Metapher - Narratio - Mimesis - Doxologie: Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band VII 9783161540509, 9783161540516, 3161540506

Metapher - Narratio - Mimesis - Doxologie - in diesem Band werden die Vorträge der vier Symposien der Mainz Moral Meetin

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German Pages 452 [467] Year 2016

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Table of contents :
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Vorwort
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
I. Metapher
Esther Verwold: Metaphorik als Begründungsform antiker Ethik. Einleitung
1. Metapher und Metaphorik: theologische Perspektiven
2. Verhältnisbestimmung von Metaphorik und Ethik
3. Metaphorik als Begründungsform und in Begründungszusammenhängen von Ethik
Ruben Zimmermann: Moralische Signifikanz durch Sprachbilder
1. „Metaphorische Ethik" als Reflexionsform sui generis
1.1 Die Form der Handlungsbegründung als Erzeugung moralischer Signifikanz
1.2 Ethisch relevante Aspekte einer Metapher
a) Erinnern, um Neues zu sagen: Wechselspiel zwischen Traditio und Innovatio
b) Appellstruktur: Aufforderung zur (kollektiven) Sinnfindung
c) Mehrdimensionalität: Metaphorische „Logik" und Sinnlichkeit
d) Deutungsoffenheit: Spielräume des Verstehens
1.3 Wie funktioniert die metaphorische Ethikreflexion?
a) Traditio und Innovatio: Handlungsorientierung im Rückgriffund Vorgriff
b) Appellstruktur: Aufforderung zum ethischen Urteil
c) Metaphorische Handlungsreflexion und Ethico-Ästhetik
d) Deutungsoffenheit: Spielraum des Verhaltens
2. Beispiele „metaphorischer Ethik" aus den Paulusbriefen
2.1 Metaphorische Ethik in 1Kor 5: Sauerteig-Metapher und Gemeinde
2.2 Metaphorische Ethik in 1Kor 12: Leib-Metapher und Gemeinde
Epilog
Ekkehard Mühlenberg: Johannes Chrysostomus: Ethik und Metapher
Jens Herzer: „Gefäße zur Ehre und zur Unehre" (2Tim 2,20). Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen ‒ eine Skizze
1. Metaphorische Sprache in Ekklesiologie und Ethik ‒ einige methodische Überlegungen
2. Die Funktion von Metaphern für die Plausibilisierungvon Gruppenprozessen ‒ Tit und 2Tim
2.1 Die Kreterpolemik im Titusbrief als moralisches Problem
2.2 „Gefäße zur Ehre und Unehre" ‒ Zusammenleben in der Gemeindenach dem 2Tim
3. Die Funktion von Metaphern für Neucodierung von Gruppenidentitäten ‒ der 1. Timotheusbrief
4. Schlussbemerkung
Christoph Gregor Müller: Von Gesinnungshüften (1Petr 1,13) und geistlichen Opfern (1Petr 2,5). Zur paränetischen Valenz metaphorischer Rede im Ersten Petrusbrief
Schlussbemerkungen
II. Narratio
Ruben Zimmermann: Narratio als Begründungsform der Ethik ‒ ,Narrative Ethikʻ in Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie
1. Narrative Ethik in der Philosophie
2. Narrative Ethik in der Literatur-und Kulturwissenschaft
3. Narrative Ethik in der Theologie und Bibelwissenschaft
Karen Joisten: Narrative Ethik. Lesarten, Dimensionen, Anwendungen
1. Narrative Ethik: Drei Lesarten und eine vierte
2. Dimensionen einer narrativen Ethik. Oder: Das Zusammengehören von Logos, Ethos und Pathos
3. Anwendungen einer narrativen Ethik ‒ einige Beispiele
Michael Roth: Narrative Ethik. Überlegungen zu einer lebensnahen Disziplin
1. Lebensferne Ethik? Eine Problemanzeige
2. Geschichten und Prinzipien
3. Narrative Gründe und narrative Begründungen
4. Tatsachen und Wertungen
5. Narrative Ethik ‒ Weisheit und Wissenschaft
Sönke Finnern: Narrative Ethik und Narratologie. Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen
1. Zum Ansatz der kognitiven Narratologie
2. Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen: Erste Differenzierungen
3. Ethische Analyse von Erzählungen
3.1 Analyse des ethisch relevanten Erzählerstandpunktes (‚Moral´ der Geschichte im weitesten Sinn)
a) Einstellungen des Erzählers zu Entitäten im Text, hier: den Figuren
b) Einstellungen des Erzählers zu Merkmalen: Normen der Erzählung
c) Überzeugungen des Erzählers = „Lehre" des Textes
3.2 Analyse der ethisch relevanten Wirkung(sabsicht)
a) Kurzfristige intendierte Wirkungen
b) Langfristige intendierte Wirkungen
4. Ethische Kritik von Erzählungen
5. Schlusswort
Paul-Gerhard Klumbies: Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1‒3,6
1. Die literarischen Voraussetzungen
2. Methodische Vorentscheidungen
3. Die Bestimmung der Textsorte
4. Mk 2,1‒3,6 als Texteinheit
a) Theologische Grundlegung: Die Vergewisserung der Gottesgemeinschaft nach Mk 2,1‒12
b) Das Leitbild sozialer Integration in Mk 2,13‒17
c) Die Situationsangemessenheit der Norm in Mk 2,18‒22
d) Das Wohl des Menschen als Verhaltenskriterium in Mk 2,23‒28
e) Die Aufhebung der eutralität in der ethischen Entscheidungssituationnach Mk 3,1‒6
5. Die Einheit theologischer und ethischer Überzeugungen
III. Mimesis
Blossom Stefaniw: Mimetic Ethics. Introduction
Friedrich W. Horn: Mimetische Ethik im Neuen Testament
Cornelis Bennema: Mimetic Ethics in the Gospel of John
1. Introduction
2. Following and Remaining With Jesus
3. Filial Mimesis
4. The Footwashing
5. To Love One Another
6. Mimesis of Being
7. Conclusion
Eve-Marie Becker: Mimetische Ethik im Philipperbrief. Zu Form und Funktion paulinischer exempla
1. Mimetik, imitatio und exemplum: Einführende Überlegungen zu einem komplexen Wirkzusammenhang
2. Strukturen mimetischer Ethik im Philipperbrief
3. Phil 2,6‒11 als exemplum
4. Zwischenfazit
5. Theoretische und theologische Perspektivierungen
Blossom Stefaniw: A Disciplined Mind in an Orderly World. Mimesis in Late Antique Ethical Regimes
1. Mimesis in the Notional Patrimony: Plato, Aristotle, and Paul
2. Mimesis, Knowledge and the Order of Things
3. Textuality: Mimetic Ethics in Late Ancient Readers and Writers
4. The Created Order and the Civil Order
5. Conclusions
Ron Naiweld: Mastering the Disciple. Mimesis in the Master ‒ Disciple Relationships of Rabbinic Literature
1. The Two Hierarchies of the Master-Disciple Relationship
2. When the Disciple Teaches the Master
3. Inherent Tension between the Two Hierarchies and Attempts at Reconciliation
István Czachesz: From Mirror Neurons to Morality. Cognitive and Evolutionary Foundations of Early Christian Ethics
1. Introduction
2. Are altruists doomed?
3. „Social Cognition: Imitation, Imitation, Imitation ..."
4. Imitation in rituals
5. Imitating moral examples
6. Synchrony
7. Empathy
8. Concluding remarks
IV. Doxologie
Friedrich W. Horn: Doxologie als Begründungsform antiker Ethik. Eine Einführung
Klaas Huizing: Viel Lob, viel Ehr. Karte und Gebiet einer doxologischen Ethik
Einleitung: Im Halse stecken bleiben
1. Stimmübung: Doxologie und Ästhetik
2. Abgesang: Doxologische Ethiken in der Kritik
3. Kleine Hymne auf die Bibel: Bling Bling
4. Hoch und tief: Baupläne des Hymnischen
5. Die Höchstwerte: Ehrbezeugung oder Dankbarkeit und Scham
6. Doxologische Anthropologie als optimistische Anthropologie
Schluss: Eingemauert
Alexandra Grund: „Aus der Asche erhöht er den Armen, um ihn unter die Edlen zu setzen." (1Sam 2,8). Ethische Implikationen des Psalms der Hanna
1. Doxologie und Theologie
2. Erschließung von 1Sam 2,1‒10
2.1 Kontext
2.2 Übersetzung und Textkritik
2.3 Textsorte
2.4 Schlüsselmotive und Struktur
2.5 Textverlauf und Gefälle
3. Ethische Implikationen
4. Ausblick
Sotirios Despotis: Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief ‒ eine orthodoxe Perspektive
1. Ethik und Orthodoxie ‒ eine Hinführung
2. Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief
2.1 Die hymnische Struktur des Briefes
2.2 Doxologische Ethik im Proömium und im Epilog
2.2.1 Die erste Doxologie 1Tim 1,17
2.2.2 Analyse von 1Tim 6,15
2.3 Schlussfolgerungen
Eckart David Schmidt: Dienen zu Gottes Ehre. Die Doxologien im 1. Petrusbrief und ihr Beitrag zu einer ,doxologischen Ethikʻ
1. Einleitung
2. Allgemeine Beobachtungen
3. Formale Beobachtungen zu doxologischen Texten in 1Petr
4. Traditionsgeschichtliche Beobachtungen zu Eulogien und Doxologien
5. ,Doxologische Ethikʻ in 1Petr?
5.1 Zu Grammatik und Aufbau von 1Petr 1,3‒12
5.2 ,Doxologische Ethikʻ in 1Petr 1,3‒12
6. Schluss
Ansgar Franz: Aufstehen, Auferstehung, Aufstand. Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand als Beispiel doxologischer Ethik
1. Poesie und Kirchenkampf
2. Der Morgenhymnus Aeterne rerum conditor
3. Naive Naturidylle oder ornithologisches Lehrstück?
4. Der mystische Hahn
(a) V.3,1f.: „hoc excitatus lucifer / soluit polum caligine" ‒ Durch diesen (den Hahn) geweckt, löst der Morgenstern das Himmelsgewölbe von der Finsternis
(b) V.3,3f.: „hoc omnis errorum chorus / uias nocendi deserit" ‒ durch diesen verlässt die ganze Schar der Irrungen die Wege des Schädigens
(c) V.4,1f.: „hoc nauta uires colligit, / pontique mitescunt freta" ‒ durch diesen sammelt der Seemann Kräfte, und des Meeres Stürme werden besänftigt
d) V.4,3f.: „hoc ipse petra ecclesiae / canente culpam diluit" ‒ durch diesen Gesang wäscht selbst der Fels der Kirche die Schuld ab
(e) V.5,1: „Surgamus ergo strenue: / gallus iacentes excitat / et somnolentos increpat, / gallus negantes arguit" ‒ Stehen wir also entschlossen auf: Der Hahn weckt die Liegenden und schilt die Schlaftrunkenen, der Hahn klagt die Verleugner an
5. Gesungene Doxologie, Schönheit und Moral
Ulrich Volp: Der nachkonstantinische Gottesdienst als „Vermahnung zur Tugend". Überlegungen zur ,Ethikʻ antiker liturgischer Quellen
1. Einleitung: Der Sitz im Leben von Bekenntnis und Ethik
2. Ethos in den liturgischen Quellen des vierten Jahrhunderts
2.1 Ethische Weisung im Kontext nachkonstantinischer Gottesdienste
2.2 Die Anaphora-Gebete des vierten Jahrhunderts: Das doxologische Bekenntnis zum Schöpfer
3. Doxologische Ethik im antiken Kontext
4. Fazit
Autorenverzeichnis
Stellenregister
Altes Testament
Neues Testament
Judaica
Frühchristliches Schrifttum
Griechisch-römische Literatur
Sach- und Personenregister
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Metapher - Narratio - Mimesis - Doxologie: Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band VII
 9783161540509, 9783161540516, 3161540506

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

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Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics Band VII Herausgegeben von

Ulrich Volp, Friedrich W. Horn und Ruben Zimmermann

Mohr Siebeck

Ulrich Volp, geboren 1971; 2001 Promotion; 2006 Habilitation; seit 2008 Professor für Kirchengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Friedrich W. Horn, geboren 1953; 1982 Promotion; 1990 Habilitation; seit 1996 Professor für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ruben Zimmermann, geboren 1968; 1999 Promotion; 2003 Habilitation; seit 2009 Professor für Neues Testament an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Research Associate, Faculty of Theology, University of the Free State; Bloemfontein/ South Africa.

e-ISBN PDF 978-3-16-154051-6 ISBN 978-3-16-154050-9 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Die vorliegende Publikation ist aus der Arbeit am Forschungsbereich für Ethik in Antike und Christentum (EAC) erwachsen, den die Herausgeber im Jahr 2009 gegründet haben. Diesem Zentrum gehören und gehörten auch Postdoktorandinnen, Doktorandinnen und Doktoranden aus den Bereichen des Neuen Testaments und der Alten Kirchengeschichte an, in jüngster Zeit noch erweitert durch die Privatdozentin für Altes Testament Dorothea ErbeleKüster und den systematischen Theologen und Ethiker Professor Michael Roth, der bereits zu diesem Band einen Beitrag geleistet hat. Das Unternehmen hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen interdisziplinären Ansatz zur Erforschung der ethischen Bildung, der literarischen und rhetorischen Konstruktionen von ethischen Normen und der diskursiven Grundlagen für Ethik im frühen Christentum zu etablieren. Es geht also um die Begründungszusammenhänge antiker Ethik, deren Parameter im Rahmen einer Reihe von Tagungen und Publikationen auch öffentlich diskutiert und weiterentwickelt wurden.1 Zu den Tagungen gehören vor allem die Mainz Moral Meetings (MMM), die in diesem Jahr bereits zum zehnten Mal stattfinden. Sie dienen auch der Erweiterung der Arbeit im Forschungsbereich über die theologischen Disziplingrenzen hinaus – sowohl im Bereich des antiken Christentums und seiner Umwelt (Altphilologie, Philosophie, Judaistik) als auch darüber hinaus. In dem vorliegenden Band werden die Vorträge des zweiten Zyklus der Mainz Moral Meetings (5–8) wiedergegeben, die sich den „Formen frühchristlicher und antiker Ethik“ widmeten.

1 U.a. F.W. HORN/R. ZIMMERMANN (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics I, WUNT 238, Tübingen 2009; J.G. VAN DER WATT/R. ZIMMERMANN mit S. LUTHER (Hgg.), Moral Language in the New Testament. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics II, WUNT II/296, Tübingen 2010; J.G. VAN DER WATT/R. ZIMMERMANN (Hgg.), Rethinking the Ethics of John. „Implicit Ethics“ in the Johannine Writings, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics III, WUNT 291, Tübingen 2012; F.W. HORN/U. VOLP/R. ZIMMERMANN mit E. VERWOLD (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums: Gut – Leben – Leib – Tugend, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013; K. WEYER -MENKHOFF, Die Ethik des Johannesevangeliums im sprachlichen Feld des Handelns, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics V, WUNT II/359, Tübingen 2014.

VI

Vorwort

Unter „Formen“ verstehen wir hierbei den Modus, in dem innerhalb eines Sprechaktes, in der Regel eines Textes, moralische Signifikanz erzeugt wird.2 Dies ist zwar nicht unabhängig von der Sprachform (z.B. Imperativ, Erzählung), aber doch davon zu unterscheiden. Wenn Ethik die reflexive Durchdringung von Handlungen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung ist,3 dann ist es gerade die „Reflexionsform“, die dieses Werturteil begründet. Ein simplifizierendes Beispiel soll dies erläutern: Die Behauptung „Helfen ist gut“ wird zu einem ethischen Satz, indem eine Begründung angefügt wird. Diese Begründung kann ganz unterschiedlich geleistet werden, sei es, dass auf eine vorausliegende Norm verwiesen wird (z.B. „Helfen ist gut, weil es dem Willen Gottes entspricht“; „… weil es eine Pflicht des Menschen ist“); oder sei es, dass das Werturteil im Blick auf das Handlungsziel formuliert wird (z.B. „Helfen ist gut, weil es dem Notleidenden dann besser geht“; „… weil mir dann künftig auch geholfen wird“). Mit diesen Beispielen sind zugleich die ‚klassischen‘ Formen der Ethik-Reflexion benannt. Beruht das Werturteil auf der Rückbindung an eine vorausliegende Norm, dann spricht man von einer „deontologischen Reflexionsform“, ist es auf ein zu erreichendes Ziel ausgerichtet, dann spricht man von einer „teleologischen Reflexionsform“. Der Zyklus der MMM 5–8 hatte sich nun zur Aufgabe gesetzt, dass jenseits solcher bekannten, vielfach logisch-argumentativen Hauptmuster weitere Reflexionsformen entdeckt und in den Blick genommen werden sollten, die auf je eigene Weise moralische Signifikanz erzeugen. Um am Beispiel zu bleiben: Das Werturteil, dass Helfen gut ist, kann etwa auch durch eine Beispielgeschichte ausgedrückt und damit ‚begründet‘ werden, die davon erzählt, wie einem Menschen geholfen wurde. In der Narration liegt hierbei eine Reflexionsform sui generis, weshalb wir in diesem Fall von einer „narrativen Ethik“ sprechen. Während zur narrativen Ethik bereits ein Fachdiskurs besteht, haben wir mit der „metaphorischen“, „mimetischen“ und „doxologischen Ethik“ auch begrifflich Neuland betreten, sehen aber hier ethische Reflexionsformen, wie sie in frühchristlichen Texten besonders häufig anzutreffen sind. Die Hinwendung zu diesen etho-poietischen Formen kann damit einmal mehr zeigen, wie das frühe Christentum auch anregende meta-ethische Impulse in den aktuellen Ethik-Diskurs einbringen kann. MMM 5 zur metaphorischen Ethikbegründung wurde im Januar 2012 ausgerichtet und MMM 6 zur narrativen Ethik im Juni desselben Jahres. Im Ja2

Vgl. dazu ausführlicher R. ZIMMERMANN , Die Logik der Liebe. Die „implizite Ethik“ paulinischer Briefe am Beispiel des 1. Korintherbriefs, BThS, Neukirchen-Vluyn 2016, Kapitel 2, 5. Das Erzeugen moralischer Signifikanz: Ethische Reflexions- und Begründungsformen (im Erscheinen). 3 Vgl. zu dieser Definition R. ZIMMERMANN, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften her Schriften, in: HORN/VOLP/ZIMMERMANN, Ethische Normen (s. Anm. 1), 3–27, 3.

VII

Vorwort

nuar 2013 folgte MMM 7 zur mimetischen und im November MMM 8 zur doxologischen Ethik. Die dritte Reihe der Tagessymposien wird zwischenzeitlich fortgesetzt und beschäftigt sich mit den Zeitdimensionen antiker Ethik. Auch deren Beiträge können hoffentlich bald publiziert werden. Genauso wie der erste Band der MMM-Beiträge4 versucht die vorliegende Publikation, den durchaus heterogenen Diskussionsstand zum Thema zu dokumentieren. Neben sehr weit in eine bestimmte Richtung vorangetriebenen methodischen Modellen, deren Plausibilität hier an den Quellen erprobt wird, stehen Beiträge, in denen Einzelbeobachtungen aus den antiken Schriften oder für das Thema weiterführende Theorieüberlegungen aus anderen Disziplinen vorgestellt und in die methodische Debatte eingebracht werden. Dennoch dienen alle Beiträge dem einheitlichen Ziel, den Begründungsformen christlicher Ethik auf die Spur zu kommen, die Wirksamkeit, Signifikanz und Valenzen der unterschiedlichen Formen, in denen Ethik begründet und plausibilisiert wurde, zu untersuchen und die Frage zu beantworten, was dies für unser Bild für die Ursprünge der christlichen Ethik bedeutet. Wir, die Initiatoren und Herausgeber, hoffen sehr, dass wir mit diesem Überblick über vier zentrale nichtrational strukturierte Grundformen antiker christlicher Ethik ein ausdrückliches Desiderat der im ersten Band dokumentierten vier MMMs, die sich mit Grundnormen der antiken Ethik beschäftigt hatten, in angemessener Breite und Tiefe dem Fachdiskurs zur Verfügung stellen können. Wir danken dabei allen Vortragenden, Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Mitwirkung an den Mainz Moral Meetings. Wir danken vor allem Jutta Nennstiel und Rachel Friedrich für ihre Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes. Auch Esther Verwold, Jakobine Eisenach und Eckart David Schmidt haben sich mit vielfältigen Korrekturarbeiten um dieses Buch verdient gemacht. Ihnen allen danken wir sehr herzlich. Mainz, im August 2015

4

Ulrich Volp Friedrich Wilhelm Horn Ruben Zimmermann

HORN /VOLP/ZIMMERMANN, Ethische Normen (s. Anm. 1 ).

Inhalt Vorwort ................................................................................................. V Abkürzungsverzeichnis ....................................................................... XIII

I. Metapher Esther Verwold Metaphorik als Begründungsform antiker Ethik. Einleitung ...................... 3 Ruben Zimmermann Moralische Signifikanz durch Sprachbilder. Ein Beitrag zur „metaphorischen Ethik“ der Paulusbriefe .......................... 9 Ekkehard Mühlenberg Johannes Chrysostomus: Ethik und Metapher ............................................ 39 Jens Herzer „Gefäße zur Ehre und zur Unehre“ (2Tim 2,20). Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen – eine Skizze .............................................................................................. 49 Christoph Gregor Müller Von Gesinnungshüften (1Petr 1,13) und geistlichen Opfern (1Petr 2,5). Zur paränetischen Valenz metaphorischer Rede im Ersten Petrusbrief ......... 71

II. Narratio Ruben Zimmermann Narratio als Begründungsform der Ethik – ,Narrative Ethikʻ in Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie .............................. 91 Karen Joisten Narrative Ethik. Lesarten, Dimensionen, Anwendungen ....................... 105

X

Inhalt

Michael Roth Narrative Ethik. Überlegungen zu einer lebensnahen Disziplin ............. 123 Sönke Finnern Narrative Ethik und Narratologie. Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen .............. 141 Paul-Gerhard Klumbies Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6 ...................................................................................... 169

III. Mimesis Blossom Stefaniw Mimetic Ethics. Introduction ............................................................... 191 Friedrich W. Horn Mimetische Ethik im Neuen Testament ................................................ 195 Cornelis Bennema Mimetic Ethics in the Gospel of John ................................................... 205 Eve-Marie Becker Mimetische Ethik im Philipperbrief. Zu Form und Funktion paulinischer exempla ........................................ 219 Blossom Stefaniw A Disciplined Mind in an Orderly World. Mimesis in Late Antique Ethical Regimes ............................................ 235 Ron aiweld Mastering the Disciple. Mimesis in the Master – Disciple Relationships of Rabbinic Literature ............................................................................................ 257 István Czachesz From Mirror Neurons to Morality. Cognitive and Evolutionary Foundations of Early Christian Ethics ....... 271

Inhalt

XI

IV. Doxologie Friedrich W. Horn Doxologie als Begründungsform antiker Ethik. Eine Einführung .......... 291 Klaas Huizing Viel Lob, viel Ehr. Karte und Gebiet einer doxologischen Ethik ........... 295 Alexandra Grund „Aus der Asche erhöht er den Armen, um ihn unter die Edlen zu setzen.“ (1Sam 2,8). Ethische Implikationen des Psalms der Hanna ...................................... 339 Sotirios Despotis Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief – eine orthodoxe Perspektive .......................................................................................... 355 Eckart David Schmidt Dienen zu Gottes Ehre. Die Doxologien im 1. Petrusbrief und ihr Beitrag zu einer ,doxologischen Ethikʻ ..................................... 375 Ansgar Franz Aufstehen, Auferstehung, Aufstand. Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand als Beispiel doxologischer Ethik .......................................................... 403 Ulrich Volp Der nachkonstantinische Gottesdienst als „Vermahnung zur Tugend“. Überlegungen zur ,Ethikʻ antiker liturgischer Quellen .......................... 421

Autorenverzeichnis .............................................................................. 441 Stellenregister ..................................................................................... 445 Sach- und Personenregister .................................................................. 449

Abkürzungsverzeichnis Die innerhalb des Bandes verwendeten Abkürzungen für Schriftenreihen und Zeitschriften orientieren sich an Siegfried M. Schwertner, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Die Abkürzungen für biblische Bücher und antike Schriftsteller und Schriften erfolgt nach dem Abkürzungsverzeichnis der 4. Aufl. der RGG (vgl. Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4, hg. v. der Redaktion der RGG4, UTB 2868, Tübingen 2007). Darüber hinaus wurden folgende Abkürzungen verwendet: Arist.mem. Arist.rhet. Athenag.suppl. Chrys.catech. Cic.ep.fam. Cic.ep.Quint. Cic.inv. Clem.Al.paed. Clem.Al.protr. Clem.Al.quis div.salv. Clem.Al.strom. CorpHerm Cyr.Hier.procatech. Dion.Hal.ant. Epict.diss. Greg.Nyss.bapt.Chr. Greg.Nyss.Moys. Hier.comm.Tit. Hierokles carm.aur. Isocr.or. Liv.praef. Luc.im. Luc.mort.Per. Luc.Tim. M.Ant. M.Aur. Mac.apocrit. Max.Tyr. Men.dys. Meth.conv. Or.comm.Io.

Aristoteles, De memoria Aristoteles, Rhetorica Athenagoras, Legatio sive supplicatio pro Christianis Ioannes Chrysostomus, In catechumenos Cicero, Epistulae ad familiares Cicero, Epistulae ad Quintum fratrem Cicero, De inventione Clemens von Alexandria, Paedagogus Clemens von Alexandria, Protrepticus Clemens von Alexandria, Quis dives salvetur Clemens von Alexandria, Stromateis Corpus Hermeticum Cyrill von Jerusalem, Procatechesis Dionysius von Halicarnassus, Antiquitates Romanae Epictetus, Dissertationes Gregor von Nyssa, In baptismum Christi oratio Gregor von Nyssa, Vita Moysis Hieronymus, Commentarii in epistulam ad Titum Hierokles von Alexandria, Commentarius in aurea carmina Isocrates, Orationes Livius, Praefatio Lucianus, Imagines Lucianus, De morte Peregrine Lucianus, Timon M. Antonius, Ad seipsum Mark Aurel Macarius Magnes, Apocriticus Maximus von Tyros, Dissertationes Menander, Dyscolus Methodius, Convivium decem virginum Origenes, Commentarius in Ioannem

XIV P.Monts.Roca inv. Plato leg. Plautus most. Plin.nat.hist. Plut.Cor. Plut.mor. Plut.Sol. Quint.inst. Rhet. ad Her. Sen.benef. Sen.vit. S.Emp.adv.math. Tac.ann. Terenz Eun. Tert.paenit. Tert.pud.

Abkürzungsverzeichnis Papyrus Montserrat Roca (Barcelona Papyrus) Plato, Leges Plautus, Mostellaria Plinius, Historia naturalis Plutarch, Coriolanus Plutarch, Moralia Plutarch, Solon Quintilian, Institutio oratoria Rhetorica ad Herennium Seneca, De beneficiis Seneca, De vita beata Sextus Empiricus, Adversus mathematicos Tacitus, Annalen Terenz, Eunuchus Tertullian, De paenitentia Tertullian, De pudicitia

I. Metapher

Metaphorik als Begründungsform antiker Ethik Einleitung Esther Verwold Die „metaphorische Ethik“ stellt die Begründungsform antiker Ethik dar, die in den folgenden Beiträgen1 in den Blick genommen wird. Das Bedeutungsspektrum der Zusammensetzung von „Metaphorik“ und „Ethik“ zu einer „metaphorischen Ethik“ wird durch das Forschungsinteresse des Gesamtprojekts deutlich: Nach der Beschäftigung mit den ethischen Normen Gut, Leben, Leib und Tugend2 wurde das Anliegen formuliert, nun auf Formen ethischer Reflexionen zu blicken. Woher und wie kann Ethik konstruiert werden, wie entsteht und begründet sich Ethik? Das Ziel des Abschnitts mit dem Titel „metaphorische Ethik“ ist es, den Einsatz und die Wirkung von Metaphorik sowie ihre möglichen Funktionen und Fähigkeiten in antiken Texten und Predigten so weit wie möglich aufzudecken und zu hinterfragen. Jeder der folgenden Beiträge thematisiert sodann, inwiefern der Metapher das Potenzial zur Konstruktion von Ethik innewohnt. Mit der Konstituierung dieser Fähigkeit kann die Metapher schließlich als Begründungsform ethischer Reflexionen herangezogen werden. Wenn die Forschung Metaphorik und Ethik gemeinsam in den Blick nimmt, darf zu Beginn danach gefragt werden, (1.) was die Metapher kennzeichnet und welches Verständnis von Metaphorik dem Forschungsinteresse zugrunde gelegt werden kann. Dieser Zugang zur Metaphorik wird durch (2.) die Verhältnisbestimmung von Metaphorik und Ethik ergänzt. Schließlich wird (3.) über das Potenzial von Metaphorik als Begründungsform oder als Teil eines Begründungszusammenhanges von Ethik nachgedacht.

1

Die Beiträge gehen auf Referate des 5. Mainz Moral Meetings am 17.01.2012 zurück. 2 Siehe den Tagungsband zu den Mainz Moral Meetings 1–4: F.W. HORN /U. VOLP/ R. ZIMMERMANN (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013.

4

Esther Verwold

1. Metapher und Metaphorik: theologische Perspektiven Was eine Metapher ist und was sie leisten kann, wird im Folgenden zwangsläufig auf das genannte Forschungsanliegen eingegrenzt und kann auch selbst dann nicht in der ihr eigentlich immanenten Komplexität aufgegriffen werden. Der Umgang mit Metaphorik in der Theologie profitiert wesentlich von anderen Disziplinen und von dem Austausch mit ihnen. Bedeutsame Einflüsse entspringen aus der Philosophie, der Literaturwissenschaft, der Linguistik sowie der Psychologie, um nur einige zu nennen. Mit dieser Vielfalt wird deutlich, dass die Metaphorik nicht nur die rein sprachbezogene Forschung betrifft, sondern ebenso menschliches Handeln und Verhalten einschließt. Die Anfänge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Metapher gehen auf Aristoteles in seinen Werken Poetik3 und Rhetorik4 zurück, in denen ältere Werke wie die homerischen Epen oft als Beispiel dienen. Als uneigentliche Rede ordnet Quintilian sie später den Tropen der Rhetorik zu. Er bezeichnet die Metapher als eine translatio5, bei der ein Nomen oder Verb übertragen wird von der eigentlichen Stelle auf eine (andere), an der entweder die eigentliche Bedeutung fehlt oder das Übertragene (die Metapher) besser als das Eigentliche ist.6 Ein intensives Forschungsinteresse an der Metapher bringt die linguistische Forschung des 19. Jahrhunderts hervor, deren Disziplin der Semantik sie zugeordnet wird.7 Ricœur, Jüngel, Weinrich und jüngst Zimmermann prägen den theologischen Umgang mit der Metapher in religiösen Texten seit den 1960er Jahren.8 Die Metapher erfährt seitdem für die religiöse Sprache eine 3

In der Poetik definiert Aristoteles die Metapher z.B. folgendermaßen: Die Metapher ist denn die Übertragung eines fremden Nomens, entweder von der Gattung auf eine Art oder von der Art auf die Gattung oder von der Art auf eine Art oder gemäß der Analogie (μεταφορὰ δέ ἐστιν ὀνόματος ἀλλοτρίου ἐπιφορὰ ἢ ἀπὸ τοῦ γένους ἐπὶ εἶδος ἢ ἀπὸ τοῦ εἴδους ἐπὶ τὸ γένος ἢ ἀπὸ τοῦ εἴδους ἐπὶ εἶδος ἢ κατὰ τὸ ἀνάλογον). Arist.po. 21, 1457b 6–9. 4 Arist.rhet. III 2–11, 1404b 1–1413b 2. In zehn von zwölf Kapiteln zu den Stilmitteln rekurriert Aristoteles im dritten Buch der Rhetorik wiederholt auf die Metapher. In seiner Bezugsetzung des Vergleichs zur Metapher bezeichnet er Letztere als einen abgekürzten Vergleich, der ohne Vergleichspartikel auskommt, Arist.rhet. III 4, 1406b 20– 22. Weiterhin führt Aristoteles in seiner Rhetorik aus, dass die Metapher zu den hoch geschätzten (εὐδοκιμέω) Formulierungen gehöre, insbesondere, da sie am ehesten einen Lernprozess (μάθησις) bewirke (ἡ δὲ μεταφορὰ ποιεῖ τοῦτο [gemeint ist das zuvor genannte ποιεῖ ἡμῖν μάθησιν] μάλιστα). Arist.rhet. III 10, 1410b 5–12. 5 Quint.inst. VIII 6,4. 6 Transfertur ergo nomen aut verbum ex eo loco, in quo proprium est, in eum, in quo aut proprium deest aut translatum proprio melius est. Quint.inst. VIII 6,5. 7 Vgl. H. MEIER , Die Metapher. Versuch einer zusammenfassenden Betrachtung ihrer linguistischen Merkmale, Winterthur 1963, 18. 8 Auch auf die Phänomenologie bezogene Einflüsse Blumenbergs und ihre Aufarbeitung durch Stoellger sind hier zu nennen, vgl. P H. STOELLGER , Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, HUTh 39, Tübingen 2000.

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deutliche Aufwertung und erweist sich als wertvoll, wenn religiöse Identifikation stattfindet. Die Rede und der Text sind gemäß poststrukturalistischer Ansätze nicht mehr vornehmlich dem Autor verhaftet, sondern sie erreichen durch die Metapher vor allem die je individuelle Wirklichkeit des Hörenden und Lesenden, insofern die Metapher auf die Lebenswelt ausgerichtet ist. So zeichnet es auch religiöse Sprache aus, nach Ricœur und Jüngel, „wenn sie, ohne am Wirklichen vorbeizureden, über es hinausgeht. Über das Wirkliche hinausgehend geht sie auf die Wirklichkeit ein“9 und „spricht dem Wirklichen bestimmte Möglichkeiten als zum Sein des Wirklichen gehörend zu“10. Diese Möglichkeiten der Wirklichkeitsbezogenheit entstehen ebenso in der Metaphorik durch ihre Polyvalenz, bedingt durch ihre Bedeutungs- und Bildfelder. Der oftmals weite Interpretationshorizont einer Metapher in theologischen Texten nützt sowohl der Identifikation mit dem Text, (seltener) mit dem Autor, mit den weiteren Adressaten und Rezipienten, mit dem eigenen Selbst und der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung als auch der Konstruktion von individueller sowie gemeinschaftlicher Religiosität und Glauben, die im Moment des Hörens und Lesens evoziert werden können.

2. Verhältnisbestimmung von Metaphorik und Ethik In der Auseinandersetzung mit der Metapher als Begründungsform von Ethik liegt ebenso die Frage nach einem Verständnis von Ethik nahe. In den folgenden Beiträgen wird mit der Ethik unterschiedlich umgegangen. So konzentriert sich beispielweise Zimmermann auf sein Modell der impliziten Ethik, andernorts wird die Bedeutung von Ethik aufgezeigt oder auch, ausgehend von der Metaphorik im Text, ein allgegenwärtiges Verständnis von Ethik vorausgesetzt. Sinnvoll erscheint es, zunächst einen möglichst allgemeinen Zugang zu wählen, in dem die gesamten folgenden Ausarbeitungen Raum finden, und eine breite Definition von Ethik voranzustellen: Ethik kann als eine Reflexion über menschliches Handeln und Verhalten verstanden werden, die oft auch eine Reflexion über Einstellungen in sich trägt oder provoziert, und sich stets auf individuelle oder kollektive Lebenszusammenhänge bezieht. Die Voraussetzung einer Ethik bildet das Ethos, das sich in der Lebenspraxis und -welt wiederfindet und durch die Ethik angesprochen und reflektiert wird. Um den vertextlichten Reflexionen über das Ethos, also der textimmanenten Ethik näherzukommen, entwerfen die Autoren der folgenden Beiträge ihre jeweils eigene Metaethik in Form ihrer metaphorischen Ethik. 9

P. RICŒUR /E. J ÜNGEL, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: E. Jüngel (Hg.), Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, BevTh 88, München 1980, 103 (Nachdruck aus RICŒUR/J ÜNGEL, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 71–122). 10 Ebd.

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Metaphorik kann auf verschiedene Weise in ethische Reflexionen eingebunden sein. Bedingt durch die Polyvalenz der Metapher kann sie unterschiedliche Funktionen in ethischen Reflexionen einnehmen. So kann z.B. die heuristische Valenz von der paränetischen Valenz unterschieden werden.11 Erstere Valenz ist hinsichtlich der Ethik insofern relevant, als sie neue Zugänge zur Wirklichkeit evoziert und ein Verstehen der lebensbezogenen Wirklichkeit unterstützen kann. Möglicherweise kann eine Metapher also zu einer besseren Erschließbarkeit der angesprochenen Bereiche der Ethik führen und die Relevanz für das eigene Leben verdeutlichen. Die paränetische Valenz weiterhin kann zum einen durch den bildspendenden Bereich hervortreten, zum anderen durch den bildempfangenden Kontext bestimmt werden. Beide Möglichkeiten werden beispielsweise in der 39. Matthäushomilie des Johannes Chrysostomus sichtbar, wenn der Kirchenvater sagt: „Lasst uns nicht nachlassen in den Läufen für die Tugend“12. Sowohl der athletische Lauf (bildspendender Bereich), der einen Appell an ein diszipliniertes Verhalten darstellt und Zielgerichtetheit einschließt, als auch der Imperativ in der 1. Person Plural, der zum Handeln auffordert und an ein Ethos anschließt, das zum Positiven verändert werden soll (bildempfangender Bereich), verdeutlichen eine ermahnende, paränetische Valenz der Metapher. Die Metapher birgt also das Potenzial in sich, allein durch sich selbst auf ein Ethos zu wirken: „Gerade weil die metaphorische Prädikation meist nicht ohne weiteres Sinn macht wie nichtmetaphorische Prädikationen, aktualisieren wir auf der Suche nach Sinn nicht nur die lexikalischen Bedeutungen des Ausdrucks, sondern auch einen diffusen, daher suggestiven Komplex von impliziten Vorstellungen, Ansichten, Wertungen und affektiven Beziehungen. Metaphern setzen Gefühle frei, sie lassen daher den Bildempfänger unter der Perspektive des Bildspenders ,erleben‘“,13

womit eine Übertragung auf menschliche Handlungen, Verhalten und Einstellungen und somit auf das gelebte Ethos als ein nächster Schritt oft nicht weit entfernt liegt. Eine Applikation des Rezipienten auf seine eigene Lebenswelt ist gegeben und kann wiederum als Grundlage einer Reflexion über das Ethos – also für Ethik – dienen.

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CHR .G. MÜLLER , Gottes Pflanzung – Gottes Bau – Gottes Tempel. Die metaphorische Dimension paulinischer Gemeindetheologie in I Kor 3,5–17, FuSt 5, Frankfurt 1995, 59–63. 12 μὴ ναρκῶμεν πρὸς τοὺς ὑπὲρ τῆς ἀρετῆς δρόμους Chrys.hom. 39 in Mt 12,1–8 (CPG 4424); PG 57,438,46f.) 13 G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 62009, 24.

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3. Metaphorik als Begründungsform und in Begründungszusammenhängen von Ethik Dadurch, dass eine Metapher ihre größte Wirksamkeit entfaltet, sofern sie die Lebenswirklichkeit berührt, dürfte demnach eine ebenso große Wirksamkeit entstehen, wenn sie auf ein Ethos bezogen wird. Diese Eigenschaft prädestiniert die Metapher dazu, in Form der metaphorischen Ethik einen Begründungszusammenhang innerhalb einer Ethik zu konstituieren oder auch als Begründungsform von Ethik zu fungieren. Damit ist zweierlei gesagt. Zum einen kann die Metapher als Begründungsform, wie oben angeführt, einen sprachlich explizierten Indikativ oder Imperativ ersetzen, der zu einem erwünschten Verhalten führen soll, das etwa dem ethischen Ziel Disziplin entspricht. Aus den Assoziationen, die durch die Metaphorik entstehen, geht folglich hervor, welche Ethik angestrebt werden soll. Diese Assoziationen entstehen nicht ausschließlich aus dem bildspendenden Wort, sondern ergeben sich ebenfalls aus dem Satzgefüge, in das es gesetzt ist. Durch diese Art von Metaphorik wird der Geltungsbereich der Ethik allein durch die Metapher bestimmt. Zum anderen kann die Metapher eine unterstützende Funktion in einer Ethik einnehmen, die auch ohne Einsatz der Metaphorik als Ethik zu verstehen wäre. Die Metapher dient dann möglicherweise lediglich als Plausibilisierung der ethischen Reflexionen. Dies habe ich oben als einen Begründungszusammenhang bezeichnet. Zum Zweck der Verständlichkeit verwende ich hier ein sehr enges Begriffsverständnis, über das die folgenden Beiträge zum Teil deutlich hinausweisen. Die besonderen Eigenschaften der Metapher können sowohl als Begründungsform wie auch als Gegenstand eines Begründungszusammenhangs bedeutenden Einfluss auf die Rezeption ethischer Reflexionen und damit letztlich auf das Ethos ausüben. Dabei ist es von Relevanz, ob eine kühne oder kreative Metapher verwendet wird oder aber eine bekannte, konventionalisierte oder gar lexikalische Metapher. Die kühne oder kreative Metapher setzt neue sprachliche Impulse, sie wird in ihren Assoziationen lediglich mit der vertrauten Lebenswelt in Einklang gebracht. Die bekannte, konventionalisierte oder lexikalische Metapher ist bereits in anderen Kontexten mit bestimmten Inhalten verknüpft und wirkt dadurch vornehmlich, indem frühere Inhalte in einen neuen Kontext gesetzt werden. Sie kann dann eine Intertextualität entstehen lassen, oder aber sie büßt an Wirksamkeit ein, da ihr Esprit längst verpufft ist und somit ihr metaphorisches Moment ins Leere läuft. Je größer das metaphorische Moment, desto stärker findet eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand statt und desto ausgeprägter ist das Identifikationspotenzial mit der Ethik. Metaphorik kann als Begründungsform von Ethik verstanden werden. Ihr kann in ethischen Begründungszusammenhängen eine wegweisende Funktion innewohnen, wobei ihr Wirkpotenzial kontext- und rezipientenabhängig ist.

Moralische Signifikanz durch Sprachbilder Ein Beitrag zur „metaphorischen Ethik“ der Paulusbriefe Ruben Zimmermann Wie wirksam Metaphern bei der Begründung von Ethik sein können, hat die neutestamentliche Wissenschaft vor allem durch das „Indikativ-ImperativModell“1 von Bultmann gelernt. „Denn um Metaphern handelt es sich bei diesen Begriffen in der Tat“.2 Bis in die jüngste Zeit hinein wird es herangezogen, um als Begründungsfigur paulinische Ethik zu erklären.3 Was macht es so attraktiv? Es kann wohl kaum die analytische Präzision sein, denn die Komplexität ganzer Briefe oder die Argumentationsstruktur einzelner Textpassagen lässt sich nicht mit diesem relativ simplen Schema einfangen. Es kann auch kaum die Referentialität der Aussage sein, die das Schema überzeugend sein lässt, denn hinsichtlich der Sache führt es eher in theologische Aporien4, hinsichtlich des Gegenstandes mündet es ontologisch betrachtet in den „naturalistischen Fehlschluss“. Es ist offenbar die Prägnanz des sprachlichen Ausdrucks, die Erschließungskraft und schließlich auch der kommunikative Wert, die die Indikativ-Imperativ-Metapher so beliebt machen. Mit anderen Worten: Es ist gerade auch die Metaphorik des Ausdrucks, die zum Erfolg des Schemas beigetragen hat: Komplexe Sachverhalte können in einer Metapher recht einfach zur Sprache gebracht werden. Die Metapher eröffnet Einsichten durch 1 R. BULTMANN, Das Problem der Ethik bei Paulus, ZNW 23 (1924), 123–140 (wieder in: E. Dinkler [Hg.], Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 36–54). 2 M. WOLTER, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 312. 3 So etwa WOLTER, Paulus (s. Anm. 2), 348, hier bezogen auf die Rechtfertigungslehre, Kapitel XII: Ethik, 310–338. 4 Hier vor allem die Einwände von K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding (Hgg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 9–31; sowie U. SCHNELLE, Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer/M. Meiser (Hgg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), MThSt 76, Marburg 2003, 109– 131; DERS., Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 629–644; D.G. HORRELL, Solidarity and Difference. A Contemporary Reading of Paulʼs Ethics, London/New York 2005, 10–15.

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Anschaulichkeit, indem sie sich Einsichten und Erfahrungen aus bekannten Bereichen zunutze macht, um komplexe und unbekannte Bereiche zu erschließen. Sie erfüllt dabei nicht nur eine heuristische Funktion, sie kann teilweise auch Erkenntnisse herbeiführen, die ohne Metaphern gar nicht möglich gewesen wären. Die Metapher erfüllt aber nicht nur eine kognitive, sondern durch Einbeziehung der Sinne auch eine emotive und pragmatische Funktion im Kommunikationsvorgang. Sie wirbt ganzheitlich um Überzeugung. Hat sie Erfolg, kann sie sich im Sprachgebrauch von Kommunikationsteilnehmern festsetzen und auch in unterschiedlicher Weise modifiziert und verwendet werden. Diese Polyvalenz und Offenheit birgt die Chance für applikative Verwendungen und Veränderungen. Nicht immer meinen Autoren dasselbe, die eine Metapher verwenden. Dies lässt sich auch beim IndikativImperativ-Modell zeigen.5 Nicht immer ist die Metapher dem Gegenstand angemessen und diskursiv weiterführend. Metaphern haben auch ein Eigenleben und können sogar in Sackgassen führen. Es muss hier aber nicht der Ort sein, die Funktionsfähigkeit oder Sachgemäßheit der Indikativ-ImperativMetapher zu diskutieren. Ihre Wirkung muss nicht in Frage gestellt werden, auch wenn sie vielfach den neutestamentlichen Texten nicht gerecht wird und vor allem für den wissenschaftlichen (auch interdisziplinären) Ethik-Diskurs zu kurz greift.6 Ich wollte vielmehr dieses Beispiel der Forschungsgeschichte heranziehen, um einführend auf die Chancen (sowie einige Grenzen) einer metaphorischen Ethikbegründung hinzuweisen. Im Folgenden soll diese Begründungsform nun detaillierter untersucht (1.) und an Beispielen aus den Paulusbriefen (2.) konkretisiert werden.

5 Dies zeigt sich etwa mit einem Blick in die Forschungsgeschichte, vgl. zum Überblick R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259–284, 261–264; oder M. PARSONS, Being Precedes Act. Indicative and Imperative in Paul’s Writings, in: B. Rosner (Hg.), Understanding Paul’s Ethics, Grand Rapids 1995; J.D.G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge (U.K.) 1998, 626–631. 6 Siehe F.W. HORN/R. ZIMMERMANN (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics I, WUNT 238, Tübingen 2009.

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1. „Metaphorische Ethik“ als Reflexionsform sui generis 1.1 Die Form der Handlungsbegründung als Erzeugung moralischer Signifikanz Innerhalb des heuristischen Rasters einer ethischen Analyse frühchristlicher Texte, das ich das Organon der „impliziten Ethik“7 nenne, spielt die Frage nach der Reflexionsform eine zentrale Rolle. Neben der Frage nach Sprachgestalt8, verwendeten Normen9, traditionsgeschichtlichen Kontexten etc. ist gerade die Art und Weise, wie moralische Signifikanz erzeugt wird, maßgeblich, um den ethischen Gehalt eines Textes wahrnehmen zu können. Ethik als das kritische Nachdenken über Handlungsoptionen und Wertungen steht in kommunikativen Zusammenhängen. Insofern geht es darum, ethische Urteile gegenüber Gesprächspartnern oder auch sich selbst zu rechtfertigen. Bezogen auf Texte heißt das, dass ein Autor versucht, Gründe für das richtige oder bessere Tun darzulegen oder implizite oder explizite Adressaten von dem eigenen ethischen Urteil zu überzeugen. Obgleich diese rechtfertigende oder werbende Erzeugung von moralischer Signifikanz häufig Argumentationsmuster benutzt, kann sie doch nicht auf Argumentation oder gar Logik reduziert werden. Auch der Begriff „Begründung“ darf nicht in einem engen sprachphilosophischen Sinn aufgefasst werden. Dies wird an folgendem Beispiel deutlich: Man kann „Begründen“ mit Kuhlmann als ein fünfstelliges Prädikat wie folgt beschreiben: „Ein ethisches Subjekt A begründet die These U im Hinblick auf einen Geltungsbereich G durch das Argument Z für den Adressaten B.“10 Appliziert auf einen neutestamentlichen Text (1Kor 9) hieße das: Paulus (A) begründet seinen Unterhaltsverzicht (U) im Hinblick auf die korinthische 7

Siehe ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ (s. Anm. 5), 274–276; R. ZIMMERMANN, The „Implicit Ethics“ of New Testament Writings. A Draft on a New Methodology for Analysing New Testament Ethics, Neotest. 43 (2009), 399–423; sowie jetzt ausführlich R. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe. Die ‚Implizite Ethik‘ der Paulusbriefe am Beispiel des 1. Korintherbriefs, Neukirchen-Vluyn 2016 (im Erscheinen). 8 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, Ethics in the New Testament and Language. Basic Explorations and Eph 5:21–33 as Test Case, in: ders./J.G. van der Watt (Hgg.), Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings, Contexts and Norms of New Testament Ethics II, WUNT II/296, Tübingen 2010, 19–50. 9 Vgl. dazu F.W. HORN/U. VOLP/R. ZIMMERMANN (Hgg.), unter Mitarbeit von E. Verwold, Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, Tübingen 2013. 10 Vgl. W. KUHLMANN, Art. Begründung, in: M. Düwell/C. Hübenthal/M.H. Werner (Hgg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 319–325, 319.

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Gemeinde (G) mit dem Argument der Evangeliumsverkündigung (Z) für die Empfänger seines Briefes (B). Doch spätestens jetzt merken wir, dass die heuristisch gewonnene Klarheit trügerisch ist. Wird der Unterhaltsverzicht ‚nur‘ mit dem Argument der Evangeliumsverkündigung begründet, oder ist nicht auch die „Freiheit“ maßgeblich? Und ist Evangeliumsverkündigung überhaupt ein „Argument“? Handelt es sich hier nicht vielmehr um eine „Norm“, die gerade nicht aus Vernunftgründen, sondern aus Zwang (avna,gkh, 1Kor 9,16) für das ethische Urteil maßgeblich wird? Wer das Kapitel kennt, weiß, dass die Entscheidungsfindung noch komplexer ist. Es werden noch weitere Normen wie Jesuslogion und Tora mit feinsinniger Rhetorik angeführt.11 Und was ist die ethische Funktion bzw. Pragmatik des Abschnitts? Geht es Paulus ‚nur‘ darum, sein eigenes ethisches Urteil zu rechtfertigen, gewissermaßen eine Apologie seines Apostolats? Oder möchte er seine Handlungsentscheidung nicht eher als Modell für eine Sollensforderung der Adressaten nutzen, indem er sie auffordert, seinem Beispiel zu folgen (1Kor 11,1)? Die Frage nach der Begründung der Handlung führt so mitten hinein in ein Geflecht aus Argument und Rhetorik, Norm und Pragmatik, das nicht leicht zu durchdringen ist und sich spezifischer Plausibilisierungsstrategien bedient, um einen ethischen Geltungsanspruch zu erzeugen. Es geht darum diese Plausibilisierungsstrategie zu durchdringen, die Bildungsmechanismen zu analysieren, die Wertung und Sollensforderung intersubjektiv zu kommunizieren. Die Begriffe „Begründung“ oder „Reflexionsform“ werden folglich deshalb nicht in einem engen rationalistisch-logischen Sinne verwendet.12 Vielmehr verstehe ich unter der Form der Handlungsbegründung den Modus, mit dem moralische Signifikanz erzeugt wird. Dabei sind sprachliche und/oder rhetorische Mittel unverzichtbar, ebenso die Inanspruchname von Normen oder die Ausrichtung auf vorausliegende Wertesysteme oder zu erreichende Ziele. Allerdings ist es das spezifische Zusammenspiel unterschiedlicher Elemente, 11

Vgl. dazu meine Analyse in R. ZIMMERMANN, Mission versus Ethics in 1 Cor 9? ‚Implicit Ethics‘ as an Aid in Analysing New Testament Texts, HTS 68 (2012), 1–8. 12 Auch innerhalb der philosophischen Ethik-Debatte finden sich eher selten Versuche, die mit den Mitteln der Logik bzw. Sprachphilosophie ethische Begründungen im Sinne logischer Schlüsse durchführen. Ein prominentes Beispiel ist G.H. VON WRIGHT, Handlung, Norm und Intention. Untersuchungen zur deontischen Logik, Berlin/New York 1977; vgl. neuerdings D. NUTE (Hg.), Defeasible Deontic Logic, Dordrecht 1997; sowie E. MORSCHER, Normenlogik, Wien 2011; J. Fischer möchte im Gegenüber zu rationalistischen Formen der Ethikreflexion ganz auf den Begriff der „Begründung“ verzichten und stattdessen von „Verstehen“ sprechen. Gleichwohl spricht er aber auch vom „richtigen moralischen Denken“ oder von „narrativen Gründen bzw. Begründungen“, vgl. J. FISCHER, Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012.

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das die ethische Qualität eines Textes ausmacht. Mit dem Begriff der „moralischen Signifikanz“13 wird dabei eine Einsicht der Sprach- bzw. Zeichentheorie auf die Ethik übertragen. F. de Saussure hatte zwischen dem bedeutungstragenden Zeichen (Signifikant) und der Bedeutung des Zeichens (Signifikat) unterschieden. Seit Charles S. Peirce wird ferner das Bedeutung zuschreibende Subjekt als dritte Stelle im semiotischen Dreieck eigens benannt. Im Begriff der „Erzeugung moralischer Signifikanz“ wird zum Ausdruck gebracht, dass zwischen einem Text (Signifikant) und seinem moralischen Geltungsanspruch (Signifikat) unterschieden werden kann, wobei die Redeweise der „Erzeugung von Signifikanz“ zusätzlich dem kommunikativen Vorgang Rechnung tragen will, den die Ethik als Handlungsbegründung immer schon einschließt. Dabei ist es in der Regel ein Autor, der als Subjekt dieses mit dem Text intendierten ethischen Sprechaktes erkannt werden kann. Es kann aber ebenso auch der Rezipient oder die rezipierende Gemeinschaft sein, die einem per se unethischen Text im Gebrauch (z.B. als kanonischen Text) einen moralischen Rang zuerkennt. Es genügt eben nicht, die rhetorische Struktur eines Briefabschnitts zu erfassen oder die begrifflich verdichteten Normen wie z.B. Tora oder Freiheit zu benennen, auf die der Text verweist. Auch eine Rückbindung an bestehende Wertesysteme (z.B. der zeitgenössischen Philosophie) oder postulierte Werteordnungen in der konkreten Kommunikationsgemeinschaft (z.B. Gruppenethos) sagt noch nichts über den ethischen Begründungsweg im einzelnen Text aus. Dies alles spielt im Raster der Begründungszusammenhänge eine maßgebliche Rolle und bedarf der je eigenen Analyse. Bei der Frage nach der Reflexionsform geht es hingegen im engeren Sinn um Grundmuster ethischer Überzeugungsarbeit, die in der ethischen Fachdiskussion z.B. als „deontologische“ oder „teleologische“ Begründungsformen beschrieben wurden.14 Erzeuge ich moralische Signifikanz, indem ich meine ethische Plausibilisierung an eine vorausliegende Norm binde, von der aus im Sinne einer linearen Ableitung das ethische Urteil gefunden wird (z.B. „Du sollst nicht töten“ > Abtreibung ist schlecht). Oder erzeuge ich moralische Signifikanz, indem ich ethische Geltung durch Ausrichtung auf ein Handlungsziel bzw. eine Handlungsfolge beanspruche (z.B. ein Leben mit einem schwerstbehinderten Kind

13 Der Begriff wird m.W. erstmals von J. Fischer in die Debatte eingebracht, der ihn im Zusammenhang mit der narrativen Vergegenwärtigung von Situationen verwendet, vgl. J. FISCHER, Ethik als rationale Begründung der Moral?, ZEE 55 (2011), 192–204, 193 (wieder in: DERS., Verstehen statt Begründen [s. Anm. 12], 25–71). 14 So z.B. D. BIRNBACHER, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2 2007, als klassifikatorisch für Kapitel 4 (Deontologische Ethik, 113–172) und Kapitel 5 (Konsequentialistische Ethik, 173–240); ebenso die Basisunterscheidung der normativen Ethiken bei M. DÜWELL/C. HÜBENTHAL/M.H. WERNER (Hgg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 61–190.

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wird über die psychische und soziale Belastungsgrenze hinausgehen > Abtreibung kann gerechtfertigt sein). Deontologische und teleologische Muster sind nur spezifische Formen, wie eine ethische Reflexion verlaufen kann. Die Formen der Erzeugung moralischer Signifikanz können ganz unterschiedlich ausfallen. In der moralphilosophischen Diskussion werden z.B. „lineare“, „kohärentische“, „deduktive“ und „induktive“ Begründungsformen unterschieden.15 Darüber hinaus hat etwa A. Pieper sieben weitere ethische Begründungsmuster differenziert, wie z.B. die diskursive, dialektische, analogische Methode.16 Unter „analogischer Methode“ versteht sie beispielsweise in Anknüpfung an Aristoteles das Bestimmen des moralischen Sollens durch das Finden der richtigen Mitte bzw. des rechten Maßes (meso,thj) zwischen zwei Extremen. Diese Mitte wird mit der moralischen Klugheit (fro,nhsij) ermittelt, sei es als arithmetische Mitte, d.h. als ein rechnerisch feststellbarer Mittelwert zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, z.B. Tapferkeit zwischen Feigheit und Übermut. Was in einer jeweiligen Situation allerdings tapfer ist, z.B. Angreifen oder Verteidigen, bestimmt die moralische Klugheit17; sei es als geometrische Mitte, d.h. als Bestimmung einer proportionalen Gleichheit von Verhältnissen (A:B=C:D > A:C=B:D). Das Gerechte ist z.B. nicht arithmetisch zu bestimmen, sondern nur im Verhältnis. Wenn A und B Personen (Bäcker, Schuster) sind und C und D Sachen, so folgt: Wenn die Personen nicht gleich sind, so muss auch die gerechte Zuteilung unterschiedlich erfolgen. Es geht hier um ein Aufeinanderbeziehen von Norm und (Einzel-)Situation unter dem Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit und Verhältnismäßigkeit.18 Man erkennt an diesem Beispiel, dass die Bestimmung einer Mitte ein ganz anderes Verfahren darstellt als z.B. eine lineare Ableitung. Die Formen der Ethik-Reflexion sind jedoch noch vielfältiger. In dem zweiten Zyklus der Mainz Moral Meetings und korrespondierend in diesem Band wurden besonders auch Formen der Moralbegründung in den Blick genommen, die jenseits

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KUHLMANN, Art. Begründung (s. Anm. 10), 321f.; K. OTT, Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg 2001; M. QUANTE, Einführung in die allgemeine Ethik, Darmstadt 4 2011, 155–158; vgl. dazu auch meinen Überblick in: R. ZIMMERMANN, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer impliziten Ethik frühchristlicher Schriften, in: Horn/Volp/Zimmermann (Hgg.), Normen frühchristlicher Ethik (s. Anm. 9), 3–27, 4–11. 16 Siehe zu den unterschiedlichen Methoden ethischer Begründung z.B. die Auflistung bei A. PIEPER, Einführung in die Ethik, Stuttgart 62007, 200–232. 17 Vgl. Arist.e.N. II 5 (1106b–1107a): „sittliche Tüchtigkeit zielt wesenhaft auf jenes Mittlere ab“ (ebd.); sowie a.a.O., III, 9 (1115a) zur Tapferkeit; vgl. PIEPER, Einführung in die Ethik (s. Anm. 16), 224–226 (Piepers Aristoteles-Verweise sind aber fehlerhaft, so z.B. 115a statt 1115; 1031a statt 1131a). 18 Arist.e.N. V 6 (1131ab).

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rationaler Argumentation liegen: narrative, metaphorische, mimetische und doxologische Ethiken. Obgleich es Überschneidungen mit etablierten rationalen Verfahren gibt (mimetische Ethik könnte z.B. als Sonderform der Deduktion verstanden werden, indem moralische Signifikanz nicht von einer Norm, sondern von einer nachzuahmenden Person abgeleitet wird), handelt es sich u.E. hierbei um Verfahren suorum generum, die eine je eigene Aufmerksamkeit und Analyse verdienen. So wird – um am Beispiel zu bleiben – in der mimetischen Ethik zwar die ethische Plausibilisierung an ein Vorbild rückgebunden. Die Ableitung erfolgt aber nicht einseitig linear. Im Sinne der antiken Begriffsverwendung ist Mimesis nicht nur Kopie, sondern immer auch ein Akt der kreativen Nachbildung und Neubildung. Eine mimetische Ethik ist also irgendwo zwischen einer deontologischen und einer situativen oder sogar teleologischen Ethik anzusiedeln und bedarf hierbei eigener Erörterung.19 1.2 Ethisch relevante Aspekte einer Metapher Die Vielfalt der Metapherndefinitionen ist bald so groß wie die Vielfalt der Disziplinen, die sich um eine Klärung bemühen: Neben Philosophie und Sprachwissenschaft beschäftigen sich auch Sozial- und Kognitionswissenschaften mit der Metapher. So heuristisch wertvoll es sein mag, zwischen unterschiedlichen Lagern zu differenzieren, so werden hierbei doch oft Scheinalternativen und verzerrte Kontrastfolien erzeugt, die die Abgrenzungsposition karikieren.20 So sind die Klassifizierungsversuche der Metapherntheorien in Substitutions- versus Interaktionstheorien kaum haltbar, und ihre entsprechende Aufteilung in Rhetorik und Poetik oder Alltags- und KunstspracheMetaphern, ja selbst die Differenzierung in kühne und konventionelle oder ornative und absolute Metaphern greifen zu kurz. Besonders instruktiv mag hierbei das neueste Metaphernbuch von Anselm Haverkamp sein, in dem „die Ästhetik in der Rhetorik der Metapher“ betont und damit – so der Untertitel: „Bilanz eines exemplarischen Begriffs“ gezogen wird.21 Es kann deshalb auch hier nicht um Einführung in die Theorie der Metapher gehen, stattdessen sollen einige Aspekte benannt werden, die in vielen Theorien als konstitutiv 19

Vgl. den Abschnitt zur „mimetischen Ethik“ in diesem Band; ferner ZIMMERMANN, Logik der Liebe (s. Anm. 7), Kapitel II, 5.3. Mimetische Ethik. 20 Vgl. zum Folgenden bereits R. ZIMMERMANN, Metapherntheorie und Biblische Bildersprache. Ein methodologischer Versuch, ThZ 56 (2000), 108–133, sowie DERS., Metaphorische Ethik. Ein Beitrag zur Wiederentdeckung der Bibel für den Ethikdiskurs, ThLZ 141 (2016) (im Erscheinen). 21 Vgl. A. HAVERKAMP, Metapher: Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs, München 2007; vgl. schon früher die einschlägigen Sammelbände A. HAVERKAMP (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt ²1996; DERS. (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt 1998.

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angesehen werden und die dann insbesondere auch maßgeblich für eine metaphorische Ethik sein können. Dabei muss ich stark vereinfachen und zusammenfassen. Der griechische Wurzelbegriff meta-fe,rein (meta-pherein) heißt „übertragen“. Entsprechend kann man auch die Metapher als eine Übertragung von Bedeutung verstehen, und zwar von einem semantischen Feld auf ein anderes. Damit ist zugleich gesagt, dass die Metapher aus zwei Teilen besteht, die in der Forschung ganz unterschiedlich benannt wurden, sei es „tenor – vehicle“ (Richards), „focus – frame“ (Black) oder „bildspendender und bildempfangender Bereich“ (Weinrich).22 Seit Max Black wurde eine Substitutionsvorstellung der Metapher, als könne sie durch einen Begriff oder einen einzelnen Ausdruck ersetzt werden, zurückgewiesen. Stattdessen stehen die beiden Metaphernteile in einer interaktionalen Relation. Harald Weinrich (und mit ihm viele andere) haben ferner gezeigt, dass zwischen den beteiligten semantischen Bereichen eine Spannung besteht. Entsprechend dem denotativen oder lexikalisierbaren Bedeutungsspektrum eines Semantems passen die beiden zugeordneten Bereiche nicht zusammen. Sie sind aber im Text durch eine syntaktische oder strukturelle Verknüpfung einander zugeordnet (dies unterscheidet eine Metapher vom Symbol, bei dem die Zuordnung nicht bereits im Text, sondern durch die Sprachgemeinschaft erfolgt). Er spricht deshalb von der Konterdetermination oder widersprüchlichen Prädikation: „Die kühne Metapher ist […] eine Prädikation, deren Widersprüchlichkeit nicht unbemerkt bleiben kann.“23 Auf dem Boden wohlgeordneter Syntax entsteht damit eine „kalkulierte Absurdität“24 – wie Christian Strub es formuliert. Es bedarf aber eines Rezipienten, der zum einen aufgrund seiner Sprachprägung die Spannung wahrnimmt, zum anderen aber zugleich den „Widersinn“ auf eine höhere „Sinnebene“ überführt. Metaphern lösen somit einen Verstehensprozess aus, sind also auf Rezipienten ausgerichtet. Einzelne Aspekte dieser Grundbestimmungen möchte ich im Folgenden noch vertiefen, da sie ethisch relevant werden können.

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Vgl. Einzelheiten samt Belegstellen in ZIMMERMANN, Metapherntheorie und biblische Bildersprache (s. Anm. 20), 108–133. 23 H. WEINRICH, Sprache in Texten, Stuttgart 1976, 309. 24 C. STRUB, Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie, Freiburg i. Brsg./München 1991.

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a) Erinnern, um eues zu sagen: Wechselspiel zwischen Traditio und Innovatio Metaphern sind Wagnisse der Sprache, sie speisen sich aus der Überraschung und Innovation, sind „lebendig“ wie Ricœur es ausdrückt.25 Doch damit ist nur eine Seite beleuchtet. Nicht erst die neuere Metapherntheorie hat gezeigt, dass Metaphern nur innerhalb traditioneller Metaphernsysteme funktionieren. Bereits Aristoteles hatte in seiner Schrift de memoria Sprach- und Vorstellungsbilder als ein einzigartiges Medium der vergegenwärtigten Erinnerung benannt.26 Es war dann besonders auch das Verdienst von Harald Weinrich, die Einbettung der Metapher in eine Bildfeldtradition beschrieben zu haben. So wie Wörter in paradigmatische Wortfelder eingebunden sind, so bleibt die Metapher in ein Bildfeld eingebettet, ja wird erst vor dem Hintergrund konventionalisierter Kopplungen von semantischen Bereichen verständlich.27 Die lebendige oder kühne Metapher schleift sich immer mehr ab, erkaltet oder lexikalisiert, bis sie unbewusst in den Metaphernschatz der Alltagssprache aufgenommen wird.28 Sie ruft dann kaum noch Erstaunen oder Spannung hervor, aber trägt wesentlich zur Verständigung in Kommunikationsprozessen einer Sprachgemeinschaft bei. Jede metaphorische Äußerung ist zwischen den Polen einer kühnen und konventionalisierten Metapher anzusiedeln. Markus Buntfuß hat dieses Wechselspiel wie folgt beschrieben: „Metaphern erinnern, um Neues zu sagen und sie erneuern, um Altes zu bewahren.“29

25 Vgl. P. RICŒUR, La metaphore vive, Paris 1975 (dt. Die lebendige Metapher, Übergänge 12, München ³2004). 26 Vgl. Arist.mem. 450a: „Das Gedächtnis ist nur durch ein Bild () möglich.“ 27 Vgl. dazu H. WEINRICH, Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld, in: H. Lausberg/H. Weinrich (Hgg.), Románica (FS G. Rohlfs), Halle 1958; geringfügig verändert in: DERS., Sprache in Texten (s. Anm. 23), 276–290. Ferner die Applikation auf biblische Bildfelder in: R. ZIMMERMANN, Jesus im Bild Gottes. Anspielungen auf das Alte Testament im Johannesevangelium am Beispiel der Hirtenbildfelder in Joh 10, in: J. Frey/U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, Tübingen 2004, 81–116, 97–106. 28 Besonders G. Lakoff/M. Johnson haben die konventionalisierten Metaphern der Alltagssprache neu ins Bewusstsein gerückt, vgl. G. LAKOFF/M. JOHNSON, Metaphors We Live by, Chicago 1980 (dt. Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, aus dem Amerikan. übers. von A. Hildenbrand, Heidelberg 72011). 29 M. BUNTFUSS, Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache, TBT 84, Berlin/New York 1997, 227.

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b) Appellstruktur: Aufforderung zur (kollektiven) Sinnfindung Die widersprüchliche Prädikation der Metaphern kann auch in pragmatischer Hinsicht als Störung beschrieben werden. Entsprechend beschrieb J.R. Searle die Metaphern als „Verstöße gegen die Sprechaktregeln und Verstöße gegen die Konversationsprinzipien der Verständigung.“30 Durch die Transfersignale der Metapher wird ein „perlokutionärer Sprechakt“31 vollzogen, der den Rezipienten unmittelbar einbezieht. Im Anschluss an W. Iser kann man hierbei von einer „Appellstruktur“32 der Metaphern sprechen. In der Regel wird die Appellstruktur der Metaphern nur individuell aufgefasst. Ich möchte hier aber ein Wort von William Herzog aus der Parabeldiskussion aufnehmen. Parabeln, die ich mit vielen anderen als Textmetaphern deute, appellieren an eine Deutung, die über die Sinnkonstruktion des Einzelnen hinausgehen muss. Sie sind, so Herzog, „discussion starter“33, sie setzen einen kollektiven Kommunikations- und Deutungsprozess in Gang, der dann mit der Zeit auch ein kollektiver Gedächtnisprozess wird, der Gruppenidentität zu stiften vermag. 34 c) Mehrdimensionalität: Metaphorische „Logik“ und Sinnlichkeit Wenden wir uns aber noch einmal dem einzelnen Rezipienten der Metapher zu, so stellt sich die Frage, was bei ihm oder ihr ausgelöst wird. Die Metapher ist so lange widersinnig, bis ein Rezipient auf einer übergeordneten Sinnebene Sinn findet. Dies schließt die hermeneutische und auch sprachwissenschaftlich immer wieder diskutierte Frage an, wie dieser Prozess der übergeordneten Sinnstiftung abläuft. Handelt es sich um einen kognitiven Prozess, der wie Gregory

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Siehe J.R. SEARLE, Metapher, in: ders., Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, Frankfurt 1982, 98–138, 126f. 31 So etwa L. RÖSKA-HARDY, Metapher, Bedeutung und Verstehen, in: L. Danneberg/ A. Graeser/K. Petrus (Hgg.): Metapher und Innovation. Die Rolle der Metapher im Wandel von Sprache und Wissenschaft, Bern/Stuttgart/Wien 1995, 138–150, 146: „Eine Metapher ist ein perlokutionärer Akt, den der Sprecher/Autor mittels der absichtlichen Produktion einer Äusserung/Inskription im Vollzug einer Sprachhandlung ausführt.“ 32 Vgl. W. ISER, Die Appellstruktur der Texte, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, 325–342. Im Anschluss an R. Zymner habe ich den Begriff dann als gattungskonstitutiv für die Parabel herangezogen. 33 Vgl. W.R. HERZOG, Subversive Speech. Jesus as Pedagogue of the Oppressed, Louisville 1994, 261: „[…] parables were discussion-starters. They were used to invite conversation and to lure their hearers into the process of decoding and problematizing their world.“. 34 R. ZIMMERMANN, Gleichnisse als Medien der Jesuserinnerung. Die Historizität der Jesusparabeln im Horizont der Gedächtnisforschung, in: ders. (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, WUNT 231, Tübingen ²2011, 87–121.

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Batesons es formuliert hat, sogar als „Metaphernsyllogismus“ im Modus „Gras“ beschrieben werden kann?35 Auch jenseits eines solchen logischen Formalismus entbehrt das Metaphernverstehen nicht einer eigenen Rationalität. Schon Aristoteles hatte bemerkt, dass Metaphern keineswegs willkürlich gebildet werden können, sondern auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zweier Bereiche basieren, die vom Schöpfer der Metapher entdeckt und vom Adressaten entschlüsselt werden kann.36 Pielenz hat in Verknüpfung von Toulmins Argumentationstheorie und der kognitivistischen Metapherntheorie von Lakoff/Johnson hierbei von einer „stille(n) Argumentationsmatrix“ gesprochen, die Geltungsansprüche aus der metaphorisch konzeptualisierten Alltagserfahrung ableitet. Bei der gelingenden Kommunikation mit Metaphern wird ein „Fundus an Geltungsansprüchen als akzeptiert präsupponiert.“37 Die Metapher erfüllt daher nicht nur eine bestimmte Funktion in der sozialen Kommunikationspraxis, sie basiert auch auf vernunftgeleiteten Prinzipien, die näher untersucht werden können. Ein möglicher Ansatz aus kognitionswissenschaftlicher Sicht besteht darin, dass die Aktivierung vorausliegender Wissensbestände im Metaphernverstehen als „Inferenzen“ beschrieben werden. Damit werden Schlussfolgerungen bezeichnet, die ein Rezipient nicht allein mit Hilfe von Textinformationen, sondern durch Einbeziehung von allgemeinen Wissensbeständen leistet.38 Für Debatin ist die Metapher „an die Prämissen der topischen Logik gebunden, also der Logik der Gemeinplätze, des Wahrscheinlichen (sic!) und der heuristischen Aspekte.“39 In Anknüpfung an Aristoteles beschreibt er die „Rationalität metaphorischer Argumente“40 als rhetorisches Beweisverfahren im Stile des „Enthymems“, d.h. das von Aristoteles in Analogie zur Dialektik gebildete „topische“ Schlussverfahren, das auf einer Regel und der stillschweigenden Voraussetzung einer Prämisse beruht. „Im unmittelbaren Ein-

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„Gras stirbt; Menschen sterben; Menschen sind Gras“, vgl. G. BATESON, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Stw 571, Frankfurt 1988, 45; dazu P. MEURER, Whatʼs the Meta for? Zur ‚Epistemologie des Heiligen‘ in Anknüpfung an Paul Ricœur und Gregory Bateson, in: R. Zimmermann (Hg.), Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen, Übergänge 38, München 2000, 133–148, hier 144. 36 Vgl. Arist.po. 1459a. 37 M. PIELENZ, Argumentation und Metapher, Tübingen 1993, 157. 38 Vgl. dazu M. SCHREIER, Art. Textwirkungen, in: T. Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, I: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart 2013, 193–202, 197: Inferenzen sind „Schlussfolgerungsprozesse auf der Basis von Informationen, die im Text nicht explizit enthalten, zu seinem Verständnis aber dennoch unerlässlich sind.“ 39 B. DEBATIN, Die Rationalität metaphorischer Argumente, in: M. Junge (Hg.), Metaphern und Gesellschaft, Wiesbaden 2011, 185–203, 188. 40 Vgl. ebd.

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leuchten der gelungenen Metapher erweist sich die Evidenz der Prämisse und die Schlagkraft des rhetorischen Arguments. Die Metapher kann deshalb als Enthymem in nuce betrachtet werden.“41 Wie bereits in seiner integrativen Theorie der metaphorischen Kommunikation expliziert Debatin den besonderen Reiz der Metapher durch die Verknüpfung von Rückgriff auf topisches Hintergrundwissen mit dem Vorgriff auf das Neue und Unbekannte, das durch den Übertragungsvorgang möglich wird. „Die Metapher kann, da sie im Vor- und Rückgriff auf Wissen, Erfahrung und Erwartung kreativ-kognitive, orientierend-welterschließende und kommunikativ-evokative Funktionen realisiert, gleichermaßen Mittel wie Gegenstand der Verständigung sein; […] Die kommunikationsrationale Leistung der Metapher liegt aber gerade in der Einheit von konfliktärer, interpretationsstimulierender Potenz und evokativ-kognitiver Funktion.“ 42

Schon hier wird deutlich, dass mit Erfahrung und Erwartung das Metaphernverstehen nicht auf kognitive Prozesse beschränkt werden kann. Gerhard Kurz schreibt: Die Metapher aktiviert auch einen „diffusen, daher suggestiven Komplex von impliziten Vorstellungen, Ansichten, Wertungen und affektiven Besetzungen. Metaphern setzen Gefühle frei.“43 Metaphern mobilisieren neben den semantisch-kognitiven auch psychologisch-emotionale Sinnpotenziale. Sie besitzen affektive Wirkkraft und man kann berechtigt fragen, ob dieser emotionale Anteil im Wirkungsprozess der Metapher vielfach nicht sogar in den Vordergrund tritt. Koevesces spricht deshalb folgerichtig von „Emotion Concepts“.44 d) Deutungsoffenheit: Spielräume des Verstehens Die Metapher ist keine univoke Sprache. Die durch eine Metapher ausgelösten Verstehensprozesse sind nicht exakt vorherbestimmbar. Dies lässt sich etwa an der Metaphorizität von Parabeln zeigen, die bereits in ihrer frühesten Rezeptionsgeschichte in den synoptischen Evangelien eine beträchtliche Breite an Interpretationsmöglichkeiten zeigen.45 Die Metapher verweigert gerade eine Festlegung auf einen Wortsinn – und so wäre eine Substitution der Metapher durch ein Wort gerade ihr Tod. Stattdessen können und müssen die Metaphern gedeutet werden. Ja, sie können geradezu als Einladung zur Deutung und Sinnfindung begriffen werden. Sie sind in ihrer Deutungsoffenheit 41

Ebd. Vgl. DEBATIN, Die Rationalität metaphorischer Argumente (s. Anm. 39), 320f. 43 G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 42004 (1982), 22. 44 Z. KOEVESCES, Emotion Concepts, New York 1990. 45 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, Im Spielraum des Verstehens. Chancen einer integrativen Gleichnishermeneutik, in: ders. (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu (s. Anm. 34), 3–24; DERS., Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium, in: ders. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 22015, 3–46. 42

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zugleich deutungsaktiv. Diese Polyvalenz der Metapher darf gleichwohl nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Die Textgebundenheit, „Rationalität“ und auch die Verankerung in der Bildfeldtradition schränken die Sinnmöglichkeiten ein. Um dieses Ineinander von Offenheit und Begrenzung zum Ausdruck zu bringen, benutze ich im Anschluss an Erwin Straus46 die Spielraum- oder Spielfeldmetapher. Innerhalb gegebener Grenzen darf und soll sich das Spiel, z.B. das Fußballspiel, frei entfalten, aber der Ball kann auch ins Aus gehen. 1.3 Wie funktioniert die metaphorische Ethikreflexion? Wenn es sich bei der „metaphorischen Ethik“ um einen Modus der EthikReflexion sui generis handelt, dann ist nun zu zeigen, inwiefern spezifische Elemente der Metapher moralische Signifikanz erzeugen. Welche Rolle spielen also die einzelnen Aspekte der Metapher für eine Handlungsreflexion und -begründung? Wie wird durch Metaphern ein Sollensanspruch oder eine Wertung begründet? Ad a) Traditio und Innovatio: Handlungsorientierung im Rückgriff und Vorgriff Die metaphorische Ethik basiert auf bekannten Werturteilen, auf traditionellen Normen und Handlungsmustern, aber sie werden dazu benutzt, um neue, unbekannte Herausforderungen bzw. ethische Probleme zu lösen. Während bei der Metapher eine Übertragung von Bedeutung erfolgt, werden bei der metaphorischen Ethik bekannte Normen und Handlungsmuster in sachfremde Kontexte übertragen. Wenn ein Verhalten nicht nur bekannt und eingeübt, sondern auch als richtig und normativ akzeptiert ist, dann kann die Übertragung dieses Handlungsmusters in einen sachfremden Kontext auch dort zur Handlungsorientierung führen. Der Übertragungsvorgang in den sachfremden Zusammenhang ermöglicht es, die bestehenden Normen in neuen Kontexten zu bestätigen, aber ebenso auch in Frage zu stellen oder kritisch fortzuschreiben. So kann sowohl das konventionelle als auch das innovative Moment betont werden, wie auch die Metapher zwischen dem kühnen und dem konventionalisierten Pol angesiedelt ist. Auf die Ethik bezogen kann man sagen, dass z.B. in der Metapher vom „Gesetz Christi“ (Gal 6,2) zum einen die Norm des (jüdischen) Gesetzes fortgeschrieben wird, zum anderen aber die Tora im neuen Verstehenszu-

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So zuerst in R. ZIMMERMANN, Bildersprache verstehen oder Die offene Sinndynamik der Sprachbilder, Einführung in: ders. (Hg.), Bildersprache verstehen (s. Anm. 35), 13–54, 26; sowie DERS., Im Spielraum des Verstehens (s. Anm. 45), 3–24.

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sammenhang und Kontext gerade auch christologisch-funktional re-interpretiert, konzentriert oder gar kritisiert wird. Eine besondere Stärke metaphorischer Ethik liegt zweifellos in ihrer kreativen Potenz. Wie die Metapher Neues sagen und erschließen will, so bietet metaphorische Ethik innovative Handlungsbegründungen und neue Werteorientierungen an. Die von Richard Hays für die neutestamentliche Ethik gewählte Überschrift „Moral Vision“47 wird medial besonders auch durch die metaphorische Ethik umgesetzt. Die metaphorische Ethik ist eine visionäre Ethik, die nicht nur auf bisher ungekannte Konfliktsituationen zu reagieren vermag, sondern die in ihrem innovativen Potential auch der Wirklichkeit vorauseilt und somit zum inspirierenden Modell einer neuen Handlungsweise werden kann. Ad b) Appellstruktur: Aufforderung zum ethischen Urteil So wie die metaphorische Sinnfindung nicht im Text selbst liegt, sondern immer den Rezipienten braucht, um vor Unsinn bewahrt zu werden, so ist die metaphorische Ethik rezipientenorientiert. Die Übertragung von Handlungsnormen in sachfremde Kontexte erzeugt eine Spannung, die erst von einem Adressaten aufgelöst und auf einer höheren Verstehensebene gedeutet werden kann. Entsprechend mag z.B. der Verweis auf das Handlungsmuster der Pflanzenkultivierung in 1Kor 3 für die Gemeinde verwundern, denn es geht hier gewiss nicht um das Anlegen eines Gemeindegartens. Im genannten Fall wird die Übertragung von Garten- bzw. Feldarbeit auf Gemeindearbeit auf sehr direkte Weise vollzogen: „Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen […]“ (1Kor 3,6) bzw. „ihr seid Gottes Ackerfeld“ (1Kor 3,9). Die metaphorische Verknüpfung erfolgt prädikativ oder sogar mit der Genitivmetapher. Ethisch relevant wird diese Sprachbildung aber erst durch die Übertragung von Handlungsmustern.48 Bekannte Vorgänge von Pflanzen und Begießen dienen Paulus hierbei als Möglichkeit, die Gleichwertigkeit der Arbeitsteilung in der Gemeindearbeit (1Kor 3,8f.) zu begründen. Die für die Korinther ungewisse Situation, wie das Miteinander der unterschiedlichen Mitarbeiter in der Gemeinde zu bewerten ist, wird durch Rückgriff auf die Ackerbauerfahrung reflektiert. Allerdings vermeidet Paulus es, eine imperativische Schlussfolgerung zu ziehen. Die Wertung wird mit Blick auf die Feldarbeiter zwar unmissverständlich ausgedrückt (1Kor 3,8: „sind einer wie der andere“), aber es ist den Adressaten überlassen, die ethischen Schlüsse für die Gemein47 Vgl. R.B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, New York 1996. 48 Vgl. zu 1Kor 3 CHR.G. MÜLLER, Gottes Pflanzung, Gottes Bau, Gottes Tempel. Die metaphorische Dimension paulinischer Gemeindetheologie in 1 Kor 3,5–17, FuSt 5, Frankfurt 1995, der von einer „paränetischen Valenz“ (77f.) spricht, aber die Details der Funktionsweise dieser „metaphorischen Ethik“ kaum analysiert.

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dearbeit zu ziehen. Die metaphorische Spannung drängt somit zum eigenen ethischen Urteil im Prozess der Rezeption. Vielfach verbleibt die metaphorische Ethik noch stärker im Bereich des Ambivalenten und fordert gerade durch die Undeutlichkeit zu einer eigenen ethischen Urteilsfindung auf, auf die es aber letztlich ankommt. Metaphorische Ethik ist non-direktive Ethik. Sie gibt zwar einen Interpretationsrahmen vor. Indem sie hierfür die Offenheit der Bildersprache wählt, drängt sie den Rezipienten allerdings selbst in die Rolle hinein, ein Urteil zu finden. Dabei vollzieht sich rezeptionsästhetisch gesehen eine eigentümlich paradoxe Reaktion im Vergleich zur imperativischen Ethik. Während ein Imperativ zwar direkt anspricht und unmissverständlich ist („Du sollst …!“, „Mach das …!“), führt er doch nicht immer zum erwarteten Erfolg, sondern kann im Gegenteil auch Gegenreaktion und sogar Trotz erzeugen. Die metaphorische Ethik setzt auf die Eigenständigkeit des ethischen Subjekts. Sie ist nicht beliebig, aber ihre normative Richtung zeigt sie nur indirekt an. Doch wenn ein Adressat aus der metaphorischen Erzeugung von moralischer Signifikanz seine ethischen Schlüsse und Handlungsentscheidungen vollzieht, ist sie zielführender als die imperativische Ethik. Ad c) Metaphorische Handlungsreflexion und Ethico-Ästhetik Die Metapher ist nicht nur illustrativer Redeschmuck. Sie will auch argumentativ überzeugen und wurde als „Enthymem in nuce“ bzw. als topisches Schlussverfahren bezeichnet. Entsprechend kann auch die metaphorische Ethik hinsichtlich ihrer rationalen Dimension betrachtet werden. Ihre Evidenz bezieht sie dabei aus Prämissen, die auf ein bestehendes Wertesystem zurückgreifen. Der „bildspendende Bereich“, aus dem die metaphorische Ethik ihren Anschauungsbereich „leiht“, ist ein normativ-anerkannter Geltungsbereich. Dies muss nicht einmal ein ethisch elaborierter Bereich wie z.B. standesethische Richtlinien oder eine Gesetzessammlung sein. Auch „Gemeinplätze“ können in der topischen Logik der metaphorischen Ethik eingebracht werden. Auf der Basis bestehender Handlungsnormen kann dann aber zugleich ein Vorgriff auf neue Handlungsanweisungen erfolgen. Weil die Metapher ein „kontrafaktisches Statement“49 ist, vermag es die metaphorische Ethik auch, zu kontrafaktischen Handlungsbewertungen und innovativen Wertsetzungen zu gelangen. Der Rückgriff und Vorgriff von Handlungsmustern lässt sich zum Beispiel bei Parabeln besonders gut erkennen: Die metaphorische Erzählung des „Barmherzigen Samariters“ (Lk 10,30–35) greift auf 49

Mit Debatin kann man die Metapher als „ein kontrafaktisches Statement (bezeichnen), das im Modus der, ‚als ob‘-Prädikation dazu einlädt, einen Gegenstand in einem neuen Implikationszusammenhang zu sehen und zugleich die Perspektive mitzusehen, unter der dieser Gegenstand nun begriffen wird“, DEBATIN, Die Rationalität metaphorischer Argumente (s. Anm. 39), 185–203, 189.

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allgemeine Wissensbestände zurück, wie etwa ein allgemein-menschliches „Hilfsethos“, oder auf die kulturelle Norm, dass Kultpersonal keinen Kontakt mit einem (Halb-)Toten haben darf oder dass Samariter und Juden keinen Umgang pflegen. Aber gerade auf der Basis solcher bekannter Handlungsnormen kann der neue Handlungskontext eines hilflosen, entkleideten Überfallenen (hier narrativ als Erzählung präsentiert) dann eine Wertediskussion einleiten und neue Handlungsperspektiven aufzeigen.50 Die Wahl von vertrauten Handlungsfeldern setzt auf allgemeine Anerkennung. Sie rechnet mit einem nach Regeln allgemeiner Vernunft einsetzenden Schluss. Sie kalkuliert in ihrer sachfremden Übertragung mit bestimmten Schlüssen und Wertungen. Diese reflexiven Prozesse unterliegen folglich kognitiven Mechanismen. Das gewählte Beispiel zeigt aber nicht nur kognitive Voraussetzungen der vollzogenen Umwertung, sondern auch, dass die metaphorische Ethik jenseits rationaler Überlegungen mit Emotionen agiert. Es ist das Angerührt-Werden (Lk 10,33: splagcni,zomai), das den Handlungsimpuls auf der Ebene der erzählten Welt liefert, wie umgekehrt auch die mangelnde Empathie von Priester und Levit beim Leser eine Normenreflexion (z.B. der Berechtigung der benannten Berührungsregel) auslöst. Entsprechend soll der Leser selbst emotional berührt werden, soll aus der Scham der eigenen Hilfsunfähigkeit und dem Antlitz des bedürftigen Menschen selbst zur Handlungsbeurteilung befähigt werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass schon auf der Ebene der erzählten Welt Jesus seinen Gesprächspartner nach der Parabel auffordert, selbst das Urteil über das „richtige Handeln“ auszusprechen (vgl. die Frage in Lk 10,36). Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts geläufige Unterscheidung in der Ethik-Theorie zwischen den sogenannten Kognitivisten und Non-Kognitivisten51 kommt hier ans Ende. Auch die schroffe, von Fischer aufgeworfene Alternative zwischen rationalen und narrativen Verfahren der Erzeugung moralischer Signifikanz, zwischen Begründen und Verstehen greift m.E. zu kurz.52 Kognitive und affektive Elemente wirken bei der Handlungsbegrün50 Vgl. die ethische Auslegung der Parabel in R. ZIMMERMANN, Die Etho-Poietik des Samaritergleichnisses (Lk 10,25–37). Eine Ethik des Schauens in einer Kultur des Wegschauens, WuD 31 (2007), 51–69. 51 Man denke hier z.B. an Richard Marvyn Hare, der ethische Sätze auf ihre rationale Stimmigkeit prüfte, während z.B. Charles L. Stevenson die Fundierung der Ethik in Emotionen vertrat. Vgl. dazu den Überblick bei M. QUANTE, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 42011. 52 Vgl. FISCHER, Ethik als rationale Begründung der Moral? (s. Anm. 13). Nach Fischer sind ethische Urteile der rationalen Art „mit einem Anspruch auf allgemeine bzw. intersubjektive Geltung verbunden.“ (193). Die Geltung wird durch Argumente begründet. „Argumente sind Gründe, die auf den Nachweis der Wahrheit einer Behauptung zielen, so dass andere zu deren Anerkennung genötigt werden.“ (ebd.) Demgegenüber sei der Anspruch

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dung im ethischen Diskurs vielfach zusammen. Die metaphorische Ethik gewährt diesem Zusammenspiel nicht nur konzeptionell Raum, sie setzt gerade die sinnliche Beteiligung bei ihrer Evidenzstrategie voraus. (Alltags-) Erfahrung und Affekte bzw. Emotionen spielen im metaphorischen Prozess eine entscheidende Rolle, da die Übertragung bekannte und damit auch emotional und sinnlich gespeicherte Erfahrungen voraussetzt. Gleichwohl entbehrt die metaphorische Ethik-Reflexion keineswegs des Anspruchs jeglicher Rationalität. Der Übertragungsvorgang nutzt die Erfahrungen in abstrahierender Weise, möchte mit ihnen einen Reflexionsprozess einleiten, gibt zu denken. Ad d) Deutungsoffenheit: Spielraum des Verhaltens Schließlich spielt auch die Deutungsoffenheit für die metaphorische Ethik eine maßgebliche Rolle. So wie die Metapher im Interaktionsgeschehen zwischen Bildspender und Bildempfänger nicht auf ein „tertium comparationis“ festgelegt werden kann, so behält auch die metaphorische Ethik eine konzise Unschärfe. Der Deutungsspielraum wird zum Handlungsspielraum. Der Richtungssinn der Metapher überlässt den Sinnstiftungsprozess keineswegs dem beliebigen freien Spiel des Rezipienten. Schon die semantischen Bereiche, die bei der Metapher syntaktisch zusammengezwungen wurden, sind je für sich trotz ihrer Polysemie keineswegs beliebig. Die Interaktion, die durch die konkrete Zuordnung ausgelöst wird, schränkt diese Sinnmöglichkeiten zusätzlich ein, ohne sie in einen einzigen Sinn einzufangen. Es vollzieht sich eine Reduktion von Sinnmöglichkeiten bei gleichzeitiger Bewahrung von Variabilität. Entsprechend ist die metaphorisch erzeugte Wertereflexion zwar offen, aber dennoch nicht willkürlich. Die metaphorische Ethik konvergiert hierbei mit phänomenologischen Ethiken, wie sie etwa Bernhard Waldenfels in „Spielraum des Verhaltens“ beschrieben hat.53 Die metaphorische Ethik eignet sich vermutlich nicht für

auf ethische Gültigkeit nur durch narrative Vergegenwärtigung von Wirklichkeitserfahrungen einzuholen. Dies schließe Emotionen und „Moralische Erfahrung“ bzw. „thick moral concepts“ (60–63) ein. Fischer ist zweifellos zuzustimmen, dass sich moralische Konflikte nicht auf logische Schlussverfahren reduzieren lassen oder unter Ausblendung von Emotionen entscheiden lassen. Gleichwohl spricht er selbst von „narrativen Gründen bzw. Begründungen“ (43) bzw. dem „richtigen moralischen Denken“ bzw. „Reflexion“ (59), womit er auch den reflexiven Charakter der Ethik anerkennt. 53 B. WALDENFELS, Im Spielraum des Verhaltens, Frankfurt 1980, 265: „Menschliche Praxis verfolgt ihre Ziele innerhalb eines Spielraums realer Möglichkeiten, den sie sowohl vorfindet wie umgestaltet.“ Für Waldenfels wird die Grenze des Spielraums vor allem durch die Interaktion des ethischen Subjekts mit dem Verhaltenskontext (Leib, dem Fremden, den sozialen Gegebenheiten etc.) bestimmt. „Die Grenzen des Spielraums bezeichnen den Grad der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der uns umgebenden Wirklichkeit. […]

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die Rechtsethik, für die kleinschrittige Kasuistik der Gesetze und Einzelfallregeln. Sie bleibt bis zu einem gewissen Maße unscharf und relativ, aber gleichwohl nicht beliebig. In der „konzisen Unschärfe“ eröffnet sie Handlungsspielräume, die nicht an eine konkrete Situation oder einen konkreten Kasus gebunden bleiben. In der Deutungsoffenheit der Metapher liegt somit zugleich der Keim der „Allgemeingültigkeit“ der metaphorischen Ethik im Sinne einer Übertragbarkeit auf neue und kontextveränderte Handlungskonflikte.

2. Beispiele „metaphorischer Ethik“ aus den Paulusbriefen Paulus begründet seine Handlungsentscheidungen und Wertsetzungen auf ganz unterschiedliche Weise. Ein in der Forschung m.E. bislang vernachlässigter Bereich54 stellt der Einsatz von Metaphern dar, mit denen nicht nur rhetorisch illustrative Anschaulichkeit erlangt wird, sondern eine Reflexionsform sui generis gesehen werden kann. Im Folgenden soll diese „metaphorische Ethik“ anhand von zwei Beispielen analysiert werden, wobei die unter 1.2. genannten Aspekte aufgenommen werden. Es zeigt sich, dass die Unterscheidung der verschiedenen Dimensionen vor allem heuristischer Art ist und sie im konkreten Text eng ineinanderfließen. 2.1 Metaphorische Ethik in 1Kor 5: Sauerteig-Metapher und Gemeinde Als erstes Beispiel möchte ich auf den sogenannten Inzestfall von 1Kor 5 eingehen: Ein Mann lebt offenbar mit der Frau seines Vaters zusammen (1Kor 5,1). Ein nach jüdischen Standards verwerfliches Verhalten, das in den Bereich der pornei,a, also des regelwidrigen Sexualverhaltens,55 fällt. Doch wie soll sich die junge christliche Gemeinde hier verhalten? Ist Steinigung die angemessene Maßnahme, wie sie nach Lev 18,8 bzw. 20,11 geboten ist? Das ethische Urteil des Paulus lautet Ausschluss aus der Gemeinde bzw. Übergabe an den Satan. Paulus begründet seine Entscheidung mit einer Metapher und löst gerade so einen ethischen Reflexionsprozess aus. So liegt hier ein Fall von „metaphorischer Ethik“ vor:

Die Grenzen liegen nicht ein für allemal fest, sondern sie sind in dauernder Bewegung.“ (a.a.O., 267). 54 Eine gewisse Ausnahme stellt die Arbeit von MÜLLER, Gottes Pflanzung, Gottes Bau, Gottes Tempel (s. Anm. 48), dar, der explizit nach der „paränetischen Valenz“ (ebd., 61– 63 bzw. 77f.; 93–95; 110f.) der Metaphern fragt. Die Paränese ist zwar auf das Ethos ausgerichtet, aber beleuchtet doch kaum die Art und Weise der ethischen Reflexion. 55 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis. Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt, WUNT II/122, Tübingen 2001, 396–401.

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Ouv kalo.n to. kau,chma u`mw/nÅ ouvk oi;date o[ti mikra. zu,mh o[lon to. fu,rama zumoi/; evkkaqa,rate th.n palaia.n zu,mhn( i[na h=te ne,on fu,rama( kaqw,j evste a;zumoi\ kai. ga.r to. pa,sca h`mw/n evtu,qh Cristo,jÅ Nicht gut (ist) euer Rühmen. Wisst ihr nicht, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig säuert? 7 Räumt aus den alten Sauerteig, damit ihr seid ein neuer Teig, gleichwie ihr ungesäuert seid; denn unser Pascha wurde geschlachtet, Christos. (1Kor 5, 6–7)

Das Pessach-Mazzot-Fest ist hierbei bildspendender Bereich, eine wiederkehrende Alltagserfahrung im jüdischen Leben, die traditio, die in der Metapher vorausgesetzt wird. Entsprechend ist die Frage in V. 6 rhetorisch gestellt (ouvk oi;date […]): Natürlich weiß jedes jüdische Kind, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert. Beim Fest der ungesäuerten Brote muss nun aber der Sauerteig aus dem Haus geschafft werden. Das Ritual schreibt zwingend vor, dass der ganze Sauerteig einen Tag vor dem Sederabend beseitigt wird, damit während der ganzen Festwoche ungesäuerte Brote gegessen werden können (vgl. Ex 12,15.19; 13,3.7). Diese bekannte Alltagspraxis wird nun in innovativer Weise nutzbar gemacht, um mit ihr ethische Plausibilität in einem aktuellen Handlungskonflikt zu erlangen. Es ist zunächst der Vorgang der Reinigung, der auf die Gemeinde übertragen wird. Die Gemeinde ist wie das Haus, das von jedem Sauerteig befreit werden muss. In der Übertragung auf die Gemeindesituation sollen die Leser die in den pornei,a-Fall verwickelten Personen mit dem Sauerteig identifizieren. Sie wissen beim Mazzot-Fest genau, was zu tun ist, während sie im Umgang mit dem Inzestfall unsicher und deshalb bisher offenbar untätig gewesen sind. Paulus verstärkt seinen Handlungsimplus durch Wertsetzungen: Er spricht vom Sauerteig „der Schlechtigkeit und Bosheit“ (1Kor 5,8: mhde. evn zu,mh| kaki,aj kai. ponhri,aj) sowie vom Ungesäuerten „der Lauterkeit und Wahrheit“ (avllV evn avzu,moij eivlikrinei,aj kai. avlhqei,aj). Diese kontrastiven Genitivverbindungen tragen eine Wertung ein, die für die Ethik maßgeblich wird und vom bildspendenden Bereich zunächst nicht sofort einsichtig sein muss. Der Sauerteig ist nicht per se schlecht. Er dient das ganze Jahr über für Geschmack und Haltbarkeit des Brotes. Lediglich in der Festzeit muss er abgesondert werden, dies ist aber zwingend. Durch den Rückgriff auf das eingeübte Verhalten beim Mazzot-Fest gewinnt Paulus ein Handlungsmuster, das dann auch als Vorgriff für den aktuellen Handlungskonflikt maßgeblich wird. Der ethische Schluss liegt entsprechend nahe: So wie beim Mazzot-Fest der Sauerteig fortgeschafft werden muss, ist es seines Erachtens ethisch geboten, dass auch die betroffenen Personen aus der Gemeinde entfernt werden. Kann man angesichts der Klarheit, mit der Paulus hier formuliert und sogar imperativisch an die Gemeinde appelliert, hier noch von einer Appellstruktur metaphorischer Ethik sprechen? Dient die Metapher nicht der bloßen Illustration, wird also auf ihre rhetorische Funktion als „ornatus“ reduziert? Ohne Zweifel fordert Paulus in 1Kor 5 ein eindeutiges Verhalten. Eine solche Ethik ist eindeutig präskriptiv, sie lässt wenig Handlungsspielraum.

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Gleichwohl wird die Enge dieser normativ-imperativischen Ethik durch die Metaphorik ausgeweitet. Paulus differenziert hinsichtlich des ethischen Subjekts zwischen ihm und der Gemeinde: Paulus markiert einleitend, dass sein eigenes Urteil bereits feststeht (1Kor 5,3: evgw. me.n ga,r … h;dh ke,krika), dies impliziert aber zugleich, dass er nicht sicher ist, dass die Korinther sein Urteil auch übernehmen. Das betont vorgestellte evgw, macht vielmehr eine Unterscheidung zwischen dem Urteil des Paulus und dem der Gemeinde sichtbar, das wiederum die eigene Urteilsfähigkeit, die Subjekthaftigkeit der Gemeinde herausfordert. Wie steht es hier um die Polyvalenz bzw. Ethico-Ästhetik der metaphorischen Ethik? Die metaphorische Reflexion scheint sich auf einen Aspekt zuzuspitzen. Es geht um das Entfernen, sei es des Sauerteigs, sei es der pornei,a-Verursacher. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass eine solche Festlegung auf ein tertium comparationis der Sinnstiftung der durch die Metapher erzeugten semantischen Interaktion keineswegs gerecht wird. So werden noch weitere Aspekte des Bildspenders aufgenommen: Christus wird mit dem Passalamm metaphorisiert, genauer geht es um den Akt des Schlachtens des Passalamms, der hier auf den Kreuzigungstod Jesu bezogen wird.56 Ferner wird der Festcharakter ins Spiel gebracht. Reinigungsritual und Schlachtung des Lammes sind nur Vorbereitung für das Fest, das Eigentliche ist das Feiern des Festes. Entsprechend schließt Paulus mit dem Kohortativ: „Daher lasst uns feiern […]!“ (w[ste e`orta,zwmen, 1Kor 5,8). Ziel der präskriptiven Ethik ist es nicht, den Sauerteig los zu sein oder ein reines Haus zu haben bzw. auf Übertragungsebene Unzuchtstäter zu bestrafen oder die Gemeinde möglichst rein zu halten.57 Es geht letztlich vielmehr um das ungestörte gemeinsame Feiern. Der Gemeinschaftsaspekt wird besonders auch durch die rahmenden Imperative betont, die das Zusammensein (1Kor 5,4: suna,gw; 1Kor 5,11: sunesqi,w) der Gemeinde explizit benennen. Der Vorgang der Reinigung steht somit im engen Kontext mit dem Festcharakter, in dem Paulus die Gemeinde sieht. Die christliche Gemeinschaft soll ihren Status als Ausnahmesituation wie die des Festes begreifen.58 So ist nun die Gemeinde 56 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, Die neutestamentliche Deutung des Todes Jesu als Opfer. Zur christologischen Koinzidenz von Opfertheologie und Opferkritik, KuD 51 (2005), 72–99; sowie DERS., ‚Deuten‘ heißt erzählen und übertragen. Narrativität und Metaphorik als sprachliche Grundformen historischer Sinnbildung zum Tod Jesu, in: J. Frey/J. Schröter (Hgg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, UTB 2953, Tübingen ²2012, 315– 373. 57 Entsprechend kann man auch hinsichtlich der Opferung des Passalammes als Deutung des Todes Jesu postulieren, dass es hier nicht um die Notwendigkeit der Tötung Jesu bzw. um Leidenstheologie geht. 58 W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther (1Kor 1,1–6,11), EKK VII/1, Neukirchen-Vluyn 1990, 384: „Das ganze Christenleben wird folglich hier [...] als Festzeit angesehen.“.

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nicht nur Haus oder Teig, sondern vor allem eine neue, feiernde Gemeinschaft. Diese duldet keine Ausnahmen und Toleranz. Die kontrastiven Attribute „alt – neu“ (1Kor 5,7–8) werden entsprechend der für Paulus üblichen Konnotationen evaluativ eingebracht.59 Um wirklich zu werden, was sie schon sind (vgl. 1Kor 5,7: […] i[na h=te ne,on fu,rama, kaqw,j evste a;zumoi), bedarf es auch einer radikalen Ethik. Die metaphorische Ethik vollzieht sich hierbei nicht nur kognitiv durch den in der enthymemischen Übertragung von bekannten Handlungsmustern auf ein gebotenes Verhalten erwarteten Schluss. Durch den bildspendenden Bereich des Festes werden auch Gefühle und Erfahrungen aktiviert, die das ethische Urteil ganzheitlich absichern helfen. Das angesichts sonstiger Vergebungs- und Versöhnungsethik des Paulus vielleicht befremdliche radikale Verhalten wird emotional auf das Fest hin legitimiert. Die metaphorische Ethik dient dem unbeschwerten Feiern und lenkt auch emotional die Handlungsgründe auf diesen positiven Effekt hin. Einen weiten Spielraum des Verhaltens kann man an dieser Stelle nicht erkennen. Unscharf bleibt die Ethik lediglich hinsichtlich der Bewertungen bzw. des Heils der Unzuchtstäter. Geht es überhaupt um beide betroffenen Personen, und kann die entsprechende Singular-Formulierung „einer“ (1Kor 5,1) bzw. „dieser Mensch“ (1Kor 5,5) als patriarchal inklusiv gedeutet werden? Oder ist nur der Mann Mitglied der Gemeinde und die betroffene Frau ist für Paulus gar nicht Gegenstand der Erörterung? Ist die nahegelegte Handlungsanweisung im Blick auf die Gemeinde eindeutig, so bleibt aber das ethische Urteil hinsichtlich der betroffenen Person(en) in gewisser Weise offen. Der Ausschluss aus der Gemeinde kommt für Paulus einer Übergabe an den Satan gleich. Möglicherweise liegt auch hierin – wie K.-H. Ostmeyer es annimmt – eine explizite Anknüpfung an die Pessach-Exodus-Tradition und somit eine Art „apotropäischer Ritus“,60 der für die Gemeinschaft bewahrenden Charakter hat. Die Übergabe an den Satan ist für Paulus zugleich die Preisgabe des Fleisches. Durch diese Einführung des Fleisches und implizit der „Fleisch-Geist-Dichotomie“ wird aber zugleich die Rettungsaussage im zweiten Versteil möglich: „damit der Geist gerettet werde (i[na to. pneu/ma swqh|/) am Tag des Herrn“ (1Kor 5,5). Für den Geltungsbereich der paulinischen Ethik heißt das, Paulus äußert sich primär hinsichtlich der Binnenethik der Gemeinde. Er betont hierbei, dass die Integration bzw. Akzeptanz von Unzüchtigen als Gemeindeglieder 59

Entgegen der in der Antike üblichen Bewertungen, dass „alt“ gut und „neu“ schlecht ist, ist für Paulus „neu“ grundsätzlich positiv besetzt, vgl. 1Kor 11,25; 2Kor 3,6; 2Kor 5,17; Röm 6,6; dazu CHR. HOEGEN-ROHLS, Neuheit bei Paulus (Habil. Masch.), München 2003. 60 So dient das Blut des Passalammes nach Ex 12,13 als „Zeichen“ für einen apotropäischen Ritus; den Bewahrungsaspekt akzentuiert auch die Wirkungsgeschichte in Jub 49,3, bei Melito v. Sardes sowie in der rabbinischen Tradition, vgl. dazu auch K.-H. OSTMEYER, Satan und Passa in 1 Kor 5, ZNT 9 (2002), 38–45, 39f.

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ihrem neuen Status der Feiergemeinde widerspricht. Allerdings enthält er sich eines abschließenden ethischen Urteils über „alle Unzüchtigen in der Welt“ (ouv pa,ntwj toi/j po,rnoij tou/ ko,smou tou,tou, 1Kor 5,10). Hier verweigert er sogar explizit ein Urteil (vgl. 1Kor 5,12: ti, ga,r moi tou.j e;xw kri,nein) und überlässt ein abschließendes Gericht Gott allein (1Kor 5,13), der nach 1Kor 5,5 (vgl. 1Kor 11,32) durchaus in der Lage ist, den Geist der betroffenen Menschen zu retten. 2.2 Metaphorische Ethik in 1Kor 12: Leib-Metapher und Gemeinde Als zweites Beispiel möchte ich die metaphorische Ethik von 1Kor 12,12–31 untersuchen. Der im Hintergrund stehende Handlungs- bzw. Wertungskonflikt ist die Einheit der Gemeinde, die bereits zu Beginn des Briefes anhand der Parteibildungen zur Disposition stand, aber auch bei der Rücksichtnahme auf Schwache (1Kor 10) oder Fragen zum Herrenmahl (1Kor 11) wie ein roter Faden den Brief durchzieht. In 1Kor 12 geht es nun um die Vielfalt der Geistesgaben, der Ämter und Kräfte, die offenbar deshalb zum Problem wurde, weil bestimmte Gaben (z.B. Glossolalie, wie dann in 1Kor 14 explizit thematisiert wird) höher bewertet wurden als andere. In einer grundsätzlichen Einleitung (1Kor 12,1–11) bekennt sich Paulus zunächst zur Vielfalt der Gaben und Aufgaben, die aber aufgrund der sie fundierenden theologischen Einheit zusammengehalten werden. Programmatisch wird dies in 1Kor 12,4– 6 zum Ausdruck gebracht: Diaire,seij de. carisma,twn eivsi,n, to. de. auvto. pneu/ma kai. diaire,seij diakoniw/n eivsin, kai. o` auvto.j ku,rioj kai. diaire,seij evnerghma,twn eivsi,n, o` de. auvto.j qeo.j o` evnergw/n ta. pa,nta evn pa/sin. Es gibt zwar Unterschiede der Geistesgaben, aber ein und derselbe Geist. Und es gibt Unterschiede der Dienste, aber ein und derselbe Herr; und es gibt Unterschiede der Wirkungen, aber ein und denselben Gott, der alles in allen wirkt. (1Kor 12,4–6).

Der Schwerpunkt der hier trinitarisch anmutenden rhetorischen Reihung (Pneuma – Kyrios – Theos) liegt innerhalb des gesamten Abschnitts allerdings eindeutig beim (Heiligen) Geist. Besonders die Weiterführung zeigt an, dass es das pneu/ma ist, das gleichermaßen Glaube, Erkenntnis, Wundergabe, Glossolalie etc. bewirkt und damit die Einheit in der Vielfalt durch die gleiche, sie fundierende Kraft bewahrt (1Kor 12,11: pa,nta de. tau/ta evnergei/ to. e]n kai. to. auvto. pneu/ma). Das nun folgende Bild von der Gemeinde als Organismus des Leibes (1Kor 12,12–31) liefert weitere Facetten und auch eine entsprechende Begründung der von Paulus propagierten Ethik. Es geht nun primär um die Wertigkeit der Vielfalt sowie um einzelne Verhaltensnormen innerhalb der Gemeinde. Die metaphorische Verschränkung erfolgt bereits in den ersten beiden Versen (1Kor 12,1), die die Vielgestaltigkeit des Körpers auf die Ge-

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meinde als Leib Christi übertragen. Sie wird auch im Schlussabschnitt noch einmal als Satzmetapher verdichtet formuliert: u`mei/j de, evste sw/ma Cristou/ kai. me,lh evk me,rouj. Ihr aber seid Leib Christi und je Glieder als Teile (des Ganzen)61 (1Kor 12,27).

Anschließend werden in direkter Weise unterschiedliche Ämter (Propheten, Lehrer, Wundertäter etc., vgl. 1Kor 12,28f.) sowie Gaben (gesund zu machen, Zungenrede, Auslegung) aufgezählt, womit der bildempfangende Zielbereich in rhetorisch paralleler Weise (wieder im Fragestil) zu den bildlichen Ausführungen im Mittelteil (V. 14–26) genannt wird. Die Vielfalt der Gaben und Ämter wird mit der Vielfalt der Körperteile metaphorisch verschränkt. Entsprechend werden die Einheit des Körpers und der Gemeinde aufeinander bezogen. Die Metapher mündet nicht nur in die direkte Paränese, indem Paulus durch imperativische Sprechakte die Vermeidung von Spaltung bzw. die wechselseitige Sorge in der Gemeinde anmahnt (1Kor 12,25: i[na mh. h|= sci,sma […] u`pe.r avllh,lwn merimnw/sin), er drängt sie im Schlussvers auch auf direkte Weise zum Handeln (z.B. 1Kor 12,31: zhlou/te … strebt nach…!). Die Ausführungen stehen folglich in einem ethischen Horizont. Allerdings fehlen abgesehen von 1Kor 12,31 Imperative. Die moralische Signifikanz des Abschnitts wird gerade durch die metaphorische Redeweise erzeugt und ist somit ein weiteres Beispiel für metaphorische Ethik. Fragen wir wieder nach dem Traditionshintergrund, der hier herangezogen wird, so ist mit der Leib-Vorstellung zunächst eine Alltagserfahrung eingeholt. Der Organismus (z.B. des menschlichen Körpers) wird als Einheit erlebt, auch wenn Fuß, Hand, Auge und Ohr ganz unterschiedliche Teile mit je unterschiedlichen Funktionen sind. Die metaphorische Übertragung ist demnach jedem Menschen sofort einleuchtend, auch ohne tiefere Kenntnis in BioPhysik und Philosophie. Die Frage nach Einheit und Vielfalt von Körpern hat nun – wie M. Klinghardt u.a. aufgezeigt haben62 – aber auch die stoische Physik beschäftigt, in der z.B. zwischen geeinten (sw/ma h`nwme,non; corpus ex cohaerentibus) und zusammengesetzten (sw/ma sunhmme,non; corpus ex distantibus) Körpern unterschieden wurde. Besonders die differenzierte Formulie61

Vgl. zur Formulierung evk me,rouj 1Kor 13,9.10.12, wo es „stückweise“, „teilweise“ übersetzt werden kann. In 1Kor 12,27 dann wohl am ehesten „einzeln genommen“, „je für sich“ (Luther übersetzte sinngemäß, aber den Numerus ignorierend: „und jeder von euch ein Glied“), vgl. dazu auch D. ZELLER, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 401. 62 Vgl. M. KLINGHARDT, Unum Corpus. Die genera corporum in der stoischen Physik und ihre Rezeption bis zum Neuplatonismus, in: A.V. Dobbeler/K. Erlemann/R. Heiligenthal (Hgg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS K. Berger), Tübingen/Basel 2000, 191–216; ferner M.V. LEE, Paul, the Stoics, and the Body of Christ, MSSNTS 137, Cambridge 2006.

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rung in 1Kor 12,27 (me,roj – me,loj)63 oder der Hinweis auf das Mitleiden in 1Kor 12,26 (sogenanntes poseidonisches Sympathieargument64) könnten auch Kenntnisse aus diesem Bereich anzeigen.65 Darüber hinaus stehen die Formulierungen im Kontext eines traditionellen Bildfelds, das in der Antike geläufig war.66 Das wohl bekannteste Beispiel ist das des Menenius Agrippa, der mit Hinweis auf die funktionale Zusammengehörigkeit des Organismus einen Aufstand der Plebejer beenden konnte.67 Der Körper braucht nicht nur viele spezifische Körperteile mit unterschiedlichen Aufgaben. Die unterschiedlichen Körperteile und Organe müssen auch zusammenwirken, um die Funktionsfähigkeit des Körpers zu gewährleisten. Der Bereich des Organismus wurde hierbei als Bildspender für eine menschliche Gemeinschaft herangezogen, die sich zum einen durch die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Mitglieder, zum anderen durch die funktionale Einheit auszeichnet. Welche Aspekte des Organismus nun aber in den jeweiligen Metaphern im antiken Sprachgebrauch fokussiert wurden, welche Aussageabsicht bzw. Ethik dabei hinsichtlich des bildempfangenden Bereichs intendiert war, war je nach Text und Kontext unterschiedlich. A. Lindemann unterscheidet sogar vier Typen der Metapher hinsichtlich ihrer jeweiligen Funktionsweise und Pointe: 1. Legitimation bzw. Stabilisierung der Über- und Unterordnung in der Standesgesellschaft, 2. Unterordnung der Einzelinteressen unter ein Ganzes, 3. Beziehungen der Glieder untereinander, 4. Zuordnung des Hauptes zum Leib.68 In 1Kor 12 spielen unterschiedliche Aspekte eine Rolle, am wenigstens die Stabilisierung der sozialen Hierarchie, denn Paulus relativiert nicht nur die religiöse bzw. ethnische Herkunft, sondern auch die soziale Schicht (1Kor 12,13). Der Form nach handelt es sich hier um die wohl einzige Fabel im 63

Vgl. dazu das Sprachspiel bei M.Ant. VII 13, zitiert bei KLINGHARDT, Unum Corpus (s Anm. 62), 207. 64 Vgl. das Referat bei S.Emp.adv.math. IX 78–80: „denn in Körpern aus Zusammengefügtem oder aus Getrenntem findet keine Sympathie (ouv sumpa,scei ta. me,rh avllh,loij) unter den Teilen statt“, zitiert bei KLINGHARDT, a.a.O., 201. 65 So KLINGHARDT, a.a.O., 214–216, der allerdings unnötig polarisiert: „Der Organismusgedanke ist nicht aus dem metaphernspendenden Bereich der Fabel des Menenius Agrippa heraus entwickelt, sondern hat seinen eigenen, davon unabhängigen Ursprung in der stoischen Physik“ (a.a.O., 214). Die Agrippa-Fabel kann aber nicht per se „Bildspender“ sein, sondern ist teil der Bildfeldtradition, die bereits natürliche Körper und soziale Körper verknüpft. 66 Vgl. z.B. Dion.Hal.ant. 6.86; Zonaras VII, 14; Plut.Cor. 6; Max.Tyr. 15.4.7–5.2; vgl. auch den Überblick mit vielen weiteren Belegstellen bei W. SCHRAGE, 1. Korinther, EKK VII/3, Neukirchen-Vluyn 1999, 219–220. 67 Vgl. die Überlieferung bei Livius II,32,7–33,1; dazu klassisch W. NESTLE, Die Fabel des Menenius Agrippa, in: ders., Griechische Studien, Stuttgart 1948, 502–516. 68 Vgl. A. LINDEMANN, Die Kirche als Leib. Beobachtungen zur ‚demokratischen‘ Ekklesiologie bei Paulus, ZThK 92 (1995), 140–165, 142–146.

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Neuen Testament.69 Im Gegensatz zur Parabel, die trotz ihrer Fiktionalität realistisch bleibt,70 treten in der Fabel auch anthropomorphisierte Tiere, Pflanzen und Gegenstände auf, wie in 1Kor 12,15f. sprechende Füße, Ohren und Augen. Ohne hier einseitige Festlegungen vollziehen zu müssen, kann man festhalten, dass die paulinische Metapher Erfahrungs- und Wissensbestände aktiviert, nach denen der menschliche Organismus zum Bildspender für eine soziale Gruppe wird. Innovativ ist in 1Kor 12 zum einen die Vorstellung vom „Leib Christi“, die zugleich als Metapher für die christliche Gemeinde in Korinth dient. Es ist zwar der Geist, der durch die Taufe alle zu einem Leib werden lässt. Dieser Gemeinschaftskörper der Getauften wird aber zugleich mit Christus identifiziert (1Kor 12,12.27), was in der Rezeptionsgeschichte lange Debatten über einen kollektiven Christus präsens nach sich gezogen hat. Zum anderen geht Paulus über die Gleichwertigkeit der einzelnen Glieder hinaus, indem die schwächsten Glieder als die nötigsten (1Kor 12,22), die wenig ehrbaren und unanständigen mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht werden (1Kor 12,23).71 Besonders in diesen Versen ruft Paulus Verhaltensmuster hinsichtlich des Umgangs mit dem eigenen Körper ab, die dann für die Gemeinschaft modellhaft werden können. Das Umkleiden der schamhaften Körperteile wird als ein alltägliches Verhalten auf das erwartete Verhalten in der Gemeinde übertragen. Damit wird ein kognitiver Prozess in Gang gebracht, der die Selbstverständlichkeit des Sorgens um bestimmte Körperteile als Alltagswissen aktiviert, um daraus ethische Plausibilität für eine erwartete Handlung in der Gemeinde zu erzeugen. Auch die humoristische Passage der sprechenden Körperteile (1Kor 12,15f.21) setzt das stillschweigende Einvernehmen der Rezipienten voraus, das dann in den rhetorischen Fragen noch einmal pointiert abgerufen wird: Der Fuß stellt fest, dass er keine Hand ist. Wie trivial! Doch die anschließende Frage „Sollte er deshalb nicht Glied des Leibes sein?“ lässt bereits die Übertragungsebene durchscheinen und ist vermutlich sogar darauf hin formu69

Vgl. R. ZIMMERMANN, Art. Fable III. NT, EBR 8 (2014), 650–651. Vgl. zu den Kriterien der Gattung Parabel R. ZIMMERMANN, Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“, in: ders. (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu (s. Anm. 34), 383– 419. 71 Hier besteht eine signifikante Analogie zum Prinzip des „affirmativen Handelns“ bzw. der „umgekehrten Diskriminierung“, wie sie in der utilitaristischen Ethik als Überbietung des Gleichheitsgrundsatzes gefordert wurde, so z.B. P. SINGER, Praktische Ethik. Neuausgabe, Stuttgart ²1994, 68–77. „Ein Weg, diese Hindernisse (d.h. z.B. die gesellschaftlich bzw. historisch etablierten Ungleichheiten zwischen Rassen und Geschlechtern, R.Z.) zu überwinden, besteht darin, über die Chancengleichheit hinauszugehen und Mitglieder der benachteiligten Gruppen zu bevorzugen. Das ist affirmatives Handeln, manchmal auch ‚umgekehrte Diskriminierung‘ genannt.“ (a.a.O., 68f.). 70

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liert. Nicht der Fuß (analog das Ohr) stellt seine Zugehörigkeit zum Leib in Frage, sondern offenbar stellen Gemeindeglieder die gleichwertige Zugehörigkeit von anderen hinsichtlich unterschiedlicher Herkunft oder Gaben in Frage. Auch hier wird der topische Schluss nahegelegt: Die Zugehörigkeit aufgrund der Unterschiedlichkeit in Frage zu stellen, ist Unsinn. Jeder soll dazugehören, wie auch jedes Körperglied ganz selbstverständlich zum Körper gehört. Während hier die notwendige Zugehörigkeit zum Leib thematisiert wird, so wird im nächsten Argumentationsgang die Vielfalt und Differenz begründet: „Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör?“ (1Kor 12,17) oder abstrakter: „Wenn aber alle ein einziges Glied (e]n me,loj) wären, wo bliebe der Leib?“ (1Kor 12,19). Das sw/ma des Leibes als eines geeinten Körpers setzt gerade die Diversivität der unterschiedlichen Glieder voraus. Dies wird in V. 20 konstatierend festgehalten: nu/n de. polla. me.n me,lh, e]n de. sw/ma. Paulus verbleibt hier allerdings auf Bildebene und überlässt es den Adressaten, die Schlüsse hinsichtlich der Gemeinde zu ziehen. Darin zeigt sich in besonderer Weise die Appellstruktur der metaphorischen Ethik. Auch die folgenden Ausführungen drängen die Adressaten unmittelbar zu einer Übertragung: Das Auge kann nicht zur Hand sagen: „Ich brauche dich nicht!“ (1Kor 12,21). Während auf Bildebene das Auge ohnehin nicht sprechen kann, ist es offenbar die Gemeindesituation, in der die wechselseitige Verwiesenheit der Gemeindeglieder in Zweifel gezogen wird. Trotz einer gewissen Inkongruenz (V. 15: Fuß – Hand; V. 21: Fuß – Kopf; V. 16: Ohr – Auge; V: 21: Auge – Hand; Kopf – Fuß) kann man doch eine enge Bezogenheit der unterschiedlichen Argumentationsgänge erkennen, die den Einblick in die kognitive Funktionsweise der metaphorischen Ethik vertieft: Es wird eine Hierarchisierung der Körperteile vorausgesetzt, wobei die Hand dem Fuß überlegen ist oder das Auge dem Ohr und der Hand, wiederum der Kopf den Füßen. So gesehen kommen zuerst die unterlegenen Körperteile zu Wort (Fuß, Ohr), die aufgrund ihrer postulierten Minderwertigkeit die Zugehörigkeit zum Leib in Frage stellen. Sodann wird die Rede der überlegenen Körperteile (Auge, Kopf) fiktionalisiert, die aus ihrer Position heraus ihre eigene Unabhängigkeit von den unterlegenen Teilen postulieren („Ich brauche dich nicht […]“). Beide Positionen werden kritisiert und – in wörtlichem Sinn, nämlich rhetorisch – in Frage gestellt. Die Zusammengehörigkeit der Einzelglieder zum Leib steht ebenso wenig außer Frage wie die wechselseitige Verwiesenheit. Körpererfahrung und die humoristische Szene der sprechenden Körperteile unterstützen den kognitiven Erkenntnisprozess auf ganzheitliche Weise.72 Die 72

In die Metapher eingewoben bleiben auch die theologischen Rückbindungen an Gott, der sowohl der Schöpfer des Leibes ist (1Kor 12,18) als auch den Leib (der Gemeinde?) zusammengefügt hat (1Kor 12,24) und schließlich die Vielfalt der Ämter verbürgt (1Kor

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ethische Appellstruktur kann somit ihr Ziel kaum verfehlen. Der Rezipient muss die rhetorischen Fragen zustimmend beantworten und wird entsprechend eine Handlungsnorm für das Miteinander der Gemeinde wahrnehmen. Das ouv du,natai de,, […] (1Kor 12,21) wird somit zum perlokutiven ethischen Sprechakt: Man kann und darf nicht zum anderen sagen: Ich brauche euch nicht. Im Abschnitt V. 22–25 wird nun die immanente Ebene des bildspendenden Bereichs noch deutlicher verlassen und die Sorge des Menschen um seinen eigenen Körper angesprochen. Die Körperpflege wird dann wiederum zu einem Bildspender für die Sorge um schwache Gemeindeglieder. Möglich, dass mit der Formulierung ta. dokou/nta me,lh tou/ sw,matoj avsqene,stera (1Kor 12,22) die Rede von den „Schwachen“ (im Gegenüber zu den Starken) aus 1Kor 8,7–12 aufgenommen wird. Die Rücksichtnahme bzw. Fürsorge für schwächere Glieder kann nicht aus dem bildspendenden Bereich des Körpers allein begründet werden. Nach Klinghardt bleibt die Mitleidensfähigkeit der einzelnen Glieder dem Unum Corpus-Konzept (d.h. aber nicht dem des vereinheitlichten und zusammengesetzten Körpers) vorbehalten. Wenn Paulus nun die Sympathie bewusst auf die Glieder einer Sozialgemeinschaft ausweitet, bedarf es eigener Begründungswege. Es ist die selbstverständliche Leibsorge des Einzelnen, die hier zur Plausibilisierung eines Hilfsethos in der Gemeinde genutzt wird. Das Ziel soll dann nach Paulus zum einen die Vermeidung von Spaltungen, zum anderen die wechselseitige Fürsorge der Glieder sein: i[na mh. h|= sci,sma evn tw/| sw,mati avlla. to. auvto. u`pe.r avllh,lwn merimnw/sin ta. me,lh. (1Kor 12,25). Hier wird mit dem Begriff sci,sma zweifellos auf die Gemeindesituation angespielt, die nach 1Kor 11,18 (vgl. 1,10) gerade durch Spaltungen gekennzeichnet ist. Allerdings verbleibt Paulus noch in der Ambivalenz der Semantik, die es ermöglicht, den Vers sowohl auf das sw/ma des Körpers, als auch auf das sw/ma der Gemeinde zu beziehen. Auch die nachfolgende Wendung zum bildempfangenden Bereich (1Kor 12,28–30) überlässt die ethischen Konkretionen den Adressaten selbst. Neben dem Bekenntnis zur Vielfalt von Gaben und Ämtern wird nicht näher ausgeführt, wie man sich nun in der Gemeinde verhalten soll, z.B. welche Ämter-, Entscheidungs- oder gar Leitungsstrukturen entwickelt werden sollen. Damit bleibt es den Gemeindegliedern als ethischen Subjekten überlassen, die eigenen ethischen Urteile und Handlungsnormen aus der metaphorischen Reflexion zu ziehen. Die metaphorische Ethik lässt hinsichtlich der Gleichwertigkeit und notwendigen Verwiesenheit der einzelnen Gemeindeglieder keine Deutungsspielräume offen. Worin nun die wechselseitige Achtsamkeit und Für12,28). Diese Rückbindung an eine gottgewollte Ordnung setzt eine zusätzliche ethische Norm, von der im Sinne der Ableitung ethische Schlüsse gezogen werden. Sie kann hier als zweite Reflexionsebene neben der metaphorischen betrachtet werden und zeigt einmal mehr die Polyvalenz paulinischer Ethik.

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sorge besteht, bleibt aber ein Handlungsspielraum, den die Adressaten selbst ausfüllen müssen.

Epilog Die metaphorische Ethikreflexion folgt eigenen Regeln. 73 Sie nutzt die spezifischen Aspekte der Metapher, um das rechte Tun zu begründen. So baut sie auf traditionelle und lebensweltliche Erfahrungen wie z.B. das Mazzot-Fest oder die Körpererfahrung, aber macht aus ihnen „Argumente“ für neue Handlungsbewertungen. Sie ist in ihrer Appellstrukur präskriptiv, formuliert einen Sollensanspruch, wirbt um Zustimmung und Einstimmung in das eigene Wertungsraster. Aber sie ist doch zugleich non-direktiv. Es ist nicht die direkte Ansprache durch Imperative, mit der ein Sollensanspruch formuliert wird, sondern das Hineinführen in ein Sehfeld, das eigene Einsicht und ethischen Weitblick ermöglichen soll. Die Metapher ist für sich genommen unvollständig, wörtlich gelesen sogar unsinnig. Erst im Rezeptionsvorgang wird Sinn je und je neu konstituiert. Entsprechend bedarf es eines Rezipienten oder – wie in Korinth – einer Rezipientengemeinschaft, die die Handlungsanweisung im metaphorischen Gefüge erkennt und das ethische Urteil vollzieht. Obgleich die metaphorische Reflexion nicht rein deskriptiv bleibt, ja sogar explizit eine Appellstruktur aufweist, fordert sie in ihrer speziellen Form die Adressaten doch zu einer eigenen Urteilsfindung auf. Sie verhilft den Adressaten dazu, erst ethisches Subjekt zu werden, das sich im Vollzug der ethischen Urteilsfindung konstituiert. Die metaphorische Ethik folgt in ihrer Plausibilisierungsstrategie durchaus rationalen Erwägungen. Sie setzt auf wiederkehrende und in bestimmten Kontexten sogar allgemeingültige Erfahrungen. Sie nutzt konventionalisierte Handlungsmuster, um aus ihrer Vertrautheit neuen Wertungen den Boden zu bereiten. Die rhetorische Funktion der Metaphern ist vom Autor aus gesehen nicht beliebig. Gleichwohl lässt sich die Metapher in ihrer Deutungsoffenheit nicht instrumentalisieren und auf eine einzige Lösung einengen. Sie verweigert sich der Formsprache und Allgemeingültigkeit analytischer Ethik. Sie bleibt im Rahmen bestimmter Grenzen frei und offen. Indem Erfahrungsbereiche eingebracht werden, indem Sprachbilder vor Augen gemalt und Handlungsszenen ins Herz geschrieben werden, sind Sinne und Emotionen bei diesem ethischen Urteilsprozess im Spiel. Die metaphorische Ethik weicht somit auf geschickte Weise der dogmatischen Festschreibung aus. Sie lässt sich nicht in Gesetze pressen, die nur noch anzuwenden wären. Sie ist ganz-

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Vgl. zum Folgenden ZIMMERMANN, Metaphorische Ethik (s. Anm. 20).

Metaphorische Ethik in den Paulusbriefen

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heitlich und schließt affektive Dimensionen mit ein. Sie ist somit auch eine ästhetische Ethik. Die metaphorische Ethikreflexion ermöglicht und erleichtert letztlich die Kommunikation über Handlungsgründe. Sie schreibt nicht direkt vor, sondern lädt vielmehr ein. Sie nimmt die Adressaten ernst und fordert ihre autonome Entscheidungssouveränität. Sie bleibt in ihrer Sprachlichkeit und traditionellen Prägung zunächst an Kommunikationsteilnehmer gebunden, die aus einer ähnlichen Lebenswelt kommen. Ihr formales Prinzip der Übertragung von Handlungsmustern in neue Kontexte ermöglicht allerdings auch eine kreative Fortschreibung. Die metaphorische Ethik lädt deshalb ihrerseits wiederum ein, ihre bildspendenden Bereiche und Plausibilisierungsstrategien in neue, sachfremde Kontexte zu übertragen. So kann sie trotz ihrer partikularen Gebundenheit doch über den eigenen Horizont hinaus Geltung beanspruchen. In ihrer Konkretion, Flexibilität, Ästhetik und Weite wird die metaphorische Ethik einer Lebensethik gerecht, die der Komplexität von Handlungsentscheidungen in vielfältigen Lebenslagen angemessen ist.

Johannes Chrysostomus: Ethik und Metapher Ekkehard Mühlenberg Wo man bei Johannes Chrysostomus liest, stößt man auf Ethik und auf Bilder. Und man liest und liest; den Umfang mag die Zahl sechzehn Mignebände angeben.1 Chrysostomus hatte sich in der Stadt Antiochien als höherer Schüler und Student der griechischen Literatur hingegeben, wie man sie als praxisorientierte Bildung brauchen konnte; er lernte Rhetorik. Knapp 20-jährig ließ er sich als Christ taufen, wohl 367 n.Chr., und dann schloss er sich einer asketischen Akademie an, wo die Bibel studiert wurde. Er praktizierte die Askese, zeitweilig auch in den Wüstenbergen Syriens. Zum Diakon im Jahre 381 n.Chr. geweiht, war er der Geschäftsführer des antiochenischen Bischofs Flavian; in dieser Zeit schrieb er einige wenige Abhandlungen, darunter über Virginität und über das Priesteramt. 386 n.Chr. wurde er Presbyter in der großen antiochenischen Bischofskirche; er predigte. Er predigte über die Bibel, fortlaufend über ganze Bibelbücher, aber auch über Einzelverse. 397 n.Chr. wurde er zum Bischof in der Kaiserstadt Konstantinopel gemacht, wo er auch predigte und predigte; aber dort verwickelten ihn die Verwaltungsund Repräsentationsaufgaben in kirchenpolitische Intrigen. Er starb 407 n.Chr. im Exil, fast ein Märtyrertod, da er auf dem Transportmarsch in ein noch ferneres Exil tot umfiel. Über die Ethik des Predigers Chrysostomus ist ein zitierbarer Satz formuliert worden: „Das grundlegende Prinzip der christlichen Ethik ist ‚Gleichheit hinsichtlich der Ehre und der Achtungʻ.“2 Das ist nicht falsch, und der ursprüngliche Satz steht zu Recht in dem Lexikonartikel „Humanität“ unter der Unterüberschrift: „Haltung des Chrysostomus zur Sklaverei“3, aber weder die angegebenen Belegzitate noch die Lektüre der Predigten heben die Formulierung als ein Prinzip heraus. Die Formulierung ist vielmehr eine Abstraktion ins heutige Denken hinein. Chrysostomus ist kein philosophischer Denker, der ein systematisches Prinzip formuliert, sondern er ist ein Prediger, der mit 1 Zur Orientierung siehe R. BRÄNDLE, Art. Johannes Chrysostomus I, RAC XVIII (1998), 426–503. Immer noch brauchbar ist C. BAUR, Johannes Chrysostomus und seine Zeit, 2 Bde., München 1929/1930. 2 BRÄNDLE, Johannes Chrysostomus (s. Anm. 1), 474. 3 H. CHADWICK, Art. Humanität, RAC XVI (1991), 663–711, 690; zitiert von Brändle in seinem Abschnitt: Sozialethik. b) Männer und Frauen.

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der genialen Einfallsgabe eines geschulten Rhetors zu seiner christlichen Gemeinde spricht. Das Phänomen sieht so aus: Die Predigten gehen vom biblischen Text aus, erläutern den Text Satz für Satz und Wort für Wort: Was ist zu hören? Warum ist so und nicht anders formuliert? Warum in dieser Abfolge? Nach der Erklärung des biblischen Textes kommt in fast jeder Predigt ein Abschnitt: ‚Jetzt seid ihr dran!ʻ In manchen Handschriften wurde dieser Schlussabschnitt mit einer Überschrift gekennzeichnet: TO HΘIKON – die praktische Anwendung oder auch die ethische Folgerung für die Christen. Ich kann es auch als Sentenz formulieren und sagen: Ethik begegnet bei Chrysostomus fast ausschließlich als Vollzug der Predigtanrede. Bei an die tausend Predigten, selbst wenn ich nur ein Drittel analysiert habe, sollte man vermuten, dass Wiederholungen auftreten. Natürlich gibt es Wiederholungen, aber meist variiert, sodass es nicht richtig ist, die Stofffülle unter Obergesichtspunkten zu reduzieren, sondern besser ist es, nach dem Grund von Wiederholung in Variation zu fragen.4 Chrysostomus selber hat betreffs der Themen eine Antwort. Er sagt: So oft, bis ihr das Tun gelernt habt; so lange und so oft, bis eure Seele geheilt ist. Man kann es auch durch einen Vergleich charakterisieren. Chrysostomus predigt wie ein Frosch, nicht wie der romanischsprachige Frosch QUAK – QUAK – QUAK, sondern wie der englischsprachige Frosch, der schreit: Solange einreiben, bis es wirkt – RIBBIT – RIBBIT – RUB IT – RUB IT IN. Die Rhetorik hat schon immer untersucht, auf welche Weise eine bestimmte Wirkung bei den Hörenden erreicht werden kann. Chrysostomus benennt das Problem in seiner theologischen Brisanz. Denn alle christlichen Theologen und auch die Laien wissen, dass das, was den Christen zum Christen macht, der Glaube ist. Daraus ergibt sich die Frage, was Glaube ist, und vor allem die Frage, wie ein Mensch zum Glauben kommt. Die evangelischen Christen kennen die beiden Verse, die in der Bibel stehen. Paulus: allein durch Glauben, nicht durch Werke (Röm 3,28); Jakobusbrief: ohne Werke ist der Glaube tot (Jak 2,17). Chrysostomus legt den Paulusvers 2Kor 4,13 aus: „Dieweil wir also denselben Geist des Glaubens haben, nach dem, was geschrieben steht: ‚Ich glaube, darum rede ichʻ (Ps 115,1 LXX), so glauben wir auch, darum reden wir auch.“5 Da müsse der Grund gefunden werden, der Paulus – und uns – zu Christen macht. Was ist Glaube? Nun, sagt Chrysostomus, einmal die Gnadengabe wie Wunder tun, zum andern das Wissen von Gott, wie Paulus auch sage, dass Gott den Herrn auferweckt hat (Vers 14). Dann bohrt er weiter und 4

BRÄNDLE, Johannes Chrysostomus (s. Anm. 1), 470, sammelt Belege, wo sich Chrysostomus selber zu Wiederholungen von Redestücken äußert. Treffender charakterisiert BAUR, Johannes Chrysostomus (s. Anm. 1) I, 177–179, indem er auf die Wiederholung von Themen hinweist und dafür zwei einschlägige Texte ausschreibt. 5 In illud: Habentes eundem spiritum (II Cor 4,13) hom.I (PG 51,271–282, 276–280).

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fragt, warum Paulus „Geist des Glaubens“ sage? Ist Glaube also eine Gnadengabe? Nein, das geht nicht. Denn dann könnten die Ungläubigen nicht bestraft und die Gläubigen nicht bekränzt werden. So stehe es in der Bibel, und so sei es jedem bewusst, dass Tadel und Lob eigenes Tun voraussetzen. Der Glaube ist deswegen die Tugendtat des Gläubigen. Der Glaube sei das, was wir durch unsere Entscheidung einbringen, die Entscheidung nämlich, dem rufenden Gott zu glauben und zu gehorchen. Es liege also der Anfang bei uns. Gottes Gabe komme unserer Entscheidung nicht zuvor, sondern er rufe uns und warte, bis wir freiwillig wollen. Aber sobald wir wollen, komme der Teufel, um die Wurzel wieder auszureißen. Da bräuchten wir die Hilfe des Geistes, damit die Wurzel fest eingewurzelt bleibe – oder, in einem anderen Bild, damit wir unbesiegbar bleiben. Hier sind zwei Klärungen angebracht. Erstens ist die Darlegung des Chrysostomus theologisch als Synergismus bekannt. Das ist richtig, insofern vorgetragen wird im ethischen Zusammenhang von Tugend und Leistung mit Lob oder Tadel. In einseitiger Perspektive erläutert Chrysostomus den Eigenbeitrag des Christen, nämlich als Antwort auf das Rufen Gottes das Ja, das wollende Ja, welches sich in der Tathandlung verwirklicht. Durch Augustin gibt es auch eine andere theologische Tradition über das alleinige und zuvorkommende Handeln Gottes, aber sie setzt einen der griechischen Tradition und Sprache unbekannten Willensbegriff voraus.6 Zweitens spricht Chrysostomus Christen an. Es wird sich zeigen, dass er auch Menschen allgemein anspricht. Nachdem Chrysostomus soweit das Verhältnis von Eigenleistung und Geistesgabe geklärt hat, stellt er die Weiche zu seinem eigentlichen Thema; das ist die Wohltätigkeit. Die Weiche ist diese Frage, die wörtlich zitiert sei: „Wie können wir die Hilfe des Geistes herbeiziehen und gewiss sein, dass sie bei uns bleibt?“ Die Antwort gibt er vorweg und erläutert sie dann in zwei

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Es sei erlaubt, auf Überlegungen eines Altphilologen aufmerksam zu machen. H. LANGERBECK schreibt in seiner Rezension der Monographie W. Völkers über Gregor von Nyssa: „Entweder der Synergismus ist biblisch-neutestamentlich (wo bleibt dann die Reformationstheologie?) oder aber er ist nicht ein beliebiger formaler ‚Einflussʻ [...] der Philosophie, sondern vielmehr Übernahme des Kernstückes der antiken Philosophie im unüberbrückbaren Gegensatz zum Kerygma des Evangeliums [...] Es ist [...] in keiner Weise zutreffend, dass alle griechischen Theologen Synergisten waren, vielmehr waren das nur die Orthodoxen. Und diese in polemischer Gegenposition gegen die großen Gnostiker, Marcion und die marcionitische Kirche vor allem und im 4. Jhdt. gegen die unmittelbar von diesen abstammenden Manichäer. Der Synergismus ist doch nichts anderes als der Versuch, mit Hilfe einer sehr tief begründeten Einsicht der antiken Philosophie den christlichen Glauben vor der unchristlichen Verfälschung in Prädestinatianismus und Sakramentalismus zu bewahren.“ Er weist noch darauf hin, dass dieses Philosophem aus „der Ratlosigkeit gegenüber dem Problem der ‚Nichtlehrbarkeit der Tugendʻ erwachsen“ war. ThLZ 82 (1957), 81–90, 84f.

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Stufen. Die Antwort ist der einfache Lernbegriff, was die Christengemeinde ja auch weiß, nämlich: „Durch gute Werke und ausgezeichnete Lebensführung.“ Damit ist die Ethik aufgerufen. Jetzt folgen die Erläuterungen. Genauer gesagt sind es die Ausführungen, die die Hörer hereinziehen wollen. Sie werden in zwei verschiedenen Bildern vorgetragen. Erst ein einfaches Bild vom Funktionieren einer Lampe. Das Öl hält das Licht fest. Es ist nicht einfach so, dass das Licht aus dem Verbrennen von Öl entsteht, sondern das Öl hält das Licht fest, und wenn das Öl ausgeht und fehlt, geht auch das Licht aus und entweicht. Chrysostomus sagt dazu: „So auch die Gnade des Geistes. Sind unsere guten Werke bei uns [...], bleibt die Gnade des Geistes wie die vom Öl festgehaltene Flamme.“ Diese Ausführung ist noch lehrhaft, obwohl sie durch das Bild anschaulicher geworden ist. Die Kraft des Bildes wird dann ausgezogen dadurch, dass das Gleichnis von den fünf törichten Jungfrauen (Mt 25) aufgerufen wird. Nur die törichten Jungfrauen interessieren, denn ihnen mangelt es an Öl, griechisch ἔλαιον, d.h. der Prediger kann ohne weitere Erklärung sagen, dass es ihnen an Barmherzigkeit, an ἔλεον, an ἐλεημοσύνη mangelte.7 „Nach all den Mühen und dem vielen Schweiß hatten diese Jungfrauen nicht die Hilfe der Wohltätigkeit.“ Vom Brautgemach werden sie ausgeschlossen und hörten das furchtbare Wort: „Hinweg! Ich kenne euch nicht“ (Mt 25,12). „Wohl schlimmer als die Hölle“, fügt der Prediger hinzu. Er malt das Bild noch aus und trägt die Wirklichkeit in die biblische Metapher hinein. Die Jungfrauen – sie wurden Herr der tyrannischen Begierden, sie besiegten die Macht der sexuellen menschlichen Natur, sie besänftigten die tobende Leidenschaft, sie glätteten die Wogen der Begierde, sie lebten auf Erden ein engelgleiches Leben, sie waren körperlich für die unkörperlichen Mächte unangreifbar geworden. Trotz solcher Anstrengung: besiegt von der Habgier! – wegen ein paar Silbergroschen rissen sie den Siegeskranz vom Kopf. Ist das nicht erbärmlich, leichtsinnig, töricht? Die Virginität ist das anerkannte und bewunderte Heiligkeitsideal der Christen, mit Ehrenplatz in der Kirche; davon ging Chrysostomus aus. Aber darüber hinausgehend fasst er zusammen. Die Virginität ist nur sich selber von Nutzen, während der barmherzige Wohltätige gemeinschaftlich „der Hafen für die Schiffbrüchigen“ ist. Nützlich für andere zu sein ist die größte Leistung, so lautet die lehrmäßige Sentenz, ein Lebensgebot für die Christen. Der Prediger Chrysostomus will aber nicht nur Gottes Gesetz lehren, sondern er will das Gottesgesetz derart einprägen, dass die Hörer zustimmen und dadurch der Tatwille (προαίρεσις) entsteht. Um das zu erreichen, findet er Vergleiche und Bilder und auch Metaphern; seine Predigt geht nämlich noch weiter. Die Anschaulichkeit der ethischen Sprache metaphorische Rede zu 7

Die Wortassoziation findet sich schon bei Clem.Al.paed. II 62,3 im Anschluss an Lk 7,46; auch Clem.Al.quis div.salv. 19,4.

