente und dass es schlicht falsch ist, der Stoa im Sinne Kants einen Primat der praktischen Philosophie zuzuschreiben, einen Primat, der die kritische Verabschiedung der Möglichkeit einer objektiv-teleologischen Naturbetrachtung zur Voraussetzung hat.
II Die Realisierung von Tugend (avreth,) macht für die Stoa im Blick auf den Menschen das aus, was überhaupt gut genannt zu werden verdient.34 Sie verteidigte diesen prima facie paradoxen Grundsatz in drei verschiedene Richtungen: einmal gegen den epikureischen Antipoden, der das sittlich 30
Cic.n.d. V 71: quo referenda sint officia. Cic.n.d. V 71: hinc illa cognitio virtutis existit, efflorescunt genera partesque virtutum (Hervorh. M. F.); invenitur, quid sit quod natura spectet extremum in bonis, quid in malis ultimum, quo referenda sint officia, quae degendae aetatis ratio deligenda. 32 Vgl. Cic.n.d. V 71: quae degendae aetatis ratio deligenda. 33 Cic.n.d. V 72: quid eo possit esse praestantius, cum contineri prudentia utilitatem civium cernat. 34 Vgl. SVF III, 29–37. 31
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Gute (to. kalo,n, honestum) als faktisch unverzichtbares Mittel zur Realisierung eines lustvollen bzw. erfreulichen Lebens (to. h`du,, iucundum) behandelte;35 zum Zweiten gegen den akademisch-peripatetischen Gegner, der das sittlich Gute als objektiv vorzügliches, ja notwendiges, aber (zum glücklichen Leben) nicht hinreichendes Gut unter Gütern verstanden wissen wollte;36 und schließlich gegen Ariston von Chios, den Feind aus den eigenen Reihen und gegen eine radikale pyrrhonische Skepsis, die die Exklusivität der Tugend dahingehend deuteten, dass aus ihr eine völlige Gleichgültigkeit zeitlicher, welthafter, der mentalen Einstellung äußerlicher Sachverhalte folgt.37 Die Stoa wollte das Wertprädikat „gut“ (avgaqo,n) ausschließlich auf „Tugend und das, was an ihr teilhat“ (avreth. kai. to. mete,con avreth/j)38 angewandt wissen. Mit der Wendung „was an Tugend teilhat“ ist dabei all das gemeint, was mit dem Vorliegen von Tugend als Disposition an Aktuellem notwendig verbunden ist: gutes Handeln (euvpraxi,a) und gutes seelisches Befinden (euvpa,qeia) sowie die Gemeinschaft und Freundschaft der Gleichgesinnten (fili,a). Die allgemeinere Redeweise von Dingen und Sachverhalten, die wir schätzen und die in irgendwelcher Hinsicht Wert besitzen, wurde (wohl von Anfang an)39 mit den Ausdrücken avxi,a( avxi,an e;conta bestritten. Die orthodoxe Stoa hat sich mit Entschiedenheit dagegen gewandt,40 aus ihrem Grundsatz, dass nur das sittlich Gute gut ist, auf eine absolute Gleichgültigkeit der zeitlichen und verlierbaren Dinge zu schließen. Diese bilden vielmehr das unverzichtbare „Material“, in dem der Tugendhafte sich (zeitlich) äußert und betätigt. Wer diesen Dingen jeden objektiven Wert abspricht, begibt sich der Möglichkeit der vernünftigen Wahl und des vernünftigen Umgangs mit ihnen. Doch das sittlich Gute und die zeitlichen Dinge und Sachverhalte sind wertvoll auf höchst verschiedene Weise; und entsprechend unterscheidet die Stoa zwischen verschiedenen Modi des angemessenen Erstrebens und Wertschätzens von etwas. Welthafte, zeitliche, dem vernünftigen Subjekt selbst äußere Sachverhalte sind niemals absolut wertvoll; sie gilt es niemals absolut zu erstreben (expetere), sondern nur (auf reservierte, vorbehalthafte Weise, mediocri aestimatione)41 zu nehmen (sumere, lamba,nein), wenn sie sich bieten, ohne in seelische Unruhe und Schmerz zu verfallen, wenn sie sich nicht bieten oder wieder entschwin35 36 37 38 39 40 41
Vgl. Cic.off. III 12; Cic.fin. II. Vgl. etwa Cic.off. III 11.20. Vgl. etwa SVF I, 361 = Sext.Emp.math. XI 64–67. Vgl. SVF III, 29–37. Vgl. SVF I, 192 = III, 128; vgl. III, 126. Vgl. etwa Cic.fin. II 50 ff. Cic.fin. III 53.
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den. Man erstrebt sie unter Umständen mit dem Einsatz aller zur Verfügung stehenden Kräfte, und es gehört zur Zielbestimmung menschlichen Lebens, das im Zeitlichen der Natur und Lebenslage des Menschen „Gemäße“ und „Passende“ unter Aufbietung aller Kräfte zu erstreben; aber es gehört ebenso zur Zielbestimmung menschlichen Lebens, in seiner Einstellung gegenüber dem Erfolg oder Misserfolg seines Bemühens um äußere Sachverhalte immun zu sein. Der stoische Weise wird in seiner Wohlbefindlichkeit nicht affiziert, wenn sein Bemühen um das Bestehen eines zeitlichen Sachverhalts scheitert oder wenn ihm etwas widerfährt, was seinen welthaften Zielen entgegensteht. Über die stoische Rede von Dingen, die Wert haben (ta. avxi,an e;conta), und ihre Einteilung42 informieren uns Passagen im Abriss der stoischen Ethik bei Stobaeus,43 im Referat des Diogenes Laertius44 und in Ciceros Werk De finibus.45 Stobaeus (SVF III, 124) berichtet, alle naturgemäßen Dinge (ta. kata. fu,sin) hätten Wert (avxi,an e;cein) und alle naturwidrigen Dinge (ta. para. fu,sin) hätten Unwert (avpaxi,an e;cein). Unter den naturgemäßen Dingen verstand die Stoa alle Objekte und Sachverhalte, die unser natürliches, unpervertiertes Streben als positive Ziele irgendwie anzuziehen und zu bewegen vermögen; und naturwidrige Dinge sind entsprechend all jene, die unsere natürliche, unpervertierte Aversion erregen (die o`rmh/j bzw. avformh/j kinh,tika)46. Und vom Wert, so Stobaeus, werde in der Stoa auf dreifache Weise gesprochen: (a) im Sinne der Schätzung und Ehre an sich (th,n te do,sin kai. timh.n kaqV au`to,); (b) im Sinne des Schätzwerts des sachkundigen Prüfers (th,n avmoibh.n tou/ dokimastou/); (c) und schließlich in einem dritten, von Antipater von Tarsos eingeführten Sinn des Vorzugswerts (th,n evklektikh.n [sc. avxi,an]), demgemäß wir, wenn die Dinge gegeben sind, das eine statt des anderen wählen wie Gesundheit statt Krankheit, Leben statt Tod und Reichtum statt Armut. Für die ersten beiden Formeln bieten Stobaeus und Diogenes Laertius kurze Erläuterungen, auf die ich später eingehen werde. Die Frage ist zunächst, worin der Sinn der dritten Formel besteht, die der Stoiker Antipater 42
Vgl. dazu ausführlicher M. FORSCHNER, Monon to kalon agathon – Oder von der Gleichgültigkeit des Wertvollen in der Stoischen Ethik, Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 21 (1995), 125–146. 43 SVF III, 124f. = Stob. II 7, p. 83, 10–84, 17 Wa. 44 SVF III, 126 = D.L. VII 105. 45 Cic.fin. III, 17.36f. 46 Vgl. Stob. II 7, p. 82, 7–8 Wa.
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von Tarsos ergänzt haben soll. Er besteht, wie ich meine, in einer präzisen Einführung ebenso wie in einer gelungenen Begründung der objektiven Geltung des substantivischen Gebrauchs von „gut“, der allgemeinen Rede von Gütern im Sinne von wertvollen Dingen und Sachverhalten.47 Wir gebrauchen das Wort „gut“ (heute wie damals) substantivisch in Sätzen der Form „X ist ein Gut“, wobei für X Ausdrücke wie „Leben“, „Gesundheit“, „Schönheit“, „Stärke“, „Macht“, „Besitz“, „Ansehen“ „Intelligenz“, „Freiheit“, „Moralität“ etc. stehen. Um Bedeutung und Begründbarkeit solcher wertender Urteile zu klären, versetzen wir uns am besten in eine Situation, in der wir jeweils innerhalb eines Paares konträrer Gegensätze zu wählen haben. Die Gegensatzpaare sind isoliert zu betrachten; es stehen jeweils nur diese beiden gegensätzlichen Möglichkeiten zur Wahl; und es sollen keine weiteren relevanten Gesichtspunkte hinzukommen. Die Frage lautet dann nur, welche der beiden gegebenen Möglichkeiten wir wählen würden. Die Antwort liegt jeweils auf der Hand: Wir möchten lieber leben als tot sein, lieber stark als schwach, lieber gesund als krank, lieber schön als hässlich, lieber intelligent als dumm, lieber reich als arm, lieber gut als schlecht etc. Die Antipater-Ergänzung passt genau zu dieser Art einer grundlegenden Einführung unserer Rede von Gütern. Offensichtlich ist im Stobaeus-Text eine isolierte Wahlsituation ins Auge gefasst. Die konträren Gegensatzpaare48 sollen jeweils für sich allein sprechen; und sie sind, eben als konträre Paare, für den unterstellten Einführungszweck unerlässlich; nur so ist es möglich, voneinander abgegrenzte Klassen von wertvollen, wertwidrigen und (im Falle der Unentscheidbarkeit) von gleichgültigen Dingen (kaqa,pax avdia,fora) zu konstituieren. Das Gedankenexperiment einer Wahl zwischen isolierten Gegensatzpaaren soll offensichtlich dem Aufweis ursprünglicher, unpervertierter und in diesem Sinn natürlicher Neigungen mit entsprechenden Handlungszielen dienen. Die entsprechenden Behauptungen lassen sich verstehen als durch sich selbst einsichtig, keiner weiteren Begründung mehr fähig und bedürftig, als letzte praktische Urteile, nach denen wir beständig uns orientieren, argumentieren und handeln, wenn es um Ziele geht, die zu erstreben vernünftig sind. Wer sie nicht für wahr hält, verfügt über keinerlei praktisches Urteilsvermögen; mit ihm kann man sich nicht über praktische Dinge verständigen. Denn nehmen wir an, jemand möchte – isoliert betrachtet – ernsthaft lieber tot sein als leben, lieber krank sein als gesund, lieber hässlich sein als schön, lieber dumm als intelligent etc., wir würden ihn nicht 47 Vgl. zum Folgenden: F. RICKEN, Allgemeine Ethik, Stuttgart 1983, 61ff.; A. GEWIRTH, Reason and Morality, Chicago 1978, 48–63. 48 Vgl. SVF III, 117 = D.L. VII 102; SVF III, 127 = D.L. VII 106 mit Listen konträrer Gegensatzpaare.
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für einen Sonderling mit kauzigen persönlichen Präferenzen, wir würden schlicht seinen Verstand und sein Gemüt für zerrüttet halten. Nun liefert eine isolierte Wahl zwischen Gegensatzpaaren lediglich isolierte Elemente für Mengen objektiv guter, schlechter und gleichgültiger Dinge. Was fehlt, ist eine Ordnung der Beziehung und Gewichtung der Elemente einer Menge zueinander. Die strukturierenden Reflexionsgesichtspunkte standen der Stoa aus der ethischen Tradition zur Verfügung: zielhaft Gutes (teliko,n) und herstellendes, vermittelndes Gutes (poihtiko,n)49 bzw. um seiner selbst (diV auvto,n), um eines anderen (diV e[teron), um seiner selbst und eines anderen willen Erstrebtes,50 Wertvolles der seelischen, der leiblichen und der äußeren Lebenssphäre.51 Unter do,sij, so erläutert Stobaeus (SVF III, 125) den Zentralbegriff der an erster Stelle genannten Formel, sei ein Werturteil zu verstehen, das feststellt, inwieweit etwas der Natur gemäß ist oder inwieweit etwas der Natur Nutzen gewährt. Mit der Formel do,sij kai. timh. kaqV au`to, ist also wohl dies gemeint, dass die Dinge eine feste Stelle in einer allgemeinen natürlichen Wertordnung haben und dass ihnen in korrekten generellen Urteilen ihr Ort in diesem Rahmen zugesprochen wird. Das gebräuchlichere timh, dürfte zur Erläuterung von do,sij dienen und mit kaqV au`to, („an sich betrachtet“, „für sich genommen“) sehe ich die Grundsätzlichkeit der Aussagen, die Abstraktion von besonderen Umständen zum Ausdruck gebracht. Vor diesem Hintergrund lässt sich etwa (SVF III, 127) in generellen Sätzen wahrheitsgemäß behaupten, dass Wohlstand (plou/toj) und guter Ruf (do,xa) zu den äußeren Gütern gehören52 und Mittelfunktion haben,53 dass Gesundheit ein leibliches Ziel ist, auf das natürliches Streben sich um seiner selbst willen richtet,54 das aber ob seines weitgehenden Voraussetzungsund Basischarakters rangmäßig unter den seelischen Gütern steht. Nun hatten bereits Platon und Aristoteles erkannt, dass das Problem richtigen Handelns nicht schon durch die Erkenntnis einer allgemeinen Güterordnung gelöst ist. Diese kann für die praktische Überlegung des Einzelnen nur die Rolle eines wenngleich unverzichtbaren Reflexionsrahmens übernehmen. Der andere wesentliche Faktor ist die jeweilige Situation des Handelnden. Diese kann, was ihre handlungsrelevanten Merkmale betrifft, außerordentlich komplex sein und je Neues enthalten.55 Mit der Formel avmoibh. tou/ dokimastou/ (SVF III, 124) ist offensichtlich das Thema 49 50 51 52 53 54 55
Vgl. Stob. II 7, p. 82, 21– 83, 9 Wa.; D.L. VII 96 = SVF III, 107; Cic.fin. III 55. Vgl. D.L. VII 107 = SVF II, 135, Cic.fin. III 56. Vgl. D.L. VII 106 = SVF III, 127; Cic.fin. III 43. Vgl. SVF III, 127 = D.L. VII 106. Vgl. Stob. II 7, p. 83, 4–7 Wa. Vgl. Stob. II 7, p. 83, 1–4 Wa. Vgl. Plato nom. IX, 875 d; Arist.e.N. II 2, 1104 a.
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der Güterabwägung des Handelnden in einer konkreten Handlungssituation angesprochen. Menschliches Wählen und Vornehmen hat angesichts elementarer Faktoren der conditio humana stets auch die Form des Inkaufnehmens von mehr oder weniger gewichtigen Übeln an sich; so gut wie jedes Ergreifen einer Möglichkeit ist mit dem Verlust einer anderen Möglichkeit verbunden; wir zahlen in concreto für ein Gut einen mehr oder weniger hohen Preis. Das Gewicht der Frage nach dem richtigen Handeln ergibt sich allererst aus ernsthaften Ziel- bzw. Mittelkonflikten; in bestimmten Situationen können sie dramatische, ja (jedenfalls dem Anschein nach) tragische Aspekte annehmen. Solche Konflikte lassen sich rational entscheiden nur aufgrund einer kompetenten praktischen Überlegung, die die konkurrierenden Ziele und „Kosten“ von Handlungsalternativen in einer konkreten Situation gegeneinander abwägt und verrechnet. Diogenes Laertius (SVF III, 126 = DL VII, 105) erläutert die avmoibh. tou/ dokimastou/ mit den Worten, es sei der Tauschwert des Prüfers, den der in den Dingen Erfahrene feststellt. Mit dieser Formel ist also wohl der Vergleichswert bestimmter Handlungalternativen in einer konkreten Entscheidungssituation gemeint, von Optionen, die ihren Preis haben, den nur der sachkundige Prüfer angemessen zu bestimmen vermag. Er vermag schließlich festzustellen, was man in einer Situation an Gütern für etwas bezahlen kann bzw. sollte und was nicht. Das Gewicht dieser Formel erklärt sich aus dem Umstand, dass der kynisierende Stoiker Ariston von Chios und der radikale Skeptiker Pyrrhon von Elis offensichtlich die Situationsbedingtheit unseres konkret handlungsorientierten Schätzens von Dingen zum Anlass nahmen, das Bestehen natürlicher Güter und einer objektiven Güterordnung überhaupt zu leugnen und einer radikalen Gleichgültigkeit den welthaften, außersittlichen Dingen gegenüber das Wort zu reden.56 Die orthodoxe Stoa wurde dadurch zu einer Analyse des Begriffs der Handlungssituation und des situationsgerechten Handelns gedrängt. Ein wichtiges Resultat dieser Auseinandersetzung dürfte die vielfach bezeugte stoische Unterscheidung von Normalund Ausnahmesituation sowie von normalerweise angemessenem Verhalten (kaqh,konta a;neu perista,sewj) und ausnahmsweise angemessenem Verhalten (kaqh,konta perista,tika) gewesen sein.57 Dieses Resultat stützte sich auf zwei wichtige Gedanken: einmal auf den Gedanken, dass es außer der Tugend kein Gut gibt, das es für jeden unter allen Umständen in der Welt zu verfolgen und zu wahren gilt. Nur von der Tugend lasse sich sagen, sie gehöre sich immer.58 Die Beispiele von kaqh,konta perista,tika in 56
Vgl. Sext.Emp.math. XI 65 sowie SVF I, 361–369. Vgl. D.L. VII 109 = SVF III, 469; D.L. VII 121 = SVF III, 747; vgl. SVF III, 499; Cic.parad. III 24. 58 SVF III, 496 = D.L. VII 109. 57
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stoischer Literatur (Suizid, Selbstverstümmelung, Kannibalismus, Tötung der eigenen Eltern, Verschleuderung von Besitz etc.) belegen, dass hier für jemanden in einer extremen Not- und Konfliktsituation jeweils die konträren Gegensätze von bestimmten fraglosen Gütern und entsprechenden Handlungsweisen zum Inhalt angemessenen Handelns werden. Sie stützte sich zum anderen auf den Gedanken, dass zur Beurteilung einer schwierigen Handlungssituation und zur Erfassung des ausnahmsweise angemessenen Verhaltens nicht üblicher Verstand und gewohnte Lebensklugheit genügen, sondern philosophische Weisheit erforderlich ist. Dem entspricht eine Chrysipp zugeschriebene Zielformel des menschlichen Lebens: Das tugendhafte Leben sei dasselbe wie das Leben gemäß der Erfahrung der von Natur sich ereignenden Dinge,59 eine Formel, die Galen später dahingehend erläutert hat, dass mit Natur hier die Allnatur gemeint sei:60 Es bedarf der Perspektive des stoischen Weisen, die das Ganze im Auge hat, und seiner durch Erfahrung geschärften Kraft der Situationsdiagnose, um in extremen Umständen das Richtige zu treffen und zu tun.
