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German Pages 516 [518] Year 2019
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich)
Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Olivia L. Rahmsdorf
Zeit und Ethik im Johannesevangelium Theoretische, methodische und exegetische Annäherungen an die Gunst der Stunde Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/ Contexts and Norms of New Testament Ethics Band X
Mohr Siebeck
Olivia L. Rahmsdorf, geboren 1988; 2007–2014 Studium der Theologie in Münster, Beirut und Mainz; 2015–2018 Promotionsstipendium des Gutenberg Nachwuchskollegs; 2017 Doctoral Research Scholarship am Princeton Theological Seminary; 2018 Promotion; 2019 Preisträgerin des Ernst-Wolf-Preises der Gesellschaft für Evangelische Theologie; derzeit Vikarin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
ISBN 978-3-16-156875-6 / eISBN 978-3-16-156876-3 DOI 10.1628 / 978-3-16-156876-3 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über setzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben einsetzt für seine Freunde. (Joh 15,13)
Vorwort Meine Mutter sagt immer, ich sei so ungeduldig. Das stimmt auch. Doch man wird festhalten müssen, dass jeder Mensch ungeduldig ist, nur eben in unterschiedlichen Bereichen, so wie jeder Angst hat, nur in unterschiedlichen Bereichen. Beides hängt vermutlich zusammen. Ich werde ungeduldig, wenn ich meiner Mutter ‚Computer‘ erklären muss oder wenn meine minutiös ausgearbeiteten (Lebens-)Pläne durchkreuzt werden. Meine Mutter wird ungeduldig, wenn mein Vater fragt, wo etwas liege, ohne selbst geguckt zu haben. Mein Vater wird ungeduldig, wenn er nicht alles sofort ‚erledigen‘ kann. Mein Freund ist grundsätzlich kein ungeduldiger Mensch, vielleicht, weil er nie ans Telefon geht. Er wird lediglich ungeduldig, wenn die Mannschaftskollegen sich nicht ins Doodle eintragen. Ungeduld wird häufig als Charakterzug angeführt, wenn es darum gehen soll, seine eigenen Schwächen zu bekennen: „Ich bin so schrecklich ungeduldig“. Wie Prof. Michael Roth bei einer Predigt im Universtitätsgottesdienst in der Mainzer Christuskirche feststellte, ist das eigentlich ein verstecktes Rühmen. „Ich bin so ungeduldig“ heißt nämlich übersetzt: „Ich bin meinen Mitmenschen meistens voraus“. Und „ich bin so ungeduldig mit mir“ heißt: „Ich bin sehr selbstkritisch und entwickle mich dadurch ständig fort“. Auch ich wollte während der Promotionszeit beweisen, dass ich mit der Zeit, die mir das Stipendium des Gutenberg Nachwuchskollegs zur Verfügung stellte, gut haushalten kann. Ich wollte vermeiden, dass jemand ungeduldig mit mir werden muss. So gut es ging, habe ich versucht, meine persönliche Ungeduld auf meine beruflichen Ziele hin zu kanalisieren und gleichzeitig meine Zeit auch mal alinear, nämlich für die Menschen um mich herum zu ‚verschwenden‘. Das ist mir mal mehr mal weniger gelungen. Ich bin mit Menschen durch Täler gewatet und habe gemeinsam mit ihnen die Feste des Lebens gefeiert. Ich bin aber auch immer wieder daran gescheitert, meine Zeit ganz ohne Kompensationswunsch für andere hinzugeben. Umso dankbarer bin ich all denen, die ohne Gegenforderung und Ungeduld ihre Zeit für mich eingesetzt haben. Das ist zu allererst mein Doktorvater Prof. Dr. Ruben Zimmermann, der mir trotz unzähliger Projekte, Doktoranden, Dekanats- und Familienmanagement wertvolle Zeit und Tipps gespendet hat, der auf sagenhafte Art und Weise stets wusste, was für mich an der Zeit ist und
VIII
Vorwort
wie mein schwer zu bändigendes überfachliches Interesse in seinem Fach Raum finden kann. Danken möchte ich auch dem gesamten Zentrum für Ethik in Antike und Christentum (EAC), allen voran Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn, der auch in schweren Zeiten solche für mich erübrigen konnte; Prof. Dr. Michael Roth und Prof. Dr. Ulrich Volp für wunderbare Gespräche über Zeit, Gott und die Welt und ermutigende Worte in den unterschiedlichen Phasen der Promotion. Den Mitgliederinnen des Mainzer Graduierten-Kollegs „Die Dimension der Zeit in der Begründung der Ethik“ Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer, Tanja Dannenmann, Inja Inderst und Mirjam Jekel danke ich für anregende Diskussionen über die Hölzchen und Stöckchen der Zeit und der Ethik, für praktische Tipps und Ansporn auf den letzten Metern. Ich danke Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls, die meine wissenschaftliche Karriere seit meiner Studienzeit in Münster mit großer Empathie und wissenschaftlicher Kenntnis begleitet hat und Prof. Dr. Jörg Frey, der mich als ‚Doktorgroßvater‘ mit Offenheit und Begeisterungsfähigkeit sowohl in die Familie der Johanneiker als auch in die WUNT II-Reihe aufgenommen hat. I would further like to express my gratitude to Prof. Dr. George Parsenios who always knew how to pose the right questions and who made my research semester at Princeton Theological Seminary at the same time most beneficial and delightful. Ich danke dem Gutenberg Nachwuchskolleg und der Gutenberg Akademie, sowie meinem Akademie-Mentor Prof. Dr. Philipp Harms für die strukturelle und finanzielle Unterstützung und die Möglichkeit, den Blick über den Tellerrand der Theologie hinaus zu öffnen. Ganz besonders danke ich meinem Gemeindepfarrer Reinhard Schellenberg, der mir den Teller Theologie überhaupt erst schmackhaft gemacht hat. „Gott segne diese Schüssel!“ Ich danke meiner Mutter für ihren einfühlsamen Appell an meine Geduld (auch mit mir selbst), meinem Vater für wissenschaftlichen Ehrgeiz und Neugierde. Ich danke meiner ganzen Familie, meinen Schwestern, Schwagern und Nichten, die mir wichtige Stunden der Zerstreuung abseits meines Unialltags geschenkt haben. Ich danke Janina Bouchée, Stefanie Reuter, Maximilian und Wolfgang Mauer für Präsenz und Essenz in allen Lebenslagen. Ich danke Dr. Lars Maskow für die gemeinsame Nachdenklichkeit. Größten Dank bin ich meinem Freund Dr. Christian Schuster schuldig. Er hat mir unerschöpflich Geduld, Liebe und Zeit geschenkt. Mainz, Oktober 2018
Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ IX Verzeichnis der Abbildungen ................................................................... XIII
Teil I: Einleitung ...................................................................................... 1 Teil II: Forschungseinblick ................................................................... 8 1. Zeit im Johannesevangelium .................................................................... 8 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Die Vielfalt der Zugänge zur Zeit in der Johannesexegese ...................... 8 Der historisch-chronikalische Ansatz .................................................... 10 Der narratologische Ansatz ................................................................... 14 Der zeitgeschichtliche Ansatz ............................................................... 26 Die theologischen Ansätze .................................................................... 30 Forschungsdesiderat: Der ethische Ansatz ............................................ 40
2. Ethik im Johannesevangelium ................................................................ 44 2.1 Verabschiedung eines ethischen Verdikts ............................................. 44 2.2 Forschungsdesiderat: Der temporale Ansatz .......................................... 54
Teil III: Theorie ...................................................................................... 58 1. Zeit und Erzählung ................................................................................. 58 1.1 Narrative Versprachlichung von Zeiterfahrungen (Hermeneutik) .......... 58 1.2 Narrative Zeitmodulation (Erzähltheorie).............................................. 61 1.3 Theoretische Neuausrichtung: Der Fokus auf Interaktionszeiten ........... 65 2. (Biblische) Erzählung und Ethik............................................................. 67 2.1 2.2 2.3 2.4
Ethikdefinition ...................................................................................... 67 Ethische Bibel und biblische Ethik ........................................................ 69 Ethische Erzählung und erzählerische Ethik .......................................... 72 Narrative Ethik des Johannesevangeliums als implizite Ethik ............... 77
X
Inhaltsverzeichnis
2.5 Theoretische Neuausrichtung: Der Ausgang von Figureninteraktionen . 84 3. Ethik und Zeit ......................................................................................... 86 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Theoretisches Neuland .......................................................................... 86 Philosophische Zeitkonzepte ................................................................. 88 Theologische Zeitkonzepte ................................................................... 99 Alltagsbeobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Ethik .................. 103 Existentielle Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik ...................... 106 Theoretische Neuausrichtung: Interaktionstheoretische Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik .......................................... 108
4. Eigener Ansatz ..................................................................................... 114 4.1 Neue Verhältnisbestimmung: Zeit, Ethik und Erzählung ..................... 114 4.2 Diachron informierte Synchronität ...................................................... 118 4.3 Gegenstand, Skopus und Ziel der Arbeit ............................................. 121
Teil IV: Methodik ................................................................................ 125 1. Methodischer Dreischritt ..................................................................... 125 2. Methodische Umsetzung an ausgewählten Beispielen .......................... 127 2.1 Zeitverhalten (das Was des Geschehens) ............................................. 127 2.2 Zeitinszenierung (das Wie der Geschehenskonfiguration) ................... 136 2.3 Zeitwahrnehmung und Bewertung (das Woraufhin der Geschehenskonfiguration) ..................................................................................... 174 2.4 Fazit der Einzelanalyse ....................................................................... 194 3. Begriffsbestimmungen .......................................................................... 195
Teil V: Textanalyse ............................................................................. 198 1. Joh 2,1–11[12]: Die Stunde des guten Weines ..................................... 198 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Eigene Übersetzung ............................................................................ 198 Abgrenzung, Figurenkonstellation und Kontext .................................. 199 Zeitverhalten ....................................................................................... 201 Zeitinszenierung ................................................................................. 206 Zeitwahrnehmung und Bewertung ...................................................... 216 Fazit .................................................................................................... 237
2. Joh 4,43–54: Leben über Ort und Zeit hinweg ..................................... 242 2.1 Eigene Übersetzung ............................................................................ 242 2.2 Abgrenzung, Figurenkonstellation und Kontext .................................. 243
Inhaltsverzeichnis
2.3 2.4 2.5 2.6
XI
Zeitverhalten ....................................................................................... 245 Zeitinszenierung ................................................................................. 249 Zeitwahrnehmung und -bewertung ...................................................... 260 Fazit .................................................................................................... 275
3. Joh 11,1–12,11: Leben trotz Sterbens .................................................. 279 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Eigene Übersetzung ............................................................................ 279 Abgrenzung, Figurenkonstellation und Kontext .................................. 285 Zeitverhalten ....................................................................................... 286 Zeitinszenierung ................................................................................. 310 Zeitwahrnehmung und -bewertung ...................................................... 328 Fazit .................................................................................................... 354
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte ........................................................ 360 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Joh 2,13–22: Tempelaufbau in drei Tagen........................................... 360 Joh 5,1–18[19–47]: Der erste Sabbatkonflikt ...................................... 363 Joh 7,1–10[11–52; 8,12–59]: Kairos von Licht und Wasser ................ 367 Joh 8,2–11: Kurzer Prozess mit einer Ehebrecherin? ........................... 378 Joh 9,1–41: Der zweite Sabbatkonflikt ................................................ 381 Joh 13,1–10.36–38 und 21,15–19: Liebe bis ins Ende hinein .............. 387 Joh 18,1–19,16: Prozessverschleppung ............................................... 395 Joh 20,1–10: Wettrennen zum Grab .................................................... 400
Teil VI: Ergebnisse ................................................................. 403 1. Rekapitulation der Anfangsfragen, -thesen und -ziele .......................... 403 2. Zeitnormen und Konfliktmuster ............................................................ 405 2.1 2.2 2.3 2.4
Zeitnormen der Figuren....................................................................... 406 Zeitnorm(en) Jesu ............................................................................... 408 Konfliktmuster .................................................................................... 411 Vielfalt, Inkohärenzen, Tendenzen, Übergänge ................................... 415
3. Christologische Zuspitzung: Die Gunst der Stunde .............................. 418 4. Erwartungsbruch als temporale Triebfeder ethischer Reflexion ........... 422 5. Dynamisierung der drei Zeitdimensionen in der joh. Ethik ................... 425 6. Mimetische Ethik? ................................................................................ 432 7. Exegetische Impulse für die allgemeine (Zeit-)Ethiktheorie.................. 443 8. Exegetische Impulse für eine theologische Zeitethik ............................. 446 9. Ausblick auf weitere Fragen ................................................................. 450
XII
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis ................................................................................... 461 Stellenregister............................................................................................ 483 Sachregister ............................................................................................... 491 Namensregister .......................................................................................... 502
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Verhältnis Zeit, Ethik und Erzählung I .......................................... 117 Abb. 2: Verhältnis Zeit, Ethik und Erzählung II ........................................ 118 Abb. 3: Helix von Zeit, Ethik und Erzählung ............................................. 118 Abb. 4: Analyseschema Zeitverhalten ....................................................... 136 Abb. 5: Textualisierung von Zeit nach R. Harweg ..................................... 142 Abb. 6: Entropieindex bei Anachronien ..................................................... 166 Abb. 7: Analyseschema Textualisierung von Zeit ...................................... 171 Abb. 8: Analyseschema Zeitinszenierung: Semantik ................................. 172 Abb. 9: Analyseschema Zeitinszenierung: Grammatik .............................. 173 Abb. 10: Analyseschema Zeitinszenierung: Chronologik .......................... 173 Abb. 11: Das Bild des Lesers..................................................................... 178 Abb. 12: Analyseschema Zeitwahrnehmung und Bewertung ..................... 194
Teil I
Einleitung „Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden“1, lehrt uns die protestantische Ethik, jedenfalls in ihrer soziologischen Nachzeichnung durch Max Weber. Das Zitat ist nun weder als Sündenbekenntnis im Blick auf die eigenen Mühen mit dieser Studie zu werten, noch als Warnung davor, sie zu lesen. Das vermeintlich ‚protestantische‘ Urteil illustriert vielmehr in einer Nussschale, was uns erwarten könnte, wenn wir die Ethik mit der Zeit ins Verhältnis zu setzen wagen: ‚zeitlose‘ Prinzipien zum richtigen Umgang mit der Zeit. Noch relevanter wird Webers Befund für das hiesige Forschungsunternehmen, wenn wir bemerken, dass er das ‚protestantische‘ Urteil ausgerechnet unter Leihgabe der Worte des johanneischen Jesus exegetisch zu erhärten sucht: „Denn die ‚ewige Ruhe der Heiligen‘ liegt im Jenseits, auf Erden aber muß auch der Mensch, um seines Gnadenstands sicher zu werden, ‚wirken die Werke dessen, der ihn gesandt hat, solange es Tag ist‘.“ 2 Ist das die zeitethische Essenz dessen, was der johanneische Jesus mit seiner Tag/Nacht-Metapher in Joh 9,4 (vgl. auch Joh 11,9f.) zum Ausdruck bringt? Kann man aus der Erzählung des Johannesevangeliums folgern, dass wir unsere Zeit nicht „durch Geselligkeit, ‚faules Gerede‘, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis höchstens 8 Stunden“ vergeuden sollen, weil dies „sittlich absolut verwerflich“ 3 ist? Abgesehen davon, dass der Verfasserin in der Zeit der Abfassung durchaus auch einmal über acht Stunden Schlaf vergönnt waren, weil dies der Arbeit am Johannesevangelium eher zu dienen als zu schaden schien, regen sich spontan Zweifel an der exegetischen Fundierung und Adäquanz der von Weber beschriebenen ‚protestantischen‘ Ethik. Geht der johanneische Jesus nicht zuweilen selbst recht ‚verschwenderisch‘ mit der Zeit um, etwa, wenn er mit rätselhaften Verzögerungen auf diverse Anfragen reagiert (Joh 2,4; 4,48; 7,6–8; 11,4–6), mit seinen Freunden oder Jüngern (lange) zu Tisch sitzt (Joh 12,1–8; 1 WEBER, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 2016 (1904– 1905), 143. 2 Ebd. Ob Weber das Johanneszitat zur Bekräftigung der ‚protestantischen‘ Ethik selbst heranzieht oder aus einem seiner überwiegend calvinistisch und puritanisch geprägten Untersuchungstexte übernimmt, ist dem Abschnitt nicht zu entnehmen. 3 A.a.O., 144.
2
I. Einleitung
13,3–30 [13,31–16,33]) oder sich von Maria die Füße mit teurem Öl salben lässt (Joh 12,3–8)? Die Zweifel an der Validität der exegetischen Fundierung jener ‚protestantischen‘ Ethik werden sich über die Textanalyse hinweg nähren und am Ende auch bestätigen, so viel kann vom Ergebnis der Arbeit bereits in deren Einleitung vorweggenommen werden. Einleitungen schreibt man bekanntlich zum Schluss. Das ist ein weiteres nahezu ‚zeitloses‘ Prinzip, das zugleich (wie auch das ‚protestantische‘ Urteil) von größter Zeitrelevanz ist. In der Einleitung suggeriert man dem Leser 4 nämlich, es habe einen linearen Gedankengang von erster Beobachtung über Forschungsfrage und -these bis hin zum Ergebnis gegeben, den der Leser von hier an in aller Regelmäßigkeit und Synchronität verfolgen könne. Dass man Einleitungen zum Schluss schreibt, weist jedoch bereits darauf hin, dass das Denken so linear und synchron eben doch nicht funktioniert. Den Rezipienten mag die Einleitung als Prolepse und Lektüreanleitung für den folgenden, geradlinig dargestellten Gedankengang dienen. Aus der Sicht der Autorin ist die Einleitung aber eigentlich eine Analepse, eine Rückblende, nämlich auf die vielen Windungen eines langen Gedankenganges, der sich immer wieder selbst eingeholt und abgeholt hat, um langsam und mit Umwegen auf ein Ergebnis zuzulaufen. Dass bei der Abfassung einer geisteswissenschaftlichen Studie viele Gedankenprozesse gleichzeitig, in Schleifen, bisweilen sogar rückwärts ablaufen müssen, hängt schon damit zusammen, dass die Forschung nicht pausiert, während man denkt. V.a. im Bereich der johanneischen Ethik war in den letzten Jahren kein Stillstand zu bemerken. Als im Rahmen dieses Forschungsprojektes mit dem Thema Zeit und Ethik im Johannesevangelium begonnen wurde, war der Tagungsband von Jan van der Watt und Ruben Zimmermann samt Programmansage, die Ethik im Johannesevangelium noch einmal zu überdenken oder vielleicht sogar ganz neu zu denken, gerade drei Jahre alt.5 Damit war die Inkubationszeit dieses wirkungsvollen Tagungsbandes aber noch lang nicht zum Ende gekommen. Bis ganz zum Schluss des hier verschriftlichten Gedankenprozesses sind immer noch Monographien zur johanneischen Ethik veröffentlicht worden, die das Johannesevangelium nach langer Diskreditierung innerhalb der neutestamentlichen Ethik zu rehabilitieren versuchen. 6
4
Zugunsten des Leseflusses wird im Folgenden das generische Maskulinum inklusiv und stellvertretend für das feminine, transsexuelle und nicht-binäre Geschlecht gebraucht, jedoch nur sofern es sich um keine spezifische Person, sondern um einen generischen Vertreter einer gemischtgeschlechtlichen Personengruppe handelt. 5 Vgl. VAN DER WATT/ZIMMERMANN, Rethinking the Ethics of John, 2012. 6 Darunter WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014; WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015; DREWS, Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium, 2017; BENNEMA, Mimesis in the Johannine Literature, 2017; BROWN/SKINNER, Johannine Ethics, 2017; TROZZO, Exploring Johannine Ethics, 2017.
I. Einleitung
3
Die Forschungsentwicklung zum Thema Zeit im Johannesevangelium verlief dahingegen etwas gemächlicher. Das wichtigste Werk zur Zeit im Johannesevangelium ist und bleibt die dreibändige Eschatologie von Jörg Frey, die zwischen 1997 und 2000 erschienen ist.7 Daneben hat v.a. die narratologische Studie von Douglas Estes zu den Temporal Mechanics of the Fourth Gospel (2008) Entscheidendes zum Verständnis der johanneischen Zeitmodulationen beigetragen. 8 Schließlich beschäftigt sich das SBL-Projekt John, Jesus, and history fortwährend mit der historischen Belastbarkeit des Johannesevangeliums.9 Das bedeutet freilich nicht, dass Zeit nicht auch in anderen Arbeiten zum Johannesevangelium vorkäme, sie ist indes beliebter Nebenschauplatz, den wir im Forschungseinblick ausgiebig bewandern wollen. Die Verknüpfung beider Themen, der Zeit und der Ethik, auf dem Forschungsareal des Johannesevangeliums ist wiederum in einen multipersonalen, wenn man so will, diachronen Gedankengang eingebunden. Als Stipendiatin des Graduiertenkollegs Die Zeitdimension in der Begründung der Ethik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz befand man sich in einem kontinuierlichen Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen sowohl aus dem Neuen Testament als auch der Systematischen Theologie, die mit ähnlichem Interesse an ethischen Zeitfragen und zeitsensiblen Ethikfragen gearbeitet haben. Schon für die Ethik des eigenen wissenschaftlichen Arbeitens spielt Zeit, Synchronität wie Diachronität, aber auch Geduld, Wachsamkeit und Durchhaltevermögen eine beträchtliche Rolle. Die Brisanz und Relevanz des Forschungsthemas jenseits des eigenen wissenschaftlichen Verfahrens liegt einerseits darin begründet, dass es, wie im folgenden Teil II der Arbeit dargelegt, ein Forschungsdesiderat innerhalb der Johannesexegese darstellt. Die temporalen Besonderheiten in den konfliktreichen Interaktionen zwischen Jesus und den übrigen Figuren werden zwar immer wieder staunend wahrgenommen und v.a. in ihrer christologischen Aussagekraft analysiert, jedoch nicht hinsichtlich ihrer ethischen Bedeutung reflektiert. Dabei sind der Appell, die Zeit zu nutzen, solange es Tag ist (Joh 9,4; 11,9f.) und das scheinbar widersprechende, verzögernde Verhalten in den Reaktionen auf unterschiedliche Anfragen (Joh 2,4; 4,48; 7,6–8; 11,4–6 ) nur zwei von vielen temporalen Eigenarten im Verhalten des johanneischen Jesus. Auch im Betragen seiner Interagenten zeichnen sich relevante Zeitmerkmale ab. Die Verschleppung des Prozesses und das Hinauszögern eines Urteils durch Pilatus
7
Vgl. FREY, Die johanneische Eschatologie (in drei Bänden), 1997–2000. Vgl. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008. 9 Vgl. ANDERSON/JUST/THATCHER, John, Jesus, and history, Volume 1: Critical Appraisals of Critical Views, 2007; DIES., John, Jesus, and history, Volume 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, 2009; DIES., John, Jesus, and history, Volume 3: Glimpses of Jesus through the Johannine Lens, 2016. 8
4
I. Einleitung
(Joh 18,29–19,16), die Ungeduld Petri (Joh 13,37) oder das Drängen der Brüder (Joh 7,3–4) sind wiederum nur einzelne Beispiele. Die Relevanz einer ethischen Auseinandersetzung mit der Zeit ist zum anderen auch daran induzierbar, dass Zeit nicht nur im Johannesevangelium in aller Munde und aller Tat, sogar in vieler Gemüt ist. Der Eindruck, Zeit würde gegenwärtig von allen untersucht und traktiert und somit in aller Munde sein, mag dem derzeitigen Wahrnehmungs- und Interessensfilter geschuldet sein. Ihre Präsenz und Potenz im Bereich der Handlungen und Lebensweisen sind jedoch so evident und zugleich so selbstverständlich, dass sie kaum ins Bewusstsein gerufen, geschweige denn hinterfragt und analysiert werden. So ungehörig einem die vermeintlich ‚protestantische‘ Verknüpfung von Zeitvergeudung und Sünde auch erscheinen mag – es ließe sich doch mit guten Gründen fragen, ob jene Zeitnorm nicht tatsächlich ständig im Hintergrund unseres Handelns waltet und schaltet? Wer schämte sich nicht vor seinen Kollegen, wenn er, kaum aus den Malediven zurück, schon wieder den Winterurlaub beantragen wollte? Spürte sie keinerlei Unbehagen, als sie an diesem Freitag besonders früh das Büro verließ, um Feierabend zu machen? War es ihm etwa nicht unangenehm, auf die volle Elternzeit zu bestehen, obwohl sein Projekt auf der Arbeit gerade Wachstum versprach? Umgekehrt gereicht es einem versteckten Selbstlob, wenn im Vorstellungsgespräch als einzige Schwäche die eigene Ungeduld bedauert wird, wenn den Kollegen von der anstrengenden Arbeitseinheit am Wochenende berichtet wird oder selbstlos Bereitschaft bekundet wird, rund um die Uhr, eben auch im Urlaub erreichbar zu sein. Sogar Misserfolg wird im Rahmen dieser Sündenkausalität erklärbar: „Er war eben einfach nicht auf Zack“ oder „Sie war natürlich auch sehr eingespannt zuhause“ – nachträgliche Deutungsversuche und Kausalisierungen, die wir in anderer Form auch im Johannesevangelium wiederfinden: Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? (Joh 9,2) Spürbar, bewusst und virulent wird diese versteckte ‚moderne Sündenklausel‘ von der Zeitvergeudung v.a. dann, wenn man einmal mehr als in der gewohnten ‚Standardabweichung‘ gegen sie verstößt. Immer mehr Menschen haben das bedrängende Gefühl, überhaupt nicht mehr mithalten zu können, ähnlich wie der Gelähmte am Teich nicht mit den Kultrhythmen des Heilungswassers mithalten kann (Joh 5,7). Psychische Krankheitsbilder haben, wie der Psychologe Thomas Fuchs gezeigt hat, häufig mit einer Inkongruenz zu den Rhythmen der Außenwelt zu tun. Depressionen lassen sich bspw. auf die Verlangsamung der Eigenzeit gegenüber einer beschleunigten Außenwelt zurückführen.10 Aber auch physische Krankheit und das Altern an sich können das unangenehme Gefühl auslösen, man halte alle auf.
10
Vgl. FUCHS, Zeiterfahrung in Gesundheit und Krankheit, 2015, 102–109.
I. Einleitung
5
Zeit wirkt demnach normativ auf unser Verhalten, dessen Bewertung und das eigene Lebensgefühl. Der Bruch mit Zeitnormen kann wiederum zu Konflikten und eben auch zu Ausgrenzungserscheinungen führen. Deshalb, so das Movens dieser Studie, könnte es wichtig sein, Zeitnormen zunächst einmal wahrnehmen zu lernen, dann aber auch kritisch zu hinterfragen, ob sie eigentlich dem Wohl des Individuums wie auch der Gemeinschaft dienen. Eben bei dieser Herausbildung einer neuen Geschicklichkeit im Umgang mit der Zeit wird uns die Erzählung des Johannesevangeliums helfen. Erzählungen transportieren im Gegensatz zu, sagen wir, wissenschaftlichen Abhandlungen oder Bedienungsanleitungen primär Ereignisse, Handlungen und Interaktionen. Mehr noch, sie referieren diese Ereignisse und Interaktionen samt deren zeitlicher Konstitution. Mittels Zeitadverbien, Zeitbegriffen, Tempora und der Erzählreihenfolge werden die einzelnen Interaktionen zeitlich näher bestimmt und aufeinander bezogen. Der Erzähler hat allerdings auch eine gewisse ‚Narrenfreiheit‘ bei der Präzisierung dieser zeitlichen Determinanten. Er kann Ereignisse oder Handlungen mitunter vorwegnehmen oder erst, nachdem sie eingetreten sind, auf sie zurückverweisen. Ihm stehen eine Unmenge an Zeitadverbien, Zeitbegriffen und Tempora zur Verfügung, mithilfe derer er die erzählte Zeit strukturieren und modellieren, ja sogar mit Bewertungstendenzen versehen kann. Der Erzähler kann darüber hinaus Interaktionen von Handlungsfiguren darstellen, in denen sich besondere Zeitkonflikte manifestieren. Das Johannesevangelium schildert eine ganze Reihe von bedeutungsvollen Zeitkonflikten, die sich aus unterschiedlichen Zeitnormen entspinnen. Die augenfälligsten Zeitkonflikte erwachsen aus Jesu Verweis auf seine noch ausstehende Stunde als Reaktion auf die Anfrage seiner Mutter auf dem Hochzeitsfest in Kana (Joh 2,1–11), aus seinem Verweis auf den Kairos als Reaktion auf das Drängen seiner Brüder, zum Laubhüttenfest hinüberzugehen (Joh 7,1–10) und aus seiner Prognose, dass die Krankheit seines Freundes Lazarus nicht zum Tode, sondern zur Herrlichkeit Gottes sei, als Reaktion auf die Anfrage der Schwestern Martha und Maria (Joh 11,1–44). Die zeitethische Untersuchung des vierten Evangeliums wird jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Zeitkonflikte ins Sichtfeld rücken, die wiederum eine Vielfalt von Zeitnormen exponieren. Drei von diesen Zeitkonflikten werden exemplarisch mit einer differenzierten Methodik (dargelegt in Teil IV) auf drei Ebenen analysiert (Teil V, Kap. 1–3): auf der Ebene des erzählten Zeitverhaltens (dem Was des Geschehens), auf der Ebene der narrativen Inszenierung des Zeitverhaltens (dem Wie der Geschehenskonfiguration) und der Ebene der Zeitwahrnehmung und -bewertung des Lesers (dem Woraufhin der Geschehenskonfiguration). Grund und Movens für den methodischen Dreischritt lassen sich sowohl aus dem Forschungseinblick (Teil II) als auch aus der theoretischen Verhältnisbestimmung von Zeit, Ethik und Erzählung (Teil III) ableiten. In einem analytischen Ausblick werden acht weitere Zeitkonflikte v.a. auf der ersten, bis dato am wenigsten beleuchteten Ebene des erzählten Zeitverhaltens beobachtet (Teil V, Kap. 4). Neben
6
I. Einleitung
der Analyse verschiedenster Zeitorientierungen der Figuren steht auch die Frage im Mittelpunkt, was es nach Maßgabe des Johannesevangeliums eigentlich bedeutet, die Gunst der Stunde zu nutzen. Diese und weitere evangeliumsübergreifende Fragen werden im Ergebnisteil (Teil VI) beantwortet. Die Frage nach der Gunst der Stunde im Johannesevangelium wird gewiss auch aus der Erfahrung gegenwärtiger Zeitnormen heraus gestellt. Man säße einem hermeneutischen Schwindel auf, wollte man die johanneischen Zeitmodulationen in vollkommener Absehung von den eigenen Zeitorientierungen analysieren. Wir werden im Rahmen der theoretischen Verhältnisbestimmung von Zeit, Ethik und Erzählung (Teil III) noch in aller Konsequenz verstehen, dass Zeit als Wahrnehmungsinhalt nicht unabhängig von Zeit als Wahrnehmungskategorie zugänglich ist. Darüber hinaus wäre der exegetische Ertrag unter völliger Ausklammerung gegenwärtiger Zeitnormen recht schmal. Die exegetische Auseinandersetzung mit der johanneischen Gunst der Stunde ist schließlich kein Selbstzweck. Vielmehr möchten wir unter Anleitung des Johannesevangeliums neue Perspektiven einnehmen, die auch für unseren gegenwärtigen Umgang mit der Zeit relevant werden können. Nun ist es nicht unwesentlich, dass die Arbeit selbst unter Einübung eines bestimmten Rhythmus verfasst wurde und dass wohl auch die Rezeption der Arbeit eine spezifische Zeiterfahrung erlebbar werden lässt. Die hier vollzogene Denkbewegung setzt dem praktischen Funktions-, Kompetenz- und Handlungszwang die theoretische Langsamkeit gegenüber. Weil der Zusammenhang von Zeit, Ethik und Erzählung theoretisch und methodisch bis dato wenig bis gar nicht eingeholt wurde, übt die Abhandlung über lange Strecken hinweg die theoretische Geduld ein und versucht dabei auch, von vorschnellen Lösungen und Eindeutungen des Textes zurückzustehen.11 Praktisch ist die Arbeit, insofern sie sich mit praktischen Lebensvollzügen und deren Zeithorizont beschäftigt, nicht jedoch indem sie konkrete, vermeintlich zeitlose Praxistipps für den Umgang mit der Zeit in Situation X und – im Rahmen der philosophischen Fiktion eines ceteris paribus – zugleich in Situation YZ gibt. Was ist also der Mehrwert dieser theorieintensiven und methodisch ausdifferenzierten exegetischen Untersuchung? Sie weist auf die unterschiedlichen (theologischen, historischen, zeitgeschichtlichen, narratologischen und ethischen) Deutungsmöglichkeiten der Zeit im Johannesevangelium hin und spielt diese nicht gegeneinander aus. Sie reflektiert die johanneischen Konflikte und Missverständnisse aus neuer, i.e. 11 Zur theoretischen Geduld und ihren nachhaltigen Ergebnissen vgl. MÖLLERS, Normen kultivieren, 2006/2007, 275: „Tatsächlich ist die zwielichtig gewordene Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis nur eine Chiffre für die Geduld, die man für die Verwertung von Wissen aufbringen will. Was als ‚Theorie‘ gilt, ist Wissen mit zugleich längerfristigen und ungewisseren Verwertungsmöglichkeiten; als Praxis gilt Wissen mit sicherer, aber auch kurzfristiger oder schneller überholter Verwertbarkeit.“
I. Einleitung
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temporaler Perspektive, deckt dabei neue Facetten auf, nämlich neben der nachösterlich-epistemologischen eine ethisch-praktische Dimension und trägt zum besseren Verständnis dieser Konflikte bei. Die Studie leistet einen Beitrag zur Rehabilitierung des lange Zeit als unethisch abgetanen vierten Evangeliums im Bereich der neutestamentlichen Ethik, weil sie zu zeigen vermag, wie ethische Reflexion narrativ inszeniert und angeregt werden kann. Sie hebt die Begrenzung des ethischen Blickes auf explizit artikulierte Normen und Handlungsanweisungen (in paränetischen Texten) bzw. deren logisch-argumentative Begründung auf. Die Arbeit erhebt nicht nur retrospektive, rational argumentierende Handlungsrechtfertigungen, sondern auch die Reflexion prospektiver Handlungsorientierungen und -normen in deren vielfältiger, sprachlicher Medialität zum Gegenstand der Ethik. Sie hilft dabei, eigene Zeitorientierungen und -normen wahrzunehmen, andere kennenzulernen und die einseitige Alternative zwischen Vergangenheits-, Gegenwarts- oder Zukunftspriorisierung innerhalb der ethischen Reflexion zu moderieren und liefert darin auch einen Beitrag zur allgemeinen Ethiktheorie. Der analytische Teil der Arbeit untersucht die unterschiedlichen Manifestationen von Zeit in Tempusformen, Zeitadverbien, Zeitbegriffen, aber auch in der chronologischen Struktur des Evangeliums, sowie im Zusammenspiel von Erwartung, Erwartungserfüllung und -bruch. Sie systematisiert unterschiedliche Möglichkeiten und Strategien zur narrativen Vertextung von Zeit und liefert darin einen Beitrag zur Narratologie. Wie bei allen theoretischen und methodischen Neuansätzen, geht es in dieser Studie v.a. darum, mit Hilfe abweichender Wahrnehmungsfilter Neues von der Wirklichkeit wahrzunehmen, sowohl von der textlichen Wirklichkeit des Johannesevangeliums, als auch, durch sie hindurch, von der dahinterstehenden Lebenswirklichkeit. Die in dieser Arbeit vorgestellten Wahrnehmungsfilter und Interpretationshilfen bleiben ein Angebot auf dem Markt der Deutungsansätze. Ob sie sich behaupten können, hat der Leser selbst zu entscheiden. Dass er auch andere Angebote wahrnehmen sollte, versteht sich von selbst.
Teil II
Forschungseinblick 1. Zeit im Johannesevangelium 1. Zeit im Johannesevangelium „Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten“1 JOHANN GOTTFRIED HERDER
1.1 Die Vielfalt der Zugänge zur Zeit in der Johannesexegese Die Zugänge zum Thema Zeit im Johannesevangelium2 sind ebenso vielfältig und schillernd wie Zeit selbst. Einen ersten Ausgangspunkt für die Untersuchung der Zeit im JohEv bilden in der Regel drei grundlegenden Beobachtungen: (1) Das JohEv entwirft eine von den Synoptikern abweichende Chronologie, etwa durch den Vorzug der Tempelreinigung, die dreifache Jerusalemreise und die alternative Datierung der Kreuzigung. (2) Im Blick auf den Prolog oder die langen, bildreichen Reden Jesu wird außerdem bemerkt, dass der Johannesevangelist πνευματικὸν ποιῆσαι εὐαγγέλιον | ein geistiges Evangelium gemacht hat, wie es Clemens von Alexandrien zu beschreiben wusste,3 dass es sich also um ein „eigenartige[s] theologische[s] Evglm“ handelt, „welches der Form nach Geschichte, dem Inhalt nach Lehre über die Geschichte ist“ 4, so die Etikettierung Carl Weizsäckers. (3) Das Evangelium entwickelt eine sog. präsentische Eschatologie. Dabei spielt auch die charakteristische Stunde Jesu, die kommt und jetzt schon ist (Joh 4,23; 5,25), eine besondere Rolle. In Verbindung mit dem Vormarsch der historisch-kritischen Exegese konnten diese Beobachtungen einerseits zu dem Bedürfnis führen, eine ‚ursprüngliche‘ Evangeliumschronologie zu rekonstruieren, die weniger Sprünge und vermeintliche Inkohärenzen enthalten sollte, andererseits aber auch zu dem Schluss, dass man sich eigentlich primär auf den theologisch-symbolischen 1
HERDER, Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache, 1819, 53. Im Folgenden wird Johannesevangelium mit JohEv, johanneisch mit joh. abgekürzt; analog werden auch die synoptischen Evangelien abgekürzt. 3 Nachzulesen bei Eus. h.e. 6.14,7 vgl. BARDY, Gustave (Hg.), Eusèbe de Césarée. Histoire ecclésiastique. 3 vols. [Online-Ressource: TLG], 1:1952; 2:1955; 3:1958 (repr. 3:1967). 4 VON WEIZSÄCKER, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, 21892, 537. 2
1. Zeit im Johannesevangelium
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Wert der joh. Zeitangaben zu konzentrieren habe, weil das Evangelium selbst letztlich gar kein historisches Interesse verfolge. 5 Die rhetorische Stilisierung, das hohe Reflexionsniveau und das stark theologische Interesse des vierten Evangeliums galten nicht nur als Argumente für eine zeitliche Distanzierung zu den tatsächlichen Geschehnissen und damit für eine Herabstufung der Zeugenschaft, sondern zugleich auch als Ausschlusskriterien für dessen eigenes historisches Interesse. Im Quellenvergleich stehen dem Bericht des JohEvs schließlich in vielen strittigen biographischen Fragen gleich drei Synoptiker gegenüber, z.B. bei den Rekonstruktionsversuchen des jesuanischen Itinerars. Das Argument der synopt. Majorität über das Zeugnis des JohEv konnte auch durch die aufkommende These der Abhängigkeit des Matthäus- und Lukasevangeliums von der Markus-Chronologie im Rahmen der Zwei-Quellen-Theorie (in der zweiten Hälfte des 19. Jhs.) nicht überwunden werden. 6 Als Exeget zwischen liberaler und dialektischer Theologie war Rudolf Bultmann, unbestreitbar einer der prägendsten Theologen für die Johannesforschung, noch für beiderlei Wege offen. So war es ihm einerseits ein Anliegen, mittels Literar- und Redaktionskritik das ursprüngliche Werk des Evangelisten Johannes von der sog. kirchlichen Redaktion zu befreien und es in seiner ursprünglichen Chronologie wiederherzustellen. 7 Andererseits war es ihm ein noch größeres Anliegen, die existentielle, theologische Bedeutung des Evangeliums, insbesondere dessen Zeitbehandlung hervorzuheben. Das Resultat dieser doppelten Zielbestimmung war, dass Bultmann in einigen Fällen die symbolisch-theologische Bedeutung der Zeitangaben gegen die historische ausspielen musste 8 oder die Literarkritik zur Untermauerung besonderer theologischer Aussagen bemühte, so etwa, wenn er die futurisch-eschatologischen 5 Vgl. HOLTZMANN, Unordnungen und Umordnungen im vierten Evangelium, 1902, 59: „Die Anstösse, um deren Beseitigung es sich dabei handelt, verschwinden sofort oder erscheinen vielmehr ganz selbstverständlich, wo man weiss, dass es im vierten Evangelium weniger auf eine historische Darstellung überhaupt abgesehen ist, als vielmehr auf Darlegung einer selbständigen Gedankenwelt, die nur mühsam, ja gewaltsam in die Form einer Geschichte Jesu gekleidet wird.“ 6 Ferner hat es das Objektivitätsprimat der älteren Historiographie verboten, den unterschiedlichen Evangeliumsberichten die Möglichkeit einzuräumen, gleichermaßen wahrheitsgetreu, eben nur aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein und dasselbe historische Ereignis zu blicken. Dabei hat schon J. Chladenius einen solchen historischen Objektivitätsanspruch mit seiner Theorie von den unterschiedlichen „Sehe-Punkten“ zu berichtigen gewusst: „Allein wir wollen nur dieses behaupten, daß, wenn verschiedene Personen auch nach ihrer richtigen Erkenntnis, eine Geschichte erzählen, in ihren wahren Erzählungen sich dennoch ein Unterschied befinden könne.“ (CHLADENIUS, Von Auslegung Historischer Nachrichten und Bücher (1742), 1976, 72) 7 Vgl. BULTMANN, Art. Johannesevangelium, 1959, 841. 8 So kommentiert R. Bultmann zu den Festreisen: „Daß die joh. Festreisen redakt. Motivierung sind, ist hier bes. deutlich; denn die Geschichte hat hier ihren Platz nur um ihrer
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II. Forschungseinblick
Aussagen in Joh 5,28f. und Joh 6,54 zu redaktionellen Einfügungen degradierte. 9 Man kann sehr deutlich erkennen, wie stark die theologische Ausgangsfrage seine Ergebnisse bei der Untersuchung der Zeit im JohEv beeinflusst hat. In der derzeitigen Johannesforschung reichen die Zeituntersuchungen 1a) von der Frage nach dem historischen Aussagewert des JohEvs, insbesondere seiner Chronologie für die Rekonstruktion der Jesusbiographie, 1b) über die Frage nach dem zeitgeschichtlichen Informationswert des JohEvs für die spätere Gemeindesituation unter Betonung der nachösterlichen Perspektive, 2) über die narratologische Funktionsbestimmung der Zeitmodulationen des JohEvs und die Untersuchung des subjektiven Erlebens von Zeit im Rezeptionsvorgang des Lesers, 3) bis hin zu Fragestellungen nach der theologischen, christologischen, pneumatologischen und eschatologischen Bedeutung der Zeit im JohEv. Dank postmoderner Bereitschaft zur Multiperspektivität ist auch eine kumulative Berücksichtigung mehrerer dieser Ansätze möglich. Jedoch kommt es je nach Ausgangsfrage durchaus zu unterschiedlichen Gewichtungen in der Methodik und bei den Ergebnissen. Auf den folgenden Seiten werden verschiedene neuere Zugänge zum Thema Zeit im JohEv hinsichtlich ihres jeweiligen Frage- und Methodenschwerpunkts in einem exemplarischen Forschungseinblick vorgestellt. 1.2 Der historisch-chronikalische Ansatz Zunächst sollen beispielhaft zwei neuere Entwürfe vorgestellt werden, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise die historische Rückfrage an das Evangelium neu zu stellen und mit den joh. Eigentümlichkeiten in Stil und insbesondere Chronologie umzugehen wagen. Dabei wird erkennbar, dass sie das Evangelium mehr in der Funktion einer Chronik, also eines auf die genaue zeitliche Reihenfolge fixierten Werkes,10 denn als eine geschichtliche Erzählung symbol. Bedeutung willen. Die Angabe 6,4, daß das Paschah nahe war, hat nur kompositorischen Zweck, nämlich Jesu bald darauf [5,1] erfolgende Reise nach Jerus. vorzubereiten. Die symbolische Bedeutung der Festangaben 7,2 (σκηνοπηγία); 10,22 (ἐγκαίνια) ist auch wohl nicht zu bestreiten.“ ( DERS., Das Evangelium des Johannes, 211986, 86 [Anm. 2]) Vgl. auch R. Bultmanns Deutung zu den Zeitangaben in Joh 10,22; 13,30; 18,28, 19,14 a.a.O., 274.368.503f.514. 9 Vgl. DERS., Art. Johannesevangelium, 1959, 841. Die doppelte Zeitperspektive auf die Stunde Jesu in Joh 4,23 und 5,27 (ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν) wird von R. Bultmann konsequent zugunsten der sich stets wiederholenden existentiellen Gegenwart gedeutet (vgl. DERS., Das Evangelium des Johannes, 211986, 139f.). 10 Nach der Definition des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft ist die Chronik „Werktyp der Geschichtsschreibung, der den geschichtlichen Stoff chronologisch anordnet bzw. die Einzelereignisse den Etappen eines Zeitrasters zuordnet, dabei in der Regel die
1. Zeit im Johannesevangelium
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wahrnehmen. Deshalb bezeichne ich diese Ansätze als historisch-chronikalisch. Folker Siegert: Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt (2008) Einen nahezu ausschließlich historischen Ansatz verfolgt Folker Siegert. Er beklagt die fehlende Berücksichtigung und Nivellierung von chronologischen Inkohärenzen und „Defekten“ des Evangeliums, wie sie neuere synchrone Zugänge zu kultivieren scheinen, und unternimmt den Versuch einer Rehabilitierung der literarkritischen Methode mit dem Ziel, den Text des JohEvs in seiner ursprünglichen Reihenfolge wiederherzustellen. „Man tut dem Joh als heiligem Buch oder auch nur als Kulturgut keinen Dienst, wenn man es [...] zur Zeitlosigkeit hypostasiert“ 11 , so das Votum Siegerts. Gegen rezeptionsästhetische Ansätze der Johannesexegese betont er, dass Ort und Zeit des Zeugnisses für das Verständnis der historischen Fakten von Bedeutung seien, nicht aber die wahrnehmende, bezeugende Person oder gar die hermeneutische Situation der dieses Zeugnis rezipierenden Person. 12 Ein Blick in den Text zeigt jedoch – so könnte man an dieser Stelle bereits entgegnen –, dass das Problem der Zuverlässigkeit von Augenzeugenberichten im Evangelium selbst in ganz anderer Weise reflektiert wird: Die Jünger bedürfen als Augenzeugen eines Parakleten, der sie nach Weggang Jesu lehrt und erinnert, bzw. der Schrift (Joh 20,9), die die Geschehnisse bezeugt, 13 eben weil ihre Erinnerung von ihrem Unverständnis zum Zeitpunkt des Geschehens getrübt ist (Joh 14,26). Die Annahme, dass ein Augenzeuge oder Partizipant eines Ereignisses dieses gleich schon verstanden und durchdrungen hat und im Nachgang für alle Abwesenden objektiv rekonstruieren kann, wird vom Evangelium letztlich selbst dekonstruiert.14 Nach Siegerts Verständnis ist zwar der Bericht des JohEvs zu gewissem Grade „konstruiert“ i.S. seiner Strukturierung, Pointierung und Stilisierung und somit nicht per se objektiv, aber es sei durchaus möglich, die Geschichte dieser Konstruktion nachzuzeichnen und eben dadurch „kontrollierbare“, objektive
strukturellen Zusammenhänge kausaler Entwicklungen in den Hintergrund treten läßt sowie sich einer dramaturgischen Durchformung des geschilderten Geschehens enthält, wodurch er gegenüber der Historie eine ausdrückliche Abgrenzung findet.“ (MELVILLE, Art. Chronik, 2007, 304) 11 SIEGERT, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt, 2008, 25. 12 Vgl. a.a.O., 165. 13 Zur Bedeutung der Schrift für das Verstehen vgl. MOLONEY, ‘For As Yet They Did Not Know the Scripture’ (John 20:9): A Study in Narrative Time, 2014, 97–111. 14 Vgl. ZIMMERMANN, Augenzeugenschaft, 2015, 209–251; FREY, Die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft Christi, 2013, 155.
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II. Forschungseinblick
Antworten auf die Frage nach den die Geschichtsschreibung auslösenden historischen Begebenheiten zu geben. 15 Der erste Schritt der Siegert’schen Methode ist es deshalb, die verschiedenen „Defekte“ der inhomogenen Endfassung des JohEvs zu markieren, um schließlich durch chronologische Neuordnung des Materials den ursprünglichen, kohärenten, lückenlosen Entwurf des JohEvs wiederherzustellen.16 Die von Siegert entdeckten „Defekte“ sind überwiegend chronologischer Natur,17 werden aber um solche „auf der Schwelle vom Formalen zum Inhaltlichen“18 und „inhaltlicher, deswegen aber noch nicht theologische Art“ 19 ergänzt. Insgesamt kommt Siegert somit auf genau 26 Defekte, die in alphabetischer Auflistung offenbar Vollständigkeit suggerieren sollen. Um den Vorwurf literarkritischer Willkür zu umgehen, sollen inhaltlich-theologische Argumente für literarkritische Scheidung bewusst zurückgestellt werden, so jedenfalls Siegerts Vorsatz.20 Am Ende der literarkritischen Bemühungen Siegerts liegen drei voneinander klar zu unterscheidende, sogar lokalisier- und terminierbare Entstehungsschichten des JohEvs vor: das bereits von Robert Fortna sezierte „vorjohanneische, nichtsynoptische Traditionsgut (VNT)“ 21, der sog. johanneische Entwurf (Joh I) und spätere Änderungen und Zusätze (Joh II). 22 Was lässt sich zusammenfassend über Siegerts Behandlung von Zeit im JohEv sagen? (1) Der Chronologie des JohEvs wird große Aufmerksamkeit zuteil. Sprünge, Pausen, Ellipsen, Wiederholungen, Variationen, Umstellungen 15
Vgl. SIEGERT, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt, 2008,
165. 16 Dagegen betont F. Schleiermacher, das JohEv sei eine „zusammenhängende in sich Eine Erzählung“, während die Synoptiker „nur Aggregate sind von einzelnen Erzählungen“ (SCHLEIERMACHER, Das Leben Jesu (1832), 1864, 58). 17 Vgl. SIEGERT, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt, 2008, 27. 18 A.a.O., 29. 19 A.a.O., 31. 20 Vgl. a.a.O., 35–38. Ob F. Siegerts Defektliste nicht bereits von theologischen Vorannahmen geleitet wird, ist sicherlich eines skeptischen Blickes wert. Wenn etwa das Motiv der „Furcht vor den Juden“ in Joh 7,13 und 9,22 als „grotesk“ bezeichnet wird, weil es doch die Juden seien, die sich fürchteten (vgl. a.a.O., 28), werden dann nicht bereits im Vorhinein unerwünschte antijudaistische Tendenzen des Textes durch die Verlagerung entsprechender Passagen auf spätere literarische Schichten ausgebügelt? Gleichsam unterliegt auch die Annahme, der Logos-Prolog müsse zum ursprünglichen Textgut gehören und der restliche Ursprungstext dürfe gerade deshalb unter keinen Umständen antilogisch sein (vgl. a.a.O., 21), ganz offensichtlich einem hermeneutischen Zirkel. 21 A.a.O., 37. Bei R. Fortna noch als Zeichen-Evangelium ausgewiesen (vgl. FORTNA, The Gospel of Signs, 1970). 22 Vgl. SIEGERT, Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt, 2008, 38.
1. Zeit im Johannesevangelium
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werden als „Defekte“ degradiert, die für Siegert weder stilistisch noch theologisch, sondern allein literarkritisch erklärbar sind. (2) Die Rekonstruktion der ursprünglichen Chronologie des JohEvs ist für Siegert deshalb so entscheidend, weil sie für ihn einen Zugang zu den historischen Tatsachen der Jesusgeschichte liefert. Siegerts „Johannes Senior“, wie er den Verfasser des joh. Entwurfs nennt, ist s. E. „der einzige, der das gesamte urchristliche Überlieferungsgut überblickt, und zugleich einer, der es beurteilen kann“ 23 , und so kommt er zu folgendem Schluss: „Alles, was man je über den historischen Jesus wusste, wusste Johannes.“24 Es wird sogar vom Evangelisten auf den historischen Jesus und vice versa geschlossen: „Der souveräne Jesus, den Johannes uns zeichnet und dem er sich selber annähert (als der Lieblingsjünger), zeigt uns die Souveränität des Evangelisten selbst – und umgekehrt!“25 (3) Außerdem spielt Zeit für Siegert im JohEv als einem „two-level-drama“ noch eine andere wichtige Rolle: Das JohEv stelle nämlich eine Verbindung zwischen der Zeit Jesu und der späteren Zeit des Johannesevangelisten her. 26 Zu der historischen Rückfrage nach der Jesusbiographie 27 tritt also auch die Observanz eines zeitgeschichtlichen Informationswertes des JohEvs (mehr dazu unter 1.4 Der zeitgeschichtliche Ansatz) hinzu. Die Möglichkeit, Tempusbrüche (etwa Joh 4,38: ἐγὼ ἀπέστειλα ὑμᾶς | Ich habe euch gesandt)28 nicht als Inkohärenzen des Textes, sondern im Dienste dieser Zeitverschränkung zu bestimmen, 29 bleibt bei Siegert allerdings unentdeckt. SBL-Projekt: John, Jesus and History (2002–2016) Der Frage nach der Korrelation zwischen Evangeliumsbericht und dessen historischen Grundlagen widmet sich auch das 2002 u.a. von Tom Thatcher und Paul Anderson ins Leben gerufene SBL-Projekt John, Jesus, and History (JJH). Ziel der Projektgruppe ist es, den historischen Charakter der joh. Tradition und deren Rolle in der Frage nach dem historischen Jesus noch einmal ganz neu zu stellen. Dabei wendet sich die Forschergruppe in drei gemeinsam herausgegebenen Aufsatzbänden sowohl gegen eine „De-Historicization of John“ als auch eine „De-Johannification of Jesus“. Im ersten Band wird für eine methodologische Neujustierung in der Frage nach dem historischen Jesus geworben, im zweiten Band werden Aspekte der Historizität in den Abschnitten Joh 1–4; 5– 12; 13–21 benannt, im dritten Band werden konkret die Passion, die Werke und
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A.a.O., 168. A.a.O., 169. 25 A.a.O., 147. 26 Vgl. a.a.O., 163. 27 Vgl. hierzu auch DERS., Das Leben Jesu, 2010. 28 Vgl. Merkmal ‚g‘ vgl. DERS., Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt, 2008, 28. 29 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 130–146 (§ 6 Tempuskontraste). 24
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II. Forschungseinblick
die Worte des joh. Jesus nach ihrem historischen Aussagewert auch im Vergleich zu den synopt. Parallelen analysiert.30 In den vielen, durchaus heterogenen Einzelstudien des Projekts wird die literarkritische Bastelarbeit als Zugang zu den historischen Tatsachen überwiegend ad acta gelegt. So müsse die joh. Historizität „comprehensively, including earlier and later material, as well as some that fits somewhere in between“ 31 betrachtet werden. Der synchrone Zugang ermöglicht den JJH-Forschern, die Chronologie des JohEvs mit einem „fresh look“ 32 zu betrachten und ihr in diesem Zuge neue historische Plausibilität zuzuschreiben. Somit sei die von den Synoptikern abweichende Chronologie weder Ergebnis einer diachronen Unordnung, noch verdanke sie sich ausschließlich einer symbolisch-theologischen Aussageintention, sondern es sei „a good deal of [historical, Anm. d. Verf.] plausibility in the Johannine ordering of Jesus’ ministry“ 33 zu finden. Ähnlich wie in Siegerts Modell wird ‚die Zeit‘ im JohEv auch im Rahmen des JJH-Projekts vornehmlich auf ihre historisch-geschichtliche Qualität hin geprüft, wobei die Chronologie des Evangeliums und die kalendarischen Zeitmarker (Feste, Todestag etc.) als wesentliche Zugriffspunkte für den so gefassten Untersuchungsgegenstand dienen. Diese methodische Zuordnung von synchronem Zugriff und diachroner Fragestellung führt freilich dazu, dass die joh. Zeitrechnung zumindest von einigen Projektteilnehmern gegen die synopt. ausgespielt werden muss. 34 1.3 Der narratologische Ansatz Eine andere Möglichkeit, mit den chronologischen Besonderheiten des JohEvs umzugehen, als Schere und Klebstift aus der alten Bastelschublade der Literarkritik zu holen oder sie gegen die abweichende synopt. Überlieferung auszuspielen, ist die Analyse ihres literarisch-narratologischen Wirkungspotenzials.
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Vgl. ANDERSON/JUST/THATCHER, John, Jesus, and history, Volume 1: Critical Appraisals of Critical Views, 2007; DIES., John, Jesus, and history, Volume 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, 2009; DIES., John, Jesus, and history, Volume 3: Glimpses of Jesus through the Johannine Lens, 2016 31 ANDERSON, Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, 2009, 381. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Zu den itinerarischen Details Jesu Wirkzeit schreibt z.B. P. Anderson: „Here one must choose between the Synoptic and the Johannine renditions of Jesusʼ ministry itinerary; one cannot have it both ways. Either Jesus visited Jerusalem several times during his ministry, or he visited only once – when he was arrested, tried, and crucified [...] On this point, many scholars believe that John’s presentation is closer to a realistic rendering of what an observant Jew would have done before the fall of Jerusalem in 70 C.E.“ (ANDERSON, Introduction to Part 2, 2009, 108).
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Alan Culpepper: Anatomy of the Fourth Gospel (1983) Mit seiner 1983 ersterschienen Anatomy of the Fourth Gospel ist Alan Culpepper ein entscheidender Vorstoß im Bereich der narratologischen Analyse des vierten Evangeliums gelungen. Sie kann als Pionierarbeit der synchronen, literaturwissenschaftlichen Johannesexegese gewertet werden. Für Culpeppers spezifischen Blick auf die Zeit im JohEv stellt eine seiner hermeneutischen Vorbestimmungen die entscheidende Weiche: Das Evangelium sei nicht, wie ehedem in der historisch-kritischen Exegese, als Fenster zu einer vergangenen Welt zu verstehen, sondern als Spiegel, der die Weltwahrnehmung des gegenwärtigen Lesers grundlegend neu zu reflektieren vermag. 35 Der Fokus auf die Wirkungseffekte narrativer Strukturen und Ausdrucksmittel auf den gegenwärtigen Rezipienten solle zwar nicht zur Deprivation jeglicher historischer Fragestellungen führen. Historische oder zeitgeschichtliche Textanalysen werden den narratologischen aber kategorisch nachgeordnet.36 Nun ist zunächst genauer zu prüfen, wo in der Culpepper’schen Analyse überhaupt nach der Zeit im JohEv gefragt wird. Sichtbarste Berücksichtigung findet sie in dem mit „Narrative Time“ überschriebenen dritten Kapitel, doch auch in anderen Teilen der Culpepperʼschen Anatomie wird je und je auf zeitliche Aspekte des Evangeliums Bezug genommen. Nach dem einleitenden Kapitel stehen zunächst die verschiedenen Ebenen der Erzählperspektive im Brennpunkt: neben der psychologischen, ideologischen und spatialen auch die temporale Ebene.37 Besondere Hervorhebung findet dabei die interpretatorische Retrospektivität des Erzählerstandpunktes. 38 Es handele sich um die Sichtweise einer nachösterlichen Gruppe, die von einem in Relation zum erzählten Geschehen zukünftigen Zeitpunkt, aber in Kenntnis der Schrifttradition, also zugleich in einem dem Geschehen vorgängigen Deutungsrahmen berichtet. So reflektiert der Erzähler bzw. das Erzählerkollektiv „on what occured both before and after the events he narrates“ 39. Die temporale Doppelperspektive des Erzählers wird in Culpeppers Beobachtungen aber noch um das Stilmittel der Vergegenwärtigung ergänzt: Durch den okkasionellen Gebrauch des Präsens Historicums wird der Leser, so Culpepper, von der Zeit des Erzählens in die Zeit des Erzählten zurückversetzt.40 Ferner provoziere der Präsensgebrauch einen temporalen Stillstand, insbesondere in Dialog- und Konfliktszenen. 41
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Vgl. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 4. Vgl. a.a.O., 11. 37 Vgl. a.a.O., 27–32. 38 Vgl. a.a.O., 27. 39 A.a.O., 29. 40 Vgl. a.a.O., 30. 41 Vgl. a.a.O., 31. 36
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II. Forschungseinblick
In diesen ersten Beobachtungen geraten gleich mehrere Analyseebenen durcheinander. Während die historische Rückfrage nach den realen Ereignissen ganz ausgeblendet wird, geht es Culpepper zunächst um den temporalen Standpunkt des Erzählers, dann in Vorwegnahme des siebten Kapitels um die Bewegung der Rezipienten durch die erzählte Zeit und schließlich wiederum um den Fluss bzw. den Stillstand der Erzählzeit, welche eigentlich erst Thema im, für die Zeitanalyse zentralen, dritten Kapitel ist. Das Durcheinander von der Zeit des Erzählers, der Zeit des Lesers und der Zeit des Erzählten hinterlässt für den ersten Moment nicht mehr als eine vage Ahnung, dass Zeit im vierten Evangelium eine besondere Rolle spielt. Im darauffolgenden, für die hiesige Studie zentralen Kapitel „Narrative Time“ fragt Culpepper, ausgehend von den Analysekategorien Gérard Genettes, dann ausdrücklich nach der narratologischen Funktion der Zeitmodulation im vierten Evangelium. Die Parameter Reihenfolge, Dauer und Frequenz helfen ihm vornehmlich dabei, das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit zu bestimmen. Das Verhältnis von erzählter zu historischer Zeit ist auch hier allenfalls von peripherem Interesse. 42 Hinter dem methodischen Vergleich von Erzählzeit und erzählter Zeit steht die grundsätzliche Annahme, dass die erzählte Zeit einer absoluten, d.h. linearen Chronologie folgt. Die Abweichungen vom linearen Erzählverlauf im Rahmen der Erzählzeit erzeugen dann einen besonderen Effekt für die Leserwahrnehmung. Eben jene Abweichungen gelte es zu untersuchen. Anachronien als aberrierende Elemente der Reihenfolge sind aus Culpeppers funktionalistischer Frageperspektive heraus für den „narrative flow“ zuständig, sie können für Stringenz, für unterschiedliche Gewichtung des Erzählmaterials und dramatische Höhepunkte sorgen, Leerstellen der Erzählung füllen oder Jesu Wirken mit den Anforderungen des Gemeindelebens der intendierten Hörerschaft in Beziehung setzen. 43 Ähnlich steht es mit den Kategorien der Dauer und der Frequenz. Die Oszillation zwischen ‚langsamen‘ Szenen und ‚schnellen‘ Summarien gebe der Erzählung ihren Rhythmus und lenke von der eigentlichen Disparität der Evangeliumstrajektorie ab. 44 Im Bereich der Längenmodulationen erweise sich der Evangelist demnach als „master of his material“45. In geschickten Geschwindigkeitsvariationen werden dialogische und dramatische Szenen miteinander verwoben. Sie dienen außerdem dem Spannungsaufbau auf klimaktische Ereignisse, bspw., wenn kurz vor der Kreuzigung 24 Stunden auf sieben Kapitel gestreckt werden (Joh 13–19). Von Defekten der Chronologie kann also nach Culpepper zumindest aus narratologischer Sicht mitnichten die Rede sein. 42
Vgl. a.a.O., 53. Vgl. a.a.O., 69. 44 Vgl. a.a.O., 71–73. 45 A.a.O., 73. 43
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Die planvolle Frequentierung der einzelnen Erzählmomente sei ferner Indiz dafür, „that the author has handled story time skillfully in his narrative. He has done his job well.“46 Durch iterative Summarien und repetitive Szenen, wie das wiederholte Bleiben, das Zuglaubenkommen des Umfeldes, die Wunderhandlungen, die Verfolgung Jesu, die Nachfolge der Menge, werden Erzähllücken kaschiert und eine geschickte Auswahl an erzählrelevanten Szenen getroffen. 47 Im Fokus von Culpeppers Analyse stehen demnach ausnahmslos die Fertigkeiten des Evangelisten bei der Strukturierung seines Materials, stets mit dem Ansinnen, das lesepragmatische Ziel des Evangeliums offenzulegen, nämlich „to enclose the reader in the company of faith“48. Interessant ist ferner Culpeppers Beobachtung, die Narration selbst befähige den Leser kaum dazu, eine „fixed order“ der Events herzustellen. Dabei können allenfalls externe Informationen behilflich sein. 49 Auch im vierten Kapitel „Plot“ geht es hauptsächlich um die Auswahl und das Arrangement des Erzählstoffes durch den Autor im Zeichen eines bestimmten Kommunikationsziels. Dabei spielt die zeitliche bzw. kausale Abfolge der Ereignisse und Szenen eine Rolle. Inwiefern der Stoff aber in sich schon bestimmte Zeitabläufe birgt bzw. die Idee, dass sich nicht nur zwischen den Szenen, sondern auch innerhalb der Szenen, also zwischen den Figuren ein bestimmter Takt entwickeln kann oder ablesen lässt, bleibt unbeachtet. Auf Ebene des Figurenverhaltens wird die Frage nach dem Umgang mit der Zeit bis zu diesem Punkt der Monographie also nicht gestellt. Es stehen stets die Erzählung, der Erzähler und die Leser im Vordergrund der Analyse. Ein Blick auf die Figurenzeit ließe sich am ehesten im darauffolgenden Kapitel „Characters“ erwarten. Hier unterscheidet Culpepper zwischen statischen und dynamischen Figuren mit Entwicklungspotenzial. Die Entwicklung eines
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A.a.O., 75. Vgl. a.a.O., 74. 48 A.a.O., 98. Freilich lässt die detaillierte Deskription aller Arten von Anachronien hier und da nicht nur Rückschlüsse auf die narratologische Funktion, sondern auch auf die theologische Qualität der Zeitmodulationen zu, die ja eng mit dem intendierten Glauben verbunden ist, etwa, dass das Evangelium aufgrund des nahezu vollständigen Fehlens sog. historischer Prolepsen, also Vorverweisen auf Ereignisse nach der Zeit der Evangeliumsabschrift, einen „distinctive emphasis on ʻrealized’ elements of tradition, [...] eschatological expectations“ (a.a.O., 65) legt. Das gibt Aufschluss über die Gewichtung von Gegenwart und Präsenz im JohEv. Kritische Rückfrage verdient m.E. A. Culpeppers Rubrizierung von „prehistorical“ Analepsen, also solchen Vorverweisen, die sich nicht auf die Geschichte der Menschheit beziehen, bspw. Rekurse auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn in der unbestimmten Vergangenheit des inkarnierten Logos (vgl. a.a.O., 57). Geht es hier wirklich um eine pre-historische oder nicht viel eher um eine meta-historische Zeit? Dies führt sogleich zu tiefer systematisch-theologischen Deutungsfragen zum Thema joh. Präexistenzvorstellungen. 49 Vgl. ebd. 47
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II. Forschungseinblick
dynamischen Figurenkonzepts sei Folge einer neuen Zeitsensibilität, die verschiedene Entwicklungsstadien einer Person zu berücksichtigen gelernt habe. Diese Zeitsensibilität haben, so Culpepper, die biblischen Narrationen der antiken Literatur bspw. den Epen Homers voraus. 50 Jesus ist nach Culpeppers Dafürhalten allerdings eine statische Figur.51 Prozessual ist allenfalls das Offenbarungsgeschehen, 52 ansonsten werde hauptsächlich seine Zeitunabhängigkeit und Omniszienz betont. 53 Jesus werde im JohEv nicht „humanize[d]“ – diese grundsätzliche Beobachtung Culpeppers führt einerseits zu einer Deutung des joh. Jesus als ein nahezu emotionsloser, vollkommen unberührt über den Dingen thronender Gottessohn,54 andererseits versperrt es den Blick auf sein individuelles Verhalten in den konkreten Szenen und deren zeitlichen Besonderheiten. Die Inkarnation wird von Culpepper nicht i.S. einer Intemporation55 verstanden. Es wird strikt zwischen Jesu Zeit und „the worlds time“56 unterschieden. Aufgrund dieser christologischen Vorentscheidung spielt die menschliche Zeit für das Verhalten Jesu Culpeppers Analyse zufolge eigentlich keine Rolle. Die übrigen Figuren des Evangeliums werden wiederum als dynamisch bezeichnet. Sie haben aber für Culpepper trotz ihrer Entwicklungsfähigkeit und Individualität in der Hauptsache repräsentative Funktion. Sie sind ethische Typen bzw. Glaubenstypen, 57 sie sind „surrogates“ oder „models“ 58, „representatives“ 59 , „epitomes“ oder „representative roles“ 60 , „symbolic figures“,
50
Vgl. a.a.O., 103. Vgl. a.a.O., 103. 52 Vgl. a.a.O., 109. 53 Vgl. a.a.O., 108. 54 Vgl. a.a.O., 111. 55 Begriff der Temporation erstmals gesehen bei MEESTERS, Zur Bedeutung des Faktors Zeit im Rahmen einer theologischen Ethik, 1981, 132. 56 CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 138. 57 Vgl. a.a.O., 103. 58 A.a.O., 115. 59 A.a.O., 115. 60 A.a.O., 123. 51
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„ideal[s]“ oder „prototype[s]“ 61, und „foil[s]“62. Sie werden vom Erzähler gebraucht 63 oder instrumentalisiert 64 . Sie dienen der Exemplifizierung, 65 Kontrastierung oder thematischen Fortentwicklung. 66 Sie sollen den Leser herausfordern, die Erfüllung der eschatologischen Erwartungen in der Person Jesu zu akzeptieren.67 Diese Figurenbeschreibungen Culpeppers haben gerade im Rahmen der mimetisch-repräsentativen Funktionsbestimmung durchaus ethische Implikationen. Martha, Maria und Lazarus werden z.B. als „almost a Johannine characterization of the Pauline virtues – faith, hope and love“68 bezeichnet und die Figur des Pilatus „is a study in the impossibility of compromise, the inevitability of decision […] Pilate represents the futility of attempted compromise.“69 Diese ethischen Reflexionen befinden sich aber immer schon auf einer Abstraktionsebene, die die Instruktivität der konkreten Handlungssituationen und -konflikte verkennt. Obwohl Culpepper den biblischen Schriften anfangs eine Zeitsensibilität akkreditiert, nämlich eine Sensibilität insbesondere für die individuelle Identitätsentwicklung der Figuren, kann er sie dennoch nur als Instrumente einer bestimmten Aussageintention auffassen und ihnen nicht als u.U. fiktiven, aber durchaus realistischen Personen begegnen: „They are not so individualized that they have much of a ʻpersonalityʼ.“70 Ihre vollständige Funktionalisierung zu sieben Antworttypen auf der einen Seite und Offenbarungsmittler für den Leser auf der anderen Seite,71 ihre Degradierung zu bloßen Instrumenten einer besonderen (mitunter durchaus ethischen) Erkenntnis des Lesers versperrt den Blick auf ihr tatsächliches Verhalten, auch ihr Verhalten in der Zeit. Immer steht ihre Funktion für den Plot im Vordergrund. So ist es nicht Jesus, der die Heilungen durch sein retardierendes Verhalten verzögert, sondern „the evangelist here delays the miracle“ 72. Dass bestimmte Prolepsen im Munde der Figuren bspw. eine bestimmte Auswirkung auf die Wahrnehmung der Zeit bei den übrigen Figuren der Szene haben könnten, dass der retardierende Verweis auf die noch nicht gekommene Stunde nicht nur des Lesers Blick auf das Kreuz
61
A.a.O., 134. A.a.O., 135. 63 Vgl. a.a.O., 123. 64 Vgl. a.a.O., 134. 65 Vgl. a.a.O., 137–139. 66 Vgl. a.a.O., 140. 67 Vgl. a.a.O., 141. 68 A.a.O., 142. 69 A.a.O., 143. 70 A.a.O., 145. 71 Vgl. a.a.O., 145. 72 A.a.O., 141. 62
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II. Forschungseinblick
provoziert, sondern auch in der Szene zu entscheidenden Zeitkonflikten zwischen den Figuren führen kann, wird nicht thematisiert. In den Termini des Filmwissenschaftlers und Figurenexperten Jens Eders gesprochen, begreift Culpepper die Figuren lediglich als „Symptome“, d.h. als Repräsentanten eines bestimmten (historischen) soziokulturellen Kontextes, als „Artefakte“, d.h. als Ergebnisse einer kunstvollen Inszenierung, oder als „Symbole“, d.h. als Träger theologischer oder ethischer Aussagen. An keiner Stelle fasst er sie als fiktive oder gar reale Personen auf. Damit fehlt ein Teil der analytischen „Uhr der Figur“, die für eine umfassende Figurenanalyse auch in Blick auf den Zusammenhang von Ethik und Zeit nötig wäre.73 Das Kapitel „Implicit Commentary“ vermag den eindimensionalen Fokus auf den Kommunikationsprozess zwischen Erzähler und Leser nicht aufzubrechen. Missverständnisse ‒ ex natura rei intersubjektive Konflikte mit ethischem Potenzial ‒ spielen nur in ihrer sekundären Erkenntnisfunktion für den Leser eine Rolle. Das geht so weit, dass man laut Culpepper den Eindruck gewinnen könnte, die Identität des jeweiligen Gesprächspartners Jesu sei irrelevant oder willkürlich. 74 In ähnlicher Weise finden sich die meisten Figuren als „victims of the evangelist’s irony“75 vor. Symbolismus, Metaphern und Ironie als Werkzeuge des impliziten Erzählerkommentars geben allenfalls dem Leser Zeit, auf höhere Bedeutungsebenen zu gelangen. 76 Was jene Stilmittel jesuanischer Rede für die Zeitkonflikte zwischen den Figuren bedeuten, wird nie zur Frage erhoben. Im letzten Kapitel „The Implied Reader“ werden Wissen bzw. Wissenslücken des impliziten Lesers auf fünf verschiedene Ebenen verteilt und nachgezeichnet: Personen, Orte, Sprachen, Judentum und Ereignisse. Dabei gilt die Regel: Was der Erzähler nicht erwähnt bzw. nicht erklärt, setzt er beim Leser voraus. Die Informationslücken, die das Evangelium auf der Ebene der Zeitdarstellung hinterlässt, werden an dieser Stelle allerdings komplett ausgespart. Einzig unter der Rubrik „Ereignisse“ wird kurz auf die Stunde Jesu Bezug genommen, deren Bedeutung der Leser entweder schon kennen oder aus späteren Bezügen schließen müsse. 77 Die erstaunliche Diskrepanz zwischen dem zeitlich-historischen Schwebezustand einiger Szenen auf der einen Seite und deren aufwendiger zeitlicher Binnenstrukturierung andererseits (z.B. bei der Lazarusauferweckung) findet bei Culpepper keine Erwähnung. Der Fokus auf das Kommunikationsgeschehen zwischen Erzähler und intendiertem Leser via Evangeliumstext bringt gegenüber einer rein historisch-kri-
73
Vgl. EDER, Die Figur im Film, 22014, 141. Vgl. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 162. 75 A.a.O., 179. 76 Vgl. a.a.O., 199. 77 Vgl. a.a.O., 222. 74
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tischen Zeitanalyse das Surplus der Einsicht in die narratologischen Wirkungsmechanismen der joh. Zeitmodulationen. Vereinzelt brechen sich auch inhaltlich-theologische Implikationen dieser Zeitstrukturierungen in der Culpepper’schen Analyse Bahn, insbesondere wenn es im Rahmen von Anachronien um eschatologische Notizen oder Präexistenzvorstellungen geht. Als allgemeines Fazit Culpeppers zu den Zeitstrukturen im JohEv ist folgende Bemerkung im Abschlusskapitel jedoch aufschlussreich: „As a construction, the gospel is magnificent but flawed. Magnificent in its complexity, subtlety, and profundity, but oddly flawed in some of its transitions, sequences, and movements.“78 Kurz darauf wird das Evangelium wiederum als „more unified and coherent than has often been thought“79 bezeichnet. Das JohEv ist Culpeppers Ansicht nach also mangelhaft, was seine Temporalstruktur angeht, dafür aber konsistent und kohärent in seiner thematischen Entwicklung, in der repräsentativen Vollständigkeit des Personenspektrums und in den vielfältigen impliziten Kommentierungsmechanismen.80 Das Evangeliumsgeschehen wird auf diese Weise nahezu vollständig auf eine sekundär zu den Ereignissen stehende Interpretationsebene verlagert, auf welcher jegliche Zeitstrukturen als kausal-thematische oder symbolische Verknüpfungen abgestellt werden und die tatsächlichen Begegnungen zwischen den Figuren auch in ihren zeitlichen Besonderheiten keine wirkliche Rolle spielen. Was die historisch-kritische Zeitanalyse an Gegenständlichkeit erzwingt, büßt die narratologische Zeitanalyse zuweilen an Konkretion ein. Douglas Estes: The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel (2008) Einen etwas anderen Weg, mit den vermeintlichen Brüchen und Unwegsamkeit des joh. Erzählhergangs umzugehen, wählt wiederum Douglas Estes in seinem 2008 erschienen Werk The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel. Zunächst weist Estes auf das Missverhältnis zwischen einer Vielzahl an unterschiedlichen Zeitsystemen im JohEv einerseits und einem vergleichsweise kleinen Fundus an analytischen Zugangsmethoden zur narrativen Zeit andererseits hin. 81 Wichtigste Vorbestimmung seines Forschungsvorhabens ist deshalb der Fokus auf die „temporal mechanics“ des vierten Evangeliums. Das Interesse liegt klar bei den unterschiedlichen Zeitsystemen, nicht bei der inhaltlich-theologischen Bedeutung der Zeit. Für diesen definierten Forschungsgegenstand reiche weder eine rein semantische Analyse aus, noch sei eine einfache Beschreibung der Evangeliumsstruktur nach Maßgabe einer linearen Chronologie zielführend.82
78
A.a.O., 231. A.a.O., 234. 80 Vgl. a.a.O., 234. 81 Vgl. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008, 83. 82 Vgl. a.a.O., 84. 79
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Estes möchte die hermeneutischen Hintergründe der vorherrschenden Forschungsmeinung offenlegen, die das JohEv als in seinen Zeitstrukturen gebrochen und unsortiert begreift. Dieser Eindruck resultiere aus der modernen, „quasi-Newtonian“ Zeitkonzeption, die Zeit als eine linear verlaufende Messgröße, einen absoluten Chronometer begreift.83 In diesem transzendentalen Filter könne der temporale Aufbau des Evangeliums nur planlos und inhomogen erscheinen. So begegne man durch die gesamte joh. Forschung hindurch der impliziten Grundannahme, das JohEv verfüge über eine absolute Chronologie. Diese liefere Grund und Anlass für das vernichtende Urteil über die Gebrochenheit der Evangeliumschronologie.84 Das letzte halbe Jahrhundert habe aus dieser Unzufriedenheit heraus diverse, unvereinbare Versuche zutage gefördert, auf Biegen und Brechen eine übergreifende, wiederum lineare Struktur des Evangeliums herauszufiletieren, die aber allesamt unbefriedigend bleiben mussten. 85 Erst wenn man die Chronologie des Evangeliums als mehrdimensional begreife und nach ihrer vielschichtigen temporalen Konfiguration frage, habe man die Chance auf ein konsensfähiges Ergebnis. 86 Hinter dem Aufbau des vierten Evangeliums stehe eine relative lineare Chronologie, die zwar der rudimentären Strukturvorgabe von Anfang, Mitte und Ende folge, sonst aber in keinen absoluten, den Ansprüchen der modernen Historiographie genügenden Zeitrahmen eingepasst werden könne.87 Somit verwirft Estes die Annahme eines strukturellen Defekts des Evangeliums, von Culpepper noch halbseits konzediert, indem er zu beweisen versucht, dass das JohEv einen „timescape“ 88 (analog zu ‚landscape‘) entwirft, d.h. eine Zeitkulisse, der man sich von verschiedenen Seiten nähern kann, die sog. „pockets of time“ 89 eröffnet, welche nicht auf einem linearen Zeitstrahl aufgereiht werden können, sondern mehrdimensional sind und dabei vornehmlich thematisch oder nur motivisch miteinander in Verbindung stehen. Für Estes’ Theorie ist die Unterscheidung von Kohärenz und Kohäsion richtungsweisend. Kohäsion entstehe in einem Text durch die Syntax, durch Verseinheiten, durch die lineare Abfolge verschiedener Textelemente, durch die oberflächliche Verbundenheit von Erzählsequenzen ‒ kurz: durch den äußerlichen, textli-
83
Vgl. a.a.O., 3. Vgl. a.a.O., 135. 85 Vgl. ØSTENSTAD, The Structure of the Fourth Gospel: Can it be Defined Objectively?, 1991, 33. 86 Vgl. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008, 149. 87 Vgl. a.a.O., 135. 88 A.a.O., 162. 89 A.a.O., 204. 84
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chen Zusammenhalt. Kohärenz hingegen ergebe sich auf Basis von Semantemen, Inferenzen, also auf der kognitiv-pragmatischen Ebene einer Narration ‒ kurz: durch den logischen Zusammenhalt. 90 Die übergeordnete Kohärenz des Evangeliumsverlaufs sei dem hohen Grad an „narrative determinism“ bzw. „relativistic determinism“ 91 innerhalb der joh. Narration geschuldet. 92 Dieser relative Determinismus liefere keine starren, eindeutig vorherbestimmbaren Kausalketten, dafür aber Probabilitäten, wie sich der Plot weiterentwickeln könnte. 93 Jene Wahrscheinlichkeiten werden, so Estes, durch drei nicht-absolute temporale Bewegung hervorgerufen: „diegetic levels, anachronies, and intratextual diachronies“ 94. Diegetic Levels: Durch die Integration unterschiedlicher diegetischer Ebenen, bei Genette als „narrative Ebenen“ 95 bezeichnet, kann, so Estes, ein „Pluriversum“ unterschiedlicher möglicher Welten (possible worlds) im Text entstehen, die jeweils eigene temporale und spatiale Abgeschlossenheit aufweisen, 96 gleichzeitig aber durch den Text und seinen semantischen Inferenzen zu sog. „trans-world propositions“97 verbunden sind. Für Estes lassen sich im JohEv zwei primäre, voneinander abweichende Welten mit eigenen, voneinander unterschiedenen Zeitsystemen ausmachen:98 „The Witness World“99 und „The Epic World“ 100 . Das vorherrschende Zeitsystem in der Welt der Zeugen entspricht der Lebenszeit Jesu und seiner Jünger. Die Aufgabe dieser Welt ist es, die Ereignisse rund um das Wirken Jesu aus der Perspektive des geliebten Jüngers zu bezeugen. Die epische Welt hingegen rahmt, kontextualisiert und dramatisiert die jüngeren Bekenntnisse aus der Zeit der ersten Christengemeinden. Das indexikalische ‚Jetzt‘ dieser Welt ist die Zeit nach Tod und Auferstehung Jesu. Die Funktion der epischen Welt ist es, die temporalen Grenzen der Zeugen-Welt zu durchbrechen, sodass Christusbekenntnisse, die in diskontinuierlicher, nicht streng sukzessiver Trajektorie zu den ursprünglichen Ereignissen stehen, dennoch in Kohärenz und Übereinstimmung mit den ersten Bekenntnissen erfahren werden und zur Geltung kommen können. 101 Die unterschied-
90
Vgl. a.a.O., 168. A.a.O., 169. 92 Vgl. a.a.O., 172. 93 Vgl. a.a.O., 170. 94 A.a.O., 173. 95 GENETTE, Die Erzählung, 32010, 147. 96 Vgl. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008, 230. 97 A.a.O., 233. 98 Vgl. a.a.O., 234. 99 A.a.O., 238. 100 A.a.O., 239. 101 Vgl. a.a.O., 240. 91
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lichen Ebenen tragen so auf ihre eigene Art und Weise zur Kohärenz des Evangeliums bei, u.a. indem sie Informationslücken des Lesers füllen und ihm eine möglichst facettenreiche Christusbegegnung bereitstellen. 102 Intratextual Diachronies: Mit intratextuellen Diachronien sind alle assoziativen Verbindungen zwischen den verschiedenen Ereignissen einer Narration gemeint, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten abspielen und in diesem assoziativen Prozess einen gemeinsamen Plot bilden. Je weniger „verwitwete“ Ereignisse, die keinerlei Verbindung zu anderen Ereignissen des Plots einzugehen scheinen, eine Narration enthält, desto determinierter und kohärenter ist sie.103 Anachronies: Schließlich können Anachronien jeglicher Art als Vehikel für temporale Tiefe und Kohärenz bezeichnet werden. Pro- und Analepsen laufen zwar gegen den linearen Zeitstrahl, können aber umso wirksamer die kausalen und thematischen Verbindungslinien zwischen den Ereignissen markieren. Repetitive Anachronien sind dabei eher dazu geeignet, Kohärenz hervorrufen, als metaphysische, historische oder kompletive Anachronien. 104 Die leitende Grundintention der Temporal Mechanics von Estes ist es, weder irgendeine Art von Inkohärenz oder Gebrochenheit der temporalen Organisation des Evangeliums einzuräumen, noch auf der anderen Seite einen weiteren Strukturvorschlag zu unterbreiten, welcher Diskontinuitäten und Aporien vorschnell zu harmonisieren trachtet. Eine Balance zwischen dem Wunsch nach Kohärenz und dem Respekt vor der joh. Eigensinnigkeit versucht er dadurch herzustellen, dass er sich von einem linearen Denksystem der Zeit verabschiedet, um sie mehrdimensional denken zu können und auf diese Weise die joh. Sprünge nicht als Diskontinuitäten, sondern als Garanten für Tiefe verstehen zu können. Voraussetzung für dieses Denksystem ist die Integration von zeitlicher und räumlicher Dimension, ablesbar daran, dass Estes stets auf Metaphern des Raumes, wie bspw. Ebenen, Krümmungen, Geodäten, Zeittaschen, Zeitkulissen, Anisotropie etc., zur Beschreibung der zeitlichen Struktur des JohEvs angewiesen ist, sodass mehr und mehr eine Art Chronotopos entsteht.105 So gewinnbringend dieser fast revolutionäre Blick auf die Zeit im JohEv ist, so fraglich bleibt am Ende, ob der Forschungsgegenstand wirklich noch Zeit stricte dicta ist. Wenn die temporale Kohärenz vornehmlich auf motivischen bzw. semantischen Inferenzen beruht und nicht mehr primär auf der zeitlichen Abfolge von Ereignissen, geht es dann tatsächlich noch um Zeit? Oder geht es dann bereits um die interpretatorische Sinnarbeit des Evangeliums, die dem Leser ein Geschehen als zwar nicht simplizistisch linear, aber doch als im Ganzen zusammenhängend und vor allen Dingen bedeutsam präsentiert? Ähnlich 102
Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 174. Vgl. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008, 175. 104 Vgl. a.a.O., 180–182. 105 Vgl. BACHTIN, Chronotopos, 2008. 103
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wie bei Culpepper verhindert der einseitige Blick auf die narratologische Organisation des Evangeliums die Wahrnehmung der sich in concreto abspielenden Geschehensabläufe und deren zeitlicher Organisation, bspw. auch der vielen Synchronisierungs(fehl)versuche zwischen den Figuren und Ereignissen. Wie bei Culpepper geht es auch bei Estes ausschließlich um die Vernetzungsleistung zwischen den Szenen in ihrer „complex molecularity“ 106, nicht aber darum, welcher Takt innerhalb der Szenen selbst angeschlagen wird. Im Übrigen ist natürlich auch zu fragen, warum ausgerechnet das JohEv der absolut-linearen Chronologie weniger zu folgen bereit ist als die anderen Evangelien. Dies kann im synopt. Vergleich nämlich nicht mehr einfach mit dem historischen Wandel in der Zeithermeneutik erklärt werden, als habe damals die newtonische Zeitkonzeption der Aufklärung noch nicht vorgeherrscht, sondern allein die antike Vorliebe für relativistische Zeitkonzeptionen. 107 Lukas möchte, wie wir wissen, ausdrücklich alles akribisch der Reihe nach aufschreiben (Lk 1,3: ἀκριβῶς καθεξῆς σοι γράψαι)108. Eine minimale Linearität weisen, nebenbei bemerkt, jeder Text, jede Narration und v.a. jedes Geschehen auf. Francis Moloney: A Study in Narrative Time (2014) In einem Aufsatz über die Selbstreferentialität des JohEvs, ausgehend von Joh 20,9 (οὐδέπω γὰρ ᾔδεισαν τὴν γραφήν), untersucht Francis Moloney die narrative Zeit und in diesem Zuge den Zusammenhang von nachösterlicher Erkenntnis und vorösterlichem Christusereignis. Dieser Aufsatz dient uns an dieser Stelle als bequeme Brücke zwischen narratologischen und zeitgeschichtlichen Ansätzen. Unter der Schrift (ἡ γραφή), auf die in Joh 20,9 verwiesen wird, versteht Moloney das von den Jüngern bezeugte und schriftlich festgehaltene Wort Jesu, nicht etwa den atl. Schriftenkorpus. 109 Der eigentliche Verstehens- und Glaubensaspekt wird bei Moloney auf die nachösterliche Zeit verlagert, eine Zeit, in der der Gemeinde bereits ein schriftliches Zeugnis über die Christusereignisse vorlag, welches über die fehlende direkte Begegnung mit dem Gottessohn hinweghelfen, ja sogar einen tieferen Glauben als den der Augenzeugen selbst hervorrufen konnte und immer noch kann. Durch die Schrift bleibt der Inkarnierte dauerhaft erlebbar, gar tast- bzw. spürbar.110 Das JohEv wird so 106
ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008, 252. Vgl. a.a.O., 141. 108 Das Adverb ἀκριβῶς kann sowohl zum ersten Teil des Satzes (παρηκολουθηκότι ἄνωθεν πᾶσιν ἀκριβῶς | nachdem ich alles von Anfang an akribisch erkundet habe), als auch zum zweiten Satzteil (ἀκριβῶς καθεξῆς σοι γράψαι | in guter Ordnung akribisch aufzuschreiben) gezählt werden. 109 Vgl. MOLONEY, ‘For As Yet They Did Not Know the Scripture’ (John 20:9): A Study in Narrative Time, 2014, 105. 110 Vgl. a.a.O., 109. 107
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zu einem neuen Teil ‚der Schrift‘, die nachösterlich zur Prothese des Glaubens derjenigen wird, die Jesus nie gesehen haben. Der konkrete Kontext der Schriftunkenntnis der beiden Jünger in Joh 20,9 wird von Moloney aber nicht weiter untersucht: Die Jünger verlassen das Grab, werden somit erst später dem Auferstandenen begegnen und räumen Maria von Magdala einen Vorsprung in ihrem interessanten Wettlauf ein, den der geliebte Jünger eigentlich bereits gegen Petrus gewonnen hatte. 1.4 Der zeitgeschichtliche Ansatz Klaus Wengst: Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus (1992) An der nachösterlichen Perspektive des Evangeliums ist auch Klaus Wengst in seiner 1992 in dritter Auflage erschienen Monographie Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus (11981) interessiert. Auch seine Analyse möchte Näheres über die Funktion des Evangeliums erfahren, jedoch nicht über die Wirkungsmechanismen der narrativen Strukturen für den gegenwärtigen Leser, sondern über die Funktion und Intention der theologischen Kerngedanken des Evangeliums vor dem Hintergrund seiner konkreten historischen Abfassungssituation. Die Szenen werden weder als transformativer Spiegel für die Weltwahrnehmung des gegenwärtigen Lesers aufgefasst, noch als Fenster zu dem konkreten, berichteten historischen Geschehen, sondern sie fungieren als Spiegel für die nachösterliche Gemeindesituation. Unter dem Einfluss der religionsgeschichtlichen Schule erhebt er das Wissen um die konkreten Abfassungsund ursprünglichen Rezeptionsbedingungen des Evangeliums zur Gelingensbedingung für eine sachgemäße Interpretation seiner theologischen Aussagen.111 Zugriffspunkt für die zeitgeschichtliche Interpretation bietet die Auseinandersetzung mit der Rolle der Juden im JohEv. Wengst findet im JohEv „das Judentum als eine weithin uniforme, Jesus entgegenstehende Größe“ unter „Dominanz des negativen Aspekts im Gegenüber zu Jesus“ dargestellt. 112 Es handele sich aus diesem Grunde „zwar nicht um die historische Wirklichkeit der Zeit Jesu […], wohl aber diejenige der Zeit des Evangelisten, die er in die Geschichte Jesu zurückprojiziert.“ 113 Die Arbeitshypothese, von der aus sich Wengsts historische Analyse und schließlich die theologische Interpretation entspinnen, erkennt in den joh. Ἰουδαῖοι das pharisäisch geprägte Judentum nach der großen Katastrophe 70 n. Chr.114 Die Rede vom drohenden Synagogenausschluss (Joh 9,22; 12,42; 16,2) wird zum Dreh- und Angelpunkt seiner historischen Analyse, an deren Ende eine Datierung des Evangeliums zwischen 80 und 90 n. Chr. kurz vor Aufnahme der Ketzerformel birkat ha-minim in das
111
Vgl. WENGST, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, 31992, 46. Vgl. a.a.O., 56. Zur negativen Darstellung des Judentums vgl. auch a.a.O., 62. 113 A.a.O., 58. 114 Vgl. a.a.O., 70. 112
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identitätsstiftende, jüdische Achtzehnbittengebet steht. 115 „Die Situation, in die das JohEv hineingeschrieben wurde, ist also die einer bedrängten Gemeinde.“116 Diese sehe sich in der Situation der Verfolgung durch das sich konsolidierende Judentum von Jabne 117 mit dem Problem der „heilsleeren Gegenwart“ konfrontiert, die zwischen wehmütigen Erzählungen über den fortgegangenen Wundertäter und der Hoffnung auf eine heilvolle, eschatologische Zukunft bei seiner Wiederkunft oszilliert. Das JohEv schlage eine Brücke zwischen heilvoller Vergangenheit und heilvoller Zukunft, indem es die Situation der Bedrängnis Christi transparent werden lasse für die gegenwärtige Situation der Gemeinde. 118 Auf diese Weise werde die Gemeinde nicht einfach auf eine heilvolle Zukunft „ver-tröstet“, sondern es werde die Präsenz Jesu in der Gegenwart der nachösterlichen Gemeinde heraufbeschworen. 119 Entscheidend für den Blick auf die Zeit im JohEv ist nicht nur der Austausch der Fenster- durch die Spiegelmetaphorik und damit die Verschiebung des historischen Hauptbezugspunkts von der Geschichte Jesu hin zur Geschichte der joh. Gemeinde. Entscheidend für den Blick auf die Zeit ist ebenso erstens die Erkenntnis Jesu als des absoluten „Souverän des eigenen Geschicks“, der sich immer „auf der Höhe des Geschehens“ befindet und „nie von ihm überrascht“ wird,120 sich folglich resistent und unabhängig gegenüber jeglichen Veränderungen der Zeit zeigt; zweitens die Betonung der Tatsächlichkeit des irdischen Lebens Jesu, der historischen Einmaligkeit seines Todes, 121 welcher nicht bloß als Symbol für eine existentielle, überzeitliche theologische Aussage zu gelten hat,122 und die Aufforderung, die Geschichte Jesu mit ihrem ganz bestimmten Ziel ernst zu nehmen.123 Und schließlich drittens die Retrospektivität der Pistologie und Epistemologie: Glauben und Verstehen ist nur vom nachösterlichen Standpunkt möglich. Die Frage von Glaube und Unglaube lässt sich erst am Kreuz entscheiden.124 Die retrospektive Brechung der joh. Theologie dezimiert das Interesse am exakten chronologischen Aufbau, weil alle Ereignisse ohnehin vom Brennpunkt der nachöstlichen Gemeindesituation aus betrachtet werden. Zeit spielt also zuvorderst i.S. der geschichtlichen Abfassungssituation eine Rolle, dann im Rahmen der theologischen Interpretation der Person Jesu als 115
Vgl. a.a.O., 180–182. A.a.O., 183. 117 Vgl. a.a.O., 180. 118 Vgl. a.a.O., 190. 119 Vgl. a.a.O., 213. 120 Vgl. a.a.O., 195. 121 Vgl. a.a.O., 212. 122 Vgl. a.a.O., 199. 123 Vgl. a.a.O., 222. 124 Vgl. a.a.O., 211. 116
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Souverän über die Zeit einerseits und als zeitlicher, geschichtlicher Person andererseits und schließlich in Hinblick auf die hermeneutische Erkenntnisrichtung der Retrospektion. Die Betonung der konkreten Hingabe Jesu in die Niedrigkeit des Todes, d.h in die Endlichkeit i.S. der menschlichen Zeitabhängigkeit, steht der Zeichnung des joh. Jesus als absolut zeitunabhängigen Handlungssouverän unverbunden gegenüber. Erneut wird zugunsten der Hoheitschristologie bei der Inkarnation keine Intemporation mitgedacht. Das konkrete Verhalten des joh. Jesus zu seinen Lebzeiten, seine durchaus umweltsensiblen Reaktionen (man denke allein an die Gemütsbewegungen Jesu in der Lazaruserzählung Joh 11,33.35.38), seine konkreten Wunderhandlungen und deren rhythmische Besonderheiten werden unter dem Deckmantel der einseitigen Kritik an einem voyeuristischen Wunderglauben und zugunsten der alles entscheidenden Stunde der Verherrlichung am Kreuz vernachlässigt.125 So ist der Verfasser mit seiner zeitgeschichtlichen Analyse nicht nur eines hermeneutischen Zirkels zu überführen, bei dem der thematische Zugriffspunkt der ἀποσυνάγωγοι die Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Analyse vorbestimmt, die wiederum zum maßgeblichen Interpretationsschlüssel der gesamten theologisch-thematischen Aussage des Evangeliums herhalten. Die Analyse offenbart darüber hinaus auch eine doppelte Kurzsichtigkeit: (1) Die unterschiedlichen Zeitdimensionen und -ebenen des JohEvs bleiben unter der Dominanz der zeitgeschichtlichen Deutung recht unverbunden nebeneinander stehen. Das komplexe Verhältnis zwischen der historischen Wirklichkeit der Lebenszeit Jesu, insbesondere des Kreuzigungsgeschehens, seiner göttlichen Zeiterhabenheit einerseits und der retrospektiven hermeneutischen Brechung all jener Ereignisse andererseits findet bei Wengst keine rechte Integration. Außerdem wird der Gesamtchronologie ebenso wie dem Aufbau der einzelnen Szenen im Rahmen der theologischen Deutung des Evangeliumsgeschehens keine Beachtung geschenkt. (2) Wengsts ethische Einsichten aus dem JohEv müssen aufgrund der Beschränkung auf die Konkretion der nachösterlichen Gemeindesituation unter Absehung der konkreten Szenen der erzählten Zeit notwendigerweise auf das Liebesgebot und die daraus abgeleitete Solidarität in der (nachösterlichen) Situation der Bedrängnis beschränkt bleiben. 126 Auch in seinem Johanneskommentar von 2001 wird die gesamte Exegese über die Kreuzesperspektive der nachösterlichen Gemeinde gebrochen, sodass 125 Vgl. a.a.O., 216. Bei der negativen Beurteilung des Wunderglaubens wird wie so oft missachtet, dass das Sehen von Zeichen und Werken durchaus glaubensstiftende Qualität in sich birgt und deshalb nicht einseitig herabgesetzt und missachtet werden kann: in Auswahl Joh 1,50; 2,11.23; 4,39.45.48.53; 6,2.14; 7,31; 9,37f.; 10,25.38; 11,42.45; 12,18; 14,11. Zur Rolle der Zeichen im Glaubensprozess des Hörens und Sehens vgl. auch KOESTER, The Word of life, 2008, 163–170. 126 Vgl. WENGST, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, 31992, 223.
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beispielsweise die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus zum „Vehikel zur eigenen Passion Jesu“ 127 erhoben wird, deren Bedeutung nicht von einem „irgendwie zu vermutendem historischem Geschehen“ abhängt, denn „ihren wirklichen Anhalt“ habe sie einzig in dem Zeugnis, „dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat.“128 Außerdem sei es der nachösterlichen Retrospektive des Evangelisten geschuldet, dass der irdische Jesus ein präsentisches IchBin-Wort über die Auferstehung und das Leben äußern könne, schließlich gehe es in diesem Wort um die endzeitliche Totenerweckung, die überhaupt erst vom Kreuzesgeschehen her möglich und denkbar wurde. 129 Amerikanische Vorläufer des zeitgeschichtlichen Ansatzes Im amerikanischen Raum wurde der zeitgeschichtliche Ansatz in ähnlicher Weise noch vor Wengst von James L. Martyn (11968, 32003) entwickelt. Martyn implementiert in seiner History and Theology in the Fourth Gospel die Rede vom JohEv als einem Drama mit einer sog. „two-level stage“, ausgehend von der Blindenheilung und dem damit verbundenen Synagogenausschluss des Geheilten in Joh 9.130 Im Rahmen dieser Lesart des vierten Evangeliums wird auch und besonders auf die vom Text transportierten Aussagen und Berichte über die Zeit des Autors geachtet. Joh 9 ist dann nicht allein eine Erzählung von einer Blindenheilung zur Zeit Jesu, sondern i.S. eines „two-level drama“ auch ein Spiegel für die Zeit der joh. Gemeinde, in der ‚Juden‘ wegen ihres messianischen Glaubens an den Auferstandenen aus der Synagoge ausgeschlossen wurden, und zwar – anders als in Wengsts historischer Einordnung – auf Grundlage der bereits eingeführten Ketzerformel birkat ha-minim (auf die das JohEv in Joh 9,22; 12,42; 16,2 Bezug nehme).131 Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht somit auch hier der anwachsende Konflikt mit den Juden. Martyn versucht sogar, unterschiedliche Phasen dieses Konfliktes aus dem Evangelium heraus abzuleiten, die schlussendlich auf die vollständige Separation der joh. Christusanhänger von der Synagoge und der Gründung einer eigenen Gemeinschaft hinauslaufen. 132
127
DERS., Das Johannesevangelium, 2001, 16. A.a.O., 12. 129 Vgl. a.a.O., 26. 130 Vgl. MARTYN, History and Theology in the Fourth Gospel, 32003, 46–49. 131 Vgl. a.a.O., 65f. 132 L. Martyn unterscheidet eine „early period“ als frühe Verkündigungsphase von Christusanhängern (erste Predigten aus dieser Phase seien bspw. in Joh 1,35–49 zu erkennen) mit ersten Missionserfolgen (zu erkennen in Joh 2,11; 4,53; 6,14 etc.), eine „middle period“, in der die beiden Traumata der Exkommunikation aus der Synagoge und des Martyriums zur Herausbildung einer „johannine community“ führen, sowie eine „late period“ als Weiterentwicklung der Gemeinde „toward Firm Social and Theological Configurations“ (a.a.O., 145– 167). 128
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II. Forschungseinblick
Neben Martyn hat sich auch der amerikanische Bibelwissenschaftler Raymond Brown mit möglichen Entwicklungsphasen der joh. Gemeinde auseinandergesetzt. In seinem großen Johanneskommentar unterscheidet er fünf Kompositionsstufen.133 Als einer der ersten amerikanischen (katholischen) Johanneiker, der sich (mit großer Vorsicht) der neuen historisch-kritischen Methoden aus Deutschland bedient, möchte er wohlgemerkt weiterhin „on the Gospel in its present order“ kommentieren, und zwar „without imposing rearrangements“134. Die der Literar- und Redaktionskritik entsprungenen Stufen der Entstehung des Evangeliums bringt Brown in einem späteren Werk (The Community of the Beloved Disciple, 1979) mit unterschiedlichen Entwicklungsphasen der joh. Gemeinde zur Deckung: Während der ersten beiden mündlichen Vorstufen der Gospelentstehungen standen sich Verfechter der „Higher Christology“ und „Lower Christology“ gegenüber; in den drei Phasen der Erstverschriftlichung, Edition und Redaktion stand die Auseinandersetzung mit Kontrahenten außerhalb der eigenen Gemeinde im Vordergrund und in der Phase der Verschriftlichung der Briefe kamen schließlich interne Konflikte (z.B. doketistische Tendenzen) auf. 135 Damit werden die joh. Zeitmodulationen auch bei den amerikanischen Theologen mit Fokus auf die joh. Gemeinde hauptsächlich hinsichtlich ihrer religionsgeschichtlichen Spiegelung der nachösterlichen Konfliktfälle gewürdigt. 1.5 Die theologischen Ansätze 1.1.1 Der pneumatologische Ansatz: Das JohEv als Konzeption im Rückblick Christina Hoegen-Rohls: Der nachösterliche Johannes (1996) Der hermeneutische Zugang der Dissertation über die joh. Abschiedsreden von Christina Hoegen-Rohls ähnelt demjenigen von Wengst, insofern beide die retrospektive Blickrichtung des Evangeliums zum Ausgangspunkt ihrer Auslegung machen. Das Erkenntnisziel betreffend sind sie jedoch voneinander unterschieden: Während Wengst an der zeitgeschichtlichen Rekonstruktion der nachösterlichen Abfassungssituation interessiert ist, möchte Hoegen-Rohls Einsicht in die fundamentale Bedeutung der Abschiedsreden im Allgemeinen 133
Die erste Entwicklungsstufe des vierten Evangeliums beinhaltet nach R. Brown Traditionsgut aus Jesu Leben (Jesu Worte und Handlungen), die zweite Stufe markiert die Konfiguration dieses Materials im Rahmen mündlicher Lehre und Predigten, im vierten Schritt wurde daraus ein schriftliches, konsekutives Evangelium entwickelt (erste Edition des Evangelisten), darauf folgt auf vierter Stufe die zweite Edition des Evangelisten und schließlich, fünftens, die abschließende Überarbeitung durch einen Redaktor, der als enger Freund oder Jünger des Evangelisten, mindestens aber zu seiner Schule gehörig vorgestellt wird (vgl. BROWN, The Gospel according to John: Volume 1 [i–xii], 1975, 34–39). 134 A.a.O., XXXIV. 135 Eine übersichtliche Grafik zu den unterschiedlichen Stufen der Entwicklung der joh. Gemeinde findet man unter BROWN, The Community of the Beloved Disciple, 1979, 166f.
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und der Parakletsprüche im Speziellen für die Theologie des JohEvs gewinnen. So bezeichnet sie diese als „Schlüssel zum hermeneutischen Ansatz des vierten Evangeliums.“136 Im Vordergrund der Studie steht also die Rolle der Pneumatologie für das Verständnis der joh. Theologie. Das JohEv wird als „Niederschlag der nachösterlichen Geisterfahrung, ihrer theologisch reflektierten Verarbeitung und ihrer praktischen Umsetzung in das Verkündigungswirken“137 aufgefasst. Des Parakleten Auftrag sei es, für Kontinuität über die Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinweg zu sorgen. 138 Er habe Vollmacht, „nachösterlich den Postexistenten zu repräsentieren, den Irdischen zu vergegenwärtigen und den Präexistenten zu erschließen.“139 Zentrale Geistwirkung sei die Einsicht in Jesu Wort, aufgefasst als Verstehensprozess, der „in keiner Weise an ekstatische Phänomene“ 140 gebunden wird. Dieser erst nachösterlich einsetzende Verstehensprozess werde im JohEv insbesondere im Rahmen der Geistverheißungen Jesu inner- und außerhalb der Abschiedsreden (Joh 14,16f.; 14,25f.; 15,26; 16,7–11; 16,12–15; außerhalb: Joh 1,50f. ; 7,38; 8,28.31f.; 13,7), aber auch in den prospektiven Textkommentaren (Joh 2,17.22; 7,39; 12,16; 20,9) zum Thema erhoben, ohne damit den von der Gattung des Evangeliums vorgegebenen Zeitrahmen der erzählten Zeit zu sprengen.141 Ebenso könne die traditionelle auf das universale Endgeschehen fokussierte Eschatologie durch die Neuschöpfungserfahrung im Wirken des Geistes in die Gegenwart der Glaubenden verlegt werden, ohne die futurischen Strukturmomente damit gänzlich aufzugeben. Diese futurischen Elemente seien durch die erste und letzte der fünf Geistverheißungen in den Abschiedsreden, dem Ewigkeitshorizont in Joh 14,16b und der Verkündigung dessen, was kommen wird (τὰ ἐρχόμενα), in Joh 16,13 eingefangen.142 Durch die pneumatologische Brille können die unterschiedlichen Zeitebenen des JohEvs besser integriert werden, als es die zeitgeschichtliche Sezierung Wengsts zu leisten vermag. Das Evangelium verfolge ein zweifaches Anliegen: Zum einen solle der Eigenwert der Wirkzeit Jesu hervorgehoben werden, zum anderen aber auch die von der Geistwirkung geprägte nachösterliche Zeit Wertschätzung erfahren. Dabei ginge es dem JohEv darum, ein Bewusstsein über die Epochalität des Wirkens Jesu auf Erden und die in der Verherrlichung und Auferstehung begründete zeitliche Zäsur einerseits mit der Erfahrung der Kontinuität zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Zeit andererseits zu integrieren. Das nachösterliche Verstehen ist in der Erinnerung an die vorösterlichen 136
HOEGEN-ROHLS, Der nachösterliche Johannes, 1996, 30. A.a.O., 29. 138 Vgl. a.a.O., 309. 139 A.a.O., 310. 140 A.a.O., 309. 141 Vgl. a.a.O., 308. 142 Vgl. a.a.O., 311. 137
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Ereignisse begründet, aber gleichzeitig nicht ohne die nachösterliche Geistwirkung denkbar: So wird „wahres Jüngersein in der Nachfolge Jesu erst nachösterlich realisiert.“143 Durch den hermeneutischen Filter des geistgewirkten Verstehensprozesses nach Ostern liest sich für Hoegen-Rohls jede Glaubensverheißung futurisch-nachösterlich und setzt eine grundsätzliche Unterscheidung der Zeiten vor und nach dem Ostergeschehen voraus, auch bei solchen Verheißungen, die gar nicht eindeutig auf die nachösterliche Zeit verweisen. So werden bspw. auch die Glaubens- und Erkenntnisverheißung an Nathanael (Joh 1,50), den Glaubenden (ὁ πιστεύων in Joh 7,38), die Juden (Joh 8,31f.) und Petrus (Joh 13,7) auf die Zeit nach Ostern terminiert, obwohl sie lediglich einen unbestimmten Zukunftsbezug aufweisen.144 In Joh 7,38 legt das der Kontext durchaus nahe, wenn man den Textkommentar des Folgeverses über die Geistausschüttung nach Jesu Verherrlichung beachtet. An anderer Stelle aber gelingt die nachösterliche Terminierung nur, wenn weitere Verheißungen bzw. Textkommentare mit eindeutig nachösterlichem Zeitbezug inhaltlich und semantisch hospitieren, so z.B. wenn das unbestimmte μετὰ ταῦτα in Joh 13,7 nur aufgrund der semantischen Übereinstimmung hinsichtlich des Verstehens/Nicht-Verstehens mit Erzählerkommentaren wie in Joh 12,16b als Hinweis auf die Zeit nach Ostern gewertet wird oder wenn das γνώσεσθε τὴν ἀλήθειαν in Joh 8,32a durch Konsultation eines Parakletspruches aus den Abschiedsreden, der die nachösterliche Unterweisung in Wahrheit ankündigt (Joh 16,13), vollständig in die Zeit nach Ostern verlegt wird. 145 Der jeweilige Wortlaut gibt dies aber nicht derart eindeutig her. Während das Verhältnis der zeitlich unbestimmten Verheißungen zu den Verheißungen und Textkommentaren mit eindeutig nachösterlichem Horizont genau ausgelotet wird, bleibt der Bezug zu den zahlreichen präsentischen Glaubensaussagen unbestimmt. Immer wieder wird im Evangelium jedoch der gegenwärtige Glaube einzelner Protagonisten und Gruppen insbesondere in Verbindung mit Zeichenhandlungen Jesu konstatiert (Joh 1,49; 2,11.23; 4,39.42.53; 6,14.69; 7,31.40f. ; 8,31; 9,38; 11;27.45; 12,11.42; 16,30). Ferner finden sich eine ganze Reihe von Konditionalsätzen über den Glauben, bei der die Protasis im Partizip Präsens gehalten ist (ὁ πιστεύων: Joh 3,18.36; 5,24; 6,40; 11,25f.; 12,44–48). An einigen Stellen wird ein einseitiger Zukunftsbezug sogar eindeutig zurückgewiesen (Joh 4,25; 11,24f. ). Wieder andere Passagen sprechen vom gegenwärtigen Erkennen, Verstehen, wahren Anbeten oder Reinwerden (Joh 4,23; 14,7; 15,3; 17,7f. ). Das Zu-Glauben-Kommen muss also auch schon vorösterlich zu gewissem Grade möglich sein. Glaubenszweifel wiederum können auch nach Ostern noch auftreten (vgl. Petrus in Joh 20,9 oder Thomas in Joh 20,25). 143
A.a.O., 311. Vgl. a.a.O., 78. 145 Vgl. a.a.O., 59. 144
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Nun darf dieser positive Befund über den vorösterlichen Glauben nicht darüber hinwegtäuschen, dass über das Evangelium hinweg immer wieder auch Glaubensmängel und -inkonsistenzen illustriert werden. Häufig können die Bekenntnisse nur eine Facette der Personenbedeutungen Jesu einfangen (Joh 6,14.69; 7,40–44) oder werden ihres proteischen Charakters überführt (Joh 2,24f.; 6,6.19.66; 7,5; 11,40; 13,36–38; 14,8–11; 18,17.25–27). Die Ambivalenz des dargestellten Glaubens ist deshalb m.E. aber nicht allein auf die zeitliche Differenz zwischen vor- und nachöstlicher Situation bzw. auf den inhaltlichen Wandel durch das Kommen und Wirken des Parakleten zurückzuführen, wie es Hoegen-Rohls vorschlägt. Die ambivalenten Glaubensbekundungen sollen vielmehr auf den weiterhin defizitären Status des menschlichen Glaubens im Provisorium der schon begonnenen, jedoch noch nicht erfüllten Heilszeit aufmerksam machen. Auch nach Ostern ist die Neuschöpfung noch nicht vollständig vollzogen; darauf weist nicht zuletzt das doppelte μικρόν in Joh 16,16– 19 hin, sofern man das Wiedersehen mit dem Auferstandenen auf die noch ausstehende Parusie und nicht wie Hoegen-Rohls als rein geistige „Sichtbarkeit Jesu im Glauben“ 146 nach Ostern bezieht. Im Rahmen der Hoegen-Rohlsʼschen Analyse der Abschiedsreden werden die Stunde Jesu (Joh 16,2.4.25) und die Wendung ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ (Joh 16,23.26) rundheraus auf die nachösterliche Zeit jenseits der großen Zäsur verlagert.147 Inhaltlich werde die Zäsur durch die Anwesenheit des Geistes und die Wirkungen der Geistgaben bestimmt. Kontinuität zwischen vor- und nachösterlicher Situation werde dann gewissermaßen thematisch über die bleibende Konfrontation mit der Welt, aber auch durch die Freude über die neue Gottesbeziehung, sowie das Motiv des Zeugnisablegens gewahrt.148 Das Verständnis der Worte Jesu und die Deutung seines Wirkens i.S. der Schrift seien vollständig an die nachösterliche Zeit gebunden. 149 Die Verschmelzung beider Zeiten wird dann folgendermaßen beschrieben: „Durch das Zeugnis, die Elenxis und die Verkündigung des Geistes vollzieht sich das nachösterliche Verstehen der Glaubenden gleichzeitig zum Wirken des Postexistenten“ 150. Das Verstehen sei in einen diachronen Nachvollzug des vorösterlichen Handelns und Redens Jesu und in einen synchronen Mitvollzug der nachösterlichen Offenbarung des Postexistenten aufgeteilt. 151 Klar ist für Hoegen-Rohls dabei stets, dass Verstehen und Glauben ohne Mitwirkung des erst nach Ostern eintreffenden Geistes nicht möglich sind.