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nennen, ist eine moderne Tiefenhermeneutik. Listen how the frog croaks: ribbit – ribbit – rub it – rub it in – reib es ein. Virginität und Fasten sind ganz wichtige Gottesgebote, versichert der Prediger; dabei werde an das Himmelreich erinnert (vgl. Mt 25,1). Aber für Barmherzigkeit und Wohltätigkeit und Mitleid wird viel Größeres aufgerufen, nämlich die Ähnlichkeit mit Gott selber. So stehe es im Evangelium: „[...] damit ihr eurem Vater im Himmel ähnlich werdet“, wie Chrysostomus das Zitat formuliert (Mt 5,45). Gott nämlich „lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Für Chrysostomus ist Gottes Menschenliebe keine Metapher, sondern Sonnenschein und Regen sind Wirklichkeiten, die die Menschen zum Leben brauchen, weil sonst nichts wächst. Gottes φιλανθρωπία ist die Marke für die Ähnlichkeit. φιλανθρωπία ist ein antikes Schlagwort, etwa das Gemeinwohl, Solidarität, aber auch gütig, barmherzig sein und Mitleid zeigen. Chrysostomus nennt auch die jedem bekannten Gegensätze und redet so: Virginität verdient zweifellos Beifall, aber gepaart mit Grausamkeit? Enthaltsamkeit – gepaart mit Unmenschlichkeit?8 Sieh die Jungfrauen ohne Öl! Den mächtigen Gegner, die Sexualität, haben sie besiegt, aber der schwächere Gegner, die Geldgier, hat sie niedergestreckt. Ohne Virginität gelangt der Wohltätige in den Himmel, also auch die Verheirateten. Die Metapher vom kleinen und schwachen Gegner, den paar Silbergroschen, wird weitergeführt. ‚Betrachte nicht den Armen, der empfängt, sondern es ist Gott, den du dir zum Schuldner machst, und das mit großem Gewinn!ʻ Sorg dich nicht um die Sicherung deines Geldes, sondern in den Händen der Armen ist es sicher angelegt. Du zögerst noch? Dann erforsche dein Gewissen, halte dir die Masse der Sünden vor Augen, und die Angst wird dich ständig quälen; was gäbest du nicht für Vergebung? Bei körperlichen Krankheiten unterziehst du dich der bitteren Medizin des Arztes, lässt den Arzt brennen und schneiden, und doch ist der Heilerfolg nicht mit Geld zu sichern. Der Seelenarzt dagegen braucht nur das zustimmende Nicken deines Willens. Dein Geld in die Hände der Armen, sofort bist du geheilt, und die Freveltaten, die Untaten, die Sünden sind ganz weg. Und weißt du nicht, wie die Helden in den Wüstenbergen, die Einsiedler, sich abquälen, um ein paar Sünden abzuarbeiten? Der Prediger malt die Selbstquälerei der Eremiten breit aus und bietet der Gemeinde an: Du kannst das gottesfürchtige Leben haben, wenn du nur die Not der Bedürftigen linderst. Wo es den großen Lohn geben wird, wie rechtfertigst du deine Bestialität? Steht nicht in der Bibel: „Euer Überfluss diene ihrem Mangel“ (2Kor 8,14)? Der Prediger ist noch keineswegs am Ende und vergrößert das Angebot: Da wird ein Bombengeschäft angeboten; denn für Vergängliches erlangst du das Unvergängliche. Wörtlich Vgl. Men.dys. 6f. vom Misanthropen: ἀπάνθρωπός τις ἄνθρωπος σφόδρα καὶ δύσκολος πρὸς ἅπαντας. Vgl. auch Luc.Tim. 44. 8

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übersetzt sagt Chrysostomus: „Die Ausgabe in Geld, die Einnahme [...] in Sündenvergebung, furchtlos vor Gott, das Himmelreich und das Genießen der Güter, ‚die kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen sindʻ (1Kor 2,9).“ Dann wendet sich der Prediger, den Schluss ansteuernd, wieder an die Gemeinde: Brüder und Schwestern, wir kennen den Präzidenzfall der törichten Jungfrauen, und wir wissen, dass „ins Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist, geworfen wird“ (Mt 25,41), wer Christus nicht gespeist und Christus nicht getränkt hat. Lasst uns also das Feuer des Geistes festhalten durch reichliche Wohltätigkeit und verschwenderische Barmherzigkeit, damit wir im Glauben keinen Schiffbruch erleiden. Ja, der Glaube ist auf die Hilfe des Geistes angewiesen. Ich habe zuletzt auf ein Drittel reduziert, was Chrysostomus „eingerieben“ hat.9 Er wendet die rhetorische Technik der Ekphrasis und der Hyperbole an, auf Deutsch: übertreibend ausschmückend. Wirklichkeiten sind für ihn das Himmelreich und die Hölle; deswegen kann er sie als Lohn und Strafe einsetzen, verstärkt sie allerdings durch die Autorität der Bibel. Wirklichkeiten sind die Hände der Armen und das Geld; in die Hände der Armen will er das Geld bewegen. Vergleiche kennzeichnet er als Bilder bzw. Metaphern, z.B. Öl und Lampenlicht für gute Werke und Beistand des Geistes; hierdurch erreicht er Plausibilität für die Forderung der Wohltätigkeit. Daneben gibt es Vergleiche aus anderen Lebensbereichen wie Geschäftswelt und Medizin; Metaphern werden sie in der Anwendung auf die christliche Existenz; an übliches Verhalten knüpft er an. Da beim Vergleich mit dem Geschäftsleben eben dasselbe materielle Geld gemeint ist, droht die Metapher ‚Gewinnʻ in tatsächliche Begründung umzuschlagen. Die Metapher Arzt und Seelenarzt wahrt dagegen die Differenz zwischen den beiden Ebenen. Simpel gesagt soll die Anschaulichkeit in Vergleichen und Metaphern die Eigenaktivität des Menschen in Bewegung setzen; die Metaphorik ist für Chrysostomus das Einreibemittel (ribbit – rub it). Der schnelle Wechsel der Vergleiche erinnert mich fast an die Vorstellung einer Stalinorgel, von der wir als Kinder in den Kriegsjahren hörten. Die Eigenaktivität des Menschen setzt Chrysostomus voraus, gerade auch theologisch. Allerdings winkt er mit Lohn und schreckt mit Strafe. Damit verletzt er die der antiken philosophischen und theologischen Tradition bekannte Definition von Vollkommenheit, dass das Gute um des Guten willen getan wird, bei seinem Zeitgenossen Gregor von Nyssa so formuliert: „Einzig zu fürchten, aus der Liebe Gottes zu fallen, und einzig wertzuschätzen, ein Freund Gottes zu werden.“10 9

Nach den Berechnungen von BAUR, Johannes Chrysostomus (s. Anm. 1) I, 182, liegt die Gesamtlänge dieser Predigt bei knapp einer Stunde, der von mir vorgeführte Teil bei etwa einer halben Stunde. 10 Greg.Nyss.Moys., GNO VII/1, 145,1–3. In der Oratio XV zum Hohenlied deutet Gregor zu Hhld 6,8 die „Königinnen“ als die, welche aus Liebesverlangen nach dem Guten

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Wohltätigkeit ist relativ konkret, obwohl Chrysostomus differenzieren kann, z.B. nach Anleitung von Mt 25,31ff. Aber der griechische Ausdruck φιλανθρωπία ist weiter als Armenfürsorge. Und Chrysostomus hat über christliche Lebensführung auch mehr zu sagen. Nicht ganz zu Unrecht haben die Lateiner, vor allem Cicero, φιλανθρωπία durch humanitas wiedergegeben, Menschlichkeit und Humanität. In der griechischen Tradition ist das teilweise auch bekannt und hat das ideale Menschenbild geprägt. Chrysostomus ist darin ganz zu Hause, wenn er den Menschen mit Tieren vergleicht. In der Geburtsgeschichte, wie das Matthäusevangelium sie in Kapitel 1,18ff. berichtet, fand Chrysostomus den Satz des Engels: Der Sohn der Maria wird sein Volk von allen Sünden erlösen (Mt 1,21). Daraus leitet er den ethischen Teil seiner Predigt11 ab und stellt die Christen dar, die dieses in der Taufe gegebene Geschenk missachten. Zuerst fragt er, wie ein Glaubender, also ein Christ, erkennbar sei, und führt satirisch vor, wie sich Christen öffentlich gar nicht als Christen benehmen. Dann setzt er eins drauf und sinniert, dass er noch nicht einmal wisse, ob der Missachtende überhaupt ein Mensch sei, geschweige denn ein glaubender Christ. Über das Christsein hinaus ist also der Mensch in seiner Menschlichkeit im Blick. „Du gibst Tritte wie ein Esel, du springst umher wie ein Stier, du wieherst bei Frauen wie ein Hengst, du bist gefräßig wie ein Bär, du mästest dein Fleisch wie ein Maulesel, du behältst Unrecht wie ein Kamel, du raubst wie ein Wolf, du zischest wütend wie eine Schlange, du beißest wie ein Skorpion, du bist verschlagen wie ein Fuchs, du speicherst das Gift der Bosheit wie eine Kobra und wie eine Viper.“ Der Prediger behauptet, er habe den Unterschied zwischen einem Katechumenen und einem glaubenden Vollmitglied der christlichen Gemeinde gesucht, jetzt aber finde er keinen Unterschied zwischen einem Mann und einem Tier, nein schlimmer sei es, da jedes Tier nur einen einzigen Mangel habe. „Du hast sie alle zugleich.“ Sie seien schlimm dran, da sie die Ungestalt und Hässlichkeit ihrer Seele nicht erkennen. Die Hässlichkeit und Ungestalt der Seele ist mindestens seit Platon ein philosophisches und populär-philosophisches Thema. Zwei Seelenkräfte wurden unterschieden, der begehrliche (ἐπιθυμητικόν) und der mutvolle, zornige (θυμικόν) Seelenteil. Besonders der mutvolle, zornige Seelenteil zog den Vergleich mit der tierischen und bestialischen Seite der menschlichen Natur nach sich. So überwiegen auch bei Chrysostomus die tierischen Vergleiche für das vom Schmerz und Zorn erregte Verhalten gegenüber anderen wie Gewalt, Raub, Mord und auch Habgier. Und die zornige Erregung ist für Chrysostomus die größte Pest. Wie Löwen mit Zähnen und Klauen zuschlahandeln, und die „Nebenfrauen“ als die, welche aus Furcht vor Strafe sich des Bösen enthalten. Aber die Furcht wird in der Apokatastasis in Liebe verwandelt werden! (GNO VI, 456,16–466,9). 11 Chrys.hom. 4,7–8 in Mt (CPG 4424); PG 57,48–50.

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gen – „Betrachte, wenn du willst, den Zorn und die Wut als tierische Erregung!“ Aber es gebe Leute, die sogar einen Löwen zähmen können: Versuch das auch mit deinem Zorn! Mit eigener Kraft wird es dir jedoch nicht gelingen; denn wie Würmer und Schlangen zerfrisst der Zorn dein Inneres. Gegenmittel sei allein der Saft, der sie zum Absterben bringe, das heilige Blut Christi. Dann solle er in der Bibel lesen und tätigen, was die Bibel sage, nämlich wohltätig werden. Die christliche Ethik beschreibt also ein Leben in Menschlichkeit. Die Schönheit der Seele kann man malen. Wir finden bei Lukian, dem griechischen Schriftsteller des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, ein ironisches Lob auf eine edle Dame (Pantheia, die Geliebte des Kaisers L. Verus), ausgearbeitet als die Komposition eines Bildes. Erst wird die körperliche Schönheit hergestellt, dann folgt das Bild der schönen Seele. Die einzelnen Beiträge zum Seelenbild12 sind παιδεία = Bildung, Geist und Charakter betreffend, dazu σοφία καὶ σύνεσις = Weisheit und Klugheit, χρηστότης καὶ φιλανθρωπία = Güte und Menschenfreundlichkeit, erläutert als freundlich und wohltätig; die Krönung ist σωφροσύνη = Besonnenheit und Bescheidenheit, erläutert als liebevoll zum Lebensgefährten und ohne Hochmut. Das ist die antike Palette für eine edle Menschlichkeit. Chrysostomus malt in einer Predigt die Schönheit der Seele.13 Die meisten Bestandteile kehren in der gleichen Sprache wieder. Sie rufen Resonanz in den Ohren seiner antiochenischen Gemeinde hervor, d.h. es geht ums Menschsein allgemein, um den wahren Menschen überhaupt. Der Prediger verdoppelt die Resonanz durch Bibelsprüche. Der Sinn ist trotz der sprachlichen Identität mit Lukian in lebendigere Gestalt umgebogen. Der Kopf und das Haupt sind bei Chrysostomus die Demut (ταπεινοφροσύνη), was in der antiken Tradition fehlt. Die Augen haben Schicklichkeit und Besonnenheit (κοσμιότης καὶ σωφροσύνη); das versteht er als Reinheit des Herzens, also nicht lüstern. Dem Mund eignet Weisheit und Klugheit (σοφία καὶ σύνεσις); er fügt hinzu: geistliche Lieder kennen. Dem Herzen teilt er viel zu: Vertrautheit mit der Bibel, Bewahrung ihrer Lehren und φιλανθρωπία καὶ χρηστότης, Menschenfreundlichkeit und Milde, oder besser: Güte und Wohltätigkeit (siehe Tit 3,4). Hände und Füße sind das Ausüben guter Werke. Die Seele hat die Gottesfürchtigkeit (εὐσέβεια). Die Brust als Sitz der Empfindungen hat Tapferkeit oder Mut (ἀνδρεία). Es fehlt noch das Pneuma, der Lebensstrom bei den stoischen Philosophen; dieser ist die gebende Liebe (ἀγάπη). Zusammenfassend sagt Chrysostomus, dass es auf Demut und Wohltätigkeit ankomme. Er liest es aus dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Demut)

12 13

Luc.im. 19–21. Chrys.hom. 47,3f. in Mt (CPG 4424); PG 58,485f.

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und aus dem Gleichnis mit den fünf törichten Jungfrauen (ἔλαιον = ἐλεημοσύνη) heraus.14 Was immer über Ethik und ihre Begründung, ihre Ableitungen und über die Sprache, in der Chrysostomus sie fasst und vorträgt, zu sagen ist, das Thema der städtischen Lustbarkeiten kann ich nicht übergehen. 15 Auch hier zeigt sich, dass sein Hauptargument nicht biblische Moral, sondern allgemeine menschliche Erfahrung ist, obwohl gerade an diesem Punkt moniert worden ist, dass Chrysostomus die Lebenswelt und ‚Kulturʻ der antiken Stadt vernichte.16 Es gab in der Stadt Antiochien ein Hippodrom für die Wagenrennen, ein Amphitheater für die Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen und dazu mitten in der Stadt ein Theater für szenische Aufführungen. Im Theater wurde ein Schwimmbassin aufgebaut, und darin tummelten sich Frauen ohne Bekleidung.17 Diese Attraktion, bei der man an den Namen Folies Bergère in Paris denken mag, war für Chrysostomus ein Werk des Teufels. 18 Demgemäß predigt er seiner Gemeinde und nahm dieser Lustbarkeit zumindest ihre Harmlosigkeit. ‚Nicht die Schaustellerinnen sind schuld, sondern ihr seid schuldig, weil ihr dort lacht, klatscht und vor Begeisterung schreit.ʻ Der Prediger predigt ihre Entschuldigung weg: ‚Du antwortest, dass das Schändliche, was sie inszenieren, ja nicht wirklich, sondern nur gespielt sei.ʻ19 ‚Aber dein Auge ist betroffen, wenn du die nackten Frauen anschaust. Sie schwimmen, aber dein Blick wird unter Wasser gezogen, deine Seele wird ertränkt; so hat 14

Vgl. Lk 18,9–14 und Mt 25,1–13. Den Topos Wettkampf habe ich ausgeklammert. 16 Vgl. P. BROWN, The Body and Society. Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988 (dt. Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung. Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, München 1991) überschreibt Kapitel XV: „Sexuality and the City: John Chrysostom“, was an ‚Sex and the Cityʻ anklingt. Ich zitiere aus sprachlichen Gründen nicht aus der deutschen Ausgabe: „In Antioch, the sense of the continued, joyous existence of a great civic community within a stable Empire had always been expressed through a careful maintained mood of good high cheer, made available to the citizens of Antioch in their public baths, in their theater, and in their hippodrome. Apolausis – the shared enjoyment of the good things of life that only a great city ruled by generous families could savor – was more than self-indulgence: it was a precious collective ritual, a celebration of the will to survive“ (314). „Apolausis was the National Anthem of Antioch: not to join in it was to be a traitor to the ancient notion of the city as the most perfect of human communities. John dearly wished for all that to wither away“ (315). 17 CHR. JACOB, Das geistige Theater. Ästhetik und Moral bei Johannes Chrysostomus, Münster 2010, 89, fragt unter Verweis auf Literatur, wie nackt die Frauen gewesen seien. 18 BROWN, The Body (s. Anm. 16), 315, kommentiert: „But what many observers mistook for unrepentant frivolity was, in fact, the expression of a civic code of propriety, based on an acute sense of what bodies of particular persons could and could not do in particular social situations. The festive life of the city demanded moments of easy-going nudity in the great public baths and frank eroticism in its public spectacles.“ 19 Chrys.hom. 6 in Mt (CPG 4424); PG 57,71f. 15

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es sich der Teufel ausgedacht. Dein Blick auf die nackten Frauen wird dich in den Abgrund der Höllenflammen ziehen. Deine Augen werden lüstern.20 Auf der Agora drehst du ab, wenn sich dort eine Frau nackt darbietet; auch zu Hause lässt du Nacktheit nicht zu und nennst es Schändlichkeit.21 Aber ins Theater gehst du, damit du die Gattung von Mensch in Mann und Frau freventlich missachtest und deine Augen mit Schande erfüllst? Wenn es gemeinschaftlich mit der Menge geschieht, soll es harmlos sein?ʻ Dann spricht der Prediger einen großen Spruch, von dem ich nicht abschätzen kann, wie ihn die Gemeinde aufgenommen hat: „Sage mir nicht, das nackte Weib ist ja eine Hure; nein, die Hure und die Freie haben die gleiche Natur, denselben Leib.“22 Der Prediger ruft zwei reale Vorstellungen auf und spricht zuerst den Mann auf seine Selbstachtung an: „Sag mir, wie willst du, nach Hause zurückgekehrt, deine Frau anblicken, wenn du im Theater zugeschaut hast, wie alles Weibliche entehrt wurde? Musst du nicht erröten im Gedanken an die Frau, mit der du das Ehebett teilst, da du gesehen hast, wie ihre eigenste Natur dem Gegaffe preisgegeben wurde?“23 Dann konfrontiert er den Theaterbesucher mit seiner Ehefrau und rüttelt an seinem Seelenfrieden: „Wie wird sie dich empfangen? Wie wird sie dich zur Rede stellen, nachdem du so das ganze weibliche Geschlecht durch deinen lüsternen Blick entehrt hast, dich zum Gefangenen des Spektakels und zum Sklaven einer Hure gemacht hast?“24 Der Prediger vermeint, er habe eine Reaktion aus der Gemeinde vernommen: ‚Ich höre, ihr stöhnt. Stöhnt nur weiter, es könnte der Anfang zur Besserung sein.ʻ Und mit einer anderen Metapher kommt er zum Schluss: „[...] Anfang der Besserung. Meine Worte waren heftiger, damit ich durch einen tieferen Schnitt euer Geschwür entferne und die Gesundheit eurer Seele wiederherstelle. Ihrer wollen wir uns alle erfreuen, um den Siegespreis für diese Taten zu erlangen, durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus. Sein ist die Ehre und die Kraft von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

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Siehe Chrys.hom. 7 in Mt (CPG 4424); PG 57,80f. Wie Anm. 19. 22 Chrys.hom. 6,8 in Mt (CPG 4424); PG 57,72, in der treffenden Übersetzung der deutschen Fassung von BROWN, Die Keuschheit (s. Anm. 16), 325. 23 Chrys.hom. 6,7 in Mt (CPG 4424); PG 57,71. 24 Chrys.hom. 6,8 in Mt (CPG 4424); PG 57,72. 21

„Gefäße zur Ehre und zur Unehre“ (2Tim 2,20) Metaphorische Sprache und Ethik in den Pastoralbriefen – eine Skizze1 Jens Herzer Alle Wirklichkeit ist für uns das Bild, das wir uns davon machen. Dieser scheinbar einfache Satz wirft eine Reihe von Fragen auf, die mit dem Problemhorizont dieser Tagung zum Thema metaphorische Ethik zu tun haben. Man könnte ihn wahrscheinlich grundsätzlich bestreiten, zumal die Wirklichkeit nie in dem Bild aufgeht, das man sich von ihr macht. Aber wenn man Wirklichkeit konstruktivistisch betrachtet und dies mit einem speziellen Bezug auf die Ethik verbindet, dann muss man sich folgenden Fragen stellen: Wie entsteht ein solches Bild der Wirklichkeit? Wie entsteht der Eindruck, dass das unter individuellen Bedingungen konstruierte Bild die Wirklichkeit sei? Welche Bedeutung hat die Relativität dieser Bilder der Wirklichkeit, die in Gestalt der konstruierenden Individuen nebeneinander treten, sich berühren, sich überlagern, und dennoch voneinander verschieden sind? Wie ist vor dem Hintergrund eines solchen Wirklichkeitsverständnisses ein gemeinsames, auf intersubjektiven Normen beruhendes Miteinander und Handeln und somit Ethik möglich? Und schließlich – wenn nach dem Zusammenhang von metaphorischer Sprache und Ethik gefragt wird: Wie hängt dies mit dem Phänomen Sprache zusammen? Wie „funktioniert“ bildhafte Sprache in der Konstruktion von Normativität einerseits und andererseits in der Relation zwischen der so beschriebenen Normativität und dem lebensweltlichen Handeln derer, die sich dieser Normativität zu stellen haben? Wenn es stimmt, was bereits Quintilian wusste, dass Sprache stets selbst im konstruktivistischen Sinne metaphorisch2 und eine klare Unterscheidung 1

Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten und das Manuskript nur um wenige Anmerkungen ergänzt. 2 Quint.inst. IX 3,1: Verborum vero figurae et mutatae sunt semper et, utcumque valuit consuetudo, mutantur. Itaque, si antiquum sermonem nostro comparemus, paene iam quidquid loquimur figura est (Text bzw. Übersetzung zitiert hier und im Folgenden nach: Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Zweiter Teil Buch VII– XII, hg. u. übers. v. Helmut Rahn, TzF 3, Darmstadt 2006 [³1995]); vgl. auch F. NIETZSCHE, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873), in: ders., Werke, hg. v.

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zwischen eigentlicher (d.h. abstrakt-begrifflicher) und uneigentlicher (d.h. bildlicher oder metaphorischer) Sprache obsolet ist, dann steht sofort vor Augen, dass man sich mit einem Begriff wie „metaphorische Ethik“ auf ein sprachgeschichtlich wie methodisch hochkomplexes Feld begibt. Schon die Verhältnisbestimmung der Begriffe „Bild“ (gr. εἰκών) und „Metapher“ (gr. μεταφορά, lat. translatio) ist nicht einfach, obwohl oder weil beide alltagssprachlich oft synonym verwendet werden. Nach Aristoteles etwa ist die Metapher ein „Bild“, insofern sie etwas „vor Augen stellt“3, d.h. „Anschaulichkeit“ eines Gegenstandes oder eines Gedankens herstellt und so auf einer intuitiven Ebene das Verstehen eines argumentativen Zusammenhanges bzw. einer entsprechenden Äußerung ermöglicht. Quintilian greift dies auf, wenn er behauptet, es sei „die Metapher [...] größtenteils dazu erfunden, auf das Gefühl zu wirken und die Dinge deutlich zu bezeichnen und vor Augen zu stellen“ (nam translatio permovendis animis plerumque et signandis rebus ac sub oculos subiciendis reperta est, inst. VIII 6,19). Im Kontext ethischer Diskurse ist daher die Metapher als „Veranschaulichung“ jenseits begrifflicher Argumentation ein Instrument auch für die Plausibilisierung und damit zugleich eine Bedingung der Möglichkeit für die Akzeptanz normativer Vorgaben.4 Insbesondere die Strittigkeit des Metaphernbegriffes ist seit Quintilian immer wieder hervorgehoben worden,5 und schon ein oberflächlicher Blick in die unüberschaubare Fülle der Literatur bestätigt diese Einschätzung.6 Im

G. Colli/M. Montinari, Bd. 3/2, 1973, 372–377, der daraus eine grundsätzliche Skepsis der Sprache hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes ableitet, vgl. M. MÜHLING-SCHLAPKOHL, Art. Metapher III: Religionsphilosophisch, RGG4 (2003), 1167f. 3 Arist.rhet. 1411b: πρὸ ὀμμάτων ποιεῖ, vgl. G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982 (52004), 25. 4 Vgl. C. WALDE, Art. Metapher, Der Neue Pauly 8 (2000), 78–81, 81: „Die verfremdende Zusammenstellung von Sachverhalten hat eine kognitive Funktion, weil sie dem Rezipienten eine frische Erfahrung des Gegenstandes zuteil werden läßt: komplizierte Abstraktionen können durch M[etaphern]. eine konkrete Sinnlichkeit bekommen.“ 5 Vgl. KURZ, Metapher (s. Anm. 3), 6: „Die Bestimmung der drei Begriffe [sc. Metapher, Allegorie, Symbol, JH] ist strittig, seit über sie nachgedacht wird“; vgl. Quint.inst. VIII 6,1f. Hinzuweisen ist vor allem auch auf die Kritik von Kurz an der Rezeption der aristotelischen Vergleichstheorie: „Es ist symptomatisch für die Mängel der Vergleichstheorie, daß als Beispiele meist Metaphern herangezogen werden, deren metaphorischer Effekt sich schon längst aufgelöst hat. So muß immer wieder Achilles dazu herhalten, mit einem Löwen verglichen zu werden. Ohnehin ist Ähnlichkeit ein vager Begriff [...] Ähnlich sind Dinge nur in bestimmten Hinsichten, unter bestimmten Perspektiven. In irgendeiner Hinsicht kann alles allem ähnlich sein. Daher ist die Metapher auch kein ,verkürzter Vergleich‘ (Quint.inst. VIII 6,8 [...]) […] Vergleich und Metapher erzeugen vielmehr verschiedene Sinnerwartungen“ (a.a.O., 21). 6 Ein Überblick ist hier unmöglich, daher sei exemplarisch nur auf einige neuere Arbeiten verwiesen, die die Bandbreite der Zugänge veranschaulichen: R. BERNHARDT/U. LINK-

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Folgenden sind daher in diesem Rahmen nur einige theoriebezogene Schlaglichter möglich, um dann zu konkreten Beispielen der materialen Ethik zu kommen, wie sie etwa in den Pastoralbriefen „metaphorisch“ entfaltet wird. Dazu sind zunächst einige methodische Überlegungen zur Verwendung metaphorischer Sprache in Ekklesiologie und Ethik notwendig. Anschließend werden Beispiele metaphorischer Aussagen in ethischer Absicht in den Pastoralbriefen besprochen, und zwar hinsichtlich der Aspekte der Gruppenidentität und der Gruppenprozesse sowie hinsichtlich des Zusammenhanges von normativer Sprache und lebensweltlicher Dynamik. Der Begriff der Ethik wird dabei so verwendet, dass damit nicht nur die Grundlagen und die materialen Konsequenzen normativer Aussagen beschrieben werden, sondern auch die Relation von Normativität und Plausibilität impliziert ist. Nur wo eine gesetzte Norm so begründet wird, dass sie zumindest plausibel erscheint und intersubjektiv vermittelbar ist, kann sie zur Grundlage konkreten Handelns werden. An diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass das klassische Schema von Indikativ und Imperativ zu kurz greift, weil das, was Ethik bedeutet, nicht im Imperativ (d.h. der begründeten oder auch nur gesetzten Norm) aufgeht, sondern diese Norm lebensweltlich korreliert werden muss.7 In dieser Korrelation ist sie zudem in ihrer Legitimität notwendig einer ständigen Prüfung und Korrektur ausgesetzt. Daraus ergibt sich die Herausforderung, ethische Normen entweder stets neu zu begründen und zu legitimieren oder sie aufgrund veränderter kulturhermeneutischer Aspekte und Bedingungen neu zu definieren. Natürlich wäre es interessant, die vielfältigen sprachlichen Metaphern in den Pastoralbriefen etwa in den Tugend- und Lasterkatalogen auf ihr rhetorisches und hermeneutisches Potential hin zu befragen und ihre auf unterschiedlichen Ebenen je spezifische semantische Tragweite zu beschreiben. Das führte aber in diesem Zusammenhang viel zu weit. Der Schwerpunkt der

WIECZOREK (Hgg.), Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur (FS D. Ritschl), Göttingen 1999; R. ZIMMERMANN (Hg.), Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen, Übergänge 38, München 2000; sowie J. FREY/J. ROHLS/R. ZIMMERMANN (Hgg.), Metaphorik und Christologie, Berlin/New York 2003; J. HARTL, Metaphorische Theologie. Grammatik, Pragmatik und Wahrheitsgehalt religiöser Sprache, SSThE 51, Münster 2008; J. MÁCHA, Analytische Theorien der Metapher. Untersuchungen zum Konzept der metaphorischen Bedeutung, Sprache – Kommunikation – Wirklichkeit 5, Münster 2010. Einen guten Einblick in die methodische Problemlage bietet R. ZIMMERMANN, Metapherntheorie und biblische Bildersprache. Ein methodologischer Versuch, ThZ 56 (2000), 108–133. 7 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259–284, sowie F.W. HORN/R. ZIMMERMANN (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics I, WUNT 238, Tübingen 2009.

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Ausführungen wird daher auf dem Zusammenhang von Ethik und Ekklesiologie liegen, der in der Forschung für die Pastoralbriefe als besonders signifikant gilt.8 Allerdings – und dies sei hier vorweggenommen – wird die Bedeutung der ekklesiologischen Schwerpunktsetzung innerhalb der Pastoralbriefe zumeist nicht hinreichend differenziert und dadurch deutlich überschätzt.9 Diese Einschränkung ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Ekklesiologie bzw. die ekklesiologischen Aussagen innerhalb der Pastoralbriefe einen spezifischen Referenzrahmen ethischer Aussagen darstellen. Darin unterscheiden sich die Pastoralbriefe aber nicht grundlegend von anderen paulinischen Briefen. Verzichtet werden soll an dieser Stelle auf grundsätzliche Bemerkungen zu den Kontroversen um die traditionsgeschichtliche und literaturhistorische Beurteilung der Pastoralbriefe, die die Forschung seit Schleiermacher10 prägen. Für unsere Fragestellung spielen diese Auseinandersetzungen keine entscheidende Rolle.11 Allerdings wird sich zeigen, dass die Verwendung metaphorischer Sprache in den Pastoralbriefen mit dem auch für Paulus selbst charakteristischen Gebrauch von Metaphern vor allem im Bereich der Ekklesiologie und damit auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Ethik korreliert. Wie dieser Aspekt der Korrelation mit anderen Schriften des Corpus Paulinum vor dem Hintergrund der verbreiteten Einschätzung der Pastoralbriefe als eines pseudepigraphischen Briefkorpus zu deuten ist, gehört zu den schwierigen Fragen der Forschung auf diesem Gebiet. Deren Beantwortung ist aber nicht die Voraussetzung für die hier verfolgte Themenstellung.12

8 Vgl. z.B. J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993, 265, zum Thema „Ethik in den Pastoralbriefen“: „Ganz generell zeichnen sich in den Pastoralbriefen Ansätze zu einer spezifischen Ethik des kirchlichen Amtes ab, und zwar im Sinne eines besonderen Rufs zur Verantwortung, die sich aus der Vorbild-Funktion seines Trägers ergibt.“ Roloff behandelt die Pastoralbriefe unter der Überschrift: „Gottes geordnetes Hauswesen“ (250) und impliziert damit eine Gesamtcharakteristik, mit der die zitierte Einschätzung der Ethik korrespondiert. 9 Vgl. J. HERZER, Rearranging the „House of God“. A New Perspective on the Pastoral Epistles, in: A. Houtman/A. de Jong/M. Misset-van de Weg (Hgg.), Empsychoi Logoi – Religious Innovations in Antiquity (FS P.W. van der Horst), Ancient Judaism and Early Christianity 73, Leiden 2008, 547–566; M. ENGELMANN, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe, BZNW 192, Berlin/New York 2012, 177–344. 10 Vgl. F.D.E. SCHLEIERMACHER, Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos. Ein kritisches Sendschreiben an J.C. Gass, Berlin 1807. 11 Vgl. dazu den kritischen Forschungsüberblick von ENGELMANN , Unzertrennliche Drillinge? (s. Anm. 9), 10–106. 12 Vgl. z.B. A. MERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe, NTOA 52, Göttingen/Freiburg (CH) 2004; dazu insgesamt ENGELMANN, Unzertrennliche Drillinge? (s. Anm. 9), passim.

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1. Metaphorische Sprache in Ekklesiologie und Ethik – einige methodische Überlegungen Wenn es im Folgenden speziell um den Zusammenhang von Ethik und Ekklesiologie gehen soll, dann muss man sich zunächst die Selbstverständlichkeit bewusst machen, dass ethische Urteile grundsätzlich auf vorauszusetzenden Begründungszusammenhängen beruhen. Diese können – je nach intertextueller Prägung des Autors und seiner Absicht – sehr unterschiedlich ausfallen. Im Unterschied zu den Pastoralbriefen wird etwa für Paulus oft etwas einseitig der Zusammenhang von Ethik und Eschatologie als in besonderer Weise signifikant beurteilt, insofern etwa eine auf die Naherwartung eines Gerichtes Gottes bezogene Grundhaltung vor dem Hintergrund der Rechtfertigung der Glaubenden durch das Christusgeschehen Konsequenzen für die Ethik hat.13 Zugleich ist aber deutlich, dass für die Begründung des Zusammenhanges von Ethik und Eschatologie wiederum die Christologie in ihren unterschiedlichen Aspekten (Soteriologie, Hamartiologie, Ekklesiologie etc.) bedeutsam ist, sodass man geradezu eine Hierarchie der Begründungszusammenhänge erstellen könnte, die letztlich alle in der Ethik ihr (vorläufiges) Ziel finden.14 Die Bedeutung der Ethik liegt vor allem darin, dass der argumentativ theologisch, christologisch etc. begründete Glaube nie nur theoretisch bleiben kann, sondern immer gelebt werden muss und sich in den Lebenszusammenhängen des Einzelnen wie auch der Gemeinde zu bewähren hat. Und da zu diesen Lebenszusammenhängen maßgeblich die Gemeinde gehört, ist die Verbindung von Ethik und Ekklesiologie unmittelbar einleuchtend, die darin nicht nur für die Pastoralbriefe, sondern für die paulinische Tradition insgesamt wesentlich ist. Diese einfache Einsicht ist letztlich der Grund dafür, dass insbesondere für die Plausibilisierung ethischer Urteile wie auch der Beurteilung konkreten ethischen Verhaltens metaphorische Sprache eine große Rolle spielt, insofern Metaphern und Bilder lebensweltliche Aspekte aufrufen, die ein ethisches Urteil in seiner Konsequenz und Notwendigkeit – durchaus im aristotelischen Sinne – „anschaulich“ machen. Diese Anschaulichkeit ist wichtig, damit das ethische Urteil bzw. die daraus erwachsene Forderung auch zu konkretem Handeln führt. Und sie ist nicht zuletzt auch deshalb wichtig, damit dieses Handeln auf Einsicht beruht und nicht auf bloßem Gehorsam, insbesondere 13

Vgl. z.B. C. MÜNCHOW, Ethik und Eschatologie. Ein Beitrag zum Verständnis der frühjüdischen Apokalyptik mit einem Ausblick auf das Neue Testament, Göttingen 1981; zum Problem vgl. F.W. HORN, Ethik des Neuen Testaments, ThR 60 (1995), 32–86. 14 Zu den vielfältigen Begründungszusammenhängen paulinischer Ethik vgl. grundlegend O. MERK, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968, der die eschatologischen Aspekte in ihrer Relation zum Glauben an das Handeln Gottes in Christus beschreibt (vgl. bes. a.a.O., 236–243).

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Forderungen und Normen gegenüber, deren Plausibilität aufgrund veränderter kognitiver, enzyklopädischer und lebensweltlicher Bedingungen nicht (mehr) evident ist. Unter diesen Umständen würde eine bloße Forderung zum Gesetz, bei dem nicht mehr nach dem Warum und Wozu gefragt werden darf, sondern das als solches zu halten ist. Im hermeneutischen Vorgang der Plausibilisierung ethischer Urteile und Normen werden in den verwendeten sprachlichen Metaphern selbst verschiedene Ebenen der jeweiligen Begründungszusammenhänge mit theologischen, christologischen, ekklesiologischen usw. Aussagen abgebildet. Ethische Urteile, Forderungen und Mahnungen müssen also nicht nur theoretisch argumentativ begründet werden. Sie müssen auch im Unterschied zu dogmatischen Aussagen lebensweltlich plausibilisiert werden, wenn sie denn zu einem konkreten Handeln motivieren wollen. Anders gesagt: Eine Verhaltensnorm, die lebensweltlich – und damit auch ekklesiologisch – plausibel gemacht wird, hat eine größere Aussicht akzeptiert zu werden als ein Imperativ, der auf bloßen Gehorsam hin ausgerichtet ist. Durch das bisher Gesagte legt sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Ethik als einer zu begründenden Theorie christlichen Lebens einerseits und konkreten ethischen Urteilen und Handlungen andererseits nahe. Zwischen den auf einer bestimmten Theorie beruhenden Urteilen und den dann tatsächlich lebensrelevant werdenden Handlungen ist deshalb zu differenzieren, weil de facto nicht jedes notwendige Urteil auch zu den entsprechend konsequenten Handlungen führt. Das wiederum hängt mit der Komplexität der Lebenswirklichkeit zusammen, in der theoretische Grundsätze nicht immer adäquat umgesetzt werden können, weil dem andere Kräfte entgegenwirken.15 Das Problem, welches hinter solchen Überlegungen steht, ist die Frage nach der Normativität ethischer Aussagen bzw. der Performativität ihres sprachlichen Ausdrucks. Wenn es stimmt, dass ein zentrales Anliegen der Pastoralbriefe bzw. insbesondere des 1Tim die Etablierung und Konsolidierung differenzierter Gemeindestrukturen ist und dass in diesem Kontext entsprechende ethische Konkretionen im Hinblick auf das Verhalten in der Gemeinde und den Umgang mit alten und neuen Problemen erforderlich sind, dann muss man davon ausgehen, dass die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Gemeinden diesen neuen Strukturen noch nicht oder noch nicht hinreichend entspricht. Die recht ausführlichen Anforderungen etwa an das Amt des Bi15

Paulus etwa thematisiert diese Diskrepanz sehr eindrücklich in dem nach wie vor umstrittenen Kapitel Röm 7, vgl. J. HERZER , „Worin es schwach war durch das Fleisch“ (Röm 8,3). Gesetz und Sünde im Römerbrief – oder: Das Ringen des Paulus um eine neue Identität, in: M. Konradt/E. Schläpfer (Hgg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. Internationales Symposium in Verbindung mit dem Projekt Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT) 17.–20. Mai 2012, Heidelberg, WUNT 322, Tübingen 2014, 219–247.

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schofs und die persönliche Integrität der Amtsträger, wie sie in 1Tim 3 formuliert sind, lassen darauf schließen, dass es hier bereits einschlägige negative Erfahrungen mit der Amtsführung gegeben hat. Diese rühren offenbar aus einer Unklarheit normativer Aspekte hinsichtlich der Eignung von Kandidaten her, die ein solches anspruchsvolles Amt bzw. eine solche gemeindeleitende Aufgabe anstreben (1Tim 3,1). Mit seinem Brief will der Autor derartige Unsicherheiten in Gestalt von Anweisungen unter dem Namen des Apostels Paulus klären und damit feste Normen etablieren. Damit werden aber zugleich – wie noch zu zeigen sein wird – Strukturen gefestigt, die wiederum eine Abgrenzungs- und Schutzfunktion gegen Tendenzen haben sollen, die man nicht oder nicht länger als Teil der eigenen, als paulinisch definierten Tradition verstehen kann oder will. Aus diesem Grund sind in den Pastoralbriefen und namentlich im 1Tim Ekklesiologie, Ethik und Gegnerpolemik eng miteinander verbunden. Interessanterweise werden aber nicht inhaltliche Auseinandersetzungen in theologischen Argumentationen geführt, wie das etwa in den Gemeindebriefen des Paulus der Fall ist. Vielmehr korrespondiert die Bedeutung ethischer Ansprüche hinsichtlich der Gemeinde und ihrer Amtsträger mit der ethischen bzw. moralischen Diskreditierung der Gegner, ein Aspekt, der vor allem im Titusbrief auffällt (Tit 1,10–16, mit besonderem Akzent auf dem jüdischen Hintergrund der Denunzierten: μάλιστα οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς, 1,10, s.u. 2.1). Dabei ist sowohl mit Blick auf listenartige Aufzählungen ethischer Anforderungen als auch hinsichtlich der sog. Lasterkataloge zu beachten, dass die Fülle der aufgeführten Dinge nicht im Einzelnen normativ ist bzw. die Gegner damit nicht sachgemäß beurteilt werden. Vielmehr sind solche Listen entweder Teil der Plausibilisierungsstrategie des Normativen oder Teil der Polemik, deren Proprium das Überzogene und Übertriebene darstellt. Fragen wir vor diesem Hintergrund speziell nach der Funktion und Bedeutung metaphorischer Sprache in ethischen Zusammenhängen, dann lassen sich auch für den Bereich des Metaphorischen einige methodische Aspekte hervorheben. Wichtig ist zunächst festzustellen, dass es in den Texten nicht um die Metaphorik als solche geht, sondern dass diese dem jeweiligen Sachzusammenhang funktional zu- bzw. untergeordnet ist. Das aber bedeutet zunächst nur, dass das Verstehen einer Metapher nicht identisch ist mit dem Verstehen des Sachzusammenhanges, insofern die Metapher das Verstehen des Sachzusammenhanges durch Veranschaulichung lediglich unterstützen soll. Das liegt daran, dass eine Metapher entweder ein Mehr oder auch ein Weniger an Bedeutungsgehalt besitzen kann, als zum Verstehen eines Sachzusammenhanges erforderlich ist.16 Ein Beispiel dafür – auf das noch einzu16

Vgl. dazu bereits die vielzitierte Bemerkung Hegels: „Die Metapher aber ist immer eine Unterbrechung des Vorstellungsganges und eine stete Zerstreuung, da sie Bilder erweckt und zueinanderstellt, welche nicht unmittelbar zur Sache und Bedeutung gehören

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gehen sein wird – ist etwa das in ethischer Absicht verwendete Bild des Hauses für die Gemeinde in 2Tim 2,20, das sich signifikant von der Metapher der Gemeinde als Haus Gottes in 1Tim 3,15f. unterscheidet. Im Mehrwert einer Metapher bzw. in deren möglicherweise unzureichenden Anschaulichkeit liegt letztlich jedoch auch ein Problem der Verwendung metaphorischer Sprache, insofern auch überschüssige Bedeutungsgehalte oder naheliegende, aber vielleicht nicht beabsichtigte Assoziationen in das Verstehen des Sachzusammenhanges integriert werden und dieser sich dadurch verändert. Dieses Problem ist letztlich ein Kommunikationsproblem zwischen Autor und Rezipient eines metaphorischen Textes und der intersubjektiven Verständigung auf die Grenzen der Metapher hinsichtlich ihres Aussagewertes für den zu veranschaulichenden Sachverhalt.17 Aufgrund des lebensweltlichen Bezugs von Metaphern bei gleichzeitiger Inkongruenz 18 zu lebensweltlicher Erfahrung, Wissen, des kulturellen Horizonts bzw. der Enzyklopädie von Autor und Rezipient verändert sich die metaphorisch zur Sprache gebrachte Sache mit dem durch veränderte lebensweltliche Bedingungen bestimmten Verständnishorizont der Metapher. In dieser Überlegung spiegelt sich die metapherntheoretische Unterscheidung zwischen Substitutionstheorie und Interaktionstheorie. Während die Erstere die Metapher unter dem Kriterium der Analogie nur als Ersatz für das „eigentlich“ Bezeichnete versteht,19 geht Letztere davon aus, dass die Bedeutung der Metapher nicht im und daher ebenso sehr auch von derselben fort zu Verwandtem und Fremdartigem herüberziehen“ (G.W.F. HEGEL, Ästhetik, in: Werke in 20 Bänden, XIII, bearb. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Frankfurt 51997, 523). 17 R. ZIMMERMANN benennt dies als „offene Sinndynamik der Sprachbilder“, vgl. DERS., Bildersprache verstehen oder Die offene Sinndynamik der Sprachbilder, in: DERS., Bildersprache verstehen (s. Anm. 6), 13–54, oder auch „Polyvalenz der Sprachbilder“ (DERS., Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis. Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt, WUNT II/122, Tübingen 2001, 35). 18 Vgl. KURZ, Metapher (s. Anm. 3), 25: „Im Unterschied zur nichtmetaphorischen Prädikation ist es für die Metapher wesentlich, daß semantische Inkongruenzen nicht getilgt werden, sondern gegenwärtig bleiben.“ 19 Arist.po. 21 (1457b): μεταφορὰ δέ ἐστιν ὀνόματος ἀλλοτρίου ἐπιφορά. Die Metapher, so definiert Aristoteles, „ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie. [...] Unter einer Analogie verstehe ich eine Beziehung, in der sich die zweite Größe zur ersten ähnlich verhält wie die vierte zur dritten. Dann verwendet der Dichter statt der zweiten Größe die vierte oder statt der vierten die zweite; und manchmal fügt man hinzu, auf was sich die Bedeutung bezieht, für die das Wort eingesetzt ist. So verhält sich z.B. eine Schale ähnlich zu Dionysos wie ein Schild zu Ares; der Dichter nennt also die Schale ‚Schild des Dionysos‘ und den Schild ‚Schale des Ares‘. Oder das Alter verhält sich zum Leben, wie der Abend zum Tag; der Dichter nennt also den Abend ‚Alter des Tages‘, oder, wie Empedokles, das Alter ‚Abend des Lebens‘ oder ‚Sonnenuntergang des Lebens‘. In manchen Fällen fehlt eine der Bezeichnungen, auf denen die Analogie beruht; nichtsdes-

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Ersatz von Worten und deren Bedeutungsgehalten liegt, sondern in deren Interaktion innerhalb eines Sprechaktes. Der Begriff der Interaktion wurde bereits 1936 von Ivor Armstrong Richards eingeführt.20 Auch der Gießener Literaturwissenschaftler Gerhard Kurz greift diesen Begriff auf und erklärt, dass „wörtlich […] wie metaphorisch keine Eigenschaft eines Worts oder Satzes an sich [ist], sondern eine Eigenschaft von Äußerungen.“ Somit werde ein Satz wörtlich bzw. metaphorisch verstanden, besitzt diese Eigenschaft allerdings nicht selbst.21 Außerdem sei die Bedeutung einer Äußerung laut Kurz immer in relativer Beziehung zur jeweiligen Sprechsituation einzuordnen: „Stets muss man den ganzen Sprechakt vor Augen haben, um eine Äußerung als metaphorische verstehen zu können.“22 toweniger verwendet man den analogen Ausdruck“ (zit. nach Aristoteles, Poetik. Griechisch/deutsch, übers. u. hg. v. M. Fuhrmann, Bibliografisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994). Vgl. KURZ, Metapher (s. Anm. 3), 12: „Eine Metapher verstehen heißt hier [sc. in der aristotelischen Substitutionstheorie, JH]: die Metapher durch das richtige Wort ersetzen, also Abend des Lebens durch Alter.“ 20 Vgl. I.A. RICHARDS, Die Metapher (1936), in: A. Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, 31–52, 34: „Auf die einfachste Formulierung gebracht, bringen wir beim Gebrauch einer Metapher zwei unterschiedliche Vorstellungen in einen gegenseitigen aktiven Zusammenhang, unterstützt von einem einzelnen Wort oder einer einzelnen Wendung, deren Bedeutung das Resultat der Interaktion beider ist.“ 21 Vgl. KURZ, Metapher (s. Anm. 3), 14: „Aber wörtlich ist wie metaphorisch keine Eigenschaft eines Wortes oder Satzes an sich, sondern eine Eigenschaft von Äußerungen. Eine Äußerung ist das in einer bestimmten Situation Gesagte. Wir meinen oder verstehen einen gesprochenen Satz wörtlich oder metaphorisch. Dies hängt vom Kontext oder von der Situation ab, also vom Sprecher, vom Hörer, vom Schreiber, vom Leser, von der Sprechsituation, vom interessierenden Thema, vom gemeinsam geteilten Wissen über die Welt. Dieser Einsicht sucht die Interaktionstheorie Rechnung zu tragen [...] Die sprachliche Form wird als Teil und Funktion einer kommunikativen Situation behandelt. Es gibt keine sprachliche Bedeutung an sich, sondern nur in bestimmten Situationen, für bestimmte Sprecher und Hörer, für bestimmte Absichten [...] So muß die metaphorische Bedeutung nicht [wie bei Aristoteles und Quintilian, JH] als Eigenschaft der syntaktisch-semantischen Einheit Satz, sondern als Eigenschaft einer Äußerung bestimmt werden. Mit einer Äußerung ist eine kommunikative Situation gegeben, nach der erst entschieden werden kann, ob ein Ausdruck metaphorisch gemeint ist oder nicht.“ 22 KURZ, Metapher (s. Anm. 3), 18. Der Bedeutung des Kontextes für das Verstehen von Metaphern war sich freilich auch der von Aristoteles beeinflusste Quintilian bereits bewusst, vgl. inst. VIII 3,38: „Ein Urteil über übertragene Ausdrücke läßt sich nur im zusammenhängenden Text gewinnen (translatio probari nisi in contextu sermonis non possunt).“ Der Gedanke der kontextuellen Interaktion metaphorischer Äußerungen führt mich noch einmal zurück zu den Begriffen Normativität und Performanz. Beide sind für das Thema metaphorische Ethik von besonderer Bedeutung, weil sich damit der normative Anspruch ethischer Texte mit der oft beschworenen Performanz metaphorischer Rede verbindet. Diese Verbindung scheint ebenso einfach wie subtil zu sein: Der normative Anspruch einer ethischen Aussage wird insofern durch die metaphorische Sprache verstärkt, als durch die in Anspruch genommene Performanz der Sprache das intendierte

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Um eine solche interaktionale Perspektive geht es im Folgenden bei der Untersuchung metaphorischer Sprache für die Ethik der Pastoralbriefe, und zwar mit Blick auf die ethische Kontextualisierung der entsprechenden Aussagen bzw. – um mit Kurz zu sprechen – „der Äußerungen“, wie sie in den Texten fixiert sind. Nur so können Dynamik, Tragweite und Grenzen von Metaphern gleichermaßen deutlich werden. Exemplarisch werden drei Passagen ausgewählt, in denen Metaphern in ethischer Absicht verwendet werden und gleichzeitig der Zusammenhang von Ethik und Ekklesiologie anschaulich wird.

2. Die Funktion von Metaphern für die Plausibilisierung von Gruppenprozessen – Tit und 2Tim 2.1 Die Kreterpolemik im Titusbrief als moralisches Problem Die wohl prägnanteste Metapher der Pastoralbriefe findet sich in Tit 1,12: „Die Kreter sind allzumal Lügner, böse Tiere, faule Bäuche.“ Diese Äußerung hat eine klare polemische Funktion im Kontext des Titusbriefes und greift wahrscheinlich – manche behaupten sogar in hexametrischer Form – ein Bonmot des Philosophen Epimenides von Kreta auf, „ihr eigener Prophet“, wie der Autor betont: „(10) Denn viele sind nicht (bereit zu) Unterordnung, (sind) Schwätzer und Eingebildete, insbesondere die aus der Beschneidung, (11) denen man das Maul stopfen muss, welche ganze Häuser durcheinander bringen, indem sie lehren, was nicht sein darf, (nur) um schändlichen Gewinnes willen. (12) Einer von ihnen hat gesagt, (und sich damit als) ihr eigener Prophet (erwiesen): „Kreter sind allezeit Lügner, böse Tiere, faule Bäuche.“23 (13) Dieses Zeugnis ist wahr. Aus diesem Grund überführe sie scharf, damit sie gesunden im Glauben (14) und sich nicht an jüdische Legenden und Gebote von Menschen halten, die sich von der Wahrheit abgewendet haben. (15) Den Reinen (ist) alles rein; denen aber, die befleckt und ungläubig sind, ist nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihr Verstand als auch ihr Gewissen. (16) Sie beteuern, Gott zu kennen, aber mit ihren Werken verleugnen sie (ihn); denn sie sind abscheulich und ungehorsam und unfähig zu irgendeinem guten Werk.“ (Tit 1,10–16)

Der in diesem Kontext durchaus überraschende Satz über die Kreter ist das, was man mit Quintilian eine „kühne Metapher“ nennen könnte: audaci et proxime periculum (inst. VIII 6,11). Kennzeichen einer solchen Metapher ist, dass sie die „ungewohnte Spannung zwischen Bild- und Sachbereich [...] auf

ethische Ziel plausibilisiert und dadurch seine Umsetzung bereits „auf den Weg gebracht“ wird. 23 Zur hexametrischen Form des Zitats vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 171990, 487,1.

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das Äußerste“ strapaziert.24 Johannes Hartl spricht in diesem Zusammenhang von einer „semantische(n) Impertinenz, die den Hörer zwingt, [an] eine Verbindung von zwei bislang unverbundenen Konzepten zu denken“, wobei „das Maß dieser Provokation [...] sehr unterschiedlich sein“ könne.25 Die Verschiedenheit der provokativen Wirkung kann dabei auch mit Blick auf die Rezipienten differenziert werden. Wer etwa das Kreter-Sprichwort kennt, wird weniger provoziert sein als jemand, der zum ersten Mal mit seiner drastischen Metaphorik konfrontiert wird. Auch könnte der Adressat des Briefes, der ja selbst nicht in die Menge der „Kreter“ gehört, mehr entsetzt sein als diese selbst, etwa weil er damit eine Grenze des Anstandes überschritten sieht und der Autor ihn den Adressaten gegenüber in eine missliche Lage bringt.26 All das wissen wir natürlich nicht, aber diese Überlegungen machen deutlich, dass der Autor einen guten Grund gehabt haben muss, um so deutlich vor bestimmten Personen zu warnen und zugleich in Kauf zu nehmen, den Empfänger dadurch in eine möglicherweise problematische Situation zu bringen, die dem Anliegen des Briefes sogar entgegenwirken könnte. Die ethische Relevanz der Kreter-Aussage und der darin verwendeten Metaphern wird daran erkennbar, dass die Polemik insgesamt in einen ekklesiologischen Kontext eingebunden ist und unter dieser Voraussetzung sowohl auf das Verhalten der so Diffamierten als auch ihre moralische Integrität abzielt. Obwohl sie selbst das Gegenteil behaupten, erweisen ihre Werke, dass sie sich von der Wahrheit und damit von Gott abgewendet haben und generell zu keinem guten Werk in der Lage sind. Kurz: Sie sind „abscheulich und ungehorsam“ (Tit 1,14–16). Man kann – wie schon angedeutet – unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob ein solcher polemischer Ausbruch eine positive Wirkung für die Gemeinten haben kann. Dies umso mehr, als gerade die Metaphorik des Kreter-Sprichwortes die Härte der Polemik noch verstärkt. Zu fragen ist daher nach der rhetorischen Funktion der Metaphorik innerhalb dieser Polemik. Klar ist, dass es sich um eine moralische Diffamierung handelt. Dies wird durch den pauschalen Hinweis auf die Unfähigkeit zu 24 P. LÖSER, Art. Metapher I. Literaturwissenschaftlich, RGG4 (2002), 1165f., 1165. Vgl. dazu H. WEINRICH, Semantik der kühnen Metapher, in: Haverkamp (Hg.), Theorie (s. Anm. 20), 316–339 (zuerst in: DVfLG 37 [1963], 324–344). 25 HARTL, Metaphorische Theologie (s. Anm. 6), 227. 26 Das hängt freilich auch davon ab, ob der Tit als Brief an einen Mitarbeiter diesen allein adressiert oder ob er als fiktives Schreiben für einen größeren Adressatenkreis bestimmt ist. Unter fiktivem Vorzeichen bleibt Letzterer so vage, dass die Polemik eine rein literarische Funktion erhält und ihre Wirkung offenbar in Gruppen entfalten müsste, die keinesfalls Kreter sein können, sodass letztlich auch die Angabe „Kreta“ in Tit 1,5 nur als Chiffre fungiert und entsprechend in der Auslegung nicht weiter als relevant erachtet wird bzw. einige Probleme aufwirft; vgl. dazu z.B. L. OBERLINNER, Die Pastoralbriefe, III: Kommentar zum Titusbrief, HThKNT XI/2,3, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 1996, 21f.

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guten Werken bzw. durch die Bemerkung über Reinheit und Unreinheit (V. 15) unterstrichen. Hinzu kommt die Kontrastierung des Verhaltens dieser Leute mit den haustafelähnlichen Ausführungen über das rechte Verhalten verschiedener Gruppen in der Gemeinde, wie sie in 2,1–10 unmittelbar auf den polemischen Teil folgen. Diese Anweisungen korrespondieren mit den Ausführungen über die Presbyter-Episkopen in 1,5–9, die in entsprechender Weise zu Lehre und Mahnung in der Lage sein und bestimmten ethischen Anforderungen genügen müssen. Aufgrund dieser Struktur stellt sich erneut die Frage nach der Funktion der eingeschobenen Polemik und der Metaphorik des Sprichwortes. Dazu ist – ob fiktiv oder realiter – die vorausgesetzte Situation zu berücksichtigen. Titus ist in seinem Auftrag auf Kreta offenbar mit Menschen konfrontiert, die den Bestand der Gemeinden gefährden. Der Autor verweist speziell auf Personen jüdischer Prägung („insbesondere die aus der Beschneidung“, 1,10), die aufgrund ihres Ungehorsams und Eigensinnes „ganze Häuser durcheinanderbringen“ und denen man deshalb „das Maul stopfen“ müsse (ἐπιστομίζειν, V. 11). Auch Letzteres ist eine anschauliche Metapher, die keinen Zweifel daran lässt, dass der Ungehorsam sich in einer bestimmten Art von Lehre ausdrückt, die dann in V. 14 als „jüdische Mythen und Menschengebote“ umschrieben wird. Das Interessante an der Kreter-Aussage ist nicht so sehr das viel verhandelte Paradox, dass ausgerechnet ein Kreter, der die Kreter der stetigen Lüge bezichtigt, selbst die Wahrheit sagen soll.27 Interessant ist vielmehr, dass die Aussage selbst sachlich und mit Blick auf die einzelnen Elemente nicht kohärent ist. Der im Sprichwort auf die Kreter bezogene Begriff „Lügner“ ist nämlich keine Metapher, sondern ein direktes Prädikat und korrespondiert unmittelbar mit der Aussage, die Betreffenden seien in ihren Lehren „von der Wahrheit abgewichen“. Da diese Abwendung von der Wahrheit mit der Hinwendung zu „jüdischen Mythen und Menschengeboten“ einhergeht, werden mit der Lügneraussage zugleich die entsprechenden Inhalte ihrer Lehre pauschal als grundfalsch beurteilt. Hinsichtlich der angefügten metaphorischen Aussagen „böse Tiere“ und „faule Bäuche“ wäre dann zu fragen, in welcher Weise sie auf den Begriff „Lügner“ bezogen sind, inwiefern sie ihn ergänzen und was sie über die so Bezeichneten aussagen. Die Voranstellung des Begriffes „Lügner“ scheint dabei so etwas wie eine Leitfunktion zu haben, sodass die anschließenden Metaphern hinsichtlich ihres Bedeutungsgehaltes von daher bestimmt werden. Diese Vermutung erhärtet sich durch zwei Überlegungen. Zum einen ist das „Propheten“-Zitat 27 Vgl. dazu A.C. THISELTON, The Logical Role of the Liar Paradox in Titus 1:12, 13. A Dissent from the Commentaries in the Light of Philosophical and Logical Analysis, BibInt 2 (1992), 207–223; M. VOGEL, Die Kreterpolemik des Titusbriefes und die antike Ethnographie, ZNW 101 (2010), 252–266.

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in dieser Form nicht nachweisbar; es handelt sich um eines der wenigen Zitate aus der klassischen antiken Literatur im Neuen Testament, das von Clemens von Alexandrien und Hieronymus dem vorsokratischen Philosophen und Orakelpriester Epimenides von Kreta bzw. Phaistos (6./5. Jh. v. Chr.) zugeschrieben wurde.28 Doch das ist ganz unsicher und wohl aus verschiedenen Elementen der Tradition heraus konstruiert.29 Wohl aber ist zum anderen das Lügenmotiv sprichwörtlich mit den Kretern verbunden. Im Hymnus des Kallimachos (3. Jh. v. Chr.) an Zeus begegnet bereits der Topos als Zitat (In Jovem 8): Κρῆτες ἀεὶ ψεῦσται, der zurückgeführt wird auf die Behauptung der Kreter, das Grab des Zeus befinde sich auf ihrer Insel; von Epimenides ist dabei nicht die Rede.30 Plutarch kennt schließlich auch das Wort κρητίζειν im Sinne von „lügen“ (Aemilius Paullus 23,10)31, und nach dem Historiker Polybios (ca. 200–120 v. Chr.) sind die Kreter im privaten wie im öffentlichen Leben als „verschlagen/hinterlistig“ (δόλιος) bekannt (Historiae VI 47,5).32 Die Metapher der Bösartigkeit von Tieren33 unterstreicht daher die zerstörerische Wirkung der Lüge bzw. konkret der „jüdischen Mythen“, mit denen die Angesprochenen ganze Hausgemeinden vom rechten Glauben abbringen. Dies wird möglicherweise dadurch besonders anschaulich, dass Kreta als eine Insel gilt, auf der es keine gefährlichen wilden Tiere gibt (vgl. Plin.nat.hist. 8,83; Plut.mor. 86c).34 Die Metapher greift also über den konkreten Lebenskontext hinaus und ruft Assoziationen auf, die eher mit Abbildungen wilder Tiere im Kontext von Tierkämpfen zu tun haben und von da28 Vgl. Plut.Sol. 12,9. Hieronymus nennt konkret die Schrift De oraculis/περὶ χρησμῶν – Über die Orakelsprüche; vgl. Clem.Al.strom. I 59,2; Hier.comm.Tit. VII 706 (PL 26, 571–572). Zu den wenigen erhaltenen Fragmenten des Epimenides s. H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker I, hg. v. W. Kranz, Berlin 101961, 27–37. 29 Der „Liebling der Götter“ (θεοφιλής), wie Epimenides bei Plutarch (ca. 46–120 n. Chr.) genannt wird (Sol. 12,7), war als einer der sieben Weisen des Altertums bekannt (Plutarch, ebd.; vgl. Clem.Al.strom. I 59,2). Platon (428–349 v. Chr.) weiß von prophetischen Aktivitäten des Epimenides zu erzählen, der die Invasion der Perser und den Sieg Athens voraussagte (Plato leg. I 642d). 30 Zitiert bei Athenag.suppl. 30,3; vgl. auch Anthologia Graeca VII 275. Vgl. ferner die weiteren Belege bei M. DIBELIUS/H. CONZELMANN, Die Pastoralbriefe, HNT 13, Tübingen 4 1966, 102f. 31 So lautet auch die Worterklärung von κρητίζειν im Lexikon des Hesychios k 4086 (5. oder 6. Jh. n.Chr.); für weitere Belege s. Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, hg. v. G. Strecker/U. Schnelle, unter Mitarbeit von G. Selig, Teilband 2, Berlin/New York 1996, 1022. 32 Weitere Belege für die negativen Vorurteile gegen die Kreter vgl. Neuer Wettstein (s. Anm. 31), 1018–1023; vgl. auch VOGEL, Kreterpolemik (s. Anm. 27), passim. 33 DIBELIUS/CONZELMANN, Pastoralbriefe (s. Anm. 30), 102, übersetzen: „Bestien“. 34 Vgl. G.M. WIELAND, Roman Crete and the Letter to Titus, NTS 55 (2009), 338–354, 347.

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her als besonders schrecklich gelten konnten, da es dabei um Leben und Tod geht. Die Kreter selbst übernehmen die bedrohliche Funktion der wilden Tiere, die als solche natürlicherweise auf der Insel nicht vorkommen.35 In diesen Duktus passt die Metapher der „faulen Bäuche“ nicht recht hinein, weil damit eine andere Assoziation verbunden ist. Diese in sich bereits provokante Metapher reduziert die Betroffenen auf ihren Bauch und lässt die Assoziation zu, es gehe ihnen ausschließlich und allein um ihren eigenen materiellen Vorteil (vgl. V. 11: „um schändlichen Gewinnes willen“; vgl. auch Phil 3,18f. über die „Feinde des Kreuzes Christi“: „Ihr Gott ist ihr Bauch, und ihre Ehre besteht in der Schande, sie sind irdisch gesinnt“). Demgegenüber ist der Ausweis eines Episkopen unter anderem, dass er gerade nicht gewinnsüchtig ist (1,7). Interessanterweise wird eine vergleichbare Einschätzung ebenfalls von Polybios bezeugt: Die Kreter seien die einzigen in der Welt, in deren Augen kein Gewinn schändlich ist (παρὰ μόνοις Κρῆται εἰσι τὸν ἁπάντων ἀνθρώπων μηδὲν αἰσχρὸν νομίζεται κέρδος, VI 46,3). Auch hier wird also im Tit mit einem Klischee gearbeitet. Und wie im Fortgang des Briefes in Tit 2 die Kreterpolemik mit entsprechenden Tugendlisten kontrastiert wird, so verbindet auch Polybios seine Bemerkung über die Gewinnsucht mit dem Hinweis auf die wahren griechischen Tugenden.36 Allerdings wird man angesichts des polemischen Kontextes in Tit 1 davon ausgehen müssen, dass die Metapher dadurch ihre Grenze erreicht, dass der assoziative Mehrwert deutlich über die eigentliche rhetorische Absicht hinausgeht.37 Die Metaphern „böse Tiere“ und „faule Bäuche“ dienen in ihrer drastischen Anschaulichkeit der Übertreibung und haben daher eine ausschließlich rhetorische Funktion innerhalb des polemischen Arguments. Ein sprichwörtliches Klischee wird relativ unreflektiert funktionalisiert.38 Darin liegt letztlich auch die Kühnheit der Metapher, mit der die Eindrücklichkeit der Warnung vor diesen Menschen unterstrichen wird. Auch wenn die positive Wirkung dieser Kühnheit eher fraglich ist, so enthält sie doch in ihrer Übertreibung zugleich eine Art Erklärung der Lage: Dass es Menschen gibt, die derart der Wahrheit widerstehen, muss zumal auf Kreta nicht verwundern, ja, man muss sogar damit rechnen, da die Kreter bereits einen entsprechend üblen Ruf haben. Zugleich jedoch wird man aus der rhetorischen Struktur des 35

Vgl. J. QUINN, The Letter to Titus. A New Translation with Notes and Commentary and An Introduction to Titus, I and II Timothy, The Pastoral Epistles, AB 35, New York 1990, 108; P.H. TOWNER, The Letters to Timothy and Titus, NICNT, Grand Rapids/ Cambridge 2006, 701. 36 Vgl. R.M. KIDD, Titus as Apologia: Grace for Liars, Beasts, and Bellies, HBT 21 (1999), 185–209, 191. 37 Aus diesem Grund geht die Interpretation von KIDD, a.a.O., viel zu weit, indem ausgehend von dem Zitat in Tit 1,12 der kretische Zeusmythos extensiv als direkter Hintergrund für den Titusbrief herangezogen wird. Das lässt sich im Tit nicht verifizieren. 38 Vgl. VOGEL, Kreterpolemik (s. Anm. 27), passim.

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Textes schließen können, dass dem Autor an einer konkreten sachlichen Argumentation nicht gelegen ist und dass er weder jene so klischeehaft diffamierten Kreter noch die kretischen Gemeinden persönlich kennen wird. 2.2 „Gefäße zur Ehre und Unehre“ – Zusammenleben in der Gemeinde nach dem 2Tim Ein weiteres Beispiel für eine ethische Aussage, die metaphorisch formuliert wird, findet sich im 2Tim, wobei hier eher der Begriff des Bildes angemessen ist. Innerhalb der Pastoralbriefe wird diesem Brief aufgrund seines literarischen Charakters als eines Testaments oder Vermächtnisses39 eine Sonderstellung zugestanden, die unter anderem darin besteht, dass das Thema der Ekklesiologie keine besondere Rolle spielt. Um freilich die Kohärenz des Corpus Pastorale festzuhalten, wird 2Tim 2,20f. im Sinne einer ekklesiologischen Metapher interpretiert, die im Grunde denselben Gedanken von der Gemeinde als „Haus Gottes“ zum Ausdruck bringe, wie er in 1Tim 3,15f. entfaltet wird.40 Doch wie sich zeigen wird, ist nicht nur die Metaphorik und die entsprechende Sachaussage in 2Tim 2 eine andere als in 1Tim 3, sondern auch die Funktion innerhalb der Gesamtargumentation unterscheidet sich in signifikanter Weise, sodass das eine Konzept nicht mit dem anderen kompatibel ist.41 Sehen wir also – und sei es aus methodischen Gründen – zunächst einmal von der These ab, in 2Tim 2 und 1Tim 3 lägen dieselben ekklesiologischen Metaphern und Konzepte vor. Das legt schon die unterschiedliche Begrifflichkeit nahe. Während in 2Tim 2,20 der Begriff οἰκία als Bildfeld entfaltet wird, spricht 1Tim 3,15 konkreter vom οἶκος θεοῦ, ohne dies näher zu differenzieren. Schon aus lexikalischen Gründen ist also Vorsicht geboten, beide Begriffe im Prinzip als Synonyme zu behandeln, ganz abgesehen davon, dass die οἰκία-Bildwelt von 2Tim 2,20 allegorische Züge trägt, während das Syntagma οἶκος θεοῦ in 1Tim 3,15 eine Metapher im eigentlichen Sinn darstellt, indem – wie zu zeigen sein wird (s.u. 3.) – spezifische Aspekte und Bedeutungsgehalte auf die Gemeinde übertragen werden. Sachlich und terminolo-

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Vgl. A. WEISER, Freundschaftsbrief und Testament. Zur literarischen Gattung des Zweiten Briefes an Timotheus, in: G. Riße (Hg.), Zeit-Geschichte und Begegnungen (FS B. Neumann), Paderborn 1998, 158–170. 40 Vgl. z.B. ROLOFF, Kirche (s. Anm. 8), 250: „Das Bild des Hauses, die zentrale ekklesiologische Metapher der Pastoralbriefe, hat nicht das Haus als Bauwerk, sondern vielmehr als gegliederte und nach bestimmten Regeln geordnete soziale Grundstruktur im Blick.“ Vgl. zur konzeptionellen Bedeutung D.G. HORRELL, From ἀδελφοί to οἶκος θεοῦ: Social Transformation in Pauline Christianity, JBL 120 (2001), 293–311; L. FATUM, Christ Domesticated: The Household Theology of the Pastorals as Political Strategy, in: J. Ådna (Hg.), The Formation of the Early Church, WUNT 183, Tübingen 2005, 175–207. 41 Vgl. dazu HERZER, Rearranging the „House of God“ (s. Anm. 9), passim.

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gisch empfiehlt sich daher die Unterscheidung der οἶκος θεοῦ-Metapher in 1Tim 3,15 vom οἰκία-Bild in 2Tim 2,20. „(16) An gottlosem, leeren Gerede aber beteilige dich nicht, denn (solche Leute) werden immer mehr fortschreiten zur Gottlosigkeit, (17) und ihr Wort wird sich verhalten wie ein wucherndes Geschwür. Unter denen sind Hymenaios und Philetos, (18) welche – was die Wahrheit angeht – vom Weg abgekommen sind, wenn sie sagen, die Auferstehung sei schon geschehen und (auf diese Weise) den Glauben einiger durcheinander bringen. (19) Der solide Grund Gottes jedoch steht (fest) und hat folgendes Siegel: „Der Herr kennt die Seinen“, und: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, halte sich fern von Ungerechtigkeit!“ (20) In einem großen Haus aber gibt es nicht nur goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und tönerne, das eine zur Ehre, das andere aber zur Unehre. (21) Wenn nun jemand sich selbst rein hält von (dem Umgang mit) solchen (Leuten), wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, brauchbar für den Hausherrn, bereitet für jedes gute Werk.“ (2Tim 2,16–21)

Der Kontext von 2Tim 2,20 ist zunächst hinsichtlich der entfalteten Bildwelt des Hauses recht einfach. Es geht nicht um eine ekklesiologische Struktur oder ein ekklesiologisches Konzept, sondern um die Veranschaulichung eines Problems, das sich aus 2,16–19 ergibt. Verhandelt wird ein innergemeindlicher theologischer Konflikt, bei dem anhand des Bildes vom Haus und seiner Ausstattung deutlich gemacht wird, dass nicht jeder in der Gemeinde positiv zu deren Wachstum und Reputation beiträgt. Das Problem wird dabei auf zwei konkrete Personen, Hymenaios und Philetos, bzw. deren Lehre (ὁ λόγος) fokussiert, die Auferstehung sei schon geschehen (2,17f.). Unabhängig davon, ob damit die Auffassung der beiden Genannten angemessen wiedergegeben oder damit – unter pseudepigrapischen Vorzeichen – überhaupt ein echter Konflikt mit realen Personen im Blick ist, beschreibt die in 2,17 verwendete Metapher eines wuchernden bösartigen Geschwüres die Gefahr einer solchen Auffassung hinreichend anschaulich. In dem Maße, in dem diese Lehre wuchert und um sich greift, wird der Glauben der Gemeinde verwirrt (2,18c). Daraus folgt offenbar auch eine bestimmte ethische Grundhaltung, auf welche das sich anschließende Bild des Hauses in besonderer Weise abzielt. Es geht also nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Frage der Auferstehung, sondern um die Integrität der Gemeinde, die dem „Hausherrn“ (δεσπότης, gemeint ist Gott) zur Ehre gereichen soll, indem sie – im Unterschied zu den Auferstehungsleugnern – „zu jedem guten Werk bereit“ ist (2,21). Die ethische Absicht des Bildes ergibt sich vor allem aus dem Gegensatzpaar Ehre – Unehre, dem eine Schlüsselfunktion zukommt, sowie den damit verbundenen Begriffen wie „reinigen“ (ἐκκαθαρεῖν, 2,21; vgl. dasselbe in 1Kor 5,7); „geheiligt“ (ἡγιασμένον), „nützlich“ (εὔχρηστον) sowie dem Hinweis auf die „guten Werke“. Die Absicht erschöpft sich aber nicht in einer metaphorischen Bedeutung des Begriffes οἰκία selbst und der einfachen Identifikation der Gemeinde als Haus, sondern ruft ein ganzes Vorstellungsfeld auf, das mit dem Begriff asso-

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ziiert wird. Es geht um die Veranschaulichung der inneren Dynamik des Zusammenlebens und des Umganges miteinander. Zu diesem Zweck werden weitere, dem Begriff „Haus“ zugeordnete Aspekte aufgerufen, die sich auf in ihrem „Wert“ verschiedene Gegenstände des Hauses beziehen: goldene und silberne Gefäße auf der einen Seite, hölzerne und tönerne auf der anderen Seite, die edlen „zur Ehre“, die weniger edlen „zur Unehre“ (2Tim 2,20). Während alltagsweltlich unmittelbar einleuchtet, dass es in einem Haus unterschiedlich wertvolle Gefäße gibt, die entsprechend unterschiedliche Funktion haben, wird die Applikation auf die vorgegebene Situation der Gemeinde sofort problematisch. 42 Man ist nämlich durch die Einführung in diese Bildwelt des Hauses geneigt, die Differenzierungen allegorisch auf unterschiedliche Gruppen der Gemeinde zu beziehen, und das ist sicher auch die Intention des Autors. Aber das Ziel in der Auseinandersetzung mit den Auferstehungsleugnern ist ja, diese nicht einfach als weniger nützliche Gefäße zu beschreiben, sondern diese Haltung generell zu unterbinden und – so legt es der Begriff ἐκκαθαρεῖν nahe – aus dem „Haus“ der Gemeinde zu entfernen bzw. sich von ihnen zu distanzieren. Unterstrichen wird dies dadurch, dass der Begriff ἐκκαθαρεῖν derselbe ist, wie ihn Paulus in 1Kor 5,7 für den Gemeindeausschluss einer den Ruf der Gemeinde schädigenden Person verwendet. Allerdings ist der Text in 2Tim 2 nicht deutlich genug, um diese schroffe Konsequenz zu ziehen. Erst in 1Tim 1,20 wird dieses Paradigma des Gemeindeausschlusses im Anschluss an 1Kor 5,7 ausdrücklich angewendet werden, während 2Tim 2,25f. auf die Umkehr der „Abweichler“ innerhalb der Gemeinde ausgerichtet ist, und sie anders als in 1Kor 5,7 und 1Tim 1,20 nicht dem Satan übergeben werden, sondern „aus der Falle des Teufels“ herausfinden sollen.43 Vermutlich geht es auf der Bildebene in 2Tim 2 schlicht darum, dass in einem Haushalt edle und weniger edle Gefäße voneinander separat aufbewahrt werden, damit die edlen keinen Schaden nehmen oder verunreinigt werden und somit zu besonderen Anlässen brauchbar bleiben, während 42 Vgl. dazu z.B. L. OBERLINNER , Die Pastoralbriefe II: Kommentar zum zweiten Timotheusbrief, HThKNT XI/2,2, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 1995, 104–106. 43 Während die ältere Forschung zumeist auf einen Gemeindeausschluss deutet, vermuten z.B. A. WEISER, Der zweite Brief an Timotheus, EKK XVI/1, Düsseldorf u.a. 2003, 204, oder auch G. HÄFNER, „Nützlich zur Belehrung“ (2 Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption, HBS 25, Freiburg i. Brsg./Basel/ Wien u.a. 2000, 221, der gleichnishaft umschriebene Reinigungsprozess ziele vielmehr auf eine Zurechtbringung dieser Personen ab. Anders akzentuiert OBERLINNER, Pastoralbriefe II (s. Anm. 42), 105: Es werde „mit diesem Bild (vielleicht mit einem Anflug an Resignation?) ein Faktum in den Bereich des nicht weiter Verwunderlichen und eigentlich Selbstverständlichen gehoben“. Das von 2Tim 2,25 her vorauszusetzende Motiv der Umkehr schließt die Deutung aus, dass die Kirche lernen müsse, dauerhaft mit der Häresie zu leben, vgl. in diesem Sinne P. TRUMMER, Die Paulustradition der Pastoralbriefe, BET 8, Frankfurt/Bern 1978, 172.

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die anderen aus Holz und Ton für den alltäglichen Gebrauch bestimmt sind. Der Gegensatz von Ehre und Unehre ist ebenfalls vor diesem Hintergrund zu deuten. An dieser Stelle aber wird auch klar, dass die Metaphorik erneut – wie diejenige in Tit 1 – an ihre Grenzen gerät. Hölzerne und tönerne Gefäße werden durch die Separation ja nicht unbrauchbar, sondern sind lediglich anders nutzbar als goldene und silberne und sind daher – auch um des ehrenhaften Gebrauchs der wertvolleren willen – für den Alltagsgebrauch unverzichtbar. Die Metaphorik der einzelnen Bildteile geht also letztlich im Hinblick auf die Situation, die sie zu erhellen sucht, nicht auf, und zwar deshalb, weil menschliche Beziehungen und Konflikte offenbar komplexer sind als es Metaphern des Alltagslebens abzubilden vermögen. Das Bild des großen Hauses in 2Tim 2,20 lässt sich unter diesen Voraussetzungen jedenfalls nicht, wie die Metapher des „Hauses Gottes“ in 1Tim 3,15, auf „die Kirche als institutionelle Größe“44 deuten.

3. Die Funktion von Metaphern für Neucodierung von Gruppenidentitäten – der 1. Timotheusbrief Während das Bild des Hauses im 2Tim zur Veranschaulichung einer gruppeninternen Dynamik vor dem Hintergrund einer inhaltlichen Auseinandersetzung diente, hat die Metapher vom Haus Gottes in 1Tim 3 eine andere Intention. „(14) Dies schreibe ich dir in der Hoffnung, bald zu dir zu kommen. (15) Falls ich mich aber verspäte, (so schreibe ich dies,) damit du weißt, wie man sich im Haus Gottes verhalten muss, welches die Gemeinde des lebendigen Gottes ist, Säule und Grundfeste der Wahrheit. (16) Und als Bekenntnis hoch anerkannt ist das Geheimnis der Frömmigkeit: Der erschienen ist im Fleisch, wurde gerechtfertigt im Geist, ist erschienen den Engeln, wurde verkündet unter den (Heiden-)Völkern, hat Glauben gefunden45 in der Welt, wurde aufgenommen in Herrlichkeit.“ (1Tim 3,14–16)

Zunächst einmal ist auch hier der ekklesiologische Kontext deutlich. Die Metapher des „Hauses Gottes“ wird explizit auf die Gemeinde (ἐκκλησία, V. 15)46 bezogen und diese theologisch als Haus Gottes qualifiziert. Die ethische Absicht der Metapher ist dadurch angezeigt, dass es explizit um das Verhalten im Haus Gottes geht, auch wenn dies im unmittelbaren Kontext nicht weiter ausgeführt ist. Klar ist jedoch im Zusammenhang des gesamten Briefes, dass es um das rechte Verhalten innerhalb der ab Kap. 3 beschriebenen 44

OBERLINNER, Pastoralbriefe II (s. Anm. 42), 103. Vgl. BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF, Grammatik (s. Anm. 23), 312 (1). 46 Der Begriff ἐκκλησία findet sich innerhalb der Pastoralbriefe nur im 1Tim (3,5.15; 5,16). 45

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Strukturen geht, in denen der Episkopos (3,1–7) und die Diakone (3,8–13) als Teil eines Presbyteriums (4,14) offenbar die leitende Verantwortung für das Leben der Gemeinde und ihrer Belange tragen. Die so strukturierte Gemeinde hat als Haus Gottes zugleich die Funktion, „Säule und Grundfeste der Wahrheit“ zu sein. Anders als im 2Tim geht es also in der Hausmetapher um die Solidität der Gemeinde als Hort der Wahrheit, was durch die Begriffe „Säule“ und „Grundfeste/Fundament“ als der Festigkeit des Hauses dienende Elemente veranschaulicht wird. Die zu schützende Wahrheit, der das Verhalten der Einzelnen in der Gemeinde entsprechen soll, wird anschließend in Form eines Bekenntnisses zusammengefasst (3,16), bevor dann in 4,1–10 eine Warnung vor den Konsequenzen eines Abfalls von dieser Wahrheit folgt. Auch die weiteren ethischen Weisungen und Mahnungen bleiben auf die so definierte Wahrheit und die Funktion der Gemeinde für die Bewahrung dieser Wahrheit bezogen. Angesichts der traditionsgeschichtlichen Prägung des Begriffes „Haus Gottes“ könnte man fragen, ob es sich hier tatsächlich um eine Metapher im eigentlichen Sinn handelt. Einerseits bildet der Begriff „Haus“ in Verbindung mit den Begriffen „Säule“ und „Fundament“ ein metaphorisches Wortfeld, das – wie beschrieben – einen ekklesiologischen Zusammenhang veranschaulicht. Auf der anderen Seite ist aber der Begriff des Hauses näher bestimmt und theologisch qualifiziert durch den Genitiv θεοῦ, wodurch die Hausmetaphorik eine über die lebensweltlich-anschaulichen Aspekte hinausgehende Bedeutung erhält. Innerhalb der paulinischen Tradition ist das Syntagma οἶκος θεοῦ singulär. Daher ist – abgesehen von Belegen wie Heb 10,21 und 1Petr 4,17 – die alttestamentliche Prägung besonders signifikant, wonach οἶκος θεοῦ die selbstverständliche und in allen literarischen Schichten verbreitete Bezeichnung des Tempels ist.47 Paulus selbst verwendete konsequent den Begriff ναός bzw. 47

Vgl. z.B. Gen 28,17 (Bethel); Ex 23,19; 34,26; Dtn 23,19; Jos 9,23 (einschließlich der Gemeinde); 1Kön 5,17–19, 8,17–20; 1Chr 9,27; 22; 28; Esr 1–10; Neh 1–13; Ps 42,5; 52,10; 55,15; 84,11; 92,14; 135,2; Jes 2,3; Jer 35,4; Ez 10,19; 11,1.5; Dan 1,2; 5,3; Joel 1,13–16; Mi 4,2; Hag 1,14; Tob 14,7; Bar 3,24; vgl. weiterhin Mk 2,26; Lk 6,4. Zum Gebrauch der Metaphorik in Qumran vgl. 1QS 5,5f., wo die Metapher des Hauses ebenfalls verbunden ist mit der Vorstellung eines Fundamentes der Wahrheit: „[…] sie sollen beschneiden in der Gemeinschaft die Vorhaut des Triebes und die Halsstarrigkeit, um ein Fundament der Wahrheit für Israel zu legen für die Gemeinschaft eines ewigen Bundes, um Sühne zu schaffen für alle, die sich willig erweisen zum Heiligtum in Aaron und dem Hause der Wahrheit in Israel […]“ (Übers. zit. nach E. LOHSE, Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch, München 31981, 17); vgl. auch 1QS 8,9; 9,3–8, sowie B. GÄRTNER, The Temple and the Community in Qumran and the New Testament: A Comparative Study in the Temple Symbolism of the Qumran Texts and the New Testament, SNTS.MS 1, Cambridge 1965, 66, zu 1Tim 3,15: „a text reminiscent in certain of its forms of expressions of Qumran ideology […]“

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ναὸς θεοῦ als Metapher für die Gemeinde (1Κor 3,16f.; 2Κor 6,16; vgl. auch 1Κor 6,19 und 2Thess 2,4), verband damit aber ebenfalls ethische Weisungen, die sich aus der durch diese Metaphorik definierte Identität der Gemeinde ergeben. Im 1Tim erfährt diese paulinische Metapher von der Gemeinde als Tempel Gottes eine spezifische Transformation, indem zwar der Signifikant ναός durch den des οἶκος ersetzt wird, das Signifikat aber dasselbe bleibt. Der οἶκος-Begriff ermöglicht es, das auf die Ökonomie des antiken Hauses ausgerichtete ekklesiologisch-ethische Anliegen mit der bekannten paulinischen Metapher zu verbinden. Die Transformation ist ebenso einfach wie konsequent: Dem 1Tim ist offenbar nicht nur die Tempelmetaphorik aus 1 und 2Kor, sondern auch das οἰκία-Motiv des 2Tim bekannt.48 Beides erfährt in der Kombination eine spezifische Prägung im Zusammenhang der Ökonomie49- bzw. Ökodome50-Begrifflichkeit der paulinischen Tradition insgesamt. So wird aus dem die innere Dynamik der Gemeinde veranschaulichenden οἰκία-Bildfeld von 2Tim 2,20 im Zusammenhang mit der paulinischen Vorstellung von der Gemeinde als ναὸς θεοῦ bzw. θεοῦ οἰκοδομή die Vorstellung vom οἶκος θεοῦ in 1Tim 3,15, welche analog zu 2Kor 6,16 („Wir sind der Tempel des lebendigen Gottes“) die „Gemeinde des lebendigen Gottes“ metaphorisch abbildet. Dabei wird nicht mehr primär – wie bei Paulus – auf die Heiligkeit der Gemeinde abgehoben (vgl. 1Kor 3,17), aus der dann ethische Konsequenzen abgeleitet werden.51 Im 1Tim ist demgegenüber die Tempelmetaphorik auf die Strukturen der Gemeinde bezogen, die aus dem Tempel Gottes ein solides Haus zum Schutz der Wahrheit machen. Die Solidität dieses Hauses aber und damit auch die Fähigkeit zur Bewahrung der Wahrheit liegt im Verhalten und in der moralischen Integrität der Gemeindeleiter begründet. Das Verhalten der Gemeindeleiter muss der Funktion der Gemeinde als Haus Gottes und ihrer Funktion angemessen sein, um die als Bekenntnis (V. 16) überlieferte Wahrheit glaubwürdig zu bewahren. Daraus wird auch deutlich, dass der 1Tim nicht ein Brief ist, dessen Ermahnungen sich an die Gemeinde als Ganze richten, sondern der speziell die Verantwortungsträger und ihre moralische Integrität im Blick hat. Im Unterschied zur veranschaulichenden Funktion des οἰκία-Bildes im 2Tim wird im 1Tim mit der traditionsgeschichtlich geprägten und aktuell ekklesiologisch bedeutsamen Metapher von der Gemeinde als οἶκος θεοῦ die Identität der Gemeinde auf eine neue Weise bestimmt bzw. „codiert“. Sie wird mit Bedeutungsaspekten versehen, 48

Vgl. dazu HERZER, Rearranging the „House of God“ (s. Anm. 9), passim; ENGELUnzertrennliche Drillinge (s. Anm. 9), 195–198. 49 1Kor 4,1f.; 9,2; Gal 6,10; Kol 1,25; Tit 1,7; vgl. Eph 1,10; 3,2.9. 50 1Thess 5,11; 1Kor 3,9; 8,1.10; 10,23; 14,3–5.12.17.26; 2Kor 12,19; 13,10; Röm 14,19; 15,2.20; vgl. Eph 4,12.16.29. 51 Vgl. C. WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig 32011, 75; sowie CHR.G. MÜLLER, Gottes Pflanzung – Gottes Bau – Gottes Tempel. Die metaphorische Dimension paulinischer Gemeindetheologie in I Kor 3,5–17, FuSt 5, Fulda 1995.

MANN,

Metaphorische Ethik in den Pastoralbriefen

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denen ihre Ältesten entsprechen und genügen müssen, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Die Notwendigkeit dieser prägnanten Neubestimmung der Gemeindeidentität liegt in den zunehmenden Abgrenzungstendenzen gegenüber gnostischen oder prägnostischen Gruppen, wie sie im 1Tim von Anfang an bestimmend sind und auch am Schluss mit der Warnung vor den „Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis“ noch einmal ausdrücklich benannt werden.52 Aufgrund seiner metaphorischen Funktion für eine konstruktive Neucodierung der Gruppenidentität könnte man das Syntagma οἶκος θεοῦ im Anschluss an Blumenberg eine „absolute Metapher“ nennen. Deren spezifische Eigenschaft ist ihre Unübersetzbarkeit, insofern sie zum Grundbestand des Daseins überhaupt gehört und somit nicht in eine logisch zu erfassende Begrifflichkeit aufzulösen ist.53 Absolute Metaphern bestimmen „als Anhalt von Orientierungen ein Verhalten, sie geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität. Dem historisch verstehenden Blick indizieren sie also die fundamentalen, tragenden Gewissheiten, Vermutungen, Wertungen, aus denen sich die Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten einer Epoche regulierten.“54 Ganz in diesem Sinne dient die Metapher vom οἶκος θεοῦ im 1Tim dem Verstehen und Erfassen einer neu zu bestimmenden Identität, weil die gemeindliche Wirklichkeit durch die zunehmenden Gefährdungen und Herausforderungen so komplex geworden ist, dass das Bekenntnis nicht mehr dem Gewissen des Einzelnen und seinem Glauben überlassen bleiben kann, sondern in feste und allgemein anerkannte Strukturen eingebunden sein muss, um bestehen zu können. Dies bringt die Metapher von der Gemeinde als Haus Gottes zum Ausdruck, das einer „Festung“ gleich dem Schutz der Wahrheit verpflichtet ist. Diejenigen, die innerhalb dieser Strukturen die Verantwortung tragen, werden vor allem an ihren moralischen Qualitäten gemessen, die auch nach außen hin zum Bestand und zur Glaubwürdigkeit der Gemeinde und damit zu ihrem „ruhigen und stillen Leben in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“ (1Tim 2,2) beitragen.

52 Vgl. dazu J. HERZER, Juden – Christen – Gnostiker. Zur Gegnerproblematik der Pastoralbriefe, BThZ 25 (2008), 143–168; DERS., Was ist falsch an der „fälschlich so genannten Gnosis“? Zur Paulusrezeption des 1. Timotheusbriefes im Kontext seiner Gegnerpolemik, EC 5 (2014), 68–96. 53 H. BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt 1998, 19f.; vgl. HARTL, Metaphorische Theologie (s. Anm. 6), 122f.; P. STOELLGER, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, HUTh 39, Tübingen 2000, 87–94. 54 BLUMENBERG, Metaphorologie (s. Anm. 53), 20.

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4. Schlussbemerkung Ethos und ethisches Verhalten beruht stets auf bestimmten Voraussetzungen, sodass auch die metaphorische Entfaltung ethischer Aussagen mit diesen Voraussetzungen verknüpft ist. Natürlich könnte man innerhalb der Pastoralbriefe – wie in allen Briefen des Neuen Testaments – auch einzelne ethische Weisungen auf die Metaphorik ihrer Begrifflichkeit hin untersuchen. Hier sollte aber zunächst die konzeptuelle Verknüpfung metaphorischer Aussagen in ihren ethischen Konsequenzen exemplarisch aufgezeigt werden. Die Metaphorik der überzogenen und klischeehaften Polemik des Titusbriefes lässt die Generationen der Gemeinde mit ihren Ältesten in einen Kontrast zur kretischen Bevölkerung treten, sei er real oder – wie aufgrund der Klischeehaftigkeit der Auslassungen zu vermuten ist – nur virtuell in der Polemik. Erhellend ist auch der Unterschied zwischen der als Bildwelt entfalteten Haus-Thematik im 2Tim, die auf die innere Dynamik der Gemeinde hin bezogen und darin zugleich metaphorisch überfordert ist, und der Haus-Gottes-Metaphorik des 1Tim, die auf die Neubestimmung der Gemeindeidentität vor dem Hintergrund zunehmender Abgrenzungsstrategien abzielt. Die Pastoralbriefe sind mit Blick auf die Frage nach der Funktion metaphorischer Aussagen in ethischer Absicht insofern besonders interessant, als auch unter dieser Perspektive jeweils eigentümliche Besonderheiten dieser Briefe zutage treten und damit – wie auch hinsichtlich anderer Aspekte – das etablierte Interpretationsmodell der Pastoralbriefe als eines literarischen Corpus Pastorale obsolet wird. Aber dies führt bereits in weitere Fragestellungen hinein.

Von Gesinnungshüften (1Petr 1,13) und geistlichen Opfern (1Petr 2,5) Zur paränetischen Valenz metaphorischer Rede im Ersten Petrusbrief Christoph Gregor Müller Für die Selbstvergewisserung und Identitätsbildung der Adressaten des 1Petr spielt metaphorischer Sprachgebrauch1 eine nicht unerhebliche Rolle. Schon im Präskript des 1Petr werden die Diaspora-Christen Kleinasiens als „erwählte Fremdlinge“ (1,1)2 angesprochen. Die „Fremde“ bildet von da an ein Grundmotiv des 1Petr (vgl. auch 1Petr 2,11).3 Dabei dienen der Begriff der „Diaspora“ wie auch die Rede von den „erwählten Fremdlingen“ zunächst der

1

Vgl. A. PUIG I TÀRRECH, The Mission According to the New Testament. Choice or Need?, in: A.A. Alexeev/Chr. Karakolis/U. Luz (Hgg.), unter Mitarbeit von K.-W. Niebuhr, Einheit der Kirche im Neuen Testament. Dritte europäische orthodox-westliche Exegetenkonferenz in Sankt Petersburg, 24.–31. August 2005, WUNT 218, Tübingen 2008, 231–247, 240: „the series of metaphors appearing throughout the letter“. Vgl. auch P.J. ACHTEMEIER, Newborn Babes and Living Stones. Literal and Figurative in 1 Peter, in: M.P. Horgan/P.J. Kobelski (Hgg.), To Touch the Text. Biblical and Related Studies (FS J.A. Fitzmyer), New York 1989, 207–236; T.W. MARTIN, Metaphor and Composition in 1 Peter, SBL.DS 131, Atlanta 1992, bes. 161–187; F.J. VAN RENSBURG, Metaphors in the Soteriology in 1 Peter. Identifying and Interpreting the Salvific Imageries, in: J.G. van der Watt (Hg.), Salvation in the New Testament. Perspectives on New Testament „Soteriology“, NT.S 121, Leiden 2005, 409–435. 2 Vgl. dazu ausführlich CHR.G. MÜLLER, Auserwählte als Fremde. Theologische Standortbestimmung im Ersten Petrusbrief, in: M. Ebner/G. Häfner/K. Huber (Hgg.), Der Erste Petrusbrief. Frühchristliche Identität im Wandel, QD 269, Freiburg i. Brsg. 2015, 9–48. 3 Vgl. vor allem R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992; DERS., Die Außenseiter als Avantgarde. Gesellschaftliche Ausgrenzung als missionarische Chance nach dem 1. Petrusbrief, in: P.W. van der Horst u.a. (Hgg.), Persuasion and Dissuasion in Early Christianity, Ancient Judaism and Hellenism, Leuven 2003, 16–178; A. OBERMANN, Fremd im eigenen Land. Die Heimatkonzeption frühchristlicher Gemeinden nach dem 1. Petrusbrief und ihre praktischen Implikationen heute, KuD 51 (2005), 263– 289.

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nüchternen Beschreibung der vorfindlichen, gegebenen Minderheiten-Realität im Norden und Westen sowie in der Mitte Kleinasiens. Metaphorische Sprache4 wird in diesem Schreiben wiederholt und gezielt eingesetzt5; ihr können eine heuristische 6 und eine paränetische Valenz zugesprochen werden. Bereits Albert Wifstrand benannte in seiner Arbeit zum Stil des Schreibens auffällige Beispiele7 für metaphorische Prädikationen und konstatierte „the richness of metaphorical language“ als „an oriental element,

4 Zur Arbeit an biblischer Bildersprache und zur Diskussion um metaphorisches Sprechen im NT vgl. u.a. P. RICŒUR, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./E. Jüngel (Hgg.), Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, mit einer Einführung von P. Gisel, EvTh.S, München 1974, 24–44; CHR.G. MÜLLER, Gottes Pflanzung – Gottes Bau – Gottes Tempel. Die metaphorische Dimension paulinischer Gemeindetheologie in 1 Kor 3,5–17, FuSt 5, Frankfurt 1995; R. ZIMMERMANN, Einführung. Bildersprache verstehen oder Die offene Sinndynamik der Sprachbilder, in: ders. (Hg.), Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer biblischer Sprachformen, mit einem Geleitwort von H.-G. Gadamer, Übergänge 38, München 2000, 13–54; DERS., Metapherntheorie und biblische Bildersprache. Ein methodologischer Versuch, ThZ 56 (2000), 108– 133; CHR. GERBER, Paulus und seine ‚Kinder‘. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe, BZNW 136, Berlin/New York 2005. Zur Diskussion um die vielfältigen Metapherntheorien vergangener und gegenwärtiger Tage vgl. vor allem E. ROLF, Metaphertheorien. Typologie – Darstellung – Bibliographie, Berlin/New York 2005; A. HAVERKAMP, Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs, München 2007.  5 Vgl. u.a. CHR.G. MÜLLER, „Umgürtet die Hüften eurer Gesinnung!“ (1 Petr 1,13). Das Zusammenspiel von metaphorischer Rede und nichtmetaphorischer Begrifflichkeit im Ersten Petrusbrief, in: D.S. du Toit (Hg.), Bedrängnis und Identität. Studien zu Situation, Kommunikation und Theologie des 1. Petrusbriefes, BZNW 200, Berlin/New York 2013, 143–166. 6 Zur Wahrnehmung der heuristischen Valenz metaphorischer Prädikationen haben die Arbeiten Hans Blumenbergs Entscheidendes beigetragen; vgl. u.a. H. BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie, ABG 6 (1960), 7–142, bis hin zu DERS., Quellen, Ströme, Eisberge, hrsg. von U. von Bülow/D. Krusche, Berlin 2012; zu Blumenbergs Metaphorologie vgl. u.a. PH. STOELLGER, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, HUTh 39, Tübingen 2000; HAVERKAMP, Metapher (s. Anm. 4), 37–41.93–106.145–163, bes. 38: „[…] absolute Metaphern haben einen verborgenen erkenntnispragmatischen Kern, dessen lateinische Technizität in Quintilians Werk, von Blumenberg noch unterschätzt, historisch unterschiedliche metaphorologische Aufklärungen durch Augustinus, Kant, Nietzsche erfahren hat“. Vgl. auch MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), 19, mit Blick auf Blumenberg: „Vielmehr vermag die Metapher im Hinblick auf die Erfassung von Wirklichkeit eine durchaus eigenständige Leistung beizusteuern.“ 7 A. WIFSTRAND, Stylistic Problems in the Epistles of James and Peter (1947), in: DERS., Epochs and Styles. Selected Writings on the New Testament, Greek Language and Greek Culture in the Post-Classical Era, edited by L. Rydbeck/S.E. Porter, translated from the Swedish Originals by D. Searby, WUNT 179, Tübingen 2005, 46–58, 49f.

Metaphorische Rede im 1Petr

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which in the Jewish writers is mainly an inheritance from the prophetic style.“8 Der vorgelegte Beitrag konzentriert sich vor allem auf die paränetische Valenz metaphorischer Rede im Ersten Petrusbrief,9 inhaltlich in besonderer Weise auf die Rede von „geistlichen Opfern“.10 Dabei soll eine Anregung Plutarchs von Chaironeia aufgenommen werden, der in seiner PeriklesBiographie (1,3) konstatiert: „Daher soll der Mensch immer nur dem Besten nachjagen, nicht allein, um es zu betrachten, sondern um durch die Betrachtung innerlich zu wachsen. Denn wie dem Auge jene Farbe wohltut, deren frische Anmut Freude erweckt und zugleich das Sehen stärkt, so muss man auch seinem Geist (th.n dia,noian) Dinge zu schauen geben, die ihn erfreuen und durch Freude anspornen zu dem, was gut und heilsam ist.“

Eine Besonderheit und Qualität des 1Petr besteht in dem Bemühen, theologisches Sprechen und entsprechende Lebensführung zu einer geglückten Einheit zu verbinden.11 Der Dienst an der Identitätsbildung der Adressaten ist eng verbunden mit dem Ruf in eine entsprechende Verantwortung in ihrer avnastrofh, (1,15.18; 2,12; 3,1.2.16). Das kommt sehr anschaulich in der Aufforderung zum Ausdruck, die in 1Petr 1,13 an die Adressaten ergeht: „Umgürtet die Hüften eurer Gesinnung!“12 Der 1Petr unternimmt damit ein deutliches Plädoyer für den Verstandesgebrauch, denn der in griechischen Texten 8

WIFSTRAND, Problems (s. Anm. 7), 55. Zur paränetischen Gesamtausrichtung des 1Petr vgl. auch K.O. SANDNES, Revised Conventions in Early Christian Paraenesis. „Working Good“ in 1 Peter as Example, in: J. Starr/T. Engberg-Pedersen (Hgg.), Early Christian Paraenesis in Context, BZNW 125, Berlin/New York 2004, 373–403, 379: „[…] it seems justified to speak of 1 Peter as a Christian adaption of the paraenetic letter type“; vgl. auch W.C. VAN UNNIK, The Teaching of Good Works in 1 Peter (1954), in: ders., Sparsa collecta II: 1 Peter – Canon – Corpus Hellenisticum – Generalia, NT.S 30, Leiden 1980, 83–105; F.-R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle im ersten Petrusbrief, FzB 63, Würzburg 1990; PH.T. TITE, Nurslings, Milk and Moral Development in the Greco-Roman Context. A Reappraisal of the Paraenetic Utilization of Metaphor in 1 Peter 2,1–3, JSNT 31 (2009), 371–400. 10 Grundlage dieses Beitrags sind die Ausführungen des Autors zu dieser Thematik im Rahmen der 5. Tagung der Mainz Moral Meetings unter der Überschrift „Metaphorische Ethik“. Ich danke den Kollegen Ruben Zimmermann und Friedrich Wilhelm Horn mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die vorzüglich organisierte, anregende Veranstaltung am 17. Januar 2012 sowie allen, die durch ihre Diskussionsbeiträge und Anregungen mein Nachdenken zum Thema vertieft haben. Die in der Überschrift genannten „Gesinnungshüften“, von deren Gürten 1Petr 1,13 spricht, wurden in der Zwischenzeit in einem gesonderten Beitrag des Autors behandelt; vgl. dazu MÜLLER, Hüften (s. Anm. 5). 11 Vgl. u.a. J. DE WAAL DRYDEN, Theology and Ethics in 1 Peter. Paraenetic Strategies for Christian Character Formation, WUNT II/209, Tübingen 2006; R.M. THORSTEINSSON, Roman Christianity and Roman Stoicism. A Comparative Study of Ancient Morality, Oxford 2010, 105–116. 12 Zur Auslegung vgl. neben den Kommentaren bes. MÜLLER, Hüften (s. Anm. 5). 9

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der Antike ausgesprochen beliebte Begriff dia,noia „bringt von Hause aus eine intellektualistische Ausrichtung mit, im Sinn von Denken, Denkkraft, Reflexion.“13 „Die Stoiker sehen in der dia,noia to. h`gemoniko.n me,roj (th/j yuch/j […]); sie ist der eigtl Gegenstand der Beschäftigung des Philosophen.“14 Ein bedeutsamer Kristallisationspunkt der Verwendung von dia,noia im NT kann in der Formulierung des Hauptgebots in den syn Evangelien erkannt werden. „Die textliche Grundlage des synopt. Liebesgebots ist zwar auch ein LXX-Zitat (Dtn 6,4f). Doch ist zu beachten, dass sich d. zwar Mk 12,30 par. Mt 22,37 / Lk 10,27, jedoch urspr. nicht im Text der LXX findet. Der Aufruf zur Gottesliebe ergeht schon dort an den Menschen in seiner Ganzheit; und diese wird dreigliedrig entfaltet in die Aspekte kardi,a […] yuch, […] und du,namij.“15

In allen synoptischen Varianten vertritt dia,noia in besonderer Weise die rationale Komponente. Das Gürten der Gesinnungshüften dient der größeren Konzentration auf das, was kommen soll.16 Mit Bernhard Debatin kann metaphorischem Sprachgebrauch häufig eine Vorgriffsfunktion zugeschrieben werden, denn die „Metapher […] ist ein semantisches Attraktionszentrum, das durch seine vorgreifende Evidenz die kreative Produktion von Sinn antreibt.“17 Das hat freilich eine Voraussetzung: „Metaphern richten sich zunächst an die Einbildungskraft (des Hörers), um dann, in einem zweiten Schritt, kreative Möglichkeiten einer Veränderung konkreter Lebensverhältnisse zu eröffnen.“18 Das ist auch in 1Petr 1,13 der Fall, wenn gefordert wird, die „Hüften der Gesinnung“ zu gürten. Zunächst gilt es, dabei festzuhalten, dass hier zu einer Tätigkeit der Adressaten aufgefordert wird und dass eine Entwicklung in den Blick genommen wird, da die

13 H.-J. KLAUCK, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII/1, Zürich/Braunschweig/Neukirchen-Vluyn 1991, 338. 14 J. BEHM, Art. dia,noia, ThWNT IV (1942), 961–965, 961. 15 M. LATTKE, Art. dia,noia, EWNT I (1980), 743–745, 744. Zum Liebesgebot vgl. auch Jos 22,5. 16 In die gleiche Richtung zielt das zweite Partizip nh,fontej in 1Petr 1,13. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Kontext von Lk 12,35 („Legt euren Gürtel nicht ab und lasst eure Lampen brennen!“), vor allem Lk 12,36–40, und Did 16,1: „Wacht über eurem Leben! Eure Lampen sollen nicht verlöschen, und eure Lenden nicht erschlaffen, sondern seid bereit!“ 17 B. DEBATIN, Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung, Grundlagen der Kommunikation und Kognition, Berlin/New York 1996, 342; vgl. auch MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), 27f.; ZIMMERMANN, Metapherntheorie (s. Anm. 4), 123. 18 L. VERST, Analogie und Metapher. Zur Hermeneutik metaphorisch-praktischer Rede von Gott, LingBibl 63 (1989), 58–85, hier 81; vgl. auch G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen (1982) 21988, 25.

Metaphorische Rede im 1Petr

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Tätigkeit ja vorbereitenden oder bereitenden Charakter hat.19 Das sei vor allem deshalb betont, da in „metapherntheoretischen Diskussionen […] immer wieder darauf hingewiesen worden (ist), daß es sich beim metaphorischen Sprechen um ‚wirkungsvolles, bewegendes Reden‘ handelt […] Indem metaphorische Prädikationen darauf zielen, Gefühle, Eindrücke oder Gedanken erleben zu lassen, sind sie in der Lage, Einstellungen zu bilden und Handeln zu leiten.“20

Von daher wird man einer Forderung, wie sie in 1Petr 1,13 erhoben wird,21 auch eine paränetische Valenz zusprechen dürfen, wobei das „Gürten des Verstands“ nicht als einmaliger Akt, sondern als fortgesetztes Geschehen zu betrachten ist, das nicht nur das Denk- und Beurteilungsvermögen, sondern auch das Wollen betrifft. Mit der hier ergehenden Aufforderung stellt der Autor des 1Petr auch klar, dass die von ihm angesprochenen Adressaten, die ja im Glauben Neugeborene geworden sind, weiterhin mancherlei Entwicklung zu durchlaufen haben. 22 Das lässt sich besonders eindrücklich an einer weiteren Forderung23 an die Adressaten beobachten, die Bestandteil des auch ekklesiologisch hochbedeutsamen zweiten Kapitels ist: „Lasst euch als lebendige Steine aufbauen zu einem geistlichen Haus […] um darzubringen geistliche Opfer, Gott wohlgefällige durch Jesus Christus!“ (1Petr 2,5). Der Autor geht in 1Petr 2,4–5 von einer christologischen Stein-Metaphorik zu einer ekklesiologischen über24, wenn es heißt: „[4] Zu diesem kommt, dem lebendigen Stein, von Menschen zwar verworfen, bei Gott aber auserwählt als kostbar(er), [5] und lasst euch selbst als lebendige Steine aufbauen als

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Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eph 6,14–17. MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), 61. 21 In besonderer Weise DE WAAL DRYDEN, Theology (s. Anm. 11), bes. 91: „We will see how the author of 1 Peter, utilizing a Greco-Roman paraenetic literary strategy, uses reminders of conversion, together with antitheses that derive from conversion, as tools for achieving his paraenetic aims“; vgl. auch a.a.O., 98.116. 22 Vgl. von daher auch die Metaphorik in 1Petr 2,2. 23 In diesem Fall ist das Partizip prosercome,noi dem Satzbau in 1Petr 2,1 vergleichbar, einem Imperativ vorausgehend und von daher imperativisch aufzulösen; vgl. auch L. GOPPELT, Der erste Petrusbrief, hrsg. von F. Hahn, KEK 12/1, Göttingen 81978, 141: „mit dem als Imperativ gemeinten Partizip“. Zur medialen Übersetzung mit „lasst euch erbauen“ vgl. auch E.D. SCHMIDT, Kult und Ethik: Leben ‚heiliger‘ Gemeinden. Der Heiligkeitsbegriff in ethischen Begründungszusammenhängen im 1. Petrusbrief, in: F.W. Horn/ U. Volp/R. Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 225–255, hier 248f. 24 Vgl. auch N. BROX, Der erste Petrusbrief, EKK XXI, Zürich/Braunschweig/Neukirchen-Vluyn (1979) 41993, 108; Brox kann (ebd.) auch von „Parallelisierung der Gläubigen und Christus“ in theologischer und paränetischer Hinsicht sprechen. 20

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ein geistliches Haus, zu einer heiligen Priesterschaft, um darzubringen geistliche Opfer, Gott wohlgefällige durch Jesus Christus.“

Wir stoßen in Kapitel 2 des 1Petr auf verschiedene Varianten von SteinMetaphorik. Zunächst ist das in einer christologischen Aussage der Fall, die in einer vergleichbaren Weise auch an anderer Stelle im NT (vgl. vor allem Mt 21,42) anzutreffen ist. Der in 1Petr 2,3 benannte Kyrios wird in V. 4 als „lebendiger Stein“ gekennzeichnet.25 Dann wird in der Aufnahme alttestamentlicher Texte (Ps 118,22; Jes 28,16)26 der Weg des Christus durch Ablehnung und Leiden zur Herrlichkeit bekenntnisartig27 zur Sprache gebracht: a) Menschen haben ihn verworfen (avpodedokimasme,non Partizip Perfekt von avpodokima,zw „verwerfen, für unbrauchbar erklären“), b) Gott aber hat ihn auserwählt als kostbar (e;ntimoj). Mit 1Petr 2,4 betreten wir, was den Schriftgebrauch angeht, das weite Feld der sog. „Anspielungen“.28 Neben den Zitaten zeigen die vielfältigen Anspielungen, dass die christologischen und ekklesiologischen Vorstellungen, die den 1Petr prägen, ohne eine Kenntnis der Schrift kaum nachvollziehbar sind. Die Adressaten werden in die vom Autor des 1Petr aufgenommene und weiterentwickelte Stein-Metaphorik einbezogen.29 Der Imperativ (Passiv)30 oivkodomei/sqe fordert die Angesprochenen zunächst auf, sich selbst (kai. auvtoi,) als „lebendige Steine“31 zu begreifen, die zu einem „geistlichen Haus“32 (oi=koj 25

Zuweilen wird in diesem Zusammenhang auf eine Stelle bei Tacitus (ann. IV 55) verwiesen, wo von einem Tempel in Halikarnassos gesprochen wird, der auf natürlichem Fels (vivoque saxo) errichtet wurde. 26 Vgl. u.a. D.A. OSS, The Interpretation of the „Stone“ Passages by Peter and Paul. A Comparative Study, JETS 32 (1989), 181–200, bes. 184–189; A. WEIHS, Jesus und das Schicksal der Propheten. Das Winzergleichnis (Mk 12,1–12) im Horizont des Markusevangeliums, BThSt 61, Neukirchen-Vluyn 2003, 33–46. 27 Vgl. WEIHS, Jesus, a.a.O., 45: „Offensichtlich erkannte das Urchristentum in dem Eckstein-Wort einen Schriftbeleg, in dem das Verwerfungsgeschick Jesu und die anschließende Restitution und Verherrlichung durch Gott vorgebildet war.“ 28 Vgl. ausführlich CHR.G. MÜLLER, Der Erste Petrusbrief und die Schrift, in: A. Moenikes (Hg.), Schätze der Schrift (FS H.F. Fuhs), PaThSt 47, Paderborn u.a. 2007, 197– 213. 29 Das Adjektiv „lebendig“ stiftet über die Steinmetaphorik hinaus eine enge Beziehung zu all den Stellen des 1Petr, an denen von Leben und Lebendigkeit die Rede ist (vgl. 1,3 im Blick auf die Hoffnung und 1,23 im Blick auf den Logos) und damit vor allem zwischen Christus und den auf ihm Erbauten. Vgl. dazu auch MÜLLER, Hüften (s. Anm. 5), 157–158. 30 Eine ganze Reihe von Auslegern plädiert allerdings für eine indikativische Wiedergabe der Verbform. 31 Aufschlussreich ist vielleicht eine Stelle in den Briefen des Seneca (ep. 95,53): „Cohaereamus: in commune nati sumus; societas nostra lapidum fornicationi simillima est quae casura nisi inuicem obstarent, hoc ipso sustinetur.“; in der Übersetzung von M. Rosenbach [21987]: „Seien wir solidarisch: für die Gemeinschaft sind wir geboren; unsere

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pneumatiko,j) auferbaut werden.33 Das Pneuma ist dabei als die schöpferische Mitte des vom Geist erfüllten34 Hauses anzusehen.35 Miteinander bilden die Glaubenden eine Priesterschaft36, die Opfer darbringt, allerdings in einem im Vergleich mit anderen Stätten der Gottesverehrung modifizierten Sinn:37 Es Gemeinschaft gleicht einem Bogen aus Steinen, der zusammenbräche, wenn die Steine einander nicht stützten, und eben dadurch gehalten wird.“ Auch hier wird das Bild auf eine Gemeinschaft von Menschen bezogen, die als Steine angesprochen werden. Zur Aufnahme der Metaphorik in der Theologie der Apostolischen Väter vgl. u.a. IgnEph 9,1; IgnMagn 7,2. 32 Vgl. auch 1Petr 4,17: „Haus Gottes“. 33 Vgl. auch ausführlicher CHR.G. MÜLLER, „Lebendige Steine“. Ekklesiologische Formationen im Ersten Petrusbrief, in: R. Hartmann/J. Disse (Hgg.), Verantwortet Kirche sein – hier und heute, FHSS 51, Frankfurt/Freiburg i. Brsg. 2009, 39–63; DERS., Hüften (s. Anm. 5), 155–158. 34 Vgl. auch F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1. Petrusbrief. Untersuchungen zum Selbstverständnis einer christlichen Gemeinde an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert, SUPa.KT 1, Passau 1981, 66–70.231f.; J.R. MICHAELS, 1 Peter, WBC 49, Waco 1988, 100: „‚Spiritual house‘ is a metaphor for the community where the Spirit of God dwells.“ 35 Manchmal ist eine traditionsgeschichtliche Nähe zu oder sogar Abhängigkeit von Qumrantexten konstatiert worden (vgl. vor allem 1QH VI 26; 1QS VIII 4–10; IX 3–6). Das Bild vom Tempel gehört einerseits zu den Grundlagen des Selbstverständnisses der Gemeinde (4Q 174 III 3ff.), andererseits gibt Johann Maier zu bedenken: Die „individuellanthropologische Komponente ist eindeutiger bezeugt als die soziologische Anwendung, also die Beschreibung der Gemeinschaftsbildung als Tempelbau“; so J. MAIER, Bausymbolik, Heiligtum und Gemeinde in den Qumrantexten, in: A. Vonach/R. Meßner (Hgg.), Volk Gottes als Tempel, Synagoge und Kirchen I, Wien 2008, 49–106, 62; vgl. auch a.a.O., 106; L. DOERING, Gottes Volk. Die Adressaten als „Israel“ im Ersten Petrusbrief, in: D.S. du Toit (Hg.), Bedrängnis und Identität. Studien zu Situation, Kommunikation und Theologie des 1. Petrusbriefs, BZNW 200, Berlin/Boston 2013, 81–113, hier 99: „ist direkte Abhängigkeit des 1 Petr von Texten aus Qumran unwahrscheinlich.“ Für den 1Petr kann lediglich von der Rezeption ähnlicher Traditionsstränge gesprochen werden. 36 Vgl. ausführlicher dazu CHR.G. MÜLLER, „Ihr seid ein königliches Volk, eine königliche Priesterschaft!“, in: M. Lersch/ders. (Hgg.), „Seid Ihr bereit …?“. Priester sein in unserer Zeit, FHSS 52, Würzburg 2011, 19–38; vgl. auch G. HOTZE, Königliche Priesterschaft in Bedrängnis. Zur Ekklesiologie des Ersten Petrusbriefes, in: Th. Söding (Hg.), Hoffnung in Bedrängnis. Studien zum Ersten Petrusbrief, SBS 216, Stuttgart 2009, 105– 129; M. RYŠKOVÁ, Die königliche Priesterschaft in 1 Petr 2,1–10, in: M. Bär/M.-L. Hermann/Th. Söding (Hgg.), König und Priester. Facetten neutestamentlicher Christologie (FS C.-P. März), EThSt 44, Würzburg 2012, 223–236, 224. 37 Zum Opfern in der Antike, d.h. zur Praxis und Reflexion des Opferns von Tieren, Menschen, Weihrauch u.a., vgl. die Arbeiten von F. PRESCENDI, Décrire et comprendre le sacrifice. Les réflexions des Romains sur leur propre religion à partir de la littérature antiquaire, Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 19, Stuttgart 2007; M.-Z. PETROPOULOU, Animal Sacrifice in Ancient Greek Religion, Judaism, and Christianity, 100 BC – AD 200, Oxford (2008), reprinted 2011; vgl. in diesem Kontext auch G. HEYMAN, The Power of Sacrifice. Roman and Christian Discourses in Conflict, Washington D.C. 2007.

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handelt sich um geistliche Opfer (pneumatika.j qusi,aj)38, geht es doch auch um ein „geistliches Haus“. Und: Sie werden Gott dargebracht „durch Jesus Christus.“39 Damit sind wir bei der Frage nach den „geistlichen Opfern“, ein besonders spannendes Thema der Theologie und Religionsgeschichte, denn: „The idea of spiritual sacrifice was one of the great revolutions in the concept of divine service in the history of the world.“40 Die geistlichen Opfer sind die dem Erwählungshandeln Gottes angemessene Antwort der Berufenen. Die Adressaten des Schreibens sind nach 1Petr 2,5 berufen „zum Priesterdienst an der Welt (i`era,teuma Exod 19.6; 23.22 > 1 Petr 2.5)“41, zu einer ausdrücklichen „Heiligung des Alltags“42. Der 1Petr bedient sich hier offensichtlich einer Formulierung des LXX-Textes von Ex 19,6, denn der hebräische Text spricht von einer „Herrschaft von Priestern“. „‚Königreich/Königtum von Priestern‘/‚priesterliches Königreich‘ ist […] zu verstehen als eine Metapher für die am Sinai konstituierte Beziehung zwischen Gott und Israel, die Israel zu etwas Besonderem in der Völkerwelt macht. Die Nähe zu Gott und die Auszeichnung Israels werden im Halten der Tora immer wieder aktualisiert und konkretisiert“.43

38 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Röm 12,1: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, bereitzustellen eure Leiber als lebendiges, heiliges Opfer, Gott wohlgefällig, als euren vernünftigen Gottesdienst.“ Vgl. dazu auch P. VON GEMÜNDEN/G. THEISSEN, Metaphorische Logik im Römerbrief. Beobachtungen zu dessen Bildsemantik und Aufbau, in: R. Bernhardt/U. Link-Wieczorek (Hgg.), Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur (FS D. Ritschl), Göttingen 1999, 108–131, 120f.: Der „vernünftige Gottesdienst“ „[…] unterscheidet sich vom traditionellen Kult dadurch, dass in ihm keine Tierleiber getötet und geopfert werden, sondern Menschen ihre ‚Leiber‘ als ‚lebendige Opfer‘ zu Verfügung stellen – als Opfer, die gerade nicht getötet werden.“ Vgl. auch HEYMAN, Power (s. Anm. 37), 147: „The verse is ambiguous since it does not specifically detail how this offering is to take place.“ 39 Vgl. in diesem Zusammenhang in der römisch-katholischen Liturgie der Herrenmahlfeier die Präfation für die Osterzeit V: „[…] Als er seinen Leib am Kreuz dahingab, hat er die Opfer der Vorzeit vollendet. Er hat sich dir dargebracht zu unserem Heil, er selbst ist der Priester, der Altar und das Opferlamm. Durch ihn preisen wir dich in österlicher Freude und singen mit den Chören der Engel das Lob deiner Herrlichkeit.“ 40 E. FERGUSON, Spiritual Sacrifice in Early Christianity and its Environment, ANRW II 23.2 (1980), 1151–1189, 1151. Vgl. auch den Titel von A. ANGENENDT: Die Revolution des geistigen Opfers. Blut – Sündenbock – Eucharistie, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 2011. 41 F. SIEGERT, Christus, der ‚Eckstein‘, und sein Unterbau. Eine Entdeckung an 1Petr 2.6f., NTS 49 (2004), 139–146, 142–143. Vgl. auch die Arbeit von J.A. DAVIES, A Royal Priesthood. Literary and Intertextual Perspectives on an Image of Israel in Exodus 19.6, JSOT.S 395, New York 2004. 42 So u.a. H. FRANKEMÖLLE, 1. Petrusbrief, 2. Petrusbrief, Judasbrief, NEB.NT 18.20, Würzburg (1987) 21990, 37. 43 G. STEINS, Priesterschaft, Volk von Priestern oder was sonst? Zur Interpretation von Ex 19,6, BZ NF 45 (2001), 20–36, 31. Vgl. auch a.a.O., 35: „Die strittige Formulierung

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Miteinander haben die Glaubenden als basi,leion i`era,teuma Zugang zum Geheimnis Gottes44; „Instanzen“, die diesen Zugang erst vermitteln, werden im zweiten Kapitel des 1Petr nicht erkennbar. Die Aufgabe und Rolle der königlichen Priesterschaft kann mit Ilmars Hiršs so beschrieben werden: „Die Christen sind als basi,leion i`era,teuma dazu berufen, Gottes Heilstat in Jesus Christus den Menschen zu verkündigen und damit Gott qusi,aj pmneumatika,j darzubringen.“45 „Geistliche Opfer“ sind jene – wie bereits angedeutet – „die unter Mitwirkung des Gottesgeistes dargebracht werden; die Gaben können dabei theoretisch körperlicher oder geistiger Art sein.“46 Die verschiedentlich als „Revolution“ gekennzeichnete neue Rede von „geistlichen Opfern“ hat eine lange Vorgeschichte. Dabei sind zunächst recht unterschiedliche Traditionsstränge auszumachen. In einer ganzen Reihe von alttestamentlichen und frühjüdischen Texten kann eine im Judentum auszumachende Entwicklung zur Vorstellung von „geistlichen Opfern“ beobachtet werden.47 Mehrere solcher Texte können der prophetischen Opferkritik48 zugeordnet werden. Das

~ynhk tklmm/‚Königreich von Priestern‘ in Ex 19,6 bezieht sich weder auf die Priester als Sondergruppe im Volk noch erklärt die Aussage alle Israeliten zu Priestern im Sinne der Kultfunktionäre. Die Aussage hebt nicht die funktionale Differenzierung zwischen ‚Priestern‘ als Kultspezialisten und dem übrigen Volk auf […] Das ‚Priesterliche‘ besteht in der Realisierung der ähe Gottes, wie es auch Ex 24,3–11 in einmalig dichten Vorstellungen zum Ausdruck bringt.“ 44 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hebr 7,25; 10,14. 45 I. HIRŠS, Ein Volk aus Juden und Heiden. Der ekklesiologische Beitrag des Ersten Petrusbriefes zum christlich-jüdischen Gespräch, MJSt 15, Münster 2003, 30; vgl. auch E. BEST, Spiritual Sacrifice. General Priesthood in the New Testament, Interp. 14 (1960), 273–299, 287: „those passages, then, which speak of spiritual sacrifice imply the doctrine of a general priesthood.“ 46 J. BLINZLER, IERATEUMA. Zur Exegese von 1 Petr 2,5 u. 9, in: Episcopus. Studien über das Bischofsamt (FS M. Kardinal von Faulhaber), dargebracht von der Theologischen Fakultät der Universität München, Regensburg 1949, 49–65, 55. Vgl. auch J. YSEBAERT, Die Amtsterminologie im Neuen Testament und in der alten Kirche. Eine lexikographische Untersuchung, Breda 1994, 102.135f. 47 Vgl. auch die zahlreichen Beispiele in den Auflistungen bei FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1156f.; A. FEUILLET, Les «sacrifices spirituels» du sacerdoce royal des baptisés (1 P 2,5) et leur préparation dans l’Ancien Testament, NRTh 94 (1974), 704–728; F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51–100, HThK.AT, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 32007, 54, oder K.H. JOBES, 1 Peter, BECNT, Grand Rapids 2005, 150. 48 Vgl. dazu ZENGER, Psalmen II (s. Anm. 47), 54f. (zu Ps 51,18–19): „Darüber hinaus aktualisiert V 18–19 die prophetische Opferkritik, die statt Opfer den Gottesgehorsam und das Tun von Recht und Gerechtigkeit fordert (vgl. Hos 6,6 [nicht 16,6 wie im Kommentar; Chr.G. M.]; Am 5,21–27; Mi 6,8; diese Linie findet sich auch in der Weisheitstheologie; vgl. Spr 15,8; 21,3.27; 28,9 sowie besonders Sir 34,21–35,22), und stößt zugleich (ähnlich wie Ps 40,7–10; 69,31f.) zu einer „neuen“ Opfertheologie durch: Nicht irgendwelche Gaben, die den Geretteten „symbolisieren“ sollen, sondern sich selbst als den an Herz und Geist (s.o. zu V 12–14) erneuerten Menschen übergibt er seinem Gott.“ Vgl. in diesem

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trifft in besonderer Weise auf die Psalmen zu, wobei Ps 50 und Ps 51 hervorstechen. Gott selbst konfrontiert in Ps 50,13 den Beter mit der Frage: „Soll ich denn das Fleisch von Stieren essen und das Blut von Böcken trinken?“ Alternativen benennen die nachfolgenden Verse: „Bring Gott als Opfer dein Lob und erfülle dem Höchsten deine Gelübde!“ (Ps 50,14) oder Ps 50,23: „Wer Opfer des Lobes bringt, ehrt mich, wer rechtschaffen lebt, dem zeig’ ich mein Heil“ (Ps 50,23). Der große Bußpsalm49 drückt eine entsprechende Gebetshaltung im Angesicht Gottes so aus: „Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen“ (Ps 51,19); auf den Punkt bringt es Ps 69,31f.: „Ich will den Namen Gottes rühmen im Lied, in meinem Danklied ihn preisen. Das gefällt dem Herrn mehr als ein Opferstier, mehr als Rinder mit Hörnern und Klauen.“50 Vergleichbare Gedanken und Differenzierungen finden sich in geschichtlichen (vgl. 1Sam 15,22; Jdt 16,16), weisheitlichen (vgl. Spr 16,6) und prophetischen Büchern und Texten, wobei ein Schwerpunkt in der prophetischen Kultkritik auszumachen ist; vgl. Jes 1,10–17; Am 5,21–27; Mi 6,6–8; Jer 7,22–23. Hosea bündelt solche kritischen Töne, wenn als Gottes Wort zu vernehmen ist: „Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer“51 (Hos 6,6), ein Wort, das eine deutliche Aufnahme im Verkündigungswort Jesu gefunden hat, wie nicht allein Mt 9,13 und Mt 12,7 belegen. Das Hosea-Wort lässt bereits erkennen, dass anderes an die Stelle der blutigen oder verbrannten Opfer treten kann. Sir 35,1–4 legt eine entsprechende Liste vor: „Viele Opfer bringt dar, wer das Gesetz befolgt; Heilsopfer spendet, wer die Gebote hält; Speiseopfer bringt dar, wer Liebe erweist; Dankopfer spendet, wer Almosen gibt.“52 Denn – so kann Guy G. Stroumsa resümieren: „Gott schätzt das zerknirschte Herz und den guten Willen, beide

Zusammenhang auch SapSal 18,9 („Opferfest“ mit Verpflichtung auf das Gesetz und Loblieder). 49 Vgl. dazu bes. H. IRSIGLER, Neuer Mensch – neues Jerusalem. Zur kultischen und eschatologischen Dimension in Psalm 51, in: St. Ernst/M. Häusl (Hgg.), Kulte, Priester, Rituale. Beiträge zu Kult und Kultkritik im Alten Testament und Alten Orient, ATSAT 89, St. Ottilien 2010, 295–345. 50 Vgl. auch Ps 141,2: „Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf; als Abendopfer gelte vor dir, wenn ich meine Hände erhebe.“ 51 Vgl. dazu auch E. ZENGER, „Ich finde Wohlgefallen an Liebe, nicht an Opfer“ (Hos 6,6). Ersttestamentliche Stellungnahmen zum Verhältnis von Kult und Ethos, in: B. Kranemann u.a. (Hgg.), Die diakonale Dimension der Liturgie (FS K. Richter), QD 218, Freiburg i. Brsg. 2006, 16–30. 52 Alternative Übersetzung von Sir 35,1–2: „Gottes Gebote halten, das ist ein reiches Opfer. Gottes Gebote ehren, das ist das rechte Dankopfer“.

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von Natur aus unsichtbar“53, geht es doch im Antworten auf Gottes Zuwendung darum, nicht etwas zu geben, sondern sich selbst. Die hier erkennbar werdenden Linien lassen sich im Bereich frühjüdischer Texte54 weiterverfolgen. Dabei ist vor allem auf den Bereich der Qumranliteratur aufmerksam zu machen; vgl. 1QS IX 3–655; X 8.1456; CD XI 21 (Gebet der Gerechten). Hier kommen dem „Hebopfer der Lippen“ und dem „vollkommenen Wandel“ besondere Bedeutung zu. Im 2Hen (45,3) wird die entscheidende Frage auch direkt mit einer Antwort versehen: „Begehrt der Herr etwa das Brot oder die Lampen oder die Schafe oder die Rinder oder irgendwelche anderen Opfer? Das ist nicht so, sondern der Herr begehrt ein reines Herz. Und mit all dem prüft er das Herz des Menschen.“57 Philo von Alexandrien (spec. I 272) kann formulieren: „und wenn sie auch sonst nichts bringen und nur sich bringen als die vollendete Erfüllung der Gebote der Tugend, bringen sie das beste Opfer dar, wenn sie mit Gesängen und dankbaren Huldigungen Gott als ihren Wohltäter und Retter ehren“58, denn (spec. I 277): „Gott legt nicht Wert auf die Fülle der Opfer, sondern auf den völlig reinen, vernünftigen Geist (pneu/ma logiko,n) des Opfernden.“59 Solche Texte bereiten den Weg für eine klassisch zu nennende Formulierung paulinischer60 Theologie, wie sie in Röm 12,161 anzutreffen ist oder zu 53

G.G. STROUMSA, Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike, aus dem Französischen von U. Bokelmann, mit einem Vorwort von J. Scheid, Berlin 2011, 102. 54 Vgl. auch Arist 234; TestLev 3,6: „Sie [die Engel] bringen dem Herrn Wohlgeruch des Räucherwerks als ein vernünftiges und unblutiges Opfer dar.“ 55 „Wenn dies in Israel geschieht entsprechend all diesen Anordnungen zu einer Grundlage des heiligen Geistes, zu ewiger Wahrheit, um zu entsühnen die Schuld der Übertretung und die Tat der Sünde, zum (göttlichen) Wohlgefallen am Lande mehr als Fleisch von Brandopfern und Fett von Schlachtopfern: das Hebopfer der Lippen nach der Vorschrift ist wie Opferduft der Gerechtigkeit und vollkommener Wandel wie ein wohlgefälliges freiwilliges Opfer. In jener Zeit sollen die Männer der Gemeinschaft ein heiliges Haus für Aaron absondern, um vereint zu sein als Allerheiligstes, und ein Haus der Gemeinschaft für Israel, die in Vollkommenheit wandeln.“ Vgl. dazu u.a. J.J. COLLINS, Prayer and the Meaning of Ritual in the Dead Sea Scrolls, in: J. Penner/K.M. Penner/C. Wassen (Hgg.), Prayer and Poetry in the Dead Sea Scrolls and Related Literature (FS E. Schuller), StTDJ 98, Leiden/Boston 2012, 69–85, 75f. 56 „[…] als Hebopfer, das von meinen Lippen kommt […]“. 57 Zur Vorstellung vom „reinen Herzen“ vgl. auch 1Petr 1,22. 58 FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1159, kommentiert die Position des Philo so: „God is not interested in the number of the victims but in the true purity of a rational spirit in the one who makes the sacrifice.“ 59 Vgl. zum priesterlichen Opferkult der Seelen bei Philo auch S. WICK, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit, BWANT 150, Stuttgart/Berlin/Köln 2002, 156f. 60 Vgl. auch Phil 2,17; 4,18; Röm 15,16. Zum „Lebenseinsatz“ vgl. auch Eph 5,25 (mit Eph 5,2).

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anderen vergleichbaren Stellen des NT62 (vgl. bes. Hebr 13,15: „Opfer des Lobes“63 bzw. „[die] Frucht der Lippen“; Hebr 13,16: „Der Wohltätigkeit aber und Gemeinschaft vergesst nicht; denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen“).64 Wer sich mit „geistlichen Opfern“ beschäftigt65 – und in diesem Kontext mit metaphorischen Präzedenzen66 –, sollte allerdings auch die vielfältigen Beiträge und Einschätzungen zur Kenntnis nehmen, die griechische und römische Dichter und Philosophen zum Ausdruck gebracht haben.67 Manchen ging es in diesem Zusammenhang um die Grundannahme einer „Bedürfnislosigkeit“68 Gottes, anderen um die Betonung der Rationalität des Menschen, die sich in der Konzeption „vernünftiger Opfer“ dokumentiert. Häufig kommt zum Ausdruck, dass der Opfernde wichtiger ist als das Opfer.69 61

Vgl. dazu auch W. STEGEMANN , Zur Metaphorik des Opfers, in: B. Janowski/M. Welker (Hgg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt 2000, 191–216, 209–210; ANGENENDT, Revolution (s. Anm. 40), 42–44. 62 Vgl. auch FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1163–1165. 63 Vgl. dazu auch R. ZIMMERMANN, Die neutestamentliche Deutung des Todes Jesu als Opfer. Zur christologischen Koinzidenz von Opfertheologie und Opferkritik, KuD 51 (2005), 72–99, 97. 64 Vgl. in diesem Zusammenhang auch OdSal 20, bes. V. 4: „Das Opfer des Herrn ist Gerechtigkeit sowie Reinheit des Herzens und der Lippen“; Sib 8,402–411: Werke der Barmherzigkeit als lebendiges Opfer für den lebendigen Gott; Clem.Al.strom. VII 14,1: ein demütiges Herz; VII 49,4–7: Gebete und Lobpreisungen, Lesen der Heiligen Schrift, Psalmen und Gesänge, Hingabe von Leben und Sachen an Bedürftige. 65 Aktuelle und besonders eindrückliche Beispiele bieten die Arbeiten von STROUMSA, Ende (s. Anm. 53), und ANGENENDT, Revolution (s. Anm. 40). 66 Vgl. dazu u.a. H. WEINRICH, Sprache in Texten, Stuttgart 1976, 278: „Der Einzelne steht immer schon in einer metaphorischen Tradition, die ihm teils durch die Muttersprache, teils durch die Literatur vermittelt wird und ihm als sprachlich-literarisches Weltbild gegenwärtig ist“; BLUMENBERG, Paradigmen (s. Anm. 6), 69: „Nicht nur die Sprache denkt uns vor und steht uns bei unserer Weltsicht gleichsam ‚im Rücken‘; noch zwingender sind wir durch Bildervorrat und Bilderwahl bestimmt, ‚kanalisiert‘ in dem, was überhaupt sich uns zu zeigen vermag und was wir in Erfahrung bringen können“; K. BERGER, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung, Heidelberg 1977, 90: „[…] der Vergleich mit dem hellenistischen Judentum zeigt, daß frühes Christentum und hellenistische Antike in einer Metapherngemeinschaft stehen. Darin zeigt sich ohne Zweifel eine Vorbedingung der missionarischen Wirkmöglichkeiten“; MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), 57–59. 67 Vgl. auch HEYMAN, Power (s. Anm. 37), 146f.: „Thus long before Christianity we find a spiritualizing, or dematerializing trend that used the rhetoric of sacrifice to challenge not only the efficacy of material rituals but also the internal motivation of the person performing the ritual.“ 68 Vgl. auch ANGENENDT, Revolution (s. Anm. 40), 27. 69 FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1152: „the gods have regard for the holiness and justice of the soul rather than the gifts and sacrifices“; vgl. auch HEYMAN, Power (s. Anm. 37), 146.

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So gibt Isokrates den Hinweis, dass das vornehmste Opfer und der größte Dienst dann erwiesen würde, w`j be,ltiston kai. dikaio,taton sauto.n pare,ch|j (or. II 20).70 An einem solchen Wort wird erkennbar, dass es den entsprechenden Stimmen weniger um die Gabe, sondern vor allem um die Gebenden geht; Argumente entsprechender Art werden aus neuplatonischen, pythagoreischen71 oder auch stoischen Kreisen vorgetragen. So konstatiert beispielsweise Sen.benef. 1,6,3: „Nicht ist eben das eine Wohltat, was dafür angesehen oder weitergegeben wird, wie nicht einmal in den Opfern, mögen sie üppig sein und von Gold glänzen, eine Ehrung der Götter besteht, sondern in dem aufrichtigen und pflichttreuen Willen der Verehrenden. Daher sind Menschen von Wert auch mit Opfermehl und Tongeschirr gottesfürchtig; schlechte hingegen entkommen nicht der Gottlosigkeit, auch wenn sie die Altäre von reichlichem Opferblut triefen lassen.“72

Ein authentischer Lebenswandel und die den Opfern entsprechende, innere Haltung werden wiederholt angemahnt, so etwa auch bei Hierokles, einem Neuplatoniker des 5. Jh., in carm.aur. 1,18–19 „[…] und vorzüglich sich selbst als Opfer darbringt […]“. Es handelt sich also um eine ausgesprochen kulturkreisübergreifende Metaphorik. Das lässt sich auch gut an gnostischen Texten aus späteren Zeiten beobachten. In NHC VI.57.19 werden die Opfer zum metaphernspendenden Bereich: „Nimm von uns an die geistigen Opfer, die wir zu dir emporsenden aus unserem ganzen Herzen, unserer [ganzen] Seele und unserer ganzen Kraft.“ (logikh. qusi,a vgl. CorpHerm I 31; XIII 18.19.21). Eine Spur, die wir für die Auslegung des 1Petr aufnehmen sollten, besteht in der Verbindung von Gehorsam und Opfer, die in verschiedenen jüdischen und frühjüdischen Texten zum Ausdruck kommt, werden doch die Adressaten schon zu Beginn des Schreibens als „Kinder des Gehorsams“ (1,14) angesprochen.73 So kann man 1Petr 2,5 mit Everett Ferguson so kommentieren: „Life lived for God is the truly spiritual sacrifice. This verse is the high point 70 Vgl. auch FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1152–1156, vor allem auch zur neuplatonischen Konzeption. 71 Vgl. auch F. SIEGERT, Die Synagoge und das Postulat eines unblutigen Opfers, in: B. Ego/A. Lange/P. Pilhofer (Hgg.), in Zusammenarbeit mit K. Ehlers, Gemeinde ohne Tempel – Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, WUNT 118, Tübingen 1999, 335–356, 335–337. 72 Ähnlich drückt sich Seneca auch an anderer Stelle aus; vgl. Fragmente 123: Nicht will Gott verehrt werden „durch Opfer und Blutströme, […] sondern durch ein reines Herz und durch einen ehrenwerten Vorsatz; nicht Tempel sind ihm mit Stein hoch aufzurichten, sondern jeder soll ihn in seinem Herzen heiligen“; vgl. dazu auch ANGENENDT, Revolution (s. Anm. 40), 29. 73 Vgl. auch FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1157: „Purity of soul and moral conduct were evaluated more highly than sacrifice, especially in Diaspora Judaism.“

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of the sacrificial language of the New Testament and of all literature. The whole self belongs to God and is to be given to him.“74 Es hat nicht an Bemühungen gefehlt, dem allgemeinen Begriff „geistliche Opfer“ Konkretisierungen beizufügen. Ausleger haben aus den jeweiligen Kontexten den Versuch unternommen, Konkreteres aufzuzählen und Kataloge anzulegen. Darin werden „Gebete und Dank, Buße und Treue, Zeugnis und Mission“75 besonders häufig genannt. Im Grunde wird eine Ausweitung der Opferkategorie auf alle Lebensbereiche76 erkennbar. Das wird in besonderer Weise in den Texten des II. Vaticanum anschaulich, das sich wiederholt zu den geistlichen Opfern geäußert und dabei deutlich den Bezug zum 1Petr markiert hat. Beispiele aus Lumen gentium und anderen Dokumenten können dieses ausgeprägte Bemühen um Konkretion vor Augen stellen: „[…] Es sind nämlich alle ihre Werke, Gebete und apostolischen Unternehmungen, ihr Ehe- und Familienleben, die tägliche Arbeit, die geistige und körperliche Erholung, wenn sie im Geist getan werden, aber auch die Lasten des Lebens, wenn sie geduldig ertragen werden, ‚geistige Opfer, wohlgefällig vor Gott durch Jesus Christus‘ (1 Petr 2,5)“ (LG 34).77

In solchen Formulierungen wird vor allem das Grundanliegen des 1Petr aufgegriffen, eine Heiligung des Alltags anzustreben. Johannes Chrysostomus hat dem beredten Ausdruck gegeben, wenn er schreibt, dass die Barmherzigen auf Straßen und Marktplätzen einen Altar finden: „Auf ihm kannst du zu jeder Stunde opfern, denn auch hier vollzieht sich ein Opfer. Und wie der

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FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1156. Vgl. auch HEYMAN, Power (s. Anm. 37), 148: „Far from being dematerialized, especially since the Christian might well suffer physically as Paul did, this type of sacrifice required an ethical commitment from the mind and body of the Christian“; RYŠKOVÁ, Priesterschaft (s. Anm. 36), 232. 75 W. PESCH, Zu Texten des Neuen Testamentes über das Priestertum der Getauften, in: O. Böcher/K. Haacker (Hgg.), Verborum Veritas (FS G. Stählin), Wuppertal 1970, 303– 315, 307; vgl. auch die Beispiele, die FERGUSON, Sacrifice (s. Anm. 40), 1165–1166, BEST, Sacrifice (s. Anm. 45), 295, YSEBAERT, Amtsterminologie (s. Anm. 46), 104, oder TH. KLEIN, Bewährung in Anfechtung. Der Jakobusbrief und der Erste Petrusbrief als christliche Diaspora-Briefe, NET 18, Tübingen/Basel 2011, 413, aufzählen. Vgl. auch ANGENENDT, Revolution (s. Anm. 40), 123. 76 Vgl. auch ZIMMERMANN, Deutung (s. Anm. 63), 98. 77 LG 10: „Der Amtsträger nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person Christi das eucharistische Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar; die Gläubigen hingegen wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der eucharistischen Darbringung mit und üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Danksagung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe“; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Dokumente AA 3; PO 2.

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Priester am Altar steht und den Geist herabruft, so rufst auch du den Geist herab, allerdings nicht mit der Stimme, sondern durch die Werke.“78 Die ekklesiologischen Aussagen und Leitlinien schaffen im 1Petr – in meiner Wahrnehmung – ein hilfreiches „Gegengewicht“ gegen die eher individualistische Vorstellung79 einer „Wiedergeburt“ bzw. „Neugeburt“ (der Getauften) und dem entsprechenden Ausschau-Halten nach dem zugesagten „Seelenheil“ (1,9). Die Bekehrungssprache des 1Petr80 hat verständlicherweise primär den Einzelnen/die Einzelne im Blick; das gebotene „Gleichgewicht“ wird durch eine betonte Ekklesiologie ermöglicht. Bekehrung dokumentiert sich demnach nicht nur in einem Zuwachs an guten Taten und einem entsprechenden Lebenswandel, sondern auch in einem lebendigen Gemeinschaftsleben, ein Werden zu dem, was die Berufenen von Gott her miteinander schon sind. Dabei ist zu beachten, dass es im 1Petr um gewährte Identität geht, nicht um zu erstellende. Es fällt auf, dass im Bereich metaphorischen Sprechens gottesdienstliche Begriffe auf ethisches Tun übertragen werden. Das ist im 1Petr vor allem mit der Vorstellung von der Heiligung81 verbunden: „als das erwählte Gottesvolk sollen sie kultische Reinheit im Alltag verwirklichen“82 (vgl. bes. 1Petr 1,16). Dabei ergeben sich vom Grundgedanken her zahlreiche Überschneidungen mit philosophischen Strömungen der Antike, was die Anschlussfähigkeit und Rezeption der Botschaft des 1Petr gefördert haben dürfte.

Schlussbemerkungen „Metaphorischer Sprachgebrauch provoziert zu anschauender Erkenntnis und kommt damit dem menschlichen ‚Anschauungshunger‘ entgegen.“83 Metaphern stiften Beziehungsnetze; das geschieht auf der einen Seite durch die

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Johannes Chrysostomus, Predigten über den Zweiten Brief an die Korinther 20,3 (PG 61,540), dt. Übersetzung nach A. FÜRST, Organisation und Theologie der Caritas in der Alten Kirche, in: G. Collet/R. Feiter/K. Gabriel/U. u.a. (Hgg.), Liebe ist möglich, und wir können sie tun. Kontexte und Kommentare zur Enzyklika „Deus caritas est“ von Papst Benedikt XVI., Diakonik 7, Münster 2008, 11–26, 19. 79 Zur Individualität im 1Petr vgl. auch G. GUTTENBERGER, Passio Christiana. Die alltagsmartyrologische Position des Ersten Petrusbriefes, SBS 223, Stuttgart 2010, 27–31. 80 Vgl. dazu ausführlich DE WAAL DRYDEN, Theology (s. Anm. 11), passim. 81 Vgl. dazu ausführlicher MÜLLER, Auserwählte (s. Anm. 2); vgl. auch SCHMIDT, Kult und Ethik (s. Anm. 23). 82 D. ZELLER, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext (2001), in: ders., Neues Testament und hellenistische Umwelt, BBB 150, Hamburg 2006, 215–228, 215. 83 MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), 123.

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metaphorischen Bildfelder84, die häufig mit einer metaphorischen Leitvorstellung verbunden sind, im zuletzt untersuchten Fall der Bereich der Opfer. Andererseits kommt es gezielt zu Zufügungen von nichtmetaphorischen85 Begriffen (vgl. im konkreten Fall das Adjektiv pneumatiko,j „geistlich“)86, die Kontextbezüge stiften können und dadurch bei der Ermittlung der heuristischen und paränetischen Valenz87 metaphorischer Prädikationen wichtige Dienste leisten. Die Lebendigkeit metaphorischen Sprachgebrauchs zeigt sich nicht zuletzt auch in der bewegenden Kraft der Bilder:88 „[…] so lassen sich die Aussagen besser merken, so gewinnen Argumente an Überzeugungskraft. Bilder sprechen unmittelbar in die Lebenswelt der Adressaten hinein und fordern sie zu einer Stellungnahme heraus.“89 Im konkreten Fall entspricht dies der paränetischen Gesamtausrichtung des 1Petr90 (vgl. vor allem 2,11: vAgaphtoi, parakalw/ […] avpe,cesqai tw/n sarkikw/n evpiqumiw/n ai[tinej strateu,ontai kata. th/j yuch/j; 5,12: e;graya parakalw/n). Eine Vielzahl antiker Autoren, 84 Nicht selten stützen solche Bildfelder die Traditionalität metaphorischer Sprache; vgl. auch ZIMMERMANN, Metapherntheorie (s. Anm. 4), 125: „Maßgeblich für den Reiz wie auch für den Erfolg einer Metapher innerhalb einer Sprachgemeinschaft ist die Rückbindung an eine Metapherntradition“; a.a.O., 126: „Die Wirkung und Rezeption einer Metapher hängt deshalb von einem spezifischen Verhältnis von Innovationsgrad und Traditionsbindung ab.“ 85 Vgl. dazu ausführlich MÜLLER, Hüften (s. Anm. 5). 86 Andere Beispiele im 1Petr ergeben sich durch die Verbindung mit logiko,j „vernünftig“, zw/n „lebendig“ o.a. Gleichzeitig können solche Wörter als Hinweise auf den übertragenen Sprachgebrauch und damit als Signal zur Interpretation metaphorischer Prädikationen verstanden werden. 87 Vgl. dazu MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), passim; ZIMMERMANN, Metapherntheorie (s. Anm. 4), 128; DERS., Deutung (s. Anm. 63), 92f. 88 Vgl. MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), 124; vgl. auch a.a.O., 61. 89 So R. HIRSCH-LUIPOLD, Gedeihen im Licht – Verderben im Dunkel. Bilder für die existentielle Bedeutung einer Ethik des Politischen, in: Plutarch, EI KALWS EIRHTAI TO LAQE BIWSAS / Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel?, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von U. Berner/R. Feldmeier/B. Heininger u.a., Sapere 1, Darmstadt 2000, 99–116, 99f. (mit Blick auf einen antiken Autor wie Plutarch); vgl. auch DERS., Plutarchs Denken in Bildern. Studien zur literarischen, philosophischen und religiösen Funktion des Bildhaften, STAC 14, Tübingen 2002, 284: „Der pädagogisch ausgerichtete Philosoph versucht durchgängig, philosophische Einsichten, ethische Paränesen und religiöse Überzeugungen in einer leicht lesbaren Form, gleichsam im Plauderton, vorzuführen.“ 90 Zur paränetischen Gesamtausrichtung des 1Petr vgl. auch SANDNES, Conventions (s. Anm. 9), 379: „[…] it seems justified to speak of 1 Peter as a Christian adaption of the paraenetic letter type“; DE WAAL DRYDEN, Theology (s. Anm. 11), 91.98.116; THORSTEINSSON, Christianity (s. Anm. 11), 106; vgl. auch D. HILL, „To Offer Spiritual Sacrifices …“ (1 Peter 2:5). Liturgical Formulations and Christian Paraenesis in 1 Peter, JSNT 16 (1982), 45–63, 46.50.61.

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die im Rahmen ihrer (philosophischen) Überlegungen auch ethische Forderungen und Weisungen formulieren, zeigt sich von dem Bemühen geprägt, eine „nützliche Botschaft mit einer angenehmen Form“91 zu verbinden. Von daher kann der Einsatz von metaphorischen Prädikationen zu den „kulturellen Kommunikationsbedingungen […]“ gezählt werden, „unter denen Wertvorstellungen plausibel erschienen.“92 Das geschieht durch ein gezieltes Ansprechen der Sinne und des Erlebens,93 wodurch nicht nur die heuristische Valenz metaphorischer Prädikationen gestützt wird,94 sondern vor allem auch ihre paränetische Funktion, die im 1Petr im Dienst an der Identitätsbildung und einem entsprechenden Ruf in die Verantwortung steht. Insofern strebt „metaphorische Ethik“ Zustimmung an und leistet einen Beitrag zur Plausibilität des Vorgetragenen. Angesichts dieser Möglichkeiten kann es kaum verwundern, dass Metaphern häufig in den Dienst einer „moral message“95 treten und damit einer „ars vitae, die ihr Ziel im konkreten Lebensvollzug, in der Ethik hat.“96 Dafür muss man zuweilen einen besonderen Aufwand treiben, wofür ein berühmter Mainzer97 waches Gespür hatte, wenn er sogar pures Gold zum Einsatz bringen will; so schreibt Bonifatius im Jahr 735 an die Äbtissin Eadburg: „[…] Ich bitte Gott, den Allmächtigen, den Vergelter und Belohner aller guten Werke, Dir in den himmlischen Wohnungen und in den ewigen Zeiten für alle Deine Wohltaten, die Du mir erwiesen hast, ewigen Lohn droben in der Versammlung der seligen Engel zu gewähren; denn schon oft hat Deine Nächstenliebe meine Traurigkeit gelindert, sei es durch Vermittlung von Büchern oder durch Unterstützung mit Kleidern. So bitte ich auch jetzt noch zu mehren, was Du begonnen hast, d.h., mir in Goldbuchstaben die Briefe meines Herrn, des heiligen Apostels Petrus, abzuschreiben, zur Achtung und Ehrfurcht vor der

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HIRSCH-LUIPOLD, Licht (s. Anm. 89), 99. ZELLER, Ethik (s. Anm. 82), 215. 93 Vgl. auch MÜLLER, Pflanzung (s. Anm. 4), 32f.: „Sie sprechen nicht nur unseren Verstand, sondern auch unser Gefühl und unseren Willen an und sind in der Lage, Verhalten zu motivieren.“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch CHR.A. EBERHART, Kultmetaphorik und Christologie. Opfer- und Sühneterminologie im Neuen Testament, WUNT 306, Tübingen 2013, 15f. 94 Vgl. auch ZIMMERMANN, Einführung (s. Anm. 4), 26: „Ein solches Spiel der SinnMöglichkeiten, diese prinzipielle Unabgeschlossenheit der Bedeutungszuweisung gilt in besonderer Weise bei der Bildersprache.“ 95 D. LARMOUR, Metaphor and Metonymy in the Rhetoric of Plutarch’s Parallel Lives, in: L. van der Stockt (Hg.), Rhetorical Theory and Praxis in Plutarch. Acta of the IVth International Congress of the International Plutarch Society, Leuven, July 3–6, 1996, Collection d’études classiques 11, Louvain/Namur 2000, 267–279, 276. 96 HIRSCH-LUIPOLD, Denken (s. Anm. 89), 284. 97 Von diesem darf ich als Fuldaer an dieser Stelle herzliche Grüße überbringen, verbunden mit dem Dank für eine so geglückte akademische Veranstaltung, der ich nur vielfältige Fortsetzungen in der Gestalt von MMM wünschen kann. 92

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hl. Schrift in den Augen der Fleischesmenschen bei der Predigt, und weil ich die Worte gerade dessen, der mich auf diese Fahrt ausgesandt hat, allezeit vor Augen haben möchte. Das für die erbetene Abschrift erforderliche (Gold) schicke ich durch den Priester Eoba.“98

Gold ist derzeit als Anlage-Wert sehr gefragt. Die spezifische Verwendungsweise, die Bonifatius vorschlägt, zielt auf Eindrücklichkeit ab. Die Weisungen des 1Petr, der selbst Gold für vergänglich hält (vgl. 1Petr 1,7; 1,18), sollen sich den Lesern und Hörern einprägen, um daraus Orientierung und Wegweisung,99 Zuversicht und Kraft zu schöpfen für die große Herausforderung: das „Gehen in den Fußspuren Christi“ (1Petr 2,12).