III Bei Stobaeus ist im Verlauf des Textes (SVF III, 125) von einer dritten Art der Wertschätzung und des Wertvollen die Rede, der des sittlich Guten (avxi,wma kai. avxi,a peri. mo,na ta. spoudai/a), und dies, obwohl er unmittelbar vorher Antipaters evklektikh. avxi,a als die dritte Bedeutung der stoischen Rede von Wert genannt hatte. Hier muss auf Seiten von Arius Didymus bzw. Stobaeus ein theoretisches oder klassifikatorisches Missverständnis vorliegen. Mit der Argumentationsfigur der isolierten Wahl lässt sich zwar – und dies demonstrieren Cicero-Passagen – begründen, was als selbstwerthaft gut zu gelten hat. Nicht begründen lässt sich mit ihr jedoch die Inkommensurabilität und der singuläre Rang des sittlich Guten im Rahmen der durch sie konstituierten Wertlehre. Was als selbstwerthaft gut zu gelten hat, lässt sich begründen, wenn man in die isolierte Wahlalternative die Abstraktion von Nutzen- und Schadengesichtspunkten hineinnimmt, die mit dem Besitz eines Gutes verbunden sein mögen. Genau dies führen Ciceros drei Beispiele aus De finibus vor. Ein hinreichendes Argument dafür, dass wir jenes, was von der Natur zuerst gebilligt ist, lieben, ist deshalb ersichtlich dies, dass es niemanden gibt, der nicht, wenn beides
59 60
D.L. VII 87 = SVF III, 4. SVF III, 12.
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Maximilian Forschner ihm offensteht, lieber alle Glieder seines Körpers passend und unversehrt als, auch wenn ihr Funktionswert gleich wäre, verkümmert und verrenkt haben möchte. 61
Oder: Wer führt sein Leben nach so primitiven Maximen, oder wer hat sein Streben nach Erkenntnis der Natur so abgestumpft, dass er von Dingen, die der Erkenntnis würdig sind, nichts wissen will und, ohne auf Lust und Nutzen zu achten, nicht nach ihnen fragt?62
Oder: Wer ist oder wer war denn jemals von so glühender Habgier oder von so entfesselten Begierden erfüllt, dass er nicht bei derselben Sache, die er durch jedes beliebige Verbrechen erlangen möchte, um vieles lieber wünschte, dass sie ohne Verbrechen als auf diese Weise in seine Hand gelange, auch wenn ihm völlige Straffreiheit in Aussicht steht?63
Diese drei Beispiele sind bezogen auf das Gut der leiblichen Integrität, das Gut der zweckfreien Erkenntnis und das Gut der Moralität. Diese drei Güter stehen bei Cicero schlicht nebeneinander. Das heißt: Mit dem Antipaterschen Ekloge-Argument wurde Moralität zwar als selbstwerthaftes Gut, aber nur als ein Gut neben Gütern begründet. Dies lässt, auch wenn sie im Rahmen einer allgemeinen Güterlehre als vorzügliches Gut unter Gütern zu stehen kommt, die Möglichkeit offen, dass sie in Konfliktsituationen in die Waagschale der Abwägung gelegt und, wenngleich für sich genommen besonders gewichtig, mit anderen Gütern und Übeln verrechnet werden kann. Genau dies aber schließt nach stoischem Verständnis der Begriff des sittlich Guten aus. Das kalon, das Moralität im modernen Verständnis immer einschließt, liegt nach stoischem Verständnis nicht auf der Ebene kommensurabler Werte, die sich in konkreten Entscheidungssituationen im Verein mit den entsprechenden Übeln gegenseitig beschränken und relativieren können. Nicht zuletzt um die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des sittlich Guten zum Ausdruck zu bringen, war ja der Grundsatz „Allein das sittlich Gute ist gut“ gedacht. Im Vergleich zum sittlich Guten sinkt alles außersittlich Wertvolle in den Rang des Gleichgültigen herab. 61 Cic.fin. III 17: Satis esse autem argumenti videtur quam ob rem illa, quae prima sunt adscita natura, diligamus, quod est nemo, quin, cum utrumvis liceat, aptas malit et integras omnis partis corporis quam, eodem usu, inminutas aut detortas habere. Antipater sprach in diesem Zusammenhang vom „Vorzugswert“ (evklektikh. avxi,a) einer Sache. 62 Cic.fin. III 37: quis autem tam agrestibus institutis vivit, aut quis contra studia naturae tam vehementer obduravit, ut a rebus cognitione dignis abhorreat easque sine voluptate aut utilitate aliqua non requirat et pro nihilo putet? 63 Cic.fin. III 36: Quis est enim, aut quis umquam fuit aut avaritia tam ardenti aut tam effrenatis cupiditatibus, ut eandem illam rem, quam adipisci scelere quovis velit, non multis partibus malit ad sese etiam omni inpunitate proposita sine facinore quam illo modo pervenire?
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Für die strenge Grenzlinie im Rahmen der stoischen Lehre vom Wertvollen findet der Stobaeus-Text prägnante, wenngleich nicht völlig eindeutige Formulierungen: „Der dritte Wert sei der, dem gemäß wir sagen, jemand habe eine bestimmte Würdigkeit und Werthaftigkeit, die sich bei Gleichgültigem nicht findet, sondern nur beim sittlich Guten“.64 Und wenig später: „Keines der guten Dinge (avgaqa,) falle in die Klasse der vorgezogenen Dinge (prohgme,na), und zwar deshalb, weil sie den größten Wert haben.“65 Was bei Stobaeus fehlt, ist ein Hinweis darauf, wie denn die Stoiker die Inkommensurabilität und den singulären Rang des sittlich Guten im Rahmen ihrer Wertlehre begründet haben. Diese Begründung liefert der dritte Weg, die stoische Oikeiosis-Lehre.66 Oikeiosis ist nach stoischem Verständnis wesentlich ein Prozess des schrittweisen Innewerdens von Vorhandenem als zu sich gehörig oder sich fremd bzw. abstoßend gegenüberstehend, ein Prozess, in dem ein Selbst von bestimmter Art sich konstituiert, das sich in diesem Selbstsein und dieser Eigenart annimmt, die Dinge, die ihm gemäß sind, als zu ihm gehörig und befreundet erfährt und sich aneignet und sich gegenüber Fremdem, Bedrohlichem und Destruktivem abgrenzt und zu schützen versucht. Der Mensch erfährt sich zunächst als ein bestimmtes Naturwesen mit Neigungen der Selbst- (und Art-)erhaltung, die jenen der übrigen Sinnenwesen ähnlich sind.67 Er erfährt sich dann mit der Entwicklung seiner Vernunft als ein Wesen, das wählen und sich entscheiden kann und von dem im Rahmen einer Sprach- und Handlungsgemeinschaft eine rationale und verantwortliche Wahl erwartet wird.68 Auf dieser Stufe ist lokalisiert, was die Stoa beim Menschen „zukommendes“, „passendes“, „gehöriges“ „verantwortliches“ Verhalten (kaqh/kon, officium) nennt: „Das gehörige Verhalten ist das, was so getan ist, dass für es, wenn es getan ist, eine plausible Begründung gegeben werden kann“, so die prägnante, mehrfach bezeugte stoische Bestimmung.69 Dieses Verhalten ist seinem äußeren, welthaften Gehalt nach dem verantwortlich handelnden Nichtweisen und dem Weisen gemeinsam. Im Verlauf des Entwicklungs- und Reifungsprozesses seiner Vernunft und der schrittweisen Einübung in immer konsequenteres vernunftgemäßes Verhalten stellt sich im (sc. dem Status der Tugend sich nähernden) Menschen schließlich eine authentische Selbsterfahrung seiner 64
SVF III, 125. SVF III, 128. 66 Vgl. dazu ausführlicher M. FORSCHNER, Stoische Oikeiosislehre und mittelalterliche Theorie des Gewissens, in: J. Szaif/M. Lutz-Bachmann (Hgg.), Was ist das für den Menschen Gute? – What is Good for a Human Being?, Berlin/New York 2004, 126–150. 67 Vgl. Cic.fin. III 16 ff. 68 Vgl. Cic.fin. III 20 ff.: selectio; cum officio selectio. 69 Cic.fin. III 58: est autem officium, quod ita factum est, ut eius facti probabilis ratio reddi possit. Vgl. D.L. VII 107 : o] pracqe.n eu;;logo,n [[te] i;scei avpologismo,n. 65
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selbstständigen Vernunfttätigkeit ein. In ihr erst wird der Mensch seines zielhaften Wesens inne. Er erfährt im Vernünftigsein die ihm eigene Verfassung und in der konsequenten Entfaltung von Vernunft das, was für ihn wahrhaft gut und naturgemäß ist. Das Vernünftigsein wird nun als etwas erfahren und erstrebt, was ihm in einer profunderen Weise eigen und naturgemäß ist als alles, was ihm als endlichem Sinnenwesen einer bestimmten Art mit einer erst keimhaften und dann noch unselbstständigen oder unvollendeten Vernunft eigen und naturgemäß war; Letzteres sinkt in den Rang des nur bedingt Guten bzw. des Gleichgültigen herab. Und das Vernünftigsein wird existentiell und strukturell gekennzeichnet als Homologia, als vollständige Übereinstimmung mit sich selbst im vollkommenen Einklang mit der Allnatur.70 Nun hat diese selbstbezogene Vernunftliebe auf der Basis der Erfahrung eigenen veritablen Vernünftigseins im Menschen (vom noch unvollkommenen Beginn und bis zum vollendeten Status des Weisen) eine eigenartige Struktur: Einerseits bezieht der Mensch sich in ihr auf etwas, was er vollzieht und im Vollzug als überzeugend erfährt und liebt, was aktualiter in ihm bereits gegeben und realisiert ist und im Vollzug als das Ureigenste, als das für ihn absolut Gute erfahren, bejaht und reflexiv als sein summum bonum verstanden wird. Andererseits bezieht sich seine Selbstliebe in ihrer Liebe zum eigenen Vernünftigsein auf etwas, was als noch keineswegs erreichtes Ziel gesehen, ja, was als möglicherweise oder (mitunter) tatsächlich verfehlt und von eigenen nichtvernünftigen Wünschen und Handlungen konterkariert erkannt wird. Es ist diese Struktur der Oikeiosis, die Selbsterfahrung und Selbstliebe von Vernunft als Faktum und als Ziel, das in eigenem Tun bereits realisiert und gleichwohl noch im Kampf gegen sich selbst zu erringen ist, es ist diese Struktur der Oikeiosis, die nach der Entdeckung der Stoiker die Vernunft im Menschen zum Gewissen macht, zum Zeugen, Ankläger, Anwalt und Richter über die eigene Stellung und die eigenen Schritte zum Ziel vollkommenen Vernünftigseins.71 In Ciceros Darstellung der Oikeiosis-Lehre in De finibus kommt diese Struktur auf sprachlich unscheinbare, aber doch signifikante Weise zum Ausdruck: ... sobald er aber Sensibilität für Vernunfttätigkeit entwickelt oder vielmehr eine authentische Erkenntnis von ihr gewonnen hat, was die Griechen e;nnoia nennen, und er die Ordnung und sozusagen den Zusammenklang der Dinge, die (von ihm) getan werden, sieht, schätzt er sie viel mehr als alles, was er als erstes geliebt hat, und kommt so durch intuitive Erkenntnis und vergleichendes Überdenken zum Ergebnis, dass dar-
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Vgl. hierzu vor allem den entscheidenden Passus Cic.fin. III 21. Vgl. dazu ausführlich FORSCHNER, Stoische Oikeiosislehre und mittelalterliche Theorie des Gewissens (s. Anm. 66). 71
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in das höchste Gut des Menschen liegt, das für sich Lob verdient und uneingeschränkt zu erstreben ist ....72
Cicero verwendet an entscheidender Stelle in der Formel vidit rerum agendarum ordinem et concordiam das Gerundiv als Verbaladjektiv. Als solches ersetzt es im Lateinischen das fehlende Partizip Passiv Präsens; daran orientiert sich die ursprüngliche und primäre Bedeutung;73 der Satz besagt also zunächst: „er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die von ihm getan werden“. Dann hat das Gerundiv in dieser Form auch einen prospektiv-finalen Sinn bzw. die Bedeutung des verpflichtenden „Müssens“, und der Satz besagt also auch: „er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die es zu tun gilt“. Ganz ähnlich drückt sich Cicero dann im Abschluss-Passus der Oikeiosis-Lehre aus, der von der Liebe zur gesamten Menschheit handelt: Er beschreibt die Selbstentfaltung des Logos in der Ausweitung der Sympathie vom Selbst über Familie und Staat bis zur Menschheit als Prozess einer natürlichen, über Erfahrung vermittelten Aneignung und zugleich als sittliche Aufgabe.74 Die sittliche Vollkommenheit seiner Seele (in der theoretische Weisheit, charakterliche Stärke und praktische Klugheit eine Einheit bilden) ist das Einzige, was dem Menschen wahrhaft eigen ist und was ihn vollendet glücklich macht; dies ist das Argumentationsziel der stoischen OikeiosisLehre. Sittliche Vollkommenheit ist, wie Seneca im 76. Brief ad Lucilium verdeutlicht, dem Menschen wahrhaft eigen, weil unter den Sinnenwesen der Mensch allein vernunftbegabt ist und die Vollendung seiner Vernunft in ihrer sittlichen Vollkommenheit besteht. Dies komme darin zum Ausdruck, dass wir nur das Leben eines sittlich vollkommenen Menschen uneingeschränkt loben und billigen. Nun hätte solches auch die peripatetische Ethik des Hellenismus gesagt. Doch dieser waren noch „äußere“ Güter wichtig, in denen sich menschliches Leben und die Tugend des Menschen als Menschen in der Zeit verwirklichen kann. Die Stoiker und mit ihnen ein Seneca behaupten mehr. Die sittliche Vollkommenheit, so Seneca, ist dem Menschen wahrhaft eigen und das vollkommene Ziel seines Lebens, weil sie das einzige Gut ist, das der Mensch auf absolute, unverlierbare 72 Cic.fin. III 21: simul autem cepit intelligentiam vel notionem potius, quam appellant ennoian illi, viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam, multo eam pluris aestimavit quam omnia illa, quae prima dilexerat, atque ita cognitione et ratione collegit, ut statueret in eo collocatum summum illud hominis per se laudandum et expetendum bonum ... 73 Vgl. H. MENGE, Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik, bearb. v. A. Thierfelder, Darmstadt 201993, § 448. 74 Ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat hominem ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri. Cic.fin. III 63.
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Maximilian Forschner
Weise sein Eigen nennen kann, und das, wenn er es besitzt, sein Glück auch tatsächlich vollendet. Denn sie befreit ihn von aller Sorge um Verlierbares und setzt ihn in völligen Einklang mit sich und der Welt. Wer etwas absolut erstrebt, was er nicht auf absolute Weise zu besitzen vermag, und das sind alle zeitlichen bzw. sogenannten außermoralischen Güter, der kann nicht glücklich sein. Und wer sich (in jedem bewussten Augenblick seines Daseins) mit sich und der göttlichen Weltverwaltung in völliger Übereinstimmung weiß, dem kann nichts zu seinem Glück fehlen. Der derart erfüllte Augenblick ist dem Weisen die Fülle des Glücks. Quantitative Aspekte der zeitlichen Extension und der Vielzahl von Handlungen und Erlebnissen sind für die Tugend und das Glück des Weisen vollkommen irrelevant.75 Der stoische Weise ist in seinem Bestreben ganz auf das gerichtet, was gegenwärtig und in seiner Hand ist (to. paro,n), und er besitzt in ihm alles, was er zu besitzen bestrebt ist. Dadurch kann nichts und niemand ihn behindern, verletzen und berauben.76 Dies sind die entscheidenden Argumente der Stoa für ihr Konzept des höchsten menschlichen Guts. In den Worten Senecas: Was ist beim Menschen das spezifische Gut? Die Vernunft: Wenn diese fehlerfrei und zur Vollendung gebracht ist, macht sie das Glück des Menschen vollkommen ... Diese vollkommene Vernunft nennt man sittliche Vollkommenheit, und, was dasselbe ist, das sittlich Gute“.77 „Wenn du diese Ansicht übernimmst, etwas außerhalb der sittlichen Vollkommenheit sei ein Gut, wird jede Tugend in Mitleidenschaft gezogen; denn keine wird sich behaupten können, wenn sie auf etwas außerhalb ihrer selbst mit Verlangen sieht.“78 „Wenn irgend etwas anderes ein Gut ist als das sittlich Gute, wird uns die Gier nach dem Leben verfolgen, das Verlangen nach Dingen, die das Leben verschönern, was unerträglich, grenzenlos, unstet ist. Das einzige Gut also ist das sittlich Gute; es allein hat ein Maß.79
Der stoische Weise weiß und fühlt sich im klaren Bewusstsein seiner Sterblichkeit im göttlichen Ganzen der Wirklichkeit vollständig aufgehoben. Das unerschütterliche Bewusstsein, mit Gott, dem gestaltenden und lenkenden Prinzip des Kosmos wesensgleich, ein vergängliches Teilchen des Vollkommenen (particula perfecti), ein mitdenkender, mithandelnder und mitempfindender Bürger der Kosmopolis zu sein, war seinem Glück 75
Vgl. Cic.fin. III 43. Vgl. Epict.diss. IV 1, 84. 77 Sen.ep. 76, 10: Quid est in homine proprium? ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit ... Haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum est. 78 Sen.ep. 76, 22: Si hanc opinionem receperis, aliquid bonum esse praeter honestum, nulla non virtus laborabit; nulla enim obtineri poterit si quicquam extra se respexerit. 79 Sen.ep. 76, 24: Si ullum aliud est bonum quam honestum, sequetur nos aviditas vitae, aviditas rerum vitam instruentium, quod est intolerabilis, infinitum, vagum. Solum ergo bonum est honestum, cui modus est. 76
Das Selbst- und Weltverhältnis des Weisen
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genug. Gegenüber dem Ideal stoischer Weisheit wurde und wird das Bedenken ins Feld geführt, es überanstrenge die Bildungs- und Selbstbildungsmöglichkeit des Menschen. Dieses Bedenken ist zweifellos im Blick auf die meisten, wenn nicht auf alle Menschen berechtigt. Der Apostel Paulus hat es im 1. Korintherbrief im Namen des Kreuzes auf klassische Weise zum Ausdruck gebracht und einer sich selbst überhebenden hellenistischen Weisheit die Perspektive der gnadenhaften Erlösung des Gläubigen durch Jesus den Christus entgegengesetzt. Es ist aber wohl auch richtig, dass vieles von dem, was das Leben und Streben eines wahrhaft christlich Gläubigen „in diesem Leben“ mit seinen „weltlichen Gütern“ ausmacht, mit dem konvergiert, was pagane stoische Weisheit empfiehlt. Gemeinsam ist paganer hellenistischer und christlicher Weisheit jedenfalls, dass Gier, d. h. unbedingtes, distanzloses Streben nach verlierbaren Dingen, den Menschen mit Sicherheit unglücklich macht.