146
A.a.O., 194. Vgl. a.a.O., 204. 148 Vgl. a.a.O., 204. 149 Vgl. a.a.O., 208. 150 A.a.O., 210. 151 Vgl. a.a.O., 225. 147
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II. Forschungseinblick
Wenn es Anspruch des Evangeliums sei, „das irdische Auftreten als Grundvoraussetzung festzuhalten, auf die sich der nachösterliche Glaube und die nachösterliche Nachfolge geschichtlich beziehen“ 152, so verlangt dieses irdische Auftreten in seiner Situativität und Konkretion m.E. weitere Beachtung. Es könnte bspw. danach gefragt werden, inwiefern Jesu eigenes zeitenübergreifendes Wissen im Rückblick auf die Präexistenz und im Vorverweis auf die Stunde153 einen Einfluss auf sein konkretes Verhalten hat, warum er z.B. ausgerechnet am letzten Tag des Laubhüttenfestes von den Strömen lebendigen Wassers spricht (Joh 7,37f.), was laut Erzählerkommentar auf die nachösterliche Geistausschüttung verweisen soll. Insgesamt droht das konkrete, vorösterliche Geschehen, ähnlich wie bei Wengst, durch den nachösterlichen Interpretations- und Verstehensfilter aus dem Blick zu geraten. 1.1.2 Der christologische Ansatz bei der Stunde Jesu Michael Theobald: Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12 (2009) Fragt man Johanneiker spontan nach der Zeit im JohEv, so wird man in den meisten Fällen mit einem Hinweis auf das joh. Kuriosum der Stunde Jesu rechnen können. Die Stunde Jesu ist wohl die prononcierteste und theologisch aussagekräftigste Zeitangabe im vierten Evangelium. Exegetische Arbeiten, deren gesondertes Interesse der christologischen Bestimmung des joh. Jesus gilt, sind auch bei der Zeitanalyse in erster Linie auf die Stunde Jesu sowie die Präexistenzaussagen (insbesondere im Prolog und in Joh 8,58) fokussiert. Eine derartige Ausrichtung lässt sich bspw. in Michael Theobalds Johanneskommentar im Regensburger Neuen Testament von 2009 erkennen. Bisher kann man leider nur seine umfangreichen und differenzierten Erläuterungen zu den Kapiteln 1–12 lesen, sodass der exegetische Zugang Theobalds zu wichtigen Zeitangaben in den Abschiedsreden noch abzuwarten bleibt. Gleichwohl bietet schon der erste Band eine Fülle von Informationen über Theobalds Blick auf das joh. Zeitverständnis. Die grundlegende Einsicht über den Charakter des JohEvs als „dramatische Erzählung“, die sich aus dia-/monologischen Teilen (Mimesis) und erzählenden Teilen (Diegesis) zusammensetzt, 154 ist auch bestimmend für Theobalds Einschätzung der joh. Chrono- und Topologie. So ist für ihn klar, dass Raum und Zeit vor allen historischen und archäologischen Rückfragen als „gezielte Konstruktion des Evangelisten“ erkannt werden müssen, die „auf ihre Bedeutung für seine ›dramatische Erzählung‹ hin zu befragen“ sei. 155 Staunen lassen ihn die Genauigkeit und der Detailreichtum der Orts- und Zeitangaben, die in gewisser Hinsicht im Kontrast zu dem „hochtheologischen“ Charakter des 152
A.a.O., 228. Vgl. a.a.O., 50. 154 Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 13–17. 155 Vgl. a.a.O., 17. 153
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JohEvs stünden.156 Seinem Ansinnen nach dürfe „die johanneische Zeit-Konzeption nicht an der historischen Frage nach der faktischen Dauer des öffentlichen Wirkens Jesu gemessen werden, sondern ist auf die ihr inhärenten theologischen Wertungen hin zu befragen.“ 157 Die doppelte Einsicht, einerseits in den literarischen Charakter des Evangeliums, andererseits in dessen hohen theologischen Reflexionsgrad, lassen Theobald die zeitlichen Strukturen des Evangeliums zuvorderst in ihrem symbolisch-christologischen Aussagewert erkennen und in Konsequenz die Konkretion der raumzeitlichen Bestimmungen des Evangeliums verkennen. Seiner Auffassung nach radikalisiere und transzendiere der Evangelist seine Vorlage, die sog. „Zeichenquelle“, dahingehend, dass er das Physisch-Konkrete zu einer Präexistenz-Christologie erhöhe, in deren Rahmen die Zeichen und das Wirken Jesu vor allen Dingen symbolische und nicht wörtliche Bedeutung tragen. Im Zentrum der Theologie des Evangelisten stehe nicht etwa der Inkarnationsgedanke, die Menschwerdung, sondern das österliche Geschehen, die Erhöhung zum Vater:158 „Johannes vermittelt demgegenüber [gegenüber den Synoptikern, Anm. d. Verf.] laufend den Eindruck, dass die unmittelbare Ebene des Leiblich-Sozialen ins Symbolische überhöht und vielleicht letztlich nicht mehr wirklich ernstgenommen wird. Wahres, eigentliches und ‚ewiges‘ Leben ist immer schon mehr als die Integrität menschlicher Existenz, mehr als Gesundheit und Glück.“ 159 Bei Theobalds Prolegomena zu Raum und Zeit im JohEv liegt der Schwerpunkt der Analyse eindeutig auf dem „Rhythmus der heiligen Zeiten Israels, der vom Sabbat und den großen biblischen Wallfahrtsfesten bestimmt wird“ 160, sowie der Stunde als deren christologische Zuspitzung. Die Zeitstruktur der Stunde, genauer der Stunde der Verherrlichung, sei gegenläufig zum jüdischen Festzyklus konstruiert und habe „als die eigentlich entscheidende zu gelten“ 161. Die Stunde des Menschensohns durchkreuze, aus der Vertikale kommend, die Linearität des irdischen Festzyklus und beende dessen ewige Wiederkehr. Dieser hereinbrechenden Transzendenz im Leseprozess zu begegnen, sei Einladung der dramatischen Erzählung.162 So kann es auch nicht verwundern, dass die überwiegende Zahl der Zeitangaben nur auf ihre Bedeutung für die Christologie des JohEvs hin ausgewertet werden: Der dritte Tag des Weinwunders sei z.B. als Rekurs auf das atl. Epiphaniewunder (Ex 19,16) sowie als Vorverweis auf das Ostergeschehen zu
156
Vgl. ebd. A.a.O., 20. 158 Vgl. a.a.O., 59. 159 A.a.O., 383. 160 A.a.O., 19. 161 A.a.O., 21. 162 Vgl. a.a.O., 22. 157
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II. Forschungseinblick
verstehen.163 Die verzögerte Handlung Jesu in dieser Hochzeitsszenerie sei Indiz dafür, dass allein Gott der Herr über die Zeit und der Gottessohn dieser göttlichen Zeitbestimmung vollkommen untergeordnet sei. Anders als andere Exegeten folgert Theobald keine Zeitsouveränität aus dem Verhalten Jesu bei der Hochzeit in Kana, sondern betont einzig die theozentrische Ausrichtung der joh. Christologie auch in Bezug auf deren Zeitgefüge. 164 Ebenso hält Theobald es für unmöglich, dass die Zeitangabe der sechsten Stunde der Begegnung Jesu und der Samaritanerin am Brunnen in Joh 4,6 bereits als Mahnung auf die Kreuzigungsstunde gedacht ist, die Stunde nämlich, in der der Geist von Christus hervorsprudeln wird. Nie gehe es dabei darum, Jesus in seiner Menschlichkeit, seiner Müdigkeit und seinem Hunger darzustellen. Diese äußeren Begleiterscheinungen seien lediglich dazu da, „die Aufmerksamkeit der Leser auf Jesu göttliches Geheimnis zu lenken: auf ihn als den Spender ›lebendigen Wassers‹ (V. 10–15), der sich ernährt vom Tun des Willens seines Vaters (V. 31–34).“165 Die Stunde der Genesung des Sohnes des Königlichen in Joh 4,53 ziele ebenso auf die „›Stunde‹ der Erhöhung Jesu, in der sich das Leben im Glauben an ihn wahrhaft erschließt.“ 166 Die Heilung des Gelähmten verdeutliche darüberhinaus, dass weder Gottes noch Jesu Wirken an menschliche Zeitmaße gebunden sei: „Jesus lässt sich in seinem ›Wirken‹ nicht durch heilige Zeiten einengen, er ist ›Herr über den Sabbat‹ (vgl. Mk 2,28) und ›wirkt‹ in göttlicher Souveränität – wie sein Vater.“167 Sein verzögertes Auftreten beim Laubhüttenfest zeige, dass nicht der jährliche Festzyklus seine Handlungszeit bestimme, sondern die Zeit Gottes. Ebenso wie in den anderen Fällen des „Gesinnungswandels“ Jesu in Joh 2,4/7 und 11,6/7 revidiere Jesus beim Gang zum Laubhüttenfest bloß seine eigene ursprüngliche Absicht zugunsten des väterlichen Willens. 168 Theobalds Anschlussgedanken an dieses „Lehrstück zum Zeit-Verständnis“169 in Joh 7 stellen die gegenwartsrelevante Frage, ob nicht auch wir, ähnlich wie die Brüder, die göttliche Zeit, den Kairos, immer wieder über unsere eigene Zeitregie und -autonomie hinweg vergessen. Damit klingen also zeit-ethische Überlegungen an. Auch bei der Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern und Juden in Joh 8 findet Theobald Jesu göttliche Zeitbestimmung bestätigt. Im Gegensatz zu Abraham ist Jesus der „Ewig-Seiende“, der nicht in die „Ordnung des ›Werdens‹, des Geschöpflichen“ gehört, sondern in die „des göttlichen ›Seins‹.“170 Einzig bei der zweitägigen Verzögerung der Reise Jesu nach Bethanien zum 163
Vgl. a.a.O., 209. Vgl. a.a.O., 112. 165 A.a.O., 309. 166 A.a.O., 359. 167 A.a.O., 381. 168 Vgl. a.a.O., 511. 169 A.a.O., 514. 170 A.a.O., 620. 164
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totkranken Freund Lazarus betont Theobald Jesu Zeitsouveränität, nicht aber ohne wenig später seine Unterordnung unter das „Gesetz der ihm vom Vater zugemessenen Zeit“ 171 zu betonen. Im Redegang mit Martha werde allerdings die Theozentrik der traditionellen zukünftigen Eschatologie in eine christologisch-präsentische Eschatologie transformiert. 172 Das verzögernde Handeln Jesu wird allein auf die redaktionelle Steigerung des Krankenheilungs- zu einem Auferweckungswunder durch die „Zeichenquelle“ zurückgeführt. 173 Die vielen Retardationen und Unterbrechungen im Erzählfaden werden auf der Ebene der Literarkritik durch sekundäre Einschübe ‚wegerklärt‘.174 Unter der Bezeichnung „Hermeneutik der Erinnerung“ erkennt auch Theobald die Retrospektivität des Evangeliums, welcher zufolge sich „erst nach Ostern, im Lichte des ganzen Christusereignisses“ erkennen lässt, „was im Leben Jesu wirklich geschah“ 175. Abschließend lässt Theobalds exegetische Wahrnehmung der Zeit im JohEv einen deutlich christologisch-symbolischen Filter erkennen, der die Zeitangaben allenfalls zeitgeschichtlich, keinesfalls aber historisch auswerten möchte, noch sie in ihrer ethischen Konkretion ernst zu nehmen sinnt, sondern sie stets über die symbolische, nachträglich-interpretatorische Verbindung zur Stunde der Verherrlichung bricht. 1.1.3 Der eschatologische Ansatz Jörg Frey: Die johanneische Eschatologie (insbes. Band II: Das johanneische Zeitverständnis, 1998) Selbstverständlich tritt mit dem Stichwort Zeit auch die vieldiskutierte Frage nach der joh. Eschatologie unmittelbar auf den Plan. Einen bemerkenswert umfassenden Blick auf das gesamte joh. Zeitsystem bietet Jörg Frey in seinem dreibändigen Werk zur Eschatologie des JohEvs. Die Einsicht darüber, dass in den ntl. Texten Zeit nicht als naturwissenschaftliche Kategorie, als Maß oder gleichmäßige Zeitlinie begegnet, die Texte auch keine Theorie der Zeit bereitstellen,176 sondern Zeit „im Prisma menschlicher Erfahrungen […] thematisieren“177, begründet Freys sehr differenzierten Zugang zu den unterschiedlichen Methoden des JohEvs, die Erfahrung der Zeit literarisch einzuholen. Insbesondere der zweite Band Das johanneische Zeitverständnis beschränkt sich nicht auf die Ermittlung der Bedeutung von eschatologischen Spitzenaussagen wie ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν (Joh 4,23; 5,25), sondern untersucht sie im Verbund mit den übrigen Zeittermini sowie dem narrativen, temporalen Rahmen und 171
A.a.O., 728. Vgl. a.a.O., 734. 173 Vgl. a.a.O., 718. 174 Vgl. a.a.O., 715. 175 A.a.O., 779. 176 Vgl. FREY, Die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft Christi, 2013, 129. 177 A.a.O., 130. 172
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II. Forschungseinblick
liefert darüber hinaus eine sehr präzise Analyse der joh. Tempusverwendung. Diese groß angelegte Materialsammlung erlaubt es Frey, neben der theologisch-eschatologischen Bedeutung gleichermaßen auch die dramaturgische Funktion und den möglichen historischen Aussagewert der joh. Zeitmodulation, der sich sowohl auf die Jesusgeschichte selbst als auch auf die Situation ihrer Abfassung beziehen lässt, mitzuberücksichtigen. Bei der Analyse der joh. Tempusverwendung bemerkt Frey das sprachliche und theologische Feingefühl des Johannesevangelisten bei der Wahl der Tempora, z.B. wenn im Prolog das imperfektische Sein des Logos (ἦν) mit dem Aorist des Geschaffenseins alles Irdischen (ἐγένετο) kontrastiert wird. 178 Insgesamt stellt Frey eine signifikante Häufung der Perfektformen für das JohEv fest, die keinesfalls auf das niedrige Spracheniveau des Evangelisten zurückzuführen, sondern inhaltlich-theologisch motiviert sei. 179 Aufschlussreich sind für Frey in dieser Hinsicht auch die Tempuskontraste, insbesondere das Vorkommen retrospektiver Tempusformen in prospektiven Kontexten ‒ gehäuft in den Abschiedsreden180 ‒, welche eine „temporale Stereoskopie“ 181, eine Verschränkung aus prospektiver vorösterlicher Jesusrede und retrospektiver nachösterlicher Gemeinderede, erzeugen. Ebenso werde anhand des Wechsels zwischen Imperfekta und Aoristformen eine erzählerische Reliefierung zwischen Haupthandlung und Hintergrundinformationen bzw. Erzählerkommentaren erwirkt. 182 Auffällige Gegenüberstellungen zwischen futurisch-prospektiven und präsentisch-eschatologischen Aussagen (z.B. ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν in Joh 4,23; 5,25) weisen, so Frey, auf eine sachlich-theologisch nicht einzuebnende Spannung hin, die auch durch literarkritische Bastelarbeit nicht behoben werden könne.183 Das vordergründige, statistische Zurücktreten von Futurformen werde durch viele prospektive Periphrasen kompensiert.184 Die vielen präsentischen Formen, insbesondere das markante joh. ἐγώ εἰμι, bewirken ferner eine
178
Vgl. DERS., Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 73. A.a.O., 13. Die Perfekta im Rechenschaftsbericht in Joh 17 bringen bspw. in besonderer Weise die Sendungs- und Zeugnisthematik und die resultative und kontinuative Bedeutung der Worte Jesu zur Geltung (vgl. a.a.O., 114). 180 Folgende Verben im Textbereich der Abschiedsreden dienen J. Frey als Beispiele für retrospektive Verbformen in prospektiven Kontexten: ἐδοξάσθη in Joh 13,31; ἠγάπησα in Joh 13,34 und Joh 15,9.12; ἐγνώρισα in Joh 15,15 und in Joh 17,26; ἔθηκα in Joh 15,16; ἐδίωξαν in Joh 15,20; ἤμην in Joh 16,4b; κέκριται in Joh 16,11; νενίκηκα in Joh 16,33; ἐδόξασα in Joh 17,4; τελειώσας in Joh 17,4; ἐφανέρωσα in Joh 17,6; δεδόξασμαι in Joh 17,10; ἤμην in Joh 17,12; ἀπέστειλας in Joh 17,18; δέδωκα in Joh 17,22; οὐκ ἔγνωσαν in Joh 17,4 (sic!); οὐκ ἔγνω in Joh 17,25; ἐγνώρισα in Joh 17,26 (vgl. a.a.O., 131). 181 Vgl. DERS., Die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft Christi, 2013, 140. 182 Vgl. DERS., Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 148. 183 Vgl. a.a.O., 151. 184 Vgl. a.a.O., 150. Beispiele solcher Periphrasen sind: futurisches Präsens, futurische Partizipialformen, Konditional- und Finalsätze. 179
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Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens, eine unmittelbare Begegnung mit dem joh. Jesus.185 Im nächsten Schritt, nämlich der Untersuchung des narrativen temporalen Rahmens, d.h. von chronologischen Notizen sowie von Erzähltempo und -frequenz, identifiziert Frey eine Bipolarität zwischen dem programmatischen Bezug zur unvordenklichen, zeitübergreifenden ἀρχῇ Gottes im Prolog und der sich sodann entfaltenden raum-zeitlichen Konkretion der erzählten Geschichte: „Die konkrete menschliche Zeit und der konkrete irdische Raum sind der Ort der Offenbarung des Raum und Zeit übergreifenden Gottes.“ 186 Der episodische Charakter des Erzählverlaufs werde durch die zahlreichen Summarien geschickt überspielt. Die in vielen Einzeldetails von den Synoptikern abweichenden chronologischen Notizen haben nicht nur die Aufgabe, einen Ereignisverlauf abzubilden und den Erzählfluss lebendig zu halten, sondern bewirken auch eine „Konzentration auf die integrale ‚Stunde‘ Jesu.“187 Neben der narrativen oder dramaturgischen Funktion haben, so Frey, die chronologischen Markierungen also v.a. auch einen typologisch-symbolischen Aussagewert. Weder eine einseitig historisierende noch eine durchgehend idealisierende bzw. enttemporalisierende Interpretation sei deshalb geboten.188 Im Anschluss an die darauffolgende Untersuchung besonders hervorgehobener Zeitmarkierungen und -unterteilungen wie χρόνος und καιρός, ἐνιαυτός, ἔτος, ἡμέρα, νῦν, ἄρτι, οὔπω, ἤδη, πρῶτον, ὅταν, (ἡ) ὥρα etc., bemerkt Frey, dass nicht etwa die Vergangenheit des Wirkens Jesu, sondern die Bedeutung seines Heilshandelns für die Gegenwart der Gemeinde im Vordergrund des Evangeliums stehe. Insofern könne in Bezug auf das vierte Evangelium weder von einem mystischen Verfließen der Zeit, noch von einem existentialen, atemporalen Zeitverständnis, noch von einer Aufteilung in eindeutig voneinander unterschiedene heilsgeschichtliche Stadien die Rede sein. Es bestehe vielmehr ein Nebeneinander von feingliedriger temporaler Differenzierung auf der einen und Gleichzeitigkeit bzw. zeitkontinuierlicher Präsenz auf der anderen Seite.189 Die Zusammenschau dieser divergenten Zeitsysteme gelingt Frey auf der Basis einer einheitsstiftenden Christologie: „Die Person Christi […] überbietet und umgreift zugleich alle temporalen Aussagen und Schemata.“ 190 Das sei deshalb möglich, weil sie an der „zeitunbegrenzten Seinsweise Gottes“ 191 teilhabe. Aufgrund seiner christologischen Überzeugung von der Einheit Jesu mit dem Vater als „souveräne[m] Herrn der Zeit“ könne der joh. Autor „Jesu Sein 185
Vgl. a.a.O., 89. A.a.O., 203. 187 A.a.O., 204. 188 Vgl. a.a.O., 204. 189 Vgl. a.a.O., 245. 190 A.a.O., 242. 191 Ebd. 186
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II. Forschungseinblick
der temporalen Begrenztheit, dem Werden und Vergehen irdisch-menschlichen Lebens, in so anstößiger Weise entgegensetzen.“ 192 Im letzten Abschnitt seines zweiten Eschatologie-Bandes geht Frey noch einmal dezidiert auf das temporale Phänomen der „Horizontverschmelzung ein. 193 Diese werde mit unterschiedlichen Mitteln, sprachlich-formaler Art (etwa den oben genannten Tempuskontrasten), sowie inhaltlicher Art (etwa der Rede vom Parakleten oder der Allusion auf Probleme der joh. Gemeinde) erzeugt. 194 Die doppelte vor- und nachösterliche Perspektivierung ermögliche zum einen die raum-zeitliche Konkretheit des Evangeliumsberichts und zum anderen die überzeitliche Bedeutung des konkreten Heilswirkens Jesu auch über seine Wirkzeit hinaus. 195 In seiner umfangreichen Zeitanalyse begibt sich Frey auf die vielen unterschiedlichen, aber fließend ineinander übergehenden Zeitebenen des JohEvs in den Fluss zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Perspektivierung, zwischen außertextlicher und textlicher Kommunikation, zwischen retrospektiven, vergegenwärtigenden und prospektiven Aussagen, zwischen raum-zeitlicher Konkretion und theologisch-überzeitlicher Abstraktion. 1.6 Forschungsdesiderat: Der ethische Ansatz Aus den vorgestellten Forschungsansätzen konnten wir viel über die Zeit im JohEv lernen: (1) Das JohEv hat durchaus historischen Eigenwert auch gegenüber den Synoptikern (historisch-chronikalische Ansätze). (2) Die Darstellung der Zeit im JohEv entspringt nicht dem Zufall, sondern aufwendigen narrativen Modulationen. Sie ist nicht durchweg bzw. vorrangig an einer absoluten, linearen Chronologie orientiert, sondern an einer kohärenten Chronologie interessiert (narratologische Ansätze). (3) Die joh. Zeitmodulationen spiegeln einerseits die nachösterliche Abfassungs- und Rezeptionssituation, beziehen sich aber andererseits auf ein dezidiert historisches Christusereignis (zeitgeschichtlicher Ansatz). (4) Die Pole der nachösterlichen Glaubenserkenntnis. und des vorösterlichen (historischen) Christusgeschehens, können durch die Annahme der Geistwirkung (parakletische Unterweisung) trotz Zäsur integriert und in Kontinuität gebracht werden (pneumatologischer Ansatz). Die Stunde Jesu kann als hereinbrechende Transzendenz verstanden werden, die die Linearität menschlicher Zeit durchkreuzt (christologischer Ansatz). In Bezug auf das vierte Evangelium kann weder von einem mystischen Verfließen der Zeit, noch von einem atemporalen Zeitverständnis, noch von einer (lukanisch-inspirierten) Aufteilung in heilsgeschichtliche Stadien die Rede sein. Das joh. Zeitver-
192
A.a.O., 267. Vgl. a.a.O., 248. 194 Vgl. a.a.O., 249. 195 Vgl. a.a.O., 261. 193
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ständnis pendelt zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Kon- und Retrospektion, zwischen raum-zeitlicher Konkretion und theologisch-überzeitlicher Abstraktion und es stellt präsentische sowie futurisch-eschatologischen Heilsaussagen zwischen die spannungsvoll aufeinander bezogenen Brennpunkte der Kreuzesstunde einerseits und der Gegenwart des Evangelisten und seiner Leser andererseits (eschatologischer Ansatz). Unbeachtet des immensen Erkenntnisgewinns, den die vorgestellten Ansätze im Blick auf die Zeit im JohEv katalysieren, lassen sie sich gleichwohl gewisser Schlagseiten bzw. so manch blinden Fleckes überführen. Während die historisch-chronikalischen Ansätze die Zeitmodulationen des Evangeliums zu konkret, ja zu wörtlich verstanden wissen wollen, die zeitgeschichtlichen Ansätze nur Aussagen aus der (und für die) nachösterliche(n) Retrospektive zu treffen vermögen, die narratologisch-synchronen Ansätze einzig die dramaturgische bzw. lesepragmatische Funktion der verschiedenen Zeitangaben und inszenierungen erblicken und die theologischen Ansätze nur deren interpretatorisch-abstrakten Aussagewert wahrnehmen können, vereint Frey diese unterschiedlichen Perspektiven auf ein und dasselbe Text- und Kommunikationsphänomen und kann dadurch die unterschiedlichen Grade und Nuancen der temporalen Konkretion und Abstraktion durch das Evangelium hindurch erkunden. Um eine weitere Ebene könnte diese weitreichende Multiperspektivität jedoch noch bereichert werden. In der von Frey vigilant erfassten Oszillation zwischen temporaler Unmittelbarkeit und Distanznahme, 196 Konkretion und Abstraktion steckt ein ungeheures ethisches Potenzial. Und zwar nicht bloß in einem abstrakt mimetischen Sinne, dergestalt, dass das Missverstehen der Figuren zur Negativfolie für das Verhalten des Lesers degradiert würde, dem ja nachösterlich im Lichte des Kreuzigungs- und Auferstehungsgeschehen ohnehin ein viel besserer Erkenntnisstand für ein ethisch verantwortliches Handeln vergönnt sei. Vielmehr ermöglicht die evangeliumsinterne Oszillation zwischen Konkretion und Abstraktion eine ethische Reflexion, die sich zwischen Situationssensibilität und Normenorientierung verortet. Die Figuren können in ihren konkreten Handlungssituationen und Konfliktfällen beobachtet werden, und zugleich gibt der narrative Rahmen des Evangeliums Aufschluss über grundsätzliche Zeithorizonte und -orientierungen und schaltet Deutungs-, Abstraktions- und Bewertungsprozesse frei.197 Nicht nur die Figuren, auch der joh. Jesus gibt sich in die zeitliche Konkretion hinein. Man darf bei aller Erkenntnis über die hohe joh. Christologie und Betonung der Einheit zwischen göttlichem Vater und Sohn nicht vergessen, 196
Vgl. a.a.O., 276. Mehr zu der Oszillation zwischen Abstraktion und Konkretion, Redundanz und Varianz als Möglichkeit speziell der Gattung der Erzählung im theoretischen Teil III unter 2.3 Ethische Erzählung und erzählerische Ethik. 197
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II. Forschungseinblick
dass die joh. so stark akzentuierte Inkarnation der Logik nach auch eine Intemporation beinhaltet und dies wird an den konkreten Szenen auch deutlich. Wie anders ist es denkbar, dass der joh. Jesus in konkrete Begegnung mit seinen Mitmenschen tritt? In den Begegnungen zwischen den (gleichermaßen fiktiven und realistischen) Personen des Evangeliums entsteht gemeinsame Zeit, mitunter auch Zeitkonflikte, die es mitzuerleben, zu untersuchen und nach ihrer ethisch-praktischen Relevanz zu fragen gilt, noch bevor ihre dramaturgische Funktionsbestimmung oder ihre theologische Deutung sie auf eine höhere Abstraktionsebene emporheben. Die raum-zeitliche Konkretion der erzählten Jesusgeschichte ist nicht nur christologisch auswertbar, sondern auch ethischpraktisch mit- und nachvollziehbar. Die bahnbrechende Entdeckung des retrospektiven Blickpunkts des vierten Evangeliums hat bisweilen dazu geführt, die wesentlichen epistemischen, glaubensrelevanten und ethischen Prozesse auf die Zeit nach Ostern zu verlagern und dabei das Wirken und Walten des joh. Jesu mit seinen Interagenten zwar in seiner historischen Konkretion christologisch auszuwerten, nicht aber praktisch-konkret nachzuvollziehen. Der Verstehens- und Glaubensprozess beginnt aber erzählintern bereits vorösterlich und wirkt nachösterlich fort. Vor und nach der integralen Stunde Jesu bleibt dieser Prozess gleichsam vorläufig und unvollständig. Eine nachösterliche Sicht, die jeglichen Verstehens- und Glaubensprozess noch während der erzählten Wirkzeit des irdischen Jesus, also in der konkreten Begegnung mit dem Heilsbringer bestreitet, läuft nicht nur einer Spätgeborenenʼ Hybris Gefahr, sondern riskiert auch wichtige Details Jesu Wirkens in der Zeit zu übersehen. Mit der christologischen Teilhabe am überzeitlichen Sein des göttlichen Vaters kann doch nur gemeint sein, dass zu jedem realen, zu jedem konkreten Zeitpunkt das göttliche Heil in Jesus Christus aufscheint, auch in all jenen Momenten, in denen der irdische und nach der linearen Zeit noch nicht verherrlichte Jesus in konkrete Begegnung mit seinen Zeitgenossen tritt. Die Figuren des JohEvs sollten als jene inszenierten Zeitgenossen Jesu deshalb nicht bloß als leblose, flachzüngige Werkzeuge im Auftrag der Leserbelehrung aufgefasst werden, sondern können in ihrem Verhalten in den konkreten Szenen beobachtet und begutachtet werden, genauso wie die ‚Figur‘ Jesus selbst. Ob die nachösterliche Gemeinde das Geschehen letztlich besser verstehen kann als die innertextlichen Figuren, 198 soll neu gefragt werden. Damit wird keine ethische Diagnose über das historische Verhalten der Interaktionspartner Jesu angestrebt, sondern vielmehr dazu aufgerufen, in das Erzählgeschehen einzutauchen und es in seiner praktischen Konkretion zu würdigen. Die Lazarusperikope bspw. mag zwar in ihrer erzählerischen Ausgestaltung letztlich auf das Verständnis der Leser abzielen und für diese in abstraktem Sinne „signifikant“
198
Vgl. a.a.O., 192.
1. Zeit im Johannesevangelium
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und „instruktiv“ sein. 199 Doch ist diese Zielbestimmung natürlich v.a. der Pragmatik und der nachösterlichen Kommunikationssituation des Evangeliums geschuldet. Ein realistischer Erkenntnisprozess oder gar ein katharsischer Effekt der Begegnung zwischen den Figuren und Jesus muss deshalb auf Ebene der konkreten vorösterlichen Erzählung noch lange nicht ausgeschlossen werden. Es soll in diesem Zuge auch neu gefragt werden, ob das Kreuzesgeschehen, das, wie Theobald betont hat, die Linearität der Zeit durchkreuzt, nur linear nach ‚vorne‘, d.h. nur nachösterlich seine Wirkung und Bedeutsamkeit entfalten kann. So ist Frey zuzustimmen in seiner Warnung vor falschen Alternativen: Weder schließen sich die theologische Symbolik der temporalen Strukturierung des Erzählten einerseits und deren topographische und chronologische Konkretion und Realistik andererseits aus, 200 noch macht eine lesepragmatische Auswertung des Evangeliums oder dessen Einordnung in die historische Kommunikationssituation den ethischen Blick auf das „konkrete Damals“ 201 überflüssig. Weder schließen sich symbolisch-theologische Deutung und narratologische Funktionsbestimmung aus, noch können beide eine ethische Relevanzbestimmung ersetzen. Vielmehr können alle Zeitangaben je nach Ausgangsfrage, nach allen genannten Seiten hin untersucht und ausgewertet werden.202 Ausgangspunkt von Freys Zeitanalyse war das Ringen um ein besseres Verständnis der joh. Eschatologie. Die vorliegende Studie stellt eine andere Ausgangsfrage, nämlich nach der ethischen Relevanz der Zeit auf der Ebene des erzählten Geschehens und dessen konkreten inszenierten Interaktionen. Sie kommt deshalb notwendigerweise auch zu anderen Ergebnissen, die sich zwar deutlich von denen der Vorgänger unterscheiden, sich aber keineswegs wech-
199
Vgl. DERS., Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, 2000,
419. 200
Vgl. DERS., Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 290. A.a.O., 276. Das konkrete Damals wird aber in dieser Arbeit jedoch nicht primär im historischen Sinne anvisiert, sondern auf das konkrete erzählte Geschehen bezogen. 202 Weshalb sollten bspw. die unterschiedlichen Verzögerungsszenen (vgl. GIBLIN, Suggestion, Negative Response, and Positive Action in St John’s Portrayal of Jesus, 1980, 197– 211) nur auf die Rezeptionswirkung auf den Leser hin ausgewertet oder theologisch auf die Souveränität Jesu hin gedeutet (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 198) und nicht als konkretes menschliches und ethisch reflektierbares Verhalten des joh. Jesus wahrgenommen werden? Warum haben die Stundenangaben (z.B. Joh 1,39; 4,6) v.a. parenthetische, allenfalls noch symbolische Funktion (vgl. DERS., Die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft Christi, 2013, 143), nicht aber konkrete handlungsorientierende Bedeutung? Warum soll die Passionschronologie vornehmlich dramaturgisch und theologisch ausgewertet werden (vgl. DERS., Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 183)? Könnte bspw. in der Darstellung des gewissermaßen prozessverschleppenden Verhaltens des Pilatus nicht auch ein ethisches Reflexionsangebot stecken? 201
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II. Forschungseinblick
selseitig ausschließen müssen. Die Dimension der Zeit als ethisch-soziale Orientierungsgröße klingt zwar bisweilen im Rahmen des letzten theologischen Ansatzes von Frey mit an, bspw. wenn aus eschatologischen Einsichten auch Rückschlüsse auf das gegenwärtige Handeln der Christusgläubigen gezogen werden. Die Ethik des JohEvs muss aber nicht zwangsläufig im Umweg über die joh. Eschatologie erschlossen werden, auch wenn diese Zeitdimension für die joh. Ethik zweifelsohne eine wichtige Rolle spielt.203 Es geht in dieser Arbeit deshalb weder um die Herausstellung einer sich ethisch realisierenden, weltlichen, präsentisch-prozessualen Eschatologie (Lessing), noch um die funktionale Bestimmung der eschatologischen Hoffnung als regulative Ideen bzw. Motivationsgeber für moralisches Handeln (Kant), sondern um die Analyse des Verhaltens biblischer Figuren in und mit der Zeit als fiktive, aber zugleich realistische Wesen und um besondere Reflexions- und Bewertungsmechanismen im Rahmen der narrativen Inszenierung.
2. Ethik im Johannesevangelium 2. Ethik im Johannesevangelium „[…] hat es überhaupt Sinn, in diesen Schriften ‚Ethik‘ zu suchen?“204 HEINZ-DIETRICH WENDLAND
2.1 Verabschiedung eines ethischen Verdikts Wie bereits in der Einleitung angedeutet, genoss das JohEv in der ntl. Ethik insbesondere in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kein besonderes Ansehen. 205 Das hat verschiedentliche Rehabilitierungsprozesse nach dem Millenniumswechsel erst nötig gemacht. Jack Sanders hat das JohEv als moralisch bankrott bezeichnet,206 Wayne Meeks hält ‚Ethik im Johannesevangelium‘ für ein Oxymoron,207 Heinz-Dietrich Wendland hat von einer „gewaltigen Reduktion ethischer Fragen und Aussagen“ 208 gesprochen. Auf Basis von Wayne Meeksʼ einflussreichem Aufsatz zur bzw. gegen eine joh. Ethik (1996) 203
Die ethische Auswertung der präsentischen und zugleich futurischen Eschatologie des JohEv wurde zuletzt von MOLONEY, God, Eschatology, and “This World”: Ethics in the Gospel of John, 2017, 197–217 unternommen. 204 WENDLAND, Ethik des Neuen Testaments, 31978, 109. 205 Einen Überblick über die vergangenen negativen Verhältnisbestimmungen von Ethik und JohEv liefern u.a. WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 7–9; ZIMMERMANN, Is There Ethics in the Gospel John?, 2012, 44; DERS., Narrative Ethik im Johannesevangelium, 2012, 133–136. 206 Vgl. SANDERS, Ethics in the New Testament, 1975, 100. 207 Vgl. MEEKS, The Ethics of the Fourth Gospel, 1996, 317. 208 WENDLAND, Ethik des Neuen Testaments, 31978, 109.
2. Ethik im Johannesevangelium
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rekapituliert Ruben Zimmermann das ethische Verdikt über das JohEv in einem vierfachen Einwand: (1) Es werden keine konkreten materialethischen Themen besprochen, (2) man sucht vergebens nach rationalen Begründungsstrukturen, (3) es fehlen die gewohnten ethischen Sprachformen wie Paränesen oder Gnomen, und (4) die Ethik des JohEvs ist nicht universalisierbar, weil ihr Geltungsbereich letztlich auf die sektenähnliche joh. Gemeinde beschränkt bleibt. 209 Der Eindruck einer fehlenden mimetischen Qualität sowohl der Jünger als auch des joh. Jesus aufgrund seines vermeintlichen Mangels an Menschlichkeit,210 sowie das Problem der starken (göttlichen) Determination des narrativen Geschehens im JohEv, die keinen Raum für „morally free decisions“ 211 vorbehält, heizen Meeksʼ Vorbehalt gegenüber einer joh. Ethik zusätzlich an. Eine gründliche und grundlegende Aufhebung des ethischen Verdikts kommt nicht ohne eine elementare Reflexion darüber aus, was man sich überhaupt unter Ethik vorstellt. Es wird sich zeigen, dass insbesondere die formalen Vorbehalte gegenüber einer joh. Ethik einer bestimmten Definition von Ethik geschuldet sind. Die Veränderung des ethischen Suchfilters wird einen neuen Blick auf die joh. Ethik ermöglichen und neue Ergebnisse zutage fördern. Diesem definitorischen Manöver wird im Rahmen der theoretischen Grundlegung an späterer Stelle noch ausreichend Zeit eingeräumt.212 An hiesiger Stelle genügt ein Hinweis darauf, dass (1) der vierte Evangelist kein Moralphilosoph war, der uns in seinem Evangelium eine systematische Handlungstheorie zur Verfügung stellt, dass dies aber (2) nicht zum voreiligen Schlusse verleiten sollte, seinen Texten jegliches ethisches Potenzial abzusprechen. Wir haben es bei den Texten des NTs ‒ und hier ist das JohEv ausnahmsweise einmal kein Einzelgänger ‒ nicht mit streng systematisch-theologischen oder gar ethischen Abhandlungen zu tun. Bei der Briefliteratur handelt es sich um Gelegenheitsschriften mit stark kontextuellem Bezug, und auch die Evangelien sind mehr Glaubenszeugnis als Apodeixis. Zimmermann hat deshalb die Rede von einer „impliziten Ethik“ in den Texten des NTs vorgeschlagen. 213 Im Rahmen der „impliziten Ethik“ bleibt die ethische Reflexion nicht auf eindeutige logisch-rationale Argumentation oder Paränesen begrenzt, sondern kann neben paränetischen Abschnitten ganz vielfältige Formen annehmen. Die joh. Ethik schreitet narrative, metaphorische
209
Vgl. ZIMMERMANN, Narrative Ethik im Johannesevangelium, 2012, 135. Vgl. MEEKS, The Ethics of the Fourth Gospel, 1996, 318. 211 A.a.O., 319. 212 Mehr zur definitorischen Grundlegung und ihrer Folgen für den Blick auf die joh. Ethik im theoretischen Teil III unter 2.2 Ethische Bibel und biblische Ethik. 213 Vgl. ZIMMERMANN, The "Implicit Ethics" of New Testament Writings, 2009, 398– 422; DERS., Pluralistische Ethikbegründung, 2013, 3–27; mit ausführlicher Methodik dargelegt und am Beispiel des 1 Kor erprobt in DERS., Die Logik der Liebe, 2016. 210
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II. Forschungseinblick
und doxologische Pfade ab. 214 Theologie und Ethik, Glauben und Tun, Indikativ und Imperativ gehen dabei eine besonders enge Verbindung ein. 215 Die ersten Versuche, das JohEv innerhalb ntl. Ethik zu rehabilitieren, sind bereits für die vergangene Dekade zu bemerken. Der Fokus dieser ersten Aufschläge in Aufsatzlänge liegt überwiegend auf der mimetischen Qualität der Figuren des Evangeliums und dem in der Narration impliziten Ethos der joh. Gemeinde. Michael Labahn kann „den Charakterisierungen der johanneischen Akteure und der Präsentation der narrativen Welt“ 216 in seinem Aufsatz von 2003 eine ethische Positionierung des Evangelisten entnehmen und räumt den Figuren eine „Vorbildfunktion für die Gestaltung des sozialen Miteinanders ein“ 217. In der konkreten Beobachtung des Verhaltens des Blindgeborenen (Joh 9) wird für ihn deutlich, „wie das Individuum in einer bisweilen bedrohlichen und ignoranten Gesellschaft verantwortlich handeln kann“ 218. Udo Schnelle zählt in seinem Aufsatz zur joh. Ethik von 2006 kursorisch mögliche Identifikationsfiguren und Vorbilder in der Umsetzung des joh. Liebesgebotes auf, darunter Nikodemus, der Blindgeborene, Martha und Maria in der Lazaruserzählung, Jesus selbst und schließlich der „Modell-Jünger schlechthin“219: der geliebte Jünger. 220 In einem Artikel von 2006 erkennt Jan van der Watt „the behaviour of (A)actors in the narrative of the Gospel“221 als das Zugangstor zum ethischen Material des JohEvs. Er interessiert sich in diesem Artikel für die hinter dem Figurenverhalten stehenden Regeln und deren ‚Gewährsmänner‘ („informants“). Damit dient das konkrete Verhalten der joh. Figuren „as a heuristic instrument for understanding the intention of particular commandments or ʼrules‘“222. In einer kurzen, überblicksartigen Textzusammenstellung zeigt van der Watt u.a., dass die zehn Gebote im Evangelium, wenn auch nicht explizit
214 Zu den unterschiedlichen Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik vgl. den Sammelband HORN/VOLP/ZIMMERMANN, Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie, 2016. 215 Zur engen Verknüpfung von Theologie bzw. Christologie und Ethik im JohEv vgl. u.a. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, 51989, 301–324; WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 34. 216 LABAHN, Der Weg des Namenlosen, 2003, 63. 217 A.a.O., 65. 218 A.a.O., 79. 219 SCHNELLE, Johanneische Ethik, 2006, 324. 220 Vgl. a.a.O., 322–325. 221 VAN DER WATT, Ethics and Ethos in the Gospel according to John, 2006, 151. 222 Ebd.
2. Ethik im Johannesevangelium
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erwähnt, so doch anhand des Figurenverhaltens gezeigt werden.223 Ziel der Beobachtung des Figurenverhaltens ist es, das Ethos der joh. Gemeinde erfahrbar werden zu lassen. 224 Richard Burridge, der neben den synopt. Evangelien auch das JohEv als biographische Erzählung mit ethischer Qualität liest und dabei die Zentralität der Christologie für die joh. Erzählung erkennt, stellt v.a. die mimetische Qualität Jesu heraus: „John’s careful portrait of how Jesus treated individuals and the mixed inclusive nature of his community form the perfect backdrop for his ultimately mimetic purpose in writing his biographical narrative that we should follow Jesus’ example of self-sacrifical love within a mixed inclusive community of others who are also responding to his call and reaching out to his world.“225 Aus der Zusammenarbeit von Zimmermann und van der Watt entstand 2012 schließlich ein Tagungsband im Anschluss an eine Konferenz in Nijmegen mit dem Titel Rethinking the Ethics of John. “Implicit Ethics” in the Johannine Writings. In diesem Band wird das ethische Verdikt, das bis zur Jahrtausendwende auf dem JohEv lastete, erstmals konsequent und substantiell verabschiedet. In den Beiträgen werden Kontexte joh. Ethik abgesteckt und erste inhaltliche Präzisierungenen einer joh. Ethik unternommen. Dieser Band hat innerhalb der joh. Ethikforschung zweifelsohne einen Paradigmenwechsel ausgelöst. Seit jenem Markstein haben insbesondere in die Richtung einer narrativen Ethik des JohEvs einige Exegeten weitergedacht und die teils formalen, teils theologischen Hürden auf dem Weg zu einer joh. Ethik nicht einfach dadurch 223 Vgl. a.a.O., 153f. Mit dem Vokabular der Erzähltheorie ausgedrückt, werden die zehn Gebote zwar nicht im Erzählmodus des telling, d.h. durch abstrakte Auflistung, wohl aber im Modus des showing, d.h. durch konkretes Zeigen von gebotskonformen oder -brechendem Verhalten, aufgerufen (vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 104; FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 168; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 50). Zum Einfluss des Dekalogs auf die joh. Ethik vgl. auch KANAGARAJ, The Implied Ethics of the Fourth Gospel: A Reinterpretation of the Decalogue, 2001, 33–60. 224 In weiteren Aufsätzen widmet sich J. van der Watt auch semantischen/metaphorischen und linguistischen Untersuchungen der Ethik im JohEv; vgl. VAN DER WATT, Ethics alive in imagery, 2006, 421–448; DERS., Ethics through the Power of Language, 2010, 139–167; DERS., The Gospel of John’s perception of ethical behaviour, 2011, 431–447. 225 BURRIDGE, Imitating Jesus, 2007, 346. Die mimetische Qualität Jesu dient auch R. Hays als Zugriffspunkt einer joh. Ethik; vgl. HAYS, The Moral Vision of the New Testament, 1996, 153: „Both the warrants and the norms for ethics are to be located almost exclusively in conformity to the person of Jesus.“ Ferner versucht auch M. Smith, über das Konzept der Nachfolge und die enge Verbindung von Glauben an Jesus und Tun wie Jesus zu einer joh. Ethik zu gelangen: „But John, and the Johannine Jesus, do not respond with mortal hatred, but with the acceptance of hatred, hostility, and death (Jn. 15:12). This is a quintessential expression of Christian existence“ (SMITH, Ethics and the Interpretation of the Fourth Gospel, 2002, 120).
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II. Forschungseinblick
überwunden, dass sie sich am vermeintlich letzten Zipfel der joh. Ethik, dem Liebesgebot, festgehalten haben,226 sondern im Blick auf das erzählte Geschehen einerseits das Verhalten und Handeln der Figuren als ethische Modelle,227 andererseits die ethisch signifikante Sprache und Darstellungsweise des Evangelisten und dessen Reflexionsangebote an den Lesers genauer betrachtet und analysiert haben.228 Eine erste monographische mimetische Ethik des JohEvs entwirft Cornelis Bennema (2017). In ähnlicher Weise wie Labahn, Schnelle und van der Watt geht auch er in seinen der Monographie vorangehenden Aufsätzen davon aus, „[that] John models and promotes the envisaged morality to his readers by presenting various characters, whose characteristics and behaviour might be emulated or should be avoided.“229 Diese grundsätzliche Beobachtung weitet er in seiner Monographie zu der These aus, dass joh. Ethik abseits des Konzepts der Mimesis gar nicht zu beschreiben ist.230 Um diese mimetische Ethik einzufangen, listet er zunächst mimetische Ausdrucks- und Darstellungsweisen des JohEvs und unterscheidet acht linguistische Konstruktionen (verteilt auf insgesamt 44 Nachweise von Mimesis mit unterschiedlichen Graden mimetischer Stärke).231 In den folgenden Kapiteln stehen dann die göttliche Mimesis im Rahmen der Sohn‒Vater-Beziehung (bzw. die latente Geist‒Sohn-Beziehung) und die Mimesis in der Beziehung zwischen Glaubendem und Jesus/Gott im Vordergrund. Dabei wird zum einen deutlich, dass Mimesis kein bloßes Klonen erfordere, sondern gläubige Interpretation und Reinszenierung 232 und dass, wer mimetisch handele, stets als Mediator zwischen Vorbild und Gegenüber
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Zum einseitigen Fokus auf das Liebesgebot im Rahmen der joh. Forschungslandschaft vgl. ZIMMERMANN, Is There Ethics in the Gospel John?, 2012, 47–51 (insbes. Anm. 14); ferner DREWS, Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium, 2017, 38 (Anm. 106); FREY, ‘Ehical’ Traditions, Family Ethos, and Love in the Johannine Literature, 2013, 767. 227 Vgl. BENNEMA, Mimesis in the Johannine Literature, 2017; WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015. 228 Vgl. DREWS, Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium, 2017; TROZZO, Exploring Johannine Ethics, 2017; wiederum WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015; WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014. 229 BENNEMA, Mimesis in the Johannine Literature, 2017, 6. 230 Vgl. a.a.O., 26: „unless one has dealt with the concept of mimesis, one has not really dealt with Johannine ethics.“ 231 Vgl. a.a.O., 33–63: Mimetische Ausdrucksweisen im JohEv umfassen (1) den Gebrauch von μιμεῖσθαι (nur in 3 Joh 11); (2) die Konjunktion καθώς; (3) καθώς in der Protasis und καί in der Apodosis; (4) καθώς in der Protasis und οὕτως in der Apodosis; (5) οὕτως in der Protasis und οὕτως in der Apodosis; (6) ein einzelnes καί z.B. in Joh 12,26; (7) ὥσπερ in der Protasis und οὕτως καί in der Apodosis; (8) das Adverb/Adjektiv ὁμοίως/ὅμοιος. 232 Vgl. a.a.O., 81.
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auftrete. So wie die göttlichen Dinge den Menschen durch Jesus vermittelt werden,233 so bedeute die Nachahmung Jesu durch die Gläubigen eine Vergegenwärtigung Jesu, die sowohl dem Imitator als auch den Rezipienten der Imitation nütze. 234 Ferner könne man zwischen performativer Mimesis im Handeln235 und existentieller Mimesis im Sein (v.a. in Joh 17 und 1 Joh 3–4),236 sowie impliziter Mimesis im konzeptionellen Rahmen der Nachfolge, der Jüngerschaft, dem charakteristischen Bleiben und der familia dei237 und expliziter Mimesis in der Fußwaschung und dem Liebesgebot (Joh 13 und 1 Joh 3–4) unterscheiden.238 Insgesamt sei joh. Mimesis innerhalb der Familienethik zu verorten, da die joh. Mimesis als „primary means for construction and shaping the believer’s identity and behaviour within the divine family“ 239 verstanden werden könne. Als mimetische Antriebskraft gilt Bennema die andauernde Beziehung zu Jesus (im Beobachten und Wiedererleben), sowie der Geist, der beim Verstehen der zu imitierenden Inhalte hilft. 240 Der mimetische Akt besteht für ihn aus „showing–understanding–doing–being“ und umfasst damit sowohl das konkrete Verhalten Jesu, das als nachahmungswürdig gilt, als auch das Verstehen der Jünger, ihr konsequentes Handeln und ihre moralische Transformation. Auf der Ebene des showing wird zumindest Jesu konkretes Handeln (z.B. in der Fußwaschungsszene) beobachtet.241 Wie das Verstehen, Tun und Sein der Jünger als Folge des Handelns Jesu innerhalb der Narration dann konkret aussieht, wird jedoch nicht nähergehend beobachtet. Der Fokus liegt auf dem im JohEv impliziten ethischen Konzept der Mimesis. Dieser Fokus lässt die konkrete Umsetzung der Mimesis in den Interaktionen – die geglückten oder gescheiterten Mimesis-Versuche der Jünger – in den Hintergrund rücken. Von Relevanz ist damit nur noch die mimetische Qualität des Seins und Handelns Jesu, während die mimetische Qualität der ersten Glaubenden, die in der joh. Erzählung ja explizit beschrieben werden, nicht Teil der Analyse ist. In dieser Hinsicht fällt Bennema m.E. hinter die Ergebnisse der ersten skizzierten Aufschläge zur mimetischen Qualität der Figuren zurück.242 233
Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 141. 235 Vgl. a.a.O., 106–125. 236 Vgl. a.a.O., 125–135. 237 Vgl. a.a.O., 83–91. 238 Vgl. a.a.O., 91–105.139. 239 A.a.O., 194. 240 Vgl. a.a.O., 171–191. 241 Vgl. a.a.O., 94f. 242 Spuren mimetischer Ethik können mitunter auch in Studien zu den joh. Figuren entdeckt werden; vgl. u.a. HYLEN , Imperfect Believers, 2009, 159–161; WILLIAMS, John (the Baptist): The Witness of the Threshold, 2013, 59: „he undoubtedly sets an example to be followed by others“); ANDERSON, Philip: A Connective Figure in Polyvalent Perspective, 234
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II. Forschungseinblick
Stärker konzeptionell bzw. thematisch orientiert ist auch der Sammelband von Sherri Brown und Christopher Skinner unter dem Titel Johannine Ethics. The Moral World of the Gospel and Epistles of John (2017),243 insbesondere in den ersten drei Aufsätzen, die die drei expliziten joh. ‚Imperative‘ zum Glauben,244 zur Liebe245 und zur Nachfolge 246 untersuchen. In den weiteren Aufsätzen werden ethische Implikationen der Schöpfungs- und Bundestheologie,247 der Inkarnation 248 und der Eschatologie 249 des JohEv nachgezeichnet. Wenn die Methodik der einzelnen Aufsätze mitunter auch narratologisch oder zumindest am synchronen Text orientiert sein mag, so kann die nachgezeichnete Ethik im Ganzen nicht als narrative Ethik beschrieben werden. Ziel der Untersuchungen ist laut Untertitel auch eine Nachzeichnung der „moral World of the Gospel and Epistles of John“, nicht etwa eine Nachzeichnung der narrativen Ethik in den joh. Schriften (deshalb auch die Rede von ‚implied‘, nicht von ‚implicit ethics‘). Der Band ist damit weder zuvorderst an der mimetischen Qualität der Figuren250 noch an der ethisch signifikanten Darstellungsweise des JohEv,251 sondern an einzelnen ethischen Themenfeldern oder Begriffen interessiert. 2013, 172.183: Philippus als „positive example for others to follow“; BENNEMA, Judas (the Betrayer): The Black Sheep of the Family, 2013, 372 (Judas als „negative example“). 243 Vgl. BROWN/SKINNER, Johannine Ethics, 2017. 244 Vgl. BROWN, Believing in the Gospel of John: The Ethical Imperative to Becoming Children of God, 2017, 3–24. 245 Vgl. SKINNER, Love One Another: The Johannine Love Command in the Farewell Discourse, 2017, 25–42. Das Liebesgebot wird ferner behandelt in den Aufsätzen von CLARK-SOLES, Love Embodied in Action: Ethics and Incarnation in the Gospel of John, 2017, 91–115; GORMAN, John’s Implicit Ethic of Enemy-Love, 2017, 135–158; DO, The Johannine Request to “Come and See” and an Ethic of Love, 2017, 177–196. 246 Vgl. COLLINS, “Follow me”: A Life-Giving Ethical Imperative, 2017, 43–63. 247 Vgl. CULPEPPER, The Creation Ethics of the Gospel of John, 2017, 67–90; LEE, Creation, Ethics and the Gospel of John, 2017, 241–259. 248 Vgl. CLARK-SOLES, Love Embodied in Action: Ethics and Incarnation in the Gospel of John, 2017, 91–115. 249 Vgl. MOLONEY, God, Eschatology, and “This World”: Ethics in the Gospel of John, 2017, 197–217. 250 Die mimetische Qualität der Figuren wird allenfalls negativ von REINHARTZ, The Lyin’ King? Deception and Christology in the Gospel of John, 2017, 117–133 (insbes. 33): the Gospel of John is entirely, and exclusively, interested in Christology. Jesus’s actions [...] are not intended to model behavior for others to follow“, instruktiv von MYERS, Just Opponents? Ambiguity, Empathy, and the Jews in the Gospel of John, 2017, 159–176 (insbes. 176): „the ambiguity of the Jew’s characterization enables empathy, as the Johannine audience likewise struggles to identify and express faith in a man named Jesus, whom they have neither seen nor heard (20:29)“, und konzeptionell von BENNEMA, Virtue Ethics and the Johannine Writings, 2017, 261–281. 251 Mit der ethischen Signifikanz der besonderen Darstellungsweise des JohEv als biographische Erzählung (bios) befasst sich im Sammelband allein TROZZO, Genre, Rhetoric,
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Im Zwischenfeld der Betrachtung der Figurenhandlung und deren narrativer Darstellungsweise bewegt sich Fredrik Wageners Studie zu den joh. Figuren als Handlungsmodelle (2015). Für Wagener sind dabei „sowohl erzählungsimmanente ethische Reflexionen, die der Leser ‚miterlebt‘ und nachvollzieht, als auch Wirkungspotenziale, die den Leser zu ethischen Reflexionen über die Erzählte Welt hinaus anregen“ 252 von Interesse. Für seine ethische Figurenanalyse entwirft er eine gut ausgestattete und wohlsortierte „Werkzeugkiste“253, mithilfe derer einzelne Szenen hinsichtlich ihrer Struktur, ihrer Entfaltung der erzählten Welt, der Darstellung und Lebendigkeit der Figuren, der Sprechhandlungen in ihnen und der Leseranregung durch sie betrachtet werden können. Für eine jede von ihm untersuchte Figur (Simon Petrus, die samaritanische Frau, Judas, Thomas) werden zunächst relevante Szenen analysiert, sodann deren ethische Identität (Charakter und Eigenschaften) ermittelt und schließlich ihre Beziehung zu anderen Figuren, ihre Handlungen und ihre Rolle nachgezeichnet. Dabei werden von Wagener einerseits die sprachlichen Mittel des Evangeliums zur Bewertung der Figuren und Handlungen erkundet, andererseits aber auch Konventionen und Normen, Werthierarchien, Vor- und Mahnbilder aufgedeckt und mögliche Leserreflexionen skizziert. 254 Im Ergebnis erkennt Wagener Petrus als Lernmodell, die samaritanische Frau als Plädoyer für situations- und individuumsbezogene Beurteilung und Grenzüberwindung“ 255, Judas als „vielseitige Negativfolie“ 256 und Thomas als Auslöser von „Integration und Gemeinschaftsstiftung“ 257. Neben Wageners Studie sind in Mainz zwei weitere Monographien zur Ethik im JohEv entstanden, die sich teilweise in der Hauptsache mit der ethisch signifikanten Darstellungsweise und den narrativen Reflexionsformen beschäftigen.258 Karl Weyer-Menkhoff nähert sich in seiner Dissertation zur Ethik des
and Moral Efficacy, 2017, 221–239 (238f.): „The rhetoric of the Johannine narrative, carried out by the incorporation of encomiastic topics, suggests an ethic based on participation in the relational unity shared between the Father and the Son, rather than imitation of specific actions or obedience to explicit commands and rules [...] the story sets the stage for ethical deliberation and establishes the necessary understanding of identity so that the community can live in line with their new mission.“ Mehr zu L. Trozzos Ansatz s.u. 252 WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 558. 253 A.a.O., 88. 254 Vgl. a.a.O., 559. 255 A.a.O., 558. 256 A.a.O., 559. 257 Ebd. 258 Auch hier können Einzelarbeiten von J. van der Watt und R. Zimmermann als Wegbereiter angesehen werden (vgl. VAN DER WATT, Ethics alive in imagery, 2006, 421–448; DERS., Ethics through the Power of Language, 2010, 139–167; ZIMMERMANN, The Narrative Hermeneutics of John 11, 2008, 75–101; DERS., Narrative Ethik im Johannesevangelium, 2012, 133–170).
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II. Forschungseinblick
Johannesevangeliums im sprachlichen Feld des Handelns (2014) der narrativen Ethik, indem er fragt, „wie das Johannesevangelium menschliches Handeln darstellt und welchen Sinn menschliches Handeln dadurch erhält“ 259. Dabei geht es ihm nicht um einzelne Handlungsbestimmungen, sondern um den Deutungsrahmen, den das JohEv zum „Verstehen des Lebensvollzuges“ 260 anbietet und „für welche Aspekte des Handelns es sensibilisiert.“ 261 Konkret geht Weyer-Menkhoff dieser Aufgabe nach, indem er das Sprachfeld des Handelns untersucht, in welchem Formen des Handelns, Horizonte des Handelns und Modi des Handelns die Subkategorien bilden.262 Entscheidend sei nach dem JohEv, „wessen ἔργα man ausführt und woher die eigenen ἔργα stammen.“ 263 Der Horizont des Handelns Jesu sei von Anfang an ein christologischer.264 Das JohEv bewerte des Verhalten der Figuren anhand ihrer Reaktion auf Jesu Zeichenhandeln: (An-)Erkennen sie es als Taten des Sohnes Gottes oder nicht? Jesus könne insofern als Vorbild gelten, als er sich ausschließlich vor dem göttlichen Horizont bewege. Den positiven Rahmen des vorbildhaften Handelns bilden die γραφή und die δόξα.265 Das Wie des Handelns solle nach dem JohEv am Hören des Willens Gottes ausgerichtet sein und Teil des Liebesverhältnisses von Vater und Sohn werden. Das vom JohEv vorgestellte menschliche Handeln sei somit von grundlegend responsivem Charakter,266 denn das menschliche Handeln werde im Rahmen der joh. Ethik strikt auf das Handeln Gottes in Jesus bezogen.267 Alexander Drews wendet in seiner Qualifikationsarbeit Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium (2017) einerseits korpuslinguistische Methoden zur Untersuchung eines Wortfeldes an, andererseits das von Zimmermann ausgearbeitete Organon zur Untersuchung einer impliziten Ethik268 mit geringfügigen Modifikationen auf das JohEv. Anhand dieser Verfahrensweise möchte er speziell nach „einer möglichen moralischen Signifikanz, die im Kontext von ἔργον und ἐργάζεσθαι wahrnehmbar ist“269, fragen. Neben der semantischen Untersuchung werden in den relevanten Abschnitten 259
WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 49. Ebd. 261 A.a.O., 50. 262 Hinsichtlich relevanter Formen des Handelns untersucht K. Weyer-Menkhoff hauptsächlich das Lexem ἔργον κτλ.; hinsichtlich der Horizonte des Handelns σημεῖα, νόμος, γραφή, δόξα und hinsichtlich der Modi des Handelns ἐν τῷ ὀνόματί τινος, θέλημα, οὐκ ἀπ᾽ ἐμαυτοῦ, ἀγαπᾶν, καθώς (vgl. WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014). 263 A.a.O., 254. 264 Vgl. a.a.O., 255. 265 Vgl. a.a.O., 256. 266 Vgl. a.a.O., 257 267 Vgl. a.a.O., 261. 268 Vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 37–123. 269 DREWS, Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium, 2017, 68f. 260
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zu ἔργον und ἐργάζεσθαι Sprachformen der Moral, Normen, Reflexionsformen, ethische Urteilsträger und die Reichweite der Ethik betrachtet. Neben den Sprachformen untersucht Drews auch die mimetische Funktion der Figuren im JohEv.270 So wird im Rahmen des Organons v.a. bei der Analyse der Reflexionsformen von Joh 7,2–9 festgestellt: Die „Figuren im Text sind Anschauungspotenzial für ethisches Verhalten.“ Insgesamt zeichnet sich für Drews im Evangelium eine Bewegung zwischen dem Raum des Lichts und der Finsternis ab. „Im Raum des Lichts überragt die Wirkungsgemeinschaft des Vaters mit dem Sohn“271, „[I]m Raum der Dunkelheit bestimmen die ἔργα πονηρά das Geschehen“272, in der „Sphäre eines ambivalenten Handlungsraumes […] will [Johannes] seine Leser überzeugen, sich dem Licht zu nähern.“273 In Lindsey Trozzos Erkundungen zur joh. Ethik Exploring Johannine Ethics (2017) steht die moralische Wirkungskraft (moral efficacy) des Evangeliumstextes mittels besonderer rhetorischer Finessen in seinem Kommunikationsprozess mit dem Leser im Vordergrund. Ihr Forschungsvorhaben ist „[to] examine the rhetorical elements within the narrative and explore how these element would likely have affected the communicative exchange.“274 Vier rhetorische Elemente stehen im Vordergrund der ethischen Analyse: (1) die Teilhabe an der moralisch aktivierenden hellenistischen Bios-Gattung, 275 (2) enkomiastische (lobpreisende) Inhalte (gute Abstammung, Erziehung und Ausbildung, Tun und Streben) zur Hervorhebung der besonderen Einheit von Vater und Sohn,276 (3) Metalepsen zur Einholung der joh. Gemeinde sowie der Leser in jene Einheit mit Gott,277 welche als „missing link“ zwischen Glaube und moralischem Handeln gewertet wird.278 Motivation guten Handelns sei für Jesus und respektive für seine Anhänger und die Leser die Einheit mit dem Vater.279 Schließlich werden (4) strukturelle Bausteine untersucht, welche dem Leser zu verstehen geben, wo sein Platz im übergreifenden Plan und Auftrag Gottes ist. Die eigene Einbindung in Gottes ‚Mission‘ wird als Schlüssel zur Ethik verstanden. 280 Zu diesen rhetorischen Struktur-Bausteinen gehören der Prolog und die transitorische Verschränkungen 270
A. Drews geht es weniger um das JohEv als Ethik, als um die ethischen Impulse des Wortfeldes ἔργον im JohEv (vgl. a.a.O., 49). 271 A.a.O., 296. 272 A.a.O., 297. 273 Ebd. 274 TROZZO, Exploring Johannine Ethics, 2017, 21. 275 Vgl. a.a.O., 33–59. 276 Vgl. a.a.O., 60–81. 277 Vgl. a.a.O., 82–128. Als die beiden wichtigste metaleptische Strategien des JohEvs beschreibt L. Trozzo (1) seine Konzeption als „two-level drama“ und (2) die Ausweitung der enkomiastischen Beschreibungen auf Jesu Anhänger. 278 Vgl. a.a.O., 94. 279 Vgl. a.a.O., 94–96. 280 Vgl. a.a.O., 128.
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II. Forschungseinblick
(„chain-link interlock“) in Joh 12,20–50, die durch ihre Themenauswahl und bekräftigung zur richtigen Interpretation des einzig expliziten ethischen Gebots der brüderlichen Liebe verhelfen.281 Aus der rhetorischen Analyse wird erkenntlich, „that Johannine ethics engages the audience in moral deliberation rather than delivering explicit ethical propositions.“282 Der ‚erhöhte‘ Held der Narration ist zwar in seinen Handlungen nicht unmittelbar imitierbar, wohl aber kann seine besondere Einheit mit Gott als Fundament moralischen Handelns bzw. einer moralischen Identität auch für diejenige gelten, die an ihn glauben. Die Strukturierung und Hervorhebung wichtiger Themen auf der Makroebene der Narration zeige ferner, dass das Liebesgebot weder exkludierende Mechanismen gegenüber Außenseitern, noch eine Vernachlässigung materieller Fürsorge bewirbt. Konkrete Handlungen sowohl Jesu als auch der Figuren treten in dieser ethischen Analyse in den Hintergrund einer erstrebten ethischen Identität, die von der Einheit mit Gott und der Berufung in dessen Mission determiniert wird. Die vorgestellten Annäherungen an eine narrative Ethik des JohEvs − ob in ersten Ansätzen oder ausgearbeitet Monographien − basieren auf einem je eigenen Zugang zur Verhältnisbestimmung von Ethik und Erzählung. Als Scharnier zwischen Erzählung und Ethik dienen entweder die konkreten Figuren und deren Handlungen, oder ethische Konzepte der Narration wie das der Mimesis im Handeln und Sein, oder rhetorische Erzählmanöver mit ethischer Leserlenkung bzw. das Vorkommen ethischer Sprach- und Wortfelder, im Besonderen das sprachliche Feld des Handelns. Dass sich Handlungen (als primärer Beobachtungsgegenstand der Ethik) notwendigerweise in der Zeit vollziehen und ebenso die literarische Gattung der Erzählung nicht ohne ihr wichtigstes Merkmal: ihre zeitliche Anordnung von Ereignissen und Handlungen auskommt, wird in den Ansätzen höchstens am Rande berücksichtigt. 2.2 Forschungsdesiderat: Der temporale Ansatz Der erste zeitsensible Durchgang durch die neuere joh. Forschungsgeschichte hatte das Fehlen einer ethischen Perspektive auf das Phänomen der Zeit mit Fokus auf das konkrete joh. Erzählgeschehen kenntlich gemacht. Diese ethische Perspektive verspricht jedoch, künftige Zeituntersuchungen zu ergänzen und neue Untersuchungsresultate zutage zu fördern. So wie der ethische Filter den Blick auf die Zeit im JohEv zu vertiefen verheißt, so kann aber auch umgekehrt der temporale Filter den Blick auf die Ethik im JohEv neu schärfen.283 Die bisherigen narrativ-ethischen Ansätze nehmen
281
Vgl. a.a.O., 129–176. A.a.O., 178. 283 Die generelle Bedeutung der Zeitdimension für die Ethik wurde unter 1.6 Forschungsdesiderat: Der ethische Ansatz bereits angerissen und soll im theoretischen Teil III unter 3. Ethik und Zeit noch umfassend theoretisch eingeholt werden. 282
2. Ethik im Johannesevangelium
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die Handlungen und Interaktionen zwischen den Figuren kaum in ihrer zeitlichen Verfasstheit wahr. Bei genauerem Hinsehen auf das konkrete Geschehen, von dem uns das JohEv erzählt, lässt sich allerdings eine Reihe von Konflikten entdecken, die explizit oder implizit temporal strukturiert, ‚infiziert‘ oder motiviert sind und sich dahingehend für eine ethische Reflexion anbieten, bzw. im Rahmen der Darstellung selbst einer solchen Reflexion unterzogen werden. Charles Giblin hat in einem Aufsatz von 1980 bereits auf den eigentümlichen jesuanischen Rhythmus von „Suggestion, Negative Response, and Positive Action“ und damit auf das mehrmalige Verzögerungshandeln Jesu in vier spezifischen Szenen des JohEv, nämlich bei der Hochzeit zu Kana in Joh 2,1– 11, bei der Heilung des Sohnes eines Königlichen in Joh 4,46–54, bei der Anfrage der Brüder vor dem Laubhüttenfest in Joh 7,2–14, sowie der Auferweckung des Lazarus in Joh 11,1–44, aufmerksam gemacht.284 In diesen Szenen tuen sich aufgrund der spezifischen Zeitorientierung Jesu Konflikte mit seinen Interaktionspartnern auf, die bei der Abwägung des Handlungsbedarfs bzw. bei der nachträglichen Handlungsbewertung zu abweichenden Ergebnissen kommen: So verweist Jesus in Erwiderung an die dringliche Anfrage seiner Mutter bei der Hochzeit zu Kana auf seine noch ausstehende Stunde; später wundert sich der Festordner nicht etwa aufgrund des Verwandlungswunders, sondern wegen eines zeitlichen Konventionsbruches: Jeder gibt zuerst den guten Wein und wenn sie betrunken werden, den schlechten. Du aber hast den guten bis jetzt zurückbehalten (V. 10). Auch bei der Heilung des Sohnes eines Königlichen reagiert Jesus zögerlich auf die Anfrage des βασιλικός, sodass dieser erneut mit Nachdruck bitten muss. Für die Entdeckung des Wunders der Fernheilung spielt schließlich die Synchronität der Stunde der Besserung und des Lebenswortes Jesu eine Rolle. Ebenso kommt es vor der Reise zum Laubhüttenfest zu einem Zeitkonflikt aufgrund unterschiedlicher Zeitorientierungen. Während die Brüder Jesus zu Beginn des Festes dazu überreden wollen, mit ihnen hinaufzusteigen, verweist Jesus auf den für ihn noch nicht erfüllten καιρός, der für die Brüder allezeit bereit sei. Die Auferweckung des Lazarus enthält gleich auf mehreren Ebenen Zeitkonflikte. Zwischen den Schwestern und Jesus, der trotz der alarmierenden Nachricht der Krankheit ihres Bruders zwei Tage wartet, bis er gen Bethanien aufbricht. Außerdem bespricht Jesus mit Martha den Unterschied zwischen futurischem und präsentischem Auferstehungsglauben, aus dem sich unterschiedliche Handlungsimpulse ergeben. Ein weiterer Zeitkonflikt erhebt sich zwischen Jesus und den Jünger, die Vorbehalte aufgrund der jetzt unmittelbar drohenden Gefahr in Judäa hegen. Die jesuanischen Verzögerungen in jenen Szenen sind jedoch nicht der einzige Auslöser und Indikator für Zeitkonflikte im JohEv. Eine erste, kurze Durchschau der joh. Interaktionen lässt erkennen, dass es immer wieder zu 284
Vgl. GIBLIN, Suggestion, Negative Response, and Positive Action in St John’s Portrayal of Jesus, 1980, 197–211.
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II. Forschungseinblick
Konflikten kommt, die sich an den unterschiedlichen Zeithorizonten der Figuren entspinnen. So lassen sich z.B. die Juden von der Zeitangabe Jesu in Bezug auf den Wiederaufbau des Tempels irritieren und missverstehen deshalb seine Deutung der Tempelreinigung (Joh 2,18–21). Dem übertragenen Imperativ Jesu, den Tempel niederzureißen, folgen sie erst wesentlich später und dann zum wiederholten Male erfolglos, weil er ihren Händen immer wieder entkommt und sich noch nicht ergreifen lässt (Joh 7,1.30.44–52; 8,20.59; 10,39). Bei der Heilung eines Gelähmten fallen zunächst das stete Zuspätkommen des Gelähmten zum heilenden Becken und sein Scheitern an den dort herrschenden Heilsrhythmen auf. Schließlich wird der Zeitkonflikt am heilenden Teich um die Sabbatproblematik ausgeweitet und umso mehr zu einer Interaktion bestimmt, die sich auch und wesentlich an bestimmten Zeitrhythmen abarbeitet. Ein weiterer Sabbatkonflikt tut sich bei der Blindenheilung auf (Joh 9,1–41), die durch einen Hinweis Jesu auf die begrenzte Wirkzeit eingeleitet wird: Wir müssen wirken, solange es Tag ist (V. 4). Damit wird auch diese Interaktion von Anfang an unter einen zeitlichen Horizont gestellt. Die Dauer der Krankheit (τυφλὸν ἐκ γενετῆς) begräbt darüber hinaus die Hoffnung auf Heilung für den Blinden; doch Jesus wirkt, solange es Tag ist, und verstößt damit gegen die rituellen Sabbatgebote der Juden. Bei der Salbung im Anschluss an die Auferweckung des Lazarus (Joh 12,1–11) kritisiert Judas die Salbungshandlung, weil er vorgeblich an der kontinuierlichen Armenfürsorge interessiert ist. Jesus hingegen verteidigt die Tat Marias damit, dass er nicht allezeit bei ihnen sein wird und das Öl deshalb auf sein Begräbnis hin ‚bewahrt‘ werden müsse. All jene konfliktreichen Interaktionen lassen sich in ihrer zeitlichen Organisation beobachten und hinsichtlich möglicher handlungsleitender zeitlicher Normen untersuchen. Es wird in Erwartung gestellt, dass unter dem besonderen zeit-ethischen Filter auch noch weitere Zeitkonflikte im joh. Erzählverlauf entdeckt werden können. Dass die Interaktionen überhaupt in ihrer besonderen zeitlichen Struktur und Konkretion anschaulich werden, haben wir der Textgattung des Evangeliums zu verdanken: Es handelt sich um eine Erzählung, die konkrete Einzelereignisse in ihrer temporalen Struktur zugänglich macht. Auf welche Weise sie dies bewerkstelligt, wird methodisch noch genauer zu prüfen sein. Für eine Untersuchung von Zeit und Ethik im JohEv liefert deshalb jedenfalls die narrative Dimension der impliziten Ethik das entscheidende Forschungsareal, zum einen aus dem trivialen Grunde, dass das JohEv qua Gattung überwiegend narrativ organisiert ist (ohne dabei freilich metaphorische und doxologische Formen völlig auszuschließen) 285; zum anderen, weil ein Erzählverlauf, wie wir noch theoretisch ergründen werden, niemals atemporal sein 285
Die anderen Dimensionen einer impliziten Ethik, etwa der Metaphorik und Doxologie, können im engen Verbund mit der Narration zusätzlich wichtige Nebenbestimmungen für das Verhältnis von Zeit und Ethik im JohEv leisten.
2. Ethik im Johannesevangelium
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kann und man von einer „Reziprozität von Narrativität und Zeitlichkeit“286 ausgehen darf.287 Die bisherigen narratologischen Analysen der joh. Ethik bzw. Rekonstruktionsversuche einer narrativen Ethik des JohEvs lassen einen besonderen Fokus auf die temporal-ethischen Besonderheiten des joh. Erzählgeschehens noch vermissen. Um dem Verhältnis von Zeit und Ethik im JohEv auf die Spur zu kommen, kann man derzeit höchstens in narratologischen Ethikentwürfen auf die Suche nach Hinweisen zur Bedeutung der Zeitkomponente gehen oder aber man durchforstet Untersuchungen zur joh. Zeit nach verstreuten ethischen Aussagen. Eine systematische, theoretische Zusammenschau von Zeit, Ethik und Erzählung im JohEv sowie eine konkrete, exegetische Analyse der dargestellten Zeitkonflikte bzw. des Zeitverhaltens der Figuren lässt die gegenwärtige Johannesforschung noch ermangeln. Die Elemente der dynamischen Trias von Zeit, Ethik und Erzählung werden im Folgenden zunächst theoretisch zueinander ins Verhältnis gesetzt und auf einen Gegenstand, Skopus und Ziel der Arbeit zugespitzt, um im Anschluss daran methodische Zugänge (Kap. IV) für ihre exegetische Untersuchung (Kap. V) zu erproben.
286
RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 13. Mehr zur genuinen Zeitlichkeit von Erzählungen im theoretischen Teil III unter 1.1 Narrative Versprachlichung von Zeiterfahrungen (Hermeneutik). 287
Teil III
Theorie 1. Zeit und Erzählung 1. Zeit und Erzählung „Da alles Thun und Leiden sich in der Zeit zuträgt, und es nie gleichgültig ist, wann etwas geschieht, oder geschehen sey, oder geschehen werde, so fügt sich die Zeit an alle That- und Leidensworte (verba).“1
JOHANN GOTTFRIED HERDER
1.1 Narrative Versprachlichung von Zeiterfahrungen (Hermeneutik) Den Anfang aller zeittheoretischen Erwägungen markiert die nüchterne Erkenntnis darüber, dass es keine „reine Phänomenologie der Zeit“ 2 geben kann. Für das Phänomen Zeit, das beobachtet (griech. θεωρεῖν) werden soll, gibt es gar keine reine Anschauung, kein Sich-Zeigendes (griech. Φαινόμενον), damit entzieht Zeit einer phänomenologischen Theorie jegliche Grundlage. 3 Diese Schwierigkeit rührt im letzten Grunde daher, dass die menschliche Wahrnehmung an sich bereits zeitlich organisiert ist und deshalb Zeit niemals in Reinform zu ihrem Objekt erheben kann. Zeit als Wahrnehmungsinhalt wird immer durch Zeit als Wahrnehmungskategorie verzerrt.4 Zeit ist demnach nur mittelbar zugänglich, insbesondere durch das Medium der Sprache: durch Zeitbegriffe (anaphorische Zeitadverbien wie vor, nach, noch nicht, schon etc.; deiktische Zeitadverbien wie jetzt, gestern, heute; absolute Kalenderdaten; Uhrenzeiten); durch temporale Konjunktionen (als, sobald etc.); durch Verbtempora, welche Handlungen und deren dynamischen Charakter darzustellen suchen; durch (räumliche) Zeitmetaphern (z.B. der Fluss der Zeit, die erfüllte Zeit, die 1
HERDER, Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache, 1819, 50. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 131. 3 Vgl. dazu auch WERNER, Zeit im Text, 2015, 85. 4 In Anschluss an E. Husserl und M. Merleau-Ponty gesteht N. Benz in ihrer Studie über das temporale Phänomen des „Wartens“ ein: „Zeit kann nie vollständig Objekt der Wahrnehmung sein, weil sie gleichzeitig das Medium der Wahrnehmung ist.“ (BENZ, [Erzählte] Zeit des Wartens, 2013, 31) Zur ausschließlich sprachlichen Vermittlung von Zeit vgl. auch COORS, Die Zeit des menschlichen Lebens zur Sprache bringen, 2014, 328; WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 29–34. 2
1. Zeit und Erzählung
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Zeitschere, die Zeitenwende, der Augenblick etc.) und durch Zeit-Räume (Linearität des Textes bzw. der Syntax). Nominalistische Theorien würden vielleicht sogar dafürhalten, dass Zeit ausschließlich in Sprache existiert und keinerlei ontologischen Gehalt hat. Spuren von Zeit sind jedenfalls v.a. in der Alltagssprache zu finden, welcher eine besondere Selbst-Verständlichkeit, Intuitivität und Erfahrungsnähe eignet.5 So wenig es eine unmittelbare Anschauung von Zeit gibt, so unmittelbar scheint sie doch unseren täglichen Erfahrungen zugänglich zu sein, derart unmittelbar, dass sie eben schwerlich aus der Distanz beobachtet und theoretisch ergründet werden kann. Unsere Sprache kann durchaus Abstufung in der Intensität und Radikalität des Zeiterlebens abbilden und dabei implizitere oder explizitere Spuren von Zeit enthalten: von der gewöhnlichen Alltagserfahrung der öffentlichen Zeit in unscheinbaren Zeitadverbien und Tempora bis zur existentiellen Erfahrung der Zeitlichkeit des eigenen Daseins in prononcierten Zeitmetaphern (z.B. dem unaufhaltsamen Fluss der Zeit).6 Nun soll es aber nicht nur darum gehen, die sprachliche Mittelbarkeit der menschlichen Zeiterfahrungen offenzulegen, sondern noch spezifischer ihre Versprachlichung in Narrationen nachzuvollziehen. Die enge Verbindung von Zeit und Erzählung ist schon etymologisch greifbar: Jedenfalls wenn man Zeit in ihrer quantitativen Funktion als zählbares Maß, als Chronometer etwa für Bewegungen begreift. Ein solches Chronometer lässt freilich auch beim Erzählen den Zähler mitlaufen. In Erzählungen werden Ereignisse aufgezählt und damit in eine räumliche sowie zeitliche Reihenfolge gebracht. Um die zeitliche Länge einer Erzählung anzugeben, werden Seiten (näherhin als räumliche Größe) abgezählt.7 Das Verhältnis von Zeit und Erzählung zu ergründen bedarf über die triviale Erkenntnis der etymologischen Verwandtschaft hinaus aber noch eines Studienweges durch das dreibändige Werk von Paul Ricœur mit entsprechendem Titel. Über die Zeitphilosophien Augustins und Aristoteles’, Kants, Husserls und Heideggers hinweg erforscht Ricœur die Rolle der Zeit für die historischen
5 Des Vorhandenseins der Zeit im alltäglichen Sprachgebrauch bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, das Wie des Sprachgebrauchs zu erklären, wird P. Ricœur im Rahmen seiner ausgiebigen Augustin-Studien gewahr: Er erkennt ein „Vertrauen des Augustins in die Umgangssprache“ bei dessen zeitphilosophischen Erörterungen, was auf die Selbst-Verständlichkeit der alltäglichen Zeiterfahrung und des Vorkommens der Zeit in der Alltagssprache hinweist (vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 18). Zur Schwierigkeit, Zeit in ihrer Selbstverständlichkeit theoretisch zu ergründen, vgl. auch SCHÖNECK, Zeiterleben und Zeithandeln Erwerbstätiger, 2009, 20. 6 Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 134 7 Vgl. a.a.O., 137. Vgl. auch KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 63
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III. Theorie
und die literarischen i.e. fiktionalen Erzählungen und bereitet schließlich die Antwort der poetischen Erzählung auf die philosophischen Zeitaporien auf.8 Zwei Ergebnisse seines monumentalen Werkes sind für die hiesige Studie von besonderem Belang: (1) Fiktionale und historische Erzählungen haben Schnittmengen insbesondere im Umgang mit Zeit. So kann Ricœur von einer „Fiktionalisierung der Historie und einer Historisierung der Fiktion“ 9 sprechen. Die Historiographie greift aufgrund der „Nichtbeobachtbarkeit der Gewesenheit“ auf fiktiv konstruierte, temporale „Bindeglieder“ wie z.B. den Kalender zurück, um die subjektiv erlebte und nur in Erinnerungen enthaltende Vergangenheit mit der universalen, kosmologischen Zeit zu synchronisieren.10 Auch in der Historiographie funktioniert die synthetisierende Konfiguration vergangener Ereignisse nicht ohne ein gewisses Maß an kreativer Phantasie. Die Historiographie greift somit v.a. auf das Vermögen der Fiktion zurück, eine Illusion von Präsenz zu erzeugen, also vergangene Ereignisse sukzessiv zu vergegenwärtigen. 11 Die Fiktion wiederum erzählt etwas, „als ob es geschehen sei“12, und erzeugt damit eine „Quasi-Vergangenheit“13, die Anleihen bei der tatsächlichen, historischen Vergangenheit nimmt. Somit ist die „Refiguration der Zeit“ in den Augen von Ricœur „das gemeinsame Werk der historischen und der Fiktionserzählung.“ 14 Diese Erkenntnis spielt für die hiesige exegetische Analyse insofern eine entscheidende Rolle, als man das JohEv sowohl in seinem historischen Wahrheitsanspruch, als auch in seiner Fiktions- und Inszenierungsleistung ernst-, wahrnehmen und untersuchen kann. (2) Die Aporien, die den unterschiedlichen philosophischen Zeitanalysen entspringen, können durch die Narration, wenn nicht gelöst, so doch zum Arbeiten gebracht und produktiv umgewertet werden.15 Es ist für diese Arbeit erst einmal nicht von primärem Interesse, welche Aporien die unterschiedlichen Zeitphilosophien nun genau hervorbringen; vielmehr spielt die Tatsache, dass eine Narration produktiv mit ihnen umgehen kann, eine entscheidende Rolle. In diesem Zuge erfahren wir nämlich, dass die Narration in vielfältiger Weise auf reale, präfigurierte Zeiterfahrungen und -aporien zurückgreift (bei Ricœur angezeigt durch den Prozess der Mimesis I), diese Zeiterfahrungen kreativ neukonfigu-
8
Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988; RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989 und RICŒUR, Zeit und Erzählung III, 1991. 9 A.a.O., 294. 10 Vgl. a.a.O., 296. 11 Vgl. a.a.O., 305. 12 A.a.O., 306. 13 A.a.O., 308. 14 DERS., Zeit und Erzählung I, 1988, 140. 15 Vgl. DERS., Zeit und Erzählung III, 1991, 417.
1. Zeit und Erzählung
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riert (Mimesis II) und wiederum auf die Zeiterfahrungen der Leser zurückwirken lässt, sie refiguriert (Mimesis III). 16 Nicht nur weil die Erzählung im Rahmen der Mimesis I Anleihen bei der realen Welt des Handelns: „ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters“ 17 nimmt, sondern auch weil sie im Rahmen der Mimesis II und III ein ethisches „Laboratorium“18 bzw. „einen imaginären Raum von Gedankenexperimenten […], in denen das moralische Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird“19, zur Verfügung stellt, birgt sie über die reine Abbildung von Zeiterfahrungen hinaus auch ein besonderes ethisches Potenzial. Die sog. „Welt des Textes“ bietet dem Leser die Möglichkeit einer „fiktiven Zeiterfahrung“ 20 , denn in der „entworfenen Welt leben die Gestalten, und machen darin eine Zeiterfahrung, die ebenso fiktiv ist wie sie selbst, die jedoch eine Welt zum Horizont hat.“21 Im Rahmen der Mimesis III, im Akt des Lesens und Rezipierens, können diese fiktiven Zeiterfahrungen nachvollzogen werden und „uns später bei der Entschlüsselung unseres tatsächlichen Zustandes und seiner Zeitlichkeit als Orientierung dienen“ 22. Diese Orientierungsfunktion der Textwelt in Bezug auf Zeiterfahrungen und das Handeln in der Zeit weist bereits voraus auf den bedeutsamen Gesamtzusammenhang der hiesigen drei theoretischen Verhältnisbestimmungen von Zeit, Erzählung und Ethik. 1.2 Narrative Zeitmodulation (Erzähltheorie) Zeit gehört also zu den grundlegendsten Variablen der Erzählung.23 Doch wie geht die narrative Konfiguration einer in der realen Welt schon präfigurierten Zeiterfahrung eigentlich vonstatten? Welche Mittel der Zeitmodulation stehen dem Erzähler bzw. dem Autor der Erzählung zur Verfügung? Bei der Erforschung der narrativen Strategien der Zeitinszenierung bereitet uns erneut eine Problembeschreibung den Empfang. Diese korrespondiert mit der oben beschriebenen Unmittelbarkeit von Zeit zur Alltagserfahrungen und Lebenswelt einerseits und mit ihrer ausschließlich mittelbaren Zugänglichkeit 16
Vgl. DERS., Zeit und Erzählung I, 1988, 87. A.a.O., 90. 18 DERS., Das Selbst als ein Anderer, 1996, 201. 19 A.a.O., 208. 20 DERS., Zeit und Erzählung II, 1989, 13. 21 A.a.O., 128. Zum Umgang der Erzählung mit Handlungszeiten schreibt P. Ricœur weiterhin: „Was durch das In-Handlung-versetzen letztlich und mehr als alles andere refiguriert oder neugestaltet wird, ist die Zeit der Handlung.“ ( DERS., Zeit und Erzählung I, 1988, 130) 22 DERS., Zeit und Erzählung II, 1989, 128. 23 Vgl. u.a. CHATMAN, Story and Discourse, 1980, 21; ESTES, Time, 2016, 41; FLUDERNIK, Tempus und Zeitbewusstsein, 2002, 21; MANGER, Webstuhl Zeit, 2014, 297; MIDDEKE , Zeit und Roman, 2002; VOGT, Aspekte erzählender Prosa, 102008, 96; a.a.O., 96–100; WEIXLER/WERNER, Zeiten und Erzählen – eine Skizze, 2015, 1. 17
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III. Theorie
für Anschauung und Theorie andererseits. Aufgrund dieser komplizierten Zeitakzessibilität erkennen die beiden Anglisten Ansgar Nünning und Roy Sommer das „größte Problem der literaturwissenschaftlichen Zeitforschung“ in der „Vertrautheit mit dem Untersuchungsgegenstand, der intuitiv als bekannt empfunden und daher – anders als abstrakte Phänomene wie die Raumdarstellung – scheinbar keiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf“24. Dieser nachlässige Umgang mit Zeit in den Literaturwissenschaften bildet sich bis in die neueren Erzähltheorien hinein ab. Die Mehrheit der Erzähltheorien anerkennt die grundsätzliche Bedeutung der Zeit für die Erzählung. Sie räumen dem Parameter Zeit von kursorischer bis gründlicher Analyse ganz unterschiedliche Kapitellängen ein. Dabei ist für die erzähltheoretischen Zeituntersuchungen allerdings bis heute eine grundlegende Taxonomie beherrschend: die Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit, erstmals von Günther Müller (1968) vorgenommen 25 und von Gérard Genette (1983) wesentlich zur Entfaltung gebracht. 26 Im Dienste dieser Unterscheidung wurde wiederholt eine Art Innen-Außen-Thermometer oder besser Chronometer mit unterschiedlichen Funktionen entworfen, welches das Hauptaugenmerk auf den Vergleich zwischen der (inneren) Zeit des erzählten Geschehens und der (äußeren) Zeit der Narration legt. Die stabilsten Funktionen dieses Chronometers nennen sich seit Genette Ordnung, Dauer und Frequenz,27 mit deren Hilfe die Abweichungen der Erzählzeit gegenüber der inneren Zeit des erzählten Geschehens genau indiziert werden können. 28 Hinzutreten teilweise Beobachtungen zu einer „Zeit 24
NÜNNING/SOMMER, Die Vertextung der Zeit, 2002, 33. Vgl. MÜLLER, Morphologische Poetik, 1968, 250. 26 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 17–102. Zur Dominanz der Dichotomie von Erzählzeit und erzählter Zeit in der Narratologie vgl. HARWEG, Story-time and Fact-sequencetime, 2011, 146: „According to the academic opinio communis, it still relies on a mere two level mode that deals with the layers of the time of the act of narrating, i.e. ‘discourse-time’ and the narrated time, i.e. ‘story-time’“; ferner WEIXLER/WERNER, Zeiten und Erzählen – eine Skizze, 2015, 9: „Denn auch wenn die Erzähltheorie bislang keine Theorie der erzählten Zeit vorgelegt hat, fungiert die erzählte Zeit als jener Referenzparameter, mittels dessen Abweichungen zwischen ‚Erzählzeit‘ und ‚erzählter Zeit‘ definiert und begrifflich gefasst werden. Eine Vielzahl analytischer Zugriffe auf temporale Phänomene basiert auf dieser Dichotomie oder einer ihrer Variationen“; darüber hinaus auch SPANKE, Zeit und Raum, 2015, 260. 27 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 17–102. 28 Die Kategorien Ordnung, Dauer, Frequenz stellen einen zuverlässigen Untersuchungsbereich in allen einschlägigen und neueren Erzähltheorien, vgl. u.a. CHATMAN, Story and Discourse, 1980, 62–84; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 32–49; SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 232–244; GRAF ET AL., Zeitschrift für Praktische Philosophie. Schwerpunkt: Altern, Ethik und menschliche Zeitlichkeit, 1/2014, 232–244 (hier als Raffung und Dehnung; Selektivität; Linearisierung und Perspektivwechsel); daneben auch in biblisch-exegetischen Erzähltheorien, vgl. u.a. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 93–99; WAGNER, NTAK 5, 2008, 91–117, und schließlich auch im philosophisch-hermeneutischen Werk von RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989, 104. 25
1. Zeit und Erzählung
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der Narration“29, die den zeitlichen Abstand zwischen der narrativen Instanz und dem erzählten Geschehen angibt, sowie der Hinweis auf eine „doppelte Zeitperspektive des Erzählers“30, innerhalb derer die Erzählung mal als abgeschlossenes Ganzes und mal als zukunftsoffen (aus Sicht der Figuren) erblickt wird.31 Alle genannten Kategorien der Ordnung, Dauer, Frequenz, der Zeit der Narration und der doppelten Zeitperspektive des Erzählers erwachsen dem Vergleich zwischen einer äußeren Zeit der Erzählung und einer inneren Zeit des erzählten Geschehens. Was bei vielen dieser Untersuchungen zu kurz kommt, ist m.E. die innere Zeit des erzählten Geschehens einmal ganz für sich genommen. Zwar stolpert man immer wieder über den ricœurʼschen Begriff der „Welt des Textes“32 bzw. der „erzählten Welt“33 als abgeschlossenes Sinnganzes mit eigener raum-zeitlicher Ordnung, gleichwohl in Offenheit und Referenzialität zur wirklichen Welt stehend. Jedoch findet diese abgeschlossene zeitliche Konstitution und Komposition der Welt des Textes selten gesonderte Aufmerksamkeit. Sie wird aufgrund der Vertrautheit mit dem Untersuchungsgegenstand einfach hingenommen. „Insgesamt fällt die erzähltheoretische Auseinandersetzung mit der Evokation von erzählter Zeit und ihren Formen dürftig aus“ 34, stellen auch Antonius Weixler und Lukas Werner in ihrer Skizze zum Zusammenhang von Zeit und Erzählen fest. In die Richtung einer der Welt des Textes immanenten zeitlichen Ordnung weist zumindest Fredrik Wagener in seiner Figurenanalyse, wenn er den semantisch-assoziativen Reiz von expliziten Zeitangaben ins Gespräch bringt. Diese würden die Atmosphäre und Situation der jeweiligen Szene mitbestimmen (bspw. „angenehme Temperaturen oder gar morgendliche Frische“ 35), die Charakterisierung der Figuren beeinflussen und damit auch zur Gestaltung der
29 GENETTE, Die Erzählung, 32010, 139–147; vgl. dazu auch FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 176 (hier als zeitlicher Standpunkt des Erzählers); MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 72–78 (hier als Zeitpunkt des Erzählens); RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989, 110 (hier als Beziehung zwischen Zeit des Aussageakts und Zeit der Aussage); SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 124–125 (hier als zeitliche Perspektive). 30 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 123–126. 31 Ähnlich auch bei SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 137 (hier als narratoriale zeitliche Perspektive im Gegensatz zur figuralen zeitlichen Perspektive). 32 RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989, 13; DERS., Zeit und Erzählung III, 1991, 255; vgl. in etwas anderer Begrifflichkeit auch DERS., Zeit und Erzählung I, 1988, 122–129. 33 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 132–144; vgl. auch SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 43. 34 WEIXLER/WERNER, Zeiten und Erzählen – eine Skizze, 2015, 9. 35 WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 118.
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III. Theorie
Welt des Textes beitragen.36 Was jedoch das Gros der narratologischen Werke in ihren Erzähltheorien und Textanalysen vernachlässigen, ist die Geschehens(oder Textwelt-)immanente Zeit der Figuren, insbesondere deren Interaktionszeit. Die Zeitorientierung der Figuren wird höchstens mit der Zeit der Narration bzw. der Zeitperspektive des Erzählers kontrastiert, nicht aber in ihrer eigenen Struktur und Bedeutung erforscht. Einzig von der phänomenologisch-hermeneutischen Perspektive aus fällt die Figurenzeit in den Blick. Wie oben bereits zitiert, gesteht Ricœur den Gestalten der Welt des Textes die Möglichkeit zu, fiktive Zeiterfahrungen zu machen, spricht auch von einer „Zeit der Handlung“37 und betont stets die enge Rückkopplung dieser Zeitkonfigurationen auf die Handlungszeiten der realen Welt, die „Zeit des Lebens“38. In einer Narration werden also Handlungen analog zur pränarrativen Wahrnehmung von Handlungen in der realen Welt dargestellt. Wie wir eine Handlung im realen Leben wahrnehmen, so erzählen wir sie auch. Und Gleiches gilt wohl i.S. der Mimesis III auch umgekehrt: Wie wir Handlungen erzählen, so nehmen wir sie auch wahr. Ein erster Hinweis auf die Bedeutung der Zeitorientierung der Figuren gibt Jo-Ann Brant, wenn sie die Zeitmodulationen im JohEv mit denen antiker Romane (ancient novels) vergleicht: „In the Gospel, competing understandings of time are central to the action and retrospective narratives invite the audience to relate to particular character’s experiences.“39 Gerade aus diesem Grund lohnt es sich insbesondere bei der Befragung eines Erzähltextes nach seiner Ethik, die Handlungszeiten der Figuren genauer wahrzunehmen, sie nach- und mitzuvollziehen 40 und nach den Darstellungsoptionen und -strategien der Erzählung für diese Handlungszeiten zu fragen.
36 Vgl. a.a.O., 117–119. Auch in der exegetischen Narratologie von S. Finnern finden sich im Rahmen der Umweltanalyse sieben Zeilen zum „zeitlichen Setting“, zu dem „Angaben zur Tages- und Uhrzeit, Wochen- und Feiertage, Jahreszahlen oder auch nur sehr ungefähre Hinweise (‚danach‘)“ gehören. Diese ermöglichen „eine chronologische Orientierung des Lesers“ (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 80). Auf die Bedeutung der unterschiedlichen Zeitangaben für die Figurenhandlungen und deren Interpretation wird aber von S. Finnern im Rahmen dieser Beobachtung nicht abgehoben. 37 RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989, 167. 38 A.a.O., 129; vgl. ferner a.a.O., 127; DERS., Zeit und Erzählung I, 1988, 90. 39 BRANT, John Among the Ancient Novels, 2015, 166. 40 Auch P. Ricœur vertritt beharrlich die These, „daß das, was in einem Text interpretiert wird, der Vorschlag einer Welt ist, in der ich wohnen und meine eigensten Möglichkeiten entwerfen könnte [...] daß das narrative Tun die Welt in ihrer zeitlichen Dimension in dem Maße nachbedeutet (résignifie), wie erzählen, rezitieren ein Nachvollzug der Handlung ist, zu dem die Dichtung auffordert.“ (RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 127)
1. Zeit und Erzählung
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1.3 Theoretische Neuausrichtung: Der Fokus auf Interaktionszeiten Anstatt die geschehensimmanente Chronologie der Ereignisse stets sofort gegen die Erzählzeit zu kontrastieren, lohnt es sich, zunächst einmal auf die geschehensimmanenten Handlungsabläufe selbst zu schauen. 41 Welche Figurenhandlung folgt auf welchen Reiz, welche Reaktion wird durch sie ausgelöst und wie schnell wird sie von wem mit welcher Handlung beantwortet? Entlang dieser Fragen lässt sich dann eine Interaktionsanalyse erstellen und untersuchen, welche Werkzeuge der Narration eigentlich zur Verfügung stehen, um die Interaktionen zeitlich zu strukturieren, und welcher sie sich im Einzelfall bedient. Das Versäumnis der unterschiedlichen Erzähltheorien, im Rahmen der Zeitanalyse auch einen Blick auf die Figurenzeit zu werfen, hat dazu geführt, dass bisher nur wenig über die narrativen Möglichkeiten und Strategien der Inszenierung von Figuren- bzw. Interaktionszeiten nachgedacht wurde. Einen leisen Hinweis auf „Erzählstrategien“, die über die Genette’schen Kategorien der Ordnung, Dauer und Frequenz hinausreichen, geben Nünning und Sommer in ihrem Aufsatz zur „Vertextung der Zeit“. Benannt werden „die linguistischen Aspekte der Zeitdarstellung“, „Zeitmetaphorik“, „das Spektrum möglicher Funktionen literarischer Inszenierung von Zeit“, „generische Aspekte des Wechselspiels von literarischer Zeitdarstellung und Gattungskonventionen“ und „die praktische Verwendung und Funktionalisierung der Tempora im literarischen Text“. 42 Doch bei Nünning und Sommer bleibt es bei diesem bloßen Hinweis auf mögliche zusätzliche Zeitinstrumente. Eine umfassende Analyse und Systematisierung der Möglichkeiten insbesondere synchroner Zeitmodulationen stellen sie in ihrem Aufsatz nicht zur Verfügung. 41
Wann immer im weiteren Verlauf von Handlungen die Rede ist, sollen damit keine isolierten Einzeltaten gemeint sein. Vielmehr werden sie synonym zu Interaktionen gebraucht, die sich zwischen ethischen Subjekten abspielen, wodurch 1) die Intentionalität (i.S. eines Gerichtetseins auf ein Anderes/einen Anderen) und 2) das passive Erleiden mitbezeichnet werden. Auf eine vollständige Ersetzung des Begriffs der Handlung durch Interaktion wird deshalb verzichtet, weil in der konsultierten Theorie (insbes. bei P. Ricœur) überwiegend und einseitig mit dem Begriff der Handlung operiert wird, ohne dass damit (so jedenfalls mein Eindruck) tatsächlich isolierte Einzeltaten gemeint wären. Weitere Begriffsbestimmung u.a. zu Verhalten und Lebensweisen im methodischen Teil IV unter 3. Begriffsbestimmungen. 42 NÜNNING/SOMMER, Die Vertextung der Zeit, 2002, 46. In dieser Auflistung von A. Nünning und R. Sommer werden synchrone Anfragen an den Text (Linguistik) und diachrone Anfragen an den Text (Gattungstheorie; funktionale [Tempus-]Theorie) vermischt. Für die spezifische Frage nach Instrumenten der erzählimmanenten Zeitinszenierung ist jedoch (zumindest vorerst) auf der synchronen Ebene zu verweilen. Allenfalls die Zeitmetaphorik als Hybrid zwischen Syn- und Diachronität kann für die Untersuchung von Interaktionszeiten schon initial mitberücksichtigt werden. Einen Überblick über weitere Untersuchungen zu den Möglichkeiten der Vertextung von Zeit wird im methodischen Teil IV unter 2.2.2 Systematisierung: Techniken der Textualisierung von Zeit gegeben.
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III. Theorie
Man kann höchstens im Rahmen des oben besprochenen herkömmlichen Abgleichs von narratorialer und geschehensimmanenter Zeit neben den Klassikern von Ordnung, Dauer und Frequenz vereinzelt auf weiterführende linguistische und tempustheoretische Überlegungen stoßen – freilich immer unter der alten komparatistischen Ausgangsfrage von Erzählzeit und erzählter Zeit. U.a. Wolf Schmid weist in diesem Zusammenhang auf das narrative Werkzeug der anaphorischen (am Erzählfluss ausgerichteten) Zeitadverbien (z.B. an diesem Tag; danach; in jenem Moment; am nächsten Morgen etc.) und deiktischen (am deiktischen Subjekt der jeweiligen Aussage ausgerichteten) Zeitadverbien (z.B. heute, morgen, jetzt etc.) hin.43 Diese Adverbien gilt es nun nicht nur als Indiz für die Disparität zwischen erzählter Zeit (v.a. deiktische Signale) und Erzählzeit (anaphorische Signale im Abgleich mit der Textposition) zu werten, sondern darin auch die Möglichkeiten des Textes zu erkennen, Figurenhandlungen in einen bedeutungsvollen zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Ebenso verhält es sich mit den Tempora. Auch diese können einerseits zwischen der zeitlichen Perspektive des Erzählers (bzw. des Erzählflusses)44 und der zeitlichen Perspektive der Figuren alternieren,45 oder beides simultan abbilden (vgl. Käte Hamburgers episches Präteritum: Morgen war Weihnachten).46 Über ihre Alternations- und Kontrastbewegung hinaus können die Tempora andererseits aber auch eigens im Hinblick auf ihre Strukturierung der Interaktionszeit der Figuren ausgewertet werden: Welche Handlung wird welcher Reaktion mittels Tempusdeixis vor- oder nachgeordnet? Welche Handlungen geschehen simultan? Welcher Aspekt der Handlung (Resultat oder Vollzug) steht im Vordergrund? etc. Im methodischen Teil der Arbeit wird deshalb zum einen eine Strategie zur genauen Beobachtung der erzählten Zeit entworfen (2.1.2 Interaktionsanalyse), zum anderen werden die unterschiedlichen Möglichkeiten eines Textes, Zeit auf der Ebene des erzählten Geschehens zu evozieren, systematisch vorgestellt (2.2.2 Systematisierung: Techniken der Textualisierung von Zeit und Folgekapitel zu Semantik, Grammatik und Chronologik). An dieser Stelle wollen wir uns aber zunächst mit dem Verhältnis von Erzählung und Ethik beschäftigen.
43
Vgl. SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 135–138. Mit der Bedeutung der Tempora für die Sprechhaltung und Lesehaltung hat sich H. Weinrich ausführlich auseinandergesetzt. Er rechnet den Tempusformen allerdings nicht mehr die Funktion zu, Zeit darzustellen, sondern zwischen erzählenden und besprechenden Aussagen zu unterscheiden und den Leser in eine entspannte (erzählende Texte) oder gespannte (besprechende Texte) Lage zu versetzten (vgl. WEINRICH, Tempus, 62001, 32). Inwiefern diese Unterscheidung der Textanalyse nützlich sein kann, wird im methodischen Teil IV unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform noch weiter erörtert. 45 Vgl. FLUDERNIK, Tempus und Zeitbewusstsein, 2002, 21. 46 Vgl. HAMBURGER, Die Logik der Dichtung, 1957, 27–72. 44
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2. Erzählung und Ethik
2. (Biblische) Erzählung und Ethik 2. Erzählung und Ethik „Das Denken in Normen ist überkategorisch – oder als Reaktion darauf kategorienlos. Dagegen müsste es darum gehen, über Normen zwar in Kategorien zu denken, aber in solchen, die Phänomenen Luft lassen.“47
CHRISTOPH MÖLLERS
2.1 Ethikdefinition Wie viele Schnittpunkte sich zwischen Erzählung und Ethik entdecken lassen, hängt wesentlich von der jeweiligen Ethikdefinition ab. Fasst man das Gebiet der Ethik besonders eng, beschränkt man es etwa auf die rationale Reflexion von Handlungen und deren Normen in Form von eindeutig präskriptiven Sollens-Aussagen, so wird man damit die Schnittstellen von Erzählung und Ethik auf das Epimythion, die sog. Moral von der Geschichtʼ am Ende einer Erzählung einschrumpfen. Dass jenes Kondensprodukt dem tatsächlichen ethischen Gehalt einer Erzählung jedoch keinesfalls gerecht wird, bemerkt Hans Blumenberg in seinem Lob der Nachdenklichkeit: „Obwohl fast keine dieser Lehren [gem. sind die Epimythia, Anm. d. Verf.] als ganz falsch bezeichnet werden kann, haben sie etwas eigentümlich und unerklärt Unpassendes an sich.“ 48 Unpassend sind die Lehren, weil sie nur einen Bruchteil dessen abzudecken vermögen, was sich an ethischem Potenzial aus der Kommunikation zwischen Text und Leser ergeben kann, und das wertvolle ethische Nach-denken und Nach-vollziehen durch schnelle Moralurteile oder Prinzipien abschneiden. Ist man hingegen der Ansicht, dass sich Ethik nicht in formvollendeten Debitativen und Deontismen ergeht, sondern formvariant, kommunikativ, interpersonal, zeitgebunden und deshalb ungemein variabel ist, so ist die Ernte gleich um einiges ertragreicher. Ich möchte mich in dieser Studie an der Ethikdefinition orientieren, die in ausgiebigen und perspektivenreichen Diskussionen im Rahmen des Mainzer Graduiertenkollegs zur Zeitdimension in der Begründung der Ethik erarbeitet wurde: Unter Ethik verstehen wir die reflexive Durchdringung von Lebensweisen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung.49 Hinter dieser geräumigen Grenzziehung stehen folgende grundsätzliche Überlegungen: Die Haupttätigkeit der Ethik ist die Reflexion i.S. eines gedanklichen
47
MÖLLERS, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 12. BLUMENBERG, Nachdenklichkeit, 1980, 60. 49 Vgl. auch ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 12. 48
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III. Theorie
(aber nicht notwendigerweise rationalen) Nachvollzugs.50 Diese kann sich sowohl prospektiv als auch retrospektiv auf ihren jeweiligen Gegenstand richten. Der Gegenstandsbereich der Ethik umfasst nicht nur aktive Handlungen, sondern auch den Verzicht auf Handlungen bzw. das passive Erleiden, und darüber hinaus wiederkehrende Verhaltens-, ja sogar übergreifende Lebensweisen. Der Begriff der Lebensweise wird im Rahmen hiesiger Ethikdefinition als Integral für Einzelhandlungen, passives Erleiden, Interaktionen und Verhalten gebraucht und nicht individualistisch verstanden, sondern stets als intentionale Haltung wahrgenommen, die sich durch ihr Gerichtet-Sein auf der/die/das Andere auszeichnet und damit im Kern relational ist. Die Reflexion richtet sich auch auf die Orientierungspunkte, die sog. Normen, die Handlungen, Interaktionen, Verhaltens- und Lebensweisen anleiten und/oder begründen und untersucht sie hinsichtlich ihrer Angemessenheit und Plausibilität. Ethik operiert bei ihren Reflexionen stets mit den Kategorien von Gut und Böse, besser und schlechter und deren Synonyme. Ethik ist demnach niemals rein deskriptiv und kommt nicht ohne Bewertung und Begründung der Lebensweisen und deren leitender Normen aus. Der Begriff der Norm wird in Anschluss an Ruben Zimmermanns Definition als Hyperonym für Prinzip, Wert, Maxime, Regel, Gut, Tradition verstanden und soll im weitesten Sinne als Orientierungs- und Begründungsinstanz aufgefasst werden, die in ganz unterschiedlichen (sowohl sprachlichen als auch außersprachlichen) Formen auftreten kann. „Bezogen auf ethische Texte kann eine Norm im weitesten Sinn jedes Textelement sein, das einen begründenden [oder orientierenden, Ergänzung d. Verf.] Charakter für einen ethischen Satz besitzt.“51 Die Orientierungs-, Plausibilisierungs- und Begründungsmechanismen der Ethik sind an vielfältige Ausdrucksformen gebunden. Ethische Bewertungen werden durch Sprache und Schrift, aber auch durch Mimik und Gestik, bildende und darstellende Kunst vermittelt. Dabei gehen Ethik und Ästhetik ein enges Verhältnis ein, weil normative Effekte nicht nur deontischen Sprachformen zugetraut, sondern in vielerlei Kunst- und Kulturformen wahrgenommen
50 Mehr zur Grenzziehung zwischen Ethik und Moral im methodischen Teil IV unter 3. Begriffsbestimmungen, Anm 237. 51 A.a.O., 57. C. Möllers bezeichnet Normen als „positiv markierte Möglichkeiten“ (MÖLLERS, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 14). Damit wird ausgedrückt, dass Normen in Bezug auf unterschiedliche Handlungsalternativen noch vor jeder Umsetzung orientierend wirken und damit nicht an Faktizität gebunden sind. Unzureichend ist Definition aber insofern, als sie für verbietende Normen nahezu blind ist, welche Möglichkeiten negativ markieren und das Möglichkeitsspektrum damit begrenzen. Daran wird erkenntlich, dass eine Normendefinition meist selbst schon normativ ist, insofern sie Vorentscheidungen in Bezug auf die Zulässigkeit von Verboten und Tabuisierungen trifft.
2. Erzählung und Ethik
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werden.52 Ethik ist überdies kontext- und zeitgebunden, somit dynamisch wandelbar und bedarf, weil sie das soziale Individuum oder Kollektiv zum Subjekt hat, der intra- und intersubjektiven Kommunikation. 2.2 Ethische Bibel und biblische Ethik Von dieser definitorischen Basis aus kann nun danach gefragt werden, wie Ethik insbesondere in biblischen Sprach- und Kommunikationsformen vorkommt. Richard Hays hat sechs Typen der ethischen Annäherung an die Bibel unterschieden: 53 (1) Historical Description of the Ethical Teaching of the New Testament Writings:54 Der erste Typus verfolgt das Ziel einer historischen Nachzeichnung der verschiedenen ethischen Lehren von Jesus über Paulus bis zu den ersten Gemeinden, allerdings ohne den Anspruch auf Anwendung auf die gegenwärtige ethische Situation. 55 (2) Ethnographic Description of the Social World of Early Christians: 56 Dieser Ansatz begnügt sich mit einer Beschreibung des Ethos des frühen Christentums, wobei eher das gelebte Ethos als dessen ethische Reflexion im Fokus steht und man sich im Erbe der religionsgeschichtlichen Schule nicht auf den ntl. Kanon als Quelle beschränkt. 57 (3) Extraction of Ideals and Principles:58 Hat man einmal das ethische Konzept entdeckt, braucht man eigentlich keine Erzählung mehr, so die herrschende Meinung innerhalb dieses Typusʼ biblischer Ethik. Die hermeneutische Kluft zwischen ntl. Texten und Gegenwart wird schnellstmöglich zu überbrücken versucht, weshalb dieser Ansatz nur eine sehr eklektische Schriftauslegung zulässt. 59 (4) Cultural Critique of Ideologies in the New Testament:60 Die Methode dieses Ansatzes ist von einer Hermeneutik des Verdachts motiviert. Es geht um das Aufdecken und Dekonstruieren von in den biblischen Texten versteckten Ideologien. Die Bibel wird hier nicht als norma normans (normierende Norm),
52
Vgl. ZIMMERMANN, Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu, 2012, 236–244. Vgl. HAYS, Approaches to New Testament Ethics, 2006, 3–19. 54 Vgl. a.a.O., 4–6. 55 Als Beispiel nennt R. Hays: SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, 51989. 56 Vgl. HAYS, Approaches to New Testament Ethics, 2006, 6–8. 57 Als Beispiel nennt R. Hays: MEEKS, The Moral World of the First Christians, 1986; MEEKS, The Origins of Christian Morality, 1993; WOLTER, Theologie und Ethos im frühen Christentum, 2009. 58 Vgl. HAYS, Approaches to New Testament Ethics, 2006, 8–10. 59 Als Beispiel nennt R. Hays: LOHSE, Theologische Ethik des Neuen Testaments, 1988; NIEBUHR, An Interpretation of Christian Ethics, 1987; sowie einige andere Werke aus der Liberalen Theologie. 60 Vgl. HAYS, Approaches to New Testament Ethics, 2006, 10–12. 53
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III. Theorie
sondern als norma normata (genormte Norm) aufgefasst. 61 Die Bibel wird so eher zum Reibungs- als zum Ausgangpunkt ethischer Diskussionen gemacht. (5) Character Formations and ‘the Ethics of Reading’: 62 Die biblischen Narrationen bilden nach diesem Ansatz eine Charaktergemeinschaft. Die Kirche muss sich erst als Gemeinschaft Christi erkennen, um das ntl. Jesusporträt richtig lesen und interpretieren zu können: ‚Gehorsam vor Verstehen‘, so der Wahlspruch dieses Typusʼ. Die Gemeinde wird als Interpretationsgemeinschaft aufgefasst, Lesarten der Bibel von außerhalb dieser Gemeinschaft können nur Ideologien perpetuieren, Individualismus und Gewalt hervorrufen. 63 (6) Metaphorical Embodiement of Narrative Paradigms:64 Im Rahmen dieses letzten Ansatzes wird die Bibel als narrative Konstruktion einer symbolischen Welt aufgefasst, die uns Orientierung und Identität gibt. Zwischen den Gemeinschaften in den Geschichten und unseren gegenwärtigen gibt es metaphorische Korrespondenzen. Nicht wir urteilen über die Texte, sondern die Texte konfrontieren und formen uns, deshalb muss es eine Priorität der kanonischen Schriften vor den eigenen ethischen Vorannahmen geben. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegung mag es allzu evident sein, dass sich die hiesige Studie im Radius des letzten Typus bewegt (in den sich auch Hays selbst einordnet), schließlich lässt obige Ethikdefinition weder eine Beschränkung auf starre historische Normenkonstrukte (Typ 1), noch auf reine Deskriptionen (Typ 2), noch auf überzeitliche dogmatische Prinzipien (Typ 3), noch auf einseitige Ideologiekritik (Typ 4) oder kollektive Zwangsmechanismen (Typ 5) zu. Vielmehr fordert und fördert die hier vertretene Ethik im Wesentlichen einen Kommunikationsprozess, der mit bestimmten Symbolen und Zeichen und unter kollektiver Aushandlung ihrer Bedeutung Sinn und Orientierung für eine Kommunikationsgemeinschaft stiftet, eben jenen Prozess, der auch in den biblischen Texten lebendig ist. Doch man kann die Frage auch noch anders stellen. Nicht: Wie kommt die Ethik in die Bibel?, sondern: Wie kommt die Bibel in die Ethik? Die zweite Frage unterscheidet sich um Nuancen, insofern sie vornehmlich an der Relevanz der Bibel für ethische Diskussionen und ihren Status als norma normans interessiert ist. Nichtsdestotrotz mögen beide Fragen sehr wohl Hand in Hand miteinander gehen, denn die Relevanz der biblischen Ethik hängt ganz davon ab, welche Ethik wir in den biblischen Texten vorfinden (wollen).65 Und welche Ethik wir in den biblischen Texten finden, hängt wiederum davon ab, welchen ethischen Formen und Inhalten wir grundsätzlich Relevanz beimessen. 61 Als Beispiel nennt R. Hays: SCHÜSSLER FIORENZA, In Memory of Her, 1983; sowie andere Werke der feministischen oder Befreiungstheologie. 62 Vgl. HAYS, Approaches to New Testament Ethics, 2006, 12–15. 63 Als Beispiel nennt R. Hays: FOWL/JONES, Reading in Communion, 1998; HAUERWAS, Unleashing the Scripture, 1993; VERHEY, Remembering Jesus, 2005. 64 Vgl. HAYS, Approaches to New Testament Ethics, 2006, 15–18. 65 Vgl. HOFHEINZ, Wie kommt die Bibel in die Ethik?, 2011, 14.
2. Erzählung und Ethik
71
Um beide Fragen angemessen klären zu können, bedarf es einer Annäherung von Exegese und Ethik.66 Im Rahmen dieser Annäherung kann das ethische Vorverständnis (i.e. die eigene Ethikdefinition) entgegen Hays Verständnis m.E. durchaus einen Einfluss auf die grundsätzliche Herangehensweise und auch auf die Ergebnisse der Exegese haben, umgekehrt haben aber auch die exegetischen Funde einen Einfluss auf unser Ethikverständnis. So bilden das Verständnis der Bibel als Kommunikationsgeschehen und Aufbewahrungsort von konkreten Fallbeschreibungen sowie abstrahierenden Wertdebatten einerseits und das Verständnis der Ethik als dynamischer, kommunikativer, situationssensibler, aber auch normativer Reflexionsvorgang andererseits zwei Seiten derselben Medaille. Die Bibel ist in der Konsequenz zugleich norma normans und norma normata, insofern sie einerseits normative Orientierungshilfe bietet, diese Normativität aber andererseits vornehmlich aus dem Gesprächszusammenhang ihrer Texte hervorgeht bzw. aus dem in ihr erzählten Offenbarungsgeschehen. Die Normativität der Bibel (i.e. ihr Status als norma normans) wird durch das in ihr aufbewahrte Gespräch Gottes mit den Menschen, der Menschen untereinander und der Menschen mit dem Text normiert (und insofern ist sie zugleich norma normata). Normiert wird sie letztlich aber durch einen Glaubensvollzug, nämlich dadurch, dass man die Bibel als Gespräch Gottes mit den Menschen glaubt. Dass die Bibel das Gespräch Gottes mit den Menschen und der Menschen untereinander enthält, ist eine Aussage, die den hermeneutischen Zirkel zwischen norma normans und norma normata nicht nur beschreibt, sondern selbst darin einsteigt. Man kann die Metapher eines Spiels heranziehen, um dieses vermeintliche Paradox nachzuvollziehen. Jedes Spiel verfügt über sog. konstitutive und regulative Regeln: 67 Die regulativen Regeln beschreiben vorhandene, aber durchaus diskutable, veränderliche Verhaltensnormen, von deren Bestehen das Spiel im Ganzen aber nicht abhängt (z.B. kann beim Schachspiel der Gegenspieler nicht mehr aus dem Schach herauskommen, soll man „schachmatt“ sagen). Die regulativen Regeln entsprechen der Bibel als genormter Norm: Ein anhaltender kollektiver Kanonisierungs- und Auslegungsprozess macht sie erst zu dem bedeutsamen und einflussreichen Korpus, der sie ist. Dieser Kanon hängt nicht von einzelnen in ihm enthaltenden Normen ab, sondern ergibt sich aus dem Kommunikationsganzen und bringt zeitlich wandelbare Normen hervor. Konstitutive Regeln legen hingegen fest, was als was zu gelten hat (z.B. hat der geschlagene König beim Schachspiel als Spielniederlage zu gelten). Ohne diese Regeln wäre das Spiel völlig gegenstandslos. Die konstitutiven Regeln entsprechen der Bibel als normierende Norm. Weil sie als das Zeugnis der 66
Vgl. a.a.O., 15. Zur Unterscheidung regulativer und konstitutiver Regeln vgl. SEARLE, Sprechakte, 12 2013, 54–68. 67
72
III. Theorie
Offenbarung Gottes gilt, hat sie normativen Anspruch (unabhängig von den in ihre enthaltenen Einzelnormen) und ruft einen Kanonisierungs- und Auslegungsprozess hervor. Damit ist der normative Anspruch der Bibel übrigens niemals ganz von der normativen Autorität Gottes abzulösen, jedoch trägt sie in ihrer sprachlichen Form zugleich dem Umstand Rechnung, dass jener Autoritätsanspruch immer nur durch die menschliche Wahrnehmung gefiltert und über die menschliche Sprachfähigkeit vermittelt zugänglich ist und somit einem kommunikativen Aushandlungsprozess unterliegt. 68 Ethik ist wesentlich an verschiedene Sprachformen gebunden und ist in dieser Form eine der unmittelbaren Lebenswelt und -weise nachgehende, eine nachdenkliche Ethik. Nicht ihre Normativität, wohl aber ihre ethische Auskunftsfähigkeit stellt die Bibel in ihren kommunikativen Sprachformen unter Beweis. In ihr ist ein komplexer und über sie hinaus verweisender und einladender Gesprächszusammenhang aufbewahrt, und indem sie erzählte Einzelfälle und abstrahierende Normund Bedeutungsreflexionen kombiniert, ist sie schon der Form (und nicht nur der in ihre enthaltenen Normen) nach ein Prototyp ethischer Reflexionsprozesse. 2.3 Ethische Erzählung und erzählerische Ethik Folgen wir Hays’ sechstem Typus biblischer Ethik als narrativer Konstruktion einer symbolischen Welt, so muss noch genauer dargelegt werden, inwiefern wir insbesondere durch die in der Erzählung aufgerufene „symbolic world“69 Orientierung und Identität finden können. Die Relation von Erzählung und Ethik kann und wird in ganz unterschiedlichen Graden bestimmt. Marco Hofheinz hat drei Typen von narrativer Ethik insbesondere entlang ihres Bezugs zur Prinzipien- und Normenethik voneinander unterschieden: (1) Der Komplementaritätsansatz (vertreten von Dietmar Mieth) versteht narrative Ethik als Ergänzung zur Prinzipienethik und nimmt sie vornehmlich in ihrer Funktion als Literaturinterpretation wahr. Die Texte werden nach diesem Ansatz in ihrer Funktion, neue (Handlungs-)Möglichkeiten aufzuzeigen und Modelle für eine bessere Gestaltung der Wirklichkeit anzubieten, wahrgenommen. Diese Modelle kommen nicht ohne die Ergänzung einer Normethik aus, wenn sie nicht in der reinen Utopie der Möglichkeiten verharren wollen.70 (2) Der Substitutionsansatz (vertreten von Alasdair MacIntyre und Stanley Hauerwas) löst die Prinzipienethik durch eine narrative Ethik ab, weil eine rationale Letztbegründung für die Vertreter dieses Ansatzes die Degenerierungsursache moralischer
68 Außerdem werden ethische Reflexionen in der Bibel durchaus auch unterhalb der Ebene einer theologischen Letztbegründung vollzogen, insbes. wenn sie die Alltagspraxis zum Gegenstand haben (vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 37). 69 HAYS, Approaches to New Testament Ethics, 2006, 16. 70 Vgl. HOFHEINZ, Narrative Ethik als «Typfrage», 2009, 31–37.
2. Erzählung und Ethik
73
Kultur bedeutet und sie die Narration als anthropologisch-ontologische Grundbefindlichkeit erkennen, insofern der Mensch selbst ein erzähltes, d.h. ein geschaffenes Wesen und in die übergreifende Story Gottes verstrickt ist.71 Es gibt für die Vertreter dieses Ansatzes also nicht nur ethische Narrative, sondern für sie ist jede Ethik narrativ. Der letzte Typus ist der (3) postmoderne Ansatz (vertreten von Richard Rorty und Jean-Francois Lyotard), welcher mutigen Verzicht auf jedwede Meta-Erzählungen übt und eine radikal subjektive Ethik protegiert. Theologie und Philosophie sollen diesem Ansatz zufolge im Bereich der Ethik durch Literaturwissenschaft ersetzt werden, damit an die Stelle einer einzigen zutreffenden Theorie eine Pluralität verschiedener fluktuierender Auslegungen treten kann. 72 Die in hiesiger Studie vertretende Idee von einer narrativen Ethik lässt sich keiner der drei Typen zuordnen, befindet sich wohl aber in einem Zwischenraum zwischen Komplementaritäts- und Substitutionsansatz. In Erwiderung auf den Komplementaritätsansatz wird narrative Ethik hier nicht nur als eine mögliche Form der Exegese (neben der allegorischen, historischen und anagogischen Auslegung) verstanden, vielmehr werden die Erzählungen selbst für ethisch gehalten. Es muss nicht erst eine Ethik εἰς-egesiert werden oder von den Texten narratologisch abstrahiert werden, denn die narrative Ethik wird als eine den Texten von vornherein inhärente Ethik verstanden. Es soll also nicht bloß von einer Ethik anhand von Erzählungen (implizierte Ethik), sondern von in sich ethischen Erzählungen (implizite Ethik) gesprochen werden. Gleichwohl muss Ethik insgesamt nicht auf Narrationen beschränkt bleiben, sondern kann sich, in Erwiderung auf den Substitutionsansatz, auch in anderen Reflexionsformen vollziehen. Ethik kommt unter Ausschluss rationaler Handlungsbegründung ebenso wenig aus, wie unter deren Monopolisierung. Zu den Möglichkeiten einer rationalen Argumentation oder narrativen Reflexion treten ferner doxologische, mimetische und metaphorische Reflexionsformen ergänzend hinzu.73 All jene Reflexions- und Begründungsformen können in einer narrativen Ethik integriert sein. Eine Balance zwischen rationalen Handlungsentscheidungen/-beurteilungen und affektiven/emotiven/intuitiven Handlungsmotivatoren/-beurteilungen entspricht dem Menschen als Wesen, das sich zugleich vor- und aufgeben ist, das sich nach Helmuth Plessner in einer „exzentrischen Positionalität“74 befindet und somit sowohl die Fähigkeit zur (affektiven) Intuition als auch zur (rationalen) Reflexion besitzt. Erzählungen können
71
Vgl. a.a.O., 38. Vgl. a.a.O., 48–55. 73 Zu den unterschiedlichen Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik vgl. den Sammelband HORN/VOLP/ZIMMERMANN, Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie, 2016. 74 PLESSNER, Stufen des Organischen, 1981, 382–396. 72
74
III. Theorie
beides: Rationale Begründungen für Handlungen bereitstellen und das menschliche Verhalten in seiner Instinktivität darstellen bzw. daran appellieren. Des Weiteren stehen Modellethik und Normenethik, Konkretion und Abstraktion, Situativität und Universalisierbarkeit im Rahmen einer narrativen Ethik in einem hereditären Wechselverhältnis. Ihr Bezug zueinander kann und muss nicht erst durch eine Ergänzung der konkret-situativen Modellethik der Narration durch eine von außen ergänzte metasprachliche Normethik hergestellt werden, er ist vielmehr bereits innerhalb einer Narration (insbesondere dem JohEv75) gegenständlich. Die natürliche Pendelbewegung zwischen Konkretion und Abstraktion ergibt sich aus der Einpassung einzelner Situationsbeschreibungen in das kausale Schema einer Narration.76 Damit eine Erzählung für den Leser rezipierbar ist, muss sie einen Mittelweg zwischen Redundanz (bekannte Rahmenbedingungen) und Variation (singuläre Fälle), 77 oder in Ricœurs Worten zwischen Sedimentierung und Innovation 78 einschlagen. Sie knüpft an enzyklopädisches Wissen und bekannte Erzählschemata an und passt die Einzelgeschichte darin ein. Durch das erzählerische Generalschema gewinnt die Geschichte an Abstraktion, durch die Abweichungen von ihm gewinnt die Geschichte an (ethischer) Bedeutung. 79 Das Ziel dieser Pendelbewe-
75 Vgl. REINMUTH, Biographisches Erzählen und theologische Reflexion des Johannesevangeliums, 2009, 42. 76 Zur narrativen Einpassung von konkreten Situationen und der Universalisierungstendenz dieser Einpassung vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 70: „Die Fabel erzeugt solche Universalien, wenn die Handlungsstruktur auf dem handlungsimmanenten Zusammenhang und nicht auf äußeren Zufällen beruht. Der innere Zusammenhang als solcher ist der Ansatz der Verallgemeinerung“; in ähnlicher Weise a.a.O., 111: „Soweit nämlich in der Zusammensetzung der Handlungen der kausale Zusammenhang (eins wegen des anderen) gegenüber der bloßen Abfolge (eins nach dem anderen) im Vordergrund steht, entsteht ein Allgemeines, das unserer Interpretation zufolge die zum Typus erhobene Zusammensetzung selbst ist.“ 77 Vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 38. 78 Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 109-113. 79 Vgl. auch ATTRIDGE, The Cubist Principle in Johannine Imagery, 2006, 50 in Bezug auf Abweichungen von klassischen Bildfeldern: „What disturbs also tantalizes.“ Dabei muss ein richtiges Maß an „Relevanzzumutung“ austariert werden: Relevanz ist abhängig von der Resonanz des Erzählten in den eigenen Erfahrungen, also vom Wiedererkennungswert sowie vom dramatischen Modus der Narration, i.e. wie lebendig das Geschehen erzählt wird (vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 39). Zu viele Abweichungen vom Generalschema gefährden den Relevanzindex, zu wenige gleichermaßen. P. Ricœur beschreibt dies als „geregelte Deformation“: „Die Ereignisse passen sich in dieser Hinsicht dem Schicksal der Fabel an. Auch sie folgen der Regel und heben sie auf, indem ihre Entstehung um den zentralen Punkt der ›geregelten Deformation‹ schwankt. So sind die Ereignisse dadurch, daß sie erzählt werden, zugleich einzeln und typisch, kontingent und erwartet, abweichend und paradigmenabhängig, und sei es auch im Modus der Ironie.“ (RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 310)
2. Erzählung und Ethik
75
gung muss eine „Kombination von Überraschung und befriedigter Erwartung“80 sein. Die Narration ist eine der wenigen Medien, die die Möglichkeit bietet, Situationen „einzufangen“ und kommunizierbar zu machen. „Was gesetzhaft wiederkehrt, kann in die Form logischer Schlüsse gebracht, was einmalig, vorübergehend und immer ›irgendwie anders‹ ist, muss erzählerisch bearbeitet werden“81, so Albrecht Koschorke in seiner allgemeinen Erzähltheorie. Je öfter eine Geschichte weiter- oder nacherzählt wird, desto stärker setzt die Entdifferenzierung und Generalisierung ein. 82 Der nach diesem Abschleifungsprozess zurückbleibende Kern ist als Kondensat, gleich wie die Moral von der Geschichtʼ, weniger beweglich und anpassungsfähig. Je mehr Abstraktion, desto unbeweglicher, je mehr Konkretion aber, desto beliebiger wird die Erzählung.83 Dem postmodernen Ansatz schließlich ist entgegenzuhalten, dass Ethik ohne das Ziel einer Letztbegründung und (unterschiedlich weitreichende) Geltungsansprüche ihren Boden und ihre Funktion verliert. Ohne den geringsten Anspruch auf überindividuelle Geltung würden ethische Fragen auf bloße Gefühls- und Geschmacksfragen gedrosselt und jedweder Orientierungshilfe beraubt.84 Hinter den Geltungsansprüchen normativer Aussagen und deren Letztbegründung stehen notwendige, möglichst in sich kohärente Weltverständnisse, die, sofern man weiterhin davon ausgeht, dass wir alle in derselben Welt leben, durchaus exklusiv zueinanderstehen können, ohne die aber ein in sich stimmiges Leben für den Einzelnen gar nicht möglich ist. Deshalb ist und bleibt Ethik im Gegensatz zur Ästhetik etwas, worüber man streiten kann und sollte.