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Bonifatii Epistulae – Willibaldi Vita Bonifatii / Briefe des Bonifatius – Willibalds Leben des Bonifatius nebst einigen zeitgenössischen Dokumenten unter Benützung der Übersetzungen von M. Tangl und Ph.H. Külb, neu bearbeitet von R. Rau, 3. bibliographisch aktualisierte Auflage, Darmstadt 2011, 115. 99 Vgl. auch BLUMENBERG, Eisberge (s. Anm. 6), 30: „[…] was aufhorchen läßt, wie es immer dann geschieht, wenn die Metapher beim Wort genommen wird und dadurch Orientierung gibt.“

II. Narratio

Narratio als Begründungsform der Ethik – ‚Narrative Ethik‘ in Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie Ruben Zimmermann „Und die Moral von der Geschichtʼ ...?“ Der sprichwörtlich gewordene Schlusssatz mancher Fabeln und Parabeln hält ein allgemeines Kulturwissen fest: Das Erzählen von Geschichten hat eine moralische Dimension. Man erzählt nicht nur, um Vergangenheit zu bewahren oder um Gefühle und Erfahrungen auszudrücken, sondern auch, um retrospektiv Handlungen zu bewerten oder prospektiv Handlungsmodelle als gut oder besser vorzustellen. Erzählungen sollen im Kommunikationsvorgang Wertungen vermitteln und Handlungen reflektieren. Auf diese Weise besitzen Geschichten nicht nur eine Moral, sie sind auch ethisch. Denn Erzählungen sind nicht nur narrative Spiegelungen bestehender Konzepte von Moral und Ethik, sie befördern und festigen sie auch oder stellen sie ebenso in Frage. Durch die Narratio vollzieht sich eine Reflexion von Handlungsgründen und Wertungen, weshalb es berechtigt erscheint, von einer ,narrativen Ethikʻ zu sprechen.1 Dabei handelt es sich um eine Handlungsreflexion sui generis. Durch die Erzählung werden Handlungs- und Wertungskonflikte in einer ganz spezifischen Weise zur Sprache gebracht und bearbeitet. Hier wird weder eine Gebotsreihe oder ein kategorischer Imperativ formuliert noch wird eine rational-argumentative Güterabwägung vollzogen. Es sind die Mittel der Erzählung, in Raum und Zeit agierende Figuren, ihre im Plot entfalteten Krisen und Veränderungen, durch die hier Handlungssituationen vergegenwärtigt werden. Im Akt des Lesens wird der Rezipient einer Erzählung eingeladen, in ein literarisch vorgeführtes Geschehen einzusteigen, sich mit Erzählfiguren zu identifizieren oder sich von ihnen zu distanzieren, an stellvertretenden Handlungskonflikten kognitiv und emotional zu partizipieren und letzt1

Vgl. zur Definition von „Ethik“ R. ZIMMERMANN, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften, in: F.W. Horn/U. Volp/R. Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 3–27, 3: „Ethik ist die reflexive Durchdringung von Handlungsentscheidungen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung.“

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lich selbst in seiner bzw. ihrer ethischen Urteilskompetenz herausgefordert zu werden. Eine solche, auf vorfindliche Erzähltexte bezogene Handlungsreflexion ist allerdings nur eine mögliche Lesart von ,narrativer Ethikʻ, wie Karin Joisten in ihrem hinführenden Beitrag systematisch ausführt. Narratio und Ethik werden hierbei zwar eng aufeinander bezogen, indem die Erzählung als Medium der ethischen Reflexion wahr- und ernstgenommen wird, die Deskription der Ethik erfolgt allerdings nicht selbst in narrativer Weise, wie es eine radikale Lesart des Begriffs vorschlägt, so als könne man nur noch erzählend über moralische Fragen verhandeln. Weniger die Vollzugsform als vielmehr die Phänomene nehmen eine weitere, übergreifende Lesart des Begriffs in den Blick. Demnach ginge es bei einer narrativen Ethik um eine Deutung vom Menschen und seinem Handeln in seiner prinzipiell narrativen Verfasstheit. Der Mensch wird hier als grundsätzlich „in Geschichten verstrickt“ wahrgenommen, die Beschreibung seines Weltbezugs und Handelns sei prinzipiell narrativ, weil nicht die Geschichten in der Welt seien, sondern die Welt nur in Geschichten existiere, wie Michael Roth in seinem Beitrag formuliert.2 Die divergente Begriffsverwendung spiegelt die Unabgeschlossenheit einer jungen Disziplin. Zwar wurde im Zuge einer erneuten Hochphase sowohl des ,narrative turnʻ als auch des ,ethical turnʻ3 seit etwa zehn Jahren vermehrt auch von ,narrativer Ethikʻ gesprochen. Unterschiedliche Sammelbände4 dokumentieren hierbei, dass die Begriffsverwendung sowohl innerhalb einzelner Disziplinen als auch in einem übergreifenden kultur- und geisteswissenschaftlichen Diskurs alles andere als klar ist. Auch die folgenden Beiträge zeigen spezifische Schwerpunkte und begriffliche Akzentuierungen. Zugleich wird aber unmissverständlich untermauert, dass es sich bei der ,narrativen Ethikʻ um ein interdisziplinäres Unternehmen handelt, das von vornherein Moralphilosophie und Literaturwissenschaft einbeziehen muss und auch für text- und anwendungsbezogene Wissenschaften wie z.B. die Theologie und Bibelwissenschaft von größtem Interesse ist. Die Auswahl der Vorträge auf dem sechsten Mainz Moral Meeting, die dem folgenden Abschnitt zugrunde liegen,5 versuchte die2 Siehe dazu den fundamentalanthropologischen Ansatz von W. SCHAPP, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt 52012, vgl. zu Schapp auch die Ausführungen von K. Joisten und M. Roth im folgenden Kapitel dieses Bandes. 3 Vgl. dazu CHR. LUBKOLL/O. WISCHMEYER (Hgg.), ‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung, Ethik – Text – Kultur 2, Paderborn 2009. 4 Siehe K. JOISTEN (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, DZPh.S 17, Berlin 2007; C. ÖHLSCHLÄGER (Hg.), Narration und Ethik, unter Mitarbeit von Björn Schäffer und Claudia Röser, Ethik – Text – Kultur 1, Paderborn/München 2009; M. HOFHEINZ/F. MATHWIG/M. ZEINDLER (Hgg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009. 5 Das sechste „Mainz Moral Meeting“ fand am 26.06.2012 an der Johannes GutenbergUniversität Mainz statt. Abweichend zum folgenden Abschnitt wurde noch ein Vortrag von

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ser interdisziplinären Ausrichtung Rechnung zu tragen, indem Vorträge aus Philosophie und Literaturwissenschaft sowie den theologischen Auslegungswissenschaften (Neues Testament, Kirchengeschichte) präsentiert wurden. Die folgende Skizze möchte diese notwendig interdisziplinäre Verzahnung keineswegs relativieren. Zur ersten Orientierung ist es im heuristischen Sinne gleichwohl hilfreich, eine disziplinäre Annäherung zu vollziehen, wobei jeweils nur einige markante Beispiele ausgewählt werden, ohne den geringsten Anspruch, damit einen Forschungsüberblick zu geben.

1. Narrative Ethik in der Philosophie Narrative Ansätze in der philosophischen Ethik umfassen ein breites Spektrum. Gleichwohl verbindet sie eine Skepsis gegenüber dem neuzeitlichen Konzept rationaler (Letzt)begründung von Moral und eine Hinwendung zu ästhetischen Darstellungsformen. Die narrative Ethik kann somit auch als Teilaspekt der Ethico-Ästhetik6 bzw. Lebenskunstdebatte7 betrachtet werden, die immer wieder auch aus der Antike wesentliche Impulse aufgenommen haben. Eine wegweisende Rolle nahm hierbei Alasdair MacIntyre8 ein, der im Kontext seines Rehabilitierungsversuchs der Tugendethik die narrative Diskursivität zur Basis jeder Ethik erklärt hat. Wer sein Leben als Ganzes verstehen wolle, müsse daProf. Dr. Uta Poplutz (Wuppertal), „Zur narrativen Ethik des Matthäusevangeliums“ sowie von Prof. Dr. Blossom Stefaniw (Mainz) zu den Erzählabschnitten der Antoniusbriefe („God has not visited his creatures only once: ethics through narrative in the Letters of Antony“) vorgetragen. 6 Vgl. dazu B. GREINER (Hg.), Etho-Poietik. Ethik und Ästhetik im Dialog. Erwartungen, Forderungen Abgrenzungen, Bonn 1998; C. WULF/D. KAMPER/H.U. GUMBRECHT (Hgg.), Ethik der Ästhetik, Berlin 1994; P.-U. MERZ-BENZ/U. RENZ (Hgg.), Ethik oder Ästhetik? Zur Aktualität der Neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004; M. FOUCAULT, Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hg. v. D. Defert/F. Ewald, Frankfurt 2007; vgl. dazu auch meinen Überblick in R. ZIMMERMANN, Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu. Ethik durch literarische Ästhetik am Beispiel der Parabeln im Matthäus-Evangelium, in: F.W. Horn/R. Zimmermann (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics I, WUNT 238, Tübingen 2009, 235–265. 7 Vgl. etwa C. HORN, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998; W. SCHMIDT, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt 1998; W. KERSTING/C. LANGBEHN (Hgg.), Kritik der Lebenskunst, Frankfurt 2007. 8 Vgl. A. MACINTYRE, After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 21984 (dt. Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. v. W. Rhiel, Frankfurt 1995). Die Magisterarbeit von S. Jacob gibt eine luzide Einführung, erreicht freilich nicht das gewünschte wissenschaftliche Reflexionsniveau, vgl. S. JACOB, Narratio – Die Rolle der Erzählung in Ethikkonzepten der Gegenwart: Paul Ricœur und Alasdair MacIntyre, Jena 2000.

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von erzählen. Dargestellte Erzählungen („enacted narratives“) seien die Grundform, in der sich Ethik manifestiert.9 Denn Erzählbarkeit sei keine äußere Form, die das Handlungsereignis zum Zweck der Kommunikation nachträglich erhalte, sondern eine Eigenschaft der Handlung, ja auch der menschlichen Identität selbst.10 MacIntyre formuliert wie folgt: „I can only answer the question ‚What am I to do?‘ if I can answer the prior question ‚Of what story or stories do I find myself a part?‘“11 Identität und „Einheit des menschlichen Lebens“12 können nur in der Einheit einer Erzählung eines Individuums gefunden werden.13 Die Suche nach der moralstiftenden Erzählung des Einzelnen ist für MacIntyre allerdings kein solitärer Akt individueller Lebensdeutung, sondern durch eine Vor-Geschichte definiert, die durch Tradition und Gemeinschaft bestimmt wird: „For the story of my life is always embedded in the story of those communities from which I derive my identity“.14 Die narrative Lebensdeutung bleibt nach MacIntyre somit an übergreifende Erzähltraditionen rückgebunden. Auch die Aristoteles-Forscherin Martha Nussbaum greift auf Erzählungen zurück, wenn sie im Kontext ihrer „Theorie des guten Lebens“ besonders die affektive Dimension der Moral oder die Fähigkeit zu Empathie hervorhebt.15 Gegenüber einer universalistischen Vernunftüberhöhung betont Nussbaum die Partikularität des Erlebens als unverzichtbares Element moralischer Einsicht. Ethik ist Nussbaum zufolge nicht ein moralischer Maßstab, der nachträglich zum Vermessen und Bewerten von Lebenssituationen und Handlungen angelegt wird, sondern reife in einer ganzheitlich wahrgenommenen Konfliktkonstellation heran, wie sie im Lesevorgang literarischer Werke erlebt werden könne.16 Den umfassendsten Entwurf einer philosophisch-ethischen Erzähltheorie hat Paul Ricœur in seiner Trilogie „Zeit und Erzählung“17 ausgearbeitet. Die Basis 9

Vgl. etwa MACINTYRE, After Virtue (s. Anm. 8), 197: „I am presenting both conversations in particular then and human actions in general as enacted narratives“. 10 K. GÜNTHER, Das gute und das schöne Leben, in: G. Gamm/G. Kimmerle (Hgg.), Ethik und Ästhetik. Nachmetaphysische Perspektiven, Tübingen 1990, 11–37, 18. 11 MACINTYRE, After Virtue (s. Anm. 8), 201. 12 Vgl. den Begriff der „Einheit des menschlichen Lebens“ von MacIntyre, Verlust der Tugend (s. Anm. 8), Kapitel 15: Die Tugenden, die Einheit des menschlichen Lebens und der Begriff von Tradition, 273–300. 13 MACINTYRE, After Virtue (s. Anm. 8), 203: „The answer is that its unity is the unity of a narrative embodied in a single life“. 14 MACINTYRE, After virtue (s. Anm. 8), 205. 15 M.C. NUSSBAUM, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 212007; DIES., Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge: Drei philosophische Aufsätze, aus dem Engl. übers. v. J. Schulte, Stuttgart 2002. 16 Vgl. hier exemplarisch M.C. NUSSBAUM, „Finely Aware and Richly Responsible“: Moral Attention and the Moral Task of Literature, JPh 82 (1985), 516–529. 17 P. RICŒUR, Zeit und Erzählung, Bd. I–III, Übergänge 18/1–3, München 1988, 1989, 1991 (Original: Temps et récit, Paris 1983, 1984, 1985).

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für die narrative Ethik des französischen Hermeneutikers stellt jedoch bereits die Monographie „Das Selbst als ein Anderer“18 dar, in der er die Erzählungen zum „ersten Laboratorium des moralischen Urteils“19 oder zu „Forschungsreisen durch das Land des Guten und Bösen“20 erklärt. Für Ricœur sind literarische Erzählung und Lebensgeschichten aufs Engste miteinander verflochten. „Die Erzählung (gehört) zum Leben […], ehe sie sich vom Leben ins Exil der Schrift begibt: Auf den vielfachen Wegen der Aneignung und um den Preis der unaufgebbaren Spannungen […] kehrt sie ins Leben zurück.“21 Doch gerade durch die spannungsvolle Auseinandersetzung mit der Erzählung im Verstehensprozess gewinnt ein lesendes Ich nach Ricœur ein neues Verhältnis zu sich selbst und zum anderen. Das Verstehen eines Textes sei nicht nur eng mit dem Verstehen des Selbst verknüpft, das Verstehen einer Erzählung komme „in der Selbstdeutung eines Subjekts [zum Ziel], das sich von da an besser versteht, anders versteht oder überhaupt erst zu verstehen beginnt.“22 Dieses wechselvolle Ineinander des Text- und Selbstverständnisses beruhe auf dem Verständnis, „daß die Interpretation das Verfahren ist, durch das die Entdeckung neuer Seinsweisen [...] dem Subjekt eine neue Fähigkeit verleiht, sich selbst zu erkennen. [...] Demnach wird die Fähigkeit des Lesers erweitert, sich selbst zu entwerfen, indem er eine neue Seinsweise vom Text selbst empfängt“.23 Weil nun der Mensch narrativ strukturiert ist, fallen die Hermeneutik des Textes in seiner dreifachen Mimesis (prefiguration, configuration, refiguration) und die ethische Konstitution des Selbst ineinander. In „Zeit und Erzählung“ entfaltet Ricœur diesen Prozess der Aneignung und Enteignung, der schließlich in eine neue und veränderte „narrative Identität“24 mündet. Im exemplarischen Verstehen des Textes könne der Lesende in der Refiguration ein neues Selbst- und schließlich sogar Weltverständnis25 erlangen, das sein Handeln verändert.26 18

Vgl. P. RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, München 1996 (Original: Soi-même comme un autre, Paris 1990). 19 Vgl. RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, a.a.O., 173. 20 RICŒUR, a.a.O., 201. 21 RICŒUR, a.a.O., 200. 22 P. RICŒUR, Was ist ein Text? (1970), in: DERS., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. u. hg. v. P. Welsen, Hamburg 2005, 79–108, 99. 23 P. RICŒUR, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (1972), in: DERS. Vom Text zur Person (s. Anm. 22), 109–134, 130. 24 Vgl. P. RICŒUR, Narrative Identität, in: DERS., Vom Text zur Person (s. Anm. 22), 209–225. 25 P. RICŒUR, Philosophische und Theologische Hermeneutik, in: E. JÜNGEL/P. RICŒUR, Die Metapher, EvTh.S, München 1974, 24–45, 33. 26 RICŒUR, Zeit und Erzählung (s. Anm. 17) I, 88: „Aufgabe der Hermeneutik ist es [...], die Gesamtheit der Vorgänge zu rekonstruieren, durch die ein Werk sich von dem undurchsichtigen Hintergrund des Lebens, Handelns und Leidens abhebt, um von einem Autor an einen Leser weitergegeben zu werden, der es aufnimmt und dadurch sein Handeln verändert“. Vgl. zu Ricœurs narrativer Ethik H. HAKER, Narrative und moralische Identität

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2. Narrative Ethik in der Literatur- und Kulturwissenschaft Ein Pionier der literaturwissenschaftlich orientierten Ethik war der Germanist und Theologe Dietmar Mieth. Für Mieth ist ,narrative Ethikʻ nichts anderes als Literaturinterpretation.27 Durch Erzählungen z.B. durch Romane wie Thomas Manns ‚Joseph und seine Brüder‘, Strassburgs ‚Tristan‘ oder Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ kommen nach Mieth ethische Probleme und Werte zur Darstellung. „Der Roman ist eine Ethik, insofern er erzählend Moral reflektiert“.28 Literarische Erzählungen fungierten als ethische Modelle, die zur „Fördergestalt des menschlichen Handelns“29 werden könnten. Die Erzählungen laden in einem mäeutischen Sinne dazu ein, die in Literatur gewonnene Erfahrung für die eigene ethische Praxis fruchtbar zu machen.30 Die ethische Qualität von Literatur hat auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth31 auf neue Weise ins Gespräch gebracht und rehabilitierte die auktoriale Einmischung des impliziten Autors gerade auch hinsichtlich seines moralischen Standpunkts. Sein Spätwerk „The Company We Keep“ (1988) gilt als ein maßgebliches Werk für die Entwicklung des sogenannten ,Ethical Criticismʻ,32 dessen Vertreter im Gegensatz zum Ansatz des

bei Paul Ricœur, Conc(D) 36 (2000), 179–187; P. WELSEN, Erzählung und Ethik bei Paul Ricœur, in: Joisten (Hg.), Narrative Ethik (s. Anm. 4), 169–185; JACOB, Narratio (s. Anm. 8), 43–135; S. WALDOW, Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. Zum Verhältnis von Ethik und Narration in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart. Ethik – Text – Kultur 7, München 2013, 167–196. 27 D. MIETH, Narrative Ethik. Der Beitrag der Dichtung zur Konstituierung ethischer Modelle, in: ders., Moral und Erfahrung. Beiträge zur theologisch-ethischen Hermeneutik, SThE 2, Freiburg (CH)/Freiburg i.Brsg. 1977, 60–90, 81. Vgl. auch DERS. (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000. In neueren Publikationen unterscheidet Mieth zwischen „Literaturethik im Sinne einer Ethik literarischen Handelns“ und einer „Literaturethik im Sinne der Möglichkeiten einer ethischen Literaturrezeption“, siehe D. MIETH, Literaturethik als narrative Ethik, in: Joisten (Hg.), Narrative Ethik (s. Anm. 4), 215–233, 216. 28 Vgl. D. MIETH, Identität – wie wird sie erzählt?, in: ders. (Hg.), Erzählen und Moral, (s. Anm. 27), 67–82, 79 (mit Bezug auf Musil). 29 MIETH, Narrative Ethik (s. Anm. 27), 80. 30 D. MIETH, Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik. Mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Strassburg, TTS 7, Mainz 1976, 72. 31 W.C. BOOTH, The Rhetoric of Fiction, London 1961, Repr. Harmondsworth u.a. 1987, 377–398 (Schlusskapitel: „The Morality of Impersonal Narration“); ferner DERS., The Company We Keep. An Ethics of Fiction, Berkeley u.a. 1988; DERS., Why Banning Ethical Criticism Is a Serious Mistake, Philosophy and Literature 22 (1998), 366–393. 32 Siehe zum Überblick H. ANTOR, Art. Ethical criticism, in: A. Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/ Weimar 42008, 181–183.

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,New Criticismʻ für eine ethische Interpretation von Literatur unter Einbeziehung von außertextlich-moralischen Maßstäben plädieren. Als Beispiel für die amerikanische Debatte sei auf die Monographie des Literaturwissenschaftlers Adam Zachary Newton aus dem Jahr 1995 unter dem Titel „Narrative Ethics“33 verwiesen. Newton versteht unter ,narrativer Ethikʻ „simply narrative as ethics: the ethical consequences of narrating story and fictionalizing person, and the receprocal claims binding teller, listener, witness, and reader in that process.“34

Newton unterschied entsprechend drei Dimensionen einer narrativen Ethik, die narrative Gestalt der Erzählung selbst (narrational ethics), die grundlegende, in der Erzählung repräsentierte Problematik (representational ethics) und der interaktionale Akt des Lesens, bei dem der Rezipient seine Erfahrungen miteinbringt (hermeneutic ethics).35 Der deutschsprachige Diskurs der 2000er Jahre wurde in etwa in dem von der Paderborner Literaturwissenschaftlerin Claudia Öhlschläger herausgegebenen Sammelband abgebildet.36 Die Herausgeberin stellte den Band unter die Leitfrage, „inwiefern Literatur dank ihrer fiktiven Beschaffenheit Möglichkeitsräume des Denkens und Handels eröffnet, die fremde, neue und alternative Deutungs- und Wahrnehmungsoptionen sichtbar machen. […] Ethik wäre dann nicht als eine dem Text äußerliche Kategorie zu denken, sondern der poetischen und poetologischen Struktur eines literarischen Textes . inhärent“ 37

Entsprechend diesem Zugang konnte die Herausgeberin keine allgemeine oder systematische Begriffsdefinition einer ,narrativen Ethikʻ vorausstellen, stattdes-

33 A.Z. NEWTON, Narrative Ethics, Cambridge/London 1995; vgl. später M.W. GREGORY, Shaped by Stories. The Ethical Power of Narratives, Notre Dame 2009. 34 NEWTON, Narrative Ethics (s. Anm. 33), 11. 35 Siehe die Begriffe bei NEWTON, a.a.O., 25. 36 ÖHLSCHLÄGER (Hg.), Narration und Ethik (s. Anm. 4); vgl. auch E. PLATEN, Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik, Würzburg 2001; M.W. ROCHE, Die Moral der Kunst. Über Literatur und Ethik, München 2002; J. ZIMMERMANN/B. SALHEISER (Hgg.), Ethik und Moral als Problem der Literatur und Literaturwissenschaft, Schriften zur Literaturwissenschaft 25, Berlin 2006; S. KREPOLD/C. KREPOLD (Hgg.), Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur, Paderborn 2008; A. ERLL/H. GRABES/A. NÜNNING (Hgg.), Ethics in Culture. The Dissemination of Values through Literature and Other Media, Spectrum Literaturwissenschaft 14, Berlin/New York 2008; P. LEVINE, Reforming the Humanities. Literature and Ethics from Dante to Modern Times, New York u.a. 2009; S. WALDOW (Hg.), Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute, Bielefeld 2011. 37 C. ÖHLSCHLÄGER, Narration und Ethik. Vorbemerkung, in: dies. (Hg.), Narration und Ethik (s. Anm. 4), 9–21.

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sen konnte Ethik als „kritische Reflexionsgröße“38 nur literaturgebunden in den jeweiligen Fallstudien zur Darstellung kommen. Die jüngste und umfangreichste Auseinandersetzung mit dem Thema stellt die Arbeit „Schreiben als Begegnung mit dem Anderen“39 von Stephanie Waldow dar. Die Augsburger Literaturwissenschaftlerin untersuchte einschlägige philosophische wie auch literarische Texte hinsichtlich ihrer narrativen Strategien, die eine „Hinwendung zu einem ethischen Schreiben dokumentieren.“40 Waldow sieht in der Wiederentdeckung des Autors bzw. Subjekts in der neueren Literaturwissenschaft41 eine Basis des ethischen Schreibens, denn auch das ethische Handeln sei „unweigerlich an das Vorhandensein eines Subjekts gebunden.“42 Da sie Ethik als einen Aushandlungsprozess begreift, bestehe die moralische Funktion der Literatur nicht in einer einseitigen Belehrung, sondern in einem Dialogangebot, bei dem das ethische Schreiben eines Autors letztlich den Lesenden in einen Prozess der ethischen Reflexion verwickelt und ihn bzw. sie zu einem veränderten Selbstverständnis führen kann. In gewisser Anlehnung an Ricœur versteht Waldow narrative Ethik „wesentlich als Begegnung und Auseinandersetzung mit der Andersartigkeit des Anderen.“43 Im zweiten Teil verifizierte sie diese These dann an drei Diskursen der Gegenwartsliteratur, an erzählter Fremdheit (C. Peters; T. Mora), am Liebesdiskurs (U. Daesner; M. Orths; M. Lentz) sowie an literarischen Bearbeitungen des Generationenkonflikts (M. Pradelski; D. Rabinovici; E. Menasse). Abschließend forderte sie eine Neuverortung der Trias Autor, Text und Leser im Zeichen der Ethik. „Vermittelt über den Erzähler bietet der Autor ein Gespräch an, aus dem die Leser verändert hervorgehen. Erfahrungen, die der Text mitbringt, werden mit Erfahrungen, die die Leser bereits gemacht haben, ausgetauscht.“44

Der Text wird somit zu einem „Austragungsort dieses ethischen Aushandlungsprozesses“45, die Literaturwissenschaft zu einer „Form des ethischen Dialogs.“46

38 Öhlschläger greift hier auf Nietzsches Abkehr von Ethik als „Theorie und System des Handelns“ zurück und zieht lose Verbindungslinien zwischen den Moralkonzepten von Theodor M. Adorno, Judith Butler, Paul Ricœur und Niklas Luhman, vgl. ÖHLSCHLÄGER, Vorbemerkung (s. Anm. 37), 13–16. 39 WALDOW, Schreiben als Begegnung (s. Anm. 26). 40 WALDOW, a.a.O., 21. 41 Siehe F. JANNIDIS u.a. (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999; H. DETERING (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002. 42 WALDOW, Schreiben als Begegnung (s. Anm. 26), 22. 43 WALDOW, a.a.O., 26. 44 WALDOW, a.a.O., 380. 45 WALDOW, a.a.O., 371. 46 WALDOW, a.a.O., 380.

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3. Narrative Ethik in der Theologie und Bibelwissenschaft Mit dem ,narrative turnʻ der 1970er Jahre wurde die Erzähltradition des christlichen Glaubens zwar hinsichtlich einer ,narrativen Theologieʻ47 wiederentdeckt, doch nur zögerlich wurde – zumindest im deutschsprachigen Bereich – auch ein Konzept der „narrativen Ethik“ ausgearbeitet. Nach solitären Vorläufern wie Dietrich Ritschl48 und Hans G. Ulrich49 war es mit größerer Resonanz erst Johannes Fischer, für den die Narration zum Fundament sittlicher Erkenntnis avancierte.50 Erkenntnis meint hierbei aber keineswegs eine abstrakt rationale Begründung von Ethik, wie sie in einem auf Objektivität zielenden neuzeitlichen Denken vorherrschend sei.51 Bei einem solchen Ansatz werde die Moralreflexion einem „der Moral selbst fremden Zweck unterworfen, d.h. einem Zweck, der sich nicht aus dieser selbst ergibt“.52 Fischer plädiert deshalb für einen erfahrungsbezogenen ganzheitlichen Ansatz, wie er ihn im Modell von „thick moral concepts“53 findet, die nur durch ein „in spezifischer Weise engagierte(s) Denken“ zugänglich seien. Aufgabe des Ethikers sei es, moralische Phänomene „in ihrer moralischen Signifikanz vor Augen zu stellen“ bzw. in ihrer narrativen Erschlossenheit zu vergegenwärtigen. Es sei gerade die Erzählung, die eine Lebenssituation vor Augen führt. 47

Siehe den wegweisenden Aufsatz von H. WEINRICH, Narrative Theologie, Conc(D) 9 (1973), 329–333. 48 Vgl. D. RITSCHL/H.O. JONES, ‚Story‘ als Rohmaterial der Theologie, TEH 192, München 1975; dazu W. SCHWARTZ, Dietrich Ritschls story-Konzept und die narrative Ethik, in: Hofheinz/Mathwig/Zeindler (Hgg.), Ethik und Erzählung (s. Anm. 4), 143–160. 49 Vgl. H.G. ULRICH, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005; sowie die Zusammenfassung in DERS., Wie Geschöpfe leben – zur narrativen Exploration im geschöpflichen Leben. Aspekte einer Ethik des Erzählens, in: Hofheinz/Mathwig/Zeindler (Hgg.), Ethik und Erzählung (s. Anm. 4), 303–328. 50 J. FISCHER, Vier Ebenen der Narrativität. Die Bedeutung der Erzählung in theologisch-ethischer Perspektive, in: Joisten (Hg.), Narrative Ethik (s. Anm. 4), 235–252; DERS., Zum narrativen Fundament der sittlichen Erkenntnis. Metaethische Überlegungen zur Eigenart theologischer Ethik, in: ders., Sittlichkeit und Rationalität. Zur Kritik der desengagierten Vernunft, FSy 38, Stuttgart 2010, 146–170. 51 Vgl. J. FISCHER, Rationalität oder sittliche Vernunft? Über Argumente und andere Gründe, in: DERS., Sittlichkeit und Rationalität (s. Anm. 50), 52–60; DERS., Ethik als rationale Begründung der Moral?, ZEE 55 (2011), 192–204, sowie eine erweiterte Fassung dieses Beitrags in: DERS., Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012, 25–71. 52 FISCHER, Verstehen statt Begründen, a.a.O., 33. Fischer fragt noch grundlegender, ob es dem Wesen der Moral überhaupt entspreche, rationaler Begründung unterworfen zu werden. „Wenn Ethik die Aufgabe der argumentativen Begründung der Moral hat, dann muss es sich bei der Moral um etwas handeln, das argumentativ begründet werden kann“, a.a.O., 12. 53 Siehe auch die folgenden Zitate aus FISCHER, Ethik als rationale Begründung (s. Anm. 51), 198–201.

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„Das geschieht dadurch, dass sie geschildert wird, und insofern macht es Sinn, von einer narrativen Begründung zu sprechen.“54 Die narrative Begründung sei aber vor allem durch eine „narrative Tiefenstruktur der Lebenswirklichkeit“55 plausibel, die für das christliche Leben und Handeln maßgeblich „in den Erzählungen der biblischen und christlichen Überlieferung“56 geprägt werde. Fischer spricht hinsichtlich der Partizipation an diesen Sinnstrukturen weiterhin von der „narrativen Orientierung der Lebensführung“ und einer „narrativen Symbolisierung als des Deutungshorizonts menschlicher Erfahrung“57, was vereinfacht bedeutet, dass ein Einzelner sein Leben im Licht solcher übergeordneter Deutungshorizonte wahrnimmt und in einer spezifischen Weise deuten lernt. Einen luziden Überblick über unterschiedliche theologische Konzepte einer narrativen Ethik gibt der bereits erwähnte Sammelband „Ethik und Erzählung“58. In einem begriffsgeschichtlich orientierten Einführungsartikel differenziert Marco Hofheinz in Anlehnung an Hille Haker59 ferner drei Typen einer narrativen Ethik, wobei die einzelnen Modelle jeweils in Beziehung zur Prinzipienethik gesetzt werden.60 Im Englischsprachigen finden sich hingegen in der systematischen Theologie seit den 1970er Jahren Ansätze einer narrativen Ethik. So kritisierte Stanley Hauerwas das ethische „Projekt der Aufklärung“, als könnten ethische Prinzipien durch objektivierbare, rationale Argumentation begründet werden.61 Er entwickelte demgegenüber das Modell einer ,narrativen Kasuis54

FISCHER, Zum narrativen Fundament (s. Anm. 50), 151. FISCHER, a.a.O., 156. 56 FISCHER, a.a.O., 157. 57 FISCHER, a.a.O., 161–163 und 163–167. 58 HOFHEINZ/MATHWIG/ZEINDLER (Hgg.), Ethik und Erzählung (s. Anm. 4). 59 Vgl. H. HAKER, Narrative Bioethik, in: A. Holderegger/D. Müller/B.Sitter-Liver u.a. (Hgg.), Theologie und biomedizinische Ethik. Grundlagen und Konkretionen, SThE 97, Freiburg (CH)/Freiburg i.Brsg. 2002, 227–240; wie bereits H. HAKER, Moralische Identität: Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion, Tübingen 1999. Haker spricht genau genommen von „Komplementaritätsansatz“ (Typ 1), „Substitutionsansatz“ (Typ 2) und „postmodernem Ansatz“ (Typ 3). 60 Vgl. M. HOFHEINZ, Narrative Ethik als „Typfrage“. Entwicklungen und Probleme eines konturierungsbedürftigen Programmbegriffs, in: HOFHEINZ/MATHWIG/ZEINDLER (Hgg.), Ethik und Erzählung (s. Anm. 4), 3–58, hier zu den Modellen ausführlich 30–55. 61 S. HAUERWAS, Die Kirche in einer zerrissenen Welt und die Deutekraft der christlichen ‚Story‘, übers. v. R. Hütter, in: H.G. Ulrich (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 338–381; ferner S. HAUERWAS, The Self as Story. A Reconsideration of the Relation of Religion and Morality from the Agentʼs Perspective, in: ders., Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection, Notre Dame 1974, 68–89. Hauerwas verwirft nicht generell die Fundierung der Ethik durch Prinzipien, wohl aber die „Fokussierung auf Prinzipien, wie sie sich in der beschriebenen Tradition in Gestalt ihrer Letztbegründungsarrangements manifestiert habe“, HOFHEINZ, Typfrage (s. Anm. 60), 41. 55

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tikʻ, und verstand darunter „einen Prozess, durch den eine Tradition prüft, ob ihre Praktiken im Licht ihrer grundlegenden Gewohnheiten und Überzeugungen konsistent [das heißt der Wahrheit entsprechend] oder inkonsistent sind oder ob diese Überzeugungen neue Praktiken und ein neues Verhalten erfordern“.62 Einen in ähnlicher Weise gemeinschaftsethischen Ansatz vertrat auch der Theologe James W. McClendon, nach dem jede Ethik bewusst oder unbewusst Erzählungen voraussetze und erfordere. „The general strategy will be to show not that narrative ethics obliterates other kinds of ethical interests, but that these other approaches presuppose and require some narrative“.63 Die Ethik der Kirche basiere entsprechend auf den fundierenden Erzählungen der christlichen Tradition.64 Die christliche Ethik erhalte ihre spezifische Prägung in der Referenz auf die Story Gottes in Jesus Christus, wie sie die Bibel erzählt. Das „Proprium der christlichen Ethik kann nicht ohne Rekurs auf diejenige biblische Erzählung bestimmt werden, die jener Ethik zumindest genetisch und hermeneutisch zur Grundlage dient“.65 McClendon entwirft dabei ein hermeneutisches Prinzip („hermeneutical motto“), nach dem der biblische Text nicht nur rezeptionsästhetisch zu mir, sondern auch inhaltlich von mir spricht.66 Vergleichsweise spät können nun auch Ansätze einer ,Narrativen Ethikʻ in der Bibelwissenschaft wahrgenommen werden. Es verwundert kaum, dass aufgrund der großen Erzählzyklen (z.B. Erzelternerzählungen) und weisheitlichen Lehrerzählungen (z.B. Jona; Joseph) zunächst in der alttestamentlichen Wissenschaft das Konzept der narrativen Ethik entfaltet wurde.67 So arbeitete etwa Mary E. Mills den ethischen Gehalt alttestamentlicher Geschichten hin-

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S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. v. R. Hütter, übers. v. G.M. Clicqué, Evangelium und Ethik 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 183. 63 J.W. MCCLENDON, Ethics: Systematic Theology I, Nashville ²2002, 327; sowie DERS., Narrative Ethics and Christian Ethics, FaPh 3 (1986), 383–396. Vgl. zu diesem Ansatz H. SCHULZ, Narrative Theologie und Sprachanalyse. Die Ethik James William McClendons, in: Hofheinz/Mathwig/Zeindler (Hgg.), Ethik und Erzählung (s. Anm. 4), 113–142. 64 Vgl. MCCLENDON, Ethics (s. Anm. 63), 331. 65 SCHULZ, Narrative Theologie (s. Anm. 63), 138, mit Verweis auf MCCLENDON, Ethics (s. Anm. 63), 342f. 66 Zum „hermeneutical motto“ siehe MCCLENDON, Ethics (s. Anm. 63), 30. Vgl. auch die treffende Darlegung bei SCHULZ, Narrative Theologie (s. Anm. 63), 119, der dieses Prinzip im Anschluss an McClendon als „rezeptionsästhetisch selbstinvolvierende Logik der Vision“ bezeichnet. 67 Vgl. G.J. WENHAM, Story as Torah. Reading Old Testament Narrative Ethically, Edinburgh 2000; M.E. MILLS, Biblical Morality. Moral Perspectives in Old Testament Narratives, Burlington 2001; ferner den Artikel E. OTTO, Narrative Begründungen von Ethos in der Ethik des Alten und Neuen Testaments, in: Horn/Zimmermann (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ (s. Anm. 6), 77–96.

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sichtlich leitender Figuren (z.B. David), des gesamten Plots (z.B. Ruth) oder des Raum-Zeit-Arrangements (z.B. in der Urgeschichte) heraus.68 Für das Neue Testament möchte ich exemplarisch auf Arbeiten zum Johannesevangelium verweisen, die die Ethik des vierten Evangeliums narrativ beschreiben. Das Beispiel kann insofern auch die Leistungsfähigkeit einer narrativen Betrachtung biblischer Ethik zeigen, als das Johannesevangelium im biblisch-ethischen Diskurs oft vergessen wurde.69 So ist für Jan van der Watt das Verhalten der Handlungsfiguren ein Zugangstor zur Ethik des Evangeliums: „The ‚port of entry‘ into the Gospel material will be the behavior of [A]actors in the narrative of the Gospel giving due attention to the action lines“.70 Aufgabe des Rezipienten sei es, „to enter into the narrative world of this Gospel and to follow the lines of behavior of the characters therein“. Diese narratologische Ethikanalyse führe dann nicht nur zur Entdeckung der „shared values in this Gospel“,71 sondern ermögliche auch dem Rezipienten, an den Wertvorstellungen und moralischen Regeln – für van der Watt am „Ethos“ – der johanneischen Gemeinschaft zu partizipieren. Anders als van der Watt hat Michael Labahn explizit von einer ,narrativen Ethikʻ des Johannesevangeliums gesprochen. Labahn sieht in den Akteuren auf Erzählebene Identifikationsmodelle für den Leser des Evangeliums: „Als Identifikationsmodelle haben die narrativen Charaktere eine Vorbildfunktion für die Gestaltung des sozialen Miteinanders in den Gemeinden wie auch in der die Gemeinde umgebenden Gesellschaft. Sie können daher als erzählte Modelle betrachtet werden, in denen sie Muster ethischen Verhaltens spiegeln“.72

Der geheilte Blinde „ist damit ein Repräsentant narrativer Ethik, die nicht in Weltflucht, sondern in diskursiver Auseinandersetzung mit der Mitwelt den 68

Siehe die drei großen Teile in MILLS, Biblical Morality (s. Anm. 67), 1. Morality and Character, 2. Morality and Plot, 3. Morality, Time, and Space. 69 Vgl. dazu umfassender R. ZIMMERMANN, Is There Ethics in the Gospel of John? Challenging an Outdated Consensus, in: J.G. van der Watt/R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John. ‚Implicit Ethics‘ in the Johannine Writings, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics III, WUNT 291, Tübingen 2012, 44–80, sowie R. ZIMMERMANN, Narrative Ethik im Johannesevangelium am Beispiel der Lazarus-Perikope Joh 11, in: J. Frey/U. Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie des Johannesevangeliums, BThS 100, NeukirchenVluyn 2012, 133–170. 70 J.G. vAN DER WATT, Ethics and Ethos in the Gospel according to John, ZNW 97 (2006), 147–176, 151. 71 So die Überschrift über dem zweiten Hauptteil des Artikels, VAN DER WATT, Ethics and Ethos, a.a.O., 152–158. 72 M. LABAHN, Der Weg eines Namenlosen – Vom Hilflosen zum Vorbild (Joh 9). Ansätze zu einer narrativen Ethik der sozialen Verantwortung im vierten Evangelium, in: R. Gebauer/M. Meiser (Hgg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk) Marburg 2003, 63–80, 65.

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eigenen Standort zu wahren sucht“.73 In ähnlicher Weise verwendet auch Udo Schnelle den Begriff der ,narrativen Ethikʻ für diese Analyse des ethischen Potenzials der Handlungsfiguren.74 Der vierte Evangelist „gestaltet in und mit der Erzählung Charaktere mit Identifikationspotenzial, die Modelle ethischen Verhaltens anbieten“.75 Schnelle verweist als Beispiele auf Nikodemus, den Blindgeborenen, die Figuren der Lazarusperikope und ausführlicher auf den Lieblingsjünger als „Modell-Jünger schlechthin“. 76 Zwei Mainzer Dissertationen haben jüngst die Idee einer ,narrativen Ethikʻ des Johannesevangeliums monographisch untersucht und haben in ihren jeweiligen Akzentuierungen einen komplementären Wert. Auch für Karl Weyer-Menkhoff stellt die Form der Erzählung „nicht eine sekundäre, illustrative Einkleidung diskursiver Argumente, sondern […] eine eigene Weise der Reflexion dar.“77 Narrative Ethik versteht er deshalb in einem eher fundamentalethischen Sinn als „Gestaltung eines Sinnhorizonts menschlichen Handelns.“78 Entsprechend wird das systematische Konzept einer narrativen Ethik anhand grundlegender Elemente des „sprachlichen Feldes des Handelns“ untersucht, wobei Formen, Horizonte und Modi des Handelns unterschieden werden.79 Für Fredrik Wagener steht hingegen die Erzählweise im Sinne des Discours der Erzählung im Vordergrund, weshalb er stärker an die narratologischen Methoden der Erzähltextanalyse anknüpft. Zentraler Untersuchungsgegenstand sind dabei die literarisch gestalteten Handlungsfiguren, die ethisch betrachtet zu Handlungsmodellen werden können. Anhand einer differenzierten Figurenanalyse von vier Figuren (die samaritanische Frau, Petrus, Judas und Thomas), zeigt Wagener, wie die narrative Darstellung unmittelbar ethische Perspektiven eröffne: Charakter und Eigenschaften zeigen die „ethische Identität“, das Verhältnis zu anderen Figuren lasse sich als „Beziehungsethik“, die Handlungen als „Handlungsethik“ und schließlich Symbol und Funktion einer Figur als „Rollenethik“ deuten. Auch für Wagener bleibt die hermeneutisch-rezeptionsästhetische Dimension ein wesentliches 73

LABAHN, Weg eines Namenlosen, a.a.O., 76. U. SCHNELLE, Johanneische Ethik, in: C. Böttrich (Hg.) Eschatologie und Ethik im frühen Christentum (FS G. Haufe) Frankfurt 2006, 309–327. 75 Vgl. SCHNELLE, Johanneische Ethik, a.a.O., 322. Die „narrative Ethik“ ist nur ein möglicher Zugang für Schnelle zur Ethik des Johannesevangeliums (hier „6. Narrative Ethik“, 322–325). Daneben wird auch ein „prinzipielles Denken“ (3., 313–316), das Liebesgebot (4., 316–321) samt seiner Einbettung in den antiken Kontext (7., 325–327) aufgeführt, die „Ethik des 1. Johannesbriefes“ (5., 321–322) wird eigens dargestellt. 76 SCHNELLE, Johanneische Ethik, a.a.O., 324f. 77 K. WEYER-MENKHOFF, Die Ethik des Johannesevangeliums im sprachlichen Feld des Handelns, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics V, WUNT II/359, Tübingen 2014, 51. 78 Ebd. 79 Siehe Teil B der Untersuchung, vgl. WEYER-MENKHOFF, Die Ethik des Johannesevangeliums, a.a.O., 67–250. 74

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Element einer erzählenden Moralreflexion: „In narrativer Ethik wird der Leser im Prozess des ethischen Denkens angeleitet, als ethisches Subjekt geformt und so zu einem ethisch verantwortungsvollen Handeln aus dem Glauben heraus befähigt.“80 Der Beitrag von Sönke Finnern im folgenden Abschnitt verfolgt in analoger Weise den methodologischen Weg von Wagener. Wenn die Ethik in narrativen Texten nicht nur mit den sprachlichen Mitteln der Erzählung, sondern als Erzählung konstituiert wird, bedarf es auch einer narratologischen Methodik, um die in der Erzählung selbst liegende narrative Ethik beschreiben zu können. Die Methodik zielt aber zugleich auf Aneignung und Verstehen und betätigt die in der ‚narrativen Ethik‘ der Philosophie und Literaturwissenschaft bereits sichtbar gewordene hermeneutische Dimension dieser Reflexionsform. Dem bzw. der Lesenden kommt eine konstitutive Rolle zu, wenn es darum geht, die Handlungsbegründung einer Erzählung wahrzunehmen und zu beschreiben. Die ,narrative Ethikʻ ist immer zugleich eine wirkungsästhetische Ethik. Sie wird durch die Narrativität des Textes evoziert, kommt aber erst in der ‚narrativ-ethischen Identität‘ des Rezipienten bzw. der rezipierenden Gemeinschaft zur Entfaltung und Geltung.

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F. WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle. Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas und Thomas als Zugänge zu einer narrativen Ethik des Johannesevangeliums, Diss. masch. Universität Mainz 2014, 439 (erscheint in WUNT, 2015).

Narrative Ethik Lesarten, Dimensionen, Anwendungen Karen Joisten Es gibt Texte, die den Lesenden in einer Weise ‚mitnehmenʻ können, dass er durch die Lektüre ein anderer zu werden vermag. Es sind Texte, die den Menschen betreffen und von denen der Mensch betroffen wird. Der Lesende sieht plötzlich sich und die Welt mit anderen Augen: Er erfasst vielleicht Zusammenhänge, die er vorher nicht gesehen hat; er durchdringt vielleicht endlich ein bestimmtes Verhalten seiner Mitmenschen, das ihm zuvor undurchsichtig gewesen ist; in ihm breitet sich eine Empfindsamkeit angesichts des geschilderten Glücks oder Leids aus, wie er sie seit Längerem nicht mehr spüren konnte. Bei einer solchen Lektüre gelingt es dem Lesenden, sein Selbst-Welt-Verständnis zu ändern, das mit einer Änderung seines SelbstWelt-Verhältnisses einhergeht. Vollzieht sich diese Selbstveränderung des Lesenden im Lektüreprozess, kann darin zum Vorschein treten, dass bereits Verstehen und Handeln in einer elementaren Weise miteinander verschränkt und in- und miteinander verwoben sind. Sprechend kommt dieser elementare Zusammenhang zwischen konkreter Theorie und Praxis in dem ethischen Grundsatz: ‚so wie man einen Menschen sieht, so behandelt man ihn auch – und umgekehrtʻ, zum Vorschein.1 Solche Texte, die den Lesenden zu einer Veränderung seiner selbst führen können, sind sicherlich ein gelungenes Zusammenspiel dessen, was mit den Grundworten ‚Logos, Ethos und Pathosʻ überschriftartig angezeigt werden kann: sie bieten wichtige Gesichtspunkte, Argumente und Fakten, sie treten (implizit oder explizit) für eine ethische Grundhaltung und Grundüberzeugung ein, sie appellieren an den Lesenden, fordern ihn auf und heraus und können ihn emotional-intellektuell bewegen. So sprechen sie, anschaulich gesagt, Kopf, Hand und Herz an und verbinden Theorie und Praxis in einer originären Weise. Würde man innerhalb des lebendigen Zusammenspiels dieser Grundworte ein Grundwort herausstanzen und es verabsolutieren, 1

Vgl. dazu die wichtigen Ausführungen von P. KEMP, auf die wir im zweiten Teil zurückkommen werden: Das Unersetzliche. Eine Technologie-Ethik, aus dem Dänischen von Heinz Kulas, Berlin 1992.

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könnte das eine oder andere Irrlicht sichtbar werden, das schnurstracks jeweils in eine andere Sackgasse führt: auf den Logos bezogen könnte dies ein blutleeres Kalkül sein, auf das Ethos bezogen eine menschenverachtende Ideologie und auf das Pathos bezogen eine bloße Manipulation und Instrumentalisierung des Menschen, die eigenen Interessen dient. Will man sich Lesarten, Dimensionen und Anwendungsmöglichkeiten einer narrativen Ethik vor Augen führen, hat man diese drei Grundworte stets vor Augen. Denn sie öffnen in ihrem Zusammenspiel den Horizont, innerhalb dessen sich die Ausführungen zu einer narrativen Ethik bewegen. So kann man aus der Logosperspektive die Frage stellen, inwiefern in begründeter Weise Plausibilitäten formuliert werden und – hier kommt die Ethosperspektive ins Spiel – eine ethische Haltung dadurch allererst Gewicht erhält. Und schließlich kann auch in der Pathosperspektive z.B. die Frage verfolgt werden, ob im Sinne der von Paul Ricœur sogenannten „konkreten Reflexion“ im Kontext einer „reflexiven Hermeneutik“ überhaupt der Prozess des Selbstverständnisses des Lesenden initiiert wird, in dessen Verlauf sich der Leser „besser versteht, anders versteht oder überhaupt erst zu verstehen beginnt“. 2 Anders gefragt: inwiefern der Text es vermag, den Lesenden anzusprechen, so dass er den ethischen Anspruch vernehmen kann, der dem Text immanent ist. Wollte man vor diesem Hintergrund die Aufgaben, Probleme und Grenzen einer narrativen Ethik genauer darlegen, kann dies sicherlich nicht auf wenigen Seiten geschehen. Wir können aber an das bisher Gesagte anknüpfen und es gedanklich ein wenig weiter voranzutreiben versuchen. Um dies zu leisten, gehen wir in drei Schritten vor: wir konturieren zunächst die Zielsetzungen einer narrativen Ethik, indem wir drei mögliche Lesarten voneinander abheben und sie durch eine vierte Lesart zu bereichern versuchen. Im zweiten Schritt greifen wir erneut den Gedanken des inneren Zusammenhangs zwischen den Grundworten Logos, Ethos und Pathos auf und versuchen diesen weiter zu entfalten. Dabei wird auch der innere Zusammenhang zwischen der Ethik und der Anthropologie, besser gesagt, einem Ethos und einem Menschenbild, thematisiert. Im dritten Schritt geht es um den Fingerzeig auf Anwendungsfelder einer narrativen Ethik, wodurch sichtbar werden kann, dass es ihr im Zuge von Konkretisierungsvollzügen eher als anderen Ethikkonzeptionen gelingt, den einzelnen Menschen, diesen hier in seiner Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit, ins Zentrum zu rücken.

2

P. RICŒUR, Was ist ein Text?, in: DERS., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. und hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, 79–108, 99.

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1. Narrative Ethik: Drei Lesarten und eine vierte Wendet man sich dem Aufgabengebiet einer narrativen Ethik zu, ist es erforderlich, dieses zu umreißen und den spezifischen Zugang, den es zum Menschen und seinem Handeln eröffnet, freizulegen. Das ist alles andere als einfach, da es die narrative Ethik als eine etablierte, tradierte und gewissermaßen in Lehrbüchern nachschlagbare ethische Richtung (noch) nicht gibt. Stattdessen findet sich eine Vielzahl von Positionen, die man der narrativen Ethik zuordnen könnte,3 da sie den Menschen etwa als ein narratives Wesen deuten, im Zuge dessen ein narratives Handlungsverständnis erforderlich wird.4 Schaut man sich aber auch diese Positionen genauer an, die man unter dieser Bestimmung menschlichen Seins als eines narrativen Wesens subsumieren kann, bilden sie alles andere als eine homogene, gewissermaßen ‚an einem Strang ziehendeʻ Gruppierung. Lässt man allerdings diesen Gesichtspunkt außer Acht und hebt das Gemeinsame hervor, kann man darunter Positionen wie z.B. die von Wilhelm Schapp (der Mensch als der „In-GeschichtenVerstrickte“)5, von Seyla Benhabib, Charles Taylor und Paul Ricœur (der Mensch als ein narratives Selbst) und Alasdair MacIntyre (der Mensch als ein „erzählendes Tier“)6 anführen. Um trotz dieser Schwierigkeiten dennoch einen Einblick in das Aufgabengebiet einer narrativen Ethik gewinnen zu können, ist es hilfreich, drei Lesar3

Ein wichtiger bibliographischer Überblick zu Grundlagen, Grundpositionen und Anwendungen innerhalb der narrativen Ethik findet sich bei N. THIEMER, „Narrativität und Ethik“. Ein bibliographischer Kommentar, in: K. Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, DZPh.S 17, Berlin 2007, 293–301. 4 Siehe dazu die Ausführungen von L. TENGELYI, Narratives Handlungsverständnis, in: K. Joisten, Narrative Ethik, a.a.O., 61–73. Aus der Perspektive einer narrativen Ethik kann mit Tengelyi eine Grundstruktur sichtbar werden, die zur Frage nach dem Verhältnis von – aristotelisch gesagt – Miturheberschaft und Urheberschaft führt, aber auch auf das Problem des Nachdenkens über ein Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht zwischen der Notwendigkeit und der Freiheit verweist. Der handelnde Mensch wird nämlich nun, wie es Tengelyi zufolge Paul Ricœur explizit herausgehoben hat, nicht nur „als Urheber von Handlungsinitiativen“ erfasst, sondern auch als „dezentrierter Miturheber in seiner ganzen Wirklichkeitsgebundenheit“ dargestellt. 5 Wilhelm Schapp gilt als Vater der Geschichtenphilosophie, der die anthropologische Grundthese: der Mensch ist qua Mensch „in Geschichten verstrickt“ in seinem Denken entfaltet. Von Relevanz sind insbesondere die folgenden drei Bücher seiner Geschichtentrilogie: W. SCHAPP, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, (Frankfurt 52012). DERS., Philosophie der Geschichten, Leer/Ostfriesland 1959 (übernommen Wiesbaden 1975), (3. durchgesehene Aufl. hg. v. Karen Joisten/Jan Schapp, Frankfurt 32014). DERS., Metaphysik der Naturwissenschaft, Den Haag 1965, Frankfurt 3 2009. 6 A. MACINTYRE, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1995.

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ten einer narrativen Ethik voneinander abzuheben.7 Während die erste Lesart, wie wir zeigen werden, buchstäblich auf einen Holzweg führt und nicht begangen werden kann, repräsentieren die beiden anderen Lesarten Hauptforschungsrichtungen innerhalb der narrativen Ethik. Sie können, wie wir zu zeigen versuchen, durch eine vierte Lesart bereichert werden. In einer ersten Lesart verwendet man das Adjektiv ‚narrativʻ (fälschlicherweise) zur Kennzeichnung der Art und Weise des Redens, Schreibens und Denkens einer Ethik. Sie scheint aus dieser Sicht erzählend zu sein und das heißt, Ethik scheint sich auf erzählende Formen festzulegen und primär erzählende Texte, gleichgültig welcher Form sie angehören, also beispielsweise Anekdoten, Aphorismen, Märchen und Sagen einzusetzen, um mit ihrer Hilfe philosophische Reflexionen zu moralischen Phänomenen und Normen vorzunehmen. Der Ethiker/die Ethikerin verfährt dann scheinbar selbst narrativ, um ethische Fragen und Probleme ‚zu transportierenʻ. Versteht man Ethik als eine philosophische Disziplin, der es um das kritische Hinterfragen moralischer Phänomene und Zusammenhänge geht und einen wissenschaftlichen Anspruch hat, wird man spätestens auf den Widerspruch zwischen dem Adjektiv ‚narrativʻ und dem Wort ‚Ethikʻ in einer solchen Lesart aufmerksam: ‚narrativʻ würde bedeuten, ausschmückend, illustrierend oder auch veranschaulichend das durch die Ethik zu klärende moralische Problem bzw. Phänomen darzulegen, wo dem wissenschaftlichen Anspruch einer Ethik eher eine begrifflich ‚saubereʻ Sprache gefordert wäre. Man kann folglich konstatieren, dass eine solche Lesart in die Fänge einer Contradictio in adjecto gerät, aus einer anderen Sicht gesagt, dass ein Kategorienfehler vorliegt, da das Verfahren bzw. der Vollzug (das Narrative) mit dem Gegenstandsbereich (dem Feld der Narrationen) verwechselt wird. Gerade diese falsche Lesart führt häufig zu Missverständnissen über Aufgaben und Ziele einer narrativen Ethik und zu Polemiken.8 In der zweiten Lesart setzt die narrative Ethik bei Narrationen an, in denen moralische Phänomene, Zusammenhänge und Wertvorstellungen narrativ vermittelt sind, und versucht diese kritisch zu untersuchen. Konzentriert man 7 Der Sache nach greife ich bei der Abhebung der drei Lesarten auf meine Ausführungen zurück, die ich in der Einleitung des Sammelbandes „Narrative Ethik“ veröffentlicht habe. Allerdings werden sie modifiziert und an einer Stelle auch korrigiert und schließlich durch eine vierte Lesart ergänzt. Siehe dazu: K. JOISTEN: Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen, in: dies. (Hg.), Narrative Ethik (s. Anm. 3), 9–21. 8 So hat mich z.B. ein Kollege bei der Herausgabe des Sammelbandes „Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen“ auf diese Fehldeutung hingewiesen und vorgeschlagen, lieber einen anderen Titel zu wählen, um sich diesem Missverständnis gar nicht erst auszusetzen. Allerdings würde ein Philosoph, der der praktischen Philosophie zuzuordnen ist, diese Zuordnung auch nicht vornehmen, um einer Philosophie, die praktisch verfährt, anzugehören.

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sich in einer narrativen Ethik bei den Narrationen auf Geschichten und Erzählungen – man könnte sich auch dem Film, dem Theater oder der Kunst als Narrationengebilde zuwenden –, kann man an eine sprechende Wendung von Paul Ricœur anknüpfen, der von Geschichten und Erzählungen als „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen“9 gesprochen hat. In ihnen kommt in verdichteter Weise die Lebenswirklichkeit handelnder Menschen mit ihren Sinnstiftungen und Wertvorstellungen zum Ausdruck. Das Wort ‚narrativʻ legt in dieser Lesart den Fingerzeig auf den Gegenstandsbereich der Geschichten und Erzählungen, die mit der Ethik als Inbegriff der philosophischen Reflexion und kritischen Hinterfragung der in den Geschichten und Erzählungen enthaltenen moralischen Implikationen einhergeht. In dieser Lesart ist der narrativen Ethik die Grundüberzeugung immanent, dass es keinen unmittelbaren Zugang zur Lebenswelt gibt, ebenso wie die Lebenswelt selbst narrativ vermittelt ist, also sprachlich modelliert, geformt und gestaltet wurde und immer wieder wird. Auf diese Weise ist die in Geschichten und Erzählungen moralisch gedeutete Lebenswirklichkeit „Medium der ethischen Reflexion“ und kann dergestalt auch zum „Medium für die ethische Reflexion“ einer narrativen Ethik werden.10 Ein solches Verständnis einer Ethik ist für die Literaturwissenschaft oder auch für die Theologie von besonderer Relevanz, die die Heilige Schrift zu ihrem Gegenstand hat, in der in literarischen Formen Glaubens- und Moralgehalte aufs Engste miteinander verwoben sind;11 aber auch in der Psychologie kann – allerdings aus einer anderen Perspektive – auf Erzählungen und Geschichten zurückgegriffen werden. Sie können dabei eine Vermittler- und Mittelfunktion für eine ethische Reflexion des Patienten gewinnen und beispielsweise „bestehende Normen stabilisieren“ oder auch „bestehende Normen relativieren“.12 In einer dritten Lesart geht man davon aus, dass der Ethik selbst eine narrative Dimension immanent ist und diese den primären Zugang zum handelnden, konkreten Menschen darstellt.

9

P. RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 201. Vgl. D. MIETH, Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik. Mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Mainz 1976, 59. 11 Es ist daher kein Zufall, dass in den Anfängen eines Nachdenkens über die philosophische Relevanz von Narrationen im Kontext der Ethik zunächst wesentliche Impulse von theologischer Seite ausgingen. Vgl. paradigmatisch: H. WEINRICH, Narrative Theologie, Conc(D) 9 (1973), 334–341. J.B. METZ, Kleine Apologie des Erzählens, Conc(D) 9 (1973), 334–341. B. WACKER, Narrative Theologie?, München 1977. J. DUQUE, Narrative Theologie. Chancen und Grenzen – Im Anschluss an E. Jüngel, P. Ricœur und G. Lafont, ThPh 72 (1997), 31–52. 12 N. PESESCHKIAN, Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie, Frankfurt 302009, 29. 10

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Aufgabe der narrativen Ethik ist es dann, das Handeln und (Er-)Leben des Menschen mittels der Narrativität zu deuten. Dieser Lesart zufolge ist der Mensch mit seiner Geburt in einem kulturell bedingten Narrationenbezugsgewebe menschlichen Miteinanders eingebunden, dessen Fäden, Strukturen und Muster vom einzelnen im Laufe seines Lebens gedeutet und letztlich auch handelnd und sprechend verändert werden können.13 Will man sich daher dem Menschen und seinem Handeln in einer narrativen Ethik nähern, geschieht dies über die Deutung seiner narrativen Verfasstheit in einem narrativ vermittelten Kontext, der stets moralische Wertungen implizit und explizit mit sich führt. Und es geschieht, indem man etwa die Freilegung und Analyse von narrativen Strukturen, Kontexten, Zusammenhängen und Formen intendiert, deren Ergebnisse auf die Deutung des Menschen und seines Handelns übertragen werden. Geht es um die Deutung des Menschen in seiner narrativen Verfasstheit, kann der Bogen zurück zur narrativen Anthropologie gespannt werden, da in dieser, wie bereits kurz aufgegriffen, etwa Seyla Benhabib, Charles Taylor und Paul Ricœur den Menschen als ein narratives Selbst deuten, oder Wilhelm Schapp das konstitutionelle In-Geschichten-Verstricktsein des Menschen herausgehoben hat. Programmatisch schreibt er: „Der Mensch ist nicht der Mensch aus Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.“14 Menschsein heißt, so könnte man stichwortartig anführen, immer schon in Geschichten verstrickt sein, heißt: narrativ sein, heißt: sich durch und durch als narrativ strukturiert erweisen. Geht es um die Freilegung und Analyse von narrativen Strukturen, Kontexten, Zusammenhängen und Formen, um diese auf die Deutung des Menschen und seines Handelns anzuwenden bzw. zu übertragen, kann ein wichtiges Beispiel angeführt werden: So kann die von Aristoteles vorgenommene Bestimmung der klassischen Tragödie strukturell gelesen und auf den Menschen übertragen werden. Von hier aus könnte man das Leben des Menschen insgesamt als eine narrative Form erfassen, bei der jede Person in der Einheit ihres Lebens zugleich die Einheit einer ganzen und in sich geschlossenen Lebensgeschichte (Tragödie) verkörpert. Die aristotelische Bestimmung der Tragödie repräsentiert aus dieser Sicht eine narrative Grundform, die zugleich eine Bestimmung der Grundstruktur des Menschen ist. Dazu gehört es, dass der menschlichen Lebensgeschichte in aller brüchigen Einheit ein Telos im13

Hannah Arendt hat in ihrer wichtigen Untersuchung „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (Erstausgabe im Amerikanischen 1958 unter dem Titel „The Human Condition“) dieses unhintergehbare Zusammengehören des Einzelnen und der Gemeinschaft in den Blick genommen: „Da Menschen nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus“. H. ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 71992, 174. 14 W. SCHAPP, In Geschichten verstrickt (s. Anm. 5), 105.

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manent ist, insofern sie von dem prägnanten Anfang der Geburt über Richtungsänderungen und Umschlagpunkte (Peripetien) bis hin zum unausweichlichen Ende des Todes verläuft. In dieser werden die Elemente, das sind die Ereignisse und Handlungen, nicht einfach zufällig bzw. „nach-einander“ (meta), sondern in einer zeitlichen Selektion „durch-einander“ (dia) zusammengeführt und sinnhaft miteinander verbunden – was nach den Regeln der Notwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit geschieht.15 Versucht man – wie mit Hilfe des einen Beispiels der Anwendung der aristotelischen Bestimmung der klassischen Tragödie auf die Bestimmung menschlichen Seins/Lebens angedeutet wurde –, den primären Zugang zum Handeln und (Er-)Leben des Menschen mittels der Narrativität zu gewinnen, geht es auch um die Frage nach der Relevanz von Geschichten für das eigene Selbstverständnis und das der anderen. Und es geht – um eine weitere Fragestellung wenigstens zu nennen – um Bestimmung, Relevanz und Reichweite des Erzählens.16 Würde man etwa von einer narrativen Strukturierung menschlichen Handelns und Lebens ausgehen, wie es MacIntyre oder auch David Carr tun, gehört Erzählen konstitutiv zum Menschen als dem „erzählenden Tier“; allerdings ließe sich Erzählen auch als eine nachträgliche mündliche oder schriftliche Formung des nicht-narrativ strukturierten und nicht narrativ sich vollziehenden Lebens deuten, wie dies beispielsweise Louis O. Mink und Hayden White vertreten. In einer vierten Lesart lässt sich narrative Ethik als das umfassende philosophische Bemühen deuten, den konkreten Menschen in seiner Besonderheit und Unverwechselbarkeit, anders gesagt, den Menschen im Kontext seiner je eigenen Lebensgeschichte(n) als Inbegriff einer Vielzahl von Geschichten, ins Zentrum zu rücken. Es geht dann primär nicht um Abstraktionsprozesse, sondern um Zugänge, Methoden und Verfahren mittlerer Reichweite, mit deren Hilfe Konkretisierungsprozesse initiiert oder vollzogen werden können. Bei einer solchen Lesart, in der die beiden zuvor genannten Lesarten integriert werden können, sind die eingangs herausgehobenen Grundworte Logos, Ethos und Pathos leitend. Sie führen uns zu Dimensionen einer narrativen Ethik, die konstitutiv für sie sind und ihre spezifische Ausformung und Ausrichtung zum Verständnis bringen. Dieser vierten Lesart wollen wir uns im nächsten Schritt des vorliegenden Beitrags zuwenden.

15

Pointiert kann MacIntyre vor diesem Hintergrund daher formulieren, dass die „wahre Gattung des Lebens [...] weder die Hagiographie noch die Saga, sondern die Tragödie“ ist. A. MACINTYRE, Der Verlust der Tugend, Frankfurt/NewYork 1995, 283. 16 Unverzichtbar sind hier u.a. die Überlegungen von Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Maurice Blanchot und François Lyotard.

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2. Dimensionen einer narrativen Ethik. Oder: Das Zusammengehören von Logos, Ethos und Pathos Der narrativen Ethik sind primär drei Dimensionen immanent, die man in der Orientierung an den drei genannten Grundworten Logos, Ethos und Pathos voneinander abheben kann. Würde man diese Dimensionen aus der Sicht von traditionellen Forschungsrichtungen in der Philosophie umschreiben wollen, würde die am Grundwort Logos orientierte Dimension die erkenntnistheoretische Dimension betreffen, die der Logik, genauer gesagt, der Topik, zuzuordnen ist. Die am Ethos orientierte Dimension würden auf die Anthropologie und die Kulturphilosophie verweisen und die am Pathos orientierte Dimension innerhalb der Hermeneutik (und letztlich auch der Affektenlehre) zur Sprache kommen. In diesem Abschnitt kann es nicht gelingen, umfassendere und detaillierte Ausführungen vorzulegen,17 was aber geleistet werden kann, ist einen ersten Einblick in die jeweilige Dimension zu eröffnen und die Grundzüge einer narrativen Ethik zu skizzieren. Schematisch kann das Gesagte folgendermaßen veranschaulicht werden: Narrative Ethik

Logos

Ethos

Pathos

Topik

Anthropologie

Hermeneutik

Abb. 1: Grundzüge einer narrativen Ethik.

Beginnen wir mit dem Grundwort Ethos und der anthropologischen und letztlich auch kulturphilosophischen Dimension, die der narrativen Ethik immanent sind. Anknüpfen können wir dabei zunächst an die eingangs herausgestellten Überlegungen, die Peter Kemp geradezu programmatisch in seiner „Technologie-Ethik“ formuliert hat: „Die Ethik ist Menschenbild, unlösbar verbunden mit einer Vorstellung von Gesellschaft und Natur. Daher der Grundsatz: So wie man einen Menschen sieht, so behandelt man ihn auch – und umgekehrt.“18 Nach dieser These geht jede Deutung des Menschen mit einer Deutung seines Handelns einher, insofern der Blick eines Menschen auf seinen Mitmenschen auch ein (Be-)Handeln mit sich führt. Versteht man etwa wie Pla17

Dieser Aufgabe stelle ich mich in einer Untersuchung, die allerdings noch nicht abgeschlossen ist. 18 P. KEMP, Das Unersetzliche (s. Anm. 1), 275.

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ton den vernünftigen Teil der Seele als das Eigentümliche des Menschen, hat der Mensch sein Leben lang auch diesen Teil seiner selbst zur Entfaltung zu bringen, um sich dadurch in einer rechten und angemessenen Weise als Mensch zu verwirklichen und sein Handeln entsprechend zu vollziehen. Erfasst man in dieser Traditionslinie den Menschen nun aber nicht primär als ein animal rationale, das sich durch Logos, Vernunft, Denken, Geist oder eben die Rationalitas auszeichnet, sondern aus einer narrativen Perspektive, dann ist er zunächst und zuvor ein mit seiner Geburt in ein Narrationenbezugsgewebe (einen spezifischen Kontext) eingebundenes Wesen. Dergestalt ist er mit seiner Geburt ein bereits durch und von Narrationen erzähltes (im Sinne eines erzählt werdendes) Lebewesen, er vermag aber auch selbst Narrationen hervorzubringen und sie zu erzählen. Auch wenn es vielleicht etwas ungewohnt klingen mag, kann man daher vom Menschen als einem narrationenhaften, und das meint ein narrationenbildendes und narrationenbasiertes Wesen reden. Das meint: Der Mensch ist als ein narrationenhaftes Wesen im Unterschied zu den übrigen Lebewesen dazu fähig, Narrationen (z.B. Erzählungen, Geschichten, Filme) hervorzubringen. Zumal er auch als ein narrationenbasiertes Wesen immer schon in ein bestehendes Narrationennetz eingewoben ist. Mensch(en) und Narrationen lassen sich von hier her nicht trennen, da der primäre Zugang des Menschen und der primäre Zugang zum Mitmenschen über die Narrationen erfolgt, die bereits bestehen (wie z.B. die Ursprungsgeschichten oder die religiösen Geschichten seiner Kultur), in die er besonders tief verstrickt ist (wie die Geschichte seiner Vorfahren) und die er eigentätig gestaltet und schöpferisch hervorbringt.19 Nimmt man das Gesagte ernst, ist der einzelne Mensch, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, von vornherein in ein Narrationenbezugsgewebe eingebunden, das ein Ethos, und das meint, je spezifische, kulturell bedingte, haltgebende Lebensbindungen, Wertvorstellungen, Normen, Ideale etc., in sich birgt. Hier könnte man mit Paul Ricœur davon sprechen, dass der kulturelle Hintergrund, den der Dichter vorfindet, bereits durch „eine Vorform der Lesbarkeit“20 ausgezeichnet ist. Anders gesagt: dass dieser bereits pränarrativ gestaltet ist. Weitet man diese Überlegungen aus, indem man sie, wie bei Ricœur, nicht nur auf den Autor und Leser, sondern auf den Menschen schlechthin bezieht, kann der Mensch über sich und seine Handlungen nur berichten und sie weitergeben, weil sie in einem lebendigen, kulturell beding19

Detailliertere Ausführungen finden sich u.a. in K. JOISTEN, An-Spruch, Vernehmen und Verändern. Oder: Die „bedeutungsvolle Erzählung“ und das Handeln, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und Politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 45–60. K. JOISTEN, Im Sanatorium der kranken Geschichten. Anamnese, Diagnose, Therapie, in: A. Koechlin/J. Gruntz-Stoll (Hgg.), Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge zur narrativen Heilpädagogik, Bern 2013, 109–126. 20 P. RICŒUR, Zeit und Erzählung I: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1988, 95.

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ten Narrationenbezugsgewebe menschlichen Miteinanders eingebettet sind, das zunächst eine elementare, pränarrative, lesbare Wirklichkeit repräsentiert. Im Kontext dieses Narrationengewebes finden sich in der Entsprechung dazu Menschenbilder, an denen sich der Mensch bei seinem Handeln orientiert. So wird eine narrative Ethik, der die Dimension des Ethos immanent ist, diese der Moral (das heißt dem Ethos einer Kultur) immanenten Normen, Werturteile, Institutionen, Sinnangebote etc., die in einem Geflecht narrativer Vermittlungen lesbar sind, philosophisch untersuchen und sie daraufhin befragen, welches Verständnis des Menschen und seines Handelns sie mit sich führen – und dies in Verbindung und Verbund mit einer Anthropologie und letztlich auch in Verbindung und Verbund mit einer Kulturphilosophie. Unter Rückgriff auf die drei oben herausgestellten Lesarten einer narrativen Ethik gesagt, kommt in der Dimension des Ethos – und damit stets zugleich in der des Anthropos – die dritte Lesart zum Zuge. Dazu darf das oben Gesagte erneut angeführt werden: Will man sich daher dem Menschen und seinem Handeln in einer narrativen Ethik nähern, geschieht dies über die Deutung seiner narrativen Verfasstheit in einem narrativ vermittelten Kontext, der stets moralische Wertungen implizit und explizit mit sich führt. Und es geschieht, indem man etwa die Freilegung und Analyse von narrativen Strukturen, Kontexten, Zusammenhängen und Formen intendiert, deren Ergebnisse auf die Deutung des Menschen und seines Handelns übertragen bzw. angewendet werden. Geht man davon aus, dass die narrative Ethik eine logische Dimension in sich birgt, ist zu klären, was ‚logischʻ (am Logos orientiert) in diesem Zusammenhang meint. Ein erstes Verständnis wollen wir in dem vorliegenden Zusammenhang zunächst mit Hilfe eines Kernthemas, das ist der Rekurs auf die aristotelische Bestimmung der Tragödie, gewinnen und mittels ihrer Übertragung auf die menschliche Lebensgeschichte die Aufgabe und Zielsetzung dieser Dimension umreißen. Von dieser Tragödienbestimmung aus werden wir direkt zur Topik geführt, die wir mit Verweis auf Giambattista Vico deutlicher fassen können. Führen wir uns zunächst die berühmte Bestimmung der Tragödie von Aristoteles in ihrem genauen Wortlaut vor Augen: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“21

21

19.

Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1994,

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Diese Bestimmung hat bekanntlich bis heute eine kontroverse Diskussion, außerordentliche Rezeption und kritische Übernahme erfahren, die man kaum überblicken kann. Nicht zuletzt das Verständnis von Nachahmung/Mimesis wird immer wieder erörtert und ist im Kontext der jeweiligen Dichtungstheorie oder im Kontext philosophischen Denkens anders gelesen und von Neuem gefasst worden. So hat in unserer Zeit beispielsweise Paul Ricœur in seinem dreifachen Mimesis-Modell – nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Zeittheorie von Augustinus – in umfassender Weise Aristotelesʼ Bestimmung der Mimesis rezipiert und originär und originell entfaltet.22 Will man sich dem Verständnis von Mimesis in einem vorläufigen Sinne nähern, ist unter Nachahmung von Handlung in einer Darstellung/Erzählung niemals eine bloße Imitation zu verstehen, als hätte man hier das Dargebotene/Geschriebene/Erzählte, dem es darum gehen würde, möglichst genau und exakt Handlungen wiederzugeben, die man in der Wirklichkeit vorfindet. Würde man sich dem Verständnis von Mimesis in dieser Weise nähern, hätte man das Verständnis einer ‚echten Wirklichkeitʻ (gleichsam das Original, das echte Dokument), das dann in der abgebildeten, nachgeahmten Wirklichkeit (gleichsam die Kopie, das kopierte, ‚zweitklassigeʻ Dokument) ins Verhältnis zueinander gesetzt wird. Die Nachahmung wäre das Scharnier zwischen den beiden Wirklichkeiten, der eine Kopierfunktion zukäme. Erzählte bzw. dargestellte Realität ist allerdings für Aristoteles niemals bloße Nachahmung im Sinne einer bloßen Abbildung bzw. realistischen Darstellung, sondern, wie Werner Jung präzise sagt, „immer ästhetisch verfremdete, poetisch überhöhte Wirklichkeit nach Maßgabe des Möglichen unter Einschluss des Wunderbaren – etwas Wahrscheinliches eben.“23 Zwanglos wird man aufgrund dieses Verständnisses der Nachahmung/Mimesis zur aristotelischen Unterscheidung der Aufgabe des Dichters und der Aufgabe des Geschichtsschreibers geführt. Während der Geschichtsschreiber das, „was wirklich geschehen ist“ mitteilt, teilt der Dichter mit, „was geschehen könnte“ und das ist „das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“.24 Diese Zuschreibung, hier der auf das wirkliche Geschehen, auf Tatsachen verpflichtete Geschichtsschreiber, dort der ein wahrscheinliches Geschehen mitteilende Dichter, führt nun bei Aristoteles zu einer höheren Schätzung der Dichtung als der Geschichtsschreibung: „Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.“25

22

Siehe dazu insbesondere Ricœurs drei Bände: Zeit und Erzählung, München 1988– 1991. 23 W. JUNG, Kleine Geschichte der Poetik, Hamburg 1997, 21. 24 Aristoteles, Poetik (s. Anm. 21), 29. 25 Ebd.

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Und es ließe sich ergänzen: Denn die Dichtung teilt mit dem Allgemeinen zugleich die (Handlungs-)Modelle und Exempla mit, die es den Zuschauern ermöglicht, diese auf sich selbst zu beziehen. Will man nun vor diesem Hintergrund die logische Dimension, die der narrativen Ethik immanent ist, benennen, kann man sich auf die angeführte Wendung: „was geschehen könnte“ und das ist „das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ konzentrieren. Das Handlungsgefüge der Tragödie, die verschiedenen Phasen der Handlung, soll der Wahrscheinlichkeit unterliegen, indem sie nach den Regeln des Wahrscheinlichen miteinander verbunden sind und auseinander hervorgehen. Und genau hier wäre die Topik, die z.B. bei Aristoteles das fünfte Buch seiner Logik ausmacht, zu berücksichtigen. Bezieht man sich auf die wichtigen Überlegungen des italienischen Philosophen Giambattista Vico, um ein erstes Verständnis der Topik zu gewinnen, stellt sie eine Methode dar, mit deren Hilfe es gelingen kann, Handlungen angemessen zu beurteilen. Es geht dann darum, möglichst viele Gesichtspunkte, alle Hinsichten, zentrale Aspekte eines Sachverhaltes aufzufinden, die für dessen angemessene Kritik und Bewertung von Relevanz sind. Dies kann gelingen, wenn Topik und Kritik, die beiden zusammenhängenden Methodenschritte der Topik, Hand in Hand gehen, da die „Topik findet und sammelt“, während „die Kritik unterscheidet“ und aus dem Gesammelten dieses oder jenes aussondert.26 Wendet man sich in einer narrativen Ethik daher dem Handeln und (Er-) Leben des Menschen zu, bewegt man sich auf einem Terrain, in dem man im Blick auf diese oder jene konkrete ‚Sacheʻ topisch verfahren sollte, um angemessene Bewertungen vornehmen zu können. Denn Handlungen von Menschen kann man angemessen mit einem schmiegsamen, jeweils den Umstän-

26

Vgl. zum Gesagten G. VICO, Liber metaphysicus (De antiquissima Italorum sapientia liber primus) 1710, Risposte I, 1711, Risposte II, 1712. Aus dem Lat. und Ital. ins Deutsche übertragen von S. Otto und H. Viechtbauer. Mit einer Einleitung von S. Otto, München 1979, 255. Im „Liber Metaphysicus“ von Vico heißt es in kritischer Absetzung zu René Descartes entsprechend: „erst dann, wenn man in kritischer Intention alle topisch erhebbaren Hinsichten durchleuchtet hat, wird man auch die Gewissheit haben, einen Sachverhalt deutlich und unterschieden (clare et distincte) zu wissen. Man hat ja die zur Untersuchung stehende Sache im Hinblick auf alle nur möglichen Gesichtspunkte hin und her gewendet. Das heißt: eine topische Untersuchungsweise, die alle nur möglichen Fragehinsichten durchlaufen hat, wird selber eine kritische Untersuchungsweise werden.“ (133). Nähere Ausführungen finden sich in K. JOISTEN, Topik, Kritik und geometrische Methode. Die Bedeutung von Giambattista Vicos „Liber Metaphysicus“, DZPh 52/4 (2004), 541–552. Und: K. JOISTEN, Die Hauptstraße verlassen. Oder: Mit Giambattista Vico auf einer anderen Fährte, in: K. Broese/A. Hütig/O. Immel u.a. (Hgg.), Vernunft der Aufklärung – Aufklärung der Vernunft. Berlin 2006, 53–62.

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den und den Personen in ihren Geschichten gemäßen Maß messen. Daher schreibt Vico: „Weil man also das, was im Leben zu tun ist, nach dem Gewicht der Dinge und den Anhängen, die man Umstände nennt, zu beurteilen hat, und viele von ihnen möglicherweise fremd und ungereimt, einige oft verkehrt und zuweilen sogar dem Ziel entgegengesetzt sind, lassen sich die Handlungen der Menschen nicht mit dem geradlinigen Lineal des Verstandes, das starr ist, messen, sondern müssen mit jener geschmeidigen Norm der Lesbier geprüft werden, die die Körper nicht an sich anpasst, sondern sich an die Körper anschmiegt. Und darin besteht eigentlich der Unterschied zwischen Wissenschaft und Klugheit, dass in der Wissenschaft diejenigen groß sind, die von einer einzigen Ursache möglichst viele Wirkungen in der Natur ableiten, in der Klugheit aber diejenigen Meister sind, die für eine Tatsache möglichst viele Ursachen aufsuchen, um dann zu erschließen, welche die wahre ist. Und das ist so, weil die Wissenschaft auf die obersten, die Klugheit auf die untersten Wahrheiten blickt.“27

Berücksichtigt die narrative Ethik in sich die logisch-topische Dimension, geht es ihr um eine Angemessenheit der kritischen Bewertung im Zusammenhang mit einer Findungskunst von wesentlichen Gesichtspunkten, die in diesem konkreten, kulturell bedingten und narrativ vermittelten Zusammenhang relevant sind. Will man sich daher zum Ethos einer kulturellen Gemeinschaft verhalten und Stellung beziehen, wird diese Methode ebenso hilfreich sein, wie sie auch auf „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen“ bei der Findung und Beurteilung des Gesehenen gute Dienste leisten kann. Mit Hilfe der topischen Methode hat die narrative Ethik die Möglichkeit, nicht ‚für jeden und allesʻ ein- und dieselbe Messlatte mit feststehenden Maßeinheiten anzulegen, sondern sich der schwierigen Aufgabe auszusetzen, angesichts der Besonderheit der Situation, der Umstände und der Person(en) Stellung zu beziehen. Wenden wir uns nun dem Grundwort Pathos zu. Es geht uns um die Frage, inwiefern es der Text, allgemeiner gesagt, das zu untersuchende Narrationengebilde, vermag, den Lesenden anzusprechen und er den ethischen Anspruch vernehmen kann, der dem Text immanent ist. Man wird dadurch auf die Wirkungsperspektive von Narrationen verwiesen, die in einer Hermeneutik untersucht werden kann, die die applikative Dimension explizit berücksichtigt. Um dies zu skizzieren, können wir uns kurz auf Ricœur beziehen. Nehmen wir nämlich mit Ricœur den Autor in den Blick, vermag dieser mimetisch mit der lesbaren Wirklichkeit zu verfahren und in den Bereich der Fiktion, den Bereich des „Als ob“ einzutreten. Er bringt eine Fabel hervor, indem er eine Vielzahl von Ereignissen im „Akt des Konfigurierens“ originell zusammenfügt und „die Mannigfaltigkeit von Ereignissen oder Vorfällen“ in

27

G. VICO, De nostri temporis studiorum ratione. Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, lat.-dt. Ausgabe, übertragen von W.F. Otto, Darmstadt 1984, 548.

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eine Geschichte verwandelt.28 Dadurch geschieht eine Verbindung der chronologischen mit der nicht-chronologisch-episodischen Zeitdimension, und es erweist sich die Fabelkomposition als „der Vorgang, der aus einer bloßen Abfolge eine Konfiguration macht.“29 Sieht man den Menschen mit seiner Geburt in das Ethos eines Narrationenbezugsgewebes eingewoben, könnte man mit Ricœur nicht nur den Autor einer Geschichte als Autor bezeichnen, sondern letztlich jeden Menschen. Man erkennt dann das Spezifische des Menschen im schöpferischen Potenzial, aus „der Mannigfaltigkeit von Ereignissen oder Vorfällen“ seine eigene Lebensgeschichte als Inbegriff einer Vielzahl von Geschichten zu schreiben und, wie oben bereits erwähnt, „aus einer bloßen Abfolge eine Konfiguration“ zu machen. Die Methode der Topik würde die Möglichkeit eröffnen, die „Nachvollziehbarkeit der Geschichte“30, und das heißt ihre innere Stimmigkeit, zu überprüfen. Berücksichtigt man nun auch den Leser, der sich ins Verhältnis zu einer geschriebenen Geschichte setzt, allgemeiner gesagt, berücksichtigt man nun auch in einer Rezipientenperspektive den Rezipienten, der sich ins Verhältnis zu einem Werk (einem Narrationengebilde) setzt, wird es Aufgabe einer Hermeneutik sein, die Frage nach der Angemessenheit der Anwendung zu verfolgen. Es geht folglich darum, die Wirkung, die ein Text auf einen Leser hat, kritisch zu hinterfragen, einfach gesagt: die Wirkung von Narrationen zu prüfen. Dies kann am ehesten gelingen, wenn die narrative Hermeneutik mit der Topik zusammenarbeitet, da sich die Angemessenheit einer Wirkung im Zusammenhang mit der Angemessenheit einer Sache ergibt. Veranschaulichen lässt sich das Gesagte unter Rückgriff auf ein Beispiel. In einem Gespräch mit unterschiedlichen Interessensvertretern und Positionen im Zusammenhang mit dem Thema ‚Organspendeʻ wurde eine Meinung laut, die für den Einsatz von Geschichten plädierte. Es wurde akzentuiert dafür eingetreten, möglichst wirkmächtige Geschichten zu finden, die zum Organspenden motivieren nach dem Motto: ‚Hauptsache die Leute spendenʻ. In diesem Zusammenhang geht es mir nicht um die Diskussion dieses wichtigen Themas und um eine möglichst ausgewogene Stellungnahme, sondern um die Haltung, die man zu ihm einnimmt. Denn es tritt dabei ein Problem zum Vorschein, dem sich eine narrative Ethik im Blick auf das Grundwort Pathos zu stellen versucht. Da sie nämlich die Gefahr der Instrumentalisierung von Geschichten erkennt, wenn sie z.B. ausschließlich funktional für kommerzielle oder ideologische Zwecke eingesetzt werden, berücksichtigt sie explizit die hermeneutische Dimension, in der, wie gesagt, kritisch die Wirkung von Narrationen untersucht wird. 28

RICŒUR, Zeit und Erzählung (s. Anm. 20), 105. RICŒUR, Zeit und Erzählung, a.a.O.106. 30 RICŒUR, Zeit und Erzählung, a.a.O., 107. 29

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Dieser Dimension kann man sich aus einer weiteren Perspektive nähern. Denkt man an die Überlegungen von Maurice Blanchot, die er in seinem Essay „Tod des letzten Schriftstellers“ fixiert hat, wird darin deutlich, dass der (gedanklich vorgestellte) Tod des letzten Schriftstellers in ein unermüdliches Reden und Gerede münden würde. „Es ist ein Reden: das redet und redet ohne Unterlass, es ist so, als redete die Leere, mit einem leisen, eindringlichen, gleichgültigen Raunen, das sicher für alle genau so klingt, das ohne Geheimnis ist und doch jeden in sich einschließt, ihn von den anderen, von der Welt und von sich selber abtrennt.“31

Um sich von diesem Reden, das zunächst niemanden aus seinen Fängen entlässt, doch distanzieren zu können und ein anderes Selbst-Welt-Verständnis zu gewinnen, das mit einem veränderten Selbst-Welt-Verhältnis einhergeht, ist der Schriftsteller nach dem vermeintlichen Tod des letzten Schriftstellers vonnöten. Denn ein „Schriftsteller ist der Mensch, der dieser Rede Schweigen gebietet, und ein literarisches Werk ist für jeden, der einzudringen versteht, ein ergiebiges Weilen in der Stille, eine feste Schutzwehr und eine hohe Mauer gegen diese redende Unermesslichkeit, die auf uns einredet und uns dabei uns selber abwendig macht.“32 Achtet man u.a. auf diese Chance, die in Narrationen liegt, kann noch einmal auf eine Bestimmung von Ricœur verwiesen werden, nach der das jeweilige „Selbstverständnis den Umweg über das Verständnis der [narrativ vermittelten] Leiden der Kultur [macht], in denen sich das Selbst kundtut und bildet, andererseits ist das Verständnis des Textes [der Narrationen] kein Selbstzweck, es vermittelt seine Beziehung zu einem Subjekt, das nicht im Kurzschluss einer unmittelbaren Reflexion den Sinn seines eigenen Lebens findet.“33

So kann eine narrative Ethik – ohne die Gefahren auszublenden, denen sie zwangsläufig ausgesetzt ist – aufgrund des kritischen Rekurses der Potentiale, die in den Grundworten Logos, Ethos und Pathos liegen, einen Beitrag dazu leisten, dass der einzelne Mensch zu einem authentischeren Selbstverständnis in all seinen Relationen gelangt, die ihn als ein narrativ vermitteltes Wesen konstitutionell bedingen.

3. Anwendungen einer narrativen Ethik – einige Beispiele Die narrative Ethik kann in je spezifischer Modellierung in Bereichen angewendet werden, wo man des konkreten Menschen in seiner Unersetzlichkeit 31 M. BLANCHOT, Tod des letzten Schriftstellers, in: DERS., Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/Berlin/Wien 1982, 295–302, 296. 32 M. BLANCHOT, Tod des letzten Schriftstellers, a.a.O., 297. 33 P. RICŒUR, Was ist ein Text? (s. Anm. 2), 88.

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und Einzigartigkeit ansichtig werden will. Man will sich dann nicht über Abstraktionsprozesse von ihm entfernen, um möglichst allgemeingültige und universale Aussagen zu formulieren, sondern möglichst nahe an ihn herantreten, um seiner Besonderheit ansichtig werden zu können. Man tritt dann in eine Beziehung zu ihm als einem leiblichen Wesen, das konstitutionell betrachtet durch und durch narrationenhaft ist, und macht es sich zur Aufgabe, ihn in seinen besonderen Relationen, seinen Wertvorstellungen, seinem Ethos, seinen Interessen usw. zu erfassen, um sich ihm gemäß verhalten zu können. Eine narrative Ethik hat demnach die Intention, sich dem Menschen über seine Narrationen z.B. über seine Geschichten anzunähern und ihn davor zu bewahren, zu einer bloßen Nummer, einem reinen Versuchsobjekt, einer Sache oder auch zu einem Passwort reduziert zu werden. Solche Anwendungsfelder finden sich beispielsweise im Altenheim bei der Biographiearbeit, in der narrativen Heilpädagogik34 oder in der narrativen Psychotherapie,35 um wenigstens einige anzuführen. Aber auch der deutsche Kinderhospizverein hat in Zusammenhang mit seiner Einladung zu einem Workshop mit dem Titel: Jenseits der Krankheit – Die Sichtweisen der Kinder sehen lernen explizit auf den Geschichten-Philosophen Wilhelm Schapp verwiesen. So heißt es auf der Homepage: „Jeder von uns hat seine eigene Sichtweise auf die Welt: auf Dinge, Mitmenschen oder Gegebenheiten. Die Weise, wie wir die Welt verstehen, hängt eng mit den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen zusammen. Sie sind in gewissem Sinne die Geschichten, die das Leben in uns schreibt. Der Mensch ist immer in „Geschichten verstrickt“ sagt der Philosoph Wilhelm Schapp und meint damit, dass der Mensch sich und alles um ihn herum nur aus den eigenen Erfahrungen heraus verstehen kann. Wenn Kinder eine lebensverkürzende Erkrankung haben, wird oft übersehen, dass auch sie in „Geschichten verstrickt“ sind: Sie haben ihre eigene Sichtweise auf die Dinge, die nicht allein von der Krankheit oder Behinderung bestimmt ist. Die Kinder haben ihre „eigenen Geschichten“, das heißt Erfahrungen und Erlebnisse jenseits der Krankheit, die sie zu dem machen, der sie sind. In diesem Workshop wollen wir nach den Sichtweisen der Kinder fragen, mit dem Ziel sie als Person sehen und ein wenig besser verstehen zu können.“36

Aber auch im klinischen Bereich ist eine narrative Ethik von großer Relevanz, etwa wenn Patienten nicht mehr dazu in der Lage sind, ihren Willen zu 34 In der Schweiz setzt sich J. GRUNTZ-STOLL für das narrative Verständnis einer Heilpädagogik ein und entfaltet es. Vgl. u.a. seine Untersuchung: Erzählte Behinderung. Grundlagen und Beispiele narrativer Heilpädagogik, Bern 2012. Und seine zusammen mit A. KOECHLIN herausgegebene Veröffentlichung: Das Fremde lesen als das Eigene. Beiträge zur narrativen Heilpädagogik, Bern 2013. 35 Hier kann insbesondere auf die Vielzahl der Publikationen von Nossrat Peseschkian verwiesen werden. 36 https://www.deutscher-kinderhospizverein.de/deutsche-kinderhospizakademie/veranstaltungen/deutsches-kinderhospizforum/anmeldeformular-2013/workshop8/ (17.08.2015).

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artikulieren und der mutmaßliche Wille in der Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte aufgefunden werden muss, um eine möglichst gute Entscheidung, d.h. eine Entscheidung, die dem Patienten gemäß ist, zu treffen. So dient sie dazu, der Autonomie des Patienten Rechnung zu tragen, und zwar auch dann, wenn er sich nicht mehr selbst äußern kann. Kerngedanke ist, dass nicht hier der eine Mensch, der Arzt, und dort der andere Mensch, der Patient, steht, die nun getrennt voneinander Informationen austauschen und Fakten hin und her schieben. Vielmehr entsteht die Personalität eines Menschen allererst in der konkreten Beziehung und Begegnung zwischen zwei Menschen in der Geschichte, in der sie nun miteinander verbunden sind. Programmatisch heißt es bei Linus Geißler: „Dialogisches Denken ist von Anfang an auf Gegenseitigkeit in der Beziehung begründet. Das für die Arzt-Patient-Beziehung Wesentliche wurzelt in der im dialogischen Denken geforderten Grundhaltung, die unter anderem Zuwendung, aktives Hören und Gesprächsfähigkeit einschließt. Die Untrennbarkeit von Vertrauen und Zuwendung zum Du wird als wesentliche Voraussetzung für dialogisch motiviertes Handeln verstanden.“37

Die narrative Ethik hat daher sicherlich im Unterschied zu anderen Ethikkonzeptionen eine „mittlere Begründungstiefe“ und „mittlere Reichweite“: „Der Ausdruck ‚mittlere Begründungstiefe‘ beschreibt also den Umstand, dass ‚Prinzipien mittlerer Reichweite‘ hinsichtlich der Ebene von Ethik-Theorien, also gewissermaßen ‚nach oben‘, zwar weitgehend ‚unbegründet‘ bleiben oder jedenfalls nur in einem schwachen Sinne als ‚begründet‘ gelten können, ‚nach unten‘, im Blick auf konkretere Regeln Begründungsfunktion jedoch durchaus übernehmen können.“38

Aufgrund dessen vermag sie uns aber in der Orientierung an den Grundworten Ethos, Logos und Pathos zu den Ansprüchen dieses Menschen zu führen und uns darauf hinzuweisen, dass wir diesem gemäß uns zu verhalten haben: so wie man einen Menschen sieht, so behandelt man ihn auch – und umgekehrt.

37

http://www.linus-geisler.de/art2002/0514enquete-dialogisches.html (17.08.2015). J.S. ACH/C. RUNTENBERG, Bioethik: Disziplin und Diskurs. Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik, Frankfurt 2002, 59f. 38

Narrative Ethik Überlegungen zu einer lebensnahen Disziplin Michael Roth Mit dem Begriff „narrative Ethik“ ist kein feststehendes ethisches Konzept bezeichnet, vielmehr gibt es eine „Vielfalt unterschiedlicher, teilweise sogar divergierender Ansätze narrativer Ethik“.1 Ich verstehe unter narrativer Ethik eine Ethik, die sich auf unsere Geschichten bezieht und das zu erfassen sucht, auf was es eigentlich ankommt. Dieses Interesse erwächst aus einem tiefen Ungenügen an Ethik als lebensferner Disziplin. Dieses Ungenügen bezieht sich auf einen bestimmten Typ der Ethik, der auch im deutschsprachigen protestantischen Bereich anzutreffen ist und der die Ethik als Begründung kategorisch geltender Normen und Werte versteht. Ich bin der Auffassung, dass eine solche Ethik letztlich der Gefahr unterliegt, sich aus den Lebensgeschichten der Menschen herauszulösen und für die tatsächliche Lebensgestaltung des Einzelnen uninteressant zu werden. Sie beruht auf einem „Irrtum“2, der prinzipiellen Charakter hat: Sie verkennt das, auf was es eigentlich ankommt. Dies möchte ich in fünf Punkten zeigen.

1. Lebensferne Ethik? Eine Problemanzeige In gewisser Hinsicht ist es um die Ethik gar nicht so schlecht bestellt. Ulrich H.J. Körtner spricht gar von einem „Ethik-Boom“ in den letzten Jahren und

1 M. HOFHEINZ, Narrative Ethik als „Typfrage“. Entwicklungen eines konturierungsbedürftigen Programmbegriffs, in: ders./F. Mathwig/M. Zeindler (Hgg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009, 11–66, 11. 2 Diesen Irrtum hat bereits vor 100 Jahren in den Blick genommen: H.A. PRICHARD, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, Mind XXI (1912), 21–37. Deutsche Übersetzung von G. GREWENDORF, Beruht Moralphilosophie auf einem Irrtum?, in: G. Grewendorf/G. Meggle (Hgg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt 1974, 61–83.

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einem immer stärker werdenden Verlangen nach Ethik, 3 David McNaughton beobachtet eine steigende Nachfrage nach Moralexperten für Regierungskommissionen, Ethikausschüsse in Krankenhäusern oder Weiterbildungsmaßnahmen in beliebigen Berufsfeldern.4 Allerdings scheint die allgemeine Hochschätzung der Ethik und die weitgehende Anerkennung der von ihr etablierten Normen nicht dazu zu führen, dass sie von dem Einzelnen als bedeutsam für seine persönlichen Fragen und seine persönlich drängenden Probleme angesehen werden. So spricht Ulrich Steinvorth von einem Zugleich von theoretischer Anerkennung und praktischer Handlungsunwirksamkeit.5 Der Mensch der Gegenwart erkennt zwar die von der Ethik bereitgestellten Werte und Normen an, zollt ihnen auch Respekt, sieht jedoch nicht, wie sie ihn hinsichtlich seiner alltäglichen Probleme und Herausforderungen, seiner konkreten Ängste und Sorgen, seiner lebenspraktischen Fragen eine Hilfe sein können. Es wundert daher auch nicht, dass man bei Fragen der Lebenshilfe nicht den Ethiker aufsucht, sondern den Psychologen konsultiert. Man könnte die Lage der Gegenwart daher folgendermaßen beschreiben: Der Mensch der Gegenwart schätzt Werte und Normen, er würde sie auch selbst gerne befolgen, wenn es da nicht die alltäglichen Probleme und Herausforderungen gäbe, denen er sich nun mal zu stellen hat, weil sie sein vorrangiges Interesse beanspruchen – mit anderen Worten: wenn im Raum der Verwirklichung der alltäglichen Anforderungen genügend Raum bliebe für die Verwirklichung von Werten und das Befolgen von Normen. Gerade weil unser Alltag uns andere Aufgaben zuwachsen zu lassen scheint als das Verwirklichen von Werten oder Normen, entsteht der Eindruck der Lebensferne ethischer Argumentation.6 Man erkennt die eigenen Fragen in der Art, wie die Ethik sie behandelt, nicht wieder, die Art und Weise der in der Ethik angestellten Reflexionen scheinen mit den eigenen Überlegungen wenig zu tun zu haben. Von daher – so Ferdinand Fellmann – wird die Ethik nicht selten als überflüssiges Unter3

U.H.J. KÖRTNER, Zur Einführung: Das Ethische im Konflikt der Interpretationen, in: ders. (Hg.), Christliche Ethik – evangelische Ethik? Das Ethische im Konflikt der Interpretationen, Neukirchen Vluyn 2004, 1–11, 1f. 4 Vgl. D. MCNAUGHTON, Moralisches Sehen. Eine Einführung in die Ethik. Aus dem Englischen übers. v. Lars Schewe, Frankfurt 2003, 238. 5 Vgl. U. STEINVORTH, Ist Moralität Gewalt gegen sich selbst? in: B. Boothe/Ph. Stoellger (Hgg.), Moral als Gift oder Gabe? Zur Ambivalenz von Moral und Religion, Würzburg 2004, 104–126, 107. Nach Steinvorth verdankt sich die weit verbreitete Anerkennung der Moral sogar „ihrer relativen Handlungsunwirksamkeit“. Ihre Entlastung von der Aufgabe, tatsächlich unsere Handlungen zu koordinieren, „verschafft ihr eine Narrenfreiheit, kraft derer sie moralische Forderungen stellt, die nie erfüllt werden können“ (a.a.O., 122). 6 Vgl. hierzu: M. ROTH, Die Seelsorge als Dimension der Ethik. Überlegungen zur seelsorgerlichen Struktur der Ethik, PTh 92 (2003), 319–333; DERS., Das ReligionsstundenIch. Der Religionsunterricht als Herausforderung für die Theologische Ethik, ZPT 60 (2008), 154–163.

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nehmen angesehen, da es „den Anschein folgenlosen Geredes über unerfüllbare Normen und weltfremde Gebote erweckt“.7 Wenn wir nun nach der Ursache für die Lebensferne der Ethik fragen, wird häufig auf die Überforderung durch Ethik und Moral verwiesen. In dieser Weise argumentiert beispielsweise Susan Wolf in ihrem Aufsatz „Moral Saints“.8 Nach Wolf wäre es gar nicht wünschenswert, moralisch gesehen alles richtig zu machen und ein moralischer Heiliger zu sein. Dies ist nach Wolf deshalb so, weil jeder, der ausschließlich nach moralischer Vollendung strebt, zwangsläufig alle anderen Interessen und Vorlieben aufgeben muss. Wenn die Ethik uns nicht zu einem uninteressanten und eindimensionalen Leben verurteilen will, müsse sie es erlauben – so Wolf –, dass wir uns zumindest teilweise auch an „außermoralischen“ Werten orientieren, wie zum Beispiel an persönlichen Beziehungen, der Kunst oder der Verbindung zur Natur. Nun macht Martin Seel zu Recht auf das Problem aufmerksam, dass Wolfs Vorschlag dazu führt, dass Werte wie „persönliche Beziehungen“ zu den außermoralischen Werten gezählt werden.9 Die Frage aber ist, ob sich das Problem nicht viel grundsätzlicher stellt: Wolf geht davon aus, dass eine Handlung dann moralisch genannt werden kann, wenn die Intention der Handlung darin besteht, einen moralischen Wert zu verwirklichen bzw. eine moralische Norm zu befolgen. Weil Wolf Platz auch für alltägliche Interessen schaffen will, empfiehlt sie der Ethik, dem Subjekt zu erlauben, auch mal Urlaub von der Moral zu nehmen, auch mal andere Intentionen zu besitzen als die, moralische Werte zu verwirklichen. Es stellt sich aber die grundsätzliche Frage, ob das Verwirklichen moralischer Werte und das Befolgen einer moralischen Norm überhaupt zur Intention einer Handlung werden kann. Wenn Susan Wolf dafür plädiert, dass die Verwirklichung moralischer Werte nicht der ausschließliche Handlungsgrund für uns sein kann, so soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob die Verwirklichung von Werten überhaupt ein Handlungsgrund sein kann.

7

F. FELLMANN, Die Angst des Ethiklehrers vor der Klasse. Ist Moral lehrbar?, Stuttgart 2000, 10. 8 Vgl. S. WOLF, Moral Saints, in: R. Crisp/M. Slote (Hgg.), Virtue Ethics, Oxford 1997, 79–98. 9 Vgl. M. SEEL, Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt 1995, 333f. Seel empfiehlt daher, statt sich an einem Vorbild des Heiligen zu orientieren, gleich bei einer menschenmöglichen Moral einzusetzen und ihren uneingeschränkten Vorzug zu verteidigen. „Der Fall des Heiligen, der alle seine übrigen Wünsche zugunsten moralischer Absichten zurückstellt (oder alle jene in diese integrieren kann), ist ein Grenzfall, sogar ein Notfall, jedoch nicht der Idealfall des Handelns“ (a.a.O., 333): Auch Seel sieht daher – wie Wolf – die Lebensferne der Ethik letztlich in einer Überforderung begründet.

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2. Geschichten und Prinzipien Wenn einem Menschen wirklich daran gelegen ist, uns einen Zugang zu sich zu eröffnen, wird er uns seine Geschichte erzählen. Wenn ich meine „story“ erzähle – so Dietrich Ritschl – „gebe ich mich selbst zu erkennen und erlaube damit anderen, mich an meiner story zu behaften. Anstatt meine Frau oder meinen Freund zu ‚definieren‘ oder das ‚Wesen‘ der Ehe darzulegen, erzähle ich die story, die wir gemeinsam haben und die zum Teil das ausmacht, was wir sind“.10 Das Hören und das Hineingehen in meine Geschichte eröffnen dem anderen den Zugang zu mir.11 In besonders eindrücklicher Weise hat der Jurist und Philosoph Wilhelm Schapp diesem Phänomen Rechnung getragen: Für Schapps „narrative Fundamentalanthropologie“12 besteht das Sein des Menschen aus den Geschichten, in die er verstrickt ist. „Mit jeder Geschichte taucht der darin Verstrickte oder tauchen die darin Verstrickten auf. Die Geschichte steht für den Mann. Sie verlängert oder vertieft sich gleichsam ohne unser Zutun je nach dem Gewicht, welches ihr innewohnt, in den Mann hinein. Wir meinen auch, dass der Zugang zu dem Mann, zu dem Menschen, nur über Geschichten, nur über seine Geschichte erfolgt“.13

Nach Schapp gibt es kein Ich und kein Wir außerhalb der Geschichte: „Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut“, sondern die Geschichte des Menschen ist „sein Eigentliches“,14 das heißt, das Ich-Sein existiert nicht anders als „im Verstricktsein in Geschichten“15. So wird der Mensch bei

10

D. RITSCHL, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, in: ders.,/H.O. Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, TEH 192, München 1975, 7–41, 15. Ritschl erinnert daran, dass dies auch der Art und Weise entspricht, in der die biblischen Schriften ihre Botschaft zur Aussage bringen: „Wenn Israel sagen will, was es selbst ist und wer Gott ist, so erzählt es seine Geschichten. […] Wenn die frühesten Christen sagen wollten, wer Jesus war, so erzählen sie viele Einzelgeschichten […]. Es ist auch kein Zufall, dass das Neue Testament vier solcher Sammlungen statt einer definitiven […] darbietet. Man kann nicht kurz und bündig sagen, wer Jesus ist“, DERS., Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1988, 46. 11 Vgl. S. GRÄTZEL, Die Vollendung des Denkens: Vorlesungen zu Philosophie und Metaphysik, London 2005, 33. 12 M. POHLMEYER, Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung, in: K. Joisten (Hg.), Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg./München 2010, 126–141, 128. 13 W. SCHAPP, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt 4 2004, 100. 14 SCHAPP, In Geschichten verstrickt, a.a.O., 105. 15 SCHAPP, In Geschichten verstrickt, a.a.O., 123.

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Schapp „rückhaltlos zu [einem] narrativen Wesen“.16 Folglich ist für Schapp auch die Erschließung der Außenwelt „nur über Geschichten möglich“.17 Die „Maßstäbe“, mit denen die Welt berechnet und bestimmt werden, ergeben sich immer erst „innerhalb der Geschichte“.18 Sowohl der Zugang zur eigenen Person als auch der zu fremden Personen und zur „objektiven Welt“ gelingt nur über die jeweiligen Geschichten – Geschichten sind nicht in der Welt, sondern die Welt ist in den Geschichten. Weil nach Schapp die Lebenswirklichkeit nur in und über Geschichten zum Vorschein kommt, stellt der abstrakte Fall eine unangemessene Abstraktion von dem je individuellen Verstricktsein in Geschichten dar: „Der Mensch und das Menschsein tritt bei dem Fall weit in den Hintergrund. Im Fall versucht man sich von der Geschichte zu lösen, ohne dass aber eine vollkommene Lösung möglich ist. […] Dabei scheint soviel sicher zu sein, dass das Tragende für jeden Fall eine Geschichte ist, dass der Fall nur über eine Geschichte auftauchen, in den Gesichtskreis kommen kann“.19

Schapp macht deutlich, dass sich der Mensch nicht als Fall verstehen lässt, sondern nur von den Geschichten her, die ihn konstituieren. Der Mensch existiert in seinem Selbsterleben nicht als Fall einer allgemeinen Regel, sondern in seiner individuellen und darum besonderen Geschichte, die sich dagegen sträubt, zu einem Fall von etwas gemacht zu werden. Wir leben nicht als allgemeine Fälle von etwas, sondern in individuellen Geschichten mit konkreten Anforderungen, in Geschichten, in denen es um dieses oder jenes geht, auf dieses oder jenes ankommt, in denen wir diese oder jene konkreten Dinge und Menschen vor uns haben. Von der Einsicht in unser Verwobensein in Geschichten lassen sich auch unsere Handlungen und die Gründe, die wir haben, verstehen: Weil der Mensch nicht als Fall existiert, sondern in seiner individuellen Geschichte, lässt sich auch sein Handeln nicht als Fall von etwas, sondern nur von seiner individuellen Geschichte und den konkreten Herausforderungen und Anforderungen her verstehen, vor denen er steht,. Wenn wir daher beschreiben wollen, was geschehen ist, müssen wir die Geschichte in dem Geschehenen zeigen.20 Wir beschreiben, indem wir erzählen. Dabei beschreiben wir, welches Handeln auf welchen Aspekt einer Geschichte eine Reaktion ist: Ursula hat Helmut ins Krankenhaus gefahren, weil er sich sein Bein gebrochen hat. Ursulas Fahrt ins Krankenhaus ist eine Reaktion auf Helmuts gebrochenes Bein. 16

B. LIEBSCH, Die Idee der Phänomenologie im Lichte ihrer narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps, in: Joisten (Hg.), Denken Wilhelms Schapps (s. Anm. 12), 22–48, 27. 17 W. SCHAPP, Philosophie der Geschichte, Frankfurt ²1981, 16. 18 SCHAPP, In Geschichten verstrickt (s. Anm. 13), 150. 19 SCHAPP, In Geschichten verstrickt, a.a.O., 188f. 20 Vgl. R. BITTNER, Aus Gründen handeln, Berlin/New York 2005, 80–99.

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Wenn wir gefragt werden, warum wir dieses oder jenes getan haben, verweisen wir auf situationale Faktoren, wir schildern Züge und Anforderungen einer in unserer Geschichte auftauchenden Situation, auf die wir reagiert haben.21 Wenn der Handelnde eine Antwort auf die Frage nach dem Grund seines Handelns gibt, lässt er uns an der handlungsleitenden Perzeption der Situation teilhaben – die Gründe, die er angibt, bestehen im Verweis auf Züge einer Situation, auf die er reagiert hat.22 Auf die Frage, warum wir plötzlich die Party verlassen haben, antworten wir: „Weil es mir zu laut war.“ Wir schildern somit die Züge der Party, die für unser Verlassen der Party relevant waren. Natürlich beschreiben wir, was geschieht, nicht, indem wir einzelne Vorkommnisse zusammenhanglos aufzählen. „Wir beschreiben es, indem wir Beziehungslinien zwischen Zuständen und Ereignissen, insbesondere Handlungen herausheben. […] Der Unterschied […] zwischen dem, worauf eine Handlung eine Reaktion ist, und etwas, das dafür diese Handlung belanglos ist, gehört zu dem, was wir über die Geschichten wissen, die die Welt bilden“.23

Wir lernen auf das, was geschehen ist, zu reagieren und Reaktionen darauf als solche zu erkennen.24 Daher erkennen wir, dass Ursulas Fahrt zum Krankenhaus darin begründet ist, dass Helmut sein Bein gebrochen hat, nicht darin, dass er geschmacklos angezogen war. Nun ist mit diesem Verständnis des Handelns und der Handlungsgründe nicht bestritten, dass es auch komplexe Probleme und strittige Situationen gibt, die Überlegungen erfordern, ein „Mit-sich-zu-Rate-Gehen“.25 In diesem „Mit-sich-zu-Rate-Gehen“ setzen wir uns selbst dem aus, „von relevanten Zügen der Situation beeindruckt zu werden, die sonst unbemerkt hätten bleiben oder weniger hätten hervortreten können. […] Wir lassen uns für etwas einnehmen, was wir betrachten“. 26 Wir lassen vor unserem inneren Auge Facetten und Aspekte von Situationen szenisch hervortreten, imaginieren uns

21 Von daher kann es nicht überraschen, dass die Psychologen R.E. Nisbett und E.E. Jones in ihren Studien zur actor-observer-Diskrepanz feststellen, dass – im Unterschied zu einem Beobachter – der Handelnde selbst sein Handeln erklärt, indem er auf situationale Faktoren verweist. Vgl. E.E. JONES/R.E. NISBETT, The actor and the observer: Divergent perceptions of the causes of behavior, Morristown 1971. Vgl. ferner: M.D. STORMS, Videotape and the attribution process: Reversing actors’ and observers’ point of view, JPSP 27 (1973), 165–175; S.E. TAYLOR/S.T. FISKE, Point of view and perceptions of causality, JPSP 32 (1975), 439–445. 22 Vgl. BITTNER, Aus Gründen handeln (s. Anm. 20), 81. 23 BITTNER, Aus Gründen handeln, a.a.O., 83. 24 Vgl. BITTNER, Aus Gründen handeln, a.a.O., 84f. 25 R. SPAEMANN, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 21998, 227. 26 BITTNER, Aus Gründen handeln (s. Anm. 20), 201.

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Szenarien, die die Konsequenzen und Folgen von möglichem Handeln zum Inhalt haben und lassen uns so beeindrucken und zu einer Reaktion bewegen. Gehen wir einen Schritt zurück: Wir haben Handeln beschrieben als Reaktion auf Züge einer Situation. Wie wäre demgegenüber ein Handeln nach Prinzipien zu verstehen, ein Handeln also, dessen Intention darin besteht, ein bestimmtes Prinzip zu verwirklichen bzw. eine Norm oder einen Wert zu realisieren? Die gängige Vorstellung einer Handlung aus Prinzip ist doch in etwa folgende: Ich habe mir irgendeine Regel aus irgendeinem Grund zu eigen gemacht. Nun treten die Umstände ein, für die meine Maxime eine bestimmte Handlung vorsieht. Ich ziehe also einen Schluss aus Maxime plus Aufgabe aus der betreffenden Situation; und mein Ziehen des Schlusses ist mein Herbeiführen einer Handlung – die dann den Beispielfall der Maxime bildet. Nun ist diese gängige Vorstellung einer Handlung aus Prinzipien in der Ethik zwar weit verbreitet, aber sie ist, wie Rüdiger Bittner zeigt, doch mit erheblichen Schwierigkeiten belastet.27 Zum einen stellt sich die Frage, wie der Schluss eines praktischen Syllogismus eine Handlung sein kann. Der praktische Syllogismus vermag das Handeln nach einem Prinzip nicht verständlich zu machen; denn der Schlusssatz eines Syllogismus ist ein Aussagesatz oder vielleicht ein Befehl, aber keine Handlung. Zwischen der Handlung und dem Schlusssatz eines Syllogismus bleibt ein Hiat. Ein zweiter Einwand Bittners ist m.E. noch gravierender: Im Unterschied zu Ursachen, die angeben, was geschehen macht, dass eine Person etwas tut, gibt der Grund an, weswegen eine Person etwas tut, also die Intention der Person.28 Dass der Besitz eines Prinzips der Grund ist, weswegen wir etwas tun, ist jedoch schwer vorstellbar. Wir tun Dinge – so Bittner – wegen des Geschehens oder wegen der aktuellen Situation und ihrer Herausforderung, doch – zumindest in der Regel – nicht, um ein Prinzip zu verwirklichen. „Was wir […] betrachten und erwägen, das haben wir typischerweise vor uns, uns gegenüber“,29 das hat aber „unser Prinzip“ in der Regel nicht. In der Tat: Wenn wir einem verletzten Menschen auf der Straße helfen, dann tun wir es, weil er verletzt ist, doch nicht deshalb, weil wir das Prinzip haben, verletzten Menschen zu helfen. Und auf die Frage „Warum hast du diesem Menschen geholfen?“, antworten wir in der Regel: „Weil er verletzt war“. Es ist doch nicht so, dass wir antworten: „Ich habe das Prinzip, verletzten Menschen zu helfen und als wir diesen Menschen gesehen haben und mir klar war, dass er verletzt ist, und mir dann noch klar wurde, dass hier ein Anwendungsfall meines Prinzips vorliegt, habe ich aus meinem Prinzip gefolgert, dass ich ihm helfen muss!“ Ich halte diese Vorstellung für absurd. Der verletzte Mensch 27

Vgl. BITTNER, Aus Gründen handeln, a.a.O., 73–79. Vgl. BITTNER, Aus Gründen handeln, a.a.O., 94. 29 BITTNER, Aus Gründen handeln, a.a.O., 95. 28

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und nicht das Prinzip ist der Grund unseres Handelns, den verletzten Menschen haben wir – wie Bittner sagt – „vor uns“ (s.o.).30 Was würden wir eigentlich von einem Menschen halten, der angesichts des verletzten Menschen auf ein Prinzip und nicht auf den Menschen als Handlungsgrund verweist? Müssten wir nicht annehmen, dass es dem betreffenden Menschen um ein Prinzip und gar nicht um den verletzten Menschen ging? Und würden wir nicht denken, dass er gar nicht gemerkt hat, um was es eigentlich geht? „Erachten wir“ – so fragt Johannes Fischer – „nicht einen solchen Menschen als moralisch rigide, wenn nicht gar als psychisch gestört, weil ihm offensichtlich der Sinn dafür abgeht, worauf es in einer solchen Situation ankommt und er somit das Wesentliche mit dem Unwesentlichen verwechselt?“31 In diese Richtung hat bereits Hannah Arendt argumentiert und den Gedanken geäußert, dass wir wohl kaum einem Menschen trauen würden, der erst nach Gründen und Prinzipien suchen muss, um sich uns gegenüber halbwegs anständig zu verhalten.32 Wir haben das Gefühl, dass das Verhalten in der Sache selbst begründet sein muss. Ich möchte einmal eine Gegenprobe machen und fragen, was eigentlich passieren würde, wenn wir versuchen würden, nach Prinzipien zu handeln und Normen und Werte zu Handlungsgründen zu machen. In einem höchst instruktiven Aufsatz vertritt Michael Stocker die These, dass wir ethische Werte, wie Freundschaft, Liebe, Mitgefühl, nicht erreichen könnten, wenn wir sie zu Handlungsgründen machen.33 Wenn wir sie zu Handlungsgründen machen, verfehlen wir sie – nach Stocker – mit Sicherheit.34 Besonders deutlich wird dies m.E. bei der Liebe: Bei der Liebe ist der geliebte Mensch selbst bzw. sein Wohlergehen und seine Interessen Grund meines Handelns. Ich kann nicht lieben, um zu lieben. Die Liebe hat nicht die Liebe zum Grund, sondern sie hat ihren Grund im Dasein des oder der anderen. Wer liebt, hat den geliebten Menschen „vor sich“, nicht die Liebe – und wer daher einfach

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Damit ist auch der Versuch kritisch zu beurteilen, die ethische Urteilsbildung als Vermittlung zwischen Norm und Situation zu begreifen (so H.E. TÖDT, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: DERS., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21–48; D. LANGE, Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 1992, 508–521); denn dabei wird immer noch das Befolgen von Normen als der eigentliche Grund des Handelns aufgefasst. Zur Frage steht bei der so verstandenen ethischen Urteilsbildung lediglich, welche Norm in der jeweiligen Situation Anwendung finden kann. 31 J. FISCHER, Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012, 13. 32 Vgl. H. ARENDT, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2003, 129. 33 Vgl. M. STOCKER, Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien, in: K.P. Rippe/P. Schader (Hgg.), Tugendethik, Stuttgart 1998, 19–41. 34 Vgl. STOCKER, Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien, a.a.O., 28.

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nur Liebe schätzt und hierauf zielt, verfehlt den geliebten anderen Menschen – und damit die Liebe. Wer liebt, handelt also nicht wegen der Liebe, sondern aus Liebe. Liebe ist kein Handlungsgrund, sondern lässt Gründe zu Gründen werden, sie ist daher auch nicht etwas, das direkt intendiert werden kann. Zur Liebe muss man befähigt und befreit sein.

3. Narrative Gründe und narrative Begründungen Unsere bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Normen gewöhnlich keine Gründe für unser Handeln sind. Unsere Geschichten lassen uns andere Aufgaben zuwachsen als das Verwirklichen von Normen und Werten. Wir handeln nicht, um diese oder jene Normen zu verwirklichen. Wenn wir versuchen würden, dies zu tun, würden wir uns zwingen, uns selbst und unsere Mitmenschen als Fall einer Norm zu betrachten und uns und unseren Mitmenschen damit zum Anwendungsfall einer Norm zu degradieren. Und wir würden uns dazu verurteilen, uns aus unseren konkreten Geschichten und der mit anderen gemeinsamen Lebenswelt und ihren Anforderungen herauszulösen, kurz aus dem, um was es uns eigentlich geht. Das, um was es eigentlich geht, liegt in der – in unsere Geschichte eingebetteten – Situation. Unsere Gründe sind nicht jenseits der Situationen zu finden, sondern sie liegen in den Situationen, insofern sind sie „unmittelbar und direkt“.35 Die „Merkmale der Welt“, die Gründe liefern, sind – so betont Thomas Nagel – „gewöhnliche Tatsachen über die Erfahrungen der Menschen, ihre Beziehungen untereinander und die Auswirkungen, die verschieden mögliche Handlungsweisen auf das Leben von Menschen und anderen Lebewesen haben. Ein Handlungsgrund ist eine gewöhnliche Tatsache, wie beispielsweise die Tatsache, dass Aspirin bei Kopfschmerzen Abhilfe schafft, und ein Grund ist sie, weil sie eben dafür spricht, dass du bei Kopfschmerzen Aspirin nimmst, oder dafür, dass ich dir Aspirin gebe“.36 Insofern sind unsere Gründe narrativ: sie liegen in dem Verweis auf relevante Merkmale von – in unsere Geschichten eingebetteten – Situationen. Von hier aus bemisst sich dann auch das Feld der ethischen Argumentation: Eine Ethik, die uns Normen als Handlungsgründe vorschreibt, würde uns abkoppeln von dem, worauf sich unsere Gründe tatsächlich beziehen: auf die Geschichten, in die wir verstrickt sind, auf Aspekte von Situationen, die uns bewegen. Wenn daher Handeln zu verstehen ist als Reaktion auf bestimmte Züge der Wirklichkeit und Menschen daher bei ihren Gründen einen Verweis auf die Situation liefern, dann kann die Aufgabe der Ethik in erster Linie nur 35

PRICHARD, Moralphilosophie (s. Anm. 2), 69. TH. NAGEL, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 52014, 162. 36

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darin bestehen, diesen narrativen Gründen nachzugehen. Es geht dann darum, Situationen vor Augen zu führen und die in der Situation steckende Nötigung wahrzunehmen, der wir uns nicht entziehen können.37 Narrative Gründe verlangen eine narrative Begründung. Wenn der Grund dafür, etwas zu tun, in dem Erfassen der Situation liegt, dann besteht die Begründung darin, die Situation vor Augen zu stellen. Diese Aufgabe bedeutet nicht, dass eine narrative Ethik weniger reflektierend, prüfend, erklärend, analysierend und argumentierend ist. Der Verweis auf die Situation bestreitet nicht, dass es Gründe gibt,38 aber diese werden nicht jenseits, sondern in den betreffenden Tatsachen verortet. Und diese Gründe lassen sich natürlich auch explizit machen und analysieren, so dass die narrative Ethik – reflektierend, analysierend und argumentierend – einen Beitrag zu dem Erfassen von Situationen und Geschichten liefert. Allerdings stellt sich bei der Rede von dem Erfassen von Situationen und Geschichten sofort die Frage, ob wir es uns nicht zu leicht machen. Wenn wir Handlungen verstehen als Reaktionen auf Zustände und Ereignisse, dann kann ja nicht übersehen werden, dass wir jeweils von unterschiedlichen Ereignissen auf je unterschiedliche Weise angesprochen werden, so dass das, was für einen ein Grund ist, etwas zu tun, für die anderen keinen Grund darstellt. Wir unterscheiden uns hinsichtlich der Gründe, die wir haben. Verstehen wir Handlungen als Reaktionen auf Zustände und Ereignisse, dann stellt sich die Frage, wie Zustände und Ereignisse für uns zu einem Handlungsgrund werden können, sie ihren Charakter des Grundseins gewinnen. Wenn wir bei der Beantwortung der Frage nicht einfach hinter die Humesche Einsicht zurückfallen wollen, dass aus einem Sein kein Sollen folgt und dass daher aus deskriptiven Aussagen über Zustände und Ereignisse keine bewertenden Aussagen abgeleitet werden können, stellt sich die Frage, woher die Bewertung der Situation folgt. Bedarf es neben der Situation noch zusätzlich einer Regel, die den richtigen Umgang mit der jeweiligen Situation angibt? Ganz offenkundig ist dies in unserem Alltag nicht der Fall; denn in unserer alltäglichen Wahrnehmung stellt sich das Problem des Hiatus zwischen Sein und Sollen gar nicht. Hier gibt es keine Trennung zwischen einem Sein und einem Sollen, vielmehr nehmen wir im Sein unmittelbar das Sollen wahr – Wahrnehmung und Bewertung fallen zusammen. Im Normalfall gibt es keine rein distanzierte Wahrnehmung von Tatsachen und dann eine – wo auch immer herkommende – Wertung, in unseren lebensweltlichen Erfahrungen sind Tatsachen und Wertungen ineinander verwoben, so dass es sich sogar als äußerst schwierig gestaltet, die ursprüngliche Erfahrung so zu zergliedern, dass deskriptive und normative Aspekte fein säuberlich zu trennen sind. Ge37

Vgl. FISCHER, Verstehen statt Begründen, (s. Anm. 31), 28. Diesem Missverständnis ist K. BAYERTZ, Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004, 66f., ausgesetzt. 38

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rade die empirische Emotionsforschung hat verdeutlicht, dass wertende Emotionen nicht bloß Reaktionen auf etwas sind, was wahrgenommen wird, sondern dass sie unsere Wahrnehmung erschließen und uns so erst befähigen zu verstehen. Das rationale Vermögen des Verstandes könnte die unendliche Komplexität der Welt gar nicht auf das für unser Leben Wesentliche reduzieren.39 Weil wir in unserer lebensweltlichen Erfahrung nicht streng zwischen Tatsachen und Bewertungen unterscheiden können, kann es nicht überraschen, dass auch in unserer Sprache Tatsachenbeschreibungen und Wertungen nicht streng zu trennen sind. Neben rein bewertenden Begriffen wie „gut“ und rein beschreibenden Begriffen wie „grün“, gibt es – wie vor allem Bernhard Williams betont hat40 – auch sog. „dichte Begriffe“ („thick concepts“) wie „grausam“, „geizig“, „großzügig“, bei denen Beschreibung und Bewertung eng miteinander verknüpft sind und die daher gleichermaßen deskriptive und wertende Aspekte enthalten. Eine ethische Beschreibung einer Situation, die sich davon löst, wie uns Situationen in unserer Wahrnehmung gegeben sind, und eine rein neutrale Beschreibungsweise anstrebt, entspricht – um eine Wendung von Alfred North Whitehead aufzugreifen – einem „Irrtum deplazierter Konkretheit“ („fallacy of misplaced concreteness“).41 Dies verdeutlicht Johannes Fischer an dem Unterschied zwischen einer deskriptiven Charakterisierung einer Situation und einer narrativen Vergegenwärtigung. Während die deskriptive Charakterisierung versucht, von unserem emotionalen Bewegtsein durch die Situation zu abstrahieren, bringt die narrative Vergegenwärtigung unser emotionales Bewegtsein durch die Situation zum Ausdruck. Die rein deskriptive Charakterisierung büßt, indem sie sich von unseren lebensweltlichen Erfahrungen ablöst und unserem emotionalen Betroffensein keinen Ausdruck verleiht, ihre normative Wirkung auf uns ein. Wird die Situation in ihrer deskriptiven Charakterisierung aufgefasst, dann – so Fischer – bedarf es zusätzlich einer moralischen Regel oder Norm, die angibt, welche Handlungsweise in Situationen dieser Art richtig oder geboten ist. In der narrativen Vergegen39 Vgl. hierzu: G. RIZZOLATTI/C. SINIGAGLIA, Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt 2008; A.R. DAMASIO, Descartesʼ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Aus dem Englischen von Hainer Kober, Berlin 6 2010, 178–226. Damasio untersucht die Auswirkung von Hirnschädigungen auf die moralische Kompetenz und stellt dabei fest, dass ein Verlust emotionaler Fähigkeiten signifikante Verhaltensänderungen zur Folge hat. Zur Bedeutung der Emotionsforschung für die Ethik vergleiche CHR. AMMANN, Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik, Stuttgart 2007. 40 Vgl. B. WILLIAMS, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge (MA) 1985, 139– 145. 41 A.N. WHITEHEAD, Science and the Modern World. Lowell Lectures, New York 1925/1948, 56.

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wärtigung hingegen als einer emotional engagierten Darstellung einer Situation, in der Situationen und Handlungen in ihrer Erlebnisqualität vor Augen gestellt werden, wird zugleich die Richtigkeit des Handelns vor Augen gestellt. Insofern geht es bei ihr um eine Anschauung einer Situation, die diese in ihrer moralischen Signifikanz erfasst, welche ein bestimmtes Handeln dringlich macht.42

4. Tatsachen und Wertungen Die Betonung der narrativen Vergegenwärtigung einer Situation kann natürlich nicht überspielen, dass auch bei genauestem Hinsehen ganz offensichtlich nicht jeder dasselbe sieht. Es gibt unterschiedliche Weisen, die Welt zu beschreiben, die zu unterschiedlichen Bewertungen führen beziehungsweise diese implizieren. Daher hält Hans Jonas das bloße Faktum, das „Ist“, für eine Fiktion. Jonas verdeutlicht diesen Sachverhalt an der elterlichen Verantwortung für das neugeborene Kind, die er als „Urbild aller Verantwortung“ versteht. Urbild ist sie für Jonas nicht nur in genetischer und typologischer, sondern vor allem in erkenntnistheoretischer Hinsicht, nämlich „wegen ihrer unmittelbaren Evidenz“.43 Sie ist – so Jonas – angesichts des Säuglings Fiktion, weil in ihm „ist“ und „sollen“ zusammenfallen: sein „bloßes Atmen [richtet] unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt […], nämlich: sich seiner anzunehmen. Sieh hin und du weißt“.44 Dem Einwand, dass aus dem Sein des Säuglings nichts für unser Sollen folgt, entgegnet Jonas, dass man gar nicht sagen könnte, das, „[w]as wirklich und objektiv ‚da‘ ist“, sei bloß „ein Konglomerat von Zellen, welche ihrerseits Konglomerate von Molekülen sind“ und impliziere daher an sich keine Aufforderung. Jonas fragt, ob die Sichtweise eines Säuglings als „ein Konglomerat von Zellen“ nicht nur ein bestimmter Blickwinkel ist und zudem ein solcher, der den Säugling gar nicht sehen lässt. „Ihn bekommt der analytische Blick des mathematischen Physikers gar nicht zu Gesicht, sondern mit Absicht nur einen äußersten Rand seiner im übrigen ausgeblendeten Wirklichkeit“. Dass demgegenüber das „Sehen der vollen Sache weniger Wahrheitswert besitzt als das ihres letzten Überrestes im Filter der Reduktion, ist ein Aberglaube, der nur vom Erfolgsprestige der Naturwissenschaft jenseits ihres selbstgesteckten Erkenntnisfeldes lebt“.45

42

FISCHER, Verstehen statt Begründen, (s. Anm. 31), 34. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979, 234. 44 JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O., 235. 45 JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a.a.O., 236. 43

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Jonas’ Unterscheidung zwischen der der naturwissenschaftlichen Beschreibung zugänglichen (reduzierten) Sicht auf den Säugling als Zellverband und einer erweiterten (vollen) Sicht, die in dem Säugling das an die Umwelt gerichtete Soll wahrnimmt, droht zu verschleiern, dass es in beiden Fällen um (auch der naturwissenschaftlichen Beschreibung zugänglichen) Tatsachen geht. Wer das in dem Säugling wahrgenommene Sollen begründen will, wird auf bestimmte – für diese Begründung relevant erscheinende – Tatsachen verweisen, auf Sachverhalte, die auf ihn gewirkt und ihn zur Übernahme von Verantwortung bewegt haben, auf Dinge, die er gesehen hat: beispielsweise den Atem des Säuglings, seinen Blick, den Ton seines Schreiens, seine bedürftige Lage. Wir können bei strittigen Situationen nicht einfach sagen: „Sieh hin und du weißt es“ (s.o.), sondern müssen sagen, was wir sehen und damit den Blick auf bestimmte Tatsachen lenken, die uns bewegen, in der Hoffnung, dass sie auch den anderen bewegen. Eine Narration ist daher keine mystische Darstellung einer Situation und auch keine an Bewertungsausdrücken besonders reiche Darstellung, sondern eine Darstellung von Situationen im Hinblick auf das, worauf es ankommt, also: derjenigen Tatsachen, die uns beeindrucken und ein bestimmtes Handeln dringlich machen. In der Narration bringen wir unsere handlungsleitenden Perzeptionen der Situation zum Ausdruck, wir machen auf diejenigen Züge einer Situation aufmerksam, die für uns entscheidend sind und von denen wir denken, dass sie auch für andere entscheidend sein sollten. Auch eine Narration ist Aufmerksam-Machen auf Tatsachen, und zwar auf diejenigen Tatsachen einer Situation, die für unsere Emotionen und unsere Wertung relevant sind, weil es auf sie eben ankommt. Daher besteht ein ethischer Streit in der Regel darin, dass unterschiedliche – als relevant empfundene – Züge einer Situation einander vorgetragen werden, er gestaltet sich weniger als Streit über Wertungen, sondern über Tatsachen, die wir jeweils für relevant halten. Dies hat bereits Charles Leslie Stevenson in seiner Unterscheidung zwischen Faktenerkenntnis und Wertungen betont.46 Unsere Wertungen bestimmen, welche Tatsachen in einem Streit diskussionsrelevant werden. Im Streit wird auf je unterschiedliche Züge der Wirklichkeit verwiesen. Unsere Wertungen bestimmen, welche Sachverhalte jeweils relevant werden und auf welche Aspekte einer Situation wir verweisen. So verläuft beispielsweise ein Streit zwischen Kernkraftgegnern und Befürwortern der Kernkraft nicht so, dass sie sich über die relevanten Tatsachen einig sind und nur unterschiedliche Wertungen haben, sondern so, dass jeweils unterschiedliche Tatsachen ins Spiel gebracht werden, auf unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit verwiesen wird. Die Hoffnung ist jeweils, dass die anderen beeindruckt, was mich beeindruckt hat.

46

Vgl. C.L. STEVENSON, Facts and Values, New Haven 1963, 4–8.

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Dieses gilt auch dann, wenn man bedenkt, dass unsere Wahrnehmung von Welt grundsätzlich nicht voraussetzungslos ist,47 sondern bestimmt ist durch in der Person liegende Voraussetzungen, nennt man diese Voraussetzungen nun Weltanschauung, biographische Perspektive oder – wie Wilhelm Schapp – „Vorgeschichten“,48 die für das Verstehen unserer Geschichten maßgeblich sind. Diese weltanschauliche Voraussetzungshaftigkeit bestimmt die grundsätzliche Art, wie wir der Welt begegnen, weil sie bestimmt, worauf wir aus sind, was wir wissen und was wir erwarten, was wir befürchten und hoffen. Aus der weltanschaulichen Voraussetzungshaftigkeit des Erkennens, Wahrnehmens und Urteilens folgt aber nicht, dass Menschen aus ihrer jeweiligen Weltanschauung ihr konkretes Erkennen, Wahrnehmen und Urteilen ableiten. Unsere bisherigen Überlegungen machen deutlich, dass wir bei unserem Erkennen, Wahrnehmen und Urteilen die jeweilige Situation vor Augen haben, nicht unsere Perspektive, die zwar unser Wahrnehmen, Denken und Urteilen bestimmt, die wir aber nicht vor uns haben. Wir schließen nicht aus unserer Perspektive, wie wir die Dinge sehen oder sehen müssten, sondern unsere jeweilige Perspektive lässt uns die Dinge so und so sehen. Unsere Weltanschauung ist daher kein Grund, sondern etwas, das Gründe zu Gründen werden lässt, ihnen also den Charakter des Grundseins verleiht. Daher begründen wir unser Handeln auch nicht mit unserer weltanschaulichen Perspektive,49 47 Auf die weltanschauliche Voraussetzungshaftigkeit unseres Erkennens und Urteilens und damit jeder ethischen Urteilsbildung verweisen mit Nachdruck: W. HÄRLE, Die weltanschaulichen Voraussetzungen jeder normativen Ethik, in: ders./R. Preul (Hgg.), Woran orientiert sich Ethik?, Marburg 2001, 15–38; E. HERMS, Theologie und Politik. Die ZweiReiche-Lehre Luthers als theologisches Programm einer Politik des weltanschaulichen Pluralismus, in: ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zu einer evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, 95–124. Vgl. kritisch zu Herms’ und Härles Verständnis der weltanschaulichen Voraussetzungshaftigkeit jeder ethischen Urteilsbildung: J. FISCHER, Ist für jede ethische Urteilsbildung die Orientierung an einer Weltanschauung unvermeidbar? Zum ethischen Ansatz von Eilert Herms, in: ders., Sittlichkeit und Rationalität. Zur Kritik der desengagierten Vernunft, Stuttgart 2010, 208–222; M. ROTH, Rezension zu Eilert Herms, Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, ThLZ 133 (2008), 858–862. 48 SCHAPP, In Geschichten verstrickt (s. Anm. 5), 88. 49 Gerade hierin liegt die Ursache für die Ideologie: Der Ideologe macht nicht seine Wahrnehmung, sondern seine Weltanschauung zum Grund seines Urteilens, indem er von einem bestimmten Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen intentional ausgeht und von hier aus deduziert, wie – dem für wahr gehaltenen Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen angemessen – Einzelsachverhalte der Wirklichkeit beurteilt werden müssen. Wohlgemerkt: Kennzeichen des Ideologen ist nicht, dass er die Welt von einem bestimmten Standort aus versteht – dies tut jeder. Keiner kann seinen Standort hintergehen. Es macht aber einen erheblichen Unterschied, ob man davon ausgeht, dass jedes menschliche Erkennen und Verstehen von Einzelsachverhalten der Erfahrungswirklichkeit perspektivisch ist, oder ob man behauptet, dass jeweils aus einer bestimmten Perspektive abgeleitet wird, wie die Einzelsachverhalte der Erfahrungswelt zu verstehen sind. Vgl. hierzu M. ROTH, Vernunft

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also mit dem, was uns sehen lässt, was wir sehen, sondern mit dem, was wir tatsächlich sehen. Und daher können wir anderen nur vortragen, was wir tatsächlich sehen – in der Hoffnung, dass (von welchem Standort sie auch immer blicken) sie auch entdecken, was wir wahrgenommen haben. Ist dieses Unterfangen erfolgversprechend? Stevenson stellt eine aufschlussreiche Frage: Würde eine Einigung hinsichtlich der Tatsachen auch zu einer Einigung hinsichtlich der Wertungen führen?50 Stevenson bezweifelt dies zwar, hält diese Annahme jedoch als heuristische Annahme für erforderlich, denn sie hat zur Folge, dass wir Widersprüche in unseren Überzeugungen entdecken, lohnende Diskussionen nicht abbrechen und uns immer wieder aufmerksam machen auf das, was relevant ist. Wir können also nicht mehr tun, als anderen unsere Anschauung einer Situation vorzutragen und auf Facetten aufmerksam zu machen, die auf uns gewirkt haben – in der Hoffnung, dass sie auch auf andere wirkt. Es kann wirken, aber wir können es nicht erzwingen. Wir können nicht beweisen, sondern nur zu überzeugen versuchen. Eine Sicherung über den Gegenstand und damit über seine normativen Implikationen lässt sich nicht erzielen.51 Das Richtige kann nicht von einem externen Punkt abgeleitet und bewiesen werden, sondern es muss sich in der Wahrnehmung aller Beteiligten als richtig erweisen.

5. Narrative Ethik – Weisheit und Wissenschaft Weil sich die moralische Signifikanz in der jeweiligen Situation zeigt, kann die ethisch-moralische Begründung für ein bestimmtes Verhalten nicht darin bestehen, jenseits der betreffenden Situation nach Begründungen zu suchen, sondern die Begründung besteht darin, diese Situation in ihrer Erlebnisqualität vor Augen zu führen, so dass sie kognitiv und affektiv erfasst werden kann.52 Eine ethisch-moralische Urteilsbildung besteht in dem Bemühen, Facetten von Situationen aufzuzeigen, Differenzen verständlich zu machen, mögliche Konsequenzen für alle Beteiligten auszuloten, neue Horizonte zu eröffnen, das Verstehen von Geschichten um bisher unbedachte Aspekte zu des Glaubens – Vernunft des Glaubenden. Überlegungen zur Gefahr einer unangefochtenen Theologie für den angefochtenen Glauben, in: F. Schweitzer (Hg.), Kommunikation über Grenzen. Kongressband des XIII. Europäischen Kongresses für Theologie, Gütersloh 2009, 657–675, 665–670. 50 Vgl. STEVENSON, Facts and Values, (s. Anm. 46), 7f. 51 Allerdings ist dieses Eingeständnis kein Argument für eine normenethische Begründungsfigur; denn zwar kann man unter Voraussetzung eines bestimmten moralischen Begründungsprädikats moralische Normen begründen, nicht aber diese Begründungsprädikate selbst. Vgl. E. TUGENDHAT, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, 59–86. 52 Vgl. FISCHER, Verstehen statt Begründen, (s. Anm. 31), 14f.

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bereichern. Ethisch-moralische Argumente sind der Versuch, andere zu bewegen, die Dinge anders zu sehen, sie sind ein Appell an Imagination und Sensibilität. Durch Entschleunigung und Verlangsamung kommt es zum Aufmerksam-Werden auf Details einer Situation, zum Raum, diese auf uns wirken zu lassen. Bei einer ethisch-moralischen Urteilsbildung geht es nicht um Beweisen, sondern um Überzeugen, es ist kein wissenschaftliches Haben und Wissen, sondern ein weisheitliches Streben und Tun.53 Daher gibt es hier auch keinen Unterschied zwischen einem ethischen Fachmann und einem Laien. Ethik ist etwas anderes als Medizin. Wenn mich jemand nach meiner Meinung zu seiner Krankheit fragt, kann ich antworten, dass ich nichts dazu sagen kann, weil ich kein Arzt bin; aber es wäre – mit Ludwig Wittgenstein gesprochen – „irritierender Unsinn“54 –, wenn ich nach meiner Meinung zu einer strittigen Lebenssituation gebeten werde und antworten würde, dass ich nichts dazu sagen kann, weil ich keine Ethik studiert habe. Der ethische Fachmann/die ethische Fachfrau besitzt keine privilegierte Perspektive auf strittige Situationen. Daher verlassen sich Laien zwar im Blick auf naturwissenschaftliche Sachverhalte auf das Urteil von Experten, übernehmen aber bei moralisch strittigen Situationen nicht das Urteil von Ethikexperten – auch wenn dies für manche Ethikexperten verdrießlich ist.55 Bei ethisch-moralischen Diskursen geht es um Selbstdenken, Selbstfinden und Selbstentscheiden – die Gesprächspartner sind hier gleichberechtigt. Ein Ethiker, der glaubt, er habe eine privilegierte Perspektive auf strittige Situationen, und der in moralischethischen Diskussionen eine herausgehobene Stellung beansprucht, unterliegt – um eine Formulierung von Jürgen Habermas aufzugreifen – einem „szientistischen Selbstmissverständnis“.56 Selbstverständlich ist die Ethik von ethisch-moralischer Urteilsbildung zu unterscheiden. Von ethischem Wissen kann man sehr wohl sprechen – bspw.

53

Zu diesem Verständnis von Weisheit und Wissenschaft vergleiche I.U. DALFERTH, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 47–56. 54 Vgl. L. WITTGENSTEIN, Vermischte Bemerkungen, in: DERS., Werkausgabe VIII: Bemerkungen über die Farben/Über Gewissheit/Zettel/Vermischte Bemerkungen. hg. v. G.E.M. Ascombe und G.H. Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. Neu durchgesehen von Joachim Schulte, Frankfurt 1984, 489f.: „Leute haben mir manchmal gesagt, sie könnten das & das nicht beurteilen, sie hätten nicht Philosophie gelernt. Dies ist irritierender Unsinn, es wird vorgegeben, Philosophie sei irgendeine Wissenschaft. Und man redet von ihr etwas wie von der Medizin.“ 55 Vgl. hierzu CHR. AMMANN, Wider die ethische Expertokratie. Eine Polemik in ernsthafter Absicht, in: ders./B. Bleisch/A. Goppelt (Hgg.), Müssen Ethiker moralisch sein? Essays über Philosophie und Lebensführung, Frankfurt/New York 2011, 177–194, 177. 56 Vgl. J. HABERMAS, Das szientistische Selbstmissverständnis der Metapsychologie, in: DERS., Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973, 300–331.

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in Bezug auf die Kenntnis von ethischen Theorien oder dem Wissen um das Funktionieren der ethisch-moralischen Urteilsbildung. Es führt jedoch kein direkter Weg von der ethischen Expertise zur moralischen Expertise. Selbstverständlich aber kann das Wissen darum, was eine Handlung ausmacht und von welcher Art die Gründe sind, mit denen moralisch Handelnde ihr Handeln begründen, einen Beitrag leisten, Kommunikationsverfahren bewusst zu gestalten und Fehlformen der ethisch-moralischen Diskussion nicht nur zu spüren und abzulehnen, sondern auch genau zu benennen und die Ablehnung zu begründen. Und auch für die ethisch-moralische Position selbst kann Ethik relevant werden: Wir müssen ja unterscheiden zwischen der Wahrnehmung einer Situation, auf die unser Handeln eine Reaktion darstellt, und dem sprachlichen Verweis auf diese handlungsleitende Perzeption. Dieser Verweis kann mehr oder weniger diszipliniert und elaboriert sein – und es gibt Kommunikationsforen, in denen gerade die gedanklich disziplinierte Darstellung mit – wie Friedrich Schleiermacher formuliert – dem „höchst mögliche[n] Grad der Bestimmtheit“57 bezweckt wird. Ethische Reflexionen können zwar keine moralische Perzeption hervorbringen, aber in dem sprachlichen Verweis auf unsere moralische Perzeption können ethische Reflexionen aufgenommen werden. Genau hierin besteht das Anliegen einer narrativen Ethik: Sie will unsere Wahrnehmung von dem, um was es eigentlich geht, in reflektierter Form durchbuchstabieren und nicht Begründungsfiguren etablieren, die Begründungen jenseits der fraglichen Situationen anbieten und damit dem keine Rechnung tragen, auf was es tatsächlich ankommt.

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F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt I, neu hg. u. mit Einl., Erläut. und Register versehen v. M. Redeker, Berlin 71960, § 16, Leitsatz.