Elemente eudämonistischer Ethik im Neuen Testament? Hermut Löhr
1. Die Frage nach dem Glück Mit Justins „Dialog mit dem Juden Trypho“ findet die Vorstellung vom Glück als Ziel christlicher Existenz Eingang in das frühchristliche Denken. Wie der Philosoph in Dial 8,2 in der Anrede an Marcus Pompeius deutlich macht, führen die Anerkenntnis des von Gott gesandten Christus und ein tadelloses Leben zum Glück: Wenn nun auch dir an dir selbst etwas gelegen ist, du nach Rettung strebst und Vertrauen auf Gott hast, so steht es dir, dem in welcher Hinsicht auch immer die Sache nicht fremd ist, zu, glücklich zu sein [euvdaimonei/n], wenn du den Christus Gottes anerkennst und vollkommen wirst.
Das Glück, die euvdaimoni,a, ist hier als Ziel des christlichen Glaubens, verstanden als vermittelte intellektuelle Einsicht und Existenzweise, ausgesprochen. Es ist zu fragen, ob diese Interpretation der christlichen Botschaft eine philosophische Um- und Fehlinterpretation eines ursprünglich ganz anders orientierten Glaubens darstellt, als Ausdruck von Rationalisierung oder gar „Hellenisierung“ einer vormals ganz ungriechischen Hoffnung, oder ob sie als auch den frühesten Quellen gemäß bewertet werden kann. Während Patristik und Philosophiegeschichte zunehmend vom Konzept einer wesentlich praktisch orientierten „christlichen Philosophie“ in der Antike seit dem beginnenden 2. Jahrhundert ausgehen und dieses mit anderen spätantiken Philosophien und Philosophenschulen vergleichen1, tut sich die neutestamentliche Exegese aus unterschiedlichen Gründen schwer
1 Vgl. P. HADOT, Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie, Berlin 1999 (frz.: Qu’est-ce que la philosophie antique?, Paris 1995), 273–289; TH. KOBUSCH, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, bes. 34–40; W.A. LÖHR, Christianity as Philosophy – Problems and Perspectives of an Ancient Intellectual Project, Vortrag, gehalten auf der Fifteenth International Conference on Patristic Studies, Oxford, August 2007 (erscheint JbAC 2009). Zum Konzept des Christentums als „barbarischer Philosophie“ vgl. G.G. STROUMSA, Barbarian Philosophy. The Religious Revolution of Early Christianity, WUNT 112, Tübingen 1999, 57–84.
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damit, solche Deutungsansätze für ihren Gegenstandsbereich aufzunehmen. Ist dieses Zögern in der Sache begründet? Ist also ein Bruch zwischen Neuem Testament und früher altkirchlicher Literatur in Bezug auf fundamentale ethische Vorstellungen und Konzepte und ihren Stellenwert festzustellen? Verstanden die ersten Christen ihre konzeptionellen Bemühungen (soweit vorhanden) ganz anders als nachfolgende Generationen? Die Frage nach möglichen Elementen eudämonistischer Ethik im Neuen Testament legt sich auch aus zwei weiteren Gründen nahe: Erstens ist das Glück2 in jüngster Zeit verstärkt zum Gegenstand theologisch-ethischer Reflexion geworden3, nachdem es in den Jahrzehnten zuvor wenig Berücksichtigung fand. Dieser Rückbesinnung auf das Glück als Thema der Ethik dürfte – neben der Beeinflussung durch gegenwärtige philosophische Moden4 – die Erkenntnis zugrunde liegen, dass eine jede Ethik, die überzeugen will, auch eine Güterlehre enthalten, und den daraus folgenden Fragen, worin denn das höchste Gut liegen könne, und wie dessen Verhältnis zum Handeln des Menschen genauer zu bestimmen sei, eine Antwort bieten müsse5. Bestimmend ist ferner die Einsicht, dass das natürliche Glücksstreben des Menschen nicht nur in einer allgemeinen Anthropologie oder Handlungstheorie zu berücksichtigen sei, sondern auch in einer lebensnahen Ethik, die normative Ansprüche erhebt. 2 Dass „Glück“ und euvdaimoni,a semantisch nicht deckungsgleich sind, kann hier nur angedeutet werden. Vgl. die hilfreiche Unterscheidung von „Empfindungsglück“ und „Erfüllungsglück“ bei CHR. HORN, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998, 65. Die zur Abbildung desselben Sachverhaltes bisweilen getroffene Unterscheidung von „Glück“ und „Glückseligkeit“ könnte insofern in die Irre führen, als sie mit „Glückseligkeit“ sogleich außerweltliche Vorstellungen zu verbinden einlädt. 3 Vgl. J.H. Claussen, Glück und Gegenglück. Philosophische und theologische Variationen über einen alltäglichen Begriff, Tübingen 2005; J. Lauster, Augenblick und Ewigkeit. Aspekte einer Theologie des Glücks, ThG 49/2 (2006), 82–91; Ders., Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004; M. Rohner, Glück und Erlösung. Eine philosophisch-theologische Skizze, ThG 49/2 (2006), 92–103. 4 Aus der intensiven Diskussion seien nur einige Titel genannt: G.B. ACHENBACH, Lebenskönnerschaft, Freiburg i. Brsg. 2001; O. HÖFFE, Lebenskunst und Moral. Oder: Macht Tugend glücklich?, München 2007; W. KERSTING/C. LANGBEHN (Hgg.), Kritik der Lebenskunst, stw 1815, Frankfurt a. M. 2007; A. P IEPER, Glückssache. Die Kunst gut zu leben, Hamburg 2001; W. SCHMID, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, stw 1385, Frankfurt a. M. 22007; M. SEEL, Versuch über die Form des Glücks, stw 1445, Frankfurt a. M. (1995) 1999; R. ZIMMER (Hg.), Schwerpunkt. Glück und Lebenskunst, Aufklärung und Kritik Sonderheft 14, Nürnberg 2008. 5 Zur Frage nach dem Guten im Rahmen einer theologischen Ethik vgl. W. HÄRLE, Die gewinnende Kraft des Guten. Ansatz einer evangelischen Ethik, ThLZ 129 (2004), 123–134; E. HERMS, Das Werden des Guten, MJTh 11 (1999), 85–102, und besonders K. STOCK, Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005, 254–258.
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Zweitens betrifft die Frage nach dem möglichen Eudämonismus die Einordnung neutestamentlicher oder frühchristlicher Ethik in den ethischen Diskurs der Antike insgesamt. Wenn es stimmt, wie angenommen wird, dass die antike Ethik insgesamt im Wesentlichen eudämonistisch orientiert ist6, ist zu fragen, ob die Ethik der ersten Christen aus diesem historischen Rahmen herausfällt. Historisch wahrscheinlich ist das nicht, aber das heißt ja nicht, dass es nicht so sein könnte, dass also im wesentlich nichteudämonistischen Charakter (zunächst) gerade das unterscheidend Christliche gelegen haben könnte. Aus der Beschreibung eines historischen Sachverhaltes würde dann ein apologetisches Argument. Unabhängig von dem historischen Befund gibt es auch traditionelle sachliche Vorbehalte gegenüber einer eudämonistischen Fassung von Ethik, und so hat auch die Frage nach dem eudämonistischen Charakter neutestamentlicher Ethik keine markante exegetische Tradition7. Die Vorbehalte liegen teils in allgemein-philosophischen Bedenken, die stark von Kants Kritik am Eudämonismus und seinem Gegenkonzept einer Pflichtenethik geprägt sein dürften8. Teils dürften sich auch spezifisch theologische Vorbehalte einer eudämonistischen Deutung des neutestamentlichen Befundes entgegenstellen wie derjenige, eine eudämonistische Ausrichtung der Ethik gefährde die theologisch wesentliche Unterscheidung von Person und Werk oder eine theologisch allein angemessene gnadenhafte Auffassung von euvdaimoni,a. Im Hintergrund könnten allerdings auch Missverständnisse paganantiker Ethik stehen. So impliziert die eudämonistische Orientierung antiker Ethik nicht notwendig die Verleugnung einer transzendenteschatologischen Perspektive und die Beschränkung auf ein rein innerwelt-
6 Vgl. nur M. HOSSENFELDER, Die Philosophie der Antike III: Stoa, Epikureismus und Skepsis, Geschichte der Philosophie 3, 2., aktualisierte Aufl., München 1995, 23f. Die explizite Ausnahme von der Regel dürften die Kyrenaiker darstellen. 7 In gängigen theologischen Lexika wie TRE, RGG 4 oder 3LThK fehlt eine Darstellung des biblischen Befunds. Die Ausnahme stellt K. OTTE, Art. Glück und Schicksal, 3 EKL II (1989), 216–220, 217, dar. Den Hinweis verdanke ich A. STANDHARTINGER, Glück in der Bibel, in: I. Nord/F.R. Volz (Hgg.), An den Rändern. Theologische Lernprozesse mit Yorick Spiegel. Festschrift zum 70. Geburtstag, Theologie: Forschung und Wissenschaft 13, Münster 2005, 347–360, 358, Anm. 2. Vgl. aber auch die anregenden Ausführungen bei LAUSTER, Gott (s. Anm. 3), 16–39; DERS., Art. Glück, TRT II (2008), 455f. 8 Vgl. nur I. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., AkademieAusgabe Kant Werke IV, Berlin/New York (Nachdr. der Ausgabe 1917) 1973, 442; DERS., Metaphysik der Sitten. Vorrede, in: ders., Akademie-Ausgabe Kant Werke VI, Berlin/New York (Nachdr. der Ausgabe 1907/1914) 1969, 377.
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lich-diesseitiges Glück. Etwa an der platonischen Ethik ließe sich dies zeigen9. Auch trifft der Vorwurf einer rein am Glück des Individuums orientierten, und das meint: letztlich egoistischen und unsozialen Güterlehre die antike Ethik kaum generell, wenn man bedenkt, dass in denjenigen ethischen Entwürfen, in denen der Gedanke des Wohls der po,lij zurücktritt, doch das ethische Subjekt als verantwortliches Mitglied der größeren ko,smopolij verstanden sein kann; die Universalität der ethischen Zielbestimmung kann die Frage nach ihrer Sozialität implizieren. Jedenfalls dürfte deutlich sein, dass die Frage nach der wahren euvdaimoni,a des Menschen den Anspruch erhebt, über vordergründige Bestimmungen menschlichen Wohlergehens oder Glücks hinaus zu gelangen. Mit solchen Klarstellungen aber, die nach einzelnen Denkern, Schulen und Epochen zu differenzieren wären, könnte manches Zögern fallen, auch die neutestamentliche Ethik auf mögliche eudämonistische Züge hin zu prüfen. Es soll freilich nicht geleugnet werden, dass die Untersuchung der Frage sich neben dem angedeuteten philosophiegeschichtlichen Impetus auch dem Wunsch nach einer Korrektur durchaus noch gängiger theologischer Deutemuster verdankt, die, insofern sie den offensichtlichen Zusammenhang von höchstem Gut und Gott im Neuen Testament nicht übergehen können, doch die ideale Gottesbeziehung des Menschen von einem zielgerichteten Handeln freizuhalten bestrebt sind. Hier könnten kontroverstheologische Diskurse aus der Tradition des Christentums nachwirken, die den frühchristlichen Quellen selbst noch fremd sind. In Bezug auf die beschreibungssprachliche Rede von „eudämonistisch“ oder „Eudämonismus“ ist allerdings noch genauer zu unterscheiden, ob damit 1. der Nachweis einer allgemeinen Regelhaftigkeit menschlichen Handelns oder eine psychologische Theorie des menschlichen Wollens gemeint sei oder 2. eine im engeren Sinne ethische Reflexion oder Lehre. Innerhalb einer solchen kann der Eudämonismus wiederum entweder den letzten Grund des sittlichen Handelns angeben wollen (dies ist das Konzept, welches Kant kritisiert) oder aber die Frage nach dem sittlich Guten selbst beantworten wollen. In diesen der neutestamentlichen Ethik (und nicht primär der Anthropologie) gewidmeten Ausführungen interessiert uns die euvdaimoni,a im zweiten Sinne.
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Vgl. Plato Phaid. 67c; Plato Phaidr. 246a–249c; Plato Gorg. 523b; Plato rep. 608c–621d; vgl. J. RITTER, Art. Glück, Glückseligkeit, HWP III (1974), 679–691, 681f.; HORN, Lebenskunst (s. Anm. 2), 74.
Elemente eudämonistischer Ethik im Neuen Testament?
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2. Zur Terminologie Das Lexem euvdaimoni,a und stammgleiche Wörter begegnen im NT wie bei den Apostolischen Vätern und in der Septuaginta, aber anders als im zeitgenössischen Judentum10, nirgends. Orientiert man sich allein am Konkordanzbefund, so könnte man also schließen, dass die Erwartung des „Glücks“ im frühesten Christentum kein Thema gewesen sei – und damit auch von keinem ethischen Interesse11. Über Gründe für diese (bewusste?) Lexemvermeidung könnte man spekulieren. Die Rede von der euvdaimoni,a hält, wie erwähnt, erst mit den ältesten Apologeten, zunächst zögernd, Einzug in die frühchristliche Sprache und wird dort zur Zielbestimmung christlicher Existenz. Fehlt aber zuvor mit dem Wort auch die Sache? Explizite Aussagen über das „Ziel“ (te,loj) menschlicher Existenz oder menschlichen Handelns fehlen im Neuen Testament nicht völlig (vgl. bes. 1Petr 1,9; s. aber auch die Formulierung eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs in Röm 6,21f. oder 2Kor 11,15; Phil 3,19); sie sind aber nicht als systematische Reflexionen ausgeführt. D. h. auch die beschreibungssprachliche Rede von „teleologischen“ Begründungsstrukturen neutestamentlicher Ethik hat keine wirkliche terminologische Entsprechung in der Objektsprache. Die wiederholte Rede vom Guten bzw. von den Gütern im Neuen Testament dient zwar nicht der ausdrücklichen Reflexion und Bestimmung dessen, was als gut zu gelten habe. So werden höchste Güter wie das Reich Gottes oder das ewige Leben nicht explizit mit dem Guten identifiziert. Doch geht die Vorstellung vom Guten auch nicht in einer konventionellformelhaften Angabe zur Orientierung der Ethik am diesseitigen Vorteil auf12, sondern lässt wiederholt eine eschatologische Akzentuierung erkennen. Spricht der Hebr in (9,11 v.l. und) 10,1 von den „kommenden Gütern“, ohne dass dies direkt ethisch ausgewertet würde, so haben Texte wie Röm 2,10; 12,2 oder 16,19 (vgl. auch Eph 6,8; hier fallen zu Tuendes und zu Empfangendes zusammen) neben der eschatologischen auch eine deutlich ethische Konnotation: Das Gute ist das Endgültige. Und Gott und das
10 Vgl. Arist 108f.; TestHiob 35,4; 41,4; Artap = Eus.praep. 9,18,1; oft bei Josephus und Philo; vgl. K.H. RENGSTORF, A Complete Concordance to Josephus II, Leiden 1975, 226f.; G. MAYER, Index Philoneus, Berlin/New York 1974, 124. 11 Ebenso wenig wie das Zufallsglück, die euvtuci,a. 12 Vgl. die Verbindung des Substantivs avgaqo,n mit Verben des Tuns in paulinischen Texten: Röm 2,10; auch Gal 6,10: evrga,zein; Röm 3,8; 7,19; 13,3: poiei/n; Röm 9,11: pra,ssein. S. ferner Röm 12,9.21; 15,2; 16,19; Verse, die zu erkennen geben, dass das Gute Inhalt oder doch Bezugs- und Zielpunkt menschlichen Handelns ist.
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Gute rücken bisweilen eng zusammen (vgl. Mk 10,18parr.; 3Joh 11; vielleicht auch Röm 5,713). Ganz unerörtert lassen muss ich hier die Frage nach der Berechtigung der Rede von „neutestamentlicher Ethik“, die in Hinsicht auf den vorausgesetzten Begriff von Ethik (im Unterschied zu „Ethos“ oder zu „Moral“) wie im Blick auf die Frage einer einheitlichen Aussage des neutestamentlichen Kanons (im Unterschied zu einer Vielzahl frühchristlicher Entwürfe) zu entfalten wäre. Dass man von einer zumindest impliziten Ethik des Neuen Testaments sprechen kann und soll, halte ich für gut begründbar; und ich setze dies im Folgenden voraus.
3. Antworten14 3.1
Das höchste Gut als Ziel des Handelns
Die Frage nach dem eudämonistischen Charakter neutestamentlicher Ethik weist, wie wir sahen, in den Bereich einer ethischen Güterlehre, der Frage nach anzustrebenden Gütern oder dem höchsten Gut als Ziel allen nichttechnischen Handelns. Nachzuweisen ist also primär, dass und inwieweit das geforderte oder empfohlene menschliche Handeln in einen teleologischen Begründungszusammenhang eingeschrieben wird: Du sollst – oder solltest – dies tun, um jenes – dieses oder jenes Gut, das höchste Gut, das Glück, das ewige Leben o.a. – zu erreichen. Vorausgesetzt ist dabei, dass das angestrebte höchste Gut – objektiv oder subjektiv – ein höchstes Gut für den Handelnden selbst darstellt. Daneben ist zu prüfen, inwieweit die ethische Güterlehre des Neuen Testaments eine Unterscheidung verschiedener Güter vornimmt, inwieweit sie also zur Bestimmung des richtigen höchsten Gutes und zum Durchschauen falscher oder bloß vorläufiger Glücksversprechen anleitet. In der Tat werden beide Aspekte im Neuen Testament – in unterschiedlicher Gewichtung – thematisiert. Es ist evident – und könnte nur aufgrund systematisch-theologischer Vorurteile übersehen oder überspielt werden –, dass zentrale soteriologisch-eschatologische Begriffe und Konzepte im Neuen Testament im Rahmen einer teleologischen Argumentationsstruktur mit ethischen Weisungen verbunden werden. 13
Zu den möglichen Interpretationen des „Guten“ in diesem Vers vgl. A.D. C LARKE, The Good and the Just in Romans 5:7, TynB 41 (1990), 128–142, 132f. 14 Einige der hier angesprochenen Themenfelder sind ausführlicher entfaltet bei H. LÖHR, Ethik und Tugendlehre, in: J. Zangenberg (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur III: Weltauffassung – Kult – Ethos, Neukirchen-Vluyn 2005, 151–180.