80
KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 50. A.a.O., 66. 82 Vgl. a.a.O., 40. 83 Das Wechselspiel zwischen Konkretion und Abstraktion wird auch durch die Temporalität einer Erzählung hervorgerufen, was für das JohEv im forschungsgeschichtlichen Teil II unter 1.6 Forschungsdesiderat: Der ethische Ansatz schon angesprochen, in diesem Teil der Arbeit unter 3.2 Philosophische Zeitkonzepte aber noch theoretisch reflektiert werden soll. An dieser Stelle nur so viel: Die zeitliche Einordnung von Situationen und Geschehnissen verleiht ihnen Konkretion bzw. Einmaligkeit, die kausale Anordnung sowie die zeitliche Distanz zwischen Narration und Geschehen wiederum bewirken Abstraktion, weil in dieser Distanz das Geschehen nicht mehr nur erlebt, sondern bereits reflektiert wird und darin notwendigerweise Einschätzungen, Bewertungen und ggf. auch Lösungsansätze mitgeliefert werden (vgl. SCHMID, Zeit und Erzählperspektive, 2015, 346). 84 Auch wenn F. Nietzsche in Erwiderung auf Kant in (moralischen) Meinungen nichts Anderes als Geschmacksurteile sehen kann (vgl. NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, 2000, 68), so bleibt die Unterscheidung zwischen ethischen und ästhetischen Urteilen dennoch eine wesentliche, weil in ihr das soziale Zusammenleben geregelt wird. Individuell und subjektiv bleiben freilich die jeweiligen Situationsbeschreibungen und -einschätzungen des ethischen Subjekts, die Bemessungen des Geltungsraumes der Normen und die Akzeptanz einer grundsätzlichen Revidierbarkeit ethischer Antworten. 81
76
III. Theorie
Wer davon ausgeht, dass bestimmte Handlungen unter bestimmten Bedingungen als gut oder schlecht zu gelten haben, will diese Wertung nicht nur für seine eigene Handlung oder einen einzigen singulären Handlungsfall beanspruchen. Die Kategorien von Gut und Böse (ohne die keine Ethik auskommt) 85 leben auch von einer Idee des schlechthinnig und damit kontinuierlich Guten (und des schlechthinnig Schlechten als privatio boni), 86 an dem sich das menschliche Verhalten kontinuierlich auszurichten hat. Wenn Gut und Böse je und je völlig willkürlich bestimmt werden könnten, stünden Lebenskohärenz und Integrität auf dem Spiel. Zugleich muss sich der Mensch aber damit abfinden, dass die Bestimmung des absolut Guten seiner individuellen Fähigkeit entzogen ist und höchstens eine Annäherung durch kollektive Aushandlung denkbar ist, aber der stetigen Revisionsbereitschaft bedarf. Erzählungen passen sich auch in dieser Hinsicht an die Polarität menschlichsozialer Lebensumstände an: Sie kommen einerseits nicht ohne Wertungen aus und bleiben nie bei reinen Deskriptionen stehen,87 andererseits enthalten sie sich eines letzten Urteils dadurch, dass sie unterschiedlichen Figuren eine Stimme verleihen und unterschiedliche Perspektiven in eine kohärente Erzählung integrieren. Sie überlassen dieses letzte Urteil dem Leser (freilich nicht, ohne die Wahrnehmung des Lesers durch verschiedene narrative Instrumente in gewisse Bahnen zu lenken). Es sind alternative Erzählausgänge möglich, die „das Moment der Dissonanz offen halten“ 88, die Erzählung ist ein „variationsfreudiges Spiel mit (hypothetischen) Problemlösungsmöglichkeiten“ 89 , sie stellt ein „Laboratorium des ethischen Urteilens“ 90 dar, in dem Urteile, Entscheidungen und Verhaltensweisen erprobt werden können; der Leser hat stets die Befugnis, einer Meinung innerhalb der Erzählung zu widersprechen, ohne die Erzählung im Ganzen zu verwerfen. Die Erzählung kennt Geltungsansprüche, eindeutige Bewertungen und vermittelt sie auch, zeigt aber durch die Darstellung eines Neben- und Hintereinanders auch die Grenzen der Objektivität und Universalität solcher Urteile auf. Somit bietet eine Erzählung eine enorme Bandbreit an ethischem Potenzial: von der (zeitlichen und räumlichen) Distanz als Modus der Reflexion und Bewertung, 91 über ihre Situationssensibilität und Variabilität, ihre Beschaffenheit 85
Vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 13. Vgl. RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, 1996, 211. 87 Zur Überlagerung von Deskription und Präskription in Erzählungen vgl. BENNEMA, Understanding Character in the Gospel of John, 2013, 53; FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 180; RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, 1996, 201; DERS., Zeit und Erzählung I, 1988, 96; DERS., Zeit und Erzählung III, 1991, 400; und zur Erzählung als Urteilsakt vgl. DERS., Zeit und Erzählung II, 1989, 104. 88 KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 49. 89 A.a.O., 69. 90 RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, 1996, 173; vgl. auch a.a.O., 143. 91 Vgl. MÖLLERS, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 15. 86
2. Erzählung und Ethik
77
als ‚gesicherter‘ Proberaum für ethische Entscheidungen bis hin zur Fähigkeit der „Synthese des Heterogenen“92, d.h. der Integration unterschiedlicher Meinungen, Perspektiven und Urteile, ohne dabei in Widerspruch zu geraten. 2.4 Narrative Ethik des Johannesevangeliums als implizite Ethik Wie einleitend bemerkt stand die joh. Ethik lange Zeit unter dem Bann eines ganz bestimmten Ethikverständnisses. Wayne Meeks hat richtig beobachtet, „that the Fourth Gospel meets none of our expectations about the way ethics should be constructed.“93 Vielleicht ist es an der Zeit, die eigenen Erwartungen etwas zu modifizieren, um dem JohEv in diesem wichtigen Bereich eine Chance auf Rehabilitation zu gewähren. Dabei kann zunächst ein Überblick über vergangene Erwartungshaltungen und Widerstände hilfreich sein. Im Forschungseinblick ist (unter 2.1 Verabschiedung eines ethischen Verdikts) bereits kurz auf die Einwände gegen eine joh. Ethik hingewiesen worden. Sie umfassten zunächst in allgemein-formaler Hinsicht das Fehlen (1) konkreter materialethischer Themen, (2) rationaler Begründungsstrukturen, (3) gewohnter ethischer Sprachformen wie Paränesen oder Gnomen. Hinzu kamen die stärker inhaltlich-konkreten Vorbehalte, die (4) den Mangel an Universalisierbarkeit des JohEvs aufgrund der sektiererischen Beschränkung auf die joh. Gemeinde hervorheben,94 (5) dem joh. Jesus keine Menschlichkeit und damit keine mimetischen Qualitäten zugestehen 95 und (6) die göttliche Erwählung im JohEv als Einschränkung oder gar Aufhebung der menschlichen Entscheidungsfreiheit problematisieren. 96 Letzteres Argument schneidet die komplexe theologische Verhältnisbestimmung von freiem Willen und göttlicher Vorbestimmung, von Imperativ und Indikativ an, die hier nicht näher erörtert werden soll, letztlich aber nicht als Argument gegen eine Ethik speziell des JohEvs herhält.97 Das JohEv enthält neben den Passagen über die göttliche Erwählung (Indikativ) 98 durchaus auch Explikationen zum richtigen menschlichen Tun und ‒ ganz i.S. der Ausweitung des Gegenstands der Ethik auf einen umfassenden Handlungs- bzw. Verhaltensbegriffs ‒ Explikationen zum richtigen passiven menschlichen Erleiden
92
RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 7. MEEKS, The Ethics of the Fourth Gospel, 1996, 320. 94 Vgl. ZIMMERMANN, Narrative Ethik im Johannesevangelium, 2012, 135. 95 Vgl. MEEKS, The Ethics of the Fourth Gospel, 1996, 318. 96 Vgl. a.a.O., 319. 97 Zum Wechselverhältnis von Indikativ und Imperativ im JohEv vgl. WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 37–39. 98 Vgl. insbes. Joh 3,35; 6,44.70; 10,28f.; 13,18; 17,6.9; 18,9. 93
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III. Theorie
(Imperativ).99 Göttlicher Wille bzw. seine Vorherbestimmung und menschliches Tun schließen einander also nicht aus, 100 vielmehr wird im JohEv der grundsätzlich relationale Charakter menschlichen Handelns in Bezug auf den göttlichen Willen herausgestellt. 101 Die Spannung zwischen göttlicher Vorherbestimmung und menschlicher Entscheidungsfreiheit ist im Übrigen schon den ältesten biblischen Texten zu entnehmen102 und auch in anderen ntl. Schriften, insbesondere den paulinischen Briefen intensiv mitzuerleben, 103 ohne dass solchen Texten immer schon ein ethischer Anspruch aberkannt wurde und werden müsste. Auch Jesu fehlendes Menschsein im JohEv kann als Argument gegen eine Ethik des JohEvs nicht herreichen. Jesus erleidet sehr wohl einen „normal death“104. Das ist der Kern der Evangeliumsbotschaft, nämlich, dass er unseren Tod erleidet. Was ihn von den anderen Figuren unterscheidet, sind lediglich die Bedeutung und die soteriologischen Konsequenzen seines Todes. Die Souveränität des joh. Jesus, die seinem engen Verhältnis zum Vater erwächst, bedeutet weder, dass er keinerlei menschliche Züge trägt (vgl. u.a. Joh 11,33.35.38), noch, dass er nicht den menschlichen Grundbedingungen des Lebens ausgesetzt wäre (vgl. u.a. Joh 4,6). Allein schon um den Menschen lebendig begegnen zu können, kann er sich von deren Lebensumständen nicht völlig lossagen.105
99 Vgl. Joh 3,19–21; 13, 14f.34f.; 16,44; 15,2. Zur joh. Verwendung von ἔργα und ἐργάζεσθαι für das menschliche Handeln vgl. ferner a.a.O., 86–93, und zur grundsätzlichen Relevanz des menschlichen Handelns und Erleidens im Rahmen der joh. Ethik a.a.O., 110– 114. 100 Zum unauflöslichen Nebeneinander von Prädestination und menschlicher Entscheidungsfreiheit im JohEv vgl. ATTRIDGE, Divine Sovereignty and Human Responsibility in the Fourth Gospel, 2014, 183–199; DIETZFELBINGER, Das Evangelium nach Johannes, 2001, 214–217. 101 K. Weyer-Menkhoff betont die „Responsivität“ des menschlichen Handelns in Bezug auf den Willen Gottes (vgl. WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 257–260). Zum Verhältnis von Erwählung und Verantwortung im JohEv vgl. ferner SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, 51989, 306. 102 Man denke bspw. an das Nebeneinander von Aussagen über den ewigen Ratschluss Gottes und die ethischen Verhaltensmaßregelungen im Buch Jesaja (u.a. Jes 46,10). 103 Vgl. z.B. Röm 8,28–30. Zur engen Verzahnung von Indikativ und Imperativ bzw. Ethik und Christologie im Corpus Paulinum und zum Widerstand gegen eine einseitige Trennung beider Koordinaten des Gott–Mensch-Verhältnisses vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 30–34. Zur Überwindung der einseitigen Trennung von Indikativ und Imperativ in der ntl. Ethik und Exegese vgl. den Sammelband HORN/ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, 2012. 104 MEEKS, The Ethics of the Fourth Gospel, 1996, 318. 105 Zur ethischen und mimetischen Bedeutung Jesu Handelns vgl. WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 36.
2. Erzählung und Ethik
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Der Vorwurf der Konventikelethik kann dadurch entkräftet werden, dass das JohEv durchaus Verhaltensweisen darstellt, die die Grenzen der eigenen Gemeinschaft überschreiten (z.B. in Hinblick auf die Freundschaftsethik in Joh 11;106 das lebendige Wasser für die Samaritanerin in Joh 4,13f.; das Eintreten des Pharisäers Nikodemus für einen geregelten Prozess Jesu in Joh 7,50f.; das Gewaltverbot gegenüber den Feinden in Joh 18,10f. etc.). Ohnehin steht das, was viele Johannesforscher als ethischen Kern oder gar das einzige ethische Relikt des JohEvs bezeichnen – das Liebesgebot ‒, jenseits aller Begrenzungen. Wo manche Forscher von dem „Problem der Reichweite“ 107 des vom Nächsten auf den Mitjünger „reduzierten“ Liebesgebotes sprechen,108 steht lediglich eine vorläufige Begrenzung des Handlungsfeldes auf die Glaubensgemeinschaft, gleichzeitig bleibt das Wirkungsfeld der Liebe unbegrenzt. Wenn die Jünger also dazu aufgefordert werden, sich untereinander zu lieben, so hat diese Liebe Breitenwirkung, wie man im Übrigen auch an der Geschichte des frühen Christentums ablesen kann. 109 Es ist das Wesen insbesondere der göttlichen Liebe, inkludierend und nicht exkludierend zu wirken. Da die Jünger dazu aufgefordert werden, in der Liebe Jesu zu bleiben (Joh 15,9f.), haben sie Teil an der göttlichen Liebe die alles umfasst, Gutes wie Böses, Gerechte wie Sünder, Fremde wie Nachbarn. 110 Die drei übrigen formalen Einwände hängen stark mit der Toleranz der Suchmaske zusammen. Fasst man Ethik, wie oben definiert, als reflexive Durchdringung von Lebensweisen und ihrer leitenden Normen mit dem Ziel 106
Vgl. ZIMMERMANN, Narrative Ethik im Johannesevangelium, 2012, 168. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, 51989, 322. 108 Vgl. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testamentes, 1954, 233. In der späteren Auflage im HThKNT wird die vermeintliche Begrenzung des Liebesgebotes auf die Brüder von R. Schnackenburg mit der Situation der joh. Gemeinde in „Isolation und Abwehr rivalisierender Gruppen“ erklärt. Eine prinzipielle Abgrenzung gegenüber der Welt wird den joh. Schriften aber nicht unterstellt. „Die scharfe Verurteilung des Hasses (1 Joh 2,11; 3,15; 4,20) und die Überzeugung, daß nur Liebe mit Gott verbindet, würden unglaubhaft, wenn die Liebe an der Grenze der Brüder halt machte.“ ( DERS., Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, 1986, 219f.) 109 So findet sich in Tertullians Apologeticum folgendes Zitat der öffentlichen Meinung: „›Seht‹, sagen sie, ›wie sie sich gegenseitig lieben‹ – sie selbst nämlich hassen sich gegenseitig – ›und wie sie für einander zu sterben bereit ist‹ – sie selbst nämlich wären eher einander umzubringen bereit.“ (Tert apol 39, zitiert nach der Übersetzung von C. Becker: TERTULLIANUS, Apologeticum, 41992, 185). Vgl. dazu auch SÖDING, Nächstenliebe, 2015, 202: Die Bruderliebe im JohEv solle nicht nur „ein Schutzschild sein“ [...], sondern auch „ein Leuchtfeuer [sein], das in der Dunkelheit den strahlenden Glanz der Liebe Gottes verbreitet.“ Zur enormen Breitenwirkung des JohEvs, die einer Ausrichtung des Evangeliums auf eine „inner sect“ widerspricht, vgl. MOLONEY, Love in the Gospel of John, 2013, 210. 110 Vgl. BURRIDGE, Imitating Jesus, 2007, 341: „Despite the popular caricature of the introverted Johannine sect, in fact this gospel depicts a multi-ethnic, socially variegated and all-inclusive community as both the object and achievement of Jesus in his mission to bring the divine love into the world.“ 107
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ihrer Bewertung auf, so lässt sie sich nicht an konkreten (Sprach-)Formen, rationalen Begründungsstrukturen oder einzelnen materialethischen Themen festmachen. Das Wegfallen dieser herkömmlichen, phänotypischen Erkennungsmerkmale bringt die Rede von einer „impliziten Ethik“ 111 auf den Plan, die wir Zimmermanns Ethikstudien zum NT verdanken. Das Adjektiv implizit drückt für mich eine zweifache Beschaffenheit der Ethik im JohEv (und auch in vielen anderen biblischen Texten) aus: Zum einen ist die Ethik des JohEvs nicht sofort ‚von außen‘ sichtbar, sondern bedarf eines genaueren Hinsehens. Sie ist in andere Informationen des Textes verwoben und verwickelt (lat. implicare | verwickeln). Um der Ethik des JohEvs auf die Spur zu kommen, ist demnach auch auf andere als paränetische Sprachformen, ebenso wie auf andere als rationale Begründungsstrukturen zu achten. Zum anderen ist die dem Text inhärente joh. Ethik nicht ohne die Mühen der Schriftauslegung greifbar. Was in den Texten implizit geäußert wird, ist zwar schon in sich ethisch, kann aber erst im Kommunikationsvorgang aus dem Gesagten/Gelesenen/Gehörten entwirrt (lat. explicare | entwirren, entfalten, auslegen) werden. Konkrete ethische Themen werden in den Texten nicht theoretisch abgehandelt, sondern sie ergeben sich aus dem dargestellten, konkreten Verhalten der Figuren, insbesondere aus deren Konflikten, Missverständnissen und Lernprozessen, die auch in und durch ihre spezifische Darstellung ethische Signifikanz erzeugen. Ebenso ist ein ‚ethischer Überbau‘ 112 als kohärentes ethisches Denksystem im-
111 Der Begriff der „impliziten Ethik“ wurde von R. Zimmermann im Hinblick auf die ntl. Schriften geprägt. Die Mittelbarkeit der ntl. Ethik spitzt er auf vier Dimensionen zu: (1) Wir haben Texte als Gegenüber und keine konkreten Persönlichkeiten aus der Urgemeinde und deren Ethikverständnis. Das „kohärente Denksystem“ sei und bleibe auf die Kohärenz des vorliegenden Schriftstückes bezogen. (2) Die Form der zu findenden Ethik bleibe „fragmentarisch“, insofern keine systematische Handlungstheorie vorliege, sondern das ethische ‚Material‘ über das gesamte Evangelium verstreut bzw. in seine Narration hinein verwoben sei. (3) Die implizite Ethik basiere im Wesentlichen auf „mentalen Modellen“ des Lesers, die sich aus den Informationen des Textes und seinem sonstigen Weltwissen zusammensetzten. Ohne die konstruktive und kreative Leistung des Exegeten bleibe die implizite Ethik körperlos. (4) Da eine bewusste Anwendung ethischer Theorien durch die Autoren der ntl. Texte nicht nachzuweisen sei, könnten die Texte höchstens a posteriori nach Deontologien, Teleologien und sonstigen ethischen -logien untersucht werden. Die verschiedenen Ethiktheorien könnten dem Exegeten in ihrer Filter- und Markierungsfunktion von Nutzen sein, seien aber nicht ohne Weiteres der Methodik der Autoren anzudichten (vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 15–18). Für eine Zuspitzung des Phänomens der impliziten Ethik auf das JohEv vgl. u.a. Sammelband VAN DER WATT/ZIMMERMANN, Rethinking the Ethics of John, 2012; sowie DREWS, Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium, 2017; WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015. 112 Vgl. die Rede von einer „ethical superstructure“ in ZIMMERMANN, The "Implicit Ethics" of New Testament Writings, 2009, 403.
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mer ein dynamisches Produkt der aufmerksamen Auslegung, zwar in den Texten angelegt, weshalb sie als genuin ethische Texte bezeichnet werden können, aber dort nicht einfach formvollendet vorfindlich. So geht es bei der Analyse der impliziten Ethik eines Textes darum, „Bausteine und Bildungsmechanismen aufzuspüren, die diese moralische Signifikanz im vorliegenden Text erzeugen.“ 113 Am Beispiel des 1 Kor hat Zimmermann sein Organon zur Analyse einer impliziten Ethik erprobt. Das Organon umfasst folgende „Sehepunkte“: Die unterschiedlichen Sprachformen der Moral; Normen als Indikatoren moralischer Signifikanz; Konvention und Traditionsgeschichte einzelner Normen; die Hierarchisierung von Normen in einer Werteordnung; die Reflexionsformen der Ethik (argumentative, narrative, metaphorische, mimetische, doxoloxische Reflexion); Grundfragen zum ethischen Urteilsträger, gelebtes Ethos und der Geltungsbereich der Ethik. Da es sich beim JohEv im Gegensatz etwa zur ntl. Briefliteratur um einen durchgehend erzählenden Text handelt, legt sich einerseits eine Konzentration auf die narrativen Reflexionsformen der Ethik nahe. Andererseits verspricht die besondere Beobachtung unterschiedlicher (Zeit-)Normen, die in der und durch die Narration vorgestellt und bewertet werden, interessante Einsichten.114 Die Narration wird als vorherrschende ethische Reflexionsform des Evangeliums erkannt, wobei dadurch andere Reflexionsformen nicht ausgeschlossen sind. In den Dialogen oder Reden Jesu kann man durchaus auf (deonto/teleo-)logische Argumentationsmuster stoßen (teleologische Argumentationsmuster finden sich in den vielen ἵνα-Sätzen z.B. in Joh 5,14; deontologische Argumentation z.B. in Joh 7,24) und überall im Evangelium sind Metaphern (z.B. die Licht/Dunkelheitsmetapher Joh 3,19–21), bisweilen auch Doxologien (z.B. Joh 17,11) zuhanden, die innerhalb des größeren Rahmens der narrativen Ethik auf den unterschiedlichen Ebenen der Narration ethische Überzeugungsarbeit leisten.115 Narrativ ist die Ethik des JohEvs schon in ihrer innersten Struktur, weil sie, wie erwähnt, hauptsächlich in narrativen Begründungs- und Reflexionsformen vorkommt, auch wenn die Figuren sich ganz unterschiedlicher Argumentationsmuster bedienen (s.o.). In Entsprechung zu dieser in sich schon narrativen Ethik muss sich auch deren Analyse einer narratologischen Methodik bedienen,116 somit ist auch die ethische Auslegung narrativ oder besser narratologisch. Es wird hier also im primären und sekundären Sinne von einer narrativen Ethik gesprochen. 113
DERS., Die Logik der Liebe, 2016, 37. Die übrigen Bausteine von R. Zimmermanns Organon einer impliziten Ethik kommen in der hiesigen Studie methodisch zwar nicht in der gleichen Systematik vor, spielen aber, wie man später sehen wird, auf den unterschiedlichen Analyseebenen sehr wohl eine Rolle. 115 Zu den unterschiedlichen ethischen Reflexionsform und deren Überkreuzungen vgl. a.a.O., 79–96. 116 Vgl. DERS., Narratio als Begründungsform der Ethik, 2016, 104. 114
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III. Theorie
Man kann einer narrativen Ethik von mehreren Seiten zu Leibe rücken: Ist man im Besonderen am Verhalten der Handlungsfiguren interessiert, so steht die Ethik in der Narration im Vordergrund. Stehen die spezifische Darstellungsweise der Handlungen und ihre Bewertungsmechanismen im Vordergrund, so geht es wohl eher um eine Ethik an oder durch die Narration (die Ethik des Autors bzw. des Textes und seiner Darstellungsweise). Ist schließlich die narrative Reflexionsbewegung des Lesers, der sich selbst in die Geschichten verstrickt, im Fokus des Interesses, so handelt es sich um eine Ethik entlang der Narration, um die ethische Suchbewegung des Lesers. Diese Unterscheidung ist auch trefflich in Analogie zu den drei Ebenen der Ricœurʼschen Mimesis zu bringen: der Präfiguration (Ebene des Geschehens), Konfiguration (Ebene der Darstellung des Geschehen) und Refiguration (Ebene der Wirkung der Darstellung des Geschehens).117 Gleichwohl stehen alle drei Dimensionen in enger Verbindung zueinander und sind in vielen Fällen nur schwer zu entflechten. So integrieren die im forschungsgeschichtlichen Teil vorgestellten Studien zur narrativen Ethik des JohEvs auch jeweils alle drei Dimensionen, lassen aber in der Regel einen Schwerpunkt auf einen der drei Foci erkennen.118 So zeigen sich die frühen Arbeiten von Michael Labahn, Udo Schnelle, Jan van der Watt und Richard Burridge besonders an einer Nachzeichnung des Verhaltens der Figuren und dessen mimetischer und identifikatorischer Qualität interessiert,119 während Karl Weyer-Menkhoff Neugierde für das „sprachliche [Herv. d. Verf.] Feld des Handelns“ entwickelt und dabei verschiedene Begriffe und Wendungen systematisch auf ihren ethischen Sinnhorizont abklopft.120 In ähnlicher Weise untersucht Alexander Drews das Wortfeld Ergon im JohEv.121 Cornelis Bennema ist am joh. Konzept der Mimesis interessiert,
117 Bei dieser Unterscheidung muss gleichwohl bedacht werden, dass auch das Geschehen selbst uns in Erzählungen immer schon konfiguriert vorliegt, die Ethik in der Narration sich also nicht auf die Ebene der Präfiguration im engeren Sinne beziehen kann und mit der Ethik durch die Narration eng verbunden und mitunter nicht immer klar davon zu distinguieren ist. 118 Vgl. a.a.O., 102–104. Eine etwas ausführlichere Vorstellung der Ansätze und Konzepte einer narrativen Ethik des JohEvs findet sich im forschungsgeschichtlichen Teil II unter 2.1 Verabschiedung eines ethischen Verdikts. 119 Vgl. BURRIDGE, Imitating Jesus, 2007, 285–346; LABAHN, Der Weg des Namenlosen, 2003, 63–80; SCHNELLE, Johanneische Ethik, 2006, 322–325; VAN DER WATT, Ethics and Ethos in the Gospel according to John, 2006, 147–176. 120 Freilich wird damit keinesfalls die grundsätzliche mimetische Qualität des Handelns Jesu im JohEv geleugnet vgl. WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 36–242. 121 Vgl. DREWS, Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium, 2017.
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weshalb auch seine Ethik primär als Ethik durch die Narration verstanden werden kann. 122 Lindsey Trozzo steht im Zwischenfeld zwischen einer Untersuchung der (rhetorisch-) ethischen Darstellungsweise durch die Narration und deren besonderer ‚moralischer‘ Wirkung auf den Leser entlang der Narration. Die Figuren und deren konkretes Handeln treten bei ihrer Analyse in den Hintergrund.123 Auch Wagener rückt in seiner ethischen Figurenanalyse die Kommunikation des Textes bzw. dessen Erzählweise mit dem Leser in den Mittelpunkt,124 um diese zu analysieren er eine schier unglaubliche Bandbreit von narratologischen Methoden entwickelt. Wageners Arbeit verfügt m.E. allerdings über die größte Integrationskraft, was die genannten drei Dimensionen einer narrativen Ethik angeht: Er stellt die Figuren als Handlungsmodelle klar in den Vordergrund, entwickelt Werkzeuge zur Dechiffrierung von narrativen Darstellungsmethoden und deren Wirkung auf den Leser. Dennoch kann man bei genauem Hinsehen m.E. erkennen, dass bei seiner Methodik der Kommunikationsvorgang von Text, Erzähler und Rezipient und damit insbesondere die Frage nach der Wirkung der Darstellungsweise auf den Leser im Vordergrund steht, „sodass bei den verschiedenen Werkzeugen stets die Genese mentaler Modelle nachvollzogen und begründet wird“125. Das ist besonders auch bei den Analysewerkzeugen für die joh. Zeit erkennbar: Wagener konzentriert sich dabei erstens auf das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, 126 zweitens geben Zeitangaben dem Leser Anlass für assoziative Rückschlüsse auf die „Atmosphäre“ der Szene (etwa der frühmorgendlichen Frische in Joh 8,2) 127 , und schließlich haben sie metaphorische Signifikanz (bspw. die Nacht in Joh 3,2).128 Die Möglichkeit ethisch relevanter Zeitkonflikte zwischen den Figuren wird nicht diskutiert. Wohl aber werden im Rahmen des Soziogramms „Zeitgeistverhältnisse (Tradition – Offenheit für Veränderung/Progressivität)“129 erwähnt. Am Ende seines methodologischen Zeitkapitels geht Wagener ferner darauf ein, dass die joh. Zeitmodulationen einen Eindruck davon vermitteln, „wie die Figuren ihre Zeit verwenden, wie sie Zeitpunkte abpassen, um aktiv zu werden, und welche Handlungen sie häufiger oder über größere Zeiträume 122
Vgl. BENNEMA, Mimesis in the Johannine Literature, 2017. Vgl. TROZZO, Exploring Johannine Ethics, 2017. 124 In F. Wageners Dissertation ist das „Ziel dieser Arbeit [...] das Aufweisen von narrativer Ethik im (oder anhand des) Joh.“ (WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 43) Für ihn steht das „Wechselspiel zwischen dem Leser, der die Erzählung ‚zum Leben erweckt‘ und ausformt, und der Erzählung, die auf den Leser einwirkt, ihn stimuliert und leitet“ (a.a.O., 44) im Zentrum der ethischen Analyse von Erzählungen. 125 A.a.O., 62. 126 Vgl. a.a.O., 114–117. 127 Vgl. a.a.O., 117. 128 Vgl. a.a.O., 118. 129 A.a.O., 128. 123
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hinweg ausführen. So lassen sich Rückschlüsse auf Pflichten und/oder Prioritäten ziehen.“130 Darin steckt bereits ein sanfter Hinweis auf die ethische Bedeutung der Zeitstrukturen des JohEvs, ohne dass dieser Hinweis schon besondere exegetische Berücksichtigung fände. Ziel von Wageners Analyse ist es, verschiedene Lesarten und Verständnishorizonte vorzustellen, die keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit haben, des Rezipienten Idee vom Text aber bereichern können. 131 Die entdeckten ethischen Aspekte werden von Wagener nicht grundsätzlich als dem Evangelium immanent, sondern meist als „ethische Impulse“ oder „ethisches Potential“ 132 des Textes aufgefasst. Wageners Ansatz ist besonders zugute zu halten, dass sowohl die Ebene des konkreten erzählten Geschehens, des Was des Textes, als auch das Wie und Wozu zur Sprache gebracht werden. Eine klare Trennung der Ebenen im Rahmen des methodischen Zugriffs würde die Analyse m.E. noch luzider werden lassen. 2.5 Theoretische Neuausrichtung: Der Ausgang von Figureninteraktionen So sehr jede der oben genannten Schwerpunktsetzungen (auf das Figurenverhalten, die ethisch-reflexive Darstellungsweise oder die ethisch-reflexive Leserbewegung) ihre Berechtigung haben und so eng alle diese Dimensionen miteinander verwoben sein mögen, so entscheidend ist es insbesondere für den hiesigen zeitsensiblen Ansatz, dass das Verhalten der Figuren die Basis für jegliche dem JohEv inhärente Ethik bildet. Nun muss man der hermeneutischen Redlichkeit willen zunächst zugeben, dass die Vorbehalte gegenüber dem positivistischen Übermut, der zum historischen Geschehen hinter dem Text vordringen möchte, berechtigt sind. Aus einer hoch-theologischen und interpretatorisch eingefärbten Erzählung wie dem JohEv Rückschlüsse auf das historische Leben Jesu ziehen zu wollen, ursprüngliche Jesus-Worte oder chronologische Angaben von nachträglichen Überformungen unterscheiden zu wollen, inszenierte Interaktionen in ihrer historischen Faktizität zu evaluieren, bleibt ein gefährlich spekulatives Vorhaben. Allein, diese Vorbehalte machen den Blick auf das Geschehen im Text nicht grundsätzlich obsolet. Der Gefahr eines positivistischen Rückschlusses auf die Geschichte entgehen zu wollen, muss keinen resignierten Rückzug auf die Analyse der Darstellungsweise und ihrer Wirkung auf den Leser bedeuten. Die synchronen Ansätze mit ihrem Fokus auf das, was uns vorliegt, nämlich den Text − so gewinnbringend sie sein mögen − sollten nicht allein auf die Darstellungsmethoden des Textes und seine Wirkungen auf den Leser beschränkt bleiben, sondern sich auch und besonders mit dem Dargestellten selbst auseinan-
130
A.a.O., 119. Vgl. a.a.O., 26–29. 132 A.a.O., 559. 131
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dersetzen. Die je und je eigene Beobachtung und Beschreibung des Figurenverhaltens steht für mich deshalb am Anfang aller Analyseschritte, noch bevor die Ethik ihrer Darstellung oder mögliche ethische Leserbewegung analysiert werden. Mit der Terminologie aus Eders Figurentheorie gesprochen, sollten die Figuren nicht zuerst als Symptom einer bestimmten Abfassungssituation, als Symbol für eine besondere Aussageintention oder als Artefakt i.S. ihrer poetischen Ausgestaltung wahrgenommen werden, sondern als „fiktive Wesen“, die gleich wie reale Personen in ihrem Verhalten beobachtet und bewertet werden können. 133 Meeks hatte einen doppelten ethischen Mangel des JohEvs angezeigt: Es trage weder den Charakter einer ethisch-theoretischen Abhandlung, noch spiegele es das moralische Verhalten einer realen Person, wie etwa des Autors wider.134 In beidem ist ihm zuzustimmen, auffällig aber ist das völlige Fehlen des Blickes auf das ‚moralische‘ Betragen der Figuren. Um diesen initialen blinden Fleck zu vermeiden, wird in Anschluss an van der Watt das Verhalten der Akteure („behavior of (A)actors“) der Narration als „‘port of entry’ into the Gospel material“ 135 verstanden. Da diese Ebene in vielen explizit narratologisch arbeitenden Studien gern übersprungen wird, weil die Analyse der Darstellungsmethoden und deren Leserwirkung (also der Konfigurationsleistung und der Refigurationspotenziale) dazu tendieren, das Was der Erzählung (also das präfigurierte Material) zu überlagern, soll Letzterem eine besondere Aufmerksamkeit zukommen. Der blinde Fleck kommt natürlich nicht von ungefähr. Auf das präfigurierte Material einer Narration in Reinform zurückzugreifen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es liegt uns schließlich nur konfiguriert vor. Jedoch ist und bleibt es ein methodischer Unterschied, ob man sich anfangs auf das dargestellte Verhalten oder auf die Darstellung des Verhaltens konzentriert. Nehmen wir das Beispiel der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44): Es ist eine Sache, die Verzögerungstechniken der Narration wahrzunehmen (z.B. dass zwischen Problembeschreibung in Joh 11,2f. und -lösung in Joh 11,43f. fünf Interaktionen zwischen Jesus und den Jüngern, der Martha, der Maria, den Juden und dem Vater eingeflochten werden, weshalb die Erzählzeit dem Leser deutlich gedehnt erscheint). Eine andere Sache ist es, Jesu Verhalten selbst als bewusste und kalkulierte Verzögerung wahrzunehmen. Möglicherweise möchte der dargestellte joh. Jesus nicht nur die Leser, sondern ebenso seine Mitfiguren über einen Umweg zur tieferen Glaubenserkenntnis führen. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung, jedoch mag es rentabel sein, sich
133
Vgl. EDER, Die Figur im Film, 22014, 140–142.710–728. Vgl. MEEKS, The Ethics of the Fourth Gospel, 1996, 317. 135 VAN DER WATT, Ethics and Ethos in the Gospel according to John, 2006, 151. 134
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eine sukzessive Arbeitsschrittfolge vorzunehmen, damit das tatsächliche Verhalten der Figuren nicht allzu schnell im Darstellungsverfahren der Narration untergeht. Gleichzeitig sollten ‒ anders als in den ausschließlich an der Vorbildfunktion der Figuren orientierten Ansätzen ‒ zwei weitere Schritte folgen: Reflektiert man die eigene Wahrnehmung des Verhaltens der Figuren nicht auch zu gegebenem Zeitpunkt vor dem Hintergrund der Darstellungsmittel, kann es zu einer naiven Verehrung oder Ablehnung vermeintlich ‚realer‘ Personen kommen. Die Figuren der Narration bleiben, so sehr sie eine vollständige (fiktive) Welt um sich herum aufbauen und so sehr sie von einer realen, präfigurierten Welt ausgehen mögen, Typen der Erzählung. Auch sie befinden sich zwischen Konkretion (individuellen Modellen) und Abstraktion (normativen Mustern). Im zweiten Schritt muss also genau darauf geachtet werden, wie das Geschehen oder Figurenverhalten möglicherweise anders hätte dargestellt werden können und was das über die spezielle Intention und Wirkung des Textes aussagen kann. In der Darstellungsweise steckt immer auch eine Bewertung des Dargestellten; somit kann durch eine heuristische Trennung von Darstellung und Dargestelltem ein Stück weit die ethische Bewegung des Textes beobachtet werden, ohne ihr immer schon intuitiv zu folgen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung haben dann wiederum Relevanz für den letzten Schritt: Mit welchen Wirkungen muss der Leser rechnen und welche Aussagen des Textes eignen sich eigentlich für eine Refiguration, einen Transport in die reale Welt des Lesers? Dieser Blick behält nicht nur die Möglichkeit vor, sich von bestimmten Figuren und deren Verhalten zu distanzieren, sondern auch von bestimmten Bewertungen des Figurenverhaltens durch den Text.
3. Ethik und Zeit 3. Ethik und Zeit „Handlungen sind Zeitfiguren. Das ist offensichtlich und trotzdem rätselhaft.“136
GEORG P FLEIDERER UND CHRISTOPH REHMANN-SUTTER
3.1 Theoretisches Neuland Die Theorielage zum Verhältnis von Zeit und Ethik ist, gelinde gesagt, noch ausbaufähig. Häufig lässt sich aus Zeittheorien eine implizite Ethik und aus Ethiktheorien eine implizite Zeitvorstellung entflechten, eine systematische
136
Rehmann-Sutter/Pfleiderer, Einleitung, 2006, 7.
3. Ethik und Zeit
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Verhältnisbestimmung steht aber noch in den Kinderschuhen.137 Einen ersten Ansatz zur Systematisierung finden wir in einem Ende 2017 erschienenen Aufsatz von Reinhold Schmücker über die Relevanz der Zeit für unterschiedliche Formen der Gerechtigkeit, in dem er zunächst vier Hinsichten der normativen Bedeutsamkeit von Zeit unterscheidet: Von Relevanz für die Normativität sind (1) die grundsätzliche „Endlichkeit menschlichen Lebens und interpersonaler Beziehungen und […] deren Wandelbarkeit im Zeitverlauf“138, (2) die zeitliche Dauer (insbesondere in Bezug auf verantwortliche Identitäten), (3) die zeitliche Distanz (insbesondere im Bereich der Rechtsfristen), sowie (4) die „Gesichtspunkte, unter denen der Zeitverlauf wahrgenommen wird – beispielsweise Rhythmik, Periodizität, Zyklizität, Gerichtetheit, Beschleunigung“ 139 . Diese erste Verhältnisbestimmung ist sehr hilfreich für unsere Betrachtung von Zeit und Ethik, wenn damit m.E. auch noch nicht alle relevanten Dimensionen der Zeit für die Ethik abgedeckt werden, so sie stark auf den Begriff der Normativität bzw. der Gerechtigkeit begrenzt ist. Noch grundsätzlicher wollen wir in dieser Studie den Zusammenhang von Zeit und Ethik hinsichtlich der Relevanz der Zeit für menschliche Lebensweisen, d.h. für menschliche Handlungen, Interaktionen und Verhaltensweisen erfassen.
137 Erste Schritte in Richtung einer Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik mit jeweils spezifischen Schwerpunkten finden sich in Theologie, Philosophie, Soziologie und Psychologie u.a. bei GRAF ET AL., Zeitschrift für Praktische Philosophie. Schwerpunkt: Altern, Ethik und menschliche Zeitlichkeit, 1/2014 (bezogen auf das Thema des Alterns); HAUERWAS, Time and History in Theological Ethics, 1985, 6–21 (bezogen auf das Verhältnis von [Jesus-]Geschichte und Ethik); HORNTRICH, Gut in der Zeit, 2003 (bezogen auf das Selbstwerden vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zeitsysteme); HÖHN, Die Zeit der Gesellschaft – Sozialethik als Zeitdiagnose, 2002, 260–287 (bezogen auf die richtige Balance der drei Zeitmodi als Müssen [Vergangenheit], Sollen [Gegenwart] und Können [Zukunft]); MANOUSSAKIS, The Ethics of Time, 2017 (bezogen auf den temporalen Horizont einer Heilsoder Bekehrungsgeschichte als zeitliche Bewegung zum Guten); MCGRATH/KELLY, Time and Human Interaction, 1986 (bezogen auf unterschiedliche soziale Zeitsysteme und psychologische Synchronisierungsmechanismen); MEESTERS, Zur Bedeutung des Faktors Zeit im Rahmen einer theologischen Ethik, 1981 (bezogen auf eine theologische Ethik im christlichen Zeithorizont zwischen eschatologischer Zusage und eschatologischem Vorbehalt); MORGENROTH, Zeit und Handeln, 2008 (bezogen auf psychologische Zeitbewältigung); KNELL, Die Eroberung der Zeit, 2015 (bezogen auf das Thema der Langlebigkeit); LOHMANN, Moral und Zeit, 2002, 181–198 (bezogen auf die generelle Geschichtlichkeit von Moral und die Bedeutung der Vergegenwärtigung in der modernen Moral); PFLEIDERER/REHMANN-SUTTER , Zeithorizonte des Ethischen, 2006 (bezogen auf die Fundamentalund Bioethik); SCHÖPS, Zeit und Gesellschaft, 1980 (bezogen auf das Verhältnis von Zeit und sozialer Ordnung); SCHEFCZYK, Über vernünftige und unvernünftige Reue, 2017, 875– 908 (bezogen auf die Relevanz der Reue für vernünftiges Handeln). 138 SCHMÜCKER, Die zeitliche Dimension der Gerechtigkeit und ihre Bedeutung für die Ethik, 2017, 912. 139 Ebd.
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III. Theorie
Um sich über das Verhältnis von Zeit und Ethik noch differenzierter klar werden zu können, ist zunächst eine wesentlich grundsätzlichere Frage nach dem Phänomen von Zeit vonnöten, die das erste theoretische Kapitel zu Zeit und Erzählung noch nicht zu stellen gewagt hat. Während in jenem Kapitel die Zeit in ihrer Medialität im Vordergrund stand, soll das hiesige Kapitel zunächst unterschiedliche Annäherungsversuche an das Wesen und die grundsätzliche Beschaffenheit der Zeit vorstellen, um sie schließlich (ab Kap. 3.4 Alltagsbeobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Ethik) mit der Ethik ins Verhältnis zu setzen. 3.2 Philosophische Zeitkonzepte 3.2.1 Die Vielfalt der Zeitphilosophien Facilius inter philosophos quam inter horologia conveniet | Leichter (eher) werden die Philosophen übereinstimmen als die Uhren, stellt Seneca in seiner Satire Verkürbissung fest (Apocol II, 2–3).140 Zu einer Zeit, da der Zeiger der Uhr noch nicht ebenso gleichmäßig wie gleichgültig fort und fort tickte, mag Senecas Gegenüberstellung noch zugetroffen haben. Die absolute Synchronisation der Uhrenzeit ist eine Errungenschaft der Moderne, von der die ersten antiken Exemplare von Sonnen-, Wasser- und Sanduhren noch weit entfernt waren. 141 Der spottende Vergleich Senecas macht aber v.a. eines deutlich: 140
Zitiert nach der Ausgabe von P. T. Eden: SENECA, Apocolocyntosis, 1984, 30. Der Ursprung der Uhrenzeit als Zwölf-Stunden-Einteilung des Tages liegt wohl im alten Ägypten oder in Mesopotamien (bei den Sumerern). Nach dieser Zeiteinteilung reichte der Tag vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, sodass die zwölf Stunden des Tages, die als Temporalstunden bezeichnet werden, je nach Jahreszeit unterschiedlich lang waren (zur ägyptischen Herkunftsbestimmung vgl. ASSMANN, Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, 1983, 194; WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 39; VOGTHERR, Zeitrechnung, 2001, 25; zur mesopotamischen Herkunftsbestimmung: VAN DOHRNROSSUM, Die Geschichte der Stunde, 1992, 25; HOERNER, Zeit und Rhythmus, 1978, 59). Bei den Griechen sind die Verwendung von Tageszwölfteln und der Gebrauch des Begriffs hora zur Bezeichnung einer Zeitstunde (statt einer Jahreszeit) erst seit der Zeit Alexanders des Großen nachgewiesen; in Rom wurde 164 v. Chr. die erste funktionierende Sonnenuhr mit zwölf Einheiten aufgestellt (vgl. VAN DOHRN-ROSSUM, Die Geschichte der Stunde, 1992, 25; HEINZE, Art. Horai, 2006). Die Umstellung in sog. Äquinoktialstunden von gleicher Länge (anhand der beiden Tagundnachtgleichen des Jahres berechnet) auch außerhalb der Astrologie im Alltagsgebrauch vollzog sich wohl frühestens im Mittelalter (vgl. VAN DOHRN-ROSSUM, Die Geschichte der Stunde, 1992, 93; HOERNER, Zeit und Rhythmus, 1978, 58; WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 135). Erst dann wurden allmählich auch mechanische, gleichmäßig ablaufende Uhren entwickelt (vgl. a.a.O., 157–168), die bis zu ihrer Verbreitung in alle Bevölkerungsschichten hinein wohl noch die Mitte des 17. Jh. abwarten mussten und dann in Verbindung mit I. Newtons Vorstellung einer mathematischen, absoluten, linear ablaufenden Zeit (1687) das Zeitdenken und -empfinden der Menschen nachhaltig prägten (vgl. a.a.O., 175–201). Im 19. Jh. wurde schließlich erstmals eine einheitliche Eisenbahnzeit eingeführt, die auf der sog. Greenwicher Zeit (GMT) beruhte und 141
3. Ethik und Zeit
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Beide Komparate sind schon für sich genommen derart polyphon und polymorph, dass sie sich nicht leicht auf eine Stimme und eine Erscheinung bringen lassen: sowohl die Philosophien als auch die Zeiten ‒ und in logischer Folge eben auch die Zeitphilosophien. „Zu definieren, Zeit sei etwas, was man mit einer Uhr mißt, hört sich solide an und ist höchst pragmatisch in bezug auf Vermeidung von Streitigkeiten“142, schreibt Blumenberg und deutet leise darauf hin, dass man es sich mit einer solchen Definition zu einfach macht. Zeit ist offensichtlich mehr als das bloße Ticken der Uhr. Menschen machen individuelle Erfahrungen mit Zeit und erleben die Dauer gleicher Zeiträume als unterschiedlich lang oder kurz. In Anschluss an Ricœur ist oben bereits festgehalten worden, dass es keine reine und damit euch keine einheitliche Phänomenologie der Zeit geben kann. 143 Vielmehr scheint der einzig vereinende Faktor der Zeit bisweilen ihr Begriff zu sein. 144 Jedoch passt hier die Form nicht recht zum Inhalt: Zeit wird in einem Begriff festgehalten, obwohl sie dem Vernehmen nach stets weiterläuft oder -fließt. Am ehesten mag Zeit somit als „absolute Metapher“ ‚begriffen‘ werden, welche eben nicht durch begriffliche Festschreibungen und Rationalisierungen Erkenntnisse generiert, sondern durch kontinuierliche „Übertragungen der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“ 145. Eine absolute Metapher lässt sich nicht ohne Weiteres in die Logizität zurückholen und auf den Begriff bringen.146 Wenn wir von Zeit reden wollen, so ist dies nur in beweglichen Metaphern möglich. 147 Dementsprechend ist der Versuch, das Unterkapitel zur Zeitphilosophie zu systematisieren, mit mancherlei Schwierigkeit verbunden; denn Zeitphänomene, ja sogar theoretische Zeitkonzepte lassen sich nur mit größter Mühe kategorisieren und in ein übersichtliches Schema bringen. Die Dynamik der Zeit schlägt bis in deren Theorie durch.
die Uhren an unterschiedlichen Orten synchronisieren sollte (vgl. a.a.O., 246). Etwas später, bei der internationalen Meridian-Konferenz 1884, galt die Greenwichzeit dann als Basis für die Berechnung der unterschiedlichen internationalen Zeitzonen (vgl. a.a.O., 252). Zudem verbreitete sich zu dieser Zeit die Taschenuhr, wodurch die standardisierte Zeitmessung ihre absolute Popularisierung und Funktionalisierung fand (vgl. a.a.O., 249–251). 142 BLUMENBERG, Schiffbruch, 1997, 92. 143 Mehr zur Unmöglichkeit einer reinen Phänomenologie der Zeit unter 1.1 Narrative Versprachlichung von Zeiterfahrungen (Hermeneutik). 144 Vgl. K. Gloys Beobachtung, „daß in den vielfältigen Zeitgestalten, -strukturen, -momenten, -modalitäten doch stets von der Zeit die Rede ist.“ (GLOY, Art. Zeit I. Philosophisch, 2004, 507) 145 BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1998, 12. 146 Zum Konzept der absoluten Metapher vgl. a.a.O., 7–13. 147 Zur Metaphernpflichtigkeit der Zeitphilosophie vgl. KOSELLECK, Zeitschichten, 2000, 9; RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 38.
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Was aber nahezu allen Zeitphilosophien gemein ist, ist die grundsätzliche Unterscheidung zwischen einer subjektiven bzw. phänomenologischen und einer objektiven bzw. objektivierten Zeit.148 So verfolgt Husserl mit seiner Zeitphilosophie bspw. das Ziel der Ausschaltung einer objektiven Zeit zugunsten einer Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins,149 Henri Bergson spricht von der abstrakten temps (Zeit) und der erlebten durée (Dauer),150 Blumenberg problematisiert die Diskrepanz zwischen subjektiver Lebenszeit und universeller Weltzeit,151 Ricœur kennt eine kosmologische und eine phänomenologische Zeit,152 Reinhart Koselleck möchte historische von naturbedingten Zeiten unterscheiden, 153 Aleida Assmann stellt der physikalischen Zeit eine kulturelle gegenüber154 usw. 155 Für die Darstellung der beiden Zeitdimensionen sollen exemplarisch einige ‚Klassiker‘ der Zeitphilosophie aus Antike und Neuzeit befragt werden, um im Anschluss über Möglichkeiten der Vermittlung beider nachzudenken. 3.2.2 Objektive oder objektivierte Zeitkonzepte (Aristoteles und Newton) Was, so die erste Frage dieses Kapitels, soll man sich unter der objektiven Zeit vorstellen? Aristoteles und Isaac Newton erweisen sich hierbei als die eloquentesten Gesprächspartner. Während Platon (ca. 428–347 v. Chr.) Zeit noch als ein nach Zahlen voranschreitendes irdisches Abbild (εἰκών) der unbegrenzt dauernden Ewigkeit (αἰών) bestimmt,156 versucht Aristoteles (384–322 v. Chr.), Zeit ohne 148 Ein Beispiel für eine objektive, vorgegebene Zeitrechnung wäre der Tag/Nacht-Rhythmus, ein Beispiel für eine (von Menschen) objektivierte, konstruierte Zeitrechnung wäre die Uhrenzeit. 149 Vgl. HUSSERL, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), 1966, 4–8. 150 Vgl. BERGSON, Denken und schöpferisches Werden, 1948, 23–211. 151 Vgl. BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, 1986, 28. 152 Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung III, 1991, 157. 153 Vgl. KOSELLECK, Zeitschichten, 2000, 10. 154 Vgl. ASSMANN, Ist die Zeit aus den Fugen?, 2013, 291. 155 Was unter subjektiv und objektiv verstanden wird, kann, wie man sieht, im Einzelfall durchaus variieren. In Zusammenschau all jener Differenzierungen spannt sich eine eng vernetzte Matrix von Erlebnis und Metrik, Qualität und Quantität, Künstlichkeit und Natürlichkeit, Kultur und Physik, Lebensdauer und Weltdauer um das Phänomen der Zeit. Die Kategorien können Schnittpunkte auf beiden Seiten der Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität haben. Sie sind an keiner klaren, linearen Grenzlinie anordnenbar. So kann die objektive Zeitrechnung sowohl kultureller Natur (Uhrenzeit), als auch natürlich bestimmt sein (Tag/Nacht-Rhythmus); ebenso kann die subjektive Zeit sowohl qualitativ (Erlebniszeit) als auch quantitativ (Lebenszeit) bestimmt sein. Dennoch kann und sollte an dieser heuristischen Unterteilung festgehalten werden, zum einen weil nur so gemeinsam über Zeit diskutiert werden kann, zum anderen weil unsere Zeitvorstellung in ihrem innersten Kern ambivalent ist, also zwischen zwei Polen oszilliert und stets in Bewegung ist. 156 Vgl. MESCH, Reflektierte Gegenwart, 2003, 19.
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offenkundigen Einbezug der Idee der Ewigkeit als autonome Zahl bzw. Maß der Bewegung zu rekonstruieren.157 Die Zeit selbst bewegt sich für Aristoteles nicht, sondern ist ein eigentlich gleichbleibendes, quantitativ bestimmtes Maß, das an Bewegungen angelegt werden kann. In Aristoteles’ Physikvorlesungen heißt es: „Und sie (die Zeit) ist überall am gleichen Zeitpunkt dieselbe; in ihrem ›davor‹ und ›danach‹ betrachtet ist sie jedoch nicht dieselbe“ (phys IV, 12)158. Somit ist Zeit zwar „nicht gleich Bewegung, andererseits aber auch nicht ohne Bewegung“ (phys IV, 11a)159, weil ohne Veränderung keine Zeit wahrnehmbar ist. Zeit ist für Aristoteles eine Art Akzidenz der Bewegung, die sie nach ihrem Davor und Danach bemisst. Weil Zeit Bewegung misst, ist sie für Aristoteles „Zahl von Bewegung“ (phys IV, 12b)160. Ein ähnlich absolutes Verständnis von Zeit, wenn auch wesentlich platonisch beeinflusst, beanspruchte Newton (1642–1727). Zeit galt ihm in seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) als unabhängige, mathematische Variable: „Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung auf irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem“161. Diese Zeitvorstellung gründet auf einer Analogie zwischen der Zeit und einer geometrischen Geraden,162 weshalb mit Newton zumeist eine lineare Zeitvorstellung assoziiert wird. Die Augenblicke, die wie Punkte auf einer Geraden aufeinanderfolgen, verlaufen mit gleichbleibender Geschwindigkeit, unabhängig von den Ereignissen und Vorgängen, die sie markieren.163 157
Vgl. a.a.O., 20. Zitiert nach der Übersetzung von G. Zekl: ARISTOTELES, Physik, 109. 159 A.a.O., 104. 160 A.a.O., 111. 161 Zitiert nach der Übersetzung von E. Dellian: NEWTON, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 1988, 44. 162 Vgl. WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 196. 163 Vgl. a.a.O., 197. Gegen I. Newtons mathematisches Zeitverständnis hat sich sein Zeitgenosse G. W. Leibniz (1646–1716) gewehrt. Er möchte Zeit von Ereignissen ableiten und nicht umgekehrt. Zeit besteht für ihn aus der Aufeinanderfolge von Ereignissen. Somit sei Zeit v.a. ein relatives Ordnungsprinzip für Substanzen und Monaden (vgl. MESCH, Reflektierte Gegenwart, 2003, 39; WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 198). I. Kant (1723– 1802) unterscheidet sich zwar von G. W. Leibniz, insofern er der Zeit keine absolute, sondern nur eine empirische Realität beimisst, stimmt aber mit ihm darüber ein, dass der Zeit eine ordnende Funktion zukommt. Für I. Kant ist Zeit eine a priori im Geist existierende Anschauungsform (vgl. KANT, Kritik der reinen Vernunft [1787], 72011, 82), die unwandelbar und objektiv ist und die Wahrnehmung des Menschen reguliert (vgl. a.a.O., 191). Für die Definition von Zeit als Ordnungsprinzip spricht zumindest ihre etymologische Herkunft vom ahd. Zīt | abteilen, aufteilen, zumessen (vgl. MOHN, Art. Zeit/Zeitvorstellungen, 2005, 1800). G. W. Leibniz und I. Kant befinden sich in einem Zwischenfeld von subjektiven und objektiven Zeitkonzepten. Zeit ist für sie zwar nicht absolut, sondern relativ in Bezug auf äußere Ereignisse oder Wahrnehmungsgegenstände, sie hat aber als Ordnungsprinzip dennoch überindividuelle Geltung und ist damit zu einem bestimmten Grade objektivierbar. Die 158
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III. Theorie
Nun gibt es bei diesen absoluten Zeitkonzepten ein wesentliches Problem, nämlich das der Verhältnisbestimmung von Bewegung und Zeit. Zeit kann nicht selbst Bewegung sein und damit ein Prozess der Zeit, womit die Vorstellung ihrer Fortbewegung als Fließen eigentlich ausgeschlossen wird.164 Denn wenn sie sich selbst bewegt, könnte sie Bewegung nicht unabhängig messen. Sie wäre wie die Ereignisse selbst von unterschiedlicher Dauer 165 und liefe darüber hinaus Gefahr, verräumlicht zu werden. 166 Andererseits legt uns unser alltäglicher Sprachgebrauch eine andere Fährte. So ist immer wieder vom Fluss der Zeit, vom Vergehen der Zeit, von Zeitepochen und von der Zeit als Möglichkeit für Veränderung die Rede. Zeit wird also in unserem Sprachgebrauch nicht allein in formalem Sinne gebraucht, sondern auch in einem inhaltlichen Sinne, etwa wenn man von der Zeit des Nationalsozialismus, von Zeitzeugen oder dem Zeitgeist spricht.167 So kann die Zeit auch nicht völlig unabhängig von jeder Bewegung, von den in ihr stattfindenden Ereignissen wahrgenommen und verstanden werden, weil sie sonst nur gleichbleibende Jetztpunkte und deren abstrakten zeitlichen Abstand, nicht aber deren erlebte zeitliche Dauer abbilden würde.168
Zeitkonzepte der modernen Physik sprechen seit A. Einstein von einer Relativität der Zeit, die dem absoluten Zeitverständnis I. Newtons widerspricht. Zeit verfließt nach der neuen Theorie nicht unabhängig von äußeren Bezugsgrößen. „Raum und Zeit wirken nicht nur auf alles ein, was im Universum geschieht, sondern werden auch davon beeinflusst“ (HAWKING, Eine kurze Geschichte der Zeit, 62015, 51). Somit hat jedes Individuum sein eigenes Zeitmaß, das von seinem Standpunkt und seiner Bewegung abhängt. Dennoch versucht natürlich auch die moderne Physik, durch genaue Berechnungen im Gefüge der vier Raumzeit-Koordinaten zu einer absoluten, für alle Individuen geltenden „vollständige[n], widerspruchsfreie[n] und vereinheitlichte[n] Theorie“ (a.a.O., 213) zu gelangen. 164 Vgl. WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 198. 165 Vgl. MESCH, Reflektierte Gegenwart, 2003, 40. 166 Eine Verräumlichung ist mit der Vorstellung von Zeit als Bewegung verbunden, weil Bewegung notwendigerweise in einem Raum vollzogen wird. Nach dieser Vorstellung würde sich Zeit von einem Ort zum anderen Ort oder von einem Punkt auf der Geraden zum nächsten bewegen und wäre damit keine eigenständige Dimension der Weltwahrnehmung mehr (vgl. a.a.O., 44). 167 Vgl. a.a.O., 41. 168 W. Mesch hat gezeigt, dass es auch Aristoteles schon um eine Vermittlung von Naturzeit und Erlebniszeit ging. Erlebbar ist die Zeit als gleichbleibendes Maß nur, wenn einzelne Bewegungen durch gleiche aber sukzessive Jetzt-Zeitpunkte gerahmt werden, die früher und später sind (vgl. a.a.O., 388). Zeit wird nur über das Verhältnis von Identität und Differenz anschaulich: „Inwiefern das Jetzt immer dasselbe und immer verschieden ist, zeigt sich vielmehr nur, und zwar dann, wenn man es mit einem Fortbewegten vergleicht. Denn das Fortbewegte bleibt dasselbe, indem es sich von einem Ort zu einem anderen bewegt.“ (a.a.O., 393)
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3.2.3 Subjektive oder phänomenologische Zeitkonzepte (Augustin, Husserl, Heidegger, Blumenberg) Und so finden sich ebenso viele, wenn nicht gar mehr Zeitphilosophen, die sich mit der subjektiven, der phänomenologischen Zeit auseinanderzusetzen wagen. Augustin von Hippo (354–430 n. Chr.) soll als erster Klassiker für die erlebte Zeit Rede und Antwort stehen. Die Frage, die Augustin beschäftigte, war nicht so sehr, was Zeit formaliter oder materialiter ist, sondern vielmehr wo sie vorkommt. Was sie ist, so gibt er demütig zu, weiß er lediglich, wenn er nicht danach gefragt wird; er hat also allenfalls eine intuitive Vorstellung von Zeit.169 Und so finden wir in seinen Confessiones die berühmte Formel: Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern, die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen, die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten (XI. conf, XX 26)170
Mit anderen Worten: Die Zeitkategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben ihren Ort allein in der menschlichen Seele und sind letztlich unterschiedliche Perspektiven der Geistesgegenwart. In te, anime meus, tempora metior | In dir, mein Geist/meine Seele, messe ich die Zeiten, heißt es etwas später in XI. conf, XXVII 36.171 Nun ist also nicht mehr die Zeit selbst das Messinstrument, sondern sie wird vom Geist/von der Seele gemessen. Der Mensch wiederum ist „zersplittert in den Zeiten“, deren Zusammenhang er nicht erkennt. Um diesen Zustand zu beheben, ist er auf die Vermittlung inter te unum et nos multos | zwischen deiner Einheit und unserer Vielheit (XI. conf, XXIX 39)172 durch den Menschensohn angewiesen. Durch ihn kann er frei werden von dem Vergangenen und dem Einen folgen. Eine Ablösung von der Vergangenheit, sicherlich auch von vergangener Schuld, in die Ewigkeit des Vaters hinein ist für Augustin die Lösung des menschlichen Zeitproblems. Gott ist der Schöpfer der Zeit, er ist die Ewigkeit, in der alle Zeiten zusammen- und zum Stillstand kommen – gegenüber dem Aristotelischen Konzept von der einen Zeit als ewig gleichbleibendes Metrum ein offenkundiger Unterschied. Die Moderne hat noch eine Reihe weiterer Versuche hervorgebracht, der relativen oder gar subjektiven Zeit auf den Grund zu gehen, die hier nur in Auswahl vorgestellt werden können. 169 So schreibt Augustin die berühmten Worte: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“ (XI. conf, XIV 17; zitiert nach der Übersetzung von K. Flasch: AUGUSTINUS VON HIPPO, Was ist Zeit?, 22004, 251) 170 Zitiert nach der Übersetzung von K. Flasch: a.a.O., 258. 171 A.a.O., 273. 172 A.a.O., 277.
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Die Konzentration auf das Bewusstsein und dessen intentionale Inhalte ist Merkmal der Philosophie Edmund Husserls (1859–1938). In seinen Zeituntersuchungen geht es vornehmlich um die „i mma n e nt e Ze i t des Bewußtseinsverlaufes“ 173. Ähnlich wie Augustin am Beispiel eines auswendig gelernten Liedes (XI. conf, XXVIII 38)174 versucht Husserl, am Beispiel einer Melodie das Phänomen einer sukzessiven zeitlichen Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch die Bewusstseinsinstrumente der Retention (Festhalten am eben Vergangenen), Urimpression (Wahrnehmung des Jetzt-Moments) und Protention (Vorgriff in der Erwartung bzw. Wiedererinnerung) zu erklären.175 Jeder Teil der Zeitmodi braucht den anderen und ist im anderen impliziert. 176 Eine objektive Zeit gibt es bei Husserl nur, insofern das Bewusstsein intentional auf zeitliche Objekte ausgerichtet ist und insofern die soeben genannten Instrumente universal-anthropologisch zu verstehen sind. Nicht aber wird die objektive Zeit der Ereignisse unabhängig von ihrer Wahrnehmung durch das menschliche Bewusstsein untersucht oder zu dieser Wahrnehmung ins Verhältnis gesetzt (z.B. subjektiv wahrgenommene Dauer vs. uhrzeitlich gemessene Dauer). Weniger bewusstseins-, jedoch umso mehr existentialphilosophisch geht Martin Heidegger (1889–1976) der Zeit zu Leibe. Für ihn steht die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins im Vordergrund. In Sein und Zeit (1927) beschreibt er das In-der-Welt-sein als ein Geworfensein, bei dem sowohl Anfang (Entwurf) als auch Ende (Verfall) der menschlichen Verfügung entzogen sind. Durch dieses Entworfen-, Geworfen- und Verfallen-sein ist der Mensch sich immer schon selbst vorweg i.S. eines „Sichbefinden“ (und sobald es bewusst wird als ein „Sich-vor-finden“).177 Außerdem ist dieses Sich-vorweg-sein stets mit einer Ausrichtung auf das Ganze von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auch auf die Grenze des Ganzen, den Tod, bezogen:178 „das ›Enden‹ als Sterben [konstituiert] die Ganzheit des Daseins“ 179. Im Alltäglichen ist dieses Sein zum Tode verdeckt, weil der Mensch dieser existentialen Bestimmtheit, wann immer er kann, ausweicht. 180 Heidegger aber protegiert ein ständiges Vorlaufen zum zeitlich unbestimmten, aber gewissen Tod und damit ein Offenhalten für die ständige Bedrohung. Nur so könne der Mensch
173
HUSSERL, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), 1966, 5. Vgl. AUGUSTINUS VON HIPPO, Was ist Zeit?, 22004, 274. 175 Vgl. HUSSERL, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), 1966, 29. 176 Vgl. a.a.O., 54. 177 Vgl. HEIDEGGER, Sein und Zeit, 111967 (1927), 135. 178 Vgl. a.a.O., 234. 179 A.a.O., 240. 180 Vgl. a.a.O., 255–260. 174
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sich die äußerste Möglichkeit des Daseins erschließen, ohne sich im je gegenwärtigen, uneigentlichen „Man“ zu verlieren. 181 Dieses Vorlaufen wird durch den Ruf des Gewissens motiviert, welches sich als Ruf der Sorge offenbart. 182 Somit ist es die Sorge, die uns zum Vorlaufen zum Tode motiviert, uns damit die äußerste Möglichkeit des Daseins erschließt und uns vom uneigentlichen „Man“ ins eigentliche Seinsverständnis befördert. Der sog. „vulgäre“ Zeitbegriff ist nach Heidegger Nebenprodukt des alltäglichen Ausweichens vor dem Sein zum Tode.183 Dieses Zeitverständnis besteht aus einer „puren, anfangsund endlosen Jetzt-folge“184, der die Möglichkeit von Bedeutsamkeit und Datierbarkeit versagt bleibt.185 In diesem vulgären, dem Sein-zum-Tode ausweichenden Zeitverständnis kann man leicht das metrische Zeitverständnis Aristotelesʼ und das mathematische Zeitverständnis Newtons wiedererkennen. Zeit ist für Heidegger somit keinesfalls Bewegung oder quantitatives Maß der Bewegung, auch keine Bewusstseinsstruktur, sondern zuvorderst qualitative Daseinsform und dabei immer primär auf die Zukunft ausgerichtet, weil „das Dasein als seiendes überhaupt schon immer auf sich zukommt, das heißt in seinem Sein überhaupt zukünftig ist.“ 186 In einem Zwischenfeld zwischen Bewusstseins- und Existentialphilosophie bewegen sich Blumenbergs Gedanken zur Zeit. Für die Phänomenologie ist Zeit, wie vielfach angesprochen, nichts unmittelbar Vorgegebenes, sondern etwas im Bewusstsein Entstehendes bzw. von ihm zu Leistendes: „Es [das Bewusstsein, Anm. d. Verf.] soll die Welt, und es kann nur sich selbst.“ 187 So ist Zeit für Blumenberg bspw. genauso wie der Raum „Arrangement[s] des Bewusstseins mit seiner Enge, mit seinem Mißverhältnis zur Welt.“ 188 Zeit ist demnach das notwendige Mittel, um dem Bewusstsein Kontinuität zu verleihen, der Garant für Selbstbesitz, Identität und Integrität. Zeit bewahrt das Bewusstsein vor Zersplitterung. Gleichzeitig gehört aber auch der Abbruch der Zeit zur existentialen Konstitution des Menschen und ist als schmerzliche Diskrepanz zwischen eigener Lebenszeit und unerbittlicher Weltzeit erlebbar:
181
Vgl. a.a.O., 265. Über den Ruf des Gewissens schreibt M. Heidegger: „Das Gewissen offenbart sich als Ruf der Sorge: der Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (Schon-sein-in ...) um sein Seinkönnen. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, aufgerufen zu seinem eigensten Seinkönnen (Sich-vorweg ...). Und aufgerufen ist das Dasein durch den Anruf aus dem Verfallen in das Man (Schon-sein-bei der besorgten Welt).“ (a.a.O., 277) 183 Vgl. a.a.O., 424. 184 A.a.O., 329. 185 Vgl. a.a.O., 422. 186 A.a.O., 325. 187 BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, 1986, 88. 188 Ebd. 182
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„Die zum Erlebnis werdende Welt fordert dem Leben den Preis seiner Zeit ab ‒ seiner ganzen Zeit, eines Mehr an Zeit als es hat.“ 189 3.2.4 Soziale Interaktionszeit als Integral Auch wenn die meisten modernen Zeitphilosophien die subjektive Zeit für die eigentlich entscheidende halten und mit ihr eine bestimmte Qualität der Zeit verbinden, so wird unter dem Begriff Zeit ganz selbstverständlich auch immer eine quantitative Größe mitgedacht, die eine knappe Ressource darstellt. So heißt es schon bei Hippokrates: βίος βραχὺς, ἡ δὲ τέχνη μακρή | Das Leben ist kurz, die Kunst aber lang (Aph 1,1).190 Der Charakter der Zeit als Mangelware wäre ohne das subjektive Erleben der Zeit und die Erfahrung des Ablebens anderer Lebewesen jedoch gar nicht wahrnehmbar.191 Objektive Zeit ist ohne subjektives Zeiterleben gegenstandslos. Erst in Bezug auf die eigene Lebenszeit, die zu verfliegen scheint, wird die Zeit als teures Gut erlebt.192 Doch auch umgekehrt gilt: Subjektive Zeit kommt nicht ohne objektive oder besser: intersubjektive Zeit aus.193 Beide Seiten sind für sich genommen nicht suffizient: „Zeit läßt sich entweder auf augenfällige Erfahrungen ausrichten ‒ dann ist sie nicht konsequent ‒ oder in ein folgerichtiges Gedankensystem einbinden ‒ dann ist sie nicht präzis.“ 194 So sind beide Zeitachsen stets miteinander vermittelt, v.a. dann, wenn trotz der Polyvalenz des subjektiven Zeitemp-
189
A.a.O., 27. Zitiert nach der Ausgabe von T. J. ab Almeloveen: HIPPOCRATES, Aphorismi, 1756, 2. Dabei handelt sich um eine Zeitbeobachtung, die eine lange und lebendige Rezeptionsgeschichte nach sich zieht, in welcher Seneca (SENECA, De brevitate vitae, 2008, 6) und J. W. v. Goethe (GOETHE, Faust, 1986, 50) wohl die bekanntesten Tradenten sind. 191 BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, 1986, 91. Vgl. ferner LÉVINAS, Time and the Other, 2003, 79: „Relationship with the future, the presence of the future in the present, seems all the same accomplished in the face-to-face with the Other [...] The condition of time lies in the relationship between humans, or in history.“ 192 Neurologische Untersuchungen haben ergeben, dass die empfundene Zeitdauer zum einen davon abhängt, ob sie aus der Retro- oder Prospektive eingeschätzt wird, und zum anderen, wie viele Reize in dieser Zeitspanne gesetzt werden. Das kann zu einem paradoxen Zeitempfinden führen: In der Prospektive wird die Dauer des Wartens als besonders lang empfunden, in der Retrospektive aber ist dieser Zeitraum kaum existent und deshalb in der Erinnerung schnell übersprungen (vgl. WITTMANN, Wie unser Gefühl von Zeit entsteht, 2014, 20). 193 Die Abhängigkeit der subjektiven von der objektiven Zeit sieht P. Ricœur schon im gemeinsamen Sprachgebrauch bewiesen: „Würden wir von einem empfundenen ›Zugleich‹ reden, wenn wir nicht von der objektiven Gleichzeitigkeit wüßten [...]?“ (RICŒUR, Zeit und Erzählung III, 1991, 40) Vgl. ferner LÉVINAS, Time and the Other, 2003, 79: „Relationship with the future, the presence of the future in the present, seems all the same accomplished in the face-to-face with the Other [...] The condition of time lies in the relationship between humans, or in history.“ 194 BORST, Computus, 1999, 11. 190
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findens Interaktionen in einem sozialen Raum zu bestimmten Zeiten stattfinden.195 Um sich begegnen zu können, um Handlungen als Aktion und Reaktion auffassen zu können, braucht es eine Synchronisation individuellen Zeiterlebens auf Basis eines intersubjektiven Zeitchronometers. So werden subjektive und ‚objektive‘ Zeit letztlich in einer sozialen Zeit oder besser: in einer Handlungszeit miteinander vermittelt.196 Wir haben den Zeitbegriff nun an seinen beiden Polen des subjektiven Erlebens und der objektiven Metrik aufgeladen, um ihn auf der mittleren Stufe der Handlungszeit, der sozialen Zeit, in eine Austauschenergie zu überführen. In einer Handlung ist eine Vielzahl an Zeitebenen gleichzeitig präsent. Die vom jeweiligen Subjekt abhängigen Zeitmodi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in Erfahrung, Aufmerksamkeit und Erwartung notwendigerweise in einer Handlungsentscheidung oder noch genereller in den Verhaltensweisen gegenwärtig. Gegebenenfalls wurde im Vorfeld des Tuns oder Unterlassens sogar über den perfekten Zeitpunkt, den Kairos der Handlung nachgedacht. Dieser Kairos entspringt nicht nur dem subjektiven Zeiterleben (meine Zeit ist reif), sondern ist Ergebnis einer Synchronisationsbemühung (die Gelegenheit ist günstig). Die Zeit der Interaktion wird unterschiedlich wahrgenommen und bewertet (er ließ auf sich warten/sie kam zu früh). Der Zeitpunkt einer Interaktion lässt sich darüber hinaus auch auf einer objektiven Achse der Zeit feststellen (Montagabend um 21 Uhr) und in größere geschichtliche Zusammenhänge stellen (im Jahre 2017). Wie ist es möglich, dass in einer Handlung bzw. Interaktion so viele Zeitschichten zugleich wirk- und bedeutsam werden? Die zeitintegrative Fähigkeit von Handlungen begründet nach Ricœur ihren Status als „elementarste Vorform der Erzählung“197. Insbesondere die Symbolik verleiht einer Interaktion (eine Geste gilt als dies oder jenes) die Vorform der Lesbarkeit. 198 So bezeichnet Ricœur eine Handlung als „Quasi-Text“199. Weil Interaktionen komplexe Wechselverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Zeitmodi der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, subjektivem Zeiterleben, sozialen Zeitarrangements und objektiver Chronometrik zutage fördern, eignet ihnen eine besondere Struktur, die eine „Synthesis des Heterogenen“ ermöglicht. Diese Struktur ist vergleichbar mit den kontinuitäts- und konsistenzschaffenden Strukturen, die wir aus einer Erzählung kennen. Auf der Ebene des reflexiven Denkens
195
Vgl. ASSMANN, Ist die Zeit aus den Fugen?, 2013, 70; BENZ, (Erzählte) Zeit des Wartens, 2013, 24. 196 K. Gloy versucht in ihrem TRE-Artikel, die Zeitphilosophie(n) in einer „Stufentheorie“ zu systematisieren, die „die Stufen des subjektiven Zeiterlebens, der topologisierten Handlungszeit und der metrisierbaren mathematischen Zeit, der sog. Weltzeit“ umfasst (GLOY, Art. Zeit I. Philosophisch, 2004, 507). 197 RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 99. 198 Vgl. a.a.O., 95. 199 A.a.O., 96.
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entfaltet die „dissonant-konsonante Struktur der Zeit“ 200 zwar paradoxe Züge, in der Praxis (griech. πρᾶξις | Tat, Handlung) aber ist sie mühelos integrierbar. MacIntyre geht sogar so weit zu sagen, dass Handlungen in ihrem Charakter selbst narrativ sind.201 Selbstverständlich treten diese eigentümlichen, synthetisierenden Strukturen von Interaktionen in der erzählenden Kommunikation und Reflexion über sie erneut und dann umso deutlicher auf. Die in den Handlungen präfigurierten Zeitstrukturen (Mimesis I) werden in Erzählungen konfiguriert (Mimesis II) und damit sprachlich vermittelbar gemacht. Die oben genannten polyvalenten Zeithorizonte einer Interaktion lassen sich im Rahmen der Kontextualisierung von einzelnen Interaktionen in Geschichte(n) mal deutlicher, mal impliziter mitbenennen, ohne die temporale Beschaffenheit der Geschichte per se in Widersprüche zu führen. Für Ricœur stecken „in der Handlung Zeitstrukturen, die zum Erzählen herausfordern.“ 202 Nur auf der Ebene der Geschichte (oder zumindest einer pränarrativen Struktur) können, so Ricœur, diese Zeitmodi sinnvoll miteinander verflochten werden. 203 Auf der mittleren Stufe der sozialen bzw. Interaktionszeit könnte man demnach auch die Geschichtszeit als narrative Verknüpfung vieler einzelner Handlungszeiten einordnen. Eine Geschichte besteht aus einer Sammlung von Handlungszeiten, die vernetzt und in eine Chronologie von Handlungsursachen/gründen, Handlungszeitpunkten und -folgen zusammengewoben werden. Geschichten sind damit letztlich der Webstuhl der Zeit. Diese Konfiguration von Einzelereignissen und Interaktionszeiten oszilliert zwischen Konkretion und Abstraktion,204 zwischen Variation und Redundanz und somit auch zwischen Subjektivität und Objektivität. Hier sind das subjektive Zeiterleben und der objektive Zeitverlauf auf ganz selbstverständliche und eingängige Art und Weise miteinander verbunden. 205 Koselleck benennt in seiner Untersuchung der Geschichtszeit drei temporale Erfahrungsmodi: Irreversibilität, Wiederholbarkeit und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (als unterschiedliche Einstufungen geschichtlicher Abfolgen oder Überlagerung der Zeitmodi).206 Insbesondere in der Wiederholbarkeit der 200
A.a.O., 98. Vgl. MACINTYRE, Der Verlust der Tugend, 1995, 279. 202 RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 98. 203 Vgl. a.a.O., 99. 204 Mehr zu Oszillation zwischen Konkretion und Abstraktion unter 2.3 Ethische Erzählung und erzählerische Ethik. 205 P. Ricœur bezeichnet die erzählte Zeit als „Brücke, die über die Bruchstelle geschlagen wird, die sich stets aufs neue zwischen phänomenologischer und kosmologischer Zeit bildet“ (DERS., Zeit und Erzählung III, 1991, 392). 206 Die drei Erfahrungsmodi können auch unter den Begriffen Fortschritt, Dekadenz, Beschleunigung oder Verzögerung gefasst werden (vgl. KOSELLECK, Vergangene Zukunft, 2010, 132). 201
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Geschichte(n) manifestiere sich die Wirkungsmacht der Geschichte als magistra vitae.207 Gleichzeitig können in Geschichte(n) auch Zeitbestimmungen integriert werden, die „quer zu ›empirischen‹ Befunden getroffen werden“ 208, so etwa religiöse Ursprungs- und Zielvorstellungen (der göttliche Ratschluss).209 Insbesondere seit sich der Begriff der Geschichte an und für sich herausgebildet habe,210 sei es möglich, „Geschichte als Prozeß zu begreifen […], der nicht mehr aus naturalen Bestimmungen allein ableitbar und damit auch kausal nicht mehr hinreichend erklärbar ist.“211 In der Geschichte kann die unbändige Dynamik und Paradoxie von Zeit aufgefangen und in Sinnprozesse umgeleitet werden. Zeit, so haben wir gesehen, ist ein schillerndes Phänomen, das zwischen starrer Metrik und dynamischem Erleben, zwischen Natur und Kultur, 212 zwischen Qualität und Quantität, zwischen Konkretion und Universalisierbarkeit oszilliert ‒ eine Dynamik, die sich v.a. in der temporalen Konstitution von Interaktionen niederschlägt und besonders gut in Geschichte(n) sprachlich wiedergeben lässt. Die Bedeutung der sozialen Zeit als Scharnier zwischen subjektiver und objektiver Zeit drängt uns bereits in die Richtung einer Verhältnisbestimmung zwischen Zeit und Ethik. Zuvor soll aber noch ein Blick auf die Besonderheit theologischer Zeitkonzepte geworfen werden, insofern sie das bisher Erkannte vertiefen und perspektivisch bereichern können. 3.3 Theologische Zeitkonzepte Theologische Zeit kann aus ganz unterschiedlichen Richtungen gedacht werden: Sie kann vom Anfang her (Ursprungsdenken; Schöpfung) oder auf die Zukunft hin (futurische Eschatologie; Apokalyptik; Messianismus; Chiliasmus) in den Blick genommen werden, sich auf die Gegenwart fokussieren (Mystik; präsentische/realisierte Eschatologie; existentielle Theologie), den stetigen Fortgang betonen (Prozesstheologie; Geschichtstheologie) oder sich an der Zeitlosigkeit orientieren (Ewigkeitsdenken). 213 Je nachdem welche dieser Ausrichtungen dominiert, erreicht die theologische Grundposition einen bestimmten Grad an Veränderungstoleranz und/oder Traditionsgebundenheit. Es ist nahezu unmöglich, sämtlichen theologischen Zeitrichtungen intensiv nach-
207
Vgl. a.a.O., 137. A.a.O., 138. 209 Vgl. a.a.O., 135–138. 210 Die Herausbildung des Kollektivsingulars Geschichte ist laut R. Koselleck eine Entwicklung des 18. Jh. (vgl. a.a.O., 132). 211 A.a.O., 143. 212 Vgl. ROSA, Beschleunigung, 102014, 26. 213 Vgl. MOHN, Art. Zeit/Zeitvorstellungen, 2005, 1801. 208
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zudenken und die einzelnen Konzepte auf ihre Widersprüchlichkeit oder Kompatibilität zu prüfen. Für die hiesigen Untersuchungen soll es deshalb lediglich um die Kernpunkte theologischer Zeitwahrnehmung und deren Kontrast bzw. deren Additamentum gegenüber philosophischen Konzepten gehen. Natürlich ist einer theologischen Zeitbestimmung wesentlich daran gelegen, Zeit mit Gott ins Verhältnis zu setzen. Am Anfang aller theologischen Zeitwahrnehmungen steht deshalb eine grundlegende Unterscheidung, nämlich die zwischen der geschöpflichen und der göttlichen Zeit. Augustin war im Rahmen der philosophischen Zeitkonzepte bereits als Repräsentant eines subjektiven Zeitverständnisses zu Wort gekommen. Nun wollen wir aus seiner engen Verzahnung von Zeit- und Schöpfungstheologie eine Reihe von vergleichsweise zeitresistenten theologischen Einsichten über die Zeit gewinnen:214 Wenn wir von der Zeit im Singular reden wollen, dann müssen wir von ihr als einem a) Teil des Schöpfungswerkes Gottes sprechen, der damit b) vor der Schöpfung der Welt nicht vorhanden war (XI. conf, XIII,15; XIV 17), 215 sondern c) dem Willen Gottes und seiner Kreativität entspringt (XI. conf, X 12–13)216 und d) als Grundbedingung und Berührungspunkt alles Geschöpflichen angesehen werden kann. Was nicht geschaffen ist, hat keinen Anfang und kein Ende und ist damit auch nicht der Zeitlichkeit und Endlichkeit unterstellt. Schließlich sind e) Gott und sein Wort ungeschaffen und damit ewig, weniger i.S. einer nicht endenden Zeitspanne oder einer Anti-Zeit als i.S. einer absoluten Gegenwärtigkeit (XI. conf, VII 9).217 Das Besondere einer theologischen Zeitauffassung ist m.E. aber nicht nur, dass sie Gott als Urheber der Zeit ausmacht und die Geschöpfe darin radikal von ihm unterscheidet (und dadurch idealiter untereinander solidarisiert), sondern dass sie die dynamische Gegenwärtigkeit Gottes in das Denken über die Welt und über das menschliche In-der-Zeit-Sein integriert. Gottes Offenbarung vor der Welt vollzieht sich unter weltlichen, d.h. raum-zeitlichen Bedingungen. Wir können Gott ohnehin nicht anders als in unseren transzendentalen Kategorien von Raum und Zeit denken. Wenn wir also versuchen, Gott zu denken, dann tun wir das im Rahmen von temporalen sowie topologischen Metaphern, etwa der Ubiquität, der absoluten Allgegenwärtigkeit, der absoluten Präsenz. Somit denken wir Gott als an jedem Ort und zugleich seiend. Die Ubiquität ist der entscheidende Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Im Reich der Geschöpfe gibt es nur Neben- und Nacheinander. So schreibt Augustin, dass er in den Zeiten „zersplittert“, dass sein eigenes Leben distentio ist (XI. conf,
214 Grundsätzlich unterliegt freilich auch die theologische Zeitbestimmung der Zeit und ist damit veränderlich. 215 Vgl. AUGUSTINUS VON HIPPO, Was ist Zeit?, 22004, 248–251. 216 Vgl. a.a.O., 244. 217 Vgl. a.a.O., 240–247.
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XXIX 39). Kurt Flasch übersetzt distentio als „zerteiltes Ausdehnen“, 218 denkbar wäre auch Spannung oder noch besser Aufspaltung. Was darin ersichtlich werden soll, ist in jedem Fall ein Auseinanderdriften dessen, was eigentlich in eins gehört. Als wäre diese Unterscheidung nicht bereits komplex genug, kann das Zeitverhältnis zwischen Gott und Mensch eben nicht derart einseitig gedacht werden, dass hier der Mensch in Zersplitterung und dort Gott in der ewigen, unveränderlichen Einheit verweilt. Der Komplexitätsgrad der theologischen Zeitbestimmung wird durch das Eintreten und Wirken Gottes in der Geschichte weiter gesteigert. Schon im AT ist Jahwe der Gott, der in den konkreten Ereignissen und eben nicht nur in den gleichbleibenden Rhythmen der Natur waltet.219 Das Neue Testament hat dieses In-die-Zeit-Kommen Gottes, wenn man so will, zur Spitze getrieben. Die Inkarnation des Gottessohnes bedeutet nicht nur ein räumliches Kommen Gottes in unsere Welt, sondern auch ein temporales Kommen Gottes in unsere Zeit. Gott ist eben nicht, wie in der klassischen Tradition europäischer Theologie angenommen, jenseits der Zeit und fern aller Veränderung.220 Gott ist Gott, indem er sich zeitigt und dabei nicht bloß einmal das Zeitliche segnet.221 Um die Komplexität der gleichzeitigen Zeitsouveränität und Intemporation Gottes besser zu verstehen, behilft sich Ingolf Dalferth mit den zwei grundlegenden Spannungsfeldern zwischen mythischer Urzeit und Jetztzeit einerseits und Jetztzeit und apokalyptischer Endzeit andererseits. Diese sind zwar jeweils voneinander unterschieden, bleiben aber stets aufeinander bezogen und ineinander verwoben: „was jetzt geschieht, ist in dem Maße wirklich, in dem es jene ursprüngliche Wirklichkeit reproduziert.“ 222 Gleichermaßen wird die neue Zeit als uneingeschränkte Herrschaft Gottes nicht erst am Ende der Jetztzeit anbrechen, sondern sie ist bereits im Christusgeschehen angebrochen. 223 Aufgrund dieser Spannung zwischen der Jetzt-Zeit und den jeweiligen Grenzen der Zeit bzw. Übergängen zur Ewigkeit (ob nach ‚vorne‘ oder nach ‚hinten‘) kann man in der Theologie von einer Dynamisierung der Zeit sprechen. Weder wird sie als gleichbleibendes Bewegungsmaß verstanden noch als je
218
Vgl. a.a.O., 276. Das Handeln Gottes/der Götter in der Geschichte war wohl nicht, wie lange angenommen, Spezifikum der israelitischen Gottesvorstellung. Auch die mesopotamischen Götter greifen in die Geschichte ein. Allerdings kann man es laut J. Barton als eine Besonderheit des Gottes Israels ansehen, dass er sich selbst treu bleibt und deshalb zwar situationskonform, aber auch konsistent handelt (vgl. BARTON, Die Lehre von der rechten Zeit, 1995, 287–290). 220 Vgl. DALFERTH, Gott und Zeit, 1994, 9. 221 Vgl. BARTH, KD II/1, 1958, 694–696. 222 DALFERTH, Gott und Zeit, 1994, 18. 223 Vgl. a.a.O., 20. 219
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III. Theorie
und je subjektiver Bewusstseinszustand. Zeit im theologischen Sinne ist grundsätzlich und wesentlich Möglichkeit und gewissermaßen Grundbedingung der Begegnung zwischen Gott als Schöpfer und seinem der Zeit unterstelltem Geschöpf, ebenso wie sie Bedingung für die Begegnung der Geschöpfe untereinander ist.224 Nur in der Zeit können sowohl Gott als auch Mitmenschen sich als wirkliches Gegenüber begegnen, denn nur hier besteht auch eine temporale und lokale Differenz zwischen ihnen. Ist der Mensch vollständig in die Ewigkeit Gottes hineingenommen, gibt es kein Gegenüber-, sondern nur noch ein Ineinander-Sein. So schreibt Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer in Anschluss an die relationale Theologie Karl Barths: „Zeit ist dazu da, dass der Mensch in seinen Relationen aktiv tätig wird.“ 225 In die Geschichte eingehen können nur konkrete Begegnungen und Interaktionen, 226 somit ist Zeit immer „Zeit für jemanden“227 oder negativ betrachtet Zeit ohne jemanden. Ein wichtiges Ereignis, das die wesensmäßige Relationalität und dynamische Kraft der theologisch verstandenen Zeit nicht nur darstellt, sondern bis zum Äußersten treibt, ist das Christusgeschehen. Sowohl die Geburt Jesu als präexistenter Sohn Gottes, anteilig an der Ewigkeit und Überzeitlichkeit seines Vaters, in die Zeit hinein,228 als auch sein Ende am Kreuz, das Einströmen des schöpferischen Logos und ewigen Anfangs in den Tod als absolutes Ende erzeugen eine unbändige Spannung zwischen göttlicher und menschlicher Zeit, die sich nur als Energie und Dynamik vorstellen lässt. Hier wird die absolute Metapher der Zeit zur „Sprengmetapher“, die zum Transzendieren der eigenen Denkkategorien anleitet.229 Søren Kierkegaard schreibt in Bezug auf die Erkenntnis der göttlichen Dynamisierung der Zeit: „Es ist recht merkwürdig, 224 K. Barth schreibt zur Zeit als Bedingung der doppelten Begegnung zwischen Gott, Mensch und Mitmensch: „Er [der Mensch, Anm. d. Verf.] braucht, er bekommt, er hat Zeit, um in dieser doppelten Beziehung zu leben.“ (BARTH, KD III/2, 1958, 526) 225 MEYER ZU HÖRSTE-BÜHRER, Gott und Menschen in Beziehungen, 2016, 265. 226 Vgl. a.a.O., 352. 227 A.a.O., 354. 228 F. Kunath beschreibt die Präexistenz Jesu wie folgt: „Vielmehr stellt sie [die Präexistenz, Anm. d. Verf.] eine provokante und paradoxe Zuschreibung einer übermenschlichen Qualität von Überzeitlichkeit an den Menschen Jesus da.“ (KUNATH, Die Präexistenz Jesu im Johannesevangelium, 2016, 368) 229 Der Begriff der Sprengmetaphorik geht auf H. Blumenberg zurück. Diese ziehe „die Anschauung in einen Prozeß hinein, in dem sie zunächst zu folgen vermag (z.B. den Radius eines Kreises verdoppelt und immer weiter vergrößert zu denken), um aber an einem bestimmten Punkt (z.B. dem größtmöglichen bzw. unendlichen Radius eines Kreises zu denken) aufgeben […] zu müssen. Worauf es hier ankommt, ist, die Transzendenz als Grenze theoretischen Vollzugs […] sozusagen ›erlebbar‹ zu machen.“ (BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1998, 179) Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass H. Blumenberg die Sprengmetaphorik auch als Methodik des „legitimen, in umgekehrte Richtung auf den Urgrund zurückschreitenden Aufsuchen[s] der inneren Struktur des Schöpfungsvorgangs“ bezeichnet (a.a.O., 182).
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durch die beiden grauenhaftesten Gegensätze empfängt man eine Vorstellung von der Ewigkeit.“ 230 Der wohl gravierendste Gegensatz für das Leben des Christen betrifft das Schon-Jetzt und Noch-Nicht des Heils, der Gegensatz von ‚Alter‘ und ‚Neuer‘ Zeit, die weniger quantitativ als wiederum qualitativ in je verschiedenem Lebensverhältnis zu Gott sichtbar wird.231 Auch die theologischen Zeitkonzepte betonen v.a. das dynamische, spannungsgeladene und v.a. relationale Moment der Zeit im Zwischenfeld zwischen Schöpfer und Geschöpf. Dieses relationale Moment der Zeit drängt uns immer weiter auf die Beziehung der Zeit zur Ethik hin. Deren enges Verhältnis soll nun zunächst in Alltagsbeobachtungen umrissen und schließlich existentiell begründet werden. 3.4 Alltagsbeobachtungen zum Verhältnis von Zeit und Ethik Wie am Kapiteleingang erwähnt, spielt Zeit in den meisten ethischen Entwürfen prima facie keine Rolle.232 Eine solche Zeitignoranz ist nicht zuletzt für christliche Exegeten und Ethiker verführerisch, geht doch das christlich-biblische Ethos, so die vordergründige Annahme, immer vom absoluten, gleichbleibenden Gotteswillen aus, der im Kanon letztgültig festgehalten ist. 233 Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass unterschiedliche ethische Konzepte, insbesondere die biblisch-theologischen, stets auf einem bestimmten Wirklichkeitsverständnis gründen und damit nicht ohne eine bestimmte Zeitvorstellung auskommen. 234 Die Unscheinbarkeit der Zeit innerhalb der gängigen Ethiktheorie hängt wohl mit der mehrfach betonten Selbstverständ-
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KIERKEGAARD, Entweder/Oder (1843), 21985, 34. Vgl. DALFERTH, Gott und Zeit, 1994, 21. 232 Diese Beobachtung machen u.a. G. Lohmann: „Die Frage, ob Moral etwas mit Zeit zu tun hat, mag verwundern, wird doch in den gängigen Moralphilosophien die Moral merkwürdig zeitenthoben, zumindest aber ohne Bezug auf Zeit thematisiert.“ (LOHMANN, Moral und Zeit, 2002, 181), sowie M. Schweda und C. Bozzaro: „Auf den ersten Blick scheint Zeit in der Ethik landläufig keine besondere Rolle zu spielen. Im Nachvollzug der maßgeblichen Diskurse kommt immer wieder der Eindruck auf, die jeweils verhandelten Sachverhalte seien zeitlose Gebilde wie geometrische Figuren oder platonische Ideen.“ (SCHWEDA/BOZZARO, Einleitung: Altern als Paradigma, 2014, 167) 233 G. Pfleiderer nennt diese Zeitvergessenheit das „platonisierende (Miss-)Verständnis“ theologischer Ethik (PFLEIDERER, Temporalität, 2006, 23). 234 So wäre eine Prinzipienethik möglicherweise tendenziell eher an einem zyklischen Zeitverständnis ausgerichtet, während teleologische Entwürfe eher auf das Bild einer linear fortschreitenden Zeit bezogen sein könnten. Eine detaillierte, metaethische Analyse der Bedeutung impliziter Zeitkonzepte für unterschiedliche Ethikentwürfe ist bis dato Forschungsdesideratum. Eine solche Untersuchung wäre insofern besonders wünschenswert, als sie neue Einblicke in den engen, aber größtenteils vortheoretischen Zusammenhang von Zeit und Ethik erbringen und damit zur Aufhebung eines besonders gravierenden blinden Flecks der Ethik beitragen könnte. 231
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III. Theorie
lichkeit der Zeit im Alltagsvollzug und der Schwierigkeit ihrer reflexiven Einholung zusammen. 235 Zeit ist immer ins Nichts eingehüllt, insofern sie bei der Schöpfung aus dem Nichts entstand und stets in das Nichts des Todes abläuft, sie kann deshalb nur in Bewegung, immer transitorisch, niemals rein ontologisch gedacht werden. 236 Die orientierenden Zeitstrukturen und -horizonte sind auf praktischer Ebene meist auch nicht Ergebnis bewusster und rationaler Wahl, so konstitutiv sie für unser soziales Verhalten und unser Selbstverhältnis auch sein mögen. Die individuellen Zeitorientierungen gehen vielmehr einerseits aus einer langen Sukzession an kaum ergründbarer kultureller Prägung und Erziehung hervor, 237 andererseits tritt Zeit „ungeachtet ihrer sozialen Konstruktion und systematischen Produktion, den Akteuren gleichsam als ›naturgegebenes Faktum‹ gegenüber“ 238 . Zeit befindet sich damit immer auf der Schwelle zwischen vorbewusster, vorprädikativer Lebenswelt 239 und der Welt als beobachtbares Gegenüber, die theoretisch einholbar und schließlich kultivierbar (bearbeitbar) ist.240 Zeit als ein liminales, transitorisches Phänomen ist eine selbstverständliche und zugleich eine messbare, formbare Größe. Sie tritt ins theoretische und kulturelle Bewusstsein und wird diesem im selben Moment wieder flüchtig. Auch die Ethik, das sei hier zunächst nur angedeutet, ist ein liminales Phänomen, das sich zwischen ‚vorgegebenen‘ Normen, Werten und Gütern einerseits und deren Beobachtung, Evaluation und kreativen Mitgestaltung andererseits bewegt. Sowohl die philosophische als auch die theologische Zeitbestimmung haben Zeit als ein vielschichtiges und schillerndes Phänomen ausgewiesen, das zwischen unterschiedlichen Polen (Objektivität und Subjektivität; Göttlichkeit und Geschöpflichkeit) oszilliert. Greifbar und bedeutsam wurde Zeit vor allen Dingen dann, wenn es um Interaktionen oder etwas elementarer um Relationen (zwischen Geschöpfen, Schöpfer und Schöpfung) ging: Erst im Gegenüber des Anderen und insbesondere im Konflikt mit dem Anderen macht sich Zeit bemerkbar.241 So schreibt der Psychologe Thomas Fuchs: „Die Zeit, die uns äu-
235 Mehr zur alltäglichen Selbstverständlichkeit der Zeit unter 1.1 Narrative Versprachlichung von Zeiterfahrungen (Hermeneutik) und 1.2 Narrative Zeitmodulation (Erzähltheorie). 236 Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 45; MANOUSSAKIS, The Ethics of Time, 2017, 16. 237 Vgl. FUCHS, Zeiterfahrung in Gesundheit und Krankheit, 2015, 103. 238 ROSA, Beschleunigung, 102014, 25. 239 Zur Theorie der Lebenswelt als sich von selbst verstehendes, vortheoretisches (Bewusst-)Seinsstadion, in der die Welt samt ihrer raum-zeitlichen Konstitution dem Menschen nur als Erlebnis, nicht aber theoretisch zugänglich ist vgl. BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, 1986, 10. 240 Vgl. a.a.O., 26. 241 Vgl. LÉVINAS, Time and the Other, 2003, 79.
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ßerlich und scheinbar eigenständig gegenübertritt, wird tatsächlich nur in Relationen erfahren, und zwar primär in der Beziehung zu den anderen, d.h. in Desynchronisierungen der intersubjektiven Zeitordnungen.“ 242 Auf diese Weise werden Verhältnisse und Interaktionen zum Medium der Zeitwahrnehmung: Erwartungen, Erwartungsbrüche und -erfüllungen an Aktionen und Reaktionen steuern das Zeitempfinden des Menschen. 243 Erwartungen erzeugen Spannungen (distentio) in Bezug auf den Gegenstand der Erwartung. Spannungen wiederum beeinflussen das Empfinden von Dauer maßgeblich. Umgekehrt gilt aber auch: Wiederkehrende Zeitstrukturen haben Einfluss auf die Erwartbarkeit von Ereignissen. 244 Auch Beschleunigung und Verzögerung als wesentliche Phänomene des menschlichen Zeitempfindens werden nur im Vergleich zu den jeweils entgegengesetzten Rhythmen manifest. 245 Nur anhand von Desynchronisationserfahrungen zwischen Akteuren, Institutionen, Systemen oder unterschiedlichen Zeithorizonten (bspw. Lebenszeit und Weltzeit) werden Beschleunigung und Verzögerung wahrnehmbar. 246 Ferner kann der richtige Zeitpunkt, der Kairos einer Handlung nur im Verhältnis zum jeweiligen Kontext und zu den Aktionen bzw. Reaktionen der Mitgeschöpfe ausgemacht werden. Ein weiteres Beispiel der Wahrnehmung von Zeit in Verhältnissen ist das der Verjährung. Eine jüngst erlittene Verletzung schmerzt intensiver als eine verjährte, denn die Zeit heilt alle Wunden. Ebenso kann die Furcht vor unmittelbar bevorstehenden Bedrohungen intensiver erlebt werden als vor solchen, die sehr weit in der Zukunft liegen. Hier werden Zeitspannen im Verhältnis zu Gefühlsintensitäten wahrnehmbar. Wann etwas als verjährt gelten darf, ist zwar im Groben gesetzlich festlegbar, entspringt aber eigentlich einer individuellen Maßgabe der emotionalen Bindung zum jeweiligen Ereignis. So kann eine weniger schmerzliche Erfahrung schon binnen weniger Tage als verjährt bezeichnet werden, während es bei einem besonders intensiven Ereignis so vorkommt, als wäre es erst gestern passiert.247 In diesen Alltagserfahrungen von Zeit wird der Konnex zur Ethik besonders deutlich. Zeit bewegt sich im Rahmen einer ausschließlich relationalen Wahrnehmbarkeit auf ausgesprochen ethischem Terrain, schließlich geht es der Ethik im Kern um die Reflexion menschlichen Verhaltens und um gelingende
242
Vgl. FUCHS, Zeiterfahrung in Gesundheit und Krankheit, 2015, 105. Vgl. WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 20. 244 Vgl. BENTHAUS-APEL, Zwischen Zeitbindung und Zeitautonomie, 1995, 41; HORNTRICH, Gut in der Zeit, 2003, 321; RAMMSTEDT, Alltagsbewußtsein von Zeit, 1975, 48; ROSA, Beschleunigung, 102014, 25; SCHÖPS, Zeit und Gesellschaft, 1980, 73. 245 Vgl. PÜTZ, Die Zeit im Drama, 1970, 57. 246 Vgl. ROSA, Beschleunigung, 102014, 44–47. 247 Zur Bedeutung von Emotionen für das Empfinden von Dauer vgl. WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 20. 243
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III. Theorie
Verhältnisse (des Individuums zu sich selbst; zwischen Individuen; des Individuums zu Institutionen; zwischen Institutionen; des Individuums zur Welt etc.). Andersherum ausgedrückt: Gerade weil Zeit subjektiv und objektiv, zugleich natürlich (bzw. göttlich) gegeben und kulturell produziert, intuitiv erlebbar und reflexiv einholbar ist, ist sie der entscheidende Ort sozialer Koordination und Integration und damit der ideale Ort für ethische Reflexionen. 248 3.5 Existentielle Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik Jedoch wird der Zusammenhang von Zeit und Ethik durch die Schnittmenge der Relationalität noch nicht in seinem Kern abgebildet. Der Zusammenhang ist wohl von wesentlich ursprünglicherer und existentiellerer Natur, als die Alltagswahrnehmung es uns zu verstehen gibt. Folgt man Blumenbergs Ätiologie des Bösen, so ist der Tod nicht bloß durch die Sünde in die Welt gekommen, sondern aufgrund des Todes ist die Sünde in ihr geblieben.249 Wie kommt Blumenberg auf diese reziproke Verhältnisbestimmung vom Bösen und der Endlichkeit? Er sieht den Ursprung des Bösen in der schmerzlichen Erfahrung des Mangels an Zeit im Gegenüber zu der Vielzahl an (Handlungs-)Möglichkeiten. Diese Zeitdefizienz, das Zu-wenig an Zeit für zu viele Möglichkeiten und Wünsche, ist natürlich auf die Begrenzung der Lebenszeit durch den Tod und die daraus abgeleitete Irreversibilität von Zeit und die darin begangenen Handlungen zurückzuführen.250 So entsteht der ethische Urkonflikt im Bewusstsein des Menschen als das Unbehagen, „von der Welt bleibe etwas vorenthalten, was denen zufallen würde, die eine Zeit jenseits der eigenen nutzen könnten.“251 Erst aus dem Mangel und der Irreversibilität der Zeit im Gegenüber zu den stetig zunehmenden (Handlungs-)Möglichkeiten kann die Idee von der ‚falschen‘ Entscheidung entstehen und in Konkurrenzverhältnisse, und damit Missgunst und Neid münden, die Verhalten und Verhältnisse negativ beeinflussen. Ethik entsteht also im Übergang von vorprädikativer Lebenswelt, in der der Unterschied zwischen Lebenszeit und Weltzeit noch nicht wahrgenommen wird, und phänomenologischer Welt, in der Zeit als gefährliche Erscheinung gegenübertritt, Kontingenzerfahrungen produziert und Handlungsevidenzen raubt. Anders ausgedrückt: Die Wahrnehmung der eigenen begrenzten Lebenszeit im Gegenüber zur immerwährenden Weltzeit ist das Urdatum des Ausgangs aus einer Welt der Selbstverständlichkeiten (Lebenswelt) in eine 248
Vgl. ROSA, Beschleunigung, 102014, 26. Vgl. BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, 1986, 72. 250 Vgl. HÖHN, Die Zeit der Gesellschaft – Sozialethik als Zeitdiagnose, 2002, 270: „Wenn unser Leben befristet ist, können wir darin nicht alles Mögliche optimieren – uns fehlt einfach die Zeit dazu. Die Zeit nötigt uns dazu, nicht alles Mögliche, sondern das Richtige zu wollen. Für die Wahl des Richtigen aber braucht es wiederum Zeit – die Zeit der Besinnung, des Innehaltens.“ 251 BLUMENBERG, Lebenszeit und Weltzeit, 1986, 72. 249
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Welt ohne unmittelbare Handlungsevidenz (weil Entscheidungen in ihrer Irreversibilität plötzlich ‚falsch‘ sein können) und damit das Urdatum von Abwägung und ethischer Reflexion.252 An dem Problem der begrenzten Lebenszeit ist natürlich erst einmal nicht zu rütteln.253 Doch auch von der anderen Seite lässt sich die problematische Diskrepanz schwerlich beheben: Die äußerliche Einschränkung und Regulierung des Möglichkeitsspektrums eines Menschen sind offenkundig kein probates Mittel, um ihn in eine bessere Verhältnislage (zur Welt, zur eigenen Lebenszeit, zu seinen Mitgeschöpfen etc.) zu versetzen. Eine Möglichkeitssperre (etwa im Bereich der Wirtschaft, der Ökonomie, der Judikative) bekämpft vielleicht ein Symptom, kuriert aber nicht automatisch auch die Begierde nach größtmöglicher Wahlfreiheit und Multiplikation von Lebensoptionen. Das Problem liegt auf tieferer Ebene: Das Böse entstammt nicht allein einem verzerrten Verhältnis von irreversiblem Zeitverlust und exponentiellem Möglichkeitsgewinn, sondern der Vorstellung, nur das Ergreifen sämtlicher (bzw. ausschließlich ‚richtiger‘) Wahlmöglichkeiten mache den Menschen vollkommen und verleihe ihm dadurch Daseinskontrolle und -berechtigung. Allein in der tiefen Verunsicherung darüber, weshalb man geboren wurde und woraufhin man lebt, lässt sich der wahre Grund für Beziehungsstörungen wie Gewinnund Eifersucht erahnen. Das Zeitproblem, das eine ethische Reflexion überhaupt erst nötig macht, ist somit eng mit einem Sinnproblem ‒ ausgelöst durch die Unverfügbarkeit und Unkontrollierbarkeit von Anfang und Ende ‒ verbunden. Die (theologische) Ethik hat sich deshalb m.E. auf ganz grundsätzlicher Ebene mit zwei (Zeit-)Fragen auseinanderzusetzen: (1) Wie kann der Mensch von seinem existentiellen Rechtfertigungszwang entlastet werden, ohne ihn damit gleich schon seiner jeweiligen praktischen Verantwortlichkeit für sein in-
252
Vgl. a.a.O., 23; DERS., Nachdenklichkeit, 1980, 57. Ob der Ausgang aus der Lebenswelt ein geschichtliches Ereignis ist, das tatsächlich stattgefunden hat, bleibt bei H. Blumenberg übrigens unbeantwortet und ist für seine Anthropologie wohl auch nicht relevant: „Erst im Erstaunen, daß es nicht mehr so ist, zeigt sich an, wie es gewesen war, ohne ›Befund‹ gewesen zu sein.“ ( DERS., Lebenszeit und Weltzeit, 1986, 23) H. Blumenbergs narrative Anthropologie hat demnach weniger geschichtlichen als mythologischen Charakter. So kann der Mythos vom Ausgang aus der Lebenswelt sehr gut mit dem biblischen Mythos von Paradies und Sündenfall verglichen oder gar in eins gesetzt werden. Die Frucht vom Baum der Erkenntnis würde demnach die Unterscheidung von Gut und Böse nur mittelbar durch die Unterscheidung von Lebenszeit und Weltzeit offenbaren. 253 Die praktische Bedeutung der Endlichkeit alles Menschlichen und eben auch aller vorhandenen Güter für die Ethik, insbes. für die distributive, restitutive und retributive Gerechtigkeit hat SCHMÜCKER, Die zeitliche Dimension der Gerechtigkeit und ihre Bedeutung für die Ethik, 2017, 909–928 differenziert dargestellt.
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III. Theorie
dividuelles Verhalten zu entledigen? (2) Wie gelangt der Mensch zu einem Gefühl von Rechtzeitigkeit sowohl was seine einzelnen Handlungen, als auch was seinen übergreifenden Lebenszusammenhang betrifft? 3.6 Theoretische Neuausrichtung: Interaktionstheoretische Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik Es gibt nun, abgesehen von den Alltagsbeobachtungen und der existentiellen Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik, ganz unterschiedliche Möglichkeiten, dem theoretisch unterbelichteten Verhältnis von Zeit und Ethik weiter entgegenzuwirken: meta-ethisch bzw. konzeptionell, indem man Ethikansätze nach ihren impliziten Zeitkonstruktionen befragt; 254 normativ, indem man für den Vorrang eines bestimmten Zeitmodus argumentiert; 255 anthropologischhermeneutisch, indem man nach der Bedeutung der Geschichte bzw. nach der Bedeutung von Erinnerung und Erwartung für Handlungsentscheidungen und ethische Reflexionsprozesse fragt; 256 materialethisch, indem Zeit in Form von konkreten ethischen Problemen reflektiert wird (z.B. im Rahmen von Diskussionen über Langlebigkeit oder das Altern in Würde, über politische Nachhaltigkeit oder pränatale Diagnostik etc.) 257 und schließlich etwas übergreifender: verhaltens- bzw. interaktionstheoretisch, indem man den Einfluss von Zeit auf
254
Ein solcher Theorieansatz steht m.E. noch aus. Zu einer normativen Zeitethik in Theologie und Philosophie zugunsten der Zukunftsdimension vgl. u.a. BIERINGER, The Normativity of the Future, 2010; MÖLLERS, Die Möglichkeit der Normen, 2015 (wobei C. Möllers durchaus die Bedeutung von Erfahrungen für den Möglichkeitsraum bedenkt); zugunsten einer Wiederbesinnung auf Tradition und Geschichte in Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit vgl. u.a. KOSELLECK, Vergangene Zukunft, 2010; zugunsten der Gegenwart vgl. u.a. BARTON, Die Lehre von der rechten Zeit, 1995, 287–295; THEUNISSEN, Negative Theologie der Zeit, 1991; gegen eine Polarisierung von Vergangenheit und Zukunft vgl. u.a. ASSMANN, Ist die Zeit aus den Fugen?, 2013; zugunsten eines ausgewogenen Verhältnisses aller drei Zeitmodi vgl. u.a. MEESTERS, Zur Bedeutung des Faktors Zeit im Rahmen einer theologischen Ethik, 1981; TÖDT, Perspektiven, 1988 u.v.m. 256 Vgl. u.a. ASSMANN, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006; ASSMANN, Geschichte im Gedächtnis, 2007; KOSELLECK, Zeitschichten, 2000; REHMANN-SUTTER, Die Empfindung von Schuld und die Ethik der Retrospektive, 2006, 103–120; THEOBALD/HOPPE/BREUNING, „Für alle Zeiten zur Erinnerung“ (Jos 4,7), 2006. 257 Hier ließe sich wirklich eine ungemeine Fülle an Monographie und Aufsätzen auflisten. Während meiner Studien waren v.a. folgende Texte hilfreich: GRAF ET AL., Zeitschrift für Praktische Philosophie. Schwerpunkt: Altern, Ethik und menschliche Zeitlichkeit, 1/2014; KNELL/W EBER, Länger leben?, 2009; KNELL, Die Eroberung der Zeit, 2015; PFLEIDERER/REHMANN-SUTTER, Zeithorizonte des Ethischen, 2006 (insbes. Kap. IV und V); SCHWEDA/WÖHLKE/INTHORN, “Not the years in themselves count”, 2015, 117–126; SCOTT/DEFRANCESCO, Selling long life, 2015, 31–40; SIEP/QUANTE, Der Umgang mit dem beginnenden menschlichen Leben, 2003. 255
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unterschiedlichen Ebenen von menschlichem Verhalten bzw. Interaktionen untersucht.258 Die interaktionstheoretische Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik ist insofern besonders vielversprechend, als sie sich auf unterschiedlichen Ebenen der Ethik bewegt, welche häufig heuristisch in die liquiden Kategorien der Metaethik, Ethik und Moral unterteilt werden. 259 Damit deckt dieser Ansatz ein besonders breites Spektrum möglicher Verhältnisse von Zeit und Ethik ab und kann teilweise sogar die übrigen genannten Theorieansätze integrieren. Die Grundthese des hier vertretenen interaktionstheoretischen Ansatzes ist: Es gibt keine zeitlose Ethik.260 (1) Denn erstens ist menschliches Verhalten bzw. sind menschliche Interaktionen nicht zeitlos: a) Sie passieren zu einem bestimmten Zeitpunkt, der die Synchronisation unterschiedlicher individueller Zeitsysteme voraussetzt. b) Sowohl einzelne Handlungen als auch Interaktionen können in ihrer Dauer differieren.
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Auf der Suche nach einer systematischen Untersuchung zur Bedeutung von Zeit für menschliches Handeln wird man am ehesten in den deskriptiven Wissenschaften der Soziologie und Psychologie fündig, ohne dass man hier schon umfassende Theorien erwarten könnte; vgl. u.a. LUHMANN, Zeit und Handlung – Eine vergessene Theorie, 1979, 63–81; MCGRATH/KELLY, Time and Human Interaction, 1986; MORGENROTH, Zeit und Handeln, 2008; SCHÖNECK, Zeiterleben und Zeithandeln Erwerbstätiger, 2009; SCHÖPS, Zeit und Gesellschaft, 1980. Theologische Arbeiten zum Verhältnis von Zeit und Handlung führen meist keine Unterscheidung zwischen der Handlung selbst, der Reflexion darüber und dem zeitlichen Bezug zwischen beiden ein (vgl. HORNTRICH, Gut in der Zeit, 2003; insbes. Kap. 2.2.3 Die zeitliche Konstitution der Handlung). 259 Zwar treten bei der Unterscheidung von unterschiedlichen Ebenen der Ethik (Metaethik als Reflexion der Ethik; Ethik als Reflexion der Moral) immer wieder Probleme einer klaren Grenzziehung (insbes. bei der Frage nach der Zuordnung von Normativität, Reflexivität, von Form und Inhalt und von temporalen Blickrichtungen) auf. So kann bspw. die Frage nicht einhellig beantwortet werden, auf welcher Ebene die Unterscheidung zwischen Deontologie und Teleologie anzusiedeln wäre: Ist das moralische Verhalten selbst von diesen zwei Denkformen beeinflusst, oder handelt es sich um eine retrospektive Kategorisierung von moralischem Verhalten, oder liegt diese Unterscheidung gar auf rein formaler, metaethischer Ebene? Wird auf der Ebene der Moral gar nicht reflektiert? Operieren Ethik und Metaethik durch und durch reflexiv oder auch zu gewissem Grade intuitiv? Auf welcher Ebene kommen normative Wertungen vor? etc. Jedoch kann eine als rein heuristisch verstandene Unterscheidung die Aufmerksamkeit für unterschiedliche Nuancen des Zeit-EthikVerhältnisses und damit dessen Differenzierungsgrad erhöhen. 260 Diese ganz grundlegende These geht auch aus den gemeinsamen Diskussionen des Mainzer Mini-Graduiertenkolleg „Die Zeitdimension in der Begründung der Ethik“ hervor. Die folgenden Subthesen sind tlw. in Anlehnung an die Thesenreihe des Graduiertenkollegs zur Zeitdimension der Ethik entstanden.
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III. Theorie
c) Handlungen und Interaktionen sind zeitlich mehrdimensional, insofern Handlung, um verständlich sein zu können, sowohl Voraussetzungen als auch Folgen haben und damit in einer bestimmten Ereignisfolge eingebettet sind.261 d) Zeitpunkt, Zeitdauer, Reihenfolge und Inhalt von Handlungen sind von leitenden Zeitnormen abhängig. Jene (normativ-)zeitlichen Bestimmungen von Handlungen/Interaktionen können auch zum Gegenstand ethischer Reflexionen und Bewertungen werden. (2) Zweitens ist aber auch die Reflexion von Interaktionen, deren zeitlicher Strukturierung und deren leitenden (Zeit-)Normen nicht zeitlos: a) Die Reflexion findet zu einem bestimmten Zeitpunkt statt und ist damit von den gegenwärtig herrschenden Normen oder dominanten normativen Traditionen, aber auch von der gegenwärtigen Stimmung beeinflusst. Außerdem ist der zeitliche Abstand zwischen ethischer Reflexion und reflektiertem Verhalten ausschlaggebend für die Ergebnisse. b) Auch die Reflexion kann eine bestimmte Dauer haben, unterschiedliche Stufen der Abwägungen vollziehen und damit mehr oder weniger differenziert sein. c) Und schließlich kann die ethische Reflexion (in Analogie zur zeitlichen Mehrdimensionalität der Handlung) unterschiedliche Prioritäten in Bezug auf die Zeitdimensionen setzen und an unterschiedlichen Zeitnormen ausgerichtet sein. Eine an einer offenen Zukunft orientierte Reflexion wird zu anderen Ergebnissen kommen als eine an vergangene Erinnerungen verpflichtete Reflexion etc. In Anwendung dieser Verhältnisbestimmung auf die oben gegebene Ethikdefinition lässt sich sagen, dass es einer zeitbewussten Ethik um die zeitsensible reflexive Durchdringung von Lebensweisen in und mit der Zeit hinsichtlich ihrer leitenden Zeitnormen mit dem Ziel der Bewertung geht. Bevor wir uns um die Zeitsensibilität der Reflexion kümmern, soll zunächst die Bedeutung der Zeit für menschliche Verhaltens- und Lebensweisen im Vordergrund stehen. Dafür ist es wichtig, sich nicht nur vor Augen zu halten, dass der Kern der sozialen Lebensweise des Menschen, nämlich seine Interaktionen mit anderen Menschen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, von unterschiedlicher Dauer und in unterschiedlichen Abfolgen vonstattengehen können (1abc). Es ist ebenso wichtig zu sehen, dass das Handeln innerhalb eines sozialen Gefüges wesentlich von Zeitrhythmen mit normativem Charakter abhängig ist (1d), die eine verbindliche Erwartbarkeit für das eigene und fremde Handeln
261 Zu Verlaufsstruktur und Verständlichkeit einer Handlung vgl. MACINTYRE, Der Verlust der Tugend, 1995, 279.
3. Ethik und Zeit
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garantieren.262 Werden Handlungen einzelner Individuen oder Kollektive einander nicht durch aufwendige Synchronisierungsleistungen zugeordnet, geraten die Interaktionspartner immerzu in Zeitkonflikte. 263 Die Frage nach der Rechtzeitigkeit des Verhaltens (und übergreifender: der gesamten Lebensweise) wird v.a. dann virulent, wenn es im Zusammenleben von Menschen zu Konflikten kommt, die in irgendeiner Weise mit der jeweiligen Zeitorientierung zu tun haben. Diese Konflikte können sich ganz schlicht in verpassten Begegnungen manifestieren, sie können aber auch weniger offensichtlich in konfligierenden Einschätzungen der Situation und des Handlungsbedarfs durchschlagen, man denke nur an das Beispiel des nachhaltigen Klimaschutzes, dessen Notwendigkeit je nach Orientierung in und an der Zeit völlig unterschiedlich bemessen werden kann. Die reine Uhrenzeit als objektives Messinstrument erweist sich als unfähig, konfliktvorbeugende Synchronisierungsleistungen zu vollbringen. Sie allein kann die Rechtmäßigkeit und Rechtzeitigkeit eines Verhaltens oder einer Handlung im Rahmen einer Interaktion nicht bestimmen, sie verleiht einer Handlung noch keinen Wert- oder Unwert. Deshalb muss es sich offensichtlich um ein inhaltlich bestimmtes Zeitsystem handeln, welches eine Handlung, eine Interaktion, ein Verhalten zum richtigen Zeitpunkt, zur richtigen Dauer und zur richtigen Reihenfolge hin anleiten kann und damit zur zeitlichen Koordination von Einzelhandlungen beiträgt. Auf den Verlauf und die Beschaffenheit einer Interaktion können jedoch nicht nur ein qualitativ bestimmtes Zeitsystem, sondern ganz unterschiedliche und durchaus divergente Zeitkonzeptionen Einfluss nehmen: biographisches Zeiterleben (ablaufende Lebenszeit und unterschiedliche Phasen des Lebens); kosmologische Zeitentwürfe (Weltzeit: linear, zyklisch, episodisch); ökologische, astronomische und biologische, kurz: natürliche Zeitzyklen (Tag/Nacht; Erntezeit; Mondzyklus; Zyklen des Organismus etc.); astrologische Zeitberechnungen (Tagewählerei; Stundenregenten etc.); institutionelle Zeitregime 264 (Kalender; Gnadenjahr; Arbeitszeiten; Rentenalter etc.); politische Zeitstrategien oder öffentliche Zeit (z.B. Opportunität; Legislaturperioden; Zeiten für besondere Ansprachen oder Entscheidungen); ökonomische Zeitspannen (Saatund Erntezeit; Investitionszeit; Effizienz etc.); intersubjektive Zeitabsprachen (Termine; Deadlines; Treffzeitpunkt etc.); konventionelle Zeitrahmen (z.B. befristete Gastfreundschaft); religiös-spirituelle oder kultische Zeittraditionen 262
Vgl. BENTHAUS-APEL, Zwischen Zeitbindung und Zeitautonomie, 1995, 41; HORNGut in der Zeit, 2003, 321; RAMMSTEDT, Alltagsbewußtsein von Zeit, 1975, 48; ROSA, Beschleunigung, 102014, 25; SCHÖPS, Zeit und Gesellschaft, 1980, 73. 263 Vgl. ROSA, Beschleunigung, 102014, 34. 264 Nach A. Assmann, die den Begriff des Zeitregimes besonders geprägt hat, bezeichnet ein Zeitregime als „a temporal ordering and orientation that is deeply entrenched in the culture and provides a basis for implicit values, patterns of thought and the logic of action.“ (ASSMANN, Transformations of the Modern Time Regimes, 2013, 42) TRICH,
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III. Theorie
(Feste; Feiertage; Kultrhythmen; „heilige“ Zeiten); historiographische Zeiteinteilungen (Epochen; Episoden etc.); topographische Zeiteinteilungen (z.B. Ein-Tages-Marsch; Fünf-Stunden-Ritt); neuropsychologisches Zeiterleben (Beschleunigung; Verzögerung; Rhythmus etc.) oder kognitive Zeiterfahrungen (Erinnerung; Anschauung; Erwartung). Je nachdem welche dieser Zeiterfahrung(en) für wesentlich gehalten wird/werden, kann/können diese priorisiert werden und sich normativ auf Verhalten und Handlungen auswirken. 265 Sie bestimmen auch, in welcher Weise einer Handlung/einem Verhalten Sinn und Konsistenz verliehen wird. Zeitkonzepte werden also dann zu Zeitnormen, wenn sie der Orientierung von Handlungen dienen und sich gegenüber anderen Zeitnormen als in besonderer Weise richtungsweisend etablieren. Konkret können Zeitnormen wiederum sowohl das Was als auch das Wann einer Handlung beeinflussen. In verschiedenen Bereichen des Lebens können selbstverständlich auch ganz unterschiedliche Zeitnormen relevant werden. Konflikte entstehen häufig daraus, dass die interagierenden Subjekte (häufig unbewusst) in unterschiedlichen Zeitsystemen Orientierung finden (Beispiel: Die Frau mit Kinderwunsch hört ihre biologische Uhr ticken, der Mann steckt aber noch mitten in der Probezeit seines karriereversprechenden neuen Jobs), oder dass die gegebene Handlungssituation unterschiedliche Zeitorientierung in einem ethischen Subjekt in Rivalität zueinander bringt (der christliche Ökonom hat am verkaufsoffenen Sonntag die Möglichkeit, seinen Laden aufzuschließen). Selbstverständlich sind diese aufgelisteten Zeitnormen keine starren Gebilde, sondern unterliegen selbst der zeitlichen Veränderung. So können stets neue Zeitnormen hinzutreten und alte an Bedeutung verlieren oder beizeiten wiedergewinnen (so z.B. die neuere Trendwende hin zum sog. Sabbatical). Auf der ebenfalls zeitsensiblen Ebene der Reflexion von Verhaltens- und Lebensweisen, sofern diese überhaupt eindeutig von der Ebene der Praxis zu trennen ist, existieren dann „sozialisierte[n] Motiv- und Interpretationsmuster“266 zur Bewertung und Sinnkonstruktion des eigenen und des fremden Verhaltens. Handlungen werden retrospektiv oder antizipatorisch in eine sinnvolle und konsistente Reihenfolge gebracht, mit anderen Ereignissen synchronisiert, Kausalitäten zugeordnet und damit ein Stück weit der Kontingenz entrissen.