Narrative Ethik und Narratologie Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen Sönke Finnern Was haben das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die „Tagesschau“, die Serie „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ und das „Killerspiel“ „Counter-Strike“ gemeinsam? Nun, es sind alles Erzählungen mit einer ethischen Dimension. Daher ist es nicht unwichtig zu wissen, welchen Erzählungen sich ein heutiger durchschnittlicher Medienrezipient1 aussetzt und wie er/sie durch diese Erzählungen geprägt wird. Erzählungen – nicht zuletzt auch biblische Erzählungen – besitzen ja fast immer eine ethische Komponente, die auf höchst unterschiedliche Weise im Text2 vorkommen kann: Eine „Moral von der Geschicht’“ als Schlusssatz am Ende der Erzählung ist wahrscheinlich die offensichtlichste Form. Sehr oft werden Handlungen und Eigenschaften von Figuren im Kontext positiv oder negativ konnotiert, so auch im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die dargestellten Figuren dienen oft implizit oder explizit als Handlungsvorbilder: „So geh hin und tu desgleichen“ (Lk 10,37). Erzählungen stellen Personen und Personengruppen auf bestimmte Weise dar, die dadurch in ein gutes Licht gerückt oder auch verleumdet werden können, z.B. „die Juden“ im Johannesevangelium.3 Das wird vor allem dann ethisch relevant, wenn der Rezipient daraus auf existierende Personen(gruppen) in seinem Umfeld schließt – egal, ob diese Applikation vom Autor intendiert war oder nicht. Manchmal hat eine Erzählung nicht die Wirkung, die der Autor anstrebte. Offensichtlich ist jedenfalls, dass durch Erzählungen die Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Rezipienten verändert werden können.4 1

Es wird das generische Maskulinum verwendet. Bei den Bezeichnungen „Rezipient“, „Autor“, „Erzähler“ usw. möge man an Personen beiderlei Geschlechts denken. 2 Andere mediale Formen von Erzählungen sind impliziert. 3 Dazu beispielsweise M. NEUBRAND, Das Johannesevangelium und „die Juden“. Antijudaismus im vierten Evangelium?, ThGl 99 (2009), 205–217. 4 Zum Einstellungswandel durch (fiktive) Erzählungen siehe einführend M. APPEL, Realität durch Fiktionen. Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen, Berlin 2005. Aus theologischer Sicht ist an das in 2Tim 3,16f. formulierte morali-

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Die Vielfalt möglicher ethischer Aspekte von Erzählungen kann verwirren und schreit nach Ordnung. Man wünschte sich, einen systematisch geordneten Methodenkoffer zur Verfügung zu haben, um die ethische Dimension von Erzählungen möglichst umfassend und präzise zu beschreiben. Eine entsprechende Übersicht an methodischen Fragestellungen könnte nicht nur aus rein wissenschaftlichen und ästhetischen Gründen, sondern auch für kritische und praktische Zwecke hilfreich sein: a) Kritischer Zweck: Ein Methodenset kann helfen, die oft feuilletonistisch geprägte Literaturkritik, Theaterkritik, Filmkritik und – allgemeiner – Medienkritik hinsichtlich Kritikkategorien und Kriterien zu überprüfen.5 Die publikumsorientierte Rezensionspraxis ist in der Realität oft eklektisch und entspricht nicht wissenschaftlichen Standards, erhebt aber auch keinen wissenschaftlichen Anspruch. Aspekte der ethischen Analyse und Bewertung fließen in die Kritik mehr oder weniger am Rande ein. Ein Blick in die Bibelwissenschaft zeigt: Hier hat sich ein kritischer Umgang mit der moralischen Dimension biblischer Texte in speziellen Varianten etabliert. Besonders die ‚engagierten Exegesen‘ von Seiten der feministischen Theologie, des christlichjüdischen Dialogs, der Befreiungstheologie oder der postkolonialen Exegese wagen einen wertenden Umgang mit dem Bibeltext und dessen interpretativen Nacherzählungen (Kommentare; aber auch Kinderbibeln, Predigten, Filme usw.). Ist es möglich, hierfür ein gemeinsames methodisches Vorgehen zu formulieren? Sowohl die biblische Exegese wie auch der kritische Umgang mit anderen Erzählungen muss sich jedenfalls immer neu um Präzision bemühen. Wer wissenschaftlich die moralische Dimension einer Erzählung beurteilen möchte, benötigt im Grunde eine Aufstellung von systematischen Kritikkategorien, eine Prüfmethodik und eine Standardisierung der Kriterien (man könnte es im weitesten Sinn mit den Testtabellen der ‚Stiftung Warentest‘ vergleichen). Ich bin der Meinung, dass man z.B. Spannung, Humor, Empathielenkung oder insgesamt auch die ethisch relevanten Aspekte einer Erzählung tatsächlich näherungsweise bestimmen kann, wenn man die Kriterien immer wieder empirisch nachjustiert.6 In anderen Bereichen jenseits der Literatur werden recht strenge Anforderungen an eine Evaluation gestellt. Zu den Gütekriterien für eine Evaluation (= Kritik) gehört beispielsweise die Reliabilität, so dass

sche Bildungsziel biblischer Schriften zu denken: „dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt“. 5 Zu diesem Anliegen vgl. auch R. VON HEYDEBRAND/S. WINKO, Einführung in die Wertung von Literatur, UTB 1953, Paderborn 1996. 6 Zu Kriterien für die Empathie- und Spannungsanalyse vgl. S. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse am Beispiel von Matthäus 28, WUNT II/285, Tübingen 2010, 193–195.199f.

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andere Kritiker mit denselben Methoden zu demselben Urteil gelangen. Eine kritische Evaluation einer Erzählung und ihrer ethischen Aspekte sollte also ebenfalls reliabel sein, wenn sie wissenschaftlich sein will. Dieses Bemühen um Präzision und Reliabilität ist eine immerwährende Herausforderung, aber Ausdruck des Respekts vor den kritisierten Texten und den Menschen, die sie geschrieben haben. b) Praktischer Zweck: Ein Methodenset der ethischen Analyse kann außerdem indirekt helfen, die Verwendung von Geschichten im Alltag zu stärken. In verschiedenen Bereichen des Lebens wäre es nützlich, passende Geschichten für bestimmte Situationen und Zwecke ‚googeln‘ zu können. Beim Gegenüber sollen bestimmte Kompetenzen angebahnt werden. Im kirchlichen Arbeitsfeld stehen beispielsweise bei der Predigtvorbereitung, im Unterricht oder der Seelsorge7 Fragen wie diese im Raum: Wo finde ich Erzählungen, in denen ein bestimmter Wert zu Ausdruck kommt, wie Freundschaft, Mut, Resilienz, Achtsamkeit, Vergebung, Hoffnung usw.? Welcher Erzähltext führt mehr oder weniger wirksam zu einem Verhalten der Nächstenliebe, der Offenheit für Menschen anderer Religion? Welcher Erzähltext ist für welchen Gebrauch geeignet, welcher ist für Kinder möglicherweise schädlich (z.B. FSK 12)? Auch ein ethischer Vergleich wäre denkbar: Welcher Erzähltext ist moralisch wirksamer als ein anderer? Diese und ähnliche Fragen müsste eine Methode der ethischen Analyse beantworten können. Angenommen, es wäre möglich, die ethische Dimension einer Erzählung – z.B. Kain und Abel, Arche Noah, Bindung Isaaks, David und Goliath – systematisch zu beschreiben: Dann könnte man die Ergebnisse der ethischen Analyse auch in einer Datenbank festhalten. Über eine Suchfunktion könnte man nach dargestellten Werten und (intendierten oder tatsächlichen) Erzählwirkungen ‚googeln‘. So findet man gesuchte Erzähltexte, die beispielsweise Ängste mindern, ein bestimmtes Verhalten illustrieren, eine Norm hervorheben oder von Eigenschaften bestimmter Personengruppen überzeugen wollen.8 Sinnvoll wäre es, eine solche Datenbank mit einer Internet-Kommentarreihe zu verknüpfen. Der folgende Beitrag ist daher ein Versuch, auf die dargestellten Herausforderungen einzugehen und die ethischen Aspekte einer Erzählung in ihrer Komplexität zu beschreiben. Er soll darlegen, wie man die ethische Dimensi-

7 Zu (biblischen) Geschichten in Seelsorge und Therapie z.B. P. BUKOWSKI, Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 6 2007; N. PESESCHKIAN, Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie, Frankfurt 302009. 8 Vgl. die klassifizierende Übersicht von Erzählwirkungen auf Überzeugungen und Einstellungen bei FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 240–242.

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on von Erzählungen systematisch analysieren und kritisieren kann: Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen.

1. Zum Ansatz der kognitiven Narratologie Aus meiner Sicht bietet die Narratologie einen Ansatz, um bei dieser eher praktisch ausgerichteten methodischen Frage („Wie kann man die ethisch relevanten Aspekte eines Erzähltextes beschreiben?“) weiterzukommen. Innerhalb der Bibelwissenschaft hat sich die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie (= Narratologie) im Umgang mit biblischen Erzählungen bereits in vielen Fällen als fruchtbar erwiesen. Auch im deutschsprachigen Raum erscheinen in den letzten Jahren immer mehr exegetische Studien, die durch narratologische Methoden beeinflusst sind.9 Die Narratologie hat sich inzwischen deutlich über die neueren Literaturwissenschaften hinaus ausgebreitet10 und ist stark interdisziplinär und transmedial11 ausgerichtet. Es gibt nicht die Narratologie als einheitliche Theorie, sondern es handelt sich eigentlich um eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die verschiedene und auch einander widersprechende Modelle umfasst.12

9

Vgl. J. VETTE, Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen Poetik des Samuelbuches, Beiträge zum Verstehen der Bibel 13, Münster 2005; A. CORNILS, Vom Geist Gottes erzählen. Analysen zur Apostelgeschichte, TANZ 44, Tübingen 2006; U.E. EISEN, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, NTOA/StUNT 58, Göttingen 2006; B. SCHMITZ, Prophetie und Königtum. Eine narratologisch-historische Methodologie entwickelt an den Königsbüchern, FAT 60, Tübingen 2008; S. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6); S. FISCHER, Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung. Erzähltextanalyse eines poetischen Textes, FAT 72, Tübingen 2010. 10 Beispiele für die Klassische Philologie und Mediävistik: J. GRETHLEIN/A. RENGAKOS u.a. (Hgg.), Narratology and Interpretation. The Content of Narrative Form in Ancient Literature, Trends in Classics – Supplementary Volumes 4, Berlin/New York 2009; D. PAUSCH, Livius und der Leser. Narrative Strukturen in ab urbe condita, Zetemata 140, München 2011; H. HAFERLAND u.a. (Hgg.), Historische Narratologie – mediävistische Perspektiven, Trends in Medieval Philology 19, Berlin u.a. 2010; A. SCHULZ, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin u.a. 2012. 11 M. KUHN, Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Narratologia 26, Berlin/New York 2011. 12 Zum Einstieg empfehlenswert: M. MARTÍNEZ/M. SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, München 92012; S. LAHN/J.CHR. MEISTER, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart u.a. 22013; wichtige Theoretiker sind G. Genette, S. Chatman oder M. Pfister. Für eine Übersicht vgl. auch S. FINNERN, Kognitive Erzählforschung und religiöse Texte – narratologische Methoden im Überblick, in: G. Brahier/D. Johannsen (Hgg.), Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung, Würzburg 2013, 19–35.

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Ein wichtiges, neueres Paradigma ist insbesondere die kognitive arratologie.13 „Kognitive Erzähltheorie“ bedeutet, dass man die Wahrnehmungsschemata der intendierten Rezipienten nach Möglichkeit historisch rekonstruiert. Wichtig sind hier besonders die Begriffe frame und script: Ein frame ist ein Verstehensrahmen, also zum Beispiel die Anschauung, was ein Pharisäer ist, wie ein Felsgrab in der Antike aussieht oder auf welchen alttestamentlichen Vers hier angespielt wird. Ein script ist das Wissen über typische Handlungsabläufe, das auch Handlungsüberraschungen bestimmt: Was konnte also ein antiker Rezipient beim Lesen als nächstes erwarten und was nicht? Die Rekonstruktion solcher Wahrnehmungsschemata schließt also historisches und kulturelles Vorwissen ein, das nur historisch, archäologisch, religionsgeschichtlich, soziologisch usw. eruiert werden kann. Kognitive Narratologie und historisches Verstehen gehören daher eng zusammen. Außerdem führt die kognitive Narratologie die frühere Rezeptionsästhetik weiter. Man kann inzwischen ziemlich detailliert beschreiben, in welcher Weise sich der Rezipient mit der erzählten Welt auseinandersetzt. Paul Ricœur hat einmal davon gesprochen, dass der Leser „die Welt des Textes bewohnen“ könne.14 Wie das genau geschieht, das ist Teil der Narratologie: Der Leser schaut mit seiner Perspektive auf die erzählte Welt, stellt Zusammenhänge her, denkt sich in die Figuren hinein, hat Sympathie oder Antipathie zu bestimmten Figuren und lernt durch deren positive oder negative Handlungsvorbilder. Das gilt für alle Arten von Erzählungen, unabhängig von deren Historizität. Die „erzählte Welt“ ist eine Welt für sich, die der Autor entwirft. Wie kann man aber aus narratologischer Sicht methodisch verantwortlich die ethischen Implikationen einer Erzählung bestimmen? Das ist bislang eine offene Frage. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion gibt es m.W. noch keine Methode im eigentlichen Sinn, um die Ethik rund um Erzähltexte zu untersuchen.15 Eine Methode kann beschrieben werden als „endliche Folge 13 Zur kognitiven Narratologie vgl. neben der Darstellung bei FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 36–45 (Lit.), jetzt auch S. WEGE, Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft, Bielefeld 2013. 14 P. RICŒUR, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./E. Jüngel (Hgg.), Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 24–45, 32. 15 Unter den vielfältigen Studien zum Thema „Ethik und Erzählung“ seien folgende neuere Bände hervorgehoben: A. ERLL/H. GRABES/A. NÜNNING (Hgg.), Ethics in Culture. The Dissemination of Values through Literature and Other Media, Spectrum Literaturwissenschaft 14, Berlin/New York 2008; CHR. LUBKOLL/O. WISCHMEYER (Hgg.), ‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung, Ethik – Text – Kultur 2, Paderborn/ München 2009 (interdisziplinär); P. LEVINE, Reforming the Humanities. Literature and Ethics from Dante to Modern Times, New York 2009; M.W. GREGORY, Shaped by Stories. The Ethical Power of Narratives, Notre Dame 2009; S. WALDOW , Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute, Bielefeld 2011.

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von Handlungsanweisungen mit einem bestimmten Zweck“16, im Sinne von „1., 2., 3.“, z.B. ein Kochrezept. Methoden des geisteswissenschaftlichen Arbeitens bestehen in ähnlicher Weise aus mehreren Schritten. Die Schritte sind meist Aufforderungen zu Denkhandlungen, und diese Aufforderungen zu Denkhandlungen begegnen häufig als Fragen- und Kriterienkatalog. Eine Methode steht also letztlich zwischen Theorie und Praxis, zwischen theoretischen Überlegungen zur narrativen Ethik17 und konkreten ethischen Untersuchungen am Einzeltext. Sie übernimmt damit eine mögliche Brückenfunktion. Angesichts dieser Überlegungen könnte es hilfreich sein, die heutige narratologische Theoriebildung mit der Methodenformulierung zusammenzuführen und beides auf ethische Aspekte bezogen auf Erzählungen zuzuspitzen. Dies soll in den folgenden Abschnitten 2.–4. geschehen.18

2. Methoden zur ethischen Analyse und Kritik von Erzählungen: Erste Differenzierungen Bisher war relativ unspezifisch von „ethischen Dimensionen rund um Erzählungen“ usw. die Rede, die es methodisch zu betrachten gelte. Beim Themenbereich „Ethik und Erzählung“ können zunächst einmal zwei Kommunikationssituationen mit jeweils zwei Subjekten ethischer Reflexion unterschieden werden:

Für die alttestamentliche Wissenschaft vgl. G.J. WENHAM, Story as Torah. Reading Old Testament Narrative Ethically, Edinburgh 2000. Vgl. auch den klassischen Ansatz des Ethical Criticism, der von W.C. Booth begründet wurde: W.C. BOOTH, The Rhetoric of Fiction, London 1961, Repr. Harmondsworth 1987, 377–398 (Schlusskapitel: „The Morality of Impersonal Narration“); dazu W.C. BOOTH, The Company We Keep. An Ethics of Fiction, Berkeley 1988; W.C. BOOTH, Why Banning Ethical Criticism Is a Serious Mistake, Philosophy and Literature 22 (1998), 366–393; H. ANTOR, Art. Ethical criticism, in: A. Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 42008, 181–183. Booths These, dass literarische Werke auch ethisch problematisch sein können, fand im Klima des New Criticism anfangs wenig Zuspruch. 16 FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 17; vgl. R. KAMITZ, Art. Methode/Methodologie, in: J. Speck (Hg.), Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe 2, UTB 967, Göttingen 1980, 429–433, 429. 17 Vgl. z.B. M. HOFHEINZ/F. MATHWIG/M. ZEINDLER (Hgg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009. 18 Es handelt sich um eine Zusammenfassung und Weiterentwicklung der Darstellung bei FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 179–245.379–438.

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Ethisch relevante Kommunikationssituation 1: Erzähler – Erzähladressaten.19 Ein Erzähler vertritt und vermittelt ein (implizites) Ethos (= eine ‚implizite Ethik‘), d.h. Vorstellungen darüber, wer bzw. was gut oder böse sei, und damit zusammenhängende Überzeugungen (Ethik ‚in‘ der Erzählung/Ethik ‚durch‘ die Erzählung). Ethisch relevante Kommunikationssituation 2: Interpret – Adressaten der Interpretation. Ein Ausleger ist verpflichtet, die ethischen Überzeugungen und Einstellungen, die ein Erzähler vertritt und vermittelt, wahrzunehmen und mit ihnen verantwortlich umzugehen (Ethik im Umgang mit Erzählungen).

Angesichts von zwei relevanten Kommunikationssituationen und vier möglichen Subjekten ethischer Reflexion kann das Thema „Ethik und Erzählung“ dabei in drei Richtungen aufgeschlüsselt werden: 1.) die Ethik (Normen, Normbegründungen, Werturteile), die der Erzähler vertritt, also der ethisch relevante Erzählerstandpunkt (= „Ethik ‚in‘ der Erzählung“, zum Beispiel „Ethik des Matthäusevangeliums“); 2.) die Ethik (Normen, Normbegründungen, Werturteile) der Erzähladressaten, insofern deren Einstellungen und ethisch wirksame Überzeugungen durch die Erzählung beeinflusst werden (sollen)20 (= „Ethik ‚durch‘ die Erzählung“); 3.) die Ethik (Normen, Normbegründungen, Werturteile) des Auslegers, als doppelte Verantwortung des Interpreten gegenüber dem Text und den eigenen Rezipienten, im Sinne einer Interpretationsethik21 (= „Ethik im Umgang mit Erzählungen“).22 Das ist hier im Einzelnen mit „ethischen Aspekten bezogen auf Erzählungen“ oder auch „narrativer Ethik“ gemeint: 1. Ethik ‚in‘ der Erzählung, 2. Ethik ‚durch‘ die Erzählung und 3. Ethik im Umgang mit Erzählungen. Man könnte natürlich noch andere Typologien narrativer Ethik aufstellen, 23 19

Hier ist insbesondere an den primären Erzähler (= Autor) und die primären Erzähladressaten (= intendierte Rezipienten) gedacht. Wenn Binnenerzählungen mit eigenen Erzählerfiguren vorhanden sind, sollte man natürlich weitere Kommunikationsebenen mit bedenken (vgl. zu den narrativen Ebenen FINNERN, Narratologie [s. Anm. 6], 53–56). 20 Hier, bei der ethischen Wirkungsanalyse, ist eigentlich eine weitere Unterscheidung zwischen intendierter und tatsächlicher Rezeption notwendig. 21 Vgl. die erste von zehn Thesen bei E. SCHÜSSLER FIORENZA, Wissenschaftsrhetorik und Interpretationsethik, in: G. Gelardini (Hg.), Kontexte der Schrift I: Text, Ethik, Judentum und Christentum, Gesellschaft (FS E. Stegemann), Stuttgart 2005, 282–295, 294: „Interpretationsethik und die Ethik eines Textes (z.B. die Ethik des Markusevangeliums) sind zu unterscheiden.“ Weiteres zur Interpretationsethik bei FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 485f. 22 Die Ethik der Rezipienten der Interpretation, insoweit sie durch die Auslegung beeinflusst wird, könnte man als eigene, vierte Kategorie narrativer Ethik ansehen (Ethik ‚durch‘ Interpretationen von Erzählungen), doch wenn es sich bei dem interpretativen Posttext nicht selbst um eine Erzählung handelt, ist dies kontraintuitiv. 23 Diese Typologie narrativer Ethik orientiert sich als Grundkategorie an den drei relevanten ethischen Subjekten, die im Zusammenhang mit Erzählkommunikation auftreten.

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aber dies sind wohl die Möglichkeiten narrativer Ethik, die für die konkrete Textauslegung, z.B. die Bibelwissenschaft, relevant sind. Aus diesen drei Aspekten narrativer Ethik ergeben sich drei methodische Grundschritte: 1) ethische Analyse des Inhalts, 2) ethische Analyse der Wirkung, 3) ethische Kritik von Inhalt und Wirkung.

der Einstellungen des Erzählers des Inhalts

zu Entitäten (Personen, Orte, Gegenstände) zu Merkmalen (Eigenschaften, Verhaltensweisen)

der Überzeugungen des Erzählers

Ethische Analyse Ethische Kritik

kurzfristig intendiert der Wirkung

langfristig

tatsächlich (histor., empir.) Abb. 1: Übersicht über die Untersuchungsaspekte ethischer Analyse und Kritik.

Die Grafik (Abb. 1) gibt eine genauere Übersicht über die möglichen Fragerichtungen. Eine erste Grundunterscheidung ist „Analyse“ und „Kritik“. Unter ethischer Analyse (s.u. Abschnitt 3) wird die methodisch geleitete Beschreibung sämtlicher ethischer Aspekte der Erzählung verstanden, eine Art Datensammlung; mit der ethischen Kritik (s.u. Abschnitt 4) kann dann eine Bewertung der Erzählung in ethischer Hinsicht erfolgen, anhand von klar formulierten Kriterien und einer explizit gemachten Referenz-Ethik (oft die ethischen Überzeugungen des Auslegers selbst). Eine zweite Unterscheidung bezieht sich auf den ethischen Inhalt und die ethische Wirkung der Erzählung. Der ethische ‚Inhalt‘ setzt sich aus den Einstellungen und den ethisch relevanten Überzeugungen des primären Erzählers zusammen, die in der Erzählung (implizit) zum Ausdruck kommen; er ist also weitgehend identisch mit dem primären Erzählerstandpunkt.24 Von besondeVgl. zu einer anderen Dreiteilung narrativer Ethik bei K. Joisten und zu drei Verhältnisbestimmungen von narrativer Ethik und Prinzipienethik bei M. Hofheinz zusammenfassend R. ZIMMERMANN, Narrative Ethik im Johannesevangelium am Beispiel der LazarusPerikope Joh 11, in: J. Frey/U. Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, BThS 130, Neukirchen-Vluyn 2012, 133–170, 147–152. 24 Zur umfassenden Analyse des Erzählerstandpunktes vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 179–183.378–389. Nur ein Teil der Überzeugungen, die der intendierte Rezipient als dem Erzähler zugehörig wahrnimmt, sind auch ethisch relevant; nämlich nur diejenigen, die eine Norm oder ein Werturteil stützen, d.h. die als Normbegründung fungieren. Der ethische ‚Inhalt‘ – oder in der Terminologie von R. Zimmermann die ‚implizite Ethik‘

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rer Bedeutung für die (implizite) Ethik ist der Begriff der Einstellung, der sich sowohl auf Personen und Sachen als auch auf Eigenschaften und Verhaltensweisen beziehen kann; es gibt zahlreiche psychologische Studien zum Thema Einstellung und Einstellungswandel25. Je nachdem, ob sich eine Einstellung auf eine Entität (Personen, Sachen) oder auf ein Merkmal (Eigenschaften, Verhaltensweisen) richtet, ist jeweils eine spezielle Methode zur Analyse der Einstellungen notwendig. Bei der Analyse der Wirkung könnte man sich aus exegetischer Sicht auf die intendierte Wirkung beschränken; die Wirkungsgeschichte und empirische Wirkungsforschung ragt auch in den Bereich der Kirchengeschichte und der Praktischen Theologie hinein. Mindestens für die ethische Kritik sollte dann aber auch die tatsächliche Wirkung des Textes im Blick sein. Die Wirkung selbst lässt sich in kurzfristige und langfristige Erzählwirkungen untergliedern. Tabelle 1 zeigt eine Übersicht über die genannten Aspekte, ergänzt um eine Schlüsselfrage/Erklärung und ein Beispiel aus Mt 28. Anschließend soll im Einzelnen dargestellt werden, wie man diese Aspekte methodisch genau erfassen kann.

– der Erzählung ist also eine Teilmenge des Erzählerstandpunktes. Beim ethischen ‚Inhalt‘ der Erzählung handelt es sich – daran sei erinnert – nicht nur um etwas, was explizit im Text steht, weil im konstruktivistischen bzw. kognitiven Paradigma auch sämtliche Vorannahmen und Inferenzen des intendierten Rezipienten für die Konstruktion des ‚Inhalts‘ berücksichtigt werden. 25 FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 226–236.

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Tabelle 1: Übersicht über die Untersuchungsaspekte ethischer Analyse Aspekte Frage/Erklärung Beispiel (Mt 28) 1. Ethische Analyse des Erzählerstandpunktes (→ Abschnitt 3.1) a) Einstellungen des Erzählers Wer ist gut/schlecht? Die Hohenpriester zu Entitäten, v.a. zu Figuren werden im MtEv negativ dargestellt. b) Einstellungen des Erzählers zu Merkmalen (≈ ormen des Textes)

Was ist gut/schlecht?

Die Völkermission wird im MtEv als Norm für die (elf) Jünger dargestellt.

c) [Teilmenge der] Überzeugungen des Erzählers (≈ Lehre des Textes)

Was ist wahr/falsch? (soweit als Begründungsrahmen für bestimmte Einstellungen verwendet)

Die Völkermission ist vom auferstandenen Christus selbst befohlen.

2. Ethische Analyse der Wirkungsabsicht und Wirkung (→ Abschnitt 3.2) Der intendierte Rezipia) Kurzfristige intendierte WirLenkung von Empathie, ent soll sich in Mt 28 kungen Sympathie, Emotionen über das Verhalten der durch die Erzählung Hohenpriester ärgern. b) Langfristige intendierte Wirkungen

Veränderung von Einstellungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen durch die Erzählung

Der intendierte Rezipient von Mt 28 soll die Völkermission anerkennen und dementsprechend handeln.

3. Ethische Kritik von Erzählerstandpunkt und Wirkung(sabsicht) (→ Abschnitt 4)

3. Ethische Analyse von Erzählungen Die ethische Analyse einer Erzählung setzt sich zusammen aus der Analyse des ethisch relevanten Erzählerstandpunktes (3.1) und der Analyse der intendierten Erzählwirkung (3.2). 3.1 Analyse des ethisch relevanten Erzählerstandpunktes (‚Moral‘ der Geschichte im weitesten Sinn) Die ‚Moral einer Erzählung‘ (= ethischer ‚Inhalt‘, = ‚implizite‘ Ethik, = ‚narrativ verpackte‘ Ethik) wird hier verstanden als die Gesamtheit der Einstellungen und ethisch relevanten Überzeugungen, die vom intendierten Rezipi-

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enten als dem primären Erzähler zugehörig wahrgenommen26 werden können. Nach dem kognitiven Ansatz umfasst die ‚Moral von der Geschicht’ʻ also mehr als nur explizite Formen wie Imperative an den Leser oder das Epimythion am Ende einer Fabel. Und dementsprechend ist ‚Moral‘ nach diesem Verständnis auch kein Kanon von bestimmten Handlungen, sondern eben eine kognitive Größe, nämlich ein System an Einstellungen und Überzeugungen, das eine Gruppe teilt oder das ein einzelner Mensch hat. Die Gesamtheit an tatsächlichen Verhaltensweisen könnte man dagegen als ‚gelebtes Ethos‘ bezeichnen. Man kann bei der Untersuchung des ethischen ‚Inhalts‘, wie gesagt, drei Aspekte untersuchen: a) Einstellungen des Erzählers zu Entitäten (Personen): „Wer ist gut/ schlecht?“ b) Einstellungen des Erzählers zu Merkmalen (Eigenschaften, Verhaltensweisen): „Was ist gut/schlecht?“ c) Überzeugungen des Erzählers, sofern sie als Begründung für eine Einstellung dienen können: „Was ist wahr/falsch?“ a) Einstellungen des Erzählers zu Entitäten im Text, hier: den Figuren „Entitäten“ im Erzähltext sind alle (explizit und implizit) dargestellten konkreten Dinge27 (z.B. auch Gegenstände oder Orte), ethisch relevant sind in der Regel aber besonders die Figuren. Deswegen folgt hier ein Vorschlag für eine Methode, wie man die Bewertung der Figuren durch den Erzähler analysieren und nachverfolgen kann. Zielfrage (Schritt 4): „Ist die jeweilige Figur oder Figurengruppe für den Erzähler eher gut oder schlecht?“ – „Warum?“ (Schritt 2) – „Wie kommt das zum Ausdruck?“ (Schritt 3). Die Methode zur Analyse der Figurenbewertungen in der Übersicht: 1.) Eine Liste der Figuren erstellen. 2.) Die Bewertung des Erzählers anhand von Kriterien einschätzen. (story-Aspekt) 3.) Die erzählerischen Mittel der Figurenbewertung untersuchen. (discourse-Aspekt) 4.) Eine abschließende Übersicht erstellen. 26 Also unter Einbeziehung des vorausgesetzten Vorwissens und der vorausgesetzten Schlussfolgerungen. 27 Vgl. E. RUNGGALDIER/C. KANZIAN, Grundprobleme der Analytischen Ontologie, UTB 2059, Paderborn u.a. 1998, 115–218, die vier ontologische Hauptkategorien unterscheiden: konkrete Dinge, Eigenschaften, Ereignisse und Sachverhalte. In einer beliebigen ethischen Diskussion kann man bei konkreten Dingen fragen: Sind sie gut/schlecht? (vgl. a), bei Eigenschaften und Ereignissen: Sind sie gut/schlecht? (vgl. b, dort personalisierter: „Verhaltensweisen“ statt „Ereignisse“), bei Ereignissen (als historischer Sachverhalt) und (aktuellen) Sachverhalten: Sind sie wahr/falsch? (vgl. c).

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1.) Eine Liste der Figuren erstellen, die auf der zu untersuchenden Erzählebene vorkommen: Beispiel zu Mt 28: Jesus, Engel, Maria von Magdala und die andere Maria, Wachen, Jünger, Hohepriester, Älteste, Pilatus, Juden, Heiden, Gott, Heiliger Geist. 2.) Die Figurenbewertung des Erzählers aus Sicht des intendierten Rezipienten einschätzen (gut – ambivalent – böse) (story-Aspekt). Kriterien sind z.B.: – gemeinsames, kulturell geteiltes Vorwissen über die Bewertung dieser (Art von) Figur; – explizite Erzählerkommentare, die eine Wertung enthalten; – Kommentare anderer Figuren über diese Figur, die eine Wertung enthalten; – Figurenmerkmale, die eine Wertung implizieren (z.B. ein als positiv oder negativ anerkanntes Verhalten) (= deduktive Bewertungsrichtung: Merkmal → Entität); – das Schicksal, das eine Figur am Ende trifft (Glückskurve).28 Die Figurenbewertung erhält vor allem dann eine ethische Relevanz, wenn die Figuren auch in der (imaginierten) Lebenswelt des intendierten Rezipienten vorkommen, z.B. „die Juden“, oder wenn sie eine Funktion als positive oder negative Vorbilder haben, so dass sich eine positive oder negative Rückkopplung auf die Bewertung einzelner Merkmale ergibt (induktive Bewertungsrichtung: Entität → Merkmal; z.B. wenn der Filmheld entspannt eine Zigarette raucht). Näheres dazu unter 3.2 Analyse der ethischen Wirkung. 3.) Die erzählerischen Mittel der Figurenbewertung untersuchen (discourse-Aspekt). Außerdem kann narratologisch sehr genau beschrieben werden, mit welchen erzählerischen Mitteln die Figurenbewertungen entstehen: Verwendet der Erzähler eher eigene Erzählerkommentare oder Figurenkommentare? Welche Perspektivenstruktur ergibt sich durch die Meinungen der Figuren übereinander? Anhand welcher Figurenmerkmale geschieht die Bewertung typischerweise (Identität, Charakter, Verhalten, …)? Wie verhalten sich die erzählerischen Mittel der Figurenbewertung zur Erzähltechnik anderer Texte? usw. Exemplarisch soll in Abb. 2 die Perspektivenstruktur der Figurenbewertungen in Mt 28 dargestellt werden.29

28

Vgl. ähnlich schon F. JANNIDIS, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Narratologia 3, Berlin/New York 2004, 234f. 29 FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 383 (dort Abb. 53).

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Erzähler gut

gut (V. 10: μὴ φοβεῖσθε)

Frauen

ambivalent (V. 17: ἐδίστασαν)

gut (V. 10: οἱ ἀδελφοὶ μου)

Jesus

gut (Treue)

schlecht (Lüge) schlecht (27,63: ὁ πλάνος)

153

Jünger

schlecht (V. 13: ἔκλεψαν)

Hohepriester

Abb. 2: Perspektivenstruktur, hier: Figurenbewertungen.

4.) Eine abschließende Übersicht über die Figurenbwertungen erstellen: Zusammenfassend können die verschiedenen Figuren des Textes auf einer Skala zwischen gut und böse eingetragen werden. Dabei sind auch Dynamiken zu berücksichtigen, wenn sich die Einstellung des Erzählers zu den Figuren in der Wahrnehmung des intendierten Rezipienten ändert. Ein tabellarisches Beispiel zu Mt 28 zeigt Tab. 2:30 Tabelle 2: Übersicht über Figurenbewertungen durch den Erzähler Gut ἐπιεικής Jesus Frauen Engel Gott Heiliger Geist

Ambivalent ὁ μεταξὺ τούτων Jünger Wachen Pilatus Heiden

Böse σφόδρα πονηρός Hohepriester Wachen (einige) Älteste Juden

Ich will diesen Blick auf die Figurenbewertungen auch noch einmal im Fließtext am bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) verdeutlichen. Wenn man sich die drei Hauptfiguren anschaut: Vater, älterer Sohn, jüngerer Sohn – wie werden diese vom primären Erzähler, d.h. Lukas, eingeschätzt? a) Der Vater ist per definitionem gut. Weil er gut ist, deswegen ist auch alles gut, was er tut. b) Der jüngere Sohn handelt im kulturellen Kontext anfangs unmoralisch, daher denkt der intendierte Rezipient zu Beginn, Lukas würde ihn negativ einschätzen. Doch Lukas lenkt die Empathie auf den „bösen“ jüngeren Sohn und nicht auf den älteren, braven Sohn. Dadurch, dass der Vater den jüngeren 30

FINNERN, Narratologie, a.a.O., 382 (dort Abb. 52). Griechische Einteilung nach Arist.po. 1452b–1453a.

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Sohn am Ende wieder aufnimmt, ändert sich die Figurenbewertung. Der Sohn ist weder der Gute noch der Böse, sondern etwas dazwischen (Aristoteles: ὁ μεταξὺ τούτων). Auf der Ebene der Figurenapplikation (→ 3.2) werden hier Einstellungen geprägt, die Einstellung des Rezipienten zu sich selbst und die Einstellung zu Gott. c) Der ältere, brave Sohn handelt dagegen vollkommen richtig. In den Augen des intendierten Rezipienten schätzt der Erzähler Lukas ihn also zunächst positiv ein. Doch am Ende erscheint der ältere Sohn ähnlich ambivalent wie der jüngere. Mit dem Gleichnis findet also eine Umprägung von Einstellungen statt, und zwar von Einstellungen zu Menschen (bzw. Gott). Das Erbe zu verprassen wird dadurch nicht gut – und dem Vater gehorsam zu sein wird dadurch nicht schlecht. Aber es wird das bisherige Gut-Böse-Schema im Blick auf (bestimmte) Menschen aufgelöst. Man kann dies als einen zentralen Aspekt ethischer Reflexion ansehen. Deswegen ist es wichtig, auch die Einstellungen des Erzählers zu Entitäten – und nicht nur die vorhandenen Einstellungen zu Merkmalen (= Normen) – als Teil der „Moral der Geschichte“ und Teil einer narrativen Ethik zu berücksichtigen. b) Einstellungen des Erzählers zu Merkmalen: ormen der Erzählung Bei narrativer Ethik denkt man wahrscheinlich hauptsächlich an die narrative Darstellung und Reflexion von ormen. Darum geht es nun in diesem Abschnitt. Die Zielfrage, die hier beantwortet werden soll, lautet: „Wie kann man die expliziten und impliziten Normen einer Erzählung systematisch ermitteln und beschreiben?“ Normen im Erzähltext können einerseits explizit genannt sein, am stärksten ist wohl die Form der Aufforderung oder des Verbots. „So geh hin und tu desgleichen“ (Lk 10,37) – mit diesem klaren Satz fordert Jesus den Schriftgelehrten auf, wie der barmherzige Samariter zu handeln. Normen im Erzähltext sind aber auch sehr oft implizit: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter würde wohl auch ohne diesen Schlusssatz Jesu funktionieren, weil Verhaltensweisen geschildert werden, die implizit mit einer Bewertung verbunden sind – im vorausgesetzten Weltwissen von Autor und Leser. Deswegen müssen bei einer ethischen Analyse auch die impliziten Normen in der Erzählung sehr genau beachtet werden. Und daher hat Zimmermann durchaus zu Recht den Terminus „implizite Ethik“ eingeführt. Außerdem ist der schwierige, sehr vielfältige Begriff orm zu klären. Eine erste Antwort kann lauten: Eine Norm ist der sprachliche Ausdruck dessen, dass ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Eigenschaft (nicht) gewünscht wird. Aus kognitiver (bzw. psychologischer) Sicht korrespondiert mit dieser Norm eine bestimmte Einstellung zu diesem Verhalten oder dieser Eigenschaft. Daher kann man aus den Einstellungen des Erzählers zu Eigen-

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schaften und Verhaltensweisen, die für den intendierten Rezipienten (implizit) erkennbar werden, die Normen des Erzählers herausarbeiten und diese in Sprache fassen. Anders als Zimmermann möchte ich etwas strenger zwischen orm und orminstanz unterscheiden. Eine Norm im engen Sinn ist eine Merkmalsnennung (Merkmal = Eigenschaft oder Verhalten), die man gedanklich mit „NN soll …“ (bei Sollens-Normen) einleiten könnte.31 Beispiele für Norminhalte sind also: ‚gerecht seinʻ (substantivierbar zu ‚Gerechtigkeit‘), ‚frei seinʻ (= ‚Freiheitʻ), ‚die Straße nicht in diese Richtung befahrenʻ, ‚nicht rauchenʻ, ‚Vegetarier seinʻ, ‚nicht am Sabbat arbeitenʻ, ‚schön aussehenʻ (= Schönheit), ‚glauben, hoffen, liebenʻ (= Glaube, Hoffnung, Liebe), ‚tun, was du willst, dass man dir tueʻ (= ‚Goldene Regelʻ), ‚tun, was Gott willʻ oder ‚auf das Im Vergleich dazu die Definition von orm bei R. ZIMMERMANN, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften, in: F.W. Horn/U. Volp/R. Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 3– 27, 17: „Eine ‚Norm‘ ist ein Zeichen, das in einem ethischen Satz bzw. Diskurs einen Sollensanspruch an das Verhalten eines Einzelnen bzw. einer Gruppe begründet oder das mit einer Wertzuschreibung belegt wird“ (im Original kursiv). – Mein Verständnis von „Norm“ unterscheidet sich davon, daher eine kurze Kritik: 1.) Eine Norm kann auch zeitlich unabhängig vom Kontext eines ethischen Satzes oder Diskurses auftreten; sobald für den Rezipienten aus dem Zeichen eine Sollensaussage erkennbar werden soll, liegt bereits eine Norm vor (z.B. ein Einbahnstraßenschild mitten im Straßenbild). Die Erkennbarkeit ist allerdings abhängig von den Regeln der Kommunikationsgemeinschaft, doch dieser Aspekt steckt schon im Begriff „Zeichen“. 2.) Eine Norm kann nicht nur einen Verhaltensanspruch, sondern auch einen Eigenschaftsanspruch ausdrücken (beides zusammen könnte man „Merkmalsanspruch“ nennen), z.B. „nicht dick sein“, „frei sein“. 3.) Bei der Norm als einem „Zeichen, […] das mit einer Wertzuschreibung belegt wird“, ist offenbar an vermeintlich weitere Arten von Normen gedacht, vielleicht an ein Prinzip, eine Maxime oder ein Gut (vgl. a.a.O., 19f.). Doch dieses Verständnis von orm erscheint zu ungenau, da das Bezeichnete (nicht Zeichen), das eine Wertzuschreibung erfährt (= dem gegenüber eine Einstellung zum Ausdruck kommt), sowohl eine Entität (Gott) wie auch eine Eigenschaft (gesund sein) oder eine Verhaltensweise (stehlen) sein kann. a) Falls mit dem Zeichen eine Verhaltensweise bezeichnet ist, die eine Wertzuschreibung erfährt, gibt es eine Doppelung mit dem ersten Teil der Definition. b) Eine Eigenschaft, die eine Wertzuschreibung erfährt, ist zwar bei positiver Wertzuschreibung identisch mit einem Gut bzw. einem „Ideal oder Objekt eines Wunsches“ (a.a.O., 20), aber nicht bei Zuschreibung eines geringen Wertes (Bsp: jemand findet die Farbe Pink hässlich). c) Und eine Entität, die eine Wertzuschreibung erfährt, muss nicht notwendigerweise auch als Norm fungieren (Beispiel: ein Auto wird in einer Erzählung als rostig und damit als von eher geringem Wert beschrieben). Zum positiven oder negativen Vorbild (vielleicht ist dies die bessere Bezeichnung bei Entitäten) wird die Entität erst, wenn eine Applikation durch den Rezipienten stattfindet. – Letztlich müsste die Definition von „Norm“ bei R. Zimmermann also vor allem gekürzt werden: „Eine (Soll-)‚orm‘ ist ein Zeichen, das einen Sollensanspruch an das Verhalten oder die Eigenschaften eines Einzelnen bzw. einer Gruppe ausdrückt.“ 31

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Gewissen hörenʻ.32 Bei Normen muss es sich um Bezeichnungen für Eigenschaften und Verhaltensweisen handeln oder um entsprechende Substantivierungen. Sie können mehr oder weniger allgemein formuliert sein. ‚Gewissen‘ ist nach diesem Verständnis keine Norm (anders Zimmermann33), sondern eine orminstanz, die man auch ormgeber nennen könnte. Andere orminstanzen sind beispielsweise ‚die Toraʻ, ‚Gottʻ, ‚Jesusʻ, ‚das Grundgesetzʻ, ‚die Naturʻ, ‚die Wissenschaftʻ oder ‚mein Freundʻ. Normen sind als Zeichen Teil der Kommunikation. Daher kann man die Lasswell-Formel („Who Says What in Which Channel to Whom With What Effect“?) aus der Kommunikationswissenschaft34 auch auf den Spezialfall anwenden, dass es sich bei einer Aussage/einem Zeichen um eine geäußerte Norm handelt (s. Tab. 3).

32

Vgl. ähnlich, etwas weniger klar, FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 182.384–387. ZIMMERMANN, Pluralistische Ethikbegründung (s. Anm. 31), 23f., möglicherweise durch die Aufteilung S. 20 bedingt. Die gezeigte Differenzierung halte ich für schwierig (vgl. die Anfrage a.a.O., 21). Der Begriff ‚Prinzip‘ ist inhaltlich bestimmt, nämlich auf den Allgemeinheitsgrad der Norm bezogen (z.B. „tun, was Gott will“, „tun, was man tun muss“), in dieselbe Kategorie würden nur Begriffe gehören, die z.B. einen geringen oder mittleren Allgemeinheitsgrad von Normen bezeichnen – die jedoch noch nicht geprägt wurden (evtl. für mittlere Allgemeinheit ‚Wert‘); die Bezeichnung ‚Maxime‘ bezieht sich auf eine von vielen möglichen Darstellungsformen von Normen („bete und arbeite“, „liebe und tue, was du willst“). Form- und Inhaltskategorien sind hier klarer zu trennen. 34 Zur Lasswell-Formel vgl. differenzierend R. BURKART, Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, UTB 2259, Wien 42002, 492–494; hier um einige Elemente erweitert. 33

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Tabelle 3: Grundstruktur der Normenkommunikation Fragewort (Aspekte der Kommunikation) Wer? (sagt, kommuniziert) Was? Wer? (will)

Terminologie bezogen auf „Norm“ ormsender

Beispiel (Ex 20,15) Gott36

Methode nach R. Zimmermann35

Gott

6. Ethisches Subjekt

Was?

(wahrgenommene) orminstanz, ormgeber orm, orminhalt

nicht stehlen

Von wem?

ormpflichtiger

In welchem Kontext? Mit welcher Begründung?

ormreichweite

Israeliten [indirekt: der Leser] (immer)

2. Normenerfassung, 3. Traditionsgeschichte der Normen, 4. Wertehierarchie 8a. Geltungsbereich

Wie? (allgemein: In welchem Medium?)

Wem? Mit welchem Effekt?

ormbegründung (Arten: kausal – ormgrund, final – ormzweck) ormdarstellung (Aspekte z.B. Normmedium, Normform, Normbegründungsform) ormempfänger ormwirkung (Überzeugungen, Einstellungen, Verhaltensweisen)

(Sanktion vermeiden) explizit, sprachlich, knapp usw. Israeliten Erschrecken

8b. Geltungsbereich 5a. Ethische Argumentation

1. Sprachform, 5b. Begründungsform

7. Gelebtes Ethos/Wirkung

Eine geäußerte Norm hat also folgende Struktur: [ormsender] sagt [ormempfänger] mit Darstellungsmitteln [= ormdarstellung]: „[ormgeber] sagt/will: [ormpflichtiger] soll/muss/kann [= ormart] unter gewissen Umständen [= ormreichweite] sein/tun [= orm, orminhalt], weil/damit [ormbegründung].“

35 Vgl. die hilfreiche Methode zur Erfassung ‚impliziter Ethik‘ in acht Schritten: R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132 (2007), 259–284, 274–276. 36 Hier: Ebene der Kommunikation zwischen Figuren.

158

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Beispiel: Lukas sagt den Adressaten des Evangeliums: „Jesus sagt: Ein Mensch soll zu jeder Gelegenheit seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Wenn ein Mensch das tut, wird er leben“ (vgl. Lk 10,25–37). Anderes Beispiel: „Du, die Ampel ist grün“, sagt der Mann zu seiner Frau am Steuer.37 Damit formuliert der Mann indirekt eine situative Norm: „Ich will: Du sollst jetzt weiterfahren, weil [du es darfst, da] die Ampel grün ist.“38

Grundsätzlich kann man die ausführliche Acht-Schritte-Methode von Zimmermann zur Ermittlung der ‚impliziten Ethik‘ auch auf die Normenanalyse narrativer Texte anwenden. Eine vereinfachte Form der Normenanalyse könnte so aussehen: Methode zur Analyse der Normen (Norm = „Man soll … sein/tun“): 1.) Die Normen ermitteln, auf die im Textabschnitt rekurriert wird. (was/welche? – Inhalt) 2.) Die Normen sortieren. 3.) Die erzählerischen Mittel der Normdarstellung untersuchen. (wie? – Darstellung) 4.) Die Normen hierarchisieren. 5.) Einen zusammenfassenden Text schreiben. 1.) Die Normen im Text ermitteln: (Normen ‚im‘ Erzähltext = die vom intendierten Rezipienten vermuteten Einstellungen des Erzählers zu Merkmalen, v.a. dessen Einstellungen zu Verhaltensweisen und Eigenschaften von Figuren.) Zum Vorgehen im Einzelnen: – In Redeabschnitten nach expliziten ormen suchen: Wo wird eine Norm explizit aufgestellt, durch eine Aufforderung oder ein Verbot? Entspricht diese Norm auch der Meinung des Erzählers? – In Erzählabschnitten nach impliziten Werturteilen suchen: 1. Die genannten oder aufgrund von kognitiven Schemata erschließbaren Verhaltensweisen und Eigenschaften der Figuren ermitteln; 2. eruieren, wie der Erzähler aus Sicht des intendierten Rezipienten dazu steht; 3. Schlüsselfrage zur Ermittlung der impliziten Norm: „Welche Verhaltensweise oder Eigenschaft ist (bzw. wäre) für den Erzähler gut?“39 In der Regel werden vorhandene Normen in Erinnerung gerufen. In manchen Fällen wird eine Verhaltensweise 37 Vgl. das klassische Beispiel von F. SCHULZ VON THUN, Miteinander reden I. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek 2000, 25. 38 Das Weiterfahren ist hier allerdings eine eng begrenzte Norm für eine bestimmte Person in einem bestimmten Augenblick. Diese Norm wäre für die ethische Reflexion der Erzählung nur dann relevant, wenn sie z.B. im Erzähltext auffällig oft vorkommt oder in einem metaphorischen (indirekt-applikativen) Sinn verwendet wird. 39 Es kann natürlich auch moralisch neutrale Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen geben, z.B. dass der Engel den Frauen ‚antwortet‘ (V. 5). Hiermit ist keine implizite Norm verbunden.

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oder Eigenschaft allein durch den Akteur/Träger in ein gutes oder schlechtes Licht gerückt (= induktive Bewertungsrichtung: Entität → Merkmal). – Den jeweiligen Wert nennen: „Welche Wertvorstellung entspricht dieser Norm?“ Am Ende der Analyse ist zur Darstellung des Zwischenergebnisses eine Tabelle hilfreich. Ein Beispiel (Tab. 4): Tabelle 4: Implizite Normen im Erzählverlauf von Mt 28,1–6 1

2

3

4

5

6

Text40 Doch nach dem (w. spät am) Sabbat, als der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria aus Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben; denn der Engel des Herrn stieg vom Himmel herab und kam hinzu, rollte den Stein weg und setzte sich auf ihn. Es war aber seine Gestalt wie ein Blitz und sein Kleid weiß wie Schnee. Vor Furcht aber vor ihm erbebten die Wächter und wurden wie tot. Der Engel aber antwortete den Frauen: Ihr sollt euch nicht fürchten, denn ich weiß, dass ihr Jesus, der gekreuzigt wurde, sucht; er ist nicht hier, denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt (und) seht den Ort, wo er gelegen hat.

implizite Norm (E: explizit) den Sabbat halten (Frauen +) das Grab Nahestehender besuchen/ (Jesus) treu sein (Frauen +)

eine beeindruckende Erscheinung besitzen (Engel +) sich nicht fürchten (Wächter –) lebendig sein (Wächter –) sich nicht fürchten (E) in Jesu Nähe sein (Frauen+) (→ Treue) lebendig sein (Jesus +) tun, was man verspricht (Jesus +) (→ Zuverlässigkeit)

2.) Die Normen sortieren: Es gibt mehrere Klassifizierungsmöglichkeiten, zum Beispiel nach 1. Merkmalsart der Norm: Verhaltensnormen, Gefühlsnormen, Identitätsnormen usw.41; 2. Verpflichtungsgrad der Norm: Kann-Normen, Soll-Normen, MussNormen; 3. Norminstanz (Wer/was setzt die Norm?); 4. Normpflichtige oder temporale Normreichweite (Für wen/wie lange gilt die Norm?). Hier auch wieder um der Übersichtlichkeit willen eine Tabelle (Tab. 7).

40

Hier aus darstellungstechnischen Gründen nur in deutscher Übersetzung. Vgl. die zwölf Arten von Figurenmerkmalen bei FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 134: Identität, Charakterzüge, Meinungen, Erleben, Gefühle, Verhaltensweisen, äußere Attribute, sozialer Kontext, Wissen, Pflichten, Wünsche, Intentionen. 41

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Tabelle 5: Normenliste in Mt 28,1–6 (in Auswahl) Norm

Normart I

Normart II

Sabbat halten

Verhaltensnorm

Muss-Norm

Norminstanz Torah

Normpflichtiger

Grab besuchen

Verhaltensnorm

Soll-Norm

?

alle Menschen

beeindruckende Erscheinung besitzen

äußere Norm

Kann-Norm

?

alle Menschen

sich nicht fürchten

Gefühlsnorm / Charakternorm

Soll-Norm

?

Christen

tun, was man verspricht

Charakternorm

Muss-Norm

?

alle Menschen

Juden + Christen(!)

3.) Die erzählerischen Mittel der Normdarstellung untersuchen: Es kann beispielsweise analysiert werden: a) Explizität der Normdarstellung (Aufforderung – Nennung – implizit); b) Anzahl der Normbezüge: Die jeweils positiven und negativen Werturteile, die sich auf dieselbe Norm beziehen, zusammenordnen. Entspricht die Figur jeweils dieser Norm (+/–)?; c) Verteilung der Normdarstellung (eine Schlussstellung bleibt aufgrund des Rezenzeffektes im Gedächtnis, vgl. Mt 28,19 und Epimythia). Eine hohe Explizität, eine große Anzahl an Nennungen und eine prominente Position fördern die Intensität einer Norm. 4.) Die Normen hierarchisieren: Schlüsselfrage: Welche Norm steht über anderen im Wertesystem des Erzählers? 5.) Einen zusammenfassenden Text schreiben: Die wichtigsten Erkenntnisse aus den analytischen Zwischenschritten werden im Fließtext zusammengefasst. c) Überzeugungen des Erzählers = „Lehre“ des Textes Die Überzeugungen des Erzählers sind ebenfalls Teil des Erzählerstandpunktes. Anders als bei der axiologischen Kategorie der Einstellungen (gut/ schlecht) beziehen sich Überzeugungen jedoch auf die alethische Grundkategorie (wahr/falsch). Bei den Überzeugungen geht es um diejenigen historischen, empirischen oder prinzipiellen Sachverhalte und Ereignisse, die der Erzähler in der Wahrnehmung der Erzähladressaten für wahr bzw. falsch hält. Ein Teil der Überzeugungen des primären Erzählers (= Autors) sind dabei auch ethisch relevant, nämlich diejenigen Überzeugungen, die eine Figurenbewertung (allgemein: Bewertung einer Entität) oder eine Norm begründen. In den meisten Fällen der Praxis kann man diesen methodischen Schritt, die

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161

Frage nach Begründungen, jeweils in die Bewertungsanalyse (a) und die ormanalyse (b) integrieren.42 Beispiele für die Begründungswirkung von Überzeugungen: – Die Hohenpriester geben eine Lüge in Auftrag (Überzeugung in Mt 28,12–14). Sie erscheinen dadurch als schlecht (Einstellung zu einer Entität). – Der Satz: „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ ist eine Überzeugung. D.h. dass Gott diejenigen bestraft, die andern eine Falle stellen (so wohl im Kontext von Ps 7,16), oder als Verweis auf eine Lebenserfahrung. „Man soll andern keine Grube graben“ ist dann die metaphorisch formulierte Norm, die aus dieser Überzeugung folgt, mit dem Normzweck, negative Konsequenzen zu vermeiden.

3.2 Analyse der ethisch relevanten Wirkung(sabsicht) Auch die Frage nach der Erzählwirkung muss für die ethische Analyse berücksichtigt werden. Die kurzfristigen Wirkungen auf Rezipienten sind nur in manchen Fällen ethisch bedeutsam. Am wichtigsten sind die langfristigen Wirkungen, die sich in Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen aufteilen lassen. Bei der Wirkungsanalyse kann man außerdem die Untersuchung intendierter, historischer und empirischer Wirkung unterscheiden, wobei in der Bibelwissenschaft zunächst die Analyse der intendierten Wirkung im Vordergrund steht. a) Kurzfristige intendierte Wirkungen Zu den kurzfristigen Wirkungen auf Rezipienten zählen Empathie- und Sympathielenkung, Immersion, Spannung und Rezeptionsemotionen.43 Ethische Bedeutung haben sie vor allem dadurch, dass der Erzähler mit ihnen bestimmte langfristige Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen anbahnt (z.B. die Angst vor Dunkelheit nach einem Horrorfilm; oder wenn durch empathisches Erzählen Sympathie zu Menschen fremder Länder aufgebaut wird). Für das methodische Vorgehen innerhalb der ethischen Analyse ist es vielleicht am besten, erst dann den Blick auf die kurzfristigen Wirkungen zu richten, wenn die erzählerische Anbahnung einer bestimmten – ethisch relevanten – langfristigen Wirkung untersucht werden soll. Ansonsten stehen Zeitaufwand und Ertrag in einem ungünstigen Verhältnis. 42

Vgl. Schritt 5 der achtschrittigen Normanalyse bei ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ (s. Anm. 35), 275. 43 Zum Vorgehen bei der Analyse vgl. FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 195– 197.200–205. Siehe jetzt auch C. HILLEBRAND, Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel, Deutsche Literatur: Studien und Quellen 6, Berlin 2011; speziell zur Sympathieanalyse H. SKLAR, The Art of Sympathy in Fiction. Forms of Ethical and Emotional Persuasion, Linguistic Approaches to Literature 15, Amsterdam 2013.

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b) Langfristige intendierte Wirkungen Dazu sind zunächst die applikativen Angebote der Erzählung zu betrachten (Schritt 1). Ein Rezipient vergleicht sich auch ohne Referenzsignale und Transfersignale beständig mit Figuren des Textes, besonders mit denen, zu denen er eine gewisse Empathie aufbauen konnte (vgl. die Identifikationstabelle, Tab. 8). Anschließend ist zu bestimmen, inwiefern sich Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen beim intendierten Rezipienten ändern sollen (Schritt 2). In der Regel findet wohl eine Verstärkung bereits vorhandener Überzeugungen und Einstellungen statt („konfirmierende“ Funktion von Erzählungen). Beispiel: Durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn wird das Selbstwertgefühl des intendierten Rezipienten gestärkt, der sich mit dem jüngeren Sohn identifizieren soll (Einstellung des Rezipienten zu sich selbst). Das Vertrauen zu Gott wird gefördert, Schuldgefühle werden gelindert, eine negative Einstellung gegenüber anderen „Sündern“ wird verringert; es wird Orientierungswissen vermittelt, wie andere einzuordnen sind, die sich selbst für gerecht halten.44

Schritt 1: Analyse der intendierten Applikationen45 1.) direkte Anwendung: Diese Form der Anwendung ist möglich, wenn einzelne Entitäten der erzählten Welt (ggf. unter anderen Namen) auch in der wahrgenommenen Lebenswelt des intendierten Rezipienten vorkommen. Beispiel: Gott, „die Juden“, allgemeine Sachverhalte. 2.) indirekte Anwendung (vgl. Gleichnishermeneutik): Eine besondere Rolle nimmt bei der indirekten Anwendung die konkret-persönliche oder konkret-fremde Figurenapplikation ein: „So bin ich auch“, „so ist auch Herr X“. Ein Erzähler kann davon ausgehen, dass der Rezipient das Geschilderte beständig mit seiner eigenen Lebenswelt vergleicht; auch ohne explizite Referenz- und Transfersignale ist eine Applikation daher sehr oft vom Erzähler beabsichtigt und durch erzählerische Mittel angebahnt.

44 45

Vgl. die Wirkungsarten bei FINNERN, Narratologie (Anm. 6), 240–242. Ausführlich FINNERN, Narratologie, a.a.O., 205–224.

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Tabelle 6: Identifikationstabelle – indirekte Figurenapplikation (Mt 28,17–20; Jünger)46 Vergleichspunkte Zweifel und Glauben

die Jünger fallen nieder, zweifeln aber

intendierter Rezipient bzw. andere kennt das Schwanken zwischen Glauben und Zweifel

Ermutigung durch Jesus

werden von Jesus ermutigt

wird von Jesus ermutigt

Auftrag, in die gesollen zu allen Völkern samte Welt zu gehen gehen

soll zu allen Völkern (bzw. zu einem davon) gehen andere: sind gegen Heidenmission

Auftrag zur Taufe (mit Taufformel)

sollen Menschen (d.h. alle ἔθνη) taufen

soll Menschen taufen

Beistand Jesu

erfahren den Beistand Jesu

erfährt den Beistand Jesu

Schritt 2: Analyse der intendierten Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen („Pragmatik“ im engeren Sinn = kognitive, affektive und behaviorale Wirkungen der Erzählung) Zur Intention des Erzählers gehört es oft, langfristige Überzeugungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen hervorzurufen. Man kann auch von kognitiven, affektiven und behavioralen Rezeptionswirkungen sprechen oder von der Trias Kopf, Herz und Hand. Die möglichen Inhalte dieser angestrebten Veränderungen findet man in den Bewertungen, Normen und Überzeugungen des Erzählers, die für den intendierten Rezipienten erkennbar sind und bereits analysiert wurden (3.1), sowie in der Identifikationstabelle (Schritt 1). Diese möglichen Inhalte sind zu sortieren und einzeln zu prüfen, ob und wie stark jeweils eine entsprechende Veränderung z.B. dieser Einstellung beim Rezipienten angestrebt ist. Indizien dafür sind gegenteilige oder nicht vorhandene Überzeugungen und Einstellungen bei den Adressaten, die man rekonstruieren kann, und ein auffälliger erzählerischer Nachdruck, mit dem einzelne Aspekte des Erzählerstandpunktes vertreten werden. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass der primäre Erzähler etwas an seine Rezipienten ‚weitergeben‘ möchte. Ein kurzes Beispiel zu Mt 28: 1.) Überzeugungsänderungen (Kopf): Durch Mt 28 soll der intendierte Rezipient darin vergewissert werden, dass Jesus tatsächlich auferstanden ist (Verstärkung einer Überzeugung). 2.) Einstellungsänderungen (Herz): Analog zu 3.1 a) + b) lassen sich Bewertungs- und Normveränderungen unterscheiden. Was die Bewertungsveränderungen angeht, können nacheinander die Einstellungsveränderungen zu 46

Vgl. FINNERN, Narratologie, a.a.O., 418f. (Tab. 64; in Auswahl).

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Entitäten der erzählten Welt, des Rezipienten zu sich selbst und Einstellungen zu anderen angeschaut werden. Durch Mt 28 wird zum Beispiel eine negative Einstellung gegenüber den Hohenpriestern intensiviert; im Blick auf den Rezipienten selbst werden Schuldgefühle verringert, das Selbstwertgefühl gestärkt und die Selbstannahme gefördert47; außerdem werden christliche Heidenmissionare legitimiert. Bezogen auf ormveränderungen (neue Einstellungen zu Eigenschaften und Verhaltensweisen) soll hier in Tab. 7 wiedergegeben werden: Tabelle 7: Stärkung und Schwächung von Normen durch Mt 2848 – Jünger: (man muss) alle Völker zu Jüngern machen, sie taufen und die Gebote Jesu halten lehren (sehr betont und explizit)

intensive Verstärkung

– treu sein, den Freunden beistehen – die Wahrheit sagen, „nicht falsch Zeugnis reden“

klare Verstärkung

intendierte Normveränderungen in Mt 28

– Gottes Handeln (Auferstehung) anerkennen – Jesus Ehre erweisen – den Sabbat halten

leichte Verstärkung

– sich nicht fürchten (explizit V. 5.10) – eine beeindruckende Erscheinung besitzen – nicht stehlen

keine Änderung

– Gott gehorchen – menschlichen Vorgesetzten gehorchen – die Macht behalten Relativierung – nicht bestraft werden

Schwächung

– Geld besitzen

3.) Verhaltensänderungen (Hand): Neue Verhaltensweisen schließlich ergeben sich indirekt aus neuen Einstellungen und Überzeugungen. Verhaltensänderungen sind im Durchschnitt wohl deutlich seltener angestrebt als Ein-

47

Ausführlicher dazu FINNERN, Narratologie (s. Anm. 6), 433, s. insgesamt 429–438. Diese Ergebnisse könnten z.B. in einer Datenbank festgehalten werden. 48 FINNERN, Narratologie, a.a.O., 437 (Abb. 69; Auswahl).

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stellungsänderungen. Um die intendierten Verhaltensänderungen zu ermitteln, kann man im Text (neben expliziten Aufforderungen und Verboten und neben semi-expliziten Verhaltensvorbildern, s. Identifikationstabelle) auf solche Einstellungen und Überzeugungen achten, die ein bestimmtes Verhalten implizit anbahnen. Folgende Arten von Einstellungen und Überzeugungen tragen dazu bei, dass jemand auf bestimmte Weise handelt: – – – –

das Überzeugtsein von der Pflicht („ich soll das tun“) die Motivation („ich möchte das tun“) die Einstellung zu diesem Verhalten („es ist gut, das zu tun“) das Überzeugtsein von der Fähigkeit („ich kann das tun“)

Je nachdem, bei welchem der Aspekte der Erzähler einen Mangel beim Rezipienten konstatiert, reicht es aus, z.B. einfach nur die Könnenszuversicht (4. Spiegelstrich) zu stärken. Auch in diesem minimalistischen Fall kann man auf eine implizit angestrebte Verhaltensänderung schließen. Oder ein Erzähler zieht alle Register: Beispielsweise wird die explizite Verhaltensnorm des Missionsauftrags in Mt 28,19 im Kontext von Mt 28 zusätzlich durch alle vier Anbahnungsfaktoren implizit verstärkt.

4. Ethische Kritik von Erzählungen Besonders die ethischen Aspekte einer Erzählung erfordern eine implizite oder manchmal auch explizite Stellungnahme des Interpreten. Unter 2. wurde daher die These aufgestellt: „Ein Ausleger ist verpflichtet, die ethischen Überzeugungen und Einstellungen, die ein Erzähler vertritt und vermittelt, wahrzunehmen und mit ihnen verantwortlich umzugehen.“ Aus der Analyse ergeben sich nun auch fünf Kategorien einer Methode zur ethischen Kritik (s. Abb. 3). Um es kurz zu halten, sollen hier einfach die methodischen Fragen für jede dieser Kategorien wiedergegeben werden: 1.) Bewertungskritik: Stimmt die Bewertung der Entitäten durch den Erzähler (soweit die Erzählung einen gewissen Anspruch auf Faktualität erhebt) mit der Referenz-Bewertung überein? – Beispiel: Aus heutiger Sicht ist der Antijudaismus des MtEv zu kritisieren. 2.) ormenkritik: Stimmt die Bewertung von Eigenschaften/Verhaltensweisen durch den Erzähler inkl. der Hierarchisierung der Normen mit dem Referenz-Normensystem überein? 3.) Wahrheitskritik, Begründungskritik (auch: historische Kritik, theologische Kritik, Ideologie-/Sachkritik): Sind die Überzeugungen des Erzählers über (historische und allgemeine) Sachverhalte nach dem Referenz-Weltbild zutreffend? Können die genannten Argumente die Norm bzw. Entitätsbewertung wirklich begründen?

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Sönke Finnern zu Entitäten (Personen, Orte, Gegenstände) der Einstellungen des Erzählers

des Inhalts („Moral“) → moralische Kritik

zu Merkmalen (Eigenschaften, Verhaltensweisen)

der Überzeugungen des Erzählers

ormenkritik

Wahrheitskritik, Begründungskritik

Ethische Kritik intendiert der Wirkung → Wirkungskritik

Bewertungskritik

tatsächlich (historisch, empirisch)

Kritik der intendierten Wirkung Kritik der tatsächlichen Wirkung

Abb. 3: Übersicht über die Kategorien ethischer Kritik.

4.) Kritik der intendierten Wirkung (Intentionskritik): Sind die angestrebten (Emotionen,) Einstellungs-, Überzeugungs- und Verhaltensänderungen nach dem Referenzsystem gut? 5.) Kritik der tatsächlichen Wirkung (Rezeptionskritik): Waren/sind die historischen (durch Quellen belegte) oder heutigen (empirisch ermittelbaren) Einstellungs-, Überzeugungs- und Verhaltensänderungen nach dem Referenzsystem gut? Das ,Referenzsystemʻ, bestehend aus Referenz-Bewertung, Referenz-Normensystem und Referenz-Weltbild, ist variabel. In der textwissenschaftlichen Praxis begegnen hinsichtlich des Referenzsystems zwei Grundformen der Kritik: a) rekonstruierende Kritik: nach ‚damaligen‘ kontextuellen Maßstäben von wahr/falsch, gut/schlecht; und b) subjektive Kritik: nach heutigen Maßstäben im eigenen Kontext des Kritikers bzw. der Kritikerin. Eine solche Kritik ist nicht per se unwissenschaftlich, sondern es kommt immer darauf an, das Referenzsystem und die Kriterien für die Kritik möglichst genau darzulegen. Die ethische Kritik von Erzähltexten müsste mit diesen fünf Aspekten methodisch vollständig erfasst sein. Eine Methode der ethischen Kritik enthält also nicht nur, wie man meinen könnte, die Normenanalyse und Normenkritik (2), sondern auch Aspekte der Bewertung von Figuren und Personen (1), die Kritik der zugrunde liegenden Überzeugungen (3) und schließlich die Frage nach der intendierten und tatsächlichen Wirkung auf die Rezipienten (4–5).

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5. Schlusswort Methodenschritte der ethischen Analyse können helfen, die ethischen Implikationen vieler Erzählungen zu beschreiben, von Bibeltexten bis hin zu Fernsehfilmen. Eine ethische Kritik kann auf die Ergebnisse der Analyse zurückgreifen, und entsprechende Datenbanken hätten durchaus praktischen Nutzen. Ein Ziel dieses Beitrags war es, eine Art allgemeine ,Landkarteʻ vorzustellen, um Aspekte der ethischen Analyse und ethischen Kritik von Erzählungen besser verorten zu können und um eine systematische Gesamtanalyse zu ermöglichen. An verschiedenen Stellen wurden Methodenschritte für ein konkretes Vorgehen bei der Analyse vorgeschlagen. Neben der Ermittlung impliziter ormen (vgl. bereits den gattungsübergreifend verwendbaren Ansatz impliziter Ethik bei R. Zimmermann) wurden auch die Figurenbewertungen und ebenso die Wirkungsanalyse einbezogen. Vieles muss sicherlich präzisiert werden, aber man könnte die Methodenschritte beispielsweise in der Lehre mit Studierenden an verschiedenen Texten durchprobieren und sie so weiter verfeinern oder eben kritisieren. Grundsätzlich ist vielleicht die Notwendigkeit von Methodenbeschreibungen über die existierenden Methodenlehren hinaus deutlich geworden. Konkrete Methoden sind hilfreich für die Lehre, aber auch zur Selbstvergewisserung beim wissenschaftlichen Arbeiten. Wie beispielsweise der Erfolg der narratologischen Methoden zeigt, fördern Methodenformulierungen auch das textwissenschaftliche Gespräch zwischen einzelnen Fachdisziplinen, das zu oft durch unterschiedliche Beschreibungssprachen behindert wird. Denn auf der methodischen Ebene („Wie kann ich bei diesem Textphänomen wissenschaftlich vorgehen?“) kann man möglicherweise schneller zusammenfinden als auf einem abstrakteren theoretischen Level. Und so will ich diese Norm nun doch explizit äußern: Lassen Sie uns weitere Schritte gehen auf diesem Weg zu einer einheitlichen Methodik der Textwissenschaften!

Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6 Paul-Gerhard Klumbies Die Absicht, Erzählungen des Markusevangeliums auf ätiologische Begründungen hin durchzusehen, versteht sich nicht von selbst. Eine solche Bemühung setzt zunächst eine Entscheidung über den literarischen Charakter der ältesten Evangelienschrift voraus. Bevor daher die Einzelepisoden in inhaltlicher Hinsicht auf die Normen hin untersucht werden, die in ihnen zum Ausdruck kommen, sind Vorüberlegungen zu literarischen und methodischen Prämissen sowie hinsichtlich der Textsorte des markinischen Werks anzustellen.

1. Die literarischen Voraussetzungen Unter den Voraussetzungen der historischen Kritik ist das Markusevangelium traditionellerweise als ein Quellentext gelesen worden. Das Werk liefere Auskünfte über Vorgänge zu Lebzeiten Jesu. Neben Informationen über die endzwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts seien ihm darüber hinaus Hinweise auf Entwicklungen im frühen Christentum zwischen dem Tod Jesu und dem Erscheinen der Schrift um das Jahr 70 n.Chr. zu entnehmen. Indizien für innergemeindliche theologische Prozesse seien an Überarbeitungen innerhalb des Textes abzulesen. Sie dokumentierten das Wachstum der Tradition und spiegelten die veränderten Bedarfe innerhalb der frühen Gemeinde. Nach einem mündlichen Stadium der Überlieferung hätten Redaktoren auf literarischer Grundlage die Texte bedarfsgerecht weiterentwickelt. In methodischer Hinsicht bildet für das historisch-kritische Paradigma die Scheidung von Tradition und Redaktion die Basis der Literarkritik. Im Zuge quellenkritischer Arbeit werden jüngere Textschichten von älteren Stufen abgehoben. Die Faszination dieses Verfahrens für das 18. und 19. Jahrhundert ist nachvollziehbar. Mit ihm verband sich die Hoffnung, auf „historisches Urgestein“, im besten Fall aus dem Leben Jesu selbst, zu stoßen. Unter den Maximen historisch-kritischer Exegese ist es dementsprechend schwer vorstellbar, das markinische Werk als Ätiologie zu lesen, es also in die Nähe

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einer hellenistischen αἰτία, einer mythisch durchformten Erzählung, zu rücken; denn diese erscheint für historische Zwecke als wenig brauchbar. Die Formgeschichte hielt an der methodischen Grundlegung der Literarkritik fest.1 Zwar rückte unter dialektisch-theologischem Einfluss nach 1918 der Blick vom historischen Jesus weg. Stattdessen wandte man sich der Traditionsbildung der kreativen Urgemeinde als dem historischen Referenzpunkt zu. Aber die literarkritische Schere präjudizierte weiterhin den Überlieferungsbestand, auf den man sich berief. Die Literarkritik trennte auch unter den neuen theologischen Vorzeichen sekundäre Überwucherungen von der „gesunden“ älteren Substanz. Die in den 1950er Jahren entwickelte redaktionsgeschichtliche Forschung akzeptierte ebenfalls die Vorgaben, die sich aus der Scheidung von Tradition und Redaktion ergaben. Wie unter dem Zepter aufgeklärter Vernunft im 19. Jahrhundert konnten auch im 20. Jahrhundert im Zeitalter der Entmythologisierung ätiologische Erzählungen nur mit wenig Sympathie rechnen.2

2. Methodische Vorentscheidungen Mit dem Einzug erzähltheoretischer Erkenntnisse in die Evangelienforschung haben insbesondere zwei methodische Weichenstellungen den Blick auf die älteste Evangelienschrift verändert. Die eine besteht in der Unterscheidung zwischen der erzählten Welt, von der die Schrift inhaltlich handelt, und der Erzählwelt, aus der die Erzählung stammt. Das Markusevangelium thesauriert nicht Informationen über die ausgehenden zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts. Es ist vielmehr das literarische Dokument einer christlichen Gemeinde an der Wende vom 7. zum 8. Jahrzehnt. Vorrangig geleitet ist es von den Darstellungs- und Vermittlungsinteressen dieser Entstehungssituation. Die erzählten Inhalte sind daher nicht für die Rekonstruktion der Welt Jesu im dritten Jahrzehnt auszuwerten. Sie bieten unter historischer Perspektive vielmehr Fingerzeige auf die Situation der beginnenden 70er Jahre. Die zweite Erkenntnis führt zur Aufhebung der künstlichen Trennung von Figurenrede und Erzählerstimme. Sie stellt einen Einspruch gegen die Scheidung von Tradition und Redaktion dar.3 Der quellenkritischen Überzeugung

1

Vgl. R. BULTMANN, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 1970, 3f. 2 Vgl. P.-G. KLUMBIES, Die Grenze form- und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese, BZ NF 58 (2014), 21–45, 28–31. 3 Für R. ZWICK, Montage im Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten Jesuserzählung, SBS 18, Stuttgart 1989, 3–12, ist mit dem Ende der jahrzehntelang wenig reflektierten Scheidung von Tradition und Redaktion „ein nicht wieder von der Form- und Redaktionsgeschichte ‚erblich vorbelasteterʻ, sondern davon emanzipierter, 8

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galt die Figurenrede als tendenziell historisch ursprungsnah. Insbesondere die Logien im Munde Jesu genossen höchste Wertschätzung. 4 In ihnen sollte am ehesten historisch authentisches Spruchgut zu finden sein. Die Erzählerstimme wurde dagegen der Ebene des Endbearbeiters zugeordnet. Sie galt als redaktioneller Kommentar. Häufig wurden redaktionelle Einschübe geradezu als Verschlimmbesserungen eines hochwertigen Grundtextes bewertet. 5 Sie galten in chronologischer Hinsicht als jung – und das war ihr Makel. Unter narratologischer Perspektive erhalten die Texte durch die beiden Weichenstellungen andere Ausrichtungen.6 Konzediert man, dass der Erzähler des Gesamtwerks über alle ihm literarisch zur Verfügung stehenden Mittel auf seine Leserschaft einwirkt, ist deutlich: Sowohl die Logien in den Mündern der handelnden Personen als auch die Erzählungen über sie stehen im Dienst der Erzählstrategien des Gesamtwerks.7

3. Die Bestimmung der Textsorte8 Ätiologien sind Erzählungen auf der Grundlage einer mythischen Weltsicht. Sie leiten Ereignisse und Zustände der Gegenwart aus Begebenheiten in der Vergangenheit ab. Die ätiologische Retrospektive führt in eine Vorvergangenheit zurück. Diese liegt der chronologisch geordneten Geschichte in weiterlaufender Zeit voraus. Was in dieser Vorphase passierte und in Gestalt der ätiologischen Erzählung präsent gehalten wird, bildet die Voraussetzung für frischer Ausgriff auf die das Ganze des Evangeliums übergreifende literarische Konzeption gefordert“, a.a.O., 8. 4 Diese Bewertung findet ihren Widerhall noch in der Gliederung des Stoffes bei BULTMANN, Geschichte (s. Anm. 1). Bultmann behandelt zunächst die Wortüberlieferung (I. Die Überlieferung der Worte Jesu, 8–222) und dann den Erzählstoff (II. Die Überlieferung des Erzählungsstoffes, 223–346). 5 Ein Beispiel neben anderen für diese Bewertung stellt der Kommentar von W. SCHMITHALS, Das Evangelium nach Markus, ÖTK 2/1 und 2/2, Gütersloh/Würzburg 1979, dar. In ihm zieht sich der Gedanke durch, dass der Redaktor Markus den ihm vorliegenden theologisch hochstehenden Entwurf eines sogenannten Grundschrifterzählers durch seine Überarbeitungen fehlinterpretiert und damit beschädigt hat. 6 Vgl. dazu KLUMBIES, Wunderexegese (s. Anm. 2), 32–33.44–45. 7 Vgl. J. VOGT, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, Paderborn 102008, 144–158; S. LAHN/J.C. MEISTER, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart/Weimar 2008, 117–126; M. MARTINEZ/M. SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, 78–89; M. FLUDERNIK, Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt 22008, 78–83. 8 Im exegetischen Sprachgebrauch eingeführt ist der Terminus „Gattung“. Seine Verwendung setzt in methodischer Hinsicht üblicherweise Wachstumsprozesse der Überlieferung voraus. Auch die Wahrnehmung eines Textes als Quelle für außertextliche Vorgänge im frühen Christentum, sei es zur Zeit der Entstehung der Endfassung der Schrift, sei es in

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die Geschehnisse und Gegebenheiten in der geschichtlichen Zeit. Das Jetzt bezieht sich auf das Damals zurück. Eine αἰτία gibt die Ursache, den Grund, die Schuld für ein Geschehen an. In ferner Vorzeit haben unter Einwirkung göttlicher Mächte Ereignisse stattgefunden. Diese erweisen sich bis in die Gegenwart hinein als prägend und identitätsstiftend. Kurt Hübner verwendet synonym zu αἰτία den Begriff der ἀρχή. Eine ἀρχή ist eine „Ursprungsgeschichte“.9 Sie nimmt im mythischen Kontext den Platz ein, den im wissenschaftlichen Denken das Naturgesetz, die geschichtliche oder gesellschaftliche Regel innehaben.10 Irgendwann hat ein Gott einen Naturvorgang oder ein Ereignis erstmals ins Leben gerufen. Seither prägt dieses Geschehen die Gegenwart der Menschen, die sich auf diese initiale Begebenheit zurückbeziehen. Das Markusevangelium stellt bezeichnenderweise in Mk 1,1 seiner Darstellung den Begriff ἀρχή als erstes Wort voran. Anders als es die gewohnte Sprachregelung suggeriert, liefert der Erzähler mit seinem Werk nicht „das Evangelium nach Markus“. Er verschriftet mit seiner Jesuserzählung vielmehr die ἀρχή, den Ursprung des Evangeliums von Jesus Christus. Die markinische Evangelienschrift präsentiert die Schöpfungserzählung des Jesus-Christus-Evangeliums. Bis zur Entstehung dieses literarischen Werks verband sich über vier Jahrzehnte mit dem Begriff εὐαγγέλιον die mündliche Frohbotschaft von Jesus Christus. Nun mutiert das εὐαγγέλιον zu

den Vorstadien während des Überlieferungsprozesses oder sei es gar zur Zeit Jesu, verbindet sich mit dem Gebrauch des Terminus „Gattung“. Mit der Verwendung des Begriffs der „Textsorte“ soll demgegenüber der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Zuschreibung auf der Grundlage einer narratologischen Analyse auf synchroner Ebene anhand der Endfassung des Textes erfolgt und das vorliegende Werk als Erzählung einstuft. Die Nomenklatur beinhaltet damit bereits eine Aussage zur Methode und impliziert ein Urteil über den Status des Textes. 9 K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135, übernimmt den Begriff von V. GRØNBECH, Hellas, Reinbek 1965, 208–209. 10 Die Behauptung von W. WEIMER, Logisches Argumentieren, Stuttgart 2008, 15: „Das ganze Neue Testament enthält keine eigentlichen, logischen Argumente“, zeugt von einer Engführung im Verständnis von Rationalität. Die Tatsache, dass im Neuen Testament Glaubende auf die Weitergabe des christlichen Glaubens zielen, zu einem Ausdruck „des Überredens“ zu erklären und daraus ein Vernunftdefizit abzuleiten, dokumentiert die Verabsolutierung einer der Aufklärung verpflichteten Rationalität. Insbesondere in ethischen Zusammenhängen ist vor einer Selbstüberschätzung dieses Vernunftverständnisses zu warnen. Vgl. R. ZIMMERMANN, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethikʻ frühchristlicher Schriften, in: F.W. Horn/U. Volp/R. Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums: Gut – Leben – Leib – Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 11–12, der die Vorurteilsbehaftung Weimers anspricht.

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einer Erzählung über das Leben und Wirken Jesu.11 In einer Rückschau wird erzählt: Was in der Gegenwart der Gemeinde um das Jahr 70 n.Chr. Gültigkeit besitzt, hat seinen Anfang in der Lebensgeschichte Jesu genommen. Das Markusevangelium stellt die Gründungsurkunde des Christusglaubens einer Gemeinde um das Jahr 70 n.Chr. dar. Kennzeichnend für eine mythisch geprägte ἀρχή ist neben anderem der sequentielle Erzählstil. Die ἀρχή entrollt Einzelepisoden. Diese stehen in innerem Zusammenhang miteinander. Sie sind aufeinander bezogen und gleichzeitig in sich suffizient.12 Im sog. Perikopenstil der Evangelien findet diese Vorgabe ihren Widerhall. Die Einzelelemente der Darstellung stehen im Dienst der Gesamtdarstellung. Dabei ist das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelfacetten.13 Mittels einer ätiologischen Jesuserzählung führt die markinische Gemeinde ihre Normen und Werthaltungen auf Geschehnisse im Leben ihres Protagonisten Jesus zurück. Was sie von Jesus erzählt, steht in Übereinstimmung mit ihren eigenen Grundsätzen. Am Beginn des achten Jahrzehnts präfigurieren und legitimieren diese Erzählungen ihre ethischen Überzeugungen.

4. Mk 2,1–3,6 als Texteinheit Klassische historisch-scheidende Exegese sah in dem Abschnitt 2,1–3,6 eine Ansammlung ähnlicher Texte. Ihr verbindendes Thema liege in den Auseinandersetzungen, in die Jesus gerate. Argwöhnische Repräsentanten der jüdischen Gesellschaft Ende der zwanziger Jahre hätten ihn für seine neue eigenwillige Lehre kritisiert. Der Konflikt zwischen Judentum und Jesusbewegung 11

Zur Darstellung der Forschungsgeschichte in der Gattungsfrage, insbesondere auch zu den Vorschlägen einer Zuordnung des Markusevangeliums zur antiken historiographisch-biographischen Literatur vgl. A. HERRMANN, Versuchung im Markusevangelium. Eine biblisch-hermeneutische Studie, BWANT 197, Stuttgart 2011, 25–46; P.-G. KLUMBIES, Der Mythos bei Markus, BZNW 114, Berlin/New York 2001, 38–59; D. DORMEYER, Evangelium als literarische und theologische Gattung, EdF 263, Darmstadt 1989, 143–194. 12 K. HÜBNER, Erfahrung und Wirklichkeit im griechischen Mythos, in: W. Becker/K. Hübner (Hgg.), Objektivität in den Natur- und Geisteswissenschaften, Hamburg 1976, 73– 85, 78; KLUMBIES, Mythos (s. Anm. 11), 94. Nach H. WEINRICH, Erzählstrukturen des Mythos, in: DERS., Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, München 1986, 167–183, 174, liegt „(d)ie Ordnung der mythischen Ereignisse […] ganz und gar in der Erzählfolge, ohne dass es notwendig wäre, von Kausalität zu sprechen“. 13 Diese Feststellung berührt sich mit der Einsicht, die E. GÜTTGEMANNS, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte, BEvTh 54, München 21971, 257, als die „Übersummativität“ der Evangelienform gegenüber ihren Einzelelementen bezeichnete. Zu Hintergrund und Bedeutung des Begriffs vgl. auch ZWICK, Montage (s. Anm. 3), 609–611.

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bilde das unterschwellige Thema dieser sog. Streitgespräche.14 In ihnen, so die formgeschichtliche Auffassung, habe die frühchristliche Gemeinde ihre eigene Situation gut wiedererkennen können. 15 Jesu Reaktion auf verbale Angriffe etwa konnte den frühen Christen als Exemplum für analoge eigene Debatten dienen. Die Mischung aus Logion und Szene führte Bultmann zu der Gattungsbezeichnung „Apophthegma“. Apophthegmen bestehen aus der Verbindung einer knappen Szene mit einem wegweisenden Wort Jesu. Bultmann leitete die Einzelelemente, die in diese Kombination mündeten, nicht aus historischen Ursprungssituationen im Leben Jesu ab. Er sah in diesem Zusammenhang vielmehr die frühchristliche Gemeinde traditionsbildend und -bindend am Werk.16 In struktureller Hinsicht besteht eine Analogie zwischen den formgeschichtlich getrennt behandelten Textgattungen „Apophthegma“, „Wundergeschichte“ und „Gleichnis“ bzw. „Parabel“.17 Versteht man Parabeln als „metaphorische Erzählung(en)“, in denen ursprünglich „nicht zusammengehörige Sinnbereiche“18 aufeinander bezogen werden, ergibt sich eine Parallelität zu „mythischen Sequenzen“,19 das sind in traditioneller Nomenklatur Erzählungen über wundersame Begebenheiten. Für diese ist ebenfalls eine Zweisträngigkeit der Darstellung konstitutiv. In ihr werden die materielle und die spirituelle Ebene bzw. eine immanente Realität und der Bereich des Numinosen in einem wechselseitigen Durchdringungsvorgang miteinander verwoben. Die Differenz zwischen metaphorisch und mythisch geformten Erzählungen liegt in der Rationalität, von der beide Erzählformen geleitet sind und mit der sie wahrgenommen werden. Bei metaphorischen Texten erfolgt der Zugang unter 14

Vgl. BULTMANN, Geschichte (s. Anm. 1), 40–42. Nach M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971, 37–41, handelt es sich um Paradigmen, die im Dienste der Predigt stehen und die „werbende und erbauende Kraft“ (66) besitzen. 16 BULTMANN, Geschichte (s. Anm. 1), 8–9. 17 A. LINDEMANN, Wunder und Wirklichkeit. Anmerkungen zur gegenwärtigen exegetischen Diskussion über die Hermeneutik neutestamentlicher Wundererzählungen, in: DERS., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 346–367, 356, weist zu Recht darauf hin, dass „die als Wundererzählungen bezeichneten Geschichten literarisch nicht anders gestaltet sind als etwa die biographischen Apophthegmata oder auch bestimmte erzählende Gleichnisse“. 18 Vgl. R. ZIMMERMANN, Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu. Ethik durch literarische Ästhetik am Beispiel der Parabeln im Matthäus-Evangelium, in: F.W. Horn/R. Zimmermann (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics I, WUNT 238, Tübingen 2009, 235–265, 247–249, Zitate 247. 19 Zur Verwendung des Terminus vgl. KLUMBIES, Wunderexegese (s. Anm. 2), 45, und KLUMBIES, Mythos (s. Anm. 11), 252. 15

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der Voraussetzung der Trennung von menschlicher und göttlicher Welt, die nachträglich im Vorgang des Verstehens in Beziehung zueinander gestellt werden. Die Übertragung folgt damit in der Sache den Regeln einer aufgeklärten Vernunft. Im Milieu mythisch geprägter Erzählungen steuert hingegen die Rationalität des Mythos den Blick auf die Verhältnisse in der erzählten Welt. Die Prämisse ist das Ineinanderfließen von spirituell-numinosjenseitiger und materiell-menschlich-diesseitiger Welt. Im Unterschied zum formgeschichtlichen Tenor dienen bei Berücksichtigung ihres ätiologischen Charakters die fünf Szenen von Mk 2,1–3,6 nicht der Apologie frühchristlicher Überzeugungen und Praktiken. Weder Jesus noch eine frühe Gemeinde verteidigen in diesen Erzählungen etwas. Ein Grundzug aller fünf Erzählungen ist vielmehr der nach vorn weisende normative Zugriff. Das Konfrontationsszenario, das sich durchgängig abzeichnet, ist durch das normsetzende Verhalten Jesu ausgelöst. Als Ätiologie gelesen, dokumentiert der Zyklus der fünf Szenen die narrative Grundlegung der in der markinischen Gemeinde im Übergang zum achten Jahrzehnt geltenden theologisch-ethischen Maßstäbe. a) Theologische Grundlegung: Die Vergewisserung der Gottesgemeinschaft nach Mk 2,1–12 Die Erzählung besitzt ihren Bezugspunkt in der Feststellung eines umfassenden Lähmungszustandes. Ein bewegungsunfähiger Mann wird mit Hilfe von vier Trägern Jesus vor die Füße gelegt. Schriftgelehrte erstarren in Abwehr. Stumm sitzen sie da. In Gedanken bekunden sie Widerstand. Jesu Zuwendung zu dem Gelähmten lehnen sie ab. Die Paralyse, von der die Szene erzählt, besitzt eine körperliche und eine geistliche Dimension. Der eine Gelähmte und die schriftgelehrte Gruppe, beide werden als körperlich reglos geschildert.20 In geistlicher Hinsicht erscheinen sie gleichermaßen als paralysiert. Der Zuspruch der Sündenvergebung setzt voraus, dass das Gottesverhältnis des Gelähmten als ein gestörtes verstanden ist. Darin liegt die Logik des Mythos. Wo körperliche Krankheit herrscht, muss Schuld vorliegen, denn Krankheit ist die Strafe für die Sünde. Die Störung im Gottesverhältnis äußert sich in der körperlichen Beschädigung. Die Schriftgelehrten haben sich in theologischer Korrektheit verhärtet. Sie wachen darüber, dass die Herstellung der heilen Gottesbeziehung Gott selbst vorbehalten bleibt. Keinesfalls dürfe sie, wie hier unterstellt, von dem Menschen Jesus vermittelt werden. Jesu Handeln bildet in ihren Augen einen unerlaubten Übergriff auf den Souveränitätsbereich Gottes (V.7). Dieser vermeintlichen Grenzüberschreitung entgegenzutreten, sehen sie aus ihrer religiösen Perspektive als 20

Der Bewegungsunfähigkeit des Gelähmten korrespondiert auf Seiten der Schriftgelehrten deren Bewegungsunwilligkeit.

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Pflicht an, nicht zuletzt, weil eine solche Handlung unheilvolle Folgen von Seiten der numinosen Macht nach sich ziehen könnte.21 Die körperliche Heilung des Gelähmten in V.11f. spiegelt: Die Vergewisserung der heilen Gottesbeziehung ist zum Ziel gekommen. Wenn der Zuspruch des bereinigten Gottesverhältnisses diesen Mann erreicht hat, dann muss der Logik mythischer Vernunft zufolge auf körperlicher Ebene ein entsprechendes Ergebnis sichtbar werden. Das Korrespondenzverhältnis zwischen spiritueller und körperlicher Verfassung hat zur Konsequenz, dass eine Veränderung an dem einen Pol sich auch in einer Wandlung an dem anderen Punkt zeigt. Genau diese Parallelführung, bei der sich der eine Vorgang im jeweils anderen abbildet, führt die Erzählung vor.22 Der ehemals körperlich Gelähmte steht auf und geht vor aller Augen davon. Geistlich vergewissert, findet er sich auch körperlich geheilt vor. Die Wiedergewinnung der verloren geglaubten Gottesgemeinschaft zeigt ihre Auswirkungen in körperlicher Hinsicht. Im Blick auf die erstarrt dasitzenden theologisch-geistlich verhärteten Schriftgelehrten vollzieht sich das gleiche Wunder. Der eine geheilte Gelähmte wird für alle Zuschauer der Szene, die Schriftgelehrten eingeschlossen, zum Anlass aufzuspringen und im ekstatischen Gotteslob zu neuer Bewegung zu gelangen.23 Die Vereinigung aller im gemeinsamen Lobpreis Gottes ist die Pointe der Szene im Schlussvers 12. Diese Interpretation beinhaltet die kritische Distanzierung von der Auslegungstradition formgeschichtlicher Exegese.24 Die Formgeschichte hatte nach 21

Auf das Gefahrenpotential einer „Unsicherheit im normativen Bereich“ verweist G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 61990, 118. 22 W. ECKEY, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 2 2008, 112, greift als Bezeichnung für die Gattung des Textes den Terminus „Normenwunder“ von THEISSEN, Wundergeschichten (s. Anm. 21), 114, auf. Theißen verbindet mit dem Begriff ein funktionales Wunderverständnis. Auch wenn „ein innerer Zusammenhang von Norm und Wunder, Wort und Tat“ (119) besteht, dient das Wunder in erster Linie der Legitimation der zuvor erhobenen Norm und bleibt dieser damit sachlich nachgeordnet. In dieser Asymmetrie dominiert die aufgeklärte Rationalität der Gegenwart gegenüber der von mythischer Vernunft durchdrungenen Darstellung der Erzählung. 23 Charakteristischerweise ist der vormals gelähmte und jetzt geheilte Mann der Einzige, von dem kein Gottesjubel berichtet wird. Er ist vor aller Augen weggegangen. Das entspricht der mythischen Logik, der zufolge er mit dem Zuspruch der Sündenvergebung seiner bestehenden heilen Gottesbeziehung vergewissert wurde und seine körperliche Bewegungsfähigkeit wieder erlangt hat. Daran, was seiner Person widerfahren ist, entzündet sich nun das Gotteslob aller anderen, die angesichts seines Geschicks in neue geistlichkörperliche Bewegung geraten. 24 Vgl. auch das gegen die Aufsplitterung der Szene und auf die Darlegung der Kohärenz des Textes gerichtete Votum von R. ZIMMERMANN, Krankheit und Sünde im Neuen

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vorausgehender literarkritischer Zerlegung der Perikope in Teiltexte den Skopus der Erzählung, ihren traditionsgeschichtlichen und theologischen Prämissen folgend, nicht am Schluss der Erzählung, sondern bereits in V.10 erblickt. Die Vollmacht des Menschensohnes stelle das christologische Zentrum der Überlieferung dar. Besonderes Gewicht komme zusätzlich der Tatsache zu, dass die Aussage hier im Munde Jesu selbst begegne, es sich also um ein Logion handele. Damit galt die Exklusivität dieses Verses als gleich in doppelter Weise gesichert. Im Rahmen des allmählichen Wachstums verschiedener Traditionsteile25 seien eine ursprüngliche Wundergeschichte, die aus V.1–5a oder b und V.11.12 bestand, mit einem nicht selbstständig lebensfähigen Streitgespräch in V.5b resp. V.6–9 plus dem isoliert umlaufenden Logion V.10 verbunden worden. Dieses am Überlieferungswachstum orientierte Textentstehungsmodell kann folglich die Auflösung der erzählten Spannung im Schlussvers 12 nicht wahrnehmen. Entsprechend war Bultmann der Meinung, in dem Gotteslob, das laut V.12 ausdrücklich „alle“ einschließt, könnten unmöglich die Schriftgelehrten mitgedacht sein. 26 Die Redaktionsgeschichte, die ja eine Aussage über die Endfassung des Textes machen möchte, kann, da sie an der vorhergehenden literarkritischen Trennung der Überlieferungsgeschichte festhält und deren formgeschichtliche Einzelzuweisung an urgemeindliche Situationen – die Sitze im Leben – akzeptiert, die am Schluss der Erzählung befindliche Pointe, die sich bei Wahrnehmung der Zusammengehörigkeit der einzelnen Erzählstränge ergibt, nicht in den Blick bekommen.27 Dem theologischen Skopus von der gelungenen Vergemeinschaftung ursprünglich beziehungslos nebeneinander befindlicher Personen im Gotteslob entspricht eine ethisch und sozial bedeutsame Tatsache. Mit dem Handeln Jesu werden die Isolation und Ausgrenzung des einen,28 des Kranken, der sich neben seiner Behinderung als Sünder stigmatisiert vorfindet, und zugleich die

Testament am Beispiel von Mk 2,1–12, in: G. Thomas/I. Karle (Hgg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 227–246, 238–242. 25 Zur Geschichte der formgeschichtlich orientierten Forschung zu Mk 2,1–12 vgl. im Einzelnen P.–G. KLUMBIES, Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter (Die Heilung eines Gelähmten) – Mk 2,1–12, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen I: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 235–247, 240–242, und KLUMBIES, Mythos (s. Anm. 11), 222–225. 26 BULTMANN, Geschichte (s. Anm. 1), 12. 27 Zur ausführlichen Einzelexegese vgl. KLUMBIES, Heilung eines Gelähmten (s. Anm. 25), 235–240. 28 Vgl. ZIMMERMANN, Krankheit und Sünde (s. Anm. 24), 244.

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Selbstisolierung der anderen, der Kritiker, die sich von Jesus distanzieren, überwunden. b) Das Leitbild sozialer Integration in Mk 2,13–17 Der Erzählung von der Restitution verloren geglaubter Gottesgemeinschaft in Mk 2,1–12 folgt in 2,13–17 eine Episode über die Reintegration von Menschen, die sich als sozial Ausgegrenzte vorfinden.29 Unter Vorbehalt lässt sich die Beziehung der beiden Perikopen zueinander in Kreuzform darstellen. Der vertikalen Ausrichtung der Erzählung von der Lösung von Paralyse in 2,1–12 folgt in 2,13–17 die horizontale Perspektive. Sie fügt der theologischen Überlieferung die ethische Dimension hinzu. 30 Allerdings darf diese Wahrnehmung hinsichtlich der Schwerpunkte beider Erzählungen nicht verabsolutiert werden, denn für 2,13–17 wie für die vorhergehende Perikope gilt: Gottbezogene und menschenbezogene Perspektive durchdringen sich in beiden Fällen wechselseitig. Theologische Basisüberzeugung und anthropologisch-ethische Perspektive bilden eine Einheit. Die Szene in V.13 wird unter Hinweis auf die Lehre Jesu an den ὄχλος eröffnet. Der Inhalt der Lehre ergibt sich aus Jesu nachstehend geschildertem Handeln. Die Kombination aus Aktion und διδαχή ist auch aus anderen Erzählungen des Markusevangeliums geläufig. In 1,21–28 entsetzen sich die Zeugen des dramatischen Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum über Jesu Lehre; denn dessen „Lehre“ besteht darin, dem Geist Gottes zur Ausbreitung unter den Menschen zu verhelfen und widergöttliche Geister zu vertreiben resp. zu vernichten. In 2,13 lehrt Jesus und beruft bereits im nächsten Vers en passant, Levi, den Sohn des Alphäus, einen Zöllner, in die Nachfolge. Dieser Ruf in die Jesusgemeinschaft überschreitet die Grenzen des nach herkömmlichen moralischen und wohl auch religiösen Standards Gebotenen. Nähe zu dem Zöllner herzustellen, dokumentiert sichtbar den Widerspruch gegen das Distanzierungsgebot. Diese Erzähllinie wird in V.15–17 ausgedehnt. Jetzt versammelt Jesus sogar eine große Zahl von eigentlich zu meidenden Personen um sich. Zu dem einen Zöllner sind Berufskollegen und weitere Sünder hinzugekommen. Ih-

29 Auf den ätiologischen Charakter von Berufungsgeschichten weist F. VOUGA, Die Entwicklungsgeschichte der jesuanischen Chrien und didaktischen Dialoge des Markusevangeliums, in: D.-A. Koch/G. Sellin/A. Lindemann (Hgg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche (FS W. Marxsen), Gütersloh 1989, 45–56, 52, hin. 30 Laut J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Leipzig 1980, 110, korrespondieren Sündenvergebung und Aufnahme der Sünder in die Gemeinschaft miteinander. SCHMITHALS, Markus 2/1 (s. Anm. 5), 166, verweist als Verbindungsglied zwischen beiden Texten ebenfalls auf das zentrale Sündenmotiv.

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nen gewährt Jesus Gemeinschaft. Das traditionelle Ausgrenzungsgebot lässt er demonstrativ hinter sich. Die Sinnhaftigkeit, Gemeinschaft über traditionelle Grenzen hinweg zu eröffnen, wird innerhalb der Erzählung in V.16 durch schriftgelehrte Pharisäer erfragt. „Was soll das, dass er mit Zöllnern und Sündern isst?“ In der erzählten Welt wird hier unter der Voraussetzung eines innerjüdischen Kontextes von der unerlaubten Gemeinschaft mit Unreinen gesprochen. In den Augen der Erzählwelt des Jahres 70 n.Chr. klingt freilich die Frage durch: Für wen und wie weit darf oder soll sich die Gemeinde unter dem Evangelium Jesu Christi für Außenstehende öffnen? Insofern trifft es zu, „dass die Einwände der Pharisäer ihre Funktion darin erschöpfen, dass sie die Gelegenheit zur christlichen Unterweisung geben“.31 Eine „überzeugende Argumentation“ im Blick auf die „jüdische Synagogengemeinde“ ist in der Tat „nicht mehr angestrebt“.32 Die Frage ist zudem, worin das Kriterium für die Öffnung besteht. Jesus, der Protagonist des Christus-Evangeliums, hat die Grenzen des in seinem religiösen und nationalen Kontext Erlaubten überschritten. Aber wie hat er sein Verhalten begründet? Daraus könnte die Gemeinde des achten Jahrzehnts Wegweisung beziehen.33 Das Wort im Munde Jesu in V.17a benennt anstelle der Differenz von Reinen und Unreinen den Unterschied zwischen Gesunden und Kranken. Diese beiden Gruppen stellt Jesus in die Beziehung zum Arzt. Für das Berufsbild des Arztes ist nicht der Rückzug, sondern gerade das Zugehen auf die Kranken charakteristisch. Jesus widerspricht dem Motto „rette sich, wer kann“ als Grundlage für die Separierung von Menschen, die nicht der eigenen Gruppe zugerechnet werden. Dem Wunsch nach Selbstdistanzierung wird durch den Verweis auf das therapeutische Verhältnis zwischen Arzt und Kranken die Basis entzogen. Mit Jesus, so die Erzählung, ist eine heilende Beziehung zu den Kranken gestiftet worden. Gleichzeitig bleibt die besondere Stellung Jesu, die durch den Vergleich mit der Tätigkeit des Arztes unter Kranken gegeben ist, gewahrt. 34 Eine christliche Gemeinde, die mit dieser Erzählung hinter ihrem Protagonisten steht, erlebt sich narrativ hineingenommen in die Bewegung auf desintegrierte Personen zu. Nicht der moralische Appell motiviert dabei, sondern eine neue Perspektive auf die Beziehungsgrundlage. Das andersgeartete Gegenüber wird nicht als Bedrohungsfaktor angesehen, dem es durch 31

VOUGA, Entwicklungsgeschichte (s. Anm. 29), 52. D.-A. KOCH, Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern. Erwägungen zur Entstehung von Mk 2,13–17, in: Koch/Sellin/Lindemann (Hgg.), Jesu Rede (s. Anm. 29), 57–73, 72. 33 KOCH, ebd., stellt zutreffend fest, dass die „Argumentation nur im innerchristlichen Bereich“ „Überzeugungskraft“ besitzt. 34 Vgl. R. VON BENDEMANN, Christus der Arzt. Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums I, BZ NF 54 (2010), 36–53, 51. 32

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Rückzug zu entgehen gilt. Im Bild und mit dem Selbstverständnis des heilenden Arztes werden die Bedürftigkeit zum Kriterium und die Beziehungsaufnahme zur Norm. Bereits in Mk 2,5 hatte Jesus durch den Zuspruch der Sündenvergebung den behinderten Menschen seiner bleibenden Gemeinschaft mit Gott vergewissert. In Mk 2,13–17 hebt er direkt in personaler Weise die Distanz zu den Sündern auf. Sündenvergebung dokumentiert sich in der sichtbaren sozialen Gemeinschaft mit Sündern. Der Nachsatz in V.17b bringt diese Absicht auf den Punkt. Nicht das Unter-sich-Bleiben der Gerechten, sondern die Aufhebung der Distanz zu den Sündern ist das Kennzeichen der Nachfolge auf dem Weg Jesu. Für die Leserschaft resultiert daraus der Impuls: Die Integration von Personen, die bisher nicht den Standards der eigenen Gruppe entsprechen, zählt zu den Essentials christlichen Gemeindelebens. c) Die Situationsangemessenheit der orm in Mk 2,18–22 Auch die Debatte über die Notwendigkeit des Fastens eröffnet keinen Blick durch das Schlüsselloch der Geschichte auf eine Auseinandersetzung zwischen dem historischen Jesus und einigen Johannesjüngern und Pharisäern. Die Szene dient nicht, wie formgeschichtlich 35 erwogen, als Projektionsfläche, die die Rivalität zwischen Täuferkreis und Jesusanhängerschaft nach Ostern spiegelt. Wohl aber gibt die Diskussion um das Fasten der Erzählung ein traditionales Gepräge im imaginierten Kontext der endzwanziger Jahre. Dies ist deshalb zu erwähnen, weil für die Erzählwelt der Zeit nach 70 n.Chr. anzunehmen ist, dass die christlichen Gemeinden vielerorts eine Fastenpraxis pflegen. Ausgehend von zwei unterschiedlichen Auffassungen über den Brauch des Fastens führt die Erzählung einen theologisch-ethischen Konflikt vor. Dabei entwickelt sie ein Kriterium, an dem die christliche Leserschaft im Falle des Aufeinandertreffens zweier widerstreitender Normen ihre Entscheidung ausrichten kann. Diejenige Forschung, die in den Logien dieses Abschnitts nach historisch authentischem Material suchte, hat sich schwergetan, das Verhältnis zwischen den Worten Jesu in V.19f. und denen in V.21f. genau zu bestimmen; denn Letztere wirken sentenzenhaft hinzugefügt. Für sich betrachtet scheinen sie sich vom Ausgangsthema in V.19 beträchtlich entfernt zu haben. Unter histo-

35 Eine überlieferungsgeschichtlich gestufte Analyse und die Interpretation der Szene auf den unterschiedlichen Traditionsstufen bietet U. MELL, „Neuer Wein (gehört) in neue Schläuche“ (Mk 2,22c). Zur Überlieferung und Theologie von Mk 2,18–22, ThZ 52 (1996), 1–31.

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risch separierender Perspektive gelten sie denn auch als sekundäre Hinzufügung unbestimmter bzw. redaktioneller Provenienz.36 Die Szene lebt vom Wortwechsel. Gemäß der erzähltheoretischen Einsicht, dass sowohl die Aussagen der Erzählerstimme als auch die Figurenrede Teile der narrativen Gesamtstrategie bilden und der Leserlenkung dienen, handelt es sich auch bei den Worten im Munde Jesu um erzählte Rede. Liest man die Szene von ihrem Ende her, ist die Differenz innerhalb der V.19–22 geringer, als sich dies einer sezierenden und in verschiedene Traditionsbereiche auseinanderlegenden Analyse darstellt. Im Umgang mit einer Kurzerzählung wie der vorliegenden gilt, was sich bereits bei der Interpretation der beiden vorherigen Geschichten bewährt hat: Der Höhepunkt der Aussage findet sich am Schluss der Erzählung. Diese Einsicht ist in der Gleichnisforschung seit dem berühmten Diktum vom „Gesetz des ‚Achtergewichtsʻ“37 seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit. Bei den synoptischen Erzählungen, die sich um ein Logion ranken, den von Bultmann so genannten „Apophthegmata“, hat die dialektisch-theologisch geprägte Formgeschichte diesen Grundsatz freilich ignoriert; denn nach ihrem Vorverständnis, demzufolge die Überlieferung der Worte im Munde Jesu höher einzuschätzen ist als die Erzählüberlieferung über Jesus, liegt der Skopus einer solchen Szene im Jesuslogion und dessen christologischer Bedeutung. Zur Debatte steht laut V.21f. die Verhältnisbestimmung zwischen Alt und Neu. Bei altem Tuch und neuem Stoff, bei rissigen gebrauchten Weinschläuchen und frischem jungem Wein, wirkt die Vermischung zerstörerisch. Das Alte hält das Neue nicht, das jeweils Neue löst sich vom alten Untergrund bzw. sprengt den Schlauch auf. Es entspricht der Alltagserfahrung: Neu gehört zu Neu. Gleiches zu Gleichem ist die Auffassung, die auch hinter den Aussagen von V.19 steht. Solange eine Hochzeitsfeier dauert, wird nicht gefastet. Das würde dem Sinn des Festes widersprechen. Nach einem solchen Fest aber kommen Tage, an denen das Fasten wieder die Normalität darstellen wird. Das Verhältnis von Gleich und Ungleich war bereits das Thema von Mk 2,13–17. Dort ging es unter den Aspekten von Abgrenzung und Integration um die Herstellung der Beziehung zu Menschen, die prima vista nicht der eigenen Gruppe angehören. Jesus stellte Gemeinschaft mit Personen her, die unter den Denkvoraussetzungen seiner Kritiker auszugrenzen waren. In Mk 2,18–22 findet die Verhältnisbestimmung zwischen gleich und ungleich unter veränderten Vorzeichen ihre Fortsetzung. Die Erwartung, die die 36 W. WEISS, „Eine neue Lehre in Vollmacht“. Die Streit- und Schulgespräche des Markus-Evangeliums, BZNW 52, Berlin/New York 1989, 97: „sekundär zugewachsen oder zugefügt“; ECKEY, Markusevangelium (s. Anm. 22), 127: Vom Evangelisten „angehängt“. 37 BULTMANN, Geschichte (s. Anm. 1), 207.

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Kritiker Jesu in V.18 an ihn herantragen, steht unter der Voraussetzung, dass sie Jesus ein dem ihren gleichgerichtetes Verhalten abverlangen können. Sie appellieren an Jesus und seine Jünger als eine Gruppe, von der sie annehmen, dass diese ihnen auf Augenhöhe begegnen wolle. Im Raum steht die Frage, ob die Jesusgruppe von den Johannesjüngern und Pharisäern als ebenbürtig angesehen werden kann.38 Ein konformes Verhalten wäre ein Ausdruck von Egalität. Die Prämisse einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit der drei Gruppen unter der Perspektive der kritischen Fragesteller 39 wird in V.19–22 zurückgewiesen. Die Deklaration der erzählten Gegenwart als einer Freudenzeit in V.19 zieht die Separation von Johannesjüngern und Pharisäern nach sich. Die soteriologische Bestimmung der Gegenwart als eines Hochzeitsfestes führt zur Distanzierung von denen, die unter ihren Voraussetzungen die Norm für die Gemeinschaft zwischen sich und Jesus errichten. Der normative Anspruch der Johannesjünger und der Pharisäer, der aus ihrer Sicht die Gemeinsamkeit aller drei Gruppen garantiert und dadurch die Jesusjünger in die Pflicht nimmt, wird von Jesus zurückgewiesen. Die Vergemeinschaftung unter dem von seinen Kritikern herangetragenen normativen Anspruch lehnt Jesus ab. Dabei geht es nicht um die Ablehnung der Fastenpraxis als solcher. Diese mag unter anderen Umständen durchaus ihren Sinn besitzen, so V.20. Aber der materiale Inhalt des normativen Anspruchs, d.h. die Forderung nach einem gemeinsamen angeblich verbindenden Fasten als solchem, besitzt keine gemeinschaftsstiftende Qualität. Im Gegenteil: Die Alltagsbeispiele von V.21f. demonstrieren die gemeinschaftssprengende Kraft dieses Anspruchs. Argumentativ bringt Jesus in dieser Szene den Vorrang der Situation vor der Einzelnorm zur Geltung. Die Wahrnehmung des eigenen Standorts in einer soteriologisch qualifizierten Zeit verlangt den situationsangemessenen Umgang mit einer Norm. Abgewiesen wird die Auffassung, die Einhaltung einer tradierten Regel garantiere ein situationsgemäßes Verhalten. Widersprochen wird auch der Ansicht, das regelkonforme Verhalten stelle ein bindendes Element zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen dar. Der markinische Jesus tritt dafür ein, die Norm mit der Situation in Einklang zu bringen. Dabei wird dem Neuen ein Eigenrecht gegenüber dem Anspruch der Tradition zugesprochen.

38

Vgl. KLUMBIES, Mythos (s. Anm. 11), 173. Vgl. R. PESCH, Das Markusevangelium I. Teil. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1–8,26, HThK II/1, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 51989, 172: Die „Infragestellung Jesu und seiner Jünger als einer führenden religiösen Gruppe“, auf die die Kritiker zielen, setzt diesen Status voraus. 39

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d) Das Wohl des Menschen als Verhaltenskriterium in Mk 2,23–28 Das Thema der Situationsangemessenheit ethischer Normierung findet seine Fortsetzung in Mk 2,23–28. Die Thematik der Verurteilung des Sabbatbruchs bzw. die Begründung der Übertretung des Sabbatgebots, die Jesus in der erzählten Welt vornimmt, verleiht der Erzählung ihr Zeit- und Lokalkolorit. Eine Debatte, wie sie für die endzwanziger Jahre des ersten Jahrhunderts vorstellbar ist, bildet die Grundlage für eine ethische Reflexion unter den Voraussetzungen des beginnenden achten Jahrzehnts. Zu dieser Zeit ist die Sabbatthematik als solche für eine christliche Gemeinde längst „nicht mehr strittig“.40 Innerhalb der erzählten Welt liegt die Basis der von den Pharisäern vorgebrachten Kritik in dem Verweis auf die tradierte und allgemein anerkannte Norm der Sabbateinhaltung. Darin übertrifft diese Kritik noch den Einwand, den Johannesjünger und Pharisäer Jesus gegenüber in Mk 2,18 vorgebracht hatten. Denn in der Sabbatfrage ist von einem ungleich höheren Konsens auszugehen, und der Sachverhalt scheint unter den Voraussetzungen jüdischer Religiosität unstrittig zu sein. Unter christlicher Leseperspektive entsteht an dieser Stelle freilich eine Spannung. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich um eine christliche Begründungserzählung jenseits des jüdischen Selbstverständnisses handelt. In der Auslegung ist immer zugestanden worden: Die Replik Jesu besitzt unter jüdischen Prämissen wenig Plausibilität. Zum einen enthält sie einen inhaltlichen Fehler. Die Davidepisode geschah nicht zur Zeit Abjatars, sondern unter dessen Vater, dem Priester Ahimelech.41 Zum anderen liegt im Falle der Jesusjünger gerade keine Analogie zu der für David unterstellten Notlage vor.42 Die Einsicht in diese argumentative Schieflage hat die formgeschichtlich verfahrende Exegese verschiedentlich dazu veranlasst, die Verse 25f. als

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D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 65. VOUGA, Entwicklungsgeschichte (s. Anm. 29), 47: „Die Erzählung ist in einem christlichen Milieu entstanden.“ Zur Forschungsgeschichte unter formgeschichtlichen Gesichtspunkten vgl. F. NEIRYNCK, Jesus and the Sabbath. Some Observations on Mark II,27, in: J. Dupont (Hg.), Jésus aux origines de la christologie, BEThL 40, Leuven 1975, 227–270, 227–253. 41 Vgl. A. LINDEMANN, „Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden“. Historische und theologische Erwägungen zur Traditionsgeschichte der Sabbatperikope Mk 2,23– 28 parr., in: DERS., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 15–39, 18, und T. SÖDING, Die Saat des Evangeliums. Vor- und nachösterliche Mission im Markusevangelium, in: C.K. Rothschild/J. Schröter (Hgg.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era, Tübingen 2013, 109–142, 124 Anm. 53. 42 D.M. COHN-SHERBOK, An Analysis of Jesus’ Arguments Concerning the Plucking of Grain on the Sabbath, in: C.A. Evans/S.E. Porter (Hgg.), The Historical Jesus, BiSe 33, Sheffield 1995, 131–139, 135, und LINDEMANN, Sabbat (s. Anm. 41), 18.

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nichtursprüngliche Zusätze zu V.23.24 auszuscheiden. 43 Das zugrunde liegende Apophthegma habe nur die Verse 23.24 mit dem Logion in V.27 umfasst.44 Entsprechend sei in diesem Zusammenspiel die Pointe der Aussage zu suchen. Es gehe um „eine neue Bestimmung des durch das biblische (Sabbat-)Gebot begründeten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch: […] Sabbat und Sabbatgebot erscheinen als Gabe Gottes ‚um des Menschen willenʻ.“45

Gründet man die Interpretation im Gegensatz dazu auf die Erzählung in ihrer vorliegenden Form einschließlich V.25f. und 28, treten Autorität und Charakter der Person Jesu in den Vordergrund. Jesus vollzieht eine normative Setzung. Darin gleicht er David. Dieser nahm aufgrund seiner Machtposition eine Handlung vor, die ebenfalls als angreifbar angesehen werden konnte. Mit aggressivem Unterton reagiert Jesus auf die pharisäische Kritik mit einer Gegenfrage. Diese hebt die Tat Davids hervor; die Begründung mit dessen Not und Hunger schiebt Jesus in einem Nebensatz nach. Legitimieren kann dieser Umstand Davids Handeln nicht. Was Jesus betont, ist: David handelte aus freiem Entschluss. Die Notlage ist lediglich ein Begleitumstand. Auch Davids Verhalten war ein Regelverstoß. Der markinische Jesus führt in V.27 als Kriterium für die von ihm vertretene Position den Vorrang der menschlichen Situation vor der fixierten Regel an. Gerade weil es sich um eine weisheitliche Sentenz handelt, liegt eine gewisse Analogie zu der sich auf die religiöse Tradition Israels berufenden Sicht der Pharisäer vor. Auch Jesus bezieht sich auf eine Vorgabe zurück. Insofern nimmt er kein Sonderrecht für sich in Anspruch. Er verweist auf eine prinzipielle Verhältnisbestimmung zwischen Sabbat und Menschenwohl, die das konkrete Einzelgebot in einen umfassenderen Referenzrahmen stellt. In der geschilderten Kontroverse bemisst Jesus die Norm am Ergehen des Menschen. Er leitet seine ethische Positionierung aus einer theologischen Position ab, die er der Beurteilung der Situation, wie sie seine Kontrahenten, die sich an der Einhaltung des Einzelgebotes orientieren, vornehmen, überordnet. Dass Jesus innerhalb der erzählten Welt für seine Auffassung kein Verständnis ernten wird, ist evident. Auf der Ebene der Erzählwelt ist freilich deutlich, dass seine in Distanz zum jüdischen Selbstverständnis befindliche Ansicht der christologisch begründeten Haltung der christlichen Gemeinde zu Beginn des achten Jahrzehnts entspricht. Insofern ist es konsequent, dass V.28 genau diesen Tatbestand ausspricht. Keinesfalls bilden weisheitliche Argumentation und christologische Begründung ein Spannungsverhältnis. 43

Vgl. die Darstellung bei LINDEMANN, Sabbat, a.a.O., 20–22, und GNILKA, Markus II/1 (s. Anm. 30), 119. 44 Anders jedoch F. VOUGA, Jésus et la Loi selon la tradition synoptique, MoBi(G) 17, Genève 1988, 37–41, der die Verse 23–26 dem Kernbestand der Tradition zurechnet. 45 LINDEMANN, Sabbat (s. Anm. 41), 36.

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Vielmehr bringt V.28 die in der Erzählwelt der beginnenden siebziger Jahre gültige Grundlage der Argumentation auf den Punkt. Aus der Orientierung an Jesus resultieren für die christliche Gemeinde maßgebende ethische Weichenstellungen, die sie in Differenz zu innerjüdischen Begründungsverhältnissen führen. Der markinische Jesus hat seine Leitlinie allerdings nicht erfunden, sondern – so die Erzählerstimme – abgeleitet und erschlossen. Auf der Ebene der Erzählwelt wird damit ein christologisch abgesichertes ethisches Kriterium entwickelt. Konkretes ethisches Verhalten findet seine Norm am Wohl des Menschen. An ihm ist die Entscheidung angesichts der Forderung des Einzelfalls auszurichten. Der Gottessohn, auf den sich das Credo der markinischen Gemeinde richtet, hat als Menschensohn zu seinen Lebzeiten erwirkt, dass gegenüber der Berufung auf eine feststehende Norm der Situation Raum zu geben ist. Im Duktus der erzählten Welt wird mit diesem normsetzenden Auftreten und Anspruch Jesu eine Spannung zu der bestehenden Ordnung des zeitgenössischen Judentums provoziert. Die konfliktuöse Atmosphäre wird im Verlauf der Gesamterzählung anwachsen. Sie ist eine der Ursachen, die in der erzählten Welt des Markusevangeliums plausibilieren, wie Jesu Wirken unter seinen Zeitgenossen eine Aggression entfachen konnte, die ihm den Tod durch Kreuzigung einbrachte. e) Die Aufhebung der eutralität in der ethischen Entscheidungssituation nach Mk 3,1–6 Der Hinweis in Mk 3,1, demzufolge Jesus wiederum eine Synagoge betritt, impliziert im markinischen Erzählkontext den Vorverweis auf einen neuerlichen Normenkonflikt. Das Stichwort „Synagoge“ kündigt wie in Mk 1,21 und Mk 1,23 eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von alter und neuer Lehre an. Der Tatbestand, dass die Episode am Sabbat handelt, verstärkt die Leseerwartung, dass es im Folgenden um eine Konfrontation zwischen zwei Werthaltungen gehen wird. Schon in Mk 1,21–28 und Mk 2,23–28 diente die für jüdisches Selbstverständnis zentrale Sabbatproblematik als Transmitter, um christliche Positionen in einem jüdischen Erzählkontext mit dem entsprechenden Zeit- und Lokalkolorit an die Person Jesu zu binden.46 Die Erzählung in Mk 1,21–28 stellte bei der ersten öffentlichen Aktion Jesu einen Sinnzusammenhang zwischen seinem exorzistischen und seinem lehrenden Handeln her. Jesu Lehre treibt unreine Geister aus und verhilft dem Geist Gottes zum

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Angesichts der Tatsache, „daß die Auseinandersetzung um den Sabbat kein aktuelles Problem der Zeit des Mk mehr ist“ (LÜHRMANN, Markusevangelium [s. Anm. 40], 66), ist auch bei dieser Perikope deutlich, dass die Erzählintention nicht der erzählten Welt der 20er Jahre des ersten Jahrhunderts zu entnehmen ist, sondern den Anforderungen der christlichen Erzählwelt nach dem Jahre 70 n.Chr. entstammt.

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Durchbruch. Seine διδαχή ist dämonenaustreibendes Handeln.47 Mk 2,23–28 stellt die Verabsolutierung einer fixierten Norm, wie sie in den Augen des christlichen Erzählers innerhalb der Erzählung der Hinweis auf das Sabbatgebot darstellt, zur Disposition. Aus der christlichen Erzählperspektive findet eine normative Regelung ihr Kriterium in der Ausrichtung am heilsamen Ergehen des Menschen.48 Mk 3,1–6 läuft auf die Herausarbeitung des Sachverhalts hinaus, dass es angesichts einer konkreten ethischen Herausforderung keine Neutralität gibt. Ein Nicht-Handeln kann nicht durch den Verweis auf ein feststehendes Gebot legitimiert werden.49 Innerhalb der Erzählung ruft Jesus einen Menschen mit einer Behinderung aus seiner Position am Rand des Geschehens in den Mittelpunkt des erzählten Raumes. Bereits diese Zentrierung ist ein Signal. Nach mythischer Ordnung besitzt das, was in der Mitte steht, zentrale Bedeutung. Demgegenüber rücken die Erzählfiguren, die als Träger von Missfallen und Abwehr fungieren, an den Rand der Szene. Die Doppelfrage beinhaltet eine Irritation: Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses, Leben zu retten oder zu töten? Aus der Sicht der handelnden Personen innerhalb der erzählten Welt kann es hier nur eine Antwort geben: Weder – noch, denn am Sabbat soll der Mensch, abgesehen von geregelten Ausnahmetatbeständen, gar nichts tun. In diese Perspektive mischt sich jedoch die konkurrierende Wahrnehmung der späteren christlichen Erzählwelt. Auffallend ist, dass die beiden aufgeworfenen Alternativen den Rahmen des Geschehens – schließlich geht es lediglich um die Heilung einer verkrüppelten Hand – sprengen.50 Verbalisiert werden gravierende ethische Alternativen. Ihnen gegenüber gibt es weder Neutralität noch zeitlichen Aufschub. Symptomatisch für den Problemfall sind die Reaktionen der handelnden Personen innerhalb der Erzählung. Die Pharisäer und Herodianer haben in der

47

Vgl. KLUMBIES, Mythos (s. Anm. 11), Kapitel 4.4.2; Mk 1,21–28: Die Lehre Jesu als Exorzismus, 216–222. 48 Vgl. M. BECKER, Feiertagsarbeit? (Der Kranke mit der ‚verdorrten Handʻ) – Mk 3,1– 6, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen I (s. Anm. 25), 248–256, demzufolge aus jesuanischer Perspektive im Vordergrund „nicht die Toraübertretung“ (255), sondern „die Wiederherstellung der Schöpfung“ (253) und die Minimierung des menschlichen Leidens steht. 49 A. LINDEMANN, Jesus und der Sabbat. Zum literarischen Charakter der Erzählung Mk 3,1–6, in: DERS., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 40–54, 45, verweist auf die Einbindung von Mk 3,1–6 in den Kontext und vermerkt, dass die Szene in formaler wie inhaltlicher Hinsicht an Mk 2,23–28 anknüpft und diesen Abschnitt voraussetzt. Zur Auslegung der Perikope unter form- und redaktionsgeschichtlicher Voraussetzung vgl. a.a.O., 45–52. 50 Vgl. auch LINDEMANN, Jesus und der Sabbat (s. Anm. 49), 47: Jesus formuliert „eine Alternative, die sich gar nicht unmittelbar auf den konkreten Anlass bezieht“.

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erzählten Welt allen Grund zu schweigen; denn sie denken und handeln von der fixierten Sabbatnorm aus. Die Alternative von V.4 stellt sich ihnen so nicht. Sie können unter ihren Voraussetzungen abwarten. Für sie geht es nicht darum, was Jesus tun wird, sondern ob er überhaupt handeln und sich damit ins Unrecht setzen wird. Aus der Perspektive Jesu drückt sich in dieser Haltung Herzenshärte aus. Dieser Zustand steht in einem Korrespondenzverhältnis zur Vertrocknung der Hand des körperlich behinderten Mannes. Der markinische Jesus nimmt in der Szene Anstoß an einer religiös fundierten ethischen Haltung, die ihrerseits unter Rekurs auf eine Norm, hier das Sabbatgebot, ein Nicht-Handeln angesichts einer situativen Herausforderung rechtfertigt. Jesu Einspruch richtet sich gegen die Reservierung eines Raumes, der den Handlungsaufschub oder -verzicht legitimiert. Die Situation selbst stellt vor die Entscheidung, zur Verbesserung der Lage eines bedürftigen Menschen beizutragen oder sich dem situativen Appell zu entziehen. Die Notwendigkeit einer Entscheidung kann angesichts der Forderung des Augenblicks nicht kasuistisch zurückgestellt werden. Jesus macht sichtbar: Auch die begründete Handlungsverweigerung ist ein Handeln. Seine Bestreitung einer Handlungsneutralität zieht massiven Zorn gegen Jesus nach sich. Sie führt in Mk 3,6 zu dem Entschluss seiner Opponenten, ihn aus dem Weg zu räumen.51 Innerhalb der erzählten Welt wird die Positionierung Jesu damit zum auslösenden Moment für seine spätere Hinrichtung. Erzählstrategisch verwendet der Erzähler den durch Jesus herbeigeführten Normenwechsel dazu, die Aggressivität verständlich zu machen, die zu seiner Kreuzigung führt.52

5. Die Einheit theologischer und ethischer Überzeugungen Der Zyklus ätiologischer Erzählungen in Mk 2,1–3,6 verankert die in der Erzählwelt der siebziger Jahre geltenden ethischen Maßstäbe53 im normset51

Das Problem, dass es Jesus in Mk 3,6 anders als in Mk 2,12 nicht gelingt, den Widerstand seiner Gegner aufzulösen, führt an die Grenze der Darstellungsfähigkeit des Mythos im Rahmen der christlichen Evangeliumsverkündigung der markinischen ἀρχή: Der Tod Jesu wird nicht der Logik des Mythos subsumiert, denn er wird nicht den Vorgängen in der Natur folgend durch die Einzeichnung in den Rhythmus von Sterben und Wiederauferstehen relativiert; vgl. dazu KLUMBIES, Mythos (s. Anm. 11), 231–233 und 312–313. 52 Vgl. P.-G. KLUMBIES, Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas, in: D.-A. Koch/G. Sellin/A. Lindemann (Hgg.), Jesu Rede von Gott (s. Anm. 29), 165–178, 168– 169. 53 Zur Bedeutung der Gruppe oder Gemeinschaft für die Akzeptanz ethischer Normen vgl. R. ZIMMERMANN, The „Implicit Ethics“ of New Testament Writings: A Draft on a New Methodology for Analysing New Testament Ethics, Neotest. 43.2 (2009), 399–423, 403.

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zenden Handeln Jesu innerhalb der erzählten Welt der zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts. Signifikante Begebenheiten der Lebensgeschichte Jesu werden als Ursprungsorte ethischer Orientierung für eine christliche Leserschaft erzählt, die sich in ihren Maßstäben an ihren Protagonisten gebunden weiß.54 Die Normen, für die der markinische Jesus eintritt, resultieren aus der Einheit von theologischen und ethischen Überzeugungen. Der durch Jesus eröffneten Gottesbindung korrespondiert deren ethische Ausrichtung. In der Summe zielen die fünf ätiologischen Erzählungen in Mk 2,1–3,655 auf einen ethisch qualifizierten Glaubensvollzug.56 Die Restitution verloren geglaubter Gottesgemeinschaft (Mk 2,1–12), die Reintegration ausgegrenzter Personen (Mk 2,13–17), die Situationsangemessenheit der Norm (Mk 2,18–22), das Wohl des Menschen als Verhaltenskriterium (Mk 2,23–28) und die Unmöglichkeit, sich in der ethischen Entscheidungssituation auf eine neutrale Position zurückzuziehen, umreißen die Themenfelder, zu denen der markinische Jesus in Wort und Tat Stellung bezieht. Dem normsetzenden Verhalten Jesu kommt dabei über die theologischethische Orientierung hinaus zentrale Bedeutung für die Dramaturgie der markinischen Gesamterzählung zu. Die Schilderung des normativen Auftretens Jesu bildet eine der Erzähllinien, die plausibel machen, wie es dazu kommen konnte, dass der Protagonist der Handlung am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt.

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Vgl. ZIMMERMANN, Ethikbegründung (s. Anm. 10), 4. B. VAN IERSEL, Concentric Structures in Mark 2,1–3,6 and 3,7–4,1. A Case Study, in: C. Focant (Hg.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and the New Literary Criticism, BEThL 110, Leuven 1993, 521–530, 529, zeigt in einer Übersicht die Korrespondenzverhältnisse zwischen den fünf Erzählungen in Mk 2,1–3,6 auf, die sich um Mk 2,18–22 als ihre Mitte legen. 56 Damit treten sie intentional an die Seite der Gleichniserzählungen, die „zum Leben aus dem Glauben führen“ wollen. R. ZIMMERMANN, Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 3–46, 13. 55

III. Mimesis

Mimetic Ethics Introduction Blossom Stefaniw In the current section, our focus is on mimesis as an argument for a specific ethic. More precisely, the valorisation of a certain person, action or virtue serves as an argument for the validity of a certain ethic, which is to be attained by means of mimesis, or imitation, of the valorised point of reference. As the following studies show, attaching ethics to a paradigm engages questions of authority, tradition, and identity, quite as we would expect. However, mimetic ethics also brings forward questions of the relations between the human and the divine, of the individual to text, and of orders of knowledge. All of these questions are explored in essays which reach from the cognitive explanations for mimetic ethics, through the New Testament period to late antique Christianity and rabbinic Judaism. The first essay, by Friedrich Horn, surveys approaches to mimetic ethics from New Testament studies starting with the foundational work of Hans Dieter Betz, who discussed mimesis in contrast to discipleship. Rather than limiting inquiry into mimesis to those passages where the exact terms are used, Horn argues that imitation, correspondence, role models and discipleship should all be considered as included in the larger umbrella concept of mimetic ethic. To this end, he surveys several passages which encourage mimetic behaviour but use other terminology or commend regarding the life or actions of Christ as a normative paradigm. Horn also brings forward the question of the genre of the gospels as a scholarly discussion which has allowed for a broad perspective on mimetic ethics and encourages further inquiry into the precise forms of mimetic ethics in the New Testament and early Christianity. Cornelis Bennema follows with a discussion of mimetic ethics in the gospel of John, developing the claim by Ruben Zimmerman and Jan van der Watt that the book of John does indeed have ethical significance and should be read accordingly. In his essay, Bennema, like Horn, opts to focus on the concept of mimesis rather than limiting his study to uses of the actual term. He treats mimesis as the emulation or representation of one person by another, focusing on ways in which an ethic is construed as the emulation of Jesus

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by a believer. Here Bennema discusses discipleship, filial mimesis when emulation is connected with the notion of ancestry, the treatment of ethically significant acts (footwashing) as a paradigm for imitation (i.e., encouraging humility and service), and love as a norm for ethical relations between believers. The final type of mimesis which Bennema identifies he calls “Mimesis of Being”, which allows him to survey the instructions in the gospel of John to be not of the world, to be sent, to be in (the Father), and to be where Jesus is. Eve-Marie Becker addresses the well-known hymn in the letter to the Philippians as an illustration of how to treat pauline exempla. By emphasising the literary-theoretical implications of mimesis inherited from classical philosophy and rhetoric, and also taking into account the function of historiographical mimesis in fragmenting and relating the reader to time, Becker is able to identify the linguistic and rhetorical means which Paul uses to set the hymn (2,6f.) apart and thus indicate to his readers that it is the ethical highpoint of the letter and the appropriate object for mimesis. This finding is not only important for its integration of rhetorical and pastoral treatment of Paul’s paraenetic instruction to his followers, but also as a corrective to the notion that the passage concerned is a free-standing hymn that was inserted into the text. Becker thus both complicates and clarifies our understanding of this passage. In my own contribution, I have sought to articulate how mimesis is anchored by late antique Christians in multiple initially counter-intuitive cultural spaces, such that the ethical task of cultivating a new Christian subject is carried out on fronts as complex as textuality, and including not only the display of virtuous exemplars through narrative, but also the development of disciplines of reading, recitation and study which have equal significance for positioning the subject in a Christian world. The purpose of this contribution is to explain the significance of mimesis not only as imitation, but also as an argument for valorising particular orders of knowledge, maintaining civic order, and developing ordered and appropriate passions in the inner world of the individual. Next comes a study by Ron Naiweld of mimetic ethics in the masterdisciple relationships of rabbinic literature, contrasting these with the masterdisciple relationships portrayed in monastic literature or indeed in the Neoplatonic philosophical tradition. Naiweld argues that while mimesis of the teacher in ascetic Christianity and in Hellenistic philosophy presupposed an anthropology according to which the human can assimilate to the divine, and also presupposing that the teacher had already become more divine than the student, in rabbinic literature this is not the case: both the student and the teacher are merely human, and are beholden to the same laws. Thus the rabbinic student practices mimesis of the teacher which does not entail transfor-

Mimetic Ethics – Introduction

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mation or assimilation to the divine, but rather a sort of apprenticeship in the same study of the law to which all human beings are obliged. This section closes with the most fundamental perspective on mimetic ethics: what is the evolutionary and biological basis for moral behaviour based on imitation? István Czachesz, drawing on cognitive approaches to religion, considers how findings on mirror neurons and the corresponding human proclivity for both learning and achieving social bonds through imitation relate to religious behaviours such as altruism, ritual, empathy and the identification of moral authorities. Moral behaviour is one aspect of human culture which cognitive anthropologists, basing their models primarily on the principle of selection according to reproductive fitness, have found difficult to explain. As Czachesz points out, the group identification and attachment to others which mimesis entails can indeed have a significant evolutionary pay-off, because it strengthens the cohesion and resilience of the group. From the perspective of cognitive theories of religion, this is the universal human purpose served by religious narratives or rituals which encourage adherence to specific moral examples. The fact that this section includes such diverse contributions is itself a reflection of the surprising complexity of mimetic ethics, an ethics based on the imitation of an ideal.

Mimetische Ethik im Neuen Testament Friedrich W. Horn Vor bald 50 Jahren wurde Hans Dieter Betz (*1931) im Wintersemester 1965/66 am Fachbereich Evangelische Theologie der Johannes GutenbergUniversität Mainz habilitiert, an dem Fachbereich also, an dem er auch im Jahr 1957 promoviert wurde. Als Professor war Betz nach etlichen Jahren in Claremont seit 1978 Shailer Mathews Professor of New Testament an der University of Chicago Divinity School und im Department of New Testament and Early Christian Literature in der Humanities Division, Präsident der Society of Biblical Literature 1997 und der Societas Novi Testamenti Studiorum 1999. Die Habilitationsschrift wurde unter dem Titel ‚Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament‘ im folgenden Jahr publiziert und sie ist seitdem ein Klassiker zum Thema.1 Betz erwähnt im Vorwort (V), bereits bei den Vorarbeiten zu seiner Dissertation auf die Bedeutung der Mimesisvorstellung aufmerksam geworden zu sein, gleichwohl habe er zu jener Zeit noch nicht geahnt, „auf welch weitverzweigtes unterirdisches Wurzelwerk“2 er da gestoßen sei. Herbert Braun, der Betreuer und Referent sowohl der Dissertation als auch der Habilitation von Hans Dieter Betz, hatte diesen aus religionsgeschichtlicher Perspektive auf Lukian von Samosata und auf die Mimesisvorstellung aufmerksam gemacht.3 Zu jener Zeit hatten sich nur ganz wenige mit der Mimesisvorstellung im Neuen Testament beschäftigt. Etwa gleichzeitig mit der Habilitationsschrift 1 H.D. BETZ, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament, BHTh 37, Tübingen 1967. 2 Ebd., V (Vorwort). Die Dissertation wurde 1957 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereicht. Sie erschien wenige Jahre später im Berliner Akademie-Verlag: H.D. BETZ, Lukian von Samosata und das Neue Testament. Religionsgeschichtliche und paränetische Parallelen. Ein Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti, TU 76, Berlin 1961. Zur Person jetzt: W. BAIRD, History of New Testament Research III. From C.H. Dodd to Hans Dieter Betz, Fortress 2013. 3 H. BRAUN, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 1962; 31971, V (Vorwort), hatte programmatisch erklärt: „Die Aufsätze gehen von der Voraussetzung aus, daß das Neue Testament nur dann recht verstanden wird, wenn man seine religiöse Umwelt mitbedenkt. Diese religionsgeschichtliche Einordnung will das Besondere der neutestamentlichen Aussagen nicht einebnen, sondern erheben und verdeutlichen.“

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von Betz erschienen die Dissertationen von Willis Peter de Boer4 und Anselm Schulz OSB, der 1959 mit einer Arbeit zum Thema ‚Nachfolge und Nachahmen. Studien über das Verhältnis der neutestamentlichen Jüngerschaft zur christlichen Vorbildethik‘ von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München promoviert worden war.5 Schulz stellte im Vorwort fest: „Es gehört zu den Überraschungen in der theologischen Forschung, daß das Thema der vorliegenden Arbeit noch niemals zum Gegenstand einer Monographie gemacht worden ist.“6 Beide, Betz und Schulz, konnten immerhin zurückgreifen auf den recht umfangreichen Artikel mime,omai, mimhth,j, summimhth,j von Wilhelm Michaelis im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) Bd. IV aus dem Jahr 1942, der allerdings doch recht unkritisch und im theologischen Urteil nicht wegweisend war.7 Michaelis lehnte die Annahme, es gebe im Neuen Testament Formen einer imitatio Christi, kategorisch ab und fasste alle diesbezüglichen Aussagen unter die Kategorie der ‚Bewährung des Gehorsams‘.8 Die Habilitationsschrift von Hans Dieter Betz war für viele Jahre die wesentliche neutestamentliche Arbeit zur Mimesisvorstellung und sie wird auch weiterhin als Basisliteratur zur Sache zitiert. Jüngere Artikel zur biblischen Mimesis-Vorstellung können neben Betz und Schulz kaum weitere wesentliche Literatur nennen.9 Ein Aufsatz Otto Merks aus dem Jahr 1989 bietet immerhin einen Forschungsüberblick über die zum Teil verstreuten und eher peripheren Aussagen.10 Erst in allerjüngster Zeit sind etliche monographische Abhandlungen zur Thematik zu verzeichnen.11 Diese blicken allerdings nicht 4

W.P. DE BOER, The Imitation of Paul: An Exegetical Study, Kampen 1962. A. SCHULZ, Nachfolgen und Nachahmen. Studien über das Verhältnis der neutestamentlichen Jüngerschaft zur urchristlichen Vorbildethik, StANT 6, München 1962; vgl. auch DERS., Art. Nachfolge Christi I: In der Schrift, LThK2 VII (1962), 758f. 6 SCHULZ, Nachfolgen (s. Anm. 5), 9. 7 W. MICHAELIS, Art. mime,omai, mimhth,j, summimhth,j, ThWNT IV (1942), 661–678. 8 MICHAELIS, a.a.O., 676: „Die Forderung einer imitatio Christi hat in den paulinischen Aussagen keine Stütze“ (im Original gesperrt gedruckt). 9 In der RGG4 VI, 4–6, findet sich das Stichwort Nachfolge Christi, nicht aber das Stichwort Nachahmung. Das Stichwort Mimesis (V, 1240–1242) wird ausschließlich in philosophischer Hinsicht behandelt. In LThK3 VII (2006), 264–265, hat T. SCHMELLER den Artikel Mimesis II: Biblisch verfasst. 10 O. MERK, Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie, in: H. Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik (FS Rudolf Schnackenburg), Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 1989, 172–206. 11 Etliche Literaturhinweise bieten: D. ZELLER, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 193 Anm. 632; M.J. WILKINS, Art. Imitate, Imitatores, ABD III (1992), 392. Angekündigt seit 2012, aber als Übersetzung noch nicht erschienen ist: E.A. CASTELLI, Paulus nachahmen. Mimesis als Machtstrategie in den Paulusbriefen, Stuttgart (Kohlhammer Verlag). Es handelt sich hierbei um eine Übersetzung von DIES., Imitating Paul. A Discourse of Power. Literary Currents in Biblical Interpretation, Louisville 1991. 5

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mehr, wie noch die genannten älteren Arbeiten, auf einen schmalen begriffsgeschichtlichen Ausgangspunkt, sondern orientieren sich vornehmlich an literaturgeschichtlichen, gelegentlich auch an religionsgeschichtlichen Kategorien. So spricht, um nur einen ersten Hinweis zu geben, Detlev Dormeyer im Blick auf die Evangelien von mimetischen Idealbiographien. Ebenso kann die neuere literaturgeschichtliche Einordnung der Apostelgeschichte nicht ohne die Kategorie der mimetischen Geschichtsschreibung auskommen.12 Grundsätzlich bemüht Richard A. Burridge die Mimesisvorstellung als Grundlage einer neutestamentlichen Ethik.13 Burridges Werk erscheint wie eine große Synthese, die Jesus, Paulus, die Evangelien und Johannes auf den einen Grundgedanken eines „mimetic purpose“ (408) reduziert. Burridge greift in dieser Arbeit auf seine eigenen Studien zur Genre-Forschung der Evangelien im Kontext der Bios-Literatur zurück.14 Ich möchte zunächst jedoch einleitend ausführlich auf Hans Dieter Betz eingehen, auch um zu verdeutlichen, wie sich die Forschung seinerzeit dem Thema näherte und welche Fragen heute zu stellen wären. Betz gliederte seine Studie in drei Teile, wobei Teil 1 und 3 zusammen in etwa den gleichen Umfang hatten wie der gewichtige und die Studie leitende Mittelteil: 1. Zur Vorstellung der Nachfolge Jesu in den Evangelien; 2. Geschichte und Struktur der Mimesisvorstellung; 3. Die Mimesis in der Theologie des Paulus. Einleitend schreibt Betz: „Die Vorstellung von der Nachfolge Jesu hat ihre Wurzeln im palästinensisch-jüdischen Verhältnis von Toralehrer und Toraschüler, ist aber in den Evangelien zu einer eigenständigen Variation geworden. Die weniger bekannte Vorstellung ist die der Mimesis, der deshalb im zweiten Kapitel eine ausführlichere Darstellung gewidmet wurde. Es ergibt sich, daß die verschiedenen Terminologien der Nachfolge und Nachahmung eine Diskontinuität im Verhältnis der mit ihnen gegebenen Vorstellungswelten zueinander anzeigen. An der Stelle der in den Evangelien üblichen Nachfolge Jesu, die auf palästinensisch-jüdische Verhältnisse hinweist, steht bei Paulus die durchaus hellenistische Mimesisvorstellung. Historisch stehen wir folglich vor einer sprachlichen und vorstellungsmäßigen Diskontinuität.“15

Ich zitiere eine weitere längere Passage, die deutlich macht, wie sehr Betz Nachfolge und Mimesis unterscheidet, um die Vorstellung der Diskontinuität zwischen Jesusnachfolge und Paulus stark zu machen: 12 Viele Hinweise entnehme ich unterschiedlichen Beiträgen in: J. FREY/ C.K. ROTHSCHILD/J. SCHRÖTER (Hgg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin/New York 2009. 13 R.A. BURRIDGE, Imitating Jesus. An Inclusive Approach to the New Testament Ethics, Grand Rapids/Cambridge 2007; dazu auch F.W. HORN, Ethik des Neuen Testaments 1993–2009, ThR 76 (2011), 1–36.180–221. 14 R.A. BURRIDGE, What are the Gospels? A Companion with Graeco-Roman Biography, SNTS.MS 70, Cambridge 1992; paperback edition 1995. 15 BETZ, Nachfolge (s. Anm. 1), 3.

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„Hatten die Evangelien die Existenz des Christen als Nachfolge Jesu beschrieben, so besteht doch nach Terminologie und Vorstellung zwischen der ‚Nachfolge Jesu‘ und der ‚Nachahmung Christi‘ keine erkennbare Kontinuität, und zwar nicht nur deshalb, weil Paulus von avkolouqei/n und die Evangelien von mimei/sqai nichts wissen, sondern vor allem deswegen, weil hinter beiden Begriffen völlig verschiedene religionsgeschichtliche Vorstellungswelten stehen. […] an die Stelle der jüdisch-palästinensischen ‚Nachfolge Jesu‘ ist die hellenistisch-mysterienhafte Mimesisvorstellung und ihre Terminologie getreten, die ihrerseits auf dem Boden des palästinensischen Judentums und Urchristentums undenkbar ist.“16

Im Blick auf Paulus erklärt Betz: „Der Aufruf zur Mimesis ist in keiner Weise an der ethischen und sittlichen Vorbildlichkeit des historischen Jesus oder einer präexistenten Christusfigur oder des Paulus orientiert, sondern am Christusmythos selbst. Dieser Mythos beschreibt und bezeugt den präexistenten Christus als ‚unteilbares Heilsgeschehen‘, so daß sich die Mimesis auf dieses Heilsgeschehen richtet. Religionsgeschichtlich ist dieser Sachverhalt nichts Überraschendes, sondern ist das, was kultische Mimesis überhaupt ausmacht […]“.17

Es ergibt sich daraus, dass für Betz nach Paulus die Mimesis auch als evn Cristw/| VIhsou/ bzw. evn kuri,w| ei=nai beschrieben werden kann, und zwar sowohl im Blick auf den Indikativ des Heils als auch auf den Imperativ. Freilich vermerkt Betz eine entscheidende Variation der Mimesisvorstellung durch Paulus. Die Mimesis ist für Paulus nicht auf ein wiederholbares Geschick eines mythischen Gottwesens bezogen, sondern auf einen historischen und einmaligen Menschen. Wegen dieser Einmaligkeit, die sie von allen bekannten religionsgeschichtlichen Gegebenheiten unterscheidet, ist sie grundsätzlich auch nicht wiederholbar.18 Hingegen ist für hellenistische Frömmigkeit wesentlich, dass der Nachahmer die Geschichte seines Gottes darstellt und den Mythos in seinem Leben vergegenwärtigt. Für Otto Merk ist mit der Untersuchung von Betz eine Wegscheide erreicht: „Die von Paulus konstatierte ‚Nachahmung Christi‘ ist nicht unter irgendein Thema paulinischer Ethik einzuordnen, sie weist auf ein Grundproblem in der Geschichte des Urchristentums und damit auch auf den Menschen in dieser Geschichte.“19 Spätestens hier wird deutlich, dass Betz den Komplex Nachfolge und Nachahmung bei Paulus ausschließlich zurückführen möchte auf das griechisch-hellenistische Konzept der Mimesis und deren kultischen Ursprung. Wesentlich ist für Betz im Gegensatz zu anderen älteren Untersuchungen einerseits der sprachliche Befund, also die Verwendung von mime,omai, mimhth,j, summimhth,j. Andererseits fußt Betz’ Darstellung auf einem religi-

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BETZ, a.a.O., 186. BETZ, a.a.O., 168. 18 BETZ, a.a.O., 187. 19 MERK, Nachahmung (s. Anm. 10), 180. 17

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onsgeschichtlichen Urteil. Paulus wird streng von dem palästinischen Judentum und dem Urchristentum geschieden, um ihn im Umfeld hellenistischer Mysterienfrömmigkeit zu verstehen.20 Kennzeichnend für die kultische Mimesis sei, dass ein Nachahmer die Geschichte seines Gottes darstellt, ohne mit ihm eins zu werden. Erst im späteren Hellenismus greife die mysterienhafte Vergottung um sich. Die Mimesisterminologie sei im gesamten hellenistisch-jüdischen Synkretismus vorauszusetzen, und Paulus habe sie hier kennengelernt. Gleichzeitig aber betont Betz, dass der paulinische Mimesisgedanke auf das ‚Christusgeschehen‘, das ‚Christusereignis‘, den ‚Christusmythos‘ bezogen ist, was wiederum wegen der Einmaligkeit und des extra nos ein wirkliches mimei/sqai ausschließt.21 So sind es letztlich auch nicht textbasierte, sondern theologische, am radikalen extra nos des Heils haftende Vorbehalte, die gegen eine ethische Nachahmungsvorstellung sprechen.22 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Betz die Nachahmungsvorstellung im Neuen Testament sprachlich ausschließlich auf die mit dem Wortstamm mime,omai, mimhth,j, summimhth,j verbundenen Texte reduzieren und diese wiederum streng innerhalb des Konzepts der kultischen Mimesis messen möchte, um gleichzeitig die Möglichkeit einer ethischen, am Begriff der Nachfolge hängenden Mimesis ersticken zu wollen. Das religionsgeschichtliche Urteil betont den Graben zwischen beiden Konzeptionen, das theologische Urteil erachtet eine ethische Mimesis ohnehin als nicht mit der Einmaligkeit des Christusgeschehens vereinbar.23 Die Imitatio-Jesu-Frömmigkeit beginne, so Betz, erst mit dem 1. Petrusbrief und werde im Martyrium des Polykarp voll ausgestaltet.24 Daher steht Paulus vollkommen isoliert zwischen der Nachfolgebewegung der Jesusbewegung und des frühen Urchristentums einerseits und der Imitatio-Frömmigkeit der Apostolischen Väter andererseits.