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Dies gilt in erster Linie für die Rede von der basilei,a tou/ qeou/ in der Verkündigung Jesu nach den Synoptikern und darüber hinaus. Im Zusammenhang der Ankündigung der Königsherrschaft Gottes (im ethischen Diskurs gebräuchlicher: des Reiches Gottes) erschallt durch Jesus der Ruf zur Umkehr (Mk 1,15 par. Mt 4,1715), der den Umkehrruf der alttestamentlichen Prophetentradition aufnimmt und aktualisiert und seine Adressaten zweifellos als Subjekte von Entscheidung und Handeln anspricht. Gewiss impliziert die Vorstellung der Umkehr dabei nicht Kontinuität des eigenen Handelns und Selbstverbesserung, sondern Diskontinuität und Neuorientierung, doch hebt das ihre in der Tradition schon vorgegebene ethische Relevanz nicht auf. In den so genannten synoptischen und außersynoptischen „Einlasssprüchen“16, welche wahrscheinlich die Vorstellung von Zulassungsbedingungen zum Gottesvolk oder zum Heiligtum aufnehmen, werden, negativ oder positiv, (auch gesinnungs-) ethische Anforderungen (u. a. Annehmen der Gottesherrschaft „wie ein Kind“; Verzicht auf Reichtum; Forderung der besseren Gerechtigkeit, der Erfüllung des Willens Gottes) für den Eintritt des Menschen in die Königsherrschaft Gottes formuliert. Verwandt sind einige Aussagen der paulinischen Tradition, welche das NichtErlangen des höchsten Gutes (das Reiches Gottes zu erben) mit dem vorausgehenden menschlichen Verhalten verbinden (1Kor 6,9f.; Gal 5,19–21; Eph 5,5). In den Makarismen der matthäischen Bergpredigt (das verwendete Lexem maka,rioj selbst weist dabei deutlich in den Zusammenhang eudämonistischer Diskurszusammenhänge17 werden z. T. Handlungsweisen oder gesinnungsethische Dispositionen (so deutlich in Mt 5,5.7–9) in teleologische Formulierungen eingebunden, wobei als Güter nebeneinander (und offenbar nicht-hierarchisch) der Besitz des Landes, (göttliche) Barmherzigkeit, Gottesschau und Gotteskindschaft erscheinen, während für die
15 Zu Johannes dem Täufer vgl. Mk 1,4 par. Lk 3,3; Mt 3,2 sowie die ausführliche Predigt nach Lk 3,10–17, die auf die Frage antwortet: „Was sollen wir nun tun?“. 16 Vgl. Mt 5,20; 7,21; 18,3; 23,13; Mk 9,47; 10,15.23–25; Joh 3,5; Apg 14,22; EvThom 22.114; Herm sim 9,12,5–8; 14,1f.; 15,2f.; 16,2; 20,2f.; 2Clem 6,9 u. ö. Grundlegend für die formkritische Abgrenzung dieser Textsorte war H. WINDISCH, Die Sprüche vom Eingehen in das Reich Gottes, ZNW 27 (1928), 163–192; vgl. auch F.W. HORN, Die synoptischen Einlaßsprüche, ZNW 87 (1996), 187–202; M. B OHLEN, Die Einlasssprüche in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, ZNW 99 (2008), 167–184; im Verständnis der zugrunde liegenden Vorstellung fundamental anders J. MARCUS, Entering into the Kingly Power of God, JBL 107 (1988), 663–675. 17 Vgl. F. B UDDENSIEK, Art. makarios, Wörterbuch der antiken Philosophie, 263; F. HAUCK, Art. maka,rioj ktl) A: Der griechische Sprachgebrauch, ThWNT IV (1966), 365f.
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Verheißung der basilei,a tou/ qeou/ selbst (in V. 3 und 10) die kompensatorische und konsolatorische Funktion im Vordergrund steht. Sachlich nahe steht dieser Ausprägung der Rede von der Königsherrschaft Gottes die aus dem biblischen Prätext Ps 95,7–11 entwickelte Vorstellung einer endzeitlichen Gottesruhe (kata,pausij), die in den grundsätzlich mahnenden Ausführungen von Hebr 3,7–4,13 zentrale Bedeutung gewinnt. Am Hebräerbrief insgesamt ließe sich auch genauer beobachten, wie die eudämonistische Ausrichtung der Weisung zwischen Motivation und Warnung changiert und sich entwickelt, wobei den Schlussakzent der den Text bis dahin prägenden Weisung in 12,25–29 die gewisse Erwartung der noch nicht offenbaren basilei,a avsa,leutoj, des unerschütterlichen und unwandelbaren Gottesreiches, bildet, nachdem unmittelbar zuvor in der Synkrisis von V. 18–24 der Zutritt zu den transzendenten Heilsgütern als schon geschehen behauptet worden war. Ein so allgemeiner und neutestamentlich überwiegend nicht-ethisch konnotierter Begriff wie derjenige der „Rettung“ (swthri,a) wird einmal bei Paulus auch zum Gegenstand einer Mahnung: „Mit Furcht und Zittern erwirkt18 eure Rettung“ (Phil 2,12; vgl. auch 2Kor 7,10). Das HoffnungsGut des (ewigen) Lebens (zwh. aivw,nioj) rückt in ethische Zusammenhänge, wenn der reiche Jüngling Jesus nach dem notwendig vorausgesetzten Tun fragt (Mt 19,16parr.), wenn die Entscheidung im Endgericht über den Eingang in das Leben vom Verhalten gegenüber den Brüdern (Mt 25,46) oder allgemeiner vom guten Werk (Röm 2,7) abhängig gemacht wird, wenn der Apostel vom Wandel (d. h. Verhalten) in der „Neuheit des Lebens“ spricht (Röm 6,4) oder das höchste Gut als „Ziel“ (te,loj) des menschlichen Handelns erkennbar wird (6,22; der Gegensatz ist in V. 21 formuliert). Im Makarismus Jak 1,12 (vgl. Apk 2,10) erscheint das „Leben“ als Belohnung („Siegeskranz“) für die erwiesene Bewährung und avga,ph. Besondere Beachtung findet das Gut des Lebens im vierten Evangelium, wo der Glaube zu seiner Voraussetzung gemacht wird (Joh 3,15f.36; 5,24; 6,47; 20,31; vgl. 1Joh 5,12), dem „Ernte“-Dienst der Jünger das Leben verheißen (4,36) oder den Tätern des Guten die „Auferstehung des Lebens“ zugesagt wird (5,29). Einmal wird die ethische Norm, das Gebot Gottes, des Vaters, selbst mit dem ewigen Leben identifiziert (12,50). Demjenigen, der Menschen tötet, ist das ewige Leben verwehrt (1Joh 3,15). Eine Brücke zwischen eschatologischer Ausrichtung und vorläufigen Glückserwartungen bildet die Vorstellung von der „Freude“ (cara,), die 18
Zum verwendeten Verb katerga,zein vgl. W. B AUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neues Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von K. und B. Aland, 6., völlig neu bearb. Aufl., Berlin/New York 1988, 857f.
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vielfach gnadentheologisch akzentuiert ist19. In Texten wie Mt 25,21.23 und Hebr 12,2 erscheint „Freude“ jedoch auch als höchstes Gut empfohlenen menschlichen Handelns. Hier kommt das Neue Testament philosophischen Konzepten vielleicht am nächsten, welche die h``donh, als Wesen der euvdaimoni,a bestimmen, entscheidet sich lexematisch aber profiliert anders20. Überschaut man die ausgewählten, für die neutestamentliche Ethik repräsentativen Bestimmungen des höchsten Gutes – Königsherrschaft Gottes, Ruhe, Rettung, Leben, Freude –, so sind die eschatologischen Konnotationen aller dieser Vorstellungen deutlich. Diese eschatologische Ausrichtung enthebt der Notwendigkeit, die Letztgültigkeit der angesprochenen Güter argumentativ nachzuweisen; dass diese Ziele nicht wieder Mittel zum Zweck sein können, ist also vorausgesetzt und wird nicht begründet. Insofern ist die Güterlehre des NT vor-kritisch. Die verwendeten Begriffe selbst verweisen semantisch auf die Vorstellung einer positiv gestimmten, nicht durch Schmerz und Tod beeinträchtigten, dauerhaften Existenz. Die Glücksvorstellungen neutestamentlicher Ethik haben also als ein wesentliches Moment an sich dasjenige der ewigen Dauer; Glück und Ewigkeit konvergieren. Der Zusammenhang, der zwischen dem eigenen Handeln und diesen Gütern hergestellt wird, ist durchgängig durch eine behauptete Regelhaftigkeit oder durch einen impliziten oder expliziten Akt göttlicher Anerkennung bestimmt. D. h. das Handeln des Menschen kann zum höchsten Gut führen bzw. sein Erlangen ausschließen, doch das höchste Gut wird nirgends, soweit ich sehe, durch das Handeln des Menschen konstituiert. Das heißt aber, dass dem Menschen nach neutestamentlicher Auffassung die vollständige Verfügbarkeit seines Glückes entzogen ist; neutestamentliche Ethik vertritt keine Position sittlicher Autarkie und Autonomie. 3.2
Güterabwägung
In aller Regel erscheinen die verschiedenen Begriffe für das höchste Gut im NT als Bestimmungs-, nicht als Gegenstandsbegriff21, werden also inhaltlich kaum definiert oder entfaltet. Worin das Glück genauer besteht, ist also nicht Gegenstand der Erörterung. Das hat Konsequenzen für die ethische Argumentation: So bedarf es schon einer traditionsgeschichtlichen Erhellung der Verbindung von ethischen und kultischen Vorstellungen, um zu verstehen, in welcher Weise 19
Vgl. z. B. 1Thess 1,6; Röm 14,17; 15,13; Apg 13,52 u. ö. h``donh, selbst ist im NT stets pejorativ verwendet, vgl. Lk 8,14; Tit 3,3; Jak 4,1.3; 2Petr 2,13. 21 Zu dieser Unterscheidung vgl. M. WOLTER, „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86 (1995), 5–19, 7f. 20
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etwa in den Einlasssprüchen das höchste Gut die geforderten Verhaltensweisen inhaltlich bestimmen kann. Ein Text wie Röm 14,1722, der en passant eine inhaltliche Näherbestimmung der basilei,a vorzunehmen scheint, kann kaum als sorgfältig abwägende Reflexion auf den Charakter wahrer Glückseligkeit verstanden werden, sondern macht eher den Eindruck eines Ad-hoc-Arguments. Einer solchen Näherbestimmung des höchsten Gutes kommen vielmehr Texte am nächsten, die eine Güterabwägung vornehmen und damit beanspruchen, in Hinsicht auf das wahre höchste Gut und auf die ethischen Mittel zu seinem Erreichen, aufklärend zu wirken. So konventionell und wenig überraschend solche Abgrenzungen erscheinen mögen und im antiken Kontext auch sind, so klar ist doch zu sehen, dass die neutestamentliche Ethik hier dem Anspruch antiker Philosophie, das wahrhafte Glück und den Weg dorthin aufzuweisen, am nächsten kommt, dass sie sich also nicht in der Affirmation des religiös Traditionellen oder des alltäglich Gelebten erschöpfen will. So wird die Mahnung zum „Trachten nach dem Reich Gottes“ (Lk 12,31 par. Mt 6,33) verbunden mit der Abgrenzung gegenüber dem Sorgen (merimna/n) um materielle Güter des täglichen Bedarfs (eine solche materielle Bedürftigkeit des Menschen scheint mir damit jedoch nicht grundsätzlich bestritten zu sein). Mit der Vorstellung von vergänglichem und unvergänglichem Gut arbeitet die Mahnung von Lk 12,33f., die in den weiteren Kontext der Kritik des Reichtums im NT gehört. Andere Ausformungen dieses Diskurses mit einer ethisch-eudämonistischen Pointe finden sich in Mk 10,23–27parr.; Lk 6,24; 12,16–21 und besonders in der Gerichtsankündigung in Jak 5,1–6. In anderen Passagen erscheint das Geld im Blick auf das höchste Gut als Mittel zum Zweck; vgl. Lk 14,12–14; 16,1–9. Das Motiv der „Sorge“ klingt auch in der sexualethischen Weisung in 1Kor 7,32–34 an; das Abwägen verschiedener Güter wird in der Gegenüberstellung von ta. tou/ ko,smou und ta. tou/ kuri,ou deutlich. Zugleich dringt der Textabschnitt von solcher eher rhetorischen denn reflektierenden Güterabwägung vor zur Analyse der anthropologischen Konsequenzen, die in der Opposition von „geteilt sein“ (V. 34) und „unzerstreut“ (V. 35: avperispa,stwj23) ihren Ausdruck findet24. Die Abwägung konfligierender Handlungsziele ist zumindest rhetorisch begründet in einer Analyse ihrer Konsequenzen für das Handlungssubjekt selbst – ein eudämonistisches Argument. 22
1Kor 4,20 nimmt ebenfalls eine Normierung von der basilei,a her vor, kann aber nicht als ethische Weisung verstanden werden, sondern grenzt das Wirken des Paulus von anderen Ansprüchen ab (vgl. 2,4). 23 Vgl. Epict.diss. 3,22. 24 Vgl. auch Jak 1,8.
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Schon im Kapitel zuvor, in 1Kor 6,12–20, findet sich eine Verknüpfung der ethischen Weisung mit anthropologischen Argumenten. Doch würde ich hier nicht von eudämonistischer Ethik sprechen: Zwar nehmen die Ausführungen anthropologische Dihäresen vor – primär diejenige von sw/ma und pneu/ma (vgl. V. 17), daneben offenbar auch diejenige von koili,a und sw/ma (V. 13f.). Die Pointe der Ausführungen besteht darin, aus der Dihärese ein Argument nicht für die Ab-, sondern die Aufwertung des sw/ma zu gewinnen. Doch tritt in dieser Argumentation das teleologische Moment zurück; zwar findet sich in V. 14 der Hinweis auf die (leiblich verstandene) Auferweckung zur Begründung der Weisung, doch wird der eschatologische Ausblick nicht eigentlich zum Ziel des angemahnten Handelns. 3.3
Anthropologische Unterscheidungen
In anderen ethischen Aussagen wird die Bestimmung des höchsten Gutes deutlicher mit der Affirmation anthropologischer Unterscheidungen verbunden. Hierbei spielt die Rede von der „Seele“ (yuch,) eine herausragende Rolle. Im Einzelfall, das sei vorangeschickt, ist jedoch nicht immer sicher zu entscheiden, ob das Lexem mit „Seele“ angemessen wiedergegeben ist oder ob auch die Übersetzung mit „Leben“ gerechtfertigt ist, die keine anthropologischen Differenzierungen impliziert. In Mk 8,36 par. Mt 16,26 diff. Lk 9,25 (e``auto,n!) werden das Gewinnen des Kosmos und das „Schaden nehmen an der Seele“ einander kontrastiert. Radikalisiert ist die ethische Forderung durch die vorausgehende paradoxe Formulierung in Mk 8,35: Sie bewahrt die eudämonistische Ausrichtung, überrascht aber durch den empfohlenen Weg. In Lk 21,19 wird der Bewährung in der Verfolgung in Aussicht gestellt, die „Seelen“ (oder: „Leben“?) zu gewinnen. In Hebr 10,39, zum Schluss und als Fazit einer längeren mahnenden Passage, dient die Vorstellung von der „Bewahrung“ (peripoi,hsij) der Seele im Gegensatz zur Verderbnis zur Motivation. Eine Rettung des ganzen Menschen als leib-seelische Einheit ist hier ausdrücklich nicht als höchstes Gut in Aussicht gestellt. In ähnlicher Weise wird in Jak 1,21; 5,20 (hier geht es um die Seele des anderen); 1Petr 1,8f. die Rettung der Seele in ethischen Zusammenhängen als höchstes Gut ausgesagt. Anhand von 2Clem, vielleicht der ersten uns erhaltenen frühchristlichen Predigt, könnte man zeigen, wie diese Inanspruchnahme der Seelenvorstellung in der frühen nach-neutestamentlichen Verkündigung noch an Gewicht gewinnt25. Dagegen ist es in 1Kor 5,4f. das pneu/ma des Sünders, dem die Sorge des Apostels gilt und die seine Weisung an die Gemeinde motiviert. Sachlich vergleichbar sind ferner Aussagen, welche im Bild von der Ruhe der Seele die letztgültige 25
Vgl. 2Clem 16,2; 17,7.
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heilvolle Bestimmung des Menschen ausdrückt, vgl. Mt 11,29; kritisch im Gleichnis Lk 12,19f. 3.4
Glück des Alltags
Man könnte fragen, ob angesichts dieser Fülle von Aussagen über das höchste Gut, welche dieses zumindest implizit auch näher bestimmen, in der neutestamentlichen Ethik überhaupt Platz für eine Güterlehre diesseits der Ausrichtung auf ein höchstes Gut bleibe. In der Tat finden sich dafür einige Indizien26. So kann das Streben nach einem „ruhigen“ (1Tim 2,2), „friedlichen“ (Jak 3,17), „unanstößigen“ (1Kor 10,32; Phil 1,10), „jedermann gefälligen“ (1Kor 10,33), „schönen“ (1Petr 2,12), „ehrbaren“ und „stillen“ (1Tim 2,2; 1Thess 4,11f.) etc. Lebenswandel auch als der Versuch verstanden werden, eine Leid und Schmerz (hervorgerufen durch das eigene Verhalten wie durch Mitmenschen) vermeidende und Anerkennung heischende Existenzweise zu empfehlen. Intrinsische „Tugend“ und externes „Lob“, „Beliebtheit“ und „guter Ruf“ sind nebeneinander Motivationen des Handelns (Phil 4,8). Das ist kein Programm von Quietismus oder Weltflucht, sondern der innerweltlichen und zielgerichteten Klugheit. Man kann solche Orientierungen der alltäglichen Existenz durchaus als Annäherungsversuche an eine innerweltlich-glückliche Existenz interpretieren, neutestamentliche Ethik ist nicht allein am außerweltlichen Glück interessiert. Auch konkretere Weisungen orientieren sich erkennbar an diesem Ziel: Die Ratschläge des Paulus in Bezug auf Heirat oder sexuelle Enthaltsamkeit in 1Kor 7 zielen unter anderem auch darauf, dass den Adressaten „Bedrängnis“ erspart wird (V. 28), dass sie „ohne Sorge“ (V. 32) sind oder „Nutzen“ haben (V. 35). Die Gefahr des Alkoholmissbrauchs wird in einem „liederlichen Wesen“ (Eph 5,18) gesehen27. Die Gewalt über die Zunge, d. h. über das Reden, ist Zeichen umfassender Selbstbeherrschung des Menschen über sich selbst (Jak 3,2f.). Wo diese Selbstbeherrschung nicht vorhanden ist, droht individuelles und universales Unheil (V. 6). Auch die negativen Folgen des Reichtums werden nicht nur eschatologisch, sondern in allgemeiner Weise auch innerweltlich bestimmt (1Tim 6,9f.). Die Begierden des Fleisches führen zur inneren Entzweiung (Röm 7,7–25; 1Petr 2,11) und zur Unfreiheit des Individuums (2Petr 2,18f.). Auch menschlicher Zorn (ovrgh,) wird wegen seiner fatalen Konsequenzen bekämpft (vgl. Röm 2,8; Eph 4,31; Kol 3,8; 1Tim 2,8; Jak 1,19f.). Solche Weisungen bleiben allerdings punktuell und werden nicht zu einem systematischen 26 Vgl. dazu jetzt ausführlicher H. LÖHR, Gottesdienst im Alltag dieser Welt. Ein Beitrag zu einer künftigen „Ethik des Neuen Testaments“, BThZ 24 (2007), 241–261. 27 Vgl. daneben die eschatologisch begründete Ablehnung der Trunksucht in 1Kor 6,10.