265 M. Schöps bezeichnet „Zeit als normative Komponente im Handeln, als abgestimmte und abstimmbare Dauer, Terminierung, Koordinierungszwang, Selektionszwang, Reihenfolge von Prioritäten etc.“ (SCHÖPS, Zeit und Gesellschaft, 1980, 46) Vgl. dazu auch H. Rosa: „die in einer Gesellschaft vorfindbaren Zeitstrukturen haben zugleich einen kognitiv und normativ verbindlichen Charakter und eine tief wurzelnde, den sozialen Habitus der Individuen bestimmende Verankerung in der Persönlichkeitsstruktur.“ (ROSA, Beschleunigung, 102014, 28) 266 HORNTRICH, Gut in der Zeit, 2003, 65.
3. Ethik und Zeit
113
Nun kann menschliches Verhalten im Rahmen der Reflexion aber nicht nur zeitlich und sinnhaft geordnet oder nach seiner Rechtmäßigkeit bewertet werden, sondern es kann auch explizit nach den unterschiedlichen Zeitnormen gefragt werden, die hinter einem bestimmten Verhalten stehen und dieses anleiten. Das bewusste Extrahieren und Evaluieren von Zeitnormen und das Bewusstmachen eigener Zeitnormen trägt zur Entwicklung von Zeitkompetenz bei. „Zeitkompetenz meint zuerst die Fähigkeit, die verschiedenen Zeitstrukturen zu erkennen, dann mit ihnen umzugehen und nach Möglichkeit sie auch langfristig mitgestalten zu können.“ 267 Für die hiesige Untersuchung soll, wie mehrfach angesprochen, von der Ebene des Verhaltens bzw. der Interaktionen, insbesondere ihres Zeitpunkts, ihrer Dauer, ihrer Abfolge (1abc) sowie ihrer leitenden Zeitnormen (1d) und nicht zuerst von ihrer Reflexion ausgegangen werden. Es geht zuvorderst um die sog. „Aktzeit“268, die „Zeit des Lebens oder des Handelns“ 269 der in der Erzählung auftretenden joh. Figuren. 270 Erst im zweiten Schritt stehen die Reflexion und die Vorschläge zur Bewertung des Verhaltens und der impliziten Zeitnormen im Rahmen der narrativen Konfiguration im Vordergrund. Hier kann dann gefragt werden, wie die Erzählung das Figurenverhalten durch bestimmte narrative Techniken interpretiert und wie sie ihm (Un-)Verständlichkeit, (Un-)Sinn- und (In-)Kohärenz verleiht. Dabei spielt auch eine Rolle, wie viel Erzähl- und damit Reflexionszeit einem bestimmten Zeitverhalten oder einer bestimmten Zeitnorm zugetragen wird, wie stark mittels ihrer Vor- und Darstellung Erwartungen gebrochen werden und damit die Reflexionszeit intensiviert/erhöht wird (2b) und welche Zeitperspektiven (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Ewigkeit) die Narration möglicherweise protegiert (2c).
267 A.a.O., 322. Eine solche Zeitkompetenz kann man auch auf der Ebene der zeitlichen Beziehung zwischen Handlung und Reflexion entwickeln: Es kann bspw. über den Einfluss des zeitlichen Abstands und der (Selbst-)Distanzierung zwischen Handlung und ethischer Reflexion diskutiert werden. Nach Christoph Möllers machen bestimmte „Techniken der Selbstdistanzierung [...] den Kern normativer Praktiken aus.“ (MÖLLERS, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 14) H. Blumenberg beschreibt die sog. „actio per distans“ als Inbegriff der Vernunft und Reflexionsleistung des Menschen, dem die Unmittelbarkeit des Lebens und Handlungsevidenzen abhandengekommen sind (vgl. BLUMENBERG, Theorie der Unbegrifflichkeit, 2007, 13; vgl dazu auch DERS., Wirklichkeiten, in denen wir leben, 1996, 122). 268 WEINRICH, Tempus, 62001, 75–77. 269 RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989, 109. 270 C. Lăcan hat in ihrem Aufsatz zu Zeit und Figur gezeigt, dass narrative Figuren über ihre eigene Zeit verfügen, auf eine Koordination der unterschiedlichen Zeiten angewiesen sind und Zeit unterschiedlich wahrnehmen: „Figuren können [...] über ein eigenes Zeitsystem verfügen, das sich von demjenigen ihrer Umwelt oder anderer Figuren in signifikanter Weise unterscheidet [...] Bei der ‚rechtzeitigen Rettung‘ im höfischen Roman kommt es auf die Koordination zweier Figurenzeiten an [...] Figuren nehmen auf je eigene Weise wahr, wie Zeit vergeht.“ (LĂCAN, Zeit und Figur, 2015, 292)
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III. Theorie
Die zeitliche Distanz zwischen Reflexion und dem zu reflektierenden Verhalten (2a) spielt in Bezug auf das JohEv i.S. der nachösterlichen Perspektive des JohEvs eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Frage, inwieweit der nachösterliche Standpunkt die impliziten ethischen Konfigurationen der Erzählung beeinflusst hat, könnte allerdings zum Thema einer eigenständigen Monographie erhoben werden. Die zeitgeschichtliche Rückfrage nach der Distanz zwischen Abfassungs- und Aktzeit wird in dieser Arbeit aus zeitlichen Gründen ausgeklammert und auf die rein narratologische messbare Distanz der Erzählung zum Geschehen beschränkt.271 Der zeitliche Abstand der nachösterlichen Reflexion tritt aber ohnehin wesentlich deutlicher in den Redepassagen Jesu (bspw. den Abschiedsreden) als in den Interaktionspassagen in Erscheinung. Da sich die hiesige Untersuchung auf die Interaktionen und deren zeitliche Besonderheiten konzentriert, kann die zeitliche Distanz der nachösterlichen Reflexion vorerst vernachlässigt werden. Wichtig ist aber auch für unsere Untersuchungen die Erkenntnis, dass die spezielle joh. Darstellung der Handlungen Jesu nicht ohne die Erfahrung der Zeugen der Kreuzigung und v.a. der Auferstehung denkbar wäre und damit stark nachösterlich geprägt ist.272
4. Eigener Ansatz 4. Eigener Ansatz
4.1 Neue Verhältnisbestimmung: Zeit, Ethik und Erzählung Die Verhältnisbestimmung von Zeit, Ethik und Erzählung hat an einigen Ecken und Enden theoretische Lücken offenbart: So fehlt der Narratologie eine systematische Zusammenschau narrativer Inszenierungsstrategien von Figuren271 Die Distanz der Erzählung zum Geschehen stellt sich, wie im methodischen Teil IV unter 2.3.3 Bewertungsorientierung zu sehen sein wird, durch den sog. dramatischen oder narrativen Modus der Erzählung ein. Dabei gilt: Je näher die Erzählung im narratologischen Sinne zum erzählten Geschehen steht, desto weniger ist das Geschehen von der Darstellung überformt und desto eher können wir auf die eigentliche temporale Beschaffenheit der Interaktionen zurückgreifen, desto näher kommen wir also der ‚Echtzeit‘ des Geschehens bzw. der den Interaktionen immanenten Zeit, die uns besonders interessiert. 272 Der/die Verfasser/Verfasserin(nen) des Evangeliums könnte(n) Jesus nicht als intemporalisiert und zugleich derart zeitsouverän darstellen, ohne über die Erkenntnis zu verfügen, dass er durch den Tod in das ewige Leben hindurchgegangen ist. Somit basieren die Darstellungen des Evangeliums selbstverständlich auf der nachösterlichen Erkenntnis. Gleichwohl ist jene Erfahrung der Überwindung von Tod hin zum Leben auf diegetischer bzw. geschehensimmanenter Ebene dem zeiterhabenen und doch intemporalisierten Christus zu jedem Zeitpunkt als gegenwärtige Erfahrung zuzutrauen, d.h. für die ‚Figur‘ Jesus ist stets schon das geschichtsbeschließende Ereignis präsent, von dem her die Zeugen seine Geschichte erst reflektieren und darstellen können. Für das Verhalten der ‚Figur‘ Jesus ist die nachösterliche Erkenntnis nicht entscheidend, weil er vor Ostern immer schon von Ostern her lebt.
4. Eigener Ansatz
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und Interaktionszeit, weil sie sich bis dato nur auf den Vergleich von narratorialer und geschehensimmanenter Zeit (Erzählzeit und erzählter Zeit) fokussiert hat, ohne die geschehensimmanente Zeit selbst zu beobachten. Die biblisch-narratologischen Ethikansätze (in Bezug auf das JohEv) lassen ferner eine klare, methodische Unterscheidung zwischen den Ebenen des Geschehens (dem Was der tatsächlichen Figureninteraktion), der Konfiguration (dem Wie der ethisch-reflexiven Darstellungsmittel der Figureninteraktion) und der Refiguration (dem Woraufhin der ethisch-reflexiven Leserbewegung) vermissen. Meist wird der Blick auf das Figurenverhalten durch die Analyse der Darstellungsmittel und seiner Leserwirkung überformt, um der Gefahr eines positivistischen Rückschlusses auf das historische Geschehen zu entgehen. Die Ethiktheorie schließlich verfügt noch über keine zufriedenstellende, umfassende Analyse zur Bedeutung des Parameters Zeit auf den unterschiedlichen Ebenen menschlichen Verhaltens. Bisher wurden Zeit und Ethik höchsten normativ (Argumentation für die Bedeutung eines bestimmten Zeitmodus), anthropologisch-hermeneutisch (Erinnerungs- und Gedächtnisforschung) oder materialethisch (Lebensverlängerung; Altern in Würde; nachhaltiger Klimaschutz; pränatale Diagnostik etc.) zueinander in Beziehung gesetzt. Der Blick auf die Bedeutung von Zeitnormen für die menschliche Lebensweise und noch konkreter für die menschlichen Interaktionen blieb bisher aus. Immer wieder wurde deutlich, dass sich die theoretische Bruchstelle auf einen gemeinsamen blinden Fleck zurückführen lässt, nämlich die fehlende Beobachtung des konkreten Geschehens. Wird der Theorie grundsätzlich vorgeworfen, dass ihr der Blick für das Wirkliche und Konkrete abgehe, so mag darin auch das Problem für die jeweiligen theoretischen Verhältnisbestimmungen von Zeit, Ethik und Erzählung entdeckt werden. Die Theorie zu Zeit und Erzählung schaut nicht auf die konkrete geschehensimmanente Interaktionszeit, die Theorie zu Erzählung und Ethik nicht auf das konkrete Figurenverhalten abseits deren narrativer Darstellung und die Theorie zu Ethik und Zeit nicht auf die Bedeutung der Zeit für konkretes menschliches Verhalten. Trotz der theoretischen Lücken erscheint mir die Trias von Erzählung, Ethik und Zeit als interoperabel und aussichtreich. Im vierten Evangelium entwickelt diese Verbindung eine besondere Dynamik. Hier, in der lebendigen Erzählung des JohEvs, kann sich der Leser in die konkrete Szene hineinbegeben, das Zeitverhalten der Figuren nachempfinden, unterschiedliche Konflikte miterleben und Handlungsoptionen gemeinsam mit den Figuren austesten, über eigene Verhaltensmuster nachdenken und schließlich entscheiden, welches Zeitverhalten das für ihn und seine Mitmenschen normative und orientierende sein könnte. Gleichzeitig liefern die abstrakten Reden und Erzählerkommentare, die Erzählschemata mit (groben) örtlichen und zeitlichen Rahmenangaben die Möglichkeit, wieder in Distanz zu treten, zu reflektieren und abzuwägen. Diese Doppelbewegung in die konkrete Szene hinein und dann wieder in die beobachtende Distanz entspricht nach meinem Dafürhalten der Doppelbewegung
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III. Theorie
recht verstandener ethischer Prozesse. Denn ethische Reflexion muss einerseits immer auf konkrete Situationen bezogen sein, sich in diese einfühlen können, sonst droht sie den Blick für das Wesentliche und das, was an der Zeit ist, zu verlieren. Konkrete Entscheidungssituationen bedürfen aber umgekehrt v.a. bei einem Mangel an Handlungsevidenz auch eines Innehaltens, einer Distanznahme und einer Abwägung der Möglich- und Wertigkeiten. Diese Doppelperspektive bietet das Evangelium dem Leser an. Das JohEv mit seiner besonderen Temporalstruktur, mit den vielen inszenierten Zeitkonflikten zwischen den Figuren drängt sich geradezu als Forschungsareal für die Untersuchung der Bedeutung der Zeitdimension für die Ethik auf. Seine Gattung, die Erzählung, prädestiniert das JohEv für zeit-ethische Untersuchung, denn die metaphorischen Referenzen innerhalb einer Erzählung beziehen sich, wie Ricœur gezeigt hat, explizit auf die Sphäre des Handelns und dessen zeitlicher Werte.273 „Worin jedoch“, fragt Ricœur, „überkreuzen sich die Spuren- und die Metaphernreferenz [gem. sind historiographische und fiktionale Referenzen auf unsere Welt, Anm. d. Verf.], wenn nicht in der Zeitlichkeit der menschlichen Handlung?“274 Dass die Erzählung wiederum nützlich für ethische Überlegungen ist, liegt nicht nur an ihrer Referenz auf den Bereich von Handlungen, sondern ganz grundsätzlich an ihrer Referenzfunktion. In dieser nicht rein deskriptiv, sondern immer ein Stück weit metaphorisch operierenden Referenzialität auf die wirkliche Welt, welche Abweichungen zum schon Erkannten zulässt, wird die Erzählung zum „weiträumigen Laboratorium für Gedankenexperimente“ 275, „wodurch Einschätzungen, Bewertungen, Urteile der Zustimmung und des Mißfallens erprobt“ 276 und „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen“ 277 unternommen werden können. Die Heterogenität sowohl von Zeit(en) als auch von ethischen Urteilen wird in der Erzählung synthetisiert und, ohne sie einzuebnen, fruchtbar gemacht. Zur Entwicklung einer Zeitkompetenz auf dem Weg zu einem bewussteren Umgang mit Zeitstrukturen und deren normativer Wirkung bietet sich deshalb insbesondere die Arbeit mit Erzählungen an. Erzählungen können nicht nur Zeitpunkt, Zeitdauer und zeitliche Abfolge von Interaktionen darstellen, sondern können durch die Einbettung von Interaktionen in bestimmte Settings, durch motivationale, begründende oder rechtfertigende Aussagen der Figuren, durch die Darstellung ihrer Emotionen oder auch durch Erzählerkommentare Hinweise auf mögliche Zeitorientierungen der Figuren und deren Verhalten geben. Darüber hinaus sind Erzählungen ein Paradebeispiel für Verzögerung auf dem Weg reflexiver Bewertung. Sie regen zur Nachdenklichkeit an, stellen 273
Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 9. A.a.O., 129. 275 DERS., Das Selbst als ein Anderer, 1996, 182. 276 A.a.O., 143. 277 A.a.O., 201. 274
4. Eigener Ansatz
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unterschiedliche Bewertungsmöglichkeiten vor, ohne den Reflexionsprozess des Lesers zu schnell mit einem eindeutigen Merk- und Lehrsatz abzuschneiden. Außerdem, so wurde bereits festgestellt, ist Zeit vornehmlich in Verhältnissen und Relationen wahrnehmbar und greifbar. Verhältnisse aber sind gerade in ihrer Komplexität besonders gut in Narrationen einzufangen, weil es diesen möglich ist, die unterschiedlichen Perspektiven der Personen in einem Textganzen widerspruchsfrei abzubilden. 278 Dies hatte Ricœur als Möglichkeit der „Synthesis des Heterogenen“279 bezeichnet. Über die dreifache Schleife der Verhältnisbestimmung wurde deutlich, dass Erzählung, Ethik und Zeit sich im Kern in ihrem liminalen Spiel zwischen Abstraktion (Erzählschemata, Normen, Zeitstrukturen) und Konkretion (inszenierte Situationen, situative Applikation von Normen, konkrete Handlungszeit), zwischen Reproduktion und Varianz, zwischen allgemeinen und individuellen Fällen, zwischen Objektivität und Subjektivität überschneiden. Dadurch spannt sich der Bogen von Zeit, Ethik und Erzählung zu einer dynamischen Spirale, in der sich die Konstituenten gegenseitig wiederholend stabilisieren, beeinflussen und vorantreiben.
Abb. 1: Verhältnis Zeit, Ethik und Erzählung I
278 Die Relationalität der Zeit versteht auch L. Werner als Schlüssel zu ihrer narratologischen Erschließung (vgl. WERNER, Zeit im Text, 2015, 85). 279 RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 7.
118
III. Theorie
Abb. 2: Verhältnis Zeit, Ethik und Erzählung II
Zeit ist nur in Relationen wahrnehmbar.
Zeit findet zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Vermessung statt.
Relationen sind primärer Gegenstand der Ethik.
Ethik bewegt sich zwischen konkreten Situationen und abstrakten Normen.
Erzählungen sind Medium von Relationen.
Narrationen zeichnen konkrete Situationen in einer überindividuellen Gattung/ Form.
Abb. 3: Helix von Zeit, Ethik und Erzählung
4.2 Diachron informierte Synchronität Erkenntnisquelle und primäres Forschungsareal ist der Text, wie er uns heute vorliegt.280 Texte sind aber keine hermetisch abgeriegelten Gebilde, sondern 280 Der Text, der uns im Novum Testamentum Graece vorliegt, ist freilich auch nur den annäherungsweisen Rekonstruktionsversuchen eines sog. griech. Ausgangstextes durch das Institut für neutestamentliche Textforschung zu verdanken und steht damit auf wackligeren Füßen, als man sich als Exeget eingestehen möchte. Begännen wir unsere Exegese aber stets
4. Eigener Ansatz
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bauen auf einem Vor- oder besser Weltverständnis auf und wirken auch auf dieses zurück. Diese doppelte Referenz des Textes auf die Welt hatte Ricœur mit den Modi der Prä- und Refiguration beschrieben.281 Umso bedeutsamer wirkt diese doppelte Referenz bei biblischen Erzählungen, die von der Geschichte Gottes mit den Menschen, im NT speziell vom Christusgeschehen handeln. Die biblischen Erzählungen haben den theologischen Anspruch, sich auf ein Geschehen zu beziehen, das sich in unserer Zeit und unserer Geschichte vollzogen hat. Gleichwohl möchte ich den Text nicht als Fenster zu einem vergangenen Geschehen gebrauchen, gar mit dem positivistischen Glauben, durch eine Bereinigung des Textes von allen nachträglichen (allegorischen) Interpretationen des Geschehens und jeglichen redaktionellen Überformungen könne man zum eigentlichen Geschehen zurückkehren. Biblische Texte sind bezogen auf die Geschichte und ihre Theologie basiert auf der Vorstellung von Gottes Wirken in der Geschichte, aber sie stehen fern eines positivistisch-historiographischen Anspruchs der lupenreinen und ausschließlichen Wiedergabe von Fakten, als ob dies überhaupt möglich wäre.282 In ihnen sind wertvolle Erinnerungen und Erfahrungen der Menschen mit Gott aufgehoben, die als wirklich und historisch bezeichnet werden können, die sich auf ein Dass der Begegnung mit Gott und seinem Sohn beziehen, die das Wie dieser Begegnung aber nur aus je eigener Perspektive zu erzählen ansetzen. 283 Ich möchte den Text aber auch nicht primär als Spiegel gebrauchen, um darin etwas über das Denken der vermeintlichen Verfasser/Verfasserinnen und deren Glaubens- und Lebenssituation zu erfahren. Ebenso wenig wird der Text in erster Linie als Spiegel zum Reflexionsmedium für mein eigenes Leben verzweckt.
mit der Begutachtung aller vorhandenen Handschriften für die jeweilig auszulegende Stelle, so gelangten wir kaum über die Textkritik hinaus. Deshalb basiert auch der exegetische Beitrag dieser Arbeit auf der gemeinsamen Text- und damit Diskussionsgrundlage der 28. Auflage der kritischen Textedition des Novum Testamentum Graece (2013), begründet von E. und E. Nestle, herausgegeben von B. und K. Aland, J. Karavidopouelos, C. M. Martini, B. M. Metzger. Nur in für die hiesige Thematik besonders kritischen Fällen werden die vom vorgeschlagenen Text abweichenden Lesarten des kritischen Apparates berücksichtigt. 281 Vgl. a.a.O., 87. 282 Vgl. zum verschlungenen Verhältnis von Geschichte und Text und gegen eine scharfe Trennung von Geschichtsschreibung und Narration vgl. ZIMMERMANN, Geschichtstheorien und Neues Testament, 2011, 417–444; DERS., Verschlungenheit und Verschiedenheit von Text und Geschichte, 2017, 9–42. 283 A.a.O., 40: „Sprache und Text sind es, die einzig Zugang zur Vergangenheit schaffen können. Sie reduzieren die Komplexität historischer Ereignisse, Erfahrungen und Erinnerungen auf die Begrenzung narrativer Repräsentation und machen die Geschichte somit erst verstehbar. Doch zugleich sind es auch Sprache und Text, die gerade durch ihre Leistungsfähigkeit der Abstraktion und Deutung von der Vergangenheit distanzieren.“
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III. Theorie
In der vorliegenden Arbeit wird der Evangeliumstext demnach weder primär als Fenster zu einer vergangenen Welt (historisch-chronikalische Ansätze), noch als Spiegel für den Leser (narratologischer Ansatz) oder Spiegel der nachösterlichen Gemeindesituation (zeitgeschichtlicher Ansatz), noch als Ikone 284 oder Symbol (theologischer Ansatz) aufgefasst. Zuallererst wird das erzählte Geschehen an sich, genauer: die menschlichen Begegnungen und deren zeitliche Besonderheiten beobachtet, unabhängig von dem (Fenster-, Spiegel-, Bild)Rahmen, in den es eingefasst ist. Eine diachrone Öffnung erfährt die Analyse des JohEvs in zwei wesentlichen Bereichen: In theologischer Hinsicht, insofern am historischen Dass des Christusgeschehens, am historischen Dass der Begegnung Christi mit den Menschen, seinem Eintritt in unsere historische Zeit, seinem realen Erleiden des Todes am Kreuz festgehalten wird. 285 In hermeneutischer Hinsicht, insofern sowohl die Interpretations- und Darstellungsweise des Geschehens durch seine textliche Vermittlung als auch die Leserrezeption des Textes vor dem Hintergrund historisch gewachsener „Scripts“ und „Frames“ 286 analysiert wird.287 Hinsichtlich der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Textes, seiner ursprünglichen Fassung und seiner redaktionellen Einschübe und Korrekturen (sowie seiner ‚ursprünglichen‘ griech. Textbezeugung) wird hingegen
284 Als einem „Icon“ möchte R. Bieringer dem Evangeliumstext begegnen: „The text is thus not only a window which provides access to information about the world behind the text. The religious text is also more than a mirror in which, by looking at the world of the text, we are confronted with ourselves. Religious texts are icons, windows into the mysterious reality of the future with God has in store for all of creation.“ (BIERINGER, Texts That Create a Future: The Function of Ancient Texts for Theology Today, 2010, 106) 285 Zur Bedeutung der historischen Faktizität des Christusgeschehens für den christlichen Glauben vgl. ESSEN, Historische Sinnbildung, 2016, 74. 286 Die Idee vom sog. Framing wird in den Kognitions-, Sprach- und Kommunikationswissenschaften v.a. für politische Informationsvermittlung und -verarbeitung gebraucht und meint die Einbettung von Wahlkampfthemen, politischen Ereignissen etc. in normative und emotive Begriffs- und Denkraster (vgl. WEHLING, Politisches Framing, 2016, 17–42). Im hiesigen Kontext wird es als subjektiver Deutungsrahmen verstanden, der sich aus dem jeweils lebendigen Wortschatz, aus bekannten Bildfeldern, aus der Motiv- und Traditionsgeschichte, aus intertextuellen Referenzen, kurz: dem begrifflichen, imaginativen und konzeptuellen Vor- bzw. Weltverständnis sowohl des Textes als auch seiner Leser ergibt (vgl. dazu auch FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 38; FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden der neutestamentlichen Exegese, 2016, 175). Mehr zu statischen Frames und prozedurale Skripts im methodischen Teil IV unter Exkurs: Das Bild des Lesers. 287 Einen ähnlichen Umgang mit diachronen Fragen rund um das JohEv schlägt T. Engberg-Pederson in seiner kürzlich erschienenen Monographie vor, in der er eine narrative philosophische Lesart am JohEv erprobt. Das ‚historische‘ Material solle allein in seiner heuristischen Funktion eingesetzt werden, nämlich den Text selbst (nicht das, was dahinterliegt) zu erhellen (vgl. ENGBERG-PEDERSEN, John and Philosophy, 2017, 24).
4. Eigener Ansatz
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Enthaltung geübt. Für solcherlei Operationen ist der exegetische Werkzeugkasten m.E. nicht ausreichend ausgestattet. Man würde nicht mehr als spekulative Resultate erwarten können. Deshalb wird im Folgenden auch soweit wie möglich auf die Rede von dem Autor, dem Evangelist oder den Autoren verzichtet. Es soll allein vom Text, dem darin dargestellten Geschehen, dessen Sinnzuschreibungs- und Bewertungstendenzen und dessen Techniken zur Bewertungslenkung seiner Leser die Rede sein. Im Hintergrund des Textes werden selbstverständlich menschliche Verfasser/Verfasserinnen und notwendigerweise personale Aussageintentionen vermutet, auf Rekonstruktionsversuche dieser jeweiligen Intentionen (Johannes wollte uns damit sagen…) wird jedoch verzichtet. 4.3 Gegenstand, Skopus und Ziel der Arbeit Im Lichtkegel des exegetischen Scheinwerfers wird die Zeit der Figuren stehen oder besser: die Zeiten der Figuren. Das Verhalten der Figuren in den Zeiten und deren Umgang mit zeitlichen Ressourcen wird beobachtet, reflexiv durchdrungen und nach den zugrundeliegenden orientierenden und normierenden Zeitstrukturen befragt. Zeitkonflikte sind indessen der Zugriffspunkt für die Untersuchung von Zeit und Ethik im JohEv, denn einerseits ist Zeit „besonders in der Ungleichzeitigkeit erfahrbar: als das ‚Zu-frühʻ oder ‚Zu-spätʻ und damit als Zeit, die ‚kriechtʻ oder ‚eiltʻ, die ‚vergehtʻ oder gegen die man kämpft.“ 288 Andererseits machen gerade Konflikte auf ethische Problemlagen aufmerksam und regen zur Reflexion des jeweiligen Verhaltens an. Konflikte, die sich in der Interaktion von Personen mit voneinander abweichender Zeitorientierung zwangsläufig ergeben und in der schriftlichen Rekapitulation inszeniert werden, bieten einen besonders geeigneten Ausgangspunkt, um unterschiedliche Zeitnormen und -orientierungen miteinander zu vergleichen und über deren Wert oder Unwert zu diskutieren, ihnen Plausibilität zuzuschreiben oder eben nicht. Im Vordergrund der Analyse stehen damit konkrete Interaktionen, die mindestens zwei Akteure und deren Aktionen oder Reaktionen umfassen und die explizit (die Zeitorientierung selbst wird ausdrücklich zum Problem erhoben, wie z.B. bei den Sabbatkonflikten) oder implizit (die Zeitorientierung führt unterschwellig zu abweichenden Einschätzungen der Situation/des Handlungsbedarfs, wie z.B. bei der Anfrage der Mutter beim Hochzeitsfest) eine Art Zeitkonflikt offenbaren. Längere Redepassagen, gar Monologe in denen nur wenig interagiert wird, können für die hiesige Analyse höchstens Nebenbestimmungen leisten, insofern sie Informationen über das Mindset oder die jeweilige Orientierung der
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FUCHS, Zeiterfahrung in Gesundheit und Krankheit, 2015, 104.
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III. Theorie
Person liefern. Das Zeitverhalten kommt in ihnen jedoch nicht i.S. des konkreten, narratologischen showing zur Anschauung. 289 Die Analyse der joh. Inszenierung von Zeit im Rahmen konkreter Interaktionen stellt in Hoffnung, zu einem besseren Verständnis über das Verhältnis von Zeit und Ethik, über unterschiedliche Zeitnormen und deren Relevanz für menschliches Handeln zu gelangen. Der Blick richtet sich im Rahmen der Zeitanalyse v.a. auf Besonderheiten, Auffälligkeiten und Abweichungen. Denn es sind eben jene Abweichungen vom bereits Er- oder Bekannten, vom Selbstverständlichen und Erwartbaren, die den Text als ethischen Experimentierkasten qualifizieren.290 Oder wie Nadine Benz treffend formuliert: „Der literarische Text kann Zeiterfahrung auf vielerlei, nicht notwendig lineare bzw. kontinuierliche Weise stiften. Er strukturiert und rhythmisiert Zeit und konstituiert so die Möglichkeit einer rezeptiven Zeiterfahrung, die in empirischen Studien nicht repräsentiert werden könnte. Der literarische Text greift auf menschliche Zeiterfahrung zurück und vermag sie zugleich zu modifizieren. Aus diesem Grund stellt die Literatur ein besonders fruchtbares ›Korpus‹ dar, ein Laboratorium, um die bis heute bestehenden Aporien der Zeit zu diskutieren und in ihrer ästhetischen Erscheinung zu analysieren.“291
289
In der Erzähltheorie unterscheidet man zwischen telling, i.S. eines abstrakten Beschreibens oder Besprechens und dem showing i.S. eines konkreten Zeigens (vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 104; FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 168; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 50). 290 Auch A. Koschorke erkennt im Variationsspiel von Erzählung ethisches Potenzial: „Die Verhandlung expliziter und impliziter (unausgesprochener, vielleicht unaussprechlicher) Normen, ihrer Geltungsweise beziehungsweise Geltungsgrenzen und nicht zuletzt der Sanktionieren von Übertretungen ist ein in allen menschlichen Gesellschaften unerschöpfliches Thema [...] Das macht den pausenlosen Abgleich von eigentlich inkompatiblen ›Fällen‹ nötig, ohne dass das zugrunde liegende Problem jemals einer dauerhaften Lösung zugeführt werden könnte. Generalisierung erzeugt Redundanz. Aber erzählt werden stets Einzelgeschichten, in die sich vielfältige Abweichungen vom erzählerischen Generalschema eintragen lassen. Die Figur des Übertreters kann mit Faszination oder Abscheu begleitet werden; auch die Rollen der Gefährten, Grenzhelfer und Widersacher sind vielfältig Besetzer; das Schema kann, falls auf wirkliche Begebenheiten appliziert, fiktional ergänzt werden, etwa um das Versprechen von Gerechtigkeit und Sühne im Jenseits. Und schließlich sind alternative Erzählausgänge möglich, die nicht dem Imperativ der Normdurchsetzung gehorchen und das Moment der Dissonanz offen halten.“ (KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 49) 291 BENZ, (Erzählte) Zeit des Wartens, 2013, 17. In Anwendung auf den Text des JohEvs vgl. BRANT, John Among the Ancient Novels, 2015, 165f.: „If one describes the plot of the Gospel of John as beginning with origins, proceeding through a public life and ending with death, it looks very much like an ancient biography but this is a description of chronology not plot. Aspects of the Gospel’s emplotment of events, subjective experience of time, layers of time, and unfolding present, push the description closer to that of the novel. The novel is different from the biography, not because it is about a fictional person – the Alexander Romance proves this not to be true – but because it is freed from the tempo of historical time,
4. Eigener Ansatz
123
Nach den aussagekräftigen Varianzen vom Erwartbaren kann auf unterschiedlichen Ebenen gefahndet werden: Es kann auf das Besondere an Jesu Zeitverhalten gegenüber dem der Figuren geachtet werden, welches sich überwiegend als Ursache für die unterschiedlichen Zeitkonflikte entlarvt. Es kann aber auch auf Abweichungen in der Darstellungsweise geachtet werden, etwa eine ungewöhnliche Tempusverwendung, Abweichungen in der semantischen Prädikation, chronologische Brüche etc. Diese Abweichungen lassen Rückschlüsse auf die textinterne Interpretation und Bewertung des dargestellten Geschehens zu. Schließlich können Abweichungen auch auf Leserebene wirken, etwa wenn der Leser aufgrund seiner „Scripts“ und „Frames“ bestimmte Erwartungen an einen Text hegt, mit denen im Laufe des Erzählvorgangs gebrochen wird. Das wirkt einerseits auf sein Zeiterleben (wartet er bspw. ewig auf einen bestimmten Ausgang einer Interaktion, so kommt ihm die Erzählzeit gedehnt vor); jeder Erwartungsbruch lässt ihn aber andererseits auch innehalten, nach den Gründen der Abweichung fragen und regt ihn zu besonderer Nachdenklichkeit an. 292 Aus den forschungsgeschichtlichen und theoretischen Fehlanzeigen kann nun folgendes Arbeitsziel formuliert werden: Ziel der Arbeit ist es, in Auseinandersetzungen mit dem Text des JohEvs und seinen Figureninteraktionen eine ethische Zeitkompetenz zu entwickeln, d.h. das Vermögen, handlungs- und verhaltenssteuernde Zeitnormen zu erkennen, sie reflexiv zu durchdringen und zu bewerten, um diese auf lange Sicht hin mitgestalten zu können. So wie der ethische Filter den Blick auf die Zeit im JohEv zu vertiefen verheißt, so soll auch umgekehrt der temporale Filter den Blick auf die Ethik im JohEv neu schärfen. Dieses Vorhaben wird umgesetzt, indem zuallererst das Verhalten der joh. Figuren in der Zeit beobachtet und nach deren leitenden Zeitnormen gefragt wird (Ebene des konfigurierten Geschehens), in einem zweiten Schritt dann nach Reflexions- und Bewertungsmechanismen durch die spezielle joh. Darstellungsweise gefahndet wird (Ebene der Konfiguration des Geschehens), um schließlich Orientierungspunkte für das Leben des Lesers nachzuzeichnen, die sich aus dem Text hinsichtlich der Güte verschiedener Zeitnormen ergeben (Ebene der Refiguration des Geschehens). Es werden exemplarisch drei Interaktionssequenzen en detail, d.h. auf allen drei Analyseebenen anhand der unten ausdifferenzierten Methodik untersucht, nämlich die Interaktionssequenz auf der Hochzeit zu Kana in Joh 2,1–11[12], die Fernheilungssequenz in Joh 4,43– 54 und die Auferweckungs- und Salbungssequenz in Joh 11,1–12,11. Dass es the retrospective narrative of a life ended, a story already complete, to the time of experience, to the passage of time moving forward that is individual rather than historical.“ 292 Vgl. BLUMENBERG, Nachdenklichkeit, 1980, 61: „Woran wir denken, daran denken wir, weil wir dabei gestört wurden, nicht daran zu denken. Nachdenklichkeit heißt: Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.“
124
III. Theorie
sich bei diesen Interaktionssequenzen überwiegend um Wundererzählungen handelt, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zeitkonflikte auch in ‚regulären‘ Begegnungen stattfinden. Die Salbungsinteraktion, die aufgrund der engen personalen Verknüpfung mit der Auferweckung zusammen analysiert wird, weist bereits über den Horizont von Wunderhandlungen hinaus. Im Ausblick auf weitere acht Zeitkonflikte wird deren Pluriformität dann fortlaufend bestätigt. Die Analyse dieses letzten Ausblickkapitels konzentriert sich auf die bis dato unterbelichtete erste Ebene des konkreten Geschehens und gibt allenfalls Anstoß für weiterführende Untersuchungen auf den übrigen Ebenen. Die das Ziel der Arbeit begleitenden Forschungsfragen lauten: (1) Welche Zeitorientierungen/-normen werden im JohEv inszeniert? Wie stehen diese Zeitnormen zueinander? Welche Konfliktmuster ergeben sich aus ihnen? (2) Welche Zeitnorm(en) werden dem Helden der Evangeliumserzählung zugeschrieben? Was trägt die Christologie zum Verhältnis von Zeit und Ethik und was trägt das Verhältnis von Zeit und Ethik zur Christologie bei? (3) Welche Relevanz haben Abweichungen/Erwartungsbrüche/Verzögerungen auf der Ebene der Interaktion sowie der Ebene der Darstellung für die ethische Reflexionszeit und deren ‚Effizienz‘? (4) Welche Zeitorientierung schlägt das JohEv insgesamt für gelingende Interaktionen und deren Reflexion vor? (5) Ist diese Zeitorientierung praktikabel? Ist das Zeitverhalten der Figuren von mimetischer Qualität für den Leser? (6) Welche Impulse ergeben sich aus den exegetischen Beobachtungen für die Ethiktheorie? (7) Welche Impulse ergeben sich aus den exegetischen Beobachtungen für eine zeitsensible theologische Ethik?
Teil IV
Methodik 1. Methodischer Dreischritt 1. Methodischer Dreischritt
Das im ersten Kapitel ausgewiesene exegetische Forschungsdesiderat einer ethischen Analyse joh. Zeit und einer temporalen Analyse joh. Ethik konnte auf einen blinden Fleck im Rahmen der dreigliedrigen theoretischen Verhältnisbestimmung von Zeit, Ethik und Erzählung zurückgeführt werden: die fehlende Aufmerksamkeit für das konkrete Geschehen. Erste Ansätze zu einer Neuausrichtung der Theorie und erste Konsequenzen für die methodische Umsetzung im Rhythmus eines Dreischritts wurden bereits vorgestellt. Dies soll nun zu einer detaillierten, auf das JohEv abgestimmten, exegetischen Methodik ausgearbeitet werden, welche sich auf Figureninteraktionen, deren zeitliche Konstitution sowie deren ethische Bedeutung zuspitzt. Dabei sollen die neuen Erkenntnisse aus der theoretischen Verhältnisbestimmung von Zeit, Ethik und Erzählung die exegetische Methodik bereichern, ebenso wie die exegetischen Resultate voraussichtlich die theoretischen Sachverhalte neu zu verstehen lehren werden. So können die joh. Zeitkonflikte etwas über die Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik zu verstehen geben, die Theorie wiederum macht uns überhaupt erst auf diese Zeitkonflikte aufmerksam und lehrt uns, sie zu untersuchen. In ihrem Figurenband zum JohEv haben Steven Hunt, Francois Tolmie und Ruben Zimmermann auf folgende Schwierigkeit bei der Figurenanalyse hingewiesen: „Literary criticism related to John over the years has shown definitively that there is no particular methodology that works best with respect to so many different kinds of characters.“ 1 Gleiches gilt wohl für die vielen unterschiedlichen Arten von Zeitorientierungen, die das JohEv und seine Figuren vorführen. Dennoch soll in dieser Studie der Versuch unternommen werden, für die Untersuchung solcher Zeitreferenzen eine Methodik zu entwickeln, und zwar eine, die aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln ihren Untersuchungsgegenstand betrachtet. Die Idee eines methodischen Dreischritts ergab sich aus dem blinden Fleck der Theorie für die konkreten Interaktionen und ihre zeitliche Konstitution. Nur
1
HUNT/TOLMIE/ZIMMERMANN, Character Studies in the Fourth Gospel, 2013, XII.
126
IV. Methodik
eine heuristische Unterscheidung der Ebenen macht den Blick für die konkreten Interaktionen, das Geschehen an sich, wieder frei. 2 Die Analyseschritte sind deshalb im Detail an folgender Choreographie orientiert. (1) Zunächst werden das Zeitverhalten bzw. die Kerninteraktionen auf der Figurenebene in ihrer figuralen Konstellation, ihrer genauen Bewegungsabfolge, ihrem temporalen Konfliktpotenzial und den zugrundeliegenden, leitenden Zeitnormen in den Blick genommen. Dafür eignet sich ein interaktionales Schema, welches detailliert aufzeichnet, welche Reaktion von welcher Figur zu welchem Zeitpunkt auf welche Aktion antwortet und welche Zeitnorm hier möglicherweise handlungsleitend ist. Um diese Zeitnormen oder -orientierungen zu dechiffrieren, bedarf es eines möglichst breiten Kategoriensystems, das den Blick für verschiedene Arten und Erscheinungen normativer Zeitsysteme schärft und sensibilisiert, sowie linguistischer Wachsamkeit. (2) In einem nächsten Schritt wird dann nicht mehr nach dem dargestellten Verhalten, sondern speziell nach der Darstellung des Verhaltens gefragt. Mit welchen Mitteln wird die Handlung zeitlich verortet, welche Tempora, welche Temporaladverbiale und Zeitangaben werden gebraucht? In welcher dramaturgischen Abfolge werden die Handlungssequenzen dargestellt? Welchen Teilhandlungen kommt mittels langer Erzählzeiten (großer Texteinheiten) die größte Aufmerksamkeit zu, wie werden die Handlungsdetails gewichtet? Wie werden Handlungen oder Ereignisse miteinander verknüpft? (3) In einem dritten Schritt wird schließlich nach dem Verhältnis der Erzählung zum Lesevorgang gefragt. Dabei steht der Umgang der Erzählung mit den Erwartungen des Lesers im Zentrum der Analyse, da diese den Zugang zur Zeitwahrnehmung des Lesers darbieten.3 Welche Erwartungen an den Handlungsverlauf bzw. an das Verhalten der Figuren legen sich dem Leser aufgrund deren spezifisch joh. Inszenierung nahe? Welche Erwartungen trägt er möglicherweise eigens an den Text und seine Darstellungsweise heran? Im dritten Analyseschritt soll es jedoch nicht bei der Beschreibung von Erwartungen- und Erwartungsbrüchen bleiben, sondern es sollen auch die in der Inszenierung gegebenen Orientierungspunkte für eine Bewertung des Figurenverhaltens bzw. der zugrundeliegenden Zeitnormen offengelegt werden. Eine solche Leserlenkung kann mit unterschiedlichen narrativen Bewertungsinstrumenten umgesetzt werden. Auch die Intensität des Leseerlebnisses spielt für die Bewertungsprozesse des Lesers eine entscheidende Rolle. Dieses kann durch Leser-
2 Einen noch nicht methodologisch ausgearbeiteten Hinweis auf die Wichtigkeit der trichotomischen Unterscheidung zwischen einer „Zeit als narrativer Inhalt von Erzählungen“, einer „Zeit des Erzählens“ und einer „Zeit des narrativen Aktes“ findet man bei WEIXLER/WERNER, Zeiten und Erzählen – eine Skizze, 2015, 5–12. 3 Mehr dazu später unter 2.3.1 Die Schlüssel zu Zeit und Ethik in der Leserrezeption, insbes. Anm. 167.
2. Methodische Umsetzung
127
ansprache, durch eine besondere Unmittelbarkeit der Erzählung zum Geschehen und mittels einer besonderen Applikabilität der Themen reguliert werden. In einem Resümee aus der Analyse von Zeitwahrnehmung und Bewertungslenkung werden abschließende Fragen in Bezug auf die temporalethische Orientierung des Lesers gestellt: Wie nimmt der Leser das Zeitverhalten wahr? Zu welcher Bewertung könnte er kommen und wie verändert sich möglicherweise sein Blick auf Zeitnormen? Die drei Methodenschritte werden im Folgenden anhand von Textbeispielen aus dem JohEv im Detail vorgestellt.
2. Methodische Umsetzung an ausgewählten Beispielen 2. Methodische Umsetzung
2.1 Zeitverhalten (das Was des Geschehens) 2.1.1 Abgrenzung, Figurenkonstellation und Kontext Für die Interaktionsanalyse auf der Ebene des erzählten Geschehens müssen die zu untersuchenden Interaktionssequenzen zunächst sinnvoll voneinander abgegrenzt werden. Als wesentliche Trennungsmarker dienen Wechsel der Figurenkonstellation, des übergeordneten Raumes, des Anlasses bzw. Settings oder der übergeordneten Zeit. 4 Beispiel: Gang zum Grab in Joh 20,1f. Τῇ δὲ μιᾷ τῶν σαββάτων Μαρία ἡ Μαγδαληνὴ ἔρχεται πρωῒ σκοτίας ἔτι οὔσης εἰς τὸ μνημεῖον καὶ βλέπει τὸν λίθον ἠρμένον ἐκ τοῦ μνημείου. τρέχει οὖν καὶ ἔρχεται πρὸς Σίμωνα Πέτρον καὶ πρὸς τὸν ἄλλον μαθητὴν ὃν ἐφίλει ὁ Ἰησοῦς | Am ersten Tag der Woche kommt Maria aus Magdala früh morgens, als es noch dunkel ist, zum Grab und sieht, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Da läuft sie und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, den Jesus lieb hatte. Die Szene ist bereits durch die anfängliche Zeitangabe (frühmorgens am ersten Tag der Woche) klar von vorhergehenden Geschehen abgegrenzt, aber auch die Personenkonstellation (Maria aus Magdala sowie kurz darauf Simon Petrus und der geliebte Jünger) und die Bewegung zum Grab hin (die letzte Salbung in Joh 19,38–42 hatte am Grab geendet) setzen einen klaren Schnitt. In V. 10 wiederum verlassen die Jünger das Grab, um nach Hause zu gehen, und beenden damit ihre Interaktion. Erneut findet ein Szenenwechsel statt. Maria ist nunmehr ohne Jünger am Grab und begegnet stattdessen zwei neuen Erzählfiguren: den Engeln in weißen Gewändern.
Bevor die einzelnen Interaktionen einer Sequenz im Detail nachgezeichnet werden, werden die auftretenden Figuren eingeführt, ihre Relationen zueinander auf (möglichst) deskriptiver Ebene vorgestellt und der grobe Kontext der 4
Zu möglichen Trennungsmarkern vgl. FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden der neutestamentlichen Exegese, 2016, 111.
128
IV. Methodik
gesamten Sequenz beschrieben. Diese einführenden Notizen liegen noch jenseits der späteren Trennung der Ebenen und dienen einem die Analyse vorbereitenden Einstieg in die Textsequenz. Beispiel: Die Auferweckung des Lazarus in Joh 11,1–12,11 Bevor ab Joh 12,12 von Jesu letzter Reise nach Jerusalem berichtet wird, steht in Joh 11,1– 12,11 eine besondere Interaktionsgruppe im Zentrum der Narration: die Geschwister Lazarus, Martha und Maria, denen sich Jesus, wie die Erzählung mehrfach betont, in freundschaftlicher Liebe verbunden fühlt (Joh 11,3.5.11.36). Bethanien in Judäa und die Gegend rund um jenen Heimatort der Geschwister ist der Schauplatz ihrer Begegnungen mit Jesus. Mit der Erwähnung der Krankheit im ersten Vers der Szene (Ἦν δέ τις ἀσθενῶν) wird die Interaktion als Teil eines Geflechts aus Heilungs- und Konfliktszenen beschrieben (Sabbatheilung des Gelähmten in Joh 5,1–17, Sabbatheilung des Blinden in Joh 9,1–41, flankiert vom Tötungswunsch der Juden in Joh 5,18 und mehrfachen Ergreifungs- bzw. Steinigungsversuchen in Joh 7,30.44; 8,20.59; 10,31.39).
2.1.2 Interaktionsanalyse a) Untergliederung der Interaktionssequenz Für die Interaktionsanalyse 5 werden die abgegrenzten Interaktionssequenzen in einzelne Interaktionen untergliedert. Hier können sich entweder zwei individuelle Subjekte gegenüberstehen, zwei Kollektive oder ein Subjekt einem Kollektiv. Beispiel: Blindenheilung in Joh 9,1 – 41 Jünger und Jesus Jesus und Blindgeborener Nachbarn und Blindgeborener Pharisäer und Blindgeborener Juden/Pharisäer und Blindgeborener
9,2 – 5 9,6f. 9,8 – 13 9,15 – 17 9,24 – 34
Im Anschluss werden die konkreten Interaktionen detailliert nachgezeichnet. 5
Der Begriff der Interaktionsanalyse ist u.a. aus der Sozialpsychologie bekannt. Dort hatte zunächst R. F. Bales (1950) eine sog. Interaktions-Prozeß-Analyse (IPA) entwickelt, die das soziale und emotionale Verhalten von Individuen und Kleingruppen untersuchen sollte (vgl. MERKENS/SEILER, Interaktionsanalyse, 1978, 45). Der amerikanische Psychologe N. A. Flanders (1970) hat in Anschluss daran eine Interaktionsanalyse entworfen, die v.a. zur Untersuchung von Unterrichtsabläufen dienen sollte (vgl. a.a.O., 79–83). Auf diese ersten Ansätze folgten eine ganze Reihe weiterer Versuche, unter unterschiedlichen Fragestellungen menschliche Interaktionen analytisch einzuholen, sodass H. Merkens und H. Seiler zu folgender Definition gelangen: „Interaktionsanalysen bezeichnen all die (alltäglichen und wissenschaftlichen) Versuche, Informationen über zwischenmenschliche Beziehungen (Interaktionen) unter spezifischer Fragestellung zu gewinnen und zu verarbeiten.“ (a.a.O., 19) Die spezifische Fragestellung nach der Bedeutung der Zeit für narrativ inszeniertes, menschliches Verhalten im Rahmen der hiesigen Studie gibt Anlass dazu, wiederum eine eigene, adäquate Interaktionsanalyse zu entwerfen.
2. Methodische Umsetzung
129
Folgende Variablen werden bei der Analyse genauer betrachtet: b) Abfolge von Aktion und Reaktion Welche Abfolge von (Interaktion eröffnender) Aktion und (darauf antwortender) Reaktion(en) lässt sich nachzeichnen?6 Wer eröffnet die Interaktion mit welcher (Sprech-)Handlung? Wer reagiert? Gibt es eine Reaktion auf die Reaktion? Gibt es ein die gesamte Interaktionssequenz, also alle Einzelinteraktionen übergreifendes Interaktionsziel? Beispiel: Jesus und die Tischdiener in Joh 2,7f. Jesus reagiert auf die Anfrage seiner Mutter mit einer neuen Aktion: Aktion: Befehl durch Jesus an die Tischdiener: γεμίσατε τὰς ὑδρίας ὕδατος | Füllt die Wasserkrüge mit Wasser (V. 7) → Reaktion: direkte Befolgung durch die Tischdiener: καὶ ἐγέμισαν αὐτὰς ἕως ἄνω | und sie füllten sie bis oben an (V. 7) Aktion: Befehl durch Jesus an die Tischdiener: ἀντλήσατε νῦν καὶ φέρετε τῷ ἀρχιτρικλίνῳ | Schöpft nun und bringt es dem Festordner (V. 8) → Reaktion: direkte Befolgung durch die Tischdiener: οἱ δὲ ἤνεγκαν | Sie aber brachten es ihm (V. 8) Übergeordnetes Interaktionsziel der Szene: Offenbarung der Herrlichkeit und Glaube der Jünger (V. 11)
c) Konkreter Interaktionszweck der Aktion Was wird mit der einzelnen Aktion bezweckt? Worauf ist sie ausgerichtet? Was wird gefordert, erboten, angefragt? Beispiel: Mutter und Jesus in Joh 2,3f. λέγει ἡ μήτηρ τοῦ Ἰησοῦ πρὸς αὐτόν· οἶνον οὐκ ἔχουσιν | Spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein (mehr). Jesu Mutter möchte, dass Jesus in die problematische Situation am Hochzeitsfest helfend eingreift. Der fordernde Charakter der mütterlichen Worte wird letztlich aber erst durch die zurückweisende Antwort Jesu erkennbar: τί ἐμοὶ καὶ σοί, γύναι; οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου | Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen (V. 4)
d) Geradlinigkeit der Aktion (direkt/indirekt) Wie direkt ist der Interaktionszweck durch die Aktion vorformuliert? Handelt es sich um einen direktiven Sprechakt (gar einen Imperativ), um eine Handlung, die eine eindeutige Reaktion erfordert, oder ist die Forderung/die Bitte/das Ziel eher implizit?7 6 Zur Unterteilung der Interaktionsteilnehmer in „aktive“ und „reaktive“ in R. F. Balesʼ Interaktions-Prozeß-Analyse vgl. a.a.O., 46. 7 Sofern es sich bei der Aktion um einen Sprechakt und keine körperliche Tätigkeit handelt (wie es in vielen joh. Interaktionen der Fall ist), ist ein Blick auf die sog. Illokution dieses Sprechaktes entscheidend. Illokution bezeichnet innerhalb der Sprechakttheorie J. L.
130
IV. Methodik
Beispiel: Mutter und Jesus in Joh 2,3f. Die Mutter formuliert ihren Interaktionszweck nur indirekt: οἶνον οὐκ ἔχουσιν. Während die grammatische Form dieses Satzes indikativisch ist, d.h. einen Zustand beschreibt, steckt im Modus des Aussageaktes etwas Imperativisches, nämlich die Aufforderung, in die Situation einzugreifen. Die Absicht der Sprechhandlung ist im Gegensatz zu ihrer Form auffordernd; um es mit den Begriffen der Sprechakttheorie zu formulieren: Die Illokution des Sprechaktes ist abweichend von seiner indikativischen Proposition direktiv.
e) Zeitmodus der Aktion Wie kann die Aktion hinsichtlich Zeitpunkt, Zeitdauer, Zeitbegrenzung, Frequenz, Geschwindigkeit beschrieben werden (sofern aus Semantik, Grammatik oder Chronologie ablesbar)?8 Beispiel: Blindenheilung in Joh 9,14f. ἦν δὲ σάββατον ἐν ᾗ ἡμέρᾳ τὸν πηλὸν ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς καὶ ἀνέῳξεν αὐτοῦ τοὺς ὀφθαλμούς. πάλιν οὖν ἠρώτων αὐτὸν καὶ οἱ Φαρισαῖοι πῶς ἀνέβλεψεν. | Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete. Nochmal fragten ihn also die Pharisäer, wie er sehend geworden sei. Der Zeitpunkt der Aktion wird durch eine explizite Zeitangabe auf einen Sabbat (wenngleich ohne ergänzenden Monats- und Jahresangabe) festgelegt und durch das Vergangenheitstempus des Aorists (ἐποίησεν) bestätigt. Die Frage nach der Heilung wird also noch am gleichen Tag gestellt. Schnell reagieren die Pharisäer auf dieses außergewöhnliche Ereignis. Über die Zeitdauer ihrer Rückfrage gibt es hingegen keine Angabe. Sie ist nur in indirekter Rede wiedergegeben, weshalb über die Wortwahl keine genauen Rückschlüsse auf den Umfang ihrer Inquisition gezogen werden können.
Austins und J. R. Searles den absichtsbezogenen Teil eines Sprechaktes. Neben der Illokution besteht ein Sprechakt noch aus einem phonetischen Teil (Lautäußerung), einem propositionalen Teil (Referenzaussage) und einem perlokutionären Teil (Wirkung) (vgl. SEARLE, Sprechakte, 1971, 40–43.108–110). Illokutionäre Akte können direktiver (anweisender), assertiver (zusichernder), deklarativer, expressiver und promissiver (versprechender) Natur sein (vgl. DERS., A Taxonomy of Illocutionary Acts, 1981, 21–27). Nach Austin sind illokutionäre Akte mal mehr, mal weniger explizit: Neben einer eindeutigen performativen Formel wie „Ich befehle dir“ können auch weniger ausdrückliche Markierungen über die Art der Performation entscheiden: der grammatische Modus (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ, Optativ etc.); die Betonung; Adverbien; Konjunktionen; Gesten sowie der Kontext (vgl. AUSTIN, Zur Theorie der Sprechakte, 21998, 93–96). Zur Anwendung der Sprechakttheorie im Rahmen einer impliziten Ethik der ntl. Texte vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 47–50. 8 Im Detail sind Zeitpunkt, Zeitdauer, Zeitbegrenzung, Frequenz und Geschwindigkeit ablesbar an temporaladverbialen Bestimmungen, an Verbtempora und an Zeit- bzw. Texträumen (Menge des Textes für eine Interaktion bzw. Häufigkeit des Vorkommens in einem Text). Eine Hilfe zur Identifizierung von Zeitangaben findet sich unter 2.2.3 Semantik: Zeitangaben; a) Wortart.
2. Methodische Umsetzung
131
Wohl aber wird mit dem πάλιν eine Wiederholung ausgedrückt. Dem Kontext ist zu entnehmen, dass nur die Frage repetiert wird, ohne dass die Fragesteller notwendigerweise die gleichen wären.
f) Zeitorientierung der Aktion Welche Zeitnorm ist aktionsleitend?9 Beispiel: Gang zum Laubhüttenfest in Joh 7,2–9 Die Brüder sind bei ihrer Aufforderung an Jesus, zum Laubhüttenfest aufzubrechen, auf den ersten Blick an den religiösen Zeittraditionen des jüdischen Festkalenders orientiert. Die Brüder halten Jesu Offenbarung in Judäa genau zum Zeitpunkt des Laubhüttenfests für angebracht: φανέρωσον σεαυτὸν τῷ κόσμω | Offenbare dich der Welt (V. 4). In V. 5 wird allerdings ihr fehlender Glaube angesprochen. Dadurch erscheint die Forderung der Brüder nach Jesu Offenbarung in aller Öffentlichkeit als eine Art Machtprobe, für die es die Resonanz der Festpilger, insbesondere der jüdischen Oberen abzuwarten gilt. Insofern ist ihr Zeitverhalten auch an der öffentlichen Zeit orientiert.
g) Geradlinigkeit der Reaktion (direkt/indirekt) Wie unmittelbar beantwortet die Reaktion die Aktion und deren Interaktionszweck (inhaltlich)? Beispiel: Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten in Joh 4,47f. οὗτος ἀκούσας ὅτι Ἰησοῦς ἥκει ἐκ τῆς Ἰουδαίας εἰς τὴν Γαλιλαίαν ἀπῆλθεν πρὸς αὐτὸν καὶ ἠρώτα ἵνα καταβῇ καὶ ἰάσηται αὐτοῦ τὸν υἱόν, ἤμελλεν γὰρ ἀποθνῄσκειν.εἶπεν οὖν ὁ Ἰησοῦς πρὸς αὐτόν· ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε, οὐ μὴ πιστεύσητε. | Als dieser hörte, dass Jesus von Judäa nach Galiläa gekommen war, ging er zu ihm und bat ihn, dass er hinabsteige und seinen Sohne heile, denn er war im Begriff zu sterben. Jesus sprach also zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht. Der Königliche bittet Jesus um Heilung seines Sohnes, Jesus aber reagiert auf diese Anfrage mit einer abstrakten Feststellung über die Glaubensbedingungen einer undefinierten Ihr-Gruppe. Inhaltlich reagiert er also zunächst nur äußerst indirekt auf die Aktion des Königlichen.
h) Zeitmodus der Reaktion Wie unmittelbar erfolgt die Reaktion auf die Aktion (zeitlich)? Wie lange braucht der Handelnde für die Aktion (sofern aus Tempus, Syntax, Semantik oder Chronologie ablesbar)? Beispiel: Heilung des Sohnes eines Königlichen in Joh 4,49f. λέγει πρὸς αὐτὸν ὁ βασιλικός· κύριε, κατάβηθι πρὶν ἀποθανεῖν τὸ παιδίον μου. λέγει αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ. | Spricht der Königliche zu ihm: Herr, steig herab, bevor mein Kind stirbt. Spricht zu ihm Jesus: Geh, dein Kind lebt.
9
Weitere Analysehilfen zu möglichen Zeitnormen im Exkurs: Wie lassen sich Zeitnormen erkennen? am Ende des Methodenteils IV.
132
IV. Methodik
Über den Zeitpunkt der Reaktion Jesu auf die erneute Bitte des Königlichen gibt es zwar keine expliziten Angaben, die Textchronologie legt aber nahe, dass sie unmittelbar nach der erneuten Bitte erfolgt. Die Zeitdauer der Reaktion ist auffallend verdichtet. Einzig mit dem kurzen Satz: Geh, dein Kind lebt reagiert Jesus auf die Bitte des Königlichen und damit völlig konträr zu dessen Erwartung eines langen Abstiegs von Kana nach Kafarnaum. Im Folgenden wird noch mehr erstaunen, dass diese so kurzatmige Reaktion derartig nachhaltige Effekte zeitigt.
i) Zeitorientierung der Reaktion Welche Zeitnorm ist reaktionsleitend? Beispiel: Heilung eines Gelähmten in Joh 5,7 ἀπεκρίθη αὐτῷ ὁ ἀσθενῶν· κύριε, ἄνθρωπον οὐκ ἔχω ἵνα ὅταν ταραχθῇ τὸ ὕδωρ βάλῃ με εἰς τὴν κολυμβήθραν· ἐν ᾧ δὲ ἔρχομαι ἐγώ, ἄλλος πρὸ ἐμοῦ καταβαίνει. | Es antwortete ihm also der Kranke: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich wirft, wenn das Wasser aufwallt. In der Zeit, in der ich hinkomme, steigt ein anderer vor mir hinein. Der Gelähmte, der seit 38 Jahren krank liegt (V. 5), ist einerseits an einem Kultrhythmus orientiert, der nur den Ersten, der ins heilige Wasser steigt, heilt und dadurch bei den Kranken einen Wettkampf um die Zeit auslöst. Andererseits ist er wohl auch (implizit) von seiner langen Vergangenheit als Kranker geprägt, die ihm eine Heilung derart unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass er auf die Frage Jesu, ob er gesund werden wolle, nur mit Resignation reagieren kann.
Exkurs: Wie lassen sich Zeitnormen erkennen? Während Interaktionszweck, Zeitmodus und Geradlinigkeit einer Handlung aus den jeweiligen Textsignalen abgelesen werden können, ist es mit der Nachzeichnung der leitenden Zeitnormen etwas diffiziler. Möchte man die leitenden Zeitnormen ermitteln, die sich hinter dem Verhalten der Personen eines biblischen Erzähltextes verbergen, so stößt man auf ein doppeltes Problem: Zum einen werden Zeitnormen in den wenigsten Fällen explizit reflektiert und bewertet,10 häufig werden sie sogar nicht einmal benannt. Sie können nur implizit aus Erinnerungen und Antizipationen der Personen (in narratologischen Begriffen: Pro- und Analepsen aus dem Munde der Figuren), aus Absichtserklärungen, Begründungen oder Emotionen aus dem Munde der Figuren und teilweise auch aus den Erzählerkommentaren erschlossen werden. 11 Daraus resultiert zum anderen das Problem der Benennung und Kategorisierung von Zeitnormen innerhalb antiker Texte. Zeitnormen sind wie Normen generell kultur- und zeitspezifisch und lassen sich deshalb nicht ohne weiteres 10 Eine der wenigen expliziten Reflexionen über Zeitnormen finden sich in den Diskussionen im Anschluss an die Sabbatheilungen (Mk 3,1–6 | Mt 12,9–14 | Lk 6,6–11; 13,10–17; 14,1–6; Joh 5,1–18; 9,1–41), bzw. an das Ährenraufen am Sabbat (Mk 2,23–28 | Mt 12,1–8 | Lk 6,1–5). 11 Auf die Möglichkeiten eines Rückschlusses von der (chronologischen) Darstellung auf implizite Zeitorientierungen der Figuren wird nachher unter 2.2.6 Auswertung noch einmal Bezug genommen.
2. Methodische Umsetzung
133
in ein universelles, geschichts- und ortsübergreifendes System einfrieden. 12 Von der Geltung einer Zeitnorm (wie bspw. Effizienz) innerhalb der neuzeitlichen, westlichen Gesellschaft kann deshalb nicht ohne weiteres auf deren Geltung und Bedeutung in der Antike oder in anderen Kulturen dieser Welt geschlossen werden. Es gibt meines Wissens keine umfassende systematische Zusammenschau von antiken Zeitkonzepten, -begriffen, -regimen, -erfahrungen und deren normativ-orientierender Funktion. 13 So kann man bisher lediglich auf Einzeluntersuchungen zurückgreifen z.B. zu philosophisch-epistemologischen Zeitphilosophien (lineare, zyklische, episodische Zeit) bzw. Zeitbegriffen der Antike (χρόνος, καιρός, αἰών),14 zu antiken Kalendersystemen 15 und rituellen Zeiten, 16 zu theologisch-eschatologischen Zeitkonzepten in ntl. Schriften 17 o.Ä. In den überblicksartigen Arbeiten und Sammelbänden zu antiken Zeitkonzeptionen wird teilweise in undifferenzierter Art und Weise zwischen den verschiedenen Dimensionen und Funktionen von Zeit changiert. 18 12
Vgl. SCHÖNECK, Zeiterleben und Zeithandeln Erwerbstätiger, 2009, 39. Ein kleines Kategoriensystem vor- und/oder nicht-christlicher Zeitphilosophien erstellt C. Horn in einem Aufsatz zum Zeitbegriff der antiken Moralphilosophie (vgl. HORN, Der Zeitbegriff der antiken Moralphilosophie und das Zeitverständnis des Neuen Testaments, 2012, 110–134). Er unterscheidet hier die vier Ebenen der naturphilosophischen, kosmologisch-physikalischen, geschichtsphilosophischen und moralisch-biographischen Auseinandersetzung mit Zeit. Allerdings weist er selbst auf das Fehlen einer umfassenden, systematischen Zusammenschau antiker Zeitsysteme und deren Einfluss auf ntl. Schriften hin: „Bekanntlich laufen in der neutestamentlichen Behandlung des Zeitkonzepts so unterschiedliche Traditionslinien zusammen, dass ein wissenschaftliches Desiderat an breit angelegten kulturhistorischen und religionsgeschichtlichen Quellenstudien besteht.“ (a.a.O., 110.) 14 Vgl. u.a. ASSMANN, Denkformen des Endes in der altägyptischen Welt, 1996, 1–31; BÄBLER, Oknos, Kairos und Chronos, 2013, 185–211; CONEN, Die Zeitheorie des Aristoteles, 1964; CANCIK-KIRSCHBAUM, Art. Zeitkonzeptionen, 2006; KENNEDY, Antiquity and the Meanings of Time, 2013; KREUZER, Zeit- und Geschichtsbild, 2005, 110–114; AUGUSTINUS VON HIPPO, Was ist Zeit?, 22004; RUDOLPH, Zeit, Bewegung, Handlung, 1988; SORABJI, Time, Creation, and the Continuum, 2006. 15 Vgl. u.a. HANNAH, Greek and Roman Calendars, 2005; MUELLER, Beherrschte Zeit, 2009; RÜPKE, Kalender und Öffentlichkeit, 1995; STERN, Calendars in Antiquity, 2012. 16 Vgl. DOERING, The Beginning of Sabbath and Festivals in Ancient Jewish Sources, 2017, 205–226; LEONHARD, Celebration and the Abstention from Celebrations of Sacred Time in Early Christianity, 2017, 265–286; VOLP, Die rituelle Prägung des menschlichen Lebens, 2005, 1–8. 17 Vgl. u.a. AGAMBEN, Die Zeit, die bleibt, 42012; FREY, Die johanneische Eschatologie (in drei Bänden), 1997–2000; ECKSTEIN, Die Gegenwart im Licht der erinnerten Zukunft, 2007. 18 Vgl. u.a.; KLOSE, Aspekte der Zeit, 2004; WENDORFF, Zeit und Kultur, 21980; WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999; BEN-DOV/DOERING, The Construction of Time in Antiquity, 2017 nehmen dagegen eine übersichtliche, wenn auch nicht erschöpfende Aufteilung ihrer Beiträge in die Bezüge zwischen Zeit und Ideologie/Identität in der hellenistisch-römi13
134
IV. Methodik
Doch wie kann man zu einem differenzierteren Kategoriensystem der in den ntl. Texten aufbewahrten Zeitorientierungen gelangen? Wie so oft erscheint das exegetische Vorhaben als eine Gleichung mit zwei Unbekannten: Man versucht, Klassifizierungen aus den Textphänomenen zu erheben, um diese wiederum klassifizieren zu können. M.E. lässt sich dieser Zirkel jedoch mit hermeneutischer Wachsamkeit und einem sorgfältigen heuristischen Verfahren mindestens erweitern: Dafür ist ein möglichst breites Kategoriensystem nötig, welches für unterschiedlichste Arten möglicher Zeitorientierungen sensibilisiert und die Dekodierung figuralen Verhaltens hinsichtlich dessen zeitlicher Orientierungspunkte erleichtert. Dabei darf die neuzeitliche Brille das Sichtfeld nicht auf die physikalische (Newton’sche) Uhrenzeit, welche die Zeit als objektives Messinstrument auffasst, begrenzen. Vielmehr muss die Aufmerksamkeit auf ein breites Panorama von Möglichkeiten, Zeit zu erleben und/oder zu konzeptionieren, gerichtet werden. Aus der Zusammenschau an Zeiterfahrungen, die ntl. Texten und den Texten des Umfelds, aber auch gegenwärtigem Erleben entnommen werden können, ergeben sich folgende Kategorien des menschlichen Zeiterlebens bzw. der menschlichen Zeitorientierung, die im theoretischen Teil III der Arbeit unter 3.6 Theoretische Neuausrichtung: Interaktionstheoretische Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik schon zur Sprache gekommen sind: biographisches Zeiterleben (ablaufende Lebenszeit oder unterschiedliche Lebensphasen); kosmologische Zeitentwürfe (Weltzeit: linear, zyklisch, episodisch); ökologische, astronomische, biologische, kurz: natürliche Zeitzyklen (z.B. Tag/Nacht; Erntezeit; Mondzyklus; Zyklen des Organismus); astrologische Zeitberechnungen (z.B. Tagewählerei; Stundenregenten; Horoskope); institutionelle Zeitregime (z.B. Kalender; Gnadenjahr; Arbeitszeiten; Rentenalter); politische Zeitstrategien oder öffentliche Zeit (z.B. Opportunität; Legislaturperioden; Zeiten für besondere Ansprachen oder Entscheidungen); ökonomische Zeit (z.B. Saat- und Erntezeit; Konjunktur); intersubjektive Zeitabsprachen (z.B. Termine; Deadlines; Wettkämpfe um die Zeit); konventionelle Zeitrahmen (z.B. befristete Gastfreundschaft); religiösspirituelle oder kultische Zeittraditionen (z.B. Feste; Feiertage; Kultrhythmen; „heilige“ Zeiten); historiographische Zeiteinteilungen (z.B. Epochen; Episoden); topographische Zeiteinteilungen (z.B. Ein-Tages-Marsch; Fünf-StundenRitt); neuropsychologisches Zeiterleben (z.B. Beschleunigung; Verzögerung; Tempo; Rhythmus); kognitive Zeiterfahrungen (z.B. Erinnerung; Anschauung; Erwartung). Die unterschiedlichen Zeitkonzeptionen können mal verbindlicher und bewusster, mal indirekter auf das jeweilige Verhalten einwirken. Das heuristische schen Welt in Kap. 2–4; Zeit und Wissenschaft/Ideologie in Kap. 5–6; Zeit und Mythos/Metapher/bildende Kunst in Kap. 7–19; Zeit und jüdische/christliche rituelle und kalendarische Praxis in Kap. 11–14 vor.
2. Methodische Umsetzung
135
Kategoriensystem ist einerseits eng ineinander verwoben und bleibt andererseits stets erweiterbar. Es ist so beweglich wie die Zeit selbst. Dennoch bietet es eine erste Möglichkeit, sich dem Phänomen von (textlich inszenierten) Zeitnormen zu nähern, indem es aufzeigt, wonach überhaupt gesucht werden kann. Dabei bleibt der intensiven Textarbeit immer die Möglichkeit vorbehalten, weitere orientierende Zeitkonzeptionen zu Tage zu fördern. 2.1.3 Auswertung In der Auswertung wird noch einmal nach dem Ergebnis/den Ergebnissen der Interaktionssequenz gefragt: Werden die jeweiligen Interaktionszwecke und das sequenzübergreifende Interaktionsziel erreicht? Wie direkt wird es erreicht (zeitlich und inhaltlich)? Welche Zwecke, Ziele und Wünsche bleiben unerfüllt? Welches Zeitverhalten bzw. welche Zeitnormen haben sich auf Geschehensebene als dienlich, welche als unzweckmäßig in Bezug auf den Interaktionszweck/das Interaktionsziel erwiesen? Beispiel: Heilung des Sohnes eines Königlichen in Joh 4,43–54 Die Interaktionszwecke aller drei ‚aktiven‘ Personen(-gruppen) werden erfüllt. Keine Forderung bleibt gänzlich unerfüllt, wohl aber gibt es Abweichungen gegenüber manch einer konkreten Erwartung. So erleben die Galiläer zwar ein weiteres Wunder, jedoch nicht als Augenzeugen. Auch des Königlichen Hoffnung auf Jesu helfendes Eingreifen wird erfüllt, allerdings nicht auf erwartete Art und Weise. Jesus steigt nicht mit hinab nach Kana. Für ihn gibt es keinen Grund zur Eile, weil die Wirkmacht seines Lebenswortes nicht von seiner örtlichen Präsenz abhängig ist. Er ist nicht an biologische oder topographische Zeitbedingungen gebunden. Schließlich wird Jesu übergreifendes Interaktionsziel erreicht: Es glauben sowohl der Königliche als auch sein gesamtes Haus und dies ohne Verzögerung. Der Königliche reagiert ohne Umschweife auf Jesu Befehl aufzubrechen und realisiert die zeitliche Übereinkunft zwischen der Genesung seines Sohnes und den Worten Jesu.
136
IV. Methodik
2.1.4 Analyseschema
a) b) c) d)
Aktion
Konkreter Interaktionszweck Geradlinigkeit (direkt/indirekt) Modus: Zeitpunkt, Zeitdauer, Zeitbegrenzung, Frequenz, Geschwindigkeit Zeitorientierung
a) b) c)
Reaktion
Geradlinigkeit (direkt/indirekt) Modus: Zeitpunkt, Zeitdauer, Zeitbegrenzung, Frequenz, Geschwindigkeit Zeitorientierung
Reaktion
Reaktion
Übergreifendes Interaktionsziel erreicht?
Abb. 4: Analyseschema Zeitverhalten
2.2 Zeitinszenierung (das Wie der Geschehenskonfiguration) 2.2.1 Die Darstellung des Geschehens als Reflexionsmodus In einer Erzählung werden die einzelnen Handlungen weder bewusst noch intuitiv selbst vollzogen, sondern aus einer gewissen zeitlichen und räumlichen Distanz zum Geschehen (ob erinnert oder antizipiert) rekapituliert. 19 Der Ab-
19
Mit Geschehen sind in dieser Studie die Ereignisbausteine gemeint, welche in einer Geschichte in eine lineare Abfolge und in einer Erzählung schließlich in eine bedeutsame Abfolge gebracht werden (in Anlehnung an MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012,
2. Methodische Umsetzung
137
stand zwischen dem Erfassen oder Durchleben und der Darstellung eines Geschehens bringen „Veränderungen im Wissen um das Erfasste und in seiner Bewertung“20 mit sich. Man könnte sagen: Erinnerung bzw. Rückwendung oder aber Antizipation ist immer schon eine Art Reflexion. Bei dieser Rückoder Hinwendung werden die Handlungen einerseits selektiert und andererseits in eine bestimmte Reihenfolge mit einem präzisen Ausgangspunkt und einem präzisen Endpunkt gebracht. 21 Das in der Welt des Handelns präfigurierte, strukturlose Material wird komponiert bzw. konfiguriert. 22 Dadurch werden Handlungsmotivationen, -rhythmen, -zeitpunkte und -folgen mal deutlicher, mal weniger deutlich mitreferiert. Bedeutungsträger für die zeitliche Inszenierung des Geschehens sind die Tempusverwendung, unterschiedlich konnotierte Temporaladverbien (schon; zu früh; noch nicht; schon wieder; zu spät etc.), Temporalkonjunktionen (gleich als; sobald etc.), temporale Präpositionen (vor; nach; während etc.), Zeitmetaphern (solange es Tag ist) und Aktionsarten (im Begriff sein zu…etc.), sowie die chronologische Anordnung der Ereignisbausteine. Sie alle können u.U. auch etwas über die implizite Bewertung der Handlungen durch deren narrative Darstellung aussagen. Wie bereits im theoretischen Teil III der Arbeit unter 1.2 Narrative Zeitmodulation (Erzähltheorie) zur Sprache gebracht, kann man bei der Analyse der narrativen Zeitmodulationen auf kein besonders umfangreiches, gar systematisiertes Methodenspektrum zugreifen, 23 deshalb werden in den folgenden Kapiteln verschiedene methodische Modelle miteinander verknüpft und an den speziellen Forschungsgegenstand des JohEvs angepasst. Während die zweite Analyseebene das Wie der Darstellung, insbesondere die unterschiedlichen narrativen Techniken zur Zeitinszenierung unter die Lupe nimmt, wird auf der dritten Analyseebene noch stärker die Wirkung dieser Techniken auf den Leser im Mittelpunkt stehen. Es versteht sich von selbst, dass beide Ebenen sehr eng miteinander verzahnt sind. 2.2.2 Systematisierung: Techniken der Textualisierung von Zeit Die Möglichkeiten, Zeit erzählerisch zu evozieren, sind ungemein divers und sperren sich einer einheitlichen Systematisierung. Das hängt erneut mit der wesensmäßigen Pluralität des Phänomens Zeit selbst zusammen. Wie im theoretischen Teil III der Arbeit unter 3.2.1 Die Vielfalt der Zeitphilosophien schon 112). Dabei wird die Debatte um die Fiktivität oder Faktualität dieser Ereignisbausteine bewusst ausgeklammert, da in Übereinstimmung mit S. Finnern davon ausgegangen wird, dass „das ‚Dass‘ der Rezeptionswirkung davon unabhängig ist, ob und in welcher Weise man die Historizität einer Erzählung feststellt oder nicht.“ (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 73). 20 SCHMID, Zeit und Erzählperspektive, 2015, 346. 21 Vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 62f. 22 Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 104–113. 23 Vgl. WEIXLER/WERNER, Zeiten und Erzählen–eine Skizze, 2015, 9.
138
IV. Methodik
für die Theorie festgehalten, kann Gleiches auch für die Methodologie ausgesagt werden: Die Dynamik der Zeit schlägt bis in jegliche Versuche ihrer narratologischen Erfassung hinein. Bisher kann man auf folgende Schemata zur Bändigung einer Vielzahl von textlichen bzw. narrativen Zeitreferenzen zurückgreifen: (1) Ursprünglich der Zeitphilosophie entnommen, wird mitunter auch in der Narratologie zwischen Zeitangaben der A- oder der B-Reihe unterschieden.24 Diese Klassifikation geht auf den englischen Philosophen John E. McTaggert und seinen Aufsatz The Unreality of Time von 1908 zurück. Die A-Reihe operiert mit den Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ist immer von einem Sprecher als deiktischem Zentrum abhängig und damit subjektiv. Zeitangaben der A-Reihe ändern ihren Wahrheitswert mit der beweglichen Gegenwart. Die B-Reihe hingegen kennt nur Zeitangaben, die sich relativ zueinander verhalten und unabhängig von der Sprecherperspektive und damit ‚objektiv‘ oder besser: intersubjektiv wahr sein können.25 In ihrer Anwendung auf narrative Texte bedarf diese Systematisierung allerdings aufwendiger und komplexer Adaptionen und wirkt dabei weniger klärend als verschleiernd.26 Was die Unterteilung der Zeitangaben des JohEvs und anderer Erzählungen in A- und B-Reihe so schwer macht, ist die doppelte Zeitperspektive von Narrationen. „Wer narrative Texte liest, tut etwas scheinbar Paradoxes, denn er nimmt das dargestellte Geschehen zugleich als offen und gegenwärtig und als abgeschlossen und vergangen auf.“ 27 (2) Eng mit McTaggerts A- und B-Reihe verwandt sind die der Linguistik entnommenen Kategorien von deiktischen und anaphorischen Zeitangaben, welche der Narratologie aufgrund ihrer disziplinären Herkunft etwas näherstehen. So unterscheidet Wolf Schmid zwischen deiktischen (abhängig vom Jetzt der Figur: wie z.B. jetzt, gestern, heute, morgen) und anaphorischen Adverbien (Bezeichnung des Zeitpunktes der Geschichte wie z.B. in diesem Moment, an 24 Vgl. JANICH, Constituting Time through Action and Discourse, 2011, 29–48; LE POIDEVIN, Time, Tense and Topology, 2011, 49–51; MEISTER, The Temporality Effect, 2011, 192–216; SCHÜCH, Analysen der Zeit in Erzähltexten, 2015, 29. 25 Vgl. MCTAGGERT, The Unreality of Time, 1908, 457–474. 26 Zur der Komplexität einer narratologischen Anwendung von A- und B-Reihe vgl. insbes. MEISTER, The Temporality Effect, 2011, 171–211; LE POIDEVIN, Time, Tense and Topology, 2011, 49–65; MEISTER, The Temporality Effect, 2011, 171–211. 27 MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 123; vgl. dazu auch WEIXLER/WERNER, Zeiten und Erzählen – eine Skizze, 2015, 11. Käte Hamburgers sog. episches Präteritum der Erzählung (vgl. HAMBURGER, Die Logik der Dichtung, 1957, 27–72) durchbricht bspw. die Taxonomie von A- und B-Reihe dadurch, dass in einem Satz wie ἐγγὺς ἦν τὸ πάσχα (Joh 2,13) durch das Adverb die Zukunftsperspektive der Figur, durch das Tempus die Vergangenheitsperspektive des Erzählers und durch den Kontext die objektive Chronologie der Geschichte (auf den Aufenthalt in Kafarnaum folgt eine Reise nach Jerusalem zum Passafest) in einer Zeitangabe zusammenfallen und damit eine Einteilung in A- und B-Reihe zu keiner analytischen Klarheit verhilft.
2. Methodische Umsetzung
139
diesem Tage). 28 Monika Fludernik bezeichnet die beiden Typen temporaler Deixis (bei ihr bezogen auf Tempora) als „Textdeixis“ (bezogen auf den Erzählfluss) und „prototypische Deixis“ (bezogen auf den Moment der Äußerung).29 Da beide Typen an einen bestimmten Referenz- oder Standpunkt gebunden sind (Standpunkt der Figur oder Standpunkt im Erzählfluss), entsprechen sie am ehesten der McTaggert’schen A-Reihe. Das Problem einer Einteilung in eine figurale und eine erzählerische Deixis wird jedoch erkennbar an der namhaften joh. ὥρα: Jesu Stunde ist Orientierungspunkt für die innerjoh. Figuren, 30 wirkt aber zugleich auch als Integrativ für den Erzählplot und dessen Chronologie31 und kann darüber hinaus auch für die temporale Position des Lesers Gültigkeit besitzen, etwa in den paradoxen Aussagen über die noch nicht gekommene und jetzt schon präsente Stunde in Joh 4,23; 5,25; 16,32. Eine Zeitangabe kann also mitunter auch gleichzeitig von mehreren Standpunkten abhängig sein bzw. sogar unabhängig vom Standort Gültigkeit tragen. Außerdem können sich insbesondere hinter erwartungsbezogenen Ausdrücken wie ἤδη oder οὔπω zugleich ein figuraler und ein narratorialer Zeitverweis verbergen.32 (3) Der russische Literaturwissenschaftler Boris V. Tomaševskij hat eine weniger an der Position des Sprechers als an der Aussagefunktion orientierte Einteilung der Zeitangaben auf Ebene der sog. „hypothetischen Zeit“ 33 (gemeint ist die erzählte Zeit) vorgenommen: Er differenziert zwischen a) absoluten und relativen Datierungen, b) Hinweisen auf Zeiträume und c) der Ereignischronologie, die einen Eindruck von Dauer erwirkt. 34 Nun ist die Suche nach absoluten Zeitangaben in Form von exakten Kalenderdaten im JohEv leider vergebens: Es lassen sich keine Jahresdaten finden, die mit unserer Zeitrechnung
28
Vgl. SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 136. Vgl. FLUDERNIK, Tempus und Zeitbewusstsein, 2002, 21. 30 Figural-deiktische Wirkung trägt die Stunde z.B., wenn Jesus in Joh 2,4 auf ἡ ὥρα μου Bezug nimmt. 31 Stärker anaphorische/erzähldeiktische Wirkung trägt die Stunde z.B. im Erzählerkommentar zur Nicht-Ergreifung Jesu in Joh 12,23: καὶ οὐδεὶς ἐπίασεν αὐτόν, ὅτι οὔπω ἐληλύθει ἡ ὥρα αὐτοῦ. 32 Die doppelte Orientierungsleistung zeigt sich z.B. am schon in Joh 7,14, das sich sowohl auf die Perspektive der gespannten Festbesucher als auch auf die Perspektive der Erzählinstanz bzw. seiner Leser beziehen lässt, die genau wie die Festbesucher darauf warten, dass endlich etwas über Jesu Auftritt auf dem Laubhüttenfest berichtet wird. Ähnlich verhält es sich mit dem noch nicht in Joh 6,17: Steckt hinter dem οὔπω das ängstlich wartende Zeiterleben der Jünger auf dem Boot oder die zeitliche Einordnung der Ereignisse durch den Erzähler? 33 TOMAŠEVSKIJ , Theorie der Literatur, 1985 (1931), 226. 34 Vgl. a.a.O., 226. 29
140
IV. Methodik
kompatibel sind.35 Die joh. Zeitangaben können aber durchaus in ihrem Relativitätsgrad abgestuft werden: Es enthält stark relative bzw. einander zuordnende Zeitangaben und an einem metrischen Zeitmaß wie Tag, Tageszeit, Stunde, Jahr, Jahreszeit orientierte Zeitangaben mit stärker absolutem Aussagewert. Die Unterscheidung zwischen eher relativen und stärker absoluten Zeitangaben zieht sich beinahe durch alle Analysemodelle. (4) So differenziert Alfonso de Toro zwischen „punktuellen“ und „nichtpunktuellen Zeitkonkretisationen“, während erstere die genaue Fixierung auf einem Chronometer meint und zweite die „vage, metaphorische Situierung“ 36. Da de Toros Beobachtungen auf den Gegenwartsroman bezogen sind, mögen sie für das JohEv nicht recht weiterhelfen, insofern das Evangelium, wie bereits erwähnt, genaue chronometrische Angaben vermissen lässt. Ungeachtet dessen können graduelle Unterschiede bei der chronometrischen Präzision von Zeitangaben festgestellt werden: Die Angabe ὥρα ἦν ὡς ἕκτη | es war um die sechste Stunde (Joh 4,6) ist chronometrisch gesehen präziser als ἔρχεται ὥρα ὅτε οὔτε ἐν τῷ ὄρει τούτῳ οὔτε ἐν Ἱεροσολύμοις προσκυνήσετε τῷ πατρί | es kommt die Stunde, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet (Joh 4,21). (5) Jörg Frey, um nun auch einen joh. Zeitexperten zu konsultieren, kategorisiert in seiner Untersuchung des temporalen Rahmens des JohEvs „exakte Zeitpositionsangaben“, deren Existenz er für das vierte Evangelium verneint, „relative Zeitpositionsangaben“, welche Ereignisse mit „mehr oder weniger genau festliegenden Daten, mit jüdischen Festen, Jahreszeiten, Wochentagen oder Tageszeiten“ verknüpfen, „Zeitmaßangaben“, die die Dauer eines Geschehens angeben und „Zeitrelationsangaben“37, welche vornehmlich der erzählerischen Verkettung der Ereignisse dienen (z.B. μετὰ ταῦτα). Hilfreich an dieser Untergliederung ist zunächst der Ausgang von konkreten joh. Textphänomenen statt von abstrakten, textexternen Zeitkonzepten und -schemata. Hilfreich ist auch die erneute Ausdifferenzierung dieser Textphänomene in relative und stärker ‚absolute‘ Zeitangaben, sowie die Unterscheidung verschiedener Modi von Zeitangaben: Zeitposition und Zeitmaß (bzw. Zeitdauer). Hier sind allerdings noch kleinere Lücken zu schließen: Wohin gehören bspw. Angaben wie πολλάκις oder ταχὺ/ταχέως/τάχιον?38
35 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 154; WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 115. 36 TORO, Die Zeitstruktur im Gegenwartsroman, 1986, 49. 37 FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 154. 38 Auch zur Klärung von Sinn und Funktion der griech. Tempusformen in ihrer aspektuellen und ihrer deiktischen Aussagekraft, sowie ihrer erzählerischen Wirkung hat J. Frey einen unverzichtbaren Beitrag geleistet. Auf seine tempusanalytischen Beobachtungen wird unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform noch zurückzukommen sein.
2. Methodische Umsetzung
141
(6) Zuletzt soll der Literaturwissenschaftler Roland Harweg zitiert werden, der in seinem vierbändigen Werk zur Zeit in Mythos und Geschichte39 zweifelsohne die präziseste Systematisierung der Chronographie als „Textualisierung von Zeit“ 40 erarbeitet hat. Harwegs Unterscheidung erster Ordnung ist jene zwischen materialer, d.h. sacherverhalts- oder ereignisbasierter Zeitdarstellung und formaler, d.h. metrischer (auf Uhren-, Kalender- und Ärenzeit basierender) Zeitdarstellung und ähnelt damit der gängigen Trennung einer relativen (subjektiven) von einer absoluten (objektiven bzw. intersubjektiven) Zeit bzw. Zeitdarstellung. Während die formale Zeitdarstellung immer explizit ist, lässt sich im Rahmen der materialen Chronographie zwischen implizitem Zeitvorkommen in Tempora, Aktionsarten und der Chronologie der Verben einerseits und explizitem Zeitvorkommen in zeitadverbialen Bestimmungen andererseits differenzieren.41 Eine weitere Unterscheidung betrifft den (von mir sog.) Modus der chronographischen Angaben, die gegenüber Freys Taxonomie an Differenzierung hinzugewinnt. Je nach Modus können die Zeitangaben Antwort auf die Fragen: Wie lange? (zeitmessend), Wie oft? (zeitzählend), Wann? (zeitlokalisierend) oder Seit bzw. bis wann? (zeitbegrenzend)42 geben.
39
Vgl. HARWEG, Zeit in Mythos und Geschichte in vier Bänden, 2008–2009. DERS., Formen der Chronographie, 2008, 1. 41 Vgl. a.a.O., 5. Zu den zeitadverbialen Bestimmungen rechnet R. Harweg allerdings nicht nur die Wortart Adverbien, sondern auch syntaktische Phänomene wie Temporalsätze und Nominalphrasen. 42 Richtig erkennt R. Harweg, dass allein zeitmessende (wie lange?) und zeitzählende (wie häufig?) Chronographie von keinem Äußerungs- oder Erzählstandpunkt abhängig, also weder deiktisch noch anaphorisch sind, weil sie sich auf keinen zeitlichen Referenzpunkt innerhalb der Erzählung oder innerhalb des jeweiligen Zeiterlebens beziehen (vgl. a.a.O., 6); Beispiel aus dem JohEv: Während der Informationsgehalt der zeitlokalisierenden Angabe μετὰ ταῦτα von ihrer Position im Erzähltext abhängt, ist die zeitmessende Angabe ἔμεινεν ἐκεῖ δύο ἡμέρας in Joh 4,40 unabhängig von Erzähl- und Figurenposition in zeitlicher Hinsicht bereits voll aussagekräftigt. Jedenfalls solange man sie wirklich nur nach dem „wie lange?“ befragt und ihr darüber hinaus keine zeitlokalisierende Information abzugewinnen versucht, also nur solange man davon absieht zu fragen, an welchen beiden Tagen Jesus in Samaria blieb. Genauso verhält es sich auch mit der zeitzählenden Angabe τοῦτο [δὲ] πάλιν δεύτερον σημεῖον in Joh 4,54. 40
142
IV. Methodik
Explizit
Material Textualisierung von Zeit
(anhand von Sachverhalten) Formal (anhand von Uhren-, Kalender-, Ärenzeit)
(durch adverbiale Bestimmungen)
Implizit (durch Tempora, Aktionsarten, Aspekte, Anordnung)
Zeitmessend (wie lange?) Zeitzählend (wie oft?) Zeitlokalisierend (wann?)
Explizit
Zeitbegrenzend (seit/bis wann?)
Abb. 5: Textualisierung von Zeit nach R. Harweg
Weiterhin unterscheidet Harweg, ob die Angaben geschichtsintern operieren, also die Geschichtsereignisse intern und untereinander anordnen wollen (z.B. einige Tage zuvor) oder von einem geschichtsexternen Referenzpunkt abhängig sind (z.B. vor wenigen Tagen als vom jeweiligen Sprecher abhängige Aussage). Unter die externe Chronographie zählt er deiktische (morgen), „semideiktische“ (im Mai)43 und „eigennamenwertige“ Angaben (am 29. Mai 1989).44 Die Bezeichnung geschichtsintern und -extern ist insofern etwas irreführend, weil zwar mit Geschichte durchaus die historische Geschichte und nicht nur die fiktive/mythische Erzählung gemeint ist, es aber trotzdem darum geht, sie von einem historischen Zeitstrahl der absoluten Datierungen zu abstrahieren. Geschichtsintern meint dann strenggenommen erzählimmanent (anaphorischrelativ) und geschichtsextern entweder deiktisch-absolut oder historisch-absolut oder etwas dazwischen (semideiktisch). Hinzu kommen weitere Verästelungen des Harweg’schen Schemas, z.B. in unbestimmte (mit Indefinita ausgestattete) und bestimmte (mit Numeralen ausgestattete),45 autodiegetische (äußerungszeitinkludierende wie z.B. heute) und heterodiegetische (äußerungszeitexkludierende wie z.B. drei Tagen später) Zeitangaben46 und einige mehr.
43
Semideiktisch sind Ausdrücke, die zu gewissem Grade zyklischer Natur sind: Der Mai kehrt in jedem Jahr wieder. Um als eigennamwertige Zeitangabe gelten zu können, bedarf die Monatsangabe einer Präzisierung hinsichtlich des Aussagezeitpunktes, z.B. ob sie 1999 oder 2017 formuliert wurde (vgl. a.a.O., 14). 44 Eine vollständige Datierung wie 29. Mai 1989 wird als eigennamenwertig bezeichnet, weil sie eine nur sich selbst bezeichnende Datierung ist, die nur auf diesen Tag und keinen anderen anwendbar ist (vgl. ebd). 45 Vgl. a.a.O., 12. 46 Vgl. a.a.O., 14.
2. Methodische Umsetzung
143
Während die Unterscheidungen erster bis dritter Ordnung (1. formal – material; 2. implizit – explizit; 3. zeitmessend, -zählend, -lokalisierend, -begrenzend) nachvollziehbar und ohne weiteres auf unseren Text anwendbar sind, bringen alle weiteren Verästelungen, so präzise und detailliert sie von Harweg ausgearbeitet sind, bei der Anwendung auf das JohEv mehr Schwierigkeiten als Erkenntnismehrwert, auch im Blick auf die ethische Fragerichtung dieser Studie.47 Die bisher referierten Versuche, den unterschiedlichen narrativen Zeitangaben durch Systematisierungen und Unterscheidungen Herr zu werden, tragen heuristischen Mehrwert, und so sehr sie sich teilweise gegenüber einer direkten Anwendung auf das JohEv und gegenüber der hiesigen ethischen Fragestellung sperren, so hilfreich kann es sein, ihre unterschiedlichen Differenzierungsebenen in die Methodologie zur Analyse der joh. Zeit aufzunehmen, schlicht und ergreifend um die vielen Zeitbezüge des JohEvs allererst wahrnehmen zu können.48 Die im Folgenden ausgearbeiteten Klassifizierungen verfolgen keinen narratologischen Selbstzweck, sondern stehen in der Funktion, größtmöglichen Ertrag für eine ethische Untersuchung der Zeitkomposition des Evangeliums zu erbringen. Sie sollen uns dabei helfen, noch genauer auf Zeitangaben zu achten, die auf unterschiedliche Art und Weise die Interaktionen und Einzelhandlungen näher beschreiben und qualifizieren. Von Harweg inspiriert, wollen wir zunächst an der Unterscheidung zwischen impliziter und expliziter narrativer Zeitdarstellung festhalten, die sich bereits in der Unterteilung der Folgekapitel in Semantik, Grammatik und Chronologik umgesetzt findet. Während die Semantik sich mit den expliziten Zeitangaben in allen möglichen Arten von adverbialen Bestimmungen befasst, geht es in der Grammatik um die Verbalformen, welche implizit zur Textualisierung von Zeit beitragen. In der ebenfalls implizit zeitmodellierenden Chronologik wird schließlich das aufgenommen, was Harweg mit der „p o sit io na le n Form“ der Tempora oder der „Anordnung von […] Prädikaten und Sätzen“ 49 im Kleinen schon anspricht. Hier soll es um die (textlichen) Zeit-Räume von 47 Die Forschungsfrage R. Harwegs ist keine ethische, sondern eine gattungskritische: Es sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Zeitdarstellung in Geschichte und Mythos dargestellt werden. Nach R. Harwegs Einteilung ist das JohEv übrigens lediglich sekundär historiographisch. Als „sekundär historiographisch“ bezeichnet er die vier ntl. Evangelien, weil deren Chronographizität „während der Entstehungs- und der primären Rezeptionsphase der Texte eine mythographische gewesen ist“ und erst ab der „Etablierung und anschließenden Durchsetzung der christlichen Ära“ (Christi Geburt als Beginn einer neuen Jahreszählung) zu einer historiographischen wurde (a.a.O., 93–99). 48 Weil die Klassifizierung unterschiedlicher textlicher Evokationen von Zeit uns überhaupt auf die (tlw. sehr latenten) Zeitreferenzen des Textes aufmerksam machen, sind sie auch für den ersten Analyseschritt auf Ebene des erzählten Geschehens hilfreich. 49 A.a.O., 8.
144
IV. Methodik
Ereignissen/Interaktionen/Handlungen gehen: Wie viel Platz nehmen sie ein? An wie vielen Stellen treten sie (wieder) auf, wie sind sie im (textlich-linearen) Raum angeordnet? Weitere Differenzierungsmöglichkeiten semantischer, grammatischer und chronologischer Zeitevokationen werden im Folgenden vorgestellt. 2.2.3 Semantik: Zeitangaben Eine Analyse anhand eines Top-Down-Klassifikationsbaums mit komplexen Verästelungen nach Art der Harwegʼschen Analyse ist m.E. für die ethische Auswertung der joh. Zeitangaben weder möglich noch nötig. Die vielen Klassifikationsebenen lassen sich in keine hierarchische, lineare Form bringen, ebenso wenig wie das Phänomen Zeit selbst ausschließlich linear gedacht werden könnte. Deshalb schlage ich ein weniger konsekutives als ein vielmehr kumulatives Klassifikationsnetz vor, das keine binären Antworten erzwingt, sondern vor allen Dingen graduelle Bedeutungsnuancen hervorhebt.50 Kategorien zur Analyse von Zeitangaben51 a) Wortart Eine Liste an Wortarten, die semantische Hinweise auf Zeit tragen können, soll zunächst die Blickrichtung schärfen: Auf welche lexikalischen Phänomene ist zu achten?52 Adverbien (εἶτα; τότε; ἕως; πρίν; πρό; νῦν; ἄρτι; ἤδη; οὔπω; πρότερον; εὐθέως; ταχέως; πρωΐ; ἐγγύς; ἐπαύριον etc.); mitunter präzisiert durch Präpositionen (ἀπ᾽ ἄρτι; ἀπὸ τοῦ νῦν; ἕως ἄρτι etc.) Substantive (αἰῶνα, ἀρχῆς; ὥρα; ἡμέρα; ἔτος; ἐνιαυτός, νύξ; ὄρθρος; χειμών; γέρων; ἑορτὴ τοῦ πάσχα; σάββατον; χρόνος; καιρός etc.) Mitunter präzisiert durch Präpositionen (εἰς τὸν αἰῶνα; ἐξ ἀρχῆς; ἀπ᾽ ἀρχῆς; ἐν ἀρχῇ; ἐν τῷ πάσχα; πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς; ἐκ γενετῆς etc.) Kasūs (Genitivus temporis: νυκτός; ὄρθρου; Akkusativ der zeitlichen Ausdehnung: τὴν ἡμέραν; Dativus temporalis: τῇ ἡμέρᾳ etc.)
50
Ein graduelles Unterscheidungssystem hat den Vorteil, dass es sowohl dem Untersuchungsgegenstand Zeit entspricht, welcher sich wie, mehrfach festgestellt, gegen eindeutige Klassifikationen sperrt, als auch der ethischen Fragerichtung, die sich damit zufriedengeben muss, menschliches Verhalten und dessen leitende Normen komparativisch als besser oder schlechter zu bewerten, statt ein absolut Gutes oder absolut Schlechtes definieren zu können. 51 Die Wortbeispiele sind im Folgenden nahezu ausschließlich dem Vokabular des JohEvs entnommen. 52 Die Übersicht über semantische Zeitreferenzen kann auch bei der Interaktionsanalyse auf erster Analyseebene des erzählten Geschehens zur Identifikation von temporalen Informationen beitragen.
2. Methodische Umsetzung
145
Adjektive (ἐσχάτη ἡμέρα; νύξ τὸ πρῶτος; ζωὴ αἰώνιος; μικρός; πολύς; καινός etc.) Numerale (ἔμεινεν δύο ἡμέρας; τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ; ὀκτὼ ἔτη; ὥρα ἦν ὡς ἕκτη etc.) bestimmte Artikel/Pronomen (ἀπ᾽ ἐκείνης τῆς ὥρας; τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου etc.) Konjunktionen (explizit temporal: ὅταν; ὅτε οὖν; ὡς; final und damit zukunftsbezogen: ἵνα; ὥστε; εἰς; ferner können auch konditionale, kausale, konsekutive und beiordnende Konjunktionen temporale Nebenbedeutung tragen z.B. ἐὰν μή i.S. von ehe nicht… in Joh 3,3; διά i.S. von infolge von… in Joh 5,16; οὖν i.S. von daraufhin… in Joh 6,19 oder καί i.S. von und dann … Joh 4,10)53 Fragepronomen (πότε; ἕως πότε) Verben mit explizitem, semantischem Zukunfts- oder Vergangenheitsbezug (auf die Zukunft ausgerichtet: προλέγω; σημαίνω; auf die Vergangenheit ausgerichtet: μιμνῄσκω; μαρτυρέω etc.) oder Verben, die die Funktion von Aktionsarten übernehmen: ἄρχω + Infinitiv (ingressiv); μέλλω + Infinitiv (imminentiell); τελέω (kompletiv). Hat man die expliziten Zeitangaben erst einmal identifiziert, so kann man sie im Anschluss auf unterschiedlichen Ebenen näher bestimmen. b) Struktur: Ordinal – kardinal – nominal Zunächst möchte ich die Unterscheidung von ordinal, kardinal und nominal strukturierten Zeitangaben einführen.54 Ordinale Zeitangaben verhalten sich ausschließlich relativ zueinander und haben damit zuvorderst (einander zu-)ordnende Funktion für Ereignisse, Interaktionen und Einzelhandlungen (Zeitposition: ἔπειτα; μετά; εἶτα; ἐπεί; τότε; πρίν; πρό; νῦν; ἄρτι; ἤδη; οὔπω; πρότερον; δεύτερον; τρίτον; ὕστερον; ἔμπροσθέν; ὀπίσω; εὐθέως/εὐθύς | Zeitbegrenzung: ἕως; ἀπὸ τοῦ νῦν; ἕως ἄρτι; ἀπ᾽ ἄρτι; ἔτι μικρόν | Dauer: im JohEv nicht vorhanden, ein Beispiel wäre: βραχύ; μακράν | Geschwindigkeit: ταχύ/ταχέως/τάχιον | Frequenz: πάλιν; οὐκέτι; μηκέτι; πολλάκις; πάντοτε; οὐδέποτε; πώποτε; ἀρχὴν τῶν 53 Der temporale Beiklang der deutungsaktiveren Konjunktionen (final, konsekutiv, kausal, konditional) ist auch sprachgeschichtlich zu plausibilisieren. So hat P. v. Polenz zumindest für die deutsche Sprachgeschichte gezeigt, dass die temporalen, „eher narrativen, aneinanderreihenden Strukturen“ mehr und mehr durch die „kausalen, adversativen, konditionalen, finalen Verknüpfungen“ ersetzt wurden ( VON POLENZ, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, 22000, 187). Es gibt indes keinen Grund, diese enge etymologische Verbindung zwischen temporalen und stärker deutenden Konjunktionen nicht auch für die griech. Sprache anzunehmen. Mehr über die konkrete temporale Bedeutung von unterschiedlichen Adverbialsätzen folgt unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform. 54 Diese Einteilung ist begrifflich der Statistiklehre und ihren unterschiedlichen Skalenniveaus entlehnt (vgl. GÖTZE/DEUTSCHMANN/LINK, Statistik, 2014, 3).
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IV. Methodik
σημείων/δεύτερον σημεῖον; τρίτον ἐφανερώθη). Dabei ist zu beachten, dass bestimmte Zeitadverbien nicht nur relativ zueinanderstehen, sondern zudem von einem bestimmten Erwartungshorizont abhängen bzw. ihn prägen, so z.B. ἤδη (schon = früher/schneller als erwartet) oder οὔπω (noch nicht = später/langsamer als erwartet). Der Gebrauch solcher Adverbien markiert die Besonderheiten in der zeitlichen Konstitution einer Handlung oder eines Ereignisses und hat mitunter normative bzw. wertende Tendenzen (z.B. Joh 9,27: εἶπον ὑμῖν ἤδη καὶ οὐκ ἠκούσατε | Ich habe es euch schon gesagt und ihr habt nicht gehört). Ebenso können natürlich zeitliche (oder zeit-räumliche) Hierarchisierungen eine Wertung in sich tragen, wobei man im JohEv stets mit einer Durchkreuzung der klassischen Rangfolgen rechnen muss (z.B. Joh 1,15: ὁ ὀπίσω μου ἐρχόμενος ἔμπροσθὲν μου γέγονεν, ὅτι πρῶτός μου ἦν | Der nach mir kommt, ist mir voraus, weil er vor mir war). Kardinale (metrische) Zeitangaben nehmen Bezug auf eine außertextliche, metrische Zeiteinheit (Tag: τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ; Stunde: ὥρα ἦν ὡς δεκάτη; ὥρα ἦν ὡς ἕκτη; Tageszeit: ἦν δὲ νύξ; ἦν δὲ πρωΐ; ὡς δὲ ὀψία; ὄρθρου; Fest: ἐγγὺς ἦν τὸ πάσχα; ἦν δὲ σάββατον ἐν ᾗ ἡμέρᾳ; ἐν δὲ τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ τῇ μεγάλῃ τῆς ἑορτῆς; Jahr: ἐνιαυτός ἐκεῖνος; Jahreszeit: χειμὼν ἦν etc.; Zeitraum: ἀπ᾽ ἀρχῆς; πολλὰς ἡμέρας; δύο ἡμέρας; Alter: γέρων ὤν; ἡλικίαν ἔχει; νεώτερος – ὅταν γηράσῃς etc.). Meist haben diese Zeitangaben im JohEv (auch wenn sie metrisch organisiert sind) über den Zugewinn an raum-zeitlicher Konkretion der Ereignisse hinaus qualitativen Aussagewert und beschreiben den Kontext, die Atmosphäre, die Rahmenbedingungen, mitunter auch die Symbolik der jeweiligen Handlung/des Ereignisses. Das schließt allerdings eine ordnende Funktion nicht per se aus (z.B. tragen die Zeitangaben in Joh 7,14.37 nicht nur qualitativen Wert, sondern sagen auch etwas über die Chronologie Jesu Auftretens auf dem Fest aus: ἤδη δὲ τῆς ἑορτῆς μεσούσης | schon mitten im Fest; ἐν δὲ τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ τῇ μεγάλῃ τῆς ἑορτῆς | am letzten Tag, dem größten des Festes). Es ist also darauf zu achten, welchen qualitativen (Kontextinformation) und welchen quantitativen Aussagewert (konkrete zeitliche Einordnung) eine kardinale Zeitangabe mit sich bringt. Die kardinalen Zeitangaben können außerdem unterschiedliche Grade an Präzision annehmen: Während die Zeitangabe in Joh 2,12 (οὐ πολλὰς ἡμέρας | nicht viele Tage) der Aufenthaltsdauer Jesu samt Familie und Jüngern in Kafarnaum wenig Präzision verleiht, gibt uns der Erzähler in Joh 20,1 durch Wochentags- und Tageszeitangabe eine genauere Vorstellung von den zeitlichen Rahmenbedingungen und der chronologischen Einordnung in den Handlungsverlauf (Τῇ δὲ μιᾷ τῶν σαββάτων Μαρία ἡ Μαγδαληνὴ ἔρχεται πρωῒ σκοτίας ἔτι οὔσης εἰς τὸ μνημεῖον | Am ersten Tag der Woche geht Maria aus Magdala frühmorgens, als es noch dunkel ist, zum Grab). Bei der Analyse der Texte sollte deshalb auch darauf geachtet werden, ob bestimmte Ereignisse und Interaktionen mit genauen Zeitangaben versehen sind oder sich eher freischwebend in Raum und Zeit bewegen.
2. Methodische Umsetzung
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Schließlich gibt es nominale Zeitangaben, die sich zwar mitunter auf eine metrische Größe beziehen, diese aber metaphorisch auf einen anderen (teilweise ebenso temporalen) Sachverhalt übertragen. So etwa in Joh 9,4: ἡμᾶς δεῖ ἐργάζεσθαι τὰ ἔργα τοῦ πέμψαντός με ἕως ἡμέρα ἐστίν; ἔρχεται νὺξ ὅτε οὐδεὶς δύναται ἐργάζεσθαι | Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann (Tag und Nacht dienen als Metapher für Leben und Tod; vgl. auch Joh 11,9; 12,35). Manchmal wird auch der Ablauf von Zeit in prozessualen Übergängen ausgedrückt (z.B. in Joh 3,30: ἐκεῖνον δεῖ αὐξάνειν, ἐμὲ δὲ ἐλαττοῦσθαι | Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen; vgl. auch Joh 4,37; 5,24). Eine metrische Zeitangabe kann aber auch metaphorisch für die gegenwärtige Situation/den gegenwärtigen Zustand: σῶσόν με ἐκ τῆς ὥρας ταύτης | Rette mich aus dieser Stunde (Joh 12,27) stehen. Außerdem fallen in diese Kategorie auch Verweise auf Größen oder Sachverhalte, die einen indirekten Vergangenheits- oder Zukunftsbezug aufweisen: ἡ μαρτυρία; Ηλίας; προφήτης; Ἠσαΐας; ἡ γραφή; Μωυσῆς; Ἰακὼβ [τῷ] Ἰωσὴφ; οἱ πατέρες; γράμμα; σπέρματος Δαυὶδ καὶ ἀπὸ Βηθλέεμ; ἡ ἀνάστασις. c) Fokus: Szeneninterne, szenenrahmende und übergeordnete Zeitangaben Mit der Struktur der Zeitangaben ist deren Funktion eng verbunden. Es wurde bereits angedeutet, dass ordinale Zeitangaben v.a. die Aufgabe haben, die Ereignisse/Interaktionen/Handlungen einander zuzuordnen, während kardinale und nominale Zeitangaben eher zeitliche Konkretion verleihen, Kontextinformationen liefern oder symbolische Aussagen treffen. In einem weiteren Schritt können szeneninterne (vordergründige) und rahmende (hintergründige) Zeitangaben unterschieden werden. 55 Außerdem gibt es die Einzelhandlungen orientierende, aber grundsätzlich übergeordnete Zeitangaben. So stellt sich bei jeder Zeitangabe die Frage, ob es sich um eine der Szene übergeordnete Zeitangabe handelt, die das Verhalten in einen größeren Kontext stellen möchte bzw. etwas über dessen zeitliche Orientierung preisgibt (z.B. in Joh 11,9: οὐχὶ δώδεκα ὧραί εἰσιν τῆς ἡμέρας; ἐάν τις περιπατῇ ἐν τῇ ἡμέρᾳ, οὐ προσκόπτει, ὅτι τὸ φῶς τοῦ κόσμου τούτου βλέπει·| Hat nicht der Tag zwölf Stunden; wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er sich nicht, weil er das Licht dieses Kosmos sieht), ob man es mit einer szeneninternen Zeitangabe zu tun hat, die die ver-
55
In einem Aufsatz von 2011 unterscheidet R. Harweg zwischen einer „longitudinal direction“ (konsekutive Abfolge), „latitudinal direction“ (von Hintergrund- zu Vordergrundinformationen) und „altitudinal direction“ (vom Abstrakten zum Konkreten) der sog. „storytime“ (HARWEG, Story-time and Fact-sequence-time, 2011, 159–168). Während die longitutinal direction in hiesiger Arbeit im Rahmen der Chronologik untersucht werden und die alitudinal direction dann unter 2.3.3 Bewertungsorientierung: Unmittelbarkeit der Erzählung zum erzählten Geschehen: dramatischer und narrativer Modus aufgefangen wird, ist für die latitudinal direction im Rahmen der semantischen Untersuchung Sorge zu tragen.