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BETZ, Nachfolge (s. Anm. 1), 186f. und ebd. Anm. 1. BETZ, a.a.O., 168: „Der Aufruf zur Mimesis ist in keiner Weise an der ethischen und sittlichen Vorbildlichkeit des historischen Jesus oder einer präexistenten Christusfigur oder des Paulus orientiert, sondern am Christusmythos selber.“ 22 Vgl. die Bemerkung von ZELLER, 1. Korinther (s. Anm. 11), 348 Anm. 427, zu Merk: „Er insistiert paradoxerweise zugleich auf der Unnachahmlichkeit des Kreuzesgeschehens […], eine Kautele, zu der Paulus keinen Anlass sieht.“ Kritisch äußert sich zu den theologischen Vorbehalten, die in der Theologiegeschichte des 20. Jh. gegen die Möglichkeit einer Nachahmung Christi vorgebracht wurden, mit Recht auch H. WOITKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 189f. 23 Auch MERK, Nachahmung (s. Anm. 10), 206: „Es geht um das Unnachahmbare, das theologisch und ethisch nicht einholbar ist und gerade darin der Grund unseres Heils bleibt.“ 24 BETZ, Nachfolge (s. Anm. 1), 181. 21

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Gegen dieses Vorgehen und gegen die theologischen Schlussfolgerungen ist mit Recht Kritik vorgebracht worden. Thomas Schmeller wendet ein: „Trotz der genannten Unterschiede kommen allerdings manche nachösterlich interpretierten Nachfolgeaussagen der M. nahe […], wenngleich Nachfolge u. M. erst in nach-ntl. Zeit identifiziert werden. Es ist andererseits auch unberechtigt, v. Paulus den Gedanken an Christus als nachzuahmendes sittl. Vorbild völlig fernzuhalten, indem man z.B. die betr. Stellen auf den Gehorsam gegenüber Christus (u. Paulus) einschränken will.“25 Georg Strecker hat in seiner Theologie des Neuen Testaments ein Kapitel überschrieben: „Der vergangenheitliche Jesus des paulinischen Kerygmas ist die Norm für das ethische Verhalten.“26 Dieter Zeller, der im Verhalten Christi auch ein Verhaltensmuster für die Christen erkennt, stellt die Reichweite der hellenistischen Mimesisvorstellung für Paulus sogar grundsätzlich in Frage: „Die ‚Karriere‘ Christi ist so spezifisch, dass die Hinweise auf den in der Antike verbreiteten Gedanken der Nachahmung Gottes nichts austragen.“27 Ich möchte daher anregen, mimetische Ethik demgegenüber als einen Sammelbegriff zu verwenden, der unterschiedliche Konzepte von Mimesis, von Nachahmungs-, Vorbild-, Entsprechungs- und Imitatio-Ethik, aber wohl auch von Nachfolgevorstellungen umfasst. Auf jeden Fall muss ausgeschlossen bleiben, dass der leitende und über die schmale Brücke der wenigen Belege zu mime,omai ktl gewonnene Bezug auf die kultische Mimesis alle möglichen weiteren Formen einer Vorbildethik zurückdrängt oder gar ausschließt.28 Mimetische Ethik begegnet in diesem Verständnis in allen Schriftengruppen des Neuen Testaments und ist keinesfalls auf den Sprachgebrauch von mi-me,omai ktl (1Kor 4,16; 11,1; Eph 5,1; 1Thess 1,6; 2,14; 2Thess 3,7.9; Phil 3,17; 3Joh 11; Hebr 6,12; 13,7) einzugrenzen. Dies kann einerseits gezeigt werden im Blick auf zentrale Einzelaussagen, andererseits aber auch literaturgeschichtlich im Blick auf das mimetische Element einzelner Schriften insgesamt. Es sollen zunächst nicht alle in diesem Zusammenhang zu bedenkende Aussagen des Neuen Testaments zusammengetragen werden, sondern eine Auswahl zentraler Belege, die allerdings immerhin deutlich macht, dass Mimetische Ethik in dem von uns beschriebenen Sinn ein ethisches Konzept von 25

SCHMELLER, Art. Mimesis II: Biblisch (s. Anm. 9), 265. G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments. Bearbeitet, ergänzt und herausgegeben von Friedrich Wilhelm Horn, Berlin/New York 1996, 110f. 27 ZELLER, 1. Korinther (s. Anm. 11), 348. 28 Bereits SCHULZ, Art. Nachfolge Christi (s. Anm. 5), 759: „Für ein sachgerechtes Verständnis der ntl. Vorbildethik ist es überaus bedeutsam, zu beachten, daß die den Tatbestand der Imitatio wirklich erhellenden Zeugnisse jenseits der Wortgruppe v. mimei/sqai usw. liegen. Sie bestehen vornehmlich in einer Reihe v. Hinweisen auf das beispielhafte Verhalten Christi, die zur Begründung eines Imperativs, d.i. als Motiv für ein bestimmtes sittl. Tun der Glaubenden, v. der urkirchl. Paränese angeführt werden.“ 26

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erheblicher Breite ist und auf jeden Fall in der Beschreibung der Normen frühchristlicher Ethik mitbedacht werden muss. Der Bezugspunkt mimetischen Verhaltens wechselt: Gott (Mt 5,48; 6,44f.; Lk 6,36), Jesus Christus/Kyrios (Mt 11,29; Joh 13,14f.34f.; 15,12; Röm 15,7; 1Thess 1,6; 1Kor 11,1; 2Kor 4,10f.; 8,9; 13,4; Phil 2,5f.; Eph 5,2.25; 1Joh 2,6; 3,16; 1Petr 2,21), Petrus und die Apostel (1Tim 4,12; 1Petr 5,3), Paulus (Apg 20,35; 1Kor 4,16; 11,1; Gal 4,12; Phil 3,17; 1Thess 1,6; 2Thess 3,7.9; 1Tim 1,16), die Patriarchen (1Kor 10,6.11; Hebr 11) und deren Frauen (1Petr 3,5f.), die Propheten (Jak 5,10), Gemeinden in Judäa (1Thess 2,14). Natürlich wird man in der Verwendung der Nachahmungsaussagen unterscheiden und auch den Aspekt des negativen Vorbilds (1Kor 10,11) bedenken müssen.29 Die Nachahmungsaussage in 1Thess 2,14 bemüht eher einen einfachen Vergleich zwischen den Gemeinden in Thessalonich und denen in Judäa. Die Nachahmung kann sich auf ein äußeres Verhalten, aber auch auf eine innere Einstellung beziehen. Sehr oft spricht Paulus die Nachahmung als eine Entsprechung im Leiden an, die er gegenüber Christus und die Glaubenden gegenüber Christus und dem Apostel vollziehen. Solche Aussagen kulminieren in Komposita mit sun, in denen der Weg Christi und des Apostels oder der Gemeinde (Röm 6,6.8; Gal 2,19; Kol 2,12; 3,1) in engste Relation zueinander gesetzt werden. Die Nachahmung Jesu Christi seitens der Apostel kann auch als Darstellung des Sendungskonzeptes begriffen werden: die Gesandten repräsentieren den Sendenden. Werden die Gemeinden wiederum aufgefordert, den Apostel nachzuahmen, so vermittelt diese Nachahmung fraglos auch die durch das apostolische Vorbild dargestellte neue Identität christlichen Lebens. Immerhin zeigt die Vielfalt der Bezugsgrößen, dass sich die Nachahmung in einem vielfältigen Geflecht vollzieht. Sehr häufig beziehen sich Nachahmungsaussagen auf das Vorbild der selbstlosen Liebe Christi, die in seinem stellvertretenden Tod gipfelt. Gedanklich zieht 1Joh 3,16 sogar die extreme Konsequenz, dass auch Christen bereit sind, füreinander das Leben zu geben. 30 Wird diese Liebe innerhalb der urchristlichen Gemeindeethik zur Norm des Verhaltens, dann gewinnt dieses Tun gleichzeitig den Charakter einer dankbaren Antwort auf die empfangene Liebe. Aus den Nachfolgeworten Jesu ist insbesondere an das Wort vom Kreuztragen zu erinnern, das sowohl im Markusevangelium und seinen Seitenrefe-

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MICHAELIS, Art. mime,omai, mimhth,j, summimhth,j (s. Anm. 7), 674f., entwirft eine kleine Typologie der Mimesis. 30 U. SCHNELLE, Die Johannesbriefe, ThHK 17, Leipzig 2010, 128: „Jesu Tod für die Freunde ist ein exemplarischer und zugleich stellvertretender Tod, der Leben ermöglicht und das neue Sein in der Liebe eröffnet. Deshalb ist Jesu Lebenshingabe Grund, Vorbild, Maßstab und Verpflichtung für den tatkräftigen und nicht begrenzbaren Liebeseinsatz der gesamten Gemeinde.“

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renten (Mk 8,34; Mt 16,24; Lk 9,23), in der Logienquelle (Mt 10,38; Lk 14,27) und im Thomasevangelium (Log 55,2)31 belegt ist und aufgrund dieser Mehrfachbezeugung in die älteste Jesustradition zurückführt. Freilich handelt es sich hier wohl um eine im Blick auf das Kreuz Jesu gebildete Metapher, deren übertragener Sinn die Bereitschaft einfordert, als Nachfolger Jesu den Weg in die Niedrigkeit zu gehen. Auch der übertragene Sprachgebrauch verliert nicht diesen Aspekt der Niedrigkeit und des Verlustes der Ehre, der untrennbar mit dem Stichwort Kreuz verbunden ist. Eine absolute Nachahmung ist folglich nicht ausgeschlossen, wohl aber, zumal in der lukanischen Fassung, nicht wirklich im Blick, da solche Kreuzesnachfolge täglich (Lk 9,23) gelebt werden soll. Unter den Texten des Neuen Testaments hat neben der Fußwaschungsszene (Joh 13,1–20)32 vor allem der Christushymnus des Philipperbriefs (Phil 2,6–11) als Hinweis auf eine Vorbildethik gedient. In diesem Brief bietet Paulus sich selbst (und eventuell auch Timotheus und Epaphroditus) als tu,poj für die Gemeinden an und fordert sie auf: summimhtai, mou gi,nesqe (Phil 3,17). Das Lexem summimhth,j begegnet hier erstmals in der griechischen Literatur (das Verb summime,omai einmal bei Plato rep. 274d). In der Sache dient es dazu, den Blick auch der Gemeinde über das Vorbild des Apostels hinaus auf das Vorbild Christi zu richten. Dieses wiederum ruft der Hymnus in Erinnerung. Die semantischen Bezüge zwischen dem Hymnus und dem Verweis auf das Vorbild des Apostels in Phil 3 schlagen eine Brücke zu einer Mimetischen Ethik. 33 Konkret zielt diese Nachahmung auf eine Leidensnachahmung, für die Christus und die Apostel als Vorbilder stehen. 1Petr 2,21 steht sachlich dieser Aussage nahe, wenn das stellvertretende Leiden Christi als ein u``pogrammo,j, also als ein Muster oder Modell für den eigenen Lebensweg betrachtet wird. Auch hier wäre es völlig unangemessen, die Einmaligkeit des Leidens Christi gegen eine Vorbildethik auszuspielen. „Diese Verzahnung von soteriologischer Singularität und ethischer Exemplarität des Leidens Christi ist für den 1Petr bezeichnend.“34 31

Log 55,2 lautet: ‚und wer nicht seine Brüder und Schwestern hassen wird (und) nicht sein Kreuz tragen wird wie ich, wird meiner nicht würdig sein‘ (Übersetzung nach U.-K. PLISCH, Das Thomasevangelium. Originaltext mit Kommentar, Stuttgart 2007, 147). Wegen des Zusatzes ‚wie ich‘ ist Log 55,2 klar als nachösterliche Bildung zu erkennen. Durch diesen Zusatz wird die Möglichkeit der Nachahmung des Todes Jesu für die Jünger in einem nicht-metaphorischen Sinn angesprochen. 32 C. BENNEMA, Mimesis in John 13. Cloning or Creative Articulation?, NovT 56 (2014), 261–274. 33 H. LÖHR, Philipperbrief, in: F.W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 203–210, vor allem 210; außerdem umfangreich und sehr überzeugend WOITKOWIAK, Christologie (s. Anm. 22), 186–193. 34 R. FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus, ThHK 15/I, Leipzig 2005, 116 (im Original gesperrt gedruckt).

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Vor allem in Teilen testamentarischer Literatur wird ein Verweis auf das ethische Vorbild des Scheidenden bemüht, um die Hinterbliebenen an diese Norm zu binden. In den Abschiedsreden des Johannesevangeliums ist es das Gebot der Bruderliebe (Joh 13,34), das der Scheidende als von ihm vorgelebtes neues Gebot übergibt und es als Erkennungszeichen seiner Person und der an ihn Glaubenden deklariert.35 Die Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,18–35) erwähnt nach einer Reihe von Verweisen auf den selbstlosen und ehrlichen Dienst des Paulus abschließend das Beispiel dieses Apostels, der ohne finanzielle Ansprüche gegenüber den Gemeinden auftrat, vielmehr durch die eigene Arbeit in die Lage versetzt wurde, nicht nur sich zu versorgen, sondern sogar noch Schwache zu unterstützen. Dass er in alledem nach Apg 20,35 sogar noch die hier in einer knappen Sentenz zusammengefassten Worte Jesu erfüllte, stellt einen bemerkenswerten weiteren Verweis auf den Stellenwert Mimetischer Ethik in testamentarischen Aussagen, hier konkret für die urchristliche Arbeitsethik, dar. Auch der 2. Timotheusbrief bietet, um ein letztes Beispiel anzuführen, testamentarische Aussagen in brieflicher Form. Paulus gibt sein Vermächtnis an den jungen Mitarbeiter weiter und spricht vor allem sein eigenes Leiden an (2Tim 2,8–11; 3,10–13; 4,5f.). Einen weiten Blick in den Bereich der Mimetischen Ethik eröffnet die jüngere Diskussion um die Gattung der Evangelien. Dies soll hier kurz im Blick auf das Markusevangelium angedeutet werden, da bei diesem ältesten Evangelium die Gattungskonformität deutlicher zu beobachten ist als bei Matthäus und bei Lukas. Versteht man nämlich dieses Evangelium von seinem Aufriss her als Vita und reiht es in die Gattung antiker Biographien ein, dann wird notwendig „[…] mit der Form zugleich auch eine bestimmte Intention vermittelt: Mit der vorliegenden Schrift wird ein erprobtes Lebensmodell propagiert.“36 Allerdings „[…] passt sich das im MkEv propagierte Lebensmodell der Mainstreamvorstellung der Kaiserzeit gerade nicht ein.“37 „Das MkEv ist also ein Versuch, am Lebensweg Jesu die Praxis einer Gegengesellschaft abzulesen und diesen Weg als dem Willen Gottes entsprechende und als Konkretion der Gottesherrschaft gekennzeichnete Alternative zum gesellschaftlichen Trend zu präsentieren […]“.38 Diese im weiteren Text umfänglich ausgearbeitete Bewertung des Markusevangeliums und seiner Gattung durch Martin Ebner greift zurück auf eine Neubewertung der Evangelien als

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K. WEYER-MENKHOFF, Die Ethik des Johannesevangeliums im sprachlichen Feld des Handelns. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics V, WUNT II 359, Tübingen 2014, 241–249. 36 M. EBNER, Das Markusevangelium, in: ders./S. Schreiber (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament, KST 6, Stuttgart 2008, 154–183, 168. 37 EBNER, Markusevangelium, a.a.O., 168. 38 EBNER, a.a.O., 180.

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antike Biographien, für die gegenwärtig bereits ein Konsens konstatiert wird.39 Es wäre eine Aufgabe zu untersuchen und darzustellen, welche Formen Mimetischer Ethik im Neuen Testament und im weiteren frühen Christentum in Anspruch genommen werden, um eine Wirkung auf Seiten der Leserschaft und der Hörenden zu erzielen. Welche Charakterzeichnungen werden geboten, in welchem räumlichen und zeitlichen Rahmen bewegen sich die Charaktere, wie ist ihre Handlungslogik? Inwieweit möchten die Aktanten der neutestamentlichen Literatur, etwa Paulus oder Petrus, als Repräsentanz desjenigen Herrn verstanden wissen, den sie in ihrer Mission zur Darstellung bringen? Welche emotionalen Momente werden aktiviert, um die Mimesis innerhalb der Gemeinden anzuregen? Die Antike bot im Theater vielfältige Möglichkeiten, sich mit Lebenskonzeptionen, Einstellungen und Werten der Charaktere, mit ihrem Versagen und ihren Erfolgen auseinanderzusetzen. Das frühe Christentum hat diese Bühne nicht, sondern bezieht sich in seiner Anfangszeit ausschließlich auf Jesusgeschichten, als Erinnerung in den Evangelien festgehalten, und auf apostolische Briefe. Diese Literatur hat ein mimetisches Potential und sie ist es wert, unter diesem Aspekt auf ihren Beitrag zur Gestalt frühchristlicher Ethik untersucht zu werden.

39 So D.S. DU TOIT, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen, WMANT 111, Neukirchen-Vluyn 2006, 21f.; außerdem: D. DORMEYER, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 22002; zuvor bereits in etlichen Publikationen DERS., Die Passion Jesu als Verhaltensmodell. Literarische und theologische Analyse der Traditions- und Redaktionsgeschichte der Markuspassion, NTA 11, Münster 1987; DERS., Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte. Eine Einführung, Darmstadt 1993, 220–225; DERS., Einführung in die Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 2010, 72–74.

Mimetic Ethics in the Gospel of John Cornelis Bennema 1. Introduction The subject of mimetic ethics in the Gospel of John is challenging for at least two reasons. First, Johannine ethics itself is a problematic area. Many scholars have contended that the Johannine corpus has little or no ethical content, that even its most (or only) explicit ethic (‘to love one another’) raises a host of questions, and that it has an inward or sectarian outlook. Jan van der Watt is an exception. He, often in collaboration with Ruben Zimmermann, has relentlessly explored the topic of Johannine ethics since 2006.1 In 2012, their collaboration resulted in the first extensive volume on Johannine ethics. 2 In this important collection of essays, however, the topic of mimesis was not addressed. And though Richard Burridge uses the term ‘imitation’ as a lens to explore New Testament ethics in his 2007 book Imitating Jesus, he does not 1 J.G. VAN DER WATT, Ethics and Ethos in the Gospel according to John, ZNW 97 (2006), 147–176; IDEM, Radical Social Redefinition and Radical Love: Ethics and Ethos in the Gospel according to John, in: J.G. van der Watt (ed.), Identity, Ethics and Ethos in the New Testament, BZNW 141, Berlin 2006, 107–134; IDEM, Ethics Alive in Imagery, in: J. Frey/J.G. van der Watt/R. Zimmermann (eds.), Imagery in the Gospel of John, WUNT 200, Tübingen 2006, 421–448; IDEM, The Good and the Truth in John’s Gospel, in: A. Dettwiler/U. Poplutz (eds.), Studien zu Matthäus und Johannes: Festschrift für Jean Zumstein zu seinem 65. Geburtstag, AThANT 97, Zürich 2009, 317–333; IDEM, Ethics through the Power of Language: Some Explorations in the Gospel according to John, in: R. Zimmermann/J.G. van der Watt (eds.), Moral Language in the New Testament: The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings, Contexts and Norms of New Testament Ethics II, WUNT II/296, Tübingen 2010, 139–167. 2 J.G. VAN DER WATT/R. ZIMMERMANN, Rethinking the Ethics of John: “Implicit Ethics” in the Johannine Writings, Contexts and Norms of New Testament Ethics III, WUNT 291, Tübingen 2012. At the same time, Ruben Zimmermann produced an essay on Johannine ethics in another volume: R. ZIMMERMANN, Narrative Ethik im Johannesevangelium am Beispiel der Lazarus-Perikope Joh 11, in: J. Frey/U. Poplutz (eds.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, BThS 130, Neukirchen-Vluyn 2012, 133–170. See now also the published dissertation of R. Zimmermann’s doctoral student K. WEYER-MENKHOFF, Die Ethik des Johannesevangeliums im sprachlichen Feld des Handelns, Contexts and Norms of New Testament Ethics V, WUNT II/359, Tübingen, 2014.

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adequately unpack the (Johannine) concept.3 The second challenge to identifying and analysing mimetic ethics in the Gospel of John, therefore, is the absence of any study on mimesis in the Johannine literature to date.4 This means that ‘mimetic ethics’ in John’s gospel is uncharted territory, so I will start by explaining how I understand this phrase. Discourse on mimesis originated in Greek antiquity (Plato, Aristotle) and carried on in Roman thought. Etymologically, the term μιμέομαι and its cognates refer to the creative and orderly representation of nature through the fine arts, but in time became an important religious concept for the ancient Greeks and Romans, where man’s chief end was to imitate God.5 In everyday use, in the area of learning, children were expected to imitate their parents and pupils their teachers. Thus, besides the idea of imitating nature, GraecoRoman antiquity also knew the idea of imitating others – whether God, parent or teacher. In contrast, though there are possible suggestions of mimesis with regard to human conduct (e.g., Gen 1:26–27; Lev 19:2; Deut 10:18–19), the concept of mimesis is not visible in the Hebrew Scriptures. Approaching the Common Era, however, the Greek concept of mimesis seems to have found its way into Jewish thinking because there are references to this concept in the LXX, Pseudepigrapha, Josephus, Philo and rabbinic writings.6 In the New Testament, the terms μιμέομαι, μιμητής and συμμιμητής appear, and then mainly in Paul. In the Johannine corpus, only the term μιμέομαι occurs and then just once – in 3 John 11 as a general ethical imperative to imitate good and not evil. Nevertheless, I believe that mimesis is not absent from Johannine thought; rather, it is an ethical concept indicated by other literal terms. Consequently, my understanding of the Johannine concept of mimesis is informed by the Johannine text. My working definition of mimesis is that ‘person B represents or emulates person A in activity or state X’. The focus of this article is believer-Jesus mimesis, where Jesus (person A) functions as a virtuous role model who provides an example (activity or state X) for the believer (person B) to imitate. Mimetic ethics, then, relates to people’s behaviour or character as shaped by mimesis. Or, as Ruben Zimmermann puts it, mimetic ethics refers to ‘die Nachahmung von Personen als Vorbilder hinsichtlich ihres Verhaltens 3

R.A. BURRIDGE, Imitating Jesus: An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids 2007, 334–345. 4 While I am currently working towards a full study on the topic (C. BENNEMA, Mimesis in the Johannine Literature, LNTS, New York, forthcoming 2017), the first instalment is already available: C. BENNEMA, Mimesis in John 13: Cloning or Creative Articulation?, NovT 56 (2014), 261–274. 5 See further G. GEBAUER/C. WULF, Mimesis: Culture, Art, Society, Berkeley 1995, 25–59; S. HALLIWELL, The Aesthetics of Mimesis: Ancient Texts and Modern Problems, Princeton 2002; M. POTOLSKY, Mimesis, New York 2006, chs. 1–3. 6 Cf. W.P. DE BOER, The Imitation of Paul: An Exegetical Study, Kampen 1962, ch. 3.

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oder Charakters’ and hence mimetic ethics is Vorbildethik (‘ethics of personal example’).7

2. Following and Remaining With Jesus Discipleship undoubtedly involves relationship (personal attachment to the teacher), loyalty (allegiance to the teacher) and learning (adherence to the teacher’s instruction). While it may seem obvious that a disciple seeks to imitate the teacher, the question is whether the verbs ἀκολουθεῖν (‘to follow’) and μένειν (‘to remain’), which are central to John’s understanding of discipleship, imply imitation. I will not examine the term μαθητής (‘disciple’) because although the term occurs frequently in John’s gospel (78 occurences), it is not explained. In the 1960s, there were a few wide-ranging studies on mimesis that asked whether following Jesus has mimetic connotations. Willis Peter de Boer mainly studied the concept of mimesis in Paul but touched briefly on the concept of ‘following Jesus’ in the Gospels.8 Anselm Schulz and Hans Dieter Betz, individually, examined the continuity between the notion of ‘following Jesus’ in the Gospels and that of imitation in Paul.9 The main difference between them is this: whereas Schulz and Betz see philological discontinuity but theological continuity between the language of ‘following Jesus’ (in the Gospels) and ‘imitating Jesus’ (in Paul), de Boer contends that the language of ‘following Jesus’ belongs to the concept of mimesis where following Jesus involves becoming like him. We will now turn to John’s gospel to examine the evidence. Discipleship is a major theme in John’s gospel, where people commit to following Jesus and remaining with him. The act of ‘following Jesus’, expressed by the verb ἀκολουθεῖν (19 occurrences in John), is engaged in by a variety of people: the (twelve) disciples (1:37–40, 43; 18:15), the crowd (6:2; although it becomes clear that they are fickle [6:26, 36]), and believers in general (8:12; 10:4–5, 27; 12:26). The image of a person coming ‘after/behind’ (ὀπίσω) Jesus is synonymous to the concept of following him as 6:66 indicates, where it is used negatively to say that many disciples ‘withdrew from following in the wake of Jesus’ – they defected – when they learnt of 7

R. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe: Die ‘implizite Ethik’ der Paulusbriefe am Beispiel des 1. Korintherbriefs, BThS; Neukirchen-Vluyn 2015, 113. 8 DE BOER, Imitation of Paul (s. note 6), 50–58. 9 A. SCHULZ, Nachfolgen und Nachahmen: Studien über das Verhältnis der neutestamentlichen Jüngerschaft zur urchristlichen Vorbildethik, StANT 6, München 1962, H.D. BETZ, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament, BHTh 37, Tübingen 1967.

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the demands of discipleship. What is important for our study is whether for John, discipleship, beyond the mere act of following, also includes the idea of emulating Jesus in order to become like him, that is, mimesis. I contend that there is no explicit linguistic expression that ties ἀκολουθεῖν to mimesis; instead, there are only conceptual traces of mimesis. Where Jesus provides an example for his disciples to imitate (e.g., the footwashing and the love command [see below]), there is no mention of the verb ἀκολουθεῖν. The only exception perhaps is 12:26, ‘If someone wishes to serve me, he must follow me, and where I am, there my servant will also be’ (ἐὰν ἐμοί τις διακονῇ, ἐμοὶ ἀκολουθείτω, καὶ ὅπου εἰμὶ ἐγὼ ἐκεῖ καὶ ὁ διάκονος ὁ ἐμὸς ἔσται). Although Jesus does not indicate any action that his followers must imitate, there is a sense of mimesis in that the believer will be where Jesus is because he follows Jesus. Thus, following Jesus arguably has a mimetic aspect in that the believer goes where Jesus goes. Strictly speaking, however, the mimetic aspect is connected to εἶναι in 12:26b rather than to ἀκολουθεῖν in 12:26a, that is, the believer arrives at the same place as Jesus (mimesis) as a result of following him. Mimesis thus seems to be an effect of following. Nowhere in John’s gospel does Jesus hold up an example of following (or remaining) and tell his disciples to imitate it. Therefore, it appears that following Jesus facilitates mimesis. Instead of arguing that following Jesus means imitating him, I suggest that believers follow Jesus in order to imitate him. It is as people follow Jesus that they observe and imitate him. I therefore conclude that ἀκολουθεῖν is not directly linked to mimesis; rather, mimesis is the goal of following Jesus. When it comes to the concept of remaining with or abiding in Jesus, there is slightly more evidence in John’s gospel that μένειν has mimetic connotations. The verb μένειν is logically related to ἀκολουθεῖν in that following Jesus implies remaining with or in him. 10 Of the forty occurrences of μένειν, only two hint at mimesis – 15:4 and 15:10. The καθώς […] οὕτως construction in 15:4 denotes mimesis: Just as (καθώς) a branch can only bear fruit when it abides in the vine, so (οὕτως) the disciples can only bear fruit if they abide in Jesus. Jesus exhorts the disciples to observe the vine and its branches, and to ‘imitate’ the branches, as it were, in abiding in order to be fruitful. In 15:10, we find again the comparative conjunction καθώς (but now without the correlative οὕτως) to indicate the mimetic idea that just as (καθώς) Jesus has been obedient and abiding in the Father’s love, so the disciples will abide in Jesus’ love when they are obedient. Jesus’ obedience to the Father (and his consequent abiding in the Father’s love) is the example for the disciples to imitate, in that they may be obedient to Jesus and continue to experience abiding in his love.

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Only in 1:37–40 are ἀκολουθεῖν and μένειν directly related.

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In sum, although some occurrences of ἀκολουθεῖν and μένειν arguably hint at mimesis, it would not be judicious to force our case. I therefore conclude that ἀκολουθεῖν and μένειν only hint at mimesis rather than having clear mimetic connotations. We must look elsewhere if we want to speak of a believer–Jesus mimesis in John’s gospel.

3. Filial Mimesis The most poignant exchange in the conflict between Jesus and ‘the Jews’ is to be found in 8:12–59, with ‘the Jews’ alleging that Jesus is demon possessed (8:48) and Jesus calling his opponents children of the devil (8:44).11 Notwithstanding the harsh allegations, the conflict between Jesus and ‘the Jews’ is a ‘family’ fight – an intra-Jewish dispute about family and identity – and 8:39– 47 speaks of the existence of two mutually exclusive families, with different fathers. We see the first hint at mimesis in 8:38. Jesus’ claim that he speaks of what he has seen in the Father’s presence (8:38a) echoes the mimetic pattern revealed in 5:19–20. These verses indicate the Son’s complete dependence on the Father and the Father’s complete revelation to the Son. To put it differently, the Son observes what the Father is doing and then imitates him. Elsewhere we learn that Jesus does not speak of his own accord either, but speaks the very words of the Father (8:26, 28, 38; 12:49–50; 14:24; 15:15). In short, Jesus emulates what he sees the Father do and what he hears the Father speak.12 If this mimetic idea lies behind Jesus’ claim in 8:38a, then Jesus’ exhortation in 8:38b, ‘therefore, you should also do what you have heard from the Father’, echoes the concept of mimesis.13 Essentially, just as Jesus’ conduct

11 The term Ἰουδαῖοι refers to a subset of the Jewish people at Jesus’ time, namely the Torah- and temple-loyalists, found primarily in Judaea (C. BENNEMA, The Identity and Composition of οἱ Ἰουδαῖοι in the Gospel of John, TynB 60 [2009], 239–263). While the translation of Ἰουδαῖοι as ‘Judaeans’ or ‘Jews’ is a difficult scholarly debate (see D.M. MILLER, Ethnicity, Religion and the Meaning of Ioudaios in Ancient ‘Judaism’, CBR 12 [2014], 216–265 [esp. 255–259]), this does not affect our argument. 12 See also R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder im Johannesevangelium: Die Christopoetik des vierten Evangelium unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004, 176–183, J. VAN DER WATT, Der Meisterschüler Gottes (von der Lehre des Sohnes) Joh 5,19–23, in: R. Zimmermann (ed.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 745–754. 13 The presence of the conjunction οὖν indicates that καὶ here functions as an adverb (‘also’) rather than a coordinate conjunction (‘and’). The textual variant ὑμῶν after τοῦ πατρός is most probably a scribal refinement to show a contrast between God and the

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mimics the Father’s, so also ‘the Jews’ should imitate the Father. The phrase ‘what you have heard from the Father’ may be an assertion that Jesus’ teachings are the very words of God (cf. 3:34; 8:26, 28). In effect, the Father is the paradigmatic example for both Jesus and ‘the Jews’ to follow. The difference is that while Jesus can observe the Father directly and imitate him, ‘the Jews’ must ‘observe’ the Father through Jesus’ teaching and pattern their behaviour accordingly. It is evident, however, that ‘the Jews’ imitate another father (8:39–41). When ‘the Jews’ assert that Abraham is their father, Jesus responds by saying that if this were the case, their conduct would demonstrate it (8:39). The ‘if you were […] you would do’ construction (it is repeated in 8:42) illustrates that identity calls for corresponding behaviour.14 As it is, their conduct shows similarities with that of a different father (8:40–41). ‘The Jews’ then claim that God is their Father (8:41). Again, Jesus points out that their behaviour does not show they belong to God’s family (8:42). On the contrary, their behaviour suggests they are children of the devil and they choose (θέλειν) to emulate their father (8:44).15 Indeed, ‘the Jews’ imitate their father the devil: like the devil, they sin (8:24; 1 John 3:8), lie (8:33, 55; 8:44), seek to kill (8:37, 40, 59; 8:44) and do not accept the truth (8:45; 8:44). Conversely, true believers are expected to imitate their father – God (cf. 8:38b).16 While Jesus agrees that ‘the Jews’ do what their father does (8:41), the scandal is that their father is neither Abraham nor God (as they claim) but the devil (8:44). Their ‘works’ (ἔργα), or their behaviour, show whom they imitate. Although 8:39 does not clarify what Abraham’s ἔργα consist of, the New Testament considers his faith (πιστεύειν τῷ θεῷ [Gen 15:6 LXX]) as the paradigmatic response to God (e.g., Rom 4:3, 22; Gal 3:6; Heb 11:8, 17; James 2:23). This corresponds to 6:28–29 where Jesus explains to the crowd that the ἔργον of God consists of believing in him (πιστεύειν εἰς ὃν ἀπέστειλεν ἐκεῖνος). Again, in 8:42, Jesus indicates that to love him also constitutes doing God’s ἔργον. Thus, the ἔργα of Abraham and the ἔργον that God requires coincide in the concept of πιστεύειν. To believe in God, which for John means to believe in Jesus, is the proper ἔργον that proves family

devil, but this contrast is only introduced in 8:41 (B.M. METZGER, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 21994, 193). 14 Although only 8:42 is a second class condition (contrary to fact), 8:40 shows that the first class condition in 8:39 is also contrary to fact. It is hence not surprising that some textual variants make the condition in 8:39 a second class one. 15 Θέλειν here denotes a volitional act motivated either by desire (to wish, to want) or resolve (to will, to intend). 16 See also VAN DER WATT, Ethics Alive (s. note 1), 424–428, who explains that children do what their father does against the backdrop of ancient education.

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affinity.17 The ἔργα of the devil, however, consists of killing and lying (8:44). By imitating the devil’s ἔργα, ‘the Jews’ show that they are ἐκ τοῦ διαβόλου (8:44) and not ἐκ θεοῦ (8:47). Although a good case can be made that John 8 indicates the concept of family mimesis, I conclude that it lies beneath the surface and we must continue to look for more explicit evidence of mimesis in John’s gospel.

4. The Footwashing The first clear evidence of believer-Jesus mimesis is found in Jesus’ act of washing the disciples’ feet as described in John 13. The footwashing pericope consists of two parts, each conveying a distinct but related meaning: (i) in 13:1–11, Jesus performs the footwashing and explains it in terms of the disciples’ spiritual cleansing that he will complete for them on the cross; (ii) in 13:12–17, Jesus explains the footwashing in terms of humble, loving service that must continue.18 It is clear from 13:1 that the footwashing is also an act of love, that is, Jesus is showing the disciples the extent of his love – proleptically in what he is going to do on the cross (13:6–11) and at this moment in humble service (13:12–17).19 I shall focus on 13:4–5, 12–17, which are the verses relevant to the Johannine concept of mimesis.20 A close examination of 13:4–5, 12–17 shows a mimetic pattern that consists of four stages. First, 13:4–5, 12a describes the physical act of footwashing. Three successive verbs describe Jesus’ actions at the start (Jesus gets up from the table, takes off his outer garment and washes the disciples’ feet) and in reverse order at the finish (having washed the disciples’ feet, he puts on his outer garment and reclines again at the table). This explicit account of Jesus’ actions builds up to the mimetic imperative that follows in 13:14–15, which suggests that one can only imitate what is observed first. 17 For a detailed discussion of τὰ ἔργα (τοῦ θεοῦ), see WEYER-MENKHOFF, Ethik (s. note 2), ch. 3, or briefer, IDEM, The Response of Jesus: Ethics in John by Considering Scripture as Work of God, in: van der Watt/Zimmermann (eds.), Rethinking the Ethics of John (s. note 2), 160–166. 18 It is well-recognized that the verbs θεῖναι and λαβεῖν used in 13:4,12 to describe Jesus’ taking off and putting on his clothes echo 10:18 where Jesus speaks of his ability to lay down and pick up his life of his own accord – which, of course, he does on the cross and in the resurrection. 19 For the connection between 13:1–11 and 13:12–20, see further J.C. THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, JSNTSup 61, Sheffield 1991, 116– 125; C. NIEMAND, Die Fusswaschungserzählung des Johannesevangeliums: Untersuchungen zu ihrer Entstehung und Überlieferung im Christentum, SA 114, Rome 1993, ch. 2. 20 For a detailed discussion of the nature of mimesis in the footwashing episode, see BENNEMA, Mimesis in John 13 (s. note 4), 261–274.

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Second, when Jesus returns to the table after the footwashing he does not immediately command his disciples to imitate his example. Instead, he asks in 13:12b, γινώσκετε τί πεποίηκα ὑμῖν? Γινώσκειν here has the force of ‘to understand’–Jesus challenges the disciples to see whether they have understood what he did for them. Thus, the disciples must interpret Jesus’ original act in order to imitate him. This implies that mimesis cannot simply be a mindless replication of anothersʼ acts. Third, 13:14–15 contains Jesus’ ethical imperative and naturally requires a volitional act from the disciples–they must act in response to the imperative. Jesus explicitly states that he expects his followers to do for one another what he has done for them. Fourth, according to 13:17, understanding should result in doing as well as being. That is, obedience to Jesus’ mimetic imperative leads to a state of blessedness or happiness (μακάριος εἶναι). Thus, 13:4–17 shows a mimetic pattern or process that comprises four stages: showing→knowing→doing→being. I will now examine more closely the nature of mimesis in this episode. Jesus’ explicit mimetic imperative occurs in 13:14–15: εἰ οὖν ἐγὼ ἔνιψα ὑμῶν τοὺς πόδας ὁ κύριος καὶ ὁ διδάσκαλος, καὶ ὑμεῖς ὀφείλετε ἀλλήλων νίπτειν τοὺς πόδας· 15 ὑπόδειγμα γὰρ ἔδωκα ὑμῖν ἵνα καθὼς ἐγὼ ἐποίησα ὑμῖν καὶ ὑμεῖς ποιῆτε. 14 Therefore, if I, the Lord and Teacher, have washed your feet, you must also wash each other’s feet. 15 For I gave you an example in order that you also should do just as I did to you. 14

Both 13:14 (‘If I did this, you also ought to do this’) and 13:15b (‘just as I did, you also must do’) indicate the intended mimesis. In 13:14, the adverbial use of the second καί, the imperatival force of ὀφείλειν and the repetition of the verb νίπτειν create a mimetic imperative: ‘[if I have washed your feet], you must also wash one another’s feet.’ Then, the conjunction γάρ logically connects 13:15 with 13:14, and most likely functions as an explanatory conjunction (‘for, you see’; cf. 3:16; 4:8) rather than a causal conjunction (‘because’, ‘since’). John 13:15 can hardly provide the basis or grounds for the action in 13:14; rather, 13:15 builds on the information in 13:14, hence it is explanatory. The term ὑπόδειγμα (‘example, model, pattern’) occurs only in this one verse of John’s gospel and harks back to the footwashing as the visible example or model that Jesus presents for his disciples to imitate. The comparative conjunction καθώς in the protasis with the correlative καί in the apodosis denotes the mimesis.21 So, mimesis is indicated by the καθώς […] καί construction and ὑπόδειγμα refers to the footwashing as ‘showing’, that is, the visible example or model 21 Although WEYER-MENKHOFF notes the importance of καθώς in the Gospel of John, he has not recognized its full potential (Ethik [s. note 2], section 4.3). For him, καθώς ‘merely’ denotes analogy, whereas I contend that καθώς in John often expresses mimesis – a narrower form of analogy.

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for imitation. In 13:13–14, 16, Jesus provides the rationale for the mimetic imperative in 13:15. These verses contain a threefold argumentum a maiore ad minus for why the disciples cannot be exempt from imitating Jesus: what the person of higher status (Lord, Teacher, Sender) has done, the one of lower status (disciples, slaves, messengers) must also do. The scandal of the footwashing lies in the total reversal of status and role: ὁ κύριος καὶ ὁ διδάσκαλος acts as, and identifies with, δοῦλος. Allegiance to this δοῦλος– κύριος then demands that οἱ μαθηταί must be δοῦλοί to one another too. The implication is that the disciples’ mimesis involves participation in Jesus’ slave-identity.22 As we have seen, Jesus’ question in 13:12b injects a cognitive dimension into the concept of mimesis. This suggests that mimesis consists of two components: (i) the interpretation of the original act and (ii) the resulting mimetic act. For John, mimesis is a hermeneutic process where the disciple interprets Jesus’ original act in order to imitate it. Consequently, the imitator must understand the intent of the original act, and express this understanding in a corresponding mimetic act. This implies that the mimetic act need not and must not be limited to a replication of the original act but can be a creative expression of that act. Although I have no objection to the practice of washing someone’s feet as an expression of humble, loving service (to kneel before a person and perform a menial task has an effect on one’s attitude), it does not exhaust the scope of what Jesus meant. 23 The intention behind the footwashing in John 13 is that the disciples understand the concept (the need for humble, loving service to one another) and it results in a tangible expression that creatively but truthfully articulates this understanding.

5. To Love One Another Since Johannine scholarship has long assumed that Jesus’ love command in 13:34 (it is repeated in 15:12) is the only (explicit) ethic in the entire Johannine Corpus, publications on this subject abound.24 However, these studies all too often merely stress that believers must love one another but rarely address the means by which Jesus’ command can be practically expressed.

I contend that δοῦλος in 13:16 should be translated ‘slave’ rather than ‘servant’ (contra NRSV, ESV, NIV, NIB, etc.) (cf. 8:35; 15:15; in 12:26, διάκονος [‘servant’] is used). 23 THOMAS, Footwashing (s. note 19), 128–146, actually traces the literal practice of footwashing in early Christian communities, although on his own admission, it is unfortunate that the Johannine Epistles do not refer to such practice. 24 See R. ZIMMERMANN, Is there Ethics in the Gospel of John? Challenging an Outdated Consensus, in: van der Watt/Zimmermann (eds.), Rethinking the Ethics of John: (s. note 2), 47–48 n. 14. 22

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My question, then, is this: How can believers actualize Jesus’ ethical imperative ‘to love one another’? In answer to this, I would argue that, for John, believers can and should love one another through mimesis. Just as he did with the footwashing, Jesus gives the love command in private. Knowing that his departure from this world is imminent, Jesus retreats with his disciples to share a final meal and dispense his final teachings (John 13–17). After Judas leaves Jesus’ company (13:30), it seems appropriate for Jesus to give his last instructions, the first one being the love command. In 13:34, Jesus tells his disciples, ‘I give you a new commandment, that you love one another. Just as I have loved you, you also should love one another’ (ἐντολὴν καινὴν δίδωμι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀγαπᾶτε ἀλλήλους). The first ἵνα clause is epexegetical, explaining the content of the commandment: ‘I give you a new commandment, namely that you love one another’. The second ἵνα clause with the subjunctive has an imperative force, ‘you should/must love one another’. The comparative conjunction καθώς in the protasis with the correlative καί in the apodosis constitutes a mimetic construction ‘just as I loved you, you also should love one another’. Thus, while 13:34a provides the love commandment, 13:34b expands 13:34a with a mimetic imperative. The significance being that the love command is not given in a vacuum but is derived from a precedent. In other words, the disciples’ love for one another is based on their personal experience of Jesus’ love for them – as they have, for example, experienced in the footwashing (cf. Jesus’ love for his own εἰς τέλος in 13:1). Echoing the language of 13:15, we could say that Jesus’ love for his disciples is the ὑπόδειγμα (‘example’ or ‘pattern’) for their love for one another.25 But Jesus’ ὑπόδειγμα of love is more than just an object lesson or template for the disciples to follow. They have seen this love in action and experienced it for themselves which means that Jesus’ love is also what motivates and empowers them to do likewise.26 Mimesis thus springs from a personal relationship with Jesus where believers have observed and experienced his love for themselves, which, in turn, empowers them to love others.27 When we examined the footwashing episode, I showed that mimesis includes four stages (observing, understanding, doing, being), where Jesus shows what needs to be imitated, which must then be comprehended and expressed in a corresponding act by the imitator (disciple). The implication is that just as Jesus demonstrated his love to his disciples in a physical act of service, so the disciples’ love for one another must also be a physical action. Having observed and experienced Jesus’ love in action, the disciples must understand its nature and scope before they can imitate it. So, imitating Jesus’ 25

Virtually all scholars connect 13:34–35 with the footwashing event. Cf. DE BOER, Imitation of Paul (s. note 6), 56. 27 Cf. DE BOER, ibid., 57. 26

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example entails an act of love that is humble, limitless and self-giving. John 13:35 confirms that the mimetic act must be demonstrable or tangible, so as to be observable by outsiders. The visible expression of love demonstrates that the disciples truly belong to Jesus. While 15:12 simply repeats 13:34, the verses that follow are a significant expansion on the theme. In 15:13, Jesus tells his disciples that the supreme or ultimate expression of love is to give up (literally, ‘to lay down’) one’s life for one’s friends, that is, fellow believers.28 Through the use of θεῖναι τὴν ψυχὴν αὐτοῦ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ, Jesus builds a connection with 10:11, where he speaks of laying down his life for his sheep, and with 13:4, where he ‘lays down’ his outer garment (proleptic of laying down his life on the cross) in order to wash his disciples’ feet. Through this complex web of ideas, Jesus indicates that, at its heart, love is sacrificial and limitless – it may demand all.

6. Mimesis of Being The previous sections explored mimesis in which the believer might emulate Jesus through their actions. However, John’s gospel also contains examples of mimesis where the believer imitates Jesus in a particular state of being. In Jesus’ prayer for his disciples and future believers, recorded in 17:6–26, there are five occurrences of such mimesis: to be one (17:11, 22); not to be of the world (17:14, 16); to be sent (17:18); to be in (17:21); to be where Jesus is (17:24). To Be One. In 17:11 and 17:22, Jesus uses the near identical phrase ἵνα ὦσιν ἓν καθὼς ἡμεῖς ἕν (‘that they may be one just as we are one’) to specify the unity that he seeks among believers. The comparative conjunction καθώς indicates that the oneness or unity among believers is patterned on the oneness or unity of the Father and Son (cf. 10:30). While the expression εἶναι ἕν (‘to be one’) is primarily functional or relational language for the intimate relationship between the Father, Son, and believer, an ontological dimension in terms of a mystical union cannot be ruled out. ot to Be Of the World. In 17:14, 16, the identical phrase οὐκ εἰσὶν ἐκ τοῦ κόσμου καθὼς ἐγὼ οὐκ εἰμὶ ἐκ τοῦ κόσμου indicates that Jesus’ followers no longer have their origins in this world. Any person, by physical birth, belongs to the natural world or realm below, but a birth of God or the Spirit brings them into the world of God or realm above (1:13; 3:5). The preposition ἐκ frequently denotes origin in John’s gospel, where John’s dualistic scheme depicts a contrast between those who are ἐκ θεοῦ/πνεύματος (1:13; 3:5) and While 15:13 conceptually links love to friendship, syntactically the noun φίλος (‘friend’) is a derivative of the verb φιλεῖν (‘to love’). 28

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those who are ἐκ τοῦ κόσμου (8:23) or ἐκ τοῦ διαβόλου/πονηροῦ.29 Thus, believers ‘imitate’ or mirror Jesus’ existence, in that they are no longer ἐκ the world because they have become ἐκ God. To Be Sent. The καθώς […] καί construction in 17:18 (καθὼς ἐμὲ ἀπέστειλας εἰς τὸν κόσμον, κἀγὼ ἀπέστειλα αὐτοὺς εἰς τὸν κόσμον) indicates a ‘passive’ mimesis, in that Jesus’ sending of the disciples into the world ‘imitates’ God’s sending of Jesus into the world (cf. 20:21). To Be In. In 17:21a, Jesus prays for unity among all believers (ἵνα πάντες ἓν ὦσιν) – both present and future. In 17:21b, Jesus expands on this pithy phrase using a mimetic construction: just as the Father and Son indwell each other, so may all believers also indwell them (καθὼς σύ, πάτερ, ἐν ἐμοὶ κἀγὼ ἐν σοί, ἵνα καὶ αὐτοὶ ἐν ἡμῖν ὦσιν). The expression ‘person A being “in” person B’ indicates closeness of relationship rather than that person A exists or resides physically in person B. John 17:21–23 clarifies that ‘to be one’ and ‘to be in’ are synonymous existential concepts – to be ‘one’ with the Father and Son is to be ‘in’ them. This appears to be a kind of ‘passive’ mimesis in that the indwelling of believers by the Father and Son is patterned on and an extension of the intimate relationship between the Father and Son.30 To Be Where Jesus Is. In 17:24, Jesus expresses the desire that all future believers will also be where Jesus is (ὅπου εἰμὶ ἐγὼ κἀκεῖνοι ὦσιν μετ᾽ ἐμου). The word καί, here, does not function as a coordinating conjunction (‘and’) but as an adverb (‘also’). Since Jesus does not clarify, the reader will wonder what kind of location ὅπου refers to. A similar phrase that may shed light on this issue occurs in 14:3, ‘that where I am, they may also be’ (ἵνα ὅπου εἰμὶ ἐγὼ καὶ ὑμεῖς ἦτε). Usually, 14:2–3 is taken to mean an eschatological, heavenly abode where believers will be re-united with Jesus after death.31 In light of John’s realized eschatology, however, I contend that 14:2–3 refers to God’s dwelling on earth that Jesus makes ready for believers through his death and resurrection.32 Let me explain. The terms οἶκός and οἰκία can mean ‘house’ or ‘household’. While οἶκός (τοῦ πατρός μου) in 2:16 refers to God’s house, that is the temple, οἰκία in 8:35 refers to God’s household or family where ‘sons’/believers have a permanent place. In 14:2, οἰκία (τοῦ πατρός J.G. VAN DER WATT also notes the contrasts of origin – ‘the Jews’ are ἐκ the world/devil (8:23, 44) while Jesus and believers are ἐκ above/God (8:23, 42, 47). People’s origin determines their group affiliation and consequently their actions towards that group. Thus, a child acts according to his or her identity, which is established at birth (Family of the King: Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John, BIS 47, Leiden 2000, 192, 199–200). 30 The Spirit will also indwell the believer (14:17). In fact, the Father and Son will indwell the believer by means of the Spirit (14:23). 31 E.g., S.M. BRYAN, The Eschatological Temple in John 14, BBR 15 (2005), 187–198. 32 Cf. M.L. COLOE, Dwelling in the Household of God: Johannine Ecclesiology and Spirituality, Collegeville 2007, 108–112, 145–148. 29

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μου) probably also refers to God’s household/family rather than house/heaven. This idea is substantiated when we consider the term μονή (‘dwelling place’), which occurs in John’s gospel only in 14:2 and in 14:23. In the latter verse, Jesus promises that he and the Father will make their μονή with believers, and this divine indwelling most likely occurs by means of the coming Spirit (14:16–17). In which case, Jesus’ enigmatic saying in 14:3 that he is leaving to prepare a place for his followers and will return to take them with him is probably a reference to the cross and resurrection. At the cross, Jesus prepares a permanent place for his followers, and therefore, after the resurrection, he can call them, for the first time, ‘brothers’ (20:17) and give them the Spirit to seal their family membership (20:22).33 In sum, the mimetic claim that believers will be in the same place where Jesus is, most likely refers to their being part of God’s family. Just as Jesus is part of God’s household, so believers will also reside in that household.

7. Conclusion The recent volume edited by Jan van der Watt and Ruben Zimmermann has shown the presence of ethics in John’s Gospel. This inaugurates a new era in Johannine scholarship which allows for new exploration of Johannine ethics. In this essay, I have made a modest attempt to examine mimetic ethics in the Gospel of John. We have seen that while there are sometimes only traces of mimesis, at other times the concept is quite clear. I suspect that the longstanding hesitation or resistance to Johannine ethics has prevented scholars from recognizing the pervasive theme of mimetic ethics in John’s gospel. With the recent rediscovery of ethics in the Johannine corpus, however, this can no longer be an excuse. It appears that the concept of mimesis is like a silken skein woven through the tapestry of the Johannine text. In a forthcoming study (s. note 4), I will seek (i) to define more clearly the contours of the Johannine concept of mimesis; (ii) to determine whether mimesis is central or peripheral to Johannine ethics; and (iii) to explore who or what empowers such mimesis.

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Cf. C. BENNEMA, The Giving of the Spirit in John 19–20: Another Round, in: I.H. Marshall/V. Rabens/C. Bennema (eds.), The Spirit and Christ in the New Testament and Christian Theology: Essays in Honor of Max Turner, Grand Rapids 2012, 86–104.

Mimetische Ethik im Philipperbrief Zu Form und Funktion paulinischer exempla∗ Eve-Marie Becker 1. Mimetik, imitatio und exemplum: Einführende Überlegungen zu einem komplexen Wirkzusammenhang Mimetische Ethik liegt vor, wo Nachahmung (paränetisch) eingefordert und Vorbilder (rhetorisch oder narrativ) vorgestellt werden. Das Nachzuahmende muss plausibel gemacht werden. Die Form der Erzählung ist hierfür besonders geeignet. Damit stehen die paränetisch formulierte Aufforderung zur μίμησις oder imitatio einerseits und das erzählte exemplum andererseits in einem konstitutiven Wirkzusammenhang. Ein solcher begegnet auch im Philipperbrief (Phil). In diesem Beitrag versuche ich zu zeigen, wie Paulus in seinem wohl letzten Schreiben an seine ‚Lieblingsgemeinde‘ die Aufforderung zur Nachahmung mit exemplarischer Rede verknüpft und damit in vielschichtiger Form mimetische Ethik konstruiert – dabei steht das Christusexemplum in Phil 2 im Zentrum meiner Überlegungen. Bevor wir den Wirkzusammenhang von Mimetik und exemplum bei Paulus besonders in literarischer Hinsicht1 näher betrachten, sollten einige grundlegende Überlegungen dazu vorangestellt werden, wie wir uns mit diesem Problemfeld auch in theoretischer Hinsicht am Schnittpunkt antiker Philosophie und Ethik, Literaturtheorie und Rhetorik bewegen. ∗ Der folgende Beitrag geht auf den Vortrag zurück, den ich beim 7. „Mainz Moral Meeting“ am 23.1.2013 in Mainz gehalten habe – ich danke Blossom Stefaniw für die freundliche Einladung. Einige Grundthesen dieses Beitrags habe ich zuvor bereits beim KEK-Autorentreffen am 31.7.2012 in Leuven vorstellen können – Dietrich-Alex Koch sei für die Organisation gedankt. 1 Dieser Beitrag greift das Phänomen der Mimesis vorwiegend in literaturgeschichtlicher Hinsicht auf – anders, als etwa Hans Dieter Betz sich seinerzeit zwar der Mimesis auch philosophisch genähert, dabei aber seinen Ausgangspunkt in der religionswissenschaftlichen Vorstellungswelt gewählt hatte: Vgl. H.D. BETZ, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament, BHTh 37, Tübingen 1967. Zu religionsgeschichtlichen Überlegungen zu Phil 2 im Kontext vgl. zuletzt auch E.-M. BECKER, Paulus in Philippi. Ethik und Theologie, ARG 15 (2014), 201–222.

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In der antiken Welt begegnen die Phänomene der Mimetik und der exemplarischen Rede zunächst in literarischer und – hierbei besonders – in narrativer Form2. Sie weisen eine philosophische und eine ethische Dimension auf. Die enge Verknüpfung von Philosophie, Ethik und Literaturtheorie zeigt sich auch im frühen Christentum (z.B. Tatian).3 Sie wird aber bereits besonders deutlich bei Platon und Aristoteles reflektiert – darauf komme ich gleich zurück. Doch auch im römischen Diskurs, wo eine zunehmende Fokussierung auf Literaturtheorie und Rhetorik zu beobachten ist, spielen philosophische und ethische Fragen eine Rolle.4 Gian Biagio Conte zeigt auf, wie Mimetik oder vielmehr imitatio vor allem durch ihre Verwendung in der Rhetorik bestimmt sind und dann als Elemente des literarischen Wettstreitens in der Literaturgeschichte eine Eigendynamik entwickeln: „Although Plato (Resp. 10) and Aristotle (Poet.) often apply μίμησις philosophically to the semantic relation by which language or art represent their objects, the more widespread ancient usage of the term is rhetorical, to designate a later writer’s relation of acknowledged dependence upon an earlier one“.5 Es scheint allerdings, dass diese spezifische kompetitive Bedeutung der Mimetik mit einer latenten Bedeutungsverschiebung in Zusammenhang steht, die sich begriffs- und kulturgeschichtlich bei der Übertragung von μίμησις zu imitatio ergibt. Sie weist auf die insgesamt stark literaturgeschichtlich geprägte römische Rezeption dieses Vorstellungsbereichs hin: imitatio dient im weitesten Sinne der aemulatio (Arno Reiff).6 Und in der Tat sehen sich die Römer ja besonders im literarisch-imitierenden Wettstreit mit der griechischhellenistischen Vorgänger-Kultur (z.B. Quintilian; vgl. aber auch Plutarch), die sich in einem vielfältigen Schulbetrieb spiegelt und auf die griechische Kultur und Intellektualität zurückwirkt (vgl. dazu Ciceros mögliche Wirkung

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Vgl. insgesamt grundlegend: H.R. JAUSS (Hg.), Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen, Poetik und Hermeneutik I, München2 1969. Vgl. auch verschiedene Beiträge in: B. ALAND/J. HAHN/CHR. RONNING (Hgg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, STAC 16, Tübingen 2003. 3 In der oratio ad Graecos ist von μίμησις sowohl im Bereich von Literatur und Philosophie als auch von Theologie und Ethik die Rede (1,2; 3,5; 5,6; 7,1; 25,2) – vgl. dazu die Ausgabe von J. TRELENBERG, Oratio ad Graecos. Rede an die Griechen, BHTh 165, Tübingen 2012. 4 Vgl. z.B.: R. LANGLANDS, Roman Exempla and Situation Ethics. Valerius Maximus and Cicero de Officiis, JRS 101 (2011), 100–122; M.B. ROLLER, Exemplarity in Roman Culture. The Cases of Horatius Cocles and Cloelia, CP 99 (2004), 1–56. 5 G.B. CONTE/G.W. MOST, Art. imitatio/μίμησις, OCD3rev. (2003), 749. 6 Vgl. A. REIFF, interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern, Diss. Köln 1959.

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auf Dionysius von Halicarnass)7: „[…] the cultural interaction of Greeks and Romans was probably not a one-way track“. 8 Günter Figal hält indes daran fest, die Mimetik in ihrem engen Zusammenhang von philosophischem und literarischem Diskurs, wie er seit Platon im Begriff der μίμησις impliziert ist, zu betrachten: In Politeia 3 werden „zwei Möglichkeiten dichterischen Sprechens unterschieden: Entweder spricht der Dichter selbst und will auch nicht den Eindruck erwecken, es spräche jemand anders; das wird ‚einfache Erzählung‘ genannt. Oder der Dichter versucht, sich jemandem gleichzumachen, um den Eindruck zu erwecken, dieser selbst sei in der Rede anwesend; das ist M(imesis), so dass diese als Darstellung durch Nachahmung bestimmt werden kann“. 9 In rep. 393ff. allerdings wird diese Bestimmung im Blick auf die Präsentation von Drama oder Epos so erweitert, dass sich das Verhältnis von Nachahmung und Darstellung geradezu umkehrt: „Der Schauspieler und der Vortragende gleichen sich der Darstellung an, um sie ihrerseits darzustellen“.10 Diese Überlegungen Platons dienen letztlich im weitesten Sinne der Diskussion, wie weit die Philosophie in angemessener Form mit sprachlichen Mitteln die zu erkennende Sache erfassen kann – so gesehen wird dann „die Philos(ophie) M(imesis)“. 11 Nachahmung also wird mit sprachlichen bzw. literarischen Mitteln erzeugt – sie hat nicht zuletzt aber eine philosophische und ethische Funktion und erschöpft sich damit nicht in Mitteln literarischer Darstellung.12 Für die Frage nach der Konstruktion mimetischer Ethik bleibt wichtig, dass von Platon bis Quintilian das Verhältnis von Vorbild und Nachahmung wesentliche literaturtheoretische und rhetorische Aspekte mit einbezieht, darin aber nicht aufgeht. Der Blick auf Paulus und den Phil wird diese Annahme bestätigen (s. 2.). Zuvor aber werde ich das Augenmerk noch kurz auf einen Bereich antiker Literatur lenken, in dem der Wirkzusammenhang von Mimetik und exemplarischer Sprache besonders deutlich hervortritt: die Historiographie. Gerade die antike Geschichtsschreibung bietet nämlich eine Fülle von Beispielen für die polyfunktionale Verwendung und Bedeutung von exempla.13 7 Vgl. T. HIDBER, Impacts of Writing in Rome. Greek Authors and Their Roman Environment in the First Century BCE, in: T.A. Schmitz/N. Wiater (Hgg.), The Struggle for Identity. Greeks and their Past in the First Century BCE, Stuttgart 2011, 115–123, 119ff. 8 T.A. SCHMITZ/N. WIATER, Introduction: Approaching Greek Identity, in: dies. (Hgg.), The Struggle for Identity (s. Anm. 7), 15–45, 28. 9 G. FIGAL, Art. Mimesis, RGG4 5 (2002), 1240–1242, 1240f. 10 FIGAL, a.a.O., 1241. 11 FIGAL, ebd. 12 Zum Zusammenhang von ‚Erzählen‘ und ‚Behaupten‘ vgl. zuletzt auch: M. HAMPE, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, Frankfurt 2014, bes. 11–28. 13 Zu den Wurzeln der „Roman exemplarity“: E. O’GORMAN, Repetition and exemplarity in historical thought. Ancient Rome and the ghosts of modernity, in: A. Lianeri (Hg.),

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In der Historiographie werden exempla sowohl rhetorisch als auch narrativ zum Einsatz gebracht: So werden exemplarische Formen in den Reden der Geschichtsschreibung im Sinne von Rhetorik adaptiert und weiterentwickelt,14 zugleich präsentiert und produziert die Geschichtsschreibung eine Fülle von exempla im narrativen Zusammenhang.15 Im Ergebnis kommt es insgesamt zu einer exemplarischen Form der Geschichtsbetrachtung, die weitreichende ethische, aber auch ‚philosophische‘ Implikationen hat: Der Historiograph inszeniert und definiert ‚Vorbilder‘, die bestimmte ethische Werte repräsentieren und als Repräsentanten ebendieser Werte zugleich auch narrative Autorisierung erfahren:16 „Knowledge of history consists of know-

The Western Time of Ancient History. Historiographical Encounters with the Greek and Roman Pasts, Cambridge 2011, 264–279, 271ff.: „one of the most frequently cited cultural practices which encourages exemplarity for the ancient Romans is the funeral procession…“ (271). Die Verwendung exemplarischer Formen in der Historiographie reicht bis zu Ammianus Marcellinus, vgl. G. KELLY, Ammianus Marcellinus. The Allusive Historian, Cambridge Classical Studies, Cambridge 2008, 256–295. 14 Exempla oder παραδείγματα begegnen bereits in den ältesten Werken griechischer Literatur und Geschichtsschreibung in Prosa-Form – hier gerne im Redenzusammenhang (z.B. Hom.Il. 9,529–605; 24,602–620; Herodot, 1,30–31; 1,207; 5,92–93); Referenzen, in: J. MARINCOLA, The Rhetoric of History. Allusion, Intertextuality, and Exemplarity in Historiographical Speeches, in: D. Pausch (Hg.), Stimmen der Geschichte. Funktionen von Reden in der antiken Historiographie, BzA 284, Berlin/New York 2010, 259–289, 266. Sie bleiben fortan ein literarisches Mittel bei der Gestaltung von Geschichtsschreibung, wie Livius bereits zu Beginn seines Werkes programmatisch deutlich macht (praef. 10), vgl. dazu J.D. CHAPLIN, Livy’s Exemplary History, Oxford 2000, 1ff. John Marincola hat zuletzt gezeigt, dass das „historical exemplum“ letztlich in der Rhetorik (vor allem: epideiktisch und deliberativ) beheimatet ist (vgl. auch Quint.inst. III 8,66), a.a.O., 267. Speziell im historiographischen Zusammenhang ist das exemplum weniger an seiner historischen Genauigkeit zu bemessen, es hat vielmehr eine konstruktive hermeneutische Funktion: „when a speaker brings forward an exemplum, he is, in a very important sense, interpreting a historical event as meaning something“, MARINCOLA, a.a.O., 267, mit Kritik an verschiedenen Arbeiten zum exemplum, wie: S. PERLMAN, The Historical Example. Its Use and Importance as Political Propaganda in the Attic Orators, SH 7 (1961), 150–166; F. POWNALL, Lessons from the Past. The Moral Use of History in Fourth-Century Prose, Ann Arbor 2004. 15 Vgl. zuletzt z.B.: A. MEHL, How the Romans Remembered, Recorded, Thought About, and Used Their Past, in: K.A. Raaflaub (Hg.), Thinking, Recording, and Writing History in the Ancient World, Malden 2014, 256–275, 263ff. 16 Zu Personen als exempla in der Konstruktion römischer memoria vgl.: U. WALTER, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Frankfurt 2004, 51ff. und 374ff. Historische exempla sind gerade außerhalb des philosophischen Diskurses „narrative Explikationen gesamtgesellschaftlich verbindlicher moralischer Normen und Wertvorstellungen, oder […]: in der Zeit verwirklichte und in einer bestimmten Form tradierte Modelle idealen Verhaltens“ (51). Exempla-Handlungen sind nahezu mit der Norm identisch, „weil sich etwa pietas oder fortitudo nicht anders als in konkreten from-

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ledge of exempla, and successful characters imitate the good and avoid the bad. Wickedness or ineffectiveness is associated with ignorance of the exempla adduced by the narrator“.17 Das Konzept einer ‚exemplary history‘ hat daher eine erkennbare didaktische Funktion (vgl. z.B. Liv.praef. 9–10).18 Zugleich führt die exemplarische Form der Geschichtsbetrachtung zu einer spezifischen Wahrnehmung von Zeit und Geschichte: Der exemplarische Zugriff auf Geschichte bringt zum einen eine Fragmentierung von Zeit und Geschichte mit sich,19 zum anderen kann exemplarische Erzählung dazu verhelfen, angesichts der menschlichen Erfahrung von geschichtlicher Kontingenz Stabilität und Kontinuität zu vermitteln.20 Exemplarische Sprache und Erzählung sind damit ein wichtiges Element von antiker Zeit- und Weltdeutung. Hierbei übersteigt die Form des exemplum letztlich den direkten Wirkzusammenhang der mimetischen Ethik.

2. Strukturen mimetischer Ethik im Philipperbrief Auch die Konstruktion mimetischer Ethik im Phil geschieht mit Hilfe von sprachlichen und literarisch–rhetorischen Mitteln, lässt sich aber nicht allein auf der sprachlich-literarischen Ebene, sondern erst dann recht erfassen, wenn men bzw. tapferen Handlungen bestimmen ließen“ (51). Exempla sind zugleich „Traditionsmedium geschichtlichen ‚Wissens‘ und Methode geschichtlicher Sinnbildung“ (53). 17 KELLY, Ammianus Marcellinus (s. Anm. 13), 294f. 18 Vgl. K. RAAFLAUB, Ulterior Motives in Ancient Historiography: What exactly, and why?, in: L. Foxhall/H.J. Gehrke/N. Luraghi (Hgg.), Intentional History. Spinning Time in Ancient Greece, Stuttgart 2010, 189–210, 203f. 19 Vgl. D. MENDELS, How Was Antiquity Treated in Societies with a Hellenistic Heritage? And Why Did the Rabbis Avoid Writing History?, in: G. Gardner/K.L. Osterloh (Hgg.), Antiquity in Antiquity. Jewish and Christian Pasts in the Greco-Roman World, TSAJ 123, Tübingen 2008, 131–151: Ein exemplum trägt zur Fragmentierung der Geschichte bei, 142f. 20 The „different attitudes to exempla alert us to different temporalities in the first Greek historians and modern historiography. Exempla and traditions have not disappeared, but the modern master narratives, first of progress, then of development, undermine notions of regularity and continuity. In classical Greece, on the other hand, developmental schemes were not unknown, but exemplary and traditional approaches to the past were more influential. […] In ancient Greece, chances or forces beyond man’s control are very prominent. Various genres […] emphasise the fragility of human life. The arbitrariness of chance impedes the construction of developments. At the same time, exempla and traditions are the attempt to create the stability that is necessary for action by balancing chance through regularity and continuity“, J. GRETHLEIN, Historia magistra vitae in Herodotus and Thucydides? The exemplary use of the past and ancient and modern temporalities, in: A. Lianeri (Hg.), The Western Time of Ancient History. Historiographical Encounters with the Greek and Roman Pasts, Cambridge 2011, 247–263, 262; vgl. auch DERS., The Greeks and Their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE, Cambridge 2010.

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wir sehen, wie sie zuletzt theologische und ethische Propositionalgehalte generiert. In Abwandlung von Figals Diktum über die Philosophie als Mimesis bei Platon ließe sich also sagen: im Phil wird schließlich die paulinische Theologie und Ethik Mimesis. Dass im Medium des paulinischen Briefeschreibens sprachliche, literarische und rhetorische Mittel nicht allein ihrer selbst wegen zum Einsatz kommen, sondern immer wieder zu theologischer und ethischer Argumentation mutieren, wird zuletzt auch literaturgeschichtlich relevant: dann nämlich, wenn wir die paulinische Epistolographie als solche am besten in ihrer Nähe zu den Philosophenbriefen sehen und verstehen.21 Wie aber konstruiert Paulus im Phil das, was ich als ‚mimetische Ethik‘ bezeichnen möchte? Ich meine, dass wir gleichsam drei ineinandergreifende Ebenen unterscheiden können, die zu einer solchen Konstruktion von mimetischer Ethik beitragen: (a) die semantisch-lexematische Ebene, auf der Nachahmung begrifflich explizit gemacht und paränetisch eingefordert wird; (b) die Ebene der literarisch-rhetorischen Komposition (comparabilia), auf der den Adressaten des brieflichen Schreibens eine bestimmte Auswahl an nachzuahmenden Vorbildern vorgestellt werden; (c) die Ebene der Anreicherung der briefeschreibenden Argumentation mit theologischem Propositionalgehalt, der die paränetische Sprache der Nachahmung von Vorbildern letztlich zu theologisch reflektierter Ethik transformiert. Im Einzelnen: (a) Im Phil begegnet – so wie in einigen anderen Paulusbriefen – der Stamm μιμͲ in einem konkreten paränetischen Zusammenhang: συμμιμηταί μου Phil 3,17 (ein Hapaxlegomenon im NT – seinerseits ‚imitiert‘ in Eph 5,1 [γίνεσθε οὖν μιμηταὶ τοῦ θεοῦ], s. aber: 1Kor 4,16; 11,1; 1Thess 1,6; 2,14).22 Damit ist bereits semantisch dokumentiert, dass wir im zeitlich wohl letzten Brief des Paulus durchaus explizite Elemente von mimetischer Paränese und Ethik finden können. So formuliert Paulus in Phil 3,17 so wie auch in 4,9 und ähnlich in 1,30 die deutliche Aufforderung zur mimetischen Orientierung der Gemeinde an seiner Person. Paulus selbst generiert sich so als nachzuahmendes exemplum. (b) Zugleich aber komponiert Paulus seine briefliche Argumentation mit Hilfe von verschiedenen literarisch-rhetorischen Figuren (figurae sententiae, vgl.: Heinrich Lausberg, § 363)23 wie Personifikation (prosopopoeia) und 21 Vgl. M. HOSE, Kleine griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Ende der Antike, München 1999, bes. 212f. 22 Vgl. zur Exegese des Verses bereits BETZ, Nachfolge (s. Anm. 1), 151f.: „Die Aufforderung in V. 17 […] richtet sich in erster Linie an die πολλοί von V. 18ff.: sie sollen ihren Wandel nach den οὕτω περιπατοῦντες ausrichten und mit ihnen zusammen die μιμηταί des Paulus bilden“. 23 Vgl. H. LAUSBERG, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, Ismaning 10 1990.

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paradigmatischer Sprache (exemplum) und sucht im Ergebnis, mit dem Phil rhetorisch wie epistolographisch eine conformatio (Rhet. ad Her. 4,66) zu erreichen: „Eine Verkörperung liegt vor, wenn eine nicht anwesende Person vorgespielt wird, als sei sie anwesend…“ (… conformatio est, cum aliqua, quae non adest, persona confingitur, quasi adsit: Rhet. ad Her. 4,66).24 Freilich stellen sich hier die Fragen: Wer soll ‚verkörpert‘ werden? Und welcher exempla bedient sich Paulus hierbei? Paulus zielt faktisch im Phil auf eine conformatio seiner selbst: Er verweist mehrfach (s. auch Phil 4,9) explizit auf sich selbst als Vorbild (τύπος), das die Philipper nachahmen sollen (s.o.). Die Verkörperung seiner selbst ist nötig, da Paulus nicht nur nicht in Philippi anwesend sein kann, sondern sich in Gefangenschaft befindet (vermutlich Caesarea oder Rom; vgl. 1,7.13 u.ö.) und damit in grundsätzlicher Weise an einer Reise nach Philippi gehindert ist. In dieser Situation als gefangener Apostel, die mit einer starken Christus- bzw. Todessehnsucht einhergeht, treibt ihn zugleich in besonderer Weise die Fürsorge für seine Gemeinde in Nordgriechenland um (s. Phil 1,12ff.).25 Die conformatio seiner selbst dient der paulinischen Repräsentation der Person in Philippi. Sie hat eine ethische Zielsetzung: In Abgrenzung von möglichen Feinden und Gegnern und im Blick auf das Vorbild des Paulus erschließt sich in der Verkörperung des Paulus ‚rechtes‘ und ‚falschesʻ περιπατεῖν (Phil 3,17f.). Die mimetische Orientierung an Paulus dient also zuletzt der ethischen Gestaltung des Lebenswandels der in Philippi in Christus Jesus versammelten ‚Heiligen‘ (Phil 1,1). Die mimetische Ethik im Phil ist dabei an die epistolographisch vermittelte und rhetorisch gestaltete conformatio der paulinischen Person gebunden. Mimetische Ethik wird demnach einerseits durch die Aufforderung zur achahmung konstruiert, andererseits durch die Schaffung von Vorbildern, exempla oder Typen, durch welche letztlich bestimmte virtutes personifiziert greifbar werden, zur Nachahmung vorgeschlagen. Die Repräsentation der eigenen Person des Paulus in Philippi (conformatio) dient der Durchsetzung der mimetischen Ethik: Unter Hinweis auf die Präsenz seiner eigenen Person versucht Paulus, die vorgestellten exempla und die paränetische Aufforderung zur Nachahmung der in diesen exempla personifizierten Wertvorstellungen autoritativ zu verknüpfen. (c) Welcher exempla aber bedient Paulus sich, um eine solche conformatio literarisch fiktiv zu inszenieren? Und wie reichert Paulus die Abschnitte exemplarischer Argumentation mit theologischem Propositionalgehalt an? 24

Übersetzung nach T. NÜSSLEIN, Rhetorica ad Herennium, Düsseldorf/Zürich 21998,

311. 25

Vgl. dazu zuletzt: E.-M. BECKER, Die Person als Paradigma politisch-ethischen Handelns. Kriton 50a und Phil 1,23f. im Vergleich, in: P.-G. Klumbies/D.S. du Toit (Hgg.), Paulus – Werk und Wirkung (FS A. Lindemann), Tübingen 2013, 129–148.

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Paulus konstruiert – über die literarische Inszenierung seiner eigenen Person hinaus (Phil 1,3–26; 3,3–17; 4,8–9; 4,10–20), die besonders in Phil 1 erläutern soll, wie die προκοπή des Evangeliums und des Glaubens (Phil 1,12.25) vorzustellen ist – insgesamt drei Typen von personalen exempla: Christus (2,6–11), Timotheus und Epaphroditus (Phil 2,19–24; 2,25–30). Speziell mit Hilfe dieser exempla legt Paulus dar, was er zu sagen beabsichtigt (Rhet. ad Her. 4,3,5: exemplo demonstratur id, quod dicimus, cuismodi sit […]): das Christus-exemplum expliziert ταπεινοφροσύνη (Phil 2,3; s.u.); Timotheus verkörpert Bewährung und Fürsorgekraft (Phil 2,20.22); Epaphroditus die Sehnsucht nach den Philippern und den grenzenlosen Einsatz für Christus (Phil 2,26.30). Die beiden letztgenannten Personen sind wiederum zugleich ein exemplum für Paulus selbst (τὰ περὶ ὑμῶν, das V. 19 und 20 verknüpft) – sie sollen nämlich als Gesandte des Paulus (2,19.25) seine mangelnde Präsenz in Philippi kompensieren. In allen genannten Zusammenhängen begegnet theologische Sprache, die den exempla einen theologisch-reflektierenden Propositionalgehalt verleiht: Phil 2,21f.; 2,27. Mit der Wahl der theologisch gedeuteten und so autorisierten exempla im Phil trägt Paulus dazu bei, dass Personen selbst – und eben nicht nur res gestae – zu exempla virtutis werden können. Ich werde diese Überlegungen zur dreidimensional gestalteten paulinischen Konstruktion mimetischer Ethik nun durch die Analyse des sog. Christus-exemplum in Phil 2 vertiefen.

3. Phil 2,6–11 als exemplum Phil 2,6–11 fungiert als narrativ gestaltetes exemplum, das die materia der ταπεινοφροσύνη expliziert. Zugleich liegt hier ein sprachlich verdichteter Text vor, mit Hilfe dessen Paulus vom genus humile zum genus medium wechselt, um im stärkeren Maße den Affekt des ethos zu erreichen.26 Irene Oppermann betont in ähnlicher Weise, dass die Gestaltung der brieflichen exempla, wie sie sich in den Briefen des Cicero finden, in Hinsicht auf Ausführlichkeit und Ausschmückung vor allem von deren Funktion im brieflichen Kontext abhängig ist: „Es lässt sich die Tendenz ablesen, dass ein exemplum desto ausführlicher dargeboten und desto mehr ausgeschmückt wird, je mehr Überzeugungsarbeit mit ihm geleistet werden soll“.27 Grundlegend definiert Oppermann ein exemplum wie folgt: „Als exemplum soll […] die Erwähnung von realen oder als real betrachteten Personen oder Ereignissen angesehen werden, die deutlich nicht selbst Gegenstand der Erörterung, 26

Vgl. LAUSBERG, Elemente (s. Anm. 23), 154. Vgl. I. OPPERMANN, Zur Funktion historischer Beispiele in Ciceros Briefen, BzA 138, München/Leipzig 2000, 295. 27

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sondern von außen neben das Thema gestellt sind, und für die gilt: Sie müssen für die primären Kommunikationspartner eindeutig identifizierbar sein, über ein gewisses Maß an Bedeutung (auctoritas, casus) verfügen und die mit ihnen (explizit oder implizit durch die Nennung der Personen) zum Vergleich herangezogenen konkreten Vorgänge müssen mindestens bereits abgeschlossen sein“.28

Die Definition Oppermanns lässt sich sinnvoll auf Phil 2,6–11 übertragen: Mit Jesus Christus nimmt Paulus Bezug auf eine reale Person, die nicht selbst Gegenstand der Argumentation ist, die den Kommunikationspartnern bekannt ist und auctoritas genießt und deren exemplarisch benanntes Handeln in der Vergangenheit liegt. Oppermann bietet zudem eine Differenzierung hinsichtlich des genauen epistolographischen Gebrauchs der exempla in den CiceroBriefen: Sie unterscheidet hier im Wesentlichen zwischen der Funktion der Illustration, des Beweises und der „Hilfe bei der Bewältigung der Zukunft“. 29 Aus Gründen des Trostes habe Cicero keine historischen exempla verwendet.30 Folgen wir dieser Differenzierung, so könnte das Christus-exemplum in Phil 2 in der Tat dem Bereich der Illustration zugewiesen werden: Es dient hier teils der „Aufdeckung des wahren Charakters“ Christi, teils aber auch der „Ermahnung“.31 Bevor wir auf weitere Aspekte zur Funktion der exempla zurückkommen, zunächst noch einige Beobachtungen zur Textanalyse.32 Der gedanklich leitende Imperativ (propositio?) begegnet in Phil 2,2, nämlich die Aufforderung zum τὸ αὐτὸ φρονῆτε etc. In semantischer Hinsicht werden in 2,1–4 Formen vom Stamm φρον- leitend (φρονεῖν, ταπεινοφροσύνη, schon: 1,7). Sie bilden den rahmenden Propositionalgehalt der Argumentation in 2,1–11 und treten an die Stelle der προκοπή des Evangeliums und des Glaubens, die weithin die materia der Argumentation in Kap. 1 semantisch bestimmt hatte. 28

OPPERMANN, a.a.O., 19. OPPERMANN, a.a.O., 32ff. (Zitat: 170). Bei der „Illustration“ (32ff.) lässt sich ferner zwischen der „Beschreibung literarischer Werke und Personen“ (32ff.), der „Aufdeckung des wahren Charakters einer Handlungsweise oder Funktion“ (38ff.), der „Bewertung“ (Lob und Kritik, 46ff.) und der „Charakterisierung“ (Scherz, Spott, Ironie, 70ff.), die sich besonders in freundschaftlichen Briefen findet (vgl. 294), unterscheiden. Dienen exempla der „Bewältigung der Zukunft“ (170ff.), so kann dies in Form von „Prognose“ (171ff.), „Bekräftigung einer Entscheidung“ (192ff.) oder „Ermahnung“ (203ff.) geschehen. 30 Vgl. OPPERMANN, a.a.O., 293. – Falls diese Beobachtung auf die Paulusbriefe, so auch auf den Phil, übertragen werden könnte, müsste die These, der Phil diene der consolatio (P.A. HALLOWAY, Consolation in Philippians. Philosophical Sources and Rhetorical Strategy, SNTS.MS 112, Cambridge 2001), kritisch diskutiert werden. 31 Beispiele in der ciceronischen Korrespondenz hierfür wären: ep.fam. 1,9; ep.Quint. 1,1, vgl. OPPERMANN, Funktion (s. Anm. 27), 38f. und 203f. – Zum paränetischen Charakter von Phil 2 vgl. zuletzt auch: H. WOJTKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012. 32 Vgl. dazu bereits ausführlicher: BECKER, Paulus in Philippi (s. Anm. 1), 211ff. 29

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In propositionaler Hinsicht legt Paulus in 2,6–11 also dar, was mit φρονεῖτε […] ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (V. 5) faktisch gemeint ist, nämlich die Bestimmung eines sozialen Verhaltens, das auf der Konzentration auf die personale Verantwortung für ταπεινοφροσύνη beruht. Phil 2,5 leitet von der Mahnung des τὸ αὐτὸ φρονῆτε (2,2) nun zum Christus-Paradigma (2,6–11) über. Die Paradigmatik Christi liegt de facto im Statusverzicht, d.h.: im Gottgleich-Sein (V. 6) und in der gleichzeitigen Selbstverleugnung und Erniedrigung Christi (V. 7–8). Christus werden κύριος-Würde und Ehre zuteil, weil (kausaler Zusammenhang, διό: V. 9) Christus auf seinen Status verzichtete, sich selbst erniedrigte und bis zum Kreuzestod Gehorsam übte (V. 8). Phil 2,6–11 exemplifiziert und konkretisiert also die in V. 5 formulierte Forderung nach personaler Eigenverantwortlichkeit der Philipper, deren Bemessungsgrad Paulus mit dem ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ soziativ und räumlich benennt.33 V. 5 schlägt semantisch eine Brücke zu 1,26 (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ), so dass sich zwischen dem ChristusParadigma und der vorhergehenden autobiographischen Selbstinszenierung des Paulus in Kap. 1 erkennbar eine Parallelstruktur herleiten lässt. Wir können in Phil 2,6ff. also – und das ist mein Vorschlag zur formalen Textanalyse, mit dem ich von der weithin seit Klaus Berger geläufigen Deutung des Textes als encomium abweiche34 – von einem exemplum sprechen. Auf die literarischen und hermeneutischen Implikationen dieser Textform

33

Die Dativ-Konstruktionen in V. 5 haben demnach nicht nur eine soziative, sondern auch eine lokative Komponente: Paulus beschreibt hier also gleichsam die gemeindlichen Gesinnungs- und Handlungs-Räume, die sich am ἐν Χριστῷ zu orientieren haben. 34 In der Forschung wird Phil 2,6–11 weithin gerne als Enkomium (encomion) gedeutet, so z.B. J. REUMANN, Philippians. A New Translation With Introduction and Commentary, AncB 33B, New Haven/London 2008, 333, 339, 361f. und 364. Zur Diskussion vgl. auch: S. VOLLENWEIDER, Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 56 (2010), 208–231. Wie schon angedeutet, wurde und wird dieser Textabschnitt von einer Mehrzahl von Exegeten seit Klaus Berger gerne als encomion, also als Loblied auf die Taten einer menschlichen Person, verstanden, vgl. K. BERGER, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW 2.25.2 (1984), 1031– 1432. Ralph Brucker schlägt leicht modifiziert die Bezeichnung ἔπαινος als epideiktische Redeform vor, bei der „die Größe der ἀρετή, nicht die Summe der ἔργα“ im Mittelpunkt steht: R. BRUCKER, ‚Christushymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt, FRLANT 176, Göttingen 1997, 319 – mit Hinweis auf z.B. Arist.rhet. I 9,33f. Das encomion lässt sich damit faktisch von seinem Kontext abgrenzen und isoliert betrachten. Es unterscheidet sich in seinem Bezug auf menschliche Personen vom Hymnus, so etwa U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 148. Zugleich steht es – wie wir schon bei Polybius sehen können (10,21,8) – in der Nähe zur biographischen Literatur (ἐγκωμιαστικός): Ein Enkomion verlangt „a summary and somewhat exaggerated account“ of the individual’s achievements: Übersetzung nach Polybius, The Histories. With an English Translation by W.R. PATON: In Six Volumes. IV, LCL, London/New York 1925, 15.

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werde ich nachher noch einmal kurz zu sprechen kommen. Zuvor aber frage ich: Fungiert der verdichtete Text in 2,6–11 eher als exemplum oder als typus? Heinrich Lausberg bietet nämlich folgende Definition des exemplum (vgl. § 404–406) an, die es durchaus in eine kontrastive Nähe zum typus stellt: „Das exemplum (παράδειγμα) […] besteht in einer historisch (oder mythologisch oder literarisch) fixierten Tatsache, die mit dem eigentlichen Gedanken in Vergleich gesetzt wird. Wird das exemplum nicht nur als Mittel der Beweisführung oder des ornatus benutzt […], sondern als historisch bedeutsamer Bezug zweier historischer Realitäten ernstgenommen, so wird es zum typus […]“.35

Lesen wir indes Phil 2,6–11 als „Mittel der Beweisführung“,36 das der eigentlichen Gedankenführung unterstützend zugeordnet ist und in seiner Bedeutung nicht über die Beweisführung hinausgeht, so fungiert der Text als exemplum. Meine Deutung des Textes, die diesen fest in seinem Kontext verankert und der ethischen Argumentation (φρον-) untergeordnet sieht, geht in diese Richtung. Die ταπεινοφροσύνη Christi hat für das φρονεῖν der Gemeinde eine exemplarische Funktion – sie gewinnt aber keinen typologischen Status.

4. Zwischenfazit Insgesamt begegnen uns im Phil verschiedene Formen paradigmatischer bzw. exemplarischer Rede: (1) In Phil 2,1–11 demonstriert Paulus mit Hilfe des Christus-exemplum, woran die rechte Haltung (φρον-) der Gemeinde in Philippi auszurichten und zu bemessen sei: Christus exemplifiziert bzw. personifiziert hier die ταπεινοφροσύνη. (2) In Phil 2,19–30 stehen Timotheus und Epaphroditus paradigmatisch für stellvertretende persönliche Bewährung, Fürsorge (V. 20) und Lebenseinsatz – darin sind sie wiederum ein exemplum für Paulus selbst (s.: τὰ περὶ ὑμῶν, das V. 19 und 20 verknüpft). Sie sollen und können deswegen seine mangelnde Präsenz in Philippi kompensieren. Paulus nimmt hierbei Bezug auf zwei Mitarbeiter und stellt deren Handlung und Haltung den Philippern als 35

LAUSBERG, Elemente (s. Anm. 23), 134. – Ähnlich auch H.F. PLETT, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 92001, 71f.: „[…] ein historisches oder mythologisches Faktum, welches das Thema in beweisender, energetischer oder schmückender Absicht amplifiziert. Unterliegt das Exempel einer festen Auslegung, so gewinnt es topischen Charakter, wie die zahllosen Beispielsammlungen seit der Antike bezeugen. Infolge seiner thematischen Repräsentanz gehört das Exempel zu den Grundkonstanten der abendländischen Literatur“. 36 LAUSBERG, Elemente (s. Anm. 23), 134.

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vorbildhaft vor. Sie können als exempla fungieren, wenn wir davon ausgehen, dass der von Paulus in beiden exempla angedeutete Vergleichspunkt den Philippern bekannt ist: im Falle des Timotheus seine Bewährung (V. 22: γινώσκετε […]) und Fürsorgekraft (V. 20b), im Falle des Epaphroditus das Wissen um seine Sehnsucht nach den Philippern während seiner Krankheit (V. 26f.) und sein grenzenloser Einsatz für Christus (V. 30). Folgen wir der oben genannten Klassifizierung Oppermanns so könnten wir von exempla im Sinne der Ermahnung sprechen, sofern sie bei der Bewältigung der Zukunft helfen sollen.37 Da das Schicksal beider Mitarbeiter mit dem des Paulus und der Philipper untrennbar verbunden ist, besteht die Funktion beider Textabschnitte offensichtlich darin, paradigmatisch das Verhältnis des Paulus zu den Philippern während persönlicher Abwesenheit zu versinnbildlichen. Die exempla der Mitarbeiter stehen nicht für sich selbst, sondern werden dem paulinischen Vorbild zu- oder besser: untergeordnet. (3) Denn im Phil findet sich ein weiteres Paradigma, das eine leitende Funktion hat: Besonders in Kap. 1 wird Paulus selbst – in Auseinandersetzung mit Konkurrenten – zur paradigmatischen Figur im Blick auf sein ethisches Handeln (Konflikt),38 das sich an der προκοπή des Evangeliums und des Glaubens orientiert. Zunächst ist es also Paulus in seiner Haft (Kap. 1), dann sind es Christus, Timotheus und Epaphroditus, die paradigmatische Funktion haben. Paulus zielt letztlich auf eine brieflich vermittelte Isophronie (Paulus, Philipper, Christus, Timotheus). John Reumann diskutiert, ob die Modellhaftigkeit dieser exempla – Christus, Epaphroditus und Timotheus –, die das briefliche Zentrum von Phil ausmacht, kompilationsbedingt ist, d.h. erst eine Folge der redaktionellen Zusammenstellung der einzelnen Briefteile ist (Brief B umfasst: 1,1/1,3–2,30/3,1),39 oder ob sie ursprünglich vom Autor selbst intendiert war. In jedem Fall lässt sich beobachten, dass und wie Paulus im Phil in Paradigmen, also in exempla spricht. Inwieweit dienen diese aber – so werde ich abschließend fragen – der Konstruktion einer ‚mimetischen Ethik‘?

5. Theoretische und theologische Perspektivierungen Kehren wir abschließend noch einmal zu Phil 2,6–11 zurück: Welche Funktion kommt dem exemplum in der Argumentation als Mittel der Prosopopoiie zu? Und wie kommt es dabei zur Konstruktion mimetischer Ethik?

37

Vgl. OPPERMANN, Funktion (s. Anm. 27), 203ff. Vgl. dazu noch einmal: BECKER, Paradigma (s. Anm. 25). 39 Vgl. REUMANN, Philippians (s. Anm. 34), 449f. und 17. 38

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Ich beginne mit kurzen Überlegungen zur Begriffsgeschichte: Hildegard Kornhardt (1936)40 hat in Anknüpfung an Karl Alewell (1913)41 in einer wichtigen Untersuchung zur Bedeutungsgeschichte des exemplum die semantische Weite des Lexems („Warenprobe, Kostprobe“ etc.) in der lateinischen Sprachtradition aufgezeigt und dargelegt, wie – davon abgeleitet – der Begriff später auch auf Handlungen und Charaktere (so auch: exempla virtutis) übertragen wurde: Demnach können „Taten und Leistungen […] als Proben betrachtet werden, die Aufschluss über die Wesensart einer bestimmten Persönlichkeit geben“; sie „können aber auch Belege und Zeugnisse sein für das Vorkommen von gewissen Tugenden und Untugenden als solchen“.42 Die exempla virtutis lassen sich personifizieren, so dass schließlich Menschen Beispiele für eine Eigenschaft sind – dann steht freilich deren „Handlungsweise“ oder ein „Charakterzug“ und weniger deren Individualität als solche im Vordergrund.43 Unter Einfluss der römischen Übersetzung von παράδειγμα mit exemplum kann der Begriff auch deswegen umfängliche Verwendung in der lateinischen Rhetorik finden,44 weil sich sein Bedeutungsspektrum in der römischen Welt bereits weitgehend entsprechend dem des griechischen Terminus entwickelt hatte.45 Wilhelm Geerlings (1978) führt uns mit seiner Untersuchung zur Christologie bei Augustinus, in welcher sich ein Kapitel zur Geschichte des exemplum-Begriffs und zu dessen Rolle in der augustinischen Geschichtstheologie findet,46 nun speziell zur rhetorisch-topischen Verwendung von exempla. Diese sei weitgehend durch Quintilian definiert (dort: exemplum, παράδειγμα, similitudo) und solle von erziehungstheoretischen Konzeptionen der Antike unterschieden werden47. Nach Quintilian kann das exemplum in dreifacher Weise eingesetzt werden: „[…] als ein Mittel, um die Aufmerksamkeit des Hörers zu fesseln, sodann um der Rede einen gewissen Schmuck zu verleihen, und zuletzt dient ein exemplum als Beweismittel“. 48 Autorisierung gewinnt das exemplum durch die Bedeutung der Persönlichkeit (inst. 40 Vgl. H. KORNHARDT, Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie, Diss. Göttingen 1936. – Zur Übersicht über die Erforschung der Bedeutungsgeschichte vgl. auch H. VAN DER BLOM, Cicero’s Role Models. The Political Strategy of a Newcomer, Oxford 2010, bes. 4 (Anm. 10–15); CHAPLIN, History (s. Anm. 14), 5–11. 41 Vgl. K. ALEWELL, Das rhetorische Paradeigma, Diss. Kiel 1913. 42 KORNHARDT, Exemplum (s. Anm. 40), 13. 43 KORNHARDT, a.a.O., 25. 44 Die frühesten Beispiele sind Plautus most. 87ff. und Terenz Eun. 1025ff. – so KORNHARDT, a.a.O., 63. 45 Vgl. KORNHARDT, a.a.O., 64. 46 Vgl. W. GEERLINGS, Christus Exemplum. Studien zur Christologie und Christusverkündigung Augustins, TTS 13, Tübingen 1978, 146–168 und 228–234. 47 Vgl. dazu auch KORNHARDT, Exemplum (s. Anm. 40), 26ff. 48 GEERLINGS, Christus (s. Anm. 46), 150 mit Hinweis auf inst. II 3ff.; V 11,5; V 11,6.

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VIII 5,7f.)49 oder, wenn es Teil eines „Traditionsbeweises“ (inst. XII 4,2) ist.50 Auch wenn wir speziell die ornatus-Funktion für Phil 2,6–11 nicht gänzlich ausschließen können, scheint der Textabschnitt primär in seinem Kontext als ein argumentatives Beweismittel zu fungieren. Der Verweis auf Quintilian lässt die rhetorisch stilisierte, argumentative Funktion des exemplum deutlich hervortreten (5,11,1–2; vgl. auch: Rhet. ad Her. 4,62)51 und führt weitgehend zu dessen Abgrenzung von pädagogischen Verwendungsformen. Zuletzt hat Henriette van der Blom (2010) die Verwendung von exempla bei Cicero umfänglich untersucht, und zwar besonders im Blick auf die dahinter liegende „political strategy as a homo novus“.52 Van der Blom schlägt folgende Definition eines ‚historischen exemplum‘ vor, das vor dem Hintergrund der römischen mos- und maiores-Tradition zu verstehen ist:53 „By a historical exemplum, I mean a specific reference to an individual, a group of individuals, or an event in the past which is intended to serve as a moral-didactic guide to conduct“.54 „By arguing that some historical individuals can be adopted by all Romans as model of behavior […], Cicero implies that it is possible to adopt an ancestor outside the family“.55

Worin also liegt genau der Vergleichspunkt, gleichermaßen die argumentative Funktion des Christus-exemplum in Phil 2 innerhalb der comparabilia (z.B. Cic.inv. 1,49)? Der paradigmatische Charakter des Christus-exemplum liegt – wie schon angedeutet – im Statusverzicht. Das Paradigmatische in der Entäußerung des Gottgleichen besteht nicht darin, dass das Schicksal oder Handeln Christi selbst als Vorbild für die Philipper vorgestellt würde – hierin unterscheidet sich das exemplum Christi von der Paradigmatik des Paulus, die dieser zuvor mit Hinweis auf sein eigenes Geschick den Adressaten des Briefes vor Augen gestellt hatte (1,30; 3,17; 4,8–9).56 Die Philipper sollen zwar 49

[…] magis enim decet eos, in quibus est auctoritates, ut rei pondus etiam persona confirmet […]. 50 GEERLINGS, (s. Anm. 46), 151 mit entsprechenden Hinweisen. 51 „Darum hat exemplum […] eigentlich nur eine demonstrierende Funktion und ist nicht weit von den ersten beiden Funktionen des Aufmerken-Lassens oder des Schmucks entfernt“, GEERLINGS, a.a.O., 150. 52 VAN DER BLOM, Role Models (s. Anm. 40), 6. Hinweise zur Forschungsgeschichte zu den exempla bei Cicero: a.a.O., 4ff., bes. 5 Anm. 18–20. 53 Vgl. VAN DER BLOM, a.a.O., 18–34: „The memory of exemplary men had a certain authority in Roman society“ (22). 54 VAN DER BLOM, a.a.O., 68. 55 VAN DER BLOM, a.a.O., 166. 56 In diese Richtung weist Ernst Lohmeyer mit seiner Martyriums-Deutung des Phil, vgl. z.B. E. LOHMEYER, Der Brief an die Philipper, KEK 9, Göttingen 141974, z.B. 64. Auch darüber hinaus wurde und wird in der Forschung etwa die Todessehnsucht des Paulus (vgl. Phil 1,23) häufig als ein Ausblick auf ein Martyrium verstanden, vgl. auch: U.B.

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Paulus nachahmen, sie werden aber nicht aufgefordert, wie Christus zu leiden, sondern für ihn bzw. seinetwegen Leiden auf sich zu nehmen (1,29: […] τὸ ὑπὲρ αὐτοῦ πάσχειν). Entsprechend ist der Vergleichspunkt beim Christus-exemplum in Kap. 2 nicht eine mögliche imitatio Christi im Blick auf Leiden oder Entäußerung. Vielmehr liegt der Vergleichspunkt in der Gestaltung der ‚inneren Haltung oder Ausrichtung‘ (φρονεῖν) der Philipper – er wird bereits in Phil 2,5 benannt: Die Philipper sollen so aufeinander ausgerichtet sein (τοῦτο φρονεῖτε ἐν ὑμῖν […]) oder voneinander denken, wie es ([…] ὃ καὶ […]) ihrer Ausrichtung auf Christus ([…] [φρονεῖτε] ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) entspricht. Doch welche Art der Gesinnung bzw. der inneren Ausrichtung ist hier gemeint? In Phil 2,1–4 hatte Paulus die innere Ausrichtung der Gemeindeglieder wie folgt eingefordert und damit näher bestimmt: Die Philipper sollen auf dasselbe ausgerichtet sein (2,2: […] τὸ αὐτὸ φρονῆτε) – eine Wendung, die in Phil 4,2–3 in personalisierter Form wiederbegegnet.57 In Phil 2 wird indes eine solche Form einer inneren Haltung der Philipper gefordert, bei der diese zugleich auch auf Eines hin ausgerichtet sein sollen (2,2: […] τὸ ἓν φρονοῦντες). Die Haltung dabei soll der ταπεινοφροσύνη (2,3) entsprechen. V. 5 nimmt diesen Gedanken insofern anaphorisch auf, als deutlich wird, dass sich die innere Ausrichtung auf- und untereinander an der Ausrichtung auf Christus zu bemessen hat: Das ‚Eines-Sinnes-Seins‘ (V. 2) hat daher einen personalen Bezugs- oder Bemessungsgrund, nämlich Christus (V. 5). V. 5 geht aber nicht in einer anaphorischen Funktion auf, sondern leitet kataphorisch das ein, was Paulus in 2,6–11 exemplifiziert58 – Paulus erläutert die Legitimität des personalen Bezugsgrundes ‚Christus‘. Dabei führt er mit dem Christus-exemplum narrativ aus, was mit ταπεινοφροσύνη (V. 3) gemeint ist. Die ταπεινοφροσύνη also ist das nachzuahmende „Christusprinzip“,59 welches als Kompass bei der ethischen, auf Einheit zielenden Gesinnung der Gemeinde vorgestellt wird. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/I, Leipzig 22002, 66–71, unter Verweis auf frühjüdische Märtyrervorstellungen (z.B. 4Makk 17,17–19; 18,3 etc.). 57 Hier wird sie konkret im Blick auf Evodia und Syntyche hin ausgesprochen. Die paulinische Ermahnung an die Frauen in 4,2f. ist übrigens singulär: In keinem anderen authentischen Paulusbrief werden Paränese oder Paraklese so wie hier personalisiert, also mit konkreten Personen und Namen in Zusammenhang gebracht. 58 Ich werde an dieser Stelle nicht diskutieren können, ob wir es bei dem sog. ChristusHymnus, besser: dem Christus-exemplum mit einem Traditionsstück oder mit einer paulinischen Eigenkomposition zu tun haben. Zu dieser Diskussion vgl. z.B. REUMANN, Philippians (s. Anm. 34), 361–365: Reumann selbst hält Phil 2,6–11 für ein „encomium the Philippians had worked out to use in mission proclamation about Christ and God in their GrecoRoman world“ (333). 59 Vgl. J. ROLOFF, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995, 143: „Es geht um den Nachvollzug des Christusprinzips im Miteinander der Gemeinde“.

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Ein Spezifikum des Phil besteht also darin, dass hier personale exempla für bestimmte (ethische) Haltungen und Handlungen stehen – sie dienen der sozio-politischen Ordnung der Gemeinde: Mimetische Ethik wird dabei als Orientierung an personalen Vorbildern konfiguriert und wirkt eben darin einheitsstiftend. Zuletzt freilich ist es der Apostel selbst, der die Paränese und die Wahl der exempla als epistolar anwesend gedachte Person verknüpft und autorisiert: So gesehen ist das συμμιμηταί μου faktisch die grundlegende Kurzformel paulinischer Ethik im Phil. Perspektivisch generiert Paulus Theologie und Ethik als Mimesis. So sehr die exemplarische Sprache dabei Zeit und Geschichte fragmentiert, so sehr hilft sie – angesichts einer ungewissen Zukunft – Verlässlichkeit und Kontinuität zur Person des Paulus herzustellen.

A Disciplined Mind in an Orderly World Mimesis in Late Antique Ethical Regimes Blossom Stefaniw Late ancient readers and writers functioned within diverse mimetic frames inherited from Plato and Aristotle and elaborated within the flourishing of Christian paideia in the late Roman Empire. From Plato to Christian paideia, from the time of the articulation of the cosmic order which allows for mimesis until that order bodied forth a thicket of new genres and rampant religious imaginings in the fifth century, one thousand years passed and whole empires rose and fell. It is no coincidence that the ancient literature on mimesis stretches over such a long and varied period, for throughout antiquity, discussion of proper objects and modes of mimesis was a means of problematizing established social mores and motivating a new ethic, whether for all citizens or for the specially committed ethical athletes of the day.1 Mimesis had a civic aspect from the start: Socrates’ program for the more intellectually disciplined citizen was to be achieved by redirecting emotional and mental engagement to less derivative forms of mimesis, and the bishops Athanasiusʼ (ca. 296–373 CE) or Chrysostomʼs (ca. 347–407 CE) exhortation to the Christian laity to fix their attention on only the best saintly exemplars was likewise meant to enable an ethically sound Christian politeia.2 In the span of time from Plato to Chrysostom, ethical thinkers also had to negotiate significant shifts in the terms of authority and the nature of the relation of empire to religion. Later Roman Christians started to write profusely, to engage their cultural and intellectual patrimony with a certain spiritual and political athleticism and, especially after the

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Here I am thinking of individuals in the ancient world who made an extraordinary commitment to ethical self-development, whether through adherence to a philosophical life or conversion to asceticism. 2 See D. BRAKKE, Athanasius and the Politics of Asceticism, Oxford 1995, 266: “From Athanasiusʼ perspective, the political function of asceticism was captured in his rhetoric of imitation of the saints: by likening themselves to virtuous persons of the past and present, Christians not only formed themselves into saints but also formed the Church as the embodiment of the Christian πολιτεία.”

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reign of Julian (361–363 CE), to set their sights on full ideological hegemony.3 In the midst of this profusion of ethical ingenuity, new subjectivities grew, including some wild digressions from the established masculinity of Aristotleʼs and the Stoicsʼ controlled and dominant citizen-soldier.4 Those new subjectivities required a new ethics, one which could be available not only to the philosopher or intellectual, not only to the elite educated male. Ethics had to be encased in genres and media which could nourish all people and connect women, the poor, the marginalised and the otherwise unfree to a new religious discourse.5 Two strains of mimetic underbrush are discernible among Christians in late antiquity. Both bred mimesis with textuality, and thereby with the body, the imagination, narrative, epistemology and emotion, so that it took root and flourished, making manifest how the new Christian subject might live in the agonistic and physicalized religious order of the late Roman empire. One strain located Christians as citizens of a new empire and focused on the larger populace, making space for the passions and the body. The other strain of mimetic proliferation was more stringent, aimed primarily at exceptional religious athletes and ascetics, and requiring the eradication of the passions and extraordinary discipline of the body. These two ethics were compatible with each other and cross-bred, belonging to the same species but thriving at different temperatures, as it were. The potency of mimesis as an ethical standard lies in the volatile mix of its apparent banality and intuitive appeal when it is understood as a mere exhortation to imitate the example of moral leaders, and its real and fecund complexity when it is embedded in the created order and used as an argument for sustaining both civic order in the world of governance and mental 3

On this transition in the relationship of Christians to the literary patrimoney, see V. LIMBERIS, ʻReligionʼ as the Cipher for Identity. The Cases of Emperor Julian, Libanius, and Gregory Nazianzus, HTR 93.4 (2000), 373–400. 4 Michel Foucault has studied the dominance and control, even over the body, that was expected of elite males in his work on the History of Sexuality: M. FOUCAULT, The History of Sexuality: an Introduction, The History of Sexuality I., trans by R. Hurley, New York 1978; IDEM, The Use of Pleasure. The History of Sexuality II, trans. by R. Hurley, New York 1985; IDEM, The Care of the Self, The History of Sexuality III, trans. by R. Hurley, New York 1986. On the masculinity particular to elite males in late antiquity see S.R. HOLMAN, On Phoenix and Eunuchs: Sources for Meletius the Monk’s Anatomy of Gender, JECS 16.1 (2008), 79–101, and S. TOUGHER, Social Transformation, Gender Transformation? The Court Eunuch, 300–900, in: L. Brubaker/J. Smith (eds.), Gender in the Early Medieval World. East and West, 300–900, Cambridge 2004, 70–82. 5 On ethics as subjectification, or the mode of relating the self to the discourse which defines what is true and what can be known, see M. FOUCAULT, The Hermeneutics of the Subject. Lectures at the Collège de France 1981–1982, New York 2005; IDEM, On the Governments of the Living. Lectures at the Collège de France 1979–1980, New York 2014.

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order in the inner world of the individual. Mimesis is particularly fertile in the late ancient world because it engages the widespread assumption that living well, that is, attaining virtue and thus fulfilling oneʼs brief as a human subject, is a matter of achieving closer and closer approximation to an ideal by means of persistent discipline and self-correction relative to an established model.6 For purposes of the present essay, I will deliberately neglect the pedestrian notion of mimesis as imitation of a moral exemplar, a notion readily comprehensible to modern readers and not really specific to the late antique world. Instead, I will pursue mimetic ethics where it appears most counterintuitive and most particular to the religious and intellectual culture of the late Roman empire, namely where it is manifest as a means of binding individuals and institutions to the created order, where it is mobilised as a means of directing and ordering proper civic passions and right orders of knowledge, and where it appears to be a driving force in the thriving textuality of early Christianity. The pedestrian notion of mimetic ethics as imitation of the example of a spiritual master cannot be entirely ignored, for in late antiquity the spiritual expert is the linchpin of the created order and the means of redemption for the people, but it will not occupy us beyond the requirements of due diligence.7 Another limit to the present study can be set in the corpus of literature to be examined; a complete survey of one thousand years of ethical thought is impossible. Instead, I will focus on a handful of authors connected more or less closely to asceticism and philosophy, with a view to illustrating the particular and distinct uses of mimesis just mentioned, while making no claim to completeness nor any attempt at the identification of larger shifts from one epoch to another. I will first assess the conceptual patrimony which came down to Christian authors through Plato, Aristotle, and Paul, and then address how ethics were gene-

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For exemplars in early Christianity, see P. BROWN, The Saint as Exemplar in Late Antiquity, Representations 2 (1983), 1–25; G. STROUMSA, Caro salutis cardo. Shaping the Person in Early Christian Thought, HR 30 (1990), 25–50; G. FRANK, The Memory of the Eyes: Pilgrims to Living Saints in Christian Late Antiquity, Berkeley 2000. 7 The role of bishops and of political leaders in this capacity will be discussed below on the basis of the study of S. ELM, Sons of Hellenism, Fathers of the Church. Gregory of Nazianzus, Emperor Julian, and the Christianization of the Late Roman Elites, Berkeley 2012; For master-disciple relationships see R. NAIWELD in this volume, and IDEM, Les Antiphilosophes. Pratiques de soi et rapport à la loi dans la littérature rabbinique classique, Paris 2011; B. RENGER (ed.), Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik, Göttingen 2012; EADEM, The Allure of the ‘Master’. Critical Assessments of a Term and Narrative, Diskus. The Journal of the British Association for the Study of Religions 14 (2013), 95–125; EADEM, Abschied eines Schülers vom Meister. Der sog. panegyricus Gregors des Wundertäters auf Origenes: λόγος χαριστήριος – λόγος προσφωνητικός – λόγος συντακτικός, Ph. 156.1 (2012), 34–53.

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rated by anchoring mimesis in the created order, civic passions, and textuality in turn, drawing on a variety of authors from the eastern empire from the third to the fifth century.

1. Mimesis in the Notional Patrimony: Plato, Aristotle, and Paul Of Platoʼs diverse uses of the term mimesis, two are of particular import for our purposes:8 the first is that exemplified by the discussion of education in Republic 394e–397b: mimesis is learning by imitating good examples of right conduct.9 Examples of right conduct are good when they correlate with the true nature of the virtues, that is, Justice itself, Courage itself, etc. Young people should be supplied with appropriate objects of imitation in the form of persons, whether literary or real, who manifest knowledge of the virtues in their comportment. Myths and poetry, which are emotionally gratifying, but which do not serve as appropriate models of virtuous behavior, should be withheld from the young citizen-soldier in training, for whom Plato’s educational program is designed.10 This literary puritanism is motivated in part by the larger program of cultivating mental discipline with a view to freeing the intellect to gain access to intelligible realities, a program which Plato shares with later educated ascetics like Origen (ca. 185–256 CE), Antony (ca. 251–

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Eric Havelock, in reference to the use of the term in Plato, says that mimesis is “the most baffling of all words in his philosophical vocabulary” (E.A. HAVELOCK, Preface to Plato, New York 1963, 20). 9 See Plato, Republic 395b–d for one of several varying definitions of mimesis: “If, then, we are to maintain our original principle, that our guardians, released from all other crafts, [395c] are to be expert craftsmen of civic liberty, and pursue nothing else that does not conduce to this, it would not be fitting for these to do nor yet to imitate anything else. But if they imitate they should from childhood up imitate what is appropriate to them – men, that is, who are brave, sober, pious, free and all things of that kind; but things unbecoming the free man they should neither do nor be clever at imitating, nor yet any other shameful thing, lest from the imitation [395d] they imbibe the reality.” εἰ ἄρα τὸν πρῶτον λόγον διασώσομεν, τοὺς φύλακας ἡμῖν τῶν ἄλλων πασῶν δημιουργιῶν ἀφειμένους δεῖν εἶναι [395c] δημιουργοὺς ἐλευθερίας τῆς πόλεως πάνυ ἀκριβεῖς καὶ μηδὲν ἄλλο ἐπιτηδεύειν ὅτι μὴ εἰς τοῦτο φέρει, οὐδὲν δὴ δέοι ἂν αὐτοὺς ἄλλο πράττειν οὐδὲ μιμεῖσθαι: ἐὰν δὲ μιμῶνται, μιμεῖσθαι τὰ τούτοις προσήκοντα εὐθὺς ἐκ παίδων, ἀνδρείους, σώφρονας, ὁσίους, ἐλευθέρους, καὶ τὰ τοιαῦτα πάντα, τὰ δὲ ἀνελεύθερα μήτε ποιεῖν μήτε δεινοὺς εἶναι μιμήσασθαι, μηδὲ ἄλλο μηδὲν τῶν αἰσχρῶν, ἵνα μὴ ἐκ τῆς μιμήσεως τοῦ εἶναι [395d] ἀπολαύσωσιν. 10 Cf. discussion in E.V. HASKINS, Mimesis Between Poetics and Rhetoric: Performance Culture and Civic Education in Plato, Isocrates, and Aristotle, Rhetoric Society Quarterly 30.3 (2000), 9.

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356 CE) and Evagrius (345–399 CE).11 Careful exclusion of frivolous literature and avoidance of emotional provocation is also key to Plato because he wants education to serve an optimized and stable social order: emotional response to diverse literary figures would lead to confusion about the individualʼs proper role in the polis.12 Platoʼs plea for optimised imitation of the ideal models of the virtues is neither surprising nor unfamiliar; the person should modify her actions and dispositions such that they align with the Ideas as accurately as possible. Good action follows naturally from attaining correct knowledge of the Good. Since Plato is so confident that there is no gap between knowing what is right and doing what is right, pedagogy and epistemology take on key ethical roles. Given his belief that better imitation results from better knowledge, competent mimesis naturally requires good pedagogy.13 The mental capacity for knowledge of the realm of the forms is to be cultivated through education, where education is taken especially in the sense of discipline or askesis of the appetites and emotions.14 In addition, people need good copies to observe and study, so that they draw viable conclusions about the paradigms: “[…] the goal of an imitation is to be similar to its original and not to be pleasant as many think […] the imitation, in virtue of its similarity to its model, permits us to learn from it about the model itself.”15 People should be taught to direct their mimetic efforts towards the least derivative manifestation of any given 11

Compare this teaching from the letters of Antony: “The mind also starts to discriminate between them and begins to learn from the Spirit how to purify the body and the soul through repentance. The mind is taught by the Spirit and guides us in the actions of the body and soul, purifying both of them, separating the fruits of the flesh from what is natural to the body, in which they were mingled, and through which the transgression came to be, and leads each member of the body back to its original condition, free from everything alien that belongs to the spirit of the enemy.” Letter I,27–31 (transl. from S. RUBENSON, The letters of St. Antony. Monasticism and the Making of a Saint, Minneapolis 1995, 199); For an example of the same notion in Evagrius, see his Kephalaia Gnostica, 5.2; 5.31; 5.34: “The intelligible sword is the spiritual saying that separates the body from the soul, or the vice and the ignorance. […] The intelligible shield is practical knowledge that guards unharmed the passible part of the soul. […] The intelligible helmet is spiritual knowledge that guards unharmed the intelligent part of the soul.” (Translation from L. DYSINGER, Psalmody and Prayer in the Writings of Evagrius Ponticus, Oxford 2005). 12 HASKINS, Mimesis (s. note 10), 13, discusses this in connection with Republic 386c– 389d. 13 Republic 300e. 14 For discussion of how to interpret this ethical stance toward embodiment, see J. DILLON, Rejecting the Body, Refining the Body. Some Remarks on the Development of Platonist Asceticism, in:, V. Wimbush/R. Valantasis (eds.), Asceticism, New York 1995. 15 Plato, Laws 668a–b (L. GOLDEN, Mimesis and Katharsis, CP 64.3, 1969, 145–153, 150) (Also in 798d–e Laws). IBID., 153: “[…] that for both Plato and Aristotle mimesis is a learning process which reaches its natural climax in katharsis, a state of intellectual clarification.”

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virtue: imitating an individual instance of justice does not mean one knows what justice is, imitating a consistently just man is better, but imitating justice-as-such is the best.16 The confidence that Plato has in this practice is a result of the copy-model structure of the world that he articulates in the Timaeus and in Phaedrus. In such a world, it is apt to strive toward the ethical model and eschew mere copies, especially highly diluted and derivative copies produced in ignorance of the ideal.17 Within this copy-model structure and the formative agenda entailed by it, both textuality and personal attachment to individuals, who are already in possession of more refined knowledge of the forms, become fields for ethical engagement. Plato’s conviction of the value of attachment to a philosopher can be recalled from the Symposium and Alcibiades, but the role of text is less familiar. The ethical function of textuality arises out of the merging of the pedagogical value of appropriate objects of imitation, i.e., those most accurate copies of the ideal model, and the ability of noetically sophisticated individuals to produce such objects; engaging a text written by a philosopher, or by anyone with viable knowledge of reality, will allow the student or reader to refine his mental capacities.18 Engagement of frivolous texts such as poetry or mythology, however, will have the opposite effect. Thus for Plato, and throughout the classical period, mimesis is also ethically productive in the context of reading, writing, and the study of texts.19 This is because, in the ancient world, virtue was largely conceived of as a matter of matching oneself up with a valorised model by means of the persistent exercise of discipline and control. Especially when the model was historical or textual, practices of ethical discipline entailed relating oneself to a specific patrimony and thus also consti-

16 Plato operates on the conviction that virtue is imitation of an ideal as directly as possible, so that one’s capacity to develop virtue automatically gets worse with increasing degrees of derivation. For example, on the virtuousness of states at 297c: there is one truly just state and all the others are better or worse imitations of it, GOLDEN, Mimesis (s. note 15), 149. 17 Cf. Timaeus 49a, 50c, very clear in 28b–29d and Phaedrus 250b. Warnings about inadequate or misleading mimesis can be found in Republic Book X. 18 In late antiquity, this notion will develop not only into the practice of exegesis and study of the Bible as an ascetic practice, as discussed in my own book: B. STEFANIW, Mind, Text, and Commentary. Noetic exegesis in Origen of Alexandria, Didymus the Blind, and Evagrius Ponticus, Frankfurt 2010, but also in the belief in the advanced ethical development of the author, especially authors of hagiography as discussed in D. KRUEGER, Writing and Holiness. The Practice of Authorship in the Early Christian East, Philadelphia 2004. As Leon Golden puts it with regard to Plato, “[…] imitations accomplished by imitators who have knowledge of their subject will be able to illuminate the reality of which they are imitations.” (Sophist 267b, GOLDEN, Mimesis [s. note 15], 150). 19 V. GRAY, Mimesis in Greek Historical Theory, AJP 108 (1987), 467.

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tuted a performance of identity. 20 Even historiography, from the first century BCE, was described as a mimetic discipline.21 In the Christian era, historiography, as well as related but more popular late antique literary forms like hagiography or martyr acts, would provide mimetic objects more amenable to the moral instruction of ordinary people, as they included a place for emotion and even encouraged sentimental reactions to the predicaments of the persons represented. Aristotle differs significantly from his teacher in the value he places on literature and the emotions evoked in the reader through narrative or dramatic representations. In this regard, Christian bishops of the late Roman empire will more closely reflect Aristotle’s position than Plato’s. Aristotle considers learning through mimesis to be fundamental to human nature: Human beings are the most mimetic of all living things, and this mimetic quality is what is responsible for their first learning experiences [...] the pleasure of learning belongs to all men and not only to the philosophers, who have the greatest share in it.22

Here we see incipient forms of what will later be used by Christian bishops to articulate an ethical program for all people: mimesis can serve that purpose precisely because it is natural to humans in general, and the pleasure it generates does not apply only to intellectuals. Aristotle is also able to accommodate forms of literature repudiated by Plato, because he “[...] grants emotions cognitive value”23 so that tragedy, epic, and myth are pedagogically worthwhile even when the behaviour of the persons portrayed should not be directly imitated. Aristotle allows for the use of aesthetics and literature as emotional education, to make it clear when to have which emotions. An ethical program which includes and even encourages emotional response to objects and texts will be seen again in patristic homilies directed at affective responses to readings of the Bible or martyr acts. The ethical potential of emotions and passions remains as much a matter of debate for Christians as it was be-

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R. CRIBIORE, Gymnastics of the Mind. Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt, Princeton 2001, very aptly refers to the object of grammatical and rhetorical education as the induction of young people into their literary and cultural patrimony. 21 GRAY, Mimesis in Greek Historical Theory (s. note 19), 467. 22 Poetics 4,1448b.4–17 as discussed in GOLDEN, Mimesis (s. note 15), 148 and also “the pleasure of poetry in general consists of learning (i.e. of proceeding from the particular to the universal.” GOLDEN, Mimesis (s. note 15), 146. Note also the willingness of Aristotle to accept and instrumentalize pleasure as emphasised in the discussion of Poetics in HASKINS, Mimesis (s. note 10), 26: “Imitation (to, mimei/sqai) and the joy derived from it are natural to human beings since childhood, and human beings differ from other animals in that they are the most imitative (mimhtiktato,n) and learn their first lessons by imitation” (Poetics 1448b.2–3). 23 HASKINS, Mimesis (s. note 10), 30.

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tween classical thinkers like Plato, Isocrates (436–338 BCE), Aristotle, the Stoics and the Epicureans.24 The majority of New Testament thought on mimesis comes from Paul. Inasmuch as Paul can accurately be taken as a conduit between the classical world and the patristic period, his thought on mimesis constitutes something of a bottle-neck, not venturing far beyond the straight imitation of religious leaders or divine beings as exemplars. The author exhorts his readers to follow a particular example, whether himself, specific community leaders, or biblical exemplars from among the patriarchs and prophets. In several instances, Paul himself and those with him are the proper objects of mimesis. In 1 Cor 4,16, for example, Paul says, “Therefore I urge you, imitate me.” (Parakalw/ ou=n u`ma/j( mimhtai, mou gi,nesqe). Again in Phil 3,17 he says, “Brethren, join in following my example, and note those who so walk, as you have us for a pattern.”(Summimhtai, mou gi,nesqe( avdelfoi,( kai. skopei/te tou.j ou[tw peripatou/ntaj kaqw.j e;cete tu,pon h`ma/jÅ), proposing himself as an ethical paradigm.25 More of what will develop in late antiquity is apparent, however, when the author of such hortatory writings posits an ethical-ontological chain reaching from the divine, down through himself, and then to the people in general. This can be observed, for example, in 1 Cor 11,1, “Imitate me, just as I also imitate Christ.” (mimhtai, mou gi,nesqe kaqw.j kavgw. Cristou/) or again in 1 Thess 1,6 “And you became followers of us and of the Lord, having received the word in much affliction, with joy of the Holy Spirit” (Kai. u`mei/j mimhtai. h`mw/n evgenh,qhte kai. tou/ kuri,ou( dexa,menoi to.n lo,gon evn qli,yei pollh/| meta. cara/j pneu,matoj a`gi,ou).26 This chain-like structure is significant because if 24

According to Martha Nussbaumʼs study of Hellenic philosophical schools, all of these movements want good ethical health to be produced by correlating the emotions to some other standard, whether reason or nature. That is where virtue comes from. Hence virtue is mimetic because it requires the shaping of oneʼs inner world, oneʼs perceptions and one’s sentiments, to a specific standard, so that an inner order is established as a reflection of another, already existing order. M. NUSSBAUM, The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994. 25 Similar examples are found in 2Thess 3–7, “For you yourselves know how you ought to follow us, for we were not disorderly among you.” (Auvtoi. ga.r oi;date pw/j dei/ mimei/sqai h`ma/j( o[ti ouvk hvtakth,samen evn u`mi/n)); and 2Thess 3–9 “not because we do not have authority, but to make ourselves an example of how you should follow us” (ouvc o[ti ouvk e;comen evxousi,an( avllV i[na e`autou.j tu,pon dw/men u`mi/n eivj to. mimei/sqai h`ma/j). 26 The only other uses of mimesis and its cognates in the New Testament are found in Eph 5,1 “Therefore be imitators of God as dear children.” (Gi,nesqe ou=n mimhtai. tou/ qeou/ w`j te,kna avgaphta.) and 3John 1,11 “Beloved, do not imitate what is evil, but what is good. He who does good is of God, but he who does evil has not seen God.” (VAgaphte,( mh. mimou/ to. kako.n avlla. to. avgaqo,nÅ o` avgaqopoiw/n evk tou/ qeou/ evstin\ o` kakopoiw/n ouvc e`w,raken to.n qeo,n) Full discussion of New Testament mimetic ethics can be found in the contributions to this section by Becker, Bennema, and Horn.

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ethics is imitation of the divine, it is no longer about mere behaviour, as surely the divine is not subject to ethical imperatives and surely human beings cannot be required to behave as the divine behaves – a good platonic divinity does not act at all, and human beings are certainly not entitled to behave in the way the God of the Old Testament does. So when people are called upon to imitate God, we are no longer talking about doing the same thing that the object of imitation is doing. Now we are talking in a more complex way about ethics as ontology, about acquiring a certain ethical state through a process of assimilation. When ethics are argued for in this way, the object of imitation then becomes all-important, and arguments start to revolve around the value and validity of the object of imitation, whether it be the divine as such or an individual who is taken to be highly assimilated already. Elsewhere the object of mimesis is generalized to a larger body of exemplary figures. In each instance, the definition of that particular group performs significant work of identity-formation. In 1 Thess 2,14, the author exhorts his readers to “become imitators of the churches of God which are in Judea”.27 This places the congregation in Greece in a derivative relationship with the Judaeans, who are posited as the original and thus the standard for appropriate ethical behaviour. The imperative to become imitators (mimhtai. Vegenh,qhte) expresses this relation also as one of ambition: likeness to the Judaeans is something to be achieved through ethical effort. The book of Hebrews relates its readers to two different objects of mimesis. One, as we saw in the Pauline literature, is a quite straightforward reference to leaders: “Remember those who rule over you, who have spoken the word of God to you, whose faith follow, considering the outcome of their conduct.”28 Two points are worth noting here. Mimesis is connected to remembrance, articulating the need to persistently focus attention on those in authority, where it is assumed that authority correlates with moral excellence. Also, the justification for following these people in particular is “the outcome of their conduct”, and not their office as such; the ethical value of their behaviour has been demonstrated and thus can be accepted with confidence as a viable model. Earlier in the letter, however, the author posits a larger and more distant body of exemplars as the appropriate object of mimesis, namely

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1Thess 2,14 “For you, brethren, become imitators of the churches of God which are in Judea in Christ Jesus. For you also suffered the same things from your own countrymen, just as they did from the Judeans” (u`mei/j ga.r mimhtai. evgenh,qhte( avdelfoi,( tw/n evkklhsiw/n tou/ qeou/ tw/n ouvsw/n evn th/| VIoudai,a| evn Cristw/| VIhsou/( o[ti ta. auvta. evpa,qete kai. u`mei/j u`po. tw/n ivdi,wn sumfuletw/n kaqw.j kai. auvtoi. u`po. tw/n VIoudai,wn). 28 Hebr 13,7 Mnhmoneu,ete tw/n h`goume,nwn u`mw/n( oi[tinej evla,lhsan u`mi/n to.n lo,gon tou/ qeou/( w-n avnaqewrou/ntej th.n e;kbasin th/j avnastrofh/j mimei/sqe th.n pi,stinÅ

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the patriarchs and prophets included in the litany of those whose faith was rewarded throughout biblical history.29 As an argument for a particular ethic, mimesis is deployed as a rudimentary hortatory tool, with no link to textuality or pedagogy as in the classical tradition. New Testament literature thus constitutes something of a conceptual bottle-neck in which mimesis is reduced to its most pedestrian conceptual form. From this it will become clear that later Christian authors, at the end of the fourth century, when Christianity found itself in a much different social position to that of Paul and his followers, did not derive their mimetic ethic so much from New Testament literature as from the classical tradition in which they had been educated. When Christianity re-appears in connection with more sophisticated cultural capital in the work of the late fourth-century fathers, we see a flourishing of complex and multi-faceted mimetic practices which provide fields of ethical engagement connected with textuality and pedagogy in far more elaborated and excessive terms than Plato or Aristotle, and certainly Paul, would ever have imagined.

2. Mimesis, Knowledge and the Order of Things Patristic authors anchor mimesis in the order of things. Thus a given ethic becomes a matter of living within the bounds of right reason, in compliance with reality. Christians who argue for a certain ethic in this way are working from ontology toward ideology.30 While this ethical strategy only comes into full flourishing late in the fourth century as Christians lay claim to the empire and to the patrimony that goes with it, a connection between ethics and epistemology via mimesis is already apparent in the writings of Origen of Alexandria. The link between mimesis and right knowledge is, as we have seen, already present in Plato, but in late antiquity it proliferates and attaches itself not only to the apprehension of the intelligible realm which Plato had advocated as the goal of human thought and striving, but also to a thing unthinkable for Plato, namely religious doctrine, and with it, grounds for religious coercion.

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NKJ Heb 6,12 “that you do not become sluggish, but imitate those who through faith and patience inherit the promises” (i[na mh. nwqroi. ge,nhsqe( mimhtai. de. tw/n dia. pi,stewj kai. makroqumi,aj klhronomou,ntwn ta.j evpaggeli,aj). 30 The manner in which Epiphanius does this is discussed in my own article: B. STEFANIW, Straight Reading: Shame and the Normal in Epiphanius’ Polemic against Origen, JECS 21.3 (2013), 413–435. Connection of an orthodox ethic to history and the order of the empire is also manifest in Epiphanius as read by A. JACOBS, Epiphanius of Salamis and the Antiquarian’s Bible, JECS 21.3 (2013), 437–464.

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In Origen, the mimetic point of reference is intelligible reality, and the primary medium of imitation is not behaviour, but mental acts like contemplation and apprehension, because in his Neoplatonist world, virtue follows automatically from knowledge of the divine order: And every one who imitates Him according to his ability, does by this very endeavour raise a statue according to the image of the Creator, for in the contemplation of God with a pure heart they become imitators of Him.31

That is, Origen operates within the same model/copy structure as Plato, and with the same blurring of ontology and epistemology; the subject is supposed to know the highest reality, and in developing and engaging this knowledge, will necessarily become more similar to that highest reality, namely God. Contemplation of God leads to becoming an imitator of God, which is what causes the person to be shaped into an image of God. Ethical behaviour starts with an epistemological act which causes the person to take up a stance of ontological referentiality, orienting herself to the object of imitation and seeking to live as an image of it. The metaphor of raising a statue evokes the tenacious craftsmanlike effort at shaping the self which Origen expects people to make, like a sculptor referring to a plan and chiseling away at his block of marble accordingly. The sculptor’s able glance at the plan is “the contemplation of God” which Origen here sets out as leading to self-formation as an accurate image. This same structure, mimetic formation of the human mind according to the capacity to apprehend intelligible realities on the platonic principle that like can only be known by like, is also prevalent in the work of the great ascetic teacher, Evagrius Ponticus. Here we see the program of self-formation required by Origen elaborated in great detail, for Evagrius sets out a threepart ascetic curriculum, drawing on Aristotelian anthropology to overhaul the human person from the appetites up through the passions to the mind. The ethical correction of the self through asceticism means that the person must refer to a standard of right order of the inner life and adapt himself to it. In addition, the test of the aptness of these efforts is whether they enable the mind to again comprehend intelligible realities, as both Origen and Evagrius believe that all beings did before the beginning of time. Thus the ethical imperative derives from the order of the universe, a cosmology which explains where we came from, why we are here, and where we are going.32 This notion was widespread in the religous life of late antiquity and was also shared by 31 Ante Nicene Fathers (ANF), 647. Καὶ ἐν ἑκάστῳ δὲ τῶν κατὰ δύναμιν ἐκεῖνον καὶ ἐν τούτῳ μιμησαμένων ἐστὶν ἄγαλμα τὸ 'κατ’ εἰκόνα τοῦ κτίσαντος', ὅπερ κατασκευάζουσι τῷ ἐνορᾶν θεῷ καθαρᾷ καρδίᾳ, 'μιμηταὶ' γενόμενοι 'τοῦ θεοῦ' Contra Celsum 8.18. 32 See W. HARMLESS, Desert Christians. An Introduction to the Literature of Early Monasticism, Oxford 2004, 346–363 for a summary of Evagrius’ theology in general and this cosmology in particular.

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Neoplatonist philosophers such as Iamblichus (ca. 245–325 CE), who describes the instructions of Pythagoras for ascetic discipline, and characterizes his recommendations as a means of making the inner world a mimetic instruction of the harmonious workings of the cosmos: For these reasons he prescribed […] friendship of the mortal body with itself by pacification and reconciliation of the opposite powers concealed in it, accomplished through health and a way of life conducive to this and temperance conducive to this, in imitation of the efficient functioning in the cosmic elements.33

Since the inner world must adapt to its place within the cosmic order, its ethical task is mimetic in a profound sense.34 Among fourth- and fifth-century bishops promoting regimes of knowledge compatible with a totalizing Christian orthodoxy, however, mimesis as a mode of ensuring right orders of knowledge takes root in the realm of doctrine and discipline. The mimetic point of reference is pulled down out of the intelligible realm and anchored in a truth that is linked to common sense, nature, and what is portrayed as obvious common-sense reality. Likewise, the Christian self is to be shaped according to a model which both brings order to the inner world and locates the person in the right place in the cosmic and civil order, as we will see below. The polemics produced by bishops promoting a totalized regime of knowledge explain wrong belief as a result of lack of common sense, insanity or a departure from plain reason. Where right behaviour comes from right belief, and right belief is construed as arising out of nature and common sense, wrong belief can be stigmatized as perverse or deviant. This is especially the case in Epiphanius’ of Salamis’ (ca. 310–403 CE) treatment of socalled heresy in his Panarion and Anchoratus, not least in his portrayal of Origen.35 Athanasius also writes of his adversary, “Now such endeavours are nothing else than an obvious token of their defect of reason, and a copying, as I have said, of Jewish malignity.”36 Here fault is found with Arius (ca. 256–

διὰ ταὐτὰ [...] εἴτε [συλλήβδην] καὶ σώματος καθ’ ἑαυτὸ θνητοῦ τῶν ἐγκεκρυμμένων αὐτῷ ἐναντίων δυνάμεων εἰρήνευσιν καὶ συμβιβασμὸν δι’ ὑγείας καὶ τῆς εἰς ταύτην διαίτης καὶ σωφροσύνης κατὰ μίμησιν τῆς ἐν τοῖς κοσμικοῖς στοιχείοις εὐετηρίας. De vita Pythagorica 16.69 (The same content is repeated in 33.229). 34 This construal of the ethical task as correlation of the inner world with a narrative of human origins and fate is very prevalent also in the letters of Antony. For analysis of its ethical siginificance, see B. STEFANIW, The Oblique Ethics of the Letters of Antony, in: K. Berthelot/R. Naiweld/D. Stökl Ben Ezra (eds.), L’identité à travers l’éthique. Nouvelles perspectives sur la formation des identités collectives dans le monde gréco-romain, Paris 2015. 35 For an analysis of the polemic, see my own article on Straight Reading (s. note 30). 36 NPNF II,4, 150. δὲ τοιοῦτον ἐπιχείρημα οὐδὲν ἕτερόν ἐστιν ἢ γνώρισμα μὲν ἄντικρυς τῆς ἀλογίας αὐτῶν, μίμησις δὲ καθὰ προεῖπον τῆς ἰουδαικῆς κακοηθείας. De decretis. 33

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336 CE) for having two inadequate mimetic reference points: he fails to operate according to reason (the ordering principle for right religious behaviour and belief) and he copies not Christian virtue but Jewish malignity. The latter is significant as it promotes attachment and consolidates adherence to the ingroup and identification with it as a reliable mimetic reference point. In line with this structure of mimetic adhesion to right belief, imitation of God is not portrayed as attainment of the capacity to apprehend noetic realities, but as the disposition to reject those whose beliefs clash with orthodoxy, that is, to reject the same people God rejects. Athanasius, warns his followers against a pro-Arian rival: And since it is probable that Eusebius and his fellows will write to you concerning him, I was anxious to admonish you beforehand, so that you may herein imitate God, Who is no respecter of persons, and may drive out from before you those that come from them; 37

Here mimesis is connected to right belief as an anti-heretical argument: an imitator of God will arrive at the conclusion that they should reject Eusebius (ca. 260–340 CE), whom God has also rejected. Athanasius also builds a link between the ethical quality of the reader and his capacity to read rightly, a thought that will be discussed further in the following section on mimetic ethics in Christian textuality: But for the searching of the Scriptures and true knowledge of them, an honourable life is needed, and a pure soul, and that virtue which is according to Christ; so that the intellect guiding its path by it, may be able to attain what it desires, and to comprehend it, in so far as it is accessible to human nature to learn concerning the Word of God. For without a pure mind and a modelling of the life after the saints, a man could not possibly comprehend the words of the saints.38

While he uses the same rhetoric as Origen, establishing a pure mind as the grounds for a viable search for knowledge of God and of divine truth, in context Athanasius is making ethical practice and its mimetic referent (Christ and the saints) a condition for valid textual interpretation. In connection with the Nicaenae synodi. 1.3. See also D. BRAKKE, Jewish Flesh and Christian Spirit in Athanasius of Alexandria, JECS 9.4 (2001), 453–481. 37 NPNF, 96. ἐπειδὴ δὲ εἰκὸς καὶ τοὺς περὶ Εὐσέβιον γράφειν ὑμῖν περὶ αὐτοῦ, διὰ τοῦτο προυπομνῆσαι ὑμᾶς ἐσπούδασα, ἵνα καὶ ἐν τούτῳ τὸ ἀπροσωπόληπτον τοῦ θεοῦ μιμησάμενοι ἐκδιώξητε τοὺς παρ’ αὐτῶν, ὅτι ἐν τοιούτῳ καιρῷ διωγμοὺς (Athanasius, Epistula encyclica 7.5, in: H.G. Opitz [ed.], Athanasius Werke, vol. 2.1., Berlin 1940, 169– 177). 38 NPNF II,4, 67. Ἀλλὰ πρὸς τὴν ἐκ τῶν γραφῶν ἔρευναν καὶ γνῶσιν ἀληθῆ, χρεία βίου καλοῦ καὶ ψυχῆς καθαρᾶς καὶ τῆς κατὰ Χριστὸν ἀρετῆς, ἵνα δι’ αὐτῆς ὁδεύσας ὁ νοῦς τυχεῖν ὧν ὀρέγεται καὶ καταλαβεῖν δυνηθῇ, καθ’ ὅσον ἐφικτόν ἐστι τῇ ἀνθρώπων φύσει περὶ τοῦ Θεοῦ Λόγου μανθάνειν. Ἄνευ γὰρ καθαρᾶς διανοίας καὶ τῆς πρὸς τοὺς ἁγίους τοῦ βίου μιμήσεως, οὐκ ἄν τις καταλαβεῖν δυνηθείη τοὺς τῶν ἁγίων λόγους. (De incarnatione verbi 57.1+2, in: C. Kannengiesser [ed.], Sur l’incarnation du verbe, SC 199, Paris 1973, 258–468).

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Arian controversy and his adversary’s differing reading of Scripture, mimesis now provides Athanasius with a standard according to which he can invalidate the truth read by his detractors: they do not live honorably and do not imitate the saints in their lives, thus they cannot know what the saints mean in their writings. Mimesis is still the condition for accurate knowledge and correct reading, but it is now weaponized in relation to competing Christian thinkers in order to define right orders of knowledge in the sense of right doctrine.

3. Textuality: Mimetic Ethics in Late Ancient Readers and Writers Another locus of mimetic proliferation in late antiquity is the relation of the ethical subject to text. Textuality here includes all manner of relating and thus means not only reading, but also exegetical study, exposition or the hearing of exposition in the form of homilies or exegetical lessons, recitation, preservation and authorship. Textual practices like the reading and hearing of edifying stories have received much attention in the scholarly literature, and it is sufficiently established that by such practices the Christian subject is attached to mimetic points of reference in the form of literary persons represented in biblical narratives or in the vibrant new genre of hagiography: the Christians are encouraged to measure their own ethical practice and dispositions according to those persons.39 More recently, however, practices like exegetical study, curation and archiving of texts, and authorship, have received more scholarly attention as textual acts with real significance for religious life.40 In the case of such meta-literate textual practices, the mimetic point of reference is more complex: the person is not supposed to imitate another person represented in the text, but rather to discipline and adapt her mind to the structure

39

On hagiography, see: M.P. REWA, Early Christian Life-Writing: Panegyric and Hagiography, Biography 2.1 (1979), 60–82; C. RAPP, Storytelling as Spiritual Communication in Early Greek Hagiography. The Use of Diegesis, JECS 6.3 (1998), 431–448; KRUEGER, Writing (s. note 18); V. BURRUS, The Sex Lives of Saints. An Erotics of Ancient Hagiography, Philadelphia 2004; A. URBANO, “Read it also to the gentiles”: the Displacement and Recasting of the Philosopher in the “Vita Antonii”, CH 77.4 (2008), 877–914; J. VAN OORT, Autobiographie und Hagiographie in der christlichen Antike, Leuven 2009; T.D. BARNES, Early Christian Hagiography and Roman History, Tübingen 2010. 40 See C.M. CHIN, Grammar and Christianity in the Late Roman World, Philadelphia 2008; On textual practices more generally, see M. WILLIAMS/A. GRAFTON, Christianity and the Transformation of the Book: Origen, Eusebius, and the Library of Caesarea, Cambridge, Mass. 2009, and H.Y. GAMBLE, Books and Readers in the Early Church: A History of Early Christian Texts, New Haven 1995.

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and order manifest in the text or collection of texts.41 The ethical value of engagement with a text arises out of the conviction that certain texts carried revelatory significance such that not only their content, but also their structure and punctuation and the etymologies of place names could reveal principles of moral quality. This notion of the text as medium of all that is valuable to human flourishing is not invented by Christians, but is also the driving force behind the practice of grammatical study and textual criticism throughout the ancient world.42 Origen of Alexandria specifies how the Christian should relate to figures represented in the Old Testament, which, while lacking the status of the New Testament as the primary locus of moral examples and medium of direct ethical instruction, is still valuable as an illustration of right and wrong ways of life: So the true conversion is to read the books of the Old Testament to see those who have become righteous, to imitate them; it is to read those to see who have been reproached, to prevent oneself from falling into such reproaches; it is to read the books of the New Testament, the words of the Apostles; after the reading, it is to write all of this into the heart, to live according to it so that a bill of divorce may not be given to us, but we can belong to the holy inheritance, and, with the full number saved of the pagan nations, Israel may be able then to enter.43

According to Origen, true conversion, or in our terms, ethical commitment to the right mimetic point of reference, is reading; valid Christian life is textual and mimetic, and is achieved by anchoring mimesis in textuality. The reader is to become attached to the text and assimilated with it, to adjust herself according to the moral fabric of the text so as to become compatible with the 41

For a study of such intricate interactions between reader and text, see K. HAINESEITZEN, The Gendered Palimpsest. Women, Writing, and Representation in Early Christianity, New York 2012. 42 On the religious significance of grammatical study in the western empire, see C.M. CHIN, Grammar (s. note 40). For a reading of the Tura papyri which leads to the conclusion that Didymus the Blind, in the eastern empire, was also a grammarian, see B. STEFANIW, The School of Didymus the Blind in the Light of the Tura Find, in: S. Rubenson/L. Larsen, (eds.), Rethinking Monastic Education,. Cambridge 2015, forthcoming. 43 Homilies on Jeremiah and 1Kings 28, FaCh 97, ed. and transl. by J.C. Smith, Washington 1998, 39. Ἡ οὖν ἀληθῶς ἐπιστροφή ἐστιν ἀναγνῶναι τὰ «παλαιά», εἰδέναι τοὺς δικαιωθέντας, μιμήσασθαι αὐτούς, ναγνῶναι ἐκεῖνα, ἰδεῖν τοὺς μεμφθέντας, φυλάξασθαι περιπεσεῖν ταῖς μέμψεσιν ἐκείναις, ἀναγνῶναι τὰ βιβλία τῆς καινῆς διαθήκης, τῶν ἀποστόλων τοὺς λόγους, μετὰ τὸ ἀναγνῶναι γράψαι ταῦτα πάντα εἰς τὴν καρδίαν, βιῶσαι κατ’ αὐτά, ἵνα μὴ καὶ ἡμῖν δοθῇ 'βιβλίον ἀποστασίου', ἀλλὰ δυνηθῶμεν ἥκειν ἐπὶ τὴν κληρονομίαν τὴν ἁγίαν, μετὰ τοῦ πληρώματος τῶν ἐθνῶν σωθέντος δυνηθῇ τότε ὁ Ἰσραὴλ εἰσελθεῖν· ‘ἐὰν γὰρ τὸ πλήρωμα τῶν ἐθνῶν εἰσέλθῃ, τότε πᾶς Ἰσραὴλ σωθήσεται’. Origen, Homilies on Jeremiah, Homily 4.6, in: P. Nautin (ed.), Origène. Homélies sur Jérémie, vol. 1, SC 232, Paris 1976.

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pattern for a right world manifest in that fabric. As Gregory of Nyssa (ca. 335–395 CE) expresses this relation, the Christian should abstract from the narrative portrayed in the text toward a larger ethical lesson: And how again find all the other things which Scripture includes? Because therefore it has been shown to be impossible to imitate the marvels of these blessed men in the exact events, one might substitute a moral teaching for the literal sequence in those things which admit of such an approach. In this way those who have been striving toward virtue may find aid in living the virtuous life.44

Gregory complicates the direct literal notion of mimesis, encouraging his readers to abstract from the events reported in the narrative to the moral principle to which they should adhere. This invitation to the reader to process and apply the ethical significance of the story makes space for an articulated relationship between the reader and the text such that the significance of the text is arrived at not when the text is read precisely, but when it is read toward the internal formation of the reader, that is when it works upon her passions and dispositions and generates order. That is, a hagiographical or scriptural text is to have the same impact on the reader as did knowledge of the Good and the Beautiful for Plato: These things concerning the perfection of the virtuous life, O Caesarius, man of God, we have briefly written for you, tracing in outline like a pattern of beauty the life of the great Moses so that each one of us might copy the image of the beauty which has been shown to us by imitating his way of life.45

44

Gregory of Nyssa, The life of Moses, A.J. MALHERBE (transl.), New York 1978, 65. καὶ τὰ ἄλλα πάντα ὅσα περιέχει ὁ λόγος, ἐπεὶ οὖν ἀδύνατον ἀπεδείχθη δι’ αὐτῶν τῶν πραγμάτων τὰ τῶν μακαρίων μιμήσασθαι θαύματα, μεταληπτέον ἂν εἴη πρός τινα ἠθικὴν διδασκαλίαν ἐκ τῆς ὑλικῆς ἀκολουθίας τὰ ἐνδεχόμενα, δι’ ὧν ἄν τις γένοιτο τοῖς πρὸς ἀρετὴν ἐσπουδακόσι πρὸς τὸν τοιοῦτον βίον συνεργία. (Gregory of Nyssa, De vita Mosis 2.49, in: J. Danielou (ed.), Grégoire de Nysse. La vie de Moïse, SC 1 ter. Paris 1968, 44– 326). 45 MALHERBE (transl.), Life of Moses (s. note 44), 136. Ταῦτά σοι, ὦ ἄνθρωπε τοῦ Θεοῦ, περὶ τῆς τοῦ βίου τοῦ κατ’ ἀρετὴν τελειότητος, Καισάριε, ὁ βραχὺς ἡμῶν οὗτος ὑποτίθεται λόγος, οἷόν τι πρωτότυπον ἐν μορφῇ κάλλους τὸν τοῦ μεγάλου Μωϋσέως ὑπογράψας σοι βίον, ἐφ’ ᾧ τοὺς καθ’ ἕκαστον ἡμῶν διὰ τῆς τῶν ἐπιτηδευμάτων μιμήσεως ἐν ἑαυτοῖς μεταγράφειν τοῦ προδειχθέντος ἡμῖν κάλλους τὸν χαρακτῆρα. (De vita Mosis 2.319). See also MALHERBE (transl.), Life of Moses (s. note 44), 32. Ἴσως δ’ ἂν τοίνυν ἐξαρκέσειε καὶ ἡμῖν ἑνός τινος τῶν κατὰ τὸν βίον εὐδοκίμων ἡ μνήμη τὴν τοῦ πυρσοῦ χρείαν πληρῶσαι καὶ ὑποδεῖξαι πῶς ἐστι δυνατὸν τῷ ἀκλύστῳ τῆς ἀρετῆς λιμένι τὴν ψυχὴν καθορμίσαι, μηδαμοῦ ταῖς τοῦ βίου ζάλαις ἐγχειμασθεῖσαν μηδὲ κατὰ τὰς ἐπαλλήλους τῶν παθῶν τρικυμίας τῷ βυθῷ τῆς κακίας ἐνναυαγήσασαν. Τάχα γὰρ καὶ τούτου χάριν ἡ τῶν ὑψηλῶν ἐκείνων πολιτεία δι’ ἀκριβείας ἱστόρηται, ὡς ἂν διὰ τῆς τῶν προκατορθωκότων μιμήσεως ὁ ἐφεξῆς βίος πρὸς τὸ ἀγαθὸν ἀπευθύνοιτο. (De vita Mosis 1.13). “Perhaps, then, the memory of anyone distinguished in life would be enough to fill our need for a beacon light and to show us how we can bring our soul to the sheltered harbor of virtue

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It is significant that Gregory defines this relation at the beginning of his Life of Moses, a text which makes a biblical exemplar the subject of hagiography. The proliferation of hagiography from the mid-fourth century onward would similarly connect their subjects with biblical figures; Gregory himself later portrays Gregory Thaumaturgus (ca. 213–270 CE), traditionally considered the founder of Christianity in his home region of Cappadocia, as “a new Moses”.46

4. The Created Order and the Civil Order In the late antique imagination, the civil order was a continuation of the cosmic order, and both the governance of the cosmos and of the empire depended on a copy-model structure according to which those in authority could and should provide for the moral guidance and betterment of their subjects. One of these paternal responsibilities was to assimilate as far as possible with the divine order, to govern in a manner which was compatible with that order, being enabled to do this by the cultivation of virtue. Subjects in turn should learn from the example of their rulers and submit to the exercises in moderation, justice, temperance, and self-control which were encouraged as means of sustaining the welfare and stability of the empire. The anchoring of mimesis in the structure of the cosmic and civil order is clearly expressed by Porphyry of Tyre (ca. 234–305 CE), a Neoplatonist philosopher and contemporary of Origen: First of all, I would like to explain to you the mode of theology practised by the Egyptians. For those people, imitating the nature of the universe and the demiurgic power of the gods, display certain signs of mystical, arcane and invisible intellections by means of symbols, just as nature copies the unseen principles in visible forms through some mode of symbolism, and the creative activity of the gods indicates the truth of the forms of the visible things. Perceiving, therefore, that all superior beings rejoice in the efforts of their inferiors to imitate them, and therefore wish to fill them with good things, insofar as it is possible

where it no longer has to pass the winter amid the storms of life or be shipwrecked in the deep water of evil by the successive billows of passion. It may be for this very reason that the daily life of those sublime individuals is recorded in detail, that by imitating those earlier examples of right action those who follow them may conduct their lives to the good.” 46 Gregory of Nyssa, De vita Gregorii Thaumaturgi, Migne 46, 908, line 37–58. One particularly questionable miracle story, in which the Thauamturg strikes his adversaries dead, is ethically purged by being described as an imitation of those of Peter: De vita Gregorii Thaumaturgi, Migne 46, 941, line 26: τοῖς αὐτοῖς ἐγγενέσθαι παιδαγωγούμενον. Εἰκότως τοίνυν ὁ μιμητὴς τοῦ Πέτρου διὰ πολλῶν τῶν κατὰ τὰς εὐεργεσίας θαυμάτων δείξας τὸ τῆς δυνάμεως.