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Programm der Selbstzucht oder der Lebenskunst entwickelt. Dieser Befund wäre m. E. primär nicht theologisch, sondern sozial- und institutionengeschichtlich auszuwerten: Das früheste Christentum hatte (noch) keinen Platz für regelmäßige „geistige Übungen“. 3.5
Ethischer Fortschritt
Doch ist in Ansätzen durchaus auch die Vorstellung eines möglichen ethischen Fortschrittes erkennbar. Die ersten Christen, die uns schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, lebten nicht in ausschließlich passiver Erwartung des Weltendes; sie kannten im Ansatz den Gedanken ethischer Selbstentwicklung. So kann Paulus, nachdem er in Phil 1,12 vom „Fortschritt des Evangeliums“ (prokoph, tou/ euvaggeli,ou) als Ziel seines Wirkens geschrieben hat, in V. 25 denselben Begriff aufnehmen und auf die Adressaten und ihren Glauben anwenden. Es kann hier offen bleiben, ob der Apostel damit, vielleicht durch jüdisch-hellenistische Vermittlung, bewusst auf das mittelstoische Konzept des proko,ptwn bzw. proficiens rekurriert, welches die diastatische Auffassung zweier Menschengruppen, den Weisen und den NichtWeisen, auszugleichen versuchte mit der Absicht, den Menschen in seiner Lebensführung zu beraten und zu verbessern28. In der Anrede an Timotheus wird dasselbe Konzept in 1Tim 4,15 vorausgesetzt, ohne dass der unbekannte Verfasser darin einen Widerspruch zur Rede von der „verliehenen Gnadengabe“ im vorhergehenden Vers erblickt hätte (vgl. noch den Gebrauch des stammgleichen Verbs proko,ptein in Gal 1,14). In Phil des Paulus begegnen andere Aussagen, welche dieselbe Sache, die mögliche ethische Verbesserung des Menschen, mit in den Blick nehmen. So setzt der Apostel in der briefeinleitenden Eucharistie ein (gewiss auch ethisches) Wachstum der Adressaten voraus (Phil 1,6), betet in Phil 1,9–11 für den Wachstum der Liebe der Adressaten in Hinsicht auf Einsicht und Verständnis bzw. Urteilsfähigkeit (evpi,gnwsij; ai;sqhsij) und bezieht in 3,15f. das Fortschrittskonzept auch auf die eigene Person. Auch die Rede vom „Wachsen“ (auvxa,nein) kann in der Briefliteratur im Sinne von Fortschritt und Verbesserung der Adressaten in verschiedener Hinsicht Verwendung finden, so in 1Kor 3,6f.; 2Kor 9,10 (Gerechtigkeit); 10,15 (Glaube); Eph 2,21; 4,15 (in allem); Kol 1,10 (in der Erkenntnis Gottes; vgl. V. 6); 2,19; 1Petr 2,2; 2Petr 3,18 (in Gnade und Erkenntnis). Gott wird dabei als Verursacher solcher Veränderung mehrfach explizit genannt (1Kor 3,6f.; 2Kor 9,10) oder ist impliziert (Eph 2,21; Kol 1,10; 1Petr 2,2). Daneben begegnen auch Aufforderungen zum Wachsen (Eph 28
Zum Fortschrittsdenken in der stoischen Ethik vgl. M. HENGELBROCK, Das Problem des ethischen Fortschritts in Senecas Briefen, Beiträge zur Altertumswissenschaft 13, Hildesheim u. a. 2000.
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4,15; Kol 1,10; 2,19; 2Petr 3,18). Das muss konzeptionell kein Widerspruch sein; Gottes Wirken und dasjenige des Menschen bilden für das frühchristliche Denken keinen ausschließenden Gegensatz. Schließlich dürfte auch die neutestamentlich recht geläufige ethische Rede von der „Vollkommenheit“ (te,leioj; teleio,thj) Indiz eines impliziten Konzeptes (von außen angeleiteter und angemahnter) ethischer Selbstvervollkommnung sein; vgl. Mt 5,48; 19,21; Röm 12,2; 1Kor 2,6; 14,20; Phil 3,15; Kol 3,14; 4,12; Jak 1,4; 3,2; 1Joh 4,1829. Ein systematisches Programm ethischer Verbesserung wird daraus jedoch, wenn ich recht sehe, nicht entwickelt. 3.6
Glück und Heil
Die von Michel Foucault in seiner Analyse antiker Moral30 gewonnene Frage nach der „ethischen Substanz“ im Sinne des von der jeweiligen Ethik umgearbeiteten bestimmenden „Materials“31 wäre für das Neue Testament insgesamt kaum zu beantworten; es gibt, so sahen wir, kein umfassendes ethisch-therapeutisches Projekt im frühen Christentum. Gewiss könnten aber, blickt man etwa auf die paulinische Ethik, Begriffe und Vorstellungen wie „Fleisch“ und „Begierde“ als solche „ethische Substanzen“ angesehen werden32. Und indem auch der biologische Tod des Menschen als Folge ethischer Fehlorientierung verstanden werden kann (vgl. grundsätzlich Röm 5,12.21; 6,23; konkret 1Kor 11,30), wird die Überwindung des Todes durchaus in das ethische Bemühen einbezogen. Wesentlich ist aber die Einsicht, dass das Neue Testament durchgängig diese Bearbeitung der ethischen Substanz der vollständigen Autonomie des Subjekts auf zwei Ebenen entzieht: Zum einen natürlich dadurch, dass die Texte einen informativen und direktiven Anspruch erheben, der ausdrücklich auch auf ein kommunikatives Autoritätsgefälle gegründet wird (die Worte Jesu; die apostolische Weisung des Paulus, des Petrus, des Presbyters; der historische Anspruch des Lk; der im vierten Evangelium zu Wort kommende Jünger etc.): ethische Besserung durch bessere, von außen zuteil werdende Erkenntnis. 29 Eher auf die Information bezogen zu sein scheinen Kol 1,28; Hebr 5,14; 6,1; eher ekklesiologisch orientiert ist Eph 4,13. 30 Vgl. vor allem M. FOUCAULT, Histoire de la sexualité I–III, Paris 1976/1984. 31 Vgl. M. FOUCAULT (mit H.L. DREYFUS und P. RABINOW), Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit, in: ders., Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. von D. Defert, ausgewählt u. mit einem Nachw. von M. Saar, stw 1814, Frankfurt a. M. 2007, 191–219, 204. 32 Die Frage nach der ethischen Substanz ist bei Foucault einer von vier Hauptaspekten des Selbstverhältnisses, „das bestimmt, wie das Individuum sich als moralisches Subjekt seiner eigenen Handlungen konstituieren muss“, vgl. F OUCAULT, Genealogie (s. Anm. 31), 203; vgl. 204f.
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Zum anderen aber wird das ethische Ziel der Überwindung des Todes, die Befreiung von der Macht der Sünde oder des Fleisches auf der konzeptionellen Ebene verbunden mit der Behauptung einer durch ein heilsames Eingreifen Gottes erfolgten Befreiung, welche die fundamentale ethische Störung beseitigt, die zuvor ein Erreichen des höchsten Guts unmöglich machte. Die hierfür gewählte soteriologische Terminologie ist unterschiedlich, und unterschiedlich erfolgt auch die genauere Verhältnisbestimmung zwischen diesem soteriologischen Geschehen und den aufgewiesenen ethisch-teleologischen Argumentationszusammenhängen. Gelegentlich wird ein konzeptioneller Ausgleich ausdrücklich vorgenommen – ich kann das hier nur summarisch andeuten –, werden also Heil und höchstes Gut in ein Verhältnis gesetzt. Dies scheint primär dadurch zu geschehen, dass den Adressaten eingeschärft wird, das prinzipiell zur Verfügung stehende höchste Gut nicht zu verfehlen, zu verpassen oder zu verlieren (so in Hinsicht auf die Königsherrschaft Gottes oder die Ruhe). Andere Strategien der Vermittlung sind anthropologische Unterscheidungen (das Gegeneinander von Fleisch und Geist in Gal 5 und Röm 8), die Rede von Hoffnung (vgl. Röm 8,24f.; Gal 5,5), Glaube (vgl. Hebr 11,1–12,3) und Geduld (vgl. Röm 8,25; 1Thess 1,3 u. ö.), die so zu menschlichen Tugenden auf der Grundlage schon vorhandenen Heils und in Hinsicht auf ein höchstes Gut werden, oder der schon skizzierte Gedanke ethischen Fortschritts. Exegetische Ansätze, diese konzeptionellen Ausgleichsversuche wiederum metasprachlich zu erfassen – etwa durch Begriffe wie „Bewährung“, „Einweisung in das neue Sein“, „Entsprechung“ o. Ä. wären je und je kritisch darauf zu prüfen, ob sie das aufgewiesene teleologische Moment neutestamentlicher Ethik deutlich genug abbilden. 3.7 Die Gegenprobe: Verzicht und Leiden als Motive neutestamentlicher Ethik Sind die vorstehenden Aspekte als Elemente einer eudämonistisch orientierten Güterlehre im Neuen Testament zu verstehen, so könnte als Einwand gegen eine solche Sicht neutestamentlicher Ethik darauf verwiesen werden, dass diese ganz wesentlich durch die Mahnung zum Erdulden von Anfechtung und Leiden geprägt sei, mit oder ohne Verweis auf das Vorbild Christi. Spricht nicht die implizit oder explizit am Kreuz orientierte Ausrichtung neutestamentlicher Ethik ganz entschieden gegen die vorgeschlagene Sicht? Die Ausführungen zur Güterabwägung deuteten aber schon an, inwiefern sich die Leidensparänesen durchaus dem herausgearbeiteten Grundzug neutestamentlicher Ethik einfügen dürften: Die Güterethik des Neuen Testaments kennt die Unterscheidung und unterschiedliche Wertung von Gü-
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tern, Bevorzugung und Abwertung. Der Gedanke, um des einen höchsten Gutes auf andere zu verzichten, bis zum Erdulden von sozialen Nachteilen und Leiden, liegt nicht fern. Aus der synoptischen Tradition ist zu verweisen auf den Makarismus in Mt 5,11f.par., welcher den um Jesu willen Geschmähten und Verfolgten himmlischen Lohn verheißt. An das oben33 bereits behandelte Jesus-Wort über die Nachfolge in Mk 8,34–38parr. ist noch einmal zu erinnern. In der Perikope Mk 10,28–31parr. wird die Frage nach dem Gewinn der JesusNachfolge durch die Petrus-Frage ausdrücklich thematisiert. Ihre Antwort liegt nicht in der Abweisung ihrer Berechtigung, auch nicht in dem Verweis auf das Leiden als menschliches Existenzial, sondern in der Aussicht auf überwältigenden Lohn (V. 30). Deutlich findet sich das Motiv auch in der Argumentation des Hebr34. In Hebr 10,32–36 erinnert der Verfasser die Adressaten an frühere eigene Leiden bzw. Mitleiden mit anderen, um sie auch für die Zukunft zu motivieren. Dabei wird der Gedanke des eschatologischen Lohns zweimal angeführt, in der Erinnerung an Vergangenes (V. 34) wie in der Mahnung für Künftiges (V. 35). Auch das Erlangen der Verheißung (d. h. des Verheißenen, V. 36) soll zum Durchhalten anspornen. Auch in der Reihe der Glaubensbeispiele von Hebr 11f., die grundsätzlich teleologisch ausgerichtet ist, fehlt das Motiv des Leidens nicht. Der Glaube zeigt sich nicht nur im Vertrauen auf Künftiges und Unsichtbares, sondern auch im Durchstehen gegenwärtiger Leiden. Neben dem Mose-Beispiel (11,25f.) wird dies besonders in dem Summarium V. 32–40 deutlich. Wiederholt findet sich das Motiv auch in 1Petr, vgl. 1,3–7; 4,13f., wobei das Leiden jeweils als Nachfolge Christi verstanden ist. Doch wie dessen Weg nicht am Kreuz endet, so funktioniert die darauf aufbauende Paränese aufgrund des ihr zugehörigen Lohngedankens. Andere Beispiele für denselben Sachverhalt aus dem Neuen Testament finden sich in Jak 1,2f.12; 2Kor 4,17f.; 2Thess 1,4–7. Diese exemplarischen Belege lassen erkennen, dass die Leidensparänese des Neuen Testament nicht im Widerspruch zu einer Güterethik steht, sondern diese gerade affirmiert und profiliert: In ihr wird der spezifische Zug frühchristlicher Glückserwartung und -orientierung im Widerspruch zu gängigen und gewohnheitsmäßig-unreflektierten Orientierungen menschlicher Existenz besonders deutlich.
33
S. 49. Vgl. ausführlicher H. LÖHR, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief, BZNW 73, Berlin/New York 1994, 280–282, dort auch Hinweise zu möglichen traditionsgeschichtlichen Hintergründen (Lit.). 34
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4. Ergebnis Fassen wir den Gang unserer Überlegungen zusammen: 1. Sowohl der gegenwärtige philosophische und theologische Diskurs als auch die Einsichten antiker Philosophiegeschichtsschreibung legen es nahe, nach dem eudämonistischen Charakter neutestamentlicher Ethik zu fragen. 2. Die traditionellen theologischen oder philosophischen Vorbehalte, die sich einer solchen Perspektive widersetzen, sind zugunsten des Eigenrechts der Quellen und ihrer Verortung im antiken Diskurs hintanzustellen. 3. Die neutestamentliche Ethik ist deutlich durch teleologisch-eudämonistische Begründungszusammenhänge geprägt. Anders ausgedrückt: Der Güterlehre kommt in der neutestamentlichen Ethik – wie in der sonstigen antiken Philosophie – ein hoher Stellenwert zu. 4. Das Einschreiben der verschiedenen Vorstellungen vom höchsten Gut in ethische Begründungszusammenhänge führt punktuell zur Abwägung verschiedener Güter (und damit direkt oder indirekt zu einer inhaltlichen Näherbestimmung des höchsten Gutes, die ansonsten fehlt), oder sie erscheint gelegentlich koordiniert mit anthropologischen Dihäresen. 5. Neben dieser ethischen Orientierung am höchsten Gut lassen sich auch Direktiven finden, die dem Erreichen anderer Güter dienen und als Ratschläge zu alltäglicher Selbstsorge aufgefasst werden können. 6. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Ethik – und nicht ein Widerspruch zu ihr – ist darin zu sehen, dass neben die ethische Forderung die Behauptung einer externen Bearbeitung der ethischen Störung, eines rettenden Eingreifens durch Gott tritt. Es fehlt nicht an vermittelnden Konzepten, doch ist hier der Punkt, wo sich eine Heilsbotschaft, auch wenn sie den Menschen als Handelnden einbezieht, und Philosophie notwendig voneinander abheben. 7. Die im Neuen Testament zu findende Leidensparänese steht nicht im Gegensatz zu der behaupteten eudämonistischen Orientierung, sondern trägt zu ihrem spezifischen Profil erheblich bei.