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IV. Methodik
schiedenen Ereignisse/Interaktionen/Handlungen innerhalb einer Szene einander zuordnen (z.B. in Joh 4,51 ἤδη δὲ αὐτοῦ καταβαίνοντος οἱ δοῦλοι αὐτοῦ ὑπήντησαν αὐτῷ λέγοντες ὅτι ὁ παῖς αὐτοῦ ζῇ | Schon während er hinunterging, begegneten ihm seine Knechte und sagten ihm, dass sein Kind lebe), oder ob die betreffende Zeitangabe über das temporale Gesamtsetting der Szene informiert (rahmende Zeitangabe z.B. in Joh 2,13: Καὶ ἐγγὺς ἦν τὸ πάσχα τῶν Ἰουδαίων | Und nahe war das Fest der Juden)? In welchem zahlenmäßigen Verhältnis stehen diese zueinander: Gibt es mehr übergeordnete, mehr innerszenische oder mehr rahmende Zeitangaben und über welche Präzision verfügen sie jeweils? d) Orientierung: Referentiell (anaphorisch/deiktisch) oder unabhängig Zusätzlich zu Struktur und Fokus kann eine Zeitangabe, wie in einigen narratologischen Studien herausgestellt, von einem bestimmten Referenzpunkt abhängen: entweder vom Äußerungszeitpunkt der Figur oder vom Standpunkt innerhalb des Erzählflusses. Ich nenne diese unterschiedlichen Orientierung in Anlehnung an Schmid anaphorisch (am Erzählfluss ausgerichtet, wie z.B. die zahlreichen μετὰ ταῦτα) oder deiktisch (vom Standpunkt der Figur abhängig wie z.B. in Joh 11,8: ῥαββί, νῦν ἐζήτουν σε λιθάσαι οἱ Ἰουδαῖοι, καὶ πάλιν ὑπάγεις ἐκεῖ; | Rabbi, eben noch suchten die Juden dich zu steinigen, und du gehst wieder dorthin?).56 Wir hatten bereits gesagt, dass manche Zeitangaben auch gleichzeitig von mehreren Referenzpunkten abhängen. Deshalb sollen in hiesiger Arbeit v.a. graduelle Unterschiede in der Orientierungsleistung hervorgehoben werden: Dienen betreffende Angaben stärker der temporalen Orientierung der Figur (deiktisch), der temporalen Strukturierung der Erzählung (anaphorisch) oder sind sie für die Einsichten des Lesers (positionsunabhängig bzw. -übergreifend) hilfreich? Der deiktische Aussagewert der Zeitangaben ist für diese Studie (insbesondere für die erste Analyseebene) deshalb besonders aufschlussreich, weil sie einen Hinweis auf die inszenierte Zeitorientierung der Figuren geben (z.B. sind die Jünger in Joh 11,8 an der jüngsten Erfahrung der Gefährdung orientiert), während anaphorische Aussagen eher auf der zweiten Ebene auf den übergeordneten Plot und dessen Temporal-, Sinn- und Motivstruktur hinweisen. e) Modus: Zeitposition – Zeitdauer – Zeitbegrenzung – Geschwindigkeit ‒ Frequenz Wie Frey, Harweg u.a. demonstriert haben, sind weiterhin unterschiedliche Modi von Zeitangaben voneinander zu unterscheiden.57 Zu den Harwegʼschen Fragen nach dem Wann? Wie lange? Seit wann/bis wann? Wie häufig? möchte 56
Vgl. SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 136. Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 154; HARWEG, Formen der Chronographie, 2008, 6. 57
2. Methodische Umsetzung
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ich noch die nach dem Wie schnell? ergänzen, sodass Zeitangaben danach beurteilt werden können, ob sie (primär) Aussagen über die Zeitposition, die Zeitdauer, die Zeitbegrenzung, die Frequenz oder die Geschwindigkeit treffen. Teilweise lassen sich von einem Modus Rückschlüsse in Bezug auf andere Modi ziehen: Heißt es z.B. in Joh 11,6: τότε μὲν ἔμεινεν ἐν ᾧ ἦν τόπῳ δύο ἡμέρας | da blieb er an dem Ort, wo er war, zwei Tage ‒ und wenig später in V. 17: Ἐλθὼν οὖν ὁ Ἰησοῦς εὗρεν αὐτὸν τέσσαρας ἤδη ἡμέρας ἔχοντα ἐν τῷ μνημείῳ | Als Jesus kam, fand er ihn schon vier Tage liegend im Grab ‒ einmal eine Angabe der Dauer, einmal eine Angabe der Zeitbegrenzung ‒ so kann man natürlich versuchen, daraus abzulesen, zu welchem genauen Zeitpunkt Jesus wohl aus Galiläa aufgebrochen sein bzw. wie lange die Reise von dort nach Bethanien gebraucht haben mag. 58 In dieser Arbeit wird auf derlei Berechnungen verzichtet. Für die Analyse der besonderen Zeitdarstellung ist es hilfreich, betreffende Zeitangaben v.a. in ihrer primären Aussageintention wahrzunehmen und zu schätzen, statt sie historisch-investigativ aufwendig miteinander zu verrechnen. f) Chronotopos Weil Zeit und Ort nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch narratologisch sehr eng miteinander verschränkt sind, werden im Rahmen der expliziten Zeitangaben auch die Ortsangaben mit in den Blick genommen und auf ihre Näherbestimmung der Zeitangaben hin geprüft. Auch sie können stärker ordinal, kardinal oder nominal strukturiert sein, so sie primär eine räumliche Zuordnung der Ereignisse oder Personen zueinander vornehmen (z.B. Joh 6,22: τῇ ἐπαύριον ὁ ὄχλος ὁ ἑστηκὼς πέραν τῆς θαλάσσης εἶδον ὅτι πλοιάριον ἄλλο οὐκ ἦν ἐκεῖ εἰ μὴ ἓν | Am nächsten Tag sah die Menge, die jenseits des Sees stand, dass kein anderes Boot da war als das eine), oder sich auf eine externe, mal mehr, mal weniger exakt zu lokalisierende Größe beziehen (z.B. Joh 11,18: ἡ Βηθανία ἐγγὺς τῶν Ἱεροσολύμων ὡς ἀπὸ σταδίων δεκαπέντε | Bethanien aber war nahe von Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt)59 oder metaphorisch bzw. als „spatiale Typologisierungen“60 wirken, wie es Eve-Marie Becker für das LkEv und MtEv formuliert (darunter fällt im JohEv z.B. der κόσμοςBegriff, der mehr als nur geographische Bedeutung trägt). Ortsangaben können gleich wie Zeitangaben ferner sowohl anaphorischer (z.B. in Joh 4,40: καὶ ἔμεινεν ἐκε ῖ δύο ἡμέρας | und sie blieben d o rt zwei Tage) als auch deiktischer 58
Vgl. SCHENKE, JohannesKommentar [elektronische Neuauflage], 2014, 191. M. Martínez/M. Scheffel geben die unterschiedlichen Präzisionsgrade in „reale Orte“, „unbestimmt reale[n] Orte“ (Orte mit realistischem Charakter, aber ohne eindeutige geographische Lokalisierbarkeit), „fiktive Schauplätze und Räume“ oder „ad hoc nach handlungsfunktionalen Geschichtspunkten gestaltet[e]“ Schauplätze an (MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 151–155). 60 BECKER, Konzepte von Raum in frühchristlichen Geschichtserzählungen, 2016, 391; vgl. auch BRODIE, The Gospel According to John, 1993, 29. 59
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IV. Methodik
Ausrichtung (Joh 4,16: ὕπαγε φώνησον τὸν ἄνδρα σου καὶ ἐλθὲ ἐνθάδε | Geh, ruf deinen Mann und komm wieder h ierh er) sein, und auch sie können eher Vordergrund- oder aber Hintergrundinformationen liefern. Sönke Finnern unterscheidet zusätzlich unterschiedliche Modi von Ortsangaben: politische (Jerusalem, Galiläa), topographische (Stadt/Land, Berg, See) oder architektonische (innen/außen) Ortsangaben. 61 Selbstverständlich können nicht nur durch explizite Orts-/Raumangaben, sondern auch durch Positionsverben und Verben der Bewegungen implizit Informationen zur räumlichen Organisation der Szene übermittelt werden. 62 Interessant ist für uns v.a. die enge Verschränkung von Raum und Zeitangaben zu einem bedeutungsvollen Chronotopos (oder mehreren Chronotopoi), ein Begriff, den Michail Bachtin in die Debatte um literarische Raum-Zeit-Beziehungen eingebracht hat: „Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen.“63 So präzisieren und intensivieren bspw. in der Erzählung von der Heilung des Sohnes eines Königlichen (Joh 4,43–54) die Ortsangaben die zeitlichen Bedingungen: Die räumlichen Konkretion eines notwendigen Abstiegs Jesu von Kana nach Kafarnaum, nämlich dorthin, wo der kranke Sohn liegt, steigert die temporale Dramatik des bereits im Sterben liegenden Sohnes (V. 47.49). Jesus müsste also erst noch einiges an Wegstrecke hinter sich bringen, um den bevorstehenden Eintritt des Todes zu verhindern. Die konkreten Ortsangaben intensivieren gleichsam den Eindruck von Verzögerung im Handeln Jesu. Die Erkenntnis über die Gleichzeitigkeit von Jesu Lebensworten (V. 50) und der Heilung des Sohnes empfängt der Königliche wiederum weder in Kana noch in Kafarnaum, sondern im räumlichen Dazwischen (V. 51–53). Ebenso ist das doppelte ἐγγὺς in Joh 11,18.55 ein Beispiel für die enge raum-zeitliche Verschränkung: Mit der räumlichen Nähe zu Jerusalem und der zeitlichen Nähe zum Passafest wird eine besondere Atmosphäre erzeugt: die finale Stunde Jesu am Kreuz erscheint im unmittelbaren (Deutungs- und Bewertungs-) Horizont der beschriebenen Interaktionen.64 Es ist also stets darauf zu achten, wie Raumund Ortsangaben das zeitliche Setting beeinflussen und den Zeitangaben zu zusätzlicher Präzision oder Intensität verhelfen. 2.2.4 Grammatik: Verbalform Sind Tempora zeitlos? In vielen deutschen Grammatiken werden Verben als Zeitwörter ausgewiesen. Auch Aristoteles hat das Verb als zusammengesetzten Laut μετὰ χρόνου und 61
Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 80. Vgl. ebd. 63 BACHTIN, Chronotopos, 2008, 7. 64 Vgl. ZIMMERMANN, Vorbild im Sterben und Leben (Die Auferweckung des Lazarus), 2013, 744. 62
2. Methodische Umsetzung
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das Nomen als zusammengesetzten Laut ἄνευ χρόνου ausgewiesen. 65 Doch woher beziehen Verben ihre zeitlichen Werte? Primär wohl aus ihrer morphematischen Flexibilität: Je nachdem, wie sie flektiert werden, biegen sie sich in die Vergangenheit, verharren in der Gegenwart oder beugen sich in die Zukunft vor.66 Schon aufgrund ihrer Dominanz in den meisten syntaktischen und textlichen Einheiten, insbesondere in Erzähltexten, 67 und der damit verbundenen Möglichkeit der großflächigen temporalen Determination eines Textes verdienen sie gesteigerte Aufmerksamkeit. Doch drückt das Tempus wirklich Zeit aus? Dass Tempora sich im engeren Sinne auf Zeit beziehen, hat zumindest Harald Weinrich in seiner Tempustheorie bestritten. In Überbietung von Hamburgers These, das Präteritum gebe unter bestimmten Bedingungen seine grammatische Funktion, die Vergangenheit zu bezeichnen, auf, postuliert Weinrich: „Nicht nur das ›epische Präteritum‹, d.h. das deutsche Tempus Präteritum, sofern es in fiktionaler Dichtung verwendet wird, hat die von Käte Hamburger beschriebenen Eigenschaften, sondern die Tempora haben insgesamt Signalfunktion, die sich als Information über Zeit nicht adäquat beschreiben lassen.“68
Weinrich untersucht Tempora v.a. in ihrer kommunikationspragmatischen Funktion. So kommt er zu dem Schluss, dass sie primär die Sprech- und damit zusammenhängend die Rezeptionshaltungen anzeigen und nicht die Zeit. Mit den Primärtempora (im Griechischen: Präsens, Perfekt, Futur, Futur II) werde eine besprechende Sprechhaltung, mit den Sekundärtempora (im Griechischen: Imperfekt, Aorist, Plusquamperfekt) eine erzählende Haltung angezeigt. 69 Beim Leser oder Hörer wiederum evozieren, so Weinrich, erstere eine „Haltung der Gespanntheit“, letztere eine Haltung der „Entspanntheit“70. So entstehe durch die Verwendung von Tempora bei Sprecher und Hörer eine „kongruente Kommunikationshaltung“ 71. Die steile These „Tempus hat nichts mit Zeit zu tun“ 72 findet sich zwar nur in der ersten Auflage von Weinrichs Tempustheorie, und die Einschränkung im oben zitierten Nebensatz („sofern es in fiktionaler Dichtung verwendet
65
Vgl. WEINRICH, Tempus, 62001, 306. Selbstverständlich kann das Verb neben seinem Tempusstamm (und der Augmentierung/Reduplikation bei griech. Verben) auch noch Personalendungen oder Moduszeichen variieren, sodass es mehr als nur zeitlich determiniert werden kann. 67 Vgl. a.a.O., 22–25. 68 A.a.O., 39. 69 Vgl. a.a.O., 279. 70 A.a.O., 47. Mehr zum Thema der gespannten Hörerhaltung s.u. unter 2.3.3 Bewertungsorientierung: Exkurs: Gespannte Haltung des Lesers. 71 Ebd. 72 DERS., Tempus, 1964, 14. 66
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IV. Methodik
wird“) bringt weitere Entschärfung. Für das Griechische hält er allerdings daran fest: „Alle Tempora des Griechischen sind zeitlos.“ 73 Jedoch ist die Einteilung in Primär- und Sekundärtempora in vielen Fällen nicht zielführend, weil die insbesondere im joh. Griechisch so zahlreich verwendeten „Semi-Formen“ des Partizips, Konjunktivs, Infinitivs (und Imperativs) aus diesem Raster herausfallen und innerhalb von Weinrichs Schema ihren Aussagewert nur noch vom Kontext her beziehen können.74 Ihre Tempusflexion bliebe dann aber ohne jedwede Bedeutung. Besprechende und narrative Passagen greifen außerdem derart eng ineinander (z.B. durch besprechende Dialoge und Monologe in sonst narrativen Passagen bzw. durch die Verwendung besprechender Tempora wie des Perfekts in erzählenden Passagen), sodass bald mehr Regelbrüche als -konformitäten gezählt werden können.75 Nimmt man dann schließlich noch die Grenze zwischen fiktiven und historiographischen Texten als einen fließenden Übergang wahr 76 und anerkennt mit Paul Ricœur die „Refiguration der Zeit […] [als] das gemeinsame Werk der historischen und der Fiktionserzählung“ 77 , so lässt sich an Weinrichs These, selbst mit Einschränkung auf fiktionale Texte, nicht mehr festhalten. Vielmehr kann Ricœur in seiner Ansicht zugestimmt werden: „Nun bricht aber meiner Ansicht nach das System der Verbalzeiten, so autonom es auch im Verhältnis zur Zeit und ihren geläufigen Benennungen sein mag, nicht in jeder Hinsicht mit der Zeiterfahrung. Es beruht auf ihr und kehrt zu ihr zurück.“78
Auch in fiktiven Erzählungen kann von einem Bezug zumindest zu einer „Quasi-Vergangenheit“ gesprochen werden. „Jede Erzählung, selbst wenn sie die Zukunft betrifft, erzählt das Irreale, als ob das Irreale geschehen werde.“79 Mehr noch gilt dies für das JohEv, welchem wir im theoretischen Teil III unter 4.2 Diachron informierte Synchronität bereits den theologischen Anspruch akkreditiert haben, sich auf ein Geschehen zu beziehen, dass sich in unserer Zeit und unserer Geschichte vollzogen hat. Auch wenn es vielleicht nicht den (modernen) historiographischen Ansprüchen entspricht, so bezieht es sich auf ein 73
DERS., Tempus, 62001, 280. Vgl. a.a.O., 282. Die ausschließlich externe Determination der nicht-indikativischen Verbalformen wird im Folgenden noch durch deren internen Propositionsgehalt zu widerlegen sein. Hier nur so viel: Hätte die Tempusflexion im Rahmen der nicht-indikativen Verbalformen wirklich keinerlei Aussagewert, wäre ihr Vorkommen völlig unerklärlich. Insbes. in innerlich abhängigen Sätzen drücken diese Verbformen also durchaus relative Zeitstufen aus (vgl. BORNEMANN/RISCH, Grammatik, 21978, 219). 75 Vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 74. 76 Mehr zum engen Verhältnis zwischen fiktiven und historiographischen Texten im theoretischen Teil III unter 1.1 Narrative Versprachlichung von Zeiterfahrungen (Hermeneutik). 77 RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 140. 78 DERS., Zeit und Erzählung II, 1989, 124. 79 A.a.O., 125. 74
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faktisches Geschehen in der Vergangenheit, welches auch aufgrund seiner Historizität fundamentale Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft hat. Diese Zeitbezüge auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden im JohEv selbstverständlich auch maßgeblich mithilfe der Tempusverwendung moderiert. Ferner lassen sich in dem, was Weinrich in seinem dritten Kapitel dann unter der sog. Sprecherperspektive verhandelt, gewiss zeitliche Werte wiederentdecken. Tempora können, so Weinrich, durch ihre Modi des Rückblicks,80 der Nullstufe 81 oder Vorwegnahme 82 die Beziehung zwischen Text- und Aktzeit moderieren. Mit der Aktzeit ist der „Zeitpunkt oder Zeitverlauf des Kommunikationsinhalts“83, also des erzählten Geschehens angesprochen. Doch Tempora treffen nicht nur Aussagen über den Status der Informationsvermittlung, sie geben uns gleichsam ein Bild von der Aktzeit, der geschehensimmanenten Zeit selbst. Wenn es in Joh 1,5 heißt: καὶ τὸ φῶς ἐν τῇ σκοτίᾳ φαίνει, καὶ ἡ σκοτία αὐτὸ οὐ κατέλαβεν | und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis ergriff es nicht, dann ist damit nicht nur ausgesagt, dass erstere Information aufgrund der Präsensverwendung irgendwo zwischen Akt- und Textzeit schwebt (τὸ φῶς φαίνει) und zweitere aufgrund der Aoristverwendung erst nachträglich abgeliefert wird (ἡ σκοτία οὐ κατέλαβεν). Es zeigt vielmehr an, dass das Licht dauerhaft scheint und dass es zu keinem vergangenen Zeitpunkt ergriffen werden konnte. Tempora können Ereignisse und Handlungen des erzählten Geschehens aufgrund ihrer Temporaldeixis (mithilfe der Linearität des Textes) und, wie wir später sehen werden, mithilfe ihrer aspektuellen Bedeutung sowie der Aktionsart ihrer Verbalinhalte einander zeitlich zuordnen, sie gleichzeitig oder nacheinander ablaufen, sie beginnen, andauern oder enden lassen. Zeit lässt sich aus den Tempora also nicht ohne weiteres verdrängen.84 Wie Frey herausstellt, sträubt sich das Futur am vehementesten gegen eine Entzeitlichung, es eröffnet sogar in den nicht-indikativischen Formen einen eindeutigen Blick auf die Zukunft. 85 Als wichtige Beobachtung ist jedoch die Relativität des Zeitbezuges zu berücksichtigen. Die genaue zeitliche Verortung der Handlung kann das jeweilige Tempus nur in Abhängigkeit zu seiner Textposition (bzw. dem Zeitpunkt der
80 Informationen werden in der Textzeit nach der eigentlichen Aktzeit gegeben (vgl. WEINRICH, Tempus, 62001, 77). 81 Das Verhältnis zwischen Text- und Aktzeit bleibt unbestimmt (vgl. a.a.O., 76). 82 Informationen werden in der Textzeit vor der eigentlichen Aktzeit gegeben (vgl. a.a.O., 77). 83 A.a.O., 75. 84 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 46. 85 Vgl. a.a.O., 54–55.
154
IV. Methodik
Äußerung) und in Relation zu anderen Tempora, sowie durch adverbiale Nebenbestimmungen leisten. Damit sind Tempora in ihrer zeitordnenden Funktion eine deiktische Kategorie.86 Im Hinblick auf Weinrichs entzeitlichende Tempustheorie ist anzuerkennen, dass sich die Funktion der griech. Tempora nicht darin erschöpft, die Ereignisse und Handlungen in der (relativen) Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zu verorten. Neben Weinrichs kommunikationspragmatischer Belichtung der Tempora (Sprech- und Rezeptionshaltung) bringt v.a. seine Untersuchung der Tempusdistribution wichtige Einsichten. Die Möglichkeit, mittels Tempuswechsel zwischen Vorder- und Hintergrundinformationen zu alternieren, bzw. von den wesentlichen Momenten des Geschehens zur Beschreibung von Einzelheiten (bei Weinrich als „Relieffunktion“ 87 bezeichnet), wird für das ntl. Griechisch häufig bereits vorausgesetzt.88 Im Griechischen gilt das Imperfekt als Hintergrundinformant, der Aorist als Vordergrundinformant, 89 auch wenn es im JohEv diesbezüglich immer wieder zu Abweichungen kommen kann. 90 Darüber hinaus interessieren aber auch die von Weinrich untersuchten Übergänge von besprochener zu erzählter Tempusgruppe: Mit dem Verbleib innerhalb einer Tempusgruppe (weicher Tempusübergang) wird zur Konsistenz des
86
Vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 18; FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 55. Strenggenommen trägt das Verb, wie auch die adverbialen Bestimmungen, nicht nur temporaldeiktischen, sondern gleichzeitig temporalanaphorischen Wert, weil eine Handlung/ein Ereignis sowohl aus Sicht des Sprechers als auch in Abhängigkeit vom Erzählfluss (insbes. wenn der Erzähler spricht) verbalisiert sein kann. Deixis und Anaphorik fallen aber im Rahmen der Zeitstufen des Verbes deshalb stets zusammen, weil sie mittels ihrer groben Kategorien von Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit den graduellen Unterschied zwischen Figurenposition und Erzählposition nicht einfangen können. R. Harweg hat allerdings darauf hingewiesen, dass das Präsens als „volldeiktisch“ gelten kann, weil es die deiktische Kategorie des Jetzt ausdrückt und damit strenggenommen immer vom Äußerungszeitpunkt abhängig ist und mit dem anaphorischen Erzählfluss nichts mehr gemein hat. Das gilt aber freilich nicht für das Präsens Historicum (vgl. HARWEG, Zeit in Mythos und Geschichte im europäischen Altertum und Mittelalter, 2009, 9). Im Folgenden soll also nicht zwischen Temporaldeixis und -anaphorik unterschieden werden, gleichwohl wird bedacht, dass die Zeitstufen der Tempora nicht nur an der Zeitposition der Stimme hängen, sondern ebenso auch an der Position innerhalb der Erzählchronologie. 87 WEINRICH, Tempus, 62001, 115–120. 88 Vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 74f. 89 Vgl. BORNEMANN/RISCH, Grammatik, 21978, 221; SMYTH, A Greek Grammar, 1920, 425 (§ 1898f.); ferner FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 91. B. Fanning spricht von „prominence in narrative“ des Aorists gegenüber dem Imperfekt (vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 74f.). 90 So kann das Imperfekt sicher nicht durchgängig als Hintergrundinformant bezeichnet werden, wie v.a. seine Verwendung im Prolog (Joh 1,1–18) deutlich macht (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 49).
2. Methodische Umsetzung
155
Textes beigetragen, mit dem Wechsel (schroffer Tempusübergang) für besonderen Informationsgehalt gesorgt.91 Auch wenn sich die joh. Tempora gegen eine rigide Einsortierung in Weinrichs Klassifikationen sperren,92 so ist mit den Tempusübergängen doch ein wichtiges Instrument narrativer Akzentuierung angesprochen. Bspw. lässt der schnelle Wechsel von Präsens zu Aorist zu Futur in Joh 11,27 aufmerken und über die zeitliche Bedeutung der Aussage nachsinnen: ὁ πιστεύων εἰς ἐμὲ κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται | Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Besonders interessieren darf uns außerdem Weinrichs Figur der „Tempusmetaphorik“93, womit er die unkonventionelle Verwendung eines besprechenden Tempus in erzählenden Textabschnitten und umgekehrt anspricht. Ähnlich wie die Tempusübergänge bietet sich auch der kontextwidrige Gebrauch von Tempora als Mittel zur Bedeutungsintensivierung und Aufmerksamkeitssteigerung an. In Joh 11,2 wird von Marias Salbung im Aorist gesprochen, obwohl sie der Erzählchronologie zufolge noch aussteht. Auch der Gebrauch des lebendigen Präsens Historicums anstelle eines distanzierten Aorists hat Signalwirkung. Nun können Tempora aber nicht nur zwischen Vorder- und Hintergrundinformationen alternieren, mit schroffen Übergängen den Fokus auf zeitliche Besonderheiten lenken und Handlungen zeitlich vor-, nach- oder gleichordnen. Zwei weitere Faktoren sind im Hinblick auf Verbtempora zu berücksichtigen. Weiter oben war bereits von der aspektuellen Bedeutung die Rede. Unter dem Tempusaspekt versteht man im Gegensatz zu den Bezügen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Möglichkeit der Tempora, die Art bzw. den Status des Handlungsvollzugs selbst zu beschreiben. Dabei wird der Aorist in griech. Grammatiken häufig mit einem Punkt, das Imperfekt mit einer Linie assoziiert.94 Buist Fanning hat sich in seinem Buch über den Verbalaspekt im ntl. Griechisch genauer damit auseinandergesetzt und darzulegen versucht, dass griech. Tempora eben nicht nur verschiedene Zeitstufen oder Sprechhaltungen
91
Vgl. WEINRICH, Tempus, 62001, 189–191. Beispiele zur Sperrigkeit des joh. Tempusgebrauchs gegenüber dem Weinrich’schen System sind zu finden bei FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 49. 93 WEINRICH, Tempus, 62001, 192. J. Frey beschreibt das Phänomen der Tempusmetaphorik als „Tempuskontrast“ (FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 130–145). 94 Die punktuelle und lineare Assoziation bei Präsens und Aorist referiert H. Weinrich, versucht sie aber sogleich zurückzuweisen (vgl. WEINRICH, Tempus, 62001, 281). Auf die Analyse dieses Bedeutungsaspektes kann aber in Übereinstimmung mit J. Frey schlechterdings nicht verzichtet werden, weil sonst wichtige Informationen über die zeitliche Konstitution der Handlungen verloren gehen (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 47; ferner BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 18 2001, 268; HOFFMANN/VON SIEBENTHAL, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, 2 1990, 306.308). 92
156
IV. Methodik
aufrufen können, sondern auch den Blickpunkt anzeigen, von dem aus ein Ereignis oder die Handlung beschrieben wird. Fanning unterscheidet zwischen (ereignis-/handlungs-)internem Referenz- bzw. Blickpunkt im Präsens95 und (ereignis-/handlungs-)externem Referenz- bzw. Blickpunkt im Aorist. 96 Das Perfekt trägt eine komplexe Bedeutung, zusammengesetzt aus einer stativen Aktionsart (s.u.), einem Zeitstufenmerkmal der Retrospektive und dem summarischen Aspekt. 97 Das Futur besitzt eine ausschließlich zeitstufenmarkierende Funktion und keinerlei aspektuelle Merkmale. 98 Neben dem Tempusaspekt kennt Fanning aber auch noch die Aktionsart des jeweiligen Verbes, die sich aus dessen lexikalischer Form (dessen Komposita mit Prä- und Suffixen) ergibt und etwas über den prozessualen Charakter des dargestellten Ereignisses/der Handlung preisgibt. 99 Vereinfacht gesagt, bezeichnet der Aspekt den Vollzugsstatus (ereignisintern/summarisch mit Fokus auf Prozess oder Ergebnis),100 während die Aktionsart den Vollzugsmodus beschreibt (durativ, stativ, punktuell usw.). Die Aktionsart hängt nicht von der Tempusflexion des Verbes ab, sondern von dessen Lexik. 101 Während die generelle Unterscheidung von Aspekt und Aktionsart für sinnvoll erachtet wird, erscheinen die anschließenden Unterklassifikationen Fannings weder als besonders eingängig noch selbsterklärend.102 Deshalb möchte ich eine Taxonomie einführen, die in Analogie zu den Modi der semantischen Zeitangaben103 steht und damit besser gebräuchlich ist (s.u.). 95
Vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 103. Vgl. a.a.O., 97. 97 Vgl. a.a.O., 119. 98 Vgl. a.a.O., 123. 99 Vgl. a.a.O., 31. 100 In der griech. Grammatik von E. Schwyzer wird zwischen konfektiven (vollendeten), infektiven (unabgeschlossenen) und stativen (zuständlichen) Aspekten gesprochen (vgl. SCHWYZER, Griechische Grammatik II, 51988, 257). 101 Auch wenn die Aktionsart streng genommen dem semantischen Analyseteil zuzurechnen ist, weil sie weniger vom Tempus als von ihrer lexikalischen Beschaffenheit und kontextuellen Parametern bestimmt wird, so möchte ich sie doch hier verhandeln. Denn wie B. Fanning gezeigt hat, beeinflussen sich Zeitstufen, Aspekt und Aktionsart gegenseitig und sollten deshalb auch gemeinsam analysiert werden (vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 127–196). 102 B. Fanning unterscheidet im Rahmen der Aktionsarten zwischen unveränderlichen Zuständen (states) und veränderlichen Bewegungen (actions), im Rahmen der Bewegungen zwischen unbegrenzten Tätigkeiten (activities) und (durch ein Ziel) begrenzten Verrichtungen (performances), im Rahmen der Verrichtung zwischen einer andauernden Durchführung (accomplishments) und der punktuellen Erfüllung (achievements), im Rahmen der Erfüllung zwischen vorbereiteter Klimax (prefaced climaxes) und unmittelbarer Umsetzung (punctuals) (vgl. a.a.O., 129). 103 Nachzulesen unter 2.2.3 Semantik: Zeitangaben, e) Modus: Zeitposition – Zeitdauer – Zeitbegrenzung – Geschwindigkeit ‒ Frequenz. 96
2. Methodische Umsetzung
157
Grundsätzlich gilt, dass die tatsächliche Aussagekraft der Verbalinhalte stark von ihrer kontextuellen Einbettung (ihrer chronologischen Anordnung) sowie durch begleitende adverbiale Bestimmungen abhängig ist. Ist bspw. ein Verb wie ἔρχομαι mit einer propositionalen Bestimmung versehen (Joh 4,54: ἐκ τῆς Ἰουδαίας εἰς τὴν Γαλιλαίαν | aus Judäa nach Galiläa), kann es zeitbegrenzend verstanden werden, während es ohne adverbiale oder präpositionale Bestimmung durativ verstanden werden müsste. Kategorien zur Analyse von Verbalformen Zusammenfassend erkennen wir folgende Parameter als ausschlaggebend für den Aussagegehalt von Verbalformen: a) Temporalaspekt104 Das Präsens und das Imperfekt beobachten das Geschehen von einem internen Blickpunkt, beschreiben es ereignisintern und sind auf den Prozess fokussiert. Der Aorist beschreibt das Geschehen von einem externen Blickpunkt, fasst es summarisch zusammen und ist weniger prozess- denn ergebnisorientiert. Das Perfekt vereint die ergebnis- und prozessorientierte Perspektive. Es ist resultativ (blickt auf vergangene Ursache und gegenwärtige Wirkung zugleich). Das Futur hat rein temporaldeiktische und keine aspektuelle Funktion. b) Temporaldeixis im Indikativ und Partizip105 Das Präsens im Indikativ drückt in Haupt- wie in abhängigen Nebensätzen und auch in seinen Partizipialformen Gleichzeitigkeit (zur Sprecherperspektive = Konspektivität/zum Verbalinhalt des Hauptsatzes = Gleichzeitigkeit) aus. Es steht in der Nähe des dargestellten Ereignisses/der Handlung. In erzählenden Texten wirkt es deshalb vergegenwärtigend, selbst wenn es ein vergangenes Geschehen darstellt (Präsens Historicum).106
104 Die aspektuelle Bedeutung eines Tempus wird sowohl von B. Fanning und J. Frey als auch in diversen griech. Grammatiken als primäre Aussagefunktion der Tempora ausgewiesen, zu der alle weiteren Parameter wichtige Nebenbestimmungen liefern (vgl. a.a.O., 323; FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 56; BORNEMANN/RISCH, Grammatik, 21978, 206; HOFFMANN/VON SIEBENTHAL, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, 21990, 305). 105 Die Fahndung nach dem „temporaldeiktischen Wert“ eines Tempus ist Teil von J. Freys Analyse des joh. Zeitverständnisses. Damit ist der jeweilige Bezug eines Tempus zu einer bestimmten Zeitstufe (tense) gemeint, die von der Sprechzeit oder einem angegebenen Referenzpunkt abhängig ist (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 54–58). Im Folgenden werden sowohl der Ausdruck als auch seine inhaltlichen Bestimmungen im Blick auf die jeweiligen Tempora von J. Frey übernommen. 106 Vgl. a.a.O., 79–86.
158
IV. Methodik
Das Imperfekt im Indikativ bezieht sich auf eine unbestimmte relative Vergangenheit in Abhängigkeit von der Position und Perspektive des Sprechers (Retrospektion). In abhängigen Nebensätzen kann es Vorzeitigkeit gegenüber dem Verbalinhalt der Hauptsätze/der finiten Verben ausdrücken. 107 Der Aorist charakterisiert Handlungen als geschehen und bezieht sich damit auf eine zur Sprechzeit relative Vergangenheit. 108 In Nebensätzen oder Partizipialkonstruktionen nimmt er ebenfalls vorzeitige Stellung ein. Das Perfekt im Indikativ bezieht sich zugleich auf ein Geschehen der Vergangenheit und dessen gegenwärtige Wirkung. 109 Das Partizip des Perfekts beschreibt einen Zustand, der im Verhältnis zur Handlung des übergeordneten Verbs gleichzeitig erscheint.110 Das Futur im Indikativ (das weder über konjunktivische noch imperativische Formen verfügt) bezieht sich auf ein Geschehen in der Zukunft (Prospektion). Sein Partizip drückt Nachzeitigkeit aus. Das Futur nimmt häufig auch modale (deliberative, volitive, imperative, prohibitive) Nebenbedeutung an. 111 Umgekehrt können einige nicht-indikativischen Verbformen futurische, also prospektive Funktionen übernehmen (s.u.). c) Temporaldeixis in nicht-indikativischen Verbalformen Den nicht-indikativischen Verbformen (Konjunktiv, Imperativ, Infinitiv, Partizip) fehlt strenggenommen der Zeitstufenbezug. Sie tragen lediglich die gleiche aspektuelle Bedeutung wie ihre indikativischen Pendants. 112 In bestimmten syntaktischen Gefügen können aber auch nicht-indikativische Formen einen spezifischen Zeitbezug herstellen: Prospektive Bedeutung: ἂν mit Konjunktiv im Nebensatz drückt einen Eventualis aus und bezieht sich damit implizit auf die Zukunft. 113 ὅταν mit Konjunktiv im Aorist (bei ἔρχομαι teilweise auch im Präsens) drückt häufig ein prospektives sobald aus.114 Der Konjunktiv Aorist kann aber
107 Vgl. a.a.O., 89. Zur Gleichzeitigkeit der Präsenspartizipien vgl. BORNEMANN/RISCH, Grammatik, 21978, 227; FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 407. 108 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 93. 109 Vgl. a.a.O., 113–115. 110 Vgl. BORNEMANN/RISCH, Grammatik, 21978, 227; FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 416–418. 111 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 116–119. 112 Über die relativen Zeitstufen der ebenfalls nicht-indikativischen Partizipien ist unter b) Temporaldeixis im Indikativ und Partizip bereits gesprochen worden. 113 Vgl. Joh 1,33: ἐφ᾽ ὃν ἂν ἴδῃς τὸ πνεῦμα καταβαῖνον; ferner Joh 2,5; 4,14. 114 Vgl. Joh 4,25: ὅταν ἔλθῃ ἐκεῖνος, ἀναγγελεῖ ἡμῖν ἅπαντα; ferner Joh 7,27.31; 8,28; 13,19; 14,29; 15,26; 16,4.13; 21,18.
2. Methodische Umsetzung
159
auch generalisierende (gnomische) und damit zwar nachordnende, aber nicht streng temporaldeiktische Bedeutung annehmen. 115 Ebenso wie Imperative 116 tragen auch Prohibitive (μή mit Imperativ oder Konjunktiv) 117 sowie Adhortative (Konjunktiv in der ersten Person Plural)118 eine prospektive Bedeutung. Weiterhin können indikativische Präsensformen aufgrund ihrer Lexik (z.B. φοβέω; θέλω) oder Infinitive in bestimmten Periphrasen (δύναμαι + Infinitiv; ζητέω + Infinitiv; μέλλειν + Infinitiv; δεῖ + Infinitiv etc.) prospektive Bedeutung annehmen. 119 Konspektive oder iterative Bedeutung: ὅταν mit Konjunktiv Präsens kann entweder einen gegenwärtigen Zustand beschreiben oder einen Iterativ bezeichnen. 120 Retrospektive Bedeutung: Ein Bedingungssatz mit εἰ und Konjunktiv eines Vergangenheitstempus kann einen Irrealis der Vergangenheit bezeichnen. 121 Grundsätzlich gilt, dass gnomische/iterative Temporalsätze oder auch Finalsätze (bei Konstruktionen mit ἵνα)122 und Bedingungssätze (z.B. bei Konstruktionen ἐάν/εἰ [μή] im Nebensatz oder οὐ μὴ im Hauptsatz) eine temporale Ordnung herstellen, indem sie ein Ereignis/eine Handlung der anderen vorordnen. Während ἵνα und οὐ μὴ eher die erwünschte oder bezweckte Zukunft darstellen, bringen ἐάν/εἰ (μή)/ὅταν ein sobald oder nicht bevor zum Ausdruck. Diese Vor- und Nachordnung ist aber, wie oben bereits vermerkt, nicht immer streng textdeiktisch und bringt damit nicht grundsätzlich die konkreten erzählten Geschehnisse in eine temporale Ordnung, sondern sagt bisweilen lediglich etwas über generelle Zeitfolgen aus. Harweg bezeichnet dies als Nomographie,
115 Vgl. Joh 2,10: πᾶς ἄνθρωπος πρῶτον τὸν καλὸν οἶνον τίθησιν καὶ ὅταν μεθυσθῶσιν τὸν ἐλάσσω; ferner Joh 10,4. 116 Vgl. a.a.O., 127. 117 Vgl. Joh 3,7: μὴ θαυμάσῃς; ferner Joh 2,16; 5,28.45; 6,20.43; 12,15; 13,18; 14,1.27; 19,21; 20,17.27. 118 Vgl. Joh 11,7: ἄγωμεν εἰς τὴν Ἰουδαίαν πάλιν; ferner Joh 11,15f.; 14,31; 19,24. 119 Vgl. a.a.O., 124–126. 120 Zum gegenwärtigen Zustand vgl. Joh 9,5: ὅταν ἐν τῷ κόσμῳ ὦ, φῶς εἰμι τοῦ κόσμου und zur iterativen Bedeutung vgl. Joh 8,44: ὅταν λαλῇ τὸ ψεῦδος, ἐκ τῶν ἰδίων λαλεῖ; ferner Joh 16,21. 121 Vgl. Joh 11,21: εἰ ἦς ὧδε οὐκ ἂν ἀπέθανεν ὁ ἀδελφός μου; ferner Joh 11,32. 122 Die prospektive Bedeutung von Imperativen und Konjunktiven in Finalsätzen gilt sowohl für Präsens- als auch Aoristformen. Hier bringt dann v.a. die aspektuelle Bedeutung des jeweiligen Tempus den Bedeutungsunterschied, wobei an der generellen Prospektivität beider Tempora in diesem Kontext festgehalten werden kann. Während der Aorist das Geschehen von einem externen Blickpunkt betrachtet und meist den Einzelfall auszudrücken sucht, ist für das Präsens der Vollzug entscheidend, weshalb es auch generalisierende Aussagen treffen kann (vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 338).
160
IV. Methodik
welche das Allgemeine, das gesetzmäßig Wiederkehrende beschreibt, im Gegensatz zur Idiographie, die das Individuelle und Singuläre darstellt. 123 d) Fokus Der Aorist liefert die Vordergrundinformationen, es führt die erzählte Handlung weiter, während das Imperfekt über Hintergrund und Umstände der erzählten Handlung informiert. 124 Das Präsens Historicum kann szenische Höhepunkte oder Neueinsätze markieren und erwirkt gegenüber den anderen Vergangenheitstempora die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit des dargestellten Geschehens. 125 Das Plusquamperfekt kann als reliefierendes Tempus analog zum Imperfekt gewertet werden. Es liefert Randbemerkungen und Erläuterungen nach. 126 e) Aktionsmodus: Zeitposition – Zeitdauer – Zeitbegrenzung – Geschwindigkeit – Frequenz Ein Verballexem kann etwas über den Modus der Handlung/des Ereignisses aussagen. Ist es von Dauer (durativ z.B. μένειν; πιστεύω; ἔχω; περιπατεῖν oder stativ z.B. διψάω)? Gibt es einen Anhalt über die Zeitposition (imminentiell z.B. μέλλω)? Drückt es einen Anfangs- oder Endpunkt oder ein Ergebnis einer durativen Handlung aus und begrenzt diese damit (inchoativ/ingressiv z.B. ἀπέρχομαι; punktuell z.B. λέγω; effektiv z.B. ἐξυπνίζω; kompletiv z.B. γεμίζω, evolutiv z.B. γίνομαι; telisch z.B. διέρχομαι; konativ z.B. ζητέω)? Sagt es etwas über die Frequenz (iterativ z.B. ἀντλέω, semelfaktiv z.B. ἐκβάλλω) oder Geschwindigkeit (intensiv z.B. τρέχω statt ἔρχομαι) der Handlung aus? Die Aktionsart eines Verbes zeigt sich mitunter stark beeinflusst von adverbialen Bestimmungen, etwa Richtungsangaben oder Objektdeterminationen. f) Nebenbestimmungen Der aspektuelle, der aktionsartliche und der temporaldeiktische Wert, sowie der Fokus werden nicht nur durch die chronologische Position, sondern ebenso durch adverbiale Bestimmungen, durch ihre Objektbezüge (Objekte im Singular oder Plural) durch Verneinungen und durch die den Konkretisierungsgrad (Einzelfall oder Regelfall) beeinflusst.127 123
Vgl. HARWEG, Formen der Chronographie, 2008, 21. Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 91. Fanning spricht von einer „prominence in narrative“ des Aorists gegenüber dem Imperfekt (vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 74f.). Vgl. ferner auch WEINRICH, Tempus, 62001, 115– 120. 125 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 84. Zur Vorzeitigkeit der Partizipien im Aorist vgl. BORNEMANN/RISCH, Grammatik, 21978, 227; FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 407. 126 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 116. 127 Vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 163–185. 124
2. Methodische Umsetzung
161
2.2.5 Chronologik: Zeit-Räume im Text Die besondere Bedeutung der Chronologie für die narrative Zeitdarstellung, wurde bereits im Rahmen der semantischen und grammatischen Analysemethoden festgestellt. Dort war von deiktischen oder anaphorischen Kategorien die Rede, also solchen Zeitbezügen, die von der Sprecherperspektive abhängig sind (deiktisch) oder eben von der chronologischen Position innerhalb der Erzählflusses (anaphorisch).128 Auch die Temporaldeixis ist zugleich eine anaphorische Kategorie, weil sie die Verbinhalte nicht nur in Bezug auf die Sprecherperspektive, sondern auch im Hinblick auf die Erzählchronologie vor-, gleich- und nachordnet.129 In diesem Kapitel soll nun nicht nur der Einfluss der Chronologie auf den Aussagewert einzelner Tempora oder adverbialer Bestimmungen im Vordergrund stehen, sondern der Einfluss des chronologischen Aufbaus auf die Zeitdarstellung einer Szene insgesamt. Der chronologische Aufbau soll zum einen mithilfe der Analysewerkzeuge Gérard Genettes untersucht, zum andern auf seine Richtung bzw. Motivation geprüft werden. Kategorien zur Analyse der Zeiträume a) Dauer Bei der Kategorie der Dauer geht es um den Text-Raum und damit die Erzählzeit, die den unterschiedlichen Handlungen einer Szene zukommt. Durch die Verteilung des Text-Raumes auf die unterschiedlichen Handlungen findet zugleich eine Gewichtung ihrer statt. (1) Bei der Summary werden Handlungen komprimiert abgehandelt,130 wie in Joh 3,22: Μετὰ ταῦτα ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ εἰς τὴν Ἰουδαίαν γῆν καὶ ἐκεῖ διέτριβεν μετ᾽ αὐτῶν καὶ ἐβάπτιζεν | Danach kamen Jesus und seine Jünger in das Land Judäa, und dort verweilte er mit ihnen und taufte. Diese Raffung gibt die narratoriale zeitliche Perspektive wieder.131 (2) Die Szene beschreibt die Handlungen kongruent zu ihrer (angenommenen) tatsächlichen Dauer,132 wie es in den meisten der joh. Dialoge oder in Joh 9,6 aufgrund der Detailfülle zumindest annähernd der Fall ist: ταῦτα εἰπὼν ἔπτυσεν χαμαὶ καὶ ἐποίησεν πηλὸν ἐκ τοῦ πτύσματος καὶ ἐπέχρισεν αὐτοῦ τὸν πηλὸν ἐπὶ τοὺς ὀφθαλμοὺς | Als er das gesagt hatte, spie er auf die Erde und bereitete einen Teig aus dem Speichel und strich den Teig auf seine Augen. Sie
128
Mehr dazu s.o. unter 2.2.3 Semantik: Zeitangaben, d) Orientierung: Referentiell (anaphorisch/deiktisch) oder unabhängig. 129 Mehr dazu s.o. unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform, Anm. 86. 130 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 59–62. 131 Vgl. SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 137. 132 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 69–71.
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IV. Methodik
kommt der tatsächlichen dramatischen Zeit des Geschehens und damit der Zeitwahrnehmung der Figuren besonders nahe. 133 Das zeitdeckende Erzählen lässt das Geschehen zudem realistisch und konkret werden. 134 (3) Bei der Pause wird keinerlei Handlung erzählt, obwohl der Textraum weiter gefüllt wird, etwa mit bestimmten Details der Szenerie oder Erzählerkommentaren, sodass die Erzählzeit im Gegensatz zur erzählten Zeit weiterläuft. 135 Alan Culpepper bezeichnet bspw. Joh 12,37–43 als „interpretive comment“136, bei dem die erzählte Zeit stillstehe. (4) In seltenen Fällen werden die einzelnen Handlungen auch in einer Art Zeitlupe beschrieben, v.a. wenn sie mit aufwendigen erzählerischen Details ausgeschmückt werden. Hierbei kommt den Handlungen oder Ereignissen besonders viel Text-Raum zu. Diese Art der Darstellung taucht bei Genette nicht als Kategorie auf, findet sich aber in manchen Narratologien unter der Bezeichnung einer Dehnung.137 Eine Dehnung findet sich im JohEv nur im Blick auf den langen Abschied Jesu in Joh 13,1–17,26, der den Beginn des Prozesses, das definitive Eintreten der Stunde verzögert und gegenüber den restlichen Passagen viel Text-Raum einnimmt.138 Bezogen auf einzelne Handlungen lässt sich m.E. keine besondere Zeitlupentechnik entdecken. (5) Außerdem kann es vorkommen, dass bestimmte Handlungen erzählerisch ausgespart werden, wie der Ruf Jesu nach Maria zwischen Joh 11,27 und 11,28 oder die Reaktion des Bräutigams auf den ‚Vorwurf‘ des Festordners (Joh 2,10). Dies bezeichnet Genette als Ellipse.139 b) Reihenfolge Genettes Analysekategorie der Reihenfolge hat innerhalb der Rezeptionsgeschichte die meisten Erweiterungen und Ausdifferenzierungen erfahren. Zunächst sollen die unterschiedlichen Merkmale der Kategorie gelistet werden,
133
Vgl. SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 137. Über die temporalen Realitätseffekte des JohEvs schreibt S. Finnern: „Wenn man die Frage nach dem Realitätseffekt auf die Exegese anwendet, kann man z.B. erkennen, dass das JohEv die Rezipienten an vielen Stellen stärker in die erzählte Welt hineinzieht als die synoptischen Evangelien, weil über weite Strecken zeitdeckend erzählt wird“ (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 198). Auch Schnelle spricht von der Möglichkeit, „durch Temporalisierung Wirklichkeit zu konstituieren“ (SCHNELLE, Johanneische Ethik, 2006, 312). 135 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 62–66. 136 CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 71. 137 Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 97; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 46. 138 Vgl. u.a. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 172; DERS., Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, 2000, 104; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 508. 139 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 66–69. 134
2. Methodische Umsetzung
163
auch solche, die als Supplement zur Genetteʼschen Systematik gelten können:140 (1) Reihenfolge der Handlungsdarstellung Hält sich die Narration an die Reihenfolge des erzählten Geschehens, handelt es sich um eine Synchronie,141 die Achronie hingegen hält das Ereignis zeitlich in der Schwebe. 142 Darunter fallen v.a. auch gnomische Aussagen (z.B. die Ausschankregeln in Joh 2,10). Anachronien schließlich lassen die Reihenfolge der Ereignisse in der Darstellung von der ‚tatsächlichen‘ Geschehensfolge abweichen, indem Ereignisse erzählerisch vorweggenommen werden oder nachklappen.143 Der besondere Effekt aller Achronien und Anachronien ist, dass sie sich gegen die Linearität der Zeit auflehnen und sie in unterschiedlichem Grade irritieren können. 144 (2) Zeitorientierung Bei den Anachronien ist zwischen Pro- und Analepsen zu unterscheiden. Prolepsen verweisen auf Ereignisse, die der eigentlichen Geschehensfolge nach später an der Reihe wären (z.B. Joh 3,24: οὔπω γὰρ ἦν βεβλημένος εἰς τὴν φυλακὴν ὁ Ἰωάννης | Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden), Analepsen erzählen erst nachträglich von Ereignissen (z.B. Joh 4,46: Ἦλθεν οὖν πάλιν εἰς τὴν Κανὰ τῆς Γαλιλαίας, ὅπου ἐποίησεν τὸ ὕδωρ οἶνον | Er kam also wieder nach Kana in Galiläa, wo er Wasser zu Wein gemacht hatte).145 (3) Ebene Die Pro- und Analepsen können entweder aus Sicht der Figur oder des Erzählers voraus- oder zurückblicken. In den meisten Fällen stimmen beide Perspektiven überein, weil der Erzähler sich an das Jetzt der Figur bindet und seine Erzählung kongruent zur Zeitwahrnehmung der Figur gestaltet, deshalb werden sie von Genette als „subjektive[n] und objektive[n] Anachronien“ 146 bezeichnet und liegen auf einer anderen Ebene als der chronologische Vergleich zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Dass es zu einer chronologischen Abweichung zwischen beiden Ebenen kommt, dass bspw. der Erzähler auf etwas vorausschaut, das für die Figur schon zurückliegt, ist narratologisch unmöglich.
140
Außer Reichweite und Umfang gehen die folgenden Merkmalsüberschriften auf S. Finnern und seine Übersicht und Zusammenfassung der Genett’schen Kategorien zurück (vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 94–99). 141 Vgl. a.a.O., 94. 142 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 48–52. 143 Vgl. a.a.O., 19. Mit der ‚tatsächlichen‘ Geschehensfolge ist selbstverständlich nicht die historische Geschehensfolge gemeint, sondern schlicht die Reihenfolge der Ereignisse des erzählten Geschehens. 144 Mehr dazu unter (10) Entropieindex. 145 Vgl. a.a.O., 21. 146 Ebd.
164
IV. Methodik
Man könnte auch, wie bei den adverbialen Bestimmungen, zwischen deiktischen (figuralen) und anaphorischen (am Textfluss orientierten) Anachronien unterscheiden. Für die hiesige Analyse sind die deiktischen Anachronien insofern interessant, als sie etwas über die Zeitorientierung der Figuren verraten, 147 während die anaphorischen Anachronien etwas über das Sinn- und Bedeutungsgefüge des Textes aussagen und Spannung auf- und abbauen. (4) Reichweite Bei der Reichweite geht es um die Distanz zwischen Erzählzeitpunkt und Zeitpunkt innerhalb der erzählten Zeit. Liegt der Referenzpunkt außerhalb der erzählten Zeit (vor Beginn des erzählten Geschehens oder danach), so handelt es sich um externe Pro- oder Analepsen (als Beispiel für eine externe Analepse dient Joh 1,17: ὅτι ὁ νόμος διὰ Μωϋσέως ἐδόθη | denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben; als Beispiel für eine externe Prolepse können v.a. futurischeschatologische Aussagen gelten, z.B. Joh 6,39: ἀναστήσω αὐτὸ [ἐν] τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ | ich werde es auferwecken am letzten Tage). Liegt der Referenzpunkt innerhalb der erzählten Zeit, handelt es sich um interne Anachronien. Sog. gemischte Analepsen rekurrieren ferner auf Ereignisse, die zwar extern zur erzählten Zeit liegen, aber bis in die erzählte Zeit hinein andauern; umgekehrt berichten gemischte Prolepsen von Ereignissen, die noch während der erzählten Zeit passieren, aber in ihrer Wirkung über die Zeit nach Ende der erzählten Zeit hinausreichen. 148 Strenggenommen könnte man das ganze Evangelium als gemischte Prolepse bezeichnen, insofern es den theologischen Anspruch auf eine bleibende Bedeutung des Christusgeschehens über dessen Zeit hinaus erhebt.149 (5) Umfang Neben der Distanz zwischen Erzählzeitpunkt und erzähltem Zeitpunkt kann man auch den Umfang des vor- und zurückblickenden Einblicks bemessen. 150 So hat die Prolepse in Joh 2,15: ἐν τρισὶν ἡμέραις ἐγερῶ αὐτόν | in drei Tagen werde ich ihn errichten einen größeren Umfang, nämlich drei Tage, als die Analepse in Joh 2,22: ἐμνήσθησαν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ὅτι τοῦτο ἔλεγεν | Seine 147
Mehr zur figuralen Verweisstruktur deiktischer Zeitangaben s.o. unter 2.2.3 Semantik: Zeitangaben: d) Orientierung: Referentiell (anaphorisch/deiktisch) oder unabhängig. 148 Vgl. a.a.O., 27. 149 A. Culpepper spricht anstelle von externen Pro- und Analepsen von „prehistorical“ und „historical“ Analepsen (CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 [1983], 57) und „historical prolepses“ (a.a.O., 65), welche entweder in die Zeit zwischen Geschichte und Abfassung oder in die Zeit nach der Abfassung fallen können. Damit vollzieht er einen Sprung auf eine andere Vergleichsebene: Es findet dann nicht mehr ein chronologischer Vergleich zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sondern ein chronikalischer Vergleich zwischen Erzählzeit und der (prä-)historischen Zeit statt. Da es in hiesiger Studie gerade nicht um eine historische, sondern um eine ethische Zeitanalyse gehen soll, wird A. Culpeppers Sprung nicht mitvollzogen. 150 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 27.
2. Methodische Umsetzung
165
Jünger erinnerten sich an das was er gesagt hatte, die nur den Zeitraum der Erinnerung weniger Worte umfasst. Wenn man die Kategorien der Reihenfolge und Dauer an dieser Stelle kombiniert, so kann man darüber hinaus auch noch angeben, ob es sich um summarische, szenische und gedehnte Anachronien handelt, je nachdem wie viel Zeit-Raum sie im Text einnehmen. (6) Handlungsstrang Genette unterscheidet zwischen homo- und heterodiegetischen Anachronien, solchen, die zur Basiserzählung gehören, und solchen, die z.B. die Vorgeschichte von Figuren referieren (z.B. Joh 4,18: πέντε γὰρ ἄνδρας ἔσχες | fünf Männer hattest du). Letztere geben erneut eher Aufschluss über die zeitliche Orientierung der Figuren, während erstere etwas über die Erzählzeit aussagen. (7) Informationsgehalt Die Anachronien, die zur Basiserzählung gehören, können diese entweder durch neue Informationen komplettieren (z.B. die proleptische Notiz über Johannesʼ Gefangennahme in Joh 3,24, die nirgendwo sonst erzählt wird) oder bereits Erzähltes wiederholen (z.B. die Analepse auf das in Joh 2,1–12 erzählte Weinwunder in Joh 4,46). Man nennt diese kompletive und repetitive Anachronien. 151 Sie geben zum einen Aufschluss über die narrative Gewichtung bestimmter Ereignisse oder Handlungen, zum anderen über die thematische oder motivische Verknüpfung von bestimmten Ereignissen. Im Falle der oben genannten repetitiven Analepse werden z.B. das Heilungs- und das Weinwunder miteinander verknüpft. (8) Deutlichkeit Das erste über Genettes Kategorisierungen hinausgehende Merkmal ist das der Deutlichkeit der Anachronien (z.B. ist die Prolepse in Jesu Tempelwort in Joh 2,19 aufgrund ihrer Metaphorizität wesentlich undeutlicher als die Prolepse wenig später in V.22 ὅτε οὖν ἠγέρθη ἐκ νεκρῶν, ἐμνήσθησαν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ὅτι τοῦτο ἔλεγεν, καὶ ἐπίστευσαν τῇ γραφῇ καὶ τῷ λόγῳ ὃν εἶπεν ὁ Ἰησοῦς | Als er nun auferstanden war von den Toten, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und glaubten an die Schrift und an das Wort, das Jesus gesagt hatte). (9) Gewissheit Insbesondere bei Prolepsen bietet sich noch das Merkmal der Gewissheit an: Wird die sichere Zukunft vorweggenommen oder die mögliche? 152 Als mögliche Prolepsen können bspw. die Konditionalsätze mit Futur in der Apodosis bezeichnet werden (z.B. Joh 4,5: ὃς δ᾽ ἂν πίῃ ἐκ τοῦ ὕδατος οὗ ἐγὼ δώσω αὐτῷ, οὐ μὴ διψήσει εἰς τὸν αἰῶνα | Wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, der wird nicht dürsten bis in Ewigkeit). 151 Vgl. a.a.O., 28. Repetitive Prolepsen haben eine Überschneidung mit der letzten Genette’schen Kategorie der Frequenz. 152 S. Finnern nennt diese Prolepsen „zukunftsgewisse und zukunftsungewisse Vorausdeutungen“ (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 97).
166
IV. Methodik
(10) Entropie-Index Schließlich soll noch ein neues Merkmal hinzugefügt werden: Der Entropieindex gibt den Grad der Irritation an, den die Anachronien in Bezug auf die Linearität der Erzählchronologie bewirken. Manche Anachronien rufen stärkere Irritationen hervor als andere.153 Folgendes Schaubild soll bei der Bestimmung weiterhelfen: Je stärker der Grad an Entropie, desto stärker wird der Fokus auf das vorweggenommene oder nachträglich dargestellte Ereignis/die Handlung gerichtet. Brüche in der absoluten Chronologie erhöhen die Bedeutsamkeit des erzählten Ereignisses, auf sie ist deshalb besonders zu achten. 154 Prolepsen sind ein Werkzeug, um beim Leser Erwartungen und damit Spannung und eine besondere Wahrnehmung der Zeit zu evozieren. 155 Synchronie
Achronie figurale < erzählerische Anachronie externe < interne Anachronie heterodiegetische < homodiegetische Anachronie repetitive < kompletive Anachronie mögliche < sichere Prolepse sumarische < szenische < gedehnte Anachronie Abb. 6: Entropieindex bei Anachronien
153
Vgl. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008, 182. Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989, 133. 155 Mehr zur Lesererwartung und Erzählspannung s.u. unter 2.3.2 Erwartung. 154
2. Methodische Umsetzung
167
c) Frequenz Die Kategorie der Frequenz fragt schließlich danach, wie oft ein Ereignis/eine Handlung erzählt wird im Vergleich dazu, wie oft es sich dem erzählten Geschehen nach ereignet. (1) Singulativ ist die Erzählung, wenn sie einmal ein einmaliges Ereignis erwähnt. 156 (2) Multi-Singulativ ist die Erzählung, wenn sie n-mal ein n-maliges Ereignis erwähnt.157 (3) Repetitiv ist die Erzählung, wenn sie n-mal ein einmaliges Ereignis erwähnt. 158 (4) Iterativ ist die Erzählung, wenn sie einmal ein n-maliges Ereignis erwähnt. 159 Diese Merkmale entscheiden darüber, welcher Fokus auf welches Ereignis/welche Handlung gelegt wird. Während die repetitive Erzählung eine stärkere Gewichtung des Erzählten bewirkt, bewirkt die iterative Erzählung das Gegenteil. Die singulative Erzählung hat weder in die eine noch die andere Richtung eine Tendenz. Die multi-singulative Erzählung ist zumindest bei sehr ähnlichen Handlungen/Ereignissen auffällig und kann z.B. Hinweise auf wiederkehrende Verhaltensmuster geben (z.B. die Ergreifungsszenen in Joh 7,30.44; 8,20.59; 10,31.39). d) Richtung Eine über den Genette’schen Dreitakt hinausgehende Kategorie bei der Analyse der Erzählchronologie ist die Richtung der Erzählung. Durch was wird die Erzählung vorangetrieben, mal mehr oder mal weniger auf der linearen Spur zu bleiben, was bewegt die erzählte Zeit dazu weiterzulaufen? Für die joh. Chronologie im Ganzen kann festgehalten werden, dass sie durch eine sog. finale Motivierung angetrieben wird,160 d.h. vorwärtsgewandt ist, insofern das erzählte Geschehen auf ein besonderes Ziel zuläuft und sich von diesem Ziel her auch im temporalen Sinne her versteht, nämlich die Stunde
156
Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 73f. Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 99. 158 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 74. 159 Vgl. a.a.O., 74f. 160 M. Martínez/M. Scheffel unterscheiden zwischen drei Arten von Motivierungen des Erzählgeschehens: die „kausale Motivierung“, die ein Ereignis mittels Ursache-WirkungsZusammenhängen erklärt, die „finale Motivierung“, die das Geschehen vom Ende her versteht, und unter der „ästhetischen Motivierung“ wird eine Geschehensordnung verstanden, die künstlerischen Kriterien folgt (vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 114– 117). 157
168
IV. Methodik
der Kreuzigung und Verherrlichung Jesu.161 Es geht der Erzählung nicht primär darum, Ereignisse mittels Danach-Verknüpfungen in eine rein temporale Ordnung zu bringen. Es geht ihr auch nicht darum, einzelne Ursache-WirkungsZusammenhänge darzustellen oder besondere ästhetische Impulse durch eine eigene Art der motivischen Ereignisverknüpfung zu setzen. Es geht dem Evangelium primär darum, das Geschehen auf die Kreuzigungs- und Verherrlichungsszene zulaufen zu lassen. Diese Grundausrichtung der gesamten Chronologie ist bei der Analyse der einzelnen Szenenchronologien im Hinterkopf zu behalten. Aber auch innerhalb der Szenen kann nach der inneren Richtung gefragt werden. Stehen temporale, kausale, ästhetische oder finale Verknüpfungen im Vordergrund: einfache und-Beiordnungen, dann-Verknüpfungen, weil-deshalb-, ähnlich-wie- oder um-zu-Relationen? Ist die Szene an der rein temporalen Abfolge von Ereignissen interessiert? Ist sie rückwärts auf die Ergründung von Ursachen gerichtet? Stützt sie sich auf zeitlose Motivübereinstimmungen? Ist sie nach vorn auf ein Ziel hin ausgerichtet? Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus in Joh 11,1–44 ist z.B. final motiviert, insofern Krankheit und Tod des Lazarus betont werden, aber immer wieder auch auf die Heilung vorausgewiesen wird. Diese Tendenz wird durch die hohe Frequenz an Finalsätzen unterstrichen (Joh 11,4.11.15.16.19.31.37.42.50.52.53.55.57). Bei der Blindenheilung in Joh 9 ist eine Tendenz zur kausalen Motivierung erkennbar, insofern gleich zu Anfang nach der Sündenvergangenheit als Ursache der Krankheit gefragt wird (Joh 9,2). Jesus aber reagiert mit einer finalen Motivierung (Joh 9,3). Die beiden Richtungen stehen sich in dieser Interaktionssequenz kontinuierlich gegenüber. Die Art der Verknüpfung ist auch im Vorausblick auf die dritte Analyseebene der Zeitwahrnehmung der Leser bedeutend. Wie Albrecht Koschorke feststellt, sind es nämlich „[l]ose, zwischen zeitlicher Kontiguität und Kausalbeziehung schwingende Relationierungen“, welche „den Rezipienten zu einer nachlaufenden Mitautorenschaft“162 einladen. Gleichzeitig liegt in diesen Verknüpfungen ein Indiz für die Zuschreibungsmechanismen innerhalb des Erzähltextes: Wer ist für welche Handlung/welches Ereignis/welche Folgen verantwortlich und mit welcher Intention wurde es verfolgt? Spielen die zukünftigen Ziele oder die vergangenen Ursachen der Darstellung nach eine größere Rolle bei der Handlungsorientierung?
161 Vgl. u.a. BRODIE, The Gospel According to John, 1993, 25; FIGURA, Die Stunde Jesu im Johannesevangelium, 2006, 10; NICKLAS, Zeit, Zeitmodelle und Zeitdeutung im Alten und Neuen Testament, 2016, 361; ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 36. 162 KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 76.
2. Methodische Umsetzung
169
2.2.6 Auswertung a) Semantik Die oben genannten Klassifikationen sollen zu einem besseren Verständnis der unterschiedlichen Zeitangaben im JohEv samt ihrer Aussagekraft (über die reine Zeitindexierung hinaus) führen. Zunächst werden die rahmenden, dann die szeneninternen Zeitangaben analysiert: Wie konkret schildern sie die (raum-)zeitlichen Begebenheiten? Was tragen sie zur gegenseitigen Zuordnung von Ereignissen und Handlungen bei? Dienen sie eher der Nachzeichnung einer besonderen Atmosphäre, rufen sie mit kalendarischen Zeitangaben besondere Symbolsysteme auf, geben sie Einsicht in den Kontext und die Rahmenbedingungen der Interaktionen und weisen sie damit einzelne Handlungen als nachvollziehbares Verhalten oder im Gegenteil als unverständlich aus? Wie sind die unterschiedlichen Zeitangaben verteilt? Welche Handlungen sind genauer, welche beiläufiger temporal strukturiert? Wichtig ist, dass der Fokus auf alle möglichen Arten der Darstellungsfunktion von Zeit gerichtet wird: Zeitangaben sollen nicht ausschließlich nach ihrem symbolischen Mehrwert abgetastet werden, sondern auch in ihrer zuordnenden, temporal-relationalen Funktion, ihrer dramaturgischen Signalwirkung und ihrer Wirklichkeitssuggestion (durch raum-zeitliche Konkretion) wahrgenommen werden. Diese Funktionen müssen nicht zwangsläufig alternativ zueinander stehen, sondern können durchaus kumulativ zur Wirkung gelangen. 163 Sie alle haben gemeinsam Anteil am Bedeutungs- und Bewertungsnetz, das sich rund um die Interaktionen und deren Zeitkonflikte spannt und das im dritten Analyseschritt mit Blick auf den Leser noch genauer behandelt werden soll. b) Grammatik Bei der anschließenden Analyse der Tempora in den joh. Szenen ist es ratsam, sich einerseits auf die leicht erhebbare Tempusdistribution bzw. -streuung in den zu untersuchenden Szenen und andererseits auf Tempusbesonderheiten und markante Tempusübergänge zu konzentrieren. Tempusdominanzen bzw. Leittempora können zunächst etwas über die Verortung der gesamten Szene aussagen (eher abgeschlossene Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft; oder Vergangenheit/Zukunft mit Relevanz für die Gegenwart). Im Anschluss daran geben sie auch Anhalt über den Grad an Mittelbarkeit bei der Präsentation des Geschehens einer Szene. Wird das Geschehen überwiegend in der dramatischen Präsenz der Gegenwart (historisches Präsens) oder aus der narrativen Distanz der Vergangenheit (Imperfekt) beobachtet? 164 163
Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 204. Mehr zu den narrativen und dramatischen Modi s.u. unter 2.3.3 Bewertungsorientierung, Unmittelbarkeit der Erzählung zum erzählten Geschehen: dramatischer und narrativer Modus. 164
170
IV. Methodik
Ein Gebrauch außer der Reihe, ein metaphorischer oder unkonventioneller Gebrauch, kann wiederum weitere Handlungs-/Ereignisdetails und Tendenzen der Bewertung bereitstellen. Was der ‚normale‘ Gebrauch ist, ist angesichts der komplexen griech. Tempustheorie leider nicht ohne weiteres auszumachen. Dennoch sind drei Konfliktfälle der oben gelisteten Parameter vergleichsweise signifikant: Wenn sich Temporaldeixis und adverbiale Bestimmung ‚beißen‘ (z.B. νῦν + Imperfekt als Vergangenheitstempus in Joh 11,8), wenn sich Aspekt und Kontext/Evangeliumschronologie ‚beißen‘ (z.B. in Joh 11,2 wird im Aorist, also von summarischem Viewpoint auf ein Geschehen geblickt, das erst noch passieren wird, dem Kontext nach also eine Prolepse darstellt), wenn sich Tempus und Aktionsart des Verbes ‚beißen‘ (πιστεύω im Perfekt). Diese Disharmonien haben besonderen Signalwert für wichtige temporale Details. Darüber hinaus sind besonders schnelle Wechsel zwischen Tempora zu betrachten, die sich nicht aus der Relieffunktion des Imperfekts oder der jeweiligen temporaldeiktischen Funktion von Perfekt und Futur erklären lassen. c) Chronologik Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Zeit-Raum-Analyse sollen v.a. nach ihrer Fokussierungsfunktion (Welchen Handlungen/Ereignissen/Interaktionen/Details kommt besonders viel Textraum zu bzw. welche werden besonders häufig genannt? Welche Handlungen/Ereignisse/Interaktionen/Details werden durch ihre besondere chronologische Stellung hervorgehoben?), ihrer inneren Orientierungsfunktion (Ist die Darstellung des Geschehens eher final-prospektiv am Ziel orientiert, kausal-retrospektiv an den Ursachen/Gründen interessiert, wird eine rein temporal-lineare Abfolge festgestellt, oder geht es um zeitlos-thematische Gnomen?) und dem Grad der Linearität (Wie stark ist die lineare Chronologie einer Erzählsequenz gestört, und was bedeutet das für die dargestellten Handlungen?) ausgewertet werden. Wohl können einige dieser Schritte auch Indizien für die Zeitorientierung der Figuren und damit rückwirkend einen Beitrag zur ersten Analyseebene liefern: Insbesondere die szenisch gestalteten Teile, die der tatsächlichen Geschehenszeit am nächsten kommen, die deiktischen Anachronien (Vor-/Rückverweise aus dem Munde der Figuren), die Richtung der Figurendeixis (finale, kausale, temporale Argumentationsrichtung der Figuren), die Iterationen (Handlungen/Sachverhalte, die auf Figurenebene wiederholt werden) geben auch Anhalt über die zeitliche Orientierung der Figuren.
171
2. Methodische Umsetzung
2.2.7 Analyseschemata Möchte man diese Typologien trotz aller Sperrigkeit in ein Schema zwängen, so ließe sich dies am besten phänomenologisch tun: Wie und durch was tritt Zeit narratologisch in Erscheinung? Adverbien
Substantive Semantik: Temporalausdrücke Konjunktionen & Fragepronomen Aktionsartliche/ vergangenheits- oder zukunftsbezogene Verben Aktionsart des Verbes
Textualisierung von Zeit
Grammatik: Tempora/ Verbalformen
Tempusaspekt (externer oder interner Viewpoint) Zeitbezug des Tempus (Temporaldeixis)
Textmenge (Dauer)
Verortung im Text (Reihenfolge) Chronologik: ZeitRäume im Text Vorkommen im Text (Frequenz)
Art der Verknüpfung (Motivation)
Abb. 7: Analyseschema Textualisierung von Zeit
172
IV. Methodik
Auf semantischer Ebene lassen sich die unterschiedlichen Analysekategorien nicht mehr unter-, sondern nur noch beiordnen: Struktur
Fokus
• Ordinal (relativ) • Kardinal (mit metrischer Bezugsgröße und unterschiedlichem Präzisionsgrad) • Nominal (metaphorisch; indirekt)
• (Der Szene) übergeordnet; Verhalten orientierend • Szenenintern (Einzelhandlungen koordinierend) • Szenenrahmend
Orientierung • Standortabhängig/ referentiell (deiktisch oder ana-/kataphorisch) • Standortunabhängig
Modus • Zeitdauer (wie lange?) • Frequenz (wie oft?) • Geschwindigkeit (wie schnell?) • Zeitposition (wann?) • Zeitbegrenzung (seit/bis wann?)
Chronotopos • Einfluss der Orts- auf die Zeitangaben
Auswertung hinsichtlich Streuung, Besonderheiten, Präzisionsgrad, qualitativem und quantitativem Aussagewert Abb. 8: Analyseschema Zeitinszenierung: Semantik
Ebenso auf grammatischer Ebene: Temporalaspekt
Temporaldeixis im Indikativ
Temporaldeixis in nicht-indikativischen Formen
• Ereignisinterner Blickpunkt (Präsens/Imperfekt) • Ereignisexterner Blickpunkt (Aorist) • Kombinierter Blickpunkt: Ereignisintern mit Blick auf das gegenwartsrelevante Resultat (Perfekt)
• Konspektiv bzw. gleichzeitig (Präsens) • Vergegenwärtigend (Präsens Historicum) • Retrospektiv bzw. vorzeitig (Imperfekt/Aorist) • Retrospektiv mit Gegenwartsbedeutung (Perfekt) • Prospektiv (Futur)
• Prospektive Bedeutung (Imperative, Prohibitive, Adhortative, Konjunktiv mit ἂν im NS/Konjunktiv Aorist mit ὅταν) • Konspektive/Iterative Bedeutung (Konjunktiv Aorist mit ὅταν) • Retrospektive Bedeutung (Bedingungssatz mit εἰ und Konjunktiv im Vergangenheitstempus)
173
2. Methodische Umsetzung Fokus
Aktionsart
• Vordergrund-information (Aorist/ Präsens Historicum) • Hintergrund-information (Imperfekt/ Plusquamperfekt)
• Zeitdauer (durativ/stativ) • Zeitposition (imminentiell) • Zeitbegrenzung (inchoativ/ingressiv; effektiv; kompletiv; evolutiv; telisch; konativ) • Geschwindigkeit (intensiv) • Frequenz (iterativ; punktuell)
Nebenbestimmungen • Chronologische Position • Adverbiale Bestimmungen • Objektbezüge (Singular/Plural) • Verneinungen • Konkretisierungsgrad (Einzelfall oder Regelfall)
Auswertung hinsichtlich Tempusstreuung, Tempusbesonderheiten, Tempuswechsel Abb. 9: Analyseschema Zeitinszenierung: Grammatik
und chronologischer Ebene: • • • • •
Dauer Summary Szene Pause Dehnung Ellipse
Reihenfolge • Reihenfolge (Synchronie/Achronie/ Anachronie) • Zeitorientierung (Prolepse/Analepse) • Ebene (Figur/Erzähler) • Reichweite (intern/extern/gemischt) • Umfang (in der erzählten Zeit/in der Erzählzeit) • Handlungsstrang (hetero-/homodiegetisch) • Informationsgehalt (kompletiv/iterativ) • Deutlichkeit • Gewissheit (sichere/mögliche Prolepse) • Entropie-Index (Grad der Unordnung)
Frequenz • Singulativ (einmal einmaliges Ereignis) • MultiSingulativ (n-mal n-maliges Ereignis) • Repetitiv (n-mal einmaliges Ereignis) • Iterativ (einmal n-maliges Ereignis)
Richtung • Beiordnung • Temporale Verknüpfung • Kausale Verknüpfung • Ästhetische (motivische) Verknüpfung • Finale Verknüpfung
Auswertung hinsichtlich Fokussierungsfunktion, innerer Orientierungsfunktion und Grad der Linearität Abb. 10: Analyseschema Zeitinszenierung: Chronologik
174
IV. Methodik
2.3 Zeitwahrnehmung und Bewertung (das Woraufhin der Geschehenskonfiguration) 2.3.1 Die Schlüssel zu Zeit und Ethik in der Leserrezeption So wenig sich die genaue Intention des historischen Autors/der Autoren des JohEvs rekonstruieren lässt, so wenig lässt sich die konkrete Leserwahrnehmung und dessen Bewertungsprozess exakt prognostizieren. Weder kann der Autor nach seiner Intention befragt werden, noch kann der ursprüngliche Leser oder jeder gegenwärtige Leser nach seinem individuellen Eindruck befragt werden.165 Die beiden Variablen, die die Leserrezeption besonders kontingent machen, sind einerseits das individuelle Vorwissen bzw. Weltverständnis, das der Leser an den Text heranträgt, andererseits die Inferenzprozesse, die während des Lesens ablaufen, also die Schlussfolgerungen und Verknüpfungen, die der Leser (auf Basis seines Vorwissens und der Textsignale) selbstständig zwischen Ereignissen, Handlungen oder Personen zieht.166 Eine besondere Art der Inferenz stellen die Lesererwartungen dar. Aus einer Kombination von Textsignalen und allgemeinem Erfahrungswissen entstehen Erwartungen des Lesers an den weiteren Verlauf des erzählten Geschehens oder an die Art der Darstellung. Erwartungen, ihre Erfüllungen sowie ihre Brüche, bieten den Zugang zur Zeitwahrnehmung des Lesers.167 Ob und warum ein Leser ein Verhalten bspw. als verzögernd oder beschleunigend wahrnimmt, ist nicht allein durch die Analyse von narratologischen Bausteinen wie Zeitadverbien, Tempora und Chronologie zu erklären, sondern bedarf auch eines genaueren Blickes auf den komplexen Entstehungsprozess von Lesererwartungen, die diesen die Erzählzeit länger oder kürzer empfinden lassen. Wie entstehen Erwartungen beim Leser? 168 Das Spiel mit den Erwartungen steht als Leserorientierung der temporalen Art im Vordergrund des dritten Methodenschrittes.
165 Freilich böte eine empirische Leserbefragung und deren statistische Auswertung die Möglichkeit, zu repräsentativen Ergebnissen bzgl. der Leserrezeption eines Textes zu gelangen. Die hiesige Studie ist aber textanalytischer und nicht empirischer Art. 166 Vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 75. 167 Erinnerung/Erfahrung, Anschauung und Erwartung werden im Erbe Augustins als wesentliche Wahrnehmungskategorien von Zeit erkannt (vgl. Augustin, XI. conf, XX 26). Zum engen Verhältnis von Zeitwahrnehmung und Erwartung vgl. WHITROW, Die Erfindung der Zeit, 1999, 20: „Wir erleben Dauer immer dann, wenn die gegenwärtige Situation zu vergangenen Erfahrungen oder künftigen Erwartungen und Wünschen in Beziehung gesetzt wird.“ Zum näheren Verhältnis von Zeit und speziell der Lesererwartung in Erzählungen vgl. KAUPPERT, Erfahrung und Erzählung, 22010, 167: „In der zeitlichen Dimension werden Erzählungen durch die Differenz von Erwartung und Erfüllung generiert.“ 168 Die Frage nach dem Spiel des Textes mit den Lesererwartungen ist eng mit dem Stichwort der Erzählspannung (auch suspense genannt vgl. CHATMAN, Story and Discourse, 1980, 59–62; STERNBERG, The Poetics of Biblical Narrative, 1985, 264–282) verwandt. Wie S. Finnern richtig feststellt, können Spannungen in einem Text aber erst entstehen, „wenn
2. Methodische Umsetzung
175
Es ist aber nicht bloß interessant, wie der Leser die Zeit und den jeweiligen Umgang der Figuren mit der Zeit wahrnimmt, sondern auch wie er sie möglicherweise bewertet. Grundsätzlich ist vorzumerken, dass Auffälligkeiten bzw. Abweichungen von gängigen Darstellungsformen oder einem gängigen Handlungsverlauf, also Erwartungsbrüche, bereits eine Aufforderung zur ethischen Reflexion und Bewertung beinhalten und somit Zeitwahrnehmung und Bewertungsprozess zugleich beeinflussen. Besonders interessant sind solche Fälle, in denen sich eine alternative Darstellungsweise oder ein alternativer Ereignisverlauf eigentlich unmittelbar nahelegt. Dabei muss nicht davon ausgegangen werden, dass sich alle narrativen Ausdrucksmittel zwangsläufig auf eine bewusste Entscheidung oder Intention des Verfassers/der Verfasser/der Verfasserin(nen) zurückführen lassen, sondern dass sie ebenso einer intuitiven Wahl entsprungen sein und auch darin ethisches Potenzial entfalten können. Deshalb wird weniger die Intention von bestimmten Formabweichungen beschrieben als ihre mögliche Wirkung auf den Leser, auf dessen Aufmerksamkeitsgrad und dessen ethische Reflexionsprozesse. Die in der Art der Darstellung implizite Bewertung durch den Text wirkt also auf die mögliche Bewertung durch den Leser.169 Zwischen beiden ist bloß ein schmaler Grat: Der Leser kann sich einer Übernahme der textevozierten Bewertung oft nur schwer erwehren, seine Wahrnehmung ist durch die Darstellungsweise derart stark gefiltert, dass Text- und Leserbewertung häufig in eins fallen. Die Kraft der Darstellungsmittel kann sogar so weit reichen, dass der Text die vorgefassten Einstellungen und Meinungen des Lesers zu bestimmten Verhaltensmustern in seinem Sinne zu verändern vermag.170 Jedoch ist es dem Leser gerade im Rahmen der typisch joh. Ambivalenz bei der Darstellung der Figuren durchaus möglich, (zumindest etappenweise) selbststän-
der Leser Grund hat anzunehmen, dass die Erzählung in einem wichtigen Punkt möglicherweise nicht seinem Skript folgt.“ (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 43) Skripts wiederum „beschreiben das prozedurale Vorwissen, also welche Ereignisse uns in einer bestimmten Situation erwarten“ (a.a.O., 38). Damit basiert jegliche Spannung im Text auf den Erwartungen der Leser, die seinen Skripts erwachsen. 169 Zur Bewertungslenkung durch den Erzähler schreibt S. Finnern: „Die Überzeugungen, Normen und Werte des Erzählers werden auf verschiedene Weise gegenüber dem Erzähladressaten zum Ausdruck gebracht. Aus narratologischer Sicht ist bisher klar: Der Erzähler kann die divergierenden Meinungen, Wünsche und Intentionen der Figur u.a. mit den perspektivischen Mitteln Beteiligung, Distanz und Innenansicht hierarchisieren. Außerdem kann der Erzähler bestimmte Figurenmerkmale (Überzeugungen, Charakterzüge, Verhaltensweisen u.a.) positiv oder negativ darstellen, entweder durch explizite eigene Kommentare oder generalisierenden Reflexionen, durch Kommentare anderer Figuren oder durch das Schicksal, das eine Figur ereilt (wenn z.B. eine Figur für ihr Verhalten bestraft wird).“ (a.a.O., 180) Vgl dazu ferner BENNEMA, Understanding Character in the Gospel of John, 2013, 54; RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, 1996, 201. 170 Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 224–243.
176
IV. Methodik
dig zu entscheiden, ob er das jeweilige Verhalten als positiv oder negativ erachtet. Daran sieht man, dass die Bevormundung des Lesers durch die Bewertungstendenzen eines Textes unterschiedliche stark sein kann. Oder anders gesagt: Das narrative Urteil besitzt mal mehr, mal weniger persuasive oder gar normative Kraft. So kann der Leser die Skepsis der Jünger gegenüber dem Aufbruch Jesu nach Judäa in Zeiten der akuten Bedrohung durch die Juden (Joh 11,8) bspw. für berechtigt halten, die Kehrtwende des Thomas (Joh 11,16) hingegen für allzu waghalsig und unverständig. Oder aber er kritisiert die zögerliche Art der Jünger und erachtet eine sofortige und mutige Bereitschaft zur Hilfe des entschlafenen Freundes ganz unabhängig von der dortigen Gefahr für angemessen. Bei dieser eigenständigen Bewertung spielen also die individuelle Vorprägung und Einstellung des Lesers eine Rolle, aber auch die Verknüpfung, die er zu dem bisher Erzählten herstellt (in diesem Falle bspw. zum Steinigungsversuch in Joh 10,31).171 In der Causa Judas lässt die Narration dem Leser hingegen wenig Wahl bei der Bewertung, v.a. wenn der Erzähler ihn als Dieb bezeichnet (Joh 11,6). Das Urteil des Textes ist hier bindend. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird deshalb danach gefragt, welche Textphänomene zur Bewertungsorientierung existieren und wie sie auch hinsichtlich ihres Einflussgrades auf die ethischen Reflexionsprozesse des Lesers einzuschätzen sind. Die unterschiedlichen impliziten Bewertungsmechanismen stehen als Leserorientierung der ethischen Art an zweiter Stelle des dritten Methodenschrittes. Exkurs: Das Bild des Lesers Bei einer Analyse der Zeitwahrnehmung durch den Leser kommt man um eine Stellungnahme zur Kommunikationsstruktur eines Textes nicht umhin. Wer oder was ist mit Leser überhaupt gemeint: der historische, der implizierte, der intendierte, der fiktive oder gar der reale Leser? Ich möchte die unterschiedlichen Ebenen der Rezeption zunächst kurz vorstellen: Während der Begriff des historischen Lesers keiner weiteren Erklärung bedarf, bezeichnet der „Begriff des implizierten oder abstrakten Lesers […] das im Werk enthaltene bzw. ‒ konstruktivistisch formuliert ‒ das vom realen Leser inferierte Bild des Textadressaten“172, so Schmid. Er ist vom Leser „unterstellter Adressat“, dessen unterschiedliche Skripts und Frames173 bei der (Re-
171
Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 134. SCHMID, Erzähltextanalyse, 2013, 109. 173 Die kognitionswissenschaftlichen Begriffe von „statische[n] ‚Frames‘ und dynamischen ‚Skripts‘“ werden hier in Anschluss an S. Finnerns Narratologie aufgegriffen (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 38). Während Frames prototypische Vorstellungen von Dingen oder Menschen bezeichnen, beziehen sich dynamische Skripts auf 172
2. Methodische Umsetzung
177
zeptions-)Analyse eines Textes berücksichtigt werden. Diese Skripts und Frames werden − so individuell und so wenig generalisierbar sie im Einzelfall (des jeweiligen realen Lesers) auch sind − für eine möglichst breite Leserschaft aus dem und entlang des Textes erhoben.174 Es handelt sich also um eine Art generalisierende „Beschreibung und Prognose der realen Leserrezeption“ 175, die der Leser selbst vornimmt. Ich nenne diese Ebene die Ebene der virtuellen Rezeption. Im Gegensatz dazu verbirgt sich hinter dem intendierten Leser das Bild des Autors von seinen vorgestellten oder erwünschten Lesern, an deren Skripts und Frames er seine Erzählstrategie anzupassen versucht. 176 Um den intendierten Leser zu demaskieren, müssen zwei finstere Umwege in Kauf genommen werden: zunächst der Weg zum realen Autor und seinen Abfassungsbedingungen und -intentionen und anschließend der Weg von diesem realen Autor zu den möglichen oder von ihm erwünschten Rezipienten. Verlässliche Aussagen sind bei der Rekonstruktion des intendierten Lesers des JohEvs aufgrund der dürftigen Quellenlage in Bezug auf dessen realen Autor und dessen tatsächliche oder erwünschte Rezipienten m.E. nicht zu erwarten. Der intendierte Leser befindet sich auf der Ebene der historisch-erwünschten Rezeption. Auf einer anderen, nämlich erzählinternen Ebene ist die Figur des fiktiven Lesers oder besser: des fiktiven Adressaten zu verorten. Der fiktive Adressat ist der vom fiktiven Erzähler angesprochene Rezipient. 177 Hier geht es also um die fiktive Kommunikation innerhalb einer Erzählung, nicht um die reale Kommunikation mittels der Erzählung. Der fiktive Adressat befindet sich auf der Ebene der fiktiven Rezeption. Je nachdem auf welcher diegetischen Ebene man sich befindet, kann es auch einen metadiegetischen fiktiven Adressaten geben, wenn bspw. eine Figur der anderen etwas erzählt oder vorliest. 178 Dass wir an den realen Leser genauso wenig herankommen wie an den realen Autor (und seinen intendierten Leser), ist bereits mehrfach eingestanden worden. Der reale Leser ist derart polymorph, dass er in einem einzigen Leserbild schlichtweg nicht eingefangen werden kann. Der reale Leser befindet sich auf der Ebene der realen Rezeption.
„das prozedurale Vorwissen, also welche Ereignisse uns in einer bestimmten Situation erwarten [...] oder wie man etwas tut“ (ebd.); vgl. dazu auch FINNERN/RÜGGEMEIER, Methoden der neutestamentlichen Exegese, 2016, 175. 174 Vgl. SCHMID, Erzähltextanalyse, 2013, 109. 175 FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 51. 176 Vgl. a.a.O., 52. 177 Vgl. SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 95. 178 Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 54.
178
IV. Methodik
Realer Leser/ Exeget Historisch-erwünschte Rezeption
Historischer/ n Autor
virtuelle Rezeption
Erzählung
Realer Leser/ Exeget
Fiktiver Erzähler
fiktive Rezeption
kommuniziert mit
Implizierten/ potenziellen Leser
prognostiziert/ beschreibt
Realer Leser/ Exeget
Fiktivem Adressat
analysiert
Realen Leser1 reale Rezeption
Intendierten Leser
wünscht und formt
Realen Leserx Realen Leser2
Realen Leser3
Abb. 11: Das Bild des Lesers
Die hiesige Analyse wird sich mit dem implizierten Leser befassen, weil der intendierte Leser zum einen außerhalb der rekonstruierbaren Reichweite steht und zum anderen die Wirkung des Textes mit Blick auf den intendierten Leser auf die Autorenabsicht reduziert und gegenwärtige Texteffekte ausgeschlossen würden. Der reale Leser wiederum ist zu vielgesichtig, um ihn allein mittels Textanalyse einzufangen, und der fiktive Leser schließlich gehört eher auf die zweite Analyseebene der Zeitinszenierung, weil er ganz in der Erzählung aufgeht. 179 Der implizierte Leser hingegen kann anhand von Textsignalen und möglichst ‚stabilen‘ Skripts und Frames vom Leser bzw. Exegeten konstruiert werden, er ist weniger polymorph als der reale Leser, bleibt aber dennoch nicht wie der fiktive Leser in der erzählten Welt (nach Ricœur: in der konfigurierten Welt) gefangen, sondern ist bereits Teil der refigurierten Welt. Dieser implizierte Leser, bisweilen missverständlich als idealer Rezipient bezeichnet, soll nicht im normativen Sinne als bester aller möglichen Leser verstanden werden. Vielmehr steht dahinter eine Vorstellung vom Rezipienten, welche auf Basis der vom Text gelieferten Signale und angenommener stabiler/allgemeingültiger Skripts und Frames wahrscheinlich erscheint. Deshalb ist vielleicht eher von einem potenziellen oder virtuellen Leser zu sprechen, der nur eine neben möglichen anderen Rezeptionen repräsentiert.180 Dieser potenzielle Leser steht
179
Vgl. SCHMID, Elemente der Narratologie, 32014, 97. Zur Idealität des Lesers schreibt W. Schmid: „Der ideale Rezipient als ein im Werk mehr oder weniger deutlich impliziertes Bild zu postulieren, heißt keineswegs, die Freiheit 180
2. Methodische Umsetzung
179
in einem größerem Abstand zur Erzählung und zu deren Kommunikationssignalen als der fiktive Adressat, der unmittelbar vom Erzähler angesprochen und eingespannt wird. Der potenzielle Rezipient kann selbst entscheiden, ob er sich von der Erzählung ansprechen lässt oder ob sie ihn nichts angeht/angehen soll. Er ist keine direkte Antwort schuldig, sondern kann das Gehörte erst einmal wirken lassen. Dieser Abstand ist ein Merkmal, das den potenziellen Leser gegenüber dem fiktiven Adressaten in eine die ethische Reflexion begünstigende Beobachterposition bringt. Dennoch ist der potenzielle Leser mit der Erzählung verbunden, insofern er aus und entlang des Textes überhaupt erst erhoben wird. Fernerhin geht mit dieser Orientierung am potenziellen, nicht idealen Leser auch ein Verzicht auf einen absoluten Geltungsanspruch bestimmter Auslegungen einher. Es soll nicht dem szientistischen Irrtum Vorsprung geleistet werden, nur ein gelernter Exeget könne den Text richtig wahrnehmen und deuten. So wie die Ethik gegenüber dem allgemeinem moralischen Verhalten von Nicht-Ethikern nicht als Vormund auftreten, wohl aber, nach Michael Roth, als „Wahrnehmungsschule“ 181 für Handlungssituationen gelten kann, so kann auch die Exegese der allgemeinen Bibelrezeption nicht als Vormund, sondern lediglich als Wahrnehmungsschule zur Seite stehen. Die Situation/der Text muss aber trotzdem jeweils selbst erlebt/gelesen, selbst reflektiert, selbst ausgelegt werden. Die Exegese bietet Umwege auf dem Weg des Lesens an, setzt bewusst Stolpersteine und steigert mit diesen Manövern die Aufmerksamkeit für Besonderheiten im Text, über welche man im normalen Leseprozess möglicherweise nicht gestolpert wäre. 2.3.2 Erwartung Erwartungen können beim Leser auf extratextueller Ebene (anhand von Weltwissen und Erfahrungen aus dem Alltag), auf intertextueller Ebene (anhand von Erfahrungen mit Vergleichstexten oder) auf intratextueller Ebene (durch narrative Techniken der Erwartungserzeugung) hervorgerufen werden und sollen auch danach analysiert werden. Extratextuelle Erwartungen Extratextuelle Erwartungen basieren auf sog. Skripts und Frames,182 die das Weltwissen des Lesers auf Basis seiner bisherigen Erfahrungen mit der Welt strukturieren. Eine Analyse derjenigen Erwartungen, die sich aus dem individuellen Erfahrungsschatz des jeweiligen Lesers ergeben, ist zugegebenermaßen subjektiv und deshalb in hohem Maße spekulativ. Den individuellen Erfahrungsschatz des Lesers deshalb auszuklammern oder zu ignorieren bleibt aber eine Scheinlösung. Einen gangbareren Weg stellt die Berücksichtigung des konkreten Lesers einzuschränken oder irgendwelche Vorentscheidungen über die Legitimität seiner tatsächlichen Sinnzuschreibungen zu treffen.“ (a.a.O., 70) 181 ROTH, Theologische Ethik als Wahrnehmungsschule für das Leben, 2016, 49–55. 182 Zu den kognitionswissenschaftlichen Begriffen der Skripts und Frames s.o. Anm. 173.
180
IV. Methodik
potenzieller Leserwartungen dar, die sich aus relativ stabilen Alltagserfahrungen des Menschen ergeben, bspw. die Kenntnis natürlicher Abfolgen (Wenn es viel regnet, steigt das Flussufer), Erkenntnisse aus der Alltagspsychologie (Wer verlassen wird, ist traurig) etc., welche für das Gros der Leserschaft als gültig vorausgesetzt werden können. Die persönlichen Erfahrungen der Leser bspw. mit Dieben, mit Verrat oder versagtem Vertrauen können bei der Analyse der extratextuellen Erfahrungen nicht eingefangen werden, obwohl sie wohlgemerkt den jeweiligen Grad der Leseraffektion maßgeblich beeinflussen. Wohl aber können allgemeingültige Tendenzen aufgezeigt werden, etwa die, dass ein Dieb im Rahmen der stabilen gesellschaftlichen Konventionen grundsätzlich einen eher negativen Eindruck, während ein treuer und loyaler Gefolgsmann einen eher positiven Eindruck hinterlässt. Bspw. lässt die Liebe Jesu zu seinem Freund in Joh 11,5 erwarten, dass Jesus ihm in seiner Krankheit schnell zur Hilfe kommt. Der Bruch mit der allgemeinen Erwartung an freundschaftliche Hilfsbereitschaft und Anteilnahme führt dazu, dass die Verzögerung in Jesu Verhalten umso deutlicher hervortritt und zur ethischen Reflexion dieses Verhaltens anregt. Selbstverständlich wäre der Anspruch auf eine vollständige Erhebung und Auswertung aller möglichen extratextuellen Lesererwartungen utopisch, denn zum einen ist es unmöglich, den subjektiven, hochkomplexen Lebenshorizont eines jeden realen Lesers in der Analyse einzufangen, zum anderen sind viele Alltagskonventionen und -routinen in derart automatisierten Bewegungs- und Denkabläufe aufgegangen, dass sie nur schwerlich ins Bewusstsein gehoben und als Wahrnehmungs- und Deutungskategorie ausgewiesen werden können. Die Analyse wird sich deshalb auf Erwartungen und Erwartungsbrüche fokussieren, die erstens leicht induzierbar, stabil, anschlussfähig und weitestgehend verallgemeinerbar sind und zweitens in besonderer Weise zur Intensivierung des Zeiterlebens des potenziellen Lesers beitragen. Intertextuelle Erwartungen Unter einem intertextuellen Vergleich versteht man gemeinhin den Vergleich zweier Texte, der meist im Hinblick auf einen bestimmten Vergleichspunkt (Motivik, Gattungsmerkmale, historiographische Angaben, Stil, Aussage, Vokabular etc.) und unter bestimmten Auswahlkriterien (zeitliche oder räumliche, thematische, motivische, formale Nähe) angestellt wird und einen Teil der Textanalyse bildet. Dabei macht es einen Unterschied, ob man zwei Texte auf ihre Intertextualität hin prüft, also die (entstehungsgeschichtliche) Beziehung der Texte zueinander zu erforschen sucht und damit ihre Intertextualität zum Forschungsgegenstand erhebt, oder ob man den intertextuellen Vergleich als Methode gebraucht, um Besonderheiten des einen Textes gegenüber dem anderen Text hervorzuheben, ohne damit schon ihre historische Abhängigkeit in die eine oder andere Richtung vorauszusetzen. Es geht dann also weniger um Genealogie als um Analogie.
2. Methodische Umsetzung
181
Da in diesem Analyseschritt der potenzielle Leser und dessen Wahrnehmung im Vordergrund stehen, nicht etwa die Entstehungsgeschichte des Textes, kann es hier nur auf die Methode des intertextuellen Vergleiches ankommen. Es geht um die vom Leser potenziell erlebte Intertextualität; damit sind mögliche Skripts und Frames gemeint, die er aus der Kenntnis anderer Texte erhebt und an die joh. Erzählung heranträgt, die seine Wahrnehmung auf den Text beeinflussen und ihm helfen, das Gelesene einzuordnen. Zur Sensibilisierung für das Besondere an der joh. Darstellung und für mögliche Erwartungsbrüche beim Leser kann ein Vergleich mit anderen thematischen oder formalen Parallelerzählungen und deren Handlungsverlauf verhelfen. Wie werden an anderer Stelle ähnliche Sachverhalte/Ereignisse/Handlungen dargestellt? Inwiefern könnte der Leser anderes erwarten? 183 Ein an den Rezipienten orientierter intertextueller Vergleich würde für die meisten Erzählsequenzen eine Vielzahl an analogen Erzählungen zum Vergleich zulassen. Die hiesige Untersuchung ist auf solche Erzählungen fokussiert, die einerseits ein realistisches Sortiment an Hintergrunderfahrung bzw. gedanklicher oder kultureller Vorprägungen des Lesers bilden, d.h. sich im näheren zeitlichen, örtlichen und weltanschaulichen Umfeld der Erzählungen des JohEvs befinden und gerade deshalb den Erwartungshorizont des Lesers an diese Erzählungen prägen. Andererseits soll es vornehmlich um solche Erzählungen gehen, die bezogen auf die jeweilige Erzählsequenz in einem effektvollen Verhältnis von Redundanz und Varianz stehen, d.h. jeweils so viel Ähnlichkeit zu den joh. Erzählungen (und damit Erwartungssicherheit) aufweisen, dass ihre Abweichungen (Erwartungsbrüche) überhaupt erkennbar und bedeutsam werden können. Dafür kommen die synopt. Parallelen oder andere Erzähltexte bzw. -passagen aus NT und AT in Frage, im Falle signifikanter Motivübereinstimmungen ebenso apokryphe, hellenistische/römische und bei besonders markanten Überschneidungen auch rabbinische Vergleichstexte. Das Prophetenwort in Joh 4,44 wird deshalb bspw. einerseits mit der erzählerischen Einbettung bei den synopt. Parallelen in Mk 6,4 | Mt 13,57 | Lk 4,25, andererseits mit bekannten Aussprüchen von Epiktet, Dion Chrysostomos, Flavius Philostratos sowie einschlägigen Passagen aus dem Tanach verglichen. Als Hilfsmittel können bei
183 Zur Zielrichtung eines intertextuellen/religionsgeschichtlichen Vergleichs schreibt J. Frey: „Die Vielzahl der Parallelen, die verzeichnet, aber oft nicht wirklich ausgewertet werden, läßt ohnehin fragen, was durch ‚Parallelen‘ eigentlich erklärt wird. Letztlich kann es hier weniger um genealogische Ableitungen gehen als vielmehr um eine Kontextualisierung, die zeigt, welches Profil der auszulegende Text im Gefüge anderer Texte seiner Welt und Zeit besitzt.“ (FREY, Wege und Perspektiven der Interpretation des Johannesevangeliums, 2013, 35)
182
IV. Methodik
diesem Schritt der von Udo Schnelle herausgegebene Neue Wettstein mit Paralleltexten aus Griechentum und Hellenismus,184 für apokryphe Vergleichstexte insbesondere im Blick auf Wundererzählungen der zweite Band des von Zimmermann herausgegebenen Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen,185 in prägnanten Einzelfällen auch die Sammlung von rabbinischen Paralleltexten durch Paul Billerbeck und Hermann Strack herangezogen werden. 186 Ein Anspruch auf Vollständigkeit lässt auch dieser Methodenschritt nicht zu, vielmehr versucht er durch exemplarische Vergleiche zum besseren Text- bzw. Rezeptionsverständnis beizutragen. Intratextuelle Erwartungen Intratextuelle Erwartungen können innerhalb der Erzählung auf zwei Ebenen erzeugt werden: entweder auf der Ebene der Figuren, etwa durch Ankündigungen in wörtlicher Rede (z.B. Jesu Ankündigung an Martha in Joh 11,23) oder im Rahmen von Bewusstseinsberichten (z.B. wenn Jesus in Joh 13,3 von seinem künftigen Schicksal weiß), durch die besondere Dramatik einer Notsituation (z.B. die Krankheit des Sohnes zum Tode in Joh 4,47), durch direktive oder promissive Sprechakte (z.B. wenn die Brüder Jesus in Joh 7,3 zur Reise nach Jerusalem auffordern), oder aber sie werden auf Ebene der Narration erzeugt, z.B. durch proleptische Erzählerkommentare (z.B. die Ankündigung des Glaubens der Jünger nach der Auferstehung in Joh 2,22) oder durch Vorenthaltung wichtiger Informationen (z.B. die unterdeterminierte Zeitangabe Jesu in Joh 2,4: οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου), durch Iterative (Joh 20,30) oder durch ‚gefärbte‘ Adverbien wie οὔπω (noch nicht). Wird eine Information vorenthalten und erst später geliefert, so erzeugt dies Spannung beim Leser, denn er erwartet eine Auflösung des Rätsels. Diese Art der Spannung wird in der Erzähltheorie als kognitive Rätselspannung bezeichnet. 187 Ebenso können bestimmte Antworten oder Ereignisse vorweggenommen werden (Prolepse) und schüren damit gleichsam die Erwartung des Lesers i.S. eines bestimmten Verlaufs der Handlung. Dies wird in der Erzähltheorie als affektive Konflikt- und Bedrohungsspannung bezeichnet. 188 Besonders intensiv wirkt diejenige Konflikt- und Bedrohungsspannung auf den Leser, die sich aus der Diskrepanz zwischen dem Wissen der Figur und dem Wissen des 184
Vgl. SCHNELLE, Neuer Wettstein. Texte zum Johannesevangelium, 2001. Vgl. ZIMMERMANN, Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. Band 2: Die Wunder der Apostel, 2017. 186 Vgl. BILLERBECK/STRACK, Band I: Das Evangelium nach Matthäus, 1922; DIES., Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, 1924. 187 Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 200. 188 Darüber hinaus lässt sich auch die Länge der Spannungsbögen messen. In der Erzähltheorie wird deshalb zwischen einer Mikrospannung (Detailspannung) und einer Makrospannung (Finalspannung) unterschieden (vgl. ebd). 185
2. Methodische Umsetzung
183
Erzählers ergibt. Etwa wenn man die Figur in ihr Unglück rennen sieht oder Missverständnisse beobachtet, die sich aus einer Wissensdiskrepanz ergeben (z.B. beim Tempelwort in Joh 2,19–21). 189 Im JohEv finden wir fast ausschließlich die Konflikt- und Bedrohungsspannung. Das hängt mit der finalen Motivierung des Erzählung zusammen: Alles versteht sich von der Stunde der Kreuzigung und Verherrlichung her.190 Insofern der Ausgang der Erzählung für den Leser immer schon klar ist (auch aufgrund seiner intertextuellen Erwartungen mit den synopt. Berichten), können ihm in dieser Hinsicht auch schwerlich Informationen vorenthalten werden. Die einzige Rätselspannung lässt sich wohl in Hinblick auf die Verfasserfrage feststellen: Während die Person des geliebten Jüngers im Laufe der Erzählung immer wieder Rätsel nach seiner Identität und Herkunft aufgibt,191 wird erst in Joh 19,35/20,24 recht überraschend seine Autorenschaft offenbart. Alle anderen Rätsel ergeben sich eher aus Jesu Reden, welche in ihrer Metaphorizität und Ambivalenz über mögliche tertia comparationis grübeln lassen. Paul Anderson bezeichnet die vielen Widersprüche und Uneindeutigkeiten des JohEvs als „riddles“192. Diese Interpretationsrätsel liegen allerdings strenggenommen nicht auf der Ebene der intratextuellen Erwartung, weil ihre Klärung erst auf der Ebene der Rezeption erfolgen kann. Der Leser kann des Rätsels Lösung nicht von der Erzählung erwarten, er ist selbst dazu eingeladen, mit den Interpretationsspielräumen und Ambiguitäten produktiv umzugehen. 2.3.3 Bewertungsorientierung Der zweite auf der Leserebene angesiedelte Methodenschritt thematisiert neben den narrativen Techniken der Erwartungssteuerung auch die Bewertungslenkung bzw. -orientierung, denn im Wechselspiel mit der erzählerischen Konkretion der Einzelszenen und den abstrahierenden Bewertungsmechanismen liegt das besondere ethische Potenzial der Erzählung. Die Inszenierung des Zeitverhaltens der Figuren und der dahinterstehenden Zeitnormen ist mitnichten neutrale Tatsachenabbildung. Jeder Deskription wohnt ein präskriptives 189
Vgl. TRUFFAUT, Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, 42007, 102. Die finale Motivation (Makrospannung) des JohEvs auf die jesuanische Stunde ist bereits unter 2.2.5 Chronologik: Zeit-Räume im Text, d) Richtung grundsätzlich festgestellt worden. So geht es bei den hiesigen Einzelanalysen von Szenen eher um die Detailspannung (oder den Einfluss der Finalspannung auf das Verhalten der Figuren in der jeweiligen Szene). 191 Vgl. SÖDING, Der Lieblingsjünger, 2009, 107. 192 Vgl. ANDERSON, The Riddles of the Fourth Gospel, 2011. Hier werden u.a. folgende theologischen Titel und Themen mit einem ambivalenten Rätselfragezeichen versehen: Menschlichkeit oder Göttlichkeit Jesu? Beziehung der Gleichwertigkeit oder Unterordnung zwischen Vater und Sohn? Darf der Sohn richten oder nicht? Entspringt der Heilige Geist dem Vater oder dem Sohn? Präsentische oder futurische Eschatologie? Universal- oder Partikularsoteriologie? Determinismus oder freier Wille? Präskription oder Reflexion? Antisemitisch oder projüdisch? Ästhetisch oder dekonstruktivistisch? Statisch oder dynamisch? 190
184
IV. Methodik
Moment inne, insoweit Mittel und Art der Darstellung als Reflektoren für eine bestimmte Sicht auf die Dinge aufgefasst werden können, die dem Leser Werturteile, wenn nicht vorschreiben, so doch zumindest anbieten. Die Erzählung stellt also wissentlich oder unwillkürlich, explizit oder implizit Evaluationstendenzen zur Verfügung und ermutigt den Leser darüber hinaus dazu, die eigenen handlungsleitenden Zeitnormen neu zu reflektieren. Dass der Leser sich tatsächlich zu einer ethischen Stellungnahme oder gar einem Meinungswandel provoziert sieht, hängt wiederum auch von der Intensität des Leseerlebnisses bzw. der Intensität der Darstellung ab.193 Instrumente der Bewertungsorientierung Die Erzählung stellt durch unterschiedliche Mittel Evaluationstendenzen zur Verfügung und unterstützt den Leser bei dessen Bewertung der Figurenhandlung. Dabei kann z.B. die Gewichtung einzelner Handlungen eine Rolle spielen, d.h. wie viel Erzählzeit der Handlung oder Argumentation einer bestimmten Figur zugesprochen wird (z.B. die Dominanz der Redebeiträge Jesu in 2,1– 11).194 Aber auch die Metaphorik im Kontext des Figurenverhaltens (z.B. die Licht/Finsternis- und Tag/Nacht-Metaphorik in Joh 11,9f.),195 die narrativen Verknüpfungen des Geschehens (z.B. die Verknüpfung der Vorstellung des Judas mit seinem späteren Verrat in Joh 12,4), die Symbolik des Handlungssettings (Hochzeitssymbolik in Joh 2,1–11),196 die Handlungsfolgen (z.B. die Heilung des Gelähmten in Joh 5,9; der Glaube der Jünger in Joh 2,11; der Tötungsbeschluss mit soteriologischen Folgen Joh 11,49–53),197 die Handlungsmotivation oder -ursachen (z.B. die Angst der Eltern des Blindgeborenen vor dem 193
Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 230. Vgl. WEINRICH, Tempus, 62001, 38: „Allemal gilt jedoch Günther Müllers Feststellung, daß sowohl jede Raffung, als auch jede Dehnung der Zeit eine Auswahl darstellt, und jede Auswahl ist Deutung.“ 195 Zur ethischen Signifikanz von Metaphern vgl. ZIMMERMANN, Metaphorische Ethik, 2016, 295–310; DERS., Die Logik der Liebe, 2016, 90; DERS., Moralische Signifikanz durch Sprachbilder, 2016, 9–37. 196 Der Unterschied zwischen einer Metapher und einem Symbol besteht darin, dass eine Metapher eine Antwort auf eine theoretisch unbeantwortbare Frage liefert, also etwas Unanschaulichem Anschaulichkeit verleiht. Das Symbol hingegen projiziert eine bereits gefasste theoretische Antwort in eine Überdimension (vgl. BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1998, 166). Das Symbol weist demnach etwas als etwas aus (z.B. die gelbe Raute als Vorfahrtssymbol; Jesu Handlung auf dem Fest in Kana als Handlung eines endzeitlichen Bräutigams). Oder mit P. Ricœur gesagt: „Ein Symbolsystem liefert somit einen Beschreibungskontext für besondere Handlungen. Mit anderen Worten, wir können eine bestimmte Geste als dies oder das bedeutend erst ›im Verhältnis zu...‹ interpretieren […] So verleiht die Symbolik der Handlung eine Vorform der Lesbarkeit.“ (RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 95) 197 S. Finnern spricht vom „Schicksal, das eine Figur ereilt“, welches Figurenmerkmale positiv oder negativ erscheinen lassen kann (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 180). Vgl. dazu auch CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 146: 194
2. Methodische Umsetzung
185
Synagogenausschluss in Joh 9,22), dichte wertende Begriffe (z.B. πονηρός in Joh 3,19; 7,7; φαῦλος in Joh 3,20; 5,29)198, oder schlicht die Autorität der Figuren (z.B. ῥαββί in Joh 11,8; κύριος in Joh 11, 2.3.12.21.27.32.34.39)199 tragen das Ihre zur Bewertung bei. Natürlich ist auch eine mal explizitere, mal implizitere Bewertung aus dem Munde einer Figur (z.B. Jesu Tadel an den Juden in Joh 9,41) oder der Erzählinstanz (z.B. der Hinweis auf den Unglauben der Brüder in Joh 7,5) möglich. Intensität des Leseerlebnisses Die Erzählung kann auf unterschiedlichen Ebenen und mittels unterschiedlicher narrativer Techniken die Intensität des Leseerlebnisses steigern und den Leser damit zu einer eigenen Stellungnahme provozieren. a) Leseransprache Direkte Leseransprachen durch den Erzähler sind für das JohEv sehr ungewöhnlich und treten nur an zwei Stellen auf, nämlich in Joh 19,35 und 20,31. In beiden Fällen handelt es sich um eine zentrale Absichtserklärung für das gesamte Evangelium. Es wurde abgefasst, ἵνα καὶ ὑμεῖς πιστεύ[σ]ητε200 | damit ihr glaubt. Die Singularität dieser direkten Ansprachen erhöht ihre Bedeutung maßgeblich. 201 Sie sind die einzigen Passagen, bei denen die Leserschaft in der zweiten Person Plural direkt angesprochen wird. Neben den Leseransprachen durch den Erzähler gibt es auch die Möglichkeit der Leseransprache durch die Figuren. Bei der Figurenrede, insbesondere bei
„The consequences of their [gem. sind die Charaktere, Anm. d. Verf.] response, whether depicted through Jesus’ words, dramatic action, or a comment from the narrator, serve as the author’s (or implied author’s) judgment to this response [...] Norms of acceptable responses to Jesus are established, while other norms are broken and rejected.“ 198 M. Roth nimmt im Rahmen seiner Skizze zur narrativen Ethik Bezug auf: „sog. ‚dichte Begriffe‘ (‚thick concepts‘) wie ‚grausam‘, ‚geizig‘, ‚großzügig‘, bei denen Beschreibung und Bewertung eng miteinander verknüpft sind und die daher gleichermaßen deskriptive und wertende Aspekte enthalten.“ (ROTH, Narrative Ethik, 2016, 133) Vgl. dazu ferner ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 57. A. Koschorke bezeichnet Begriffe als „Knotenpunkten des Sinngefüges“ (a.a.O., 166) und „Formulare für schnelles Wiedererkennen und auf diesem Wege als Weltnormierung“ (a.a.O., 167). Die verwendete Semantik verrät also immer auch etwas über implizite Norm- und Wertvorstellung. 199 Zur besonderen Autorität Jesu als Ausleger des göttlichen Willens vgl. WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 186. 200 Einige Handschriften lesen Konjunktiv Präsens statt Konjunktiv Aorist (u.a. Codex Sinaiticus und Codex Vaticanus). Im Aorist würde man es wohl eher ingressiv übersetzen: damit ihr zum Glauben kommt. 201 Vgl. a.a.O., 184.
186
IV. Methodik
den jesuanischen Monologen kann mitunter von einer „doppelte[n] Adressierung“202 gesprochen werden. V.a. gnomische Aussagen entfalten ihre Appellstruktur nicht nur in der Welt der Mitfiguren, sondern auch in der Welt des Lesers. Auch wenn sie meist in der dritten Person gehalten sind, so bleibt sowohl ihr diegetischer als auch extratextueller Bezugspunkt selten unbesetzt. Z.B. ist die Rede vom ins Licht kommen, um die Wahrheit zu offenbaren, oder das Licht hassen aufgrund der eigenen bösen Werke in Joh 3,20f. sowohl auf Nikodemus, der ja bei Nacht zu Jesus kommt, als auch auf den Leser applizierbar. Beide können sich entscheiden, ob sie lieber im Licht Christi oder in der Dunkelheit wandeln, die Werke Gottes verrichten oder das Böse tun wollen. Auch der Leser kennt das Gefühl, seine schlechten Taten verbergen zu müssen. George Parsenios untersucht diese gnomischen Aussagen unter dem Gattungsbegriff der sententiae, einer antiken rhetorischen Stilfigur. V.a. im antikrömischen Kulturraum werden sententiae dazu gebraucht, um gesellschaftliche Grenzen zu markieren und zu perpetuieren und gleichzeitig intensivere Verbindungen zu denjenigen Hörern herzustellen, die auf der gleichen Seite der Grenze stehen. „Sententiae speak to those who understand“ 203, zitiert Parsenios den Altertumswissenchaftlter Patrick Sinclair. Auch der joh. Jesus gebrauche Sentenzen „in order to associate himself with and to define a particular group – the people of the Spirit.“204 Der joh. Jesus weiche jedoch in einem ganz wesentlichen Punkt von den Gattungsvorgaben der antiken, wie auch modernen Sentenzen205 ab: Absicht seiner Sentenzen sei es nicht, Grenzlinien darzustellen, um sie zu perpetuieren, sondern Grenzlinien darzustellen, um die Hörer oder Leser dazu zu motivieren, sie zu überwinden. Jesus Christus selbst erweise sich dabei als Brücke zwischen der Welt des Fleisches und der Welt des Geistes, der Welt der Dunkelheit und der Welt des Lichts, der irdischen und himmlischen Welt. Im Glauben an Jesus Christus können die Grenzen zwischen der Sphäre des Fleisches und der Sphäre des Geistes überwunden werden.206 Gnomische Aussagen bzw. Sentenzen im Rahmen der Figurenrede, insbesondere der Reden Jesu, tragen demnach einen besonders hohen Appellwert und wirken stärker handlungs-/entscheidungsmotivierend auf den Leser als
202
Der Theaterwissenschaftler J. Roselt beschreibt das Phänomen der „doppelten Adressierung“ für die Theaterbühne, auf der eine „interne Kommunikation“ zwischen den Figuren sowie eine „externe Kommunikation“ zwischen Figur und Publikum stattfinden kann (vgl. ROSELT, Art. Dialog/Monolog, 2014, 68). Gleiches kann auch für Erzähltexte festgestellt werden (vgl. WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 185). 203 PARSENIOS, A Sententious Silence, 2012, 20. 204 A.a.O., 24. 205 Als Beispiel für eine moderne Sentenz des 19. Jh. dient Parsenios der berühmte und ebenso um Abgrenzung bemühte Satz des britischen Autors R. Kipling „East is East and West is West, and never the twain shall meet.“ (a.a.O., 14) 206 Vgl. a.a.O., 24f.
2. Methodische Umsetzung
187
rein deskriptiv-narrative Textpassagen, zum einen weil sie universale Wahrheiten transportieren, die auch für den Leser Geltung entfalten, zum anderen weil sie auch über die Grenzen der diegetischen Kommunikation hinaus ansprechen und Anspruch erheben.207 Die Leseranrede mittels gnomischer Sprüche und Sentenzen ist jedoch bereits wesentlich indirekter und weniger intensiv als die direkte Anrede durch den Erzähler, insofern dem Leser die Entscheidung freisteht, ob er die Aussage nur auf die Erzählebene beziehen will oder unmittelbar auf sein eigenes Leben. Darüber hinaus kann auch Ironie den Leser an die Erzählung ‚binden‘, insofern durch das gemeinsame ‚Insider‘-Wissen eine Solidarität der Leser- und Interpretenschaft hervorgerufen wird.208 b) Unmittelbarkeit der Erzählung zum erzählten Geschehen: dramatischer und narrativer Modus Die Intensität des Leseerlebnisses wird auch durch den Modus der Darstellung, also die Mittel- oder Unmittelbarkeit der Erzählung zum erzählten Geschehen moderiert. Genette versucht, den Grad der Mittelbarkeit zwischen Geschichte (gemeint ist der Erzählinhalt), Erzählung (gemeint ist der Träger der Geschichte) und Narration (gemeint ist der Erzählakt) mittels der Kategorien Stimme, Modus und Zeit einzufangen. Als Stimme bezeichnet Genette die narrative Instanz in ihrem Verhältnis einerseits zur Geschichte und andererseits zum Adressaten. Der Modus drückt die Nachdrücklichkeit oder die Nähe der Erzählung zur Geschichte aus. Die Zeit stellt schließlich das temporale Verhältnis zwischen Erzählung und Geschichte dar.209 Die Kategorie der Zeit ist in ihrer Darstellungsfunktion bereits unter 2.2.5 Chronologik: Zeit-Räume im Text abgehandelt und im Rahmen der Bewertungsorientierung in ihrer Wahrnehmungs- und Bewertungsfunktion beachtet worden. Eine strikte Trennung zwischen Stimme (der narrativen Instanz) und Modus einer Erzählung (der Nähe der Erzählung zum Geschehen), wie Genette sie vornimmt, 210 ist m.E. nicht durchzuhalten, da die Positionierung der Erzählinstanz gegenüber dem Geschehen einerseits und dem Adressaten andererseits selbstverständlich auch den Modus der Narration
207
J. Frey schreibt in ähnlicher Weise in Bezug auf die Zeitwahrnehmung des Lesers: „Während die narrativen Textstücke und v.a. auch die Hinweise auf den chronologischen Rahmen der Erzählung das konkrete Damals festhalten, wird den Lesern v.a. in den längeren Redestücken die Zeit-Fiktion der unmittelbaren Anrede Jesu ermöglicht.“ (FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 276) 208 Vgl. HAYS, The Moral Vision of the New Testament, 1996, 156. 209 Vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 17. 210 Vgl. a.a.O., 13–15. Übernommen wird diese Unterteilung u.a. von MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 49–92.
188
IV. Methodik
bestimmt. 211 Im Falle des JohEvs handelt es sich im grammatikalischen Sinne (Bericht in dritter Person) ohnehin fast ausschließlich um einen heterodiegetischen Erzähler (abgesehen von Joh 1,14.16; 19,35; 20,30f.; 21,24f.), der aus der Retrospektive (abgesehen von einigen Fällen der „temporalen Stereoskopie“212 in den Abschiedsreden) auf das Geschehen blickt, sodass in den Einzelszenen die Stimme nicht jedes Mal neu bestimmt werden muss.213 Ich möchte den Grad an Unmittelbarkeit zwischen Erzählung und erzähltem Geschehen deshalb lediglich mit der Unterscheidung zwischen dramatischem und narrativem Modus bestimmen, welche sich innerhalb der einzelnen Szenen abwechseln, gegenseitig bedingen und aufeinander angewiesen sind. 214 Der Modus kann durch unterschiedliche narratologische Tricks in die eine oder andere Richtung gelenkt werden. Der dramatische (vergegenwärtigende) Modus215 wird hervorgerufen durch: 211 Bspw. würde eine Erzählinstanz, die besonders von dem berichteten Geschehen betroffen ist, das Geschehen mit großer Wahrscheinlichkeit in einem dramatischeren Modus erzählen als ein unbeteiligter Beobachter, der sich in großem zeitlichen, räumlichen, psychologischen und ideologischen Abstand zum Geschehen befindet (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 161). Ebenso würde eine Erzählinstanz, die ihren Adressaten besonders nahesteht oder diese aus anderen Gründen von ihrem Standpunkt zu überzeugen versucht, eher einen dramatischen Modus (u.U. gespickt mit erläuternden oder bewertenden Kommentaren) wählen. Zum engen Zusammenhang von Modus und Stimme insbes. im Rahmen der temporalen Deixis vgl. ferner CHIHAIA/FRITSCH, Zeit und Stimme, 2015, 372. 212 Das Phänomen der „temporalen Stereoskopie“ hat J. Frey in Bezug auf die Abschiedsreden und deren „Fiktion der unmittelbaren Anrede“ festgestellt (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 163f.276). Da es in hiesiger Studie aber v.a. um Interaktionen und nicht um die längerer Redeblöcke Jesu geht, kann das Abschieds-Phänomen in der Analyse vernachlässigt werden. 213 Zur Unterscheidung der Stimme in einen homo- und heterodiegetischen Erzähler und einen früheren, gleichzeitigen und späteren Zeitpunkt (Retrospektive) vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 72–87. Grundsätzlich gilt, dass der joh. Erzähler zwar bei rein grammatischer Bestimmung der Stimme fast durchweg als heterodiegetischer Erzähler aufgefasst werden muss und nur unter Einrechnung der nachträglichen Zuschreibung in Joh 21,24f. als homodiegetischer Erzähler (noch spezifischer als einer der Hauptpersonen, nämlich der geliebte Jünger) angesehen werden kann; dass er aber auch unabhängig von seiner Erzählposition ein grundsätzlich sehr enges Verhältnis zum erzählten Geschehen einnimmt, weil es sich um ein Geschehen handelt, das bleibende Bedeutung für sein Leben hat und dem er in gläubiger Beteiligung gegenüber steht. 214 Mehr zum Verhältnis von dramatischem und narrativem sowie einem dritten möglichen, nämlich besprechendem Modus, im Exkurs: Gespannte Haltung des Lesers. 215 S. Finnern spricht analog dazu auch vom „Realitätseffekt“, dessen Stärke „von einer geringen sprachlich-stilistischen Distanz zu den Figuren, der Innensicht, dem Fehlen von Erzählerkommentaren, einem zeitdeckenden Erzählen und der Anzahl der für die Handlung unwichtigen, realistischen Detailinformationen“ (FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 197) abhängt.
2. Methodische Umsetzung
189
Szenische (Zeit-)Gestaltung: Erzählzeit und erzählte Zeit kommen zur Deckung und die Szene wird sehr lebendig bzw. konkret und detailreich dargestellt (Einzelfall statt Regelfall).216 Direkte oder erlebte Rede; Gedankenzitat; innerer Monolog 217 Vordergrundtempora insbesondere Präsens Historicum Interne Fokalisierung: Der Erzähler berichtet über das Innenleben einer Figur, ihre Gefühle und Gedanken218 oder aus der Sicht einer Figur, die ihm als „Wahrnehmungszentrum“ dient (z.B. Jesus als „Fokalisator“219). Der narrative (retrospektive) Modus wird hervorgerufen durch: Hintergrundtempora insbesondere Imperfekt Temporale und lokale Hintergrund- bzw. Kontextbeschreibungen Erläuternde Erzählerkommentare Erwähnung eines sprachlichen Akts; Gesprächsbericht; indirekte Rede; Bewusstseinsbericht220 Nullfokalisierung: Der Erzähler weiß mehr als irgendeine Figur, er hat die Übersicht und berichtet aus externer, aber wissender Perspektive; oder externe Fokalisierung: Der Erzähler berichtet aus externer Perspektive ohne Wissen um Gefühle und Gedanken der Figuren. 221 Der Modus der Darstellung ist im Übrigen auch eng mit der Zeitwahrnehmung durch den Leser verbunden. Denn durch den Grad an Mittel- bzw. Unmittelbarkeit der Erzählung zum Geschehen wird auch der Grad der Übereinstimmung zwischen der Zeiterfahrung des Lesers und den tatsächlichen Zeitverläufen des Geschehens reguliert: Im dramatischen Modus, der in besonderer Nähe zum Geschehen steht, steht der Leser den tatsächlichen Zeitstrukturen des Geschehens näher als im narrativen Modus, in dem die Zeitangaben eher als Produkt einer nachträglichen, narrativen Modulation wahrgenommen werden. Die Erzählung von der Fernheilung wird bspw. von einem narrativen Modus dominiert. Die Ereignisse werden häufig gerafft wiedergegeben (die Krankheit 216
R. Harweg bezeichnet den Distanzgrad zwischen Narration und Geschehen als „altitudinal dimension“. Während die „longitudinal dimension“ der sog. „story-time“ die konsekutive Abfolge von den Ereignissen in der erzählten Zeit und die „latitudinal dimension“ die Bewegung zwischen Vordergrund- und Hintergrundinformationen bezeichnet, erlangt die erzählte Zeit im Rahmen der „altitudinal dimension“ unterschiedliche Grade an temporaler Abstraktion und Konkretion (vgl. HARWEG, Story-time and Fact-sequence-time, 2011, 160– 164); auf diese Unterscheidung ist bereits unter 2.2.3 Semantik: Zeitangaben, Anm. 55 hingewiesen worden. 217 Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 65. 218 Vgl. a.a.O., 67. 219 FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 173. 220 Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 65. 221 Vgl. a.a.O., 67.
190
IV. Methodik
des Sohnes in Joh 4,46; das Kommen des Königlichen nach Kana in Joh 4,47; die Begegnung des Königlichen mit seinen Knechten in Joh 4,51 in jeweils einem [Halb-]Vers). Nur ein Teil des Gespräches zwischen Jesus und dem Königlichen ist szenisch gestaltet (Joh 4,48–50), sowohl was die Erzähldauer angeht, die sich näherungsweise mit der erzählten Zeit deckt, als auch was die Tempuswahl (Präsens Historicum der verba dicendi) und den Modus der direkten Rede angeht. Die übrige Erzählsequenz ist von indirekter Rede (Joh 4,44.47.51f.) und Bewusstseinsberichten (Joh 4,45.50.53) durchdrungen. Explizite Informationen über die Gefühlslage der Protagonisten stellt die Erzählung ebenso wenig zur Verfügung wie besondere Details über die Szenerie, die Beschaffenheit des Ortes etc. Im Zentrum und Fokus der Leserwahrnehmung steht damit durch dramatische und lebhafte Inszenierung die Begegnung des Königlichen mit Jesus. Hier wird zum einen die Verzögerung durch Jesu abstrakte Reaktion, sowie die sofortige Befolgung Jesu Imperativs durch den Königlichen erlebbar. Zu diesem Zeitverhalten fühlt sich der Leser dann auch aufgefordert, Stellung zu beziehen. Geschlossen wird die Erzählsequenz durch einen Erzählerkommentar, der wiederum in Distanz zum Geschehen treten lässt, indem er das Ereignis in die Reihe der Wunderhandlungen Jesu einordnet (Joh 4,54). c) Applikationspotenzial des erzählten Geschehens Das Applikationspotenzial des erzählten Geschehens auf das Leben des Lesers bestimmt auch dessen Motivation zur Stellungnahme und kann wiederum durch mehrere Parameter beeinflusst werden. (1) Für das Applikationspotenzial des erzählten Geschehens ist ausschlaggebend, wie stark der Leser sich empathisch in die Figuren hineinversetzen kann. Das Empathievermögen hängt wiederum von der Darstellung der Figur (Lebendigkeit, Unmittelbarkeit, Einsicht in Gefühls- und Gedankenwelt etc.), von deren Komplexität und nicht zuletzt von den individuellen Skripts und Frames des Lesers ab, d.h. von den Anknüpfungs- und Vergleichspunkten der Figur zu eigenen Problemen und Herausforderungen. 222 Folglich bestimmt die Distanz der Erzählung bzw. des Lesers zur Figur das Empathiepotenzial, so wie umgekehrt das Empathiepotenzial (ausgelöst durch persönliche Vorlieben und Lebenswirklichkeit) die Distanz zwischen Leser und Figur bestimmt. (2) Ausgehend vom Empathiepotenzial kann der Leser den Figuren gegenüber schließlich Syn- oder Antipathie empfinden, was bereits eine (intuitive bzw. emotive, nicht notwendigerweise ethische) Bewertung einschließt.223 Mit der sympathetischen oder antipathetischen Haltung gegenüber einer Figur sind mitunter bestimmte Rezeptionsemotionen verbunden: Bei abgeschlossenen Situationen und Figurensympathie sind dies Freude/Erleichterung (im Falle eines 222 223
Vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 194. Vgl. a.a.O., 195–197.