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through imitation, it is reasonable that they should proffer a mode of concealment that is appropriate to the mystical doctrine of concealment in symbols.47

Religious signs and symbols reflect the nature of the universe, making that order of things manifest symbolically. Nature itself is a copy of unseen principles, and gods and governors are less derivative instances of correlation with those principles. What is significant for mimetic ethics is what Porphyry takes as an obvious point: that all superior beings are gratified by efforts on the part of their subordinates to imitate them, and that such imitation will necessarily lead to the betterment of those subordinates: those in authority are supposed to serve as moral exemplars and they can serve as such because they are higher up in the chain of cosmic derivation from the One. Within this order, some individuals more accurately reflect divine goodness than others, and indeed those with greater capacities and responsibilities are under greater mimetic obligations, as the third-century Neoplatonist philosopher explains: Besides, abstinence from animal food, as we have said in the first book, is not simply recommended to all men, but to philosophers, and to those especially, who suspend their felicity from God, and the imitation of him. For neither in the political life do legislators ordain that the same things shall be performed by private individuals and the priests, but conceding certain things to the multitude, pertaining to food and other necessaries of life, they forbid the priests to use them, punishing the transgression of their mandates by death, or some great fine.48

47 Iamblichus, De Mysteriis, in: E.C. Clarke/J.M. Dillon/J.P. Hershbell (eds.), WGRW 4, Atlanta 2003, 291. πρότερον δέ σοι βούλομαι τῶν Αἰγυπτίων τὸν τρόπον τῆς θεολογίας διερμηνεῦσαι· οὗτοι γὰρ τὴν φύσιν τοῦ παντὸς καὶ τὴν δημιουργίαν τῶν θεῶν μιμούμενοι καὶ αὐτοὶ τῶν μυστικῶν καὶ ἀποκεκρυμμένων καὶ ἀφανῶν νοήσεων εἰκόνας τινὰς διὰ συμβόλων ἐκφαίνουσιν, ὥσπερ καὶ ἡ φύσις τοῖς ἐμφανέσιν εἴδεσι τοὺς ἀφανεῖς λόγους διὰ συμβόλων τρόπον τινὰ ἀπετυπώσατο, ἡ δὲ τῶν θεῶν δημιουργία τὴν ἀλήθειαν τῶν ἰδεῶν διὰ τῶν φανερῶν εἰκόνων ὑπεγράψατο. Εἰδότες οὖν χαίροντα πάντα τὰ κρείττονα ὁμοιώσει τῶν ὑποδεεστέρων καὶ βουλόμενοι αὐτὰ ἀγαθῶν οὕτω πληροῦν διὰ τῆς κατὰ τὸ δυνατὸν μιμήσεως, εἰκότως καὶ αὐτοὶ τὸν πρόσφορον αὐτῆς τρόπον τῆς κεκρυμμένης ἐν τοῖς συμβόλοις μυσταγωγίας προφέρουσιν. Iamblicus, De mysteriis 7.1, in: É. des Places (ed.), Jamblique. Les mystères d’Égypte, Paris 1966, 38–215. 48 T. TAYLOR, Select Works of Porphyry. Containing his Four Books On Abstinence from Animal Food; his Treatise On the Homeric Cave of the Nymphs; and his Auxiliaries to the Perception of Intelligible Natures, London 1823, (several reprints, currently available from the Prometheus Trust, 1994), 45. ἥ τε ἀποχὴ τῶν ἐμψύχων, καθάπερ κἀν τῷ πρώτῳ ἐλέγομεν, οὐχ ἁπλῶς πᾶσιν ἀνθρώποις παραγγέλλεται, ἀλλὰ τοῖς φιλοσόφοις, καὶ τούτων μᾶλλον τοῖς ἐκ τοῦ θεοῦ καὶ τῆς τούτου μιμήσεως τὴν σφῶν εὐδαιμονίαν ἀνάψασιν. οὐδὲ γὰρ ἐν τῷ πόλεως βίῳ τὰ αὐτὰ οἱ νομοθέται τοῖς τε ἰδιώταις καὶ τοῖς ἱερεῦσιν ἀφωρίσαντο πρακτέα, ἀλλ’ ἔστιν ἐν οἷς συγχωρήσαντες τοῖς πολλοῖς τὰ κατὰ τὴν τροφὴν καὶ τὸν ἄλλον βίον, τοὺς ἱερέας χρῆσθαι τοῖς αὐτοῖς διεκώλυσαν, θάνατον ἢ ζημίας μεγάλας θέν τες τὰ ἐπιτίμια, Porphyry, De abstinentia 2.3, in: A. Nauck (ed.), Porphyrii philosophi Platonici opuscula selecta, Leipzig 21886 (repr. Hildesheim 1963), 85–269. This

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Philosophers who aim to imitate God are obliged to be vegetarian even though this is not an obligation for human beings in general. Just as God requires more from philosophers, the governing class requires more from priests than from ordinary people. Thus the civic order has more differentiated classes and some of those require more stringent mimetic efforts than others. This is important because those, like rulers and priests, who undertake a stricter mimetic regime, pull extra weight on behalf of those who, due to ignorance or inability, are not able to discipline themselves to the same standard. While Christians in the late fourth and fifth centuries connect this idea to their own authorities, including the emperor, in the precise manner that seemed normal and obvious to any late Roman thinker, before there was a Christian emperor, writers like Origen connected the divine to the human order via Christ and the angels primarily. We can see this mimetic ordering structure in Origen’s apology Contra Celsum, in which he argues that human beings slot into a chain of attachment in which the angels dispose their minds and attention toward God, the next position up the chain, while providing for and protecting human beings, the next position down the chain, for whom they serve as an example: And it is enough to secure that the holy angels of God be propitious to us, and that they do all things on our behalf, that our disposition of mind towards God should imitate as far as it is within the power of human nature the example of these holy angels, who again follow the example of their God.49

It is worth noting here that Origen remains fixed on the notion of ethics as correct mental focus, but now that state is articulated as a means of rightly fitting into the chain of being: we should dispose our minds and attention toward God, according to the example of the angels, while the angels in turn imitate God by directing their benevolence toward human beings.50 sentiment is also expressed in De abstinentia. 4.18: “So that it is requisite either to imitate priests, or to be obedient to the mandates of all legislators; but, in either way, he who is perfectly legal and pious ought to abstain from all animals.” 49 ANF, 544. Ἀρκεῖ δὲ πρὸς τὸ ἵλεως ἡμῖν τοὺς ἁγίους ἀγγέλους εἶναι τοῦ θεοῦ καὶ πάντα πράττειν αὐτοὺς ὑπὲρ ἡμῶν ἡ πρὸς τὸν θεὸν διάθεσις ἡμῶν, ὅση δύναμις ἀνθρωπίνῃ φύσει, μιμουμένη τὴν ἐκείνων προαίρεσιν, μιμουμένων αὐτῶν τὸν θεόν,·Origen, Contra Celsum. 5.5; All Contra Celsum quotes taken from: M. BORRET, Origène. Contre Celse, 4 vols., SC 132, 136, 147, 150, Paris 1:1967; 2:1968; 3–4:1969. 50 The same principle is asserted again in ANF, 653. Εἰ δὲ καὶ πλῆθος ποθοῦμεν ὧν φιλανθρώπων τυγχάνειν θέλομεν, μανθάνομεν 'Ὅτι χίλιαι χιλιάδες παρειστήκεισαν αὐτῷ, καὶ μύριαι μυριάδες ἐλειτούργουν αὐτῷ', αἵτινες ὡς συγγενεῖς καὶ φίλους τοὺς μιμουμένους τὴν εἰς θεὸν αὐτῶν εὐσέβειαν ὁρῶντες συμπράττουσιν αὐτῶν τῇ σωτηρίᾳ τῶν ἐπικαλουμένων τὸν θεὸν καὶ γνησίως εὐχομένων, ἐπιφαινόμενοι καὶ οἰόμενοι αὐτοῖς δεῖν ἐπακούειν καὶ ὥσπερ ἐξ ἑνὸς συνθήματος ἐπιδημεῖν ἐπ’ εὐεργεσίᾳ καὶ σωτηρίᾳ τῶν εὐχομένων θεῷ, ᾧ καὶ αὐτοὶ εὔχονται. Καὶ γὰρ 'Πάντες εἰσὶ λειτουργικὰ πνεύματα, εἰς

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Origen also conceives of just behaviour as a reflection of divine order with a double effect: it makes manifest the image of God, and in so doing shapes the agent more closely to that image. Thus mimesis works upon the individual to make him a more accurate reflection of the mimetic point of reference, in this case the divine image: Further, every thought, word, and deed of theirs [the “children of God”/”joint heirs with Christ”], formed by the Only-Begotten Word after Himself, reproduces the image of the invisible God and conforms to the image of Him that created them – who maketh His sun rise upon the good and bad and raineth upon the just and the unjust.51

Later, this cosmic chain of mimetic attachment is defined doctrinally and thus consolidated, as we see in this passage from the writings of Athanasius in connection with the christological controversy eventually resolved at the council of Nicea in 325: The Son is one in essence with the Father: by way of signifying, that the Son was from the Father, and not merely like, but the same in likeness, and of shewing that the Son’s likeness and unalterableness was different from such copy of the same as is ascribed to us, which we acquire from virtue on the ground of observance of the commandments.52

Here it is clearly stated that while Christ has a close mimetic relationship with God by nature (“the same in likeness”), human beings can only approximate the quality of that image by developing virtue.

διακονίαν ἀποστελλόμενα διὰ τοὺς μέλλοντας κληρονομεῖν σωτηρίαν' (Contra Celsum 8.34). And if we would wish to have besides a great number of beings who shall ever prove friendly to us, we are taught that “thousand thousands stood before Him, and ten thousand times ten thousand ministered unto Him.” And these, regarding all as their relations and friends who imitate their piety towards God, and in prayer call upon Him with sincerity, work along with them for their salvation, appear unto them, deem it their office and duty to attend to them, and as if by common agreement they visit with all manner of kindness and deliverance those who pray to God, to whom they themselves also pray: “For they are all ministering spirits, sent forth to minister for those who shall be heirs of salvation.” On angels in late antiquity, see E. MUEHLBERGER, Angels in the Religious Imagination of Late Antiquity, New York 2013. 51 Origen, On prayer, ACW 19, transl. by J.J. O’Meara, reprint 1954, New York. πᾶν οὖν ἔργον αὐτοῖς καὶ λόγος καὶ νόημα, ὑπὸ τοῦ μονογενοῦς λόγου μεμορφωμένα κατ’ αὐτὸν, μεμίμηται τὴν εἰκόνα 'τοῦ θεοῦ τοῦ ἀοράτου' καὶ γέγονε 'κατ’ εἰκόνα τοῦ κτίσαντος,' ἀνατέλλοντος 'τὸν ἥλιον' 'ἐπὶ πονηροὺς καὶ ἀγαθοὺς καὶ' ρέχοντος 'ἐπὶ δικαίους καὶ ἀδίκους' ὡς εἶναι ἐν αὐτοῖς 'τὴν εἰκόνα τοῦ ἐπουρανίου,' καὶ αὐτοῦ ὄντος εἰκόνος θεοῦ, or. 22.4. 52 NPNF II.4, 163. ὁμοούσιον εἶναι τῷ πατρὶ τὸν υἱόν, ἵνα μὴ μόνον ὅμοιον τὸν υἱόν, ἀλλὰ ταὐτὸν τῇ ὁμοιώσει ἐκ τοῦ πατρὸς εἶναι σημαίνωσι καὶ ἄλλην οὖσαν τὴν τοῦ υἱοῦ ὁμοίωσιν καὶ ἀτρεψίαν δείξωσι παρὰ τὴν ἐν ἡμῖν λεγομένην μίμησιν, ἣν ἐξ ἀρετῆς διὰ τὴν τῶν ἐντολῶν τήρησιν ἡμεῖς προσλαμβάνομεν. H.G. Opitz (ed.), Athanasius Werke, vol. 2.1. Berlin 1940, 1–45. De decretis Nicaenae synodi 20.3.

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Human beings can also anchor their mimetic efforts in divine provisions by engaging the cosmic order as a means of deriving truth about higher realities: So with all else that God made – it is good for the use of man, but it bears also the imprint of celestial things, whereby the soul may be taught, and elevated to the contemplation of the invisible and eternal. Nor is it possible for man, while he lives in the flesh, to know anything that transcends his sensible experience, except by seizing and deciphering this imprint. For God has so ordered His creation, has so linked the lower to the higher by subtle signatures and affinities, that the world we see is, as it were, a great staircase, by which the mind of man must climb upwards to spiritual intelligence.53

The mental betterment of the human person, in particular the development of a capacity for the comprehension of divine revelation, hinges upon realisation of the mimetic nature of the created order.54

5. Conclusions I set out to survey mimetic ethics where it appears most counter-intuitive and most particular to the religious and intellectual culture of the late Roman empire. Its function of binding individuals, their imaginations and beliefs, to the created order, is apparent not only in the simple mimesis of taking respected individuals as examples to be followed, but also in the way mimesis is anchored to textuality and epistemology. For both pagans and Christians, mimesis holds each level of the cosmic and imperial order together, and simultaneously ensures that each member of that order is attached in the right place, relating both the inner world and social behaviour to the correct mimetic point of reference. In the late antique religious imagination, ethics are inherently mimetic and are grounded in an ontological chain which provides cosmic, civil, and internal order. Mimetic ethics produces disciplined minds in an orderly world. Since in the ancient world, such persistent exercise of discipline and control over the self was synonymous with virtue, mimesis ensured that the empire and its members were not only orderly, but good.

53 Origen, Commentarium in Canticum Canticorum, 3.12: The Song of Songs. Commentary and Homilies, ed. by R.P. Lawson, ACW 26, New York 1957, 220. 54 For the elaboration of this idea in Evagrius Ponticus, see B. STEFANIW, Evagrius Ponticus on Image and Material, CiStQ 42.2 (2007), 125–135.

Mastering the Disciple Mimesis in the Master – Disciple Relationships of Rabbinic Literature Ron aiweld 1. The Two Hierarchies of the Master-Disciple Relationship1 During the defense of my PhD dissertation, while answering the questions of the jury members, I was surprised by the feeling that in spite of the visible hierarchial difference between us (they were my judges), we were speaking as if we were equals. After so many years in the role of the student, looking up to the professors, I found myself needing to adapt to another position, in which my professors and I belonged to the same class, so to speak. Indeed, the writing, submission and especially the defense and publication of one’s dissertation are important rites de passage in the world of academia – once you have completed them you become a recognized member of the community, a homo academicus in your own right. These rituals are crucial for the survival of a system dedicated not only to the transmission of knowledge but also to the regeneration of that system: in order to produce new knowledge, there have to be new masters, i.e., new agents of the academic discourse whose ideas are accepted as legitimate and valuable academic acts. As anyone who has written and defended a dissertation knows, there is a great amount of mimesis that is involved in these academic rites de passage – during both the rituals themselves and the long years of their preparation. We imitate our masters, both living and dead; we try to follow their steps. But at the same time we are expected to offer our own perspective on the road they chose to take, and sometimes we find the need to change its direction and to 1

This part of the article is based on chapter 6 in R. NAIWELD, Les antiphilosophes. Pratiques de soi et rapport à la loi dans la littérature rabbinique classique, Paris 2011, 149– 172. I would like to thank Blossom Stefaniw for her very substantial contribution to this article in the form of editing for style and expression as well as clarifying the conceptual relations of rabbinic literature and early Christian monastic practice which is her own area of expertise. Thus this article profits from many past conversations on religious authority and from the natural collaboration arising from scholarly friendship.

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offer a new understanding of it. Thus the mimetic aspect of study is not a matter of simple imitation, but rather of articulating a relationship to one’s forbears as role models. There is an inherent tension between old and new in the process of the production of new agents of a scholarly discourse. This paper examines the tension between repetition and innovation in the context of classic rabbinic literature, redacted by Jews in Palestine and Babylonia between the second and the seventh centuries CE. This literature should be qualified as a scholarly discourse for two main reasons: first, it documents discussions between scholars with regard to legal, hermeneutical, moral and other textual traditions; second, its study constitutes one of the main elements of the scholarly activity of the rabbinic academy (yeshivah) from the middle ages to our own day. The rabbinic discourse, like the academic one, features two types of subjects – the disciple or student (talmid hakham) and the master (rav or rabbi). The former is engaged in a mimetic relationship intended to transform him into the latter. Because of some of the particularities of this discourse and the way in which it was preserved in the Talmud and other documents of classic rabbinic literature, it manifests some features of the process by which a disciple becomes a master that seem relevant to other intellectual and ethical contexts as well and is therefore an apt source for inquiries into mimetic ethics in other educational contexts. By “mastering the disciple” I mean to denote the process of personal guidance and scholarly training designed to produce a fully developed agent of the discourse who will have acquired the authority to instruct others. Thus I mean to play on both senses of the word “master” in English: to attain mastery or full command of a subject, on the one hand, and, on the other hand, to be the master of a person, one who has control, responsibility, authority, and the duty to protect and guide.2 What I would like to show in the following is that rabbinic literature highlights a point in this process which has some surprising features, especially when compared with the master-disciple relationships typical of Christian asceticism. Rabbinic literature provides us with many carnivalesque moments that seem to reverse the normal relationship between the master and the disciple, according to which the disciple is to be instructed in intellectual or ethical matters by the master.3 The inversion of 2

Authority of this paternal kind was a cultural norm in late antiquity and is manifest in the role of the head of the household, civic patrons, and the emperor. See P. BROWN, Power and Persuasion in Late Antiquity: Towards a Christian Empire, Madison 1992. According to Peter Brownʼs article, the Christian holy man later took over the patronage role: P. BROWN, The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity, JRS 61 (1971), 80– 101. 3 Such suspension of normal patterns of behavior in connection with rites of passage can be understood as the entrance of a liminal state. For the foundational study of liminality, see: A. VAN GENNEP, Les rites des passages: étude systématique des rites, Paris 1981 (first printed in 1909); For more on liminal states in religious life, see V. TURNER,

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the relationship is understood here to function as an important step in the formation of the rabbinic disciple: in this ambivalent but highly significant moment, he learns how to become a master by playing the role of one in relation to his own master. Thus he finds himself in a very tense mimetic space, as if he is imitating the teacher beyond the rights of his present status, making a step across a boundary which is a wager backed by his own future status as a rabbi. He is imitating his future or already-trained self, when he will be the peer and no longer the student of the rabbi he addresses. However, as we will see later, rabbinic literature attests also to a certain discomfort within rabbinic circles, vis-à-vis this carnivalesque model of master-disciple relationship. It will be argued that when the rabbinic movement started to institutionalize and to create academies of its own, it could no longer tolerate these troublingly ambivalent scenes that blurred the borders between the novice and the already established rabbi.4 The hierarchy between the two distinct classes – teachers and students – had to be protected in order to guarantee the functioning and stability of the academy and the stability of the rabbinic movement in general. The mastering process in general and that of the rabbinic disciple in particular is understood here in terms of “subjectivization” since it transforms the disciple into a subject of rabbinic discourse. He is not only an agent who acts according to its law, he is also a rabbi who can pronounce new laws, new teachings, new truths, with the authority bestowed upon him by the discourse. I am inspired here by Michel Foucault, who dealt with the relationship between masters and disciples as a part of his treatment of a more general question – that of the relationship between the human subject and the truth. Foucault understood subjectivization as a process in which the individual develops a relationship with the truth that enables him or her to be constituted as one of its subjects. Using the Graeco-Roman culture, along with its early Christian manifestation, as his background, Foucault tried to analyze different models of the inscription of the subject in the truth. He claimed that in the Hellenistic philosophical schools the relationship with one’s master played a crucial role in this process, as the master was considered to be an already constituted subject of truth and thus, in our terms, an appropriate mimetic paradigm. The master’s role is not only to transmit knowledge to the disciple The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London 1969; IDEM, Liminality and the performative genres, in: F. Allan Hanson (ed.), Studies in symbolism and cultural communication. Lawrence 1982, 25–41; IDEM, Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage, in: idem, The Forest of Symbols, Ithaca 1967, 93–111. IDEM, Liminal to liminoid in play, flow, and ritual. An essay in comparative symbology. Rice University Studies 60 (1974), 53–92; B. THOMASSEN, The Uses and Meaning of Liminality, International Political Anthropology 2 (2009), 5–28. 4 On the mechanisms of institutionalization and the shift away from charismatic authority, see M. WEBER, On charisma and institution building: selected papers, Chicago 1968.

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(a scholarly mission) but also to help the latter to form him or herself (an ethical mission)5. The ethical dimension of the master is also very present in the context of Christian monasticism, as was shown recently by Blossom Stefaniw’s analysis of the Letters of Anthony6. As I have shown elsewhere, Foucault’s conception of the subjectivization process in general and the master-disciple relationship in particular is based on a concept of human epistemic potential prevalent in the Graeco-Roman world. This model follows a Platonic anthropology which posits the human being’s capacity to connect to and even be assimilated with a divine entity who is also the source of truth7. This conception is perhaps best articulated in Plato’s dialogues such as the Phaedo where the master awakens and sets into motion the sparks of logos that are found in the disciple’s soul. This idea underlines the notion of an already established component of the human soul that allows the individual to eventually access a superior source of truth – the divine logos. What it also underlines is the need to have some sort of an intermediary in the form of the master (Phaedo’s Socrates for instance) that will both trigger and control the subjectivization process.8 In fact, according to Foucault’s introductory remarks of his 1981–1982 seminar, this is precisely what distinguishes the ancient, Hellenistic subject from the modern Cartesian one. Whereas the latter accesses the truth as an independent agent relying only on his or her mind, the former needs someone else, an external model or mediator.9

5 See mainly M. FOUCAULT, The Hermeneutics of the Subject. Lectures at the Collège de France 1981–1982, New York 2005; IDEM, On the Governments of the Living. Lectures at the Collège de France 1979–1980, New York 2014. 6 B. STEFANIW, The Oblique Ethics of the Letters of Antony; in: K. Berthelot/R. Naiweld/D. Stökl Ben Ezra (eds.), L’identité à travers l’éthique. Nouvelles perspectives sur la formation des identités collectives dans le monde gréco-romain, Paris 2015, 169–185. 7 R. NAIWELD, Les antiphilosophes (s. note 1). I have based my critique of Foucault on V. DESCOMBES, Le complément de sujet. Enquête sur le fait d’agir de soi-même, Paris 2004. 8 For an early Christian example of the master-disciple relationship which results from this model, see the Panegyric to Origen by his student Gregory Thaumaturgus in Gregory Thaumaturgus: Life and Works, ed. and trans. by M. Slusser, Washington 1998. See also B. STEFANIW, Gregory Taught, Gregory Written: the effacement and definition of individualization from the third to the fourth centuries, in: J. Rüpke (ed.), Individualisation of Religion in Historical Perspective III, Berlin 2011, 119–144. Further articulation of this model especially as it appears among Christian ascetics, and the epistemological grounds for it, can be found in EADEM, Mind, Text, and Commentary: noetic exegesis in Origen of Alexandria, Didymus the Blind, and Evagrius Ponticus, in: D. Brakke/A.-Chr. Jacobsen/J. Ulrich (eds.), Early Christianity in the Context of Antiquity 6, Frankfurt 2010. The primary pagan source on master-disciple attachment on this model is the Vita Plotini: Plotinus, LCL I, ed. and trans. by A.H. Armstrong, London 1966. 9 This notion of a class of individuals who are more closely assimilated to the divine also has a strong impact on imperial and ecclesial authority, as has been demonstrated by

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Thus, in the context of Graeco-Roman antiquity, the master plays a crucial role – he is placed halfway between the individual and the truth. The vital role of the master as mediator is especially salient in more spiritually oriented discourses, since they put more emphasis on the ethical rather than the intellectual aspects of the individual’s formation.10 That is of course the case in early Christian monasticism in which the role of the master is indeed more explicitly treated as indispensible than in the philosophical (that is more intellectually oriented) discourses. It seems worthwhile to compare the rabbinic case to Christian monasticism since in both cases we find a non-philosophical discourse that articulates the relationship between the master and the disciple in a biblical framework. In other words, contrary to the philosophical schools, in the rabbinic and the monastic ones the identity of the superior authority who holds the truth is rather clear – it is the biblical God and his Holy Scriptures.11 We may regard this anthropological notion as an ideology whose consequence is the stabilization of the hierarchical relationship between the master and the disciple: it represents the relationship between the two figures in terms of the quality and development of the divine presence in each one of them. The master is considered the one who is closer to God since the divine presence in his soul is bigger or purer: the figure of the master is constructed as the perfect middle-man between God on the one hand, and the disciple, who has a limited divine truth in him and wishes to increase it, on the other. This ideology is based on the notion that the soul is capable of connecting to the divine source of truth. This notion is, however, not constitutive in classic rabbinic discourse. The ancient rabbis seem to be very loyal to what we may call the biblical pre-Hellenistic conception of the human soul; for them it contains merely the vital energy that animates the body and does not necessarily contain sparks of divine logos in it. What follows is that in order to get closer to God, the rabbinic individual cannot develop or purify his soul, nor can he model himself on the more fully cultivated soul of another human being – the master, the holy man or any other social type used by the different discourses as the intermediary between the simple human being and the divine logos. Making oneself acceptable to God is achieved through the law, but does not entail an ontological shift away from being human. In rabbinic S. ELM, Sons of Hellenism, Fathers of the Church, Berkeley 2012, focusing especially on Gregory Nazianzus and the Emperor Julian. 10 On conflation of the ethical and intellectual, see P. HADOT, La philosophie comme manière de vivre, Paris 2002, and on the emotional or subject-forming components of Hellenistic philosophy, see M. NUSSBAUM, The Therapy of Desire, Princeton 1994. 11 Indeed, recent studies have underlined the affinities between Christian monasticism and rabbinic discourse in late antiquity, for a philological and literary perspective see for example M. BAR ASHER SIEGEL, Early Christian Monastic Literature and the Babylonian Talmud, Cambridge 2013.

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literature, only God is divine, and even the most dedicated master is merely human. Since the door is shut on an ontological shift from divine to human, the ideology that stabilizes the master-disciple hierarchy in the Hellenistic world is not available. Thus the difference between the master and the disciple is extremely fragile in the context of rabbinic literature; it is not a difference in kind, but a temporal one: the master has already done the work that the disciple is still doing. The master is different from his student by degree, but is still firmly located in the human realm and therefore cannot take on the mediating function of the Hellenistic philosopher, because the master is not considered ontologically or spiritually superior to the disciple. Both of them are regarded as equal in the terms of their relation to the source of truth, both are human and obliged to the law. Thus, the rabbinic disciple’s imitation of his master is mimetic in a different way than that of the philosophical or monastic disciple of his abba: neither he nor his master are trying to become divine; they are both adapting themselves to the mode of existence required by the law, so that the superiority of the rabbi is that of experience. As such, it remains open to question, contingent, and requiring affirmation from instance to instance. The difference between the rabbinic discourse on the one hand, and the monastic and philosophical discourses on the other hand, helps us to distinguish between two different types of hierarchies in the master-disciple relationships of late antiquity: the social and the spiritual. In both cases we find that the hierarchy between the two figures is respected on the social level: the disciple reveres his master and expresses difference and respect in his interactions with the master. But the disciple of the rabbinic master does not treat him as ontologically superior. The many rabbinic sources, of which several examples will be discussed below, in which a disciple inverts the customary roles and instructs his master in the most vital domains of rabbinic intellectual and ethical knowledge, make this point very clear. We can formulate the difference as follows: whereas in the monastic discourse the social hierarchy is fully contained within the spiritual one, in the rabbinic discourse there are two separate hierarchies between which a constant negotiation is taking place: the one between the disciple and God and another one, between the disciple and his master. If in the monastic case the two hierarchies overlap one another, in the rabbinic case they exist separately, overlapping each other with great difficulty, and always bearing the potential of a conflict. The disciple is obliged to God in ways he is not obliged to his master. That is, if the relations between the divine, the master, and the student can be imagined as a chain of decreasing ontological quality with permeable membranes at each stage, in the imagination of rabbinic literature, the membrane between the divine and the human is not permeable, and each human individual is subject to the same divine authority. Thus mimesis occurs in a structure in which there are very modest limits on the potential for transformation.

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There is no doubt that rabbinic culture always respects the social hierarchy between master and disciple. This can be seen in the very term used to designate the rabbinic master: rav or rabbi. The word was probably already in use as an honorific title during the late second temple period. In its biblical sense it means “big” or “numerous”. It was also used to designate the master of slaves. This is an important fact because it indicates that the Hebrew term covers the two meanings of the modern word “master” – that of lord (kyrios) and of teacher (didaskalos) – a phenomenon that we meet in Western languages only in the middle ages. In fact, the use of the expression kyrios – didaskalos is current in patristic sources, and in general it is clear that the didaskalos is also the kyrios even when it is not said so explicitly. It is therefore intriguing that precisely the discourse that condenses the two senses (kyrios and didaskalos) into the same term, is also the one that separates them on the conceptual level in the most radical way. This particular feature of the rabbinic master-disciple relationship has to be placed in the context of the historical process of the institutionalization of the rabbinic movement. I would argue that in the first formative period of the rabbinic movement, master-disciple relationships were indeed based on mimesis on the behavioral and intellectual level, without assuming as a given the spiritual superiority of the master, or more precisely with the constant questioning of it. However, when the rabbis began to form a distinct movement, they had to stabilize this social hierarchy in an ideological framework, and thus created a system that is much closer to the monastic one – the intellectual teacher became the spiritual master. The condensation of the two aspects of master-disciple relationship was never perfect, and the tension between them continued to exist well into the late Talmudic period and perhaps even beyond it.

2. When the Disciple Teaches the Master In the second chapter of the first tractate of the Mishnah12 we find three cases in which the disciples of Rabban Gamaliel II (end of 1st– beginning of 2nd century) criticize their master for having acted against his own teaching in the matter of the recitation of the shema prayer. 5) A bridegroom is exempt from the recital of the shema from the first night until the end of the Sabbath, if he has not consummated the marriage. It happened that when Rabban Gamaliel married, he recited the shema on the first night. So his disciples said to him, “Our master, have you not taught us that a bridegroom is exempt from the recital of the shema?” He replied to them, “I will not listen to you to remove from myself the Kingship of Heaven even for a moment.” 12

The accepted date of redaction of the Mishnah is the first half of the third century.

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6) [Rabban Gamaliel] bathed on the first night after the death of his wife. His disciples said to him, “Have you not taught us, our master, that a mourner is forbidden to bathe?” He replied to them, “I am not like other men, being very delicate.” 7) When Tavi his slave died, he accepted condolences for him. His disciples said to him, “Have you not taught us, our master, that condolences are not accepted for slaves?” He replied to them, “My slave Tavi was not like other slaves; he was a good man.”13

One can argue about the validity of Gamaliel’s defense, but the most important point for us is that not only that his disciples felt free to criticize him, but that the redactors of the Mishnah, which is the text upon which the curriculum of rabbinic learning from the third century onwards is based, chose to incorporate these debates in the opening chapters of their soon to be canonized book. We have other similar cases in early rabbinic literature. Thus, in Mishnah Nidah 8:3 the disciple of Rabbi Akiba questions his decision regarding the state of purity of a certain woman. In Tosefta Maaser Sheni 5:16 Rabbi Eliezer changes his decision with regard to the liberation of his vineyard, so it will be considered as liable for the “second tithe”, after his disciples remind him of his own previous decision.14 The inversion of the master-disciple relationship seems to find ideological support in tractate Peah of the Palestinian Talmud15, in an exegetical passage that can be read as a theological justification of the phenomenon of the disciple who contradicts, questions, or even teaches his master. The exegesis, which is attributed to Rabbi Tanhuma (in the name of Rav Huna), comments the verse “And Betzalel […] did all that YHWH had ordered Moses” (Ex 38:22). The rabbi asks why the verse was formulated in such an awkward way instead of simply saying “and Betzalel did all that Moses had ordered him to do”. The talmudic text answers as follows: “even things that he (Betzalel) did not hear from his master (Moses), his mind agreed to them”. The same move is made with a similar verse about Moses and Joshua (Joshua 11:15). In fact, this teaching expresses the rabbinic refusal to contain the relationship between the disciple and God within the relationship of the former with his master. It says (again, at the outset of the tractate) that the link between the disciple and God is independent of his relationship with his master. We may argue that it defends an ideology opposed to that of monastic literature – the spiritual hierarchy is not subordinate to the social one: no one claims that Betzalel was “greater” than Moses, but the greatness of the latter does not make him the indispensible mediary between Betzalel and God.

13

M. Berkahot 2:5–7. See also Tossefta Parah 16:8; Ohaloth 16:8. 15 The Palestinian Talmud was redacted around the end of the fourth century CE. 14

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3. Inherent Tension between the Two Hierarchies and Attempts at Reconciliation As was stated before, the rabbinic disciple is also a member of a religiousintellectual movement, in which the teaching and the transmission of knowledge are central activities. As the institutional aspect of a religiousintellectual movement becomes more important, as it did for rabbinic Judaism towards the end of the Talmudic period, so does the need for a visible hierarchical structure that distinguishes between those who possess the knowledge – the masters – and those who do not – the disciples. I follow here both Catherine Hezser and David Goodblat, who argue that the rabbinic academies in Palestine and Babylonia appear only during the late and even post talmudic period, and that before that in the early talmudic period rabbinic teaching was organized mostly in much less institutionalized circles of disciples16. If the relatively intimate circle formed around an individual teacher can tolerate some ambiguity in the manner in which the disciples relate to the master, an institution such as the yeshivah has to fix rather strict rules with regard to the hierarchical difference between the two “classes”. Obviously, when dealing with large numbers of students, the freedom that can be allowed in the more intimate setting is simply impossible. We may compare the earlier and informal circles of disciples to a research seminar with PhD students. In such a setting the institutional difference between the professor and his or her students is underplayed – normally she would not speak ex cathedra, she will let her students introduce her to new materials and so forth. Her role is more to direct the students than to convey new knowledge. The setting of the talmudic yeshivah, on the other hand, would be closer to that of an undergraduate lecture in an amphitheater. Here, the hierarchical difference between the professor and her students is made very clear – there are many students, thus personal relationship is less possible; the professor’s place in the room is clearly distinguished from that of the students and finally and most importantly, it is she who does most of the talking. I argued above that the irreconcilable tension that we find in rabbinic literature between the disciple’s relationship with God and the one he entertains with his master is related to the lack of an anthropological conception of the human soul that sees it as containing the divine logos and capable of assimilation with the divine. This distinct ideological and epistemological starting point is what allowed the rabbinic master-disciple relationship to have a sometimes carnivalesque aspect. However, with the institutionalization of the 16

D. GOODBLAT, Rabbinic Instruction in Sasanian Babylonia, Leiden 1975, C. HEZSER, The Social Structure of the Rabbinic Movement in Palestine, Tübingen 1997, J. RUBENSTEIN, The Rise of the Babylonian Rabbinic Academy: A Reexamination of the Talmudic Evidence, JSIJ 1 (2002), 55–68.

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rabbinic formation process in the context of the rabbinic academy, the yeshivah, the hierarchical borders between master and disciple had to be drawn in a very clear way. In other words, the rabbis of the first yeshivah had to come up with an ideological framework that would legitimize and stabilize the hierarchy between master and disciple. I would like to read two rabbinic texts that present two different ways of coping with the problem. The first is a passage from the tractate Pesahim in the Babylonian Talmud. It deals with the Passover meal, a feast in which all should eat while reclining. The gesture is a symbolic one – it designates the participants in the feast as free people, i.e. as masters and not as slaves, since Passover commemorates the liberation of the Hebrews from slavery in Egypt. It is precisely in this setting that a tension may arise when a rabbinic student participates in the same Passover dinner as his master: according to the letter of the law, both of them should recline, i.e. designate themselves as freemen. Thus, at least for the duration of the dinner, the social hierarchy between the two will become invisible. A woman in her husband’s [house] need not recline, but if she is a woman of importance she must recline. A son in his father’s [house] must recline. The rabbis asked: What about a disciple in his master’s presence? – Come and hear, for Abaye said: When we were at the master’s [Rabbah b. Nahman’s] house, we used to recline on each other’s knees. When we came to R. Yoseph’s house he remarked to us, ‘You do not need it: the fear of your teacher is as the fear of Heaven.’ An objection is raised: “A man must recline with all [people], and even a disciple in his master’s presence?” – That was taught of a craftsman’s apprentice.17

Abaye, a Babylonian rabbi from the turn of the fourth century, tells that when he was a disciple, he reclined in the presence of his master, until another master told him that he should not have done it, quoting a saying according to which the disciple should fear his master as he fears God.18 This may suggest that at the beginning of the institutionalization process of the rabbinic movement in Babylonia, the fluidity and flexibility in master-disciple relationships that can be attested in earlier rabbinic sources were still present. This can also be shown from the teaching quoted later – “A man must recline with all [people], and even a disciple in his master’s presence” – whose origin is probably early rabbinic (second or third century). However, in the beginning of the fourth century, at least one master, Rav Yosef, was not content with this fluidity and affirmed that the fear of the master must be taken as synonymous with the fear of God, and therefore (re)embedded the spiritual hierarchy (disciple – God) inside the social one (disciple – master) by associating the master with God. The final redactors of this passage, who were probably active a

17

TB Pesahim 108a. See also Kalah Rabbati 2:16. This saying, that appears in Mishnah Avot, may be from a tannaitic origin but it does not have to be interpreted in a spiritual sense. 18

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century or more later, attributed to it the status of a general ruling and not only of an individual opinion expressed in a “personal communication” between Abaye and Rav Yosef. If we understand the figure of the master in terms of his relationship with the divine logos, then we have to admit that the solution provided by the text creates a new problem. Since reclining during the Passover feast designates the person as free, the story seems to tell us that a disciple can never be free in the presence of his master. The prescription to revere one’s master as if he were God, makes it clear: the disciple’s relationship with God has to be subordinated to his relationship with his master, the latter being always present in the disciple’s attempt to develop a direct communication channel with the truth. Thus, in their attempt to secure the position and the function of the master, the redactors of our passage seem to compromise the potential of the disciple to become a master himself. Rabbinic literature proposes a situation in which the tension between the two hierarchies is somewhat appeased without being entirely negated. The Talmudic account of this situation is brought to us only in compilations from the late Talmudic period – the Palestinian and the Babylonian Talmuds. In both cases it is addressed in the context of discussions about a teaching from Mishnah Hagiga 2:1 that goes as follows: “Forbidden relations are not expounded [by a master] before three [disciples] nor the account of creation before two, nor the account of the chariot before a single person, unless he is a sage who understands from his own knowledge […]”

The “account of creation” refers to the creation account from Genesis 1 and 2, whereas the “account of the chariot” refers in some way to Ezekiel’s vision from Ezekiel 1. Now, different scholars have proposed different opinions with regard to the precise meaning of the expression “account of the chariot” in the context of this particular rabbinic teaching. According to the two main opinions it designates either the exegesis of biblical references to God’s chariot (mainly in Ezekiel but also in Isaiah), or the actual practice of the mystical ascension engaged in by some figures in the early rabbinic movement19. In other words, while some suggest seeing here a simple scholastic activity (expounding, interpreting biblical verses), for others it is the expression of a mystical activity (and the rabbinic reticence about it). The distinction between “scholastic” and “mystic” may be relevant to medieval and later periods in which our text was discussed and interpreted. However, in the context of the Mishnah and the two Talmuds, it is hard to consider the two domains as entirely distinguished. If we are to understand mystical activity as having something to do with the enhancement of the individual’s relationship to God, then it is clear that it has a very important scholastic aspect to it: it de19

See discussion in P. SCHÄFER, The Origins of Jewish Mysticism, Princeton 2009.

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parts from traditions concerning biblical verses about the chariot that have to be interpreted, explained, elaborated and transmitted. The same goes for the other option: the scholastic activity of the interpretation of the “account of the chariot” cannot be compared to the scholastic activity of the interpretation of others biblical passages. By understanding the structure of the divine world, the disciple deepens his relationship with God; he brings himself closer to the possibility to speak in his name. The very formulation of the Mishnaic teaching shows that the status of the study of the account of the chariot is special with regard to other problematic domains such as the creation story or the sexual laws. It is not the same type of knowledge because it operates differently on the link between the subject and the truth. The unique character of the “account of the chariot” is indicated by the Mishnah first by the fact that it can be expounded only to one student and second by describing this student as one who understands it “from his own knowledge”. This precondition brings us back to the discrepancy in rabbinic discourse between the social and the spiritual hierarchies. The Mishnah accepts that a disciple may “understand from his own knowledge” the superior knowledge there is, i.e. that about God, without having been taught by a master. The condition articulated in the Mishnah is however somewhat strange – if the disciple has already understood the account of the chariot, in what way should the master expound on it for him? Both the Palestinian and the Babylonian Talmuds present a series of stories in order to spell out the modalities of this strange learning process, in which the disciple will already know what is to be learned. The most instructive one with regard to our question goes as follows: Rabban Yohanan ben Zakai was on the way, riding his donkey, and R. El‘azar ben ‘Arakh was walking behind him. El‘azar told him: Rabbi, recite me a chapter in the account of the chariot. He told him: Haven’t the sages taught: “nor the account of the chariot before a single person, unless he is a sage who understands from his own knowledge”? He told him: Rabbi, allow me to say a thing to you. He told him: Say! As El‘azar ben ‘Arakh opened [his discourse] on the account of the chariot, Rabban Yohanan ben Zakai got off the donkey. He said: “It is wrong for me to hear the glory of my creator while being on a donkey”. Both of them went and sat under one tree. And fire came down from heaven and surrounded them. And the angels of services were jumping in front of them as dancers in front of a wedding canopy. One of the angels spoke from within the fire saying: “As your sayings, El‘azar ben ‘Arakh, so is the account of the chariot”. Immediately all the trees opened their mouth and chanted – “then shall all the trees of the forest sing for joy” (Ps 96:12).

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When he concluded, Rabban Yohanan ben Zakai stood up and kissed him on his head, saying: “Blessed is YHWH, God of Abraham, Isaac and Jacob, who gave to Abraham our father a sage son who knows the glory of our father in heaven […]20

We can analyze this story on the two levels discussed above – the spiritual and the social. The beginning presents to us the master – Rabban Yohanan – and his disciple – Rabbi El‘azar – as socially unequal. In fact, the reader of rabbinic literature already knows that Rabbi El‘azar is the disciple of Rabban Yohanan, as is also made clear by their respective titles (Rabban versus Rabbi). The socially hierarchical difference is also present in the setting of the opening scene – the master is riding a donkey while his disciple is walking behind him. Note also the way El‘azar addresses Yohanan – he always calls him Rabbi, and is clearly approaching him with a great deal of reverence. He does not propose to him to expound on the account of the chariot, but first asks him whether he, the master, will recite one chapter of it, and only then asks his master for permission to expound on it in front of him. The master replies succinctly and El‘azar begins to speak. It is at this moment that the topographical distance between the two disappears – the master gets down off his donkey and walks beside his disciple until both of them are sitting under the same tree. This change does not seem to break the social difference between the two. Rabban Yohanan continues to be El‘azar’s master and to be treated accordingly by him. It seems, however, that from a spiritual point of view the master and the disciple are on the same level. Indeed, the circle of fire, the dancing angels and the reference to the “wedding canopy”, all depict the two as a couple. In fact, if we take into account the patriarchal framework of rabbinic discourse, we can even detect a hint of the superiority of El‘azar since he is compared to the bridegroom, which leaves the position of the bride to his master. The approval of El‘azar’s teaching does not come from his master but rather from heaven. It is only then, after the angel confirms the veracity of the disciple’s teaching, that Rabban Yohanan reappears as the master – he gets up, kisses his disciple on his head and confirms the spiritual link that ties El‘azar to Abraham. The mention of Abraham is not accidental. He is, after all, the first human being who “understood from his own

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Palestinian Talmud, Hagiga 2,1. For another version of this story see Babylonian Talmud, Hagiga 14b. For discussion of an analogous story from monastic literature, see R. VALANTASIS, Constructions of Power in Asceticism, JAAR 63.4 (1995), 775–821, who discusses Saying 7 from the Apophthegmata Patrum as recorded in Apophthegmata Agion Pateron, Athens 1970, 53: “Abba Lot received Abba Joseph and said to him: ʻAbba, according to my ability I perform my order of prayer a little, my fast a little, the prayer and the meditation and the silence, and according to my ability the cleansing of my thoughts. What more remains, then, that I must perform?ʼ When the old man arose, he stretched out his hands to heaven, and his fingers became as ten lamps of fire, and he said to him, ʻIf you wish, become entirely as fireʼ.”

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knowledge” the divine truth, and the primary model of a human being rightly relating to the divine by means of obedience. I propose to see in this story a myth whose function was to resolve the problem that was discussed earlier – the tension between the assumptions of the independence of the disciple’s relationship to God on the one hand, and the institutional need to stabilize in a firm ideological framework his relationship with the master on the other hand. The story is set in the early tannaitic period (the turn of the first century CE) but is brought to us only by sources from the fourth century onwards. Obviously, the two early rabbis are described here as mythical figures: they can make fire come down from the sky, with angels dancing and speaking to them. The solution here is different from the one proposed by the stricter halakhic passage quoted above. Whereas the previous teaching with regard to the Passover feast resolved the tension by simply condensing together the two dimensions of the master-disciple relationship, the present story allows the two hierarchies to coexist in harmony. This solution cannot happen without the presence of a third protagonist who is at the heart of the problem to begin with – God. Moreover, his presence cannot be merely symbolic, metaphorically attached to the figure of the rabbi who should be revered as if he were God. It has to be described as real, separated from both the master and the disciple, hence the mythical nature of our story. God’s presence allows the disciple to become a master in his own right – he gets God’s approval to speak in his name. At the same time, the story does not make the actual master redundant – his presence is still needed. The disciple, El‘azar, pronounces the highest truth, the one about God. He does it in the presence of his master. Only the combination of these two conditions, the pronouncement of the truth by the disciple on the one hand and the presence of the master on the other, can guarantee the coming down from heaven of God’s emissary that will identify the disciple’s sayings with the truth, and will constitute him as a subject capable of speaking the truth and producing it independently, as a real master. This myth regulates thus the two contradictory needs of the rabbinic movement. On the one hand it describes the event in which the disciple becomes a master by a direct connection with the divine sphere, and on the other hand it necessitates the presence of the real master. Even though the social hierarchy between the disciple and his master is suspended during the moment of the pronunciation of truth by the former, it reappears at the end of the scene, but now it is clear that it has only a social dimension, and does not suggest the spiritual superiority of the master – both the master and the disciple are agents of rabbinic discourse. They have both drawn closer to the truth.

From Mirror Neurons to Morality Cognitive and Evolutionary Foundations of Early Christian Ethics István Czachesz 1. Introduction In the study of human evolution, why we are moral beings is one of the most interesting and elusive questions. Biblical and patristic scholars usually inquire about the moral principles laid down by ancient authors as well as the behavioral rules and preferences that they prescribed, promoted, or followed. Evolutionary and behavioral studies, in contrast, search for the origins of moral behavior in domains such as human neurobiology, elementary social organization, and emotions. Instead of starting from the analysis of explicitly formulated principles and norms, scholars in these fields ask how cooperation and altruism emerge from the constraints and necessities of human interaction on an everyday basis. On this account, the roots of morality reach back to times when moral principles hardly even existed. Thus morality is not an artifact created by theologians and philosophers but an aspect of human behavior. In recent work on the foundations of human sociality, imitation has been recognized as an important – or perhaps even the most important – factor. According to recent theories, imitation underlies cooperation and the understanding of other people’s thoughts and feelings. Human culture is based on imitation to a large extent. In this essay, we will review the role of imitation in various aspects of human social behavior and ask how these cognitive and behavioral building blocks contribute to morality.

2. Are altruists doomed? At the core of an evolutionary discussion of morality lies the problem of altruism. The meaning of “altruism” in this context is different from its meaning in everyday parlance and can be defined in terms of costs and benefits. Whatever action of an organism increases the fitness of another organism while decreasing the fitness of itself is altruistic, provided that this behavior

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is “voluntary” in the sense of not resulting from extortion or external control. Both parts of this definition have to be expanded somewhat. First, fitness in evolution means reproductive fitness, that is, the ability to leave offspring (that will also leave offspring). If some behavior is both heritable and increases the organism’s fitness, it will show up in future generations. If some behavior is heritable and decreases the organism’s fitness, it will be less likely to be present in future generations. From this perspective, altruistic behavior seems to have little chance in evolution. The second part of the definition refers to altruism being voluntary. This is of course an anthropomorphic concept that involves the element of “volition,” that is, free will. It is not necessary to go into the discussion about free will at this point. Let us note only that the voluntary aspect of altruism does not imply conscious decisionmaking but simply the fact that the organism would have had other behavioral options in terms of external constraints. There are some well-understood cases of altruism in nature that apply to human behavior, as well. First, it is relatively easy to justify altruism that increases the fitness of a genetically related individual. Here the decrease in the altruist’s chance of passing on his or her own genes is compensated by the siblings’ or cousins’ increased chance to pass on their partly identical genes (which also underlie altruistic behavior) due to the altruistic act. Such cases are described by the model of “inclusive fitness” or “kin-selection”.1 Let us note, however, that empirical evidence has not proven kin-selection to be a general explanation of eusocial behavior in animals.2 The model of reciprocal altruism applies to cases where the altruist and the recipient of altruism are not genetically related. In such a case, it makes sense to increase someone else’s reproductive success if that favor will be returned later.3 Note that this model requires that both parties involved keep record of interactions and avoid helping anyone who failed to return the favor once received. This requirement limits the possibility of reciprocal altruism in large groups, where it is impossible to keep track of mutual favors. Further, reciprocal altruism does not necessarily mean that the original recipient returns a favor to the original altruist. Helping someone and then being helped by someone else is made possible by reputation management: in small-scale societies (and friendship networks), an individual’s record as a reliable cooperation partner is an important asset that can directly increase one’s fitness.4 1

W.D. Hamilton, The genetical evolution of social behaviour I, Journal of Theoretical Biology 7 (1964), 1–16; IDEM, The genetical evolution of social behaviour II, Journal of Theoretical Biology 7 (1964), 17–52. 2 M.A. NOWAK/C.E. TARNITA/E.O. WILSON, The evolution of eusociality, Nature 466 (2010), 1057–1062. 3 R.L. TRIVERS, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46 (1971), 35–57. 4 M.A. NOWAK/K. SIGMUND, Evolution of indirect reciprocity, Nature 437, 1291–1298.

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In addition to inclusive fitness and reciprocal altruism, there is yet another way to account for the survival of altruistic traits. The still often contested idea of group selection suggests that some genes can contribute traits that are neutral or even disadvantageous for the reproductive success of the individual, yet get transmitted because they benefit the group that the individual is a member of. D.S. Wilson (together with E.O. Wilson) developed the theory of multi-level selection, where competition between groups can overrule evolutionary pressures that influence selection at the level of the individual.5 To put it simply, a tribe can manage to survive in a harsh natural environment or defeat its neighbors in conflicts because of the self-sacrifice of its members. The genes of this tribe will then be represented in greater numbers in future generations than the genes of the members of its selfish rivals. Finally, it is possible that our altruistic behavior is a consequence of the fact that our ancestors lived in small-scale societies for millions of years, where people were able to keep track of mutual favors and each other’s reputations, and where the chances were great that most interaction partners were relatives. As a consequence, we are really acting on the false assumption that our social behavior is being monitored constantly and has direct consequences for our future chances of cooperation. Although we do not yet possess a definitive theory of how human altruism emerged in the history of evolution, ultimately we cannot deny that humans are capable of cooperating widely and flexibly, in small groups as well as in large, anonymous social contexts. A rich research tradition inquires about the immediate mechanisms of human cooperation (why and how people engage in social interaction), rather than its ultimate causes (what made humankind a social species and how altruism can survive). Scholars in these areas of study are looking for the cognitive and neural structures that underlie pro-social behavior, altruism, and cooperation.

3. “Social Cognition: Imitation, Imitation, Imitation ...”6 Imitation is programmed deeply into our brains. Children can imitate hand movements already during the first six months of life, and as soon as 42

5

D.S. WILSON/E.O. WILSON, Evolution “for the Good of the Group,” American Scientist 96 (2008), 378–389; J.T. LANDA/D.S. WILSON, Group selection: Theory and evidence, Journal of Bioeconomics 10 (2008), 199–202; NOWAK/TARNITA/WILSON, The evolution of eusociality (s. note 2). 6 R.W. BYRNE, Social Cognition: Imitation, Imitation, Imitation, Current Biology 15 (2005), R498–R500.

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minutes after birth they imitate facial movements.7 In the past decade, there has been widespread enthusiasm about the explanatory power of imitation, which many researchers regarded as the single most important key to human sociality. The interest in imitation was boosted by the finding of so-called “mirror-neurons” in the brains of macaques, which are activated both when the monkey performs some goal-directed action (such as reaching for food) and when the monkey sees someone else (monkey or experimenter) performing the same action.8 Each of the neurons responds to a particular type of action and often some detail of the action is enough to trigger the neuron, suggesting that these neurons serve both the planning of the monkey’s own action and the interpretation of other actors’ actions.9 Mirror neurons have also been found in humans, but their location and function is more varied than in monkeys.10 Some human mirror neurons are activated when people perform actions as well as when they observe actions performed by others (the “classical” mirror function). However, there are also neurons that respond to auditory clues of others performing the respective actions. Still other neurons are active both when experiencing somatosensory stimulation (touch) and when watching someone else receiving the same stimulation. Finally, some neurons are active when people express emotions (such as facial expressions) and when they observe others expressing their emotions. Byrne suggested two kinds of imitation based on mirror neurons.11 Social mirroring is the phenomenon of imitating the actions of others spontaneously, especially of friends, loved ones, or important cooperation partners. In these social relationships, we tend to copy each other’s facial expressions, gestures, postures, and emotional vocalizations, showing empathy or mutual identification. The acquisition of new skills, in turn, requires that imitation is accompanied by an understanding of the context and purpose of the imitated action. Until recently, most scholars maintained that only humans are capable of “true imitation” in the sense of goal-based imitation.12 Without “true imitation,” it is only possible to mimic actions without understanding their goal (as parrots repeat words), engage with some object or location because others are 7

A.N. MELTZOFF, Elements of a Developmental Theory of Imitation, in: A.N. MELTPRINZ (eds.), The imitative mind: Development, evolution, and brain bases, Cambridge/New York 2002, 19–41. 8 G. DI PELLEGRINO/L. FADIGA/L. FOGASSI ET AL., Understanding motor events: A neurophysiological study, Experimental Brain Research 91 (1992), 176–180. 9 J. WARD, The student’s guide to social neuroscience, Hove/New York 2012, 65–66. 10 P. MOLENBERGHS/R. CUNNINGTON/J.B. MATTINGLEY, Brain regions with mirror properties: A meta-analysis of 125 human fMRI studies, Neuroscience and Biobehavioral Reviews 36 (2012), 341–349. Note that detecting the activity of single neurons requires the implantation of electrodes and is not used in human experiments. The observations in this case are thus always about groups of neurons. 11 BYRNE, Social Cognition (s. note 6). 12 WARD, The student’s guide to social neuroscience (s. note 9), 57–61. ZOFF/W.

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also engaged with them (and learn about them by self-discovery), or simply repeat biologically determined behavior by contagion (such as yawning or laughing). However, recent experiments with apes and some monkeys demonstrated that they are also capable of goal-based imitation.13 Imitation probably plays a major role in understanding the thoughts and feelings of other people, an ability called mentalizing or the theory of mind.14 Whereas one model of the theory of mind (also called “theory theory”) suggests that this ability depends on developing concepts of other people’s minds, an alternative explanation (called the “simulation theory”) suggests that we can think of others’ thoughts and feelings because we simulate them in our own minds.15 For example, one-year-old children who have experience of wearing a blindfold are less likely than other children to follow the eyegaze of a blindfolded person.16 In another experiment, three-month-olds who practiced goal-directed actions subsequently saw goals in others’ actions, whereas infants who only practiced by observation did not get that insight.17 An important aspect of the theory of mind is the ability to attribute false beliefs to other people, that is, beliefs that are different from both one’s own beliefs and the state of affairs in the world. This ability has been traditionally thought to develop fully around the age of four, when children can give correct answers about others’ false beliefs (which was interpreted as an indication of its dependence on conceptual development). However, non-verbal tests have recently shown that already fifteen-month old children are able to attribute false beliefs to others.18 A fully developed model of the simulation theory includes the following steps:19 (1) creating a set of initial states that are thought to correspond to the observed circumstances (such as imagining 13

J. CALL/M. TOMASELLO, Does the chimpanzee have a theory of mind? 30 years later, Trends in Cognitive Sciences 12 (2008), 187–192. 14 I. LEUDAR/A. COSTALL/D. FRANCIS, Theory of Mind: A Critical Assessment, Theory & Psychology 14 (2004), 571–578; A.I. GOLDMAN, Theory of Mind, in: E. MARGOLIS/R. SAMUELS/S.P. STICH (eds.), The Oxford handbook of philosophy of cognitive science, New York 2012, 402–424. 15 A.I. GOLDMAN/K. SHANTON, The Case for Simulation Theory, in: A. LESLIE/T. GERMAN (eds.), Handbook of Theory of Mind, Hove/New York 2016, in press; V. GALLESE, Bodily selves in relation: Embodied simulation as second-person perspective on intersubjectivity, Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences 369 (2014), doi:10.1098/rstb.2013.0177; A.N. MELTZOFF, Social cognition and the origins of imitation, empathy, and theory of mind, in: U. GOSWAMI (ed.), The Wiley-Blackwell Handbook of Childhood Cognitive Development, Oxford 22011, 49–75. 16 A.N. MELTZOFF/R. BROOKS, Self-experience as a mechanism for learning about others: a training study in social cognition, Developmental psychology 44 (2008), 1257–1265. 17 A.L. WOODWARD, Infants’ grasp of othersʼ intentions, Current Directions in Psychological Science 18 (2009), 53–57. 18 R. BAILLARGEON/R.M. SCOTT/Z. HE, False-belief understanding in infants, Trends in Cognitive Sciences 14 (2010), 110–118. 19 GOLDMAN/SHANTON, Simulation Theory (s. note 15).

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wearing a blindfold); (2) feeding these initial conditions into the mind’s “operating system” and letting it generate a further mental state (not seeing people and objects around oneself); (3) reading these “outputs” and projecting them onto the target (the observed person does not see objects and people). Arguably, a further step involves making inferences from these attributions, such as the conclusion that the observed person’s turning his head toward an object does not indicate an interest in it. A particularly interesting aspect of the theory of mind is that we can think about the mental states of others who are not actually present. To begin with, we can think about our beliefs in the past or anticipate our mental states in the future.20 Further, we can think about the mental states of fictional characters; for example, many children “interact” with imaginary friends.21 By the same token, we can think about the mental states of people, either existing or fictional, about whom we receive only partial information from social learning, reading, or other means of communication. According to the “simulation theory” of the theory of mind, these modes of mentalizing are made possible by relying on memory or novel information as “inputs” (in the sense suggested above) to simulate minds that are not present. Already in infants, imitation comes with temporal flexibility and is not restricted to immediate mimicry.22 This means that we can rely on memory to simulate others’ thoughts and feelings and apply the theory of mind to people who are not present, and by extension, to fictional characters.

4. Imitation in rituals Imitation is often an explicitly stated goal in rituals. For example, at the institution of the Passover (or Pesach), a link is made between the narrated historical events of the exodus from Egypt, on the one hand, and the action sequence of the ritual, on the other hand. As Exodus 12:14 formulates, “this day shall be a day of remembrance for you.” In contemporary Jewish practice, the first night of Seder (the beginning of the Passover) is dedicated to carrying out the biblical command, and various details of this feast imitate the exodus and related events in biblical history.23 Undoubtedly, expert opinions (both in the rabbinic tradition and in modern scholarship) are divided on the question as to how far the celebration of Passover constitutes a re-enactment of ancient history, and the actual form and details of the festival have changed over the 20

Ibid. E.V. HOFF, A Friend Living Inside Me: The Forms and Functions of Imaginary Companions, Imagination, Cognition and Personality 24 (2005), 151–189. 22 MELTZOFF, Social cognition (s. note 15). 23 O. LEAMAN, Judaism: An Introduction, London 2010, 126–130. 21

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centuries.24 From the perspective of the participants, however, the celebration is all about imitation: the removal of leavening and related utensils, the setting of the table with food and objects associated with various historical details, together with different behavioral rules and prescriptions, create a multi-sensory stimulation for the imitative mind. Let us add two remarks about the imitative nature of Passover. (1) First, the Passover tradition is the result of the formation and transformation of memories and reflections about the past. Being agnostic about the historical events narrated in Exodus does not preclude the celebration of this tradition. In fact, the participants of the ritual imitate many generations who celebrated the festival before as much as they imitate the events described in Exodus. (2) Second, the nature of imitation is such that the information reconstructed is never a perfect copy of the original data. Even in the case of people interacting face-to-face, mentalizing does not guarantee an accurate reconstruction of another person’s mental state. (3) Third, not only does the ritual transmit explicit memories about the ancient story but it also imprints an action sequence into implicit (habitual) memory. These habitual actions also imitate the actions of previous generations as well as facilitate the reading of past minds. Holy Week in the Christian churches developed into a similarly elaborate ritual, in which imitation plays an important role. (The Jewish Passover and the Christian Easter have an obvious but complicated relationship, which we cannot explore in any detail at this point.25) The celebration of Holy Week in Christian churches, attested at least from the 3rd or 4th century is based on the reenactment of the passion narratives.26 One of the most dramatic and spectacular forms of the Holy Week in our days is the Semana Santa in the Philippines.27 People of all ages and walks of life re-enact the episodes of Palm Sunday, the Via Crucis, and other events. At the climax of the rituals, the group of flagellants and the man portraying the crucified Christ add extreme levels of physical and emotional intensity to the celebration. As we have noted above, understanding these rituals as “imitation” does not imply that there is any direct link between them and historical events of the first century. The act of mentalizing involves the use of information from memory as well as sensory stimulation (generated by the ritual actions) to create a 24

C. LEONHARD, The Jewish Pesach and the origins of the Christian Easter: Open questions in current research, Berlin 2006. 25 Ibid.; P.F. BRADSHAW, Passover and Easter: Origin and history to modern times, Notre Dame, 2002; S.G. HALL, The Origins of Easter, Studia Patristica 15 (1984), 554– 567. 26 J.M. PIERCE, Holy Week and Easter in the Middle Ages, Passover and Easter, Notre Dame 1999, 161–185. 27 L. MENDOZA, Lenten Rites and Practices [The Philippines], The Drama Review 21 (1977), 21–32. A wealth of audio-visual material about recent celebrations is found on YouTube.

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model of the minds of those ancient characters (as preserved in the tradition) and understand their thoughts and feelings as a result. To mention a more mainstream imitation of Jesus’ passion, the Pauline interpretation of the Eucharist in 1 Corinthians 11 also emphasizes the imitative aspects of the ritual. In the words of institution as cited by Paul, the Lord instructs the participants of the ritual twice to “do this in remembrance of me” (εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν, 1Cor 11:24,25). The exact meaning of “remembrance” in this passage has been subject to much discussion in the history of Christian exegesis and theology (for example, about Christ’s presence at the Eucharist), the details of which do not concern us in this essay.28 From the perspective of the simulation model of the theory of mind, the focus of imitation is on Jesus’ last supper. Eating and drinking as Jesus did helps the congregation understand Jesus’ preparation for death and his thoughts and emotions about his death. According to the Martyrdom of Polycarp, the martyrs were loved “as disciples and imitators of the Lord” (ὡς μαθητὰς καὶ μιμητὰς τοῦ κυρίου).29 Based on this and similar references (e.g., Martyrdom of Polycarp 1.2, Heb 12:2; Rev 1:5, 2:13, 11:3, 17:6; Eusebius, Church History 5.2.2) it has been argued that the martyrs imitated Christ.30 The martyrdom of Stephen in the Acts of the Apostles has been interpreted as an imitation of the passion narrative.31 Elsewhere I have suggested that whereas some texts clearly understand the acts of Christian heroes as imitating Jesus’ biography (and passion, in particular), the idea that Christ set a pattern for a better way of life that could or should be imitated cannot be taken as a general principle.32 Using the simulation theory of mentalizing as a model, we can add that information from the passion tradition (both as narrative and as ritualized action) could be combined with a Christian direct experience of persecution and martyrdom to generate feelings and thoughts about the experience of the suffering Christ. In 28

See recently J.A. FITZMYER, First Corinthians: A New Translation with Introduction and Commentary, New Haven 2008, 440–441; J. GITTOES, Anamnesis and the Eucharist contemporary Anglican approaches, Aldershot/Hants/Burlington 2008, 9–31; S.C. BARTON, Memory and Remembrance in Paul, in: L.T. STUCKENBRUCK/S.C. BARTON/G. BENJAMIN (eds.), Memory in the Bible and Antiquity, Tübingen 2007, 321–339. 29 Martyrdom of Polycarp 17.3. 30 E.g. G. CONSTABLE, Three Studies in Medieval Religious and Social Thought, Cambridge/New York 1995, 143–248; L.L. THOMPSON, The Book of Revelation: Apocalypse and Empire, New York 1990, 189; E.S. BOLMAN/P. GODEAU, Monastic Visions: Wall Paintings in the Monastery of St. Antony at the Red Sea, New Haven 2002, 54; H. RHEE, Early Christian Literature: Christ and Culture in the Second and Third Centuries, New York 2005, 92–96. 31 L.T. JOHNSON, The Acts of the Apostles, Collegeville 1992, 110–113, 142–144. 32 I. CZACHESZ, Passion and Martyrdom Traditions in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: A. MERKT/T. NICKLAS/J. VERHEYDEN (eds.), Gelitten, Gestorben, Auferstanden, Tübingen 2010, 1–20, 10–13.

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this process, the Jesus narrative is not an example but a frame of reference that is used to make sense of subjective experience by simulating the thoughts and feelings of Christ and the first martyrs.

5. Imitating moral examples So far we have discussed the neural foundations and direct effects of imitation. We have seen that imitation extends beyond the mirroring of behavior to understanding other people’s thoughts and feelings, including characters in literary works and tradition. Learning by imitation implies that we understand the goal and context of others’ behavior. But whom shall we imitate? Think about the number of people with whom you interact every day and consider the number of characters you know from literary works and various other sources of cultural transmission. How do we know whose example to follow? We rely on cultural transmission to a substantial degree because it saves us the costs of stumbling through life by trial and error. A side-effect of our reliance on culture is, however, that transmission is opaque with regard to the truth-value of the content imitated. We cannot try out every piece of wisdom or test every behavior before learning it, as it would in effect mean falling back on trial and error. For example, we take it for granted that the food given to us by our parents is not poison and continue eating similar food throughout our lives. Even if modern education encourages students (at least in theory) to be critical thinkers, we accept much information we learn at school or from textbooks at face value. There is simply no way for each of us to measure the distance between Earth and the Sun, or to derive the laws of physics from scratch. Cultural inheritance allows human societies to accumulate large bodies of knowledge and an extensive behavioral repertoire over time. This advantage of culture, however, comes at the price of inheriting incorrect information, as well. Is there a way to make sure we learn things that help us while minimizing the amount of false beliefs and harmful habits we acquire? It seems that selecting which people to imitate provides the most important heuristics to filter information. We select examples for imitation in three particular ways.33 First, we imitate the majority: what works for most people cannot be wrong. (Of course, this means that many people can be wrong together and mistakes can be fatal on a large scale.) Second, we imitate members of the cultural ingroup (parents and other people like us), which results in the development of divergent cultural traditions in the long run. Third, we imitate individuals of 33 P.J. RICHERSON/R. BOYD, Not by Genes Alone: How Culture Transformed Human Evolution, Chicago 2005, esp. 119–126; S. SHENNAN, Genes, memes and human history: Darwinian archaeology and cultural evolution, London 2002, 56–64.

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high status (called the prestige bias), because some of that behavior might help us achieve such status, too. Turning to early Christianity, this means that imitating Paul, Jesus, the apostles, the martyrs, and other holy persons, who were highly esteemed by the early Church, is a normal and expectable phenomenon. You might wonder, however, what “status” exactly means in this context. How does imitating a pillar saint contribute to one’s evolutionary fitness? It has been recognized that imitating people with high status does not necessarily mean that we learn patterns of thought and behavior that make us “successful” in the sense of leaving more offspring. Achieving social positions of high prestige in professional life while having few or no children in Western societies is a case in point. Cultural transmission can become a runaway process that generates values and criteria that make us behave in ways that are irrational in terms of biological fitness. A closer look at biographical traditions in the ancient Near East and the Eastern Mediterranean reveals a distinction between two types of biographical examples that addressed this issue in some way. It only makes sense that kings, prophets and saints are supposed to represent high moral standards (while each standing for different ideals), yet peasants, artisans, merchants, and soldiers cannot and in fact should not imitate them. The notion of ideal biography was introduced by Egyptologist E. Otto, who used it to describe a tradition of Egyptian biographies that were meant to reflect ideals different from the actual events of one’s life.34 K. Baltzer applied the concept to the Old Testament,35 D. Dormeyer to the Gospel of Mark,36 and I. Czachesz to the canonical and apocryphal Acts of the Apostles.37 The notion of the ideal biography implies that such vitae were not written with the purpose of being imitated: after all, can anybody imitate the dealings of a (divine) hero with the gods? The same applies to the Homeric heroes or Moses and other figures of Israelite historiography. If these biographies were examples, they were aristocratic or priestly ideals. It can be argued that these literary patterns shaped the public biographies of kings, priests, and aristocrats rather than their actual behavior. According to A. Dihle, classical Greek biographies presented heroic lives to be imitated.38 Dihle suggested, in particular, that Plato’s Apology for Soc34

E. OTTO, Geschichtsbild und Geschichtsschreibung in Ägypten, WO 3 (1966), 161–

176. 35

K. BALTZER, Die Biographie der Propheten, Neukirchen-Vluyn 1975. D. DORMEYER, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, Stuttgart 1999. 37 I. CZACHESZ, The prophetic biography in the book of Acts, ThM Thesis, Columbia Theological Seminary, Atlanta 1995; IDEM, Commission Narratives: A Comparative Study of the Canonical and Apocryphal Acts, Leuven 2007. 38 A. DIHLE, Studien zur griechischen Biographie, Göttingen 21970, 20. 36

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rates presented the philosopher as an ethical example, establishing the genre of biography in the modern sense.39 Socrates’ character as a source of moral imitation in antiquity cannot be overestimated: even in the early Church, the exemplum Socratis was a frequent point of reference.40 In Jewish literature, historical figures were mentioned as models for imitation from Hellenistic times. The earliest examples include the biographical sketches of “famous men” in Sirach 44–50 and the heroes of 1–2 Maccabees;41 a similar tendency has been identified in the Book of Tobit as well as the works of Philo and Josephus.42 The homily known as 4 Maccabees (probably from the first century CE) employs the moral example of the Jewish martyrs. Let us note that the use of literary biographies as models for imitation was very much limited by the low rates of literacy in antiquity. The traditional estimate of 10–15 per cent literates for Roman society might seem even too optimistic in light of more recent studies, while there is no reason to believe that these rates were higher among the Jews.43 From the nineteenth century, widespread public education and affordable printed books made the stories of religious and national heroes available for the masses in many developed countries. For most ancient Christians, in contrast, the moral example of the great figures of the past was known from recitations, homilies, and oral tradition. This implies, in turn, the significance of ritual settings that we discussed in the previous section.

6. Synchrony Why do armies train soldiers to march in step, in spite of the fact that doing so on a modern battlefield would be suicidal? Military common sense teaches that marching is good for discipline and morale. But why is this so? As W. McNeill argued, marching, dancing and other forms of synchronous action that create “muscular bonding” have deep evolutionary roots.44 Recent empirical work demonstrated that acting in synchrony increases group members’

39

Ibid., 18. K. DÖRING, Exemplum Socratis: Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynischstoischen Popularphilosophie der frühen Kaiserzeit und im frühen Christentum, Wiesbaden 1979. 41 The word ὑπόδειγμα (“example”) is used in Sirach 44:16 and 2Macc 6:28,31. 42 W.S. KURZ, Narrative Models for Imitation in Luke-Acts, in: D.L. BALCH/E. FERGUSON/W.A. MEEKS (eds.), Greeks, Romans, and Christians: Essays in honor of Abraham J. Malherbe, Minneapolis, 1990, 171–189. 43 C. HEZSER, Jewish literacy in Roman Palestine, Tübingen 2001, 23, 35; W.V. HARRIS, Ancient literacy, Cambridge, 1989, 328–330. 44 W.H. MCNEILL, Keeping together in time: Dance and drill in human history, Cambridge, Mass. 1995. 40

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willingness to cooperate: in particular, members of a group that practiced synchronous walking or singing had afterwards more positive expectations about each other’s commitment.45 Another study showed that previous successful cooperation increases synchrony between participants.46 In the latter study, after a training session, synchronous movement (of fingers) occurred even against participants’ will. In a variety of contexts, it has been demonstrated that synchrony is accompanied by positive feelings. The phenomenon often referred to as the “rowers’ high” is characterized by the release of endorphins in the body, which generates pleasant feelings in the brain.47 Dance rituals, although infrequently, are attested in the early Church. Possible references to ritual dancing are found in the works of Clement of Alexandria (Exhortation to the Heathens 12; Stromata 7.7) and Ambrose of Milan (Homily 42).48 Yet the most direct evidence comes from the Acts of John (chapters 94–96). Here Jesus and the disciples sing a hymn and dance before the arrest of the Lord – apparently as a replacement of or supplement to the last supper.49 According to John, the first person narrator of the passage, Jesus commanded the disciples “to make a circle, holding one another’s hands, and he himself stood in the middle” (Acts of John 94). Later the Lord sings, “Now if you respond to my dancing, see yourself in me who speaks” (ch. 96). If we consider contemporary analogies from Philo (Contemplative Life 83–85) and Dio Chrysostomos (Discourse 12.33), it is quite possible that ritual dance was established practice in some parts of early Christianity.50 As we have seen, synchronous movement and singing increase the feeling of solidarity in a group and reinforce expectations about other group members’ commitments. It is therefore plausible that in hard times Christians were strengthened by such rituals, which could partly explain their willingness to embrace self-sacrifice and martyrdom. In the Greek Orthodox Church some groups (particularly in North-Eastern Greece) practice a dancing ritual accompanied by an even more arousing

45

S.S. WILTERMUTH/C. HEATH, Synchrony and cooperation, Psychological Science 20 (2009), 1–5. 46 K. YUN/K. WATANABE/S. SHIMOJO, Interpersonal body and neural synchronization as a marker of implicit social interaction, Scientific Reports 2 (2012), doi:10.1038/ srep00959. 47 E.A. COHEN/R. EJSMOND-FREY/N. KNIGHT ET AL., Rowers’ high: Behavioural synchrony is correlated with elevated pain thresholds, Biology Letters 6 (2010), 106–108. 48 Cf. E.L. BACKMAN, Religious dances in the Christian church and in popular medicine, London 1952. 49 H.-J. KLAUCK, The apocryphal acts of the apostles: An introduction, Waco 2008, 33– 34. 50 I. CZACHESZ, The Gospel of the Acts of John: Its Relation to the Fourth Gospel, in: T. RASIMUS (ed.), Legacy of John: Second Century Reception of the Fourth Gospel, Leiden 2009, 49–72; BACKMAN, Religious dances (s. note 48).

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element, that is, firewalking.51 During the festival of the Anastenaria, venerating St Helen and St Constantine, some of the participants walk across live coals while holding icons in their hands. The ritual is clearly accompanied by high emotional arousal and intense feelings of solidarity. Another firewalking ritual has been studied in Spain, in the village of San Pedro Manrique, where firewalkers include both devout Catholics and non-religious participants.52 A unique feature of this ritual is that firewalkers carry a significant other as they cross the fire. Empirical measures have demonstrated a synchronization of the heartbeat of the couples as they crossed the fire together. Whereas the concept of imitation (and its use in mentalizing) can be extended to include situations where the model followed is taken from memory or tradition, synchrony presupposes the simultaneous physical presence of all participants. In addition to generating and strengthening commitment, synchrony helps participants share the same emotions and mindset. In a collective ritual, instead of each participant relying on their individual recall of the tradition or their perception of the visual and audial clues, participants are also tuned to each other’s physiological states. For example, when remembering Jesus’ death in the Eucharist, synchronization that results from synchronous singing contributes to each participant’s simulating the thoughts and feelings of many generations of Christians as well as the experience of Jesus and the disciples, as preserved by tradition.

7. Empathy Empathy and theory of mind (discussed above) are related concepts, the notion of empathy putting an emphasis on the element of “sharing” as well as the emotional component of the shared mental state. There are different opinions as to what this emotional sort of mentalizing exactly involves, ranging from knowing someone’s current feelings to imagining how someone would react to some hypothetical situation.53 The importance of emotions for taking moral decisions is exemplified by empirical findings about psychopaths. Since the 1950s, various studies found that psychopaths are capable of logical moral reasoning but cannot detect emotions like guilt and fear in others.54 However, empathy involves more than simply mirroring someone else’s emotions. Here we follow a recent neuroscientific account of empathy put for51 D. XYGALATAS, The burning saints: Cognition and culture in the fire-walking rituals of the Anastenaria, Bristol 2012. 52 I. KONVALINKA/D. XYGALATAS/J.A. BULBULIA ET AL., Synchronized arousal between performers and related spectators in a fire-walking ritual, Proceedings of the National Academy of Sciences 108 (2011), 8514–8519. 53 WARD, The student’s guide to social neuroscience (s. note 9), 130–131. 54 Ibid., 247–248.

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ward by J. Decety.55 The model that Decety outlined consists of four elements: (1) Affective sharing means that emotions are imitated spontaneously (also known as “emotion contagion”). (2) Self-awareness ensures that a distinction is made between one’s emotions and others’ emotions. (3) Perspective taking is necessary to contextualize the emotion – that is, understanding what a certain emotional state means in another person. (4) Finally, emotion regulation prevents affective sharing from taking over the empathizing person’s behavior. Biblical law is replete with humanitarian concern for the poor, the immigrant, the orphan, and the widow. As T. Kazen argued recently, these laws rely on empathy to a great degree.56 The text often refers to Israelites’ experience of slavery and oppression in Egypt as a motivation: “For you were aliens in the land of Egypt” (Ex 23:9); “Remember that you were a slave in the land of Egypt” (Deut 24:18,22). Without going into details about the Sitz im Leben of these laws and the historical tradition which they evoke, we have to be aware that using empathy research to analyze biblical literature involves complexities that are usually not present or not considered in the relevant psychological scholarship. Depending on one’s position on the genesis and use of the Hebrew Bible passages in question, it is possible that neither the author nor the first readers met the orphans and immigrants referred to, let alone were slaves in Egypt. For example, it is imprecise to speak of affective sharing with a group of people (rather than an individual) mentioned in a text (rather than being physically present). It is perhaps more accurate to suggest that the author of the text envisions empathy as an important aspect of dealing with these groups of people in society. On the analogy of our considerations about mentalizing above, it is possible to extend empathy to dealing with textual traditions and fictional characters. Hopefully empirical research will soon address scenarios that provide better analogies for understanding empathy in biblical laws. The Golden Rule (in various forms) was a widely known moral guideline in antiquity:57 “In everything do to others as you would have them do to you” (Matthew 7:12). The Gospel of Luke quotes the Golden Rule in the context of loving one’s enemy (Luke 6:27–36), whereas the Western text of the Book of Acts uses the negative form: “Whatever you do not want to be done to you, 55 J. DECETY, Social Cognitive Neuroscience Model of Human Empathy, in: E. HARMON-JONES/P. WINKIELMAN (eds.), Social neuroscience: Integrating biological and psychological explanations of social behavior, New York 2007, 247–270. 56 T. KAZEN, Empathy and Ethics: Bodily Emotion as Basis for Moral Admonition, in: R. URO/I. CZACHESZ (eds.), Mind, Morality and Magic: Cognitive Science Approaches in Biblical Studies, Durham 2012, 212–233; IDEM, Emotions in biblical law: A cognitive science approach, Sheffield 2012, 95–114. 57 A. KIRK, “Love your enemies,” the Golden Rule, and ancient reciprocity (Luke 6:27– 35), JBL 122 (2003), 667–686.

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do not do it to others” (Acts 15:29 D; cf. Tobit 4:15). It is also interesting to compare the Golden Rule of the synoptic gospels with the version found in the Book of Sirach: “Recognize that your neighbor feels as you do, and keep in mind your own dislikes” (Sirach 31:15). At the core of these rules is the principle of using self-knowledge as a basis for understanding others. But where is empathy in the Golden Rule? We will argue that empathy can be implied at two points, as a motivation eliciting action and as a touchstone for judging about the “goodness” of the action. Let us consider three different scenarios in which the Golden Rule can be used. (1) The positive form of the Golden Rule can be taken as an imperative to perform unprompted good deeds. One chooses spontaneously whatever one would like to be done to oneself and performs this action directed at a randomly selected recipient. (2) The rule (in both its positive and negative forms) can be used to decide how to respond to someone else’s action. The Lukan context especially considers how to respond to evil deeds. Being the recipient of some action prompts a range of possible responses, of which the Golden Rule requires the recipient to select the one they would like to be directed at them. (3) In the third scenario, one makes an assessment of people’s situation and considers what action they would like to be recipients of in that situation. Only the last scenario implies empathy as the origin of moral action. With respect to the second scenario, we can note that arguably humans cannot help but pick up emotional clues from others’ actions. This spontaneous resonance, in turn, will influence our own actions. Let us consider the use of empathy as a touchstone. The Golden Rule requires that in all three scenarios we run a simulation of the planned response or action as if we were its recipients. We have seen that the theory of mind indeed is capable of such simulations, that is, we can empathize with ourselves in a hypothetical scenario. More specifically, we will rely on our memories of being recipients of the same (or a sufficiently similar) action and run a simulation of that situation based on our memories. This ability, however, comes at a price: when mentalizing about past or future events, we are biased toward considering our current mental states as input conditions.58 Consequently, moral actions that we select in terms of the Golden Rule will tend to be actions of which we would like to be recipients at the moment. In general, however, the Golden Rule does not emphasize perspective taking, that is, the consideration of other people’s needs that are different from ours. In the New Testament we can find some clear examples of empathy with a stronger component of perspective taking than that seen in the Golden Rule. For example, Paul famously declares in 1 Corinthians 9:21, “To those outside the law I became as one outside the law” (τοῖς ἀνόμοις ὡς ἄνομος, 1 Corin58

GOLDMAN/SHANTON, Simulation Theory (s. note 15).

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thians 9:21). There are many ways to interpret this confessional passage, picturing Paul as a flatterer, demagogue, apologetic Pharisee, con artist, or political chameleon.59 Yet one plausible interpretation is that Paul became capable of putting himself in the shoes of the Gentile followers of Christ. Elsewhere I have argued that Paul’s social networks put him into the position of an inter-group broker, allowing him to develop a flexible cognitive repertoire.60 Applying this insight to the use of empathy, we can conclude that Paul associated with people from different ethnic and cultural backgrounds and learned to take their perspectives while picking up their emotional states. By integrating different cognitive patterns into his own thinking, he was able to make sense of different cultural and religious perspectives to respond empathically to the needs of Christ followers with diverse backgrounds. Although Paul’s person is important, the development of a new kind of perspective taking in the Jesus movement was not only a matter of individual genius. The expansion of the movement meant that missionaries were exposed to novel cognitive patterns, which some of them might have accommodated and used better than others. The Lukan phrasing of the Pauline stance is less eloquent but conveys a similar message. At the so-called “apostolic council” narrated in Acts 15, James requires that “we should not trouble (μὴ παρενοχλεῖν) those Gentiles who are turning to God” (Acts 15:19), appreciating the fact that culturally different groups of the Christ followers might have different needs. The interesting question arises as to whether the same moral standard still applies to everyone after incorporating perspective taking into empathy consistently. An appreciation of different cultural and individual perspectives makes it impossible to translate religious values into simplistic ethical recipes.

8. Concluding remarks Our survey of imitation as a foundation of human social behavior leaves us with two puzzling conclusions. First, whereas empirical evidence demonstrates that we are cooperators and imitators by nature, equipped with prosocial instincts and imitative minds, scholars have not yet presented a convincing account of how altruism beyond clever social maneuvering can sur-

59

D.J. RUDOLPH, A Jew to the Jews: Jewish Contours of Pauline Flexibility in 1 Corinthians 9:19–23, Tübingen 2011, 110–149. 60 I. CZACHESZ, Women, Charity, and Mobility in Early Christianity: Weak Links and the Historical Transformation of Religions, in: I. CZACHESZ/T. BIRÓ, Changing Minds: Religion and Cognition Through the Ages, Leuven 2011, 129–154; cf. D.C. DULING, Paul’s Aegean Network: The Strength of Strong Ties, BTB 43 (2013), 135–154.

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vive in the long run. Second, moral principles laid down in philosophical and theological works probably have less influence on our moral behavior than we tend to believe. As it appears from our survey, a key element in imitating moral examples is our groupish nature. Acting as a group often involves synchronizing our actions and emotions and influences how we re-enact traditions and learn from models. This suggests, in turn, that understanding the gatherings and rituals of early Christians probably holds the key to a better understanding of their morality.

IV. Doxologie

Doxologie als Begründungsform antiker Ethik Eine Einführung Friedrich W. Horn Das Thema des 8. Mainz Moral Meetings greift nicht auf einen feststehenden und seit Langem gebräuchlichen Terminus zurück. Im Gegenteil! Eine Durchsicht im Internet zeigt, dass wir mit dem Thema der doxologischen Ethik weitgehend Neuland betreten.1 Uns ist es bewusst, dass das Thema missverständlich und vielleicht auch theologisch problematisch sein kann, da wir den Bereich des menschlichen Handelns mit dem Gotteslob, dem Hymnus, dem Magnifikat, der Eulogie, mit der Doxologie verknüpfen und damit diese, die allein dem Lob Gottes reserviert sein soll, möglicherweise auch einem ethischen Zweck aussetzen. Der Große Westminster Katechismus 1647–1648 hatte zur Doxologie wegweisend formuliert (in der Übersetzung durch Gajus Fabricius): Frage 1: „Was ist die vornehmste und höchste Bestimmung des Menschen?“ Antwort: „Die vornehmste und höchste Bestimmung des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und ihn vollkommen zu genießen in alle Ewigkeit.“ Wie kann man diese Bestimmung mit Ethik verbinden? Zunächst ist sicher die Frage der Perspektive zu stellen: Wie bringen wir Doxologie und Ethik zusammen und in welcher Perspektive? Doxologische Ethik könnte einerseits so verstanden werden, dass das Handeln der Menschen von solcher Gestalt ist, dass es als Lob zur Ehre Gottes oder gar als ‚groß machen‘ (magnificare) des Schöpfers aufgenommen werden kann. Ethik wäre hierbei eine Gestalt doxologischer Praxis. Andererseits aber besteht die umgekehrte Perspektive, nicht vom Menschen aus zu Gott hin, sondern von Gott aus zum Menschen hin zu denken. Die Doxologie und andere hymnische Texte preisen Gott, sein Wesen, seine Taten, seine Verlässlichkeit und seine Gnade. Sie sprechen aus, was den Glauben und das Hoffen bewegt und was doch auch gleichzeitig einen grundlegenden Unterschied zur Erfahrung menschlichen Verhaltens untereinander ausmacht. Dennoch aber werden diejenigen, die in das Gotteslob einstimmen, sich an den Werten und Eigen1

Ich verweise aus der neueren Literatur auf CHR. HERRMANN (Hg.), Leben zur Ehre Gottes – Themenbuch zur Christlichen Ethik I: Ort und Begründung, Wuppertal 2010. Hier jedenfalls fällt der Begriff einer doxologischen Ethik.

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schaften, die sie Gott zuschreiben, orientieren und sich diese zu eigen machen, und sie werden ein solches Verhalten dann auch nicht als vermessen begreifen. Was ist eine Doxologie in den biblischen Texten? Ich orientiere mich zunächst an lexikalischen Grundaussagen.2 Die formgeschichtliche Bestimmung der alttestamentlichen Doxologien erkennt „den liturgischen Akt der Huldigung vor der Gottheit, der seinerseits im Zeremonialstil des Königshofs seine Wurzeln hat. In Gestus und Rede werden sowohl Verehrung, Lobpreis, Erhöhung des Adressaten wie Unterwerfung, Unterordnung und Anerkennung der eigenen Niedrigkeit zum Ausdruck gebracht.“3

Vor allem die sog. Gerichtsdoxologie bezeugt den Bekenntnis- und Anerkennungscharakter der Doxologie. Das frühe Christentum übernimmt Doxologien und Eulogien vornehmlich aus dem griechischsprachigen Judentum der Synagoge und verwendet sie in Gottesdienst und Gebet.4 Allerdings wird in manchen Doxologien mittels der ‚Durch Christus-Formel‘ ein Bezug zu Christus hergestellt (Röm 16,27; 1Petr 4,11; Jud 25; Did 9,4; MartPol 14,3; 20,2; 1Clem 58,2; 61,3; 64; 65,2). Dieser kann in spätneutestamentlicher Briefliteratur sogar ausschließlich Empfänger der Doxologie werden (2Tim 4,8; 2Petr 3,18; Apk 1,6; MartPol 21). In der Johannesoffenbarung findet eine Verschränkung von himmlischem Gottesdienst und dem Kultus der irdischen Gemeinde statt, der auch in Doxologien seinen Ausdruck findet (Apk 5,13f.; 7,10.12; 19,1). Franz Tóth hat gezeigt, dass eine entscheidende Funktion der Hymnen der Apk darin besteht, „zur interpersonellen Partizipation der Gottesgemeinde am sich wiederholenden himmlischen Lobgesang (vgl. Apk 7,9–15a; 11,15; 15,2–4)“ aufzurufen.5 2

K. SEYBOLD, Art. Doxologie I: Formgeschichtlich, RGG4 2 (1999), 962f.; S. VOLLEN4 WEIDER, Art. Doxologie I: Formgeschichtlich, RGG 2 (1999), 963; R. DEICHGRÄBER, Art. Benediktionen III, TRE 5 (1980), 562–564; W. HILBRANDS, Art. Doxologie (AT), Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de) 2008 (Zugriff: 29.04.14); G. WAINWRIGHT, Art. Doxologie II. Theologiegeschichtlich und dogmatisch, III. Liturgisch, RGG4 2, 963f.; DERS., Doxology – The Praise of God in Worship, Doctrine, and Life, Oxford 1980 (repr. 2008); J. DRUMM, Art. Doxologie II: Historisch-theologisch, III: Systematisch-theologisch, LThK3 III, Freiburg i. Brsg. 1995, 355f. Im Blick auf die frühchristliche Verwendung und die jüdische Tradition vor allem H. LÖHR, Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet. Untersuchungen zu 1Clem 59 bis 61 in seinem literarischen, historischen und theologischen Kontext, WUNT 160, Tübingen 2003, 485– 501. 3 SEYBOLD, Doxologie (s. Anm. 2), 962. 4 Einen ausgezeichneten Überblick bietet R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit. Untersuchungen zu Form, Sprache und Stil der frühchristlichen Hymnen, StUNT 5, Göttingen 1967, 25–43. 5 F. TÓTH, Der himmlische Kult. Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung, ABG 22, Leipzig 2006, 500.

Doxologie als Begründungsform antiker Ethik

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Hierbei bricht die himmlische Wirklichkeit, die in Hymnen besungen wird, in die irdische Realität der Gemeinde ein. An dieser Stelle gewinnen die Hymnen der Johannesoffenbarung eine ethische, ja politische Dimension, da sie Macht, Preis, Ehre und Anbetung ausschließlich Gott und Christus, dem geschlachteten Lamm, zueignen, das Recht und die Würde allerdings, solche Attribute zu beanspruchen, gleichzeitig dem kaiserlichen Imperium absprechen (Apk 4,11; 5,12). Seinen eigentlichen rituellen und liturgischen Ort gewinnt die Doxologie in der christlichen Liturgie. Seit dem 4. Jh. begegnet die sog. Große Doxologie (Gloria in Excelsis) neben der Kleinen Doxologie (Gloria Patri) in der Liturgie der Kirche. Auf dem 8. Mainz Moral Meeting fokussierte sich das Gespräch aber nicht auf Doxologien oder Eulogien im engeren Sinn, sondern bezog – die formgeschichtliche Unschärfe in Kauf nehmend – weitere Formen lobpreisender Rede ein, etwa Hymnen oder Gebete. Ulrich Volp bündelt in seinem Vortrag das Thema dahingehend, grundsätzlich nach dem Ethos antiker liturgischer Quellen zu fragen. Es steht außer Frage, dass derjenige, der einen Hymnus auf den Schöpfer und die Schöpfung anstimmt, deren Wert anerkennt und wohl auch implizit für ihre Bewahrung eintritt. Gebete haben auch die Funktion, durch sie und in ihnen ethische Orientierung zu gewinnen. Doxologische Rede ist ein existentielles und subjektives Geschehen, in dem geradezu eine dialogische Ebene zwischen dem Sprechenden und dem gepriesenen Gott oder Christus eröffnet wird. Ein Hymnus hat deshalb sowohl eine Ausdrucksals auch Appell- oder Zustimmungsdimension, zugleich aber auch einen weiteren Begründungszusammenhang, indem der Hymnus einem Adressaten, dem Schöpfer, zugeeignet wird. Die Doxologie bezieht sich wohl zunächst auf Gott oder Christus, dann aber doch auch auf die Eigenschaften und Werte, die mit diesen Gepriesenen verknüpft sind. Auch wenn diese Eigenschaften und Werte nur selten direkt in der Doxologie angesprochen werden, so sind sie durch die biblische Tradition präsent. Doch sind auch direkte Verknüpfungen innerhalb der Doxologie möglich. Apk 19,1f. preist Gott, dessen Urteile wahr und gerecht sind. Jud 24f. preist Gott, der die Macht hat, vor einem Fehltritt zu bewahren. Nicht eigens in einem Referat, sondern in Arbeitsgruppen wurde auf dem 8. Mainz Moral Meeting über das Magnifikat (Lk 1,46–55) gearbeitet. Das Referat von Alexandra Grund über das Lied der Hannah (1Sam 2) stellte hierfür eine wesentliche Voraussetzung dar und eröffnete intertextuelle Beobachtungen. Eine eindeutige ethische Dimension gewinnt das Magnifikat nicht im Sprechakt. Dass Mächtige vom Thron gestoßen werden und Reiche leer ausgehen (Lk 1,52f.), ist im antiken Denken wohl nur selten eine menschliche Möglichkeit. Dass aber Hungrige mit Gütern gefüllt und Niedrige erhöht werden, schon eher. Der Hymnus lädt nicht einfach zur Nachahmung Gottes ein, sondern weiß zu unterscheiden, was Gottes und was des Menschen Möglichkeiten sind. Im Kontext des Lukasevangeliums wird das

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Thema des Magnifikats, hier konkret die Umkehrungstheologie, mehrfach wieder aufgenommen, etwa in den Positionswechsellogien (Mt 23,12; Mk 10,31; Lk 14,11; 18,14 u.a.)6, in den Makarismen und Weherufen (Lk 6,20– 26) oder im Gleichnis von Lazarus und dem Reichen (Lk 16,19–31). Die kontextuelle Verklammerung verknüpft das in der Doxologie Gesagte – er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen (Lk 1,52) – mit einem klaren Appell: denn was hoch ist bei den Menschen, das ist ein Gräuel vor Gott (Lk 16,15). Es wäre eine lohnende Aufgabe, auch andere doxologische Texte, etwa antike Hymnen, dahingehend zu befragen, ob sie im Sprechakt des Lobens Handlungsbegründungen enthalten. Hierbei denke ich z.B. an die Gottesknechtslieder des Deuterojesaja, an den Christushymnus des Philipperbriefs (Phil 2,5–11), an die große Eingangseulogie des 1. Petrusbriefs (1Petr 1,3– 12) in ihrer ethischen Verknüpfung (1Petr 1,13ff.), an Augustins Lobpreis Gottes in Buch 1 der Confessiones, an den Sonnengesang des Franz von Assisi.7 Auf dem 8. Mainz Moral Meeting sollen, so war die gesetzte und zunächst bescheidenere Aufgabe, anhand unterschiedlicher Textbeispiele die Spezifika der doxologischen Handlungsbegründungen herausgearbeitet werden, die in den Horizont einer medial vermittelten ästhetischen Ethik verweisen.

6 Dazu G. GUTTENBERGER ORTWEIN, Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 39, Freiburg (CH)/Göttingen 1999, 163–169. 7 M. LATTKE, Hymnus. Materialien zu einer Geschichte der antiken Hymnologie, NTOA 19, Freiburg (CH)/Göttingen 1991, hat das Textmaterial umfassend dokumentiert.

Viel Lob, viel Ehr Karte und Gebiet einer doxologischen Ethik Klaas Huizing

Einleitung Im Halse stecken bleiben Der französische Romancier Michel Houellebecq, ein ausgewiesener Kenner des geschlechtlichen Unterbaus und ein Antiquar der fiesen Bürgersehnsüchte, Houellebecq, der zumindest in seiner linken Herzkammer ein großer Moralist ist, in der anderen Herzkammer pflegt er seinen plüschigen Nihilismus, lässt einen Protagonisten in seinem gleichermaßen gefeierten wie gescholtenen Roman Plattform1 sagen: „Je mehr sich eine Religion dem Monotheismus nähert – denken Sie daran, cher monsieur –, um so unmenschlicher und grausamer ist sie. […] Der Übergang zum Monotheismus ist absolut kein Abstraktionsversuch, wie manchmal behauptet wird.“2

Absichtsvoll provozierend äußert sich der Protagonist gegenüber dem Islam: „[D]er Islam ist im Vergleich zu allen anderen Konfessionen die Religion, die den Menschen den radikalsten Monotheismus aufzwingt. Der Islam konnte nur im Stumpfsinn einer Wüste entstehen, inmitten dreckiger Beduinen, die nichts anderes zu tun hatten – entschuldigen Sie den Ausdruck –, als ihre Kamele zu ficken.“ 3

Nachsichtig und etwas kaltschweißig wird der Katholizismus behandelt: „Sie werden bemerkt haben, dass sich eine solch subtile Religion wie der Katholizismus […] sehr bald vom Monotheismus entfernt hat, den ihm die ursprüngliche Doktrin auferlegen wollte. Durch das Dogma der Dreieinigkeit, den Marien- und den Heiligenkult, die Anerkennung der höllischen Mächte und die bewundernswerte Erfindung der Engel hat er nach und nach einen authentischen Polytheismus wieder aufgebaut; nur aufgrund dieser Voraussetzung hat er die Erde mit zahllosen künstlerischen Glanzleistungen überhäufen

1 M. HOUELLEBECQ, Plattform, Roman, aus dem Französischen von Uli Wittmann, Köln 2002. 2 HOUELLEBECQ, Plattform, a.a.O., 238. 3 HOUELLEBECQ, Plattform, a.a.O., 238f.

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können. Ein einziger Gott! Was für ein Unsinn! Was für ein unmenschlicher, mörderischer Unsinn! Ein Gott aus Stein, cher monsieur, ein blutrünstiger, eifersüchtiger Gott, der nie die Grenzen der Wüste Sinai hätte überschreiten dürfen.“4

Die Figur im Roman, die ihre Wut nur mäßig gezügelt artikuliert, ist nicht zufällig Ägypter, denn nur wenige Jahre zuvor war es ein Ägyptologe, Jan Assmann, der mit seiner These einer notwendigen Verschränkung von Monotheismus und Gewalt, die schläfrige Theologie jäh aufschreckte.5 Assmann sieht auch nach Jahren verlustreicher Schlachten auf beiden Seiten weiterhin in der Loyalitätsforderung des monotheistischen Gottes, seinem absoluten Geltungsanspruch, die Ursachen für Intoleranz und Gewalt.6 Und das Feuilleton ist in dieser Frage kritiklos Assmann-gläubig geworden.7 Nahezu heroisch und trotzig mutet es deshalb an, wenn man trotzdem das Projekt einer doxologischen Ethik auf die Agenda setzt, die offenbar unverblümt dem monotheistischen Gott huldigt. Droht nicht vor dem Hintergrund der von Houellebecq und Assmann hochgezogenen Schreckenskulisse die Gefahr, mit einer doxologischen Ethik am Gotteslob zu ersticken, weil durch die Hintertür und nur schlecht verdeckt (religiöse) Intoleranz und Gewalt ethisch gerechtfertigt werden? Darf man wirklich ins Jubilieren an diesen offenbar eifersüchtigen und bewundernswert muskulösen Gott einfallen? Und 4

A.a.O., 239. J. ASSMANN, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur [1998], Frankfurt 2011; DERS.: Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006; DERS., Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2010; DERS., Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen, Stuttgart 2010. Assmann teilt allerdings nicht, wie gelegentlich behauptet wird, das alte Klischee, der antike Polytheismus sei gewaltfrei gewesen, das O. MARQUARD im ,Lob des Polytheismusʻ bedient; in: DERS., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1978, 96–116. In einem Aufsatz für die NZZ vom 10.10.1998 untermauert auch Martin Walser seine Vorbehalte gegen den Monotheismus, dessen globaler Anspruch zwangsläufig zu Intoleranz führe. Ganz unverhohlen plädiert er für einen neuen Polytheismus. „Fast nur noch unsere Flussnamen erinnern an unsere vorchristlichen Vorgänger. Da war in jedem Baum, in jeder Quelle und in jedem Bach ein anderer Gott. Unvorstellbar, dass unterm Schirm einer über Wiesen und Wälder hingestreuten Göttervielfalt dem Planeten je hätte Gefahr drohen können.“ In das gleiche Horn bläst auch Sloterdijk. Er plädiert für neue Erzählungen und neue Mythen, die es erlauben, ein Leben ohne Schuld zu führen. P. SLOTERDIJK, Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie. Vier große Vorlesungen, Weimar 2001. Die Intention von Sloterdijk teile ich ausdrücklich. 6 Wer wie ich aus der calvinistischen Tradition kommt und den Würgeengel der doppelten Prädestination im Rucksack mit sich führt, weiß überdeutlich, was mit Gewalt, die immer die Angst gebiert, gemeint ist. Man kann gar nicht genug Lethe-Wasser trinken, um diese Erfahrung zu vergessen. 7 In manchen Texten ist Assmann gelegentlich etwas vorsichtiger, wenn er schreibt: „In dieser Situation ist es wichtig sich klar zu machen, dass die Gewalt dem Monotheismus nicht als eine notwendige Konsequenz eingeschrieben ist.“ ASSMANN, Monotheismus und die Sprache der Gewalt (s. Anm. 5), 56. 5

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ebenso problematisch: Kann es wirklich gelingen, aus der Doxologie Handlungsbegründungen für eine urbane Ethik, für einen Einmarsch in die Welt abzuleiten? Ist eine Doxologie, die sich gewöhnlich auf die religiöse binnenkirchliche Praxis des Lobpreises beschränkt, nicht ethisch irrelevant? Um diese Fragen zu beantworten, gehe ich in sechs Schritten vor. Zunächst erinnere ich an den Versuch Karl Barths, die latente Gewalt im Herrlichkeitsdiskurs, die im hebräischen Schlüsselbegriff kabod (Ehre, Herrlichkeit, Souveränität) mitschwingt, durch eine Umleitung auf den Schönheitsbegriff abzupuffern. Das Gewaltpotential des allmächtigen Gottes wird trinitätsästhetisch intra muros ecclesiae entschärft. Von hier aus hat der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar seine Herrlichkeitsdogmatik am Beispiel des Messopfers entworfen. Der italienische Meisterdenker Giorgio Agamben, der in den Fußstapfen von Michel Foucault eine vielbändige Archäologie der Macht und Gewalt vorantreibt, kann diesen Versuchen wenig abgewinnen und plädiert im Gegenzug dafür, zwischen Herrlichkeit und Herrschaft, genauer: zwischen der Herrlichkeit und der providentiellen oikonomia, in der Sprache Foucaults: dem gouvernementalen Dispositiv zu unterscheiden. Ein zweiter Abschnitt inventarisiert und kritisiert Versuche, ausgehend von der Doxologie und im kirchlichen Haus der Barthschen Theologie eine Ethik, genauer: eine kirchliche Ethik zu begründen. An zwei ethischen Fallbeispielen, die in der Literatur traktiert werden, will ich die Frage einer Handlungsnormierung im Ausgang von doxologischer Sprache untersuchen. Ich komme dabei zu deutlich anderen Bewertungen als gegenwärtig doxologisch argumentierende Ethiker, die zu einem höchst zwiespältigen Lob der Fruchtbarkeit, die unausgesprochen zum höchsten Wert ausgerufen wird, ausholen. Die Differenz im Urteil liegt nicht zuletzt an dem garstig breiten Graben, der sich zwischen biblischen Texten und Dogmatik/Ethik immer wieder auftut. Wahrscheinlich ist dieser breite Graben die Hölle protestantischer Theologie. Nur so viel ist sicher: Wer dort hineinfällt, ist nicht allein. In einem dritten Teil löse ich die Doxologie von der engen Gattungsfrage, befreie sie von der Fixierung in der gottesdienstlichen Liturgie und verorte sie im Leseakt. Mir geht es um das doxologische Geschehen zwischen Text und Leser, nicht um eine doxologische Erinnerungskultur im kirchlichen Raum. Ich will dem protestantischen Instinkt folgen und zunächst die biblischen Texte hochleben lassen, genauer: Ich stimme einen Hymnus an auf ihre ästhetischen Qualitäten. Biblische Texte, so meine These, inszenieren religiöse, erhebende Erfahrungen mit einer religiösen Macht, die Menschen verändern und zum Gotteslob stimulieren. Doxologie, die in meinem Diskurs auf eine Krise im Diesseits von Schuld und Sünde reagiert, wird damit zu einem sehr grundsätzlichen theologischen Phänomen. Ethische Erkenntnisquelle, so mein Vorschlag, sind die biblischen Texte als inszenierte religiöse Erfahrungen.

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Ein vierter Teil stellt Überlegungen an zu einer Poetik der Weisheit und des Heiligen Geistes, die nachvollziehbar macht, wie, durch welche Stilmittel, religiöse Erfahrung inszeniert wird, damit das Wort ,Gottʻ in das Denken und Reden einfällt und zum Gotteslob animiert. Auf eine gleichermaßen affektive und emotive Wahrnehmungs- und Einstellungsänderung zielen nahezu alle biblischen Texte, hier also ist das Wirken des Heiligen Geistes zu suchen. Thema ist die ästhetische Verschränkung von Konkretem und Abstraktem, Endlichem und Unendlichem, die eine Vertikalspannung erzeugt und damit eine Transzendenzerfahrung ermöglicht. In ihrer ästhetischen Performanz bewegen die Texte die Leser dazu, die inszenierten Gefühle auszubilden und Gesten zu inkorporieren. Lob ist Ehrbezeugung, offenbar sind Ehrbezeugung oder Dankbarkeit und Ehre Schlüsselnormen oder Schlüsselwerte doxologischer Ethik. Ihnen korrespondiert traditionell die Scham. Honor and Shame ist ein leidlich erprobtes Modell innerhalb der exegetischen Wissenschaft. Ich möchte es dekonstruieren, weil in diesem Modell die Scham zumeist als Tugend der (weiblichen) Schamhaftigkeit verwendet wird. Wenn aber meine These richtig ist, dass Texte Schlüsselsituationen inszenieren, dann muss nicht nur der Begriff der Ehre, sondern auch der korrespondierende Begriff der Scham als Schamsituation verstanden werden, die die (ethische) Person primordial konstituiert. Es wird darauf ankommen zu zeigen, wie Texte ein gelebtes Ethos der Umwelt, das durch die polaren Wertbegriffe von Ehre und Schamhaftigkeit horizontalisiert wird, durch ein modifiziertes Ethos ersetzen, das im Vollzug der Neuinstallation zugleich die polaren Wertbegriffe inhaltlich anders qualifiziert. Auch Gefühle haben ihre Konjunktur, zumindest der Begriff Ehre scheint in einer Baisse zu verharren, erinnert aktuell zu stark an Lobhudelei oder an soldatische Tugend. Ist der Geltungsbereich dieser orm vernutzt? Offenbar hat der Missbrauch des Begriffs im Faschismus den Begriff ,Ehreʻ intellektuell unmöglich gemacht. Wie lässt sich ein Begriff von Ehre erarbeiten, der dem Missvergnügen am Begriff und am Monotheismus gerecht wird? Eine Verwandtschaft zwischen Doxologie und den polaren Wertbegriffen Ehre und Scham ist zu offensichtlich, um sie zu übergehen. Ein letzter Anschnitt wirbt schließlich für eine optimistische Anthropologie weisheitlicher Provenienz. Anders gewendet: Ich möchte die Doxologie aus der Umklammerung einer Schuld- und Sündentheologie und einer pessimistischen Anthropologie befreien. Doxologische Ethik ist eine deskriptive Ethik der Einsichtgewinnung, die auf eine primordiale göttliche Beschämung reagiert. Mit Walter Benjamin deute ich die Beschämung als Darstellung reiner, sprich: zweckfreier Gewalt, die als erzieherischer Akt einzig deshalb zum Einsatz kommt, um das ethische Subjekt im Diesseits der Schuld zu konstituieren. Damit wird auch die Frage nach der Gewalt im Monotheismus einer Antwort zugeführt. Ehre oder Ehrbezeugung und Scham sind nach meiner Einschätzung die zentralen Werte, die in textlich inszenierten Schlüsselsi-

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tuationen erschlossen werden und eine optimistische Anthropologie im Diesseits von Schuld und Sünde denkbar machen.

1. Stimmübung: Doxologie und Ästhetik In seinem Monumentalwerk Die kirchliche Dogmatik8 hat Karl Barth an eher entlegenem Ort ein (für ihn) knappes Traktat über die Herrlichkeit verfasst, das der Frage nach dem Zusammenhang von Gewalt, in seinen Worten: von Allmacht und Kraft und der Herrlichkeit Gottes luzide nachgeht: „Oder können wir vielleicht über das Wie der Herrlichkeit, der Selbstverherrlichung Gottes positiv nur dies sagen, dass sie die ganze Allmacht Gottes hinter sich hat, dass sie überführt und überzeugt damit, dass sie herrscht, überwältigt und bezwingt mit schlechterdings überlegener Kraft? […] Ist mit dem Wort ,Herrlichkeitʻ, mit dem die Bibel die Offenbarung und die Erkenntnis Gottes beschreibt, nicht mehr und etwas anderes gesagt als mit der Feststellung einer brutalen Tatsache? […] Hat und ist Gott nicht auch mehr als das, was mit Kraft zu bezeichnen ist, wenn er Licht hat und ist, wenn er herrlich ist?“ (733)

Zwar gesteht Barth zu, dass die Herrlichkeit zunächst und zumeist „die Majestät, die Überlegenheit Gottes“ (722) bezeichnet, aber die Souveränität soll nicht auf dem factum brutum der Allmacht beruhen. Das im Diskurs gesuchte mehr, das surplus zur Kraft, entdeckt Barth im angrenzenden Bereich der Schönheit: „Dürfen und müssen wir sagen, dass Gott schön ist, dann sagen wir eben damit, wie er erleuchtet, überführt, überzeugt. Wir zeigen damit nicht bloß die nackte Tatsache seiner Offenbarung und auch nicht bloß deren Gewalt als solche, sondern die Form und Gestalt, in der sie Tatsache ist und Gewalt hat.“ (733)

Barth ist sehr hellsichtig, wenn er eingesteht, der „drohende Ästhetizismus“ (735), der Rekurs auf Begriffe wie Wohlgefallen, Begehren und Genuss (734) sei als Preis zu entrichten, wenn es darum geht, die Herrlichkeit aus der Umklammerung von der nackten Gewalt zu lösen. „Die Form seines Wesens ist nicht Form an sich, sondern die konkrete Form des dreieinigen Gottes.“ In der Dreieinigkeit Gottes besteht „das Geheimnis seiner Schönheit“ (745).9 Giorgio Agamben hat diesen Versuch der Ästhetisierung nachdrücklich getadelt: „Auch hier – wie am verborgenen Ursprung jedes Ästhetizismus – steht das Bedürfnis, etwas, das an sich bloße Kraft und Herrschaft ist, zu 8

K. BARTH, Die kirchliche Dogmatik 2/1, Zürich 41958. Die folgenden Seitenhinweise beziehen sich auf diesen Text. 9 Das Dispositiv der Herrlichkeit ist in neueren ästhetischen Diskursen häufig durch den Begriff der Erhabenheit ersetzt worden. Vgl. C. PRIES, Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Berlin 1989; R. RORTY, Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, Frankfurt 2000; S. VOIGT, Erhabenheit: Über ein großes Gefühl und seine Opfer, Würzburg 2011.

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verhüllen und zu adeln.“10 Von Verhüllung spricht Agamben zunächst durchaus zu Recht, weil die Menschen im Herrlichkeitsdiskurs bei Karl Barth letztlich nur zum „Widerhall“ (753) der Herrlichkeit verkommen: „Die Kreatur ist frei für Gottes Herrlichkeit, nicht weil sie es aus sich selbst werden konnte und wollte, aber weil sie durch Gottes Herrlichkeit selbst für sie freigemacht worden ist“ (755). Die Kreatur ist selber „Dank“ (755). Scharfsinnig urteilt Agamben: „Hier nun gewinnt die Zirkularität der Herrlichkeit ontologischen Status. Denn frei sein für Gottes Herrlichkeit heißt, sein Sein begründet zu sehen in der Herrlichkeit, mit der wir die Herrlichkeit rühmen, die uns gewährt, sie zu rühmen.“11

Das Leben des Menschen schrumpft jetzt zum „Lebensgehorsam“ zusammen. Abgeleistet wird dieser Dienst in der Kirche, weil die Gläubigen dort „von der Herrlichkeit Gottes umschlossen sind und an ihr Anteil haben“ (761). Eine für Barth desaströse Verbindungslinie zieht Agamben: „Eine derart absolute Reduktion des Geschöpfs auf seine Verherrlichungsfunktion ruft einem unweigerlich das Verhalten in Erinnerung, das die weltlichen Mächte sowohl in Byzanz als auch im Deutschland der dreißiger Jahre – das Barth freiwillig verlassen hatte – von ihren Untertanen verlangte.“12

Agamben übersieht freilich in seinem stark an mittelalterlichen Texten orientierten, gegenwärtige Ansätze protestantischer Dogmatik nur rudimentär rezipierenden und deshalb häufig gleichermaßen schrullig wie prunkend wirkenden Diskurs, dass der späte Karl Barth einen Vorschlag unterbreitet, wie denn Überzeugung ohne Gewalt gelingt. Der Schlüsselsatz lautet: „[D]ie neutestamentlichen Gleichnisse sind so etwas wie das Urbild der Ordnung, in welcher es neben dem einen Wort Gottes, durch dieses geschaffen und bestimmt, ihm genau entsprechend, ihm vollkommen dienend und darum in seiner Macht und Autorität auch andere, wahre Worte Gottes geben kann.“13 10

G. AGAMBEN, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Homo Sacer II/2, Berlin 2010, 253f. 11 AGAMBEN, a.a.O, 257. 12 AGAMBEN, a.a.O., 257f. Giorgio Agamben hat in seinem umwegigen Diskurs, jetzt auf Assmann Bezug nehmend, auch eine nicht-religiöse, sondern heidnische Begründung des Ehrbegriffs hergeleitet: Je stärker die Akklamation bei dem Ritual einer Amtseinführung ausfällt, umso größer ist die Ehre. Agamben hat dann später im Diskurs den Medien die Funktion zugesprochen, die Aufmerksamkeit zu regulieren und (damit) die Akklamation zu steuern. J. ASSMANN, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000. Überraschend diskutiert Agamben nicht Herrschaftslegitimationen, die Max Weber unterschieden hat: traditionale, bürokratische, charismatische. Vor allem die charismatische Herrschaftslegitimation wäre anhand des Auftretens Jesu hier zu diskutieren. 13 K. BARTH, Die Kirchliche Dogmatik, 4/3,1, Zürich 1959, 125f. Dazu: K. HUIZING, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen, Berlin/New York 1996.

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Bekanntlich hat Barths Schüler Eberhard Jüngel diesen Gedanken in seinen Arbeiten eingehend entfaltet: „Am angemessensten hat wohl Jesus selbst in seinen Gleichnissen das vom Unmöglichen unterschiedene Mögliche als die Wirklichkeit unbedingt angehend so zur Sprache gebracht, dass Wirkliches von Wirklichem unterschieden und so Freiheit eingeräumt und Vertrauen gewährt wurde. Die Gleichnisse Jesu sind im Grunde zwingende Bitten an seine Hörer. Sie führen in die Freiheit. Indem sie mit den Hörern […] einen Weg gehen. Einen Weg, der die Hörer in ihrer alltäglichen Welt, in ihrer Wirklichkeit aufsucht und dann mitnimmt, indem die verschiedenen Anschauungselemente und Erzählungszüge des Gleichnisses die Hörer auf die Pointe des Gleichnisses hin sammeln. Hier wird dem Hörer Zeit eingeräumt. Die Gottesherrschaft wird nicht abstrakt proklamiert, um den Menschen im Augenblick zur Entscheidung zu zwingen (gegen Bultmanns Kerygmaverständnis). Sondern die Gottesherrschaft nimmt sich Zeit, die Zeit eines Gleichnisses, um den Menschen in seiner ihm vertrauten Welt aufzusuchen. Und so gewährt die Gottesherrschaft in den Gleichnissen den Menschen Zeit, Vertrauen zu finden, um so verstehend in die Situation der Entscheidung zu gelangen, die die Pointe des Gleichnisses anbietet.“14

Diese zunächst von Karl Barth und Eberhard Jüngel angeschobene Gleichnisforschung hat, befreit von den Fesseln Barthscher Theologie, auch die innere Poetik der Gleichnisse und deren ästhetischen Eigenwert15 erforscht, und, losgelöst von der Engführung einer körpervergessenen Rede vom Sprachereignis (Fuchs, Jüngel), habe ich für eine somatisch-mimetische Rezeptionsästhetik der Gleichnisse plädiert, die bei den Lesern dazu führt, Grundgesten des Christentums einzuleiben.16 Dieser Prozess einer Einübung ins Christentum hat einen kräftigen ethischen Nebensinn. Selbstredend: In einer sich im Fahrwasser von Karl Barth bewegenden Theologie muss ein Herrlichkeits- und Schönheitsdiskurs letztlich verkümmern, weil die unterschwellig mitgeführte Bilderscheu im reformierten Protestantismus die Wahrnehmung verwässert. Nicht zufällig hat der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar, ein profunder Kenner der Theologie Karl Barths, sofort die Möglichkeiten erkannt, die sich an dieser Stelle für eine bilderfreundliche katholische Theologie erschließen, und hat sehr selbstbewusst sein auch vom Umfang mit Karl Barth konkurrierendes Werk ,Herrlichkeitʻ17, eine im kantischen Geist verfasste Ästhetik der Liturgie verfasst.

14 E. JÜNGEL, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, in: DERS., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 21988, 219–231, 230f. 15 D.O. VIA, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, München 1970. 16 K. HUIZING, Live übertragen. Die Metapherndebatte geht in die nächste Runde, in: J. Frey/J. Rohls/R. Zimmermann (Hgg.): Metaphorik und Christologie, Berlin/New York 2003, 383–397. 17 H.U. VON BALTHASAR, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Einsiedeln 1961– 1969. Der erste Band heißt nicht zufällig: Schau der Gestalt (1961).

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„Es geht zuerst darum, der Offenbarung Gottes überhaupt ansichtig zu werden, und Gott kann doch wohl nur an seiner Herr-heit, Hehr-heit, an dem was Israel Kabod und das Neue Testament Gloria nennt, unter allen Inkognitos der Menschennatur und des Kreuzes, erkannt werden. Das bedeutet: Gott kommt nicht primär als Lehrer für uns (>wahrgutInteresselosigkeit im antithetischen Parallelismus lässt auch hier eine Pluralform annehmen.

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10 a JHWH27 – die28 mit ihm streiten, werden niedergeschlagen, im Himmel lässt er es gegen sie donnern. JHWH richtet die Enden der Erde. b Er verleihe29seinem König Macht und erhöhe das Horn seines Gesalbten. 2.3 Textsorte Handelt es sich überhaupt um einen hymnischen, also doxologischen Text? Denn einige der klassischen Merkmale eines Hymnus fehlen. So beginnt der Psalm nicht mit Aufgesang und imperativischer Lobaufforderung, sondern mit der Selbstbeschreibung der euphorisierten Stimmungslage der Beterin aufgrund der erfahrenen Hilfe. Dennoch kann man ihn auch nicht zu den Dankliedern des Einzelnen zählen, da ansonsten keines ihrer Hauptmerkmale wie Lobankündigung, Anrede, Rückblick auf vergangene Not und erfahrene Hilfe sowie das Lobversprechen greifbar werden. Bei Texten, die anhand der klassischen Gattungsmerkmale im Anschluss an Gunkel nicht eindeutig einer Gattung zuzuordnen sind, hat es sich bewährt, die Pragmatik des Gesamttextes zu summieren, und diese ist eben primär in der Ehrvermehrung Gottes, im do,xan le,gein zu sehen. Und immerhin lassen sich im Partizipialstil von V.6–8a, in Begründungen mit yKi (V.1b; 3b; 8b) sowie in der Unvergleichlichkeitsaussage V.2 Elemente des Hymnus konstatieren. 2.4 Schlüsselmotive und Struktur Nach erstem Eindruck wird der Text beherrscht von Lexemen der semantischen Felder „hoch sein, erhöhen“ auf der einen Seite und „herabführen, erniedrigen“ etc. auf der anderen. Dieser Eindruck lässt sich zu einem detaillierten Befund erhärten, den Tab. 1 veranschaulicht. Es heißt oft, dem Psalm sei kein klarer Aufbau abzugewinnen. 30 Die Struktur des Textes (Tab. 2) erschließt sich tatsächlich nicht auf den ersten Blick

27

Die Satzstellung der hebräischen Pendenskonstruktion, die JHWH hervorhebt, wurde in der Übersetzung beibehalten. 28 Mit Qere, entsprechend der Pluralform WTx;yE. 29 Auch das zu ~rey"w> parallele !T,yIw> ist als Jussiv zu deuten; so auch HUTZLI, Erzählung (s. Anm. 12), 158 mit Anm. 20. 30 DIETRICH/NAUMANN, Samuelbücher (s. Anm. 10), 14. Zum Aufbau vgl. auch R. BARTELMUS, Tempus als Strukturprinzip. Anmerkungen zur stilistischen und theologischen Relevanz des Tempusgebrauchs im „Lied der Hanna“ (1Sam 2,1–10) (1987), in: DERS., Auf der Suche nach dem archimedischen Punkt der Textinterpretation: Studien zu einer philologisch-linguistisch fundierten Exegese alttestamentlicher Texte, Zürich 2002, 133–157.

Ethische Implikationen des Psalms der Hanna

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Tabelle 1: Zum semantischen Feld „erhöhen“/„erniedrigen“ in 1Sam 2,10 hoch/erhöht sein hoch heraufführen aufstehen lassen

~wr H;boG" hl[ ~wq

V.1a.7b.8a V.3a V.6b V.8a

fallen, straucheln hinabführen erniedrigen niederschlagen

lvk dry lpv ttx

V.4b V.6b V.7b V.10a

Tabelle 2: Zur Struktur von 1Sam 2,1–10 1aα Narrative Einleitung 1aβ–b Erhöhung der Beterin durch JHWH !rq / ~wr /Überlegenheit über Gegner 2 Unvergleichlichkeit JHWHs (yKi) 3 Niedergang der Hochmütigen 3b Begründung (yKi): JHWH – ein wissender Richter 4f Erniedrigung der Hohen, Erhöhung der Niedrigen 4a.b Kampf 5a ahrung 5b Fruchtbarkeit 6f JHWH – Herr über Tod und Leben 8a Erhöhung der Niedrigen 8b Begründung (yKi): JHWH – Eigner und Schöpfer der Welt 9 Niedergang der Hochmütigen 9b Begründung (yKi): Uneigenständigkeit menschlicher Stärke 10a Überlegenheit über Gegner 10b Erhöhung des Gesalbten durch JHWH !rq / ~wr

und auch kaum anhand wiederkehrender Stichwörter – hier wird lediglich durch !rq und ~wr in V.1 und 10 eine inklusionsartige Struktur erzielt. Es sind eher thematische Gesichtspunkte, gestützt von syntaktischen Beobachtungen, unter denen eine Gliederung jedoch durchaus erstellt werden kann.31 Da der Hannapsalm eine plausible Struktur aufweist und im Ganzen von Merkmalen eines nachexilisch-monotheistischen Gottesbildes durchzogen wird, wird hier von seiner Einheitlichkeit ausgegangen.32

31

Zur Diskussion von Gliederungsvorschlägen s. DIETRICH, Samuel (s. Anm. 14), 70f. Durchgehend monotheistische Vorstellungsgehalte und einheitliche Struktur sprechen gegen Dietrichs Annahme eines vorexilischen Königspsalms als ursprünglicher Textgestalt (DIETRICH, Samuel [s. Anm. 14], 77–82). Manche literarkritische Operationen, insbesondere Versumstellungen wie bei SEYBOLD, Hanna-Psalm (s. Anm. 18), 193–196, führen ebenfalls nicht weit. Auch HUTZLI, Erzählung (s. Anm. 12), 159, und BECKER-SPÖRL, Untersuchungen (s. Anm. 21), 16–20, votieren für die Einheitlichkeit des Psalms. 32

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2.5 Textverlauf und Gefälle Trotz dreier mit yKi eingeleiteter Begründungssätze ist der Hannapsalm kein argumentativer Text. Doch wäre es fatal, deshalb Einzelaussagen isoliert auszuwerten: „Wer nur die V.4(5–7a) liest, kann sich des Eindruckes fast nicht erwehren, JHWH führe sich wie ein Despot auf“,33 meint Hans-Peter Mathys. Der Psalm muss also in seinem inneren Zusammenhang und in seinem Gefälle gelesen werden, um Verzerrungen zu vermeiden. Der Hymnus geht vom Gefühlszustand der Beterin über die selbsterlebte Rettungstat in V.1, durchaus charakteristisch für doxologische Texte, sogleich weit hinaus, zu den Unvergleichlichkeitsaussagen in V.2. Während V.2aα noch auf polytheistischem Hintergrund vorstellbar wäre, stellt V.2aβ monotheistische Klarheit her.34 Dennoch ist JHWH nicht in seiner „Aseität“ im Blick: Als Fels (V.2b) gilt er als Retter des Einzelnen und des Volkes.35 Der Gemeinschaftsbezug („unser Gott“) und der Wechsel der Sprechrichtung in V.2bβ – der einzige Vers mit expliziter Anrede JHWHs – sind für Doxologien im weiteren Sinne charakteristisch. JHWH ist als ‚gegenwärtig‘, als Hörer auch der Aussagen über ihn in dritter Person gedacht. Die Warnung vor arroganter Rede in V.3a, die das glatte Gegenteil des aktuellen Lobpreises darstellen würde, folgt aus der Einzigkeit JHWHs. Fraglich ist allerdings, wer angesprochen ist; manche denken an die in V.1bα erwähnten Feinde.36 Doch beansprucht die allgemeingültige Empfehlung durchaus einen größeren Adressatenkreis.37 Grund für die Warnung ist nach V.3b JHWH, der alles menschliche Treiben kennt und prüft. In V.4–8a folgen die charakteristischen Erhöhungs- und Erniedrigungsaussagen. In V.4f. ist noch nicht ausgesprochen, auf wen die Erniedrigung der Starken und die Erhöhung der Niedrigen zurückzuführen ist. Ein passivum divinum ist bis hier nur zu vermuten. Umso zugespitzter und geradewegs monokausal formulieren aber die staccatohaften antithetischen Wesensaussagen über JHWH in V.6f. Das unvermittelte Motiv des Tötens und Lebendigmachens in V.6 greift am weitesten aus.38 Die Aussage, dass JHWH, der lange Zeit nur als Gott der

33

MATHYS, Dichter (s. Anm. 11), 140. Vgl. H.J. STOEBE, Das erste Buch Samuelis, KAT VIII/1, Gütersloh 1973, 101. 35 Diesen wichtigen Aspekt von rWc hat D. EICHHORN, Gott als Fels, Burg und Zuflucht. Eine Untersuchung zum Gebet des Mittlers in den Psalmen, EHS XXIII/4, Bern u.a. 1972, in seiner Untersuchung vielfach hervorgehoben. 36 HERTZBERG, Samuelbücher (s. Anm. 18), 20; BAR-EFRAT, Samuel (s. Anm. 21), 78. 37 Zum Motiv des Wiegens von Taten vgl. Spr 24,12; 16,2; Jes 40,12. 38 Angesichts von Aussagen, nach denen JHWH aus dem Bereich der Scheol herauszuholen vermag, ohne dass an eine physische Auferstehung gedacht ist (vgl. Ps 30,4; 86,13 u.a.), wurde solches für 1Sam 2,6 ebenfalls in Frage gestellt; vgl. etwa F. STOLZ, Das erste 34

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Lebenden vorstellbar war, zu den Toten herabführt, um von ihnen wieder heraufzuführen, setzt eine Herrschaft JHWHs auch über die Scheol voraus, wie sie sich in späten Texten äußert.39 Die Herrschafts- und Kompetenzausweitung auch über das Totenreich ging dabei einher mit der Entstehung des Monotheismus: JHWH gilt in späten Texten als der ‚Eine Gott‘ des Himmels, der Erde und des Totenreichs. Nicht zufällig vereinen sich auch in diesem Psalm diese Charakteristika des Gottesbildes: JHWH der Einzige, der Herrscher über Tod und Leben, der Eigner, Schöpfer und Richter der Erde. Wie in V.6 bereitet auch die Allgemeinheit von V.7 Schwierigkeiten – ähnliche Aussagen sind sonst konkreter: In 2Sam 22,28; Hi 40,11 und Jes 13,11 werden Hochmütige bzw. der Hochmut, in Ps 147,6 werden Frevler von JHWH erniedrigt. Diese Aussagen im Hintergrund sowie V.4f.8a im Nahkontext lassen keinen Zweifel daran, dass auch hier JHWHs Umwälzung der Verhältnisse sich gegen frevlerisches Handeln richtet. V.8 schließt mit iterativen Imperfekten an V.4f. an, nennt aber wie V.6f. den Urheber der sozialen Umwälzungen beim Namen.40 Dass die antithetischen Aussagen in V.8a mit einer Erhöhungsaussage enden, ist für das Gefälle des Psalms kennzeichnend. JHWH verhilft dem Geringen41 zu einem steilen Aufstieg bis hinein in die Führungselite seines Volkes. Manche denken beim Ehrenthron gar an einen Anteil am königlichen Erbe, doch ist bei dAbk' aSeKi nicht unbedingt an den Königsthron gedacht, sondern an einen ehrenvollen Sitz im Kreise der Hohen des Volkes.42 Dass JHWH auf der Seite der Geringen steht, bedarf bemerkenswerterweise nicht der Begründung, sondern V.8b weist nach, dass JHWH als Eigner und Schöpfer der Welt legitimerweise die Macht dazu hat.

und zweite Buch Samuel, ZBK.AT 9, Zürich 1981, 30 u.a. M. ALBANI, Der HERR tötet und macht lebendig; er führt in die Unterwelt hinab und wieder herauf. Zur Problematik der Auferstehungshoffnung im Alten Testament am Beispiel von 1Sam 2,6, Leqach 1 (2001), 22–55, dagegen hält 1Sam 2,6 für einen Beleg für eine leibliche Auferstehungserwartung. Er versucht diese aber auch für die vorexilische Zeit nachzuweisen, was nicht zu überzeugen vermag. Zutreffend ist hingegen Albanis Beobachtung der Konzentration von Sonnengottkompetenzen in 1Sam 2,1–10. Die gelegentliche Annahme eines zugrunde liegenden vorexilischen Königspsalms kann sich im Kern nur auf V.10b stützen und ist angesichts der ansonsten nachexilischen Vorstellungsgehalte unplausibel. 39 Vgl. etwa Ps 49,16; 73,24; 139,8. 40 BAR-EFRAT, Samuel (s. Anm. 21), 80. 41 Die „Aschengrube“ symbolisiert „die unterste wirtschaftliche Gesellschaftsschicht“; ebd. 42 Jedenfalls ist bei keinem Beleg von dAbk' aSeKi (Jes 22,23; Jer 14,21; 17,21) an einen Königsthron gedacht.

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Nach V.9a entscheidet sich am Treueverhältnis gegenüber JHWH, ob jemand mit seinem Beistand rechnen kann.43 V.9b besagt somit, dass niemand seine Stärke aufrechterhält, der JHWH nicht auf seiner Seite hat.44 Hieran schließt V.10aα an, in dem zum ersten Mal Gegner JHWHs thematisiert werden, denen gegenüber JHWH allerdings keine Chance bleibt. Der unvermittelte Wunsch der Machtvermehrung des Königs in V.10b lässt offen, in welcher Funktion er diese Macht ausüben soll – vielleicht ist die jahrtausendealte Rolle des altorientalischen Königs als Beschützer der Schwachen zu selbstverständlich. Ihre kompetente Erfüllung bleibt von JHWH abhängig,45 der theozentrische Grundton des Psalms wird somit gewahrt. Der Psalm, der mit einer Rettungstat JHWHs in der Vergangenheit begonnen hatte und zu iterativen und zu Wesensaussagen JHWHs in der Gegenwart überging, schließt also mit Erwartungen an die Zukunft.46

3. Ethische Implikationen Welche ethischen Implikationen lassen sich nun im Hannapsalm erkennen? Zunächst ist in der Rahmenerzählung von großer, auch ethischer Bedeutung, dass das Leiden einer jungen Frau an Kinderlosigkeit, durchaus im Kontext des zu einem patriarchalen Wertesystems gehörenden Ideals weiblicher Fruchtbarkeit, dennoch aus ihrer Perspektive thematisiert wird.47 Auch wenn JHWH in der Hoffnung weckenden Erzählung innerhalb der patriarchalen Welt rettet, nicht aus ihr heraus, so lässt doch JHWHs prinzipielle Bereitschaft zur Erhöhung der Niedrigen hoffen, dass er den Rahmen des hier Erzählten auch sprengen kann. Aus der Perspektive des Textes ist zudem Hannas Lobpreis Gottes selbst vorbildlich. Im Sinne ‚mimetischer Ethik‘ führt er dem Adressatenkreis ein

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Vgl. BAR-EFRAT, Samuel (s. Anm. 21), 76: „Dieses Schicksal und die Umkehrung der Situation von einem Extrem ins andere – sind nicht willkürlich, sondern hängen vom Verhalten des Menschen ab, ob sie Fromme oder Frevler sind.“ 44 Anders HUTZLI; nach ihm brauchen die Armen JHWH, da sie ja schwach sind; HUTZLI, Erzählung (s. Anm. 12), 158, doch erscheint das als zu selbstverständlich. Die kritische Aussage über die Frevler in V.9a und der mehrfach thematisierte Niedergang der vermeintlich Starken sprechen eher für die o.g. Aussagerichtung. 45 Nach STOEBE, Das erste Buch Samuelis (s. Anm. 34), 105, ist nicht an einen messianischen König der Endzeit gedacht. Allerdings erhält die Königsmotivik in späteren Psalmen, zu denen auch das Hannalied zu zählen ist, vielfach einen messianischen Beiklang. 46 Vgl. BAR-EFRAT, Samuel (s. Anm. 21), 76. 47 M. GROHMANN, Alttestamentliche Impulse für bioethische Diskussionen zum Lebensbeginn, ZEE 52/3 (2008), 169–182, 176.

Ethische Implikationen des Psalms der Hanna

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Modell vor Augen, wie ‚man‘ in Israel bei erfahrener Hilfe Lob und Dank gegenüber JHWH zum Ausdruck bringt. Der Psalm ist für das nachexilische Judentum geschrieben, und dies ist auch der Geltungsbereich, den er beansprucht. Seine universalen Aussagen allerdings tendieren hin zu einer umfassenderen Geltung. Der Hymnus stellt, erwartungsgemäß, die Ehre JHWHs über alle anderen Güter. Entsprechend enthält er ein Wirklichkeitsverständnis, in dem von JHWH letztlich alles abhängt. Daher ist es vor allem das Gottesbild, aus dem ethische Implikationen entfaltet werden können. An einer Stelle geschieht solches bereits explizit in Form einer ethischen Weisung: V.3 leitet aus der Überlegenheit JHWHs ab, keine hochtrabenden Worte zu machen mit Hinweis auf den alles prüfenden Gott. Vor dem Angesicht des heiligen Gottes ist bei der Wahl der Worte Demut geboten. Worte und Taten werden dabei nicht voneinander getrennt, Sprache wird vielmehr als Handlung begriffen und untersteht als solche der Prüfung des wissenden Gottes. Das monotheistische Bekenntnis impliziert eine steile Hierarchie von Werten und Gütern: Nichts und niemand ist heilig außer JHWH (V.2a). Dementsprechend werden alle anderen religiösen Ansprüche auf Heiligkeit nivelliert. Eine Aussage wie V.6, nach denen JHWH den Tod bringen kann, zeichnet zwar, um seiner Souveränität willen, erschreckende Züge in das Gottesbild ein. Diese werden jedoch relativiert durch die stets zum Leben führende, aufsteigende Bewegung von V.6f. und dadurch, wozu JHWH nach V.4f.8–10 die Macht über Leben und Tod gebraucht: Dass Heldenbögen nach V.4a zerbrochen werden, kritisiert nicht nur kriegerische Gewalt,48 sondern bedeutet eine deutliche Relativierung der in den Samuelbüchern hochgehaltenen Heldenehre. Da Ehre im Ethos des alten Israel als Belohnung anerkannten Verhaltens gilt, ist dies eine Umcodierung von Werten, die eher mit weisheitlichen Ehridealen übereinstimmt (vgl. etwa Spr 29,23). Gescheiterte erleiden nach V.4b nicht den vielleicht erwartbaren Ehrverlust, sondern erhalten vom Gott Israels sogar neue Kraft. JHWH ist also ein Gott, der alle bestehenden Verhältnisse im Leben und in der Gesellschaft auf den Kopf stellen kann. Deshalb sind materieller Reichtum oder gesellschaftlicher Status grundsätzlich anders zu bewerten, als es nach landläufigem Verständnis naheliegt. Dennoch kommt es nicht zu einer Umwertung aller Werte: Sichtbar vor Kraft zu strotzen und stark zu sein, wird nach V.4b und V.9b nicht an sich abgewertet, genauso wenig wie in V.1 der verbale Triumph über Feinde in seiner befreienden Kraft. Wie die Rede vom Ehrenthron in V.8b zeigt, wird auch die Verleihung besonderer Ehren nicht abgeschafft; vielmehr bleibt Ehre

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Das Motiv begegnet vielfach in Kritik an militärischer Gewalt, vgl. Mi 5,9–13; Hos 2,20; Sach 9,10.

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Alexandra Grund

eine gültige Währung des israelitischen Ethos. Zu den Edlen Israels zu gehören, bleibt wünschenswert als ein – von JHWH verliehenes – Privileg. Und wie V.5 am Beispiel der Nahrung und der Geburt zeigt, gehört auch Leben in Fülle zu den unangezweifelten Gütern, die wiederum JHWH allein gewährt. Entkräftet wird wiederum in V.5a eine in der Weisheit vertretene Sicht, wonach jemandes Fleiß oder Faulheit über Reichtum oder Armut entscheidet. Das Denken in Tun-Ergehen-Zusammenhängen, das im zynischen Umkehrschluss enden kann: Wer arm ist, war faul oder hat in anderer Weise gegen Gottes Ordnung verstoßen, wird hier im Keim erstickt. Wer ein Held ist, zu den Satten gehört oder sich Kindersegens erfreut, sollte sich dessen nicht zu sehr brüsten, denn auch ihm oder ihr könnte das „renversement des situations humaines“49 widerfahren, hinter dem der Gott Israels steht. Wer zu den Marginalisierten gehört, darf hingegen auf Aufstieg hoffen. Dass Armen, Schwachen und vordergründig Gescheiterten die Aufmerksamkeit und das Rettungshandeln Gottes gelten, kann dabei durchaus Vorbildcharakter gewinnen auch für das Handeln im zwischenmenschlichen Bereich. Dennoch wird nicht ein geringer sozialer Status an sich hoch bewertet, denn dieser kann im Grunde ja wechseln. Ein höherer Rang in der Wertehierarchie wird nach V.9a offenbar dem Treueverhältnis gegenüber JHWH zugestanden.50 Im Gegensatz dazu steht frevlerisches Verhalten, das in aussichtslosen Konflikt mit JHWH führt. Hieran bemessen sich auch die Maßstäbe des Richtertums JHWHs. JHWH bleibt als Richter die letzte ethische Instanz.

4. Ausblick Die doxologischen Aussagen im Hannapsalm über JHWHs Wesen und Handeln sind zwar nicht empirisch verifizierbar, doch gehen sie in der Welt des Textes durchaus von Erfahrungen aus. Sie übersteigen diese Erfahrungen und versuchen, die angesprochene Gemeinschaft in das Lob Gottes hineinzunehmen, sie verkünden aber keine vom Leben der Sprecherin abgelösten metaphysischen Wahrheiten. Nach dem Hannapsalm hängt von Gott alles ab. Gott hier mit der dogmatischen Tradition als „alles bestimmende Wirklichkeit“ und als summum bonum zu deuten, ginge über den Horizont des Textes weit hinaus. Doch ist eine Tendenz in eine solche Richtung erkennbar.

49 R. TOURNAY, Le Cantique d’Anne. ISamuel II.1–10, in: P. Casetti/O. Keel/ A. Schenker (Hgg.), Mélanges Dominique Barthélemy. Études à l’occasion de son 60e anniversaires, OBO 38, Freiburg (CH)/Göttingen 1982, 555. 50 Vgl. BAR-EFRAT, Samuel (s. Anm. 21), 76: „Dieses Schicksal und die Umkehrung der Situation von einem Extrem ins andere – sind nicht willkürlich, sondern hängen vom Verhalten des Menschen ab, ob sie Fromme oder Frevler sind“.

Ethische Implikationen des Psalms der Hanna

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Der Lobpreis JHWHs und seines Handelns hat in unterschiedlicher Weise ethisch relevante Aspekte. Die Souveränitätsaussagen erinnern an die kategoriale Differenz zwischen Gott und Mensch, aus der die Empfehlung der Demut gegenüber dem heiligen Gott abgeleitet wird. Einen hohen Rang in der Wertehierarchie nimmt zudem das Treueverhältnis gegenüber JHWH ein. Der Gott Israels, wie er hier gefeiert wird, lässt sich jedoch nicht zur Affirmation bestehender sozialer oder politischer Verhältnisse missbrauchen, im Gegenteil: JHWH wird im wörtlichen Sinne als Revolutionär gepriesen. Wer reich ist oder stark, hat ihm das zu verdanken, muss aber auf den Verlust des hohen Status gefasst sein. Wer niedrig und bedürftig ist, darf JHWH auf seiner Seite wähnen und kann auf eine grundlegende Änderung der Verhältnisse hoffen. JHWHs Hilfe und Aufmerksamkeit für Bedürftige lehrt dabei, ihre Situation gänzlich anders zu bewerten als es gemeinhin üblich ist. Sie legt nahe, JHWHs Vorbild zu entsprechen und sich ihnen zuzuwenden. Gewiss können Aussagen eines doxologischen Textes wie des Hannapsalms nicht von seiner Performativität, vom Vollzug des Lobpreises und seiner Bedeutung für die Sprechenden absehend, wiederum in isolierte ontologische Aussagen überführt werden. Dennoch lässt der Gebrauch eines solchen Textes die ihn Sprechenden nicht unverändert zurück, eröffnet er doch völlig andere Perspektiven auf gesellschaftliche und materielle Verhältnisse und auf die Geltungsansprüche vorfindlicher Wertesysteme. Er stellt diese in Frage und vermag das Wertesystem der Sprechenden über den doxologischen Vollzug hinaus zu verändern. Und insofern kann er auch Kraft verleihen zur Veränderung sozialer und politischer Verhältnisse.

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief – eine orthodoxe Perspektive1 Sotirios Despotis 1. Ethik und Orthodoxie – eine Hinführung In dem „Gastmahl der zehn Jungfrauen“ des heiligen Methodios vom Olymp – dem ersten christlichen Gegenstück zum berühmten platonischen „Gastmahl“, wenn auch diesem in keiner Hinsicht ebenbürtig – fragt die Jungfrau Thallusa, wie man sich ganz Gott weihen könne. Ganz einfach: „Wenn ich zur Schriftauslegung meinen Mund öffne, um ὀρθοδόξως und μεγαλοπρεπῶς […] den Herrn zu preisen […].“2 „Rechtes Sprechen“ ist also für eine Jungfrau die Schriftauslegung, das Ziel dieser Schriftauslegung ist aber das großartige und „ortho-doxe“ Lob Gottes, d.h. die rechte Doxologie. „Ortho-doxie“ bedeutet also, wenn man dieser Spur folgt, in erster Linie nicht das Bekenntnis zum rechten Dogma, sondern vor allem der richtige Lobpreis Gottes, der sich aus der rechten Auslegung der Schriften ergibt. Mit dieser Sicht deckt sich auch Florovskys Definition des Christentum als a liturgical religion. „The Church is first of all a worshipping community. Worship comes first, doctrine and discipline second. The lex orandi has a privileged priority in the life of the Christian Church. The lex credendi depends upon the devotional experience and vision of the Church.“3 1 Ich danke dem Eramusstudenten Michael Neidhard sehr herzlich für das Korrekturlesen des Artikels. 2 Meth.conv. 5,4 (PG 18.101C = SC95, ed. Debidour/Musurillo): „Τί γάρ ἐστι τὸ ἀναθεῖναι τελείως ἑαυτὸν κυρίῳ λεκτέον. Ἐὰν ἐπὶ τῶνδε μὲν ἀνοίξω τὸ στόμα, ἐπὶ τῶνδε δὲ κατακλείσω, οἷον ἀνοίξω μὲν περὶ τὰς ἐξηγήσεις τῶν γραφῶν, εἰς τὸ ὀρθοδόξως ὑμνῆσαι καὶ μεγαλοπρεπῶς κατὰ δύναμιν τὸν θέον, κατακλείσω δὲ θύραν αὐτῷ θεμένη καὶ φυλακὴν μάταια μὴ λαλεῖν.“ 3 G. FLOROVSKY, The Elements of Liturgy: An Orthodox View, in: ders., Ecumenism I: A Doctrinal Approach. Collected works of Georges Florovsky XIII, Belmont 21989, 86. CHR. NASSIS, ,In Spirit and Truthʻ: The Foundation of Worship, Phronema 20 (2005), 25– 39, schließt sich dieser Meinung an und fügt Folgendes hinzu: „However, this does not negate the fact that there is a deep truth to what this claim underscores. St Basil, for example, characteristically writes: The life of Christians, having one purpose, is straightforward, that is, it leads in one direction, namely, the glory (doxa) of God. We are reminded

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Obwohl es bei den Kirchenvätern keine Quelle gibt, die den Begriff „Orthodoxie“ explizit als „rechte Doxologie“ definiert – für Florovsky selbst war seine These nur a plausible hypothesis – hat er in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen starken Einfluss auf die Theologie der griechischen Orthodoxen Kirche ausgeübt. Im Rahmen einer Reaktion auf das pietistische Profil gewisser christlicher Kreise4, die damals starken Einfluss hatten, betrachtet Christos Yannaras5 in seinen Werken Ethik als etwas, was per se nicht mit dem authentischen Christentum kompatibel ist. Man müsse die Ethik, so sagt er, die als eine individualistische Pflichtenlehre definiert sei, durch das eucharistische Ethos ersetzen, d.h. durch die Liturgie des Alltags, welche nach dem Vorbild der göttlichen Liturgie gestaltet werden müsse. Die Eucharistie ist dabei für theologischen Mainstream dieser Zeit keine lebendige Erinnerung (Anamnesis) an das letzte Abendmahl und die Kreuzigung, sondern nur die typologische Vorausbildung des Freudenmahles im kommenden Reich. Diese These wurde im Jahr 2012 auf einer Konferenz mit dem bezeichnenden Titel The Return of Ethics einer starken Kritik unterzogen,6 da diese zu einem Christentum führe, welches gleichsam in einem katalytischen Zustand darauf verzichtet, das Böse und die Ungerechtigkeit hic et nunc aufzuzeigen und an den Pranger zu stellen. Die tägliche Askese der Liebe, die im Gesicht des anderen und insbesondere des verfolgten Fremden Jesus Christus selbst erkennt, wird auf diese Weise nicht mehr als wesentliche Voraussetzung der christlichen Anaphora betrachtet. Wie Th. Papathanasiou betont, kann man weder die lex orandi noch die lex credendi noch die lex bene operandi priorisieren. Eucharistie, Martyrie und Diakonie sind drei Grundelemente der here as well of the words of the Hymn we chant after receiving Holy Communion: We have seen the true light; we have received the heavenly Spirit; we have found the true faith as we worship the undivided Trinity, for the Trinity has saved us. On the other hand, Christian worship is itself to a large extent dogmatic – a worshipping witness to the truth of Revelation […] It is a plausible hypothesis that the word ‚Orthodoxy‘ in the Eastern use means primarily not ‚right opinion‘ (as it is usually interpreted in the West), but rather ‚right glory‘, i.e. namely, right worship. In any case, in Eastern tradition, the unity of doctrine and worship is strongly stressed. The doctrine itself is here not so much a doctrine taught in the class as doctrine proclaimed in the temple – theology speaks more from the pulpit than from the desk.“ 4 C. MACZEWSKI, Η κίνηση της Ζωής στην Ελλάδα. Συμβολή στο πρόβλημα της παραδόσεως της Ανατολικής Εκκλησίας (Übersetzung G. Metallinos), Athen 2002; CHR. YANNARAS, Ορθοδοξία και Δύση στη νεώτερη Ελλάδα, Athen 1992. Über die Geschichte der Moralforschung in Griechenland siehe B. FANARAS, Ηθικής Ιστοριογραφία. Τάσεις και εκφραστές στην Ελληνική Θεολογία από το 1837 μέχρι σήμερα, Athen 2006. 5 CHR. YANNARAS, Η ελευθερία του ήθους, Athen ²2003. 6 A. PINAKOULAS, Ευχαριστία και Ηθική.; TH. PAPATHANASIOU, Χαμένοι στην ηθική. Στάσεις της σύγχρονης θεολογίας, in: S. Zoumpoulakis (Hg.), Ἡ ἐπιστροφή της ηθικής. Παλαιά και νέα ερωτήματα, Athen 2013, 180–205.281–318.