Lebenskunst und Ethos Beobachtungen zu Plutarch, Seneca, Philo von Alexandrien und dem 1. Petrusbrief Manfred Lang Die Frage nach einer sog. Lebenskunst scheint ‚in‘ zu sein. Eine GoogleAbfrage am 21. August 2007 erbrachte in nur 0,19 Sekunden ungefähr 674.000 Treffer. Greift man zu lokalen OPAC-Systemen der Bibliotheken, so ist die Trefferanzahl beispielsweise im Hallischen, die dieses Stichwort führen, mit 229 Treffern zwar geringer, gleichwohl zeigt die konkrete Übersicht, dass allein im Zeitraum von 2000 bis heute mit 88 Titeln genauso viele Nachweise zu notieren sind wie für den Zeitraum 1990–2000. Es mag hierbei ‚zwischen Dummheit und Weisheit‘ – so der Titel des Bandes von Karl Wimmer1 – unterschiedliches Niveau zu verzeichnen sein, doch ist der antike Horizont dieser Konzeption nur wenig bedacht worden. Christoph Horn2 ist hier eine jüngere, rühmliche Ausnahme. Im Feld der neutestamentlichen Forschung hat zuletzt Hermut Löhr das Stichwort aufgenommen, um einen Teilaspekt paulinischer Anthropologie zu entfalten; Manuel Vogel entwickelt anhand von 2 Kor 5,1–10 eine ars moriendi3. Ich möchte dieses Stichwort der Lebenskunst aufgreifen und mit wenigen Stri-
1
K.W IMMER, Zwischen Dummheit und Weisheit, Magdeburg 2007, 9–29. CHR. HORN, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998; vgl. auch A. D IHLE, Philosophie als Lebenskunst, RhWAW.G 304, Opladen 1990. W. SCHMID, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, stw 1385, Frankfurt 1998, versteht seine Grundlegung im deutlichen Reflex auf die aktuelle Notwendigkeit und blendet von daher den historischen Reflex auf antike Konzeptionen aus. 3 H. LÖHR, Paulus und der Wille zur Tat. Beobachtungen zu einer frühchristlichen Theologie als Anweisung zur Lebenskunst, ZNW 98 (2007), 165–188. Von einer ars moriendi spricht zuvor M. VOGEL, Commentatio mortis. 2Kor 5,1–10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi, FRLANT 214, Göttingen 2006. Im Rahmen einer rezeptionsästhetischen Lektüre durch einen potentiellen Römer habe ich dies anhand des lk. Paulusbildes durchgeführt: M. LANG, Die Kunst des christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild, ABG 29, Leipzig 2008 und dort die Seite 8, Anm. 5 genannten weiteren Positionen außerhalb des NT. 2
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chen skizzieren, was sich m. E. als wertvolle kulturhistorische Signatur für den 1Petr ausmachen lässt. Zwei hellenistische Zeitgenossen (Plutarch und Seneca) dieses neutestamentlichen Briefes sowie der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien sollen beachtet werden. Folgenden Gedanken möchte ich dabei entfalten: Antike Lebenskunst, sei sie in plutarchischer, senecaischer oder philonischer Couleur entfaltet oder aus dem 1Petr in die kulturhistorische Signatur eingezeichnet, stellt sich als ein präfiguriertes Beziehungsethos dar4. Dabei soll ‚präfiguriert‘ zum Ausdruck bringen, dass hier ‚vorab‘ eine äußere Form, ein äußeres Aussehen erkennbar sein muss. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, weil äußeres Aussehen eine Geisteshaltung widerspiegelt5. Insofern wird sie für das Gegenüber ‚ansehnlich‘6. Unter ‚Beziehungsethos‘ will ich den zuletzt genannten Aspekt der ‚Ansehnlichkeit‘ verstehen. Gemeint ist dabei jenes allgemeine Gefüge, in das menschliches Handeln im Sinne eines Kommunikates7 eingebunden ist. Die hier angesprochenen kognitiven Operationen beziehen sich dabei auf jenen Transformationsprozess, der sich auf die Wahrnehmung des ‚Präfigurativs‘ und deren sachgemäße Realisierung bezieht. Das verfolgte Ziel ist dabei die Ausbildung begründeter Strategien für eine kohärente Lebensführung, die ‚antike Lebenskunst‘ genannt 4 Die Diskussion darum, ob und wenn ja in welcher Weise das alte Schema ‚Indikativ – Imperativ‘ zur Beschreibung ethischer Begründungsstrukturen sachgemäß ist, ist unlängst zur Disposition gestellt worden: vgl. zuletzt R. Z IMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259–284, F. B LISCHKE, Die Begründung und die Durchsetzung der Ethik bei Paulus, ABG 25, Leipzig 2007. Auch meine Beobachtungen folgen dieser Kritik, indem sie eine schablonenhafte Anwendung dieses Schemas ablehnen. 5 Vgl. dazu Epict.diss. III 22,45–49; Luc.fug. 14; Ps.Luc.Cyn. 16f.; Muson.diss. 19, S. 107,5–12 (Hense); Ep.Cyn.Ps.Diog. 7; 15; 19; 22; 26; u. ö. (voraussichtlich im Neuen Wettstein zu Mt 10,9f.). Hier wie im Folgenden lehne ich mich an die Abkürzungen an, wie sie vorgeschlagen sind in: G. STRECKER/U. SCHNELLE (Hgg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus II/1–2: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, unter Mitarb. v. G. Seelig, Berlin/New York 1996; U. SCHNELLE (Hg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus I/2: Texte zum Johannesevangelium, unter Mitarb. v. M. Labahn u. M. Lang, Berlin/New York 2001; U. SCHNELLE (Hg.), Neuer Wettstein, Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus I/1.1: Texte zum Markusevangelium, unter Mitarb. v. M. Labahn und M. Lang, Berlin/New York 2008. 6 Vgl. dazu Sen.ep. 6,1f. 7 Vgl. dazu G. RUSCH, Art. Kommunikat, literarisches, Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze–Personen–Grundbegriffe ( 22001), 319f., 319: „K(ommunikat; M. L.) bezeichnet die Gesamtheit der kognitiven Operationen, die beim Hörer/Leser anlässlich der Wahrnehmung eines für literar(isch; M. L.) gehaltenen Textes ablaufen oder die ein Sprecher/Autor in die Form eines literar(ischen; M. L.) Textes transformieren will.“ Ferner LANG, Kunst (s. Anm. 3), 67–89.
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werden soll. Dabei soll unter ‚kohärenter Lebensführung‘ eine solche verstanden werden, die fernab davon ist, für jeden Bereich menschlichen Lebens ein eigenes ‚Gesicht‘ zu prägen, als vielmehr auf jedem Gebiet dieselbe, kohärent, zu sein8. Was gerade dies konkreter besagt, soll eingangs des ersten Kapitels anhand von Maximos von Tyros gezeigt werden.
1. Lebenskunst bei Plutarch, Seneca und Philo von Alexandrien Maximos von Tyros eröffnet seine in Rom gehaltenen philosophischen Vorträge im ausgehenden 2. nachchristlichen Jahrhundert9 mit einer Schilderung von Funktion und Arbeitstechnik eines Schauspielers. Die Fähigkeit des Redners bestehe gerade darin, verschiedene Rollen in einem Stück glaubhaft und überzeugend spielen zu können und doch immer derselbe Schauspieler zu bleiben: Was aber nun, wenn einer solche Rollen auf Spiel und Theater beschränkt sehen will, jedoch glaubt, auch er habe im täglichen Leben ein Stück aufzuführen? […] Ein solches Stück aber […] besteht aus Handlungen wirklichen Lebens, und dieses Stück ist in den Augen des Philosophen wahrer als ein gespieltes, kennt keine Pausen und wird zur Aufführung gebracht von Gott als Dichter. Wenn jener dann in diesem Stück mitwirkt und sich selbst zum ersten Schauspieler der Truppe erklärt, die Würde der Dichtung wahrt und den Ton seiner Rede der Natur der Handlungen anpaßt, die Gott aufführen läßt, dann würde niemand glauben, ein solcher falle aus der Rolle, halte den Ton nicht durch und sei, […], vielgestaltig und von bunter Natur.10
Was anhand eines Schauspielers verdeutlicht werden soll, ist demnach die Relevanz einer kohärenten Lebensführung, die einer Konzeption das Wort reden will, die nicht jedem Menschen jeweils ein anderes Gesicht präsentieren will (vgl. Cic.off. 1,115).
8
Im philosophischen Diskurs ist hier auf die Bestimmung des antiken PersonBegriffs zu verweisen; vgl. M. FORSCHNER, Le Portique et le Concept de Personne, in: J.B. Gourinat (Hg.), Les Stoïciens, Bibliothèque d’Histoire de la Philosophie, Paris 2005, 293–317, bes. 298–315; V. Henry T. Nguyen, Christian Identity in Corinth. A Comparative Study of 2 Corinthians, Epictetus and Valerius Maximus, WUNT II/243, Tübingen 2008, 10–114. 9 Vermutlich war dies unter Kaiser Commodus und dessen Regentschaft (180–192). Ob dort alle 41 Vorträge gehalten wurden oder nur sechs, ist nicht sicher, aber wohl doch wahrscheinlich; MAXIMOS VON T YROS, Philosophische Vorträge, übers. v. O. Schönberger/E. Schönberger, Würzburg 2001, 7. 10 Max.Tyr. 1b–c; Übers. Schönberger/Schönberger, MAXIMOS VON T YROS, Vorträge (s. Anm. 9), 19. M.B. TRAPP, Philosophical Sermons. The ‚Dialexeis‘ of Maximus of Tyre, ANRW 34.3, Berlin/New York 1997, 1945–1976; zu Max.Tyr. 1 vgl. insgesamt dort 1950–1952 und zur argumentativen Struktur der Reden 1954–1960.
60 1.1
Manfred Lang
Plutarch
Plutarch eröffnet seine sog. Tischgespräche11 (Quaestionum convivalium) erstmals12 und gleichsam programmatisch mit der Wendung te,cnh peri. bi,on, indem er folgender Frage nachgeht: Soll während eines Symposiums philosophiert werden, wo doch beim Wein der aufmerksame Gast nicht willkommen ist, sondern derjenige, der bald nach der Zusammenkunft die Unterhaltung vergisst? Nun widerspricht Plutarch dieser referierten Meinung mit dem Hinweis auf Platon, Xenophon, Aristoteles u. a., die alle nicht nur bei Symposien Freundschaften gestiftet, sondern auch solche Gespräche aufgezeichnet hätten. Kraton, Plutarchs Schwager, fügt ferner hinzu, die philosophischen Themen müssten sehr wohl behandelt werden, da sich die Philosophie ihrem Selbstverständnis entsprechend als Kunst für das Leben, als te,cnh peri. bi,on, verstehe. Diese Kunst besteht in ihrer Zielsetzung gerade darin, durch die Tat zu bestätigen, was im Hörsaal diskutiert wurde (Plut.mor. 613c). Diese alles umfassende te,cnh würde beschnitten, wollte man die Philosophie aus dem Symposium verbannen. Ei11 P LUTARCH, Vermischte Schriften I: Tischgespräche, übers. v. J.F.S. Kaltwasser, hg. v. H. Conrad, Klassiker des Altertums, München/Leipzig 1911, 2, urteilt, die Tischgespräche Plutarchs seien „eins der wichtigsten und interessantesten“ Werke Plutarchs. Vgl. auch die Einschätzung Klaucks im Anschluss an François Fuhrmann in: P LUTARCH, Moralphilosophische Schriften, ausgew., übers. u. hg. v. H.-J. Klauck, Stuttgart 1997, 148f. 12 Traditionsgeschichtlich kommt Zenon dieser Wendung noch am nächsten (SVF I,73,15f.), der sagt, Stoiker würden eine Kunst(fertigkeit) bestimmen (o``ri,zontai to.n te,cnhn): Kunst ist die gewordene Zusammenstellung aus dem Verstehen für die Seele, die sich übt (te,cnh evsti. su,sthma peri. yuch.n geno,menon evk katalh,yewn evggegumnasme,nwn). Das ist jedoch nicht sicher, wie FDS 393a Z. 16–29 zeigt: „Wissenschaft ist ‚ein System aus Erkenntnissen‘ (su,sthma evk katalh,yewn), d.h. eine Vereinigung von Entdeckungen (denn wenn die einen dies und die anderen das entdeckt haben, entsteht daraus die Wissenschaft [tou/t’ e;stin a;qroisma evx evfeure,sewn {kai. ga.r tw/n me.n to,de evfeurhko,twn tw/n de. to,de avpetele,sqh h`` te,cnh}]); ‚durch Erfahrung gemeinsam eingeübt‘ (evmpeiri,a | suggegumnasme,nh), d.h. in vielfältiger Erfahrung erprobt (denn die Lehrsätze erprobt man ja in vielfältiger Erfahrung und schlägt sie auf diese Weise der Wissenschaft zu); ‚zu einem bestimmten, für die Menschen im alltäglichen Leben förderlichen Ziel‘ – dies wurde wegen der unnützen und wegen der schlechten (schädlichen) Kunstfertigkeiten hinzugefügt; die nämlich sind dem alltäglichen Leben nicht förderlich. Eine unnütze Kunstfertigkeit ist da die, welche dem alltäglichen Leben weder nützt noch schade, wie das etwa beim Seiltänzer und bei dem der Fall ist, der mit einer Balancierstange tanzt. Und eine schlechte (schädliche) Kunstfertigkeit ist die, welche außer dass sie dem alltäglichen Leben nicht nützt, ihm sogar schadet, wie das etwa bei den Betrügern ist; denn darüber hinaus, dass diese dem alltäglichen Leben nicht nützen, schaden sie ihm sogar.“ Übers. K. HÜLSER (Hg.), Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker I–IV, Stuttgart 1987, 423. Vgl. ferner FDS 344 (= Cic.n.d. II 148); 394 (= Quint.Inst. II 17,41); 396 (= Sext. Emp.Math. II 10); 397 (= Scholion de Dionysii Thracis p. 108,31–33); 408 (= Sext.Emp.Pyrrh. III 251).
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ne solche Einsicht führt Plutarch im weiteren Verlauf zu den leider nicht mehr vollständig erhaltenen neun Büchern der ‚Tischgespräche‘, die u. a. folgende Fragen reflektierter Lebenskunst aufwerfen13: so etwa, ob der Gastgeber seinen Gästen den Platz zuweist14 und somit Anerkennung gewährt oder verweigert15. Oder: was wohl die Ursache dafür sei, dass man im Herbst am meisten esse16 – eine Frage, die die erkenntnistheoretische Debatte um die Relevanz und Funktion von Feuchtigkeit aufwirft. Gleichwohl ist uns nicht immer ein Hintergrund sofort erkennbar, etwa dann, wenn man fragt, warum Trüffel vom Donner entstehen – Schlafende aber nicht vom Blitz getroffen werden17. Als Erklärung verweist man auf die Wärme und die Kraft. Die Argumentation dieser und weiterer möglicher ‚Tischgespräche‘ ist heutiger Lektüre vielleicht nicht immer einsichtig. Sie ist jedoch von der Absicht geleitet, dass vom Urteilen zum Handeln zu kommen ist, dass also Worte nicht bloß Worte bleiben sollen, sondern in Taten zu überführen sind (Plut.mor. 84b; vgl. 1033b18). Gerade daraus ergibt sich die Notwendigkeit zu ethischen Mahnungen: Man muss verstanden haben, weshalb man Leidenschaften als hässlich und schädlich einzustufen hat (Plut.mor. 510d). Vonnöten ist hier gleichsam eine therapierende Kunst, die menschliches Fehlverhalten zur Heilung führt (ei;te kaki,an( mh. mei,nhj avjqera,peutoj; Plut.mor. 1128c). Ihr Adressat ist bezeichnenderweise nicht der avmaqh,j bzw. ponhro,j (vgl. stultus), sondern bereits der philosophisch ‚Bekehrte‘ (Plut.mor. 1128d)19: Transparente und kohärente Le-
13 Zu weiteren Konkretionen vgl. R. HIRSCH-LUIPOLD, Pferde, Musen und Spargelkranz. Die Bedeutung der Bildersprache bei Plutarch am Beispiel der „Eheratschläge“, in: M. BAUMBACH/H. KÖHLER/A.M. RITTER (Hgg.), Mousopolos Stephanos (FS H. Görgemanns), BKAW 2.102, Heidelberg 1998, 105–118, bes. 107–118 und hinsichtlich Plutarchs (praktischen) theologischen Ansatzes R. F ELDMEIER, Philosoph und Priester. Plutarch als Theologe, in: B AUMBACH/KÖHLER/RITTER (Hgg.), a.a.O., 412–425, bes. 416– 421. 14 Plut.mor. 615c–619a (Zweite Frage des 1. Buches). 15 Vgl. dazu zuletzt K. VÖSSING, Mensa Regia. Das Bankett beim hellenistischen König und beim römischen Kaiser, BzA 193, München/Leipzig 2004. 16 Plut.mor. 635a–d (Zweite Frage des 2. Buch). 17 Plut.mor. 664b–666d (Zweite Frage des 4. Buch). 18 Es kann dann zu einem Kristallisationspunkt dafür werden, um beispielsweise die stoische Philosophie zu kritisieren (vgl. dazu Plutarchs Traktat Plut.mor. 1033a–1057c, der die stoischen Widersprüche thematisiert). 19 „Unterscheide und lege erst einmal fest, für wen dein Ratschlag bestimmt ist. Wenn er für einen ungebildeten, schlechten und verbohrten Menschen gedacht ist, dann ist es so, als würdest du sagen: ‚Bleibe im verborgenen, wenn du Fieber hast, wenn du gar im Fieberwahn bist, der Arzt soll deinen Zustand nicht sehen. Geh’ und verkrieche dich irgendwo in der Dunkelheit, von keinem bemerkt mitsamt deinen Leiden.‘“ P LUTARCH, Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel?, übers. v. B. Heininger, in: P LUTARCH, Ist ‚Lebe im Verborgenen‘ eine gute Lebensregel, SAPERE 1, hg. v. U.
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bensführung ist dort möglich, wo einem so Angesprochenen bekannte Bilder, alltägliche Beispiele, vertraute Geschichten und Rahmenhandlungen mit den darin vorgestellten Persönlichkeiten sowie endlich auch Mythen erzählt werden. Diese Aspekte werden beispielsweise mit rhetorischen Eigenarten (z. B. Diatribe) und syntaktisch überraschend kurzen Wendungen verbunden. Sie dienen alle dazu, die Erinnerung (mnh,mh* avna,mnhsij) anzusprechen, die die zutreffenden und notwendigen Inhalte besitzt, um sachgemäß handeln zu können (vgl. Plut.mor. 473e). 1.2
Seneca
Auch Seneca tritt in dieses sprachlich fixierte und bereits bei Cicero belegte Programm der ars vivendi ein, führt aber darüber hinaus den Vertreter dieses Programms, den artifex vivendi, neu in die Debatte ein20. Dabei zeichnet sich das senecaische Konzept für meine Frage auch deshalb noch aus, weil es in seiner letzten Gestaltung, den Epistulae morales, in der wirren Umgebung eines Nero in den 60er Jahren entstanden ist und gleichsam zeigt, wie Hörsaal bzw. Schreibtisch und Marktplatz als Ort öffentlicher Bewährung zusammenfallen. Für Seneca ist dabei der Vorwurf an seine Kollegen wichtig und grundlegend, eine gerade Linie erklären zu können, zu einer geraden Handlung hingegen nicht imstande zu sein (Sen.ep. 88,36–46). Bemüht man die existentialhermeneutische Kategorie der ‚Zeit‘, so können solche Kollegen auch occupati genannt werden: Über die Vergangenheit verfügen sie nicht, in der Gegenwart leben sie nicht, ihr Leben und Weben bezieht sich ausschließlich auf eine unverfügbare Zukunft. Philosophie als eine ars vivendi verspricht aber Gesundheit von einer solchen Fehlhaltung (Sen.ep. 15,1; 53,8), weckt von Fehlern auf und ist insgesamt eine ars vivendi et moriendi (Sen.brev. 19,2; Sen.benef. 5,6,3) und lässt den nach Weisheit Strebenden zu einem artifex vivendi (Sen.ep. 95,7) werden. Als ein derart Geheilter beherrscht der otiosus die Zeit (Sen.ep. 1,2) und realisiert Lebenskunst, weil sie auf wahrer Freiheit be-
Berner/R. Feldmeier/B. Heininger u. a., Darmstadt, 2000, 50–61, 51.53. Vgl. dazu die ältere stoische Gegenüberstellung von fau/loj und so,foj in SVF III,544–547. 20 Vgl. dazu LANG, Kunst (s. Anm. 3), 9–11.160f.165. Ein griech. Gegenstück (tecni,thj peri. bi,on) sucht man vergeblich! Am nächsten kommt auch hier wieder der oben in Anm. 12 genannte Kontext aus FDS 393a: „Denn der Wissenschaftler (Künstler, Handwerker) bedient sich der Vernunft, wenn er etwas schaffen will, und prägt vorher in sich selbst aus, was er schaffen will, und führt es dann so aus“ (Z. 9–11; o`` tecni,thj kekrhme,noj tw/| lo,gw|( h``ni,ka bou,letai ti poih/sai( pro,teron diatupoi/ evn e``a utw/| o] bou,letai poih/sai kai. ei=qV ou[twj avpotelei/ auvto,; Übers. HÜLSER, Fragmente [s. Anm. 12], 423).