2. Methodische Umsetzung
191
positiven Ausgangs) oder Mitleid/Enttäuschung (im Falle eines negativen Ausgangs), bei offenen Situationen Hoffnung und Furcht. In antipathetischer Haltung zur Figur können bei abgeschlossenem Ausgang Ärger (im Falle eines positiven Ausgangs) oder Schadenfreude (im Falle eines negativen Ausgangs) entstehen, bei offenem Ausgang Furcht oder Hoffnung. 224 Emotive Syn- und Antipathie können zu ethischen Figuren- oder Verhaltensbewertungen anregen bzw. sie intensivieren. (3) So wie der Leser sich aufgrund von Anknüpfungs- und Vergleichspunkten mal mehr, mal weniger in eine Figur hineinversetzen kann, so kann er sich auch mal mehr oder mal weniger in bestimmte Themen- und Problemstellungen oder Konfliktsituationen hineinversetzen. 225 Auch dieses thematische Applikationspotenzial beeinflusst sein Bedürfnis nach individueller ethischer Stellungnahme. Aufgrund der Subjektivität des individuellen Empathiepotenzials, des synund antipathetischen Potenzials, der unterschiedlichen Rezeptionsemotionen, sowie des thematischen Applikationspotenzials eines konkreten Lesers lassen sich diese Punkte nur schwer prognostizieren oder anhand von Textsignalen eruieren. Darum können höchstens grobe Linien nachgezogen werden: Handelt es sich um eine Situation, ein Problem, einen Sachverhalt, eine Atmosphäre, welche für jeden Leser zu jeder Zeit verstehbar ist und der individuellen Lebenswirklichkeit angehört (z.B. ein Hochzeitsfest; Freundschaft)? Werden Emotionen ausgedrückt, die für den potenziellen Leser nachvollziehbar sind und ggf. zu seinem Erfahrungsschatz gehören (z.B. Trauer der Schwestern über den Tod des Bruders in Joh 11,19)? Werden Charaktermerkmale dargestellt, die zu den anthropologischen Grundkonstanten gehören (z.B. die kompetitive Haltung der Jünger des Johannes gegenüber der Tauftätigkeit Jesu in Joh 3,26)? Exkurs: Gespannte Haltung des Lesers Weinrich hat im Rahmen seiner Tempustheorie von einer Sprechhaltung und davon abgeleiteten Rezeptionshaltung gesprochen.226 Mit den Primärtempora (Präsens, Perfekt, Futur, Futur II) werde eine besprechende Sprechhaltung, mit den Sekundärtempora (Imperfekt, Aorist, Plusquamperfekt) eine erzählende Haltung angezeigt. 227 Beim Leser oder Hörer wiederum evozieren, so Weinrich, erstere eine „Haltung der Gespanntheit“, letztere eine Haltung der „Entspanntheit“228. Jedoch korreliert Weinrich, wie Hoegen-Rohls in einem Aufsatz über die kommunikative Pragmatik der Johannesbriefe herausgestellt hat,
224
Vgl. a.a.O., 202. Vgl. a.a.O., 213. 226 Eine ausführlichen Darstellung der Tempustheorie Weinrichs unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform. 227 Vgl. WEINRICH, Tempus, 1964, 279. 228 A.a.O., 47. 225
192
IV. Methodik
„Wichtigkeit und Bedeutsamkeit nicht mit Gespanntheit, sondern mit Entspanntheit“229. Das führt dazu, dass sich Weinrichs Systematik in Anwendung auf das JohEv bisweilen widersprüchlich zur Leserintuition verhält. Der Leser nämlich kann auch in narrativen Passagen durch gewisse Bedeutsamkeitsimpulse in Spannung versetzt werden. Unter 2.3.2 Erwartung wurde von den unterschiedlichen Möglichkeiten der Spannungs- bzw. Erwartungsproduktion gesprochen, die stärker aus dem Text heraus (intratextuell), durch Ähnlichkeitsbezug zu anderen Texten (intertextuell) oder vorwiegend auf Basis des Erfahrungswissens des Lesers (extratextuell) entstehen können. Für Weinrich steuert derlei narrative Spannungserzeugung den Tempuseffekten entgegen, sodass sie „die primäre Entspanntheit sekundär aufhebt“230. Aus Sicht der Tempustheorie mag das sinnvoll erscheinen, aus Sicht der Narratologie bzw. Rezeptionsanalyse eher kontraintuitiv. Der Leser lässt sich in seiner Rezeptionshaltung eben nicht nur und nicht primär von Tempora leiten, sondern auch und besonders von deren Kontext und anderen wichtigen Parametern der Erzählung. Außerdem muss bei der Analyse der Leserhaltung auch auf die Gattung des Gesamttextes geachtet werden. Das JohEv ist im Ganzen ein erzählender Text. In ihm können dann aber narrative (telling), dramatische (showing) 231 und wohl auch besprechende Passagen alternieren. 232 Narratologisch gesehen ist demnach eher der Wechsel der Modi (nicht nur durch Tempora, sondern, wie oben skizziert, durch einige weitere Parameter ausgelöst), der einen Effekt auf die wechselnde Rezeptionshaltung des Lesers ausübt. Ricœur spricht in Bezug auf die Erzähltempora bzw. den narrativen Modus von einer „Neutralisierung der Vergangenheitsvergegenwärtigung“ 233. Dass im narrativen Modus ein höherer Distanzgrad zum erzählten Geschehen erwirkt wird und damit eine gewisse Neutralisierung des erzählten Geschehens einhergeht, wurde oben bereits festgestellt. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass 229
HOEGEN-ROHLS, Wovon erzählen die Johannesbriefe?, 2016, 77. WEINRICH, Tempus, 62001, 52. 231 Zur Unterscheidung der beiden Mimesisformen showing und telling vgl. GENETTE, Die Erzählung, 32010, 104; FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 168; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 92012, 50. Mehr dazu ferner im theoretischen Teil III unter 4.3 Gegenstand, Skopus und Ziel der Arbeit, Anm. 289. 232 Ein besprechender Modus kann v.a. in den längeren jesuanischen Monologen entdeckt werden. Hier werden weder Ereignisse dramatisch dargestellt, noch narrative Hintergrundinformationen zu diesen Ereignissen geliefert, sondern primär bestimmte theologische Probleme und Themen besprochen. Innerhalb der besprechenden Passagen stößt man dann auch vermehrt auf Weinrichs besprechende Tempora (Präsens, Perfekt, Futur, Futur II). Da in dieser Studie aber die konkreten Interaktionen im Fokus der Analyse stehen, ist der besprechende Modus höchsten sekundär relevant, zum einen i.S. einer Kontextdetermination der erzählten Interaktionen und zum anderen i.S. enthaltener Zusatzargumente auf kognitiver Ebene (wenn bspw. auf die Heilung des Gelähmten am Sabbat in Joh 5,1–18 ein längerer Monolog Jesu über seine göttliche Vollmacht in Joh 5,19–47 folgt). 233 RICŒUR, Zeit und Erzählung II, 1989, 126. 230
2. Methodische Umsetzung
193
nur der dramatische Modus einen Effekt auf die ethischen Reflexionsprozesse des Lesers ausüben kann. Der dramatische Modus trägt sicherlich zu Intensivierung des Leseerlebnisses bei und erwirkt damit beim Leser eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das jeweils erzählte Geschehen. Der dramatische und der narrative Modus stehen, mit Koschorke gesprochen, aber insgesamt in einem produktiven „Arbeitsverhältnis“, denn „die Bildszene [ist] auf eine narrative Hintergrundstruktur angewiesen, um Kontinuität und diskursive Bezüge über größere Spannen hinweg herzustellen.“ 234 Der narrative Modus wiederum bedarf des dramatischen Modus, „um in ausgewählten Momenten durch Anschaulichkeit einprägsam zu werden“ 235. Der narrative Modus trägt damit (gemeinsam mit dem besprechenden Modus) zur Varianz und Breite der Argumentation und der ethischen Abwägung bei, während der dramatische Modus die Situativität des einzelnen ethischen Entscheidungsprozesses berücksichtigt und den Leser insbesondere aufgrund seines Konkretionsgrades in den Bann zieht. Beides: Nähe und Distanz sind wichtige Haltungen des Lesers im ethischen Reflexionsprozess. Somit kann ein Erzähltext den Leser nur mittels eines Wechsels zwischen den zwei bzw. drei Modi einerseits in eine Lage versetzen (dramatischer Modus) und ihn andererseits in kritischer Distanz (narrativer und besprechender Modus) auf diese Lage blicken lassen. Die doppelte Reflexionshaltung der Nähe und Distanz kann schließlich zumindest aus Sicht des hiesigen Fragekontextes ingesamt als eine gespannte Haltung bezeichnet werden, insofern (ethische) Reflexionen sich immer auf ein besonderes Spannungs- oder Konfliktfeld beziehen. 2.3.4 Auswertung: Temporalethische Normierungen Die Einsichten aus der Analyse der Erwartungserzeugung und der Analyse der Bewertungs- und Intensivierungstendenzen werden schließlich im Hinblick auf die temporal-ethische Orientierung des Lesers zugespitzt und resümiert. Welche Zeithorizonte des Lesers werden durch die Erzählung bestätigt? Mit welchen potenziellen (Zeit-)Normen des Lesers wird im Rahmen der Erzählung gebrochen? Welche Zeitkonflikte erlebt der Leser besonders intensiv und wodurch? Wann ergeben sich Konflikte zwischen den potenziellen (Zeit-)Normen des Lesers und denen der Erzählung oder der Figuren? Wann werden temporale Erwartungen enttäuscht, und was bedeutet das für die Bewertung des Zeitverhaltens durch den Leser? Auf welchen Handlungen ruht der Fokus, der die Leser zur ethischen Reflexion anregt? Wie verändert der Leser möglicherweise seinen Blick auf bestimmte Zeitnormen? Welche Figuren und deren Zeitverhalten erweisen sich ihm als nachahmenswert?
234 235
KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 72. A.a.O., 71.
194
IV. Methodik
2.3.5 Analyseschema
Zeitwahrnehmung
Bewertung
Erwartungen: - Extratextuell: Stabile Konventionen; natürliche Abläufe; Alltagspsychologie - Intertextuell: Vergleich mit ähnlichen Erzählungen/ Motiven - Intratextuell: Ankündigung auf Ebene der Narration oder der Figuren
- Bewertungslenkung durch: Erzählzeit Metaphorik/ Symbolik Figurenautorität Handlungsmotivation und -folgen Erzähler- oder Figurenurteil narrative Verknüpfungen - Intensivierung durch: Leseransprache Unmittelbarkeit Applikationspotential
Temporalethische Normierung
Abb. 12: Analyseschema Zeitwahrnehmung und Bewertung
2.4 Fazit der Einzelanalyse Am Ende jeder Analyse einer Interaktionssequenz sollen die Zwischenergebnisse der drei Analyseschritte zusammengetragen und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Was passiert auf Geschehensebene? Mit welchen Mitteln wird das Geschehen dargestellt? Wie wirkt das dargestellte Geschehen auf Zeitwahrnehmung und Zeitbewertung des Lesers? Die Ergebnisse der Einzelanalysen werden im letzten Kapitel dieser Studie schließlich dazu dienen, geschehensübergreifende Zeitnormen und Konfliktmuster nachzuzeichnen, diese christologisch auszuwerten und entlang der Orientierungsleistung der narrativen Darstellungsmittel zu einer neuen (joh.) Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik, sowie der drei Zeitmodi innerhalb der joh. Ethik zu gelangen. Darüber hinaus werden die Frage nach der Nachahmbarkeit der vom JohEv protegierten zeitethischen Verhältnisbestimmungen gestellt, sowie Impulse für die allgemeine (Zeit-)Ethiktheorie einerseits und für eine theologische (Zeit-)Ethik andererseits extrahiert.
3. Begriffsbestimmungen
195
3. Begriffsbestimmungen 3. Begriffsbestimmungen
Eine konsistente Analyse bedarf eines klaren Begriffsapparates. Um die einzelnen Ebenen und Elemente einer Erzählung, aber auch einer Ethik unterscheiden und konsequent gleich zu konnotieren, soll an dieser Stelle ein terminologischer Überblick treten. Auf übergeordneter Ebene Erzählung: Ereignisse oder Handlungen in ihrer konkreten Darstellungsweise. (erzähltes) Geschehen: Ereignisse oder Handlungen unter Absehung von ihrer narrativen Konfiguration bzw. Darstellungsweise (das Was der Erzählung), i.e. die Ereignisbausteine, die von einer Narration in eine bedeutsame Abfolge gebracht werden. Narration: Darstellungsweise oder Darstellungsakt des Geschehens (das Wie der Erzählung). (Intra-)Diegetisch: Auf der Ebene des erzählten Geschehens befindlich. Extradiegetisch: Auf der Ebene der Narration befindlich. Extratextuell: Auf der Ebene außerhalb das Textes (Leserwirklichkeit) befindlich. Intertextuell: Auf der Ebene zwischen Texten (Textvergleich) befindlich. Intratextuell: Auf der Ebene innerhalb eines Textes, z.B. des JohEvs befindlich. Auf Ebene des (erzählten) Geschehens Ereignis: Überbegriff für intentionale menschliche Handlung, nicht-intentionale menschliche Bewegung oder nicht-menschliche Bewegung/Vorfall/Vorgang. Handlung: Intentionale, d.h. auf etwas gerichtete, menschliche Aktion oder Reaktion (z.B. zuhören, zu jemandem sprechen, jemandem applaudieren) = Bestandteil der Interaktion. Interaktion: Aufeinandergerichtetes Handeln von mindestens zwei Akteuren (Interaktionspartnern); untergliedert in Aktion (welche die Interaktion eröffnet und ein Handlungsziel ausdrückt) und Reaktion (welche auf die Forderung/Bitte/Wunsch antwortet). Interaktionssequenz: Mehrere thematisch, personell, temporal, lokal, kontextuell zusammenhängende Interaktionen.
196
IV. Methodik
Interaktionsziel (übergreifend): Ein die gesamte Interaktionssequenz, also alle Einzelinteraktionen übergreifendes Interaktionsziel. Interaktionszweck (konkret): Konkreter Zweck einer Aktion. Person: Akteur/Reakteur innerhalb einer Interaktion. Auf Ebene der Narration Figuren: Dargestellte Person. Szene: Dargestellte Interaktionssequenz. Plot: Übergeordneter Handlungszusammenhang. Deiktisch: An der Aussageposition (Stimme) ausgerichtet. Anaphorisch: An der Textposition (Erzählfluss) ausgerichtet. Auf Ebene der ethischen Analyse Ethik: Reflexive Durchdringung von Lebensweisen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung.236 Moral ( ؙnorm-/wert-/traditionsorientiertes) Verhalten.237 Verhalten: Ein wiederkehrendes Muster, das sich in den Einzelhandlungen eines ethischen Subjekts erkennen lässt, das sowohl Handeln als auch Erleiden umschließt und stets an bestimmten Normen ausgerichtet ist. Ethos (in Anschluss an Zimmermann): Das auf eine Gruppe bezogene und in einer Gruppe einstudierte Verhalten, dass sich von gruppeninternen Traditionen und Gewohnheiten herleitet. 238
236
Mehr zur hiesigen Ethikdefinition im theoretischen Teil III unter 2.1 Ethikdefinition. Moral und Ethik werden nicht wie gewöhnlich i.S. unterschiedlicher Reflexionsstufen voneinander unterschieden. Der Moralbegriff bereitet insofern Schwierigkeiten, als er (1) häufig negativ konnotiert ist (vgl. insbes. F. Nietzsches Kritik an einer überkommenen, christlichen Moral in NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse, 2010) und (2) in seiner konkreten Verwendung (z.B. Moralvorstellung, moralische Entscheidung, moralisches Urteil, Moralkodex) immer bereits eine Art der Reflexion vorauszusetzen scheint, die sonst gemeinhin der Ethik vorbehalten wird. Die Übergänge sind also fließend. Deshalb wird hier davon ausgegangen, dass grundsätzlich jedes Verhalten moralisch ist, insofern es von bestimmten Traditionen, Werten, Maximen (Normen i.w.S.) angeleitet wird (ob in reflektierter oder intuitiver Weise), welche die konkrete Handlungssituation überschreiten. In Konsequenz daraus soll nicht von Moral, sondern schlicht von Verhalten gesprochen werden. Ein von jeder Norm i.w.S. losgelöstes und damit amoralisches Verhalten gibt es m.E. nicht. 238 Vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 7. 237
3. Begriffsbestimmungen
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Lebensweise: Ein die biographische Identität eines ethischen Subjekts überspannendes Handeln und Erleiden, sowie eine grundsätzliche Positionierung gegenüber dem Leben; dient als Integral für Einzelhandlungen, Interaktionen und Verhalten und wird stets als intentionale (aber nicht notwendige bewusste) Haltung wahrgenommen, die sich durch ihr Gerichtet-Sein auf der/die/das Andere auszeichnet und damit im Kern relational ist. Norm (in Anschluss an Zimmermann): Hyperonym für Prinzip, Wert, Maxime, Regel, Gut, Tradition; gilt im weitesten Sinne als Orientierungs- und „Begründungsinstanz“, die in ganz unterschiedlichen (sowohl sprachlichen als auch außersprachlichen) Formen auftreten kann: „Bezogen auf ethische Texte kann eine Norm im weitesten Sinn jedes Textelement sein, das einen begründen Charakter für einen ethischen Satz besitzt.“ 239 Zeitnorm: Eine Zeiterfahrung, ein Zeitkonzept, ein Zeitregime, ein Rhythmus der/die zur Orientierung von Handlungen dient und sich gegenüber anderen Zeitkonzepten als in besonderer Weise richtungsweisend etabliert; kann sowohl das Was als auch das Wann einer Handlung beeinflussen.
239
A.a.O., 57.
Teil V
Textanalyse 1. Joh 2,1–11[12]: Die Stunde des guten Weines 1. Joh 2,1–11[12]
1.1 Eigene Übersetzung 1 Καὶ τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ γάμος ἐγένετο ἐν Κανὰ τῆς Γαλιλαίας, καὶ ἦν ἡ μήτηρ τοῦ Ἰησοῦ ἐκεῖ· 2 ἐκλήθη δὲ καὶ ὁ Ἰησοῦς καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ εἰς τὸν γάμον. 3 καὶ ὑστερήσαντος οἴνου λέγει ἡ μήτηρ τοῦ Ἰησοῦ πρὸς αὐτόν· οἶνον οὐκ ἔχουσιν·
4 [καὶ] λέγει αὐτῇ ὁ Ἰησοῦς· τί ἐμοὶ καὶ σοί, γύναι; οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου.
5
λέγει ἡ μήτηρ αὐτοῦ τοῖς διακόνοις· ὅ τι ἂν λέγῃ ὑμῖν ποιήσατε. 6 ἦσαν δὲ ἐκεῖ λίθιναι ὑδρίαι ἓξ κατὰ τὸν καθαρισμὸν τῶν Ἰουδαίων κείμεναι, χωροῦσαι ἀνὰ μετρητὰς δύο ἢ τρεῖς. 7 λέγει αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· γεμίσατε τὰς ὑδρίας ὕδατος. καὶ ἐγέμισαν αὐτὰς ἕως ἄνω.
1
Und am dritten Tag geschah ein Hochzeitsfest in Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war dort. 2 Eingeladen waren auch Jesus und seine Jünger zum Hochzeitsfest. 3 Und als Mangel an Wein war [entstand] 1, spricht die Mutter Jesu zu ihm: ‚Sie haben keinen Wein [mehr]2.‘ 4 Jesus sagt zu ihr: ‚Was hast du mit mir zu schaffen, Frau? 3 Meine Stunde ist noch nicht gekommen.‘ 5 Sagt seine Mutter zu den Tischdienern: ‚Was immer er euch sagt, das tut.‘ 6 Es standen aber dort, gemäß der [zur] Reinigung der Juden, sechs steinerne Wasserkrüge, die zwei bis drei Maße fassten. 7 Spricht Jesus zu ihnen: ‚Füllt die Wasserkrüge mit Wasser.‘ Und sie füllten sie bis oben an.
1 Bei ingressiver Übersetzung von ὑστερέω. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezieht sich das Verb auf eine zeitliche oder räumliche Nachordnung: ὕστερος, τέρα, ον | nach + ῥέω | fließen. Erst im übertragenden Sinne wird es als quantitative Mangelanzeige (weniger als) verstanden. 2 Die zeitliche Näherbestimmung i.S. eines „nicht mehr“ ist zwar nicht lexikalisch ablesbar (z.B. an einem οὐκέτι), lässt sich aber aus der ingressiven Mangelanzeige im vorherigen Vers und dem Kontext schließen. 3 In Mk 5,7 und Lk 8,28 taucht diese Redewendung im Zuge der Dämonenaustreibung auf. Vgl. ferner auch Ri 11,12 LXX; 1 Kön 17,18 LXX; 2 Kön 3,13 LXX; 2 Chr 35,21 LXX; 1 Esr 1,24LXX (in der LXX als Übersetzung von hebr. ָל ִ )מ. ֖ ָ ַה־לּ֥י ו
1. Joh 2,1–11[12] 8
καὶ λέγει αὐτοῖς· ἀντλήσατε νῦν καὶ φέρετε τῷ ἀρχιτρικλίνῳ· οἱ δὲ ἤνεγκαν 9 ὡς δὲ ἐγεύσατο ὁ ἀρχιτρίκλινος τὸ ὕδωρ οἶνον γεγενημένον καὶ οὐκ ᾔδει πόθεν ἐστίν, οἱ δὲ διάκονοι ᾔδεισαν οἱ ἠντληκότες τὸ ὕδωρ, φωνεῖ τὸν νυμφίον ὁ ἀρχιτρίκλινος 10 καὶ λέγει αὐτῷ· πᾶς ἄνθρωπος πρῶτον τὸν καλὸν οἶνον τίθησιν καὶ ὅταν μεθυσθῶσιν τὸν ἐλάσσω· σὺ τετήρηκας τὸν καλὸν οἶνον ἕως ἄρτι. 11
Ταύτην ἐποίησεν ἀρχὴν τῶν σημείων ὁ Ἰησοῦς ἐν Κανὰ τῆς Γαλιλαίας καὶ ἐφανέρωσεν τὴν δόξαν αὐτοῦ, καὶ ἐπίστευσαν εἰς αὐτὸν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ. 12 Μετὰ τοῦτο κατέβη εἰς Καφαρναοὺμ αὐτὸς καὶ ἡ μήτηρ αὐτοῦ καὶ οἱ ἀδελφοὶ [αὐτοῦ] καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ καὶ ἐκεῖ ἔμειναν οὐ πολλὰς ἡμέρας.
199
8
Und er spricht zu ihnen: ‚Schöpft nun und bringt [es] dem Festordner4.‘ Sie aber brachten es ihm. 9 Als der Festordner das Wasser, das zu Wein geworden war, schmeckte und nicht gesehen hatte,5 woher es ist ‒ die Tischdiener aber hatten [es] gesehen, die das Wasser geschöpft hatten ‒, ruft der Festordner den Bräutigam. 10 Und er sagt zu ihm: ‚Jeder Mensch gibt zuerst den guten Wein und dann, wenn sie betrunken sind, den schlechteren. Du aber hast den guten Wein bis jetzt [zurück]behalten.‘ 11 Dieses erste der Zeichen tat Jesus in Kana in Galiläa und er offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn. 12 Danach ging er hinab nach Kafarnaum, er und seine Mutter und seine Brüder und seine Jünger und sie blieben dort nicht viele Tage.
1.2 Abgrenzung, Figurenkonstellation und Kontext Für die erste Textanalyse wird Joh 2,1–11[12] als eine zusammenhängende Interaktionssequenz isoliert. Und am dritten Tag geschah eine Hochzeit in Kana in Galiläa, wird die Erzählung eingeleitet. Die Mutter Jesu, Jesus selbst und die Jünger sind dort. Während die Zeitangabe (am dritten Tage) nicht notwendigerweise als Szenenschnitt gedeutet werden muss, heben das neue Setting des Hochzeitsfestes, die präzisierende Ortsangabe Kana (gegenüber der bloßen Angabe der Region Galiläa in Joh 1,43) und das erstmalige Auftreten der Mutter Jesu das Geschehen klar von der vorhergehenden Jüngerwerbung (Joh 1,35– 51) ab. Dort waren erstmals einige der Jünger, Andreas, Simon Petrus, Philippus und Nathanael namentlich aufgetreten und haben die Bedeutung und Autorität der Person Jesu mit unterschiedlichen Ehrentitel zum Ausdruck gebracht (ῥαββί in V. 37; ὁ Μεσσίας/χριστός in V. 41; ὃν ἔγραψεν Μωϋσῆς ἐν τῷ νόμῳ καὶ οἱ προφῆται in V. 45; υἱὸς τοῦ θεοῦ und βασιλεὺς τοῦ Ἰσραήλ in V. 49).
4 Übersetzung in Orientierung an BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 61988, 226, wo ἀρχιτρίκλινος als Festordner festgelegt wird. 5 Wörtliche Übersetzung des Plusquamperfektes von εἴδω | ich sehe.
200
V. Textanalyse
In V. 12, im Anschluss an die Interaktionssequenz in Kana reist die in V. 1 eingeführte Personengruppe (Jesus, Jünger, Mutter) mit Jesu Brüdern nach Kafarnaum, wo sie nicht viele Tage bleiben. Diese Information bleibt bloßes itinerarisches Detail, das weder als Abschluss der Kanaerzählung noch als Beginn der anschließenden Reise nach Jerusalem in die Erzählfolge integriert werden kann. Hartwig Thyen behandelt diesen Vers deshalb „als eine Szene eigenen Rechts.“6 Die vage Zeitangabe (οὐ πολλὰς ἡμέρας) steht im Gegensatz zur bedeutungsvollen Drei-Tages-Angabe zu Beginn der Kanaerzählung. Von den neu eingeführten Brüdern ist nur an einer weiteren Stelle im JohEv die Rede, erneut in einem itinerarischen Zusammenhang (Joh 7,1–10): Sie versuchen, Jesus zu einer Reise nach Jerusalem zu überreden. Auch ihnen wird, wie der Mutter, von Jesus die Unzeitigkeit ihrer Anfrage vorgehalten (V. 6.8). Der Erzählerkommentar informiert auch über den fehlenden Glauben der Brüder (V. 5). Joel Nolette und Francois Tolmie haben das Nebeneinander von οἱ ἀδελφοὶ αὐτοῦ und οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ folgendermaßen ausdifferenziert: In Joh 2,11f. stehen die Jünger zu Jesus in gläubiger Nachfolge, während die Brüder bloße Begleiter auf dem Weg nach Kafarnaum sind. In Joh 7,2–5 versuchen die Brüder, Jesus zu einer gefährlichen Reise nach Jerusalem zu überreden, während die Jünger Jesus in Joh 11,8 von einer solchen Gefahr in Judäa abhalten wollen.7 In Joh 19,25–27 wird durch die ‚Adoption‘ schließlich der geliebte Jünger zum Bruder Jesu, insofern er Jesu Mutter zu seinem Eigenen nimmt (ἔλαβεν ὁ μαθητὴς αὐτὴν εἰς τὰ ἴδια). Nach der Kreuzigung und Auferstehung, in Joh 20,17f. und 21,23, geht die Bezeichnung ἀδελφοὶ μου/οἱ ἀδελφοὶ schließlich vollkommen auf die Gruppe der Jünger über. Nach dem selbstständigen Itinerar in V. 12 rückt das erste Passafest des joh. Erzählverlaufs nahe, und es wird ein Ortswechsel nach Jerusalem, sowie ein Figurenwechsel zu den Händlern im Tempel vollzogen. Eine neue Interaktionssequenz (Joh 2,13–22) beginnt. Die Mutter Jesu betritt bei der Hochzeit zu Kana zum ersten Mal die erzählerische Bühne. Ihre Anwesenheit auf dem Hochzeitsfest wird noch vor der Einladung Jesu und der Jünger erwähnt. An keiner Stelle im JohEv wird sie beim Namen genannt, sondern stets als μήτηρ oder γύναι erwähnt. Außer auf der Hochzeit zu Kana erscheint sie nur noch ein weiteres Mal, nämlich als Zeugin unter dem Kreuz in Joh 19,25–27, wo der geliebte Jünger ihr zum Sohn gegeben wird bzw. er sie zum Eigenen nimmt. Eine solche Innigkeit wird in der Beziehung zu ihrem ‚leiblichen‘ Sohn nicht beschrieben. Er spricht sie ausschließlich mit γύναι an (Joh 2,4; 19,26) , eine Bezeichnung, die er auch im Kontakt mit fremden und nicht verwandten Frauen gebraucht (bspw. mit der Samaritanerin in Joh 4,21; mit der Ehebrecherin in Joh 8,10; mit Maria Magdalena in Joh 20,15). 6 7
THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 162. Vgl. NOLETTE/TOLMIE, The Brothers of Jesus, 2013, 239.
201
1. Joh 2,1–11[12]
Während die Jünger über die Handlungssequenz hinweg passiv bleiben, beginnt die Szene mit der Interaktion zwischen der Mutter und Jesus. Sie wird von der Mutter sogar aktiv eröffnet. Erst am Ende der Interaktionssequenz werden die Jünger erneut in einem Erzählerkommentar erwähnt (V. 11). Die Tischdiener (διάκονοι) treten als Interaktionspartner nur bei der Hochzeit zu Kana auf. In einem Nachfolgelogion Jesu in Joh 12,26 ist der Tischdiener noch einmal als metaphorische Größe präsent. Es steht im Kontext der Ankunft der Stunde der Verherrlichung (Joh 12,23). Nachfolge wird hier als Dienst an Jesus beschrieben. Wo Jesus ist, dort wird auch der Diener sein und er wird Ehre von Jesu Vater empfangen. Zur Figurenkonstellation auf der Hochzeit gehört ferner der ἀρχιτρίκλινος8 mit aktiver Rolle. Er taucht nur an dieser Stelle im Evangelium auf und macht auf die konventionellen Pflichten eines νυμφίος aufmerksam. Der Bräutigam selbst tritt nicht auf, er wird lediglich erwähnt und bleibt inaktiv und stumm, was für den Kontext einer Hochzeit, in dem der Bräutigam eigentlich eine zentrale Rolle spielt, ungewöhnlich erscheint. Während die Mutter Jesu sowie auch die Tischdiener als klares personales Gegenüber zur Person Jesu auftreten, ist der Bräutigam so blass, dass seine Rolle (sicherlich auch unter Berücksichtigung von Joh 3,29) nahezu in der Rolle Jesu auf dem Fest aufgeht, mitunter auch dadurch, dass der Festordner dem Bräutigam die Bereitstellung des guten Weins kreditiert (V. 9f.: σὺ τετήρηκας τὸν καλὸν οἶνον ἕως ἄρτι | du aber hast den guten Wein bis jetzt [zurück]behalten), welche Aufgabe tatsächlich aber Jesus übernimmt.9 1.3 Zeitverhalten 1.3.1 Interaktionsanalyse Mutter und Jesus Mutter und Tischdiener Jesus und Tischdiener Festordner und Bräutigam Jesus und Jünger
2,3f. 2,5 2,7f. 2,9f. 2,11
Mutter und Jesus (Joh 2,3f.) Die Interaktion wird, wie bereits erwähnt, von der Mutter eröffnet. Sie adressiert Jesus weder mit Frage, Befehl oder Bitte, sondern mit einer bloßen Feststellung, nämlich, dass sie (dritte Person Plural) keinen Wein haben (οἶνον οὐκ ἔχουσιν). Während die grammatische Form dieses Satzes indikativisch ist, d.h.
8 Ein ἀρχιτρίκλινος ist nach BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 61988, 226, „d. Sklave, der f. d. Ordnung b. Mahl verantwortlich ist“. 9 Vgl. KLINK, The Bridegroom at Cana, 2013, 235; ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 209.
202
V. Textanalyse
einen Zustand beschreibt, steckt im Modus des Aussageaktes etwas imperativisches, nämlich die Aufforderung an Jesus als ihr Gegenüber, in die Situation einzugreifen. Die Absicht der Sprechhandlung ist im Gegensatz zu ihrer Form auffordernd, um es mit den Begriffen der Sprechakttheorie zu formulieren: die Illokution des Sprechaktes ist, abweichend von seiner indikativischen Proposition, direktiv. 10 Der Interaktionszweck der Mutter, das helfende Eingreifen Jesu in die missliche Lage auf dem Hochzeitsfest, wird von ihr also nur indirekt artikuliert. Dennoch wird der Aufforderungscharakter ihrer Rede offensichtlich von Jesus mitgehört. Er reagiert zeitlich unmittelbar,11 inhaltlich aber zurückweisend auf die Anfrage: τί ἐμοὶ καὶ σοί, γύναι; οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου | Was hast du mit mir zu schaffen, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Damit ist der Appellcharakter der mütterlichen Aussage bestätigt, und zugleich sieht man einen Konflikt zwischen Jesus und der Mutter aufkommen, der offensichtlich wesentlich mit dem Zeitpunkt der Anfrage zusammenhängt. 12 Jesus stimmt dem von der Mutter festgestellten gegenwärtigen Handlungsbedarf zumindest in seiner ersten sprachlichen Gegenreaktion nicht zu bzw. verneint seine Zuständigkeit für das Problem. Jesu Mutter ist mit ihrer Bitte an den Festtagskonventionen orientiert, die das Ausschenken von Wein jederzeit und über den gesamten Verlauf einer Hochzeit hinweg erwarten. 13 Der Mangel an Wein noch vor Ablauf des Festes bedeutet für die Gastgeber einen gravierenden Ehrverlust 14 und bewegt sie zum Handeln. Jesus hingegen führt ihr widersprechend ἡ ὥρα μου, seine zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ausstehende
10
Zu den unterschiedlichen illokutionären Akten vgl. SEARLE, A Taxonomy of Illocutionary Acts, 1981, 21–27. 11 So legt es jedenfalls die direkte chronologische Anbindung des verbum dicendi in Joh 2,4 auf die Anfrage in Joh 2,3 nahe. 12 Dass die Wendung τί ἐμοὶ καὶ σοί (Joh 2,4) auf eine Konflikt- bzw. zumindest eine Frontstellung hinweist, können insbes. deren atl. Belege zeigen: Ri 11,12; 1 Kön 17,18; 2 Kön 3,13; 1 Chr 35,21; 1 Esr 1.24. In Mk 5,7 und Lk 8,28 taucht die Redewendung im Zuge der Dämonenaustreibung auf; vgl. dazu auch MAYNARD, Ti Emoi Kai Σoi, 1985, 584. 13 Näheres zu den jüdischen Hochzeitsfestkonventionen bei BILLERBECK/STRACK, Band I: Das Evangelium nach Matthäus, 1922, 9–518: Eine Hochzeit dauerte bei einer Jungfrau sieben Tage, bei einer Witwe drei (vgl. a.a.O., 506). „Wein und Öl ließ man in Röhren größeren Gefäßen entströmen, dem Brautpaar damit einen Huldigungsgruß entbietend.“ (a.a.O., 505) „Wein gehörte zu jedem Freudenfest.“ ( DIES., Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, 1924, 2) R. Zimmermann hat ferner darauf aufmerksam gemacht, dass nach hebr. Sprachgebrauch das Hochzeitsfest ( שׁתֶּ ה ְ מvgl. Gen 29,22; Ri 14,10–17) dem Wortsinn nach das Trinken bedeutet und die Weinverköstigung somit wichtiger Teil des Hochzeitszeremoniells war (vgl. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 208); ferner BILLERBECK/STRACK, Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, 1924, 272. 14 Vgl. Vgl. KLINK, The Bridegroom at Cana, 2013, 234; MALINA/ROHRBAUGH, SocialScience Commentary on the Gospel of John, 1998, 67.
1. Joh 2,1–11[12]
203
Stunde, ins Feld. Die Zeitnorm der Mutter ist, wenn man so will, eher deontologisch strukturiert, die Zeitnorm Jesu teleologisch. Mutter und Tischdiener (Joh 2,5) Trotz der ablehnenden Reaktion ihres Sohnes fordert die Mutter die Tischdiener dazu auf zu tun, was immer er sagt (ὅ τι ἂν λέγῃ ὑμῖν ποιήσατε). Sie formuliert ihre Aufforderung in einem direkten und unmissverständlichen Imperativ. Die gehorsame Reaktion der Tischdiener auf den Auftrag der Mutter wird erst im Rahmen ihrer Interaktion mit Jesus deutlich. Die Mutter Jesu übernimmt in diesem Kontext in jedem Falle eine besonders aktive Rolle. Sie erkennt den Handlungsbedarf, stellt von sich aus eine Anfrage an Jesus und instruiert die Tischdiener trotz Zurückweisung. In Joh 19,25–27 nimmt sie im Kontrast dazu eine vollkommen passive Rolle ein. Hier ist es Jesus, der eine Verbindung zwischen ihr und dem geliebten Jünger herstellt. Jesus und Tischdiener (Joh 2,7f.) Trotz der anfänglichen Zurückweisung kommt Jesus der impliziten Bitte seiner Mutter mit Verzögerung nach. Er fordert die Tischdiener mit einem direkten Imperativ zum Füllen der Krüge auf. Sie reagieren zeitlich und inhaltlich unmittelbar. Ebenso direkt ist die darauf folgende Interaktion: Jesus fordert sie im direkten Imperativ auf, zu schöpfen und dem Festordner zu bringen, sie reagieren entsprechend. 15 Mit der Befolgung der Direktiva Jesu reagieren die Tischdiener zugleich positiv auf die zuvor ergangene Anweisung der Mutter. Die Zeitorientierung ist bei beiden Interaktionspartnern schwer einsehbar. Die Tischdiener unterliegen wohl der bloßen Befehlsgewalt und sind somit an einer intersubjektiven Zeit von verbindlichen Absprachen ausgerichtet. An ihrem Verhalten wird auch die enge Verbindung von Zeit und Macht offenkundig: Wer in der Hierarchie unten steht, hat sofort zu folgen.16 Es ist jedoch unklar, weshalb sie Hochzeitsgästen (Mutter und Sohn) Folge leisten. Ebenso rätselhaft bleibt, warum Jesus nun doch der Bitte nachkommt. Ist seine Stunde mittlerweile gekommen? Beobachten wir das erzählte Geschehen über diese Interaktionssequenz hinaus, ist seine Stunde erst gekommen, als er sich kurz vor dem Passafest in Jerusalem aufhält (Joh 12,23). 17 Vielleicht ist es auch 15
Die zeitliche Unmittelbarkeit wird an der chronologischen Unmittelbarkeit abgelesen: Innerhalb eines einzigen Verses folgt jeweils der ausführende Indikativ auf den Imperativ (γεμίσατε καὶ ἐγέμισαν in Joh 2,7; φέρετε· οἱ δὲ ἤνεγκαν in Joh 2,8). 16 Einen Verstoß gegen die hierarchische Verteilung der Macht über die Zeit leisten sich die Knechte der Hohepriester und Pharisäer, die in Joh 7,32 damit beauftragt werden, Jesus zu ergreifen, aufgrund der Einmaligkeit Jesu Rede aber von ihrem unmittelbaren Gehorsam absehen (Joh 7,45f.). 17 Nach allem, was wir über das erzählte Geschehen wissen, handelt es sich in Joh 12 nicht einmal um das Passafest des gleichen Jahres, welches sich vielmehr bereits kurz nach der Hochzeit in Joh 2,23 abspielt. Zwischen diesem Zeitpunkt des erzählten Geschehens und Jesu Einzug in Jerusalem (Joh 12,12–19), nach welchem Jesus erstmals die Ankunft der
204
V. Textanalyse
nicht nur diese eine Stunde (der Verherrlichung des Menschensohns), die Jesu Handeln orientiert, sondern mit „seiner Stunde“ ist die jeweils günstige Gelegenheit gemeint. Doch auch dann bleibt die Frage virulent: Welches Zeitsystem bestimmt die jeweils günstige Gelegenheit in Jesu Handeln? Oder richtet er sich jetzt doch nach den zeitlichen Vorgaben der Festkonventionen? Vertraut er der Zeitorientierung der Mutter oder möchte er ihr schlicht entgegenkommen? Doch wozu dann die anfängliche Verzögerung? Festordner und Bräutigam (Joh 2,9f.) Der Festordner, dem die Tischdiener den geschöpften Wein bringen, zeigt sich erstaunt, nicht etwa aufgrund des Verwandlungswunders, sondern wegen eines zeitlichen Konventionsbruches. Er ist schließlich für die Ordnung beim Mahl zuständig. Nur Jesus selbst und die Tischdiener, so wird noch einmal eigens in V. 9 betont, wissen, woher der Wein kommt. Von einer Reaktion der Tischdiener auf die Verwandlung erfahren wir allerdings nichts. Der Festordner kommt zu dem Schluss, dass der Wein vom Bräutigam zur Verfügung gestellt worden sein muss, und ruft ihn zu sich. Zwar wird dessen Kommen nicht erzählt, der Festordner spricht ihn aber direkt an, und zwar auf sein ungewöhnliches Zeitmanagement: πᾶς ἄνθρωπος πρῶτον τὸν καλὸν οἶνον τίθησιν καὶ ὅταν μεθυσθῶσιν τὸν ἐλάσσω· σὺ τετήρηκας τὸν καλὸν οἶνον ἕως ἄρτι | Jeder Mensch gibt zuerst den guten Wein und dann, wenn sie betrunken sind, den schlechteren. Du aber hast den guten Wein bis jetzt (zurück)behalten (V. 10). Eine Reaktion des Bräutigams bleibt (erzählerisch) aus. Letztlich ist der wahre Adressat der Anrede des Festordners auch Jesus, der ja für die Bereitstellung des guten Weins verantwortlich ist und damit die Aufgabe des Bräutigams übernommen hat. Jesus und Jünger (Joh 2,11) In V. 11 wird schließlich von der Reaktion der Jünger auf Jesu Handeln auf der Hochzeit berichtet. Es handelt sich um keine direkte Reaktion, vielmehr wird sie als längerfristige Folge des Geschehens in einem Erzählerkommentar nachgeliefert: Seine Jünger glaubten an ihn. Eine Resonanz, die aus Sicht des Agierenden natürlich positiv erscheint. Von hier aus können auch Rückschlüsse auf Jesu Handlungsorientierung und das übergeordnete Interaktionsziel gezogen werden. Hatte Jesus nicht in Reaktion auf Nathanaels Bekenntnis gesagt: Du wirst Größeres als dieses sehen (Joh 1,50)? Ist dies bereits das Größere? Oder sollen auch die Jünger noch Größeres sehen? Seine Stunde ist wohl noch nicht gekommen, denn er geht hier in der Rolle des Bräutigams noch nicht vollständig auf. Er gibt dem Festordner nach der Weinprobe eben nicht zu verstehen, dass er an des eigentlichen Bräutigams statt den Wein zur Verfügung gestellt hat, dass er dessen Rolle übernommen Stunde feststellt, findet sogar (mind.) noch ein Passafest statt (Joh 6,4). Die Ankunft der Stunde liegt also eigentlich noch weit in der Zukunft.
1. Joh 2,1–11[12]
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hat. Das Kommen der Stunde wird erst später im Geschehensverlauf von Jesus festgestellt (Joh 12,23; 13,1; 17,1). Doch ein Zeichen zur Offenbarung seiner Herrlichkeit (ἐφανέρωσεν τὴν δόξαν αὐτοῦ) und zur (vorläufigen) Glaubensevokation18 bei den Jüngern ist bereits jetzt an der Zeit. 1.3.2 Auswertung Die Orientierung an unterschiedlichen Zeitrhythmen führt bei den Figuren zu abweichenden Bewertungen der Situation und Einschätzungen des Handlungsbedarfs und damit zuvorderst zu einem Zeitkonflikt zwischen Jesus und seiner Mutter. Während seine Mutter an Festkonventionen orientiert ist, im Rahmen derer ein Mangel an Wein vor Ablauf des Hochzeitsfestes eine missliche Lage für die Gastgeber bedeutet, führt Jesus seine noch ausstehende Stunde ins Feld. Jesus und seine Mutter sind offenbar unterschiedlicher Meinung darüber, wann es Zeit für Jesus ist, in die Situation einzugreifen. Die Mutter hält trotz Zurückweisung an ihrem Plan fest und instruiert die Tischdiener entsprechend. Diese handeln, als habe der Bräutigam bzw. Gastgeber persönlich den Befehl erteilt, nämlich mit absolutem Gehorsam und ohne erkennbare Verzögerung auf Jesu Imperative. Zweimal widerspricht bzw. bricht Jesus mit konventionellen Festtagsrhythmen, weil er sein Handeln an einer anderen Zeit orientiert. Er widerspricht zuerst der Mutter in ihrer Einschätzung des Handlungsbedarfs und ‚serviert‘ schließlich einen besseren Wein, nachdem der schlechtere ausgegangen ist. Dies zeigt der Festordner als weiteren Konventionsbruch an. Der Interaktionszweck der Mutter wird (mit Verzögerung) erfüllt. Da wir nicht wissen, wie sich die Mutter Jesu Eingreifen genau vorgestellt hat, bleibt unklar, ob auch die Mittel zum Zweck (Verwandlung von Wasser) ihren Vorstellungen entsprochen haben. Die Folgen sind trotz des doppelten Konventionsbruches positiv: Es gibt wieder Wein und zu diesem Zeitpunkt des Festes wird die Hochzeitsgesellschaftlich sicher nicht unglücklich darüber sein, dass entgegen der Norm nun ein besserer Wein serviert wird. Die weitaus wichtigeren Folgen und die wohl auch ursprüngliche Intention Jesu Handelns sind aber die Offenbarung seiner Herrlichkeit und der daraus folgende Glaube der Jünger. Das Zeitverhalten der Mutter hat sich trotz der ‚Abfuhr‘ Jesu als positiv erwiesen. Sie hat an ihrem Plan festgehalten und ihren Interaktionszweck erreicht. Die Reaktion Jesu auf ihre Anfrage wirkt dennoch negativ nach. Das Zeitverhalten der Tischdiener, die sich ganz an Jesu Anordnung halten, zeitigt ebenso positive Ergebnisse.
18 Der Glaube der Jünger wird im Verlauf des Evangeliumsgeschehens immer wieder von Zweifeln und Brüchen eingeholt; vgl. Joh 2,24f.; 6,5–9.19.66.70f.; 13,36–38; 14,8–11; 13,21–27; 18,2f.17.25–27; 20,9.25.
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V. Textanalyse
Jesu Zeitverhalten wirkt zunächst unverständlich, insofern er seine Mutter grob zurückweist, seine Handlungszeit eigentlich noch nicht gekommen sieht, dann aber doch eingreift. Im Nachhinein erweist sich sein Verhalten aber als zielgemäß: Er erwirkt damit das Staunen des Festordners und den Glauben der Jünger. Die Verzögerung seines helfenden Handelns provoziert die Reflexion der Bedeutung seines Handelns. Was mag wohl erst passieren, wenn seine Stunde wirklich kommt? 1.4 Zeitinszenierung 1.4.1 Semantik Rahmende Zeit- und Ortsangaben Die Szene auf dem Hochzeitsfest wird durch drei Zeitangaben gerahmt: durch die semideiktische Angabe der Zeitposition τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ | am dritten Tage zu Beginn der Erzählung (V. 1) und die anaphorische Zeitangabe μετὰ τοῦτο | danach, sowie die referenzunabhängige Angabe der Aufenthaltsdauer am nächsten Ort der Reiseroute (οὐ πολλὰς ἡμέρας | nicht viele Tage) im Anschluss an die Kanaszene (V. 12). Die einführende Zeitangabe ist kardinal, insofern sie auf die metrische Größe des Tages Bezug nimmt, gibt aber keinen genauen Referenzpunkt für den Beginn der Zählung der Tage an. In der Forschung wurden deshalb verschiedene Versuche unternommen, die Drei-TagesZeitangabe mit den Zeitangaben im Vorfeld der Kanaerzählung (τῇ ἐπαύριον in Joh 1,29.35.43) zu verrechnen.19 Allerdings reichen die Ergebnisse dieser Kalkulationen vom buchstäblichen dritten Tag bis hin zum achten Tag der Woche. Dabei ist dann nicht nur die bloße Tageszählung von Belang, sondern auch die Einordnung der Tage in das bedeutsame Wochenschema. Findet die Hochzeit am ersten Tag der Woche statt, so wie auch die Auferstehung Jesu (Joh 20,1);20 am buchstäblich dritten Tag der Woche,21 ein Tag bevor Hochzeiten normalerweise begannen;22 am Tag vor dem Sabbat, dem späteren Todestag Jesu;23 am siebten Tag, dem Sabbat nach jüdischer Rechnung 24, oder am siebten Tag, dem Herrentag nach christlicher Rechnung, den Bultmann als Tag der 19 Einen Überblick über diverse Rekonstruktionsversuche eines vollständigen Wochenschemas auf Grundlage von Joh 1 gibt SAXBY, The Time-Scheme in the Gospel of John, 1992, 13. 20 Vgl. MALINA/ROHRBAUGH, Social-Science Commentary on the Gospel of John, 1998, 66. 21 Vgl. BUSSE, Das Johannesevangelium, 2002, 87; allerdings sieht U. Busse davon ab, den dritten Tag auch auf die Mitte der Woche festzulegen. 22 Vgl. MALINA/ROHRBAUGH, Social-Science Commentary on the Gospel of John, 1998, 71. 23 Vgl. COLOE, The Servants/Steward at Cana, 2013, 230; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 150. 24 Vgl. SCHENKE, JohannesKommentar [elektronische Neuauflage], 2014, 42.
1. Joh 2,1–11[12]
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Epiphanie bezeichnet?25 Andere Exegeten schreiben die Zeitangabe einer Redaktion zu, um das Berechnungsproblem zu umgehen. Ihrer Ansicht zufolge führt der redaktionelle Einschub die vorherige Zählung nicht fort, sondern trägt rein symbolische Funktion.26 Beide Lösungsstrategien sind m.E. defizitär: Eine ausschließlich symbolische Auslegung der Tagesangabe verkennt deren Funktion, dem Ereignis in Kana raum-zeitliche Konkretion zu verleihen, es wirklich in der Zeit stattfinden zu lassen. Diese Deutung könnte man in Anlehnung an Jörg Frey als existentialistisches oder mystizistisches Missverständnis bezeichnen. 27 Die Uneinigkeiten bei der Verrechnung der unterschiedlichen Zeitangaben in den ersten beiden joh. Kapiteln zeigen auf der anderen Seite, dass sie auf keine genaue chronikalische Verortung der unterschiedlichen Geschehnisse auf einem linearen Zeitstrahl, der bis zu unserem heutigen Tage reicht, abzielen. Ein solcher lässt sich aus dem gegebenen Material nicht erheben, der Versuch dazu kann als chronikalisches Missverständnis bezeichnet werden.28 Ähnlich verhält es sich mit der Ortsangabe ἐν Κανὰ τῆς Γαλιλαίας | in Kana in Galiläa (V. 1). Auch hier haben Exegeten versucht, den konkreten, bestenfalls heute noch zu besichtigenden Ort zu berechnen. Sie kommen meist überein, dass es sich um den „drei bis vier Stunden nördlich von Nazareth gelegenen Ort Chirbet-Kana“29 handeln muss. Der Ort wird gegenüber dem nähergelegenen Kefr Kenna vorgezogen. Doch worauf basiert diese Annahme? Wohl darauf, dass das nördliche Kana eine größere Wegstrecke nach Bethanien jenseits des Jordans (Joh 1,28) bedeuten würde und damit auch den ‚Zeitsprung‘ zwischen Joh 1,43 und 2,1 plausibilisiert. Doch die Berechnungen bleiben sowohl was den genauen Ort, als auch was die genaue Zeit angeht, unbefriedigend.30 Entscheidend ist, dass das Ereignis in Galiläa stattfindet, dies wird von der Narration noch einmal explizit erwähnt. Umgekehrt liefert aber auch die Ortsnennung Kana gegenüber der bloßen Regionalangabe εἰς τὴν Γαλιλαίαν in Joh 1,43 eine Präzisierung. Doch wozu dienen die Zeit- und Ortsangaben? Zum einen sind sie ein Hinweis darauf, dass hier ein konkretes und realistisches Geschehen dargestellt 25
Vgl. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, 211986, 79 (Anm. 3). Vgl. SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, 1998, 59. 27 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 294. 28 Vgl. SAXBY, The Time-Scheme in the Gospel of John, 1992, 11: „Most of the problems and confusions referred to above, arise in fact from taking John’s days chronologically as personal reminiscences.“ 29 HOLTZMANN, Evangelium des Johannes, 1908, 71. Vgl. in dieser Tradition u.a. auch MALINA/ROHRBAUGH, Social-Science Commentary on the Gospel of John, 1998, 66; PETERSEN, Wein im Überfluss (Die Hochzeit zu Kana) – Joh 2,1–11, 2013, 672; SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium I, 2000 (1965), 331; SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, 1998, 59; THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 210. 30 Vgl. BARRETT, Das Evangelium nach Johannes, 1990, 213. 26
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V. Textanalyse
wird. Die Erzählung ‚zoomt‘ auf einen konkreten Ort und auf eine bestimmte Zeit und fordert dazu auf, genau hinzusehen. Um sehen zu können, ist es allerdings nicht nötig, dass der Ort eindeutig mit einem historischen Ort zur Deckung gebracht und die Zeit mit einem Punkt auf einem absoluten Zeitstrahl identifiziert wird, der bis zum heutigen Tage reicht. Für den Versuch der Verortung des Geschehens auf einem absoluten Zeitstrahl mit exakten GPS-Daten legt die Erzählung einen Stolperstein, der dazu veranlasst, die genau beobachtete, konkrete Situation der Begegnung zwischen Jesus und der Hochzeitsgesellschaft zuerst genau zu beobachten und in einem zweiten Schritt zu transzendieren und nach ihrer transhistorischen Bedeutung zu fragen. Im Hinblick auf diese Bedeutung kann dann zum anderen eine motivische Verknüpfung der Zeit- und Ortsangaben hergestellt werden, etwa zur Dauer des metaphorischen Tempelwiederaufbaus (Joh 2,19) und damit verbunden zur Auferstehung Jesu am ersten Tag der Woche, also am dritten Tage nach dem Rüsttag als seinem Todestag oder auch zur dreimaligen Offenbarung des verherrlichten Auferstandenen, sowie zur Gottesoffenbarung am Berg Sinai in Ex 19,16.31 Mit dem Ort Kana wird später das zweite Offenbarungswunder der Fernheilung assoziiert (Joh 4,43–54), darauf macht auch die nachträgliche Beglaubigung des Ereignisses in Kana als ἀρχὴ τῶν σημείων (Joh 2,11) aufmerksam. Aus der konkreten raum-zeitlichen Verortung und dessen motivischen Verknüpfungen wird deutlich, dass es einerseits um die konkrete Begegnung Jesu mit den Hochzeitsgästen geht, diese gleichzeitig aber auf das übergeordnete Thema der Offenbarung und Verherrlichung Jesu als Gottessohn hinweist, welche nur in konkreten Begegnungen, im Sehen, und nicht durch abstrakte Worte und Begriffe wirksam werden kann. 32 Die ausleitenden Rahmenangaben büßen gegenüber der einleitenden Zeitangabe weiter an chronikalischer Präzision ein. Zunächst wird mit rein ordinaler, anaphorischer Zeitangabe (danach) auf die nächste Bewegung in der losen Ereignisfolge der Narration verwiesen. Wie bald Jesus und seine Gefolgschaft nach der Hochzeit nach Kafarnaum hinabsteigt, ist irrelevant. Ihr Aufenthalt dort wird im Anschluss mit einer referenzunabhängigen, d.h. nicht datierbaren Zeitdauerangabe auf nicht viele Tage festgelegt. Die Bewegung im Anschluss an das Ereignis in Kana ist demnach ebenso wenig auf einem absoluten Zeitstrahl fixierbar. Szeneninterne Zeitangaben Die rahmenden Zeitangaben leiten uns an, auf das konkrete Geschehen zu blicken, genau hinzusehen, was passiert. Dabei spielen insbesondere im Hinblick 31
Vgl. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 51; NICKLAS, Die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–12) in „biblischer Auslegung“, 2004, 245. 32 Mehr zu den symbolischen, metaphorischen und motivischen Kontextdeterminationen und ihren Wirkungen auf den Leser folgt im dritten Analyseschritt unter 1.5 Zeitwahrnehmung und Bewertung.
1. Joh 2,1–11[12]
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auf unsere ethische Fragestellung auch die szeneninternen Zeitangaben eine große Rolle. In dieser Sequenz sind die ordnenden Zeitangaben recht spärlich gesät, die Anfrage der Mutter (V. 3) lässt jegliche zeitliche Präzision vermissen: οἶνον οὐκ ἔχουσιν. Aus dem Kontext ist klar, dass sie keinen Wein mehr haben, auf ein οὐκέτι verzichtet die Mutter jedoch in der Erzählung. Die indirekte Bitte der Mutter wird damit von der Narration auf das Wesentlichste gekürzt, sie enthält keinen Imperativ, keine Motive und Begründungen für die geforderte Handlung und keine Folgenabwägungen. Die Abwägungen der Mutter können lediglich aus dem Kontext erschlossen werden: Wohl ist sie, wie oben bereits festgestellt, an Festkonventionen orientiert. Die temporalen Abwägungen werden zumindest auf narrativer Ebene aber vollständig dem Sohn überlassen. Jesus tritt als derjenige auf, der um den Kairos der Handlung weiß, denn die entscheidende innerszenische Zeitangabe ist allein in seiner Antwort an die Mutter zu finden: οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου | meine Stunde ist noch nicht gekommen (V. 4). Es handelt sich dabei um eine kardinale Zeitangabe, die Bezug auf eine metrische Größe nimmt. Allerdings bleibt auch diese metrische Größe unpräzise: Wie genau ist seine Stunde terminiert? Die Erzählung gibt damit ein Rätsel auf. Weder Tag, Tageszeit, Woche, Monat, noch Jahr sorgt für temporale Eindeutigkeit. Die Angabe ist primär deiktisch, insofern sie die zeitliche Orientierung der Figur Jesu wiedergibt. Da im Laufe des Evangeliums diese Stunde aber immer wieder auftauchen wird, kann man sekundär auch von einer anaphorischen Zeitangabe sprechen, die an Textposition und Erzählfluss ausgerichtet ist. Damit ist diese Zeitangabe zugleich szenenintern, insofern sie das Handeln der Figuren aufeinander bezieht und zum retardierenden Moment in der Reaktion Jesu wird, und übergeordnet, insofern sie die grundsätzliche Orientierung Jesu an einer bestimmten Zeitnorm offenbart. Doch was bedeutet diese Zeitangabe genau? Jesu Reaktion ist gegenüber der Anfrage der Mutter jedenfalls wesentlich präziser in der temporalen Bestimmung. Die Feststellung der Mutter verzichtet auf Informationen über den Zeitpunkt, zu dem der Wein ausgegangen ist, was in der gegenwärtigen Situation zu tun ist und was in Zukunft passieren wird oder soll. Jesus hingegen gibt an, seine Stunde sei οὔπω (noch nicht) gekommen. Auch wenn die Stundenangabe selbst rätselhaft bleibt, so präzisiert er doch, dass sie noch nicht gekommen ist, d.h. in der Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht da war, ihr Kommen aber in der Zukunft zu erwarten ist. Im Fortgang der Evangeliumserzählung werden Verzögerungen im Handeln Jesu nicht mehr mit seiner noch ausstehenden Stunde plausibilisiert. In Joh 7,6 kann er aufgrund seines noch nicht eingetretenen καιρός nicht zum Laubhüttenfest reisen. ὥρα-Verzögerungen wirken dann nur noch auf das Handeln seiner Kontrahenten, etwa wenn sie ihn ergreifen wollen (Joh 7,20; 8,20). In Joh 12,23 spricht Jesus schließlich von ἡ ὥρα ἵνα δοξασθῇ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου |
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V. Textanalyse
der Stunde, dass der Sohn des Menschen verherrlicht werde, die nun gekommen sei; zuvor war der Geist noch nicht auf die Menge übergegangen, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden ist (Joh 7,39). In Joh 17,1 wird das Eintreten der Stunde noch einmal bestätigt und in Joh 13,1 ist von der Stunde des Hinübergehens Jesu zum Vater (μεταβαίνω πρὸς τὸν πατέρα) die Rede. Dass die Stunde des Hinübergehens zum Vater bei der Hochzeit zu Kana noch nicht gekommen ist, ist als Erklärung des Widerwillens Jesu gegenüber der Anfrage seiner Mutter nicht wirklich verständlich. Dass die Stunde der Verherrlichung noch nicht gekommen ist, aber schon eher. Denn am Ende der Erzählung wird resümiert: καὶ ἐφανέρωσεν τὴν δόξαν αὐτου | und er offenbarte seine Herrlichkeit (V. 11) und das obwohl die Stunde der tatsächlichen Verherrlichung Jesu durch seinen Vater noch in der Zukunft liegt. Der verzögernde Verweis auf die Stunde soll vorausschauend deutlich machen, dass die vollendete Verherrlichung allein mit dem Geschehen auf dem Hochzeitsfest noch nicht erreicht ist.33 Wann genau Jesus in dieser Szene schließlich doch in Aktion tritt und den Tischdienern Befehle erteilt, wird wiederum nicht präzisiert. In V. 7 fehlt jegliche Zeitangabe. Nachdem die wichtige Verzögerung dargestellt wurde, ist der Zeitpunkt der ‚Dann-doch‘-Handlung offensichtlich nicht entscheidend. Die nächste Zeitangabe wird in V. 8 gegeben, als Jesus den Befehl an die Tischdiener gibt, jetzt (νῦν) zu schöpfen. Es handelt sich um eine ordinal-deiktische Angabe, die keinen konkret berechenbaren Zeitpunkt angibt und ihn völlig von Jesus als Sprecher abhängig macht. Dass aber genau an dieser Stelle eine Zeitangabe auftaucht, so unpräzise sie auch ist, kann ein Hinweis darauf sein, dass Jesu Offenbarungswirken durchaus einem genauen Rhythmus folgt, dass es für die Offenbarung seines wunderbaren Wirkens einen καιρός gibt, denn sobald geschöpft wird, wird die Wandlung von Wasser zu Wein offenbar werden. In V. 9 wird von den Dienern gesagt, sie wussten, woher der Wein kam, weil sie diejenigen waren, die das Wasser geschöpft hatten. Das Zeichenhandeln Jesu wird von der Erzählung somit auf einen ganz bestimmten Moment festgelegt, wenn die Verwandlung selbst auch nicht explizit erzählt wird. Dadurch wird Jesu genaue zeitliche Abpassung seines Offenbarungshandelns inszeniert. Die Temporalkonjunktion in V. 9 (ὡς δὲ ἐγεύσατο) könnte ebenso gut durch eine Partizipialkonstruktion ersetzt werden und dient wohl nur der besseren Strukturierung des vielgliedrigen Satzes. Die zeitliche Abfolge vom Schmecken des Weines und Rufen des Bräutigams scheint durch das explizite ὡς keine besondere oder erweiterte Bedeutung zu erlangen. 33
Vgl. PARSENIOS, Rhetoric and Drama in the Johannine Lawsuit Motif, 2010, 113: „The very combination of the terms glory and honor in the sign at the Wedding at Cana show precisely the way in which John often violates the strictly linear development of time. Or rather John establishes a strict set of time relations in the life of Jesus, and then violates and transcends them.“
1. Joh 2,1–11[12]
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In V. 10 werden erneut übergeordnete Zeitorientierungen explizit. Der Festordner zitiert eine Festkonvention: Zuerst (πρῶτον) wird der gute Wein ausgeschenkt und wenn (ὅταν) sie betrunken sind der schlechte. Die Intention dieser Zeitkonvention ist es, einen Schein (δόξα i.S. von blendendem Licht) zu wahren, nämlich, dass man ein guter und spendabler Gastgeber sei. Die Betrunkenen schmecken die Geschmacksminderung nicht, sie können nicht mehr klar sehen und schmecken. Jesus hingegen muss keinen Schein wahren, sondern offenbart seine Herrlichkeit (δόξα i.S. von כָּבוֹדals scheinende Anwesenheit Gottes), deshalb kann er auf derartige zeitliche Konventionen verzichten. Er hat den guten Wein vielmehr bis jetzt (ἕως ἄρτι) zurückbehalten, weil νῦν der richtige Zeitpunkt der Offenbarung seiner Herrlichkeit ist – nun, da klargestellt worden ist, dass die absolute Verherrlichung des Sohnes durch den Vater noch aussteht, dass dieses Wunder nicht alles ist, dass darüber hinaus geblickt werden muss, so wie Jesus schon in Joh 1,50 zu Nathanael gesagt hatte: Du wirst noch Größeres sehen. Durch die genaue zeitliche Strukturierung, die bewusste Setzung von Zeitangaben bzw. den bewussten Verzicht auf diese wird gezeigt, worauf es auch im zeitlichen Sinne ankommt: Die Offenbarung der Herrlichkeit des Gottessohnes, für die die Wasserverwandlung eben nur ein Zeichen ist, nicht deren ganze Fülle, wird erst die Stunde der Verherrlichung vollständig zu erkennen geben.34 1.4.2 Grammatik Die expliziten Zeitangaben werden durch die Verbalformen, deren Tempora und Aktionsmodi, weiter präzisiert und mit temporaler Tiefenstruktur versehen. Durch die Verbalformen lässt sich vor allen Dingen auf die Vollzugsarten der einzelnen Handlungen blicken, außerdem können Tempusstreuung, sowie Tempusbesonderheiten Signalwirkung für die Bedeutung einzelner Handlungen oder des Geschehens im Ganzen haben. Zunächst ist festzustellen, dass die verba dicendi in Joh 2,1–12 ausschließlich im Präsens Historicum vorkommen (V. 3.4.5.7.8.10), womit die lebhafte wörtliche Rede noch unmittelbarer wirkt. Imperfekte finden sich in dieser Interaktionssequenz nur an zwei Stellen in V. 1 und V. 6. In V. 6 vermittelt das Imperfekt eine Hintergrundinformation: das
34 Nach N. Chibici-Revneanu lässt sich im vierten Evangelium zwischen einer δόξα παρὰ πατρί (Joh 17,5) in der (Prä- und Post-)Existenz Jesu beim Vater und einer δόξα παρὰ πατρός (Joh 1,14) während seines Erdenlebens unterscheiden (vgl. CHIBICI-REVNEANU, Die Herrlichkeit des Verherrlichten, 2007, 326). Solange Jesus also auf Erden agiert, lässt er die Herrlichkeit Gottes in den konkreten Begegnungen mit den Menschen aufscheinen (z.B. in Joh 2,11). Erst bei seiner Erhöhung zum Vater, am Kreuz, wird er durch die δόξα Gottes verherrlicht ‒ eine Herrlichkeit, die er schon besaß, als er vor Beginn der Welt bei seinem Vater war (Joh 17,5), und die nun nach Beendigung seiner Erdenzeit und in der Erhöhung zu seinem Vater wieder zur Vollkommenheit gelangt (vgl. dazu auch ZIMMERMANN/RAHMSDORF, Pas de deux, 2019, 97–98 [im Erscheinen]).
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V. Textanalyse
Vorhandensein von Wasserkrügen. Der Gegensatz zwischen der Imperfektverwendung im Bericht über die Anwesenheit der Mutter (ἦν ἡ μήτηρ τοῦ Ἰησοῦ ἐκεῖ) und der Aoristverwendung bei der Erwähnung der Einladung Jesu und seiner Jünger (ἐκλήθη δὲ καὶ ὁ Ἰησοῦς καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ εἰς τὸν γάμον) in V. 1f. muss nicht verwundern. Für εἶναι existiert aufgrund seiner ausschließlich durativen Bedeutung kein Aorist, welcher sich im Regelfall stärker auf das Ergebnis statt auf den Prozess einer Handlung konzentriert. 35 Interessant bleiben gleichwohl die Reihenfolge der Nennung und der semantische Unterschied. Dazu mehr im Rahmen der chronologischen Analyse. Neben dem Präsens taucht der Aorist am häufigsten auf. Ungewöhnlich erscheint seine Verwendung auf den ersten Blick in V. 1; denn während alle anderen Feste im JohEv entweder mit dem Imperfekt von εἶναι angezeigt werden (Joh 5,1) oder nahe sind (ἦν δὲ ἐγγὺς τὸ πάσχα/ἡ ἑορτὴ in Joh 6,4; 7,2; 2,13; 6,4; 11,55: vgl. Joh 12,1; 13,1), geschieht das Hochzeitsfest im Aorist: γάμος ἐγένετο. Damit wird durch den Aktionsmodus des Verbes γίνομαι der Akzent einerseits auf das Werden als einen evolutiven Prozess gelegt, andererseits durch den ereignisexternen Blickpunkt des Aorists auf dessen Ergebnis. Über das Hochzeitsfest wird also nicht um der grundsätzlichen Bedeutung dieses Festes (z.B. wegen der Bedeutung der Brautleute) willen berichtet, sondern zum einen um dessen Effekts willen, nämlich des Glaubens der Jünger, und zum anderen um des konkreten Geschehens willen, das diesen Glauben ausgelöst hat, nämlich das helfende Eingreifen Jesu zur rechten Zeit. Die Imperative stehen außer φέρετε in V. 8 im Aorist, sind also nicht am reinen Vollzug der geforderten Handlung interessiert, sondern an deren Ergebnis (das Ausführen jeglicher Forderungen Jesu in V. 5; das Füllen der Krüge in V. 7 und das Schöpfen in V. 8). Warum ist gerade der Vollzug des Bringens der geschöpften Flüssigkeit zum Festordner in V. 8 so relevant, dass es abweichend im Imperativ Präsens (φέρετε) befohlen wird? Wird vielleicht gerade während des Hinübertragens die bedeutsame Wandlung des Wassers vollzogen? Das macht die Erzählung nicht explizit. Die Ausführung des Befehls durch die Tischdiener steht dann bereits wieder im ergebnisorientieren Aorist. Das Perfekt taucht in dieser Interaktionssequenz zweimal im Indikativ und zweimal in einer Partizipialform auf. Eine wichtige Bedeutung verleiht es dem Hinweis auf die noch nicht gekommene Stunde (V. 4). Das verneinte grammatische Präsens ἥκω mit perfektiver Bedeutung zeigt nicht nur an, dass die Stunde noch nicht da, d.h. angekommen ist, sondern auch, dass ihr Ausstehen einen Effekt auf die gegenwärtige Situation hat. Mit der Verb- und Tempuswahl wird die oben genannte Erwartungshaltung des Adverbs οὔπω unterstrichen, die in Joh 12,23; 17,1 mit einem positiven Perfekt (ἐλήλυθεν) erfüllt werden wird. Im Gegensatz zu Joh 4,23; 5,25 (ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν) liegt die 35
Mehr zum summarischen Blickpunkt des Aorists im methodischen Teil IV unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform, a) Temporalaspekt.
1. Joh 2,1–11[12]
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Ankunft dieser seiner Stunde klar in der Zukunft, sodass der retardierende Klang in Jesu Antwort deutlich wahrgenommen werden kann. Aufschlussreich ist auch das Partizip Perfekt von γίνομαι in V. 9, das in dieser Form sonst nirgends im NT auftaucht. Das Perfekt nimmt hier kontinuative Bedeutung an, 36 es handelt sich nicht nur um das zu Wein gewordene Wasser (τὸ ὕδωρ οἶνον γεγενημένον), sondern auch um das gegenwärtig nach Wein schmeckende Wasser (ἐγεύσατο ὁ ἀρχιτρίκλινος | der Festordner schmeckte den Wein); es geht nicht nur um die Verwandlung, sondern auch um die bleibende Wirkung des Wandlungsergebnisses. Ähnlich verhält es sich mit dem Partizip Perfekt von ἀντλέω in V. 9. Das Schöpfen der Tischdiener hat insofern bleibende Bedeutung, als sie aufgrund dieser Tätigkeit über die Herkunft des Weines Bescheid wissen, weil sie es beim Schöpfen als Wasser gesehen haben. Auch das indikativische Perfekt von τηρέω in V. 10 (das Zurückbehalten des Weines) hat dieses kontinuative Gepräge. Alle anderen Perfekta dieses Verbes werden im JohEv i.S. von bewahren (in Joh 15,10 die Gebote; in Joh 17,6 das Wort) eingesetzt. Damit ist auch hier nicht bloß das Ende des Zurückbehaltens des guten Weines entscheidend, sondern der Fakt, dass der Wein so lange, nämlich bis jetzt (ἕως ἄρτι) zurückbehalten/bewahrt wurde und nun gegeben wird. Das lange Bewahren des guten Weins hat damit einen besonderen Effekt, der über den Zeitpunkt der plötzlichen Weinausgabe hinaus fortwirkt. Die beiden Plusquamperfekte von εἴδω bezeichnen einen erreichten Zustand (ein Resultat) der Vergangenheit. Klassischerweise wird οἶδα als Perfekt von εἴδω mit dem präsentischen ich weiß als Resultat des vergangenen Gesehenhabens übersetzt; bei dem Plusquamperfekt von εἴδω bieten sich also entweder ich wusste oder ich hatte gesehen als Übersetzung an. Da es m.E. in dieser Interaktionssequenz gerade um das Beobachten des konkreten Geschehens und nicht um ein abstraktes Wissen von Sachverhalten geht, übersetze ich die Plusquamperfekte in V. 9 mit er nicht gesehen hatte/die Tischdiener aber gesehen hatten. Gleichzeitig offenbart hier das Plusquamperfekt seine Funktion als Hintergrundinformant bzw. Träger von erklärenden Erzählerkommentaren. 37 In der gesamten Erzählsequenz kommt keine grammatische Form des Futurs vor, wohl aber Verbalformen mit prospektiver Bedeutung, etwa die vier Imperative (V. 5.7.8), die zumindest auf mögliche (und, wie sich im Erzählverlauf herausstellt, auch auf tatsächliche) Ereignisse in der Zukunft weisen. Die Interaktionssequenz ist aufgrund der wenigen Hintergrundtempora und deren erzählerische Details recht unmittelbar und lebhaft gestaltet. Die einzigen Ausschmückungen durch den Erzähler betreffen die Wasserkrüge, die zur Reinigung der Juden vorgesehen sind und das Wissen oder Nichtwissen um die Herkunft des Weines der Tischdiener und des Festordners. Bei den meisten
36 37
Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 107. Vgl. a.a.O., 115.
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V. Textanalyse
Handlungen geht es um das Ergebnis, nicht den Vollzug, so die Verben vermehrt im Aorist auftreten. Bleibende, perfektive Bedeutung haben das Ausstehen der Stunde (V. 4), der Prozess des Wandels von Wasser zu Wein (V. 10), das Schöpfen und das Sehen, woher der Wein kommt (V. 8), sowie die Verzögerung in der Darreichung des guten Weines (V. 10). Als Effekt der Verzögerungen, des Sehens und des Wandels wird in V. 11 der Glaube der Jünger im ergebnisorientierten Aorist konstatiert (V. 11). Mit der Wahl des Aorists (statt eines Präsens Historicums oder Imperfekts) wird nicht die Dauer oder der Bestand ihres Glaubens hervorgehoben, sondern ihr Zu-Glauben-Kommen als Resultat des vorangegangenen Geschehens. Das Fehlen von Futurformen in dieser Szene ergibt sich aus ihrem Fokus auf das gegenwärtige Geschehen. Von hier aus sind die endgültigen und langfristigen Folgen von Jesu Kommen noch nicht vollständig abzuschätzen, dass weitreichende Zukunftsprognosen gestellt werden könnten. Der Hinweis auf Jesu ausstehende Stunde bleibt inhaltlich vage. In dieser Interaktionssequenz steht zunächst die unmittelbaren Folge seines konkreten Handelns im Vordergrund: der Glaube der Jünger. 1.4.3 Chronologik Die Erzählchronologie der Interaktionssequenz steht zum größten Teil synchron zum erzählten Geschehen. Es tauchen keine externen Anachronien auf, die sich auf einen Zeitpunkt vor Beginn oder nach Abschluss des erzählten Geschehens beziehen. Viele der Analepsen sind sogar rein szenenintern und darüber hinaus repetitiv, erzählen also kein neues Detail, sondern wiederholen ein schon bekanntes (V. 9: τὸ ὕδωρ οἶνον γεγενημένον; οἱ ἠντληκότες τὸ ὕδωρ; V. 10: σὺ τετήρηκας τὸν καλὸν οἶνον ἕως ἄρτι). Diese internen, repetitiven Anachronien bedeuten für die Linearität der Chronologie keine besonders starke Irritation, haben keinen hohen Entropiewert, wohl aber wirken sie auf die Betonung bestimmter Ereignisbausteine hin. Als Achronie kann die vom Festordner referierte Festkonvention (V. 10: πᾶς ἄνθρωπος πρῶτον τὸν καλὸν οἶνον τίθησιν καὶ ὅταν μεθυσθῶσιν τὸν ἐλάσσω) bezeichnet werden: Sie beschreibt eine der erzählten Zeit übergeordnete Regel. Als solche hat auch sie einen geringen Entropiewert für die Erzählchronologie (wenngleich ihr Inhalt auf einen zeitlichen Konventionsbruch auf Ebene des Geschehens hinweist). Als Prolepsen mit etwas weiterem Umfang über die Szene hinaus können der Verweis auf die noch nicht gekommene Stunde (V. 4), sowie die Bezeichnung des Geschehens als erstes bzw. Anfang der Zeichen (V. 11) wahrgenommen werden. Beide haben einen relativ hohen Entropiewert, insofern sie eine vage Erwartung auf die Ankunft der Stunde bzw. weiterer Zeichen wecken, die erst in Joh 12,23 (ἐλήλυθεν ἡ ὥρα) und Joh 4,43–54 (τοῦτο [δὲ] πάλιν δεύτερον σημεῖον ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς) verwirklicht werden und damit größere Netze über die Erzählzeit spannen.
1. Joh 2,1–11[12]
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Diskussionswürdig sind die chronologische Vorordnung der Mutter vor Jesus und den Jüngern und die semantischen Unterschiede bei der Erwähnung deren Teilnahme am Fest. Warum ist die Mutter nur anwesend, während Jesus und die Jünger eingeladen sind? Ist dies bloß stilistische Variationsfreude oder wird die Bedeutung Jesu und der Jünger auf dem Fest damit hervorgehoben? In ἐκλήθη steckt natürlich noch nicht notwendigerweise die positive Reaktion auf die Einladung: Sind sie auch wirklich zum Fest gekommen? Die Wortwahl könnte auch als Technik der Spannungssteigerung dienen oder aber um zu verdeutlichen, dass Jesus und die Jünger die Wahl haben, nicht zu kommen. Warum wird andererseits die Mutter zuerst genannt? Man kann vermuten, dass sie im Mittelpunkt der Begegnungen Jesu auf dem Hochzeitsfest stehen soll.38 Die Jünger bleiben während der gesamten Ereignisse auf der Hochzeit ohnehin passiv. Allerdings wird ihnen und nicht der Mutter am Ende der Erzählung der Glaube an Jesus attestiert (V. 11). Der Glaube der Mutter zeigt sich allenfalls indirekt in ihrem Handeln. Sie gibt den Tischdienern trotz negativer Antwort Jesu auf ihre Anfrage Anweisungen, ihm zu gehorchen. Braucht sie im Gegensatz zu den Jüngern nicht einmal ein Zeichen, um zum Glauben zu kommen?39 Die meisten Verknüpfungen innerhalb der Szene sind wie im Großteil der joh. Narration lose καί- und δέ-Verknüpfungen. Nur das Herbeirufen des Bräutigams durch den Festordner wird durch ein ὡς mit dem Schmecken des Weines zeitlich verbunden. Kausal- oder Finalkonjunktionen fehlen der Erzählung völlig. Gründe und Intentionen des Verhaltens der unterschiedlichen Figuren muss der Leser aus anderen Erzähldetails ermitteln. Szenisch ist fast keine der Begegnungen dargestellt, vielmehr sind die Interaktionen hier größtenteils gerafft wiedergegeben. Die Ausführungen der Tischdiener haben z.B. sehr wahrscheinlich mehr Zeit veranschlagt, als ihnen Erzählzeit zugewiesen wird. Die Beschreibung der Reinigungskrüge und deren Maß kann als narrative Pause aufgefasst werden. Eine größere Ellipse kann man je nach Blickwinkel zwischen V. 6 und 7 entdecken: Es bleibt nämlich völlig unklar, wann Jesus tatsächlich in die Situation eingreift, nachdem er die Anfrage seiner Mutter in V. 4 zurückgewiesen hatte. Wird hier erzählte Zeit übersprungen? Offenbar ist aber nicht das Ausmaß der Verzögerung, sondern allein das Dass der Verzögerung und deren Begründung entscheidend: die noch nicht gekommene Stunde Jesu als absoluter temporaler Orientierungspunkt für sein Verhalten.
38
Vgl. COLOE, The Mother of Jesus, 2013, 204; MOLONEY, The Gospel of John, 1998,
39
Vgl. a.a.O., 68.
66.
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V. Textanalyse
1.4.4 Auswertung Die Erzählsequenz macht durch ihre einleitenden Zeit- und Ortsangaben (am dritten Tag in Kana) auf ein konkretes Geschehen aufmerksam, dessen Relevanz nicht an seiner genauen Einordnung auf einem historischen Zeitstrahl und exakten Ortskoordinaten hängt. Die Kausalstrukturen der einzelnen Handlungen werden von der Erzählung ebenso wenig hervorgehoben (hauptsächlich beiordnende δέ- und καὶ-Verknüpfungen) wie deren Intentionalität. Vielmehr sprechen einerseits die Unmittelbarkeit und Lebendigkeit in der Darstellung der Begegnung Jesu mit seiner Mutter und dem Hochzeitspersonal (direkte Rede; Präsens Historicum der verba dicendi) und andererseits Verweise über die konkrete Situation hinaus (Perfekta, Prolepsen) für eine besondere Bedeutung dieser Handlung als vorausweisender Teil Jesu Offenbarungshandelns. Die Darstellung ermöglicht es, das konkrete Geschehen in seiner zeitlichen Abfolge genau zu beobachten, die Verzögerung und den Verstoß gegen die Festtagskonventionen in Jesu Zeitverhalten zu entdecken und darin gleichzeitig ein Zeichen- und Offenbarungsgeschehen zu erkennen, das die Bedeutung und HerrlichkeitJesu als Gottessohn über die konkrete Situation hinaus bereits aufscheinen lässt und zeigt, an welcher Zeitnorm Jesus sein Handeln tatsächlich ausrichtet: an seiner Stunde, der Stunde der Verherrlichung als Niedergang des Menschen in den Tod und zugleich als Aufstieg in das ewige Leben. 1.5 Zeitwahrnehmung und Bewertung 1.5.1 Erwartungen Extratextuelle Erwartungen Im Rahmen der extratextuellen Erwartungen stehen beständige Alltagserfahrungen, bspw. die Kenntnis natürlicher Abfolgen, Alltagspsychologie und stabile Konventionen im Vordergrund. In Joh 2,1–12 sind zwei Konventionsbereiche für die Erwartungshaltung der Leser besonders entscheidend: zum einen der festliche Rahmen einer Hochzeit, zum anderen die Sphäre der Familie. Das Handeln der Mutter ist für den Leser letztlich aus beiden Konventionsbereichen heraus zu plausibilisieren: Der Weinmangel noch vor Ende des Festes erfordert schnelles Eingreifen, weil ein solcher für die gastgebende Familie Ehrverlust bedeuten würde. Der Leser spürt den sozialen Druck, der in dieser Situation auf den Gastgebern lastet, und empfindet das Eingreifen der Mutter Jesu als gerechtfertigt und achtbar.40 Ihre bloße Aussage: Der Wein ist leer verbunden mit der Einleitung ihrer wörtlichen Rede, reicht aus, um die Brisanz
40 Vgl. KLINK, The Bridegroom at Cana, 2013, 234: „Since weddings in the first century were not about two people but about two families, the social dynamics were more comprehensive and intense. For this reason to run out of wine during wedding celebrations was likely to have caused a loss of family honor and status, and possibly even financial loss
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der Situation zu verdeutlichen. Ein Fest, bei dem die Speisen oder Getränke ausgehen, ist auch in unserer gegenwärtigen, westlichen Kultur ein beschämendes Szenario. Zum anderen werden in der Anfrage der Mutter an den Sohn Erfahrungswerte aus familiären Bindungen und deren Vertrauensverhältnisse aktiviert. Bei besonders nahestehenden Familienmitgliedern ist im Regelfall mit Unterstützung zu rechnen.41 Damit wird verständlich, weshalb sie ihren Sohn um Hilfe bittet. Im Rahmen dieser Fest- und Familienkonventionen ist ein schnelles Eingreifen Jesu also erwartbar. Weshalb sie annimmt, dass Jesus in dieser Situation helfen kann, bleibt ungewiss. Manche Exegeten erkennen darin ihre glaubende Haltung gegenüber Jesus. 42 Doch beiderlei Erwartungen werden in der Kanaerzählung durch Jesus enttäuscht: Mit der harschen Reaktion Was hast du mit mir zu schaffen, Frau? enttäuscht Jesus die Erwartungen, die sich aus familiärem Pflichtgefühl und dem Gebot des Respektes vor der eigenen leiblichen Mutter ergeben.43 Auch wenn mit der Redewendung nicht zwangsläufig eine Abweisung der Gemeinschaft ausgedrückt wird, so kann sie doch als eindeutige Zurückweisung der Anfrage verstanden werden. 44 Mit dem zweiten Teil der Antwort: Meine Stunde ist noch nicht gekommen, widerspricht Jesus wiederum den Festtagskonventionen, die bei frühzeitigem Weinmangel sofortiges Handeln erfordern. Eine dritte Erwartung bricht Jesus schließlich mit der Verwandlung des Wassers zu Wein, die erzählerisch, wie bereits mehrfach betont, nicht im Mittelpunkt steht. Das allgemeine Wissen um langwierige Gärprozesse und notwendige Zutaten wie z.B. Trauben für die Herstellung von Wein macht eine plötzliche Herstellung von Wein aus Wasser für den Leser wie auch die Hochzeitsgäste völlig unwahrscheinlich. Mit dem Weinwandel provoziert Jesus demnach einen weiteren Erwartungsbruch temporaler Art: Zunächst überrascht sein Zögern, nun überraschen die Schnelligkeit und Effektivität seines Handelns.
through legal means. Thus, by v. 3 the reader is present at a wedding and is feeling the social pressure that has emerged due to the lack of wine.“ 41 Zur engen Bindung von Blutsverwandten in ntl. Zeit vgl. MALINA, Die Welt des Neuen Testaments, 1993, 48; MALINA/ROHRBAUGH, Social-Science Commentary on the Gospel of John, 1998, 67. Diese familiären Bande gehören darüber hinaus zu den stabilen Konventionen, die auch auf die Erwartungshaltung des gegenwärtigen Lesers wirkt, wie aktuelle Studien zur Mutter-Kind-Beziehung zeigen (vgl. BERGER/FEND, Kontinuität und Wandel in der affektiven Beziehung zwischen Eltern und Kindern vom Jugend- bis ins Erwachsenenalter, 2005, 8–31). 42 Vgl. u.a. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 68. 43 Vgl. a.a.O., 67. 44 Vgl. BILLERBECK/STRACK, Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, 1924, 26.
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V. Textanalyse
Ungewöhnlich erscheint bei all diesen Vorgängen die vollständige Absenz von Bräutigam und Braut, schließlich würde man im Rahmen einer Hochzeit erwarten, dass sie im Mittelpunkt des Geschehens stehen.45 Der Leser erwartet ihr Auftreten, insbesondere wenn der Festordner den Bräutigam zu sich ruft (V. 9). Der Bräutigam bleibt allerdings völlig passiv und gibt dem Festordner keine Antwort. Diese Erwartung führt dazu, dass der Leser sich über die Rolle des Bräutigams Gedanken macht und Jesus als denjenigen, der die Aufgabe der Weinverköstigung vom Bräutigam übernimmt, nachträglich auch in diese Rolle schlüpfen lässt. 46 Das Ausbleiben einer Reaktion des ‚richtigen‘ Bräutigams erhält die doppelte Adressierung der Rede des Festordners aufrecht. Das Warten auf den Bräutigam bringt den Leser dazu, am Ende der Erzählung den Blick auf Jesus zu konzentrieren. 47 Intertextuelle Erwartungen Zwei chronologische Details der Kanaerzählung, deren Wahrnehmung durch die intertextuellen Skripts des Lesers beeinflusst werden können, bieten sich zum Vergleich an: der erzählte Ablauf eines Speisewunders als solches im Vergleich zu verschiedenen synopt./atl./hellenistischen und frühjüdischen Erzählungen, sowie das Offenbarungshandeln am dritten Tag im Vergleich zum Offenbarungshandeln Gottes im AT. Zunächst zu den atl. Vergleichstexten, die die Erwartungen der Leser an den Verlauf der Erzählung steuern können: ἐγένετο δὲ τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ Die einleitende Zeitangabe der Kanaerzählung ruft insbesondere eine atl. Parallele ins Bewusstsein, so sie große Übereinstimmungen mit der Einleitung der Theophanie in Ex 19–24 erkennen: ἐγένετο δὲ τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ (Ex 19,16LXX).48 Im Rahmen des dort erzählten Bundesschlusses beteuert das Volk darüber hinaus mehrfach: πάντα ὅσα εἶπεν ὁ θεός ποιήσομεν | Alles, was Gott gesagt hat, wollen wir tun (Ex 19,8LXX; vgl. Ex 24,3.7), was wiederum Parallelitäten zur Aufforderung der Mutter an die Tischdiener in V. 5 offenbart.49 Mit den atl. Anspielungen an die Sinaioffenbarung werden gleichsam auch die frühjüdischen Festkonventionen des Wochenfestes (Schawuoth) aufgerufen, im Rahmen dessen der Bundesschluss und die Gabe der Zehn Gebote (Ex 19– 24) erinnert werden.50 Dem wichtigsten Ereignis des Wochenfestes, der feierlichen Verlesung der Tora, gehen zwei Tage der Vorbereitung voraus: Für den 45 Vgl. COLOE, The Mother of Jesus, 2013, 207; ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 209. 46 Vgl. a.a.O., 210. 47 Vgl. KLINK, The Bridegroom at Cana, 2013, 235; ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 209. 48 Vgl. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 50. 49 Vgl. COLOE, The Servants/Steward at Cana, 2013, 229. 50 Vgl. a.a.O., 230.
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dritten Tag sollen sie sich bereithalten (Ex 19,11).51 Im Zentrum des Sinaigeschehens, wie dessen kommemorierenden Wochenfestes, steht die Offenbarung Gottes als Bundesgott, der von seinem Bundesvolk die Befolgung der Bundesgebote erwartet. Diese Theophanieerwartung wird beim Lesen der Kanaerzählung insbesondere durch die zeitliche Näherbestimmung wachgerufen und durch Jesu Verhalten zunächst enttäuscht: Er lässt keine Bereitschaft erkennen, seinen Vater zu offenbaren. Seine Stunde sei noch nicht gekommen. Und wenn er dann doch mit Verzögerung eingreift, so führt er mit seinem Handeln keine Theophanie herauf, sondern eine „Jesuphanie“52, bei der Gott sich nicht durch Donnern und Blitzen (Ex 19,16) und steinerne Bundestafeln (Ex 31,18) offenbart, sondern in Jesu Handeln, das aus steinernen Reinigungsgefäßen guten Wein schöpfen lässt, das ein Fest der Freude lebendig hält und durch welches die Aufgaben des Bräutigams erledigt, ja übertroffen werden. Speisewunder Neben der Theophanie in Ex 19–24 kennt das AT auch Erzählungen von einer Gottesoffenbarung in Form von Speisungswundern, insbesondere in Ex 16, Num 11 sowie 1 Kön 17 und 2 Kön 4. Die Erzählung in Ex 16, Num 11 und 1 Kön 17 weisen so wenig Übereinstimmung zum Weinwunder in Joh 2,1–12 auf, dass ein Vergleich keinen großen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Lesererwartung verspricht. In Ex 16 (und in ähnlicher Weise in Num 11) wird die Gabe des Manna vom Himmel (der Wachteln vom Meer) geschildert, mit der Gott auf das Murren seines Volkes in der Wüste reagiert. Die Schilderungen stehen den Erzählungen in Joh 6,1–15.22–59 sowohl motivisch als auch erzählchronologisch sehr viel näher. In der Erzählung rund um Elija, die Witwe von Sarepta und die wundersame Vorratserneuerung (1 Kön 17) spiegelt sich eher Jesu Begegnung mit der Samaritanerin in Joh 4,1–42 (Begegnung an einer Wasserstelle; Jesus bittet eine alleinstehende Frau um Wasser; Zurückweisung durch die Frau; Wunder einer nicht versiegenden Nahrungsquelle) als die Kanaerzählung. Einzig die Frage der Witwe an Elija (1 Kön 17,18LXX: τί ἐμοὶ καὶ σοί ἄνθρωπε) weist enge Übereinstimmungen mit dem Einwand Jesu in Joh 2,4 auf. Diese Reaktion der Witwe gehört aber letztlich nicht mehr zum Speisewunder, sondern schon zur Folgeerzählung über die Auferweckung ihres Sohnes (1 Kön 17,17–24). Die Konkordanz zwischen 1 Kön 17,18 und Joh 2,4 kann aber mindestens den Verzögerungs- und Zurückweisungseffekt Jesu Reaktion gegenüber seiner Mutter intensivieren, da die Redewendung von der Witwe in eindeutig negativem Kontext ausgesprochen wird (1 Kön 17,18b: Du bist nur zu mir gekommen, um an meine Sünde zu erinnern und meinem Sohn den Tod zu bringen; vgl. auch den negativen Kontext der Redewendung in Mk 51 52
Vgl. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 50. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 211.
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V. Textanalyse
5,7; Mt 8,29; Lk 8,28). In 2 Kön 4,1–5 wird von der wundersamen Vermehrung des Öls der Witwe durch Elischa erzählt. Hier werden viele leere Krüge mit einem einzigen vollen Krug gefüllt. Es findet demnach keine Verwandlung, sondern eine Vermehrung statt, und auch die temporalen Details der Erzählung stehen zur joh. Erzählung in keinem aufschlussreichen Verhältnis von Reproduktion und Varianz. 2 Kön 4,38–44 ähnelt wiederum der Brotvermehrung in Ex 16. In keinem dieser Texte wird von einer Verwandlung von Nahrungsmitteln erzählt. Ein für die Rezeption von Joh 2,1–12 relevantes Script und entsprechende Lesererwartungen lassen sich den atl. Erzählungen über Speisungswunder nicht entnehmen. Der Varianzgrad zwischen den Erzählungen ist gegenüber dem der Reproduktion zu groß, als dass die Erzählchronologien von Joh 2,1– 12 und Ex 16, Num 11 oder 1 Kön 17 und 2 Kön 4 direkt miteinander assoziiert werden könnten; lediglich einzelne Motive, wie das τί ἐμοὶ καὶ σοί der Witwe von Sarepta, können die Leserwahrnehmung der Verzögerung intensivieren. Die Zählung von Zeichenhandlungen ist aus der Erzählung von Mose in Ägypten bekannt. Hier ist von einem ersten und einem letzten Zeichen die Rede (Ex 4,8LXX: σημεῖον τοῦ πρώτου und τοῦ ἐσχάτου) und vom Glauben des Volkes nachdem sie Aarons Worte gehört und die Zeichen gesehen haben (Ex 4,31LXX: καὶ ἐπίστευσεν ὁ λαὸς). Das Ziel dieser Mehrzahl an Zeichen ist der Glaube des Volkes daran, dass Moses von Gott berufen wurde. Außerdem wird in Ex 7,1LXX angekündigt, dass der Pharao σημεῖον ἢ τέρας fordern wird. Jesus erscheint vor diesem Hintergrund als Prophet wie Mose. Die große Differenz zwischen den jeweiligen Wunderhandlungen liegt aber in ihrer Ausrichtung. Die atl. Wunder Moses und Aarons sind reine Machtdemonstrationen, die insbesondere im Gegenüber zum Pharao Zeichen einer prophetischen Warnung sind, damit er das israelitische Volk ziehen lässt (ähnliche auch in: Ex 11,9f.; Dtn 6,22; 7,19; 11,3; 28,46; Jes 8,18; 20,3). Jesus hingegen macht mit seiner Handlung in Kana nicht zuvorderst auf seine Macht, sondern auf die Stunde der Verherrlichung in der Erniedrigung aufmerksam, für die das Geschehen in Kana ein erstes Vorzeichen ist, das Glauben erwirken soll. Kommen wir nun zu den synopt. Vergleichstexten: Zur joh. Erzählung vom Weinwunder gibt es keine direkten synopt. Parallelen. Wohl aber gibt es unterschiedliche Speisewundererzählungen, bei denen die fortgeschrittene Stunde eine Rolle spielt: Bei der Speisung der Fünftausend in Mk 6,30–45 heißt es seitens der Jünger: ἔρημός ἐστιν ὁ τόπος καὶ ἤδη ὥρα πολλή | einsam ist der Ort und die Stunde fortgeschritten (Mk 6,35). Die Stundenangabe dient als Argument für Jesu Eingreifen. Noch näher zu Jesu Verweis auf seine Stunde in Joh 2,4 steht die Speisungserzählung in Mt 14,13–21: ἔρημός ἐστιν ὁ τόπος καὶ ἡ ὥρα ἤδη παρῆλθεν | einsam ist der Ort und die Stunde ist schon vorübergegangen (Mt 14,15; vgl.
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Joh 2,4 οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου). Während die Stunde nach Aussage der mt. Jünger schon vorübergegangen ist, ist sie nach Aussage des joh. Jesus noch nicht gekommen. Das Script der ähnlichen, gleichsam varianten synopt. Speisungswunder verstärkt den besonderen temporalen Effekt der Reaktion Jesu. Der Ablauf des konkreten Speisungswunders hingegen ähnelt wieder stärker der atl. Mannaerzählung (Ex 16) und wird im JohEv erst an einem späteren Punkt der Erzählchronologie aufgegriffen (Joh 6,1–15.22–59). Einige Parallelen zur Kanaerzählung weisen auch die synopt. Darstellungen der Streitigkeiten über das Fasten auf (Mk 2,18–22 | Mt 9,14–17 | Lk 5,33–39): Hier bedient sich Jesus einer Reihe von Gleichnissen, um den Pharisäern und Johannesjüngern zu erklären, weshalb seine Jünger gegenwärtig nicht fasten müssen. Zunächst wird die Unsinnigkeit des Fastens auf einer Hochzeit herausgestellt, solange der Bräutigam noch anwesend ist. Jedoch werden Tage kommen (Mk 2,20: ἐλεύσονται δὲ ἡμέραι), da der Bräutigam den Söhnen des Brautgemachs genommen wird. Erst dann werden sie fasten. Die angegliederten Gleichnisse über neuen Wein und alte Schläuche (und über neuen Stoff und altes Gewand) fügen sich mit der Hochzeitsmetaphorik zu einem Gleichnismosaik zusammen, dessen Zusammenhänge sich nicht sofort und eindeutig erschließen. Martin Leutzsch hat gezeigt, dass das Doppelgleichnis in V. 21f. nicht auf eine Überordnung des Neuen über das Alte abzielt (diese Auslegung scheitert daran, „dass in V. 21 das Alte, in V. 22 das Neue und das Alte bewahrt werden sollen“53), sondern „die Pointe ist: ›Chaque chose à sa place‹. Für die SchülerInnen Jesu (im Blick in V. 19f.) geht es um die rechte Zeit des Fastens oder Nicht-Fastens, und die ist von der Ab- oder Anwesenheit des ›Bräutigams‹ abhängig.“ 54 In diesem Sinne ist auch die joh. Kanaerzählung zu verstehen. Wenn Jesus sagt: Meine Stunde ist noch nicht gekommen, so spielt er damit an seine Verherrlichung und seinen Weggang (analog zum Bräutigam) an. Und in der Folge sorgt er dafür, dass nicht gezwungenermaßen gefastet wird (weil der Wein leer ist), sondern dass das Fest der Freude weitergeht. Doch trotz aller Übereinstimmungen weicht die joh. Erzählung auch ganz markant von der synopt. Fastenfrage ab: Der Verweis Jesu auf seine noch nicht gekommene Stunde dient zunächst als Argument gegen sein sofortiges Eingreifen, damit das Freudenfest weitergehen kann, während in den synopt. Erzählungen die noch nicht gekommenen Tage (Mk 2,20: ἐλεύσονται δὲ ἡμέραι) Grund dafür sind, die Hochzeitsfreuden nicht durch unnötigen Verzicht auf Genussmittel zu blockieren. Außerdem wird der Wein in Joh 2,6–8 tatsächlich in, wenn man so will, ‚alte‘ Behältnisse gefüllt. Durch diese Abweichungen wird die Pointe der joh. Kanaerzählung für den Leser noch deutlicher: Es geht nicht um die Frage, wann die rechte Zeit für das menschliche Fasten ist, damit sie ihren Glauben 53
LEUTZSCH, Was passt und was nicht (Vom alten Mantel und vom neuen Wein), 2015,
276. 54
Ebd.
222
V. Textanalyse
unter Beweis stellen können. Es geht nicht um das rechtzeitige Speiseverhalten der Anhänger Jesu. Es geht vielmehr um die Frage nach der rechten Zeit für die Offenbarung der Herrlichkeit Christi, damit sie Glauben bei den Menschen hervorrufe. Der Glaube steht im Vordergrund Jesu Handelns, denn der Glaube selbst bedeutet, wie in Joh 6,28f. bestätigt, die Erfüllung der ἔργα τοῦ θεοῦ. Die Verzögerung Jesu Handelns durch den Hinweis auf die noch ausstehende Stunde ist also am Glaubenseffekt ausgerichtet und trägt darüber hinaus auch eine Verzögerung auf der Ebene der Offenbarung der Herrlichkeit ein: Was nun in Kana passiert, offenbart bereits die Herrlichkeit und erwirkt Glauben bei den Jüngern, die Fülle der Herrlichkeit wird aber erst offenbart sein, wenn Jesu Stunde tatsächlich gekommen ist (Joh 12,23; 17,1). Schließlich können auch Vergleichstexte aus der paganen und frühjüdischen Umwelt den Erwartungshorizont des Lesers beeinflussen: Martin Hengel hat Jesus in der Kanaperikope als „›dionysischen‹ Messias“ vorgeführt und damit zugleich die Verbindungen vom Weinwunder zum griechischem Dionysos-Kult und (vielfach damit vermischt) zur jüdischen Messiastradition betont. 55 Während das grundsätzliche Bedeutungsspektrum des Weines bei den Instrumenten der Bewertungsorientierung behandelt werden soll, wird es hier um Erzählungen jeweils aus der griechischen und der frühjüdischen Tradition gehen, die von einem Weinwunder berichten und damit Skripts für den Ereignisverlauf liefern. Selbstverständlich können bei der Fülle rabbinischer und griechischer Wundererzählungen nur exemplarisch ausgewählte Texte zu einem Vergleich geführt werden. Hengel selbst zitiert eine phönizische Dionysos-Sage aus einem Roman des Achilleus Tatius. Hier wird von der Verwandlung von Wasser („das, was auch der Stier trinkt“) zu Wein durch Dionysos berichtet, der selbst zu Gast bei einem Hirten ist. Allerdings ist der Anlass seines Besuches kein Hochzeitsfest, Dionysos wird auch nicht um sein Eingreifen gebeten und der Weinmangel ist dem Hirten letztlich gar nicht bewusst, weil es zu dieser Zeit noch gar keinen Wein bei den Menschen gab.56 Bei Pausanias finden wir einen Bericht über ein regelmäßig stattfindendes Weinwunder in Elis (Paus VI 25,1–2)57: Die Priester bringen vor dem Fest der Thyien, an dem Dionysos anwesend sein soll, drei leere Kessel in ein Gebäude. Das Gebäude wird im Anschluss von außen geschlossen (mit Siegel) und am folgenden Tage sind die Kessel mit Wein gefüllt. Hier findet freilich keine Verwandlung von Wasser zu Wein statt. Beiden paganen Erzählungen ist gemein, dass Dionysos als (vermuteter) Wundertäter nicht auf eine Anfrage bzw. eine Not- oder Mangelsituation reagiert, sondern 55
Vgl. HENGEL, Der »dionysische« Messias, 2007, 568–600. Auszüge aus dem Roman „Leukippe und Kleitophon“ von Achilleus Tatius a.a.O., 596. 57 Nach der Übersetzung der Weinwundererzählung von Elis bei SCHNELLE, Neuer Wettstein. Texte zum Johannesevangelium, 2001, 113. 56
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von sich aus die Festfreuden durch den zur Verfügung gestellten Wein mehrt. Die erste Erzählung hat ätiologischen Charakter: Sie will die Anfänge des Weinbaus erklären. Bei der zweiten Erzählung steht das Wunder im Vordergrund. Das Siegel an den Türen und die Zeugenschaft von Fremden und Bewohnern bei der Deponierung der leeren Kessel sollen das Wunder glaubwürdig machen. In der Kanaerzählung steht nicht das Wunder an sich im Vordergrund oder das plötzliche Vorhandensein von Wein. Die mögliche Erwartung an Jesus, er werde gleich wie der griechischen Weingott den Wein herbeizaubern, wird auf die Probe gestellt. Jesus leistet zunächst Widerstand, die Spannung wird erhöht und die Handlungssequenz wird in einen größeren zeitlichen und thematischen Zusammenhang gestellt: die Offenbarung der Herrlichkeit des Sohnes zu seiner Stunde. Erst wenn der Blick auf die Stunde der Verherrlichung eröffnet worden ist, kann Jesus tätig werden. Und am Ende der Geschichte wird nicht von einem überschwänglichen Fest oder den Weinfreuden im Anschluss an das Wunder berichtet, sondern zum einen von der Reaktion des Festordners auf den Bruch mit den Zeitkonventionen und zum anderen von der Reaktion der Jünger: Sie glauben an Jesus. Die Ausrichtung des gesamten Geschehens auf die Stunde der Verherrlichung und den Glauben der Jünger tritt im Kontrastfeld dieser beiden Erzählungen aus der paganen Kultur besonders deutlich hervor. Hengel nacherzählt in seinem Werk „Rabbinische Legende und frühpharisäische Geschichte“ wiederum einen Zauberwettstreit zwischen Schimeon ben Schetach und 80 Hexen (yHag 2,2 [77d]), welche „die Kunst des ‚Tischleindeck-dich‘ üben und nacheinander Brot, Fleisch, Gekochtes und Wein herbeizaubern“58. In diesem Kontext wird das Versorgungswunder allerdings in den negativen Kontext magischer Praktiken gestellt. Die Geschichte endet mit der Kreuzigung der 80 Hexen. Die Begründung der Kreuzigung aller Frauen auf einmal, obwohl nach pharisäischem Recht nur eine Person pro Tag verurteilt werden darf, lautet im ySan 6,8 (23c): „weil die Stunde es so erforderte“59. Während das Speisewunder in dieser Erzählung in unmittelbarem Zusammenhang mit der notwendigen Stunde der Kreuzigung der 80 Hexen steht (im Übrigen ohne regulären Prozess), so steht in der Kanaerzählung die Stunde der Kreuzigung noch aus, und das Speisewunder ist nur ein erstes Aufflackern der Herrlichkeit Jesu, welche in der Kreuzesstunde in ihrer ganzen Fülle offenbart werden soll. Während für die Hexen die Erhöhung am Kreuz bzw. der Verlust der Bodenhaftung auch den Verlust ihrer Zauberkräfte und damit ihren Untergang bedeutet,60 bedeutet die Kreuzigung Jesu eine tatsächliche Erhöhung, gar seine Verherrlichung.
58
Zitiert nach HENGEL, Rabbinische Legende und frühpharisäische Geschichte, 1984, 20. A.a.O., 15. 60 A.a.O., 19. 59
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V. Textanalyse
Positive Verwandlungswunder werden dem jüdischen Gelehrten Hanina ben Dosa zugeschrieben (bTaan 25b). Seine Tochter, die versehentlich die Öl- und Essigkrüge vermischt hat und Sorge um die Sabbatlampen hat, tröstet Hanina ben Dosa mit den Worten „He who commanded the oil to burn can also command the vinegar to burn“ (bTaan 25b)61. Joseph Blenkinsopp bezeichnet es als Wunder der Transsubstantiation und bringt in Übereinstimmung mit Geza Vermes das Essigwunder mit dem Weinwunder in Kana in Zusammenhang. 62 Auch Hanina ben Dosa reagiert auf eine Anfrage aus der Not der Festvorbereitung heraus und agiert dabei mit ebenso souveränem Gottvertrauen wie Jesus. Jedoch ist Jesus selbst derjenige, der den Tischdienern befiehlt, er tritt wesentlich aktiver in Erscheinung. Jesus reagiert im Vergleich zu Hanina ben Dosa auch weniger beruhigend und tröstend auf die besorgte Anfrage des nahen Familienmitgliedes. Mehr noch: Statt mit beruhigenden Worten (bTaan 25b: „my daughter, why should this bother you?“ 63) auf die besorgte Anfrage des nahen Familienmitgliedes zu reagieren, weist Jesus seine Mutter zunächst distanziert zurück (τί ἐμοὶ καὶ σοί, γύναι; |Was hast du mit mir zu schaffen, Frau?). Sicherlich wird in beiden Erzählungen der besonderen Macht des schöpferischen Wortes Gottes gedacht, in der Kanaerzählung wird die Kraft des Logos aber im Handeln Jesu aktiv inszeniert, das Schöpfungswort ist in Jesu Wirken offenbar. Die Erzählung von Hanina ben Dosa rückt hingegen einzig das passive Vertrauen der Hauptfigur in den Vordergrund. Diese passiv-vertrauensvolle Haltung wird in der Kanaerzählung wiederum von der Mutter Jesu eingenommen, insofern sie auf Jesu helfendes Eingreifen vertraut. Intratextuelle Erwartung Intratextuelle Erwartungen können sowohl auf der Figuren- als auch auf der Erzählebene entstehen. Auf Figurenebene begründen das Zeugnis des Johannes, er selbst sei nicht der erwartete Christus, sondern dieser (Jesus) sei der Sohn Gottes (Joh 1,19– 36), sowie die Ankündigung Jesu selbst, Nathanael werde noch Größeres sehen (Joh 1,50f.), erste Erwartungen an den Ereignisverlauf, insbesondere an Jesu Handeln.64 Innerhalb der Szene zeigt der Mangel an Wein, welcher frühzeitig und wiederholt (im Munde des Erzählers und der Mutter) Erwähnung findet (V. 3) das Ungenügen der Situation und damit eine Handlungsnotwendigkeit auf. Es entsteht eine Erwartungsspannung hinsichtlich der Lösung der Mangelsituation. In der bloßen Aussage der Mutter, der Wein sei leer, wird die Erwartung an Jesu helfendes Eingreifen leise und doch unüberhörbar mitartikuliert.
61
Zitiert nach der Übersetzung von BLENKINSOPP, Miracles: Elisha and Hanina ben Dosa, 1999, 73. 62 Vgl. a.a.O., 74. 63 Zitiert nach der Übersetzung von a.a.O., 73. 64 Vgl. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 212.
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Jesu zurückweisender Verweis auf seine noch ausstehende Stunde schürt eine vage Erwartung an das Eintreten dieser Stunde, wobei völlig unklar ist, was Jesu Stunde bringen und wann genau sie eintreten wird (Rätselspannung). Die Reaktion der Mutter auf Jesu Zurückweisung lässt jedoch keine Enttäuschung erkennen: In ihrer Anweisung an die Tischdiener, sie sollen tun, was immer Jesus ihnen sagt, ist ihre ursprüngliche Erwartung an sein helfendes Eingreifen weiterhin lebendig. Wie Jesu Hilfe konkret aussehen soll, was das Kommen Christi (Joh 1,19–36) und der offene Himmel (Joh 1,50f.) konkret bedeuten, was seine Stunde bringen soll, wird nicht ausformuliert, es muss sich vielmehr zeigen. Auf Ebene der Erzählung wirkt zunächst der Prolog ‒ vielfach als Leseanweisung des Evangeliums bezeichnet ‒65 als entscheidender Generator von Lesererwartungen. Die Vorrede über die Fleischwerdung des göttlichen Wortes (Joh 1,14), über das Kommen dessen, der Licht und Leben hat (Joh 1,4f.9), durch den die Welt gemacht ist (Joh 1,10), über den, der als Einziggeborener im Schoß seines göttlichen Vaters war (Joh 1,18) und Gnade und Wahrheit hervorbringt (Joh 1,16f.) ‒ eine solche Vorrede hält die Lesererwartungen an die Hauptfigur des Evangeliums nicht gerade gering. Auf Figurenebene wird sie durch die Stimme aus der Wüste weiter genährt. Prolog und Zeugnis des Johannes drängen auf Bewahrheitung der Gottessohnschaft (Joh 1,14.18.34) im konkreten Handeln Jesu. Zur abstrakten Beschreibung (i.S. des telling) im Prolog in V. 16: ἐκ τοῦ πληρώματος αὐτοῦ ἡμεῖς πάντες ἐλάβομεν | Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen bietet die Kanaerzählung konkrete Anschauung (showing).66 Die abstrakte Erwartung wird in echten Begegnungen konkretisiert und die konkreten Begegnungen werden durch die abstrakte Erwartung deutend eingeordnet. Der Mangel an Wein wird durch den doppelten Hinweis in der Stimme des Erzählers und der Mutter Jesu mit der angekündigten Fülle kontrastiert: ὑστέρημα gegen πλήρωμα. Diese Spannung wird durch Jesu Verweis auf seine Stunde zunächst weiter strapaziert. Jesu Stunde ‒ das Handeln des μονογενὴς θεός ‒ kennt zeitliche Restriktionen? In der Folge der Erzählung, ja des gesamten Evangeliums wird mit dieser Erwartung bzw. Vorstellung vom zeiterhabenen und zugleich zeitorientierten Gottessohn gespielt. Zwar zeigt sich an seinem „Dann-doch“-Eingreifen in Kana, dass seine reine Wundermacht an keine Zeit und keine Konventionen gebunden ist (die Stunde ist ja immer noch nicht 65
Vgl. insbes. BUSSE, Das Johannesevangelium, 2002, 48–70 (Kapitel B 1: Der Prolog: theologische Summe und Leseanleitung, 1,1–18); THEOBALD, Die Fleischwerdung des Logos, 1988, 438; ferner CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 18–20; FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 156; THYEN, Art. Johannesevangelium, 1988, 213; TROZZO, Exploring Johannine Ethics, 2017, 135–149 u.v.m. 66 Zur direkten und indirekten Charakterisierung von Figuren via showing und telling vgl. FINNERN, Narratologie und biblische Exegese, 2010, 168–171. Vgl. ferner im theoretischen Teil III unter 4.3 Gegenstand, Skopus und Ziel der Arbeit, Anm. 289.
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V. Textanalyse
gekommen). Wohl aber kann es einen rechten Zeitpunkt, einen Kairos für sein Wunderhandeln geben. Der Kairos ist v.a. im Hinblick auf die gewünschte Resonanz auf das Wunderhandeln wichtig, nämlich dann, wenn die Handlungsintention keine reine Machtdemonstration sein soll, sondern darauf abzielt, Jesu und seines Vaters Herrlichkeit sichtbar werden zu lassen und zum Glauben zu führen. Auch wenn Jesu machtvolles Eingreifen nicht von der Ankunft der Stunde abhängig ist, so bleibt diese Stunde dennoch Orientierung für sein Handeln. Diejenigen, die seine Taten wahrnehmen, sollen sie auch begreifen. Sie sollen Jesu Taten im Hinblick auf die Stunde der Erfüllung, der Verherrlichung am Kreuz deuten. Dieser temporale Interpretationsfilter gilt auf Figuren- wie auch auf Leserebene. Die Rätsel, die die Verzögerung und das anschließende „Danndoch“-Tätigwerden Jesu aufgeben, lenken die Aufmerksamkeit des Lesers zum einen auf die erwartete Stunde,67 auf deren Bedeutung und möglichen Ereignisinhalt, zum anderen aber auch auf die Beziehung zu seiner Mutter, die nach der Szene letztlich ungelöst bleibt. In weiser Kenntnis des Evangeliumsendes schreibt Mary Coloe: „The very strangeness of the exchange draws the readers’ attention to the relationship between Jesus and his mother and to the indication that this relationship will be particularly significant in the future, when ‘the Hour’ arrives.“68 Der Verweis auf die Stunde macht dem Leser klar, dass die Bewahrheitung der Gottessohnschaft, die ihm von Prolog und Johanneszeugnis in Aussicht gestellt wird, in dieser ersten Begegnung in Kana noch unvollständig bleibt und nur ein erstes Mosaik für das strahlende Bild des Gottessohnes bereithält. Der Leser ist darüber informiert, dass das Kommen der Stunde für das umfassende Erkennen des Gottessohnes von großer Bedeutung sein wird. Die Bezeichnung der Taten Jesu in Kana als ἀρχὴ τῶν σημείων (Joh 2,11) lässt ferner weitere Wunder in der Folge der Erzählung erwarten. 1.5.2 Bewertungsorientierung Instrumente Metaphorizität und Symbolizität In der Kanaerzählung sind kaum Metaphern im engeren Sinne zu finden, die einen „Übertragungsvorgang […] von einem bekannten semantischen Feld (bildspendender Bereich) auf ein anderes, in der Regel unbekanntes oder unklares (bildempfangender Bereich)“69 auslösen. Wie mehrfach hervorgehoben, 67 T. Nicklas erkennt in der „offensichtliche[n] Verletzung des Prinzips erzählerischer Ökonomie“ durch Jesu Verweis auf seine noch ausstehende Stunde eine Markierungsfunktion der Narration, die den Leser nach Sinn dieser Stundenangabe fragen lässt und seinen Lesevorgang auch im Weiteren lenkt (NICKLAS, Das Motiv der „Stunde“, 2009, 296). 68 COLOE, The Mother of Jesus, 2013, 206. 69 ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 90.
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werden die Interaktionen der Kanaszene sehr konkret und anschaulich dargestellt. Die Auseinandersetzungen der Figuren sind überwiegend in wörtlicher Rede wiedergegeben, die verba dicendi stehen im vergegenwärtigenden Präsens Historicum, die Erzählung ist überwiegend synchron gestaltet, die Erzählerkommentare liefern erklärende Details zum Setting und stehen dem Geschehen ‒ abgesehen von der Kennzeichnung der Weinwandlung als erstes Zeichen (V. 11) ‒ nicht als bewertende Metainterpretationen gegenüber. Eine abstrakte, übergeordnete, gar übertragene Rede passt nicht zum Duktus dieser Passage. Einzig der Verweis Jesu auf ἡ ὥρα μου | meine Stunde (Joh 2,4) hat metaphorischen Charakter. Allerdings nur, wenn man genau hinsieht, denn diese Metapher ist (auch im Rahmen der Rezeption des JohEvs) fast schon zum Begriff geworden: Die personalisierte Stunde wird als zeitliche Markierung eines besonderen biographischen Geschicks gebraucht. Dafür wird letztlich eine abstrakte Zeitrechnung in den Bereich persönlicher Besitz- und Determinationsrechte übertragen.70 Jesu Aussage so zu verstehen, als spräche er das Besitzrecht über eine bestimmte Zeitstunde aus, ist absurd. Die kalkulierte Absurdität,71 die durch den Übertragungsvorgang ausgelöst wird, führt dazu, dass man die konkrete Zeitangabe der Stunde auf einen bestimmten Punkt in Jesu eigener Biographie, möglicherweise auf ein bestimmtes Ereignis, eine Schicksalswendung in seinem Leben zu beziehen versucht. Durch den Verweis auf seine Stunde treten zum einen die Erwartung eines bestimmten biographischen Schwellenereignisses und zum anderen dessen zeitliche Verortung in der Zukunft in den Vordergrund. Inwiefern nun leistet diese Metapher Bewertungsassistenz? Der Verweis auf eine für diesen einen Menschen festgelegte Stunde verleiht dem Ereignis dieser Stunde und darüber hinaus dem ganzen Leben des Menschen besondere Bedeutung: Sie entzieht die Lebensereignisse der Kontingenz und ordnet sie in eine übergeordnete (göttlich verordnete) Sinnstruktur ein. Kenntnis von dieser Ordnung zu haben (z.B. zu wissen, dass die eigene Stunde noch nicht gekommen ist) deutet einerseits auf Jesu Souveränität hin, andererseits wird darin aber auch eine temporale Abhängigkeit offenbar: Möglicherweise kann er (i.e. besitzt die Macht) zu jeder Zeit Wunder wirken; die Bedeutsamkeit des Wunders, auch in der Wahrnehmung der Interaktionspartner (wie auch der Leser), ist aber an bestimmte Zeitrhythmen gebunden.
70 Die Personalisierung eines eigentlich überpersonalen Zeitmetrums zur Benennung einer Schicksalswende („mein Tag wird kommen“, „meine Stunde schlägt“, „meine Zeit ist gekommen“) ist auch über das JohEv hinaus gebräuchlich; vgl. u.a. BILLERBECK/STRACK, Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, 1924, 401–405. 71 Zu dieser prägnanten Funktionsbeschreibung von Metaphern vgl. STRUB, Kalkulierte Absurditäten, 1991.