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

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christlichen Identität, die sich in einer Wechselwirkung befinden. So erzählt es auch die Pfingstgeschichte über die dreitausend Neubekehrten: „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft (κοινωvίᾳ, hier auch durchaus materiell zu verstehen als gemeinsame Teilhabe am Besitz)7, im Brechen des Brotes und in den Gebeten […]. Alle Gläubiggewordenen aber waren beisammen und hatten alles gemeinsam; und sie verkauften die Güter und die Habe und verteilten sie an alle, je nachdem einer bedürftig war. Täglich verharrten sie einmütig im Tempel und brachen zu Hause das Brot, nahmen Speise mit Jubel und Schlichtheit des Herzens, lobten Gott und hatten Gunst beim ganzen Volk“ (Apg 2,42–47).

Hier sind das Zeugnis (Martyrie), die Diakonie und die Eucharistie die drei „Hauptsymptome“ der Bekehrung. Papathanasiou rät in diesem Zusammenhang auch der Orthodoxie, die Bedeutung des Christentums als Berith8 neu zu entdecken. Bei einer kritischen Betrachtung dieser Interpretationen einer „christlichen Ethik“ muss man betonen, dass die Bekehrung zum Christentum nicht einfach die Annahme einer neuen philosophischen Lebensweise oder eines neuen ethischen Systems bedeutet, sondern die Eingliederung in den Leib des neuen Adams: „Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2Kor 5,17; vgl Gal. 3,28: „Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“). Die Bekehrung impliziert dabei ein neues Gruppenethos, denn unter ‚Ethos‘ versteht man – so die Definition von M. Wolter – einen „Kanon von institutionalisierten Handlungen, die innerhalb eines sozialen Systems in Geltung stehen.“9 Diese neue Gesellschaft der Glaubenden nennt sich Ekklesia, „weil es ursprünglich die außeralltägliche gottesdienstliche Versammlung war, in der sie ihre Identität als Gruppe konstituierte und zur Darstellung brachte.“10

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J.D.G DUNN, Beginning from Jerusalem. Christianity in the Making II, Grand Rapids/Michigan 2009, 196–198. 8 Vgl. K. PETERSEN, Paraenesis in Pauline Scholarship and in Paul – An Intricate Relationship, in: J. Starr/T. Engberg-Pedersen (Hgg.), Early Christian Paraenesis in Context, BZNW 125, Berlin/New York 2004, 267–295, 284–288. Er unterscheidet drei Phasen in jedem Vertrag: negotiation, performance, realisation. 9 R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Zur ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korinterbriefs, ThLZ 132 (2007), 259–284, 272. 10 M. WOLTER, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 267. In der satirischen Darstellung des Christentums von Lukian von Samosata [120–190] sind folgende Merkmale Kennzeichen christlicher Identität: Der in Palästina „gepfählte“ „καινὴν ταύτην τελετὴν εἰσῆγεν εἰς τὸν βίον. […] δεῖπνα ποικίλα εἰσεκομίζετο καὶ λόγοι ἱεροὶ αὐτῶν ἐλέγοντο“ (Luc.mort.Per. 11–12, ed. A. Harmon). Vgl. auch die Vorwürfe gegen das Christentum, die Athenagoras überliefert (Athenag.suppl. 3, ed. W. Schoedel [PG 6.895]): „ἀθεότητα, θυέστεια δεῖπνα καὶ οἰδιποδείους μίξεις.“

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Gewiss, diese Gemeinschaft vollzieht sich in der gemeinsamen Eucharistie: Diese hat aber nach Paulus (1Kor 11) keinen magischen Charakter. Im Gegenteil: Das gemeinsame Herrenmahl ist das Zeichen der Einheitlichkeit des Ethos der Gemeinde und soll so deren Ethik reflektieren: „Er verlangt, dass das Herrenmahl von allen Angehörigen der Ekklesia gemeinschaftlich, d.h. gemeinsam und zusammen eingenommen wird. Diese Forderung leitet er aus dem Charakter der Mahlfeier als Herrenmahl ab.“11 Dies findet seine Bestätigung am Schluss desselben Briefes (16,20b.22–23), wo Paulus fordert, dass die Teilnahme am Herrenmahl den heiligen Kuss12 voraussetzt, der Ausdruck ist für die Vergebung und die Liebe zwischen allen Getauften wie auch für den Ausschluss aller, „die den Herrn nicht lieben“.13 Auch in Joh 13 wird „[D]ie Deutung des letzten Mahles […] an ein unscheinbares, neues Ritual geknüpft: an die Fußwaschung. Sie zeigt: Der wirkliche Sinn der Mahlgemeinschaft ist der gegenseitige Dienst und die gegenseitige Liebe.“14 Das alles bedeutet, dass das christozentrische Ethos auf zwei ethischen15 Prinzipien basiert, der Nächstenliebe (mit den Untergattungen der Feindesliebe, der

11 WOLTER, Paulus, a.a.O, 281. Nach Iust. 1 apol. 67.5–6 (ed. Goodspeed [PG 6.429]) wird das gemeinschaftliche Ethos auch nach dem Gottesdienst ausgedrückt: „καὶ ἡ διάδοσις καὶ ἡ μετάληψις ἀπὸ τῶν εὐχαριστηθέντων ἑκάστῳ γίνεται καὶ τοῖς οὐ παροῦσι διὰ τῶν διακόνων πέμπεται. οἱ εὐποροῦντες δὲ καὶ βουλόμενοι κατὰ προαίρεσιν ἕκαστος τὴν ἑαυτοῦ ὃ βούλεται δίδωσι͵ καὶ τὸ συλλεγόμενον παρὰ τῷ προεστῶτι ἀποτίθεται͵ καὶ αὐτὸς ἐπικουρεῖ ὀρφανοῖς τε καὶ χήραις͵ καὶ τοῖς διὰ νόσον ἢ δι΄ ἄλλην αἰτίαν λειπομένοις͵ καὶ τοῖς ἐν δεσμοῖς οὖσι͵ καὶ τοῖς παρεπιδήμοις οὖσι ξένοις͵ καὶ ἁπλῶς πᾶσι τοῖς ἐν χρείᾳ οὖσι κηδεμὼν γίνεται.“ 12 So bei Iust., 1 apol. 65,2, (ed. Goodspeed [PG 6.428]). 13 Vgl. Did 10,6 und G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 121, nach dem im Zentrum der Bergpredigt das Vaterunser mit der Vergebungsbitte steht, die zur Vergebung untereinander verpflichtet (Mt 5,23– 24). Johannes Chrysostomus, nach kirchlicher Tradition der Verfasser der heute verbreitetsten Liturgie der östlichen Kirche, legt in seinen Predigten großen Wert auf die „ἑρμηνεία“ der Hl. Schrift in der Liturgie und die ethischen Bedingungen, welche die Teilnehmenden erfüllen müssen. 14 THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (a.a.O.), 192. 15 Vgl. R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefs, ThLZ 132, 2007, 259–284, hier: 272: „Während in früheren Untersuchungen die Begriffe ,Ethikʻ, ,Sittlichkeitʻ, ,Moralʻ und ,Ethosʻ vielfach synonym und unspezifisch verwendet wurden, hat nun ein Differenzierungsprozess eingesetzt, der anknüpfend an moralphilosophische Sprachregelungen zumindest zwischen ,Ethosʻ/,Moralʻ und ,Ethikʻ unterscheidet. […] Aufgrund der konstitutiven Bezogenheit des Ethos auf ein soziales System definiert etwa Th. Schmeller folgerichtig: „Eigentlich ist jedes Ethos Gruppenethos. ,Ethikʻ wird – ausgehend von Aristotelesʼ Rede von ἠθικὴ θεωρία (Arist.a.po. I 33) – als systematisch-theoretische Untersuchung dieses Bereichs des gelebten Ethos bezeichnet. Der ,Ethikʻ geht es um eine rationale Durchdringung des Moralkodex.“ Vgl. auch Clem.Al.strom. 1.2, 28. 4.1. 7. 18 (9.556C).

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Fremdenliebe und der Liebe zum Sünder, vgl. Mt 5,43ff.; Lk 10,25ff.; Lk 7,36ff.) und dem Statusverzicht (der Demut). 16 Aus dem Gesagten lässt sich schließen, dass die Ethik der Urgemeinde mehr als nur eine Ausstrahlung der Eucharistie in die Welt des Alltags darstellte. Es verhielt sich vielmehr umgekehrt: Die eucharistische Versammlung sollte das (inklusive, aber auch exklusive) Ethos der Gemeinde als Leib des neuen Adam wie auch die beiden Prinzipien der christlichen Ethik reflektieren. Deshalb begründet Paulus seine Ethik nur selten auf die Eucharistie, vielmehr spielt bei seinen Ermahnungen die Anamnese des Augenblicks der eigenen Bekehrung und Taufe eine entscheidende Rolle (vgl. u.a. das „erbauliche Predigtschema“ bzw. das „soteriologische Kontrastthema“ einst – jetzt).17 In jedem Fall setzt das Ethos der Urgemeinde eine doxologische Ethik voraus, auf welche ich mich in diesem Artikel konzentrieren will. Diese ist primitiver18 als das eucharistische Ethos und passt gut zum inklusiven Ethos der Urgemeinde, die „alles, was wahr, alles, was ehrbar, alles, was gerecht, alles, was rein, alles, was liebenswert, alles, was wohllautend ist, wenn es irgendeine Tugend und wenn es irgendein Lob gibt“, annahm (Phil 4,8). Sie antwortet auf die majestätischen Taten der göttlichen Ökonomie mit der Verherrlichung seines Namens: Diese Verherrlichung vollzieht sich nicht nur durch Worte, sondern auch durch entsprechende Taten, durch welche ihr Ziel, das ewige Leben, die „Theosis“,19 verwirklicht wird. Am Ende der Pfingstgeschichte wird dies so zum Ausdruck gebracht: Die neuen Mitglieder der Kirche „brachen zu Hause das Brot, nahmen Speise mit Jubel und Schlichtheit des Herzens“ (Apg 2,46). Dieses Lob steht im Gegensatz zur anfänglichen Furcht (Apg 2,43) und war wohl christologisch motiviert, ist es doch die Reaktion auf die Predigt des Petrus, die so endet: „Das ganze Haus Israel wisse nun zuverlässig, dass Gott ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht hat, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg 2,36; vgl. Ps 109,1LXX).“ Dieser Lobpreis als Ausdruck des eschatologischen Jubels sowie die Tatsache, dass die Neubekehrten „Wohlgefallen beim ganzen Volk“ fanden, führen zur Bekehrung der anderen (vgl. auch 1Kor 14,15 sowie den

16

THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s. Anm. 13), 101ff. Vgl. auch DERS./A. Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 84. 17 Vgl. z.B. Röm 6,22–7,6 und 16,26. 18 Ιn der Bibel bildet Doxologie die Primärsprache aller Geschöpfe: (a) des ganzen Weltalls (Ps 148–150, siehe IgnEph 19,2), (b) der Engel (besonders wenn entscheidende kosmogonische, protologische und eschatologische Ereignisse geschehen), aber auch (c) der Menschen, wenn sie noch Säuglinge sind (Ps 8,3; Μt 21,6; vgl. 11,25; siehe auch Iren.haer. 1.14.7) 19 Vgl. M.J. GORMAN, Inhabiting the Cruciform God: Kenosis, Justification, and Theosis in Paulʼs Narrative Soteriology, Grand Rapids 2009. MERZ,

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Vergleich mit einem Instrument in 14,7).20 Doxologie ist vor allem bei Lukas Ausdruck eines neuen christologischen Ethos wie auch das Medium der „neuen“ Ethik der Gemeinde – vom Magnifikat (Lk 1,46–56) an bis zum Lobpreis des Paulus im Gefängnis von Philippi (Apg 16,25). Aber auch bei Paulus spielt die Doxologie eine ähnlich große Rolle. So beginnt bei ihm selbst ja das Proömium jeder seiner Briefe mit „Εὐχαριστῶ“ bzw. „Εύχαριστοῦμεν τῷ Θεῷ“ (1Thess 1,3; 1Kor 1,4), womit er die stereotype Valetudinis – bzw. Proskynemaformel des griechisch-römischen Briefformulars ersetzt und somit intratextuell auf den Segen seiner eigenen Präskriptformel (χάρις ὑμῖν) antwortet. Konkrete Beispiele für eine doxologische Ethik liefert auch der 1. Timotheusbrief,21 die ich im Folgenden näher untersuchen werde. Dieser Text vertritt das Christentum der dritten Generation, das weder vom eschatologischen Enthusiasmus geprägt ist noch von der Umwelt verfolgt wird. Paradoxerweise fehlt in ihm, obwohl er einen Sittenspiegel für Bischöfe und Diakone enthält, jeder Hinweis auf die Eucharistie bzw. die eucharistische Gemein20

So zeigt das Lob auch gewaltige Auswirkungen, wie im Gefängnis von Philippi: „Κατὰ δὲ τὸ μεσονύκτιον Παῦλος καὶ Σιλᾶς προσευχόμενοι ὕμνουν τὸν Θεόν, ἐπηκροῶντο δὲ αὐτῶν οἱ δέσμιοι. ἄφνω δὲ σεισμὸς ἐγένετο μέγας (Apg 16,25–26a). 21 M. ENGELMANN, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe, BZNW 192 Berlin/New York 2012, 179f., fasst die Forschungsgeschichte zur Ethik der Pastoralbriefen folgendermaßen zusammen: „Ersterer [Martin Dibelius] sprach in seinem Kommentar wiederholt von einem in den Past verwirklichten ‚Ideal christlicher Bürgerlichkeit‘ und verstand darunter ein negativ konnotiertes Sich-Einrichten des frühen Christentums in der antiken Welt. […] die sich schnell durchsetzende Bezeichnung der Past als Dokumente eines ‚bürgerlichen Christentums‘ enthielt dabei häufig den Beiklang von Degeneration: Aus der ursprünglichen spirituellen paulinischen Freiheit sei eine fast spießbürgerlich anmutende Enge geworden, in der ein staatstragendes Stillehalten als ‚erste Bürgerpflicht‘ gelte. Daneben meldeten sich aber auch immer mehr kritische Stimmen, die betonten, dass man die Past weder an Paulus noch an einem eher ‚preußisch‘ geprägten Tugendkatalog messen dürfe. Die in den drei Hirtenbriefen vertretene Ethik sei – auch wenn der Bezeichnung als ‚bürgerlich‘ ein gewisses Recht zukomme – vielmehr als Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit Häretikern zu verstehen. oder als Versuch der Gemeinde ernst zu nehmen, das Schwinden der Naherwartung theologisch zu verarbeiten bzw. in ihrer heidnischen Umwelt heimisch zu werden. Auch für die Past selbst stellten die in ihnen formulierten Verhaltensweisen daher keine zeitlos gültigen Regeln dar und dürften auch nicht als solche beurteilt werden. Außerdem müsse bei der Einschätzung bedacht werden, dass das geforderte, den antikethischen Normen angepasste Verhalten nicht um seiner selbst willen geschehe, sondern vielmehr dem Ziel diene, selbst missionarisch in der Welt tätig zu sein und ein Abbild der Güte Gottes darzustellen. Ernst Käsemann war es, der den zu Beginn des 20. Jahrhunderts zuerst bei Troeltsch auftauchenden, die Synthese von paulinischem und petrinischem Christentum bezeichnenden Begriff ,Frühkatholizismusʻ für die Pastoralbriefexegese fruchtbar machte: Er diente ihm zur Beschreibung der ,Verselbständigung der Ethik und [der] Sicherung der wahren Lehre durch die Amtskirche.ʻ“

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

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schaft. Nichtsdestoweniger zeichnet sich in ihm ein klares Bild der doxologischen Ethik ab, womit er bestätigt, dass diese nicht primär auf die Eucharistie gründet ist, ja sogar ohne jeden Bezug zu dieser verkündet werden kann.

2. Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief 2.1 Die hymnische Struktur des Briefes Der 1. Timotheusbrief gehört innerhalb des Corpus Paulinum zu den sog. Pastoralbriefen.22 Der Text hat eine harmonische Struktur, obwohl er sich nicht wie andere Briefe klar in einen „dogmatischen“ und einen „ethischen“ Teil gliedert.23 Seine Ethik hat dabei eine Mission der gesamten Ökumene im Auge; das wird im Kernstück des Briefs klar, wo der Autor mit voller Absicht Bezüge zu Themen des 1. und 6. Kapitels herstellt und als Dreh- und Angelpunkt der Argumentation folgenden Hymnus zitiert, der zugleich ein Bekenntnis ist (1Tim 3,16): Der offenbart worden ist im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.24

Dieser Hymnus stellt vielleicht nur die dritte und letzte Strophe eines längeren Liedes dar, welches als Ganzes den ersten Teil des Briefes (Kapitel 1–3) noch einmal den Lesern einprägsam vor Augen stellt und dabei sowohl dessen Christologie zusammenfasst als auch die mythologische und ungesunde Lehre und protognostische Ethik seiner Gegner zurückweist.25 Letztere werden einer harten Polemik unterzogen, da diese eine Ethik vertraten, die das ökumenische, universalistische Ethos des paulinischen Christentums bedroh-

22

Über die Forschung der Pastoralbriefe als Corpus siehe T. GLASER, Paulus als Briefroman erzählt. Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen, Göttingen 2009, 25–27. 23 R. VAN NESTE, Cohesion and Structure in the Pastoral Epistles, JSNTS.S 280, New York/London 2005, 140f. 24 Zur Form und Überlieferung des Hymnus vgl. A.Y. LAU, Manifest in Flesh. The Epiphany Christology of the Pastoral Epistles, WUNT II/86, Tübingen 1996, 91–113; H. STETTLER, Die Christologie der Pastoralbriefe, WUNT II/105, Tübingen 1998, 80–109. ENGELMANN, Unzertrennliche Drillinge? (s. Anm. 21), 188. 25 Diese propagierten, indem sie sich auf die Genealogien der Tora beriefen, eine asketische Lebensweise, welche die Ehe sowie bestimmte Speise als unrein ablehnt.

362

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te: „Es bestand die Gefahr, dass durch anstößiges Verhalten ehemaliger Gemeindemitglieder die christliche Botschaft in Verruf geriet.“26 Der komplette Hymnus verteilt sich ungleichmäßig und stark zerstückelt auf die ersten drei Kapitel (im ersten Kapitel findet sich nur die erste Zeile der ersten Strophe, die in die ‚autobiographischen‘ Passagen des Briefs eingeflochten wurde, im zweiten Kapitel der Rest der ersten zusammen mit der zweiten Strophe inmitten der Vorschriften zum Gebet, die letzte Strophe schließt die beiden Tugendspiegel für Bischöfe und Diakone ab) und dient somit – gleich einem Leitmotiv in der Musik – als ein einigendes Band, welches die auf den ersten Blick so disparaten Themen durchzieht und auf eine gemeinsame Grundlage, nämlich die Doxologie Gottes, stellt. Eingeleitet wird der Hymnus durch die Formel πιστὸς ὁ λόγος: Πιστὸς ὁ λόγος καὶ πάσης ἀποδοχῆς ἄξιος, ὅτι I. Χριστὸς Ἰησοῦς ἦλθεν εἰς τὸν κόσμον ἁμαρτωλοὺς σῶσαι, [ὧν πρῶτός εἰμι ἐγώ] . ὃς πάντας ἀνθρώπους θέλει σωθῆναι καὶ εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας ἐλθεῖν. ΙΙ. Εἷς γὰρ Θεός͵ εἷς καὶ μεσίτης Θεοῦ καὶ ἀνθρώπων͵ ἄνθρωπος Χριστὸς Ἰησοῦς͵ ὁ δοὺς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων͵ τὸ (και ‫ )*א‬μαρτύριον καιροῖς ἰδίοις III. [Θεός] ἐφανερώθη ἐν σαρκί͵ ἐδικαιώθη ἐν Πνεύματι͵ ὤφθη ἀγγέλοις͵ ἐκηρύχθη ἐν ἔθνεσιν͵ ἐπιστεύθη ἐν κόσμῳ͵ ἀνελήμφθη ἐν δόξῃ (1,15) Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert, dass

(2,4) (2,5)

26

Christus Jesus in die Welt gekommen [ist], Sünder zu retten, [von welchen ich der erste bin]. welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn einer ist Gott, [und] einer ist Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst als Lösegeld für alle gab, als das Zeugnis zur rechten Zeit.

R. FUCHS, Unerwartete Unterschiede. Müssen wir unsere Ansichten über die Pastoralbriefe revidieren?, Bibelwissenschaftliche Monographien 12, Wuppertal 2003, 59f.

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

363

(3,16) [Gott] der offenbart worden ist im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.

Das Thema der ersten beiden Strophen deckt sich hier sehr gut mit den beiden Prinzipien des christozentrischen Ethos: In der ersten Strophe wird die Liebe zu den Sündern (als pars pro toto der Nächstenliebe) als dasjenige Ziel verkündet, um dessen willen Jesus zum ersten Mal in die Welt kam, in der zweiten dagegen das Opfer-Martyrion des Mittlers Jesus; also seine Demut zugusten aller. Die dritte Strophe zeigt schließlich die vertikale und horizontale Ausstrahlung des Mysteriums der christlichen Frömmigkeit, die Beweis für dessen Wahrheit und Macht ist.27 Jede dieser Strophen wird in den ersten drei Kapiteln des Timotheusbriefs direkt oder indirekt28 mit der Biographie des Paulus verbunden; somit begründen sie eine missionarische Ethik, indem sie den all-inklusiven Charakter der Erlösung durch die Verkündigung des Evangeliums herausstellen (vgl. 1Tim 2,6 und 2Tim 1,11). Anstelle einer elitären und asketischen Ethik, wie sie die Gegner des Briefs vertraten, proklamiert vor allem die dritte Strophe als Kern des Mysteriums der Frömmigkeit die Fleischwerdung Gottes, seine Predigt (und keine Genealogien), seine Annahme durch die Völker und seine Himmelfahrt ἐν δόξῃ. 2.2 Doxologische Ethik im Proömium und im Epilog Der Brief zerfällt in zwei Teile (Kapitel 1–3 und 4–6) und wird im Ganzen von zwei parallelen Einheiten als inclusio umrahmt: dem Proömium (1,3–20) und dem Epilog (6,3–21). Beiden Rahmenteilen ist gemeinsam, dass sie großartige Doxologien enthalten, die untereinander erstaunliche Parallelen aufweisen (so entspricht z.B. das μακάριος in 1,17 dem μακάριος καὶ μόνος δυνάστης in 6,15).29 Beide Doxologien sind hinsichtlich der Vielzahl der göttlichen Prädikate einzigartig. Aber beide Rahmenteile werden durch die doxologischen Passagen nicht abgeschlossen, wie man eigentlich erwarten würde, sondern in beiden Fällen folgt noch eine Paränese an Timotheus sowie eine „Exkommunikation“ der Gegner des Briefs, der Anhänger der Gnosis. Im ersten Teil, in dem das alles verbindende Thema der Glauben im Gegensatz zur Lehre der Gegner ist, bildet die Doxologie das Finale der Paulusbiographie (in der Paulus nicht bloß als ein moralisches exemplum dient, sondern 27

Vgl. Or.princ. 4,10,2 [PG11.361–364]. Das „ἐκηρύχθη ἐν ἔθνεσιν͵ ἐπιστεύθη ἐν κόσμῳ“ stellt den Abschluss der Aufgabe des Völkerapostels voraus. 29 J.H. NEYREY, „First“, „only“, „one of a few“, and „no one else“: The Rhetoric of Uniqueness and the Doxologies in 1 Timothy, Bib. 86 (2005), 59–87. 28

364

Sotirios Despotis

als Prototyp des geretteten Sünders).30 Im zweiten Teil, in dem das Leitmotiv die Hoffnung im Gegensatz zur Moral der Gegner ist, bildet sie den Schluss einer langen Paränese an Timotheus, der hier stellvertretend für alle Rezipienten des Briefs steht.31 1, 11.17 [nach dem Evangelium das mir anvertraut worden ist

6,14–15 bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus! Die wird zu seiner Zeit …

τῆς δόξης τοῦ μακαρίου Θεοῦ,

ὁ μακάριος καὶ μόνος δυνάστης

Τῷ δὲ βασιλεῖ τῶν αἰώνων,

ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων καὶ κύριος τῶν κυριευόντων, ὁ μόνος ἔχων ἀθανασίαν

ἀφθάρτῳ ἀοράτῳ

φῶς οἰκῶν ἀπρόσιτον, ὃν εἶδεν οὐδεὶς ἀνθρώπων οὐδὲ ἰδεῖν δύναται

μόνῳ Θεῷ

[ὁ μακάριος καὶ μόνος δυνάστης] [ὁ μόνος ἔχων ἀθανασίαν]

τιμὴ καὶ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων32, ἀμήν

ᾧ τιμὴ καὶ κράτος αἰώνιον, ἀμήν.

Beide Doxologien stammen aus der Tradition der hellenistischen Synagoge und schreiben Gott, dem Vater, in der Hauptsache zwei Attribute zu: Ruhm (τιμὴ καὶ δόξα) und Macht (κράτος). Die erste Doxologie ist bedeutend kürzer und steht in enger Beziehung zur ersten „Epiphanie des Evangeliums“ (vgl. 2Tim 2,10–11), während die zweite Doxologie die zweite Epiphanie Jesu Christi ins Blickfeld rückt. Dabei betont die erste seine Herrschaft über die Äonen, die zweite dagegen seine Macht (κράτος) über die herrschenden Mächte.33 Beiden gemeinsam ist die Betonung, die auf die Unsichtbarkeit gelegt wird (wohl weil diese von den Gegnern des Briefs in Zweifel gezogen wurde). Auffällig ist zudem, dass in der ersten Doxologie die Einzigkeit34 Gottes allein dasteht und als doxologisches Prädikat auszureichen scheint, 30

ENGELMANN, Unzertrennliche Drillinge? (s. Anm. 21), 516f. Der vor allem im Sinaiticus und Alexandrinus überlieferte Schlussgruß χάρις μεθ’ ὑμῶν (6,21) legt nahe, dass der Brief sich nicht nur an Timotheus richtet, sondern ursprünglich einen weiteren Adressatenkreis hatte. 32 Vgl. 2Tim 4,18; Gal 1,5; Phil 4,20; [Röm 16,27]. 33 Die Tatsache, dass Gott seine zweite Epiphanie καιροῖς ἰδίοις offenbart, impliziert seine Herrschaft über die Äonen. 34 Vgl. das Schema aus Dtn 6,4. Vgl. auch Ex 20,3; Dtn 5,7, ebenso J.D. QUINN/ W.C.WACKER, The First and Second Letters to Timothy. A New Translation with Notes and Commentary, Grand Rapids/Michigan 2000, 138: „The lex credendi has indeed established the lex orandi“. 31

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

365

während sie in der zweiten Doxologie eng neben weitere Eigenschaften gestellt wird. 2.2.1 Die erste Doxologie 1Tim 1,17 Die erste Doxologie im ersten Timotheusbrief ist folgende: (a) Τῷ δὲ βασιλεῖ τῶν αἰώνων, (b) ἀφθάρτῳ35, (b‘) ἀοράτῳ, 36 (a‘) μόνῳ Θεῷ, τιμὴ καὶ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων, ἀμήν (a) Dem König der Zeitalter aber, (b) dem unvergänglichen, (b‘) unsichtbaren, (a‘) alleinigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit

Dieses aus einem hellenistisch-jüdischen Milieu stammende Gebet37 bildet mit den Versen 10b–12 ([und wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegensteht], nach dem Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes, das mir anvertraut worden ist. Ich danke Christus Jesus, unserem Herrn, der mir Kraft verliehen) eine inclusio und schließt somit die Perikope ab, in welcher das Ethos des Verfassers zum ersten Mal vorgestellt wird. Dabei wird die Bedeutung der Seiligkeit von 1,11 in der Doxologie als „Unsterblichkeit“38 und als „Herrschaft über die Äonen“39 entfaltet; paradoxerweise bezieht sich die Einleitung dieser „Berakhoth“40 auf Christus, während am Ende Gott das Objekt der Doxologie ist.41 ἀθανάτῳ D σοφῷ ‫א‬2 D1 Hc Ψ 1881 m syh; Epiph. 37 Vgl. J. ROLOFF, Der erste Brief an Timotheus, EKK XV, Zürich 1988, 91: „Die Doxologie liegt ganz auf der Linie der in der Gebetstradition des hellenistischen Judentums verwurzelten gottesdienstlichen Praxis der hellenistischen Zeit.“ 38 Der Autor des 1Tim liebt es, Wörter mit einem α-privativum zu verwenden, um die Lehre und Identität der Gegner zu charakterisieren, z.B: „μύθοις καὶ γενεαλογίαις ἀπεράντοις,“ (1,4)“ ἀ-νόμοις δὲ καὶ ἀν-υποτάκτοις, ἀ-σεβέσι καὶ ἁ-μαρτωλοῖς, ἀ-νοσίοις“ (1,9). 39 Vgl. den viermaligen Gebrauch des Lexems αἰων* in 1,16c–17. Vgl. dazu M. DIBELIUS/H. CONZELMANN, The Pastoral Epistles: A Commentary on the Pastoral Epistles, übersetzt von P. Buttolph/A. Yarbro, Hermeneia, Philadelphia 1972, 30. 40 Vgl. QUINN/WACKER, The First and Second Letters to Timothy (s. Anm. 34), 123f. Indem sie einem Muster folgen, welches von J.P. AUDET, Esquisse historique du genre littéraire de la bénédiction juive et de lʼEucharistie chretienne, RB 65 (1958), 371–399, aufgestellt wurde, behaupten sie, dass in der Perikope 1,12–17 ein doxologisches Gebet vorliegt. 41 Vgl. C.C. OKE, A Doxology not to God but Christ, ET 67 (1956), 367–368: Da Letzterer unsichtbar ist, kann hier nicht Jesus gemeint sein. 35 36

366

Sotirios Despotis

Folgende ethische Schlüsse kann man ziehen, wenn man diese Doxologie in ihrem Kontext liest: 1. Die Doxologie als Ausdruck des Dankes des Geschöpfes für die Wundertaten Gottes legt textuell ein Zeugnis ab für die moralische Verwandlung und das Ethos eines Verfassers, der, obwohl er zuvor ein Torahlehrer war (vgl. 2Tim 1,3), zum Kämpfer gegen Gott wurde.42 Der ehemalige „Lästerer […] und Gewalttäter“ (βλάσφημος […] καὶ ὑβριστής 1,13) verherrlicht jetzt den König der Ewigkeit, der seiner Person durch Jesus Christus eine übermäßige Langmut erweisen hat: Der Überfluss der erfahrenen Gnade entspricht der Plethora der göttlichen Prädikate in der Doxologie.43 Bereits im Psalm 50 (LXX) ist das Lob Gottes (der nach der „Größe seiner Barmherzigkeit vergibt“, Vers 3) das „Symptom“ der echten Metanoia des „großen“ David: „Herr, du wirst meine Lippen öffnen/und mein Mund wird dein Lob verkünden.“ (Ps 50,17LXX; vgl. auch Hos 14,13 [= Hebr 13,15]). Wie David hat auch Paulus die Größe der göttlichen Barmherzigkeit erfahren; die Antwort ihres Herzens, welches der Geist gereinigt hat, ist der Ausdruck ihrer Metanoia. Diese äußert sich im (a) Bekenntnis ihrer vergangenen Sünden, (b) der Doxologie Gottes und (c) der Verkündigung der magnalia Dei.44 Im Unterschied aber zu den Figuren des Alten Testaments bezieht der beglaubigte Paulus in den Pastoralbriefen seine Erfahrung nicht nur auf den Zion, sondern auf die ganze Ökumene, welche durch seine Metanoia und seine Doxologie am göttlichen Wohlgefallens Anteil hat.45

42

M. WOLTER, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, FRLANT 146, Göttingen 1988, 49–51; ENGELMANN, Unzetrennliche Drillinge? (s. Anm. 21), 509. 43 Der Apostel „nach dem Gebot Gottes unseres Retters“ (1Tim 1,1) ist aber nicht nur Träger des „Evangeliums der Herrlichkeit“ (1,11), er wird selbst ein Evangelium: „Aber darum ist mir Barmherzigkeit zuteilgeworden, damit Jesus Christus an mir als dem Ersten die ganze Langmut beweise, zum Vorbild für die, welche an ihn glauben werden zum ewigen Leben“ (1,16). Auf diese Weise ist er selbst das beste exemplum für die „gesund machende Lehre“ des Evangeliums. Vgl. ROLOFF, Timotheus (s. Anm. 37), 97: „Der Paulus praedicans wird – und das ist der wohl charakteristischste Zug des Paulusbildes der Past – zum Paulus praedicatus“ [Kerygmatisierung der Gestalt Paulus]. 44 Eine parallele Erfahrung erlebt Jesaja im 6. Kapitel beim Hören der Qedusha. Der Prophet, der nachweislich einen großen Einfluss auf das Selbstbewusstsein des Paulus ausgeübt hat (so O. HOFIUS, Παύλος: Ιεραπόστολος και Θεολόγος, in: DERS., Η αλήθεια του Ευαγγελίου. Συναγωγή καινοδιαθηκικών μελετών, hg. v. Chr. Karakolis, Αthen 2012, 141–169, 164–169), erkennt in der Tempelvision seine absolute Unreinheit an; die Reinigung bedeutet in der Folge aber (wie auch bei Paulus) seine Vollmacht zur Predigt. 45 Vgl. 1Tim 2,7: „Dafür [sc. zum Zeugnis] bin ich eingesetzt worden als Herold und Apostel – ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht – als Lehrer der Nationen in Glauben und Wahrheit.“ Vgl. auch 2Tim 1,11. Die Figuren bei Lukas, welche ihre absolute Sündhaftigkeit erkennen, werden am Ende immer gerettet. Vgl. Lk 17,14 (der Zöllner); 23,42 (der Schächer).

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

367

2. Die Parallelstellen zu 1Tim 1,17 in der Bibel schreiben (besonders im Buch Tobit)46 dem Schöpfer und König der Äonen ein doppeltes Verhalten zu (vgl. Tob 13,7–11). Diese doppelte Haltung Gottes gilt auch für die untersuchte Perikope: Auf der einen Seite rettet Er den Theomachos Paulus und schenkt den Glaubenden ewiges Leben;47 auf der anderen Seite bestraft Er, nicht die Nationen (wie es in der zweiten Doxologie im Epilog des Briefs geschieht), sondern – wohl als pars pro toto – mit Namen48 zwei Vertreter der „fälschlich sogenannten Gnosis“ (1Tim 6,20), Hymenaios und Alexander.49 Anders als Paulus waren diese Personen zuvor Mitglieder der Gemeinde und somit nicht „in Unwissenheit“ (ἀγνοῶν, 1,13) wie Paulus. Während Paulus durch sein Evangelium Gott preist, lästern ihn die Gegner am Ende des Proömiums (βλασφημεῖν, 1,20). So werden sie (für eine Weile) dem Satan übergeben, damit sie erkennen können, dass sie noch nicht auferstanden sind (vgl. 2Tim 2,18), sondern „in Hinblick auf den Glauben Schiffbruch erlitten haben“ (1Tim 1,19). Damit dienen sie als Gegenbild der Adressaten des Briefs, als eine Art negative ὑποτύπωσις (Skizze, Muster, Urbild). Ebenso gibt die Tatsache, dass der Apostel „nach Befehl des ewigen Gottes“ die Vollmacht besitzt, jemanden dem Satan zu übergeben, seinem Ethos und damit auch seinem Brief eine bislang unerhörte Autorität.50 Das ist wohl auch der Grund, warum die Doxologie nicht den Abschluss des Proömiums bildet. 3. Gott selbst, der am Beginn des Präskripts als σωτήρ ἡμῶν und πατήρ bezeichnet wurde, da er χάρις, ἔλεος, εἰρήνη spendet, wird in der Doxologie

46

Vgl. V.T.M. SKEMP, Avenues of Intertextuality between Tobit and the New Testament, in: J. Corley/V.T.M. Skremp (Hgg.), Intertextual Studies in Ben Sira and Tobit: Εssays in Honor of Alexander A. Di Lella, O.F.M., CBQMS 38, Washington 2005, 43–65. 47 Durch diese Großtat wird die Doxologie Gottes hervorgerufen, wie hier die Jesu nach seiner freiwilligen Kenosis (vgl. Phil 2,11). 48 Vgl. 2Tim 2,18. 49 Vgl. Ps 9,36–39LXX: „36Σύντριψον τὸν βραχίονα τοῦ ἁμαρτωλοῦ καὶ πονηροῦ. ζητηθήσεται ἡ ἁμαρτία αὐτοῦ. καὶ οὐ μὴ εὑρεθῇ δι᾽ αὐτήν. 37Βασιλεύσει Κύριος εἰς τὸν αἰῶνα καὶ εἰς τὸν αἰῶνα τοῦ αἰῶνος. ἀπολεῖσθε ἔθνη ἐκ τῆς γῆς αὐτοῦ. 38τὴν ἐπιθυμίαν τῶν πενήτων εἰσήκουσεν Κύριος. τὴν ἑτοιμασίαν τῆς καρδίας αὐτῶν προσέσχεν τὸ οὖς σου. 39 κρῖναι ὀρφανῷ καὶ ταπεινῷ ἵνα μὴ προσθῇ ἔτι τοῦ μεγαλαυχεῖν ἄνθρωπος ἐπὶ τῆς γῆς.“; Jer 10,10: „Der Herr aber ist in Wahrheit Gott, lebendiger Gott und ewiger König. Vor seinem Zorn erbebt die Erde, die Völker halten seinen Groll nicht aus.“ 50 Im Buch Tobit verbindet sich die im Exil gesungene Doxologie des ewigen Königs (= El Olam) mit Jerusalem. Für Paulus dagegen nimmt „jeder Ort“ den Platz Zions ein: „Βούλομαι οὖν προσεύχεσθαι τοὺς ἄνδρας ἐν παντὶ τόπῳ ἐπαίροντας ὁσίους χεῖρας χωρὶς ὀργῆς καὶ διαλογισμοῦ“ (1Tim 2,8; vgl. Mal 1,11). Die Ekklesia auf der ganzen Ökumene bildet die „Säule und das Fundament. Deswegen schreibt er […] damit Timotheus in Ephesus (!) wisse, wie er sich im Haus Gottes verhalten soll (1Tim 3,15).“ Die Versammlung des „lebendigen Gottes“, nicht „τὸ τῆς μεγάλης θεᾶς Ἀρτέμιδος ἱερὸν“, hat eine Ausstrahlung auf die ganze Ökumene (vgl. Apg 19,27)

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Sotirios Despotis

von 1,17 als „König der Äonen“ und als „einzig“51 apostrophiert. Das paulinische Evangelium als „Erkenntnis (ἐπίγνωσις) der Wahrheit“ und „gesunde Lehre“ bietet Zugang zu dem Gott, den die griechisch-römische Umwelt in der „Gestalt“ des „Hypsistos“ sucht (vgl. u.a. D.L. 10,123 [über Epikur])52. Er und kein anderer kann das letzte Ziel jedweder Ethik, ewiges Leben und „Eudämonie“, durch den „Kraft verleihenden“ (1Tim 1,12) Jesus verleihen, da er der Einzige ist, der über Seligkeit und Ewigkeit verfügt. Dieses Geschenk aber gehört (wie Vers 1,16 betont) den Glaubenden, und nicht den „Torahlehrern“ (νομοδιδάσκαλοι, 1,6) oder der Gnosis (vgl. 6,20). Auch bei Paulus war dieses Geschenk eine Gnadengabe: „Überströmend aber war die Gnade unseres Herrn mit Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind“ (1,14). Die erste Vorschrift, die sich nach dem Ende des Proömiums anschließt, bezieht sich bezeichnenderweise auf das der Doxologie eng verwandte Gebet. Dieses Gebet bittet „für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit sind, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit“ (ἐν πάσῃ εὐσεβείᾳ καὶ σεμνότητι, 2,1b–2). Diese Stelle ist die längste ihrer Art, die das Gebet betrifft, und nimmt vor allem dessen Auswirkungen auf die Ökumene ins Auge.53 Der Autor zählt asyndetisch vier Gebetsarten auf, die vielleicht eine Klimax bilden und in der Doxologie (εὐχαριστίας) gipfeln.54 Diese erste Perikope des Briefkorpus, die ganze 9 Verse einnimmt, endet mit dem starken βούλομαι προσεύχεσθαι für die Männer (deren Ideal in der griechisch-römischen Ökumene die ἀνδρεία, die Tapferkeit war) und ebenso für die Frauen. Folgt man dem Hl. Johannes Chrysostomos, so ist die Beharrlichkeit im Gebet ein Grundpfeiler für die Ethik der Betenden. So betont er in seinem Kommentar zu dieser Stelle, dass durch das beharrliche Gebet „für alle“ der Hass gegen alle, die sich außerhalb der Kirche befinden (τό τε ἔχθος ὃ πρὸς τοὺς ἔξωθεν) abgebaut werde, da niemand 51

Dies ist die einzige Stelle im NT, in der diese Prädikation isoliert vorkommt. Vgl. G. DELLING, ΜΟΝΟΣ ΘΕΟΣ, in: F. Hahn (Hg.), Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1970, 391–400, besonders 396f.: „Gott ist allein Gott, schlechthin Gott – das ist […] die vollkommenste Aussage über Gott.“ Während die Unsichtbarkeit auf die Majestät Gottes hinweist, bildet die Einzigkeit, welche emphatisch am Schluss der Doxologie liegt, ein Paradox für den Hörer, denn in der ganzen Perikope ist Christus Jesus, „unsere Hoffnung“, der „langmutige König“ und „rettende Gott“ (1,17). 52 Vgl. auch Anm. 69 und 70 am Schluss dieses Beitrags. 53 Vgl. R. GEBAUER, Das Gebet bei Paulus. Forschungsgeschichtliche und exegetische Studien, Gießen 1989. 54 Dass hier der Begriff εὐχαριστία (im Brief immer im Plural!) nicht im späteren Sinne des Herrenmahls, sondern als Danksagung verstanden werden muss, kann man aus den Ausführungen dazu in 1 Tim 4,4–5 schließen. Er bedeutet hier vor allem die jüdischen Berakhot, welche die gesamte Schöpfung als Geschenk Gottes und somit als gut annehmen.

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

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die hassen kann, für welche er betet. „Fürchte dich also nicht, für die Heiden zu beten; wenn man aber für die Heiden und für die Häretiker beten muss, so muss man freilich für alle Menschen beten, nicht diese vor Gericht ziehen.“55 Diese Perikope endet mit der zweiten Strophe des doxologischen Hymnus, dessen letzter Satz eine Brücke zu den Worten des letzten Abendmahls schlägt: ὁ δοῦς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων (2,6, vgl. Mk 10,45; 14,24). 2.2.2 Analyse von 1Tim 6,15 Der Epilog des Briefs beginnt mit einer Verurteilung deren, die meinen, der Glaube sei ein „Erwerbsmittel“, und stellt als Wurzel aller Übel die Habgier (φιλαργυρία) heraus, um sich dann mahnend an Timotheus zu wenden. Diese Paränese endet mit folgenden Mahnungen:56 13 Παραγγέλλω [σοι] ἐνώπιον (1) τοῦ Θεοῦ τοῦ ζῳογονοῦντος57 τὰ πάντα καὶ (2) Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ μαρτυρήσαντος ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου τὴν καλὴν ὁμολογίαν, 14 τηρῆσαί σε τὴν ἐντολὴν ἄσπιλον, ἀνεπίλημπτον, μέχρι τῆς ἐπιφανείας τοῦ Κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, 15 ἣν καιροῖς ἰδίοις δείξει (a) ὁ μακάριος καὶ μόνος δυνάστης, (b) ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων καὶ κύριος τῶν κυριευόντων, 16 (c) ὁ μόνος ἔχων ἀθανασίαν, (d) φῶς οἰκῶν ἀπρόσιτον, ὃν εἶδεν οὐδεὶς ἀνθρώπων οὐδὲ ἰδεῖν δύναται· ᾧ τιμὴ καὶ κράτος αἰώνιον, Ἀμήν.

Ich gebiete dir vor Gott, der allem Leben gibt, und vor Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat, dass du das Gebot unbefleckt, untadelig bewahrst bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus! Die wird zu seiner Zeit der selige und alleinige Machthaber zeigen, der König der Könige und Herr der Herren, der allein Unsterblichkeit hat und ein unzugängliches Licht bewohnt,

Chrys.hom. in 1Tim, PG 62.536. Vgl. dazu 2Tim 2,25–26: „ἐν πραΰτητι τοὺς ἀντιδιατιθεμένους, μήποτε δώῃ αὐτοῖς ὁ Θεὸς μετάνοιαν εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας καὶ ἀνανήψωσιν ἐκ τῆς τοῦ διαβόλου παγίδος, ἐζωγρημένοι ὑπ᾽ αὐτοῦ εἰς τὸ ἐκείνου θέλημα.“ 56 ROLOFF, Timotheus (s. Anm. 37), 340–343, 351 vermutet, dass hier eine Ordinationsformel oder ein Ordinationsbekenntnis zugrunde liegt, welches das gesamte Leben des Glaubenden bestimmt. Vgl. Ε. KÄSEMANN, Eine urchristliche Taufliturgie (FS R. Bultmann), Stuttgart 1949, 133–148. 57 ‫ א‬ζωοποιοῦντος. 55

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den keiner der Menschen gesehen hat, auch nicht sehen kann. Dem sei Ehre und ewige Macht! Amen.

Die Doxologie bildet hier den dritten, abschließenden Teil einer Mahnrede, die sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezieht. Im Anschluss an die Hoffnung auf die Wiederkunft Jesu, die „Epiphanie unseres Herrn Jesus Christus“,58 wird Gott mit einer Fülle seltener Prädikate bedacht: a) ὁ μακάριος καὶ μόνος δυνάστης (vgl. Sir 46,5–6; 2Makk 3,24; 12,15; 15,3– 5.23.29; 3Makk 2,3; 5,51), b) ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων (1QM 14.16; 1QapGen 20,15–16) καὶ κύριος τῶν κυριευόντων, (c1) ὁ μόνος φῶς οἰκῶν ἀπρόσιτον, (c2) ὃν εἶδεν οὐδεὶς άνθρώπων οὐδὲ (c3) ἰδεῖν δύναται (vgl. Ex 33,20)·ᾧ τιμὴ καὶ κράτος αἰώνιον, ἀμήν. Die gemeinsamen Elemente zur Doxologie des Proömiums springen sofort ins Auge: die göttliche Seligkeit, seine Unvergänglichkeit, Einzigkeit und Macht. Daneben fällt aber auf, dass, wo der Prolog nur lapidar die Unsichtbarkeit Gottes nennt, hier daraus fast ein kleines Oxymoron wird: Gottes Wohnung ist das Licht; da es aber nicht erreicht werden kann (άπρόσιτον), hat noch keinen Mensch ihn gesehen und kann ihn auch nicht sehen. Folgende Ziele verfolgt diese Danksagung; 1. Die doxologische Referenz zum Licht (und nicht etwa zum verzehrenden Feuer, vgl. Dtn 4,24; 9,3; Hebr 12,27) steht in einem Gegensatz zum Verderben, in das die Häretiker und Habgierigen (aus dem ersten Teil des Epilogs) aufgrund ihrer eigenen „unvernünftigen und schädlichen Begierden“ fallen (6,9–10). Im Gegensatz zu denjenigen, die in diesem Olam reich werden wollen (6,9), soll der Mensch all das fliehen, was jene begehren und „der Gerechtigkeit nachjagen“, um das ewige Leben zu erlangen.59 2. Ausdrücke wie ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων καὶ κύριος τῶν κυριευόντων waren vor allem in den Herrscherhöfen des Alten Orients üblich (denn diese Monarchen waren wiederum Herrscher über Vasallen, vgl. Dan 2,43.47; 4,37).60 Sie wurden danach von den Cäsaren übernommen;61 die Σεβαστοί (Augusti, Kaiser) stellte man sich direkt oder indirekt als ἐπιφανεῖς θεοί (3Makk 5,35) vor, und zwar in einer engen Beziehung zum Sonnenkult, dem

58

Vgl. ENGELMANN, Unzetrennliche Drillinge? (s. Anm. 21), 158–162. In den Briefen des Corpus Paulinum ist es üblich, Mahnungen durch den Verweis auf die zukünftige Parusie und die Rettung der Christen vom göttlichen Zorn eine höhere Autorität zu verleihen (vgl. z.B. 1Thess 1,10; 5,22). 59 Im Gegensatz zu Timotheus, der τὴν ἐντολὴν ἄ-σπιλον ἀν-επίλημπτον bis zur Epiphanie Jesu bewahren soll, sind die Gegner blind geworden (τετύφωται [6,4]). 60 Vgl. den Kommentar zu 17,14 von D.E. AUNE, Revelation 17–22. Vol. 52C: Word Biblical Commentary (electronic ed.), Dallas 1998. 61 Vgl. J.A.D. WEIMA, ‘Peace and Security’ (1Thess 5.3): Prophetic Warning or Political Propaganda?, NTS 58 (2012), 331–359.

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

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Sol Invictus.62 Im 1Tim. werden weder der Kaiser noch Engel oder Äonen polemisch behandelt (ganz im Gegensatz z.B. zu 2Tim 4,17). Wir wissen auch nicht, ob die Gegner des Briefs mit ihrer Betonung der Genealogien sich in irgendein Verhältnis mit den „Herrschern dieser Äonen“63 des ersten Korintherbriefs (1Kor 2,8) setzten wollten. Vielleicht will der Verfasser dadurch, dass er Wert auf die Vielzahl der Zeugen (6,12) sowie auf Pontius Pilatus als Zeuge des Zeugnisses Christi (6,13) legt, herausstellen, dass der Protagonist der künftigen Epiphanie kein Präfekt oder dergleichen ist wie Pontius Pilatus, sondern der einzige König, der „König der Könige und Herr aller Herren“, der über a) Macht, b) Unsterblichkeit und c) das Licht verfügt. Das parakletische Faktum, dass Jesus Gott ist und unser Herr, soll Timotheus nicht taub machen: Daher verwendet der Verfasser die Ankündigung der Epiphanie Jesu, die der „lebendig machende Gott“ (vgl. 1Kön 2,6) offenbaren wird, gleichsam als einen Hebel, um Timotheus und mit ihm seine Adressaten dazu zu bewegen, die „Gerechtigkeit“, „Liebe“ und „Standhaftigkeit“ in ihrem Leben zu verwirklichen.64 3. Bemerkenswert ist dabei auch, dass man Prädikationen wie ὁ βασιλεὺς τῶν βασιλευόντων oft in den Präskripten kaiserlicher Edikte findet:65 Diese rufen den absoluten Gehorsam ihrer Untertanen hervor. Im Präskript von 1Tim benutzt der Verfasser jedoch tröstliche Worte wie „Gott unser Heiland“, „unser Vater“ und „Jesus Christus unsere Hoffnung, unser κύριος.“ Im Epilog dagegen ist der Kontext die zweite Parusie Jesu; dazu passen nun die Herrschertitel. Durch sie erreicht der Apostel κατ` ἐπιταγὴν ein Doppeltes: a) Einmal bekräftigt er damit seine Mahnung, die Gebote unbefleckt und untadelig (ἄ-σπιλον, ἀν-επίλητον, 1Tim 6,14)66 zu halten. Die Ethik des Timotheus soll ganz dem „Vater der Lichter, bei dem keine Veränderung ist noch eines Wechsels Schatten“ (Jak 1,17) entsprechen. b) Durch die Erinnerung an die Königstitel Gottes bekommen die Ethik und die Gebote des gesamten

62

Vgl. F. TÓTH, Der himmlische Kult. Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung, ABG 22, Leipzig 2006, 193. 63 Vgl. 1Kor 2,8: ἣν οὐδεὶς τῶν ἀρχόντων τοῦ αἰῶνος τούτου ἔγνωκεν εἰ γὰρ ἔγνωσαν, οὐκ ἂν τὸν κύριον τῆς δόξης ἐσταύρωσαν. 64 Dieselbe Motivation trifft man auch am Schluss des Briefkorpus von 2Tim: Διαμαρτύρομαι ἐνώπιον τοῦ Θεοῦ καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ͵ (α) τοῦ μέλλοντος κρίνειν ζῶντας καὶ νεκρούς͵ καὶ (β) τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ καὶ (γ) τὴν βασιλείαν αὐτοῦ· κήρυξον τὸν λόγον͵ ἐπίστηθι εὐκαίρως ἀκαίρως͵ ἔλεγξον͵ ἐπιτίμησον͵ παρακάλεσον͵ ἐν πάσῃ μακροθυμίᾳ καὶ διδαχῇ (4,1–2). 65 Vgl. H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, Paderborn 1998, 83.86–87. 66 Trotzdem ist die Charakterisierung Gottes in den beiden Versen 1Tim 6,13 und 6,17 nicht ambivalent (wie z.B. bei Deuterojesaja: ὁ κατασκευάσας φῶς καὶ ποιήσας σκότος ὁ ποιῶν εἰρήνην καὶ κτίζων κακά, Jes 45,7), sondern positiv als der alles lebendig Machende, der uns alles reichlich darbietet.

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Sotirios Despotis

Briefes eine einzigartige Geltung. Nicht nur Timotheus, sondern alle Rezipienten sollen diesen Geboten Folge leisten, damit sie bei der Epiphanie Jesu ein gutes Ansehen haben. 4. Durch den Nachdruck auf der Unsichtbarkeit Gottes bekämpft der Autor falsche Gesetzeslehrer, welche die Seligkeit in alten Fabeln und den Genealogien der Urgeschichte suchen. Zusammen mit dem Johannesevangelium (Joh 1,18) betont der Autor, dass Gott „keiner der Menschen gesehen hat“ (1Tim 6,16) und übt somit indirekt Kritik gegen diejenigen, welche die Stellung der Person des Mose durch seine Eigenschaft als Theoptes herausheben.67 Damit weist er aber auch auf eine wichtige Stelle im Buch Exodus hin (Ex 33,22–23):68 Die vollständige Epiphanie Gottes kann nicht vom Menschen erreicht werden, sondern Gott selbst zeigt sie zu seinen eigenen, von ihm vorbestimmten Zeiten. Das Prädikat Gottes, „der alle Dinge lebendig macht“, veranschaulicht zum einen die Vaterschaft Gottes (und schließt damit den Bogen zurück zum Präskript, 1Tim 1,2), enttarnt aber zum anderen die Vorstellung der gnostischen Gegner, sie seien bereits auferstanden und müssten sich daher bestimmter Speisen und der Ehe enthalten, als Wahnvorstellung: In der nächsten Perikope wird derselbe Gott als derjenige benannt, „der uns alles reichlich darreicht“, und zwar „zum Genuss“ (1Tim 6,17). 5. Viele Eigenschaften, welche diese Doxologie von Gott aussagt, sind identisch mit denen, welche die griechisch-römische Umwelt dem „Höchsten Gott“, dem Θεὸς Ὕψιστος zuschrieb.69 Der lebendig machende (ζωογονῶν 6,13) Zeus hatte eine besonders enge Beziehung zur Sonne (also zum Licht!) und rettete persönlich durch die heilbringende Epiphanie. Seine Anbetung vollzog sich ohne Kultbilder und ohne blutige Opfer durch die Familie seiner „Tischgenossen“ (συγκλιτῶν) durch Erhebung der Hände in Richtung Osten (vgl. 2,8):70 Für den Verfasser des ersten Timotheusbriefs ist der christliche Gott der einzige Θεὸς Ὕψιστος: Dieser fordert von seinen Knechten eine ihm entsprechende Ethik, die exklusive („ἄσπιλον“), aber auch inklusive Merkmale („ἀνεπίληπτον“) hat. 6. Schließlich dient die Doxologie auch als Überleitung zur abschließenden Ermahnung der „Reichen in dieser Welt“ (das Thema der letzten Periko67

Vgl. M. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12, RNT, Regensburg 2009, 106f. 68 Vgl. E. DAFNI, Von Angesicht zu Angesicht. Prolegomena zum Thema „Gottschauen“ im hebräischen und griechischen Exodusbuch, 1. Exodus 33,11.12–23 übersetzungsund wirkungskritisch. ’Επιστημονικαί Μελέται II, Athen 2001. 69 Vgl. E. TSALAMBOUNI, Η Μακεδονία στην εποχή της Καινής Διαθήκης, Pournaras, Thessaloniki 2002, 215 (Anm. 118): „Αὐτοφυής, ἀδίδακτος, ἀμήτωρ, […] οὔνομα μὴ χωρῶν, πολώνυμος, ἐν πυρὶ ναίων, τοῦτο θεός […] εὔχεσθε ἠώους πρὸς ἀνατολὶην ἐσπρῶντας.“ SapSal 18,4.7. Vgl. auch.Philo somn. I 75. 70 Vgl. C. BREYTENBACH, Hypsistos, in: K. van der Toorn u.a. (Hgg.), Dictionary of Deities and Demons in the Bible, Leiden/Boston/Brill 1999, 439–443.

Doxologische Ethik im 1. Timotheusbrief

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pe des Epilogs, 1Tim 1,17), indem er ihnen schon im Hymnus eine neue Orientierung gibt: Dadurch werden diese dazu ermahnt, richtig zu investieren, nämlich in das „Reich des Lichts“, wo der selige und einzige Herrscher, der wirkliche εὐεργέτης herrscht. So werden auch sie die Güter der Unsterblichkeit und des Lichts genießen.71 2.3 Schlussfolgerungen Die beiden Doxologien von 1Tim werden in Schlüsselperikopen (im Proömium und Epilog) zitiert, obwohl sie dort jeweils nicht den Schluss bilden, sondern nur zu diesem überleiten. Auf diese Weise transmittieren sie Theologie, die das Telos der Christologie bildet, und provozieren dadurch die Antwort des Zuhörers (Amen), die eine bestimmte ethische Haltung nach sich zieht. Dabei wird in der ersten Doxologie das Ethos des Paulus hervorgehoben, von welchem sie umrahmt wird; die zweite zeigt darauf wie in einem Spiegelbild das Ethos, welches von Timotheus (d.h., von allen Rezipienten des Briefs) erwartet wird; zwischen beiden eingeschlossen bleiben die ethischen Ermahnungen, die dadurch in den Rahmen dieses gemeinsamen Ethos gestellt werden, welches primär doxologischen Charakter hat. Das ist keine trockene Lehre, die den „Knechten Gottes“ verordnet ist, sondern im innersten Kern verwurzelt mit der frohen Botschaft, dem Εὐαγγέλιον, auf welches das Geschöpf mit dem Lobpreis Gottes antwortet. In diesem Sinne gibt es auch für das frühe Christentum keine Dichotomie zwischen „rechter Lehre“ und „rechter Verehrung“. Beide sind – wie der Brief zeigt – zwei voneinander nicht zu trennende Aspekte des christlichen Lebens. Im Rahmen des frühen Christentums ist Orthodoxie beides: Sowohl der rechte Glaube als auch die rechte Doxologie. Die durch die Doxologien des Briefs ausgedrückte Theologie ist aber nicht nur auf die Glaubenden selbst beschränkt, sondern steht auch in einem Verhältnis zum Rest der Welt (οἱ ἐξωθεν, wie Johannes Chrysostomos sagt), sowohl exklusiv als auch inklusiv. Exklusiv, da durch beide Doxologien eine apophatische Theologie proklamiert und somit sowohl Lehre als auch Ethos der Gegner diskreditiert werden. Inklusiv ist diese Theologie aber, da sie den Gott der christlichen Ekklesia als Erfüllung der Vorstellungen der Umwelt vom „Höchsten Gott“ (Θεὸς Ὕψιστος) proklamiert. Auf diese Art erhält die doxologische Ethik des Briefs einen weltoffenen Charakter.

Das θεμέλιον καλόν steht im Gegensatz zur Unsicherheit des Reichtums. Vgl. QUINN/WACKER, The First and Second Letters to Timothy (s. Anm. 34). 71

Dienen zu Gottes Ehre Die Doxologien im 1. Petrusbrief und ihr Beitrag zu einer ,doxologischen Ethikʻ Eckart David Schmidt 1. Einleitung Doxologien sind in der neutestamentlichen Wissenschaft ein bislang erstaunlich unbearbeitetes Feld. Wahrgenommen und beschrieben hat man sie bislang hauptsächlich aus formgeschichtlicher bzw. epistolographischer Perspektive, 1 doch insgesamt ist die neutestamentlich-exegetische Literatur zu Doxologien vergleichsweise schmal. Das Projekt zur Ausformung einer ,impliziten Ethikʻ2 in der Tagungsreihe der Mainz Moral Meetings gibt Gelegen-

1

Von rein oder überwiegend systematisch-theologischen oder liturgiewissenschaftlichen Untersuchungen (wie etwa bei K. AMON, Vaterunser – Doxologie – Embolismus, BiLi 86 [2013], 320–323; F.J. GAISER, Undifferentiated Doxology?, WorWor 18 [1998], 235f.; G. WAINWRIGHT, Doxology. A Systematic Theology. The Praise of God in Worship, Doctrine and Life, London 1982) kann hier abgesehen werden. Auch die knappen Ausführungen in D.M. DAVIS, The Centrality of Wonder in Paul’s Soteriology, Interp. 60 (2006), 404–418, 411–413, sind mit ihrer These, die Doxologien im Römerbrief seien nach dem Modell der fünf Bücher des Psalters gestaltet, an dieser Stelle weniger relevant. Ähnliches gilt für H.T. MAYER, Paul’s Advent Doxologies, CTM 9 (1982), 331–343, der anhand von vier „paulinischen“ Perikopen (1Kor 3,21–23; 1Kor 15,22–28; Eph 1,3–12; Eph 4,4–6) einen „radical sacramental monotheism“ ableitet und die darin erblickte „apocatastic theology“ als für Paulus zentral herausstellt; sowie auch für die rein textkritische Untersuchung zu Röm 16,24–27 bei J.K. ELLIOTT, The Language and Style of the Concluding Doxology to the Epistle to the Romans, ZNW 72 (1981), 124–130. 2 Vgl. hierzu zuerst R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Zur ‚impliziten Ethik‘ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefs, ThLZ 132 (2007), 259–284, bes. 272–284; dann auch DERS., The „Implicit Ethics“ of New Testament Writings. A Draft on a New Methodology in Analysing New Testamentʼs Ethics, Neotest. 43 (2009), 398–422; DERS., Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften, in: F.W. Horn/U. Volp/R. Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 3–27, bes. 14–27.

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heit, die Funktion neutestamentlicher Doxologien für Begründungsstrukturen ethischer Anliegen genauer in den Blick zu nehmen. Dies soll im Folgenden am Beispiel des 1Petr versucht werden. Ein erster, äußerer Grund, warum dieser Brief hierfür besonders geeignet erscheint, liegt darin, dass in diesem Brief einerseits paränetisches Material reich vorhanden ist (dazu später auch unter Abschnitt 3) und andererseits Lexeme des Stammes do,x- (also do,xa, doxa,zw samt Komposita) von allen neutestamentlichen Büchern im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Länge sogar mit Abstand (!) am häufigsten belegt sind.3 Nimmt man die Belege des Stammes tim- noch dazu (also timh,, tima,w, ti,mioj, timio,thj4), verstärkt sich dieser wortstatistische Befund sogar noch. 5 Weitere strukturelle und inhaltliche Gründe sind im Folgenden aufzuzeigen. Zum Aufbau der folgenden Seiten: Nach kurzen einleitenden Beobachtungen zur Forschungssituation zu Doxologien und dem Versuch einer Erklärung, warum sie bislang in ihrer ethischen Relevanz kaum in den Blick genommen worden sind (Abschnitt 2), folgt in Abschnitt 3 eine erste, v.a. anhand formaler Kriterien erhobene Übersicht über die doxologischen Texte in 1Petr (1,3–12; 4,11b; 5,11). In Abschnitt 4 werden traditionsgeschichtliche Argumente hinzugezogen, die die Funktionen dieser doxologischen Texte näher beleuchten sollen; an dieser Stelle wird auch die formgeschichtlich häufig vorgenommene Unterscheidung von ,Eulogienʻ und ,Doxologienʻ thematisiert. In Abschnitt 5 werden schließlich die gewonnenen Erkenntnisse auf die Entwicklung einer etwaigen ,doxologischenʻ Ethik in 1Petr angewendet. Die Rede von einer solchen erweist sich dabei für diesen Brief sogar als überaus ergiebig, da viele seiner paränetischen Motive sowohl strukturell als auch motivisch durch die doxologischen Texte eingefasst und geprägt sind.

2. Allgemeine Beobachtungen Die m.W. immer noch ausführlichste formanalytische und formgeschichtliche Abhandlung zu Doxologien und benachbarten Textgattungen liegt von Deichgräber vor. 6 An ihn hat sich u.a. Vielhauer angelehnt, der in seiner „Geschichte der urchristlichen Literatur“ (1975) Doxologien in die Rubrik

3

1Petr/0,891%, gefolgt vom (freilich sehr kurzen) Jud/0,651% und 2Kor/0,536%. Vgl. J. NEYREY, „First“, „Only“, „One of a Few“, and „No One Else“. The Rhetoric of Uniqueness and the Doxologies in 1 Timothy, Bib 86 (2005), 59–87, 59.78.85. 5 1Petr/1,306%, mit großem Abstand gefolgt von 2Petr/0,819%, Jud/0,651% und 1Tim/0,566%. 6 R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit. Untersuchungen zu Form, Sprache und Stil der frühchristlichen Hymnen, StUNT 5, Göttingen 1967. 4

Die Doxologien im 1. Petrusbrief

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„Vorliterarische Formen“ und in dieser unter „Akklamationen“ einordnet 7 und näherhin unter formalen und – kürzer – religionsgeschichtlichen Aspekten beschreibt. Im Anschluss an Deichgräber unterscheidet er zwei durch ihre grammatische Grundform zu differenzierende Typen: Der eine hat die Grundstruktur w-| h` do,xa eivj tou,j aivw/naj (c.v.), d.h. er ist substantivisch eingeleitet und der Ehrempfänger steht im Dativ (bei Deichgräber: selten im Genitiv). Dieser Typ erscheint häufig am Ende eines Sinnabschnittes (Röm 11,36; Gal 1,5; Eph 3,21; Phil 4,20; 1Tim 1,17; 6,16; 2Tim 4,18) oder am Ende eines gesamten Briefes (Röm 16,25–27;8 Jud 24f.: in diesen beiden Beispielen ist die Doxologie bereits deutlich erweitert) 9 . Der andere Typ hat die Grundstruktur euvloghto.j o` qeo.j eivj tou,j aivw/naj (ebenfalls c.v.), d.h. er ist adjektivisch oder partizipiell eingeleitet und der Ehrempfänger steht im Nominativ. Er erscheint im paulinischen und von Paulus beeinflussten Briefmaterial wie z.B. in Röm 1,25; 9,5; 2Kor 11,31. In 2Kor 1,3f.; Eph 1,3–14; 1Petr 1,3–9 ist dieser Typ zu einer Art Hymnus ausgebaut und ersetzt die ansonsten übliche Dankperiode im Briefformular. Aufgrund des einleitenden euvloghto,j nennt Vielhauer diese Form – wiederum im Anschluss an Deichgräber – Eulogie.10 Beide Formen sind jüdisch-traditionellen Ursprungs11 und können mit feierlich akklamativem avmh,n abgeschlossen werden.12 Logisches Objekt dieser Ehrbezeugungen ist im Neuen Testament fast ausschließlich Gott, bei Eulogien ausschließlich. Als einzige neutestamentliche Ausnahme bei Doxologien (im engeren Sinne) nennt Vielhauer 2Tim 4,18, wo die Ehrbezeugung auf den ku,rioj bezogen ist. Käsemann hatte allerdings noch weitere christologische Doxologien verzeichnet, nämlich 2Petr 3,12 7 Vgl. P. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin/New York 41985 (1975), 9–57. 8 Zur textkritischen Diskussion zu dieser Stelle vgl. R.F. COLLINS, The Case of Wandering Doxology. Rom 16,25–27, in: A. Denaux (Hg.), New Testament Textual Criticism and Exegesis (FS J. Delobel), BETL 161, Leuven 2002, 293–303. 9 Vgl. ebenso auch R.B. VINSON, Art. Doxology, NIDB II (2007), 161. 10 Vgl. ebenso auch S. VOLLENWEIDER, Art. Doxologie I: Formgeschichtlich, 2. Neues Testament, RGG4 II (1999), 963. 11 So schon DEICHGRÄBER, Gotteshymnus (s. Anm. 6), 24.40–42; dann auch K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 236; R. FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus, ThHNT 15/I, Leipzig 2005, 41; bis hin zu E. LOHSE, Doxologien im Römerbrief des Apostels Paulus, in: M. Theobald/R. Hoppe (Hgg.), „Für alle Zeiten zur Erinnerung“ (Jos 4,7). Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur, SBS 209, Stuttgart 2006, 255–263; NEYREY, „First“ (s. Anm. 4), 85; VOLLENWEIDER, Art. Doxologie (s. Anm. 10), 963. 12 DEICHGRÄBER, Gotteshymnus (s. Anm. 6), 43f., hatte noch eine dritte Form „kurzer Lobsprüche“ identifiziert und den Doxologien im engeren Sinne sowie den Eulogien beigesellt: „Charis-Sprüche“ mit der Grundform ca,rij de. tw/| qew/|, gefolgt gewöhnlich von dem Grund des Dankens.

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sowie Apk 1,6. 13 Wehrle verweist – noch etwas flexibler – auf Röm 1,8; 16,27; 1Kor 1,4; Eph 1,3; Hebr 13,15; 1Petr 4,11; Jud 25 und andere außerneutestamentliche frühe Doxologien aus Did und 1Clem als Doxologien „mit christologischem Bezug“, sowie auf 2Tim 4,18; 2Petr 3,18; Apk 1,6 als Christus-Doxologien. 14 Gerade anhand des Beispiels 2Tim 4,18 hat Weiser differenziert und theologiegeschichtlich vermutlich zutreffend ausgeführt, dass die Schwierigkeit der Zuordnung dieser Doxologie damit zusammenhinge, „dass der Verfasser insgesamt die Relation Jesu Christi zu Gott nicht deutlich genug reflektiert zum Ausdruck bringt“, und damit die Funktionen beider überlappen: „Insofern die Aussagen vom Beistand Gottes, der Errettung durch ihn und von seiner endzeitlichen Königsherrschaft sprechen und den betenden Lobpreis ihm gegenüber zum Ausdruck bringen, meinen sie doch zugleich die engste Verbundenheit Jesu Christi mit Gott, dem Vater […]; insofern aber vom Beistand Jesu Christi, der Errettung durch ihn und von seiner endzeitlichen Königsherrschaft die Rede ist und ihm der betende Lobpreis gilt, ist selbstverständlich der dahinter stehende eine Gott und Vater Jesu Christi mitgemeint.“15

Bis in jüngste Zeit schließen sich Neutestamentler für formgeschichtliche Basisinformation zu Doxologien an die Arbeiten von Deichgräber und Vielhauer an.16 Die pragmatische Relevanz der Differenzierung von Doxologien und Eulogien wird dennoch weiter unten noch zu diskutieren sein (s. Abschnitt 4.). Freilich sind dies bislang eher äußerliche Beobachtungen. Inhaltliche Beschreibungen von Doxologien lassen möglicherweise erahnen, warum diese im Kontext von Untersuchungen zu ethischen Begründungsstrukturen im Neuen Testament bislang nahezu keine Rolle gespielt haben. Berger etwa charakterisiert Doxologien mit folgenden Worten: „Eine Doxologie liegt vor, wenn dem Gegenüber ein nominal formuliertes Heilsgut ‚zugesprochen‘ wird. […] Dabei ist das ‚Zusprechen‘ weder nur deskriptiv noch konstitutiv (die Herrlichkeit wird durch das Verherrlichen nicht erst begründet), sondern intensivierend für die Beziehung zwischen dem Adressaten und dem, der spricht“.17

13

Vgl. E. KÄSEMANN, Art. Liturgische Formeln im NT, RGG3 II (1958), 994. J. WEHRLE, Art. Doxologie, NBL I (1991), 443. 15 Vgl. A. WEISER, Der Zweite Brief an Timotheus, EKK XVI/1, Düsseldorf/Zürich/ Neukirchen-Vluyn 2003, 327. 16 So etwa bei T.J. BAUER, Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie, WUNT 276, Tübingen 2011, 204 mit Anm. 130; E. GÜTING, Amen, Eulogie, Doxologie. Eine textkritische Untersuchung, in: D.-A. Koch/H. Lichtenberger (Hgg.), Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter (FS H. Schreckenberg), Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 1, Göttingen 1993, 134–136; NEYREY, „First“ (s. Anm. 4), 73 mit Anm. 38. 17 BERGER, Formgeschichte (s. Anm. 11), 236. 14

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Ähnlich subsumiert auch Vielhauer im Anschluss an Käsemann: „[Doxologien] preisen ‚weniger gegenwärtige Epiphanie als Gottes ewiges Wesen und erfahrenes Handeln‘“. 18 Und analog ist auch bei Wainwright zu lesen: „D[oxologie] ist die Anerkennung der ‚dóxa‘ oder Ehre Gottes. […] Der rituelle und symbolische Ort der Verherrlichung ist die christl[iche] Liturgie“.19 Als ausgesprochen vertikale Redegattung also scheinen Doxologien damit der ethischen Grundfrage, die ja auf menschliches Handeln gerichtet ist, d.h. eine horizontale Blickrichtung einnimmt, prima facie entgegenzustehen.20 Hinzu kommt wenigstens in älteren Untersuchungen zur neutestamentlichen Ethik, dass diese über lange Zeit durch R. Bultmanns IndikativImperativ-Schema dominiert wurde, wodurch ebenfalls eine Zusammenschau von Ethik und Doxologie erschwert werden musste. Die Entwürfe zur Ethik bei Merk,21 Schrage,22 Marxsen23 oder Schulz24 etwa sind alle diesem Metaphern-Schema verpflichtet – weniger derjenige Schnackenburgs. 25 Keiner davon enthält ein Stichwort, (Teil-)Kapitel oder Ausführungen zu Doxologien, Anbetung, Bekenntnisformeln, Liturgie oder Verwandtem: Die ethischen Abschnitte in Bultmanns „Theologie“ hatten es auch nicht getan. 26 Nichtsdestotrotz werden auch in diesen im Schatten Bultmanns stehenden 18

Vgl. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 7), 35f., Zitat: 36, Binnenzitat: KÄSEMANN, Art. Liturgische Formeln (s. Anm. 13), 994. 19 G. WAINWRIGHT, Art. Doxologie II: Theologiegeschichtlich und dogmatisch, RGG4 II (1999), 963f., 963. 20 Von theologiegeschichtlicher Perspektive aus hebt auch WAINWRIGHT, Art. Doxologie, a.a.O., 964, hervor: „Im späten 20. Jh. wurde D[oxologie] zu einer bevorzugten Kategorie von Theologen, die eine Anthropozentrik zurückwiesen, die in Gefahr stand, menschlicher Selbstabsorbierung zu erliegen.“ 21 O. MERK, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968. 22 W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 1982. 23 W. MARXSEN, „Christliche“ und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989. 24 S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, ZGB, Zürich 1987. 25 SCHNACKENBURGS „sittliche Botschaft des Neuen Testaments“ erschien zunächst München 1954, eine überarbeitete Zweitauflage München 1962 (beide Male in der Reihe „Handbuch der Moraltheologie“). 1986 und 1988 gab er – jetzt zweibändig – seinen Entwurf einer neutestamentlichen Ethik noch einmal völlig neubearbeitet heraus (Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments I: Von Jesus zur Urkirche, II: Die urchristlichen Verkündiger, HThK.NT.S I.II, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 1986.1988). 26 Vgl. R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984. Eine analoge Beobachtung konnte auch schon für die Beschäftigung mit der Heiligkeits- bzw. Heiligungsthematik bei Bultmann und unter seinem Einfluss in den Folgejahrzehnten gemacht werden, vgl. E.D. SCHMIDT, Heilig ins Eschaton. Heiligung und Heiligkeit als eschatologische Konzeption im 1. Thessalonicherbrief, BZNW 167, Berlin/New York 2010, 56– 58.97–101.

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Entwürfen eine Vielzahl von Begründungsmustern für neutestamentliche Ethik erkannt: Merk etwa verweist auf Gottes geschichtliches Handeln in der Vergangenheit durch Berufung, in der Gegenwart durch die Gabe des Geistes oder in der Zukunft im Gericht; die Taufe, die Naherwartung, die Oikodome, christologische Voraussetzungen, eschatologische Erwartungen usw.27 Schulz hebt ebenso taufsakramentale, apokalyptische oder schöpfungstheologische Begründungen für Ethik hervor, Handeln soll Gott wohlgefällig sein, sich am Maß des Nächsten orientieren u.a.m.28 Das heißt: auch solange in neutestamentlich-theologischer Hinsicht dem Konzept des Indikativ-Imperativ-Schemas gefolgt wurde – das in den genannten Entwürfen auch auf nicht-paulinische neutestamentliche Schriften angewandt werden konnte, obwohl es von Bultmann bekanntermaßen spezifisch für Paulus entworfen war –, folgte daraus zwar keinesfalls Einspurigkeit in Begründungsmustern neutestamentlicher Handlungsanweisungen. Dennoch blieben Doxologien an dieser Stelle, so weit zu sehen ist, praktisch vollständig ausgeblendet. Und diese Dissoziation von Ethik und Doxologien wird auch in neueren ethischen Entwürfen weitgehend fortgesetzt.29 Auf ein paar bemerkenswerte dahingehende Anstöße ist allerdings hinzuweisen: (a) Aus alttestamentlicher Perspektive hat Jenni zur Funktion von Doxologien festgestellt, dass es in diesen nicht um „Offenbarung oder Belehrung [gehe], sondern um die Aufforderung, es gleichzutun und wie der ‚Doxologe‘ das Gehörte zu akzeptieren, sich mit dem Vorangehenden zu identifizieren.“30 Wenn Jenni sich hier auf das den Doxologien „Vorangehende“ bezieht, ist das freilich dem geschuldet, dass er im konkreten Fall über die gliedernden Schlussdoxologien der fünf Bücher des Psalters spricht. Analog wäre Gleiches auch auf das den Doxologien Nachstehende übertragbar. Der Gedanke, dass durch Doxologien Aufforderungen zum Handeln ausgedrückt werden, 27

Zusammenfassend vgl. MERK, Handeln aus Glauben (s. Anm. 21), 231–248. Zusammenfassend vgl. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik (s. Anm. 24), 176–178. 29 Vgl. z.B. J. BEUTLER (Hg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament, QD 190, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 2001; R.A. BURRIDGE, Imitating Jesus. An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids/Cambridge (MI) 2007; J. DE WAAL DRYDEN, Theology and Ethics in 1 Peter. Paraenetic Strategies for Christian Character Formation, WUNT II/209, Tübingen 2006, bes. 91–191; M. KONRADT/E. SCHLÄPFER (Hgg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen, WUNT 322, Tübingen 2014; F. NOICHL, Ethische Schriftauslegung. Biblische Weisung und moral-theologische Argumentation, FThSt 165, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 2002, bes. 189–213; W. POPKES, Paränese und Neues Testament, SBS 168, Stuttgart 1996, 169–191; J.G. VAN DER WATT (Hg.), Identity, Ethics and Ethos in the New Testament, BZNW 141, Berlin/New York 2006. 30 E. JENNI, Zu den doxologischen Schlussformeln des Psalters, ThZ 40 (1984), 114– 120, 118 (eigene Kursivsetzung). 28

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kann jedenfalls durchaus im Sinne einer „doxologischen Ethik“ betrachtet werden. (b) Aus systematisch-liturgiewissenschaftlicher Perspektive liegt ein Vorstoß in Richtung einer „doxologischen Ethik“ bei Cunninghams „Christian Ethics“ vor, ebenfalls ohne dass ihr Autor ihn als solche bezeichnen würde.31 Der Anglikaner hatte bereits 1998 auf sich aufmerksam gemacht, als er in seiner Monographie „These Three Are One. The Practice of Trinitarian Theology“32 die Trinität zum Ausgangspunkt eines ethischen Entwurfes gestaltet hatte: „In this book, I am attempting to articulate the relationship between the triune God and the lives of Christian believers. […] We should seek not simply to promulgate a trinitarian theology, but to think and to live in trinitarian ways. In the practice of trinitarian theology, we learn not to be conformed to this world, which is passing away, but to be transformed by the renewing of our minds, so that we might discern the will of the triune God – what is good and acceptable and perfect.“33

2008 machte er in seiner durch und durch pragmatisch orientierten, auf einer Tugendlehre basierten Ethik die Liturgie, näherhin die Eucharistie, näherhin das Eucharistische Hochgebet zum Zentrum seines Ansatzes. Anhand der Struktur dieses Hochgebetes entwickelte er seine Ethik anhand der drei Parameter Schöpfung, Erlösung und Heiligung. Für ihn enthalten alle diese drei Parameter ethische Implikationen und müssen für eine ausgewogene Gesamtethik in Balance stehen. Vier Konsequenzen nennt er, bei denen diese Balance nicht mehr gegeben sei: „1. a focus on natural law, which is rightly based on God’s work in creation but is too easily separated from its true source in God; 2. an overly simplistic account of the imitation of Christ, which rightly focuses on Jesus as God incarnate, but pays inadequate attention to his historical context; 3. the claim that God’s work of redemption in Christ is the only thing that matters, thereby rendering our human judgments and behaviors irrelevant; and 4. the antinomianism that can develop from an excessive reliance on the Spirit, encouraging self-interested ‚interpreters‘ of the Spirit’s guidance to use this as a means of exerting power and control.“34

Am Ende des Abschnittes rekapituliert Cunningham seinen Ansatz mit folgenden Worten: „We did not simply offer a rational assessment of potential outcomes, nor did we cite social-scientific research into what behaviors or dispositions would be the most ‚healthy‘ 31

D.S. CUNNINGHAM, Christian Ethics. The End of the Law, Abingdon/New York

2008. 32 D.S. CUNNINGHAM, These Three Are One. The Practice of Trinitarian Theology, Challenges in Contemporary Theology, Oxford 1998. 33 CUNNINGHAM, These Three Are One, a.a.O., 53f. 34 CUNNINGHAM, Ethics (s. Anm. 31), 183.

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according to modern psychology. Instead we observed that Christians shape their account of the virtues by calling upon God: their understanding of what makes for excellence in human character depends quite heavily on their understanding of God’s character.“35

Im letzten Teil seines Buches führt Cunningham diesen Ansatz dann innerhalb einer fiktiven „Arbeitswoche der Ethik“ in sechs praktischen Beispielszenarien aus36. (c) Aus neutestamentlicher Perspektive schließlich ist auf Popps kurze, aber ausdrückliche Hinweise zu einem „doxologischen Leben“ nach 1Petr 5,10f.37 hinzuweisen. Er beschreibt (im Anschluss an die Kommentare von Goppelt und Feldmeier38 sowie Schmidt39), wie der Segenswunsch 5,10 zentrale Motive des Gesamtbriefes bündelt und durch die Inklusion der beiden Doxologien 4,11b und 5,11 einfasst: die Zusage göttlicher Bewahrung im Leiden (1,5f.), die Bezeichnung Gottes als qeo.j pa,shj ca,ritoj (vgl. poiki,lhj ca,ritoj 4,11) und als kale,saj (vgl. 1,15; 2,9), das Motiv des leidvollen Lebens in Christus und auf ihn hin (vgl. 4,13; 5,1), die Kürze des gegenwärtigen Leidens im Kontrast zur ewigen Herrlichkeit (vgl. 1,6) sowie einige mehr.40 „Doxologisches Leben“ bezieht sich nach Popps Schwerpunktsetzung allerdings weniger auf Ethik, als vielmehr auf eine Theologie der Anerkennung, d.h. auf die parakletische Kräftigung der in ihrer Lebenssituation angefochtenen Briefadressatinnen und -adressaten. Den Segenswunsch 5,10 nennt er dementsprechend auch „konduktive[] Stärkungszusage“. 41 Es soll so ausgedrückt werden, „dass Gottes Macht ewig währt und sich auch in der Leidenssituation der Glaubenden bewährt“. 42 Popps Anstoß wird jedenfalls noch näher zu berücksichtigen sein. Trotz einiger vorhandener, vorsichtiger Impulse in Richtung einer „doxologischen Ethik“ im Neuen Testament also ist eine solche nicht nur begriff-

35 Vgl. CUNNINGHAM, Ethics (s. Anm. 31), 166–184, Zitat: 167 (originale Kursivsetzungen). 36 Vgl. CUNNINGHAM, Ethics, a.a.O., 227–374. 37 Vgl. T. POPP, „… den erwählten Fremden“ (1 Petr 1,1), in: D.S. du Toit (Hg.), Bedrängnis und Identität. Studien zu Situation, Kommunikation und Theologie des 1. Petrusbriefes, BZNW 200, Berlin/New York 2013, 183–203, 191f.; ebenso DERS., Die Kunst der Konvivenz. Theologie der Anerkennung im 1. Petrusbrief, ABG 33, Leipzig 2010, 440–443. 38 Vgl. L. GOPPELT, Der Erste Petrusbrief, KEK XII/1, Göttingen 8/11978, 343–345; FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 167f. 39 Vgl. K.M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung im Maskenspiel. Epistolographie, Rhetorik und Narrativik der pseudepigraphen Paulusbriefe, HBS 38, Freiburg i.Brsg. 2003, 286. 40 Vgl. POPP, „… den erwählten Fremden“ (s. Anm. 37), 191f.; SCHMIDT, Mahnung (s. Anm. 39), 212. 41 POPP, „… den erwählten Fremden“ (s. Anm. 37), 191. 42 POPP, a.a.O, 192.

Die Doxologien im 1. Petrusbrief

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lich, sondern auch sachlich als ein rechtes opus originale zu betrachten, und daher gilt es im Folgenden, weitgehend ungepflügten Boden zu beackern.

3. Formale Beobachtungen zu doxologischen Texten in 1Petr Dass paränetisches 43 Material und paränetische Intentionen 1Petr zu einem Großteil prägen, bedarf kaum näherer Erläuterung.44 Goppelt konnte sich in seinem Kommentar darauf berufen, dass „[d]as Thema des Briefes […] meist als Ermahnung der Gemeinden angesichts ‚beginnender und künftig noch wachsender Bedrängnis‘ bestimmt [werde].“45 Schulz hatte das Schreiben anhand dessen Selbstcharakterisierung in 5,12 nominell als „Trost- und Mahnschreiben mit praktischen Anweisungen für den Lebenswandel der leidenden Christen und der verfolgten Kirche“ 46 bestimmt. Popkes konstatierte: „Der 1 Petr hat eine ebenso deutliche wie starke paränetische Gesamtintention. Er will vergewissern, weiterführen, Verhaltensweisen konkretisieren, stärken und auf Problemsituationen vorbereiten.“47 Noch Pokorný/Heckel bestimmen den Themenschwerpunkt von 1,13–2,10 als „paränetische Belehrung über das Wesen der Kirche“ sowie 2,11–4,19 als „Mahnung und Trost“.48 Und Elliott schließlich subsumiert:

43

Der Begriff der Paränese ist in der jüngeren Exegese zwar immer wieder hinterfragt worden, wird aber bislang aufgrund des Fehlens eines verbreiteten Alternativmodells dennoch weitergeführt, vgl. u.a. K. KOENEN, Art. Paränese (AT), URL: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/29983/ (zuletzt eingesehen am 28.5.2014); K. KOENEN/K.-W. NIEBUHR, Art. Paränese, RGG4 VI (2003), 929–931; POPKES, Paränese (s. Anm. 29), 13– 52; DERS., Art. Paränese, DBL III (2001), 66–68. Unlängst hat sich dahingehend auch wieder M. WOLTER, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 311 mit Anm. 4, pragmatisch geäußert: „Es hat sich […] eingebürgert, die ‚ethischen‘ Weisungen, Mahnungen und Empfehlungen in den paulinischen Briefen [erg.: und auch darüber hinaus] unter dem Begriff der Paränese zusammenzufassen. Das kann durchaus eine sinnvolle Möglichkeit sein, wenn man zweierlei beachtet: dass ‚Paränese‘ keine literarische Gattung ist, sondern die Intention eines Textes, der seine Hörer oder Leser dauerhaft zu einem bestimmten Verhalten bewegen will, und dass eigentlich keiner genau weiß, was ‚Paränese‘ ist. [… Es] spricht nichts dagegen, das deutsche Fremdwort ‚Paränese‘ als eine heuristische Kategorie zu verwenden“. 44 Vgl. E.D. SCHMIDT, Kult und Ethik: Leben „heiliger“ Gemeinden. Der Heiligkeitsbegriff in ethischen Begründungszusammenhängen im 1. Petrusbrief, in: Horn/Volp/Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen (s. Anm. 2), 225. 45 GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 38), 40. 46 SCHULZ, Ethik (s. Anm. 24), 613. 47 POPKES, Paränese (s. Anm. 29), 102. 48 P. POKORNÝ/U. HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, UTB 2798, Tübingen 2007, 690f.

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„The hortatory aim (5:12) and mood of 1 Peter, along with its inclusion of much hortatory and parenetic material clearly qualify it as a ‚parenetic/hortatory letter‘ […], where ‚parenetic‘ refers to its aim and mood (hortatory) and does not imply a simple juxtaposition of disparate, general injunctions lacking any thematic unity.“49

Was 1Petr für eine „implizite Ethik“ interessant macht, sind Beobachtungen wie diejenige Hahns, der in diesem Brief ein (gegenüber Jak) „stärkere[s] Ineinandergreifen von Paränese und theologischer Reflexion“ bemerkt, und zwar nicht nur im ersten Briefteil 1,13–2,10, „der eine christologisch-ekklesiologische Grundlegung darstellt, zugleich aber mit paränetischen Elementen durchsetzt ist (1,13–15.22f; 2,1f), sondern ebenso die christologische Begründung der Ermahnungen in 2,21–25 und 3,18–22, von kürzeren theologischen Begründungselementen zunächst noch abgesehen.“50 (Die von Hahn genannten Beispielverse wären unter Berücksichtigung einer „impliziten Ethik“ noch deutlich auszuweiten.)

Was darüber hinaus 1Petr speziell für eine „doxologische Ethik“ interessant macht, ist (neben den bereits in der Einleitung genannten wortstatistischen Auffälligkeiten), dass 1Petr der einzige neutestamentliche Brief ist, der (nach dem Präskript) mit einer – um Deichgräbers/Vielhauers Terminologie zu folgen – Eulogie statt der ansonsten häufigen Danksequenz beginnt und (vor dem Eschatokoll) mit einer Doxologie endet. 1,3ff. liest: Euvloghto.j o` qeo.j kai. path.r tou/ kuri,ou h`mw/n VIhsou/ Cristou/( o` kata. to. polu. auvtou/ e;leoj avnagennh,saj h`ma/j eivj evlpi,da zw/san diV avnasta,sewj VIhsou/ Cristou/ evk nekrw/n und in 5,11 beendet den Schlusssegen unmittelbar vor dem Postskript die knappe Formel: auvtw/| [sc. tw/| de. qew/|51] to. kra,toj eivj tou.j aivw/naj( avmh,nÅ Beide diese Schlussdoxologien sind mit avmh,n abgerundet52, die in 5,11 enthält die doxologische Grundform Ehrempfänger im Dativ – Ehrbegriff – Ewigkeitsbekundung. Zusätzlich beendet der Schreiber von 1Petr seine kurze Sprech- und Dienstparänese 4,11a mit der doppelt doxologischen Wendung: i[na evn pa/sin doxa,zhtai o` qeo.j dia. VIhsou/ Cristou/( w-| evstin h` do,xa kai. to. kra,toj eivj tou.j aivw/naj tw/n aivw,nwn( avmh,n. 49 J.H. ELLIOTT, 1 Peter. A New Translation with Introduction and Commentary, AnchB 37B, New Haven/London 2000, 11. 50 F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments I: Die Vielfalt des Neuen Testaments, UTB 3500, Tübingen 32011, 409; vgl. a.a.O., 419. Sehr im Gegensatz dazu die Darstellung bei SCHULZ, Ethik (s. Anm. 24), 621, nach dem sich in 1Petr die Ethik/der Imperativ (gegenüber Paulus) deutlich verselbständigt habe: „Die Werke der Christen sind nicht mehr Konsequenz der geschehenen Rechtfertigung, und der Wandel nicht mehr gelebte Eschatologie im Zeichen der Auferstehungsmacht des Gekreuzigten, sondern der Imperativ gewinnt zunehmend ein praktisch-ethisches Eigengewicht, weil von der sittlichen Lebensführung die künftige Rettung abhängt.“ 51 Zum Objekt dieser Ehrbezeugung vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 762. 52 Zur Traditionsgeschichte hierzu vgl. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus (s. Anm. 6), 25– 27; F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51–100, HThK.AT, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 3 2007, 327f.

Die Doxologien im 1. Petrusbrief

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Alle drei dieser doxologischen Texte bestätigen die formgeschichtliche Beobachtung häufiger Platzierung von Doxologien am Ende von Sinnabschnitten bzw. eines gesamten Schreibens sowie der Stellung von ausgearbeiteten Eulogien statt Danksagungen in einem Proömium (ansonsten im neutestamentlichen Briefgut in 2Kor 1,3f.; Eph 1,3–14, s.o.53). Bei der Eingangseulogie und der Schlussdoxologie 1Petr 5,11 ist dies überaus auffällig. Zu 4,12ff. sprechen die meisten Kommentatoren zwar auch markiert von einem neuen Abschnitt nach einem „deutlichen Einschnitt“54 und betonen auf diese Weise die zäsurierende Funktion der Doxologie in 4,11b, doch ist die formgliedernde Stellung hier deutlich weniger prominent als die der anderen beiden doxologischen Texteinheiten. 4,11b rundet zwar unmittelbar die Sprechparänese V.11a ab und darüber hinaus – wie der tabellarisch notierte Aufbau bei Pokorný/Heckel sowie die Gliederungen bei Elliott und Feldmeier sichtbar machen 55 – auch die Periode 4,7–11, einen noch größeren Abschnitt durch sie (tiefer) abgeschlossen zu sehen, wird jedoch schon als Überinterpretation zu gelten haben. Mit Blick auf 1Petr 5,10f. spricht Popp, wie soeben genannt,56 ausdrücklich von einem „doxologischen Leben“ und bezieht sich dabei auf die intratextuelle Verknüpfung dieser beiden Verse sowie die Inklusion der beiden Doxologien 4,11b und 5,11. Dies ist unmittelbar plausibel, 57 darüber hinaus ist jedoch auch auf die Inklusion hinzuweisen, die durch die beiden formal deutlich tiefergreifenden doxologischen Texte, die Eulogie 1,3–12 sowie die Doxologie 5,11, gebildet wird. Elliott hat bereits herausgestellt: „The body of the letter opens (1:3–12) as it closes (5:10–11), on a worshipful note of blessing and praise“; 58 und auch Jobes bemerkt zu 5,10f. m.E. zu 53

Vgl. SCHMIDT, Mahnung (s. Anm. 39), 208f., Anm. 131. FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 149; ähnlich auch P.J. ACHTEMEIER, 1 Peter. A Commentary on First Peter, Hermeneia – A Critical and Historical Commentary on the Bible, Minneapolis 1996, 301; N. BROX, Der Erste Petrusbrief, EKK XXI, Zürich u.a. 41993 (11979), 210; GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 38), 293ff. 55 Vgl. POKORNÝ/HECKEL, Einleitung (s. Anm. 48), 691; ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 82f.; FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 144–148. ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 73f., hingegen fasst 2,11–4,11 zu einer Großeinheit zusammen. 56 Vgl. Abschnitt 2. 57 Zum sprachlichen Vergleich der beiden Doxologien vgl. FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 168: „Die Doxologie [5,11] selbst ist gegenüber der etwas ausführlicheren, ersten in 4,11 situativ zugespitzt: Angesichts der Bedrängnis durch den Teufel wird nochmals Gottes Macht, gegenüber dem ‚kurzen Leiden‘ nochmals Gottes Ewigkeit unterstrichen“. GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 38), 345, etwas allgemeiner: „[Die Doxologie 5,11] konzentriert sich gegenüber der in 4,11, die do,xa beiseite lassend, auf kra,toj, die ,Kraftʻ: Gott gehört die Kraft bzw. die Macht“. Kurz auch bei SCHMIDT, Mahnung (s. Anm. 39), 286. 58 ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 329. 54

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Recht: „Peter concludes the body of his letter with a strong note of hope and doxology (5:10–11) that echoes the opening in 1:1–7.“ 59 Diese Inklusion scheint mir auch durch Popps eigene Ausführungen bestätigt zu werden, da auch nach seiner motivischen Auflistung der Segen und die anschließende Doxologie 5,10f. nicht nur Motive aus dem Abschnitt 4,12ff., sondern von Briefbeginn an aufgreift. 1Petr bettet somit großformal gesehen sozusagen alles, was er zu schreiben hat, in doxologisches Feiern ein.

4. Traditionsgeschichtliche Beobachtungen zu Eulogien und Doxologien Über die traditionsgeschichtliche Funktion von Eulogien ist in Kommentaren zu 1Petr (und nicht nur zu diesem Brief) erstaunlich wenig zu lesen. 60 Im Zusammenhang mit den Doxologien in Röm hat dies Lohse unlängst gewissermaßen nachgeholt. An die jüdisch-traditionelle Herkunft dieser Textgattung anknüpfend, erinnert er an die durch und durch basale Funktion des Gottespreises im Judentum und den „Brauch, […] mit offenen Augen darauf zu achten, wo und wie Zeichen der reichlich erwiesenen Wohltaten Gottes zu erkennen sind. Bei jedem dieser Anlässe hat der fromme Beter ein Wort des Gotteslobes zu sprechen.“ 61 Ganz ähnlich hatte schon Mußner in seinem „Traktat über die Juden“ im Anschluss an von Rads Diktum „Unablässig hat Israel JHWH Lobpreis dargebracht“ 62 diesen fast schon als Markenzeichen Israels beschrieben: „Der Lobpreis Gottes durch Israel hat bis heute nicht aufgehört. Das fromme Judentum ist ein betendes und Gott preisendes Volk. Loben ist Leben und Leben ist Loben; denn die Toten loben Gott nicht mehr (vgl. Pss 6,6; 30,10; 88,11f.; 115,17; Jes 38,18f.; Sir 17,27f.).

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K.H. JOBES, 1 Peter, ECNT, Grand Rapids 2005, 315. Vgl. ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 90–113; BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 59–72; ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 328–254; FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 41–64. Wenig aber auch in G. SELLIN, Der Brief an die Epheser, KEK VIII, Göttingen 9/12008, 73–121; R. SCHNACKENBURG, Der Brief an die Epheser, EKK X und XII. Studienausgabe, Neukirchen-Vluyn/Ostfildern 2013, 42–68 – trotz der spektakulären Ausprägung der Eulogie in Eph! 61 LOHSE, Doxologien (s. Anm. 11), 255, mit Verweis auf Str.-Bill. II, 310; III, 64, wo es aber nur um die weit verbreitete akklamative Gottesbezeichnung „Der Heilige, gepriesen sei er!“ im rabbinischen Judentum geht, nicht aber um die von Lohse bezeichnete Sitte im engeren Sinne. Eine durchaus problematisierende „Theologie des Gotteslobs in den Psalmen“ liegt bei E. BALLHORN, Die gefährliche Doxologie. Eine Theologie des Gotteslobs in den Psalmen, BiLi 77 (2004), 11–19, vor. 62 Vgl. G. von RAD, Theologie des Alten Testaments I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, Einführung in die evangelische Theologie 1, München 5 1966, 367. 60

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[…] Nicht der Intellekt liebt Gott, sondern ‚der atmende, sich freuende, singende Mensch‘.“63

In vielen weiteren leuchtenden Worten schildert Mußner den Wert und die Grundständigkeit des Lobpreises für Israel.64 Von ihm hat auch Frankemölle dieses Charakteristikum als eine der „gemeinsamen jüdisch-christlichen Grundüberzeugungen“ übernommen.65 Das gleiche ist jüngst schließlich wieder bei Ebenbauer zu lesen, der „Lobpreis und Danksagung, preisendsegnendes Gedenken Gottes“ als das „theologische und kultlogische Fundament jüdischen wie christlichen Gottesdienstes und Gebetes“ betrachtet.66 Auffälligerweise berücksichtigt keiner dieser genannten Autoren die formale Differenzierung Deichgräbers/Vielhauers zwischen adjektivisch bzw. partizipiell eingeleiteten Eulogien mit dem Ehrempfänger im Nominativ und substantivisch eingeleitete Doxologien mit dem Ehrempfänger im Dativ (s. Abschnitt 2.). Ebenbauer nimmt zwar in Bezug auf alttestamentliche Formeln die Differenzierung von mit krb und ihdy gebildeten Formeln wahr, diese ist aber nicht 63

Vgl. MUSSNER, Traktat über die Juden, Göttingen 2009 (11979), 117, Binnenzitat: C. WESTERMANN, Art. llh hll pi. loben, THAT I (1971), 496 (bei Mußner irrtümlich 495); vgl. ebenso auch P. EBENBAUER, Eingekehrt in Gottes Zeit. Gebetstheologische Beobachtungen zu Lobpreis und Danksagung in biblischen und nachbiblischen Kontexten, in: A. Gerhards/St. Wahle (Hgg.), Kontinuität und Unterbrechung. Gottesdienst und Gebet in Judentum und Christentum, Studien zu Judentum und Christentum, Paderborn 2005, 64– 69. Die frühjüdische Vorstellung der Teilhabe des Lobpreises der irdischen Gemeinde am Lobpreis der Engel im himmlischen Heiligtum (v.a. in der Apokalyptik und in Qumran, aber auch in rabbinischen Texten) transzendiert dieses Charakteristikum noch, vgl. hierzu jüngst C. BÖTTRICH, Das „Sanctus“ in der Liturgie der hellenistischen Synagoge, in: H. Klein/V. Mihoc/K.-W. Niebuhr unter Mitarbeit v. Christos Karakolis (Hgg.), Das Gebet im Neuen Testament. Vierte europäische orthodox-westliche Exegetenkonferenz in Sâmbăta de Sus 4.–8. August 2007, WUNT 249, Tübingen 2009, 327–334; G. STEMBERGER, „Himmlische“ und „Irdische“ Liturgie in der rabbinischen Zeit, in: DERS., Judaica Minora I, TSAJ 133, Tübingen 2010, 331–340 (erstveröffentlicht in: A. Gerhards/H.H. Henrix (Hgg.), Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Christentum, QD 208, Freiburg i.Brsg. 2004, 92–102); ebenso bereits bei B. EGO, Im Himmel wie auf Erden. Studien zum Verhältnis von himmlischer und irdischer Welt im rabbinischen Judentum, WUNT II/34, Tübingen 1989. 64 Vgl. auch M. THEOBALDS Geleitwort zur Neuausgabe von Mußner, Traktat, 2009 (s. Anm. 63), 1–9, 1. 65 H. FRANKEMÖLLE, Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v.Chr. bis 4. Jahrhundert n.Chr.), Studienbücher Theologie, Stuttgart 2006, 371. 66 EBENBAUER, Eingekehrt (s. Anm. 63), 67. Vgl. auf christlicher Seite auch die kurzen Hinweise bei A. du TOIT, Die Kirche als doxologische Gemeinschaft im Römerbrief, in: DERS., Focusing on Paul. Persuasion and Theological Design in Romans and Galatians (hg. v. D.S. du Toit/C. Breytenbach), BZNW 151, Berlin/New York 2007, 297–307 (zuerst veröffentlicht in: Neotest. 27 [1993], 69–77), 305.

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identisch mit der Differenzierung von w-| h` do,xa und euvloghto.j o` qeo,j bei Deichgräber/Vielhauer. Vielmehr kommt Ebenbauer für seine beobachtete Differenzierung zum Ergebnis einer deutlichen gebetstheologischen Überschneidung beider Textformen: „Die biblischen Bedeutungsspektren von barukh (mit Gott als Adressat: gepriesen/gesegnet J’) und ydh (in den Kontexten der Danklieder) überschneiden sich insofern, als beide den Charakter öffentlichen Gotteslobes tragen, in dessen Kontext es immer um einen Reflex auf erfahrenes, erinnertes oder erhofftes Heilshandeln Gottes geht. Ihre Differenzierung liegen darin, dass es in den barukh-Formeln stärker um Lob-Preisung Gottes, also um eine doxologisch orientierte Gottes-Anrede, bei mit dem Wortstamm ydh gebildeten Wendungen und den todah-Gebeten stärker um ein dankbares Lob-Bekenntnis und damit um ein öffentliches Anerkennungsgeschehen Gottes geht […]. Mittelbar trägt ein todah-Gebet ebenso doxologische Züge wie die barukh-Formel. In erster Linie bringt es aber die Art und Weise zum Ausdruck, wie der Mensch sich, in seiner Ergriffenheit von Gott, zu diesem bekennt und verhält, indem er ihn in seiner Herrlichkeit als Grund heilen/geretteten Lebens anerkennt und so lobsagend dankt.“67

Konkret wird diese Überlappung an der pleonastischen Reihung „Lobpreis und Danksagung, preisend-segnendes Gedenken Gottes“ sowie auch an seiner Analyse des David-Gebets 1Chr 29,10–20, bei der er sowohl dessen Eingang ~l'(A[-d[;w> ~l'ÞA[me … hw"hy> hT'Ûa; %WrB' (V10; LXX: euvloghto.j ei= ku,rie … avpo. tou/ aivw/noj kai. e[wj tou/ aivw/noj) als auch dessen Ausgangsresponsorium an"ß-Wkr>B"( ~k,_yhel{a/ hw"åhy>-ta, (V20; LXX: euvlogh,sate ku,rion to.n qeo.n u`mw/n)68 schlicht als „Lobpreis“ bezeichnet.69 In der alttestamentlichen Literatur schließlich werden %WrB'-Formeln regelmäßig als „Doxologien“ bezeichnet,70 obwohl diese Formeln in der LXX im Allgemeinen mit einer Form von euvloghto,j/euvlogei/n mit der Gottesbezeichnung im Nominativ wiedergegeben werden und damit nach der Nomenklatur Deichgräbers/Vielhauers Beispiele für das Lehnwort „Eulogie“ wären. Diese %WrB'-Formeln können zudem am Textanfang (am häufigsten: z.B. Ruth 4,14; 1Sam 25,32.39; 1Chr 29,10; Ps 144,1), in der Mitte (z.B. 2Sam 22,47; Ps 28,6; 31,22; 68.20), am Ende (z.B. 1Chr 16,36; Ps 66,20; 68,36; 135,21) oder auch allein, dann häufig mit angeschlossenem kurzem rv,a]-Satz stehen (z.B. 67

EBENBAUER, Eingekehrt (s. Anm. 63), 71. Wkr>B")ist freilich verbal (LXX: euvlogh,sate), nicht substantivisch wie im griechischen h` do,xa kai. to. kra,toj (1Petr 4,11) bzw. to. kra,toj (1Petr 5,11), doch ist Gott als Empfänger des Lobpreises als grammatikalisches Objekt genannt. Die Lobpreis-Formel in der 2. Person im ersten Beispiel ist unüblich (vgl. EBENBAUER, Eingekehrt [s. Anm. 63], 74f. mit Anm. 24). 69 EBENBAUER, Eingekehrt, a.a.O., 74. Auch bei F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments II: Die Einheit des Neuen Testaments, UTB 3500, Tübingen 32011, 571–574, verwischt eine klare Trennung. 70 So deutlich schon bei A.-C. KELLER, Art. krb brk pi. segnen, I.-III., THAT I (1971), 357f.; WEHRLE, Art. Doxologie (s. Anm. 14), 442f.; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100 (s. Anm. 52), 315f.327f.589.597. 68

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2Sam 18,28; 1Kön 5,21). Gleichzeitig aber verwenden die für Deichgräber traditionsgeschichtlich relevanten alttestamentlichen Vorbilder ,seinerʻ Doxologien ebenfalls Formen von krb, LXX: euvloghto,j/euvlogei/n.71 Für das alttestamentliche Material legt sich die Differenzierung in ,Eulogienʻ und ,Doxologienʻ somit nicht unbedingt nahe. Und auch im neutestamentlichen Bereich wird sie – jenseits von Deichgräber/Vielhauer – keineswegs konsequent eingehalten: Black kennt zwar beide genannten Grundformen, nennt aber beide „doxology“72. Aune beschreibt den formalen (!) Unterschied zwischen einer „doxology“ und einer „benediction“ (Letztere werde typischerweise durch kwrb bzw. euvloghto,j eingeleitet), erkennt aber auch Mischformen73 und kommt schließlich zur Schlussfolgerung: „[T]he term doxology can be understood in a broader sense that includes Jewish berakah, ,blessingsʻ, formulas as well as Christian doxologies“. 74 Popp meint, das „Lexem euvloghto,j dient im Neuen Testament exklusiv der Doxologie“.75 Und schließlich nennt Jobes in ihrem jungen Kommentar konkret die „Eulogie“ in 1Petr 3–12 ausdrücklich „doxology“. 76 Inhaltlich weiterführend sind die Ausführungen Jennis „Zu den doxologischen Schlussformeln des Psalters“ (also die Gliederungsdoxologien der fünf Bücher des Psalters Ps 41,14; 72,18f.; 89,53; 106,48; 145,21; bereits 1984).77 Auch er differenziert nicht formal zwischen Eulogien und Doxologien: Auch Erstere – am Text- bzw. Psalmende (!) – laufen bei ihm unter der Bezeichnung „Doxologien“. Seine erste wichtige Beobachtung ist die formgeschichtliche Eigenständigkeit von Doxologien. 78 Sie seien als Formelemente nicht aus den Psalmen selbst – dem Hymnus, dem Klage- oder Bittgebet – erwachsen, sondern wiesen ihre eigenständige Formgeschichte auf:

71

Vgl. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus (s. Anm. 6), 30. M. BLACK, The Doxology to the Pater oster with a Note on Matthew 6.13B, in: Ph.R. Davies/R.T. White (Hgg.), A Tribute to Geza Vermes. Essays on Jewish and Christian Literature and History, JSOT.S 100, Sheffield 1990, 329–331. 73 Vgl. auch GÜTING, Amen (s. Anm. 16), 144: „Nicht ganz leicht ist es, Eulogien formal von Doxologien zu scheiden“. 74 Vgl. D.E. AUNE, Revelation 1–5, WBC 52, Dallas 1997, 43f. (Kursivsetzung original). Die hier vorgenommene Bezeichnung der Doxologien (im engeren Sinne) als „christlich“ basiert auf der Beobachtung, dass sie in dieser Form weniger regelmäßig in jüdischen denn in christlichen Texten belegt sind (so auch GÜTING, Amen [s. Anm. 16], 139), gleichwohl ebenfalls jüdischen Traditionsursprungs sind (vgl. GÜTING, Amen, a.a.O., 135: „Nun ist der Zusammenhang zwischen Eulogien und Doxologien formgeschichtlich nicht zu übersehen“). 75 POPP, Kunst (s. Anm. 37), 134 (eigene Kursivsetzung). 76 JOBES, 1 Peter (s. Anm. 59), 79. 77 JENNI, Zu den doxologischen Schlussformeln (s. Anm. 30). 78 So auch noch HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100 (s. Anm. 52), 315f.597. 72

390

Eckart David Schmidt

„Die [Baruk-]Formel stammt […] aus dem Bereich des Segenswunsches im Alltag, hat sich aber dann als Eulogie in der Liturgie eingebürgert. Sie hat von Anfang an immer den Charakter einer Antwort auf eine Gottestat, verliert allerdings dann etwas von ihrer ursprünglichen Spontaneität, bleibt aber auch in der verallgemeinerten liturgischen Verwendung bekennende Antwort.“79

Von entscheidender Bedeutung auch für die doxologischen Texte in 1Petr – und für die Idee einer ,doxologischen Ethikʻ allgemein überaus hilfreich – sind aber nun Jennis Ausführungen zur Funktion der Doxologien. Sie seien keine Textelemente zur „Belehrung über Gott und sein Walten wie im Hymnus“. Stattdessen komme es „nicht so sehr auf den Sinngehalt der Worte in ihrem reinen Aussagewert an, auf das, was die Linguisten und Kommunikationstheoretiker den propositionalen Gehalt, den Kommunikationsgehalt, nennen, sondern auf das Handlungsmässige, das mit dem Sprechakt verbunden ist, das, was in der neueren Sprachwissenschaft das ganze Feld der Pragmatik ausmacht.“80

Den teilweise gedoppelten ,Amenʻ-Beschluss (in 1Petr sowohl in 4,11 als auch in 5,11) deutet er im Sinne der „Negierung des Endes, wenigstens der Intention nach. Das Gesagte soll überhaupt nicht aufhören, sondern ewig weitergelten: ‚auf ewig‘ (Ps 72,19; 89,53) und ‚von Ewigkeit zu Ewigkeit‘ (41,14; 106,48). Auch hier ist für die Auslegung nicht in erster Linie eine Analyse inhaltlicher Art über den ‚hebräischen Zeitbegriff‘ oder den Begriff der Ewigkeit gefordert. Die einfache Formel und erst recht die ‛ōlām-Doppelformel haben hier die pragmatische Funktion des Redeabschlusses durch ‚Verewigung‘.“81

Als Ergebnis für die Doxologien/Eulogien für 1Petr ist festzuhalten: Traditionsgeschichtlich und redepragmatisch gesehen verliert die formale Differenzierung Deichgräbers/Vielhauers zwischen Doxologien und Eulogien bei Berücksichtigung des zugrunde liegenden alttestamentlichen Materials an Relevanz. Dies bekräftigt für 1Petr die am Ende des vorigen Abschnittes getroffene Beobachtung der Inklusion durch 1,3–12 und 5,11 (nicht nur 4,11 und 5,11). Der gesamte Brief hat damit einen doxologischen Rahmen, dessen Funktion eine wesentlich performative ist: In ihr wird Gott sowie der göttlichen Grund für das Selbstverständnis des Beters anerkannt und gefeiert.

79

JENNI, Zu den doxologischen Schlussformeln (s. Anm. 30), 117. Beide Zitate JENNI, Zu den doxologischen Schlussformeln, a.a.O., 118. 81 JENNI, Zu den doxologischen Schlussformeln (s. Anm. 30), 119f. 80

Die Doxologien im 1. Petrusbrief

391

5. ,Doxologische Ethikʻ in 1Petr? 5.1 Zu Grammatik und Aufbau von 1Petr 1,3–12 Die Eingangseulogie 1Petr 1,3–12 ist inhaltlich wesentlich intensiver ausgearbeitet als es für einen formalen Dank verlangt wäre.82 Nicht nur diese Tendenz teilt sie insbesondere mit derjenigen in Eph 1,3–14, sondern auch die damit einhergehende überbordende grammatikalische Komplexität: 1Petr 1,3–12 sowie Eph 1,3–14 bestehen jeweils aus einem einzigen griechischen Satz. 83 Wohl keine deutsche Übersetzung vermag die Struktur des griechischen Textes nachvollziehbar abzubilden (selbst das Münchener Neue Testament setzt nach V.5, nach V.9 und nach V.11 jeweils einen Punkt). Der Text der vollständigen Eulogie sei daher im Folgenden zunächst nach syntaktischen Kriterien segmentiert präsentiert:84 3

Euvloghto.j o` qeo.j kai. path.r tou/ kuri,ou h`mw/n VIhsou/ Cristou/( o`

4 5

6

kata. to. polu. auvtou/ e;leoj avnagennh,saj h`ma/j eivj evlpi,da zw/san diV avnasta,sewj VIhsou/ Cristou/ evk nekrw/n( eivj klhronomi,an a;fqarton kai. avmi,anton kai. avma,ranton( tethrhme,nhn evn ouvranoi/j eivj u`ma/j tou.j evn duna,mei qeou/ frouroume,nouj dia. pi,stewj eivj swthri,an e`toi,mhn avpokalufqh/nai evn kairw/| evsca,tw|Å

evn w-| avgallia/sqe( ovli,gon a;rti eiv de,on Îevsti.nÐ luphqe,ntej evn poiki,loij peirasmoi/j( i[na to. doki,mion u`mw/n th/j pi,stewj polutimo,teron crusi,ou tou/ avpollume,nou dia. puro.j de. dokimazome,nou( eu`reqh/| eivj e;painon kai. do,xan kai. timh.n evn avpokalu,yei VIhsou/ Cristou/\ o]n ouvk ivdo,ntej avgapa/te( eivj o]n a;rti mh. o`rw/ntej pisteu,ontej

7

8

82

Vgl. BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 60. 2Kor 1,3–11 sowie 2Thess 1,3–12 beinhalten immerhin jeweils zwei (ungleich lange) Sätze! 84 Unterstreichungen markieren parallel konstruierte Konstruktionen zum leichteren optischen Nachvollzug. Durch Winkel markierte Zeilenumbrüche sind nicht durch die Syntax, sondern durch die Seitenränder des Druckformats begründet, sind also als Fortsetzung der jeweils vorgehenden Zeile zu lesen. 83

392

Eckart David Schmidt de. avgallia/sqe cara/| avneklalh,tw| kai. dedoxasme,nh| ∟ komizo,menoi to. te,loj th/j pi,stewj Îu`mw/nÐ swthri,an yucw/nÅ

9 10

peri. h-j swthri,aj evxezh,thsan kai. evxhrau,nhsan profh/tai oi` peri. th/j eivj u`ma/j ca,ritoj profhteu,santej( evraunw/ntej eivj ti,na h' poi/on kairo.n evdh,lou to. evn auvtoi/j pneu/ma Cristou/ ∟ promarturo,menon ta. eivj Cristo.n paqh,mata ∟ kai. ta.j meta. tau/ta do,xajÅ ∟ oi-j avpekalu,fqh o[ti ouvc e`autoi/j u`mi/n de. dihko,noun auvta,( a] nu/n avnhgge,lh u`mi/n dia. tw/n euvaggelisame,nw ∟ u`ma/j ÎevnÐ pneu,mati a`gi,w| ∟ avpostale,nti avpV ouvranou/( eivj a] evpiqumou/sin a;ggeloi paraku,yaiÅ ∟

11

12

Bei einer solchen segmentierten Darstellung wird auf den ersten Blick deutlich, wie die grammatikalischen Subordinationen im Laufe der Satzperiode allmählich auf immer höherem Grade liegen (v.a. ab V.6), d.h. sich syntaktisch von der (elliptischen) Ausgangsakklamation euvloghto.j o` qeo,j immer weiter entfernen, sie aber nichtsdestotrotz bis zum Ende der Satzperiode von ihr abhängig bleiben. Der Satz ist trotz seiner Länge klar organisiert: Der nur durch Neuaufnahme des Artikels angebundenen Satzanschluss o` […] avnagennh,saj h`ma/j (V.3) sowie der relative Satzanschluss evn w-| avgallia/sqe (V.6) beziehen sich direkt auf o` qeo,j (V.3a) zurück. tethrhme,nhn (V.4b) bezieht sich auf klhronomi,an (V.4a), tou.j (V.5) auf u`ma/j (V.4b), e`toi,mhn (V.5fin.) auf eivj swthri,an. luphqe,ntej (V.6b) ergänzt das logische Subjekt u`mei/j von avgallia/sqe (V.6a), der nun subordinierte i[na-Satzanschluss (V.7) wird nach der langen Sperrung durch eu`reqh/| weitergeführt (das Subjekt zu eu`reqh/| ist to. doki,mion). Die beiden relativen Satzanschlüsse o]n und eivj o]n (V.8) beziehen sich – leicht zu verstehen – auf VIhsou/ Cristou/ (V.7fin.). Der zweite dieser Relativanschlüsse ist gegenüber dem ersten strukturell zwar ähnlich aufgebaut, jedoch deutlich augmentiert: Im ersten dieser beiden Syntagmata steht das negierte Verb als Partizip (ouvk ivdo,ntej), das oppositionelle positive in der 2. Person Plural Indikativ (avgapa/te). Im zweiten Syntagma hingegen stehen sowohl das negierte Verb als auch das semantisch oppositionell gestellte positive partizipiell (mh. o`rw/ntej pisteu,ontej), das finite Verb hingegen (avgallia/sqe) kann formal wiederum 2. Person Plural Indikativ sein (wie oben), aber auch Imperativ85. Das de, impliziert möglicherweise tatsächlich eine stärkere Oppositionsstellung von avgallia/sqe gegenüber avgapa/te, dass beide Syntagmata aber als Relativanschlüsse konstruiert sind (o]n und eivj o]n), deutet darauf hin, auch avgallia/sqe indikativisch zu lesen.

85

Beispiele aus der Sekundärliteratur bei ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 103.

Die Doxologien im 1. Petrusbrief

393

Das Partizip komizo,menoi (V.9) greift nochmals das logische Subjekt u`mei/j von avgallia/sqe (V.6a) auf, steht also grammatikalisch parallel zu luphqe,ntej (V.6b). Dass sich der relative Anschluss peri. h-j (V.10) auf swthri,a in der Zeile davor bezieht, und nicht etwa auf pi,stij, wird durch die Wiederholung des Substantives verdeutlicht. Die beiden Anschlüsse oi` (V.10b) und oi-j (V.12) beziehen sich beide auf profh/tai (V.10a) und wiederholen mit der Reihung „zuerst Artikel, dann Relativpronomen“ die Struktur der beiden Anschlüsse in V.3 und V.6. Die indirekte Frage eivj ti,na h' poi/on […] hängt – klar zu verstehen – von evraunw/ntej (V.11a) ab. Für evraunw/ntej selbst ist hier eine gegenüber profhteu,santej (V.10b) subordinierte Stellung angenommen (also i.S.v. „indem sie forschten“); denkbar wäre auch parallel beigeordnet (also i.S.v. „und forschten“). Innerhalb von V.12 wird der o[ti-Satz dann noch dreifach weitergeschachtelt: durch den Relativsatz a] nu/n avnhgge,lh u`mi/n – seinerseits nochmal präzisiert durch die präpositionale Ergänzung dia. tw/n euvaggelisame,nwn u`ma/j, die wiederum durch eine weitere präpositionale Ergänzung ÎevnÐ pneu,mati a`gi,w präzisiert wird –, durch die partizipiale Ergänzung avpostale,nti avpV ouvranou/ (bezogen auf pneu,mati a`gi,w)| und einen letzten Relativsatz eivj a] evpiqumou/sin a;ggeloi paraku,yai (bezogen auf ouvranou/) unterteilt.

Die hier präsentierte Textanordnung impliziert durch die beiden Leerzeilen zwischen V.5 und V.6 sowie zwischen V.9 und V.10 eine Gliederung: Die Neueinsätze in V.6 und V.10 legen sich durch die Neueinführung eines Relativpronomens plus Präposition nahe,86 wobei zu berücksichtigen ist, dass nur evn w-| (V.6) auf Nebensatzebene erster Ordnung liegt und sich auf o` qeo,j (V.3) bezieht. Eine „trinitarische“ Struktur in diesem Text zu erkennen (dann in den Abschnitten V.3–7.8f.10–12), kann nicht ganz überzeugen; 87 Elliott erkennt allerdings in der Aufteilung V.3–5.6–9.10–12 eine „triadische“ Struktur in Anlehnung an V.2.88 Die drei – später sogenannten – Personen der Trinität sind in der gesamten Eulogie freilich in auffälliger Weise genannt, jedoch nicht so präzise auf drei Abschnitte verteilbar (o` qeo.j kai. path,r, und der ku,rioj VIhsou/j Cristo,j zuerst in 1,3; das pneu/ma Cristou/ in V.11, als pneu/ma a[gion bezeichnet in V.12). Auch muss hier nicht die Diskussion geführt werden, ab welchem Grad trinitätstheologischer Reflexion überhaupt von „Trinität“ zu sprechen ist.89 Auffällige rhetorische Triaden finden sich v.a. in der ersten Hälfte des Textes allerdings mehrfach: eivj evlpi,da […] diV avnasta,sewj […] eivj klhronomi,an (V.3f.); evn duna,mei […] dia. pi,stewj eivj swthri,an (V.5); eivj e;painon kai. do,xan kai. timh,n (V.7). Die Eulogie enthält keine expliziten Aufforderungen oder Mahnungen, sondern „lays the theological foundation for 1 Peter’s vision of Christian 86

Vgl. auch ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 90; BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 59f.68; D.P. SENIOR, 1 Peter, in: DERS./D.J. HARRINGTON, 1 Peter, Jude and 2 Peter, SaPaSe 15, Collegeville 2003, 1–158, 35 u.a. Dies sind bezeichnenderweise auch die beiden Zäsuren, an denen die Übersetzung des Münchener Neuen Testaments – und nicht nur sie – mit einem neuen Hauptsatz neu beginnt. 87 Vgl. kritisch ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 90, Lit. ebd. 88 Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 329. 89 Hierzu vgl. SCHMIDT, Kult und Ethik (s. Anm. 44), 227f. mit Anm. 11 (Lit.!).

394

Eckart David Schmidt

existence“.90 Ihr Schreiber preist Gott in überschwänglichen Worten für die Wiedergeburt der Gläubigen91 zur lebendigen Hoffnung92 durch die Auferstehung Jesu Christi,93 nennt als Ziel das eschatologische unvergängliche, unbefleckte und unverwelkliche Erbteil in den Himmeln (V.3f.); er versichert die Gläubigen ihrer Bewahrung in der Kraft Gottes durch Glauben trotz der gegenwärtigen Bedrängnisse und Versuchungen und stellt ihnen die Bewährung des Glaubens vor Augen (V.4–7); und er charakterisiert ihren zielführenden, seelenrettenden Glauben als einen, der durch Liebe zu und Freude über Jesus Christus geprägt ist (V.8f.). In ihm sei bereits das Schema „Aushalten in Leiden – anschließend Verherrlichung“ zu erkennen, das ihnen ja bereits im Heiligen Geist verkündet worden sei (V.10–12).94 Inwiefern lassen sich diese Zeilen als Träger einer ,doxologischen Ethikʻ verstehen? 5.2 ,Doxologische Ethikʻ in 1Petr 1,3–12 Mit der Eulogie von 1,3–12 sowie durch die Inklusion mit 4,11b und 5,11 macht uns 1Petr die Rede von einer ,doxologischen Ethikʻ leicht. Denn er macht die Paränesen, die er in der Eulogie des Briefes impliziert, ab 1,13 und dann im Laufe des gesamten Briefes explizit. Dadurch bestätigt sich m.E. weitgehend die Berechtigung der Rede von einer ,doxologischen Ethikʻ in 1Petr. Das äußerliche Scharnier für diesen Wechsel ist das konsekutive dio, (V.13), das unmittelbar zu expliziten Mahnungen im engeren Sinne – d.h. an dieser Stelle zu grammatikalischen Imperativen – führt: 95 dio. avnazwsa,menoi ta.j ovsfu,aj th/j dianoi,aj u`mw/n nh,fontej telei,wj evlpi,sate evpi. th.n ferome,nhn u`mi/n ca,rin evn avpokalu,yei VIhsou/ Cristou/. Dieser konsekutive Anschluss ist im gesamten Brief der einzige dieser Art, so dass er zur Begründung der nachfolgenden Paränese(n) als umso entscheidender zu sehen ist.96 Die thematisch grundlegende Funktion von 1,3–12 für den gesamten Brief ist durchaus schon etliche Male beobachtet worden. Pokorný/Heckel schreiben in ihrer „Einleitung in das Neue Testament“: „Die Eingangseulogie bildet den Ausgangspunkt für die theologische Grundlegung im ersten Hauptteil [sc. 90 91

SENIOR, 1 Peter (s. Anm. 86), 35. Vgl. zur Religions- und Traditionsgeschichte jetzt POPP, Kunst (s. Anm. 37), 135–

138. 92

Vgl. POPP, Kunst, a.a.O., 141–144. Vgl. den Exkurs in GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 38), 92–95. 94 Vgl. jetzt T.B. WILLIAMS, Ancient Prophets and Inspired Exegetes, in: du Toit (Hg.), Bedrängnis (s. Anm. 37), 233–241. 95 Vgl. deutlich ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 118; BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 73; FELDMEIER, Der Erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 66. 96 Dreimal im Brief werden alttestamentliche Zitate mit dio,ti eingeführt (1,16.24; 2,6). 93

Die Doxologien im 1. Petrusbrief

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1,13–2,10]“.97 Ähnlich bestimmt auch Kendall diese Verse als theologische Einleitung für die Paränesen im gesamten Brief: „The author’s introductory declarations concerning the nature of Christian existence [sc. 1,3–12] serve as the foundation for the exhortation that comprise the bulk of the epistle (1:13– 5:11).“98 Ihm schließt sich Jobes an: „Verse 13 forms a transition between the opening of the body of the letter […] and the exhortations of the letter, which are the necessary implications if Peter’s readers are to live consistently with who they are in Christ.“99 Freilich darf selbst in den unmittelbaren Folgeversen 1,13–16 nicht übersehen werden, dass sich der erste grammatikalische Imperativ nicht auf eine konkrete Handlungsanweisung bezieht, sondern auf die Hoffnung (evlpi,sate). Diese Hoffnung ist zudem als eine auf Gnade bestimmt (evlpi,sate evpi. th.n ferome,nhn u`mi/n ca,rin) und christologisch näher präzisiert (evn avpokalu,yei VIhsou/ Cristou/). 100 Ihr essentiell theologischer Gehalt ist daher mehrfach verdeutlicht101 und die Mahnungen, die durch die modifizierenden Partizipien avnazwsa,menoi und nh,fontej ausgedrückt werden, sozusagen doppelt indirekt formuliert.102 Auch in V.14f. sind die konkreten Mahnungen (mh. suschmatizo,menoi tai/j […] evpiqumi,aij) nur partizipiell beigeordnet. Die eigentliche (explizite) Aufforderung bezieht sich auf die Entwicklung zur Heiligkeit (kai. auvtoi. a[gioi […] genh,qhte) und wird ausdrücklich durch Verweis auf die Heiligkeit Gottes motiviert (kata. to.n kale,santa u`ma/j a[gion), hat allerdings

97

POKORNÝ/HECKEL, Einleitung (s. Anm. 48), 690. D.W. KENDALL, The Literary and Theological Function of 1 Peter 1:3–12, in: C.H. Talbert (Hg.), Perspectives on Peter, NABPRSS 9, Macon 1986, 103–120, 104; ebenso a.a.O., 105.108.110.113.114 u.ö. 99 JOBES, 1 Peter (s. Anm. 59), 109. Ähnlich BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 73; SENIOR, 1 Peter (s. Anm. 86), 40f. 100 Die Kombination dieser Motive wurde – nebst anderen Textbeobachtungen – lange Zeit mit Blick auf eine Taufparänese, die man in 1,3–4,11 erkannt zu haben meinte, gedeutet (zuerst bei R. PERDELWITZ, Die Mysterienreligion und das Problem des 1. Petrusbriefes, Gießen 1911, 5–18, insbes. 26). Von dieser Deutung hat man heute zunehmend Abstand gewonnen (für Lit. vgl. SCHMIDT, Kult und Ethik [s. Anm. 44], 232f. mit Anm. 29f.). 101 FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 67f., verdeutlicht den eschatologischen Gehalt. 102 Zur Grammatik vgl. BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 73f.: „Dieses imperativische Partizip ist nach sorgfältigen Untersuchungen wahrscheinlich die Imitation bzw. Reproduktion eines rabbinisch-hebräischen Sprachgebrauchs“ (74); JOBES, 1 Peter (s. Anm. 59), 108.110f., schlägt eine adverbielle Übersetzung vor („by being self-controlled“). Zum Inhaltlichen vgl. CHR.G. MÜLLER, „Umgürtet die Hüften eurer Gesinnung!“ (1Petr 1,13), in: du Toit (Hg.), Bedrängnis (s. Anm. 37), 143–166, 145–151; SCHMIDT, Kult und Ethik (s. Anm. 44), 242–245. 98

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durch die adverbielle Ergänzung evn pa,sh| avnastrofh/| deutlich ethische Ausrichtung.103 Jedenfalls wird man fraglos der exegetischen opinio communis folgen können und in 1,13ff. einen „ersten paränetischen Hauptteil“ des Briefes erkennen dürfen (z.B. w`j te,kna u`pakoh/j mh. suschmatizo,menoi tai/j pro,teron evn th/| avgnoi,a| u`mw/n evpiqumi,aij [1,14]; a[gioi evn pa,sh| avnastrofh/| genh,qhte [1,15; vgl. auch V.16]; evn fo,bw| to.n th/j paroiki,aj u`mw/n cro,non avnastra,fhte [1,17]; avllh,louj avgaph,sate evktenw/j [1,22]; avpoqe,menoi ou=n pa/san kaki,an kai. pa,nta do,lon kai. u`pokri,seij kai. fqo,nouj kai. pa,saj katalalia,j […] to. logiko.n a;dolon ga,la evpipoqh,sate [2,1f.]; w`j li,qoi zw/ntej oivkodomei/sqe [V.5]), der eben auf der Basis lanciert wird, die in der Eulogie V.3–12 formuliert ist. Zusätzlich zu der strukturell wichtigen Konjunktion dio, wirft die Eulogie 1,3–12 motivisch viele Anker in die folgenden Briefabschnitte aus und stellt so eine wichtige Grundlage für intratextuelle Vernetzung dar. Um gleich bei dem vielleicht wichtigsten der Einzelmotive dieser Art zu bleiben, nämlich bei dem der Hoffnung:104 Die evlpi,j zw/sa ist in 1,3 als Ziel bzw. Ergebnis der Wiedergeburt der Christen durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten benannt; von demselben Wortstamm ist in 1,13 – wie soeben ausgeführt – der erste Imperativ des ganzen Briefes gestellt.105 1,21 bildet über das Stichwort evlpi,j dann eine Inklusion mit 1,3; evlpi,j wird hier mit dem Glauben gekoppelt, beides ist auf Gott gerichtet.106 In 3,5 gilt evlpi.j eivj qeo,n als Charakteristikum der „heiligen Frauen“,107 und auch in 3,15 ist es die evlpi,j, die 103

Vgl. KENDALL, Function (s. Anm. 98), 108f.; T. KLEIN, Bewährung in Anfechtung. Der Jakobusbrief und der Erste Petrusbrief als christliche Diaspora-Briefe, NET 18, Tübingen/Basel 2011, 413; SCHMIDT, Heilig ins Eschaton (s. Anm. 26), 342, Anm. 1360. 104 „Der Auftakt greift auf das zentrale Stichwort der Hoffnung zurück […]. War die Hoffnung in 1,3ff. noch ganz Heilsgut, das den Gläubigen im Zuge ihrer ‚Neuzeugung aus Gnade‘ durch Gott zuteil wird, so wird das Hoffen jetzt auch zur Aufgabe: V.13 verlangt nun von den Adressaten die uneingeschränkte Ausrichtung ihres ganzen Daseins auf das von Gott verheißene Heil“ (FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus [s. Anm. 11], 66; vgl. auch die Strukturskizzen zu 1,13–21 in ELLIOTT, 1 Peter [s. Anm. 49], 355; sowie SCHMIDT, Kult und Ethik [s. Anm. 44], 243). 105 Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 356: „[…] resumes the theme of hope […] introduced in 1:3“. Auch in Bezug auf die folgenden Ausführungen: „V 13b verbindet drei der schon aus VV 1–12 bekannten zentralen Worte: Hoffnung (V 3), Gnade (als Äquivalent für Heil V 2) und ‚Offenbarung Jesu Christi‘ als Fluchtpunkte der Jetztzeit und Ziel der Hoffnung (V 7). Sie müssen an dieser Stelle nicht neuerdings erläutert werden […]“ (BROX, Erster Petrusbrief [s. Anm. 54], 75). 106 Vgl. ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 133f.; ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 356.379f.; F. VOUGA, „Auch Christus hat für uns gelitten“, in: du Toit (Hg.), Bedrängnis (s. Anm. 37), 205–222, 212–214. 107 ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 570, erinnert an den intratextuellen Zusammenhang: „These matriarchs thus typify […] not only holiness, but also the hope of the Christian

Die Doxologien im 1. Petrusbrief

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als „in“ den bedrängten Christen seiend bezeichnet wird und über deren Grund sie jederzeit Rechenschaft zu geben bereit sein sollen. 108 Dass die evlpi,j in 1,3 als zw/sa präzisiert wird, findet sein Echo im lo,goj zw/n in 1,23 und dem li,qoj zw/n bzw. den li,qoi zw/ntej in 2,4.5. Das Motiv der Auferstehung Jesu von den Toten (1,3) wird in 1,21 wieder aufgegriffen, komplementär dazu das der Wiedergeburt (ebenfalls 1,3) in 1,23 (unterstützt durch Zitat in V.24f.);109 das des Glaubens als Moment der Bewahrung, Bewährung und Zielorientierung (1,5.7.9) wird in 1,21 wiederholt, in 2,7 gelten die Briefadressaten beinahe titular als pisteu,ontej, was in 1,8 vorgeprägt war;110 in 5,9 gilt der Glaube nochmals ausdrücklich als Kraft, dem Teufel zu widerstehen. Achtemeier betont hier zu Recht den ethischen Aspekt: „The reference to faith serves almost as an inclusio with the earlier references to it (1:5, 7, 9, 21), and means here a personal or communal commitment of trust rather than a body of doctrine“.111 In 1,4 sind die ouvrano,i die Orte, in denen das unbefleckte und unverwelkliche Erbteil für die Gläubigen aufbewahrt wird, in 1,12, woher der Heilige Geist kommt; in 3,22 wird dies ergänzt durch die Bestimmung des Zieles von Jesu Himmelfahrt. Die swthri,a wird innerhalb der Eulogie gleich dreimal thematisiert: 1,5.9.10 gilt sie als eschatologisches Ziel der Gläubigen, ebenso später in 2,2 und 4,18. 112 Das Motiv der avpoka,luyij wird in 1,5 zuerst genannt, wird am Ende der Eulogie 1,12 wiederholt, dann in 1,13 gleich fortgeführt und (beinahe ebenfalls wie eine [unauffällige] Inklusion) in 5,1 abgerundet.113 Der Aufruf zur Freude und zum Jubel im Leid (1,6.8) wird in 4,13 durch avgallia/sqe bzw. carh/te avgalliw,menoi wieder aufgenommen (vgl. auch die Seligpreisungen 3,14; 4,14)114 und ebenso das Feuer der Erprobung von 1,7 in 4,12.115 Das letzte Element timh, der „kleine[n] Doxologie“ in 1,7 (eivj e;painon kai. do,xan kai. timh,n) ist – wie die gesamte Triade – Gott zugedacht, wird in 2,4 (de. qew/| evklekto.n e;ntimon) und 2,7 (u`mi/n ou=n h` timh,) aber auch auf Jesus Christus als lebendigen, kostwives and all of God’s people (1:3, 13, 21; 3:15)“. Vgl. auch SCHMIDT, Kult und Ethik (s. Anm. 44), 252f. 108 Vgl. ausführlich ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 628f.; sowie den Exkurs in FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 44–46. 109 Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 388; SCHMIDT, Mahnung (s. Anm. 39), 210f. 110 Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 343. 111 ACHTEMEIER, 1 Peter (s. Anm. 54), 342 (Kursivsetzung original); vgl. auch ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 859f.; FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (s. Anm. 11), 167 mit Anm. 632. 112 Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 402; HAHN, Theologie I (s. Anm. 50), 418f.; POPP, Kunst (s. Anm. 37), 147.155.157–159. 113 Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 821. 114 Vgl. den Exkurs in GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 38), 299f.; auch in ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 776; HAHN, Theologie I (s. Anm. 50), 418; kurz bei P OPP, Kunst (s. Anm. 37), 147f. 115 Vgl. POPP, Kunst (s. Anm. 37), 149.

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baren Eckstein im Kontext der Metapher des Gemeindebaus bezogen; 116 in 3,7 werden die Ehemänner aufgefordert, mit dieser timh, ihren Frauen zu begegnen.117 Das Motiv der Liebe zu Christus (1,8) wird im weiteren Verlauf des Briefes nicht mehr aufgenommen; stattdessen wird der Stamm avgap- im weiteren Verlauf mehrfach auf den zwischenmenschlichen Bereich übertragen (1,22; 2,17; 4,8; 5,14; zusätzlich die Anrede avgaphto,i in 2,11; 4,12).118 Und schließlich durchzieht die Rede von der ca,rij Gottes den gesamten Brief (1,2.10.13; 2,19.20; 3,7; 4,10; 5,5.10.12) durchgängig.119 Neben Einzelmotiven werden auch übergreifende Themen, die in der Eulogie genannt werden, später als für den Gesamtbrief wesentlich weiterentwickelt: Dass die Gläubigen in Bedrohung stehen, wird schon im gesamten Teilabschnitt 1,6–9 deutlich und prägt die gesamte Stimmung des Restbriefes (2,12.15.19–21; 3,9.13–17; 4,4f.12–14.16.19; 5,6–10).120 Gleiches gilt für die Gewissheit, dass das Leiden unausweichlich ist (4,12; 5,9), nur kurze Zeit andauern wird (1,6; 4,7; 5,10), dass die Gläubigen in dieser schwierigen Zeit aber bewahrt bleiben (1,4; 5,6f.10f.) und ihnen am Ende Rettung und Aufnahme in die Herrlichkeit Christi zugesagt ist (1,8f.; 4,14.16; 5,10). Auch die wichtige Doppelvorstellung vom Leiden und der Herrlichkeit Christi erscheint zum ersten Male in 1,11 und prägt das Leidensverständnis des Briefes (1,18–21; 2,21–24; 3,18–3,22; 4,13f.; 5,10).121 Eine nähere argumentationsanalytische Untersuchung zu Begründungsstrukturen der Ethik in 1Petr muss nun noch erweisen, inwiefern seine paränetischen Abschnitte jeweils durch diese Theologumena motiviert werden. Hierzu abschließend noch einige Hinweise: Kendall hat ein Modell vorgelegt, nachdem 1,13–2,10 als erster paränetischer Briefabschnitt allgemeine Implikationen aus 1,3–12 ziehen, wohingegen 2,11–4,11 ihrerseits diese Implikationen auf konkrete Situationen der Briefleser beziehen.122 Und in der Tat: In 1,13 haben wir auf das entscheidende einleitende dio, bereits hingewiesen. Ebenfalls wurde genannt, dass in demselben Vers die Betonung der Hoffnung auf Gnade ein wesentlich theologischer Motivator für die nachfolgende Parä116

Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 411.427f. Zur Metapher jetzt bei MÜLLER, „Umgürtet die Hüften …“ (s. Anm. 102), 157–160. 117 Vgl. POPP, Kunst (s. Anm. 37), 149–153. 118 Vgl. ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 386f.457.499f.750.771; POPP, Kunst (s. Anm. 37), 153f. 119 Vgl. POPP, „… den erwählten Fremden“ (s. Anm. 37), 198f.; K.M. SCHMIDT, Die Gnade des Leidens. Die Positionierung des Ersten Petrusbriefes im Gegenüber zum Epheser- und zum Jakobusbrief, in: du Toit (Hg.), Bedrängnis (s. Anm. 37), 320–324; sowie den Exkurs in GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 38), 197f. 120 Vgl. HAHN, Theologie I (s. Anm. 50), 418; POPP, Kunst (s. Anm. 37), 147. 121 Vgl. auch HAHN, Theologie I (s. Anm. 50), 412f.; SCHMIDT, Mahnung (s. Anm. 39), 213f.; VOUGA, „Auch Christus …“ (s. Anm. 106), 214–220. 122 Vgl. KENDALL, Function (s. Anm. 98), 110.

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nese darstellt; im Anschluss an die soeben besprochenen Einzelmotive aus der Eulogie erkennen wir nun auch noch das Motiv der avpoka,luyij Christi als doxologisches Motiv in gleicher Funktion. 123 Der Aufruf evn fo,bw| […] avnastra,fhte (1,17) wird mit dem Wissen um Christi Erlösung, der endzeitlich prophetischen Offenbarung sowie der Wiedergeburt unmittelbar anschließend unterlegt (V.18–23).124 Brox hat daher zu Recht darauf hingewiesen, dass die Aussagen „zum Festhalten an den verpflichtenden neuen Verhaltensweisen“ in 1,17–21 vergleichbar sind mit den „kosmisch-weltgeschichtliche[n] Dimensionen“ in 1,10–12, „um die Unverhältnismäßigkeit eventuellen Versagens oder leichtfertiger Ungläubigkeit zu demonstrieren gegenüber dem hohen Preis, den Gott für das Heil der Menschen einsetzte, und im Hinblick auf das Gericht, das er abhält“125 (vgl. insbesondere auch diV u`ma/j [1,20] mit oi-j avpekalu,fqh o[ti ouvc e`autoi/j u`mi/n de. dihko,noun [1,12]). Brox subsumiert: „Und dieser Gedanke steht hier (wie für die VV 10–12 in der Fortsetzung durch V 13) in paränetischen Diensten: Gottes Zuwendung verpflichtet die Geretteten.“126 Die Aufforderung avpoqe,menoi ou=n pa/san kaki,an kai. pa,nta do,lon kai. u`pokri,seij kai. fqo,nouj kai. pa,saj katalalia,j (2,1f.) wird durch das Wachsen zur swthri,a motiviert (2,2fin.). Ein grundlegend doxologisches Motiv motiviert auch die Mahnung parakalw/ w`j paroi,kouj kai. parepidh,mouj avpe,cesqai tw/n sarkikw/n evpiqumiw/n (V.2,11f.), denn sie ist dadurch motiviert, dass die e;qnoi am Tage der Heimsuchung schlussendlich doxa,swsin to.n qeo,n. Hier wird also das Doxologiemotiv mit dem eschatologischen der Begrenzung der jetzigen leidvollen Situation verbunden. Wie kraftvoll (bis hin zur – aus heutiger Sicht empfundenen – Anstößigkeit) eine solche doxologische Ethikbegründung sein kann, zeigen die Paränesen über Sklaven (2,18–25) und Frauen (3,1–6). Erstere wird dadurch begründet, dass es ca,rij sei, aus Gewissensgründen gegen Gott (sunei,desij qeou/, „mindful of God’s will“ 127 ) zu leiden (2,19f.); das ungerechtfertigte Leiden wird ausführlich mit demjenigen Christi verglichen (2,21–24) und damit das Motiv aus der Eulogie 1,11 wieder aufgegriffen – und dies, ohne gleich ausführlich und deutlich die zur Erwartung stehende Herrlichkeit zu thematisieren. In Zweiterer greift das Vorbild der ,heiligen Frauenʻ der Vorzeit, die evlpi,zousai eivj qeo,n, das wichtige Hoffnungsmotiv von 1,3.13 wieder auf; hier wird es genutzt, um es mit u`potasso,menai toi/j ivdi,oij avndra,sin zu parallelisieren. 123

Vgl. POPP, Kunst (s. Anm. 37), 153. Vgl. ebd. 125 Vgl. BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 78f., Zitate: ebd.; auch bei POKORNÝ/ HECKEL, Einleitung (s. Anm. 48), 697. 126 BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 83. 127 So die Übersetzung bei ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 511.519. 124

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Dass auch Männer „gleichermaßen“ (o`moi,wj) ermahnt werden, ihren Frauen mit timh, zu begegnen (3,7 vgl. 1,7; 2,4.7), wurde bereits weiter oben ausgeführt. 128 Es kommt an dieser Stelle als Motivator noch die Einsicht der Miterbenschaft der ca,rij Gottes hinzu (vgl. 1,2.10.13; 2,19.20; 4,10; 5,5.10.12). Die zu erwartende klhronomi.a euvlogi,aj ist dann auch in 3,9 Motivator für die vorgängigen Mahnungen zu gegenseitiger Barmherzigkeit und Vergeltungsverzicht. Das in diesem Vers doppelt aufgegriffene Stichwort euvloge,w bzw. euvlogi,a ist zwar gewiss nicht im spezifischen Sinne einer formalen „Eulogie“ gemeint: Hier empfängt nicht Gott, sondern empfangen Menschen euvlogi,a; Segensspender sollen das eine Mal (gläubige) Menschen sein (euvlogou/ntej), das andere Mal Gott (euvlogi,an klhronomh,shte). Dennoch wird man intratextuell mithören dürfen, dass die Briefempfänger hier sowohl aktiv als auch passiv, d.h. als Sender (euvlogou/ntej) und Empfänger (euvlogi,an klhronomh,shte) in den Kontext des göttlichen Segens mit einbezogen werden. Dass der euvlogi,a Gottes (sowohl Gen. subj. als auch obj.) auch ein aktives euvlogei/n seitens der angesprochenen Menschen entspricht, wodurch negativ qualifiziertes Handeln (kako,n, loidori,a, V.9a) konterkariert werden soll, wird auf diese Weise deutlich pointiert: Ganz im Sinne einer „doxologischen Ethik“ soll ethischer Orientierungsmaßstab für die Christen die – auf Zukunft hin ausgelegte (klhronomh,shte) – euvlogi,a Gottes, nicht die Reziprozität des gegenwärtig erlittenen Handelns anderer Menschen sein. Die Freude im Leid wird performativ durch die Seligpreisung 3,14 wieder aufgegriffen (so auch 4,14), das Aushalten im ungerechtfertigten Leiden wird in 3,17, dann auch wieder in 4,1 bestärkt, und auch hier wieder durch eine ausführliche Erinnerung an Jesu vergleichbar ungerechtfertigtes Leiden (4,18f.). Im Gegensatz zur Sklavenparänese jedoch wird an dieser Stelle auch mit deutlichen Worten seiner Verherrlichung gedacht (3,22). Dass die Dauer der Bedrängnisse kurz sein werde, war schon in den Gedankengang 1,6 eingefügt; dieses Motiv wird in 4,2 wieder aufgegriffen, um eine Mahnung gegen evpiqumi,ai avnqrw,pwn zu motivieren (4,2–6), sowie auch in 4,7 für eine Mahnung zu Gebet, Nächstenliebe und Gastfreundschaft. Die anschließende kurze Sprechethik (4,11a) schließt sodann den Kreis, indem sie zur ersten Schlussdoxologie 4,11b führt.

6. Schluss Wie bereits gesagt: Der Erste Petrusbrief bietet sich für die Rede von einer „doxologischen Ethik“ an. Neben den wortstatistischen Auffälligkeiten (s. 128

Zur ethischen Ausdeutung vgl. R. FELDMEIER, „Basis des Kontaktes unter Christen“. Demut als Schlüsselbegriff der Ethik des Ersten Petrusbriefes, in: du Toit (Hg.), Bedrängnis (s. Anm. 37), 257f.; KENDALL, Function (s. Anm. 98), 112.