Lebenskunst und Ethos
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ruht: Angst und Hoffnung sind das wahre Gesicht gegeben, denn sie können das Leben nicht mehr beeindrucken (Sen.ep. 24,13)21. Nur wenige, konkrete Anweisungen sollen noch kurz ausgeführt werden, um die Skizze anschaulicher werden zu lassen. Das soll mittels vier Thesen geleistet werden: 1. Der denkende Mensch ist jetzt auch ein tätiger Mensch, weil er sich liebenswert macht allen, solange er lebt (Sen.ira 3,43,1). 2. Er lebt in gegenseitiger Ermahnung und Fortentwicklung mit Freunden (Sen.ep. 6,1f.). 3. Vormundspflichten übt der Weise über seinen Körper aus: „wenn es fordert die Vernunft, wenn die Würde, wenn die Treue, muß er ins Feuer geschickt werden“22 (Sen.ep. 14,2). 4. Der Umgang mit Sklaven wird neu bestimmt (Sen.ep. 47,11.13.18f.): Sie sind Mithausgenossen. Schließlich ist der Ort, an dem eine solche Transfiguration stattfindet, vergleichbar mit dem Ablegen der Kindertoga und dem Anlegen der Männertoga auf dem Marktplatz: eintreten aus kindlicher Geisteshaltung in diejenige des erwachsenen Mannes (Sen.ep. 4,2)23. An einem Text will ich näherhin zeigen, welche Grundlagen dieses Handeln hat: Sen.ep. 90. Eingeleitet wird dieser Brief mit der Frage nach dem Woher der Philosophie. Seneca beantwortet diese Frage zunächst theologisch: Götter schenkten das Leben – Philosophie hingegen die Möglichkeit, sittlich leben zu können. Die Philosophie selbst ist aber keine Gabe der Weisen, sondern die Götter verliehen die Möglichkeit, aus einem 21 Konkrete Hinweise, dass die Exegese immer psychagogisch sein muss (vgl. die Kritik Senecas in Sen.ep. 10,23f. sowie Sen.brev. 13,1–8) gibt Seneca in Sen.ep. 84,3–5: Bienen gleich, die den gesammelten Pollen mit ihrem Gärmittel zu Honig umwandeln, muss das Gelesene zu einer eigenen Lesart geführt werden. Zur Analyse von Sen.ep. 84 vgl. K. SCHÖPSDAU, Seneca über den rechten Umgang mit Büchern, RMP 148 (2005), 94–102, sowie LANG, Kunst (s. Anm. 3), 58–60. Das kann beispielsweise bedeuten, sich in einer praemeditatio zu üben, oder aber wichtige Briefe zu lesen bzw. selbst zu schreiben, oder aber in der Notwendigkeit einer täglichen meditatio und exercitatio (vgl. dazu die konsolatorischen Texte Senecas: ad Marciam de consolatione; ad Helviam de consolatione; ad Polybium de consolatione; Epistulae morales 63; 93; 99; die Epistulae morales, die Lucilius lesen soll, um in die stoische Philosophie eingeführt zu werden; Sen.ep. 79,5; 33,8; Polyb. 18,2); vgl. ferner Epik.Men. 135 („Darum und um alles andere, was dazu gehört, kümmere dich Tag und Nacht, und zwar für dich selbst allein und für den, der dir ähnlich ist“; EPIKUR, Wege zum Glück, hg. u. übers. v. R. Nickel, STusc, Düsseldorf/Zürich 2003, 235). 22 L.A. SENECA, Philosophische Schriften I–V, hg. v. M. Rosenbach, Darmstadt 1999 (= 51995), III, 99. 23 Vgl. dazu das Bild, sich mit der Philosophie wie mit einer Mauer gegen Feinde umgeben zu müssen/können (Sen.ep. 82,5).
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bloßen Leben eben ein sittlich wertvolles Leben gestalten zu können. Leben allein genügt also nicht. Vielmehr müssen gewisse Qualitätsstandards und ein zu verwirklichender Anspruch benannt werden können, die das Leben nicht als ein bonum, sondern als ein bene vivere darstellen (vgl. dazu Sen.vit. 1,1; Sen.brev. 2,2; 7,3; Sen.ep. 70,4; 93,7). Seneca unterscheidet hier zwischen scientia und facultas, die für die Philosophie kennzeichnend sind (Sen.ep. 90,1). Ist facultas allen Menschen möglich, so doch nicht die scientia. Dies kennzeichnet auch den stultus einerseits und den sapiens andererseits24: Nicht kultureller Fortschritt ist die scientia des sapiens, sondern der, der „anderen und sich selbst zeigt, wie uns die Natur nichts Hartes und Schwieriges auferlegt hat“25 (Sen.ep. 90,15). Darin ist der Mensch sich selbst gegeben, sich dieser wertvollen und großartigen Eigenschaft zu bedienen. Eine wohltätige Sache (beneficaria res) ist das nicht, sondern ein debere (90,2)! Plastisch und konkret ist diese dem goldenen Zeitalter26 entnommene Beschreibung dort, wo Seneca das kynischstoische Ideal der Bedürfnislosigkeit proklamiert27: Unter Platanen wohnen Freie – in Palästen Knechte (Sen.ep. 90,10). Auf die oben genannte anthropologische Differenzierung bezogen bedeutet das, dass dem stultus der Reichtum Herr ist – dem sapiens hingegen Knecht (vgl. Sen.vit. 22,5; 26,1)28. Das kann Seneca derart ausdrücken, dass er diesen stultus den kleinen Kindern gleichstellt29, denen die den Menschen charakterisierende
24 Diese scharfe Gegenüberstellung ist hinsichtlich des sapiens zu differenzieren, weil Seneca das Phänomen des ‚Fortschreitens‘ ansetzt und drei verschiedene Gruppen der Fortschreitenden (proficere) unterscheidet; vgl. dazu Material und Differenzierungen bei M. LANG, „Mach dich liebenswert allen, solange du lebst“ (Sen.ira 3,43,1). Überlegungen zur Semantik „Liebe“ bei Seneca, in: K. Tanner (Hg.), „Liebe“ im Wandel der Zeiten. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Theologie, Kultur, Hermeneutik 3, Leipzig 2005, 35–51, 41f., Anm. 31. Zur charakteristischen Gegenüberstellung von ‚sapiens‘ und ‚stultus‘ vgl. Sen.ep. 16,4f.; 78,16; 107,7.10–12 s. o. Die Texte sind z. T. zitiert auf dem beiliegenden Datenträger LANG, Kunst (s. Anm. 3), Nr. 71.200.160 Anm. 238. 25 Übers. Rosenbach, SENECA, Schriften (s. Anm. 22), III, 351. 26 Vgl. Clem 1,1,3; Sen.nat.quaest. 3,30,7f.; sowie Sen.ep. 94,55f.; ferner LANG, Kunst (s. Anm. 3), 100, Anm. 8, mit weiterem Material und Hinweisen. 27 Es ist ein Ergebnis des Scharfsinns (sagaticas), der sich technischen Fortschritt schuf, nicht eines der sapientia (90,11). Zur Zitation von Verg.georg. 1,139f. vgl. auch Sen.vit. 14,3. Zu weiteren Analysen und Texten hinsichtlich des Umgangs mit Texten Ovids vgl. G. KUEN, Die Philosophie als „dux vitae“. Die Verknüpfung von Gehalt, Intention und Darstellungsweise im philosophischen Werk Senecas am Beispiel des Dialogs „De vita beata“. Einleitung, Wortkommentar und systematische Darstellung, WKLGS, Heidelberg 1994, 248.426f. 28 Vgl. dazu die Analyse mit weiterem Material KUEN, Philosophie (s. Anm. 27), 301. 29 Vgl. Sen.const.sap. 12,1; Sen.ep. 4,2.
Lebenskunst und Ethos
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Eigenschaft ‚vernünftiger Sprache‘30 fehlt und die nur unverständlich greinen können. Der naturgegebene Lebensmodus (naturalis modus; Sen.ep. 90,1931) ist abhandengekommen und damit letztlich auch die Lebenskunst selbst! Wieder erreichbar ist sie gleichwohl: Die für das Göttliche empfänglichen Augen des sapiens sehen mehr als solche, die für das Göttliche unempfänglich sind und somit auch nicht ‚einsehen‘ können32, dass er ihnen zu folgen hat. Er vermag auch den notwendigen Schluss daraus zu ziehen, Schicksalsschläge seien gleichsam Stellungsbefehle33 der Götter, das zu bewähren, was er vor sich habe (vgl. Sen.ep. 90,34). 1.3
Philo von Alexandrien
Mit Hinweisen zur philonischen Konzeption der jüdischen Lebenskunst soll der Blick in die kulturhistorische Signatur abgerundet werden: Die exakte Wendung te,cnh peri. bi,on ist bei Philo nicht belegt, wird aber leicht variiert in Philo LA I 57 verwendet (s. u.)34: Wichtiger Ausgangspunkt, um 30 Vgl. zum Zusammenhang von Sprache und Vernunft Sen.ep. 121,14; 124,9. Zuvor beispielsweise Isocr.or. 3,8; Diod.S. 1,16,1; Manil. 4,900. 31 Das ist für stoische wie senecaische Philosophie ein wichtiger Aspekt, der sie etwa vom Epikureismus unterscheidet. Vgl. dazu weiterhin Sen.ep. 66,39; 122,19; Sen.otio 4,2 (zum Betrachten wie zum Handeln der Dinge ist der Mensch geschaffen, wenn er nach dem stoischen Grundsatz lebt); 5,8. 32 Diese bildhafte Rede, der Mensch blicke durch einen Nebel bzw. sei blind, ist Teil eines größeren Bildfeldes: – pervidere im übertragenen Sinn wie considerare und im ‚direkten Sinn‘ vgl. Sen.ep. 42,6; Sen.vit. 1,1; Sen.nat.quaest. 1,3; – caligare Sen.vit. 1,1; – die Rede von der Wahrheit, die ans Licht geführt wird/werden muss als eine Aufgabe des Weisen und die jeder qua Anlage erkennen kann (vgl. Sen.ep. 79,12; 92,17–19; 93,7) sowie der krasse Gegensatz, in Finsternis zu verharren und somit an der schlimmsten Krankheit für die Seele zu leiden (Sen.ep. 122,4f.). 33 Zur Metapher aus dem Militär vgl. KUEN, Philosophie (s. Anm. 27), 418f., sowie F.-H. MUTSCHLER, Variierende Wiederholung. Zur literarischen Eigenart von Senecas philosophischen Schriften, in: Baumbach/Köhler/Ritter (Hgg.), Mousopolos Stephanos (s. Anm. 13), 143–159, 153f. 34 Als Textgrundlage wie Übersetzung dient mir: P HILO VON ALEXANDRIEN, Philonis Alexandrini quae supersunt I–VII, hg. v. L. Cohn/P. Wendland, Berlin 21962, 1963 (= ND), sowie die deutsche Übersetzung: PHILO VON ALEXANDRIEN, Die Werke in deutscher Übersetzung I–VII, hg. v. L. Cohn/I. Heinemann/M. Adler u.a., Berlin 21962, 1964. – In Philo congr. 141f. definiert Philo, was er unter einer te,cnh versteht: „Denn die Definition der praktischen Fertigkeit lautet folgendermaßen (te,cnhj me.n ga.r o[roj ou-toj): sie ist ein System von Begriffen, die gemeinsam für einen nutzbringenden Zweck verwandt werden; dabei wird das Wort ‚nutzbringend‘ der Definition mit Recht hinzugefügt, um die schlechten Fertigkeiten auszuschließen. Die Wissenschaft wird dagegen definiert als ein sicheres und festes Begreifen, das durch die Vernunft nicht widerlegt werden kann. Musik, Grammatik und die verwandten Gegenstände nennen wir Fertigkeiten – daher auch diejenigen, welche sich in ihnen vervollkommnet haben, Kunstfertige in der Musik und Grammatik heißen –, Philosophie aber und die anderen Tugenden nennen wir Wissenschaften und diejenigen, die sie besitzen, Wissenschaftler. Denn sie sind einsichtsvoll,
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die Konzeption der philonischen Lebenskunst zu skizzieren, ist in Philo migr. 128–131 zu sehen35. Philo formuliert in § 131 jene in der stoischen Philosophie verwendete und bis Platon und Aristoteles zurückreichende te,loj-Formel, mit der der menschliche Lebenswandel nach göttlichem Wort und Willen zum Ausdruck gebracht werden soll. Eine solche Übereinstimmung ist mit ‚Weisheit‘ zu charakterisieren und wird von Philo argumentativ folgendermaßen entwickelt: Der vollständige Lebenswandel wie er sich anhand von Gen 12,4 ergibt, wird mit jener te,loj-Formulierung verknüpft, die philosophischerseits die höchste Lehre umschreibt und auch von Philo mit avreth, formuliert wird36. Das bedeutet, dass Abrahams gehorsamer Lebenswandel nach göttlichem Willen und Wort mit der nousgesteuerten Lebensführung der griech. Philosophen gleichgesetzt werden kann37: Dieser Gedanke wiederum ist am ehesten dann verständlich, wenn beachtet wird, dass jene griech. Philosophen die Bibel selbst kannten. Dieses sich im Phänomen des sog. Altersbeweises konkretisierende Selbstbewusstsein38 ist bei Philo breit belegt39: Mose belehrte Homer, Platon, Pyverständig und weisheitsliebend, und keiner von ihnen irrt in den Lehren der von ihm gründlich erlernten Wissenschaft, ebensowenig wie die Obengenannten (d. h. die Kunstfertigen) in den Lehren der praktischen Fertigkeiten von mittlerem Wert.“ Übers. H. Lewy, P HILO VON ALEXANDRIEN, Werke in deutscher Übersetzung, a. a. O., VI, 40f. 35 Vgl. dazu M. B ÖHM, Rezeption und Funktion der Vätererzählungen bei Philo von Alexandrien. Zum Zusammenhang von Kontext, Hermeneutik und Exegese im frühen Judentum, BZNW 128, Berlin/New York 2005, 274–276. 36 Griech. Text: gi,netai de,( o[tan o`` nou/j eivj th.n avreth/j avtrapo.n evlqw.n katV i;cnoj ovrqou/ lo,gou bai,nh| kai. e[phtai qew/|( tw/n prosta,xewn auvtou/ diamemnhme,noj kai. pa,saj avei. kai. pantacou/ e;rgoij te kai. lo,goij bebaiou,menoj) 37 Vgl. G. HOLTZ, Damit Gott sei alles in allem. Studien zum paulinischen und frühjüdischen Universalismus, BZNW 149, Berlin/New York 2007, 386: „Als Weise orientieren sich beide [Abraham und Mose; M. L.] an der ‚rechten Vernunft der Natur‘ (…), ja mehr noch, der lo,goj der Weisen gleicht in gewisser Hinsicht der Vollkommenheit des ovrqo.j lo,goj und ist mit diesem als identisch anzusehen.“ 38 R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus. Studien zum Verständnis und zur Funktion der Thora bei den beiden Hauptzeugen des hellenistischen Judentums, ARGU 11, Frankfurt/Berlin/Bern u.a. 2001, 16f., spricht davon, Philo habe sich als „herausgehobener Vorkämpfer eines elitären Bildungsjudentums“ verstanden. 39 Vgl. Philo LA I 107f.; II 15; Philo post. 133; Philo her. 214; Philo mut. 167f.; Philo spec. IV 61; Philo prob. 57; Philo Mos. II 12ff.; Philo QG III 5; IV 152; Philo Abr. 13; Philo somn. I 141; vgl. P. B ORGEN, Philo of Alexandria. A Critical and Synthetical Survey of Research since World War II, ANRW 21.1, Berlin/New York 1984, 98–154, 152, sowie zuletzt HOLTZ, Gott (s. Anm. 37), 395f. Auch für Josephus ist ein solcher Altersbeweis belegt: Flav.Jos.Apion. 1,1–14; 2,15f.36.39.41.154.168ff.183.226.257.279.281. Vgl. dazu WEBER, „Gesetz“ (s. Anm. 38), 192f. mit Anm. 102 und Seite 273f., sowie I. WEILER, Juden und Griechen. Einige Assoziationen zu Historiographie, Ethnographie und Rechtskodifikation in Contra Apionem in Iosephos, in: R. Rollinger/B. Truschnegg (Hgg.), Altertum und Mittelmeerraum.