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V. Textanalyse
Neben der tropischen Metapher (griech. τροπός: Wendung; der Austausch eines ‚eigentlichen‘ durch einen ‚uneigentlichen‘ Ausdruck) 72 gibt es die Möglichkeit, dass eine ‚eigentliche‘ Rede nicht durch eine ‚uneigentliche‘ ausgetauscht wird, sondern gleichzeitig zu ihrer eigentlichen Aussage ‚uneigentliche‘ oder besser: übertragene Bedeutung annimmt. Eigentliche und übertragene Rede schließen sich also nicht aus, sondern können einander Tiefenstruktur verleihen. Insbesondere Narrationen besitzen die Fähigkeit der doppelten Aussageebene.73 Durch die poetische Mimesis eines Geschehens in Erzählungen, werden die Einzelereignisse zu Bildern, Zeichen oder Symbolen, die auf eine höhere Bedeutungsebene als die bloßen Ereignisse verweisen. Zimmermann nennt dieses Erzählphänomen „Bildlichkeit im Narrativen“ 74. Eine solche Tiefenstruktur ist auch in der Kanaerzählung erkennbar. So ist das Hochzeitssetting nicht nur konkreter Anlass der Begegnung zwischen Jesus, Mutter und Hochzeitsdienern/-gästen, sondern weist auf eine tiefere Bedeutung des Geschehen hin: Die Hochzeit steht nach atl. und frühjüdischer Symbolik für Heilszeit, wenn nicht gar Messias-Zeit. Der Messias wird in diesem Symbolrahmen als Bräutigam vorgestellt.75 Auch die ntl. Schriften schöpfen aus dem Bildpool der Bräutigam-Messias-Vermählung.76 Durch die besondere Erzählführung der joh. Hochzeitsszene in Kana schlüpft Jesus, wie oben dargelegt, insbesondere bei der abschließenden Rede des Festordners in die Rolle des Bräutigams.77 Von Prolog und Jüngerwerbung her ist Jesus wiederum als Gesalbter vorgestellt (Joh 1,17.41). Die Messias-Bräutigam-Motivik lässt das Verhalten Jesu auf der Hochzeit im Lichte positiver endzeitlicher Heilshoffnung erscheinen. Allerdings ‒ und hier liegt das temporale Spannungspotenzial ‒ trägt Jesus mit dem Hinweis auf seine ausstehende Stunde einerseits eine Verzögerung auch in Bezug auf die endgültige Ankunft der messianischen Heilszeit ein. Andererseits tritt er als messianisch-endzeitlicher Bräutigam aber 72
Vgl. MEYER, Stilistische Textmerkmale, 2013, 97. Nicht zufällig stehen Metapher und Narratio für P. Ricœur eng beieinander: Beide vereint eine „schöpferische Einbildungskraft“, die neue Pertinenz (Zugehörigkeit) von ehemals Fremdem hervorbringt. In Erzählungen werden z.B. molekulare Einzelhandlungen in eine sinnvolle Ereignisfolge gebracht (vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 7–9). 74 ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 198–200. 75 Vgl. KERN, Fasten oder feiern?, 2015, 268. Man denke an die hochzeitlichen Heilsverheißungen in Hos 1-3; Jes 61,10; 62,4f.; Jer 33,11, die endzeitlich-messianische Deutung des „Hochzeitslieds“ von Ps 45 in den Targumim zu Ps 45,3.7, die Zeichnung des Hohepriesters Joshua als endzeitlichen Bräutigam in den Targumim zu Sach 3,1–10 oder des königlichen Messias als Bräutigam in der Targumim zu Hld 6–8, sowie die Interpretation des Gottesknechtes aus Jes 61,10 als leidenden Messiasbräutigam in Piska 37 (vgl. ZIMMERMANN, „Bräutigam“ als frühjüdisches Messias-Prädikat?, 2000, 86–90.93–95.98f.). 76 Neben Joh 3,29f. u.a. auch Mk 2,18–22 parr.; Mt 22,1–14; 25,1–13; 2 Kor 11,2f.; Eph 5,21–33; Offb 19,7–9. 77 Vgl. COLOE, The Mother of Jesus, 2013, 207; ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 210. 73
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schon vor der Ankunft der entscheidenden Stunde und vor der Ankunft des futurischen letzten Tages auf (Joh 6,39f.44.54; 12,48) und richtet mit seinem zeitsensiblen Handeln den Blick der Anwesenden auf eben diese Stunde. Ebenso wie das Hochzeitssetting, ist auch der Wein nicht nur konkrete Requisite des Geschehensablaufs, sondern trägt durch seine Transformation von Mangelware zu Luxusgut gleichsam symbolische Tiefenstruktur, die wiederum Anteil an der Heils- und Messiashoffnung Israels hat. 78 Das übermäßige Vorhandensein von Wein (statt Wasser) ist nach atl. Prophetie Zeichen der Heilszeit.79 In der allegorischen Genesisinterpretation von Philo von Alexandria tritt der qualitative Gegensatz von Wasser und Wein besonders hervor: Während die Ammoniter und Moabiter den Israeliten nicht einmal Brot und Wasser zu geben bereit sind und deshalb nicht in die Ekklesia des Herren aufgenommen werden (Alleg Interp 3,81: „οὐκ εἰσελεύσονται“ φησὶ Μωυσῆς „εἰς ἐκκλησίαν κυρίου, παρὰ τὸ μὴ συναντῆσαι αὐτοὺς ἡμῖν μετ᾽ ἄρτων καὶ ὕδατος“)80, stellt Melchisedek, Priester des höchsten Gottes, sogar Wein statt Wasser zur Verfügung (Alleg Interp 3,82: ἀντὶ ὕδατος οἶνον προσφερέτω) und macht Gott damit bekannt. Auch in hellenistisch-römischer Tradition ist immer wieder von Bächen, Flüssen oder Quellen die Rede, in oder aus denen auf göttliche Initiative hin Wein anstelle von Wasser herabfließt. 81 Die Darbringung von Wein anstelle von Wasser ‒ in Joh 2,1–12 sogar intensiviert: die Verwandlung von Wasser zu Wein ‒82 lässt Jesu gesamtes Auftreten und Handeln in Kana im Interpretationsrahmen von heilszeitlichen Erwartungen und göttlichen Offenbarungstaten bewerten. Im NT ist die Gabe von Wein teilweise auch mit der Vergebung der Sünden (Mt 26,28) verbunden und hat eine lange eucharistische Rezeptionstradition ausgelöst, im Rahmen derer Wein als Symbol oder gar Akzidenz des Blutes Christi aufgefasst wird. Auch in Joh 6,54f. nennt der joh. Jesus sein eigenes 78 Vgl. BROWN, The Gospel according to John: Volume 1 (i–xii), 1975, 105; PETERSEN, Wein im Überfluss (Die Hochzeit zu Kana) – Joh 2,1–11, 2013, 674. Vielfach wurde auf die Motivübereinstimmungen zwischen Joh 2 und dem Jakobssegen über Juda in Gen 49,8–12 hingewiesen. Die Herrschaftssymbole Judas (Gen 49,10) gaben der rabbinischen Auslegungstradition Anlass zur messianischen Deutung (in Targum und Qumran-Pescher 4Q 252). Gleichzeitig wird Juda mit Weinstock und Rebe und in Wein gereinigten Kleidern beschrieben (Gen 11,49), so treten Messiaserwartung und Weinmotivik in diesem Segenswort zusammen (vgl. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 206). 79 Vgl. Jes 25,6; Jer 31,5; Joel 2,19; 4,18; Am 9,13. 80 Auch im Folgenden zitiert nach BibleWorks 9. Software for Biblical Exegesis & Research, 2013. 81 Vgl. u.a. FGH 434 F1 (Memnon von Herakleia); Lukian Ver Hist I 7; Nonn XIV 411– 420; Plin Nat XXXI 16 (Auszüge in Übersetzung bei SCHNELLE, Neuer Wettstein. Texte zum Johannesevangelium, 2001, 114–118). 82 Ähnlich der dionysischen Verwandlungsmacht, beschrieben im Roman „Leukippe und Kleitophon“ von Achilleus Tatius (Auszüge zu lesen bei HENGEL, Der »dionysische« Messias, 2007, 596).
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V. Textanalyse
Blut ἀληθής πόσις | wahren Trank, den zu trinken ewiges Leben bedeutet, wenn er das Blut auch nicht explizit mit Wein gleichsetzt, wie es bei den Synoptikern der Fall ist. Im JohEv ist diese Heilsgabe ohne zeitliche Begrenzung auf eine eschatologische (oder nachösterliche) Zukunft zugänglich: Das Trinken des Blutes wird stets in der ergebnisorientierten conditio des Konjunktivs Aorist oder im Partizip Präsens (Joh 6,53f.56) formuliert, ebenso ist die Apodosis des Empfangs des ewigen Lebens und das Bleiben in Jesus präsentisch (Joh 6,54a.56). In Joh 15,1 wird Gott selbst als Weingärtner bezeichnet, während Jesus die Rolle des Weinstocks und die Gläubigen die Rolle der Rebe übernehmen. Die Rebe braucht sowohl Weinstock als auch Gärtner, um Frucht zu bringen (Joh 15,2.4–6). In Mk 14,25 | Mt 26,29 kündigt Jesus nach Gabe des Weines beim letzten Mahl an, er werde erst wieder im Reich Gottes von der Frucht des Weinstocks trinken. Er leitet eine Art Fastenzeit ein, sodass der Weingenuss wie in atl./frühjüdischer Tradition eine eschatologische Bedeutung erhält. Vom joh. Jesus wird ein solcher Verzicht während der Passionszeit nicht berichtet, im Gegenteil fragt Jesus die rhetorische Frage: τὸ ποτήριον ὃ δέδωκέν μοι ὁ πατὴρ οὐ μὴ πίω αὐτό; | Den Kelch, den mein Vater mir gegeben hat, soll ich ihn nicht trinken? (Joh 18,11) Selbstverständlich dürfen negative ntl. Rekurse auf Wein oder besser: auf den ungezügelten Weinverzehr nicht verschwiegen werden (Eph 5,18; 1 Tim 3,8; Tit 2,3; Offb 14,8; 17,2; 18,3).83 In Offb 14,10 ist gar vom οἶνος τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ | Wein des Grimmes Gottes die Rede; in Off 16,19; 19,15 vom οἶνος τοῦ θυμοῦ τῆς ὀργῆς τοῦ θεοῦ | Wein des Grimmes des Zornes Gottes. Allerdings ist der Wein wohl eher als Auslöser denn als Akzidenz des Zornes Gottes angesprochen, denn alle weiteren Belegstellen von οἶνος τοῦ θυμοῦ stehen in Genitivverbindung zu τῆς πορνείας | der Unzucht der Menschen (Offb 14,8; 16,19; 18,3). Was hier kritisiert wird, ist also nicht das Vorhandensein von Wein als solchem, sondern der unzüchtige Umgang mit ihm. Ein solcher Missbrauch wird in Joh 2,1–11 wiederum gar nicht zum Thema erhoben, dort stehen sich allein Weinmangel als Problem und Weinfülle als Problemlösung gegenüber. Ob die Hochzeitsgäste mit der plötzlichen Weinfülle vernünftig umgehen, ist nicht Gegenstand der Erzählung. Berücksichtigt man das Symbolsystem, welches im doppeltem Sinne durch das gesamte JohEv fließt, so entsteht ein positiver Bedeutungsstrom aus Wasser, Geist, Wein und Blut, der ewiges Leben (αἰώνιος ζωή), Reinigung (καθαρισμός), Fülle (πλήρωσις) bzw. Erfüllung (τελείωσις) verspricht: Das Netz entspinnt sich vom Gegensatzpaar Wasser ‒ Geist bei den (reinigenden) Taufhandlungen des Johannes und Jesu (Joh 1,33), führt weiter zum Gegen-
83 In Röm 14,21 wird der Verzicht auf Fleisch und Wein nur um der ‚Schwachen‘ in der Gemeinde bzw. der Vermeidung des Anstoßes innerhalb der Gemeinschaft willen empfohlen.
1. Joh 2,1–11[12]
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satzpaar Wasser ‒ Wein, welcher bei der Hochzeit zu Kana aus Reinigungsgefäßen geschöpft wird, über die Nebenordnung von Wasser und Geist bei der geforderten Neugeburt (Joh 3,5), hin zu Jesu lebendigem Wasser, das ins ewige Leben quillt (Joh 4,10.13f.), sowie zu Jesu Blut als wahrem Trank, der zu trinken ewiges Leben verspricht (Joh 6,54f.), über die reinigende Fußwaschung mit Wasser (Joh 13,1–20) und den die Reben reinigenden Weingärtner (Joh 15,2), das Trinken des Kelches (Joh 18,11), bis zu Jesu Kreuzestod, bei dem er, nachdem es vollbracht ist (τετέλεσται), seinen Geist übergibt (παρέδωκεν τὸ πνεῦμα Joh 19,30) und Wasser und Blut aus seiner Seite fließen (Joh 19,34). Narrative Verknüpfungen Das Weinwunder tritt insbesondere durch die Markierung in V. 11 als erstes Zeichen in den Deutungsrahmen weiterer Zeichenhandlungen im JohEv, bei denen Jesus als Heiler, Nahrungsspender, als Wissender und Lebensgeber dargestellt wird und Glauben bewirkt (Joh 2,11; 2,23; 4,39.50.53; 6,69; 9,38; 11,45; 20,8.28), wie es auch die selbstreferentielle Schlussbemerkung am Ende des Evangeliums intendiert (Joh 20,30f.: ταῦτα [i.e. σημεῖα, Anm. d. Verf.] δὲ γέγραπται ἵνα πιστεύ[σ]ητε | diese [i.e. Zeichen, Anm. d. Verf.] sind aber geschrieben damit ihr glaubt/glauben werdet). Über die Präsenz der Mutter und das Motiv der Stunde ist die Kanaszene wiederum eng mit der Kreuzigungsstunde verbunden: Während Jesus in Kana das erste Zeichen wirkt (V. 11: ἐποίησεν ἀρχὴν τῶν σημείων), heißt es bei der Kreuzigung: τετέλεσται | es ist vollbracht (Joh 19,30).84 Während hier die Mutter harsch zurückgewiesen wird (V. 4), ist dort die Stunde der Verherrlichung gekommen, und die Mutter und der geliebte Jünger werden zur familia dei (Joh 19,26f.). In Kana beginnt das öffentliche Wirken Jesu, in Jerusalem wird es durch die öffentliche Kreuzigung beschlossen. Der Prolog postuliert zu Beginn die Fülle (πλήρωμα) des Einziggeborenen, aus der wir Gnade um Gnade empfangen haben | ἡμεῖς πάντες ἐλάβομεν καὶ χάριν ἀντὶ χάριτος (telling). Über das Evangelium hinweg werden immer wieder Mangelsituationen der Fülle/Genugtuung gegenübergestellt (showing: Krankheit – Heilung in Joh 4,43–54; 5,1–18; 9,1–12; Nahrungsmangel – Nahrungsfülle in Joh 6,1–15; Gefahr – Rettung in Joh 6,16–21; Schuld – Vergebung in Joh 8, 1– 11; Tod – Leben in Joh 11,1–57). Mit dem Ende des öffentlichen Wirkens Jesu mehren sich schließlich die Erfüllungshinweise mit Blick auf die Schrift oder das Wort (Joh 12,38; 13,18; 15,25; 17,12; 18,9; 19,24; 19,36f.). Da Bezüge auf die Schrift (ἡ γραφή) teilweise auch selbstreferentiell auf das Evangelium hin verwendet werden (Joh 2,22; 12,16; 20,9)85 und das Wort (ὁ λόγος) in enger Assoziation zu den im Evangelium wiedergegebenen Worten Jesu (Joh 18,32) steht, 84
Vgl. ZUMSTEIN, Kreative Erinnerung, 22004, 271. Vgl. MOLONEY, ‘For As Yet They Did Not Know the Scripture’ (John 20:9): A Study in Narrative Time, 2014, 97–111. In diesem Aufsatz über die Selbstreferentialität des JohEvs ausgehend von Joh 20,9 (οὐδέπω γὰρ ᾔδεισαν τὴν γραφήν), untersucht auch F. Moloney den 85
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V. Textanalyse
sind die Erfüllungszitate oder -hinweise im Rahmen der Abschieds- und Passionserzählungen auf zweiter Aussageebene durchaus auch als Erfüllung des im Evangeliumsprolog abstrakt beschriebenen Heilsgeschehens zu werten. Die Kanaerzählung gibt demnach eine erste Vorstellung (showing) davon, was es heißt aus der Fülle des Gottessohns zu empfangen. Im dritten Teil des Evangeliums wird diese Fülle schließlich in Vollendung vorgeführt. Distribution der Erzählzeit und Figurenautorität Am meisten Redezeit kommt in der Kanaerzählung Jesus zu: Er spricht in drei verschiedenen Versen mit zwei unterschiedlichen Personen(gruppen), insgesamt 20 Worte. Die Mutter hingegen spricht in zwei Versen mit zwei unterschiedlichen Personen(gruppen) lediglich neun Worte. Die instruierten Tischdiener kommen gar nicht zu Wort, ebenso wenig wie Bräutigam und Braut oder Hochzeitsgäste. Lediglich vom Festordner wird noch eine recht lange Ansprache an den Bräutigam (19 Worte) in wörtlicher Rede wiedergegeben. Auch hier kommt Jesus als Gesprächspartner zumindest implizit in den Blick. Jesu Name fällt sechsmal, während die Mutter nur viermal (stets als μήτηρ) und der Festordner dreimal erwähnt werden. Selbst wenn man diese Erzählung isoliert vom Rest des Evangeliums betrachtet, ist die Hauptrolle Jesu in der Szene unmittelbar evident. Gleichermaßen nimmt aber auch die Mutter durch ihre Ersterwähnung in V. 1 und die jeweils von ihr initiierten Interaktionen mit Jesus und den Tischdienern eine wichtige Stellung ein. Die Autorität Jesu wird durch den Gehorsam der Tischdiener hervorgehoben. Aber auch der Mutter kommt in diesem Geschehen besondere Autorität zu: Sie erteilt den Tischdienern überhaupt erst den Befehl zum Gehorsam gegenüber Jesus. Handlungsmotivation und -folgen Die Intentionen der Mutter werden durch die Erzählung nicht expliziert. Es ist anzunehmen, dass sie sich um den positiven Ausgang des Hochzeitsfestes sorgt ‒ in den Augen der Leser eine achtbare Motivation. Was unmittelbar auf die aktive Anfrage der Mutter folgt, hinterlässt zunächst keinen positiven Eindruck: Sie wird von ihrem Sohn zurückgewiesen. Erst die langfristigen Folgen ihrer unbeirrten Instruktion der Tischdiener ‒ Jesu Zurückweisung zum Trotze ‒ sind erfolgreich: Das Problem des Weinmangels wird behoben. Die Weinfülle ist allerdings nur mittelbar Resultat der Handlungen der Mutter. Eigentlicher Urheber des Verwandlungsgeschehens ist Jesus. Seine Imperative veranlassen das Schöpfen des Wassers und, implizit dargestellt, die Verwandlung zu Wein. Er übersteigt die Erwartungen des Festordners (und wohl auch der Hochzeitsgäste) durch den Ausschank von gutem Wein zum Ende des Festes. Zusammenhang von nachösterlicher Erkenntnis und vorösterlichem Christusereignis. Unter der Schrift (ἡ γραφή), auf die in jenem Vers verwiesen wird, versteht F. Moloney das von den Jüngern bezeugte und schriftlich festgehaltene Wort Jesu, nicht etwa den atl. Schriftenkorpus (vgl. a.a.O., 105).
1. Joh 2,1–11[12]
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Jesu zurückweisendes Verhalten erntet keinerlei negative Reaktion der Mutter oder einer anderen Figur und wird letzten Endes sogar durch den Offenbarungs- und Glaubenseffekt im Kreis der Jünger positiv quittiert. Es verwundert, dass allein den Jüngern, nicht aber der Mutter, den Tischdienern (die ja schließlich gesehen haben) oder dem Festordner, Glaube attestiert wird. Der Glaube der Mutter mag in ihrem sturen Vertrauen auf Jesu Eingreifen erkennbar werden. Tischdiener und Festordner können das bloße sinnlich-empirische Sehen offenbar nicht zu einem „sehen als…“, einem christologischen Sehen Jesu als Gottessohn steigern. 86 Später, beim Passafest in Jerusalem, glaubten viele an seinen Namen (V. 23), wobei die Ursache des Glaubens nicht benannt wird. Hat dieser Glaube mit den Ereignissen in Kana zu tun? Immerhin wird dort eine explizite Verbindung zwischen dem Glauben und den Zeichen, die die er tat (σημεῖα ἃ ἐποίει), hergestellt. Dieser Glaube erntet allerdings kein Gegenvertrauen Jesu, denn er kannte sie alle (V. 24f.). Während das Verhalten der Mutter angesichts der erzählten unmittelbaren und mittelbaren Folgen ambivalent bleibt, wird das Verhalten Jesu trotz seines harschen Umgangs mit seiner Mutter mit durchweg positiven Effekten ausgezeichnet. Explizite Bewertung Durch die Auszeichnung der Ereignisse als σημεῖον | Zeichen, welches über sich hinausweist, wird Jesu Handeln von der Erzählung in einen ausgezeichneten Bedeutungsrahmen gestellt. Der Kommentar des Festordners gegenüber dem Bräutigam: σὺ τετήρηκας τὸν καλὸν οἶνον ἕως ἄρτι | Du hast den guten Wein bis jetzt zurückbehalten (V. 10) kann als negative Evaluation aufgefasst werden. Er kann aber ebenso gut Ausdruck seines Erstaunens sein. Wie viel Wert der Festordner auf die Einhaltung der Ausschankkonvention legt, ist ungewiss. Wie viel Wert der Leser auf die Einhaltung dieser Konventionen legt, ist ihm selbst überlassen. Jedoch hat die Konvention, den schlechten Wein erst dann herauszugeben, wenn niemand ihn mehr schmecken kann, den faden Beigeschmack einer Täuschung oder Blendung. Ein Verstoß gegen diese Regel würde man zwar für ungeschickt, wohl aber nicht für unsittlich halten. Intensität Leseransprache Wie im gesamten Evangelium (mit Ausnahme von Joh 19,35; 20,31) wird der Leser auch in der Kanaerzählung nicht direkt angesprochen. Eine Anrede im Rahmen einer doppelten Adressierung der Figurenrede lässt sich nur schwer extrahieren. Allenfalls der Befehl der Mutter an die Tischdiener: Was immer 86
58f.
Zum Doppelcharakter des Sehens vgl. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004,
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V. Textanalyse
er euch sagt, das tut (V. 5) ließe sich auch als Empfehlung an die Leser auszeichnen. Die gnomische Rede des Festordners (V. 10) könnte zwar auch für die Leser geltend gemacht werden. Dass die Ausschankkonvention von Jesus gebrochen wird, legt deren Befolgung durch den Leser aber nicht sonderlich nahe. Alles in allem wird der Leser durch die Narration dieser Szene wenig adressiert. Unmittelbarkeit der Erzählung zum Geschehen Von einer szenischen Zeitgestaltung kann bei der Kanaerzählung kaum die Rede sein. Die Interaktionen, insbesondere die verschiedenen Dialoge, sind auf das Nötigste gekürzt. Dennoch sind sie insofern lebendig dargestellt, als die Figuren in direkter Rede agieren und reagieren und die Narration von Vordergrundtempora (Präsens Historicum und Aorist) dominiert wird. Erzähldetails über die Reinigungskrüge und ihr Fassungsvermögen machen das Geschehen darüber hinaus für den Leser anschaulich und konkret. Die Narration ist überwiegend synchron gehalten: Außer dem Verweis auf die Stunde (V. 4) und der Kategorisierung des Geschehens als erstes Zeichen (V. 11) sind keine größeren Vor- und Rückverweise über die Szene hinaus und damit Irritationen der linearen Erzählchronologie aufzuspüren. Die chronologischen ‚Ausreißer‘ veranlassen den Leser jedoch dazu, in der Mitte und am Ende der Erzählung auf wichtige Ereignisse vom konkreten Ereignisverlauf aufzublicken und das Geschehen in einen größeren Deutungsrahmen einzuordnen. Applikationspotenzial Da die Erzählung wenig über die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren preisgibt, lässt sich weder ein besonders hohes Empathiepotenzial feststellen, noch sind eindeutig evaluative Tendenzen zur Syn- oder Antipathie aus der Erzählung ableitbar. In die feierliche Atmosphäre einer Hochzeit kann sich der Leser aber durchaus hineinversetzen, auch die Problemlage (Weinmangel auf einem Fest) dürfte dem Leser verständlich sein, weshalb der Einsatz der Mutter sympathetisch wirkt. Jedoch wird die Situation an keiner Stelle aus Sicht der eigentlich betroffenen Gastgeber (Braut und Bräutigam) in den Blick genommen. Deren vollständige Abwesenheit verringert für den Leser die Möglichkeiten, sich in die prekäre Situation einzufühlen. Die chaotischen Zuständigkeiten (Warum fühlt sich ausgerechnet die Mutter Jesu und später Jesus selbst zuständig? Was ist die eigentliche Aufgabe des Bräutigams? Welche Funktion erfüllt der Festordner?) machen die Situation undurchsichtig und weniger nachvollziehbar. Die Familienkonstellation (Mutter ‒ Kind) gehört ebenso wie das Hochzeitssetting zum allgemein menschlichen Erfahrungsspektrum und ist damit auch auf die Wirklichkeit des Lesers anwendbar. Ob das konkrete Verhalten Jesu gegenüber seiner Mutter anwendungs- bzw. nachahmungswürdig ist, bleibt jedoch dahingestellt.
1. Joh 2,1–11[12]
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1.5.3 Auswertung Die Erwartungen, die sich aus den Skripts unterschiedlicher Erfahrungsbereiche des Lesers ergeben, lassen besondere temporale Merkmale der Erzählung hervortreten. Extratextuelle Erwartungen, die sich aus den Familien- und Festtagskonventionen heraus an das helfende Eingreifen Jesu stellen, unterstreichen seinen Vorbehalt und sein Zögern. In Kontrast dazu steht sein effizientes „Dann-doch“-Eingreifen im Anschluss an den Dialog mit seiner Mutter. So wird der Leser gleich zweimal von Jesu Zeitverhalten überrascht. Der Festordner schließlich deckt eine dritte Ungewöhnlichkeit in Jesu Verhalten auf, die der Leser ohne dessen Hilfe wohl nicht unmittelbar registriert hätte: Jesus stellt den guten Wein erst jetzt zur Verfügung. Die völlige Abwesenheit der Hauptpersonen, Braut und Bräutigam, lenkt den Leserfokus stets zurück auf Jesus, der die Rolle des Bräutigams übernimmt. Die Skripts aus atl. Vergleichstexten lenken die Erwartungshaltung des Lesers in die Richtung einer Theophanie am dritten Tag, intensivieren den Zurückweisungseffekt der Redewendung τί ἐμοὶ καὶ σοί und lassen den Leser über die Jesuphanie staunen, die sich schließlich mit Verzögerung anstelle der erwarteten Theophanie einstellt. Im synopt. Vergleich fällt das Ausstehen der Stunde (Joh 2,4) im Kontrast zur fortgeschrittenen oder gar vorübergegangenen Stunde (Mk 6,35 | Mt 14,15) auf. Die Motivübereinstimmungen mit der synopt. Fastenfrage machen weiterhin auf eine entscheidende Varianz der joh. Erzählführung aufmerksam: Es geht nicht um das rechtzeitige menschliche Fasten, mit dem Ziel, Glauben unter Beweis zu stellen, sondern es geht um den richtigen Zeitpunkt für die Offenbarung Jesu Herrlichkeit mit dem Ziel, Glauben zu erwirken. Die Vergleiche mit paganen Weinwundern weisen den Leser darauf hin, dass in der Kanaerzählung nicht das Wunder an sich und die anschließenden Weinfreuden im Vordergrund stehen, sondern die (nicht abgeschlossene) Offenbarung der Herrlichkeit Jesu und der Glaube der Jünger als adäquate Resonanz auf die Offenbarung.87 In einer rabbinischen Erzählung werden 80 Hexen, die im Rahmen eines Magierwettstreits Speisen und Getränke hervorzaubern, gekreuzigt, weil es die Stunde erfordert. Im JohEv wird das Speisungswunder verzögert, weil die Stunde der Kreuzigung noch nicht gekommen ist. Im Vergleich zu den Erzählungen über die Verwandlungswunder des Hanina ben Dosa wird zum einen das wenig verständnisvolle Verhalten Jesu gegenüber seiner Mutter, zum anderen seine aktive Rolle beim Verwandlungsgeschehen deutlich. Intradiegetisch lassen die Ankündigungen Johannes des Täufers und Jesu selbst im Gespräch mit Nathanael Größeres erwarten. Jesu Hinweis auf seine ausstehende Stunde erhöht für den Leser die Spannung in Bezug auf das wirkliche Kommen der Stunde und der damit verbundenen Ereignisse. Extradiegetisch 87
Vgl. BROWN, The Gospel according to John: Volume 1 (i–xii), 1975, 103f.
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V. Textanalyse
stellt der Prolog (wie intradiegetisch die Ankündigung Johannes des Täufers) die Bewahrheitung der abstrakt beschriebenen Gottessohnschaft in Jesu Handeln in Erwartung, umso mehr verwundert sein anfängliches Zögern. Sein genaues Timing zeigt aber, dass es hier nicht um reine Machtdemonstration geht, sondern dass sein Handeln auf eine bestimmte Resonanz abzielt: die Offenbarungserfahrung und den Glauben daran, dass das Handeln Jesu in Kana ein erstes aufflackerndes Zeichen seiner Herrlichkeit ist, deren vollständige Erkenntnis aber ebenso wie die Stunde Jesu noch aussteht. Dadurch, dass Jesus seine zeitliche Orientierung offen artikuliert, wird seine Stunde zum temporalen Interpretationsfilter für das darauffolgende Geschehen: Er greift trotz der noch ausstehenden Stunde in die Situation ein. Was jetzt geschieht, ist damit aber noch nicht alles, was von ihm zu erwarten ist. Die durch unterschiedliche Skripts bedingte Erwartungshaltung des Lesers lässt nach allem bisher Gesagten vor allen Dingen die Verzögerung im Verhalten Jesu hervortreten, welche explizit auf seine besondere Zeitorientierung zurückzuführen ist: seine noch ausstehende Stunde. Der Leser hinterfragt diese Verhaltensnorm, weil sie ihm nicht unmittelbar einleuchtet. Was bedeutet diese Stunde und kann sie das harsche Verhalten Jesu gegenüber seiner eigenen Mutter und das Hinwegsehen über die unmittelbare Handlungsnotwendigkeit rechtfertigen? Mittels der vielfältigen narrativen Bewertungsinstrumente ‒ Metaphorik (die der Kontingenz enthobene biographische Stunde als Teil eines Sinnganzen); Symbolik (die Vorstellung des endzeitlichen Messias als Bräutigam; Hochzeit und Weinfülle als Zeichen der anbrechenden Heilszeit; das joh. Symbolnetz aus den Motiven Geist, Wasser, Wein, Blut, verbunden mit den Motiven der Reinigung, des ewigen Lebens, der Fülle/Erfüllung); narrative Verknüpfungen (mit der Stunde der Kreuzigung als Moment der Zusammenführung der familia dei); Distribution der Erzählzeit (zugunsten Jesu Rede- bzw. Interaktionszeiten); Autoritätszuschreibung (der Gehorsam der Tischdiener); Handlungsfolgen (Aufhebung des Weinmangels; Offenbarung der Herrlichkeit, Glaube der Jünger) ‒ wird Jesu Zeitverhalten in einen derart sinnträchtigen Deutungsrahmen gestellt, der es dem Leser trotz anfänglicher Vorbehalte nahelegt, sich von der Angemessenheit Jesu Verhalten überzeugen zu lassen. Darüber hinaus spannt der Deutungsrahmen einen doppelten zeitlichen Spannungsbogen, einerseits von der noch nicht gekommenen Stunde Jesu zu seinem dann doch Tätigwerden, andererseits von den schon jetzt erscheinenden Zeichen der endzeitlichen Heilszeit zum noch nicht eingetretenen letzten Tag. Sowohl die endzeitlichen Heilsvorstellungen als auch Jesu Stunde werden in dem Geschehen in Kana vorweggenommen, gleichzeitig wird aber ihre Deutung mit einem Vorbehalt versehen: Nur von Jesu Stunde, vom zeitlichen Nullpunkt der Kreuzigungsstunde her, können die Geschehnisse in ihrer ganzen Tiefe erfasst werden.
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Das Verhalten der Mutter, wenn sie auch namenlos bleibt und ihre Initiative zunächst mit einer negativen Reaktion Jesu quittiert wird, kann doch insgesamt als positiv und ‚erfolgreich‘ erachtet werden. Tadel erfährt nicht ihr Einsatz als solcher, sondern lediglich das Timing. Das Lesererlebnis wird durch keine direkten Leserappelle intensiviert. Zwar werden die Ereignisse sehr lebendig und konkret inszeniert, insgesamt ist die Erzählsequenz aber nicht annähernd szenisch gestaltet, was die Unmittelbarkeit der Erzählung zum Geschehen herabsetzt. Die Problemlage des Weinmangels auf einem Hochzeitsfest ist zwar grundsätzlich nachvollziehbar, so wie auch das Thema der Mutter-Kind-Beziehung thematisches Applikationspotenzial bietet, Empathie bzw. Syn- und Antipathie werden aber nicht offensichtlich durch die Narration gesteuert. Der Leser bleibt insgesamt eher ein unbeteiligter Beobachter. 1.6 Fazit Die Konzentration auf das konkrete Zeitverhalten der Figuren hat die unterschiedlichen Zeitkonflikte auf der Ebene des erzählten Geschehen allererst sichtbar werden lassen. Die Zeitkonflikte werden insbesondere dann erkennbar, wenn die szeneninternen Zeitangaben nicht unmittelbar einer höheren Deutungsebene zugeordnet werden, sondern zunächst in ihrem deskriptiv-mimetischen Aussagesinn für die Wiedergabe von Handlungen wahrgenommen werden. Zeitkonflikte werden in dieser Interaktionssequenz im Wesentlichen zwischen Jesus und der Mutter, sowie zwischen Jesus und dem Festordner erkennbar. Zurückzuführen sind diese Kontroversen auf unterschiedliche Zeitausrichtungen. Während Jesus an seiner eigenen Stunde orientiert ist, geben der Mutter und dem Festordner bestimmte Festkonventionen Orientierung (konstante Weinversorgung über die gesamte Festzeit hinweg; Ausschank des guten Weines vor dem schlechten). Die unterschiedlichen ‚Leitzeiten‘ führen zu abweichenden Handlungsentscheidungen bzw. -timings. Die Mutter handelt sofort, Jesus handelt verzögert; der Festordner hätte den guten Wein zu Beginn ausgeschenkt, Jesus stellt ihn erst am Ende bereit. Lediglich in den Interaktionen Jesu und der Mutter mit den Tischdienern sind keinerlei Zeitkonflikte zu beobachten. Der Effekt und die Folgen des Geschehens ‒ die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu vor den passiv bleibenden Jüngern und ihr Glaube an ihn ‒ sind wiederum aufschlussreich für die Zeitorientierung Jesu. Sie geben im Nachhinein das übergeordnete Ziel Jesu Handelns in den verschiedenen Interaktionen zu erkennen. Die Verzögerung in Jesu Handeln aufgrund seiner besonderen Zeitorientierung trägt wichtigen Anteil am positiven Resultat seiner Handlungen, obwohl (oder gerade, weil) sie von den üblichen Zeitkonventionen abweicht.
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V. Textanalyse
Blickt man auf die narrative Inszenierung der Interaktionen, wird deutlich, dass hier ein konkretes Geschehen in Zeit und Raum zur Darstellung gebracht werden soll, jedoch ohne dass Zeit und Raum auf einem historischen Zeitstrahl und mit exakten Ortskoordinaten festgelegt werden könnten. Das lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die innerszenischen Zeitstrukturierungen, die das Spiel zwischen Konkretion und Abstraktion gleichsam lebendig halten: Einerseits wirken die Zeitmodulationen vergegenwärtigend (direkte Rede mit verba dicendi im Präsens Historicum; wenige Hintergrundtempora; keine Futurformen; deiktische Zeitangaben wie οὔπω, νῦν, ἕως ἄρτι), andererseits heben sie an entscheidenden Stellen den Blick von der gegenwärtigen Situation auf Zukünftiges und Vergangenes (Prolepsen auf die noch ausstehende Stunde und auf mögliche weitere Zeichen; Perfekta als resultative und kontinuative Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart; der Szene übergeordnete Zeitangaben). Während das Verhalten der Mutter ohne jegliche Zeitangaben und Zeitorientierungen dargestellt wird, man also lediglich aus dem Setting auf implizite Zeitnormen schließen kann, findet sich in Jesu erster Reaktion die entscheidende innerszenische Zeitangabe: οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου. In diesem kleinen Satz kommen ein besonders aussagekräftiges Zeitadverb 88 und eine polytemporale Verbalform89 zusammen. Darüber hinaus wird ein personalisiertes Zeitmetrum zum Subjekt dieses Satzes erhoben. Diese dichte Zeitformel macht Jesu Zeitfokus zum entscheidenden Merkmal seines außergewöhnlichen Verhaltens in dieser Szene. Jesu tatsächliches Eingreifen in die Situation lässt gegenüber dem Zeitkondensat in V. 4 dann wieder jegliche zeitliche Präzision vermissen. Wann und mit welcher Zeitorientierung er trotz seines verzögernden Hinweises den Tischdienern das Füllen, Schöpfen und Bringen befiehlt, ist für die Erzählung nicht entscheidend. Allein ein deiktisches νῦν grenzt das Schöpfen zeitlich vom Füllen ab. Entscheidend ist, dass die Szene zwar mit einem offen artikulierten Zeitkonflikt endet (Festordner vs. Bräutigam/Jesus), der Schlusskommentar aber ein positives Resümee zulässt: Jesu Verhalten auf dem Fest mündet im Glauben der Jünger und in der Offenbarung seiner Herrlichkeit. Glaube und Offenbarung stehen in der Erzählgewichtung eindeutig über einer simplen Einhaltung von Festkonventionen. Zum einen weil Offenbarung und Glaube im finalen Kommentar der Szene das letzte Wort bilden, zum anderen weil das Hochzeitsfest derart anonym gestaltet ist, dass zu Braut und Bräutigam, deren Ehre am 88 Das Temporaladverb οὔπω trifft zugleich Aussagen über Vergangenheit (etwas ist nicht da gewesen), Gegenwart (etwas ist nicht präsent) und Zukunft (etwas ist noch ausstehend). 89 Das Perfekt vereint die ergebnis- und prozessorientierte Perspektive. Es ist resultativ und blickt damit auf eine vergangene Ursache und ihre gegenwärtige tlw. kontinuative Wirkung zugleich (mehr dazu im Methodenteil IV unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform).
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Bruch von Festkonventionen Schaden nehmen könnte, kein großes Mitgefühl entstehen kann. Die potenziellen Erwartungen des Lesers, die sich aus den extra-, inter- und intratextuellen Skripts ergeben können, werden auf unterschiedlichen Ebenen enttäuscht. Insbesondere Jesu Zeitverhalten sorgt beim Leser vor dem Hintergrund seiner vielfältigen Erfahrungen und Erwartungen immer wieder für Überraschungen: Die Zurückweisung der Mutter (statt eines respektvollen Befolgens ihrer Bitte), das Dann-Doch-Eingreifen (entgegen seiner eigenen Ankündigung), die Jesuphanie am dritten Tag (statt einer Theophanie wie in Ex 19–24), der Verweis auf die noch ausstehende Stunde als Argument gegen das Eingreifen (statt der fortgeschrittenen oder vorübergegangenen Stunde als Argument für das Eingreifen in Mk 6,35 | Mt 14,13–21), der Fokus auf den richtigen Zeitpunkt für die Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit (statt auf den richtigen Zeitpunkt für das menschliche Fasten in Mk 2,18–22 parr.) etc. Zur positiven Bewertung Jesu Handelns, trotz vielfältiger Normabweichungen, tragen neben den positiven Folgen auch die heilszeitliche Hintergrundsymbolik (Weinfülle, Hochzeit, Messias-Bräutigam), die erzählzeitliche Dominanz seines Auftretens und die narrativen Verknüpfungen mit der Klimax des Evangeliums, der vollendeten Verherrlichung am Kreuz bei. Doch was ist die ethische Bilanz dieser Textanalyse? Welche zeitethische Orientierung bietet die Erzählung dem Leser an, für welche Zeitnormen wirbt sie? Soll er so handeln wie die Mutter in Ausrichtung an Festkonventionen und in Fürsorge für die Gastgeber oder lieber wie Jesus in Ausrichtung an die eigene Schicksalsstunde, oder wie die Tischdiener in absolutem Gehorsam zu jeder Zeit, oder nach den Konventionen des Festordners? Bietet sich die Erzählung überhaupt zur Mimesis an? Das Resultat der Textanalyse ist ein offenes Fazit und die Aufforderung an den Leser, mitzudenken: (1) Falsch oder richtig? Eine eindeutige Entscheidung, wessen Verhalten als richtig und wessen Verhalten als falsch zu beurteilen ist, serviert die Erzählung dem Leser trotz vielfacher Zeitwahrnehmungsfilter und Bewertungsinstrumente nicht. Das Verhalten Jesu bleibt trotz positiver Folgen und symbolischer Bedeutungsanreicherung v.a. wegen der unpersönlichen und unverständlichen Zurückweisung seiner Mutter ambivalent. Die Mutter wiederum handelt nicht per se falsch, sie stellt ihre Anfrage offensichtlich nur zum falschen Zeitpunkt. So jedenfalls suggeriert es Jesu souveräne Widerrede. Dass sie trotz der Zurückweisung an ihrem Vertrauen auf Jesu Eingreifen festhält, wird von den meisten Exegeten positiv bewertet. 90 90
Vgl. insbes. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 67: „She is the first person in the narrative to show [...] that the correct response to the presence of Jesus is trust in his word.“
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V. Textanalyse
Gegenüber dem Verhalten der Tischdiener zeigt sich die Erzählung indifferent. Sie stehen weder im Zentrum der Aufmerksamkeit, noch stehen besondere Instrumente für die Bewertung ihres Verhaltens parat. Ihr absoluter Gehorsam gegenüber der Mutter und Jesus wird von der Narration gar nicht hinterfragt. Der Kommentar des Festordners wirkt zumindest auf Geschehensebene deplatziert. Statt über die plötzlichen Weinressourcen zu staunen und sich über den guten Wein und die Abwendung einer gastronomischen Katastrophe zu freuen, stellt er lediglich die Diskrepanz zu einer Ausschenkkonvention fest. Nichtsdestotrotz bleibt die Intention seiner Anmerkung offen: Ist sie vorwurfsvoll oder ehrfürchtig gemeint? Auf der Ebene der Darstellung dient sein Einwand freilich der Betonung der besonderen Verzögerung des ‚Guten‘ (V. 10: Du hast den guten Wein bist jetzt zurückbehalten). (2) Nachahmung? Dem Verzicht auf eine unterkomplexe Einteilung in ‚richtig‘ und ‚falsch‘ korrespondiert der Verzicht auf spiegelbildliche Nachahmungsappelle. 91 Sich fortan stets am mehrdeutigen Stundengeschick Jesu statt an bewährten gesellschaftlichen Konventionen zu orientieren, wirkt unrealistisch, Zurückweisungen zu ignorieren wirkt unhöflich, absoluten Gehorsam zu leisten wirkt unmündig, bei positivem Ausgang auf Konventionsbrüche zu verweisen wirkt kleinkariert. Doch die Erzählung liefert eben auch keine situationssterilen Laborprinzipien, die universal und multisituativ anwendbar sind. Das Verhalten keiner der Figuren erweist sich als in jeder Hinsicht und jeder Situation nachahmenswert, auch nicht das Verhalten Jesu. Wer würde wollen, dass die eigene Mutter künftig mit Phrasen wie Was hast du mit mir zu schaffen, Frau? und undurchsichtigen kairotischen Argumenten zurückgewiesen wird? Das macht die Erzählung aber noch lange nicht ethisch unbrauchbar. Die ethische Energie der Erzählung entwickelt sich ja gerade daraus, dass sie keine lebensfremde Reagenzglas-Ethik betreibt und absolute Handlungsprinzipien serviert. Nicht Jesu Zeichenhandlung i.S. einer Machtdemonstration, sondern sein besonderer Zeithorizont ist der entscheidende Zugriffspunkt für eine ethische Reflexion. (3) Reflexion! Was die Erzählung also auslöst, sind Abwägungsprozesse, die den konkreten (zeitlichen) Kontext des Figurenverhaltens mitbedenkt. Wenn der ethische Mehrwert der Erzählung nicht in der positivistischen Setzung universal an-
91 Ohnehin ist der Begriff der Mimesis nach Ricœur nicht i.S. eine Abbildung oder identischen Kopie zu verstehen. Mimesis impliziert immer auch poiesis, eine kreative Anwendung und situative Applikation des beobachteten Sachverhalts, der Handlung, des Charakterzugs (vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 59; ferner ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 93.). Vorbildchristologie meint keine Imitatio-Christologie (vgl. DERS., Christologie der Bilder, 2004, 440).
1. Joh 2,1–11[12]
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wendbarer Kairoi aufgeht, so muss er mit der Form der Reflexion zusammenhängen. Welche Art der Abwägung schlägt die Erzählung vor? Im Verhalten der Mutter sind keine Erwägungen über den Handlungskairos zu erkennen. Der Verweis des Festordners auf gastronomische Zeitprinzipien ist nicht überzeugend. Somit tritt die temporale Abwägung Jesu umso stärker in den Vordergrund. Sein Zögern mit Verweis auf seine noch nicht gekommene Stunde ‒ ob damit nun grundsätzlich der günstige Moment oder konkret die Stunde der Verherrlichung gemeint ist ‒ trägt Nachdenklichkeit in das Geschehen ein und eröffnet überhaupt erst die Möglichkeit zur Reflexion. Was meint er mit seiner Stunde? Weshalb weist er seine Mutter zurück? Warum reagiert sie nicht verärgert oder resigniert? Warum wird Jesus dann doch aktiv? ‒ diese Fragen blockieren schnelle ethische Lösungen und Urteile. Das Besondere an der Verzögerung in der Kanaszene ist, dass sie einen Deutungsfilter auf das Wundergeschehen legt: Nicht nur rät Jesu Vorbild von zu schnellen Beurteilungen vor dem Hintergrund fester Kategorien und Konventionen ab, sein Verhalten wird zudem in eine Zeitperiode eingeordnet, in der die Stunde noch aussteht, in der noch nicht alles offenbar ist. Die innerszenische Verzögerung erwirkt also einen grundsätzlichen Urteils- und Deutungsvorbehalt zugleich auch auf höherer Ebene. Unsere alltäglichen Zeitberechnungen und -ordnungen sind alle im Bewusstsein der Endlichkeit, der Begrenzung erstellt. Der Verweis Jesu auf seine Stunde als Stunde der Kreuzigung und Verherrlichung, der Moment, in dem aus dem absoluten Ende ein neuer Anfang erkennbar wird, lässt die alltäglichen Zeitorientierungen neu validieren.92 Und so zeigt auch der Kommentar des Festordners, dass das Festhalten an starren Zeitkonventionen und Zeitordnungen u.U. dabei hinderlich ist, das für die Situation Entscheidende sehen zu können. Der Hinweis auf den Konventionsbruch wirkt ja deshalb so deplatziert, weil hier vom Festordner etwas Wesentliches übersehen wird: der Neuanfang mitten im drohenden Ende. Es steht auf einmal wieder Wein zur Verfügung, sogar besserer Wein als zuvor. Die Hochzeit ist gerettet!
92
Vgl. PARSENIOS, Rhetoric and Drama in the Johannine Lawsuit Motif, 2010, 113: „The very combination of the terms glory and honor in the sign at the Wedding at Cana show precisely the way in which John often violates the strictly linear development of time. Or rather John establishes a strict set of time relations in the life of Jesus, and then violates and transcends them.“
242
V. Textanalyse
2. Joh 4,43–54: Leben über Ort und Zeit hinweg 2. Joh 4,43–54
2.1 Eigene Übersetzung 43
Μετὰ δὲ τὰς δύο ἡμέρας ἐξῆλθεν ἐκεῖθεν εἰς τὴν Γαλιλαίαν 44 αὐτὸς γὰρ Ἰησοῦς ἐμαρτύρησεν ὅτι προφήτης ἐν τῇ ἰδίᾳ πατρίδι τιμὴν οὐκ ἔχει. 45 ὅτε οὖν ἦλθεν εἰς τὴν Γαλιλαίαν, ἐδέξαντο αὐτὸν οἱ Γαλιλαῖοι πάντα ἑωρακότες ὅσα ἐποίησεν ἐν Ἱεροσολύμοις ἐν τῇ ἑορτῇ, καὶ αὐτοὶ γὰρ ἦλθον εἰς τὴν ἑορτήν. 46 Ἦλθεν οὖν πάλιν εἰς τὴν Κανὰ τῆς Γαλιλαίας, ὅπου ἐποίησεν τὸ ὕδωρ οἶνον. Καὶ ἦν τις βασιλικὸς οὗ ὁ υἱὸς ἠσθένει ἐν Καφαρναούμ. 47 οὗτος ἀκούσας ὅτι Ἰησοῦς ἥκει ἐκ τῆς Ἰουδαίας εἰς τὴν Γαλιλαίαν ἀπῆλθεν πρὸς αὐτὸν καὶ ἠρώτα ἵνα καταβῇ καὶ ἰάσηται αὐτοῦ τὸν υἱόν, ἤμελλεν γὰρ ἀποθνῄσκειν. 48
εἶπεν οὖν ὁ Ἰησοῦς πρὸς αὐτόν· ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε, οὐ μὴ πιστεύσητε. 49 λέγει πρὸς αὐτὸν ὁ βασιλικός· κύριε, κατάβηθι πρὶν ἀποθανεῖν τὸ παιδίον μου. 50 λέγει αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ. ἐπίστευσεν ὁ ἄνθρωπος τῷ λόγῳ ὃν εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς καὶ ἐπορεύετο.
93
43
Nach zwei Tagen aber ging er von dort nach Galiläa. 44 Denn Jesus selbst bezeugte, dass ein Prophet in der Heimat keine Ehre hat. 45 Als er also nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer auf, weil sie alles gesehen hatten,93 was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte, denn auch sie waren zu dem Fest gekommen. 46 Er kam also wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. Und es war/gab ein[en] Königlicher[n], 94 dessen Sohn war krank in Kafarnaum. 47 Als dieser hörte,95 dass Jesus aus Judäa nach Galiläa gekommen war, ging er zu ihm hin und bat ihn, herabzusteigen und seinen Sohn zu heilen, denn er lag im Sterben.96 48 Jesus sagte also zu ihm: ‚Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht.‘ 49 Zu ihm sagt der Königliche: ‚Herr, steig herab, bevor mein Kind stirbt.‘ 50 Sagt ihm Jesus: ‚Geh, dein Sohn lebt!‘ Der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus ihm gesagt hatte und ging.
Die Entscheidung fällt hier zugunsten einer kausalen Auflösung des Partizipialsatzes πάντα ἑωρακότες [...], da die Begegnung mit Jesus auf dem Fest in Jerusalem einen Grund dafür liefert, Jesus (entgegen dem Prophetenwort Joh 4,44) in der Heimat aufzunehmen. 94 Stärker: jemand Königliches/irgendein Königlicher (τις βασιλικὸς). Nach BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 61988, 273 handelt es sich wahrscheinlich um einen königlichen Beamten. Der erste Teilsatz wird nicht prädikativ übersetzt (es war jemand königlich), da die Hauptaussage des Satzes bei der Krankheit des Sohnes des Königlichen und nicht bei der Königlichkeit/dem königlichen Beamtenstatus des τις vermutet wird. 95 Hier liegt eine temporale Übersetzung des participium coniunctum unmittelbar nahe. 96 Durch μέλλω + Inf. wird das unmittelbare zeitliche oder unausweichliche Bevorstehen einer Handlung/eines Erleidens/eines Ereignisses ausgedrückt (vgl. a.a.O., 1015).
2. Joh 4,43–54 51
ἤδη δὲ αὐτοῦ καταβαίνοντος οἱ δοῦλοι αὐτοῦ ὑπήντησαν αὐτῷ λέγοντες ὅτι ὁ παῖς αὐτοῦ ζῇ. 52 ἐπύθετο οὖν τὴν ὥραν παρ᾽ αὐτῶν ἐν ᾗ κομψότερον ἔσχεν· εἶπαν οὖν αὐτῷ ὅτι ἐχθὲς ὥραν ἑβδόμην ἀφῆκεν αὐτὸν ὁ πυρετός. 53
ἔγνω οὖν ὁ πατὴρ ὅτι [ἐν] ἐκείνῃ τῇ ὥρᾳ ἐν ᾗ εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· ὁ υἱός σου ζῇ, καὶ ἐπίστευσεν αὐτὸς καὶ ἡ οἰκία αὐτοῦ ὅλη. 54 Τοῦτο [δὲ] πάλιν δεύτερον σημεῖον ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς ἐλθὼν ἐκ τῆς Ἰουδαίας εἰς τὴν Γαλιλαίαν.
243
51
Aber schon während er hinabging 97 kamen ihm seine Knechte entgegen und sagten,98 dass sein Kind lebt. 52 Er erkundigte sich also bei ihnen nach der Stunde, in der es besser mit ihm geworden war. Sie sagten ihm also, dass ihn gestern zur siebten Stunde das Fieber verließ. 53 Der Vater erkannte also, dass es jene Stunde war, in der ihm Jesus gesagt hatte: ‚Dein Sohn lebt‘, und er glaubte, er und sein ganzes Haus. 54 Dies ist wiederum das zweite Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam.99
2.2 Abgrenzung, Figurenkonstellation und Kontext Der Schauplatz der Fernheilung in Joh 4,43–54 ist Galiläa, wohin Jesus und seine Jünger nach dem ersten Passafest von Judäa aus aufgebrochen waren (Joh 4,1–3). Der Weg führte sie über Sychar in Samaria, einem Ort wichtiger Glaubensbegegnungen, wieder zurück nach Kana, wo Jesus bereits das erste Zeichen gewirkt hatte: die Verwandlung von Wasser zu Wein (Joh 2,1–12). Die Abgrenzung der Interaktionssequenz erfolgt v.a. über den Ortswechsel von Samaria nach Galiläa (V. 43) und die veränderte Personenkonstellation: Οἱ Σαμαρῖται werden von οἱ Γαλιλαῖοι abgelöst (V. 45), zwei neue Protagonisten, τις βασιλικὸς und υἱὸς αὐτοῦ, werden eingeführt (V. 46), und zum Ende der Erzählung treten οἱ δοῦλοι αὐτοῦ (V. 51) hinzu. Eine wichtige Statistenrolle kommt der Gruppe der Galiläer in dieser Szene zu. Sie nehmen Jesus bei sich auf, denn beim Fest in Jerusalem hatten sie seinen Taten beiwohnen dürfen (V. 45). Man kann vermuten, dass sie zu dem Kollektiv der πολλοί aus Joh 2,23f. gehören, denen zwar in Folge der Zeichenhandlungen Jesu in Jerusalem Glaube attestiert wird, sie aber umgekehrt nicht auf den Glauben oder das Vertrauen Jesus stoßen, weil er sie alle kannte (αὐτὸς δὲ 97
Das Temporaladverb schon (ἤδη) am Beginn des Satzes legt eine Übersetzung des genitivus absolutus καταβαίνοντος mittels einer Konjunktion der Gleichzeitigkeit (während) nahe. 98 Hier wäre auch eine finale Auflösung des participium coniunctum λέγοντες möglich: um zu sagen, dass sein Kind lebt. 99 Der erste Teil des Satzes wird als Nominalsatz übersetzt, da die Betonung auf der Zählung der Zeichen vermutet wird. Entscheidet man sich für eine stärkere Betonung der itinerarischen Details, könnte der Satz wie folgt übersetzt werden: Dieses wiederum zweite Zeichen tat Jesus als er aus Judäa nach Galiläa kam.
244
V. Textanalyse
Ἰησοῦς οὐκ ἐπίστευεν αὐτὸν αὐτοῖς διὰ τὸ αὐτὸν γινώσκειν πάντας). Im Anschluss an die Weinverwandlung in Kana wurde einzig der Glaube der Jünger, nicht aber der Glaube der restlichen Hochzeitsgesellschaft oder eines galiläischen Kollektivs festgehalten. Die Haltung der Galiläer zu Jesus ist von dem, was wir bisher wissen, also ambivalent. Der Erzählerkommentar über Jesu Zeugnis vom Schicksal des Propheten im eigenen Vaterland (V. 44) trägt einen weiteren Vorbehalt gegenüber den ‚Landsmännern‘ Jesu ein, allerdings herrscht innerhalb der Forschung Uneinigkeit darüber, was überhaupt als πατρίς Jesu zu gelten habe.100 Soll anhand dieses Zeugnisses wirklich die Haltung der Galiläer gegenüber Jesus unter Vorbehalt gestellt werden oder ist mit dem Vaterland Judäa, genauer Jerusalem gemeint? Für Deutung in beiderlei Richtung gibt es gewichtige Argumente, die im Rahmen der Analyse von Orts- und Zeitangaben weiter erörtert werden sollen. Im Zentrum der Perikope stehen zwei Figuren: Jesus und τις βασιλικὸς, wohl ein königlicher Beamter bzw. ein Mitarbeiter aus dem herodianischen Stab.101 Die Jünger Jesu werden in dieser Interaktionssequenz kein einziges Mal erwähnt. Über den königlichen Beamten liefert die Erzählung auffallend wenige Details. Meist mit Genera ausgewiesen (τις βασιλικὸς in V. 46; ὁ ἄνθρωπος in V. 50; ὁ πατήρ in V. 53), erfahren wir lediglich von seinem kranken Sohn in Kafarnaum (V. 47), möglicherweise auch der Heimat- oder Wohnort des Vaters. Es lässt sich darüber spekulieren, ob der Königliche und Jesus sich schon einmal begegnet sind. Jesus war schließlich vor der Reise nach Jerusalem mit den Jüngern, seinen Brüdern und seiner Mutter nach Kafarnaum hinabgestiegen (Joh 2,12). Den Namen oder das Alter des Sohnes erfahren wir nicht, auch nicht die Art seiner Krankheit. Er wird als ὁ υἱός (V. 46), παιδίον (V. 49) ὁ παῖς (V. 51) bezeichnet, ohne selbst je ‚live‘ in Erscheinung zu treten. Ob es sich bei Vater und Sohn um Juden oder Heiden handelt, wird nicht ausdrücklich zum Thema erhoben, wie es die synopt. Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum tut (Mt 8,10 | Lk 7,9). Entweder ist dies für die Erzählung nicht von Belang,102 oder die Zuordnung zum Königshaus ist Hinweis genug auf dessen jüdische Abstammung. 103 Zweifelsohne wird mit der Benennung des βασιλικός und seiner δοῦλοι (V. 51f.) ein hierarchisches Gefüge aufgemacht, das für die Figurenkonstellation nicht unbedeutend ist. Neben bzw. um die Knechte herum spielt das ganze
100
Für einen Überblick über die unterschiedlichen Forschungsmeinungen vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 282–284. 101 Vgl. a.a.O., 287. 102 Vgl. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium I, 2000 (1965), 498. 103 Vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 287.
245
2. Joh 4,43–54
Haus des Königlichen (ἡ οἰκία αὐτοῦ ὅλη) eine Rolle, insofern das zweite Zeichen, das Jesus in Kana tat, auch bei ihnen Wirkung entfaltet (V. 53). 2.3 Zeitverhalten 2.3.1 Interaktionsanalyse Jesus und die Galiläer Jesus und der Königliche Die Knechte und der Königliche + das Haus des Königlichen
4,43–45 4,46–50 4,51–53
Jesus und die Galiläer (Joh 4,43–45) Nach den ersten itinerarischen Details über den Weg Jesu und der Jünger von Samaria nach Galiläa (V. 43) und einem dazugehörigen Erzählerkommentar (V. 44) setzt die erste Interaktion zwischen Jesus und den Galiläern ein. Jesu Kommen in die Region Galiläa wird in Joh 4,1–3 mit dem Wissen der Pharisäer über seine Tauftätigkeit in Zusammenhang gebracht. Jesu Abreise aus dem Gefahrengebiet wird dort aber nicht mit dem fehlenden Kairos oder der noch ausstehenden Stunde in Zusammenhang gebracht, wie es später im Evangelium der Fall sein wird (vgl. Joh 7,6.30; 8,20). Weshalb beendet Jesus seine bzw. der Jünger Tauftätigkeit in Judäa? Will er sich zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht in die Auseinandersetzung mit den Pharisäern begeben, weil er um sein Leben fürchtet oder weil es noch andere Stationen zu bereisen gibt? Dass ihm der Tod unausweichlich bevorsteht, hatte er ja bereits bei der Tempelreinigung (Joh 2,19) in Bildern offenbart. Die Auseinandersetzung mit den Pharisäern aus reiner Angst vor dem biographischen Ende zu scheuen ist vor diesem Hintergrund wenig plausibel. Eine weitere Facette in der Frage nach den Gründen für die Reise nach Galiläa bringt Jesu Zeugnis über den Status eines Propheten in seinem Heimatland (V. 44) ins Spiel. Jesus geht nach Galiläa, weil (γάρ) ein Prophet im Heimatland nichts gilt. Wiederum kann man fragen: Tut er dies, weil er die Auseinandersetzung im Heimatland Judäa scheut oder weil er in seinem Heimatland Galiläa noch Offenbarungsarbeit zu leisten hat? Steht seine eigene Lebenszeit im Mittelpunkt seiner Handlungsentscheidungen oder ist er an einem anderen Zeitsystem orientiert? Und weshalb dauert sein Zwischenstopp in Samaria auf dem Weg von Judäa nach Galiläa exakt zwei Tage? Handelt es sich hier um eine kausale oder eine finale Motivierung? Bleibt er so lange wie möglich, weil die Samaritaner ihn bitten (V. 40), oder so lange wie nötig, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen? Die Galiläer reagieren auf Jesu Ankunft in ihrem Land mit Gastfreundlichkeit, von fehlendem Ehrerweis kann eigentlich keine Rede sein. Als er kommt (ὅτε οὖν ἦλθεν), nehmen sie ihn unverzüglich auf (ἐδέξαντο αὐτόν), so legt es jedenfalls die Temporalkonjunktion nahe. Sie sind dabei an ihrer Erfahrung mit
246
V. Textanalyse
Jesu Handeln während des Festes in Jerusalem (gemeint ist vielleicht das in Joh 2,13–35 beschriebene Passafest) orientiert. Auch wenn der Text dies nicht explizit zum Grund ihrer Gastfreundschaft macht, dürften sie auch von der Zeichenhandlung auf dem Hochzeitsfest in Kana gehört haben. Mit der offenen Aufnahme Jesu in ihrer Mitte erwarten die Galiläer allem Anschein nach, Augenzeugen weiterer Zeichenhandlungen zu werden. Sie projizieren eine Erfahrung der Vergangenheit auf die neue Situation und erwarten für die Zukunft Analoges. Hier spielt die kognitive Zeit, die erfahrungsbasierte Situationserfassung eine Rolle. Jesus kommt dieser Erwartung schließlich auch nach, allerdings nicht sofort und nur zu einem gewissen Grade, denn sein Verhalten zielt weniger auf die äußere Sichtbarkeit und Bezeugbarkeit des Zeichens ab ‒ es handelt sich schließlich um eine Fernheilung ‒, sondern es geht ihm um das Vertrauen in sein Wort, und zwar über die räumliche und zeitliche Grenze alles Sichtbaren hinaus. Jesus und der Königliche (Joh 4,46–50) Jesus wählt in Galiläa erneut den Ort Kana als Destination, wo er bereits Wasser zu Wein gemacht hatte. Was er dort zu tun plant (taufen, predigen, jemanden besuchen?) wird nicht berichtet. Als der Königliche von Jesu Aufenthalt in Kana hört, kommt er sofort zu ihm, so legt es die Partizipialkonstruktion jedenfalls nahe (V. 47), wohl von Kafarnaum aus, wo sein kranker Sohn liegt. Er bittet Jesus darum, hinabzusteigen und seinen todkranken Sohn zu heilen. Da dieses erste Bitten nur in Form einer indirekten Rede wiedergegeben ist, wissen wir nicht, wie direkt und nachdrücklich er Jesus dazu auffordert. Der Königliche hat, seiner Bitte nach zu urteilen, bereits eine Idee von der Person Jesu, ob durch persönliche Begegnung oder dem Vernehmen nach, die ihn zu diesem Hilfsgesuch veranlasst. Sein Handeln ist getrieben von der Angst vor dem frühzeitigen Ablauf der Lebenszeit des Sohnes. Der Tod des Sohnes würde eine Umkehrung der natürlichen Zeitabläufe bedeuten: Die Sohneszeit endet vor der Vaterzeit. Was kann es Schlimmeres geben, als den eigenen Sohn zu verlieren und zu überleben? Aber er bedenkt auch die topographische Zeitdimension: Die Krankheit ist weit fortgeschritten und muss schleunigst kuriert werden, doch dafür müsste der Heilende zunächst noch einiges an Wegstrecke von Kana nach Kafarnaum zurücklegen. Die Zeit drängt. Jesus reagiert auf die Anfrage zeitlich wohl unmittelbar mit einem Konditionalsatz: Wenn ihr keine Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht (V. 48: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε, οὐ μὴ πιστεύσητε). Er geht auf die Anfrage des Königlichen inhaltlich nicht direkt ein. Ob diese abstrakte Feststellung über die Glaubensbedingungen einer unbestimmten Ihr-Gruppe überhaupt an den Königlichen selbst gerichtet ist oder an ein galiläisches Kollektiv, geht aus der Erzählung nicht hervor. Soll mit dieser Aussage ein unzureichender Wunder-
2. Joh 4,43–54
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glaube kritisiert werden, oder ist darunter eine Ankündigung oder Absichtserklärung Jesu für die bevorstehende Wunderheilung zu verstehen? In erstem Falle wäre Jesus an den negativen Erfahrungswerten der Vergangenheit orientiert, etwa an der voyeuristisch motivierten Gastfreundschaft der Galiläer; im letzteren Falle verließe er sich darauf, was zukünftig in seiner und seines Vaters Macht steht, und handelte im Blick auf das Telos des Glaubens. Der drohende Tod des Sohnes und die Distanz zwischen Kana und Kafarnaum sind für Jesus jedenfalls kein Grund zur Eile. Der Königliche muss erneut in Bittstellung treten. Diesmal hören wir die Bitte in direkter Rede: κύριε, κατάβηθι πρὶν ἀποθανεῖν τὸ παιδίον μου | Herr, steig herab, bevor mein Kind stirbt (V. 49). Der erneuten Bitte wird durch die unterordnende Anrede (κύριε) trotz hoher Stellung des königlichen Beamten, durch die zeitliche Brisanz (πρὶν ἀποθανεῖν) und die enge Befangenheit (τὸ παιδίον μου) Nachdruck verliehen. Immer noch wird der Königliche von biographischen bzw. topographischen Zeitnormen geleitet, immer noch ist sein Interaktionszweck, Jesus so schnell wie möglich zum Gang nach Kafarnaum zu bewegen. Jesus jedoch bricht erneut mit diesen Erwartungen. Er setzt sich nicht in Bewegung, sondern belässt es bei einer wiederum zeitlich unmittelbaren, aber kurzen Sprechhandlung: πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ | Geh, dein Sohn lebt (V. 50). Ein Vierfaches ist an dieser Reaktion bemerkenswert: (1) Jesu lebensspendende Kraft ist nicht von seiner physischen Präsenz oder einer bestimmten Heilungshandlung, etwa dem Handauflegen, abhängig. (2) Jesus sagt nicht: Dein Sohn ist wieder gesund geworden, sondern Dein Sohn lebt. Damit stellt er nicht das Wunder der Heilung i.S. einer Besserung zum Zeitpunkt der Todesbedrohung in den Vordergrund, sondern das Wunder der kontinuierlichen Lebensfülle, die nicht versiegt. (3) Der Imperativ der Bewegung des Königlichen an Jesus (κατάβηθι) kehrt sich augenblicklich in einen Imperativ Jesu an den Königlichen (πορεύου) um. (4) Der Befehl zum Gehen (πορεύου) bleibt ohne Richtungsund Zielbestimmung. War zuvor immer vom Hinabsteigen (καταβαίνειν) die Rede, so fordert Jesus den Königlichen nun im Imperativ Präsens, also in einem auf den Vollzug, nicht auf die Vollendung der Tätigkeit fokussierten Tempus zum Gehen auf. Es geht nicht um das Ankommen des Königlichen beim genesenen Sohn, sondern um sein Vertrauen in Jesu Wort, das er durch den prompten Aufbruch und den Verzicht auf weitere Bitten beweisen würde. Der Königliche reagiert in der Tat, indem er unmittelbar dem Befehl befolgt, weil er, wie der Erzähler zu berichten weiß, dem Wort Jesu glaubt. Das im Konditionalsatz (V. 48) formulierte, übergeordnete Interaktionsziel Jesu ist damit erreicht. Im Rahmen der Begegnung mit seinen Knechten erkennt der Königliche sofort die zeitliche Kongruenz zwischen der Genesung seines Sohnes und den Worten Jesu. Ist das Lebenswort einmal ausgesprochen und geglaubt, kommt es zu keinerlei Verzögerung mehr.
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V. Textanalyse
Die Knechte und der Königliche + das Haus des Königlichen (Joh 4,51–53) In der Interaktionssequenz ist eine weitere Begegnung enthalten. Als der Königliche hinabsteigt, kommen ihm seine Knechte frühzeitig entgegen, um Jesu Lebenswort zu bestätigen, ὅτι ὁ παῖς αὐτοῦ ζῇ | dass sein Sohn lebt (V. 51). Jesu Lebenswort spiegelt sich in ihrem Bericht wortwörtlich wider. Ihr eiliges Entgegenkommen ist wohl mit der schlichten Freude und Ungeduld, die positive Nachricht zu überbringen, zu räsonieren. Sie wollen dem Königlichen schnellstmöglich die Last der väterlichen Sorge nehmen und an seiner Freude teilnehmen. Dieser Freude verleiht der Königliche nicht unmittelbaren Ausdruck, er interessiert sich zunächst für die genaue Stunde, in der bei seinem Sohn Besserung eingetreten ist. Damit scheint auch er nun an einer anderen Zeit als der biographischen orientiert. Er möchte herausfinden, ob zwischen Jesu Wort und der eingetretenen Heilung wirklich eine Verbindung besteht. Es geht ihm nicht nur um das Dass der Heilung, sondern auch um das Wie. Die Knechte geben Auskunft, dass das Fieber seinen Sohn gestern zur siebten Stunde verließ und der Königliche erkennt den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Jesu Lebenswort und -wirkung. Neue Lebenszeit wird über den Glauben an Jesu Gleichzeitigkeit, an seine simultane Lebenspräsenz, seine Macht über die Zeit errungen. Die Folge dieses Zeichenhandelns ist der Glaube des ganzen Hauses des Königlichen. Das Interaktionsziel Jesu wird ebenso, wie es im Plural formuliert war, nun auch im Plural erfüllt. 2.3.2 Auswertung Die Interaktionszwecke aller drei aktiven Personen(-gruppen) werden erfüllt. Keine Forderung, kein Bitten, keine Hoffnung bleiben gänzlich unerfüllt, wohl aber gibt es Abweichungen gegenüber manch einer konkreten Erwartung. So erleben die Galiläer, die an ihrer vergangenen Erfahrung mit Jesu Wunderhandeln orientiert sind, zwar ein weiteres Wunder, jedoch nicht als Augenzeugen. Sie müssen, wie auch der Königliche, darauf vertrauen, dass Jesu Lebenswort schon in dem Moment, in dem er es ausspricht, wahr ist. Nie begegnen sie dem Geheilten persönlich und können sich selbst ein Bild von den Konsequenzen Jesu Handelns machen. Auch des Königlichen Hoffnung auf Jesu helfendes Eingreifen wird erfüllt, allerdings nicht auf erwartete Art und Weise. Jesus widersteht der mehrmaligen Bitte des Königlichen, mit ihm nach Kafarnaum hinabzusteigen, um den Sohn mit seiner leiblichen Präsenz, etwa durch Handauflegen zu heilen. Für ihn gibt es keinen Grund zur Eile, weil sein Lebenswort nicht von Ort und Zeit abhängig ist. Es ist immer wirksam. Schließlich wird Jesu übergreifendes Interaktionsziel in seiner Ausrichtung am Telos des Glaubens und der kontinuierlichen Lebensfülle über Orte und Zeiten hinweg erreicht: Es glauben sowohl der Königliche als auch sein ge-
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samtes Haus und dies ohne Verzögerung. Der Königliche reagiert ohne Umschweife auf Jesu Befehl aufzubrechen und realisiert die zeitliche Zusammenkunft zwischen der Genesung seines Sohnes und den Worten Jesu. Allein Jesu Zeugnis über die fehlende Anerkennung im Heimatland bleibt unverständlich. Welche Ehre wird ihm von wem verwehrt? 2.4 Zeitinszenierung 2.4.1 Semantik Rahmende Zeit- und Ortsangaben Die Erzählung von der Fernheilung des Sohnes eines Königlichen stellt Orts und Zeitangaben in einen engen und bedeutungsvollen Zusammenhang. Erst die zeitlichen und örtlichen Umstände machen die Genesung des Kindes letztlich zu diesem besonderen Zeichengeschehen. Nach den zwei Tagen Aufenthalt in der Stadt Sychar in Samaria bzw. am nahegelegenen Jakobsbrunnen (V. 43: μετὰ δὲ τὰς δύο ἡμέρας; vgl. V. 40) reist Jesus weiter nach Galiläa. Die Zweitagesformel gibt zwar eine ungefähre Ahnung über die Dauer des Aufenthaltes Jesu in Samaria, eine absolute Chronologie der Ereignisse lässt sich daraus aber nicht erheben. Es handelt sich um eine zeitbegrenzenden Angabe, deren Aussagewert von ihrer Position im Text abhängt (anaphorisch) und demnach relativ zu anderen Zeit- und Ortsbestimmungen steht, nicht aber auf einen bestimmten historischen Kalendertag verweist.104 Auch der anaphorischen Zeitpositionsangabe im Anschluss an die Heilung (Joh 5,1: μετὰ ταῦτα ἦν ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων | danach war ein Fest der Juden) fehlt es in doppelter Hinsicht an Präzision: Zum einen, weil das μετὰ ταῦτα den genauen zeitlichen Abstand zwischen Heilung und dem anschließenden Fest offenlässt und zum anderen, weil sie den Namen des Festes und damit seine kalendarische Einordnung schuldig bleibt. Die zeitlichen Rahmenangaben des Heilungswunders bleiben somit schemenhaft. Analog dazu büßen auch die Ortsangaben und -charakterisierungen an absoluter Präzision ein. Wie lässt sich das bisherige Itinerar Jesu bis zu dieser zweiten Galiläareise nachzeichnen? Die erste berichtete zwischenmenschliche Begegnung Jesu geschieht am Taufort des Johannes, in Bethanien jenseits des Jordans (Joh 1,28f.). Von dort aus zieht Jesus nach Galiläa, möglicherweise 104
Für R. Schnackenburg hat diese Zeitangabe „schwerlich einen symbolischen Sinn, sondern deutet nur das Drängen Jesu an, nach Galiläa zurückzukehren (vgl. 4,4 ἔδει).“ (SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium I, 2000 [1965], 494). Das Bleiben Jesu an einer berühmten Wasserstelle wird an anderer Stelle jedoch in ähnlicher Weise rhythmisiert und vor einer Wunderhandlung platziert, nämlich beim Aufenthalt Jesu am Taufort des Johannes jenseits des Jordans kurz vor der Reise zu Lazarus nach Bethanien (Joh 10,40; 11,6). Auch der anfängliche Aufbruch aus Judäa (Joh 4,1–4) stand im Kontext der Tauftätigkeit Jesu bzw. der Jünger.
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V. Textanalyse
Bethsaida, der Stadt des Andreas und Petrus am See Genezareth (Joh 1,43f.). Die drei Etappen der Johannesbegegnung und der Jüngerwerbung geschehen jeweils am nächsten Tag (τῇ ἐπαύριον in Joh 1,29.35.43). Am dritten Tag (Joh 2,1: τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ) kommt Jesus dann nach Kana auf das Hochzeitsfest. Weder geht diese Zählung numerisch auf, noch scheint die erzählte Reiseroute (von Bethanien jenseits des Jordans über Bethsaida nach Kana) binnen dieser wenigen Tage wahrscheinlich. Doch die exakte, linear-chronologische Wiedergabe der historischen Reiseroute steht wohl auch nicht im Zentrum der Aussageabsicht. Vielmehr werden paradigmatische Orte der Glaubensinitiation erzählerisch aufgesucht und mit Details ausgestattet, um dem Geschehen jenseits aller exakten historischen Plausibilität die nötige Konkretion, Plastizität und Anschaulichkeit zu verleihen. Die Orts- und Zeitbestimmungen sind also nicht dazu da, die genauen historischen Reisedetails zu liefern, sondern um die unterschiedlichen Etappen in einen bedeutungsvollen Zusammenhang zu bringen und die konkreten Begegnungen Jesu temporal sowie lokal nachvollziehbar und realistisch werden zu lassen. Von dem Hochzeitsfest in Kana geht es nach Kafarnaum, wo Jesus, seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger nicht viele Tage bleiben (Joh 2,12: ἔμειναν οὐ πολλὰς ἡμέρας). Der erste Abstecher in Kafarnaum wird mit keinerlei Details über Ort, Zeit und Interaktionen ausstaffiert. Will dieses erzählerische Interim zwischen Hochzeits- und Passafest einen zeitlichen Puffer einbauen? Oder will es nur aussagen, dass man Jesus nun auch in Kafarnaum kennt? Für das Passafest reist Jesus nach Jerusalem (Joh 2,13), im Anschluss daran in die Region Judäa (Joh 3,22), diese Etappe bleibt jedoch ohne genaue Ortsdetails (einzig der Aufenthaltsort des Johannes wird in Joh 3,23 benannt: ἐν Αἰνὼν ἐγγὺς τοῦ Σαλείμ), und zwar weil hier keine Einzelbegegnungen im Vordergrund stehen, sondern eine Verhältnisbestimmung zwischen Jesus und Johannes dem Täufer. Von hier aus geht es dann über Samaria nach Galiläa, zurück nach Kana, wo der joh. Jesus einem Mann aus Kafarnaum begegnen soll. Stark umstritten ist in diesem Zusammenhang der Bezugspunkt Jesu Zeugnis in V. 44: Welcher dieser Orte und Regionen hat als ἴδια πατρίς Jesu zu gelten, in dem der Prophet keine Ehre hat? Jesus reist gerade von Judäa aus über Samaria nach Galiläa. Fünf Lösungen sind denkbar: (1) Für Galiläa/Nazareth als πατρίς Jesu spräche nicht nur manch eine Herkunftsbestimmung im restlichen Evangeliumstext (Joh 1,45f.; 6,42; 7,3.41f.52; 18,5.7; 19,19), auch die synopt. Parallelen weisen Galiläa/Nazareth im Kontext des Prophetenspruchs in Mk 6,4 | Mt 13,57 | Lk 4,42 als Jesu Heimatort aus. Wertet man darüber hinaus die Entgegnung Jesu auf die Anfrage des Königlichen in V. 48 als allgemeine Kritik am Wunderglauben der Galiläer,105 so wäre dies mit den kritischen Bemerkungen über den Glauben der Passafestbesucher 105
Vgl. u.a. a.a.O., 493; THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 357.
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aus Joh 2,23–25 (darunter auch galiläische Festreisende; vgl. V. 45) vereinbar und auch das Prophetenwort aus V. 44 ließe sich wunderbar in diesen Rahmen eingliedern: Die Galiläer glauben nur, wenn sie Wunder und Zeichen sehen, bei ihnen findet der Prophet deshalb keine Ehre (τιμή). Die beiden letztgenannten Passagen liefern überdies eine interessante Schnittstelle im Gebrauch des Lexems μαρτυρέω κτλ. In Joh 2,25 bedarf Jesus des menschlichen Zeugnisses nicht, um den Glauben der Menge als unzureichend einschätzen zu können, und in V. 44 ist er selbst Zeuge dafür, dass ein Prophet im eigenen Land nichts gilt. Allerdings durchbricht die im Anschluss an das Prophetenwort berichtete Gastfreundschaft der Galiläer in gewisser Hinsicht das negativ gezeichnete Bild. In der lk. Parallele des negativen Prophetenspruches heißt es, dass kein Prophet in seiner Heimat aufgenommen werde (οὐδεὶς προφήτης δεκτός ἐστιν ἐν τῇ πατρίδι αὐτοῦ), während in V. 45 eindeutig von der Aufnahme Jesu durch die Galiläer berichtet wird (ἐδέξαντο αὐτὸν οἱ Γαλιλαῖοι). Wird in diesem Spiel mit dem lk. Wortlaut106 die Kritik des Prophetenspruchs von den gastfreundlichen Galiläern abgewendet? Hier wäre noch einmal genauer danach zu fragen, was die fehlende τιμή im Heimatland eigentlich inhaltlich ausmacht? Was genau soll hier kritisiert werden? Leistet die Gastfreundschaft den Vorstellungen des joh. Jesus von wahrer τιμή nicht Genüge? Das ist zweifelsohne eine der Kernfragen der gesamten Erzählung. (2) Die zweite Lösung, nämlich das Vaterland auf Judäa bzw. Jerusalem zu beziehen, wird meist durch das Argument der kontinuierlich anwachsenden Opposition in Jerusalem gestützt, die schließlich in der absoluten Verwerfung am Kreuz kulminiert und damit zum Inbegriff der Ehrverweigerung wird (vgl. Joh 8,49).107 Außerdem wird der Jerusalemer Tempel von Jesus als Haus meines Vaters (Joh 2,16: οἶκος τοῦ πατρός μου) bezeichnet, und πατρίς leitet sich nun einmal von πατήρ ab. Geht man davon aus, dass sich πατρίς nicht auf Galiläa bezieht, sondern auf Jerusalem, so hat das freilich Auswirkungen auf die gesamte Deutung der Erzählung. Dann wird hier nicht die Haltung der Galiläer kritisiert, sondern nur eine weitere Erklärung für Jesu Itinerar geliefert: Um den feindlich gesinnten Jerusalemern bzw. Judäern zu entkommen, reist er nach Galiläa (vgl. Joh 4,1–3). Angesichts des unmittelbaren itinerarischen Kontextes des Prophetenspruches erscheint diese Zuweisung aber nicht besonders plausibel. Es wird in V. 43f. ja der Aufbruch aus Samaria gen Galiläa erklärt, nicht wie in Joh 4,1–3 der Aufbruch aus Judäa. (3) An einer Stelle wird Jesus von den Juden sogar als Samaritaner bezeichnet (Joh 8,48). Auch diese Region könnte also zumindest in den Augen der
106 107
Vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 284. Dieser Ansicht ist u.a. H. Thyen vgl. a.a.O., 282–284.
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V. Textanalyse
Jerusalemer Juden als Heimatort Jesu gelten. Der Ehrspruch über den Propheten würde dann den Aufbruch aus Samaria gen Galiläa erklären. Da diese Herkunftsbestimmung aber völlig singulär und wohl eher metaphorisch zu verstehen ist,108 die Unterscheidung zwischen der Samaritanerin und dem Juden Jesus bei deren Begegnung besonders hervorgehoben wird (Joh 4,9.20–22.27) und Jesus in Samaria sehr wohl Ehre empfängt (Joh 4,39–42), fehlt es auch dieser Zuordnung an Räson. (4) Eine weitere Lösung würde Jesu Vaterland an keinem konkreten irdischen Ort manifestieren, sondern die Welt bzw. den Kosmos insgesamt gewissermaßen als Geburts- und damit auch als Heimatort denken (vgl. Joh 1,9–11; 18,37), in dem Jesus (und auch seine Jünger) keine Ehre finden. Mittels einer kalkulierten Irritation, die bei der Zuordnung von πατρίς zwischen Jerusalem, Samaria und Galiläa oszilliert, könnte Heimat also insgesamt eine Ausweitung erfahren, die mit den Worten aus dem Prolog in Joh 1,10f. korrespondiert: ἐν τῷ κόσμῳ ἦν, καὶ ὁ κόσμος δι᾽ αὐτοῦ ἐγένετο, καὶ ὁ κόσμος αὐτὸν οὐκ ἔγνω. εἰς τὰ ἴδια ἦλθεν, καὶ οἱ ἴδιοι αὐτὸν οὐ παρέλαβον | Er war in der Welt, und die Welt war durch ihn gemacht, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in das Seine und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Es ist die gesamte Welt, die als τὰ ἴδια des Schöpfungslogos diesem keine Ehre erweist. Die Opposition zum Kosmos wird nicht nur im Prolog, sondern an einigen weiteren Stellen des Evangeliums angesprochen (Joh 7,7; 15,18f.; 18,37). (5) Gegen die Herkunftsbestimmung Jesu aus der Welt bzw. dem Kosmos würde freilich die Sendung des Sohnes durch den Vater (Joh 3,16f.34; 4,24; 5,24.30.36–38.43; 6,29.39.44.57; 7,16.28f.33; 8,16.18.26.29.42; 9,4; 10,36; 12,44f.49; 13,20; 16,5; 17,3.21–25; 18,36) sprechen. Der Ausgangspunkt der Sendung und damit der Herkunftsort Jesu werden über das Evangelium hinweg immer wieder bei Gott bzw. oben und nicht in dieser Welt lokalisiert (Joh 1,1.18; 3,13.31f.; 6,32–38.46.50.58.62; 8,23; 9,33; 13,3; 14,1; 16,27–30; 17,8.14.16).109 Jedoch empfängt er von dieser Heimat sehr wohl alle Ehre, bzw. die Herrlichkeit (δόξα) des Vaters und des Sohnes durchdringen einander (Joh 1,14; 7,18; 8,54; 11,4; 12,28; 13,31f.; 16,14; 17,1.5.10.22.24), sodass das Prophetenwort auf diese Heimat mitnichten anwendbar ist. Wo ist also Jesu Vaterland zu verorten: ‚oben‘ beim Vater, der ihn gesandt hat und zu dem er zurückkehrt, in Galiläa, in Jerusalem, in Samaria oder in der Welt als Ganzer? Das Evangelium gibt darauf keine endgültige Antwort. In Joh 9,29 heißt es paradigmatisch seitens der Juden: τοῦτον δὲ οὐκ οἴδαμεν πόθεν 108 Vgl. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium II, 2000 (1970), 293; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 445. 109 Vgl. ATTRIDGE, Some Methodological Considerations Regarding John, Jesus, and History (Vortrag gehalten am Princeton Theological Seminary 2016), [im Erscheinen], 20: „His truest homeland is the Father’s heavenly home“ (mit Erlaubnis des Autors zitiert).
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ἐστίν | Woher dieser ist, wissen wir nicht. Eine feste Ortsbindung wird im Evangelium an manch einer Stelle sogar ausdrücklich aufgehoben bzw. vergeistigt und verinnerlicht (Joh 4,21–24; 14,11.20). Nicht mehr der Jerusalemer Tempel ist als Wohnort des Vaters entscheidend, sondern Jesu Leib als wahrer Tempel (Joh 2,27), als Ort der Gottesbegegnung, ganz gleich an welchem konkreten Ort er sich gerade befindet. 110 Der itinerarische Kontext des Prophetenspruchs über die Ehrermangelung im ἴδια πατρίς legt freilich ‒ zumindest an dieser Stelle ‒ Galiläa als Vaterland bzw. Heimat nahe, schließlich wird Jesu Aufbruch dorthin mit diesem Spruch kausalisiert. Doch was bedeutet τιμή? Vom Lexem τιμή κτλ. ist sonst im Evangelium (im Gegensatz zur häufig genannten δόξα) nur selten die Rede, neben dem Prophetenwort in V. 44 nur in Joh 5,23, wo die Ehre gegenüber dem Vater mit der Ehre gegenüber dem Sohn gleichgesetzt wird; in Joh 8,49, wo es speziell um die Herkunft von Gott oder vom Teufel geht, und in Joh 12,26, wo das Dienen Jesu als Ehrerbietung gegenüber seinem Vater charakterisiert wird. τιμή hat in allen genannten Fällen einen stark christologischen Impetus: Stets geht es um das enge Verhältnis zwischen Christus und seinem göttlichen Vater. Unter τιμή wäre dann im Gegensatz zur lk. Parallele nicht nur die physische Aufnahme oder Akzeptanz Jesu (Lk 4,24: δεκτὸς εἶναι), sondern ein tieferes Vertrauen in Jesu Wort als Wort Gottes zu verstehen und eben dieses Vertrauen steht ja auch im Zentrum der Wundererzählung. Gleichzeitig mangelt es an diesem Vertrauen nicht allein den Galiläern, wie die vielen Glaubensproben im Verlauf des Evangeliums beweisen (Nathanael in Joh 1,45–51; Nikodemus in Joh 3,1–21; Samaritanerin in Joh 4,1–26; Martha in Joh 11, 21–27.39f.; Petrus in Joh 18,16–18.25–27; Thomas in Joh 20,24–29 etc.). Somit wäre die Gruppe der Galiläer in dieser Szene so ambivalent gezeichnet, wie jede andere Person des Evangeliums,111 wie jedes andere Geschöpf des Logos auch: einerseits bereit, sich Jesus zuzuwenden, andererseits (noch) nicht im Stande, ihm die Ehre zu erweisen, die ihm als Gottessohn, größer noch als jede Prophetengestalt, zusteht. Zeit- und Ortsangaben eröffnen also auch bei dieser Perikope ein bedeutungsvolles Wechselspiel zwischen Konkretion und Paradigmatik. Galiläa ist einerseits konkretes Heimatland, in dem konkrete, erlebbare Begegnungen zwischen Jesus und den Seinen stattfinden, an denen man bestimmte Verhaltensmuster ablesen kann. Galiläa steht andererseits aber auch für viele andere Ortschaften, in der Jesus zwar in das Seine (εἰς τὰ ἴδια) kommt, weil er Mensch unter Menschen ist, dort aber nicht diejenige Ehre empfängt, die ihm als Sohn Gottes zusteht. 110
Vgl. DERS., Temple, Tabernacle, Time and Space in John and Hebrews, 2010, 261–
274. 111
Zur Ambivalenz in der narrativen Zeichnung der Galiläer vgl. REIMER, The Galileans, 2013, 305.
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V. Textanalyse
Die Aufenthaltsdauer an den verschiedenen Orten ist meist sehr kurz (nicht viele Tage in Joh 2,12; ein Fest lang in Joh 2,1–11; 3,13–25; zwei Tage in Joh 4,40) oder wird im Vagen gehalten (Joh 3,22). Auch die Länge des hiesigen zweiten Aufenthalts in Kana bleibt unbestimmt. Alle weiteren Zeitangaben, die das temporale Setting beschreiben, stehen wie auch die Rahmenangaben anaphorisch-relativ zueinander, geben den Ereignissen und Handlungen Ordnung, aber keine absoluten chronikalischen Richtwerte: Als (ὅτε) Jesus also nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer auf (V. 45); […] und Jesus kam wieder (πάλιν) nach Kana (V. 46). Zeit- und Ortsangaben werden demnach dazu eingesetzt, die schrittweise Verbreitung des Glaubens nachzuzeichnen und Jesu Wirkmächtigkeit Konkretion zu verleihen. Das Geschehen bleibt zwar, historisch-chronikalisch betrachtet, in der Schwebe, damit aber keinesfalls zeitlos. Szeneninterne Zeitangaben Die Interaktion zwischen Jesus und dem Königlichen beeindruckt mit präzisen temporalen und lokalen Koordinatenangaben: Der Königliche bittet Jesus mit Nachdruck, nach Kafarnaum hinabzusteigen, bevor (V. 49: πρίν) sein Kind stirbt. Schon (V. 51: ἤδη) als er hinabsteigt, laufen ihm seine Knechte entgegen. Er fragt sie nach der genauen Stunde (V. 52: τὴν ὥραν), in der die Besserung eingetreten ist. Er erfährt, dass das Fieber das Kind zur siebten Stunde (V. 52: ὥραν ἑβδόμην) verließ, eben genau in jener Stunde, in der auch Jesus sein Lebenswort an den Vater gerichtet hatte. Ob es von Bedeutung ist, dass die Begegnung zwischen Jesus und dem Königlichen genau eine Tagesstunde nach der Begegnung Jesu mit der Samaritanerin am Brunnen (Joh 4,6: ὥρα ἦν ὡς ἕκτη) stattfindet, kann diskutiert werden. 112 An den oben genannten innerszenischen Zeitangaben ist jedenfalls erkennbar, dass die Begegnungen und Interaktionen nie zu irgendeinem Zeitpunkt stattfinden, damit sie derartige Wirkung sowohl innerhalb der Erzählung als auch für den Leser erzeugen, sondern auf genauen Synchronisierungen und temporalen Signifikanzen beruhen. Der Königliche kommt in zeitlicher Bedrängnis zu Jesus: Sein Kind liegt im Sterben. Der Zeitdruck seiner Bitte wird wiederholt hervorgehoben, einmal im Rahmen einer durch den Erzähler wiedergegebenen indirekten Rede in V. 47 mit einem aktionsartlichen Verb der Imminenz: ἤμελλεν γὰρ ἀποθνῄσκειν, ein anderes Mal in der direkten Rede des Königlichen in V. 49 mit einem ordinaldeiktischen Zeitadverb: πρὶν ἀποθανεῖν τὸ παιδίον μου. Das Handeln Jesu wird dadurch mit dem bevorstehenden Tod des Sohnes ins Verhältnis gesetzt. Nur durch diese Angaben wirkt die Reaktion Jesu auch derart erstaunlich. Trotz Bedrängnis und örtlicher Entfernung reagiert Jesus nicht unmittelbar auf die Anfrage des Königlichen, sondern antwortet auf die erste Anfrage mit einem abstrakten Konditionalsatz in V. 48, deren Protasis höchstens eine der Szene
112
Für R. Schnackenburg sind die „Zeitangaben [...] auch hier nicht symbolisch gemeint.“ (SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium I, 2000 [1965], 499)
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übergeordnete Zeitfolge beschreibt: Wenn ihr nicht bzw. bevor ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht. Jesu Reaktion auf das erneute Bitten des Königlichen in V. 50 lässt dann jedwede Zeitangabe vermissen: πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ. Das Entgegenkommen der Knechte erlangt durch das ordinal-deiktische ἤδη temporale Bedeutsamkeit: Es ist nicht nur Zeichen ihrer Freude und ihres Enthusiasmus, sondern auch Beweis für die unmittelbare Wirkmächtigkeit des Wortes Jesu aus der Ferne. Außerdem zeigt diese Begegnung, dass das Wunder bzw. zumindest die Wunderoffenbarung gewissermaßen auf dem Weg zwischen Kana und Kafarnaum geschieht und an keinen bestimmten historischen Ort, sondern allein an Jesu Gegenwärtigkeit über die Distanzen hinweg gebunden ist. Diese Wirkmächtigkeit wird dann noch einmal bestätigt, indem die Stunde der Genesung in V. 52f. explizit mit der Stunde Jesu Lebenswortes synchronisiert wird: ἡ ὥρα παρ᾽ αὐτῶν ἐν ᾗ κομψότερον ἔσχεν ‒ ἡ ὥρα ἐν ᾗ εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· ὁ υἱός σου ζῇ. Die Stunde wird auf die siebte des Vortages festgelegt (ἐχθὲς ὥραν ἑβδόμην) und hebt sich in ihrer Präzision von der Stundenangabe Jesu in Joh 2,4 ab. Der dreimalige Gebrauch des Temporalsubstantivs ὥρα in V. 52f. bleibt aber dennoch eine prägnante Erinnerung an die Bedeutung der Stunde für Jesu Handeln, ob personalisiert oder terminalisiert. 2.4.2 Grammatik Die Erzählung von der Fernheilung wird von Aoristformen dominiert.113 Der ereignisexterne Blick wird nur an wenigen Punkten durch das Imperfekt ergänzt, z.B. wenn narrative Basis- oder Hintergrundinformationen geliefert werden bzw. das durative Setting eines Ereignisses beschrieben wird (z.B. in V. 46: ἦν τις βασιλικὸς οὗ ὁ υἱὸς ἠσθένει | es gab einen Königlichen, dessen Sohn war krank). Lediglich zwei Verben stehen im Perfekt: das Partizip Perfekt von ὁράω in V. 45 und ἥκω als perfektisches Präsens von ἔρχομαι in V. 47. Dass die Galiläer die vergangenen Taten Jesu in Jerusalem gesehen haben, resultiert in der (erzählt-)gegenwärtigen Aufnahme in Galiläa; das Kommen Jesu von Judäa nach Galiläa resultiert in seiner Anwesenheit in Galiläa, die den Königlichen nach Kana bewegt. Beide Verben setzten damit Vergangenheit und erzählte Gegenwart in ein enges Verhältnis und lassen das verbalisierte vergangene Ereignis/die vergangene Handlung über den Moment hinaus wirkungs- und bedeutungsvoll aussehen. Das Präsens Historicum kommt nur bei zwei verba dicendi in V. 49f. (λέγει) zum Einsatz, bezeichnenderweise in der Unterhaltung zwischen Jesus und dem 113
Zählt man ἥκω als Perfekt von ἔρχομαι, so ergibt sich eine Tempusverteilung von 27 Aoristformen (21 Indikative, vier Konjunktive, ein Imperativ, ein Partizip), sieben Präsensformen (fünf Indikative, zwei Partizipien), fünf Imperfektformen im Indikativ und zwei Perfektformen (ein Indikativ, ein Partizip). Weder Futur- noch Plusquamperfektformen bereichern das grammatische Temporalspektrum der Szene.
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V. Textanalyse
Königlichen, welche ohnehin durch teilweise direkte Rede ein Gefühl von Unmittelbarkeit zum Geschehen hervorruft. Des Königlichen wiederholte, nachdrückliche Bitte und Jesu entscheidendes Lebenswort werden durch diesen lebhaften Modus besonders hervorgehoben. Das präsentische οὐκ ἔχει in V. 44 gibt das Prophetenwort Jesu als gnomische Weisheit zu erkennen, die den Zeitpunkt ihrer Äußerung hinaus gültig ist. Durch die präsentischen Partizipien bei der Begegnung zwischen dem Königlichen und den Knechten (V. 51) wird auch diese Interaktion dynamisch dargestellt. Im Hinabsteigen trifft der Königliche auf die zeitgleich entgegenkommenden Knechte und im Entgegenkommen sagen sie bereits, dass sein Kind lebt. Es ist viel Bewegung und Gleichzeitigkeit in dieser Begegnung. Man spürt den Beteiligten die Aufregung und die Euphorie über das Wunderereignis ab. Futurformen tauchen in dieser Perikope nicht auf. Allein der Konditionalsatz Jesu (V. 48) könnte als futurische Periphrase und damit als eine Art Ankündigung seines Handelns aufgefasst werden. Viele Ausleger verstehen in dieser Aussage freilich eine zeitunabhängige Kritik am Wunderglauben. 114 Ferner haben die Imperative des Königlichen und Jesu in V. 49f. eine prospektive Blickrichtung. Besonderheiten in Form von Tempuskontrasten oder auffälligen Diskrepanzen zwischen Tempus und adverbialer Bestimmung, Aktionsart des Verbes oder dem Kontext sind nicht zu bemerken. Dennoch werden wichtige Nuancen des Geschehensablaufs über die Tempuswahl in das Geschehen eingezeichnet: Der Imperfekt von ἐρωτάω (V. 47) unterstützt den Eindruck der Mehrmaligkeit und Nachdrücklichkeit der Bitte des Königlichen. Der andauernde, gar iterative Aspekt dieser Sprechhandlung ergibt sich aus dem ereignisinternen Blickpunkt des Imperfekts im Kontrast zum ereignisexternen, ergebnisorientierten Blickpunkt des Aorists. Ebenso unterstützt das μέλλω im Imperfekt im selben Vers den Eindruck der imminenten Todesbedrohung des Kindes. Die Bedrohung wird auf diese Weise aus der imperfektiven Innenansicht erlebt. Aussagekräftig ist ferner der Imperativ Präsens von πορεύομαι in der direkten Rede und die darauffolgende imperfektive Befolgung (V. 50). Auch diese Tempussetzungen beschreiben die Vorgänge nicht aus einem nachträglichen, externen, summarischen Blickpunkt als ein abgeschlossenes Ereignis, sondern stellen den Vollzug in den Vordergrund. Es geht wie oben erwähnt nicht um die Ankunft des Königlichen beim genesenen Sohn, damit er das Wunder selbst sehen kann, sondern um dessen Vertrauen in Jesu Wort, das er durch den prompten Aufbruch und den Verzicht auf weitere Bitten beweist. Das Wunder findet nicht in Kana und auch nicht in Kafernaum statt, sondern im Aufbruch des Königlichen aus Kana nach Kafernaum. 114 Vgl. u.a. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, 211986, 152f.; HOLTZMANN, Johannes, 1908, 114f.; SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium I, 2000 (1965), 499; THEOBALD, Die Fleischwerdung des Logos, 1988, 357.
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Größte tempusanalytische Bedeutung kommt aber dem präsentischen ὁ υἱός σου ζῇ zu, das dreimalige Wiederholung in der Erzählung findet (V. 50.51.53). Während der Königliche Jesus bittet, seinen Sohn zu heilen (ἰάομαι V. 47), entgegnet Jesus ihm, dass sein Sohn lebe und das mit keinerlei temporaler Zusatzbestimmung – er lebt nicht wieder oder noch, er ist nicht wieder gesund geworden und hat nicht zu neuen Lebensgeistern gefunden – er lebt. In diesem kurzen Satz steckt eine Lebensaussage, die allen zeitlichen Differenzierungen trotzt und das Leben für den Moment und über den Moment hinaus zuspricht. 2.4.3 Chronologik Die Reihenfolge ist vor allen Dingen durch die räumliche Komplexität der Fernheilung nicht chronologisch-linear gestaltet. Gleichzeitigkeit und zeitliche Überlagerung bedeutender Ereignisse sind charakteristisch für dieses Heilungssemeion. Von der Genesung des Sohnes erfährt man zeitversetzt, nicht im Moment, also in der (erzählten) Stunde, in der Jesus das Lebenswort ausspricht. Erst im Nachhinein wird durch eine kompletive Analepse klar, dass es sich um dieselbe Stunde handelt, in der der Sohn tatsächlich Besserung erfahren hat. Die verzögerte Erkenntnis über die Gleichzeitigkeit von Wort und Gesundung steigert den staunenswerten Effekt dieses zeitlichen und örtlichen Phänomens. Die Erzählchronologie der Fernheilungserzählung wird im Vergleich zur Chronologie der ersten Kanaerzählung (Joh 2,1–12) häufiger durch Achronien und Anachronien in ihrer Linearität gestört. Achron, d.h. chronologisch in der Schwebe, sind v.a. die Bemerkungen Jesu über die Haltung bestimmter Personengruppen zum Offenbarungsgeschehen. Das Prophetenwort (V. 44) und die Bedingung des Glaubens einer unbestimmten Ihr-Gruppe an Zeichen und Wunder (V. 48) gelten über den Aussagezeitpunkt hinaus und haben gnomischen Charakter. Das unterstützt den Eindruck, dass Galiläa paradigmatisch für die Orte dieser Welt steht, in denen Jesus ein tieferes Vertrauen in sein Wort als Wort Gottes (noch) verwehrt bleibt. Die Glaubensconditio aus V. 48 trägt gleichsam die Funktion einer Prolepse, zumindest wenn sie nicht als bloße Zurückweisung, sondern auch als Ankündigung Jesu Heilungswunder aufgefasst wird. Darüber hinaus fallen eine Reihe weiterer Analepsen innerhalb der Perikope auf, die das Verhalten der Galiläer in einen Zusammenhang mit Jesu Zeichenhandlungen in Jerusalem bringen (V. 45) oder die Fernheilung in eine Linie mit dem ersten Wunder in Kana stellen (V. 46.54). Dadurch spannt sich ein Netz aus verschiedenen Zeichen- und Wunderhandlungen um die Fernheilung, die das Thema der Offenbarung und Glaubensverbreitung wirksam im Zentrum der Erzählsequenz platzieren. Dass Galiläa der Ort dieses Offenbarungsgeschehens ist, wird immer wieder unmissverständlich hervorgehoben (V. 43.45.46.47.54).
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V. Textanalyse
Besonders ins Auge sticht, wie bereits erwähnt, die dreimalige Wiederholung des Lebenswortes Jesu einmal in direkter Rede (V. 50), einmal in indirekter Rede im Munde der Knechte (V. 51) und einmal als Repetition innerhalb des Bewusstseinsberichts des Königlichen (V. 53). Das Lebenswort durchdringt damit alle Protagonisten der Perikope. Aber auch die Krankheit bzw. der drohende Tod werden dreifach erwähnt (V. 46.47.49), um die Dramatik der Situation zu steigern. Die Besserung des Kindes wird in unterschiedlicher Art und Weise referiert. Einmal fragt der Königliche nach dem Zeitpunkt der Besserung (V. 52: κομψότερον ἔχω) und einmal antworten die Knechte mit dem Rückgang des Fiebers (V. 52: ἀφίημι αὐτὸν ὁ πυρετός), das einzige Detail zur Krankheit des Sohnes. Auch die Stunde der Besserung bzw. der Sprechhandlung Jesu wird mehrfach erwähnt (V. 52.53). Die Erfüllung des Interaktionsziels Jesu wird zu zwei Zeitpunkten der Narration offengelegt. Unmittelbar nach der Sprachhandlung glaubte der Mann dem Wort (V. 50: ἐπίστευσεν ὁ ἄνθρωπος τῷ λόγῳ) und nach der Erkenntnis über die Synchronität von Lebenswort und Heilung glaubt er und sein ganzes Haus (V. 53: ἐπίστευσεν αὐτὸς καὶ ἡ οἰκία αὐτοῦ ὅλη). Gleichzeitig wird man sagen müssen, dass schon in der persistenten Bitte des Königlichen eine glaubende Haltung erkennbar wird. Allerdings findet diese glaubende Haltung noch Einschränkung durch gewisse Zeitnormen und -vorgaben: Der Königliche fordert Jesus auf, herabzusteigen, bevor sein Kind stirbt (V. 49). Der unumschränkte Glaube des Königlichen wird etwas später, fast gleichzeitig mit dem Lebenswort Jesu postuliert, sodass im Rückblick die heilende Wirkung des Wortes auch vom Glauben an das Wort abhängig zu sein scheint. Ist der Glaube des Königlichen die Bedingung für die Heilung seines Sohnes? In V. 53 wird jedoch der Glaube des Königlichen und seines Hauses als Folge der Erkenntnis der wundersamen Heilung dargestellt. Eine eindeutige zeitliche Reihenfolge à la mode de: erst Glaube dann Wunder bzw. erst Tun dann Heil (vice versa) wird mit dieser gezielten Irritation konterkariert. Glaube, Handeln, Heilung und Zeichenoffenbarung fallen in der Gleichzeitigkeit des performativen Wortes Jesu zusammen. Im Blick auf die Dauer, also das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit, fällt die knappe Problembeschreibung auf, die eher repetitiv als detailliert wirkt. Wir erfahren lediglich mehrfach, dass der Sohn krank ist und im Sterben liegt, erhalten aber keine Informationen über die Art der Erkrankung. Auch die Personen werden nur benannt, ohne jedoch genauer charakterisiert zu werden. Zwar werden sie mittels unterschiedlicher Substantive vorgeführt (V. 46: τις βασιλικὸς; V. 50: ὁ ἄνθρωπος; V. 53: ὁ πατήρ/ὁ υἱός; V. 49: ὁ παιδίον μου; V. 51: ὁ παῖς αὐτοῦ). Jedoch sind die Bezeichnungen mitnichten aussagekräftig hinsichtlich Alter, Aussehen, Charaktereigenschaften etc. Einzig der relativ hohe Stand des Bittenden und des Sohnes wird über die Personenkennzeichnung angezeigt. Das eigentliche Heilshandeln Jesu, seine Sprechhandlung, ist besonders kurz gehalten. Im Gegensatz dazu wirken das Bitten im Vorfeld und
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die anfängliche ‚Zurückweisung‘ Jesu narrativ ausgedehnt. Während die heilende Sprechhandlung gewissermaßen auf fünf Worte reduziert ist (V. 50: πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ), wird die vorangehende Konversation auf 53 Worte ausgebreitet (V. 47–49). Ebenso findet sich auch die Reaktion auf das Wunder in Relation recht ausführlich beschrieben (78 Worte in V. 50–53). Annähernd szenisch, d.h. in Deckung von Erzählzeit und erzählter Zeit, ist nur die Unterredung zwischen Jesus und dem Königlichen gestaltet (V. 47–50). Auch bei dieser Begegnung folgt wie so oft auf den Imperativ bzw. die Bitte des Gegenübers Jesu zunächst eine Zurückweisung (V. 48), während Jesu Imperativ im Anschluss unmittelbar befolgt wird (V. 50). Meist werden die Ereignisse und Handlungen in dieser Szene durch καί, οὖν oder γὰρ verbunden. Dadurch ist eine leichte Tendenz in Richtung einer konsekutiven oder kausalen Erzählmotivation wahrzunehmen. Der einzige ἵναSatz in V. 47 markiert eine indirekte Frage und hat nur im weiteren Sinne finale Ausrichtung. 2.4.4 Auswertung Wichtige Nuancen der narrativen Zeitinszenierung und deren temporale Schwerpunkte werden durch eine genaue Betrachtung von Zeitsemantik, den Tempora und der Chronologik sichtbar. Die innerszenischen Zeitangaben und mit Bedacht gewählten Tempora intensivieren zunächst die Dramatik der Notsituation, lassen Jesu Reaktionen im Kontrast dazu fast zeitlos, unvermittelt und diskontinuierlich wirken und stellen die Erkenntnis des Königlichen über die Kraft des Wortes wiederum dynamisch, dicht und im engeren Sinne synchron dar. Es ist, als würde man mit Jesu Worten kurz aus dem Strudel des dichten innerweltlichen Zeitnetzes auftauchen, aufatmen, um dann wieder in die unübersichtliche Zeitdynamik der Lebenswelt hineinzusinken, diesmal jedoch mit dem Anker des zeitunbedingten Lebenswortes, das einer unidirektionalen Chronologisierung von Glaube, Tun, Heil und Offenbarung widersteht. Die aufwendigen innerszenischen Synchronisierungen machen die Begegnung Jesu mit den Bewohnern seines Heimatlandes ganz konkret erlebbar. Auf der anderen Seite verleihen die kalkulierten Ortswirren (was ist die πατρίς Jesu?) und die achronen Äußerungen Jesu über Ehre und Zeichenglauben dem Geschehen paradigmatische Bedeutung. Die Ereignisse in Galiläa sind in diesem Sinne translozier- und transtemporierbar. Das Zeichen wird letztlich auch an keinem konkreten Ort, sondern auf dem Weg wahrnehmbar ‒ hier erkennt der Königliche das Wort Jesu als wirksames Schöpfungswort, ohne die Lebendigkeit seines Sohnes mit seinen eigenen Augen sehen zu können. Die rahmenden Orts- und Zeitbestimmungen sind somit auch in dieser Szene nicht dazu da, die genauen historischen Reisedetails Jesu zu liefern. Vielmehr werden die Etappen Jesu Offenbarungsweges (auch mithilfe von verschiedenen Analep-
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V. Textanalyse
sen) in einen bedeutungsvollen Zusammenhang gestellt, zugleich aber die konkreten Begegnungen Jesu mit den Menschen aller Herkunft und Klasse temporal sowie lokal nachvollziehbar und realistisch dargestellt. Das Fehlen jeglicher Futurformen, ausgenommen der futurischen Periphrasen im Konditionalsatz (V. 48) und in den Imperativen (V. 49f.), gepaart mit der ausschließlich szeneninternen Proleptik (V. 48) im Gegenüber zu mehreren extraszenischen Analepsen (V. 45.56.64), sowie die eher konsekutiv-kausale statt finale Grundrichtung der szenischen Chronologie offenbaren die stärkere Vergangenheits- und Gegenwartsorientierung der Szene noch stärker, als sie für die vorangegangene Kanaerzählung in Joh 2,1–11[12] zu behaupten war. Die Zukunft Jesu oder der anderen Figuren spielt für diese Szene keine gesonderte Rolle. Stattdessen steht das zeitunabhängige oder besser: simultane Lebenswort im Zentrum der Fernheilungserzählung. 2.5 Zeitwahrnehmung und -bewertung 2.5.1 Erwartungen Extratextuelle Erwartungen In der Erzählung über die Fernheilung ist Jesu Verhalten in zweifacher Hinsicht kontraintuitiv inszeniert und wirkt damit auch auf das Zeiterleben des Lesers. Zum einen ruft die Vorstellung des Protagonisten als jemandem, der unter dem Stab des Königs steht (βασιλικός), in Kontrast zur vorangegangenen Begegnung mit der samaritanischen Frau ein hierarchisches Gefüge auf. Dass Jesus diesem höheren Beamten aus seiner ‚Heimat‘ in gleicher Manier begegnet wie der fremden Frau, wirkt ungewöhnlich. So wie Jesus die Samaritanerin auf ihre Bitte nach dem Wasser des ewigen Lebens zunächst auffordert, zu gehen und ihren Mann zu rufen (Joh 4,16), so kommt Jesus auch der Bitte des Königlichen um Heilung seines Sohnes nicht sofort nach. Erst trifft er eine abstrakte Aussage über die Glaubensbedingungen einer Ihr-Gruppe, dann fordert er den Königlichen auf, zu gehen, anstatt selbst zum kranken Sohn nach Kafarnaum hinabzusteigen. Ferner würde man bei der Nachricht von der Krankheit eines Kindes, die absehbar dessen Tod herbeiführen wird, besonderes Mitleid sowie Hilfs- und Handlungsbereitschaft erwarten. Beide Rahmenbedingungen des Hilfegesuchs ‒ die noble Begegnung ebenso wie die Dramatik der Problemlage ‒ lassen ein schnelles Eingreifen Jesu erwarten. Diese Erwartung bricht er mit der abstrakten, in kollektiver Anrede formulierten Konditionalbestimmung. Die Handlungsverzögerung wird durch die extratextuellen Erwartungen für den Leser umso intensiver erlebbar.
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Intertextuelle Erwartungen Für die hiesige Erzählsequenz bieten sich zwei Topoi für den intertextuellen Vergleich an: das Thema des Ansehens eines Propheten in seiner Heimat und natürlich das Erzählgut der Fernheilung. Ein Prophet hat in seiner Heimat keine Ehre Das Logion über die Ehre eines Propheten in seiner Heimat wird von allen synopt. Evangelien aufgegriffen (Mk 6,4 | Mt 13,57 | Lk 4,24). Uns soll weder die Herkunft der Tradition, deren Redaktionsgeschichte, noch die Authentizität des Logions interessieren. Es geht vielmehr darum, alternative Möglichkeiten der Formulierung und kontextuellen Einbettung des Logions vorzustellen, offensichtliche (Bedeutungs-)Varianzen nachzuzeichnen und zu untersuchen, wie diese Varianzen den Erwartungshorizont des Lesers beeinflussen können. Ein aufschlussreicher Faktor der Varianzanalyse ist die chronologische Einbettung des Logions. Der jeweilige Erzählverlauf bestimmt die prozessualen Skripts und korrespondierenden Zeitwahrnehmungen des Lesers. Bei den Synoptikern erregen Jesu Weisheit, Können und seine begnadeten Worte (ἡ σοφία, αἱ δυνάμεις, οἱ λόγοι τῆς χάριτος in Mk 6,2 | Mt 13,54 | Lk 4,22) nicht nur das Staunen (ἐκπλήσσω | θαυμάζω 115 ), sondern auch den Anstoß (σκανδαλίζω in Mk 6,3 | Mt 13,57) der Nazarener. Die ambivalente Reaktion seiner Landsmänner wird vom mt. und mk. Jesus mit dem Prophetenspruch im Nachhinein auf abstrakter Ebene erklärt. In der joh. Version bildet das Logion umgekehrt den Auftakt zum Handeln Jesu bzw. dient der Begründung seiner Reiseroute von Samaria nach Galiläa. Mit der Notiz über die Gastfreundschaft der Galiläer wird das negative Zeugnis des joh. Jesus allerdings gleich im Folgevers auf den ersten Blick ‚widerlegt‘ und führt schlussendlich über die Fernheilung zum vertieften Glauben des galiläischen Königsbeamten und seines ganzen Hauses. Die synopt. Parallelen enden weitaus negativer: Jesus wundert sich (θαυμάζω) über den Unglauben der Galiläer (Mk 6,6), während er im JohEv diesen Unglauben längst kennt und vorausahnt (Joh 2,23–25). Im MtEv schränkt er sein Wunderhandeln sogar wegen ihres Unglaubens ein (Mt 13,58). Im LkEv wird Jesus ‒ im Kontrast zur Gastfreundschaft der Galiläer im JohEv ‒ gar aus der Stadt herausgetrieben (Lk 4,30).116 Doch was erzeugt den Anstoß der Landsmänner? Im MtEv und MkEv erwächst die Ablehnung Jesu bei den Nazarenern aus der unglaubwürdigen Diskrepanz zwischen vollmächtigem 115 Das Staunen der Anwesenden über Jesu besondere Fähigkeiten bzw. seine Lehre wird im JohEv erst später, nämlich auf dem Laubhüttenfest thematisiert (Joh 7,14f.). Die Bühne ist dann jedoch nicht die heimatliche Synagoge, sondern der Tempel in Jerusalem. In dieser Szene auf dem Laubhüttenfest wird auch das Thema der Herkunft Jesu aufgegriffen und debattiert (Joh 7,27–29.41f.). 116 Jesus hinabzustürzen gelingt den lk. Nazarenern allerdings nicht, denn ein Prophet darf nirgendwo anders als in Jerusalem umkommen (Lk 13,33). Diese Ortsgebundenheit des Todes Jesu im LkEv weist Ähnlichkeiten auf zur Zeitgebundenheit des Todes an die Stunde Jesu im JohEv (Joh 7,30; 8,20; 13,1; 17,1).
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V. Textanalyse
Auftreten und geringer Herkunft (vgl. auch Joh 6,42), im LkEv sind der Prophetenspruch und der Vergleich mit den großen Propheten Elija und Elischa und deren heilende Zuwendung zu den Fremden 117 Auslöser für die Wut (θυμός) der Synagogengänger aus Nazareth.118 Um den Vergleich mit der synopt. Version des Prophetenspruchs legt sich ein Bedeutungscluster, das zwischen Herkunft und Fremde, Glauben und Unglauben, Zeichenhandeln und Kritik am Zeichenglauben, Aufnahme und Ablehnung balanciert. Die Schwerpunkte und v.a. der Spannungs- und Erwartungsaufbau verschiebt sich für das JohEv im Vergleich mit den Synoptikern um Nuancen, die das Zeitempfinden und die Deutungsversuche des Lesers beeinflussen. Steht der Prophetenspruch am Anfang der Erzählsequenz, wie im Falle des JohEvs, so wird schon zu Beginn eine Ehrverweigerung seitens der Galiläer (sofern πατρίς mit Galiläa identifiziert wird) in Erwartung gestellt. Dass diese Erwartung durch die Gastfreundschaft zunächst gebrochen wird, erhöht die Spannung darauf, was am Verhalten der Galiläer denn nun tatsächlich der fehlenden Ehrerbietung bezichtigt werden könnte. Die Antwort darauf soll die Klärung der Motive der Galiläer bringen. Sie haben gesehen, was Jesus in Jerusalem getan hat, und erwarten Analoges in Galiläa. Wird sich Jesus gegen diesen Wunsch richten oder ihm nachkommen?, fragt sich der Leser. Schließlich ist die fordernde Haltung der Galiläer zumindest der Erzählfolge nach der Inbegriff der ἀτιμία. Mit der allgemeinen Feststellung über die Zeichenabhängigkeit des Glaubens eines unbestimmten Kollektivs (V. 48) scheint Jesus sich tatsächlich gegen die Haltung der Galiläer richten zu wollen. Irritierend inkonsequent wirkt jedoch sein anschließendes Verhalten. Er kommt ihrer Begierde nach weiteren Zeichen nach, jedoch nach seinen eigenen Regeln. Im joh. Fall kann man somit lediglich von einer Verzögerung des Zeichenhandelns sprechen, nicht von einer konsequenten Ablehnung. Der Königliche muss mehrmals und inständig bitten. Jesu Konditionalsatz zum Zeichenglauben wird dann zur Ankündigung statt zur Rüge. Und eben diese Taktik stellt ein wiederkehrendes Zeitverhaltensmuster dar: Jesus lässt 117
Das Thema der Heilung von Fremden bzw. deren Bekehrung steht auch im JohEv im weiteren Kontext, insofern der Prophetenspruch auf Jesu Begegnung mit der Fremden aus Samaria folgt. Die joh. Heilung des Sohnes des Königlichen in Kafarnaum ist aber im Gegensatz zur synopt. Heilung des Knechtes des Hauptmanns von Kafarnaum (Mt 8,5–13 | Lk 7,1–10) selbst keine ausgewiesene Fremdenheilung. Die (nicht-)israelitische Abstammung des Königlichen, als eines Vorbilds im Glauben, wird in der joh. Fernheilungserzählung eben gerade nicht thematisiert (s.u.). 118 In enger Parallelität zur lk. Version des Prophetenspruches steht die Fassung des EvThom. In einem griech. Fragment des EvThom lesen wir λέγει Ἰ(ησοῦς)· οὐκ ἔστιν δεκτὸς προφήτης ἐν τῇ π(ατ)ρίδι αὐτ[ο]ῦ, οὐδὲ ἰατρὸς ποιεῖ θεραπείας εἰς τοὺς γινώσκοντας αὐτό‹ν› (Papyrus Oxyrhynchos 1 r Z. 9–14, zitiert nach LÜHRMANN, Die apokryph gewordenen Evangelien, 2004, 171). Das EvThom liefert freilich keinen Erzählkontext und damit kein besonderes Skript zum Logion, das die Lesererwartung und dessen Zeitwahrnehmung beeinflussen könnte.
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sich auf die Situation, die Denkschemata und Erwartungen der Menschen ein – wenn sie Wunder zum Glauben brauchen, so gewährt er sie ihnen ‒, nicht aber ohne ihre Denk- und Handlungsgewohnheiten zuvor durch Reaktionsverzögerung, bisweilen gar Zurückweisung in Frage zu stellen. Durch diese zeitliche Schleife wird das tatsächliche Handeln Jesu anders erlebt als im Falle einer direkten Bedürfnisbefriedigung. Das Vertrauen auf den guten Ausgang wird auf die Probe gestellt, die Ungeduld gesteigert. Aber es gibt eben auch einen Überraschungseffekt: Er tut es doch! Die Erleichterung ist umso größer. Das Zeichen wird aber nicht bloß erleichtert hingenommen, sondern mit der Souveränität Jesu im Vorfeld seiner Handlung und mit seinen abstrakten Worten über den Glauben in Beziehung gesetzt, nichts Anderes tut im Übrigen auch der Königliche, wenn er nach der genauen Stunde der Heilung fragt, um sie mit Jesu Lebensaussage in Beziehung zu setzten. So ist am Ende klar: Man kann Jesu Charisma vertrauen, auch wenn er Zeichen setzt, die nach seinen eigenen zeitlichen und räumlichen Maßstäben und gegen unmittelbare Intuition und Bedürfnisse Wirksamkeit entfalten. Dieses anhaltende Vertrauen spielt eine entscheidende Rolle für die positive Wendung des Geschicks. Schaut man im paganen Umfeld des NTs auf vergleichbare Aussagen über das Ansehen eines Philosophen in der Heimat, so scheint auch hier die Nahtstelle zwischen besonderer Begabung einerseits und Herkunftsverleugnung oder Neid aus den eigenen Reihen andererseits das dominierende Thema zu sein. Bei Epiktet, einem Stoiker des 1./2. Jh., selbst einst als Knecht von Hierapolis nach Rom gelangt, lesen wir von Missgunst und Skepsis, die einem Philosophen von den „alten Bekanntschaften“ seiner Heimat entgegengebracht werden, weshalb dieser zur „Entfernung aus der Heimat“ rät (Epikt Diss III 16,11).119 Dion Chrysostomos, der wohl etwa zeitgleich in Rom tätig war, erklärt den Aufbruch aus der Heimat mit der „Dummheit der einen, [der] Scheelsucht der anderen, [der] Rücksichtslosigkeit der dritten“ und bestreitet, dass sich der Fortgang aus fehlender Heimatliebe erkläre (Dion Chrys Or 47,3.6). 120 Aus einem Brief des griechischen Sophisten Flavius Philostratos (2./3. Jh.) an seinen Bruder geht hervor, dass der Ruf oder der Anspruch eines Propheten auf Gottgleichheit Neid in den eigenen Reihen provoziere (Philostr Ep 44).121 Vor diesem polyphonen Hintergrund treten die gleichermaßen durch Kontext- und Formvarianz erzeugten Bedeutungsnuancen der joh. Fassung hervor: In der joh. Erzählung werden nicht die Skepsis der Galiläer gegenüber den besonderen Fähigkeiten ihres Landsmannes problematisiert, auch nicht deren 119 Zitiert nach der Übersetzung von SCHNELLE, Neuer Wettstein. Texte zum Johannesevangelium, 2001, 258. 120 Zitiert nach der Übersetzung a.a.O., 259. 121 Vgl. in Übersetzung a.a.O., 257.