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Abschnitt 1.) beginnt 1Petr mit einem ausführlichen, hoch aufgeladenen doxologischen Text (der Eulogie 1,3–12) und endet mit zwei klaren, prägnanten Doxologien (4,11; 5,11). Ein deutlich konsekutives Scharnier zwischen Eulogie und den folgenden, durchgängig paränetisch durchsetzten Briefabschnitten wird durch das markierte dio, in 1,13 gesetzt. Zusätzlich flicht der Schreiber des Briefes in die intensiv entwickelte Eingangseulogie eine beachtliche Anzahl theologischer Motive, durch die er später Paränesen motiviert bzw. aus denen er sie entwickelt (s. Abschnitt 5.): Die implizite, im konkreten Falle ,doxologischeʻ Ethik der Eulogie wird ab 1,13 explizit. Es lässt sich daher m.E. tatsächlich von einer ethischen Begründungsstruktur in 1Petr durch die Eulogie/die Doxologien sprechen. Um noch einmal Elliott zu zitieren: „The unit as a whole (1:3–12) […] sets a doxological tone for the letter as a whole and as a prologue introduces several of its major themes. […] And it provides a theological basis for the following exhortation […] which will expand on these ideas and detail their theological, Christological, moral, and social implications.“129

Dies lässt sich nach den vorgängigen Ausführungen nur bestätigen: Nach dem Feiern der Eulogie bis V.12 sollte sich der ,Doxologeʻ– so die Meinung des Verfassers von 1Petr – auf diejenige Weise verhalten, die er im weiteren Verlauf detaillierter ausführt. In diesem Sinne hat auch Jobes ihr Kapitel zu 1,3–12 mit „Doxology as the Basis for the Christian Life“ betitelt.130 Oder bei Brox: „Gottes Zuwendung [in der Eulogie, konkret 1,10–12] verpflichtet die Geretteten“. 131 Und dieser Zuwendung wird in 1Petr nicht nur informativ erinnert, sondern sie wird doxologisch gefeiert. Freilich können im Rahmen eines einzelnen Aufsatzes die ethischen Begründungsstrukturen für 1Petr nicht vollständig dargelegt werden. Die Rede von einer ,doxologischen Ethikʻ, d.h. von Doxologien (einschließlich der Eulogie), die sowohl strukturell als auch inhaltlich als Fundament für Paränesen genutzt werden, erweist sich in diesem Brief zwar als erstaunlich ertragreich, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es darüber hinaus noch weitere ethische Begründungsmuster in diesem Brief gibt. Das auffälligste davon ist gewiss der intensive Gebrauch von Schriftzitaten und -anspielungen (z.B. 1,16.24f.; 2,3.6–10.12.22.24f.; 3,10–12.14; 4,8.14.18; 5,5.8). 132 Ande129

ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 353. JOBES, 1 Peter (s. Anm. 59), 79. 131 BROX, Erster Petrusbrief (s. Anm. 54), 83. 132 Vgl. hierzu J. ÅDNA, Alttestamentliche Zitate im 1. Petrusbrief, in: M. Karrer/S. Kreuzer/M. Sigismund (Hgg.), Von der Septuaginta zum Neuen Testament. Textgeschichtliche Erörterungen, ANTF 43, Berlin/New York 2010, 229–248; C. BREYTENBACH, „Christus litt euretwegen“. Zur Rezeption von Jesaja 53 LXX und anderen frühjüdischen Traditionen im 1. Petrusbrief, in: DERS., Grace, Reconciliation, Concord. The Death of Christ in Graeco-Roman Metaphors, S.NT 135, Leiden/Boston 2010, 259–277 (früherer 130

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re – die Naherwartung, die Taufe, die Erwählung, die Verantwortung gegenüber der Außenwelt, die Imitatio Christi u.w.m. – sind bereits bei Schrage und Schulz, aktueller bei Waal Dryden, Klein, Noichl und Prostmeier erfasst.133 Demut als ethisches Grundmotiv in 1Petr bestimmt Feldmeier.134 Für eine ,doxologische Ethikʻ in 1Petr wagen wir zusammenzufassen: In das lobpreisende Feiern der Geschichte Gottes mit den Gläubigen in Vergangenheit (Jesu Leiden, Auferstehung und Verherrlichung), Gegenwart (der Zeit der gegenwärtigen Gemeinde) und Zukunft (der ewigen Herrlichkeit in Christus)135 sieht 1Petr eine Pragmatik des Lebens eingebunden. Die Lebensführung, die diesem ethischen Konzept entspricht, können wir auch ,praktizierte Doxologieʻ nennen: diakonei/n […] i[na evn pa/sin doxa,zhtai o` qeo,j […] (4,11).

Abdruck in: J. Frey/J. Schröter [Hgg.], Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 437–454); J.D.G. DUNN, Beginning from Jerusalem. Christianity in the Making II, Grand Rapids 2009, 1153–1157; ELLIOTT, 1 Peter (s. Anm. 49), 12–41; K.H. JOBES, The Septuagint Textual Tradition in 1Peter, in: W. Kraus/R.G. Wooden (Hgg.), Septuagint Research. Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures, SBL-Septuagint and Cagnate Studies 53, Atlanta 2006, 326–328; F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1. Petrusbrief. Untersuchungen zum Selbstverständnis einer christlichen Gemeinde an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert, SUPa.KT 1, Passau 1981, 212– 228. 133 Vgl. z.B. bei Waal DRYDEN, Theology and Ethics (s. Anm. 29), bes. 91–191; KLEIN, Bewährung (s. Anm. 103), 411–420; NOICHL, Ethische Schriftauslegung (s. Anm. 29), bes. 229–247; F.-R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle im ersten Petrusbrief, FzB 63, Würzburg 1990; SCHRAGE, Ethik (s. Anm. 22), 274–285; SCHULZ, Ethik (s. Anm. 24), 620–625. Kürzer auch bei POKORNÝ/HECKEL, Einleitung (s. Anm. 48), 696–698. 134 Vgl. Feldmeier, „Basis des Kontaktes …“ (s. Anm. 128), 257–261. 135 Vgl. EBENBAUER, Eingekehrt (s. Anm. 63), 67f.

Aufstehen, Auferstehung, Aufstand Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand als Beispiel doxologischer Ethik Ansgar Franz 1. Poesie und Kirchenkampf „Wie weinte ich, wenn ich die Hymnen und Gesänge hörte, die sanfttönenden Stimmen deiner Kirche. Die Melodien strömten in mein Ohr, und ihre Wahrheit flößte sich ein in mein Herz und erzeugte dort eine innige Frömmigkeit; die Tränen flossen und taten mir wohl“.1 – Wer hier bekennt, beim Anhören von Kirchenliedern in Tränen ausgebrochen zu sein, ist kein geringerer als der große Kirchenvater Augustinus, Bischof von Hippo und einer der scharfsichtigsten Theologen seiner Zeit. In den ,Bekenntnissenʻ seines bekanntermaßen ja sehr wechselvollen Lebens erinnert er sich auch der Jahre, die er in der oberitalienischen Metropole Mailand zubrachte und die für ihn zu den wichtigsten seines Lebens wurden, da hier seine Bekehrung und Taufe statthatten. In eben diesem Zusammenhang seiner Taufe berichtet er auch von jenen hochdramatischen Ereignissen des Jahres 386, welche die Geburtsstunde des westkirchlichen Hymnengesangs markieren sollten. Augustinus fährt in seinen ,Bekenntnissenʻ fort: „Es war nicht lange her, dass die Kirche von Mailand diese Art von Tröstung und Ermunterung [den Gesang von Hymnen] übernommen hatte. […] Vor einem Jahr erst oder wenig mehr hatte Justina, die Mutter des jungen Kaisers Valentinian, begonnen, Deinen Stellvertreter Ambrosius zu verfolgen aufgrund ihrer Häresie, zu der die Arianer sie verführt hatten.“2

Der Hintergrund dieser bis dahin kaum vorstellbaren Konfrontation zwischen Kaiserhof und Bischofshaus ist Folgender:3 Im Frühjahr 386 fordert der noch 1 Aug.conf. 9,6,14f. (CChr.SL 27,141f. Verheijen), hier und im Folgenden in der Übersetzung von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1988, 221f. 2 Ebd. 3 Die zwar nicht unparteiische, aber doch zuverlässige Hauptquelle zu den Ereignissen bietet Ambrosius selbst mit seinen Briefen Epistula 75 (21) Valentiniano (CSEL 82,3,74– 81 Zelzer), Epistula 75a (21a) Sermo contra Auxentium de basilicis tradendis (a.a.O. 82)

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unmündige, unter dem beherrschenden Einfluss seiner Mutter Justina stehende Kaiser Valentinian II. von Bischof Ambrosius eine kleine Kapelle, die sog. ‚Torbasilika‘ (basilica Portiana), um in ihr die Gottesdienste des bevorstehenden Osterfestes feiern zu können; offenbar besteht man auf gesonderte Liturgiefeiern, da der Kaiserhof nicht – wie der Bischof und die überwiegende Mehrheit der Mailänder Bevölkerung – dem Bekenntnis des Konzils von Nicäa folgt, sondern eher zu der auf dem Konzil unterlegenen arianischen Minderheitspartei tendiert. Ambrosius, unterstützt durch Proteste der Bevölkerung, verweigert die Herausgabe des Gotteshauses: Er könne nicht dem Kaiser geben, was nicht des Kaisers sei.4 Daraufhin spitzt sich die Lage zu. Der Hof installiert als Gegenbischof den Hofkaplan der Kaiserin, Mercurius, der sich nach dem arianischen Vorgänger des Ambrosius den Namen Auxentius gibt, und lässt kurzerhand eine der beiden Hauptkirchen Mailands, die basilica nova, beschlagnahmen und von Truppen umstellen. Wiederum reagiert die Mailänder Bevölkerung; es kommt zu Unruhen und Protestdemonstrationen, die Absperrungen vor der Kirche werden durchbrochen, das Volk strömt in die Kirche und besetzt sie. Ambrosius ist unter ihnen. „Des Nachts“, so schildert Augustinus weiter die Szene, „hielt das fromme Volk in der Kirche Wache, bereit, für Deinen Diener, den Bischof, zu sterben. […] Damals wurde das Singen von Hymnen und Psalmen nach der Weise der Ostkirchen eingeführt, um die Ermattung des Volkes vor Trauer und Überdruss zu verhindern.“5 – Angesichts der unnachgiebigen Haltung von Bischof und Bevölkerung und nicht zuletzt aufgrund des Verhaltens der Soldaten, die offen mit Ambrosius sympathisieren, muss der Kaiserhof kapitulieren; der Versuch, seine Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen, ist gescheitert. „Seither“, so schließt Augustinus seinen Bericht, „hat sich der Brauch (des Hymnengesangs) bis heute erhalten und ist von vielen, ja den meisten Kirchengemeinden der Welt übernommen worden“.6 Nach dem Bericht des Augustinus spielen in dieser dramatischen Auseinandersetzung die Hymnen eine entscheidende Rolle. Sie „trösten“ und „ermuntern“ die Gläubigen, verhindern eine „Ermattung vor Trauer und Überdruss“. Eine ganz ähnliche Einschätzung findet sich bei Ambrosius selbst und und Epistula 76 (20) sorori (a.a.O. 108–125). Die immer noch beste wissenschaftliche Darstellung liefert G. NAUROY, Le fouet et le miel. Le combat d’Ambroise en 386 contre l’arianisme milanais, RechAug 23 (1988), 3–86. Allgemein zu den Auseinandersetzungen des Mailänder Bischofs mit dem Arianismus vgl. neuerdings R. Passarella (Hg.), Ambrogio e l’Arianesimo, Studia Ambrosiana 7, Milano 2013; hierin zum ‚Kirchenstreit‘ G. VISONA, Topografia del conflitto ariano: Ambrogio e la basilica Porziana, 113–146; im Hinblick auf die Hymnen A. FRANZ, Confessio trinitatis, quae cottidie totius populi ore celebratur. L’antiarianesimo negli inni di Ambrogio, in: Passarella (Hg.), Ambrogio, a.a.O., 99–112. 4 Epistula 76 (20),19 (CSEL 82,3,118f. Zelzer). 5 Confessiones 9,7,15 (CChr.SL 27,141f. Verheijen). 6 Ebd.

Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand

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seinen Gegnern. In seinem Brief an Kaiser Valentinian beigegebenen Sermo contra Auxentium de basilicis tradendis schreibt der Mailänder Bischof: „Man sagt, das Volk sei behext durch die Zauberweisen meiner Hymnen, und ich leugne das auch nicht. Eine große Zauberweise ist das, und nichts ist mächtiger. Was nämlich sollte mächtiger sein als das Bekenntnis der Dreieinigkeit, die täglich durch den Mund des Volkes im Gottesdienst besungen wird? Alle wetteifern darin, den Glauben zu bekennen, und alle wissen, in Versen den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist zu verkünden. Dadurch sind alle Lehrende geworden, die vorher kaum Schüler sein konnten.“7

Bei den Hymnen des Ambrosius handelt es sich also um einen der wenigen Fälle der Antike, bei denen die Wirkung von Texten durch zeitgenössische, literarisch voneinander unabhängige Zeugnisse beschrieben wird. In unserem Fall stimmen beide Zeugnisse darin überein, dass die für die gottesdienstliche Doxologie geschaffenen Hymnen (auch) außerhalb der Liturgie eine enorme Motivation zum Widerstand sind gegen als Unrecht empfundene kaiserliche Ansprüche. Was sind das für Hymnen?

2. Der Morgenhymnus Aeterne rerum conditor Man hat aufgrund dieser Ereignisse im Zusammenhang mit der Einführung der Hymnen in den Dichtungen des Ambrosius gerne antiarianische Protestlieder, Durchhaltepropaganda in verzweifelter Lage oder gereimte Dogmatik über den rechten Glauben sehen wollen, aber zu Unrecht. Die ca. 14 Hymnen, die wir von Ambrosius kennen, weisen natürlich ‚tröstliche‘ und ‚ermunternde‘, gegen die arianische Lehre gerichtete und lehrhafte Elemente auf, aber längst nicht mit dem nach ihrer Einführungsgeschichte zu erwartenden Impetus. Allein schon die Tatsache, dass die Hymnen noch zu Lebzeiten Augustins schnell über Mailand (mit seinen spezifischen ‚Kirchenkampf‘-Problemen) hinaus in fast allen Kirchen verbreitet waren und dass diese Lieder auch heute noch (!) regelmäßig gesungen werden, zeigt, dass sie gegen räumliche und zeitliche Paradigmenwechsel resistent sind, ihre große Kraft also woanders zu suchen ist. Denn es ist nicht der Kirchenkampf, sondern das tägliche Gebet, aus dessen Spiritualität die Lieder schöpfen und für das sie geschaffen sind. Besonders deutlich wird dies an dem wohl schönsten Ambrosius-Hymnus, dem Lied ,zum Hahnenschreiʻ Aeterne rerum conditor. Schon die in den älteren 7 Epistula 75a (21a),34 (CSEL 82,3,105 Zelzer): „Hymnorum quoque meorum carminibus deceptum populum ferunt, plane nec hoc abnuo. Grande carmen istud est quo nihil potentius; quid enim potentius quam confessio trinitatis, quae cottidie totius populi ore celebratur? Certatim omnes student fidem pateri, patrum et filium et spiritum sanctum norunt versibus praedicare. Facti sunt igitur omnes magistri, qui vix poterant esse discipuli.“

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Handschriften vermerkte Rubrik ,ad galli cantumʻ verweist auf die enge Verwobenheit des Stückes mit der Tagzeitenliturgie. In Anlehnung an Mk 13,55: „Seid wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen“ ist die Zeit des Hahnenschreis für die Christen der Ort des persönlichen oder gemeindlichen Morgengebetes. Ambrosius macht diese, zunächst äußerliche, Zeitangabe nun zum Inhalt, indem er die Komposition seines Liedes um die Erzählung von jenem anderen, noch berühmteren Hahn der Bibel webt, der im Hof des Hohenpriesters dem Petrus kräht (Lk 22,54–62).8 1,

1 Aeterne, rerum conditor, 2 noctem diemque qui regis 3 et temporum das tempora 4 ut alleves fastidium,

Ewiger, der Dinge Schöpfer, der du Tag und Nacht regierst, und den Zeiten die Zeiten gibst, damit du den Überdruss erleichterst,

2,

1 praeco diei iam sonat, 2 noctis profundae pervigil, 3 nocturna lux viantibus 4 a nocte noctem segregans.

der Herold des Tages singt schon, der Wächter der tiefen Nacht, nächtliches Licht den Wandernden, von der Nacht die Nacht trennend.

3,

1 Hoc excitatus lucifer 2 solvit polum caligine, 3 hoc omnis errorum chorus 4 vias nocendi deserit,

Durch diesen aufgeweckt, löst der Morgenstern das Himmelgewölbe von der Finsternis, durch diesen verlässt die ganze Schar der Irrungen die Wege des Schädigens,

4,

1 hoc nauta vires colligit 2 pontique mitescunt freta, 3 hoc ipse petra ecclesiae 4 canente culpam diluit.

durch diesen sammelt der Seemann Kräfte, und des Meeres Stürme werden besänftigt, durch diesen Gesang wäscht selbst der Fels der Kirche die Schuld ab.

5,

1 Surgamus ergo strenue: 2 gallus iacentes excitat, 3 et somnolentos increpat, 4 gallus negantes arguit.

Stehen wir also entschlossen auf: Der Hahn weckt die Liegenden und schilt die Schlaftrunkenen, der Hahn klagt die Verleugner an.

8 Die lateinische Textfassung folgt der kritischen Edition des Hymnus bei J. FONTAINE (Hg.), Ambroise de Milan, Hymnes. Texte établi, traduit et annoté, Paris 1992, 149.151. Lediglich in v 7,1 wird zusammen mit der für die Überlieferung der Ambrosius-Hymnen bedeutsamen Tradition der Zisterzienser nicht „labantes“ (wie bei Fontaine), sondern „labentes“ gelesen. Die deutsche Version versteht sich als eine möglichst wortgetreue Arbeitsübersetzung. Vgl. zu dem Hymnus hier und im Folgenden A.A. HÄUSSLING, Heute die Hymnen von gestern singen? Das Fallbeispiel des Laudeshymnus Aeterne rerum conditor des Ambrosius, in: M. Klöckener/H. Rennings (Hgg.), Lebendiges Stundengebet. Vertiefung und Hilfe (FS L. Brinkhoff), Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 1988, 316–341; A. FRANZ, Tageslauf und Heilsgeschichte. Untersuchungen zum literarischen Text und liturgischen Kontext der Tagzeitenhymnen des Ambrosius von Mailand, PiLi 9, St. Ottilien 1994, 147– 275.

Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand

6,

1 Gallo canente spes redit, 2 aegris salus refunditur, 3 mucro latronis conditur, 4 lapsis fides revertitur.

Beim Hahnenruf kehrt die Hoffnung zurück, den Kranken wird wieder Heilung eingegossen, der Dolch des Räubers wird verborgen, den Gefallenen wird der Glaube zurückgegeben.

7,

1 Iesu, labentes respice 2 et nos videndo corrige, 3 si respicis, lapsus cadunt 4 fletuque culpa solvitur.

Jesu, blicke die Fallenden an und uns anblickend richte uns auf. Wenn du blickst, fällt, was zu Fall bringt, und durch Weinen wird die Schuld gelöst.

8,

1 Tu lux, refulge sensibus 2 mentisque somnum discute, 3 te nostra vox primum sonet 4 et vota solvamus tibi.

Du Licht, leuchte den Sinnen auf und des Geistes Schlaf vertreibe, dir singe als erstes unsere Stimme und Lobopfer wollen wir dir einlösen.

407

3. Naive Naturidylle oder ornithologisches Lehrstück? Doch abgesehen von dieser für den Bibelkundigen unschwer erkennbaren biblischen Parallele zu der Verleugnungsszene in Lk 22 mag man sich verwundert fragen, wovon diese geistliche Dichtung eigentlich spricht. Ist es die Beschreibung einer Naturidylle, die „unvergleichlich schöne Schilderung des aufdämmernden, vom Hahnenschrei verkündeten Morgens“ – wie Guido Maria Dreves gegen Ende des 19. Jahrhunderts über den Hymnus schrieb9 –, die in „kurzer, markiger und hochpoetischer Weise“ die Wirkungen des Hahnenrufs rühmt, aber dabei naiv die Möglichkeiten des simplen Vogels übertreibt?10 Oder ist das Lied ein ornithologisches Lehrgedicht, eine Art antikes Brehms Tierleben, das mit großem Fleiß all die Eigenschaften des Vogels auflistet, die seine Zeitgenossen mit dem Hahn verbinden? Tatsächlich, überprüft man den Hymnus in dieser Hinsicht, so liefert er wirklich ein reiches Kompendium all jener mythologischen und magischen Vorstellungen, die sich in der Antike über den Hahn finden lassen, angefangen bei den altpersischen Schriften des Awesta über die griechischen Komödien bis hin zu der Naturgeschichte des Plinius. 11 Danach galt der Hahn als Nachtwache, der 9 G.M. DREVES, Des Heiligen Ambrosius Lied vom Hahnenschrei, StML 51 (1896), 86–97, 88. 10 So mit dem Vorwurf der Naivität G. MOLON, Inno del mattino Ad galli cantum, Diocesi di Milano 4 (1963), 200–205, 205, und W. FAUTH, Der Morgenhymnus Aeterne rerum conditor des Ambrosius und Prudentius Cath 1 (ad galli cantum). Eine synkritische Betrachtung mit Blick auf vergleichbare Passagen der frühchristlichen Hymnodie, JbAC 27/28 (1984/85), 97–115, 114. 11 Belegstellen für die im Folgenden angeführten Attribute des Hahnes bei FRANZ, Tageslauf (s. Anm. 8), 161–174.

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auch inmitten der Nacht kräht (vgl. V.2,2 des Hymnus: Wächter der tiefen Nacht); als Sternkundiger, da er ja die Zeit am Stand der Gestirne ablesen konnte (vgl. V.3,1f.: Der Hahn weckt den Morgenstern); als Zeitmesser, nach dessen Krähen die Abschnitte des nächtlichen Wachdienstes beim Militär eingeteilt wurden (vgl. V.2,4: er trennt von der Nacht die Nacht) und als Tagankündiger (vgl. V.2,1: Herold des Tages); wichtig war auch seine Funktion als Vertreiber der Nachtgespenster, denn beim Hahnenschrei müssen die bösen Geister fliehen (vgl. V.3,3f.) – ein Motiv, das sich entlang der Jahrhunderte durchhält bis in die zeitgenössische Literatur hinein und sich in Shakespeares Hamlet ebenso findet wie in Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita und Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel.12 Schließlich galt der Hahn als dem Ärztegott Äskulap geweihter Heilvogel, der sich um die Gesundheit der Menschen kümmert (vgl. V.6,2: Beim Hahnenschrei wird den Kranken Heilung eingegossen) – so hatten viele ÄskulapHeiligtümer einen Hahn als Wappentier, und bekannt sind die berühmten letzten Worte des Sokrates, der, nachdem die Wirkung des Schierlingsbechers schon eingesetzt hat, sich an seinen Freund wendet und sagt: „Wir schulden dem Äskulap noch einen Hahn, o Kriton. Bringt das bitte in Ordnung und vergeßt es nicht.“13 All diese antiken Attribute des Hahnes finden sich also auch im Hymnus, aber es ist dies keineswegs die einzige und schon gar nicht die wichtigste Verständnisweise des Liedes.

4. Der mystische Hahn Deutlich ist im Hymnus von zwei Hauptakteuren die Rede: Christus, der in der ersten Strophe als „Schöpfer“ und in den beiden Schlussstrophen als „Jesus“ angesprochen wird – wobei entgegen modernem Glaubensbewusstsein hier dieselbe göttliche Person gemeint ist, nämlich der Sohn, der Logos, das Wort, durch das alles geschaffen wurde, was geschaffen ist (vgl. Joh 1,1–3) – und der Hahn, von dem der Mittelteil des Hymnus (Str. 2–6) spricht. Weiterhin weist der Hymnus vier Motivfelder auf, von denen drei antithetisch strukturiert sind, also auf Gegensätzen beruhen, nämlich ‚Licht vs. Dunkel‘, ‚schlafen vs. wachen‘, ‚Schuld vs. Vergebung‘ und als viertes ‚blicken und singen‘. Untersucht man die Zuordnung der Akteure zu den Motivfeldern, so

12 Siehe etwa den Prolog des Horatio in Hamlet 1,1f; M. BULGAKOW, Der Meister und Margarita, nach der mir vorliegenden dtv-Taschenbuchausgabe München 1980, 155f.; U. ECO, Il Pendolo di Foucault, Milano 1988, 242. Textbelege bei FRANZ, Tageslauf (s. Anm. 8), 166f. 13 Plato Phaid. 66, hier in der Übersetzung von F. Dirlmeier (Tusculum-Bücherei), München 1949.

Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand

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zeigt sich, dass ‚Christus‘ und ‚Hahn‘ jeweils in analoger Weise charakterisiert werden: – ‚Licht vs. Dunkel‘: Christus ist als der Schöpfer aller Dinge auch der Herrscher über Nacht und Tag (V.1,2); ihm unterstehen beide, Licht und Dunkel. Er selbst aber ist „Licht“, das den Sinn erleuchtet (V.8,1). Ebenso ist der Hahn in beiden Bereichen präsent: Bereits seine erste Nennung im Text bezeichnet ihn als „Herold des Tages“ und „Wächter der Nacht“ (V.2,1f.); das dritte Attribut vereinigt diese beiden Licht-Dunkel-Elemente zu dem fast oxymoronhaften Begriff nocturna lux: Auch er ist – wie Christus – „Licht“, nämlich „nächtliches Licht den Reisenden“ (V.2,3). – ‚schlafen vs. wachen‘: Die Funktion des Hahnes ist es, Schlafende zu wecken (V.5,2f.); doch der Hymnus bittet auch Christus um diesen Dienst: mentisque somnum discute (V.8,2). – ‚Schuld vs. Vergebung‘: Mit den Begriffen lapsus und culpa sind wiederum die Tätigkeiten beider Akteure, Christi und des Hahns, beschrieben: Auf den Blick Jesu hin fällt das, was zu Fall bringt (V.7,3: lapsus cadunt) und wird die Schuld gelöst (V.7,4: culpa solvitur); beim Hahnenschrei kehrt den Gefallenen der Glaube zurück (V.6,4: lapsis fides revertitur) und wäscht der Fels der Kirche seine Schuld ab (V.4,3f.: hoc ipse petra ecclesiae canente culpam diluit). – ‚blicken und singen‘: Lediglich auf dem Motivfeld der Sinnesäußerungen sind Christus und Hahn unterschieden: Das Hauptmerkmal Christi ist sein Blick, das des Hahns sein Gesang. Dreimal wird darum gebeten, dass Christus blicken möge (V.7,1–3: respice, videndo, si respicis), dreimal singt, oder wie wir sagen, kräht14 der Hahn (V.2.1; 4,3; 6,1: sonat, hoc canente, gallo canente). Spätestens hier wird deutlich, dass die einzige Unterscheidung zwischen ‚Christus‘ und ‚Hahn‘, die der Hymnus trifft, in derselben biblischen Erzählung gründet und beide dadurch ausdrücklich parallelisiert. Im lukanischen Passionsbericht ereignet sich nach der dritten Verleugnung des Petrus im Hof des Hohenpriesters Folgendes: „Im gleichen Augenblick, noch während er redete, krähte ein Hahn. Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich“ (Lk 22,60–62). Überblickt man die vier Motivfelder, so lässt sich feststellen: Der Hymnus beschreibt den Hahn und Christus als in Funktion und Wirkung identisch; beide ermahnen zu sündenvergebender Reue, beide wecken aus dem Schlaf, 14

Wir sagen zwar, der Hahn ‚krähe‘ und empfinden das nicht als sonderlich melodisch, doch liegt auch dem deutschen Wort ‚Hahn‘ etymologisch die Bedeutung ‚Morgensänger‘ zugrunde; es hat die gleiche indogermanische Wurzel (‚*qan‘) wie lateinisch ‚canere‘ (singen), ‚canorus‘ (wohltönend). Unsere romanischen Nachbarsprachen bleiben daher bei der Anschauung, der Hahn ‚sänge‘ („le coq chante“, „il gallo canta“).

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beide sind Licht. Der Hymnus konstituiert eine semantische Identität zwischen beiden: Der Hahn ist kein anderer als Christus selbst. Diese Identifizierung ist an sich nicht neu. Sie findet sich auch vor und nach Ambrosius in der christlichen Tradition: Der Prediger Christus wird als Hahn symbolisiert, der die Menschen aus dem Schlaf der Sünde und des Todes weckt. Eben diese Vorstellung steht auch hinter dem im Jahre 820 zum ersten Mal bezeugten Brauch, Hähne auf Kirchturmspitzen anzubringen: Es sind Christussymbole.15 Ambrosius selbst bezeichnet in einer Predigt am Gründonnerstagabend, an dem in Mailand die Büßer wieder in die Kirche aufgenommen wurden, Christus als iste gallus mysticus, als „jener mystische Hahn“, der die Sünder in der liturgischen Feier zur Umkehr ruft und den Reuigen die Schuld vergibt.16 Das Bemerkenswerte an dem Hymnus ist jedoch, dass hier nicht nur einzelne Motive, sondern alle Aussagen über den Hahn mehrdeutig zu verstehen sind und auf verschiedenen Sinnebenen einen zwar unterschiedlich dichten, aber doch in sich stimmigen Gesamtzusammenhang erschließen. Das die vorhergehende Tradition Übersteigende ist, dass im Hymnus Vers für Vers die Aussagen über den Hahn transparent gemacht werden auf das Wirken des irdischen, vorösterlichen Jesus hin (wie es die Evangelien berichten) und – davon nicht zu trennen – auf das je gegenwärtige Wirken des erhöhten Christus hin (wie es besonders die Schriften des Paulus bezeugen). Deutlich wird dies schon bei der ersten Nennung des Hahns im Hymnus, zu Beginn der Strophe 2: Der Hahn ist der praeco diei, der Herold, Verkünder, Zeuge des Tages. Untersucht man, angeleitet durch die in der Struktur des Hymnus selbst begründete Identifizierung von Hahn und Christus, die biblischen und patristischen Verständnisweisen des Begriffs ‚Tag‘, so zeigt sich Folgendes: Nach Hebr 8,6f. verkündet der irdische Jesus jenen von Jeremia (31,31f.) verheißenen „Tag, an dem Gott einen neuen Bund mit dem Menschen schließt“. Analoges verzeichnet Lukas in der Szene, in der Jesus in der Synagoge von Nazareth aus dem Buch Jesaja vorliest: Der hier verheißene „Tag der Vergeltung“ (dies ultionis; Jes 61,3) habe sich mit der Verkündigung Jesu erfüllt (Lk 4,18–21). Diese biblische Verwendung des Begriffs ‚Tag‘ eröffnet den Kirchenvätern die Möglichkeit – und die Predigten speziell des Ambrosius sind voller Beispiele dafür – das gesamte Erlösungswerk Christi unter dem Begriff ‚Tag‘ zusammenzufassen. Der von Jeremia und Jesaja angekün15 Vgl. L. KRETZENBACHER, Der Hahn auf dem Kirchturm. Sinnzeichen, Bibelexegese und Legende, Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 9 (1958), 194–206; dass diese Symbolik schon im Hochmittelalter nicht mehr verstanden wurde, zeigt ein von A. GIRARD, Le coq, personnage de l’histoire, Lyon 1976, 90, zitiertes „poème antérieur au XIIe siècle“: „Multi sunt presbyteri qui ignorant quare / Super domum Domini gallus solet stare.“ 16 Vgl. Hexameron 5,90 (CSEL 31,1,203 Schenkl).

Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand

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digte ‚Tag‘ ist mit seiner Menschwerdung gekommen. Der praeco diei des Hymnus meint damit den auf Erden die Erlösung verkündenden Christus. Die Briefe des Paulus nuancieren diese Bedeutung des Begriffs ‚Tag‘: „Ihr alle seid Söhne des Lichts und Söhne des Tages. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis. Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein“ (1Thess 5,5). „Bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlafe […] Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tage, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht“ (Röm 13,11f.).

Der ‚Tag‘ ist hier die durch Tod und Auferstehung Jesu eröffnete und mit dem Beistand des erhöhten, seiner Gemeinde allezeit gegenwärtigen Herrn zu ergreifende Möglichkeit, die ‚Nacht‘, den Machtbereich der Sünde, zu verlassen und als Kinder des ‚Tages‘ zu leben. Der praeco diei ist nach diesem Verständnis der erhöhte Christus, der den ‚Tag‘, das ist nach dem Epheserbrief „lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit“ (Eph 5,9), verkündet und die Christen aus dem Schlaf der Sünde weckt. Und schließlich kann auch der Tag des Gerichts im Neuen Testament einfach nur „jener Tag“ oder „Tag des Herrn“ genannt werden (Mt 24,19f.; 1Kor 5,5 u.ö.). Die Hymnenverse sind damit auch offen für ein eschatologisches Verständnis: Der praeco diei ist der wiederkommende Christus, der den Tag des Gerichts einberuft. Diese Verständnismöglichkeiten erinnern deutlich an das Prinzip des sog. ,vierfachen Schriftsinnsʻ, das bereits im Neuen Testament Anwendung findet und über Origenes bis weit in das Mittelalter hinein die Bibelauslegung bestimmt.17 Seine klassische Formulierung findet es in dem Distichon: Litera gesta docet, quid credas allegoria, Moralis quid agas, quo tendas anagogia. (Der Buchstabe lehrt, was geschah, was du glauben sollst, die Allegorie; die Moral, was du tun sollst, wohin du streben sollst, die Anagogie.)

Ordnet man die Deutungsmöglichkeiten von V.2,1 praeco diei iam sonat nach diesem Modell, so ergibt sich folgendes Verständnis: 1. Der buchstäbliche (literale) Sinn: Der Hahn ist der Vogel, der „bonus cohabitator“, wie Plinius ihn in seiner Naturgeschichte nennt,18 ein ‚guter

17 Vgl. die immer noch grundlegende Arbeit von H. DE LUBAC, Exégèse Médiévale. Les quatre sens de l’écriture, Bd. 1,1 und 1,2, Paris 1959; Bd. 2,1, Paris 1961; Bd. 2,2, Paris 1964; DERS., Geist aus der Geschichte. Das Schriftverständnis des Origenes, Einsiedeln 1968; speziell zu Ambrosius vgl. C. JACOB, ‚Arkandisziplin‘, Allegorese, Mystagogie. Ein neuer Zugang zur Theologie des Ambrosius von Mailand, Frankfurt 1990. 18 Plin.nat.hist. 10,21,46.

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Hausgenosse‘ des Menschen, der den bevorstehenden Tag verkündet und aus dem (physischen) Schlaf weckt. 2. Der mystische (allegorische) Sinn: Der Hahn ist der auf Erden predigende Christus, der den Tag der Erlösung verkündet und die Menschen in einen neuen Bund mit Gott führt. 3. Der moralische (tropologische) Sinn: Der Hahn ist der in seiner Kirche gegenwärtige, erhöhte Christus, der die Erlösten aus dem Schlaf der Sünde weckt und sie aufstehen heißt. 4. Der eschatologische (anagogische) Sinn: Der Hahn ist der wiederkommende Christus, der den Tag des Gerichts einberuft und die Menschen aus dem Schlaf des Todes weckt und zur Auferstehung ruft. Wie sich diese unterschiedlichen Lesarten innerhalb des Hymnus konkretisieren können, soll im Folgenden an den Zwillingsstrophen 3 und 4 sowie an Strophe 5 erprobt werden. Die Strophen 3 und 4 bilden einen engen syntaktischen und semantischen Zusammenhang. In vier, jeweils zwei Verse umfassenden und mit hoc eingeleiteten Einheiten wird die Tätigkeit des Vogels am Ende der Nacht beschrieben. Die formale Gleichheit der vier Doppelverse wird kontrastiert mit der inhaltlichen Steigerung vom Allgemeinen zum Besonderen, die die vier Einheiten durchläuft: Der Spannungsbogen der Verse erstreckt sich von dem (räumlich entfernten) Morgenstern am Nachthimmel und den (numerisch unbestimmten) umherirrenden Dämonen über den (einzelnen, aber anonymen) Seefahrer bis schließlich zu dem (konkreten, geschichtlich einzuordnenden) ,Fels der Kircheʻ Petrus. Mit der Bezeichnung des Apostels als Fels werden darüber hinaus die drei großen Weltbereiche Himmel, Meer und Erde repräsentiert. Die Wirkungen des Hahnenrufs erstrecken sich damit auf die gesamte Schöpfung. (a) V.3,1f.: „hoc excitatus lucifer / soluit polum caligine“ – Durch diesen (den Hahn) geweckt, löst der Morgenstern das Himmelsgewölbe von der Finsternis Die erste Wirkung des Hahnenschreis knüpft an die traditionelle Beschreibung des Tieres als Sternkundiger an: Durch ihn ‚erwacht‘ der Morgenstern, der das Himmelsgewölbe von der Finsternis löst. Der erste Dienst des Hahnes als Weckrufer hat kosmische Dimensionen. Auf biblischem Hintergrund erinnert die Rede vom „Morgenstern“ an den 2. Petrusbrief, wo es von dem Wort der Propheten heißt, es sei wie eine „Lampe, die an einem finsteren Ort leuchte, bis der Morgenstern in unseren Herzen“ aufgehe (2Petr 1,19). Moderne Exegese kann das Aufgehen des Morgensterns in den Herzen deuten als „Bild für die ‚Erkenntnis unseres

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Herrn Jesus Christus‘“.19 Folgt man dieser Deutung, so beschreiben die Hymnenverse auf der allegorischen Ebene den predigenden Christus (d.i. der rufende Hahn), der die Menschen zum Glauben und zur Erkenntnis führt. Dieser Glaube erlöst von der Finsternis der todbringenden Gottesferne. – Im tropologischen Sinn schließen sich die Verse eng an die Bezugsstelle 2Petr 1,19 an. Durch das Wort der Propheten spricht der erhöhte Herr selbst zu seiner Gemeinde und lässt den ‚Morgenstern‘, das ist die Erkenntnis der Erlösung, in den Herzen der Gläubigen aufgehen. (b) V.3,3f.: „hoc omnis errorum chorus / uias nocendi deserit“ – durch diesen verlässt die ganze Schar der Irrungen die Wege des Schädigens „Error“, der Irrtum, die Sünde, kann im biblischen und patristischen Sprachgebrauch auch personifiziert als Götze, Dämon, böser Geist verwendet werden; typisch für die Alte Kirche ist auch die häufige Verwendung des Begriffs im Sinne von ‚Irrlehre‘, und zwar sowohl für die Irrlehren der Häretiker als auch für die der Heiden. – Auf der literalen Ebene knüpfen die Verse an die traditionelle Vorstellung der beim Hahnenschrei fliehenden Dämonen an, die von ihren nächtlichen Nachstellungen ablassen müssen. – Versteht man den Hahn auf der allegorischen Ebene als den auf Erden predigenden Christus, so bekommen die Verse einen zwar nicht sprachlichen, aber doch unmittelbar thematischen Bezug zu den in den Evangelien geschilderten Dämonenaustreibungen; das Krähen des Hahnes wird so zum Sinnbild für die den unreinen Geistern geltende Drohrede Jesu (Mt 17,18; Lk 9,42). – Auf der tropologischen Ebene wendet sich der erhöhte Christus durch die Predigt seiner Zeugen gegen die Irrlehren der Heiden, aber auch die der Arianer. Wenn man sich erinnert, unter welch dramatischen Umständen die Hymnen in Mailand eingeführt wurden, wird die Relevanz dieses Bildes sofort deutlich. – Aus der Blickrichtung der endzeitlichen Erfüllung (sensus anagogicus) schließlich lassen sich die Verse auf das Machtwort des endzeitlichen Richters deuten, mit dem den teuflischen Nachstellungen endgültig Einhalt geboten wird. (c) V.4,1f.: „hoc nauta uires colligit, / pontique mitescunt freta“ – durch diesen sammelt der Seemann Kräfte, und des Meeres Stürme werden besänftigt Die Vorstellung, dass der Hahnenschrei auch die Meeresstürme stillt, ist bei antiken Autoren, soweit ich sehen kann, nicht bezeugt. Ein literales Verständnis, das in dem Hahn den natürlichen Vogel sieht, ist aus den vorhandenen Quellen nicht zu belegen; darüber hinaus scheint dieses Verständnis für die Erstsänger des Hymnus, für die Einwohner des binnenländischen, weit ab 19

W. GRUNDMANN, Der Brief des Judas und der 2. Brief des Petrus, ThHK 15, Berlin 1974, 85.

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vom Meer gelegenen Mailand, weniger relevant. – Umso deutlicher ist aber die allegorische Sinnebene, die auf die „Stillung des Seesturms“ anspielt (Mt 8,23–27): „Da traten die Jünger auf Jesus zu und weckten ihn; sie riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde! Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen? Dann stand er auf, drohte den Winden und dem See, und es trat völlige Stille ein.“

Auf der tropologischen Ebene verweisen die von Ambrosius verwendeten Begriffe ‚Seefahrer‘, ‚Meer‘ und ‚Sturm‘ auf die in der Alten Kirche beliebte Meer- und Schiffssymbolik, aus der bis ins nautische Detail eine konzise Bildtheologie entwickelt wurde: Das Leben ist eine Meerfahrt, das Meer bedeutet die unter der Herrschaft Satans stehende Welt, das Schiff die Kirche, der Mast des Schiffes das Kreuz Christi, die Ruderer die Apostel usw. Der Patrologe Hugo Rahner ist in seiner spannenden Studie „Antenna Crucis“ dieser Bildtheologie en détail nachgegangen.20 Die Stürme, die der Christ auf seiner Fahrt in den Hafen Gottes zu bestehen hat, sind sowohl das Toben und Getose der Häresien als auch das Aufwallen der inneren Leidenschaften und Versuchungen. Von beiden droht dem, der nicht auf dem Schiff der Kirche bleibt, ein Versinken in den Fluten des teuflischen Meeres. Der dieses Meeresbrausen zum Verstummen bringende Hahnenruf ist in tropologischer Lesart der Beistand des erhöhten Herrn, der durch die Verkündigung seiner Zeugen Sorge trägt, dass die Gläubigen nicht, wie 1Tim 1,16 formuliert, „Schiffbruch im Glauben“ erleiden. d) V.4,3f.: „hoc ipse petra ecclesiae / canente culpam diluit“ – durch diesen Gesang wäscht selbst der Fels der Kirche die Schuld ab Am Höhepunkt des Abschnittes 3,1–4,4, der die Auswirkungen des Hahnenschreis beschreibt, steht die Szene der Verleugnung Petri. Der vom Evangelisten zunächst nur als zeitlich beschriebene Zusammenhang zwischen Hahnenschrei und Reue – Petrus leugnet, gleichzeitig kräht der Hahn (temporal); er bereut, weil ihn der Blick des Herrn trifft und er sich dessen Worte erinnert (kausal) – kann aufgrund der im Hymnus vorgenommenen semantischen Identifizierung von Hahnenschrei und Christusblick nun in einen direkten kausalen Zusammenhang gebracht werden: Aufgrund des Hahnenschreis wäscht der Fels der Kirche seine Schuld ab. Die Bezeichnung des Apostels mit petra ecclesiae bezieht sich auf das Messiasbekenntnis in Mt 16,15–18. Der Hymnus lenkt damit den Blick nicht nur auf den Leugner, sondern auch auf den Bekenner. Die Verse enthalten einen beinahe paradoxen Sinn: Ausgerechnet der, der das Fundament des Glaubens und der Kirche sein sollte, dem die Zusage gilt, dass die Pforten der 20

H. RAHNER, Antenna Crucis, in: DERS., Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, 239–564.

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Hölle diese Kirche nicht überwältigen werden, ausgerechnet dieser Jünger verlässt den Herrn in der Stunde der Gefahr. Doch für Ambrosius scheint gerade darin die Größe des Apostels zu bestehen: „Petri Irrtum“, so sagt er in einer Predigt, „ist eine Lehre für die Gerechten, und Petri Schwanken ist für alle ein Fels“.21 Denn an ihm wird offenbar, was Erlösung bedeutet: Als er leugnete, traf ihn der Blick des Herrn, als er auf den Wellen gehend schwankte, stützte ihn die Rechte Christi, als er auf dem Berg der Verklärung in Angst geriet und fiel, erhob ihn Jesus; „der fällt glücklich, den Christus wieder erhebt“22. – Mit dieser Erklärung haben wir bereits die allegorische Verständnisebene von V.4,3ff. verlassen und stehen mitten in der tropologischen Auslegung. Die Vergegenwärtigung des reuigen, seine Schuld mit Tränen abwaschenden Petrus genau in der Mitte des Hymnus ist keine bloß historische Reminiszenz, sondern hat, wie alle vorherigen Bilder, eine unmittelbare Bedeutung für die den Hymnus singende Gemeinde: Noch weit entfernt davon, den biblischen Petrus wirkungsgeschichtlich für den römischen Bischof zu reservieren, sieht Ambrosius in dem Apostelfürsten ein Vorbild für alle Christen: Jeder kann wie Petrus werden, jeder kann ein Fels werden. Der Fels eines jeden ist nämlich sein Glaube, und der Glaube eines jeden ist das Fundament der Kirche: „Bist du Fels, wirst du der Kirche angehören, denn die Kirche ist auf Fels gebaut“.23 (e) V.5,1: „Surgamus ergo strenue: / gallus iacentes excitat / et somnolentos increpat, / gallus negantes arguit“ – Stehen wir also entschlossen auf: Der Hahn weckt die Liegenden und schilt die Schlaftrunkenen, der Hahn klagt die Verleugner an Genau in der Mitte des Hymnus, in V.5,1, spricht die den Hymnus singende Gemeinde zum ersten Mal von sich selbst; sie tut dies in Form einer Selbstaufforderung. Die pointierte Stellung des surgamus am Anfang des Verses (im Unterschied zu der Endstellung der übrigen Verben der Strophe) betont zusammen mit dem adverbiellen strenue den drängenden, mahnenden Charakter der Aufforderung. Durch das ergo wird ein enger Bezug hergestellt zwischen dem „Aufstehen“ der Gläubigen und dem zuvor besungenen Hahnenruf: Surgamus ist die fast zwingende Antwort auf das zuvor verkündete Heilshandeln des „Hahns“ Christus. Die anschließende Explikation des Hahnenrufs ist in einer poetisch meisterhaften Klimax gefasst, die sich sowohl auf die Objekte (iacentes – somnolentos – negantes) als auch auf die Verben erstreckt (excitat – increpat – arguit). Im Literalsinn meinen die Verse die zentrale Funktion des Hahns als Weckrufer. Stellt man das surgamus (5,1) in

21

Expositio Evangelii secundum Lucam 10,48 (CSEL 32,4,487f. Schenkl). Ebd. 23 A.a.O., 6,98 (CSEL 32,4,275 Schenkl). 22

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Zusammenhang mit dem einzigen weiteren Exhortativ des Hymnus (V.8,4): et vota solvamus tibi („und Lobopfer wollen wir dir einlösen“), so kommt die Begründung für das eilige morgendliche Aufstehen in den Blick. Denn in den Predigten des Ambrosius ergeht die Mahnung, sich zeitig vom Schlaflager zu erheben, meist zusammen mit der Einladung zum frühmorgendlichen Stundengebet: „Surge […] ad precandum!“24 Ähnlich wie die Weckrufe des Hahns im Hymnus schrittweise immer dringlicher werden, können auch die Mahnungen des Predigers von der werbenden Einladung25 bis hin zu WeheRufen reichen über die, die sich morgens auf Gelagen betrinken statt in der Kirche zu beten, die Lieder zur Chitara singen statt Hymnen und Psalmen.26 Auf der allegorischen Ebene ist die Parallelität der Hymnenverse mit der Getsemani-Szene (Mk 14,32–42; Mt 26,36–46) unverkennbar: Dreimal erfolgt der Weckruf des Hahns, dreimal weckt Jesus seine schlafenden Jünger. Die abschließende Aufforderung Jesu, aufzustehen und ihn auf seinem Leidensweg zu begleiten, findet durch die Hymnensänger eine unmittelbare Antwort: „Surgite, eamus, ecce qui me tradit prope est“ (Mk 14,42) – Surgamus ergo strenue (5,1). Im tropologischen Sinn entfaltet der Hymnus eine „symbolische Korrelation von physischem Schlaf und spirituellem Tod, von morgendlichem Erwachen und Aufstehen zum Leben, von trunkener Somnolenz und Verstrickung in die Sünde, von nüchterner Wachsamkeit und Bereitschaft im Glauben“.27 Der dreimalige Hahnenruf der Verse 5,2–4 kann gehört werden als die in der Verkündigung der Kirche vernommene Stimme des erhöhten Herrn, die Nacht als den Machtbereich der Sünde zu verlassen und sorgfältig darauf zu achten, wie man sein Leben führt, nicht töricht, sondern klug. „Denn die Stunde ist gekommen, aufzustehen aus dem Schlaf der Sünde. […] Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tage“ (Röm 13,11–13). „Lebt als Kinder des Lichts […] und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis. […] Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus

24

Vgl. in Ps 118,8,49 (CESL 62,181 Petschenig); vgl. auch de Elia 15,55 (CSEL 32,2,444f. Schenkl); in Ps 118,8,45ff. (CSEL 62,178ff. Petschenig) u.ö. 25 Vgl. etwa in Ps 118,19,30 (CSEL 62,437 Petschenig): „Cum ergo tanta ecclesia gratia, tanta nos praemia devotionis invitent, praeveniamus orientem solem, occuramus ad eius ortus, […]. praeveni certe hunc quem vides solem, surge qui dormis et exsurge a mortuis, ut inlucescat tibi Christus (Eph 5,14). si hunc solem praeveneris, antequam iste surgat, accipies Christum illuminantem. […] cum autem te meditantem verba divina dies invenerit et tam gratum opus orandi atque psallendi delectaverit tuam mentem, iterum dices ad dominum Iesum: exitus matutinos et vespere delectabis (Ps 64,9).“ 26 Vgl. etwa de Helia 15,55 (CSEL 32,2,444f. Schenkl): „Non inmerito ergo vae illis qui mane ebrietatis potum requirunt, quos conveniebat deo laudes referre, praevenire lucem, et occurrere oratione soli iustitiae, qui suos visitat et exsurgit nobis, si nos Christo, et non vino et sicerae surgamus. piis hymni dicuntur, et tu chitaram tenes? psalmi canuntur, et tu psalterium sumis aut tympanum?“ 27 FAUTH, Morgenhymnus (s. Anm. 10), 112.

Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand

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wird dein Licht sein“ (Eph 5,8–14). Die beiden paulinischen Schlüsseltexte finden im Hymnus ebenfalls eine unmittelbare Antwort: „[…] hora est iam nos de somno surgere / surge qui dormis et exsurge a mortuis et illuminabit tibi Christus“ – Surgamus ergo strenue (5,1). Die drei Typen, an die sich der Weckruf des Hahnes richtet, lassen sich dann auf dem Hintergrund des Wortgebrauchs der Predigten des Ambrosius zu Ps 118 folgendermaßen charakterisieren: – gallus iacentes excitat: Der erste Weckruf richtet sich an die, die Christus suchen. Dazu muss man sich aus dem Schlaf der Sünde erheben, denn auch die Braut aus dem Hohen Lied musste ja von ihrem Lager aufstehen, um dem anklopfenden Bräutigam zu öffnen.28 – et somnolentos increpat: Der zweite Ruf geht an die, die den Versuchungen dieser Welt nicht zu widerstehen vermögen. Ihre Trägheit und Schlaftrunkenheit ist wie der Türriegel, der dem Bräutigam den Zutritt verwehrt.29 – gallus negantes arguit: Der dritte Hahnenruf trifft die, die den Anspruch Gottes zwar hören, sich aber nicht danach richten, sondern im Schlaf der Sünde verharren. Er ist deshalb auch eine Aufforderung zu Reue und Buße, denn durch sie eröffnet sich – wie das Beispiel des Petrus zeigt, der beim dritten Hahnenschrei seine Schuld erkannte und bereute – die Möglichkeit der Umkehr und der Festigung im Glauben.30 Es ist bei der näheren Betrachtung der Strophen 3–5 deutlich geworden,31 dass der Hymnus des Ambrosius als hochkarätiges poetisches Kunstwerk viele Schichten und Dimensionen hat, die sich nicht alle auf einmal, sondern vielleicht erst nach und nach im wiederholten Vollzug erschließen – in der Gemeinde des Ambrosius war Aeterne rerum conditor der einzige Hymnus für das Gebet am frühen Morgen, er wurde deshalb tagaus tagein, Jahr für Jahr gesungen.32 Ebenso ist deutlich geworden, dass er mit seinem Lob der Heilstaten Gottes auch zu einer bestimmten Lebensweise aufruft. Die literarischen Mittel, die er dazu verwendet, ähneln in vieler Hinsicht dem, was Ruben Zimmermann für die Gleichnisreden des Matthäusevangeliums ermittelt hat.33 Der Unterschied zu den biblischen Gleichnissen ist allerdings, dass der 28

Hhld 5,2–5; vgl. etwa in Ps 118,22,32 (CSEL 62,504 Petschenig). Hhld 5,2–5; vgl. in Ps 118,12,15 (CSEL 62,259f. Petschenig). 30 Vgl. in Ps 118,20,47 (CSEL 62,468 Petschenig); a.a.O., 14,12 (306). 31 Zur Interpretation des gesamten Hymnus vgl. FRANZ, Tageslauf (s. Anm. 8), 147– 275. 32 Die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität ist sicherlich ein wichtiges Qualitätskriterium speziell für liturgische Texte, die ja darauf angelegt sind, regelmäßig wiederholt zu werden – sie wehren der Gefahr einer zu schnellen Abnutzung. Die moderne Forderung nach möglichst einfachen und sofort verständlichen Texten ist fatal, denn sie führt zum inflationären Zwang, immer wieder Neues erfinden zu müssen. 33 R. ZIMMERMANN, Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu. Ethik durch literarische Ästhetik am Beispiel der Parabeln im Matthäus-Evangelium, in: F.W. Horn/ R. Zimmer29

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Ansgar Franz

Hymnus seinen ursprünglichen Ort in der Liturgie, im gemeinschaftlich vollzogenen Lobpreis Gottes hat, und dass es ein gesungener Lobpreis ist.

5. Gesungene Doxologie, Schönheit und Moral Wie lässt sich nun diese Merkwürdigkeit erklären, die frühere Forschergenerationen in tiefe Ratlosigkeit versetzt hat: Die Hymnen des Ambrosius sind keine antike Marseillaise, doch sind sie im Kampf gegen den Kaiserhof eine wirksame Waffe; sie sind keine bereimten Glaubensartikel, doch spielen sie bei der Durchsetzung des Konzils von Nizäa in Mailand eine wichtige Rolle.34 Sie sind liturgischer Lobpreis der Heilstaten Gottes, Gedächtnis seiner mirabilia35, und haben nicht nur eine Wirkung auf das fromme Gemüt (wie sie etwa durch die Tränen des Augustinus bezeugt wird), sondern ermächtigen in einer konkreten Situation zum konkreten Handeln. Der Hahnenruf, den die Gläubigen Tag für Tag besingen, scheint nicht nur zum morgendlichen Aufstehen und zur geistlichen Auferstehung (surge qui dormis et exsurge a mortuis) zu wecken, sondern bisweilen auch zum unerschrockenen Aufstand gegen als Willkür empfundene Macht. Worin besteht diese Kraft der Doxologie, mit der Ambrosius das Volk ,behextʻ hat? In der berühmten Vorrede zum Babstschen Gesangbuch von 1545 schreibt Martin Luther: „Gott hat unser hertz und mut frölich gemacht / durch seinen lieben Son / welchen er für uns gegeben hat zur erlösung von sunden / tod und Teuffel. Wer solchs mit ernst gleubet / der kans nicht lassen / er mus frölich und mit lust davon singen und sagen / das es andere auch hören und herzu komen. Wer aber nicht dauon singen und sagen will / das ist ein zeichen / das er’s nicht gleubet“.36

Hinter den Worten steht die Ahnung, dass in der Sprache der Poesie und in der Weise der Musik die Wahrheit des Glaubens, seine ‚Stimmigkeit‘, plausibler wird als etwa in der Begrifflichkeit theologischer Reflexion. Die monastische Theologie des Mittelalters, in deren Tradition Luther steht, hatte das Wissen bewahrt, dass Theologie ursprünglich nicht in erster Linie Rede über

mann (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics I, WUNT 238, Tübingen 2009, 235–265. 34 Immerhin war Mailand vor dem Episkopat des Ambrosius tief gespalten in Gegner und Befürworter des Konzils von Nizäa. Der Verwaltungsbeamte Ambrosius galt als unparteiischer Kompromisskandidat. 35 Vgl. Ps 76 [77], 15: „Tu es deus qui facis mirabilia“. 36 CHR. MÖLLER, Das 16. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte, Mainzer Hymnologische Studien 1, Tübingen/Basel 2000, 69–127, 82.

Der Morgenhymnus des Ambrosius von Mailand

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Gott ist, sondern Rede aus Gott und zu Gott – eine doxologische, in den Lobpreis mündende Theologie,37 die auch um die Schönheit des Glaubens weiß. Fulbert Steffensky hat in einem Aufsatz „Die Kirche und die Schönheit“ kritisiert, dass die biblische Botschaft zu schnell moralisch ausgelegt werde. „Ich glaube, unsere Predigten sind deswegen so rasch moralisch, weil moralische Sätze einleuchten und weil man sich auf sie schnell verständigen kann. Damit ist aber nicht gesagt, dass sie wirksam sind. Menschen reagieren nicht auf pure Aufforderungen und auf Moralzumutungen. Es gibt im Augenblick eine Menge Untersuchungen und Arbeiten zur Entwicklung von Moralen. In einem sind die Forscher einig: Appelle wirken kaum, bzw. sind oft kontraproduktiv. Moral und moralische Sätze halten sich als solche nicht. Das Gewissen und die Verhaltensgeneigtheit werden dadurch aufgebaut, dass Menschen einen Lebensentwurf und eine Option schön, charmant, anziehend, bereichernd und als die größere Lebensmöglichkeit empfinden. Erst dann sind sie handlungsgeneigt. Die Moral ist ein Kind der Schönheit, und sie kann sich nicht selbst gebären. […] Man müsste das Evangelium so sagen, dass die Schönheit seines Lebensentwurfs jedem einleuchtete; dass es ein großes Versprechen wäre.“38

Und „ein nicht gesungenes Versprechen ist ein blasses Versprechen.“39 Christa Reich hat hinsichtlich des Gesangs der drei Jünglinge im Feuerofen (Dan 3) darauf aufmerksam gemacht, dass die Hebräer mitten in den Flammen der Todeskammer bereits so singen, als seien sie schon befreit.40 Im Vollzug des Lobgesangs werden die Singenden von einer Zukunft berührt, die in den vergangenen mirabilia Dei gründet. Durch die singende Stimme wird solche Zukunft präsent gesetzt und wird insofern evident: „Die heiligen drei Jünglinge, die in den Feuerofen geworfen waren, wandelten durch Hymnengesang in Tau die Glut, indem sie riefen: Gepriesen bist du, Herr, Gott unserer Väter“,41 wie es in einer ostkirchlichen Antiphon zum Canticum der drei Jünglinge heißt. Aus dem Hymnengesang, der Doxologie, erwächst eine Kraft, die die Gegenwart verändert.

37

Vgl. M.-J. KRAHE, „Psalmen, Hymnen und Lieder, wie der Geist sie eingibt“. Doxologie als Ursprung und Ziel aller Theologie, in: H. Becker/R. Kaczynski (Hgg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium II, PiLi 2, St. Ottilien 1983, 923–957. 38 F. STEFFENSKY, Die Kirche und die Schönheit, AGD, GAGF 36 (1999), 98–110, 105. 39 A.a.O., 110. 40 Vgl. CHR. REICH, „… dein ist die Herrlichkeit“ – Doxologische Spurensuche im Horizont von Te deum und Feuerofen, AGD, GAGF 17 (2003), 4–11. 41 Pfingstkanon des Kosmas Monachos, Siebente Ode; Übersetzung nach Kilian Kirchhoff, Osterjubel der Ostkirche. Hymnen aus der fünfundzwanzigtägigen Osterfeier der Byzantinischen Kirche, Zweiter Teil: Das Penekostarion, Münster o.J., 191.

Der nachkonstantinische Gottesdienst als „Vermahnung zur Tugend“1 Überlegungen zur ,Ethik‘ antiker liturgischer Quellen Ulrich Volp 1. Einleitung: Der Sitz im Leben von Bekenntnis und Ethik Zu den klassischen Gegenständen der patristischen Forschung gehört die Frage nach der Entstehung eines christlichen Dogmas, zu dem sich die Gemeinden der ersten Jahrhunderte bekannten, mithin die Frage nach dem Sitz im Leben eines solchen Bekenntnisses, also etwa des Romanum oder des Apostolikum. Hatten die großen Patristiker Adolf von Harnack, Ferdinand Kattenbusch und Harnacks Berliner Nachfolger Hans Lietzmann einen weitreichenden Konsens erreicht, wonach im Taufgottesdienst der Ursprung der christlichen Bekenntnistexte gelegen habe, so ist dieser Konsens seit den 1970er Jahren nachhaltig erschüttert worden.2 Die Forschung hat heute eine ausdifferenzierte Landkarte des Sitzes im Leben von Privat-, Synoden-, Gottesdienst- und Taufbekenntnissen erstellt. Das dabei entstandene Bild haben viele der großen Patristikerinnen und Patristiker vor allem in Deutschland und England zum Teil ein ganzes Gelehrtenleben lang mitgestaltet.3 Die Frage, wie ein solches christliches Dogma in Bekenntnisform entstanden ist, wird je nach Text differenziert beurteilt. Entweder wird eher eine konkrete systematisch-theologische Gedankenlage als treibende Kraft identifiziert oder die Bekenntnistexte erscheinen als Kompromissformeln kirchlicher Synoden oder als Privatbekenntnisse in Lehrstreitigkeiten. 4 Zuweilen kommen auch wieder das ältere Bild der Tauffragen oder liturgisch gewachsener Glaubens-

ἀρετῆς παράκλησις: Greg.Naz., In laudem sororis Gorgoniae (s. Anm. 24). Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei M. V INZENT, Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kritischen Forschung, FKDG 89, Göttingen 2006, 98–193. 3 Vgl. VINZENT, Ursprung, a.a.O., 267–395. 4 Vgl. etwa M. VINZENT, Die Entstehung des „Römischen Glaubensbekenntnisses“, in: W. KINZIG/CHR . MARKSCHIES /M. VINZENT, Tauffragen und Bekenntnis. Studien zur sogenannten „Traditio Apostolica“, zu den „Interrogationes de fide“ und zum „Römischen Glaubensbekenntnis“, Berlin/New York 1999, 185–409. 1 2

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bekenntnisse in bestimmten Fällen zu ihrem Recht.5 Seltener wurde dagegen bisher die Frage nach dem Sitz im Leben ethischer Leitsätze gestellt. Die Fragen müssten analog lauten: Wie entstand ein christliches Ethos, nach dem die Gemeinden lebten? Als systematisch-philosophisches Denksystem? Als Kompromissformel kirchlicher Synoden? Als Privatethos prominenter Theologen? Oder doch – zumindest auch – als ein liturgisch gewachsenes und in der gottesdienstlichen Predigt- und Gebetspraxis beheimatetes Gemeindeethos? Der Vergleich von Bekenntnis und Ethos geht dabei auf das altkirchliche Denken selbst zurück. Schon sehr frühe Texte wie der 2. Clemensbrief stellen Bekenntnis und Ethos auf dieselbe Stufe und behandeln ethisch verantwortetes Handeln geradezu synonym mit dem Bekenntnisakt: „Wir wollen ihn als ,Herrn‘ nicht nur nennen; das wird uns nämlich nicht retten. Er sagt nämlich: ,Nicht jeder, der zu mir sagt ,Herr, Herr‘, wird gerettet werden, sondern derjenige, der die Gerechtigkeit tut.‘ Folglich wollen wir ihn nun, Brüder, mit Werken bekennen, dadurch, dass wir einander lieben, dadurch, dass wir nicht ehebrechen, uns gegenseitig nicht verleumden, nicht eifersüchtig sind, sondern enthaltsam sind, barmherzig, gut. Auch müssen wir miteinander Mitleid haben und dürfen nicht geldgierig sein. Mit diesen Werken bekennen wir ihn.“6

Der Ausdruck des „Bekennens mit Werken“ (ἐν τοῖς ἔργοις ὁμολογεῖν) scheint nach allem, was wir wissen, alles andere als nur eine fromme Theorie darzustellen. Folgt man dem Kirchenhistoriker Euseb, so hat die römische Gemeinde schon im dritten Jahrhundert über 1500 Witwen und Hilfsbedürftige unterstützt,7 was im vierten Jahrhundert durch die Gemeinde in Antiochien noch überboten wird: Johannes Chryostomus nennt eine Unterstützungsliste mit 3000 Witwen und Jungfrauen, dazu kommen zahlreiche Gefangene, Kranke, Menschen mit Behinderungen,8 Bettler und Reisende, die von den Christen mit Nahrung und Kleidung versorgt werden.9 Der dem Christentum 5

Vgl. dazu die Überlegungen von W. KINZIG, „... natum et passum etc.“ Zur Geschichte der Tauffragen in der lateinischen Kirche bis zu Luther, in: DERS./MARKSCHIES /V INZENT, Tauffragen (s. Anm. 4), 75–183. 6 Μὴ μόνον οὖν αὐτὸν καλῶμεν κύριον· οὐ γὰρ τοῦτο σώσει ἡμᾶς. λέγει γάρ· Οὐ πᾶς ὁ λέγων μοι· Κύριε κύριε, σωθήσεται, ἀλλ’ ὁ ποιῶν τὴν δικαιοσύνην. ὥστε οὖν, ἀδελφοί, ἐν τοῖς ἔργοις αὐτὸν ὁμολογῶμεν, ἐν τῷ ἀγαπᾶν ἑαυτούς, ἐν τῷ μὴ μοιχᾶσθαι μηδὲ καταλαλεῖν ἀλλήλων μηδὲ ζηλοῦν, ἀλλ’ ἐγκρατεῖς εἶναι, ἐλεήμονας, ἀγαθούς· καὶ συμπάσχειν ἀλλήλοις ὀφείλομεν, καὶ μὴ φιλαργυρεῖν. ἐν τούτοις τοῖς ἔργοις ὁμολογῶμεν αὐτὸν. 2Clem 4,1–3 (K. B IHLMEYER /W. SCHNEEMELCHER /Übers. nach A. LINDEMANN /H. P AULSEN , Die Apostolischen Väter, Tübingen 1992, 156,25–158,1/157–159). 7 Eus.h.e. 6,43,11 (GCS Eusebius II/2,618,17f.). 8 Vgl. dazu U. VOLP, Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der Alten Kirche, SVigChr 81, Leiden/Boston 2006, 297–323. 9 Chrys.hom. 66 in Mt 20,29f. (CPG 4424); PG 58,630C. Vgl. Chrys.hom. in ICor 21,7 (CPG 4428). Vgl. dazu u.a. CHR . MARKSCHIES, Warum hat das Christentum in der

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abtrünnig gewordene Kaiser Julian weist dem Erfolg der christlichen Ethik schließlich sogar die Hauptverantwortung für die Ausbreitung der christlichen Religion zu: Als Förderer der paganen Kulte ist er ganz und gar nicht begeistert, dass „sich die Gottlosigkeit am meisten vermehrt durch Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die Vorsorge für die Bestattung der Toten und die vorgebliche Reinheit des Lebenswandels“.10 Ganz analog hatte sich der neuplatonische Philosoph Alexander von Lykopolis im dritten Jahrhundert über die christliche Ethik geäußert, weil die Christen „große Fortschritte hinsichtlich der Tugend“ machten und sich zwar der ethischen Ermahnung, nicht aber den komplizierten metaethischen Unterscheidungen wie der Vernünftigkeit der Tugend widmeten: „Die Philosophie der Christen ist einfach zu nennen. Sie beschäftigt sich vor allem mit ethischer Unterweisung und bleibt bezüglich der genaueren Unterscheidungen über Gott unklar [...] Und auch bei den ethischen Fragen vermeiden sie die etwas schwierigeren Probleme, wie etwa das, was ethische und was vernunftmäßige Tugend sei.“11

Auch die Christen selbst, etwa Origenes oder Rufinus, bringen die Kraft christlicher Ethik weniger mit der Überlegenheit eines christlichen ethischsystematisch-philosophischen Systems in Verbindung als vielmehr mit der „Macht“ (ἐξουσία) der christlichen Religion, die „nicht durch Menschen Kraft, sondern durch die höhere Wirkung eines Gottes“12 die Christen zu tugendhaftem Handeln bringt. Aus solchen Bemerkungen ergeben sich eine Reihe von, wie ich meine, bisher nur unzureichend beantworteten Fragen: Was genau meinen die Quellen mit der „ethischen Ermahnung“? Wie sehen die „Fortschritte hinsichtlich der Tugend“ aus? Wenn es denn richtig ist, dass die christliche Theologie dieser Zeit kein konsistentes ethisches Denksystem entwickelt hat, zumindest

Antike überlebt? Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Kirchengeschichte und Systematischer Theologie, ThLZ.F 13, Leipzig 2004, 19. 10 „Was also nun? Wir glauben, dass man solches abwehren und wir nicht wegschauen sollen, weil die Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die Vorsorge für die Bestattung der Toten und die vorgebliche Reinheit des Lebenswandels am meisten die Gottlosigkeit vermehrt.“ Τί οὖν; ἡμεῖς οἰόμεθα ταῦτα ἀρκεῖν, οὐδὲ ἀποβλέπομεν ὡς μάλιστα τὴν ἀθεότητα συνηύξησεν ἡ περὶ τοὺς ξένους φιλανθρωπία καὶ ἡ περὶ τὰς ταφὰς τῶν νεκρῶν προμήθεια καὶ ἡ πεπλασμένη σεμνότης κατὰ τὸν βίον; Iul.ep. 22 (ed. J. B IDEZ, Lʼempereur Julien. Œuvres complètes, I.I, Paris 1932, 213–235). 11 Ἡ Χριστιανῶν φιλοσοφία ἁπλῆ καλεῖται. αὕτη δὲ ἐπὶ τὴν τοῦ ἤθους κατασκευὴν τὴν πλείστην ἐπιμέλειαν ποιεῖται αἰνιττομένη περὶ τῶν ἀκριβεστέρων λόγων περὶ θεοῦ [...] καὶ τοῖς ἠθικοῖς τὰ ἐργωδέστερα παραλείποντες, οἷον τίς τε ἡ ἠθικὴ ἀρετὴ καὶ λογική. Alexander Lycopolitanus, Contra Manichaei opiniones disputatio 1 (ed. A. BRINKMANN , BSGRT, 3, 1–9). Vgl. zu dieser Stelle M ARKSCHIES, Warum (s. Anm. 9 ), 216. 12 non haec humanis opibus […]; agit deus. Or.princ. 4,1,2 (GCS Orig. 5,295,1–5; TzF 24,674). Vgl. Verg.Aen. 12,427–429.

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keines, das den paganen Pflichtenlehren ebenbürtig oder gar überlegen gewesen wäre – wenn es also nicht um eine systematisch-philosophische Überlegenheit ging, wieso zeigen sich dann doch Christen wie Nichtchristen beeindruckt, um nicht zu sagen: verstört von der großen Kraft und Wirkung, die die christliche Ethik in dieser Zeit entfaltet zu haben scheint? Solche Reaktionen schließen nicht aus, dass Einzelne hinter den hohen ethischen Ansprüchen zurückblieben, aber die breite Verankerung in den christlichen Gemeinden scheint doch Anlass für eine gewisse spektakuläre Aufmerksamkeit gewesen zu sein. Der Beitrag von Ansgar Franz in diesem Band stellt eine mögliche Antwort auf diese Frage in den Raum, und ich möchte im Folgenden dieser Antwort noch etwas weiter nachspüren: Wäre es nicht denkbar, dass der antike christliche Gottesdienst für die ethische Konsensbildung und Motivation zentraler war, als dies bisher meist angenommen wird? Das hieße, dass nicht nur oder vielleicht nicht einmal in erster Linie die christliche Tugendlehre entscheidend gewesen ist, wie sie in Traktaten und theologischen Abhandlungen in diesen Jahrzehnten zu finden ist. Dieser Teil der christlichen Religion ist zugegebenermaßen heute einfacher zugänglich, hatte aber auch eine mindestens ebenbürtige nichtchristliche Konkurrenz zu gewärtigen – anders, als der regelmäßige Gottesdienst, der sich etwa im vierten Jahrhundert von den rituellen Formen paganer Religiosität fundamental unterschied. Wenn dem so wäre, dann müsste man auch in den erhaltenen liturgischen Quellen Spuren dieses ethischen Diskurses vorfinden. Nachdem die christliche Gemeinde Mailands des vierten Jahrhunderts durch den vorigen Beitrag vor Augen geführt wurde, möchte ich dafür nun exemplarisch den Blick in den christlichen Osten richten, zu den griechischsprachigen Gemeinden Ägyptens, Syriens und Kleinasiens.

2. Ethos in den liturgischen Quellen des vierten Jahrhunderts Dabei soll es vor allem um jene liturgischen Quellen gehen, die einen Grundbestand von Gebeten, rituellen Normen und Abläufen enthalten, wie man ihn etwa für eine christliche griechischsprachige Großgemeinde wie die von Alexandria oder Antiochia um das Jahr 380 voraussetzen kann.13 Als Quellen 13

Grundlage für das Folgende ist neben einzelnen Texten aus den Apostolischen Konstitutionen, dem sogenannten Euchologion und den liturgischen Beschreibungen Kyrills von Jerusalem auch die Kommentierung dieser liturgischen Normen durch Zeitgenossen wie Johannes Chrysostomos und Gregor von Nazianz. Zur komplizierten Überlieferungssituation z.B. der Apostolischen Konstitutionen und ihrer methodischen Schwierigkeiten vgl. nur B. STEIMER , Vertex traditionis. Die Gattung der altchristlichen Kirchenordnungen, BZNW 63, Berlin/New York 1992; sowie die Arbeiten von

Zum Ethos antiker liturgischer Quellen

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sollen die aus dem vierten Jahrhundert erhaltenen Gebetstexte, vor allem die sogenannten Anaphorai, und die Sammlung der Apostolischen Konstitutionen und des Euchologions dienen. Es handelt sich dabei ausschließlich um Texte, die in zeitlicher Nähe zum Konzil von Konstantinopel (also etwa um 380) zusammengestellt worden sein dürften. In jüngster Zeit ist deutlich geworden, welch fundamentale Bedeutung die Jahre im Umfeld des Konzils von Konstantinopel für die Geschichte der christlichen Liturgie hatten, weil eben nicht nur in der Frage von Dogma und Bekenntnis die Aufgabe allenthalben im Raum stand, eine einigermaßen einheitliche christliche Reichskirche zu schaffen.14 2.1 Ethische Weisung im Kontext nachkonstantinischer Gottesdienste Ich habe einmal an anderer Stelle die These vertreten, dass diese liturgische Expansion des vierten Jahrhunderts nicht ungefährlich für die ethische Unterweisung gewesen ist.15 Vergleicht man etwa die liturgischen Abschnitte der Apostolischen Konstitutionen mit den byzantinischen Chrysostomos- und Basiliusliturgien, deren Grundformen vielleicht noch aus derselben Zeit stammen,16 so ergibt sich überall das gleiche Bild: Der Gottesdienst ist geprägt von Inszenierung und Dramatisierung. Mimesis und Teilhabe am Leiden Christi stehen im Mittelpunkt. Die Predigt verliert ihre konkurrenzlose Rolle als grundlegende Form der ethischen Ermahnung. Auch in der Beschreibung Egerias der Jerusalemer Gottesdienste an der Anastasis aus dem P. BRADSHAW (etwa: The Search for the Origins of Christian Worship. Sources and Methods for the Study of Early Liturgy, London/New York 1992). Vgl. zuletzt H. OHME, Kirchenrecht, RAC 20 (2004), 1099–1139 (mit Lit.). Siehe außerdem M. M ETZGER , Art. Konstitutionen, (Pseud-)Apostolische, TRE 19 (1989), 540–544; J.G. MUELLER , L’Ancien Testament dans l’ecclésiologie des Pères. Une lecture des Constitutions apostoliques, IPM 41, Turnhout 2004, insbes. 36–126. 14 Vgl. dazu W. Kinzig/U. Volp/J. Schmidt (Hgg.), Liturgie und Ritual in der Alten Kirche, Patristic Studies 10, Leuven 2011. 15 U. VOLP, Ritus und Ethik. Die Konstituierung des Ethos nachkonstantinischer Gemeinden, in: Kinzig/Volp/Schmidt, Liturgie, a.a.O., 43–68. 16 Siehe dazu nach wie vor F.E. BRIGHTMAN , Liturgies Eastern and Western being the Texts original or translated of the principal Liturgies of the Church, on the Basis of the former Work by C.E. Hammond, I:. Eastern Liturgies, Oxford 1896 = Reprint 1935, 309–344.352–411. Vgl. dazu vor allem R.A. TAFT, A History of the Liturgy of St John Chrysostom, 6 Bde., OCA 200/238/261/281, Rom 1975–2008. Siehe außerdem etwa S. ALEXOPOULOS, The Presanctified Liturgy in the Byzantine Rite. A Comparative Analysis of its Origins, Evolution, and Structural Components, LiCo 21, Leuven 2009; H. WYBREW, The Orthodox Liturgy. The Development of the Eucharistic Liturgy in the Byzantine Rite, SPCK, London 1989; W. NAGEL, Geschichte des christlichen Gottesdienstes, SG 1202, Berlin 21970, 63–72; H.J. SCHULZ, Die Byzantinische Liturgie. Vom Werden ihrer Symbolgestalt, SQÖT 5, Freiburg i.Brsg. 1964; H.G. B ECK, Kirche und Liturgie im Byzantinischen Reich, HAW 12/2/1, München 1959, 242–246.

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späten vierten Jahrhundert ist diese Tendenz deutlich greifbar.17 Dennoch ist das sogenannte „goldene Zeitalter der Liturgie“18 auch ein goldenes Zeitalter der großen Prediger gewesen, die in ihren Predigten einen dezidiert ethischen Schwerpunkt vertraten. Der Name Chrysostomos – ,Goldmundʻ – steht stellvertretend für eine ethisch ausgerichtete Predigttradition. Das Beispiel des Johannes Chrysostomos zeigt, dass solche Prediger nicht nur Freunde hatten, sondern die fortgesetzte „Vermahnung zur Tugend“ sogar in Verbannung und Tod des Predigers enden konnte, wenn er hochgestellte Gemeindeglieder zu sehr verärgerte.19 Manche ethische Ermahnung möchte eben nicht jeder gerne hören. Die Sprechsituation ,Predigtʻ ist jedoch in das Gottesdienstritual eingebunden, und damit gibt der Ritus den äußeren Rahmen des homiletischen Geschehens vor. Dies ist in den liturgischen Quellen nachkonstantinischer Zeit zum Teil besonders deutlich markiert. Die im achten Buch der Apostolischen Konstitutionen skizzierte Liturgie zeigt ein bemerkenswertes Bewusstsein für die Komplexität dieser Zusammenhänge: Danach sollen der Begrüßung Worte der Vermahnung (λόγοι παρακλήσεως) und der Unterweisung (ὁ τῆς διδασκαλίας λόγος) folgen, zwei Begriffe, die im direkt darauffolgenden Gebet für die Katechumenen näher erläutert werden, indem man für sie betet, „dass [der Schöpfer] sie seine Gebote (προστάγματα) und gerechten Urteile (δικαιώματα) lehre, dass er in ihnen die heilige und rettende Furcht einpflanze, [...] dass er die Ohren ihres Herzens öffne, damit sie sich mit seinem Gesetz (νόμος) Tag und Nacht befassen“.20

Die richtige Haltung zum Gebot Gottes ist die der heiligen und rettenden Furcht (ἁγνὸς φόβος). Der Text erinnert an Ps 1LXX, in dem der Gegensatz 17

Allerdings noch nicht beim Sonntagsgottesdienst in der ecclesia maior selbst, beschrieben in Itinerarium 25. 18 Vgl. zu diesem nicht unproblematischen Begriff P. BRADSHAW , The Fourth Century: A Golden Age for Liturgy?, in: Kinzig/Volp/Schmidt (Hgg.), Liturgie (s. Anm. 14), 99–115. 19 So hielt Johannes Chrysostomos eine beißend scharfe Predigt gegen die Eitelkeit und Habsucht der Frauen – unglücklicherweise im Angesicht eines drohenden Häresieverfahrens gegen ihn, in das er die Kaiserin Eudoxia verwickelt sah, die wiederum die ethische Vermahnung des Predigers auf ihre eigene Person bezog, was zu Verbannung und Absetzung des Bischofs von Konstantinopel durch Kaiser Arkadios führte. Eine zweite, sich daran anschließende Verbannung endete für Chrysostomos schließlich auf dem entbehrungsreichen Weg dorthin mit dem Tod. Siehe dazu Sokr.h.e. 6,15 und Soz.h.e. 8,15f. Vgl. dazu zuletzt C. TIERSCH, Johannes Chrysostomus in Konstantinopel (398–404). Weltsicht und Wirken eines Bischofs in der Hauptstadt des Oströmischen Reiches, STAC 6, Tübingen 2002, 226–228.354–414. 20 [...] διδάξῃ αὐτοὺς τὰ προστάγματα αὐτοῦ καὶ τὰ δικαιώματα, ἐγκαταφυτεύσῃ ἐν αὐτοῖς τὸν ἁγνὸν αὐτοῦ καὶ σωτήριον φόβον, διανοίξῃ τὰ ὦτα τῶν καρδιῶν αὐτῶν πρὸς τὸ ἐν τῷ νόμῳ αὐτοῦ καταγίνεσθαι ἡμέρας καὶ νυκτός. ConstAp 8,6 (SC 336, 152,17– 20; Übers. nach F. BOXLER , BKV 19, 267).

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thematisiert wird zwischen dem, der auf dem „Weg der Sünder“ (ὁδὸς ἁμαρτωλῶν) und Gottlosen wandelt, und dem, der „Tag und Nacht über das Gesetz sinnt“ (ἐν τῷ νόμῳ αὐτοῦ μελετήσει ἡμέρας καὶ νυκτός). Die präzise Begrifflichkeit von „Geboten“ (προστάγματα), Gottes „Gesetz“ (νόμος) und „gerechten Urteilen“ (δικαιώματα) steigern die Aussagen des Psalms noch und signalisieren an dieser Stelle ganz deutlich, wie sehr es um den ethischen Anspruch eines christlichen Lebens vor Gott geht. Was vielleicht noch wichtiger ist: Buch 2,57 der Apostolischen Konstitutionen sieht im Vorfeld der Predigt vor, zunächst müsse aus genau festgelegten alttestamentlichen Schriften vorgelesen werden, dann aus der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen, schließlich aus den Evangelien. Erst dann soll die παράκλησις folgen, also die ethische Vermahnung, erst durch Presbyter, dann durch den Bischof: „Der hinzugetretene Lektor lese nun von einem erhöhten Ort in der Mitte die Schriften des Moses und Josua, die Bücher der Richter und Könige, die Bücher Paralipomenon und was über die Rückkehr des Volkes in der Schrift enthalten ist, dazu die Bücher Hiobs und Salomons und die sechzehn Propheten. Wenn nun zwei Lesungen vollzogen worden sind, soll ein anderer die Hymnen des David singen, und das Volk soll an den Versenden mitsingen. Danach sollen unsere Apostelgeschichte und die Briefe unseres Mitarbeiters Paulus gelesen werden, welche er unter Eingebung des Hl. Geistes an die Kirchen gerichtet hat. Danach lese ein Ältester oder Diakon die Evangelien, welche ich, Matthäus und Johannes euch übergeben haben und welche die Gehilfen des Paulus, Lukas und Markus, euch überliefert haben. Bei Lesung des Evangeliums sollen alle Ältesten und Diakonen und das ganze Volk in tiefem Stillschweigen selbiges stehend anhören, denn es steht geschrieben: ,Sei still und höre, Israel‘21 und wiederum: ,Du sollst hier stehen bleiben und hören.‘22 Danach halte jeder Presbyter einer nach dem anderen – aber nicht alle zusammen – eine Vermahnung (παράκλησις) an das Volk, und endlich folgt die Anrede des Bischofs, welcher der Kapitän des Schiffes ist.“23

21

Dtn 27,9. Dtn 5,31. 23 Μέσος δὲ ὁ ἀναγνώστης ἐφ’ ὑψηλοῦ τινος ἑστὼς ἀναγινωσκέτω τὰ Μωϋσέως καὶ Ἰησοῦ τοῦ Ναυή, τὰ τῶν Κριτῶν καὶ τῶν Βασιλειῶν, τὰ τῶν Παραλειπομένων καὶ τὰ τῆς Ἐπανόδου, πρὸς τούτοις τὰ τοῦ Ἰὼβ καὶ τὰ Σολομῶντος καὶ τὰ τῶν Ἑξκαίδεκα προφητῶν. Ἀνὰ δύο δὲ γενομένων ἀναγνωσμάτων, ἕτερός τις τοῦ Δαυὶδ ψαλλέτω τοὺς ὕμνους, καὶ ὁ λαὸς τὰ ἀκροστίχια ὑποψαλλέτω. Μετὰ τοῦτο αἱ Πράξεις αἱ ἡμέτεραι ἀναγινωσκέσθωσαν καὶ αἱ ἐπιστολαὶ Παύλου τοῦ συνεργοῦ ἡμῶν, ἃς ἀπέστειλε ταῖς Ἐκκλησίαις καθ’ ὑφήγησιν τοῦ ἁγίου Πνεύματος· καὶ μετὰ ταῦτα πρεσβύτερος ἢ διάκονος ἀναγινωσκέτω τὰ Εὐαγγέλια, ἃ ἐγὼ Ματθαῖος καὶ Ἰωάννης παρεδώκαμεν ὑμῖν καὶ οἱ συνεργοὶ Παύλου παρειληφότες κατέλειψαν ὑμῖν Λουκᾶς καὶ Μάρκος. Καὶ ὅταν ἀναγινωσκόμενον ᾖ τὸ Εὐαγγέλιον, πάντες οἱ πρεσβύτεροι καὶ οἱ διάκονοι καὶ πᾶς ὁ λαὸς στηκέτωσαν μετὰ πολλῆς ἡσυχίας·γέγραπται γάρ· Σιώπα καὶ ἄκουε Ἰσραήλ, καὶ πάλιν· Σὺ δὲ αὐτοῦ στῆθι καὶ ἀκούσῃ. Καὶ ἑξῆς παρακαλείτωσαν οἱ πρεσβύτεροι τὸν λαόν, ὁ καθεῖς αὐτῶν, ἀλλὰ μὴ ἅπαντες, καὶ τελευταῖος πάντων ὁ ἐπίσκοπος, ὃς ἔοικε κυβερνήτῃ. ConstAp 2,57 (SC 320, 312,19–314,39; Übers. nach F. B OXLER , BKV 19, 100). 22

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Man war offenbar mit großer Sorgfalt darauf bedacht, diese ethischen Unterweisungen in eine genau definierte Abfolge jüdischer und christlicher Schrifttradition einzubinden. Das christliche Ethos sollte als Teil einer Weisheitstradition wahrgenommen werden. Sie sollte sich auf die Autorität dieser Tradition berufen können, und alles, was an ethischer Weisung formuliert wird, hatte sich damit vor dieser Tradition zu rechtfertigen. Gregor von Nazianz nennt das liturgisch geordnete gemeinsame Verlesen der Namen verstorbener Gemeindeglieder und der Namen biblischer Personen (der Erzväter) im Gottesdienst ἀρετῆς παράκλησις, eine „Vermahnung zur Tugend“ – dieser Begriff bezieht sich nicht etwa auf eine ethisch ausgerichtete Predigt, sondern auf die liturgisch eingebundene Nennung der Namen der Vorväter: „Wer kennt nicht unseren jetzigen Abraham und unsere derzeitige Sara, nämlich Gregor und Nonna, sein Weib? Es ist gut, auch ihrer Namen zu gedenken, da sie eine Vermahnung zur Tugend sind. Er wurde gerechtfertigt durch den Glauben, sie verband sich mit dem Gläubigen; er wurde wider Erwarten Vater vieler Völker, sie wurde wunderbarerweise Mutter; er entzog sich durch Flucht der Knechtschaft der heimatlichen Götter, sie wurde die Tochter und Mutter der Freien; er verließ um des Landes der Verheißungen willen seine Verwandtschaft und sein Vaterhaus, sie veranlasste ihn fortzuziehen, worin allein sie – wenn ich so sagen darf – noch Sara übertraf; er zog in guter Absicht in die Fremde, sie begleitete ihn bereitwillig; er weihte sich dem Herrn, sie betitelte und betrachtete ihren Mann als Herrn und erhielt deshalb Anteil an seiner Rechtfertigung. Beiden wurde die Verheißung gegeben, beide hatten in gewisser Beziehung ihren Isaak, beide brachten das Opfer.“24

Aber auch an die Weisungen des Dekalogs ist hier zu denken. Willy Rordorf hat plausibel gemacht, dass die „zweite Tafel“ des Dekalogs, also die Gebote, die das Verhalten unter den Mitmenschen betreffen, von den Kirchenvätern allgemein als eine Art „natürliches Ethos“ rezipiert wurden.25 Dieses Ethos können theoretisch alle Menschen aus der Betrachtung der Schöpfung gewinnen, es ist schöpfungsmäßig angelegt, und auch die jüdisch-christliche Weisheitstradition spricht davon. 24 Τίς οὖν οὐκ οἶδε τὸν νέον ἡμῶν Ἀβραὰμ, καὶ τὴν ἐφ’ ἡμῶν Σάῤῥαν; Γρηγόριον λέγω καὶ Νόνναν, τὴν τοῦδε σύζυγον (καλὸν γὰρ μηδὲ τὰ ὀνόματα παρελθεῖν, ὡς ἀρετῆς παράκλησιν), τὸν πίστει δικαιωθέντα, καὶ τὴν τῷ πιστῷ συνοικήσασαν· τὸν πατέρα πολλῶν ἐθνῶν παρ’ ἐλπίδα, καὶ τὴν πνευματικῶς ὠδίνουσαν· τὸν φυγόντα πατρῴων θεῶν δουλείαν, καὶ τὴν θυγατέρα καὶ μητέρα τῶν ἐλευθέρων· τὸν ἐξελθόντα συγγενείας καὶ διὰ τὴν γῆν τῆς ἐπαγγελίας, καὶ τὴν αἰτίαν τῆς ἐκδημίας (τοῦτο γὰρ ἐκείνῃ μόνον, ἵνα τι τολμήσω, καὶ ὑπὲρ τὴν Σάῤῥαν)· τὸν παροικήσαντα καλῶς, καὶ τὴν προθύμως συμπαροικήσασαν· τὸν τῷ Κυρίῳ προσθέμενον, καὶ τὴν κύριον τὸν ἑαυτῆς ἄνδρα καὶ προσαγορεύουσαν καὶ νομίζουσαν, καὶ μέρος τι διὰ τοῦτο δικαιωθεῖσαν· ὧν ἡ ἐπαγγελία, καὶ ὧν ὁ Ἰσαὰκ, ὅσον τὸ ἐπ’ αὐτοῖς, καὶ ὧν τὸ δώρημα. Greg.Naz., In laudem sororis Gorgoniae (PG 35, 793,13–28; Übers. P. HAEUSER , BKV2 59, 234f.). 25 W. RORDORF, Beobachtungen zum Gebrauch des Dekalogs in der vorkonstantinischen Kirche, in: W.C. Weinrich (Hg.), The New Testament Age. Essays in Honor of Bo Reicke ΙΙ, Macon 1984, 431–442 = Paradosis 36, 318–329.

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Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn die Kirchenordnungen des dritten und vierten Jahrhunderts von den Bischöfen, denen in dieser Zeit die Autorität für Bußriten und Sündenvergebung zuwächst, nicht nur eine moralische Vorbildlichkeit,26 sondern auch Kompetenzen in der Weisheitstradition des Christentums einfordern. Dazu gehört etwa eine nach der Weisheit des Proverbienbuches geforderte sichtbare Demut.27 Beides, moralische Integrität und Kompetenz in diesen ethischen Traditionen ist Voraussetzung für ihre Verantwortung für die mit einem Bekenntnisakt verbundene ritualisierte Sündenvergebung: „Dass [der Bischof] ihren Widerruf und ihre Bekenntnishandlung (ἐξομολόγησις)28 annehme, dass er schnell den Satan unter ihren Füßen zermalme und sie vom Fallstrick des

26

„Der Hirte, der als Bischof in einer Kirche in jeder Parökie aufgestellt ist, muss unbescholten sein, tadellos, unberührt von jeglicher menschlicher Ungerechtigkeit, und nicht jünger als fünfzig Jahre, so dass er in jeglicher Weise die Widersetzlichkeiten der Jugend und den Anschuldigungen von außerhalb entgeht.“ Τὸν ποιμένα τὸν καθιστάμενον ἐπίσκοπον εἰς τὰς Ἐκκλησίας ἐν πάσῃ παροικίᾳ δεῖ ὑπάρχειν ἀνέγκλητον, ἀνεπίληπτον, ἀνέπαφον πάσης ἀδικίας ἀνθρώπων, οὐκ ἔλαττον ἐτῶν πεντήκοντα, ὅτι τρόπῳ τινὶ τὰς νεωτερικὰς ἀταξίας καὶ τὰς ἔξωθεν διαβολὰς ἐκπεφευγὼς ὑπάρχει. ConstAp 2,1 (SC 320, 144,2–6; Übers. nach F. B OXLER , BKV 19, 32). Vgl. 2,57: „Du aber, o Bischof, sollst sein heilig, tadellos, nicht streitsüchtig, nicht zornig, nicht unfreundlich, sondern erbauend, bekehrend, belehrend, standhaft, sanftmütig, mild, langmütig, ermahnend und tröstend wie ein Mann Gottes.“ Σὺ δέ, ὁ ἐπίσκοπος, ἔσο ἅγιος, ἄμωμος, μὴ πλήκτης, μὴ ὀργίλος, μὴ ἀπηνής, ἀλλ’ οἰκοδόμος, ἐπιστροφεύς, διδακτικός, ἀνεξίκακος, ἠπιόθυμος, πρᾶος, μακρόθυμος, παραινετικός, παρακλητικὸς ὡς Θεοῦ ἄνθρωπος. ConstAp 2,57 (SC 320, 310,1–4; Übers. nach F. BOXLER , BKV 19, 99). Siehe auch bereits 1Tim 3,1–5; Tit 1,7; Did 15,1. 27 Dazu im Einzelnen ConstAp 2,16. Vgl. außerdem ConstAp 8,2: „Dies sagen wir, [...] um die Vermessenheit der falschen Propheten zu brandmarken; und wir fügen dieses hinzu, dass Gott von ihnen die Gnade nimmt; denn ,den Hoffärtigen widersteht Gott, den Demütigen (ταπεινοί) aber gibt er Gnade‘ (Prov 3,34) [...]. Wer also immer unter euch, sei es Frau oder Mann, Gnaden- oder Wundergaben besitzt, der sei demütigen Sinnes, damit Gottes Wohlgefallen auf ihm ruhe.“ Ταῦτα δέ φαμεν [...] τὸ θράσος τῶν ἀλαζονευομένων καταστέλλοντες καὶ προστιθέντες ἐκεῖνο, ὅτι τῶν τοιούτων ὁ Θεὸς περιαιρεῖ τὴν χάριν· Ὑπερηφάνοις γὰρ ὁ Θεὸς ἀντιτάσσεται, ταπεινοῖς δὲ δίδωσι χάριν. [...] Οὐκοῦν καὶ ἐν ὑμῖν κἂν γυνή τις ᾖ κἂν ἀνήρ, καὶ τύχῃ τοιαύτης τινὸς χάριτος, ταπεινοφρονείτω, ἵνα ἐπ’ αὐτῷ εὐδοκῇ ὁ Θεός. ConstAp 8,2 (SC 336, 138,29.31–34.44– 46; Übers. nach F. BOXLER , BKV 19, 262). Vgl. dazu noch ConstAp 8,4 und ConstAp 2,6. 28 Gemeint ist hier doch wohl ein eigentlicher Ritus zum Sündenbekenntnis als Teil des Bußverfahrens, weshalb die Exhomologese bei den lateinischen Autoren als griechisches Lehnwort begegnet (z.B. Tert.paenit. 9). Vgl. dazu etwa A.K. RUF, Sünde und Sündenvergebung nach der Lehre des hl. Johannes Chrysostomus, Diss. Freiburg 1959, 76–137; B. P OSCHMANN , Paenitentia secunda. Die kirchliche Buße im ältesten Christentum bis Cyprian und Origenes, Theoph. 1, Bonn 1940, 284–293; H. LECLERCQ, Art. Pénitence, DACL XIV 1 (1939), 186–202, insbes. 200–202. Ein Überblick über die

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Teufels und von der Bosheit der Dämonen befreie, sie bewahre vor jedem unerlaubten Wort, jeder schändlichen Handlung und jedem bösen Gedanken, dass er ihnen hingegen verzeihe alle ihre Übertretungen, die freiwilligen und die unfreiwilligen, die wider sie lautende Handschrift tilge und sie einschreibe in das Buch des Lebens, dass er sie reinige von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes und sie einige, indem er sie in seine heilige Herde zurückführt. Denn er selbst kennt unser Gebilde (πλάσμα)29.“30

Dieser Text zeigt, wie ich finde, ein fast überraschend tiefgehendes Verständnis menschlicher ethischer Schwäche, formuliert aber eben auch ethische Anforderungen und die Möglichkeit zur Buße im Rahmen der ganzen Heilsgeschichte, beginnend mit der Schaffung des Menschen. 2.2 Die Anaphora-Gebete des vierten Jahrhunderts: Das doxologische Bekenntnis zum Schöpfer Dies gilt nicht nur für den eben zitierten Satz, „Er selbst kennt unser Gebilde“31, mit seinem Verweis auf Gottes Schöpfung des Menschen als πλάσμα nach Gen 2,7 in den Worten von Psalm 102,14LXX, einer Formel, der Kirchenväter wie Irenäus ausführliche schöpfungstheologische Reflexionen gewidmet hatten.32 Wenn man die zahlreichen Gebete in den nachkonstantinischen Liturgien ansieht, stellt man fest, dass die Betonung von Gottes Schöpfersein allenthalben begegnet. Bereits der Römerbrief kennt die doxologische

Meinungen der älteren Forschung dazu findet sich bei J. GROTZ, Die Entwicklung des Bußstufenwesens in der vornicänischen Kirche, Freiburg 1955, 133–135. 29 Der Begriff plasma/πλάσμα im Sinne der Schöpfung des Menschen als Kreatur gelangt wohl durch die Seputagintaversion von Gen 2,7 (ἔπλασεν ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον) in den Sprachgebrauch der Kirchenväter. Er spielt in der Auslegung von Gen 1,26 bei Irenäus und anderen Kirchenvätern eine große Rolle. Für Irenäus ist Gott der, qui fecerit, et plasmaverit et spiramen vitae dederit. Iren.haer. 2,26,1 (SC 294, 258, 14f.; vgl. 3,24,2 u.ö.). Vgl. dazu etwa D.E. J ENKINS, The Make-up of Man according to St. Irenaeus, StPatr 6 = TU 81/4 (1962), 91–95; V OLP, Würde (s. Anm. 8), 119–124. Zur vorchristlichen Bedeutung des πλάσμα-Begriffes siehe noch etwa das umfangreiche Material bei F. RÜSCHE, Blut, Leben und Seele. Ihr Verhältnis nach Auffassung der griechischen und hellenistischen Antike, der Bibel und der alten alexandrinischen Theologen. Eine Vorarbeit zur Religionsgeschichte des Opfers, SGKA.E 5, Paderborn 1930. 30 Προσδέξηται αὐτῶν τὴν παλινῳδίαν καὶ τὴν ἐξομολόγησιν, καὶ συντρίψῃ τὸν σατανᾶν ὑπὸ τοὺς πόδας αὐτῶν ἐν τάχει καὶ λυτρώσηται αὐτοὺς ἀπὸ τῆς παγίδος τοῦ διαβόλου καὶ τῆς ἐπηρείας τῶν δαιμόνων, καὶ ἐξέληται αὐτοὺς ἀπὸ παντὸς ἀθεμίτου λόγου καὶ πάσης ἀτόπου πράξεως καὶ πονηρᾶς ἐννοίας·συγχωρήσῃ δὲ αὐτοῖς πάντα τὰ παραπτώματα αὐτῶν, τά τε ἑκούσια καὶ τὰ ἀκούσια καὶ ἐξαλείψῃ τὸ κατ’ αὐτῶν χειρόγραφον καὶ ἐγγράψηται αὐτοὺς ἐν βίβλῳ ζωῆς, καθάρῃ δὲ αὐτοὺς ἀπὸ παντὸς μολυσμοῦ σαρκὸς καὶ πνεύματος καὶ ἑνώσῃ αὐτοὺς ἀποκαταστήσας εἰς τὴν ἁγίαν αὐτοῦ ποίμνην. Ὅτι αὐτὸς γινώσκει τὸ πλάσμα ἡμῶν. ConstAp 8,9 (SC 336, 162,4–15). 31 S. Anm. 30. 32 Vgl. Anm. 29.

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Formel: „Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“33 Am deutlichsten finden sich solche Doxologien aber in den Anaphorai, den großen Lob- und Dankgebeten des vierten Jahrhunderts. So etwa in den Doxologien, die man mit der sogenannten Markusliturgie, also der nachkonstantinischen griechisch-ägyptischen Tradition in Verbindung gebracht hat. Weil davon Papyri des vierten Jahrhunderts erhalten geblieben sind, handelt es sich um die ältesten zweifelsfrei zu datierenden liturgischen Hochgebete. Sie finden sich u.a. im berühmten Papyrus Graecus 254 der Straßburger Universitätsbibliothek34 und im Barcelona-Papyrus35: „Würdig und gerecht ist es, Dich, Gebieter, Gott, allmächtiger Vater (παντοκράτωρ) unseres Herrn Jesus Christus, der alles aus dem Nichts ins Sein gebracht hat, Himmel, Erde, Meer und alles, was in ihnen ist, zu loben und zu preisen, Dir zu danken [...] Wir beten zu Dir, Gebieter, Gott, allmächtiger Herrscher (παντοκράτωρ), und danken Dir für den Empfang des Brots des Lebens und des Kelchs und des Geheiligten. Und wir bitten Dich, dass Du uns heiligst, die wir daran teilgehabt haben, [...] so dass wir perfekt und rein seien, unbezwingbar, frei von allen Gesetzlosigkeiten und perfektioniert im vollständigen Willen des Gottes und Vaters unseres Herrn Jesus Christus.36

Schöpfungsbezug und ethische Perfektionierung durch die Teilhabe an der göttlichen Liturgie werden hier also in einen klaren Zusammenhang gestellt. Auch die liturgischen Texte der Apostolischen Konstitutionen kennen diese Verbindung: Gott wird darin insgesamt dreiundzwanzigmal ausdrücklich als 33

Röm 11,36. BNU Gr. 254 = M. ANDRIEU/P. COLLOMP, Fragments sur papyrus de l’anaphore de Saint Marc, RevSR 8 (1928), 489–515, 500f. Vgl. dazu etwa K. GAMBER , Das Papyrusfragment zur Markusliturgie und das Eucharistiegebet im Clemensbrief, OS 8 (1959), 31–45; H.A.J. WEGMAN , Une anaphore incomplète?, in: R. van ven Broek/M.J. Vermaseren (Hgg.), Studies in Gnosticism and Hellenistic Religions (FS Gilles Quispel), EPRO 91, Leiden 1981, 432–450; W.D. RAY ; The Anaphora of St. Mark: A Study in Development, in: P.F. Bradshaw (Hg.), Essays on Early Eastern Eucharistic Prayers, Collegeville 1997, 57–72. 35 P.Monts.Roca inv.128–178 = M. ZHELTOV , The Anaphora and the Thanksgiving Prayer from the Barcelona Papyrus: An Underestimated Testimony to the Anaphoral History in the Fourth Century, VigChr 62 (2008), 467–504. 36 ᾽Αξιόν ἐστιν καὶ δίκαιον· σὲ αἰνεῖν, σὲ εὐλογεῖν, σὲ ὑμνεῖν, σοὶ εὐχαριστεῖν, ∆έσποτα Θ(ε)ὲ παντοκράτωρ τοῦ Κ(υρίο)υ ἡμῶν ̓Ι(ησο)ῦ Χ(ριστο)ῦ, ὁ ποιήσας τὰ πάντα ἐκ τοῦ μὴ ὄντος εἰς τὸ εἶναι, τὰ πάντα· οὐρανούς, γῆν, θάλασσαν καὶ πάντα τὰ ἐν αὐτοῖς, [...] Ἔτι δεόμεθά σου, ∆έσποτα Θ(ε)ὲ παντοκράτωρ, καὶ εὐχαριστοῦμέν σοι ἐπὶ τῇ μεταλήμψει τοῦ ἄρτου τῆς ζωῆς καὶ τοῦ ποτηρίου, καὶ τοῦ ἁγιασμένου· καὶ παρακαλοῦμέν σε ὅπως ἁγιάσῃς ἡμας πάντας τοὺς μετειληφότας ἀπ ̓ αὐτῶν·[...] ἵνα ὦμεν τέλειοι καὶ καθαροὶ, ἀμάχητοι, σεσωσμένοι ἀπὸ παντὸς ἀνομιῶν καὶ τελειομένοι ἐν παντὶ θελήματι τοῦ Θ(εο)ῦ καὶ Π(ατ)ρὸς Κ(υρίο)υ ἡμῶν ̓Ι(ησο)ῦ Χρ(ιστο)ῦ. Ed. M. Z HELTOV , in: ZHELTOV , Anaphora, a.a.O., 484–486. 34

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Schöpfergott angerufen. Häufig geschieht dies in enger Verbindung mit Aussagen und Begriffen, die keinen Zweifel an den ethischen Konsequenzen des Schöpfungswerkes lassen, also etwa „Gesetz“, „Vernunftwesen“, „Sünde“ oder „Buße“: „Allmächtiger ewiger Gott, Herr des All, Schöpfer und Regent des Seienden, der du den Menschen durch Christus als Zierde der Welt erschaffen und ihm das Gesetz sowohl ins Herz gepflanzt als geschrieben gegeben hast, damit er als Vernunftwesen sein Leben danach einrichte; der du dem Gefallenen deine Güte als Antrieb zur Buße geoffenbart hast, sieh herab auf die, welche den Nacken der Seele und des Leibes vor dir gebeugt haben, da du nicht den Tod des Sünders willst, sondern Buße, damit er sich abwende von seinem bösen Wege und lebe. Der du die Buße der Niniviten angenommen37; der du willst, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen; der du den Sohn mit väterlichem Erbarmen angenommen hast, der durch ausgelassenes Leben sein Vermögen verschwendete, weil er Buße tat38: nimm nun auch die Buße der zu dir Flehenden an [...] Stelle sie deiner heiligen Kirche in der früheren Würde und Ehre zurück, durch Christus, unsern Gott und Erlöser, durch welchen dir Ruhm und Anbetung in dem hl. Geiste geschieht, in Ewigkeit. Amen.“39

Vier unterschiedliche Begründungszusammenhänge der Ethik werden in dieser Doxologie explizit in Anspruch genommen: erstens der Bezug auf ein gewissermaßen „natürliches Gesetz“, das sich zweitens ausdrücklich in der zweiten Tafel des Dekalogs wiederfindet (νόμος ἔμφυτος καὶ γραπτός), drittens die narrative Ethik des Alten Testaments (die „Buße der Niniviten“) und viertens die des Neuen Testaments (das Gleichnis vom verlorenen Sohn). Die Formel von der „Wiederherstellung der früheren Würde und Ehre“ nimmt zudem Bezug auf die doppelte Ebenbildlichkeit der Septuagintafassung von

37

Gemeint ist das Erbarmen, das Gott im Buch Jona über Ninive an den Tag legt: Jon

3,10. 38

Gemeint ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Lk 15,11–32. Παντοκράτορ Θεὲ αἰώνιε, δέσποτα τῶν ὅλων, κτίστα καὶ πρύτανι τῶν ὄντων, ὁ τὸν ἄνθρωπον κόσμου κόσμον ἀναδείξας διὰ Χριστοῦ καὶ νόμον δοὺς αὐτῷ ἔμφυτον καὶ γραπτὸν πρὸς τὸ ζῆν αὐτὸν ἐνθέσμως ὡς λογικόν, καὶ ἁμαρτόντι ὑποθήκην δοὺς πρὸς μετάνοιαν τὴν σαυτοῦ ἀγαθότητα· ἔπιδε ἐπὶ τοὺς κεκλικότας σοι αὐχένα ψυχῆς καὶ σώματος, ὅτι οὐ βούλει τὸν θάνατον τοῦ ἁμαρτωλοῦ, ἀλλὰ τὴν μετάνοιαν, ὥστε ἀποστρέψαι αὐτὸν ἀπὸ τῆς ὁδοῦ αὐτοῦ τῆς πονηρᾶς καὶ ζῆν. Ὁ Νινευιτῶν προσδεξάμενος τὴν μετάνοιαν, ὁ θέλων πάντας ἀνθρώπους σωθῆναι καὶ εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας ἐλθεῖν, ὁ τὸν υἱὸν προσδεξάμενος τὸν καταφαγόντα τὸν βίον αὐτοῦ ἀσώτως πατρικοῖς σπλάγχνοις διὰ τὴν μετάνοιαν, αὐτὸς καὶ νῦν πρόσδεξαι τῶν ἱκετῶν σου τὴν μετάγνωσιν, ὅτι οὐκ ἔστιν, ὃς οὐχ ἁμαρτήσεταί σοι· ἐὰν γὰρ ἀνομίας παρατηρήσῃ, Κύριε, Κύριε, τίς ὑποστήσεται; Ὅτι παρὰ σοὶ ὁ ἱλασμός ἐστιν. Καὶ ἀποκατάστησον αὐτοὺς τῇ ἁγίᾳ σου Ἐκκλησίᾳ ἐν τῇ προτέρᾳ ἀξίᾳ καὶ τιμῇ διὰ τοῦ Χριστοῦ, τοῦ Θεοῦ καὶ σωτῆρος ἡμῶν, δι’ οὗ σοι δόξα καὶ προσκύνησις ἐν τῷ ἁγίῳ πνεύματι εἰς τοὺς αἰῶνας· ἀμήν. ConstAp 8,9 (SC 336, 164,33–166,52; Übers. nach F. BOXLER , BKV 19, 271). 39

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Gen 1,26 („Und Gott sprach, lass uns einen Menschen machen nach unserem Bild und in Ähnlichkeit“)40. Die allgemein verbreitete altkirchliche Exegese ging davon aus, dass die Ähnlichkeit mit dem Sündenfall verloren gegangen war. Die hier beschriebene Perfektionierung spielt auf die Möglichkeit der Wiederherstellung der doppelten Ebenbildlichkeit an. Im ausdrücklich thematisierten Rahmen des göttlichen Heilsplans kommt es so zur Formulierung ethischer Perfektibilität. Auch das Sonntagsgebet des Serapion von Thmuis im sogenannten Euchologion betont in diesem Sinne die Schöpfertätigkeit Gottes: „Wir bitten Dich, den Vater des Eingeborenen, den Herrn des Alls, den Schöpfer der Geschöpfe, den Erschaffer des Erschaffenen; reine Hände strecken wir aus und die Gedanken erheben wir zu Dir, Herr! Wir bitten Dich: Erbarme Dich, verschone uns, sei gütig, bessere und erfülle uns mit Tugend, Glauben und Erkenntnis.“41

Auffallend sind die dreifachen Attribute Gottes: „Herr des Alls, Schöpfer der Geschöpfe, Erschaffer des Erschaffenen“ und der Dreiklang aus ἀρετή (Tugend), πίστις (Glaube) und γνῶσις (Erkenntnis) als Perfektion des Menschen. Auch die zahlreichen Segnungen dieser Sammlung, also des Euchologions, für Katechumenen, Kranke, Speise, Fruchtbarkeit usw. betonen immer wieder die Identität Gottes mit dem Gott der Weltschöpfung. Tugend und Besserung bedeuten gleichzeitig Gemeinschaft mit dem Schöpfergott.42 καὶ εἶπεν ὁ θεός ποιήσωμεν ἄνθρωπον κατ' εἰκόνα ἡμετέραν καὶ καθ' ὁμοίωσιν. Gen 1,16 LXX. 41 Παρακαλοῦμεν σὲ τὸν πατέρα τοῦ μονογενοῦς, τὸν κύριον τοῦ παντός, τὸν δημιουργὸν τῶν κτισμάτων, τὸν ποιητὴν τῶν πεποιημένων, καθαρὰς ἐκτείνομεν τὰς χεῖρας καὶ τὰς διανοίας ἀναπετάννυμεν πρὸς σὲ κύριε· δεόμεθα· οἴκτειρον, φεῖσαι, εὐεργέτησον, βελτίωσον, πλήθυνον ἐν ἀρεϑῇ καὶ πίστει καὶ γνώσει· ἐπίσκεψαι ἡμᾶς κύριε, πρὸς σὲ τὰς ἀσθενείας ἑαυτῶν ἀναπέμπομεν· ἱλάσθητι καὶ ἐλέησον κοινῇ πάντας ἡμᾶς· ἐλέησον τὸν λαὸν τοῦτον, εὐεργέτησον, ἐπιεικῆ καὶ σώφρονα καὶ καθαρὸν ποίησον. καὶ δυνάμεις ἀγγελικὰς ἀπόστειλον, ἵνα ὁ λαός σου οὗτος ἅπας ἅγιος καὶ σεμνὸς ᾖ. παρακαλῶ σε πνεῦμα ἅγιον ἀπόστειλον εἰς τὴν ἡμετέραν καὶ χάρισαι ἡμῖν μαθεῖν τὰς θείας γραφὰς ἀπὸ ἁγίου πνεύματος καὶ διερμηνεύειν καθαρῶς καὶ ἀξίως, ἵνα ὠφεληθῶσιν οἱ παρόντες λαοὶ πάντες διὰ τοῦ μονογενοῦς σου ἰησοῦ χριστοῦ ἐν ἁγίῳ πνεύματι, δἰ οὗ σοὶ ἡ δόξα καὶ τὸ κράτος καὶ νῦν καὶ εἰς τοὺς σύμπαντας αἰῶνας τῶν αἰώνων ἀμήν. Euchologion 19 (ed. WOBBERMIN 14,23–15,9; Übers. nach R. STORF, BKV 5, 140). 42 Ähnliche Schöpferanrufungen finden sich allenthalben, auch in den Apostolischen Konstitutionen, etwa im Gebet über die Diakoninnen: „Ewiger Gott, Vater unsers Herrn Jesu Christi, Schöpfer des Mannes und Weibes!“ Ὁ Θεὸς ὁ αἰώνιος, ὁ Πατὴρ τοῦ Κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, ὁ ἀνδρὸς καὶ γυναικὸς δημιουργός, ConstAp 8,20 (SC 336, 220,1f.). Aus dem Gebet über die Subdiakonen: „Herr Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde und alles dessen, was darin ist, der du an das Zelt des Zeugnisses Wächter gestellt hast zum Schutz deiner hl. Gefäße, blicke auch jetzt herab auf diesen deinen Diener.“ Δέσποτα ὁ Θεός, οὐρανοῦ καὶ γῆς δημιουργὲ καὶ πάντων τῶν ἐν αὐτοῖς, ὁ καὶ ἐν τῇ σκηνῇ τοῦ μαρτυρίου τοὺς νεωκόρους ἀναδείξας τῶν ἁγίων σου σκευῶν φύλακας· 40

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Am weitesten ausgestaltet ist dieser Schöpfungsgedanke aber in der berühmten Anaphora des achten Buchs der Apostolischen Konstitutionen,43 worin es heißt: „Doch nicht nur die Welt hast du erschaffen, sondern in ihr auch den Weltbürger, den Menschen, und ihn zum Schmucke des Kosmos gemacht. Du hast nämlich in deiner Weisheit gesagt: ,Wir wollen den Menschen machen nach unserm Bilde und nach unserer Ähnlichkeit; herrschen sollen sie über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels‘.44 Darum hast du ihn gemacht aus einer unsterblichen Seele und aus einem auflösbaren Leibe, jene aus dem Nichts,45 diesen aus den vier Elementen; hast seiner Seele gegeben vernünftiges Urteil, die Unterscheidung von Gut und Böse, die Beobachtung von Gerecht und Ungerecht, seinem Leib aber die fünf Sinne und freie Bewegung. [...] Βei seiner Erschaffung hast Du ihm ein angeborenes Gesetz gegeben, damit er aus eigenem Vermögen und aus sich selbst heraus die Samen der Gotteserkenntnis besitze. [...] Gerecht hast du ihn aus dem Paradies verstoßen, gütig hast du ihn nicht bis zum gänzlichen Untergang verachtet, denn dein Geschöpf war er.“46

In dieser Doxologie findet sich also eine ins Detail gehende anthropologische Grundlegung mit Verweis auf die wohlbekannten Themen „Weltbürger-

αὐτὸς καὶ νῦν ἐπίβλεψον ἐπὶ τὸν δοῦλόν σου τόνδε, ConstAp 8,21 (SC 336, 222,4–6; Übers. F. B OXLER , BKV 19, 292). 43 Bisher gibt es keinen Konsens über mögliche (jüdische?) Quellen dieses Textes. So hat David A. Finsey im Gegensatz zu älteren Versuchen (Baumstark, Bouyer, Goodenough, Bates u.a.) überzeugend gezeigt, wie schwer, um nicht zu sagen, unmöglich eine Identifzierung möglicher Quellen für diese Anaphora ist (D.A. FIENSY , Prayers Alleged to Be Jewish: An Examination of the Constitutiones Apostolorum, Chico 1985), selbst wenn es m.E. nicht unwahrscheinlich ist, dass eine ältere antiochenische Anaphora als Vorlage gedient haben könnte (siehe in diesem Sinne J.R.K. FENWICK, The Missing Oblation. The Contents of the Early Antiochene Anaphora, GLS 59, Bramcote/Nottingham 1989). Einen guten Forschungsüberblick über die Quellendiskussion zu diesem Text bietet R. GRAVES, The Anaphora of the Eighth Book of the Apostolic Constitutions, in: P.F. Bradshaw (Hg.), Essays (s. Anm. 34), 173–194. 44 Gen 1,26. 45 Gedacht ist hier an eine creatio ex nihilo. 46 Καὶ οὐ μόνον τὸν κόσμον ἐδημιούργησας, ἀλλὰ καὶ τὸν κοσμοπολίτην ἄνθρωπον ἐν αὐτῷ ἐποίησας, κόσμου κόσμον αὐτὸν ἀναδείξας· εἶπας γὰρ τῇ σῇ Σοφίᾳ· Ποιήσωμεν ἄνθρωπον κατ’ εἰκόνα ἡμετέραν καὶ καθ’ ὁμοίωσιν, καὶ ἀρχέτωσαν τῶν ἰχθύων τῆς θαλάσσης καὶ τῶν πετεινῶν τοῦ οὐρανοῦ. Διὸ καὶ πεποίηκας αὐτὸν ἐκ ψυχῆς ἀθανάτου καὶ σώματος σκεδαστοῦ, τῆς μὲν ἐκ τοῦ μὴ ὄντος, τοῦ δὲ ἐκ τῶν τεσσάρων στοιχείων· καὶ δέδωκας αὐτῷ κατὰ μὲν τὴν ψυχὴν τὴν λογικὴν διάγνωσιν, εὐσεβείας καὶ ἀσεβείας διάκρισιν, δικαίου καὶ ἀδίκου παρατήρησιν, κατὰ δὲ τὸ σῶμα τὴν πένταθλον ἐχαρίσω αἴσθησιν καὶ τὴν μεταβατικὴν κίνησιν [...] καὶ ἐν τῷ ποιεῖν νόμον δέδωκας αὐτῷ ἔμφυτον, ὅπως οἴκοθεν καὶ παρ’ ἑαυτοῦ ἔχοι τὰ σπέρματα τῆς θεογνωσίας [...] παραδείσου δικαίως ἐξῶσας αὐτόν, ἀγαθότητι δὲ εἰς τὸ παντελὲς ἀπολλύμενον οὐχ ὑπερεῖδες, σὸν γὰρ ἦν δημιούργημα. ConstAp 8,12 (SC 336, 184,97–186,107.111f.119– 121; Übers. F. B OXLER , BKV 19, 278f.).

Zum Ethos antiker liturgischer Quellen

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tum“,47 die Lehre vom Vernunftsamen,48 die Vier-Elemente-Lehre,49 den Dualismus von Leib und Seele50 usw. Es handelt sich um eine Grundlegung nicht nur der Anthropologie, sondern um eine anthropologische Grundlegung der Ethik. Denn es geht um das Erkenntnisvermögen, durch das der Mensch Gut und Böse unterscheiden kann, zumindest im Hinblick auf die natürliche ethische Erkenntnis, wie sie in den Geboten der zweiten Tafel des Dekalogs zum Tragen kommt. Diese Doxologie lässt sich damit beinahe als ein Konkurrenzentwurf zu einer Ethiklehre vulgärphilosophischen Zuschnitts lesen. Aber doch hat diese Ethik und ihr Begründungszusammenhang eine andere Qualität: Neu ist ihre Einbettung in die im Gottesdienst zum Ausdruck kommende Heilsgeschichte und Heilsgemeinschaft und damit in eine gottesdienstliche Gemeinschaft mit einem ausdifferenzierten Ritualsystem von Reue, Buße und Vergebung.51 47 Intendiert ist hier zweifellos ein Anschluss an die Anthropologie der kaiserzeitlichen Stoa, wie sie etwa bei Sen.vit. 5, Epict.diss. 2,10,3 oder M.Aur. 4,4; 6,44 zum Ausdruck kommt. Schon Tert.pud. 7,6.11, und Or.comm.Io. 6,38, hatten auf dieses Gedankengut rekurriert. Vgl. dazu den Überblick bei R.P. HORSTMANN , Art. Kosmopolit, Kosmopolitismus, HWP IV (1976), 1155–1167, 1155–1158. Siehe außerdem etwa VOLP, Würde (s Anm. 8), 46–54.113; G.B. LAVERY , Never Seen in Public. Seneca and the Limits of Cosmopolitanism, Latomus 56 (1997), 1–13; J.L. M OLES, Cynic Cosmopolitanism, in: R.B. Branham/M.-O. Goulet-Cazé (Hgg.), The Cynics. The Cynic Movement in Antiquity and its Legacy, Berkeley 1996, 105–120; A.T. ERHARDT, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin 2. Die christliche Revolution, Tübingen 1959, 74.222 u.ö. 48 Siehe dazu etwa W. LÖHR , Art. Logos, RAC XXIII (2008), 327–435 (Lit.); J. ULRICH, Innovative Apologetik. Beobachtungen zur Originalität Justins am Beispiel von der Lehre vom Logos Spermatikos und anderer Befunde, ThLZ 130 (2005), 3–16; E. OSBORN , Justin Martyr and the Logos Spermatikos, StMiss 42 (1993), 143–159; G.C. STEAD , Art. Logos, TRE 21 (1991), 432–444, 432–435.441f. 49 Vgl. etwa Plato Tim. 55D–57D. Zentral wurde die Vier-Elemente-Lehre bei Aristoteles (dazu etwa G.A. SEECK, Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles, München 1964) und in der Humoralpathologie, die ebenfalls bei christlichen Denkern wie etwa Chrysostomos allenthalben zu finden ist. Vgl. dazu U. BACHMANN , Medizinisches in den Schriften des griechischen Kirchenvaters Johannes Chrysostomos, Diss. Düsseldorf 1984. 50 Siehe dazu ausführlich VOLP, Würde (s. Anm. 8), insbes. 22–28.104–232. 51 Auch der Abschluss der Apostolischen Konstitutionen verbindet in ähnlicher Weise Schöpferbekenntnis und Ethik: „Gott aber, der allein Ungezeugte und Schöpfer des Alls, wird euch alle durch den Frieden im hl. Geist vereinigen; er wird zu jedem guten Werke die Beständigen, die Schuld- und Tadellosen wieder herstellen (vgl. Hebr 13,21). Und er wird euch mit uns des ewigen Lebens würdigen durch Vermittlung seines geliebten Sohnes Jesus Christus, unseres Gottes und Erlösers, durch den ihm, dem Gott über Alles und Vater im hl. Geiste, dem Tröster, jetzt und immer und in Ewigkeit Ehre sei. Amen.“ Θεὸς δὲ ὁ μόνος ἀγέννητος καὶ τῶν ὅλων διὰ Χριστοῦ ποιητὴς πάντας ὑμᾶς διὰ τῆς εἰρήνης ἐν Πνεύματι ἁγίῳ ἑνώσει, καταρτίσει εἰς πᾶν ἔργον ἀγαθὸν ἀτρέπτους, ἀμέμπτους, άνεγκλήτους, καταξιώσει τε τῆς αἰωνίου ζωῆς σὺν ἠμῖν διὰ τῆς μεσιτείας

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3. Doxologische Ethik im antiken Kontext Die zitierten Texte haben inhaltlich einen ausdrücklich universalistischen und kollektiven, auf die christliche Gemeinschaft bezogenen Fokus: Diese ,doxologische Ethikʻ, wie man sie aufgrund ihrer Begründungsqualität mit Recht nennen darf, weiß sich als Teil einer ethischen Weisheitstradition. Dieser Traditionszusammenhang konstituiert sich durch die Einbettung in Anamnese und Schriftlesungen wesentlich rituell.52 Inhaltlich ist sie schöpfungstheologisch und heilsgeschichtlich definiert: Man betet im christlichen Gottesdienst zu dem Schöpfer, der die Welt und den Menschen in Perfektion aus dem Nichts/ex nihilo geschaffen hatte und der ihm im Sakrament die Hoffnung auf Wiederherstellung dieser Perfektibilität eröffnet. Man betet zu dem Schöpfer, der am Ende aller Zeiten diese Welt auch wieder aufhören lässt. Dies sind im antiken Kontext alles andere als selbstverständliche Gedankengänge. Gerhard May hat einmal auf die Radikalität der christlichen Überzeugung von der creatio ex nihilo im antiken Kontext der ersten Jahrhunderte hingewiesen.53 Aber nicht nur die Vorstellung einer Erschaffung der Welt aus dem Nichts sorgte unter paganen Kritikern des Christentums für Anstoß, auch die Vorstellung von einem Ende der Welt ist aus antiker Sicht schwer verständlich. So liest man da etwa: „Wer aber wird [die Welt] vergehen lassen und wozu? Wenn es der Schöpfer wäre, der dieses täte, würde er den Vorwurf auf sich ziehen, dass er das, was ohne Wanken daliegt, in Bewegung setzt und verändert. Wenn er aber die Gestalt der Welt verbessern wollte, würde er andererseits deshalb angeklagt werden, dass er nicht schon während der Schöpfung die für die Welt angemessene und passende Gestalt zugelassen, sondern ohne einen besseren Plan diese gleichsam unvollkommen erschaffen hat.“54

τοῦ ἠγαπημένου Παιδὸς αὐτοῦ Ἰησοῦ Χριστοῦ, τοῦ Θεοῦ καὶ σωτῆρος ἡμῶν, δι᾽ οὗ ἡ δόξα αὐτῷ τῷ ἐπὶ πάντων Θεῷ καὶ Πατρὶ ἐν ἁγίῳ Πνεύματι τῷ παρακλήτῳ νῦν τε καὶ ἀεὶ καὶ εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων· ἀμήν. ConstAp 8,48 (SC 336, 308,5–310,13; vgl. die Übers. F. B OXLER , BKV 19, 332f.). 52 Zur grundsätzlichen Bedeutung eines solchen Traditionszusammenhanges für jede christliche Ethik vgl. etwa S. HAUERWAS, A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame 1981. 53 G. MAY , Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, AKG 48, Berlin 1978. 54 Τίς δ’ ὁ παράγων ἔσται καὶ τίνος χάριν; Εἰ μὲν γὰρ ὁ δημιουργὸς τοῦτο παράξειε, διαβληθήσεται, ὡς τὸ κείμενον ἀσφαλῶς κινῶν καὶ μεταφέρων· εἰ δ’ ἐπὶ τὸ κρεῖττον παράξει τὸ σχῆμα, κατηγορεῖται κἀν τούτῳ πάλιν, ὡς οὐ συνιδὼν ἐντῇ δημιουργίᾳ τὸ ἁρμόζον καὶ πρέπον σχῆμα τῷ κόσμῳ, ἀλλὰ τοῦ κρείττονος λόγου πόμενον ἔκτισεν αὐτὸν ὥσπερ ἀτελῆ. Mac.apocrit. 4,1 (ed. VOLP, TU 169, 312). Vgl. zu Herkunft, Datierung und Charakter dieser Kritik (mit Lit.) a.a.O., IX–XXIII, außerdem U. VOLP, Art. Makarios Magnes, RAC 23 (2009), 1223–1234.

Zum Ethos antiker liturgischer Quellen

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Die christliche Vorstellung von der Nichtewigkeit des Kosmos dagegen fußt auf der Überzeugung von einem göttlichen Heilsplan, in den die Geschichte der Welt, aber auch die Geschichte eines jeden einzelnen Menschen in universalistisch-kollektiver Weise zusammengefasst ist. Wir haben es einerseits mit einem a posteriori begründeten Ethos zu tun, einer aposteriorischen Erfahrungsweisheit, die sich in den Stürmen des Lebens seit den Zeiten der Erzväter bewährt hat und deren alte Herkunft und große Autorität durch die ,apostolische Fiktionʻ etwa der Apostolischen Konstitutionen unterstrichen wird. Andererseits tritt daneben aber durch die Doxologie des Schöpfergotts nun eine a priori-Begründung der Ethik – man könnte auch sagen: durch das apriorische Wissen vom Schöpfergott, das sich immer wieder doxologisch seiner selbst vergewissert. Der Begriff ,Anaphoraʻ – lateinisch repetitio – enthält dieses Element des sich wieder und wieder selbst Vergewisserns ja bereits. Es handelt sich um eine Gewissheit, die zudem fest eingebunden ist in das rituell geordnete Geschehen von „ethischer Verfehlung – Reue – ritueller Buße – ritueller Vergebung und Wiederaufnahme in die Gemeinschaft“, das wiederum eingeordnet ist in das große Ganze der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Auferstehung am Ende aller Zeit. Angesichts der Größe des Heilsplans erscheint die Doxologie als das angemessene Format dafür. Immer wieder hat man auf die Schlüsselrolle christlicher Ethik für den Erfolg des Christentums in der Antike hingewiesen.55 Es wäre zu überlegen, ob die Rolle, die der christliche Ritus dabei gespielt haben könnte, nicht neu zu bewerten ist. Die im dritten Jahrhundert florierende und auf das Christentum erheblichen Einfluss ausübende „neuplatonische Religiosität“ hatte in der Ethik mit einer Reihe von ungelösten Fragen zu kämpfen, die sie unzweifelhaft gegenüber der Stoa (und in geringerem Maße auch dem Christentum gegenüber) in die Defensive brachte.56 Die Attraktivität des in den hier besprochenen Quellen zutage tretenden christlichen Ritus könnte sich vor diesem Hintergrund ein Stück weit erklären.

4. Fazit Es bleibt angesichts dieses Befundes zu fragen, an welcher Stelle eine historische Beschreibung der altkirchlichen Ethik beginnen sollte: Beginnt sie mit dem intellektuellen Diskurs über philosophische und ethische Fragen, so ist das möglich und wird auch nicht ohne Ergebnisse bleiben. Es besteht jedoch die Gefahr, die nachkonstantinische antike Christenheit zu sehr in die Denkschablonen der sokratisch-philosophischen Ethiktradition zu 55

Siehe z.B. MARKSCHIES, Warum (s. Anm. 9). Siehe in diesem Sinne etwa A. DIHLE, Art. Ethik, RAC 6 (1966), 646–796, insbes. 681–688. 56

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pressen und jene Aussagen, die aus apologetischem Interesse dieser Tradition nahestehen zu scheinen, vielleicht überzuinterpretieren. Auf diese Gefahr hat Willy Rordorf in seiner erwähnten Arbeit über den Dekalog bei den Kirchenvätern mit Recht hingewiesen.57 Beginnt sie mit dem altkirchlichen Bekenntnis, und seiner genuin christlichen Ausgestaltung mit den unterschiedlichen Sitzen im Leben, so scheint diese Gefahr gebannt. Aber versucht man nun vor diesem Hintergrund die Ethik etwa aus dem Bekenntnis abzuleiten, dann erhält das Bekenntnis leicht die Rolle eines metaphysischen Systems, das dann nach seinen moralischen Implikationen zu befragen wäre.58 Das ist zwar möglich, dem Denken und Leben der Christen der Alten Kirche aber letztlich unangemessen, sind es doch umgekehrt die kosmologischen und metaphysischen Implikationen der christlichen Glaubenspraxis, die der Theologie erhebliche und nicht immer zufriedenstellend lösbare Aufgaben abverlangten. Die Antworten, die die Kirchenväter auf diese Fragen gaben, waren alles andere als einheitlich, und sie waren sich der Pluralität und Vorläufigkeit dieser Antworten durchaus bewusst.59 Der Blick auf die liturgischen Quellen der Alten Kirche lehrt uns jedoch, dass sich das Bewusstsein einer solchen Unsicherheit und Vieldeutigkeit in Fragen der gemeinschaftlichen ethischen Weisheitstradition und der darin erkennbaren Heilsgeschichte dort gerade nicht wiederfindet. Stattdessen tritt uns eine christliche Gemeinschaft entgegen, die an ihre Mitglieder hohe ethische Ansprüche stellt und die sich gleichzeitig im Ritus und in der Doxologie regelmäßig der Quellen der Religion vergewissert: Die Doxologie preist einen Gott, dessen Wesen gleichzeitig die Grundlage für alle ethischen Forderungen ist: Gott, den Schöpfer, dessen Geschöpfe alle seine Kinder sind, deren ,Rückkehrʻ zur Sohnschaft aber das Ziel eines Prozesses ist, in dem die Ethik eine zentrale Rolle spielt.60 57

RORDORF, Beobachtungen (s. Anm. 25). Vgl. auch hier etwa die Fundamentalkritik von Hauerwas an der modernen christlichen Ethik, die auch heute zuweilen diesen Weg beschreitet: S. HAUERWAS, On Keeping Theological Ethics Theological, in: Ders./S. MacIntyre (Hgg.), Revisions, changing perspectives in moral philosophy, Notre Dame 1983, 16–42. 59 Vgl. dazu nur den ausdrücklich spekulativen Charakter der Beantwortung kosmologischer und metaphysischer Grundsatzfragen bei Basilius von Cäsarea (Hexaemeron) und Gregor von Nyssa (Apologia in hexaemeron; De opificio Dei u.a.). 60 In der Exegese der entsprechenden biblischen Texte (Ps 82,6; Mt 5; Lk 20,36; Gal 4,4–7; Röm 8 u.ö.) durch die Kirchenväter wird in diesem Sinne die Auffassung einer „verlorenen Sohnschaft“ immer wieder thematisiert. Ihre Rückgewinnung wird in der Taufe verheißen (ConstAp 7,43,5; vgl. Cyr.Hier.procatech. 16; Greg.Nyss.bapt.Chr. 596D–597A; Chrys.catech. 4,2), erfordert aber auch die „Annahme des Logos“ (Clem.Al.protr. 27,3; 123,1 u.ö.; differenzierender etwa Or.comm.Io. 20,287; Ath.Ar. 2,59 [273A] u.ö.; Bas.spir. 36), die unter Beweis zu stellen ist durch ethisch verantwortetes Handeln (Chrys.hom. 12,4 in Mt; hom. 14,2 in Rom.). Vgl. dazu G. DELLING , Art. Gotteskindschaft, RAC XI (1981), 1159–1185, 1164–1185. 58

Zum Ethos antiker liturgischer Quellen

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Dieses in allen hier behandelten Quellen liturgisch zentrale Bekenntnis kann der Sache nach aber nun eben keine Partikularethik für eine bestimmte Gruppe begründen, sondern führt zu einer universalen Begründung der Ethik in der Alten Kirche – einer aposteriorischen wie apriorischen Begründung, deren historische Bedeutung sich ohne Berücksichtigung der Quellen aus liturgischen Kontexten nicht ausreichend erfassen lässt.

Autorenverzeichnis Eve-Marie Becker Dr. theol., 1972, Professorin für neutestamentliche Exegese am Fachbereich Theologie, Institut für Kultur und Gesellschaft, Universität Aarhus. Cornelis Bennema PhD, 1964, Senior Lecturer für Neues Testament an der Wales Evangelical School of Theology Bridgend; Extraordinary Associate Professor at the Unit for Reformed Theology and the Development of the South African Society, Faculty of Theology, North-West University, South Africa. István Czachesz PhD, 1968, Privatdozent für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sotirios Despotis Dr. theol., 1968, Professor an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen. Sönke Finnern Dr. theol., 1976, Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in der Kirchengemeinde Waiblingen-Bittenfeld. Ansgar Franz Dr. theol., 1959, Professor für Liturgiewissenschaft und Homiletik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Alexandra Grund Dr. theol., 1971, Professorin für Altes Testament an der EvangelischTheologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg. Jens Herzer Dr. theol., 1963, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.

442

Autorenverzeichnis

Friedrich Wilhelm Horn Dr. theol., 1953, Professor für Neues Testament an der EvangelischTheologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Klaas Huizing Dr. phil. Dr. theol., 1958, Professor für Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität Würzburg. Karen Joisten Dr. phil., 1962, außerplanmäßige Professorin am philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Gastprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Paul-Gerhard Klumbies Dr. theol., 1957, Professor für Biblische Wissenschaften unter besonderer Berücksichtigung des Neuen Testaments am Institut für Evangelische Theologie der Universität Kassel. Ekkehard Mühlenberg Dr. theol., 1938, Professor emeritus für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Christoph Gregor Müller Dr. theol., 1963, Professor für Neutestamentliche Exegese, Neutestamentliche Einleitungswissenschaft und Bibelgriechisch der Theologischen Fakultät Fulda. Ron aiweld Dr. phil., 1974, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre de Recherches historiques/ EHESS Paris. Michael Roth Dr. theol., 1968, außerplanmäßiger Professor an der Abteilung für Systematische Theologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Lehrbeauftragter am Seminar für Systematische Theologie der EvangelischTheologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Eckart David Schmidt Dr. theol., 1969, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Neues Testament der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes GutenbergUniversität Mainz.

Autorenverzeichnis

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Blossom Stefaniw Dr. phil., 1977, Juniorprofessorin für Ethik in Antike und Christentum am Seminar für Kirchen- und Dogmengeschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Esther Verwold 1982, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kirchen- und Dogmengeschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Ulrich Volp Dr. theol., 1971, Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte (Schwerpunkt Alte Kirche) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ruben Zimmermann Dr. theol., 1968, Professor für Neues Testament an der EvangelischTheologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Research Associate, Faculty of Theology, University of the Free State, Bloemfontein/ South Africa.

Stellenregister Altes Testament Genesis 1,26 4,3–7 1. Samuel 2 2,1–10 2,8

432 f. 330–332

293 341–350 339

2. Samuel 21–24

343 f.

Psalter 1 8 50–51 102 118

426 f. 330 80 319 417

Neues Testament Matthäus 8,23–27 16,15–18 26,36–46 28 28,1–6 28,17–20

414 414 f. 416 152 f., 164 159 f. 163

Johannes 13 13,1–20 13,34 15,12–13 17,6–26

211 f., 358 f. 202 203, 213–215 215 215–217

Apostelgeschichte 20,18–35 203

Markus 1,1 2,1–3,6 2,1–12 2,13–17 2,18–22 2,23–28 3,1–6 13,55 14,32–42

172 f. 169–188 175–178 178–180 180–182 183–185 185–187 406 416

Lukas 1,46–55 10,30–36 10,37 15,11–32 22,54–62

293 f. 23 f. 154 153 f., 432 406

Römer 7,19 11,36 12,1 13,11–13

335 430 f. 81 f. 416 f.

1.Korinther 3,6–9 5 9 9,21 11 12,12–31 16,20–23

22 f. 26–30 11 f. 285f. 358 30–36 358

446

Stellenregister

2. Korinther 4,13

40 f.

Galater 6,2

21 f.

Epheser 1,3–14 5,8–14

391 416 f.

Philipper 1 2,1–4 2,6–11 2,9–11 2,19–30 3,17

230 232 202, 226–229, 232– 234, 294 229 229 f. 202

1. Thessalonicher 2,14

243

1. Timotheus 1,11 1,15 1,16 1,17 2,4 2,5

364 362 414 364–369 362 362

3,14–16 3,15f. 3,16 6,14–15 6,15

66–69 56 361, 363 364 369–373

2. Timotheus 2,20

49–70, 68

Titus 1,12 1,14–16

58–63 59–60

1. Petrus 1,3–12 1,3 1,13 2,4–5 2,21 4,11 5,11

294, 391–400 384 74 f., 294 75–78 202 384–386, 390, 394 384–386, 390, 394

2. Petrus 1,19

412 f.

Hebräer 13,7 13,15–16

243 f. 82

Judaica Talmud

Mischna mBer 2,5–7 mChagiga 2,1

263 f. 267

Tosefta Ohalot 16,8 Para 16,8

264 264

jChagiga 2,1 bPesachim 108a

268 f. 266

447

Stellenregister

Frühchristliches Schrifttum Gregor von Nyssa

Ambrosius Aeterne rerum conditor Epistulae 75a (21a),34

Vita Mos. 1–2

250 f.

405 f. Johannes Chrysostomos 405

Anaphorai Barcelona–Papyrus 431 Papyrus Graecus 254 431 Apostolische Konstitutionen 2,57 427 8,6 426 8,9 420, 432 8,12 434 Athanasius

Habentes eundem spiritum Hom I. Homiliae in Matth. 4 6 7 39 47

40 f. 45 47 f. 48 6 46

Justin Apologiae I apol. 67,5–6

358

Makarios Magnes

De decretis icaenae Synodi 20,3 254 De incarnatione 57,1–2 247 Epistula encyclica 7,5 247 Augustinus Confessiones 1 9,6,14f.

294 403

2. Clemens 4,1–3

422

Euchologion 19

433

Apocritikos 4,1

436

Origenes Commentarii in Cant. 3,12 255 Contra Celsum 5,5 253 8,18 245 De oratione 22,4 254 Homiliae in Jer. 4,6 249 Alexander von Lykopolis Contra Manichaei 423

Gregor von Nazianz In laudem sororis

428

448

Stellenregister

Griechisch-römische Literatur Plutarch

Aristoteles Poetica 4,1448b.4–17

241 f.

73

Porphyrius

Cicero De inventione 1,49

Perikles 1,3

232

De abstinentia 2,3

Jamblichus

Quintilian

De mysteriis 7,1 251 f. De vita Pythagorica 16,69 246

Institutio oratoria VIII 5,7 VIII 6,11 VIII 6,19 VIII 11,1–2

252

231 f. 58 50 232

Plato De re publica 394e–397b

Rhetorica ad Herennium 238–241

4,3,5 4,66

226 225

Sach- und Personenregister Agamben, Giorgio 297, 299–302 Balthasar, Hans Urs von 301 f. Barth, Karl 297, 299–302 Betz, Hans Dieter 195, 197–200, 219 Bild 39, 86 f. Biographie 280 f. Biomedizin 305, 336 Bittner, Rüdiger 127–130 Briefe des Paulus – als Philosophenbriefe 224 Brock, Brian 304 Bürgerlichkeit 360 Buße 429 f., 432 Christus – als Exemplum 226–229 copy-model 251–255 creatio ex nihilo 436 Cunningham, David S. 381 f. Dekalog 428, 432, 435 Demut 226–229, 353, 359, 429 Deontologie 13 Diakonie 356 Dogma 421 Doxologie 291–439, 291–294, 313, 329––341, 361–373, 375–402 Doxologische Ethik 295–338, 355–373, 375–402, 381–383, 403–419 Doxologisches Bekenntnis 430–436 Dualismus 435 Dunkelheit 409 Ehre 298, 303, 324–329, 351 Ekklesiologie 52, 53–58, 66–69 Empathy 283–286 Erfahrung 312 f. Erfahrungsinszenierung 311, 323, 338 Erhöhung 347 Erkenntnis 433 Erniedrigung 305, 347

Erzählung 141–169 – Erzähler 150–154 – Erzähltheorie 170 f. – Ethische Kritik 165 f. – – Figurenbewertung 151–153 – – Normen 154–160, 174 f.,187 f. – – Protagonist der Erzählung 187 f. – – Wirkungsanalyse 161–165 Ethico-Ästhetik 23–25, 28, 93 Ethik 3–7 – Altes Testament 432 – Begründung 11–14, 53 – – a posteriori 437 – – a priori 437 – – Bekenntnis 438 – – deontologisch 13 f. – – eucharistische 356 – – narratologisch 91–104, 105–121, 123–139 – – sapiential 329 – – Schöpfung 437 – – teleologisch 13 f. – und Erzählung 146–150 – Gruppenethos 357 – Implizite Ethik 167, 375 – Lebensferne 123–125 – als Mimesis 234 – Normen 131 f. – Paulus 359 – Universalität 439 – weisheitlich 328 f. Ethos 112–119 Eucharistie 356, 358, 381 Euchologion 425 Eulogie 292 f., 377, 386–390 Evagrius Ponticus 245 Evangelien – mimetische Idealbiographien 197, 203 f. Exemplum 219–223, 226–234, 279–281 Exempla Virtutis 231

450

Sach- und Personenregister

Fischer, Johannes 99 f. Foucault, Michel 260 Fruchtbarkeit 308 Fußwaschung 211–213 Gebet 425 Gebot 428 Geschöpflichkeit 305 Gesetz 432 Gewalt 299–302, 332 Glaube 433 Goldene Regel 284 f. Gottebenbildlichkeit 432 f. Gottesdienst 85, 424–430 Gruppenidentität 66–69

Leib 301 Leiden Christi 425 Leseakt 297 Licht 409 Liebe 130 f. Liebesgebot 213–215 Liturgie 424–435, 438 f. Logos 112–119, 267 Luther, Martin 418

Johannes Chrysostomos 39–48, 426 Johannesevangelium 102–104, 205–217 Jonas, Hans 134 f. Jüngel, Eberhard 301

MacIntyre, Alasdair 93 f. Malina, Bruce 324 f. Markusevangelium 169 f. Martyrium 356 Master-Disciple 257–270 Meersymbolik 414 Mesotes 14 Metapher 3–88, 49–58 – und Ethik 3–7, 15–21, 49–58 Metaphorik 3–7 Metaphorische Ethik 3–7, 9–37, 26–30, 30–36, 50 – Deutungsoffenheit 25 f. Metaphorische Ethikreflexion 21–26 Metaphorische Rede 71–88 Metaphorische Sprache 55 f., 72 Mimesis 115, 191–287, 196, 206 f., 224, 235–255, 257–270, 425 – Mimesis of Being 215–217 – Family Mimesis 211 – Filial Mimesis 209–211 Mimetik 219–223 Mimetische Ethik 15, 191–193, 195– 204, 205–217, 219–234, 236–255 Mimetische Geschichtsschreibung 197 Moralische Signifikanz 11–13 Morgenhymnus des Ambrosius 403–419 Mythos 198 – Christusmythos 199

Kabod 297 Kirche 415 f. Kontrastvergleiche 322f. Korintherbrief, Erster 26–36 Kosmologie 251–255 Krankheit 120 f., 177 f., 179f. Lebensethik 37 Lebenskunst 93

Nachahmung 201, 221, 225 Nachfolge 197, 201 f., 207 ff., 257–270 Nächstenliebe 358 f. Narratio 91–188 Narrative Anthropologie 110 f. Narrative Ethik 91–104, 105–121, 123– 139, 141–167 – Forschungsgeschichte 93–104

Häresie 246–248 Hahn 401–419 Handlungsbegründung 12, 313 Hauerwas, Stanley 100 f. Heiliger Geist 298, 317 f., 335, 337 Heiligung 84 Hermeneutik 112–119 Herrlichkeit 297, 299–302 Historiographie 222 f. Hofheinz, Marco 305 Honor and Shame 298, 324–329 Hymnus 293 f., 313, 346, 361, 404 Identität 336, 357 Imitatio 219–223, 273–281 Imitatio Dei 245–248 Implizite Ethik 11, 167, 375, 384, 401 Indikativ-Imperativ 9 f., 51, 198, 379 f. Irrtum 413

Sach- und Personenregister Narratologie 141–167 – Kognitive Narratologie 144–146 Norm, Normativität 54, 154–160 Normenkommunikation 157 ussbaum, Martha 94 Opfer, Opfermetaphorik 78–85 Opferkritik 78–85 Ordnung 251–255, 321 Orthodoxie 355–361 Parallelismus 19–320 Pastoralbriefe 51 f. Pathos 112–119 Paulus – als Exemplum 225 f. – metaphorische Ethik 9–37 – mimetische Ethik 200–204, 219– 234, 243–244 Petrusbrief, Erster 71–88, 375–402 Pflichtenlehre 424 Philanthropie 45 Philipperbrief 219–234 Philo von Alexandrien 81 Polemik 60–62, 246 Predigt 39 f., 425 f. Prosopopoiie 230 Qumran 81 Rabbi 263 Regelethik 309 Religiöse Rede 318–324 Rezeptionsästhetik 145, 301 Rhetorik 39 f., 44, 59 Ricœur, Paul 94 f., 117 f. Rituale 276–279, 282 Sabbat 183–185 Sakrament 312 Scham 298, 314 f., 324–329, 332 f., 337 Schande 324–329 Schapp, Wilhelm 110, 126 f. Schönheit 418 f. Schöpfer 409, 430–436 Schöpfung 267 f., 305, 430–436 Schuld 316, 332–335, 409 Seele 45 f. Sexualität 47 f.

451

Sinnerfahrung 314 Situation 127–129, 133, 137, 182, 185, 187 Situationsethik 309, 336 Situationskompetenz 313 Sozialpsychologie, social cognition 273–276 Sprachbilder 91–104 Stadt, antike 47 f. Steffensky, Fulbert 419 Stevenson, Charles Leslie 135–137 Sünde 180, 308, 333 f., 338, 432 Synchrony 281–283 Synergismus 41 Tag 410 f. Taufe 421 Texte 313 Theißen, Gerd 315f. Theologie – als Mimesis 234 Timotheusbrief, Erster 66–69, 355–373 Timotheusbrief, Zweiter 63–66, 203 Titusbrief 58–63 Topik 112–119 Torah 284 Tradition 428 Tugendethik 93 f., 381, 423, 428, 433 Tun-Ergehen-Zusammenhang 352 Typen 225 f. Umwertung 351 Urbanität 47 f. Urgemeinde 359 Verantwortung 338 Vergebung 409 Vernunft 432, 435 Verstand 73 f. Vico, Giambattista 116 f. Vier-Elemente-Lehre 435 Vierfacher Schriftsinn 411 f. Virginität 42 f. Vollkommenheit 44 Vorbild 201 f., 221 Vorbildethik 207 Wahrheit 260, 270 Waldow, Stephanie 98

452

Sach- und Personenregister

Weisheit 137–139, 317, 319–322, 335, 337 Weisheitserzählungen 320–322 Weisheitstradition 436 Weltbürgertum 435 Werke, gute 42 f., 422 Wertsystem 353

Wirklichkeit 49 Wirkungsästhetik 104 Wohltätigkeit 44f. avkolouqei/n 207–211 mi,mhsij 198–200, 207, 224 tapeinofrosu,nh 226–229