Lebenskunst und Ethos
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thagoras und andere griech. Geistesgrößen mittels der Schöpfungsthora (!) und stellt somit vor Augen, dass die Gleichung „Alter = Wahrheit“ mit avreth, verknüpft werden kann: Ganz nach griech. Vorbild haben Tugend und Schlechtigkeit ihren Sitz im Menschen selbst (vgl. Philo LA III 168), weshalb Auswirkungen auf die Ethik (Philo LA I 57; Philo congr. 11) und somit hinsichtlich der Bedeutung als Kunst der Lebensführung mit dem Ziel der Gottesschau (Philo virt. 15) zu erwarten ist (Philo LA I 57): „(D)ie Tugend aber ist sowohl theoretisch wie praktisch40: sie hat ihre Theorie, insofern als auch zu ihr die Philosophie hinführt durch ihre drei Teile, Logik, Ethik und Physik, und sie äussert sich auch in Handlungen; denn die Tugend ist die Kunst der ganzen Lebensführung, in der auch alle unsere Handlungen aufgehen.“41 Einen größeren Reichtum als gemäß der Natur zu leben, beschert die Weisheit durch die Grundsätze und Lehren der Logik, Ethik und Physik, aus denen die Tugenden hervorgehen. Daran lässt sich auch unterscheiden, ob ein Mensch als Weiser oder Tor anzusprechen ist (Philo virt. 9). Ein so anzusprechender so,foj ist ebenfalls42 in einen bewährenden Kampf mit dem Schicksal verwickelt (Philo spec. II 46)43, bleibt jedoch als ein Vernünftiger unerschüttert gegenüber Äußerem (Philo LA III 202; Philo conf. 145; Philo virt. 5)44. Erneut tritt hier der universalistische Zug philonischer Lebenskunst in den Blick, weil besagter so,foj nicht mehr ethnologisch enggeführt werden kann, sondern sich in einem zu
Die antike Welt diesseits und jenseits der Levante (FS P. W. Haider), OeO 12, Stuttgart 2006, 229–247, 243–245, der allerdings eine demokratische Lektüre der genannten Passagen vermutet und die theologische Implikation vollständig ausklammert. Vgl. ferner Arist.fr. 3,1; 4,4. 40 Auch Philo (vgl. oben Anm. 21) vermag konkrete, psychagogische Hinweise zu geben, vgl. Philo spec. III 6; IV,160–167; Philo her. 253; Philo LA III 18. 41 Übers. I. Heinemann, P HILO VON ALEXANDRIEN, Werke in deutscher Übersetzung (s. Anm. 34). III, 35; zum griech. Text: h`` de. avreth. kai. qewrhtikh, evsti kai. praktikh,\ kai. ga.r qewri,an e;cei o``po,te kai. h`` evpV auvth.n o``do.j filosofi,a dia. tw/n triw/n auvth/j merw/n( tou/ logikou/( tou/ hvqikou/( tou/ fusikou/( kai. pra,xeij\ o[lou ga.r tou/ bi,ou evsti. te,cnh h`` avreth,( evn w|- kai. ai`` su,mpasai pra,xeij) 42 Zur älteren Vorstellung vgl. oben Anm. 19; zu Senecas Gegenüberstellung vgl. oben Anm. 25. 43 Philo kann hier von den „Knechten des Gehörs und des Gesichts“ (oi`` avkousma,twn kai. qeama,twn* Philo agr. 35) sprechen, die zügellos umherschweifen und dem Weisen grundsätzlich gegenüberstehen. 44 Dieser Gedanke, wonach der Weise sich dem Schicksal fügt, der Nicht-Weise jedoch vom Schicksal mitgeschleift wird, ist stoische Philosophie; vgl. das Material bei M. LANG, Johanneische Abschiedsreden und Senecas Konsolationsliteratur. Wie konnte ein Römer Joh 13,31–17,26 lesen?, in: J. Frey/U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, unter Mitarb. v. J. Schlegel, Tübingen 2004, 365–412, 387f. mit Anm. 98.
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bewährenden Adel (euvge,neia) äußert (Philo virt. 187–197.226f.)45: Nicht ein auf hellenistischer Bildung pochender Grieche, jeder ‚barbarischen‘ Kultur ablehnend gegenüberstehend, noch ein Jude, sich ausruhend auf seiner Prärogative, sind demnach im Mittelpunkt, sondern jene aus Juden und Heiden46 bestehende Politeia, die sich auf der Erkenntnis des einen Gottes als einer präfigurierten Lebenskunst und der sich daraus ergebenden Kunst der Lebensführung gründet. Das heißt allerdings nicht, dass der so,foj entweder im Verborgenen oder aber abgesondert von der Welt lebe, wie dies ein bekannter Topos der Kritik an stoischer Lebensführung intendiert47. Vielmehr erweist er sich als eine „wahrhafte Stütze des Menschengeschlechts“ (tw|/ ga.r o;nti e;reisma tou/ ge,nouj tw/n avnqrw,pwn evsti.n o` di,kaioj; Philo migr. 121): (A)lles, was er selbst besitzt, stellt er zur Verfügung und reicht es allen, die es benötigen, in neidloser Fülle dar; was er aber bei sich nicht findet, das erbittet er von dem sehr reichen Gott; dieser aber eröffnet den himmlischen Schatz und läßt alles Gute in Fülle wie Regen und Schnee herabströmen, so daß alle irdischen Rinnsale es aufnehmen und davon überfließen.48
In diese Signatur soll nun eine christliche Lebenskunst aus Sicht des 1Petr eingezeichnet werden, die hinsichtlich des Kommunikats des Beziehungsethos gleichzeitig konkrete plutarchische, senecaische und philonische Einübungen aufnimmt.
2. Das Ethos im 1Petr Die Thematik des so anhand von Plutarch, Seneca und Philo dargestellten ‚präfigurierten Beziehungsethos‘ im Rahmen einer antiken Lebenskunst als ‚kohärente Lebensführung‘ soll an exemplarischen Texten des 1Petr in diese kulturhistorische Signatur eingezeichnet werden. Dabei bringe ich mit 45
Darauf hat zuletzt H OLTZ, Gott (s. Anm. 37), 452–461, aufmerksam gemacht. Knapper zuvor CHR. NOACK, Gottesbewusstsein. Exegetische Studien zur Soteriologie und Mystik bei Philo von Alexandria, WUNT II/116, Tübingen 2000, 41f.: „Der ursprünglich aristokratisch-elitäre Begriff des Adels wird individualisiert und demokratisiert, indem er ethisiert und zu einem sapientalen Begriff umgeformt wird. Dabei behält er jedoch seine aristokratische, ja monarchische Note und erhält die damit verbundenen Heilsversprechen der Lebensfülle.“ (42; z. T. kursiv im Original). 46 Diese Aufweitung legt sich m. E. aus Philo migr. 128–131 nahe. HOLTZ, Gott (s. Anm. 37), 461–473, engt hier auf die Proselyten ein, denen sicherlich eine wichtige Funktion zuzuschreiben ist. 47 Vgl. dazu den Titel einer Plutarch-Schrift: P LUTARCH, Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? (s. Anm. 19), 50–61. 48 Übers. A.B. Posner, PHILO VON ALEXANDRIEN, Werke in deutscher Übersetzung (s. Anm. 34), V, 183f.
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‚Kunst der Lebensführung‘ das Fehlen der Formulierung te,cnh peri. bi,on semantisch zum Ausdruck. Zunächst auch hier zum „Präfigurativ“: 2.1
Das Präfigurativ
2.1.1 Zur Sache des Präfigurativs Anhand von 1Petr 1,17–19; 2,17–19; 3,17 ist deutlich49: Christologischsoteriologisch ist die Ethik grundgelegt, weil der Autor davon spricht, durch das Blut Jesu Christi sei die Gemeinde gerettet und könne gerade deshalb ein verantwortliches Leben in Gottesfurcht führen. Das Gewicht dieser Aussage wird dadurch erhöht, dass der Wert des vergossenen Blutes weit jenseits von Gold und Silber angesiedelt wird. Alle diese hohen Wertgegenstände sind doch nicht zeitbeständig, sie müssen vergehen – und sind einem Christenmenschen nur eitel (ma,taioj50; – vgl. 1,17–19), sei er auch ein Sklave, der einem launischen Herrn untersteht (2,18f.). Im Vordergrund stehen also folgende Aspekte: Die Christologie wird mit ihrer eschatologischen Implikation vorangestellt. Christliche Kunst des Lebens erfährt somit ihre Dringlichkeit ebenfalls dadurch, gleichsam einem vivere ein bene vivere entgegenzustellen. Das ‚Alternativkonzept‘ ist zunächst nicht auf ein langes, irdisches Leben ausgerichtet, weil das abschließende Urteil nach den eigenen Werken Dimensionen jenseits dieser vorfindlichen Zeit eröffnet. Der Christenmensch ist diesbezüglich zunächst ganz auf die Gegenwart gewiesen, um hier zu bewahrheiten, was ihm als kostbare Gabe zugeeignet worden ist. In zwei Perspektiven ist dieser Gedanke im 1Petr noch weiter zu verfolgen: 1) hinsichtlich 3,17; 2,18–25; 2) hinsichtlich 4,7; 2,11f. 1) Dieselbe Grundstruktur wird auch anhand von 1Petr 3,17; 2,18–25 erkennbar: Christi Leiden um unserer Sünden willen erlaubt es uns, besser um guter Taten willen zu leiden als Unrecht zu tun. Auch das Handeln der Sklaven wird derartig begründet: Christi Sühnetod ermöglicht auch ihnen 49
Die genannten Passagen werden in den Kommentaren in folgende größere Perikopen eingeordnet: (1,17–21; 2,13–17.18–25; 3,13–17; 2,11f.), so D.P. S ENIOR, 1 Peter, Sacra Pagina 15, Collegeville, MI 2003, 43.68.74.93.64, R. F ELDMEIER, Der erste Brief des Petrus, ThHK 15/I, Leipzig 2005, 72.105.111; vgl. ferner F.-R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle im ersten Petrusbrief, fzb 63, Würzburg 1990, (2,13–17.18–25 [143.149]; 2,11f. [385]). Anders hinsichtlich 2,13ff.: J.H. E LLIOTT, 1 Peter, AncB 37 B, New York/London/Toronto u.a. 2000 (2,13–17.18–25 [503.511]). 50 Vgl. Vettius Valens 9,9,30 (jede Herstellung eines Werkzeugs ohne einen sachkundigen, leitenden Baumeister [ovragnopoii,a j h' sunta,xewj] gilt als hohl, sinnlos und tot [keno.n kai. ma,taion kai. avrgo.n nomi,zetai]); 9,12,19 (das Schicksal verhindert leere Hoffnung [pa,shj de. matai,a j evlpi,doj] und sorgt dafür, dem Gesetz des Schicksals zu folgen [to.n th/j ei``marme,nhj no,mon diefu,laxa]); 9,12,28 (belanglose Dinge [tau/ta ta. ma,taia], etwa das Hingehen, wohin man will, liegen nicht in der Macht des Menschen); 9,15,5 (im Zusammenhang des Strebens nach Tugend) u. ö.; Flav.Jos.Bell. 7,330.
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ein gutes Leben, weil es ca,rij ist, zu Unrecht zu leiden (2,19). Diese beiden Beschreibungen sind nur verständlich, wenn deutlich wird, dass christliche Kunst der Lebensführung alle Bereiche menschlichen Lebens umfasst, demnach auch soziologische Hürden keine sein können und aufgrund des Gerichtsgedankens eine neue zeit-hermeneutische Kategorie benannt wird. Reduktionen sind unmöglich. 2) Auch die zweite Perspektive ist angedeutet worden und spiegelt sich in 1Petr 4,7; 2,11f. wider. Da ist zunächst davon die Rede, das Ende sei nahe (to. te,loj h;ggiken), man solle deshalb (ou=n) besonnen und frei von Exaltiertheit zum Gebet sein. Dabei dürfte auch hier swfrosu,nh sachlich das meinen, was zuvor schon anhand von 1,17–19 erkennbar war: Weder können Gold und Silber als zeitbeständige Charakteristika den Wert des vergossenen Blutes erreichen – bleiben also im Status des ma,taioj – noch lassen sich kluge Christenmenschen „von dem vor Augen Liegenden (…) über dessen Vorläufigkeit täuschen“51. Die Haustafel-Ethik in 2,11f.52 nimmt diesen zeit-hermeneutischen Aspekt auf und bringt eine weitere Perspektive ein: Christliche Existenz erweist sich nach all dem bislang Gesagten als eine in der Fremde. Erfolgt nun die Paränese, man solle sich von fleischlichen Begierden fernhalten, die gegen die Seele Krieg führen, dann wird fortgeführt, was sachlich in 4,7 angelegt ist. Christliche Kunst der Lebensführung gleicht also der Möglichkeit, sich mit ihr wie mit einer Mauer oder einem Schutzwall gegen die Angriffe von außen wehren zu können und somit aus einem vivere gleichsam ein bene vivere vollführen zu können. Diese Konsequenz wird in 2,12 auch genannt: Der christliche Lebenswandel wird die ‚Noch-Nicht-Lebenskünstler‘ zur Einsicht bringen und sie dazu veranlassen, ihre einstige Ablehnung in Lob zu verwandeln53. Einige physiognomische Züge lassen sich präzisierend anhand des evpopteu,w erkennen, die zudem weiter ausgreifen: Was zunächst in 2,12 noch unklar ist, wie nämlich dieses ‚ersehen‘ konkreter wird54, zeigt sich später 51
FELDMEIER, Brief (s. Anm. 49), 145. Vgl. zur Analyse PROSTMEIER, Handlungsmodelle (s. Anm. 49), 385–393. 53 Vgl. dazu PROSTMEIER, Handlungsmodelle (s. Anm. 49), 391, der darauf verweist, dass nicht die Charakterisierung des christlichen Handelns mittels ‚heilig‘, sondern mit kalo,j und avgaqo,j aus dem griech.-hellenistischen Horizont erfolgt: „Weil die Begriffe kalo,j und avgaqo,j an zwei Sinnwelten partizipieren, die V. 11 als grundverschieden apostrophiert hatte, beginnen sie zu ‚oszillieren‘, je nachdem, ob der Parameter für die Norm der avnastrofh/j kalh/j in den Idealen der soziokulturellen Umwelt oder in der christlichen Grundverfassung gesucht wird. Die semantische Schwingungsbreite der Begriffe kalo,j und avgaqo,j ist so gesehen unvermeidbarer Tribut der Rezeption originär nicht-christlicher Handlungsmodelle und ihrer transformierenden christlichen Legitimierung. Genau mit dieser so bedingten semantischen Unschärfe oder Weite arbeitet der Verfasser“. 54 Es geht allgemein darum, durch gute Werke zur Einsicht zu führen. Deutlich ist nicht recht, wie diese ‚guten Werke‘ im Detail zu verstehen sind. 52
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in 3,1f.: Männer, die den Glauben ihrer Frauen ablehnen, ‚ersehen‘ an deren Verhalten die Attraktivität christlicher Lebensführung und können somit für diese Lebenskunst gewonnen werden. Dabei ist zu beachten, dass der ‚ersichtliche Vorgang‘, im Partizip Präsens formuliert, keine einmalige und abgeschlossene ‚Sichtweise der Dinge‘ darstellt, sondern ein andauerndes Unterfangen. Es kann als das „Erfassen des wahrhaft Seienden durch denkerisches Schauen“55 bezeichnet werden und ist gerade somit „‚Gottesdienst im Alltag der Welt‘“56. 2.1.2 Zum Ort der Transfiguration Anhand von 1Petr 1,3.23; 2,2 kann der Ort dafür angegeben werden, an dem der Wechsel von ‚alt‘ und ‚neu‘, von ‚Knaben-Dasein‘ und ‚Erwachsenen-Dasein‘ stattfindet: während der Taufe im Zuspruch des lebendigen Wortes (1,3.23). Eine solche ‚Transfiguration‘ als eine neue Kunst der Lebensführung ist gleichsam eine plötzliche Wandlung der Person, eine einmalig vollzogene (avnagennh,saj; Partizip Aorist!57), neue Genesis. Als eine zweite Genesis verdankt sie sich in ihrer ‚prima causa‘ nicht anthropologischem, sondern streng theologischem Wirken. Sie ist dabei ausgerichtet – darauf verweist das eivj – auf eine evlpi.j zw/sa, die nicht ein bloßes Hoffen auf eine unverfügbare Zukunft darstellt, sondern das Erhoffte bereits ist: keine voreilige Vertröstung auf ein Jenseits, sondern das Erhoffte bereits hier. Gleichzeitig – das ist im bisher Gesagten deutlich geworden – ist diese Hoffnung einer eschatologischen Signatur zugewiesen, die gerade dort beginnt, wo Irdisches endet. Dass die hier angesprochene und dem Christenmenschen geschenkte evlpi.j zw/sa nicht ein Präfigurativ bleibt, zeigt sich anhand von 1,23: Die als von Neuem geboren angesprochenen Christenmenschen werden zur gereinigten Seele, ungeheuchelten Geschwisterliebe und zur gegenseitigen Liebe aufgerufen. Gleichsam begründet58 wird dieses erstmals im 1Petr formulierte Beziehungsethos damit, dass das erwähnte Vergängliche (ma,taioj; 1,18) nicht mehr von Belang ist, mithin also das bene vivere zu verzeichnen ist. Zeit-hermeneutische Couleur kommt 55
L. GOPPELT, Der Erste Petrusbrief, hg. v. F. Hahn, KEK 12/1, Göttingen 1978,
161. 56 GOPPELT, Petrusbrief (s. Anm. 55), 162 (zitiert wird E. KÄSEMANN, Gottesdienst im Alltag der Welt, Göttingen 1964, 198–204). 57 J. HERZER, Petrus oder Paulus? Studien über das Verständnis des Ersten Petrusbriefes zur paulinischen Tradition, WUNT 103, Tübingen 1998, 218: „Mit dem Aoristpartizip avnagennh,saj wird auf ein vergangenes, einmaliges Ereignis Bezug genommen, durch das den Wiedergeborenen eine neue Hoffnungsperspektive eröffnet wird. eivj evlpi,da zw/san bezeichnet das Ziel der Wiedergeburt, das bereits jetzt im Leben der Glaubenden wirksam ist (vgl. 3,15), das aber in der Erlangung des himmlischen Erbes auf die Zukunft hin ausgerichtet ist (1,4).“ 58 Vgl. dazu das Partizip Perfekt Passiv avnagegenhme,noi.
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noch hinzu, wo Gott selbst diese Genesis vollzog und den Maßstab zwischen Bleibendem und Vergänglichem setzt. 2.2
Das Beziehungsethos: zwei ausgewählte Themenbereiche
2.2.1 Das attraktive Verhalten Die Thematik des nach außen attraktiv wirkenden Verhaltens ist vor allem anhand von 1Petr 2,12; 3,16; 4,14f. erkennbar. Dabei sind wichtige Beobachtungen zu 2,11f. bereits angestellt worden: Die Aufforderung, sich fleischlicher Begierde fernzuhalten, die Krieg gegen die Seele führen, ermöglicht einen christlichen Lebenswandel, der sich in einem kalo,j äußert und gerade deshalb dazu führt, dass verleumdende Menschen zur Einsicht kommen. Jenes evpopteu,w wird in 3,13–17 expliziert: Wer kann solchen ‚Lebenskünstlern‘ schaden, deren zweite Genesis Anteil am zukünftigen himmlischen Erbe verliehen hat?! Die Aufgabe besteht nun aber nicht darin, sektiererisch im Winkel der Welt zu sitzen, sondern jedem, der einen lo,goj für jene absonderlich anmutende Kunst der Lebensführung erbittet, zu geben: Der auf dem heilstiftenden Tod Jesu Christi gegründete Glaube bringt zur Sprache, dass Christi Heilstat neue Zeit-Horizonte und damit auch neue Zukunftsperspektiven eröffnet. Gerade weil zw/sa (evlpi,j) dem matai,oj gegenübersteht, ist der lo,goj auch mehr; er wird zum lo,goj qeou/. Der hierfür zu wählende Tonfall ist, auch wenn die genannte Gegenüberstellung erwarten lassen kann, man könne offene Rechnungen begleichen (vgl. 2,22f.; 3,9), durch Sanftmut (prau