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V. Textanalyse
Neid oder Missgunst, sondern es wird ein mangelhafter Glaube angesprochen: ein Glaube, der den Kern Jesu Wirkens nicht erfasst hat; eine Gastfreundschaft, die nur durch die Erwartung weiterer großer Taten motiviert ist, ohne die tiefergehende Bedeutung dieser Taten zu reflektieren. Diese Reflexion wird durch Jesu besonderes Zeitverhalten, sein atemporales Prophetenwort wie sein verzögerndes gnomisches Zeichenwort in Gang gesetzt. Im Verlauf der joh. Fernheilungserzählung wird deutlich, dass Jesu Wirken, ob durch Taten oder Worte, auf nichts weniger als auf das Leben abzielt. Es geht nicht nur um die Heilung von Krankheit, das Handauflegen, das Setzen sichtbarer Zeichen oder um scharfe Rhetorik, sondern um die Lebenskraft, die von Jesus als dem göttlichen Logos ausgeht. Deshalb wartet man auf der einen Seite vergeblich auf seinen Abstieg nach Kafarnaum, wo er unter viel Aufsehen das Kind heilen könnte; deshalb verzichtet Jesus auf der anderen Seite aber auch nicht auf jegliche Zeichen. Er lässt sie kulminieren in seinem Wort vom Leben, das dem, der daran glaubt, zu immerwährender Lebendigkeit verhilft. Fernheilung Im Blick auf das AT eignet sich die (auch im LkEv) angesprochene Begegnung des Propheten Elija mit der Witwe aus Sarepta (1 Kön 17,1–24) für einen Formund Bedeutungsvergleich. Die atl. Erzählung wirkt wie ein Amalgam vieler im JohEv getrennt vorkommender Motive: die Begegnung mit einer fremden Frau am Rande der Stadt (1 Kön 17,10 | Joh 4,6f.), das Bitten um Nahrung/Wasser (1 Kön 17,10 | Joh 4,7), die Verheißung der unendlichen Speise (1 Kön 17,13 | Joh 6,27.34f.), die harsche Zurückweisung (τί ἐμοὶ καὶ σοί in 1 Kön 17,18 | Joh 2,4122). Für die hiesige Szene der Fernheilung interessiert v.a. die auffällige Konvergenz der jeweiligen Lebensworte. Die Wortwahl ist abgesehen von der syntaktischen Reihenfolge identisch (1 Kön 17,23 | V. 50: ζῇ ὁ υἱός σου). Elija spricht diese Worte jedoch nach der Anrufung Gottes, seiner Erhörung und der wirksamen Heilung des Sohnes aus: Siehe, dein Kind lebt. Jesu Lebensworte hingegen sind kein deskriptiver Hinweis auf die Früchte des göttlichen Heilshandelns, sondern sie selbst sind performativ; sie bewirken, was sie sagen. Jesus fordert deshalb auch nicht zum Sehen des Wunderresultats, sondern zum Gehen als Demonstration des Vertrauens in die Kraft des Lebenswortes auf. Auch hier sagt die chronologische Abfolge der Ereignisse viel über das jeweilige Glaubensverständnis aus. Eine weitere Parallele liefert die versuchte Fernheilung des Sohnes der Schunemiterin durch Elischa (2 Kön 4,18–37). Elischas Diener Gehasi soll, mit einem Stab ausgerüstet, den Sohn heilen, versagt jedoch dabei. Der Fernheilungsversuch endet in einer Totenauferweckung, die eher Analogien zur Auferweckung des Lazarus in Joh 11,1–57 aufweist. 122 Die Zurückweisung funktioniert in 1 Kön 17,18 jedoch umgekehrt: Dort weist die Witwe Elija zurück, weil sie die Krankheit ihres Sohnes auf sein Wirken zurückführt; in Joh 2,4 ist es Jesus, der die Anfrage der Mutter auf dem Hochzeitsfest zurückweist.
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Der wesentlichste Unterschied zwischen der joh. und den synopt./Q- Fernheilungen (Mt 8,5–13 | Lk 7,1–10 | Q 7,1.3.6b–9123) betrifft die Personenkonstellation. Die Synoptiker/die Logienquelle lassen einen Hauptmann (ἑκατόνταρχος), also einen Heiden, der sich außerhalb des Volkes Israel befindet, um die Heilung seines παῖς (synonym dazu auch δοῦλος) bitten. Im JohEv hingegen wird irgendein Königlicher (τις βασιλικός) zum Bittsteller, der um das Leben seines todkranken Sohnes (υἱός; synonym dazu aber auch παιδίον und παῖς) kämpft. Durch den Austausch der Personen wird das ungewöhnliche Zeitverhalten des joh. Jesus weiter zugespitzt: Der Hauptmann aus der Logienquelle sorgt sich um den Knecht, der krank ist (κακῶς ἔχει); der mt. Hauptmann sorgt sich um die Gesundheit seines gelähmten (παραλυτικός) Knechtes; der lk. Hauptmann sorgt sich um die Gesundheit seines geschätzten (ἔντιμος) todkranken (ἤμελλεν τελευτᾶν) Knechtes; der joh. Königliche bittet Jesus nun als Mann von hohem Ansehen, seinen todkranken (ἤμελλεν ἀποθνῄσκειν) Sohn zu heilen, bevor dieser stirbt (πρὶν ἀποθανεῖν) – man spürt, wie die Dramatik der Situation durch diese Modifikationen graduell ansteigt. Der Handlungsdruck, der auf dem joh. Jesus lastet, ist um ein Vielfaches höher als bei den Synoptikern, nicht nur, weil es sich um den todkranken Sohn des Hilfesuchenden, sein eigen Fleisch und Blut handelt, sondern mehr noch, weil er eben kein Heide, sondern Beamter des jüdischen Königshauses ist. Trotz oder gerade aufgrund dieser Handlungsevidenz verzögert Jesus sein Eingreifen und spricht ein abstraktes Wort über den Glauben eines indefiniten Kollektivs. Während Jesus in den mt. und lk. Versionen unmittelbar und positiv auf die Bitte des Hauptmanns reagiert und seine Bereitschaft signalisiert, zum Sohn zu gehen und ihn zu heilen, es hier sogar der Hauptmann ist, der verzögernd handelt, indem er auf seine Unwürdigkeit (Mt 8,8 | Lk 7,6: οὐκ ἱκανός) hinweist, muss der joh. Königliche Jesus mehrfach bitten, hinabzusteigen und sein Kind zu heilen. Am Ende ist es nicht Jesus, der losgeht (vgl. Lk 7,6: ὁ δὲ Ἰησοῦς ἐπορεύετο σὺν αὐτοῖς), sondern der den Befehl zum Gehen erteilt (V. 50: πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ). In der joh. Version ist die Heilung aus der Ferne die Möglichkeit Jesu, seine zeit- und ortssouveräne, göttliche Lebenskraft zu offenbaren. Bei den Synoptikern ist sie Notbehelf des Hauptmanns, um Jesu Würde zu schützen. Darüber hinaus wird die Brisanz der joh. Fernheilung durch die Distanz zwischen Kafarnaum und Kana gegenüber den synopt. Versionen intensiviert, denn im LkEv steht Jesus unweit des Hauses (ἀπὸ τῆς οἰκίας), im MtEv befindet er sich mindestens in der gleichen Stadt, als er die Heilung vollzieht. Die Stunde der Besserung, die die Gleichzeitigkeit von Wort und Heilung anzeigt, spielt sowohl im JohEv als auch im MtEv eine besondere Rolle. Doch nur das JohEv beschreibt auch detailliert, wie der Bittende dieser besonderen 123
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Zur Textrekonstruktion und Übersetzung vgl. HOFFMANN/HEIL, Die Spruchquelle Q, 2009, 46.
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V. Textanalyse
Simultanität gewahr wird, nämlich durch das Entgegenkommen seiner Knechte und wie daraus Glauben entsteht. Die Reihenfolge der Ereignisse weicht von der synopt. Version ab: Der Glaube des Hauptmannes geht der Fernheilung nicht voraus (vgl. Mt 8,13: ὡς ἐπίστευσας γενηθήτω σοι | wie du glaubtest, so geschehe dir), sondern die Fernheilung und der Glaube an Jesu wirkmächtiges Wort fallen in eins (V. 50: Πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ. ἐπίστευσεν ὁ ἄνθρωπος τῷ λόγῳ ὃν εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς καὶ ἐπορεύετο | Geh, dein Sohn lebt. Es glaubte der Mann dem Wort, das Jesus ihm sagte, und ging). Während das dominierende Thema der Synoptiker (und der Logienquelle) der vorbildliche WortGlaube eines Nichtisraeliten ist,124 so ist es im JohEv die Frage danach, was Ehre und Glauben in Bezug auf die Person Jesu eigentlich bedeuten. Die besondere Erzählführung des JohEvs zeigt, dass Ehre und Glauben das Vertrauen in Jesu lebensspendende Kraft an jedem Ort zu jeder Zeit meinen, auch wenn sein Zeichenhandeln nicht den vorgefassten Erwartungen entspricht; sie bedeuten das Vertrauen auf einen positiven Ausgang, ohne dabei das Zukünftige genau vorherbestimmen zu können. Aus dem frühjüdischen Umfeld ist ferner die Erzählung von einer Art Fernheilung durch das Gebet des Rabbi Chanina ben Dosa bekannt. Nachdem der Rabbi für Rabban Gamaliël und seinen Sohn um Erbarmen gebeten hat, sagt er zu dessen Schülern: „Geht, denn das Fieber hat ihn verlassen.“ (Ber 34b)125 Auch in dieser Erzählung wird die stündliche Koinzidenz des Gebetes mit der Genesung staunend festgestellt. Am Ende der Geschichte über Rabbi Chanina wird ferner dessen besondere Gottesnähe hervorgehoben: Er stehe wie ein Diener vor dem König (welcher wesentlich öfter in des Königs Nähe weilt als ein Fürst). Die Übereinstimmungen mit der joh. Erzählung liegen auf der Hand. Gleichsam gibt es entscheidende Unterschiede: Der Befehl des Rabbi ist mehr prophetische Voraussage als performativ heilendes Wort. An der Art und Weise, wie ihm selbst die Fürbitte über die Lippen geht, kann er den Zustand des Betroffenen ablesen, nicht aber unmittelbar selbst beeinflussen.126 In der jesuanischen Fernheilung ist es nicht nur die besondere Nähe des Fürbitters zu Gott, sondern Jesu Teilhabe an der göttlichen Lebenskraft, die sich als wirksam an jedem Ort zu jeder Zeit erweist.
124 Die Logienquelle kommt sogar ohne einen Bericht über den tatsächlichen Vollzug der Heilung aus. Die Redebeiträge am Ende der Erzählung „scheinen vielmehr das Thema Wunder ganz aufzugeben und einen Schwenk zur Frage Glaube und Israel zu vollziehen.“ (HÜNEBURG, Heilung per Befehl, 2013, 174) 125 Zitiert nach der Übersetzung in BILLERBECK/STRACK, Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte, 1924, 441. 126 Vgl. a.a.O., 441.
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Zeichen und Wunder Zuletzt kann noch ein kurzer Blick auf die geprägte Wendung σημεῖα καὶ τέρατα geworfen werden. In ihren LXX-Belegen ist dieses Hendiadyoin als Übersetzung des hebr. הָא ֹת ֹת ְוהַמּ ֹ ְפ ִתיםmeist i.S. eines warnenden Zeichens oder Omens, z.B. als Ankündigung der Plagen gegen den Pharao in Ägypten, in Gebrauch (Ex 7,3; Dtn 4,34; 6,22; 7,18f.; 11,2–6; 28,45f.; Neh 9,10; Ps 105,27– 36; Ps 135,9; Jes 8,18; 20,3; Jer 32,20). Vor diesem Hintergrund überrascht Jesu Handeln im Anschluss an sein Wort über den Glauben durch Zeichen und Wunder in V. 48. Es steht im positiven Kontrast zum atl. Skript: Seine Sprechhandlung ist kein warnendes Zeichen. Er beschwört keine Plagen herauf, die Krankheit und Zerstörung bringt, um Macht zu demonstrieren. Sein Wort ist ein Zeichen des Lebens: Dein Sohn lebt (ὁ υἱός σου ζῇ). Intratextuelle Erwartungen (Intra- und extradiegetisch) Auf Figurenebene weiß man in Kana bereits um die Wundermacht Jesu, dort hatte er Wasser in Wein verwandelt (Joh 2,1–11). Gleich im Anschluss war Jesus nach Kafarnaum gereist (Joh 2,12). Die Kunde vom ersten Wunder dürften seine Begleiter dorthin mitgetragen haben, sodass in beiden Orten Kenntnis über seine Wundermacht besteht. Die Galiläer nehmen Jesus auf, weil sie darüber hinaus gesehen haben, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte (V. 45: ὅσα ἐποίησεν ἐν Ἱεροσολύμοις ἐν τῇ ἑορτῇ), auch dort hatte er Zeichen getan (Joh 2,23f.). Diese Erfahrungen mit Jesu Auftreten in Kana und Jerusalem lassen bei den Figuren (und ihren lesenden Beobachtern) die Erwartung an weitere Wundertaten entstehen. Die Erwartung wird aber nicht unmittelbar befriedigt. Vielmehr reagiert Jesus mit einer abstrakten Glaubensbestimmung (V. 48). Dies kann entweder als Bruch mit den Erwartungen des Königlichen oder aber (v.a. mit Blick auf den weiteren Verlauf der Erzählung) als interne Prolepse i.S. einer Ankündigung aufgefasst werden. Die Erwartung an ein Eingreifen wird durch diese Art der Verzögerung weiter geschürt. Ferner werden der Leidensdruck des Königlichen und eben auch seine Erwartungshaltung gegenüber Jesus durch den unmittelbar bevorstehenden Tod des Sohnes (V. 46: ἤμελλεν γὰρ ἀποθνῄσκειν) gesteigert. Auch nach der ‚Zurückweisung‘ durch Jesus hält der Königliche (und seine lesenden Beobachter) an seiner Erwartung fest. War die ‚Zurückweisung‘ überhaupt an ihn gerichtet? Liegt die Verzögerung eher auf extradiegetischer Ebene? Die erneute Bitte mit dem Verweis bevor mein Kind stirbt (V. 49: πρὶν ἀποθανεῖν τὸ παιδίον μου) indiziert, dass auch auf intradiegetischer Ebene der Königliche an der Handlungsverzögerung leidet und deshalb persistent weiterfragt. Durch seine zweite Bitte wird die Notsituation weiter dramatisiert und die Handlungsnotwendigkeit nochmals betont. Erwartet und erbeten wird zunächst Jesu Heilungskraft, nicht seine lebenserweckende oder gar totenauferweckende Kraft. Wenn Jesus schließlich behauptet: Dein Kind lebt (V. 50: ὁ υἱός σου ζῇ),
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V. Textanalyse
so wirkt diese Ankündigung gegenüber der Erwartung einer Heilung etwas sperrig, gelebt hat der Sohn zuvor ja auch (noch). Die Diener des Königlichen kommen ihm schon, als er hinabging (V. 51: ἤδη δὲ αὐτοῦ καταβαίνοντος), d.h. noch bevor der Königliche sie zu sehen erwartet, entgegen, damit wird ihr Kommen als frühzeitig wahrgenommen. Nachdem der Glaube des Königlichen an das Wort Jesu eingetreten ist und sich in seinem Gehorsam gegenüber Jesu Befehl manifestiert, sind keine weitere Verzögerung und Erwartungssteigerung nötig. Wie bereits unter 2.4.3 Chronologik einsehbar, wird die Erzählsequenz von der Heilung des Sohnes eines Königlichen auf extradiegetischer Ebene mittels verschiedener Analepsen in ein größeres Netzwerk von Wunder- und Zeichenhandlungen Jesu eingespannt. Der Rückverweis auf das Weinwunder in Kana (V. 46) nährt die Lesererwartung weiterer derartiger Aktionen. Schon in Joh 2,11 war das Weinwunder in Kana vom Erzähler als erstes Zeichen ausgewiesen worden und beim Leser die Erwartung weiterer Zeichen geweckt. Die Assoziation zur ersten Wundererzählung ergibt sich auch durch die übereinstimmende Zeitangabe des dritten Tages (V. 43; vgl. Joh 2,1). Der Bezug zu Galiläa als erstem öffentlichen Wirkungs- und Wunderort Jesu wird immer wieder besonders hervorgehoben (Joh 4,43.45f.54). Von einer Heilung wurde bis zu diesem Zeitpunkt der Erzählung noch nicht berichtet, eine solche ist strenggenommen lediglich aus intertextuellen Bezügen ableit- und erwartbar. Allerdings wird Jesus in Samaria kurz vor der Heilungserzählung bereits als Retter oder Bewahrer des Kosmos bezeichnet (Joh 4,42: σωτὴρ τοῦ κόσμου) − ein programmatischer Übergang zu einer Heilungserzählung. Das vom Erzähler analeptisch angeführte Zeugnis Jesu in V. 44 bedeutet eine gewisse Erwartungsminderung in Bezug auf das Verhalten der Galiläer. Der Leser wird von vornherein darauf vorbereitet, dass etwas am Verhalten der Galiläer unzureichend sein könnte. Nur so kann dieser schließlich zu dem Schluss kommen, dass die Aufnahme des Wundertäters und die Erwartung weiterer Wunder und Zeichen allein nicht ausreichen, um ‚dem Propheten‘ Ehre (τιμή) zu erweisen, sondern dass die glaubende Haltung gegenüber Jesus und seinen Taten über die Güte des Verhaltens entscheidet. 2.5.2 Bewertungsorientierung Instrumente Metaphorizität und Symbolizität Wie bei der Analyse der Zeitinszenierung betont, stellt die Erzählung von der Fernheilung Orts- und Zeitangaben in einen engen und bedeutungsvollen Zusammenhang. Eine wichtige Rolle im Rahmen der Raumsymbolik dieser Narration spielt das wiederkehrende Bewegungsverb καταβαίνω. Der Abstieg ist zum einen ein signifikanter Widerspruch zur angesprochenen hierarchischen Ordnung: Jesus soll zum Königlichen hinabsteigen. Zum anderen wird mit
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καταβαίνω ein theologisch geprägter Begriff verwendet, der den Weg zwischen Himmel und Erde, zwischen οὐρανός und κόσμος metaphorisch bebildert (Herabkommen des Geistes in Joh 1,32f.; der Engel in Joh 1,51; des Menschensohns in Joh 3,13; Jesu als Brot des Lebens in Joh 6,33.38.41f.50f.58). Durch seine Inkarnation ist Jesus bereits hinabgestiegen und offenbart im Abstieg die himmlische Herrlichkeit (Joh 1,14). Das Pendant ἀναβαίνω zeigt Jesu Rückgang zum Vater an (Joh 20,17). Außerdem werden die Reisen nach Jerusalem zu den verschiedenen Jahresfesten mit diesem Lexem verbalisiert (Joh 2,13; 5,1; 7,8.10.14; 11,55; 12,20), wodurch das galiläische Kafarnaum in einen metaphorisch-topologischen Kontrast zum judäischen Jerusalem gerückt wird. Neben topologischen Bildern wird die Erzählung auch durch temporale Symbolik wie bspw. den Drei-Tages-Rhythmus mit Bedeutung angereichert. Nach drei Tagen findet in Kana ein Fest statt (Joh 2,1), an dem Jesus Wasser in Wein verwandelt; Jesus wartet zwei Tage, bis er am dritten Tag zum todkranken Lazarus aufbricht (Joh 11,6), auch wenn er ihn dann seit vier Tagen tot liegend auffindet (Joh 11,17); die Frauen entdecken am ersten Tag der Woche, also am dritten Tag nach dem Rüsttag das leere Grab (Joh 20,1). Der dritte Tag ist also Tag der Bewegung, Tag des göttlichen Handelns, Tag der Theophanie.127 Selbstverständlich ist auch die Stunde (ἡ ὥρα) im JohEv ein bedeutungsschweres Zeitwort. 128 So weisen bereits Zeit und Ort mit ihrer theologisch-christologischen Symbolik auf die Besonderheit des jesuanischen Heilungswirkens zwischen Kana und Kafarnaum hin. Die hierarchische Ordnung wird nicht nur durch das Lexem καταβαίνω κτλ. durchbrochen, sondern auch durch die metaphorische Darstellung Jesu als König Israels/der Juden (βασιλεὺς τοῦ Ἰσραήλ/βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων) an anderer Stelle im Evangelium (Joh 1,49; 12,13.15; 18,37; 19,3.14.19) konterkariert und klar zugunsten Jesu besonderer Vorrangstellung korrigiert. Auch das Bildfeld ὁ σωτὴρ τοῦ κόσμου (V. 42), ἰάομαι/ἰατρός (V. 47), ἀσθενέω/ἀποθνήσκω/θάνατος (V. 46.47.49), ζάω/ζωή (V. 51.51.53) indiziert ein klares Werteschema, auf dessen positiver Seite Jesus als Retter, Heiler und Lebenssprecher steht. Die Oben/Unten-, Tod/Leben- bzw. Krankheit/Gesundheit-Matrizen stehen im Dienste einer positiven Bewertungslenkung im Hinblick auf das Verhalten Jesu. Narrative Verknüpfungen Das Heilungswunder wird, wie oben erwähnt, von räumlichen Metaphern umspielt. Daraus ergeben sich auch bedeutsame narrative Verknüpfungen. In der Perikope selbst werden Galiläa bzw. Kana und Kafarnaum, sowie Jerusalem benannt. Sowohl Kana als auch Jerusalem werden als besondere Wirkungsorte 127 Vgl. atl. Theophanieberichte z.B. Ex 19,16 (mehr dazu in der Analyse von Joh 2,1– 11[12] unter 1.5.1 Intertextuelle Erwartungen: ἐγένετο δὲ τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ). 128 Mehr dazu in der Analyse von Joh 2,1–11[12] unter 1.5.2 Bewertungsorientierung: Metaphorizität und Symbolizität.
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V. Textanalyse
Jesu vorgestellt. Er reist von der Fremde (Sychar in Samaria) in die Heimat, wo er laut Jesu Zeugnis keine Ehre findet (V. 44). Derartige Verhältnisse lassen sich natürlich auch für Jerusalem behaupten, dort wird Jesus zum Ende seiner Reise den größtmöglichen Ehrverlust erleiden: die Hinrichtung am Kreuz. Und so ist die Irritation zu Beginn der Perikope ausgelöst durch Jesu Zeugnis über das Ansehen des Propheten in der Heimat wohl eine kalkulierte. Dem unmittelbaren Erzählverlauf nach ist mit Heimat Galiläa gemeint, dem übergeordneten Kontext nach wird hier zugleich auf Jerusalem verwiesen. Beide sind in gewisser Hinsicht Heimat Jesu, in beiden wird Jesus mit unterschiedlichen Graden der Glaubensverweigerung konfrontiert. Was in Galiläa passiert, ist Vorbote für die Ereignisse in Jerusalem, hier spricht er das Lebenswort für einen Kranken aus, dort verstummt er im Tod, aber nur um in der Todesstunde Leben für alle zum Tode Verurteilten zu erwirken und im größtmöglichen Ehrverlust verherrlicht zu werden. Das ἤμελλεν γὰρ ἀποθνῄσκειν (V. 47) ist sonst im Evangelium stets auf Jesu Tod bezogen (Joh 11,51; 12,33; 18,32). Man wird sich später erinnern, dass derjenige, der dem Tod nicht ausweicht, zugleich derjenige ist, der die Fähigkeit besitzt, die Menschen zu jeder Zeit vor dem Tod zu bewahren. Das Wort vom Leben und die Betonung der Kraft Jesu Wortes (V. 50.53) ruft nicht nur das Ende, sondern auch die Rede vom Logos im Prolog wieder auf (Joh 1,4: ἐν αὐτῷ [τῷ λόγῳ] ζωὴ ἦν). Distribution der Erzählzeit und Figurenautorität Für die topographische Bestimmung des Heilungsereignisses und die Beschreibung des sozialen Settings (Vorbehalt Jesu gegenüber der Heimat; Aufnahme durch die Galiläer) wird vergleichsweise viel Erzählzeit investiert. Vier Verse klären über den Gang Jesu von Samaria nach Galiläa, genauer Kana, den Ort vergangener Wundertaten in der Nähe von Kafarnaum, und den Vorbehalt Jesu gegenüber den dort Ansässigen und ihre Gastfreundschaft auf (V. 43–46a). Dass dieses Heilungswunder in Galiläa stattfindet, scheint also keineswegs unbedeutend zu sein. Erst in V. 46b kommt es zu einer ersten, wenn auch sehr knappen Problembeschreibung. Weder über die Art noch über die Gründe der Krankheit liefert die Erzählung Details. Den nächsten größeren Erzählblock bilden die V. 47–51, die den zentralen Dialog zwischen Jesus und dem Königlichen veranschaulichen. Drei weitere Verse berichten von der Erkenntnis des Königlichen über die Heilungsstunde (V. 51–53). Besondere Schwerpunkte werden somit auf den Ort, den Dialog zwischen Jesus und dem Königlichen, sowie die Erkenntnis der Heilungsstunde und die Glaubensfolge gelegt, während die genauen Umstände der Krankheit und der Kranke selbst für die Erzählung nebensächlich sind. Obwohl man aufgrund der beruflichen und sozialen Stellung ein dominantes Auftreten des Königlichen erwarten würde, ist es Jesus, dem alle Autorität und Souveränität in dieser Szene zukommt. Er ist der wahre König Israels. Das ist
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nicht nur aus den Titulationen im übrigen Evangelium zu schließen, sondern ergibt sich unmittelbar aus der Darstellung der Begegnung zwischen Jesus und dem Königlichen. Jesus sieht sich nicht dazu gezwungen, der Bitte des Königlichen unmittelbar nachzukommen. Er handelt souverän verzögernd. Der Königliche ist sich nicht zu schade, mehrfach in Bittstellung zu treten, er spricht Jesus sogar mit dem Hoheitstitel κύριος an. Der Königliche selbst wird nie beim Namen genannt und vielfach mit indefiniten bzw. generischen Personenbezeichnungen beschrieben (τις βασιλικὸς in V. 46; ὁ ἄνθρωπος in V. 50; ὁ πατήρ in V. 53). Jesus reagiert auf die Bitte des Königlichen zunächst nicht einmal mit persönlichen Worten, sondern spricht ein unbestimmtes Kollektiv an, und in seiner zweiten Antwort verschwendet er nur wenige Worte an den Königlichen: πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ (V. 50). Der Königliche wiederum gehorcht sofort. Im Erzählerkommentar in V. 44 wird Jesus ferner indirekt das Prophetenamt zugewiesen, sodass von vornherein klar ist, in welcher Rolle er in Galiläa auftreten würde. Handlungsmotivation und -folgen Die offensichtlichste und staunenswerteste Folge des jesuanischen Handelns ist die Heilung des todkranken Sohnes. Gleichwohl ist sie nicht offen-sichtlich i.S. eines unmittelbar sinnlich-empirischen Sehens (ἰδεῖν), wie es die Protasis (ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε) aus dem Glaubenssatz in V. 48 eigentlich erwarten lässt. Wundertat (Lebenswort) und Wunderwirkung (Genesung des Sohnes) ereignen sich schließlich nicht am gleichen Ort. Vielmehr wird das Wunder nachträglich erkannt (V. 53: γινώσκω), indem die Stunde des Wortes und die Stunde der Gesundung miteinander verglichen werden. Die veranschaulichte Dramatik der Situation macht die Handlungsmotivation des Königlichen, sein mehrfaches Bitten nachvollziehbar. Sein Ersuch wird schlussendlich auch erhört und sein persistentes Bitten erweist sich als ‚lohnend‘. Jedoch nicht ohne Umwege und Abweichung von seinem Lösungsansatz. Jesus verzögert durch den abstrakten Konditionalsatz und heilt, ohne hinabzusteigen. Auch Jesu Anliegen, das im Konditionalsatz in V. 48 bereits anklingt, wird zweifach positiv bestätigt: Der Königliche glaubt Jesu Lebenswort (τῷ λόγῳ ὃν εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς) und folgt deshalb seinem Befehl (V. 50), und der Königliche samt seinem ganzen Haus glauben, nachdem sie die Heilung klar auf das Lebenswort Jesu zurückführen können (V. 53). Von negativen Folgen, etwa Anfeindungen seitens der Galiläer, ist in dieser Erzählsequenz keine Rede. Explizite Bewertungen Eine explizit negative Wertung steckt im Zeugnis Jesu über das Ansehen des Propheten in seiner Heimat. Dort habe er keine Ehre (τιμὴν οὐκ ἔχει). Damit werden seine Landsleute in ein schlechtes Licht gerückt, wenngleich der darauffolgende Bericht über die Gastfreundschaft der Galiläer diese Wertung in
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V. Textanalyse
Ambivalenzen rückt. Was bedeutet keine Ehre? Diese Spannung muss der Leser selbst auflösen, indem er sich fragt, was die fehlende Ehre im Detail ausmacht. Intensität Leseransprache Die Ihr-Gruppe als unbestimmt bleibender Adressat Jesu in V. 48 öffnet die Aussage Jesu für Verallgemeinerung und macht eine doppelte Adressierung auf Figuren- und Leserebene möglich: ἐὰν μὴ σημεῖα καὶ τέρατα ἴδητε, οὐ μὴ πιστεύσητε | Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht. Neben der Situation des Königlichen bzw. der Galiläer bietet sich auch die Situation des Lesers zur Anwendung dieses Spruches an. Denn als Spätgeborenem ist dem Leser eine Augenzeugenschaft der Taten Jesu verwehrt, er kann dessen Zeichen und Wunder eben nicht, zumindest nicht in einem wörtlichen Sinne, mit den eigenen Augen sehen. Er muss auf das Lebenswort vertrauen und erkennt dessen Wirksamkeit gleich wie der Königliche dadurch, dass er seine eigenen Erfahrungen mit dem, was ihm von den Augenzeugen berichtet wird (vgl. Joh 19,35), in Verbindung bringt. Der Königliche hat seinen Dienern, die von der Besserung des Sohnes zeugen, sogar etwas voraus, weil er durch das Lebenswort Jesu einen Deutungsschlüssel für die Ereignisse zurück in Kafarnaum hat. Auch dem Leser wurde das Lebenswort (etwa im Prolog in V. 4: In ihm war das Leben; oder im Ostergruß: Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden!) bereits zugesprochen. Mit diesem Lebenswort kann er nun die erzählten Ereignisse und Zeichen des JohEvund die Ereignisse seines eigenen Lebens in Verbindung bringen. Unmittelbarkeit der Erzählung Die Erzählung von der Fernheilung wird von einem narrativen Modus dominiert. Die Ereignisse werden häufig in Raffung berichtet, man denke an die Krankheit des Sohnes, das Kommen des Königlichen nach Kana, die Begegnung des Königlichen mit seinen Knechten und das Zuglaubenkommen seines Hauses. Wie bereits erwähnt, ist lediglich ein Teil des Gespräches zwischen Jesus und dem Königlichen szenisch gestaltet (V. 48–50), sowohl was die Erzähldauer angeht, die sich annäherungsweise mit der erzählten Zeit deckt, als auch was die Tempuswahl (Präsens Historicum der verba dicendi) und den Modus der direkten Rede angeht. Die übrige Erzählsequenz ist von indirekter Rede (ὅτι-Sätze in V. 44.47.51f.) und Bewusstseinsberichten, etwa über die Beweggründe der galiläischen Gastfreundschaft und der Glaubensfindung des Königlichen und seines Hauses (V. 45.50.53), durchdrungen. Explizite Informationen über die Gefühlslage der Protagonisten stellt die Erzählung ebenso wenig zur Verfügung wie besondere Details über die Szenerie, die Beschaffenheit des Ortes etc.
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Im Zentrum steht also durch die dramatische und lebhafte Inszenierung die Begegnung des Königlichen mit Jesus. Sie wird gerahmt von Berichten über andere Reaktionen auf Jesus, etwa die Gastfreundschaft der Galiläer, und wird damit ins Verhältnis gesetzt. Als unmittelbare Reaktion auf die Begegnung wird der Glauben des Königlichen an das Wort Jesu dargestellt, der zum Ende der Perikope dann noch einmal bekräftigt und auf den ganzen Hausstand ausgeweitet wird. Geschlossen wird die Erzählsequenz durch einen Erzählerkommentar, der in Distanz zum Geschehen treten lässt und es in die Reihe der Wunderhandlungen Jesu einordnet. Bei der weiteren Untersuchung des sog. Modus lässt sich eine Tendenz zur Nullfokalisierung erkennen, insofern der Erzähler von Jesu Haltung gegenüber seinem Heimatland weiß und gleichzeitig in den verschiedenen o.g. Bewusstseinsberichten auch einen rudimentären Eindruck über die innere Haltung der Protagonisten zur Jesusfigur (Gastfreundschaft, Glaube etc.) offenlegt. Weiß der Erzähler damit mehr als alle Figuren, insbesondere die Jesusfigur, oder handelt es sich strenggenommen um eine interne Fokalisierung i.S. einer Mitsicht mit Jesus? An anderer Stelle wird Jesus immerhin ein grundlegendes Wissen um die innere Glaubenshandlung seiner Kontrahenten konzediert (Joh 2,23–25). Das Wissen des Erzählers basiert also tendenziell auf dem Wissen Jesu. Über diesen rudimentären Eindruck von der Glaubenshaltung hinaus erfahren wir allerdings wenig über die inneren Gemütszustände Jesu und der übrigen Personen. Leid und Freude des Königlichen können also nur erahnt werden, sie werden vom Erzähler nicht explizit angesprochen. Auch Jesu Gefühlsregungen werden nicht thematisiert. Diese Distanz zum Geschehen wird durch die narrativen Raffungen und diverse Analepsen auf Jesu Wirken in Jerusalem und Kana, die den linear-chronologischen Erzählverlauf irritieren, weiter verstärkt. Die Abstandsanalyse führt uns den Fokus der Erzählsequenz auf die Interaktion zwischen Jesus und dem Königlichen vor und lässt auf der anderen Seite erkennen, welche Deutungs- und Bewertungswerkzeuge die Erzählung für diese Begegnung zur Verfügung stellt. Applikationspotenzial Ohne viel Einsicht in die Gefühls- und Gedankenwelt des Königlichen zu haben, wird allein durch die Dramatik der Situation des Königlichen und durch sein mehrmaliges Bitten um Heilung seines todkranken Kindes die Empathie des Lesers evoziert. Wie auch in der ersten Kanaerzählung (Joh 2,1–11) wirkt die nüchterne Reaktion Jesu auf diese Anfrage hingegen nicht gerade sympathetisch. Gleichwohl birgt seine Aussage über den Wunderglauben thematisches Applikationspotenzial für den Leser. Auch der Leser bedarf der Zeichen, um zu glauben, und zwar solcher Zeichen, die nicht zuvorderst sein sinnliches, sondern sein geistiges Sehvermögen beanspruchen.
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V. Textanalyse
2.5.3 Auswertung Im dritten Analyseschritt konnte auf der Ebene der Zeitwahrnehmung beobachtetet werden, wie das Spiel mit den Erwartungen des Lesers bestimmte Zeitkonflikte, insbesondere Jesu verzögertes Eingreifen und des Königlichen Drängen auf baldiges Eingreifen noch intensiver wirken lässt. Die Dramatik der Notsituation und die Stellung des Königlichen lassen den Handlungsbedarf hervortreten. Die Voranstellung des Prophetenwortes vor die Wunderhandlung legt dem Verhalten der Galiläer von vornherein einen Filter der Skepsis auf. Ihre positive Resonanz auf Jesu Ankunft erhöht die Spannung des Lesers auf ihr Fehlverhalten. Sind es ihre Motive, das Wissen um Jesu mächtige Taten in Jerusalem, die Jesus kritisiert? Diese erste Ahnung scheint durch Jesu abstraktes Wort über ihren Wunderglauben Bestätigung zu finden. Doch der weitere Erzählverlauf bringt die Wende auch für die Vermutungen des Lesers: Der Kranke wird doch geheilt, der Königliche glaubt schon, ohne das Wunder überhaupt gesehen zu haben. Die Erzählung zeigt mit diesem plötzlichen Umschwung im Geschick des Königlichen und seines Sohnes, dass die Hoffnung auf und die Bitte um Jesu mächtiges Eingreifen nicht grundsätzlich fehlgeleitet sind. Allein, sein Eingreifen verläuft nicht nach ihren erfahrungsbasierten, raum-zeitlichen Erwartungen und es bedarf einer Reflexion über die tiefergehende Bedeutung seines Wirkens. Jesus spricht nichts weniger als das Leben zu. Dieses performative und nicht rein deskriptive Lebenswort leitet uns dazu an, die raum-zeitlichen Grenzen dessen, was wir hoffen können, zu überwinden. Der Leser merkt im Vergleich mit den erfahrungs- und intertextbasierten Skripts, dass es in dieser Erzählung nicht um die Machtdemonstration eines Propheten, auch nicht um den vorbildlichen Glauben eines Nicht-Israeliten geht, sondern um die Offenbarung des Menschen Jesus von Nazareth als göttlichen Lebensspender. Für die positive Bewertung der Gründe für Jesu verzögerndes Handeln trotz der Dramatik der Notsituation geben eine spezielle Metaphorik (ὁ σωτὴρ τοῦ κόσμου, ἰάομαι/ἰατρός, ζάω/ζωή), die positiv dargestellten Handlungsfolgen (die Genesung des Sohnes und der Glaube des Königlichen und seines Hauses), dichte wertende Begriffe (τιμή), explizite und implizite Wertungen aus Jesu oder des Erzählers Munde (negativer Hinweis auf die Motive für die Gastfreundschaft der Galiläer) und Jesu Figurenautorität (προφήτης; κύριος) eine leserlenkende Parade. Die Angst des Königlichen vor dem frühzeitigen Ablauf der Lebenszeit des Sohnes auch angesichts der Wegstrecke zwischen Kana und Kafarnaum ist für den Leser vollkommen nachvollziehbar, zugleich wird die Hoffnung des Königlichen durch Jesu Reaktion ihrer raum-zeitlichen Begrenzung überführt. Sein Lebenswort bedeutet mehr als eine Heilkraft durch Handauflegen, es bedeutet die Überwindung der Endlichkeit als absolute Grenze des Lebens und als absolute Grenze der Hoffnung. Der Leser wird, emotional an-
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gesprochen durch die Dramatik der Notsituation einerseits, kognitiv angesprochen durch das gnomische Zeichenwort Jesu andererseits, zur Reflexion und Entscheidung herausgefordert: Welches Zeichen muss er sehen, damit er glaubt? Und wie verändert sein Glaube den Wunsch nach Zeichen? 2.6 Fazit Die Analyse auf Ebene des erzählten Geschehens hat gezeigt, dass die Einschätzung des Handlungsbedarfs, der Handlungsentscheidungen und -bewertungen Jesu und seiner Interagenten maßgeblich von deren leitenden Zeitperspektiven abhängig sind. Während der Königliche einzig an den Ablauf der Lebenszeit seines Sohnes und die lange Wegstrecke zwischen Kafarnaum und Kana denken kann, möchte Jesus Glauben wecken – einen Glauben, der sich nicht durch die üblichen Zeitnormen und Zeichen der Zeit einschränken lässt. Die Galiläer wiederum sind an ihren Erfahrungswerten mit Jesu Wirken in Jerusalem orientiert. Diese Erfahrungen glauben sie hier reproduzieren zu können. Sie wollen wieder Zeichen sehen, gleich wie auf dem Passafest (Joh 2,23). Für Jesus steht aber nicht der Glaube an solche Zeichen im Vordergrund, die bspw. anhand ihrer Durchbrechung von Raum und Zeit empirisch sichtbar und greifbar werden, sondern der Glaube daran, dass er durch seine Teilhabe an der schöpferischen Kraft Gottes als Quelle des Lebens wirkt. Paradoxerweise ist der Glaube an seine Lebenskraft bei den Menschen offenbar nur durch Zeichen zu erwirken (V. 48). Um also sein Interaktionsziel zu erreichen, ist es nötig, einerseits die Zeitorientierungen und den Erwartungsraum der Interaktionspartner zu berücksichtigen, an entscheidender Stelle aber damit zu brechen und durch bestimmte Reflexionsschleifen dem oberflächlichen Zeichenglauben eine Tiefenstruktur zu verleihen. Jesus widersteht dem mehrmaligen Drängen des Königlichen. Für ihn gibt es keinen Grund zu Eile, weil sein Lebenswort nicht von Ort und Zeit abhängig ist. Es ist immer wirksam. Nur für das Telos des Glaubens handelt er nach einem besonderen Rhythmus, der die Aufmerksamkeit auf das Entscheidende lenkt, nämlich, dass seine Quelle des Lebens nicht versiegt. Seine Aufforderung an den Königlichen (Geh, dein Kind lebt!) stellt nicht das Wunder der Heilung i.S. eines Zeichens seiner Genesung und des Endes der Todesbedrohung in den Vordergrund, sondern das Wunder der kontinuierlichen Lebensfülle, die im Glauben an ihn nicht versiegt (vgl. Joh 11,25f.), welche erkannt werden muss (V. 53) und nicht bloß beobachtet (V. 45) werden kann. In der Interaktionssequenz bleiben keine Wünsche und Erwartungen gänzlich unerfüllt, wohl aber werden sie durch das ungewöhnlich Wie der Erfüllung neu ausgerichtet, und zwar nicht am augenblicklichen, empirischen Sehen von Zeichen, nicht an der greifbaren Gesundung durch Handauflegung, sondern an der Lebenskraft Jesu, die keinen menschlich fassbaren räumlichen oder zeitlichen Bedingungen unterliegt.
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V. Textanalyse
Die Analyse auf der Ebene der Darstellung des erzählten Geschehens konnte die Funktionsweise der joh. Zeitangaben erhellen. Sie bringen die Ereignisse in eine relative Zeitfolge und halten das Geschehen zwar auf diese Weise, historisch-chronikalisch betrachtet, in der Schwebe, insofern es nicht auf einem absoluten Zeitstrahl verortet wird, belassen es damit aber keinesfalls zeitlos. Die Interaktion zwischen Jesus und dem Königlichen beeindruckt vielmehr durch präzise temporale und lokale Koordinatenangaben, die der Begegnung Plastizität verleihen, und entfaltet mittels übergeordneter Zeitangaben mit dichten Vernetzungen über die Szene hinaus gleichzeitig paradigmatische, translozierbare und transtemporierbare Bedeutung. Galiläa ist dadurch einerseits Ort eines konkreten, durch räumliche und zeitliche Koordinaten nachvollziehbaren Geschehens, zugleich steht es aber auch für viele andere Ortschaften, in denen Jesus in das Seine kommt, den auf die sichtbare Oberfläche beschränkten Glauben anzeigt und dadurch tiefergehenden Glauben erwirkt. Die Tempusdistribution setzt zum einen Aufmerksamkeitsmarker, z.B. durch den exklusiven Einsatz des historischen Präsens in der Unterhaltung zwischen Jesus und dem Königlichen, welche ohnehin mittels direkter Rede und zeitdeckenden Erzählens einen Eindruck von Unmittelbarkeit hinterlässt. Zum anderen liefern die Tempusaspekte genauere Details über den Vollzugsstatus der jeweiligen Tätigkeit bzw. des jeweiligen Zustandes. So verdeutlicht bspw. der Imperativ zum Gehen, der im Präsens, auf den Vollzug fokussiert, an den Königlichen gerichtet ist, dass er nicht gehen soll, um die Gesundung seines Sohnes mit eigenen Augen zu bestätigen. Er soll vielmehr gehen, um zu demonstrieren, dass er, auch ohne gesehen zu haben, Jesu Lebenswort vertraut. Am markantesten ist jedoch das Lebenswort selbst: das präsentische ὁ υἱός σου ζῇ in seiner dreimaligen Wiederholung. Jesus spricht dem Königlichen das Leben seines Sohnes zu, und zwar mit keinerlei temporaler Zusatzbestimmung. Er lebt nicht wieder oder noch – er lebt. Dieses kurze Lebenswort kommt ohne jegliche zeitliche Differenzierung aus und spricht das Leben für den Moment und über den Moment hinaus zu. Der räumlichen Komplexität der Fernheilung zwischen Kana und Kafarnaum korrespondiert eine verschlungene Chronologie, die den Leser vielfach alinear durch das Geschehen führt. Von der tatsächlichen Heilung erfährt der Leser (wie auch der Königliche selbst) erst durch eine Analepse im Rahmen der Begegnung zwischen Königlichem und seinen Knechten. Die Erkenntnis über die Heilung wird von Aussagen über den Glauben des Königlichen gerahmt. Die Chronologie der Erzählung gibt darüber hinaus Aufschluss über die narrative Gewichtung der einzelnen Erzählbausteine. Das eigentliche Heilshandeln Jesu, seine Sprechhandlung nimmt nur wenig Textraum ein, wird dafür aber im Munde immer anderer Figuren mehrfach wiederholt. Die Unterredung zwischen Jesus und dem Königlichen ist narrativ gedehnt und wirkt durch die zeitdeckende Erzählung besonders lebendig. Durch die Distribution der Er-
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zählzeit wird einerseits deutlich, dass das lebensspendende Wort Jesu augenblicklich und ohne große Voraussetzung viele Menschen durchwirken kann, andererseits wird das Erzählgewicht durch das nahezu zeitdeckende Erzählen auf den Zeitkonflikt zwischen Jesus und dem Königlichen gelegt, wodurch der Leser zur Reflexion ihrer unterschiedlichen Perspektiven angeregt wird. Mithilfe dieser vielfältigen Darstellungsmethoden lässt die Erzählung unterschiedliche Blickwinkel der Figuren auf Zeit, ihr Zeitverhalten und die daraus folgenden Konflikte genauer hervortreten. Die besondere Art der temporalen Inszenierung zeigt, dass der Fokus nicht auf historisch-chronikalischer Berichterstattung, sondern auf lebenskonkreter, realistischer und nachvollziehbarer Darstellung des Verhaltens der unterschiedlichen Charaktere beruht, diese aber zugleich durch achrone Kommentare oder entropische Anachronien beizeiten in eine Beobachtung aus der Distanz überführt. Der Glaube des Königlichen an das Wort fällt, sobald er sich von seinen topographischen, biographischen oder erfahrungsbasierten Abwägungen emanzipiert, zeitlich mit der Heilung in eins, das wird von der Erzählung besonders nachdrücklich betont. Das Lebenswort und der Glaube werden über die siebte Stunde mit der Genesung des Sohnes synchronisiert (V. 53). Den entscheidenden temporalen Vorbehalt, den Jesu Verhalten damit in die Begegnung einträgt, betrifft die Vor- oder Nachordnung von Glauben und Wunderwirken. Eine derartige Reihenfolge wird nämlich durch Jesu Befehl und des Königlichen Gehorsam durchbrochen, welcher nur auf dem Wort, nicht aber auf einer sichtbaren Bestätigung seiner Wirksamkeit gründet. Als er später erfährt, dass in Jesu Lebenswort auch die Wirkung mitgegeben ist, wird sein Glauben vom Erzähler erneut bestätigt. Die Entdeckung der Wunderwirkung (V. 51–53a) wird von den Glaubensnotizen (V. 50.53b) gerahmt. Weder ist der Glaube conditio für die Wunderwirkung, noch die Wunderwirkung conditio für den Glauben, sie passieren gleichzeitig und in eben dieser Gleichzeitigkeit werden die üblichen Zeitnormen und -restriktionen überwunden. 129 Im dritten Schritt konnte beobachtetet werden, wie das Spiel mit den Erwartungen des Lesers bestimmte Zeitkonflikte (z.B. Jesu verzögertes Eingreifen) noch intensiver wirken lässt. Auf Basis der extra-, inter- und intratextuellen Skripts ist ein unmittelbares Eingreifen Jesu zugunsten des kranken Sohnes eigentlich erwartbar. Der Bruch mit dieser Erwartung bzw. die verzögerte Erfüllung lässt den Leser vom Erzählverlauf zurücktreten. Es entsteht eine Unterbrechung in Zeit und Raum, weil Jesus nicht sofort nach Kafarnaum geht. Durch die Voranstellung des Prophetenwortes vor das Handeln Jesu sowie den Einschub des Konditionalsatzes über Zeichen und Glauben wird ein doppelter 129 Die Aufhebung der Linearität von Indikativ und Imperativ, Glaube und Heil, Heil und Tun, Liebe/Gnade und Gesetz, Protasis und Apodosis wird auch in Joh 14,15.21 deutlich: Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten [...] Wer meine Gebote hat und hält sie, der ist es, der mich liebt.
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Deutungsfilter auf das erzählte Geschehen gelegt. Bei allem hat der Leser sich zu fragen, was wahre τιμή bedeutet und welche Rolle σημεῖα καὶ τέρατα für den Glauben spielen sollten. Nicht Neid und Skepsis gegenüber dem Propheten aus der Heimat werden problematisiert, sondern ein Glaube, der sich von Raum und Zeit begrenzen lässt oder von in Raum und Zeit ablesbaren Zeichen abhängig ist; ein Glaube, der nur zu reproduzieren und zu hoffen vermag, was er schon kennt oder auf Basis seiner Erfahrung einkalkulieren kann. Denn weder hat Jesu Wort nur prophetische, noch allein fürbittende Wirkung, sondern es hat performative, schöpferische, lebensspendende Kraft. Damit Jesu Verhalten trotz zunächst wenig hilfsbereiter, gar antipathetisch wirkender Zurückweisung im Letzteindruck positiv bewertet wird, stehen zugleich mehrerlei Erzählinstrumente parat: die spezielle Metaphorik im Rahmen der Oben/Unten-, Tod/Leben- bzw. Krankheit/Gesundheit-Matrizen; die positiven Handlungsfolgen der Genesung und des Glaubens; explizite und implizite Wertungen aus Jesu oder des Erzählers Munde im Propheten- und im Zeichenwort; Jesu Figurenautorität, die sich in der demütigen Haltung des Königlichen manifestiert; die narrativen Verknüpfungen zum ersten Kanawunder und zum größtmöglichen Ehrverlust im Kreuzestod, die zugleich größtmögliche Verherrlichung und Aufstieg zum Vater bedeuten; die Distribution der Erzählzeit zugunsten der Erkenntnis der Heilungsstunde und der Glaubenserfolge. Zu hinterfragen bleibt also nicht die Güte seiner Handlungen, sondern warum sie von der Erzählung für gut befunden werden können. Es ist Jesu Rhythmus der Verzögerung, der seinen Interaktionspartner und in doppelter Adressierung auch die Leser des Evangeliums auf das Wesentliche aufmerksam macht, nämlich das zeit- und ortsunabhängig wirksame Lebenswort und der gleich- und damit rechtzeitige Glaube an dessen Wirksamkeit. Wie der Sohn des Königlichen ist auch Jesus im Begriff zu sterben (ἤμελλεν γὰρ ἀποθνῄσκειν). Doch er weicht dem Tod als absoluter, zeitlicher Begrenzung des Lebens nicht aus, sondern erleidet und überwindet ihn und kann deshalb zu jeder Zeit Leben bewahren und bewirken. Auch am Ende der Analyse der Fernheilungserzählung steht die delikate Frage, inwiefern eine solche Zeitorientierung und ein solches Zeitverhalten überhaupt für den Leser applikabel sein können. Der Notrufdienst wird dem besorgten Anrufer kaum ans Herz legen können, der schöpferischen Gotteskraft zu vertrauen, um den Rettungswagen dann erst mit Verzögerung loszuschicken. Wohl aber muss der Notarzt sein eigenes Handeln nicht mit übermenschlichen Erwartungen überlasten, sondern kann im Vertrauen darauf, dass die Lebenszeit im letzten Grunde in Gottes Händen steht, seinen eigenen Einsatz für das Leben eines Menschen in aufmerksamen Respekt, nicht aber in lähmender Furcht vor dem Tod verrichten. So bittet der Königliche auch nach der Zurückweisung weiter und unermüdlich um Hilfe. Mögen seine konkreten Lösungsansätze auch diesseits der Grenzen des menschlichen Zeithorizontes
3. Joh 11,1–12,11
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liegen, so hat er doch eine leise Ahnung oder Hoffnung, dass der von ihm aufgesuchte κύριος diese Grenzen zu überwinden vermag.
3. Joh 11,1–12,11: Leben trotz Sterbens 3. Joh 11,1–12,11
3.1 Eigene Übersetzung 1
Ην δέ τις ἀσθενῶν, Λάζαρος ἀπὸ Βηθανίας, ἐκ τῆς κώμης Μαρίας καὶ Μάρθας τῆς ἀδελφῆς αὐτῆς. 2 ἦν δὲ Μαριὰμ ἡ ἀλείψασα τὸν κύριον μύρῳ καὶ ἐκμάξασα τοὺς πόδας αὐτοῦ ταῖς θριξὶν αὐτῆς, ἧς ὁ ἀδελφὸς Λάζαρος ἠσθένει. 3 ἀπέστειλαν οὖν αἱ ἀδελφαὶ πρὸς αὐτὸν λέγουσαι· κύριε, ἴδε ὃν φιλεῖς ἀσθενεῖ. 4
ἀκούσας δὲ ὁ Ἰησοῦς εἶπεν· αὕτη ἡ ἀσθένεια οὐκ ἔστιν πρὸς θάνατον ἀλλ᾽ ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ, ἵνα δοξασθῇ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ δι᾽ αὐτῆς. 5 ἠγάπα δὲ ὁ Ἰησοῦς τὴν Μάρθαν καὶ τὴν ἀδελφὴν αὐτῆς καὶ τὸν Λάζαρον. 6 ὡς οὖν ἤκουσεν ὅτι ἀσθενεῖ, τότε μὲν ἔμεινεν ἐν ᾧ ἦν τόπῳ δύο ἡμέρας, 7
ἔπειτα μετὰ τοῦτο λέγει τοῖς μαθηταῖς·ἄγωμεν εἰς τὴν Ἰουδαίαν πάλιν. 8
λέγουσιν αὐτῷ οἱ μαθηταί· ῥαββί, νῦν ἐζήτουν σε λιθάσαι οἱ Ἰουδαῖοι, καὶ πάλιν ὑπάγεις ἐκεῖ; 9 ἀπεκρίθη Ἰησοῦς· οὐχὶ δώδεκα ὧραί εἰσιν τῆς ἡμέρας; ἐάν τις περιπατῇ ἐν τῇ ἡμέρᾳ, οὐ προσκόπτει, ὅτι τὸ φῶς τοῦ κόσμου τούτου βλέπει·
130
1
Es war aber einer krank, Lazarus aus Bethanien, aus dem Dorf Marias und Marthas, ihrer Schwester. 2 Es war aber Maria, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte, deren Bruder Lazarus krank war. 3 Es sandten also die Schwestern nach ihm aus, sagend: ‚Herr, siehe, den du lieb hast, der ist krank.‘ 4 Als aber Jesus [das] hörte, sagte er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Herrlichkeit Gottes, damit der Sohn Gottes verherrlicht werde durch sie. 5 Jesus aber liebte Martha und ihre Schwester und Lazarus.130 6 Als er also hörte, dass er krank ist, da blieb er jedoch [zwar] 131 zwei Tag an dem Ort, wo er war. 7 Danach, nach diesem, sagt er zu seinen Jüngern: ‚Lasst uns wieder nach Judäa ziehen!‘ 8 Sagen ihm die Jünger: ‚Rabbi, nun wollten die Juden dich steinigen und du gehst wieder dorthin?‘ 9 Jesus antwortet: ‚Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er sich nicht, weil er das Licht dieser Welt sieht.
Um den Wechsel von φιλέω (Joh 4,3) zu ἀγαπάω in diesem Vers auch in der Übersetzung anzuzeigen, wird zwischen lieb haben und lieben unterschieden. 131 Ein alleinstehendes μέν kann entweder die adversative Kraft eines δέ übernehmen, oder aber anakoluthische Funktion haben, d.h. einen Satzbruch einleiten, der die Spannung auf ein aber eröffnet (vgl. BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 61988, 1019).
280
V. Textanalyse
10
ἐὰν δέ τις περιπατῇ ἐν τῇ νυκτί, προσκόπτει, ὅτι τὸ φῶς οὐκ ἔστιν ἐν αὐτῷ.
11
Ταῦτα εἶπεν, καὶ μετὰ τοῦτο λέγει αὐτοῖς· Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν κεκοίμηται· ἀλλὰ πορεύομαι ἵνα ἐξυπνίσω αὐτόν. 12 εἶπαν οὖν οἱ μαθηταὶ αὐτῷ· κύριε, εἰ κεκοίμηται σωθήσεται. 13
εἰρήκει δὲ ὁ Ἰησοῦς περὶ τοῦ θανάτου αὐτοῦ, ἐκεῖνοι δὲ ἔδοξαν ὅτι περὶ τῆς κοιμήσεως τοῦ ὕπνου λέγει. 14 τότε οὖν εἶπεν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς παρρησίᾳ· Λάζαρος ἀπέθανεν, 15 καὶ χαίρω δι᾽ ὑμᾶς ἵνα πιστεύσητε, ὅτι οὐκ ἤμην ἐκεῖ· ἀλλὰ ἄγωμεν πρὸς αὐτόν. 16
εἶπεν οὖν Θωμᾶς ὁ λεγόμενος Δίδυμος τοῖς συμμαθηταῖς· ἄγωμεν καὶ ἡμεῖς ἵνα ἀποθάνωμεν μετ᾽ αὐτοῦ.
17
¶ Ἐλθὼν οὖν ὁ Ἰησοῦς εὗρεν αὐτὸν τέσσαρας ἤδη ἡμέρας ἔχοντα ἐν τῷ μνημείῳ. 18 ἦν δὲ ἡ Βηθανία ἐγγὺς τῶν Ἱεροσολύμων ὡς ἀπὸ σταδίων δεκαπέντε. 19 πολλοὶ δὲ ἐκ τῶν Ἰουδαίων ἐληλύθεισαν πρὸς τὴν Μάρθαν καὶ Μαριὰμ ἵνα παραμυθήσωνται αὐτὰς περὶ τοῦ ἀδελφοῦ. 20 ἡ οὖν Μάρθα ὡς ἤκουσεν ὅτι Ἰησοῦς ἔρχεται ὑπήντησεν αὐτῷ· Μαριὰμ δὲ ἐν τῷ οἴκῳ ἐκαθέζετο. 21 εἶπεν οὖν ἡ Μάρθα πρὸς τὸν Ἰησοῦν· κύριε, εἰ ἦς ὧδε οὐκ ἂν ἀπέθανεν ὁ ἀδελφός μου· 132
10
Wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er sich, weil das Licht nicht in ihm ist.‘ 11 Dieses sagte er und danach spricht er zu ihnen: ‚Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, damit ich ihn aufwecke.‘ 12
Seine Jünger sagten also zu ihm: ‚Herr, wenn er schläft, wird er gerettet werden.‘132 13 Jesus aber hatte über seinen Tod gesprochen, jene aber meinten, dass er über den Schlaf des Schlafes redet.133 14 Darauf sagte Jesus ihnen also in Offenheit: ‚Lazarus ist gestorben, 15 und ich freue mich um euretwillen, damit ihr glaubt, dass ich nicht dort war; aber lasst uns nun zu ihm ziehen.‘ 16 Es sagte also Thomas, der Didymus [Zwilling] genannt wird, zu seinen Mitjüngern: ‚Lasst auch uns ziehen, damit wir mit ihm sterben.‘ 17 Als Jesus also kam, fand er ihn schon vier Tag im Grab liegen. 18
Bethanien war aber nahe Jerusalem, ungefähr fünfzehn Stadien [entfernt]. 19 Viele von den Juden aber waren zu Martha und Maria gekommen, um sie wegen ihres Bruders zu trösten. 20 Martha also, als sie hörte, dass Jesus kommt, ging ihm entgegen, Maria aber blieb im Haus sitzen. 21 Martha sprach also zu Jesus: ‚Herr, wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben.
In deutschen Bibelausgaben wird σωθήσεται häufig im übertragenen Sinne mit er wird geheilt werden (revidierte Elberfelder von 1993), es wird besser mit ihm (revidierte Luther Bibel 1984) oder er wird gesund werden (Einheitsübersetzung von 1979) übersetzt. Angesichts der Bedeutung des Lexems σωτήρ κτλ. für das JohEv (Joh 3,17; 4,42; 5,34; 10,9: 12,47) wird hier die wörtliche Bedeutung der Rettung gewählt. 133 Das Hendiadyoin κοίμησις τοῦ ὕπνου dient der Bezeichnung des Schlafes in seiner natürlichen Form statt in seiner Übertragung auf den endgültigen Schlaf des Todes.
3. Joh 11,1–12,11 22
[ἀλλὰ] καὶ νῦν οἶδα ὅτι ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν θεὸν δώσει σοι ὁ θεός. 23
λέγει αὐτῇ ὁ Ἰησοῦς· ἀναστήσεται ὁ ἀδελφός σου. 24 λέγει αὐτῷ ἡ Μάρθα· οἶδα ὅτι ἀναστήσεται ἐν τῇ ἀναστάσει ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ. 25 εἶπεν αὐτῇ ὁ Ἰησοῦς· ἐγώ εἰμι ἡ ἀνάστασις καὶ ἡ ζωή· ὁ πιστεύων εἰς ἐμὲ κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται, 26 καὶ πᾶς ὁ ζῶν καὶ πιστεύων εἰς ἐμὲ οὐ μὴ ἀποθάνῃ εἰς τὸν αἰῶνα. πιστεύεις τοῦτο; 27
λέγει αὐτῷ· ναὶ κύριε, ἐγὼ πεπίστευκα ὅτι σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ ὁ εἰς τὸν κόσμον ἐρχόμενος. 28 Καὶ τοῦτο εἰποῦσα ἀπῆλθεν καὶ ἐφώνησεν Μαριὰμ τὴν ἀδελφὴν αὐτῆς λάθρᾳ εἰποῦσα· ὁ διδάσκαλος πάρεστιν καὶ φωνεῖ σε. 29 ἐκείνη δὲ ὡς ἤκουσεν ἠγέρθη ταχὺ καὶ ἤρχετο πρὸς αὐτόν. 30 οὔπω δὲ ἐληλύθει ὁ Ἰησοῦς εἰς τὴν κώμην, ἀλλ᾽ ἦν ἔτι ἐν τῷ τόπῳ ὅπου ὑπήντησεν αὐτῷ ἡ Μάρθα. 31 οἱ οὖν Ἰουδαῖοι οἱ ὄντες μετ᾽ αὐτῆς ἐν τῇ οἰκίᾳ καὶ παραμυθούμενοι αὐτήν, ἰδόντες τὴν Μαριὰμ ὅτι ταχέως ἀνέστη καὶ ἐξῆλθεν, ἠκολούθησαν αὐτῇ δόξαντες ὅτι ὑπάγει εἰς τὸ μνημεῖον ἵνα κλαύσῃ ἐκεῖ. 32 Ἡ οὖν Μαριὰμ ὡς ἦλθεν ὅπου ἦν Ἰησοῦς ἰδοῦσα αὐτὸν ἔπεσεν αὐτοῦ πρὸς τοὺς
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22
Aber auch jetzt weiß ich [Und jetzt weiß ich] 134 , dass, was du von Gott erbittest, Gott dir geben wird.‘ 23 Jesus sagt zu ihr: ‚Dein Bruder wird auferstehen.‘ 24 Martha sagt zu ihm: ‚Ich weiß, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tage.‘ 25 Jesus sagte zu ihr: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und jeder der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben bis in Ewigkeit. Glaubst du das?‘ 27 Sie sagt: ‚Ja, Herr, ich habe geglaubt, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in den Kosmos135 gekommen ist.‘ 28 Und als sie dieses gesagt hatte, ging sie und rief heimlich Maria, ihre Schwester und sagte: ‚Der Lehrer ist da und ruft dich.‘ 29
Jene aber, als sie [das] hörte, stand schnell auf und ging zu ihm. 30 Jesus aber war noch nicht ins das Dorf gegangen, sondern war noch an dem Ort, wo ihm Maria begegnet war. 31 Die Juden also, die mit ihr in dem Haus waren und sie trösteten und sahen, dass Maria schnell aufstand und hinausging, folgten ihr, weil sie meinten, 136 dass sie zum Grab hinübergeht, um dort zu weinen. 32 Maria also, als sie [dahin] kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel ihm zu Füßen und
Einige wichtige Handschriften, darunter ein Fragment des Bodmer-Papyri ो75 aus dem 2./3. Jh.; Codex Sinaiticus, Codex Vaticanus, Codex Ephraemi Syri rescriptus aus dem 4./5. Jh. lesen kein adversatives ἀλλὰ, sondern nur ein (beiordnendes) καὶ. 135 Der Begriff des Kosmos wird in dieser Übersetzung nicht durch Welt ersetzt, weil es nicht allein um das Kommen an einen Ort, sondern das Kommen in eine bestimmte Ordnung im Gegensatz zum χάος geht. 136 Die Entscheidung fällt hier zugunsten einer kausalen Auflösung des participium coniunctum, da die Annahme der Juden die Begründung dafür liefert, dass sie Maria nachfolgen und dem ἠκολούθησαν damit (trotz syntaktischer Nachstellung) logisch vorgeordnet ist. 134
282
V. Textanalyse
πόδας λέγουσα αὐτῷ· κύριε, εἰ ἦς ὧδε οὐκ ἄν μου ἀπέθανεν ὁ ἀδελφός. 33 Ἰησοῦς οὖν ὡς εἶδεν αὐτὴν κλαίουσαν καὶ τοὺς συνελθόντας αὐτῇ Ἰουδαίους κλαίοντας, ἐνεβριμήσατο τῷ πνεύματι καὶ ἐτάραξεν ἑαυτὸν 34
καὶ εἶπεν· ποῦ τεθείκατε αὐτόν; λέγουσιν αὐτῷ· κύριε, ἔρχου καὶ ἴδε.
35
ἐδάκρυσεν ὁ Ἰησοῦς. ἔλεγον οὖν οἱ Ἰουδαῖοι· ἴδε πῶς ἐφίλει αὐτόν. 37 τινὲς δὲ ἐξ αὐτῶν εἶπαν· οὐκ ἐδύνατο οὗτος ὁ ἀνοίξας τοὺς ὀφθαλμοὺς τοῦ τυφλοῦ ποιῆσαι ἵνα καὶ οὗτος μὴ ἀποθάνῃ; 36
38
¶ Ἰησοῦς οὖν πάλιν ἐμβριμώμενος ἐν ἑαυτῷ ἔρχεται εἰς τὸ μνημεῖον ἦν δὲ σπήλαιον καὶ λίθος ἐπέκειτο ἐπ᾽ αὐτῷ. 39 λέγει ὁ Ἰησοῦς· ἄρατε τὸν λίθον. λέγει αὐτῷ ἡ ἀδελφὴ τοῦ τετελευτηκότος Μάρθα· κύριε, ἤδη ὄζει, τεταρταῖος γάρ ἐστιν. 40
λέγει αὐτῇ ὁ Ἰησοῦς· οὐκ εἶπόν σοι ὅτι ἐὰν πιστεύσῃς ὄψῃ τὴν δόξαν τοῦ θεοῦ;
41
ἦραν οὖν τὸν λίθον. ὁ δὲ Ἰησοῦς ἦρεν τοὺς ὀφθαλμοὺς ἄνω καὶ εἶπεν· πάτερ, εὐχαριστῶ σοι ὅτι ἤκουσάς μου.
42
ἐγὼ δὲ ᾔδειν ὅτι πάντοτέ μου ἀκούεις, ἀλλὰ διὰ τὸν ὄχλον τὸν περιεστῶτα εἶπον, ἵνα πιστεύσωσιν ὅτι σύ με ἀπέστειλας.
137
sagte: ‚Herr, wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben.‘ 33 Als Jesus also sah, dass sie weinte und dass die Juden, die mit ihr gekommen waren, weinten, ergrimmte er in seinem [gegen seinen] Geist137 und erregte sich selbst. 34 Und er sagte: ‚Wo habt ihr ihn hingelegt?‘ Sie sagen ihm: ‚Herr, komm und siehe!‘ 35 Jesus weinte. 36 Die Juden also sagten: ‚Siehe, wie er ihn lieb hat.‘ 37 Einige aber von ihnen sagten: ‚Konnte dieser, der die Augen des Blinden geöffnet hat, nicht machen, dass auch dieser nicht stürbe?‘ 38 Jesus also ergrimmte erneut in sich [gegen sich] 138 und ging zum Grab. Es war aber eine Höhle und ein Stein lag vor ihr. 39 Jesus sagt: ‚Hebt den Stein weg!‘ Spricht zu ihm die Schwester des Verstorbenen, Martha: ‚Herr, er stinkt schon, denn er ist viertägig [vier Tage tot].‘ 40 Jesus sagt ihr: ‚Habe ich dir nicht gesagt, dass, wenn du glaubst, du die Herrlichkeit Gottes sehen wirst?‘ 41 Sie hoben also den Stein weg. Jesus aber hob die Augen nach oben und sprach: ‚Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42
Ich aber wusste, dass du mich immer hörst, jedoch wegen des herumstehenden Volkes sprach ich, damit sie glauben, dass du mich sandtest.‘ 43 Und als er dieses gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: ‚Lazarus, komm heraus!‘
Der Dativ (τῷ πνεύματι) kann als dativus localis (in seinem Geist) oder als dativus instrumenti (mit seinem Geist) verstanden werden. a.a.O., 514 kennt aber auch einen Dativ der Person, gegen die sich der Unmut richtet. Mehr zur Ausrichtung des Zorns Jesu unter 3.3.1 Interaktionsanalyse. 138 Zu den unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten des Dativobjekts s.o. Anm. 137.
3. Joh 11,1–12,11 43
καὶ ταῦτα εἰπὼν φωνῇ μεγάλῃ ἐκραύγασεν· Λάζαρε, δεῦρο ἔξω. 44 ἐξῆλθεν ὁ τεθνηκὼς δεδεμένος τοὺς πόδας καὶ τὰς χεῖρας κειρίαις καὶ ἡ ὄψις αὐτοῦ σουδαρίῳ περιεδέδετο. λέγει αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς· λύσατε αὐτὸν καὶ ἄφετε αὐτὸν ὑπάγειν. 45 ¶ Πολλοὶ οὖν ἐκ τῶν Ἰουδαίων οἱ ἐλθόντες πρὸς τὴν Μαριὰμ καὶ θεασάμενοι ἃ ἐποίησεν ἐπίστευσαν εἰς αὐτόν· 46 τινὲς δὲ ἐξ αὐτῶν ἀπῆλθον πρὸς τοὺς Φαρισαίους καὶ εἶπαν αὐτοῖς ἃ ἐποίησεν Ἰησοῦς. 47 Συνήγαγον οὖν οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι συνέδριον καὶ ἔλεγον· τί ποιοῦμεν ὅτι οὗτος ὁ ἄνθρωπος πολλὰ ποιεῖ σημεῖα; 48 ἐὰν ἀφῶμεν αὐτὸν οὕτως, πάντες πιστεύσουσιν εἰς αὐτόν, καὶ ἐλεύσονται οἱ Ῥωμαῖοι καὶ ἀροῦσιν ἡμῶν καὶ τὸν τόπον καὶ τὸ ἔθνος. 49 εἷς δέ τις ἐξ αὐτῶν Καϊάφας, ἀρχιερεὺς ὢν τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου, εἶπεν αὐτοῖς· ὑμεῖς οὐκ οἴδατε οὐδέν, 50 οὐδὲ λογίζεσθε ὅτι συμφέρει ὑμῖν ἵνα εἷς ἄνθρωπος ἀποθάνῃ ὑπὲρ τοῦ λαοῦ καὶ μὴ ὅλον τὸ ἔθνος ἀπόληται. 51 τοῦτο δὲ ἀφ᾽ ἑαυτοῦ οὐκ εἶπεν, ἀλλὰ ἀρχιερεὺς ὢν τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου ἐπροφήτευσεν ὅτι ἔμελλεν Ἰησοῦς ἀποθνῄσκειν ὑπὲρ τοῦ ἔθνους, 52 καὶ οὐχ ὑπὲρ τοῦ ἔθνους μόνον ἀλλ᾽ ἵνα καὶ τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ τὰ διεσκορπισμένα συναγάγῃ εἰς ἕν.
139
283
44
Der Verstorbene kam heraus, gebunden an den Füßen und Händen mit Binden, auch sein Antlitz mit einem Schweißtuch umbunden. Jesus sagt zu ihnen: ‚Löst ihn [von den Binden] und lasst ihn gehen!‘ 45 Viele also von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was er tat, glaubten an ihn. 46
Manche aber von ihnen gingen zu den Pharisäern und sagten ihnen, was Jesus getan hatte. 47 Es versammelten also die Hohepriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sagten: ‚Was sollen wir machen, weil dieser Mensch viele Zeichen tut? 48 Wenn wir ihn so lassen, werden alle an ihn glauben und die Römer werden kommen und uns sowohl das Land [den Ort] als auch das Volk wegnehmen.‘ 49 Einer von ihnen aber, Kaiaphas, der Hohepriester in diesem Jahr war, sagte zu ihnen: ‚Ihr wisst nichts, 50 ihr bedenkt auch nicht, dass es euch nützt, dass ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht.‘ 51 Dies aber sagte er nicht von sich aus, sondern weil er der Hohepriester dieses Jahres war, prophezeite er, dass Jesus im Begriff war,139 für das Volk zu sterben, 52 Und nicht nur für das Volk allein, sondern um auch die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln.140 53 Von diesem Tage an beschlossen sie, dass sie ihn töteten.
μέλλω + Infinitiv kann insbes. im prophetischen Kontext auch (i.S. eines δεῖ) das (nach dem Willen Gottes) unausbleibliche Schicksal des Subjekts anzeigen. Hiesige Übersetzung soll aber v.a. auch die zeitliche Bedeutung des Imminenz, des unmittelbaren Bevorstehens einfangen. 140 Das Einswerden der Glaubenden im Sohn Gottes wird später im hohepriesterlichen Gebet von Jesus angestrebt (Joh 17,21.23). Die Betonung der Einheit soll auch an dieser Stelle akzentuiert werden. Deshalb steht ἵνα [...] συναγάγῃ εἰς ἕν nicht für ein bloßes Zusammenbringen (so die Übersetzung der Lutherbibel 2017), sondern für eine Sammlung in eins.
284
V. Textanalyse
53
ἀπ᾽ ἐκείνης οὖν τῆς ἡμέρας ἐβουλεύσαντο ἵνα ἀποκτείνωσιν αὐτόν. 54 Ὁ οὖν Ἰησοῦς οὐκέτι παρρησίᾳ περιεπάτει ἐν τοῖς Ἰουδαίοις, ἀλλὰ ἀπῆλθεν ἐκεῖθεν εἰς τὴν χώραν ἐγγὺς τῆς ἐρήμου, εἰς Ἐφραὶμ λεγομένην πόλιν, κἀκεῖ ἔμεινεν μετὰ τῶν μαθητῶν. 55 ¶ Ἦν δὲ ἐγγὺς τὸ πάσχα τῶν Ἰουδαίων, καὶ ἀνέβησαν πολλοὶ εἰς Ἱεροσόλυμα ἐκ τῆς χώρας πρὸ τοῦ πάσχα ἵνα ἁγνίσωσιν ἑαυτούς. 56 ἐζήτουν οὖν τὸν Ἰησοῦν καὶ ἔλεγον μετ᾽ ἀλλήλων ἐν τῷ ἱερῷ ἑστηκότες· τί δοκεῖ ὑμῖν; ὅτι οὐ μὴ ἔλθῃ εἰς τὴν ἑορτήν; 57
δεδώκεισαν δὲ οἱ ἀρχιερεῖς καὶ οἱ Φαρισαῖοι ἐντολὰς ἵνα ἐάν τις γνῷ ποῦ ἐστιν μηνύσῃ, ὅπως πιάσωσιν αὐτόν. 121 Ὁ οὖν Ἰησοῦς πρὸ ἓξ ἡμερῶν τοῦ πάσχα ἦλθεν εἰς Βηθανίαν, ὅπου ἦν Λάζαρος, ὃν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν Ἰησοῦς. 2 ἐποίησαν οὖν αὐτῷ δεῖπνον ἐκεῖ, καὶ ἡ Μάρθα διηκόνει, ὁ δὲ Λάζαρος εἷς ἦν ἐκ τῶν ἀνακειμένων σὺν αὐτῷ. 3 Ἡ οὖν Μαριὰμ λαβοῦσα λίτραν μύρου νάρδου πιστικῆς πολυτίμου ἤλειψεν τοὺς πόδας τοῦ Ἰησοῦ καὶ ἐξέμαξεν ταῖς θριξὶν αὐτῆς τοὺς πόδας αὐτοῦ· ἡ δὲ οἰκία ἐπληρώθη ἐκ τῆς ὀσμῆς τοῦ μύρου. 4 λέγει δὲ Ἰούδας ὁ Ἰσκαριώτης εἷς [ἐκ] τῶν μαθητῶν αὐτοῦ, ὁ μέλλων αὐτὸν παραδιδόναι· 5 διὰ τί τοῦτο τὸ μύρον οὐκ ἐπράθη τριακοσίων δηναρίων καὶ ἐδόθη πτωχοῖς; 6 εἶπεν δὲ τοῦτο οὐχ ὅτι περὶ τῶν πτωχῶν ἔμελεν αὐτῷ, ἀλλ᾽ ὅτι κλέπτης ἦν καὶ τὸ γλωσσόκομον ἔχων τὰ βαλλόμενα ἐβάσταζεν. 7 εἶπεν οὖν ὁ Ἰησοῦς· ἄφες αὐτήν, ἵνα εἰς τὴν ἡμέραν τοῦ ἐνταφιασμοῦ μου τηρήσῃ αὐτό· 8 τοὺς πτωχοὺς γὰρ πάντοτε ἔχετε μεθ᾽ ἑαυτῶν, ἐμὲ δὲ οὐ πάντοτε ἔχετε.
54
Jesus also ging in Judäa nicht mehr öffentlich umher, sondern ging von dort in die Gegend nahe der Wüste, in einen Ort, der Ephraim genannt wird, und blieb dort mit den Jüngern. 55 Es war aber das Passa der Juden nahe und es gingen viele aus der Gegend hinauf nach Jerusalem vor dem Passa, um sich selbst zu heiligen/reinigen. 56 Sie suchten also nach Jesus und sagten untereinander, als sie im Tempel standen: ‚Wie scheint es euch? Dass er gewiss nicht zum Fest kommt?‘ 57 Es hatten aber die Hohepriester und die Pharisäer einen Befehl gegeben, dass, wenn jemand weiß, wo er ist, es melde, damit sie ihn ergreifen. 121 Jesus also kam sechs Tage vor dem Passa nach Bethanien, wo Lazarus war, den er von Toten auferweckt hatte. 2 Sie machten ihm also dort ein Mahl, und Martha diente, Lazarus aber war einer von denen, die mit ihm [zu Tische] lagen. 3 Maria also nahm ein Pfund Salböl von echter, kostbarer Narde und salbte die Füße Jesu und trocknete mit ihren Haaren seine Füße. Das Haus aber wurde erfüllt von dem Duft des Salböls. 4 Da spricht aber Judas Iskariot, einer von seinen Jüngern, der im Begriff war, ihn zu verraten: 5 ‚Weshalb wird das Öl nicht für 300 Denare verkauft und Armen gegeben?‘ 6 Er aber sagte dies nicht, weil er sich um die Armen sorgte, sondern weil er Dieb war und den Geldbeutel hatte und das Eingeworfene unterschlug. 7 Jesus also sprach: ‚Lass sie, damit sie es für den Tag meines Begräbnisses bewahre. 8
Denn Arme habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer.‘
3. Joh 11,1–12,11 9
¶ Ἔγνω οὖν [ὁ] ὄχλος πολὺς ἐκ τῶν Ἰουδαίων ὅτι ἐκεῖ ἐστιν καὶ ἦλθον οὐ διὰ τὸν Ἰησοῦν μόνον, ἀλλ᾽ ἵνα καὶ τὸν Λάζαρον ἴδωσιν ὃν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν. 10
ἐβουλεύσαντο δὲ οἱ ἀρχιερεῖς ἵνα καὶ τὸν Λάζαρον ἀποκτείνωσιν, 11 ὅτι πολλοὶ δι᾽ αὐτὸν ὑπῆγον τῶν Ἰουδαίων καὶ ἐπίστευον εἰς τὸν Ἰησοῦν.
285
9
Eine große Menge der Juden erfuhr also, dass er dort war, und sie kamen nicht nur wegen Jesus allein, sondern um auch Lazarus zu sehen, den er von den Toten erweckt hatte. 10 Die Hohepriester aber beschlossen, auch Lazarus zu töten, 11 weil viele von den Juden wegen ihm hingingen und an Jesus glaubten.
3.2 Abgrenzung, Figurenkonstellation und Kontext Bevor in Joh 12,12 Jesu letzte Reise nach Jerusalem beginnt, steht in Joh 11,1– 12,11 eine besondere Interaktionsgruppe im Zentrum der Erzählung: die Geschwister Lazarus, Martha und Maria, welchen sich Jesus in freundschaftlicher Liebe verbunden fühlt (V. 3.5.11.36). Bethanien in Judäa und die Gegend rund um jenen Heimatort der Geschwister sind der Schauplatz ihrer Begegnungen mit Jesus. Da sowohl Ort als auch Figurenkonstellation über die Interaktionssequenzen von der Auferweckung des Lazarus und der Salbung Jesu hinweg gleichbleiben, wird Joh 11,1–12,11 als eine zusammenhängende Interaktionseinheit behandelt. Eine gemeinsame Betrachtung beider Einzelerzählungen legt nicht nur das äußere Setting nahe. Auch thematisch und motivisch sind sie eng miteinander verwoben. Der Tod des Lazarus (V. 6) führt über dessen Auferweckung (V. 43f.) in den Beschluss zur Tötung Jesu (V. 53), der wiederum über die Salbung Jesu durch Maria (Joh 12,3) als Vorwegnahme des Begräbnisses in den Beschluss zur Tötung des Lazarus (Joh 12,10f.) mündet. Überdies ist in die Einleitung zur Auferweckungsgeschichte eine eigentümliche analeptische Prolepse auf die Salbung eingewoben, die im Vergangenheitstempus auf Zukünftiges verweist (V. 2). Beide Geschichten werden mittels diverser narrativer Kunstgriffe in einen engen Zusammenhang gestellt.141 Bei der Analyse des Zeitverhaltens auf der ersten Ebene des erzählten Geschehens sind die beiden Geschichten trotz enger Verknüpfung vorerst separat zu beschreiben und zu analysieren, da sich das Figurenverhalten jeweils um eine andere Kernhandlung organisiert (in der ersten Handlungssequenz in Joh 11,1–44 um die Auferweckung, in der zweiten Handlungssequenz in Joh 12,1– 12 um die Salbung). Die beiden Handlungssequenzen können dann jeweils noch in einzelne Interaktionen unterteilt werden, welche in unterschiedlichem Grade mit- und ineinander verwoben sind. Im zweiten und dritten Schritt, bei der Analyse des Wie und Woraufhin der Erzählung, werden schließlich sowohl
141
Die engen Bezüge zwischen der Auferweckungs- und der Salbungserzählung, sowie die eigentümlichen Anachronien werden unter 3.4.3 Chronologik genauer betrachtet.
286
V. Textanalyse
die Verflechtung der einzelnen Interaktionen als auch die der beiden Erzählungen thematisiert. Schon der erste Halbvers setzt einen klaren Ausgangspunkt für die erste Handlungssequenz: Ἦν δέ τις ἀσθενῶν | Es war aber einer krank. Der Perikopenfolge nach liegt die letzte Auseinandersetzung mit dem Thema Krankheit nicht weit zurück: die Blindenheilung in Joh 9,1–41 am Sabbat. Der Konflikt Jesu mit den Juden bzw. Pharisäern über das Thema der Sabbatheilung hat sich zuvor bereits an der Heilung des Gelähmten (Joh 5,1–17) entzündet, schwelt seitdem und provoziert bei einem Teil der Juden den Tötungswunsch (Joh 5,18) sowie mehrfache Ergreifungs- bzw. Steinigungsversuche (Joh 7,30.44; 8,20.59; 10,31.39). So sind die Interaktionen Jesu in der Handlungssequenz Joh 11,1–44 schon mit der Erwähnung der Krankheit von jemandem (τις) im ersten Halbvers in ein umfangsreiches Geflecht aus Heilungs- und Konfliktszenarien verwoben. Die für die gesamte Erzähleinheit wesentlichen Interaktionspartner Jesu werden extemplo in V. 1 eingeführt: Lazarus und seine Schwestern Maria und Martha. Es ist der erste Auftritt dieser Personengruppe im Evangelium. Sie treten auch nur hier und in der darauffolgenden Handlungssequenz der Salbung in Erscheinung. Die Juden werden in diesem Abschnitt in verschiedene Parteiungen und Gruppen untergliedert: Die Mittrauernden aus Bethanien (V. 19.31[41]), die Skeptischen (V. 37.46) und die Glaubenden (V. 45; 12,9), die Festreisenden (V. 55f.), die Pharisäer (V. 47.57) und Hohepriester (V. 47.57; Joh 12,10) und daraus gesondert nochmal Kaiaphas, der Hohepriester des betreffenden Jahres (V. 49f.). Die Jünger Jesu spielen nur vor der Abreise nach Bethanien eine aktive Rolle. Während des gesamten Aufenthalts vor und in Bethanien und während der Auferweckungserzählung bleiben sie stumm. Erst beim kurzweiligen Rückzug Jesu nach Ephraim im Anschluss an die Auferweckung (V. 54) und im Rahmen der Salbungserzählung (Joh 12,4f.) treten sie erneut in den Blickpunkt. Von den ersten Erwähnungen und von Jesu anfänglicher Zielbestimmung in V. 15 (ἵνα πιστεύσητε | damit ihr glaubt) her kann allerdings ihre Präsenz über die gesamte Erzählsequenz hinweg angenommen werden. Zwei Personen aus der Jüngerschar spielen eine besondere Rolle: Thomas vor Beginn der Reise nach Bethanien und Judas Iskariot in der Salbungsszene – zwei Jünger, die im weiteren Verlauf der Erzählung für Glaubenszweifel und Untreue bekannt werden sollen. 3.3 Zeitverhalten 3.3.1 Interaktionsanalyse Die Schwestern Maria und Martha und Jesus Jesus und die Jünger Jesus und Martha
11,3–5[6] 11,7–16 11,20–27.39f.
287
3. Joh 11,1–12,11
Jesus und Maria Jesus und die Juden Jesus und der Vater Jesus und Lazarus Hohepriester und Pharisäer und Kaiaphas Indirekt: Die Oberen und Jesus Jesus und Lazarus, Martha und Maria Judas und Jesus Indirekt: Lazarus und die Oberen
11,28–33 11,34–39.41.44b– 46.55f. 11,41b–42 11,43f. 11,47–53.57 11,53f.57 12,1f. 12,4–8 12,10f.
Jesus und die Schwestern Maria und Martha (Joh 11,3–5[6]) Die erste Interaktion findet zwischen Jesus und den Schwestern Maria und Martha statt. Die Schwestern senden nach Jesus aus (ἀποστέλλω), sagend: ἴδε ὃν φιλεῖς ἀσθενεῖ | Herr, siehe, den du lieb hast, der ist krank. Das ἀποστέλλω lässt eher an eine mittelbare Begegnung über einen Boten denken. Die wörtliche Rede und das ἴδε wiederum drücken Unmittelbarkeit aus. Werden die Schwestern in persona bei ihm vorstellig? Joh 10,40 zufolge ist Jesus nach Bethanien, den Wirkungsort Johannes des Täufers östlich des Jordans, gekommen. Er befindet sich also nicht im gleichen Bethanien wie die Geschwister.142 Wo sich die Begegnung Jesu mit den Schwestern ereignet und in welchem Grade der Mittelbarkeit sie stattfindet, wird von der Erzählung nicht eindeutig festgelegt. Die κύριος-Anrede als Anerkennung seiner Autorität und Wirkmächtigkeit, gepaart mit dem Hinweis auf die enge und liebevolle Verbundenheit Jesu mit dem kranken Bruder, tragen ein appellatives Moment in den Sprechakt ein. Auch ohne einen grammatikalischen Imperativ ist der direktive Modus dieser Illokution wahrnehmbar. Der bestimmende Interaktionszweck ist von dieser Begegnung an auf das Eingreifen Jesu zum Zwecke der Gesundung des Lazarus festgelegt. Die Schwestern sind mit jener Zweckbestimmung an der biologischen bzw. biographischen Zeit orientiert. Der Verlauf der Krankheit (biologische Zeit) droht, die Lebenszeit des Bruders (biographische Zeit) ablaufen zu lassen. Auch wenn sie die Todesbedrohung nicht eigens betonen, so wird sie doch in der Antwort Jesu auf ihre Anfrage offenbar. Die emotionale Fracht ihres Appells intensiviert den Eindruck eines perriculum in mora, einer Gefahr im Verzug. Jesus reagiert unmittelbar, als er die Worte der Schwestern hört.143 Inhaltlich ist seine Reaktion jedoch alles andere als direkt. Sein abstraktes Rätselwort will die Brisanz der Gefährdungssituation entschärfen: αὕτη ἡ ἀσθένεια οὐκ ἔστιν πρὸς θάνατον | diese Krankheit ist nicht zum Tode. Die Krankheit stehe 142
Mehr zu den Ortsbestimmung der Erzähleinheit unter 3.4.1 Semantik. So lässt es jedenfalls die (temporal verstandene) Partizipialkonstruktion ἀκούσας (Joh 11,4) vermuten. 143
288
V. Textanalyse
vielmehr im Dienste der Herrlichkeit Gottes und der Verherrlichung seines Sohnes. Ein unverzügliches Eingreifen Jesu ist deshalb nicht geboten. Er folgt dem Ruf der Schwestern nicht, sondern bleibt weitere zwei Tage am gleichen Ort (V. 6: τόπῳ), wo auch immer dieser genau zu lokalisieren ist. Im Hinblick auf das übergeordnete Interaktionsziel (der Rettung des Lazarus) handelt Jesus retardierend. Sein Verhalten ist nicht wie das der Schwestern an der biographischen Zeit orientiert. Das biographische Ende ist für ihn offensichtlich keine Bedrohung und liefert ihm keinen Anlass zur Eile, vielmehr macht er eine theologische Bezugsgröße zum Orientierungspunkt seiner Handlungen: ἡ δόξα τοῦ θεοῦ | die Herrlichkeit Gottes. Er stellt dem konkreten Interaktionszweck der Schwestern ein idelles Interaktionsziel entgegen. Von einer weiteren Reaktion der Schwestern auf das verzögernde Verhalten Jesu erfahren wir vorerst nichts. Jesus und die Jünger (Joh 11,7–16) Stattdessen setzt in Joh V. 7 eine neue Interaktion zwischen Jesus und seinen Jüngern ein. Durch die Temporaladverbien ἔπειτα μετὰ τοῦτο | dann danach ist diese Interaktion klar von der vorhergehenden abgesetzt. Die Unterredung muss irgendwann zwischen dem zweiten Tag nach der Begegnung mit den Schwestern (V. 6) und dem vierten Todestag des Lazarus (V. 17) stattgefunden haben. Eine genaue Datierung ist auf Basis des Textes nicht möglich, wohl auch nicht nötig. Wichtig ist nur: Jesus tritt (zu) spät in Aktion, er kann Lazarus weder zu Lebzeiten heilen, noch an dessen Bestattung teilnehmen. Das macht die offene Rede Jesu über Lazari Tod in Joh V. 14 klar. Die Interaktion mit seinen Jüngern beginnt Jesus mit einem klar direktiven Kohortativ: ἄγωμεν εἰς τὴν Ἰουδαίαν πάλιν | Lasst uns wieder nach Judäa gehen. Mit dem Temporaladverb πάλιν zeigt Jesus, dass er den letzten Jerusalemaufenthalt sehr wohl in Erinnerung trägt. 144 Den Grund für seinen erneuten Aufbruchswunsch hält Jesus vor den Jüngern zunächst zurück. Umso verständlicher erscheint die Reaktion der Jünger auf seine Aufforderung (V. 8). Durch die Anrede ῥαββί | Lehrer erkennen sie ihn grundsätzlich als weisungsbefugt an. Sie sprechen von seinem Aufbruch im Indikativ Präsens (πάλιν ὑπάγεις ἐκεῖ; | Du gehst wieder dorthin?), nicht etwa im Konjunktiv oder in Verbindung mit einem Modalverb. Sie wissen offenbar, dass Jesu Beschluss schon feststeht. Dennoch steckt ein Vorbehalt in ihrer Rede. Sie wollen Jesus davon abhalten, sich erneut und ohne Grund in diese Gefahr zu begeben und tun dies, ähnlich wie die Schwestern, nicht mittels eines direkten Imperativs, sondern durch indirekte Illokution.145 Die rhetorische Frage zu Jesu Aufbruchsplänen, die ihre Verwunderung über die Risikobereitschaft Jesu ausdrückt und der 144 Der Perikopenfolge nach waren Jesus und seine Jünger zuletzt zum Tempelweihfest in Judäa (Joh 10,22–39). Dieser Aufenthalt war mit dem Versuch der Steinigung bzw. Ergreifung Jesu durch die Juden geendet (Joh 10,31.39). 145 Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 418.
3. Joh 11,1–12,11
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nachdrückliche Hinweis auf die Unmittelbarkeit der drohenden Gefahr (νῦν ἐζήτουν σε λιθάσαι οἱ Ἰουδαῖοι | eben noch bzw. nun wollten die Juden dich töten) zeigen ihren inständigen Vorbehalt. Auch sie sind wie die Schwestern in ihrer Einschätzung an der ablaufenden biographischen Zeit orientiert.146 Sie fürchten das vorzeitige Ende ihres Rabbis. Dieser Vorbehalt steht im starken Kontrast zu Joh 7,2–5, wo Jesu Brüder ihn dazu auffordern, mit auf das Laubhüttenfest zu gehen, um dort in aller Öffentlichkeit aufzutreten, damit auch die Jünger die Werke sehen, die er tut. Erklärt wird dort jener Appell wohlgemerkt vom Erzähler mit dem fehlenden Glauben der Brüder.147 Jesus reagiert auf die rhetorische Frage der Jünger mit einer Zeitmetapher, die weniger an der biographischen Zeit, denn an der natürlichen, astronomischen Zeitabläufe Anhalt nimmt: dem Zwölf-Stunden-Tag (V. 9f.). Die Einteilung des Tages in zwölf Einheiten ist freilich genau genommen ein Echo menschlicher Zeitstrukturierung. 148 Jedoch spielt Jesu rhetorische Frage, ob der Tag nicht stets aus der gleichen Anzahl an Stunden bestehe, wohl auf die beständige, natürliche Festlegung des Tag-Nacht-Rhythmus’ und damit eine natürlich vorbestimmte Zeit des Wirkens (am Tage) und eine Zeit des Ruhens (in der Nacht) an. Denn bei Tage stößt sich der Fußgänger nicht, während in der Dunkelheit der Nacht Stolpern und Straucheln unvermeidlich sind, so seine logische Begründung. Jesu Begründung für die geregelten Phasen der Aktivität und Passivität bleibt allerdings nicht bei einer natürlich-astronomischen Beschreibung der Welt stehen. Der Mensch stolpert am Tage deshalb nicht, ὅτι τὸ φῶς τοῦ κόσμου τούτου βλέπει | weil er das Licht des Kosmos sieht, bei Nacht aber stolpert er, ὅτι τὸ φῶς οὐκ ἔστιν ἐν αὐτῷ | weil das Licht nicht in ihm ist. Seine Erklärung liegt jenseits des alltäglichen Wahrnehmungshorizonts von Sonnenlicht und Nachtfinsternis, denn die Licht-Kosmos-Metapher erinnert unmittelbar an ein Ich-Bin-Wort, das Jesus zuvor in einer längeren Auseinandersetzung mit den Juden geäußert hat (Joh 8,12): ἐγώ εἰμι τὸ φῶς τοῦ κόσμου· ὁ ἀκολουθῶν ἐμοὶ οὐ μὴ περιπατήσῃ ἐν τῇ σκοτίᾳ, ἀλλ᾽ ἕξει τὸ φῶς τῆς ζωῆς | Ich bin das Licht des Kosmos, wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben. Ebenso steht die Blindenheilung im Zeichen dieser Metaphorik (Joh 9,4): δεῖ ἐργάζεσθαι […] ἕως ἡμέρα ἐστίν | Wir müssen wirken […] solange es Tag 146
Vgl. a.a.O., 421. Mehr zu diesem Zeitkonflikt zwischen Jesus und seinen Brüdern unter 4.3 Joh 7,1– 10[11–52; 8,12–59]: Kairos von Licht und Wasser. 148 Der Ursprung der Zwölf-Stunden-Einteilung liegt im alten Ägypten oder in Mesopotamien. Nach dieser Zeiteinteilung reichte der Tag vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, sodass die zwölf Stunden des Tages je nach Jahreszeit unterschiedlich lang waren. Der Gebrauch des Begriffs hora zur Bezeichnung einer Zeitstunde (statt einer Jahreszeit) ist bei den Griechen erst seit der Zeit Alexanders des Großen nachgewiesen. Im Alltagsgebrauch vollzog sich die Umstellung in Stunden von gleicher Länge wohl erst im Mittelalter (mehr dazu im theoretischen Teil III unter 3.2 Philosophische Zeitkonzepte, Anm. 141). 147
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V. Textanalyse
ist. Auch in jener Szene identifiziert sich Jesu mit dem Licht des Kosmos (Joh 9,5): ὅταν ἐν τῷ κόσμῳ ὦ, φῶς εἰμι τοῦ κόσμου | Solange ich auf dem Kosmos bin, bin ich das Licht des Kosmos.149 Auf Basis von Joh 9,2 ist bei den Jüngern mit der Kenntnis der jesuanischen Licht-Metaphorik zu rechnen und auch beim Ich-Bin-Wort in Joh 8,12–59 ist ihre stille Anwesenheit zumindest anzunehmen. Ausgehend von diesem Befund, sollte ihnen einsichtig sein, dass Jesus nicht bloß von gewöhnlichen Zeitabläufen spricht, sondern die natürlich bestimmte Zeit auf eine göttlich bestimmte Zeit bezieht, beide miteinander verzahnt und in diesem Zuge seine eigene Zeit auf Erden als Zeit des Lichtes bezeichnet. Damit widerspricht er einem Auseinandertreten von beobachtbaren Naturzeitabläufen und einer göttlichen Zeitbestimmung und zeigt, dass im Rahmen der Schöpfungsordnung astronomische und göttliche Zeit ineinanderfallen.150 Der Schöpfer bleibt Herr auch über die natürliche Zeit. So wie die 149 Eine erneute (indirekte Identifikation) Jesu mit dem Licht findet in Joh 12,25f. statt. M. Gourgues hat den Versuch unternommen, Jesu Wirkzeit im JohEv entlang der Licht/Finsternis- und Tag/Nacht-Metaphorik in sieben unterschiedliche Phasen eines Arbeitstages zu gliedern; vgl. GOURGUES, The Superimposition of Symbolic Time and Real Time in the Gospel of John, 2008, 54–65: Tagesanbruch (Joh 1,4–9); Reaktionen auf den Tagesanbruch (Joh 3,19–21); Retrospektion auf die letzte Stunde der Nacht (Joh 5,35f.); helllichter Tag (Joh 8,12); Abnahme des Tages (Joh 9,4f.); Herabkunft der Nacht (Joh 11,9f.); Tagesende (Joh 12,35f.). Abgelöst werde dieser Tag schließlich von Ankunft der Stunde (Joh 12,23), sodass insgesamt von einem „Book of the Day (chs. 1–12)“ und einem „Book of the Hour (chs. 13–20)“ gesprochen werden könne (vgl. a.a.O., 65). 150 Im Rahmen der Verhältnisbestimmung von natürlichen/astronomischen Zeitabläufen und göttlicher Zeitherrschaft kann der Blick auf die Rolle der Astrologie im jüdischen Denken aufschlussreich sein. Determinieren Sonne, Mond und Sterne, bzw. Stunden- oder Tagesregenten nach jüdischem Denken das Schicksal des Menschen? K. v. Stuckrad hat die Auseinandersetzung des rabbinischen Judentums mit der heidnischen Astrologie beleuchtet. Im berühmten Sabbattraktat des babylonischen Talmuds (bShab 156ab) wird mehrfach betont, dass es keinen mazzal (hebr. Glücksstern/Schicksal/Horoskop) für Israel gebe. Ausgehend von dieser Talmud-Sugia, kommt K. v. Stuckrad zu dem Schluss, dass die Rabbinen darauf bestünden, „daß die Astrologie nicht in die menschliche Freiheit eingreifen dürfe, welche allererst ein ethisches Handeln möglich macht. Damit sitzt nicht die Astrologie selber auf der Anklagebank, sondern lediglich eine fatalistische Astrologie, die in blindem Determinismus moralisches Handeln vereitelt.“ ( V. STUCKRAD, Das Ringen um Astrologie, 2000, 477). In Bezug auf eben jene Diskussionen im rabbinischen Judentum schreibt auch J. Neusner: „‘Israel has no star’ in precisely the way the nations do, because Israel’s fate is shaped not only by the stars but also by ethical merits, divine intervention–which takes the form of altering the astrological patterns–and similar supernatural means.“(NEUSNER, A History of the Jews in Babylonia, 1970, 192) Jesu Rede lässt sich in diese Argumentation gut integrieren: Die natürlichen Rhythmen haben durchaus Bedeutung für das menschliche Handeln, jedoch ist dabei nicht die äußerliche Stellung der Sterne oder der anderen Planeten ausschlaggebend bzw. handlungsdeterminierend. Allein die göttliche Zeitbestimmung und die relative Freiheit des Menschen, die gegebene Zeit auch zu nutzen, sind von Relevanz. Und es bleibt dem Schöpfer stets vorbehalten, unerwartet in die erwartbaren Rhythmen einzugreifen.
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Länge eines jeden Tages durch den Schöpfer festgelegt ist, so ist auch die Lebenszeit eines jeden Menschen (selbst die Lebenszeit Jesu auf dem Kosmos) durch den göttlichen Vater eindeutig vorherbestimmt. Im Rahmen dieser geschenkten Zeit kann der Mensch, so auch Jesus, sich frei bewegen. Die Tatsache, dass und der Zeitpunkt, wann die Dunkelheit eintrifft, liegt aber in der Hand des Schöpfers. Somit werden die natürlichen Zeitrhythmen, wenn auch nicht aufgehoben, so doch relativiert und in den Kontext eines größeren Zeithorizontes gestellt: den Horizont der δόξα τοῦ θεοῦ bzw. υἱοῦ τοῦ θεοῦ. Jesu zweites temporales Argument für den sofortigen Aufbruch gen Judäa ist durch ein weiteres μετὰ τοῦτο vom vorherigen abgegrenzt (V. 11). Auf diegetischer Ebene ist eine kurze Sprechpause, ein kurzes Innehalten Jesu (narratologisch ausgedrückt durch die abgrenzende Temporalkonjunktion) denkbar. In jedem Falle bedient sich Jesus im Anschluss an die Zwölf-Tages-Metaphorik nun auch noch der Systematik einer biologisch bestimmten Zeit, dem Schlaf/Wach-Rhythmus, der selbstverständlich eng mit dem astronomischen Tag/Nacht-Zyklus verbunden ist. Erstmals nennt er den Jüngern den Grund für seinen Aufbruchswunsch. Laut Jesu Aussage ist ihr gemeinsamer Freund Lazarus in den Schlaf gefallen, nach astronomischer Zeit ist also die Nacht über Lazarus hereingebrochen. Unklar ist, woher Jesus in der Zwischenzeit die Information über den Tod des Lazarus erhalten hat. Jesus kündigt an, zu ihm zu gehen und ihn aufzuwecken (ἐξυπνίζω). So soll es nicht die natürlich aufgehende Sonne, sondern Jesus selbst, das Licht des Kosmos sein, der Lazarus aus dem ‚Schlaf‘ erweckt und den Einbruch der Nacht rückgängig macht bzw. den neuen Tag einläutet. Die göttliche Zeit steht über der beobachtbaren, vermeintlich ‚natürlichen‘. Die Jünger haben sich von Jesu letztem Redegang auf die Ebene der biologischen Zeitrhythmik mitnehmen lassen und betonen die Heilsamkeit des natürlichen Schlafes (V. 12). Es ist bemerkenswert, dass sie nicht von der Gesundung des Lazarus (etwa ὑγιὴς γίνομαι; vgl. Joh 5,6.9) sprechen, sondern von seiner Rettung (σωθήσομαι), ein Lexem, das sonst nur im Munde Jesu erklingt und dort soteriologische Konnotation trägt (vgl. Joh 3,17; 5,34; 10,9; 12,47). Der Erzählerkommentar in V. 13 und die erneute Reaktion Jesu in V. 14f. zeigen jedoch, dass die Jünger die Pointe der jesuanischen Argumentation, ungeachtet ihres Gebrauchs theologischen Vokabulars, nicht erfasst haben. Sie bleiben auf der Ebene der natürlichen Zeit stehen. Jesus muss folglich παρρησίᾳ | in Offenheit mit ihnen reden: Lazarus schläft nicht, er ist gestorben, seine biographische Zeit ist abgelaufen. Die Freude Jesu über seine Abwesenheit bei dessen Tod in V. 15 erschüttert, ist er doch sein geliebter Freund. Er begründet sie mit einer besonderen Teleologie: ἵνα πιστεύσητε | damit ihr glaubt. Es wird zum wiederholten Male deutlich, dass es Jesus nicht vordringlich um astronomische, biologische, rituelle oder biographische Zeitrhythmen geht – er lässt sich auf sie ein, argumentiert mit ihnen, erhebt sie aber stets auf ein höheres Plateau.
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V. Textanalyse
Nach der Entkräftung des Vorbehalts der Jünger steht nun das positive Interaktionsziel im Vordergrund Jesu Argumentation, nämlich das Zuglaubenkommen und damit die Offenbarung der δόξα τοῦ θεοῦ (V. 4). Er verzichtet darauf, die Jünger von vornherein mit dem einfachsten, weil direkten Argument zum Aufbruch zu bewegen: Lazarus ist tot und ich will ihn auferwecken. Stattdessen bemüht er unterschiedliche Bildebenen und schlägt ‚rhetorische Haken‘. Die Jünger sollen sukzessive selbst erkennen, weshalb genau jetzt, im Moment der größten Gefahr in Judäa und nach Einbruch des Todes Lazari, der Aufbruch dorthin an der Zeit ist. Die Erkenntnis über die Möglichkeit des Wirkens Jesu noch in der tiefsten Gefahr der anbrechenden Nacht soll in ihnen den Glauben an seine leuchtende Herrlichkeit hervorrufen. Entscheidend an dieser Interaktionsanalyse ist nicht nur der Fakt, dass Jesus und die Jünger mit unterschiedlichen Zeitsystemen argumentieren, sondern dass aus dieser Orientierung auch ein bestimmtes Verhalten erwächst. Sie gelangen zu unterschiedlichen Bewertungen der Situation und Einschätzungen des unmittelbaren Handlungsbedarfs. Während Jesus von der Möglichkeit und Notwendigkeit des Aufbruchs überzeugt ist, äußern die Jünger Vorbehalte gegenüber seinem ‚Aktionismus‘. Sie handeln verzögernd, unterschätzen Jesu bzw. ihr eigenes Handlungspotenzial und können ihre Vorbehalte letztlich auch nach der Interaktion nicht wirklich ablegen. Von einer direkten Reaktion des Jüngerkollektivs auf das letzte Argument Jesu wird nicht berichtet. Ausgerechnet Thomas, der später als der Wegblinde (Joh 14,5) und der große Kunktator auftritt (Joh 20,24–29), derjenige, der erst die Wunden sehen muss, bevor er glaubt, fasst in V. 16 den mutigen Entschluss, den Herrn nach Judäa zu begleiten, und zwar in der Bereitschaft, notfalls auch mit ihm zu sterben (ἵνα ἀποθάνωμεν μετ᾽ αὐτοῦ). Mit einem direkten Kohortativ (ἄγωμεν; vgl. Jesu Kohortativ in V. 7) wendet er sich deshalb an seine Mitjünger. Auch nach dem Argumentationsgang seines Lehrers ist es weiterhin die biographische Zeit, an der seine Handlungsentscheidung ausgerichtet ist. Die tatsächlichen Aufbruchsgründe und -potenziale bleiben ihm bis zuletzt verborgen. Dadurch wirkt die Bereitschaft des Thomas wie eine fatalistische Einwilligung in ein Himmelfahrtskommando. Ähnlich wie sich die Todesbereitschaft des Petrus in Joh 13,37f. angesichts seiner späteren Verleugnung als übereilt erweist, erscheint auch die plötzliche Nachfolgebereitschaft des Thomas angesichts seiner späteren Begegnung mit dem Auferstandenen in Joh 20,24–31 in zweifelhaftem Lichte. In den Reden Jesu in Joh 10,11; 15,13 über Hirtenschaft und göttliche Gebote geht es im Kontrast zur von Thomas geäußerten Todesbereitschaft auch nicht so sehr um das Sterben mit (ἀποθνήσκω μετά), sondern um das Leben geben für (τίθημι τὴν ψυχὴν ὑπέρ). Ebenso steht in Joh 12,24f. der Hass des gegenwärtigen Lebens (μισέω τὴν ψυχήν) in direktem Zusammenhang mit der
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daraus entstehenden Gemeinschaft bzw. dem Erhalt des ewigen Lebens. 151 Diese Todesbereitschaft trägt also, recht verstanden, keinerlei fatalistische Züge, sondern ist von der Hoffnung auf eine Neugeburt, der Hoffnung auf ein neues Leben und eine neue Gemeinschaft getragen, die dem Tode entspringt. Das Verhalten Jesu in der Interaktion mit den Jüngern wiederum nur auf seine göttlich-erhabene Souveränität über die Zeit zu reduzieren, trüge der komplexen Situation, v.a. aber der (joh. prononcierten) Inkarnationswirklichkeit nicht ausreichend Rechnung. 152 Wäre seine Souveränität zu bezeugen die einzige Intention, hätte er ohne Umschweife vom Tod des Lazarus und seiner Macht, ihn aufzuerwecken, berichten können. Stattdessen spielt er in seiner Argumentation auf unterschiedliche ‚natürliche‘ Zeiterfahrungen an, um seine Aufbruchsmotivation auch für die Jünger plausibel zu machen und sie dazu zu bringen, ihre Handlungspotenziale neu einschätzen zu lernen. Als letzte Orientierung des Handelns Jesu dient deshalb die Zeit τοῦ φωτὸς τοῦ κόσμου bzw. das Zuglaubenkommen der Jünger. Die Verherrlichung des Gottessohnes (V. 4: ἵνα δοξασθῇ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ) und das Zuglaubenkommen der Jünger (V. 15: ἵνα πιστεύσητε) können als doppelte Zielbestimmung und auch als Grund für sein zweitägiges Abwarten nach Benachrichtigung über die Krankheit des Freundes (V. 6) gewertet werden. Diese Zielbestimmung steht in enger Verbindung mit den Folgen des ersten Wunderhandelns in Kana Joh 2,11: καὶ ἐφανέρωσεν τὴν δόξαν αὐτοῦ, καὶ ἐπίστευσαν εἰς αὐτὸν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ | und er offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn. Dass die schon eingetretene Folge nun erneut als Handlungsziel ausgerufen wird, macht
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Darüber hinaus zeigt der synopt. Vergleich, dass es im JohEv um mehr geht als die Dialektik zwischen Retten (σῴζω) und Verlieren (ἀπόλλυμι) der eigenen ψυχή, zwischen Gewinn (κερδαίνω) der Welt und Verlust/Schaden (ζημιόω) der ψυχή (vgl. Mk 8,34b–37). Denn in Joh 12,25 ist von zwei unterschiedlichen Arten der ψυχή die Rede. Es geht um Lieben (φιλέω) und Hassen (μισέω), Verlieren (ἀπόλλυμι) und Bewahren (φυλάσσω) der ψυχή, zum einen ἐν τῷ κόσμῳ τούτῳ und zum anderen εἰς ζωὴν αἰώνιον. Die Verhältnisbestimmung ist im JohEv also wesentlich komplexer und vielschichtiger. Ähnlich wie in Joh 11,25–26 ist hier ein doppelter Todes- und Lebensbegriff in Verwendung: Zum einen das leibliche Leben in diesem Kosmos und der leibliche Tod am Ende dieser Lebenszeit, zum anderen das Leben (ψυχή) bis zum Leben (ζωή) in Ewigkeit, welches jetzt beginnt und über den leiblichen Tod hinaus bewahrt werden kann, wenn es denn dem leiblichen Leben vorgezogen wird. Thomas ist jedoch, von Joh 20,25 her gelesen, wohl eher nachhaltig am leiblichen Leben und Sterben orientiert, denn er will seine Finger in die Nägelmale und die Seite des Gekreuzigten legen. Die andere Dimension von Leben und Tod ist ihm nicht zugänglich. 152 Inkarnation bedeutet ebenso Intemporation. Der Logos nimmt Fleisch an, lebt damit unter den Bedingungen des Fleisches, auch unter der Bedingung von Raum und Zeit. D.h. aber auch, dass er in seinem konkreten Handeln die Zeitrhythmen der Welt berücksichtigen muss, alles andere würde eine Begegnung zwischen ihm und den Menschen unmöglich bzw. ergebnislos machen. Er bittet seinen Vater ja gerade nicht, ihn aus dieser Stunde zu retten, denn er ist wegen diesem (διὰ τοῦτο; gemeint ist das Ende seiner Lebenszeit, seine Todesstunde) in diese Stunde gekommen (Joh 12,27: ἦλθον εἰς τὴν ὥραν ταύτην).
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auf die Inkonstanz und Unvollkommenheit des Glaubens und der Herrlichkeitsoffenbarung mindestens zu Lebzeiten Jesu aufmerksam. Die Angst der Jünger vor dem Tod und ihre darin begründete Handlungshemmnis weiß Jesus durch vier Redegänge zu relativieren: (1) Aufgrund der göttlichen Festlegung des natürlichen Tag/Nacht-Zyklus ist es sinnlos, die Nacht vor ihrem Einbruch zu fürchten. (2) Wie bereits im Kontext der Blindenheilung (Joh 9,4) betont, müssen die Werke verübt werden, solange es noch Tag ist (vgl. ferner Joh 12,35f.). (3) Selbst wenn die Nacht eingetroffen ist, steht Jesus ihr nicht machtlos gegenüber (er kann Lazarus aus dem Schlaf erwecken). Der Wechsel von Tag zu Nacht bleibt göttliche, d.h. schöpferische (nicht astrologische) Festlegung. (4) Die Zielbestimmungen ἵνα πιστεύσητε und ἵνα δοξασθῇ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ wiegen mehr als jede mögliche Bedrohung der biographischen Zeit. Im Anschluss daran wird von Jesu Gang zum Grab des Lazarus berichtet (V. 17). Da es sich hier offensichtlich um eine interne Prolepse handelt, die den Gang zum Grab vorwegnimmt, welcher erst in V. 38 wirklich in die Tat umgesetzt wird, ist der Vers v.a. auf seine dramaturgische Rolle hin, d.h. innerhalb des zweiten Methodenschritts zu analysieren. Auf diegetischer Ebene bleibt Jesus laut V. 30 zunächst sowohl dem Grab als auch dem Hause der Geschwister fern, befindet sich aber zumindest in der Nähe von beidem. In Joh 10,40 war noch von Jesu Gang zum Wirkungsort Johannes des Täufers (also nach Bethanien jenseits des Jordans; vgl. Joh 1,28) die Rede. Der Perikopenfolge nach ist dieses Bethanien auch der Ort, an dem Jesus nach Benachrichtigung über die Krankheit des Lazarus zwei Tage bleibt (V. 6), bevor er in Richtung Bethanien in Judäa aufbricht. Jedoch bleiben sowohl der genaue Ausgangsort als auch der Bestimmungsort, ebenso wie der genaue Zeitpunkt des Aufbruches unterbestimmt. Jesus selbst spricht recht unpräzise von einem Aufbruch in die Gegend Judäa (V. 7). Die Detailinformation über die kurze Entfernung zwischen Bethanien und Jerusalem (V. 18) ist motivisch interessant, hilft aber hinsichtlich der Frage nach dem genauen Aufenthalt Jesu vor dem Gang zum Grab nicht wirklich weiter. Die Atopie dieser Szene wird unter 3.4.1 Semantik: Rahmende Zeit- und Ortsangaben noch genauer zu erörtern sein. Die Hintergrundinformation über die jüdische Trauergemeinde (V. 19), die sich bei Maria und Martha einfindet, bestimmt jedenfalls die gesamte Szenerie neu. Damit ist auch unabhängig von der Prolepse in V. 17 ein Ortswechsel angezeigt. Jesus und Martha (Joh 11,20–27.39f.) Jesus hat sich mit seinen Jüngern von seinem Bleibeort zum Standpunkt Marias und Marthas hinbewegt. Sein Aufbruch ist die Voraussetzung für die nächste Interaktion zwischen Jesus und Martha. Denn erst als Martha hört, dass Jesus in Richtung Bethanien kommt, geht sie ihm entgegen (ὑπήντησεν). Sie will im Gegensatz zu ihrer Schwester, die im Haus sitzen bleibt, jetzt offenbar keine Zeit mehr verlieren. Ihr erstes Wort, welches sie an Jesus richtet, trägt einen
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vorwurfsvollen Unterton: Wärest du hier gewesen, wäre mein Bruder nicht gestorben. Ähnlich wie das Verhalten in der Interaktion zuvor ist auch Marthas Vorwurf an Jesus an der ablaufenden biographischen Zeit ausgerichtet. Dass sie ihm dennoch entgegenläuft, mag Hinweis auf ihre Zuversicht in das Eingreifen Jesu sein, welche sie auch offen artikuliert: καὶ νῦν οἶδα ὅτι ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν θεὸν δώσει σοι ὁ θεός | Auch jetzt weiß ich/ich weiß nun, dass, was/wieviel du von Gott erbittest, Gott dir geben wird. Das ὅσα ist an dieser Stelle bezeichnend. Martha hätte Vertrauen auch mit einem einfachen Relativpronomen ausdrücken können (ὃ [τι] ἂν αἰτήσῃ | was du erbittest), aber sie bedient sich eines quantitativen Relativpronomens, möglicherweise um ihrer Zuversicht Ausdruck zu verleihen, dass Jesu Fürbitte und Gottes Erhörung keine Grenzen kennen. Er kann mehr von Gott erbeten als nur die Heilung von Kranken. Aber auch, um das, was zu erbitten möglich ist, möglichst offen und unkonkret zu belassen. Auch das νῦν in Marthas Wissensbekundung hinterlässt Fragen. Weiß sie um Jesu Wundermacht auch jetzt noch oder jetzt erst? Das ist ein bedeutender Unterschied. Entweder sie glaubt trotz seiner Verspätung noch an seine Wundermacht oder aufgrund seiner Verspätung. So gesehen nähme mit der Dramatik der Notlage auch der Glaube an Jesu rettende Macht zu, was gut mit der Kausalbestimmung aus der Unterredung mit den Jüngern in V. 15 harmonieren würde: ἵνα πιστεύσητε, ὅτι οὐκ ἤμην ἐκεῖ | damit ihr glaubt, weil ich nicht dort war. Wie in der ersten Interaktion (V. 3) spricht Martha Jesus mit dem κύριοςTitel, nicht etwa mit φίλος an, wie Jesus Lazarus nennt (V. 11). Damit unterstreicht sie ihre Abhängigkeit von, aber auch ihre Zuversicht in Jesu rettende Hilfe. Selbst wenn ihr Vorwurf ebenso wie die Zuversichtsbekundung keine direkte Aufforderung implizieren, so bekräftigt sie dennoch mit beiden Sprechakten ihren ursprünglichen Interaktionszweck (V. 3): das Eingreifen Jesu zur Gesundung des Lazarus. Ihr Verhalten lässt sich nun allerdings nicht mehr allein mit einer Orientierung an der biographischen Zeit erklären, denn Lazarus ist bereits tot, seine biographische Zeit ist abgelaufen. Ihr Optimismus gründet in der Orientierung an einem anderen Zeitsystem. Nicht mehr die Erfahrungen mit den natürlichen Zeitrhythmen sind ausschlaggebend, sondern das ‚Wissen‘ um die Möglichkeit Gottes, in diese Zeitabläufe einzugreifen. In Jesu Reaktion auf Marthas Bekenntnis deutet sich an, dass er hinter ihrer Zuversicht eine ganz bestimmte Zeitvorstellung ‚wittert‘. Seine Antwort könnte gar als Test ihres vermeintlichen Wissens gedeutet werden: ἀναστήσεται ὁ ἀδελφός σου | dein Bruder wird auferstehen, entgegnet er ihrer indirekten Bitte. Sie antwortet erneut mit einer Wissensbekundung und spult ihre Kenntnis traditioneller, pharisäischer, eschatologischer Vorstellungen ab:153 οἶδα ὅτι ἀναστήσεται ἐν τῇ ἀναστάσει ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ | Ich weiß, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tage. Damit ist die 153
Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 426.
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Verankerung ihres Wissens in einer traditionell-religiösen Zeitrechnung offenkundig.154 Marthas Verhalten ist an einer abstrakten Zukunftshoffnung orientiert, die eben nicht auf dem basiert, was sie sieht (οἶδα als Perfekt von ὁράω | sehen), sondern die ihr den Blick für das Potenzial der gegenwärtigen Situation sogar noch versperrt. Doch warum läuft sie Jesus so eilig entgegen, wenn ihre Vorstellungskraft bloß für den abstrakten Gedanken einer fern-zukünftigen Auferstehung reicht? Erahnt sie bereits einen Zeithorizont, der ihr bisheriges Wissen transzendiert? Jesus antwortet mit einem Ich-Bin-Wort. Er ist die Auferstehung und das Leben. Seine Worte sind präsentisch, sie beziehen sich auf die Gegenwart. Der soteriologische Nachsatz des Ich-Bin-Wortes klingt paradox: ὁ πιστεύων εἰς ἐμὲ κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται, καὶ πᾶς ὁ ζῶν καὶ πιστεύων εἰς ἐμὲ οὐ μὴ ἀποθάνῃ εἰς τὸν αἰῶνα. Wer an Jesus glaubt, wird also leben, auch wenn er stirbt; gleichzeitig muss jeder, der an ihn glaubt, eben gerade nicht sterben, und zwar bis in Ewigkeit. In dieser paradoxen Doppelbestimmung drückt sich eine Umkehrung traditioneller Zeitvorstellungen aus. παρά-δοξος klingt es, weil dieses Zeitsystem nicht der allgemeinen δόξα, der allgemeinen Meinung entspricht und sich nicht so verhält, wie uns die Zeitabläufe im Alltag erscheinen. Das Zeitsystem Jesu ist von einer anderen δόξα inspiriert, der δόξα τοῦ θεοῦ, nicht verstanden als (leerer) Schein oder bloße Meinung, sondern als leuchtende Herrlichkeit. Man wird sterben und gleichzeitig leben und gleichzeitig niemals sterben, wenn man glaubt. Jesu ‚Zeitsystem‘ sträubt sich gegen eine absolute, vernunftlogische Reglementierung, gegen ein beständiges Wissen, das versucht, die Vorgänge der Welt in eine starre Form zu pressen. Sterben und Leben werden dynamisch aufeinander bezogen. 155 154
Vgl. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 140. Die in diesem Ich-Bin-Wort gebrauchte Metaphorik kann als Blumenberg’sche Sprengmetaphorik identifiziert werden. Eine solche Sprengmetapher zieht „die Anschauung in einen Prozeß hinein, in dem sie zunächst zu folgen vermag (z.B. den Radius eines Kreises verdoppelt und immer weiter vergrößert zu denken), um aber an einem bestimmten Punkt (z.B. dem größtmöglichen bzw. unendlichen Radius eines Kreises zu denken) aufgeben [...] zu müssen. Worauf es hier ankommt, ist, die Transzendenz als Grenze theoretischen Vollzugs [...] sozusagen ›erlebbar‹ zu machen.“ (BLUMENBERG, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1998, 179f.) Die kontinuierliche Verdopplung des Kreises Richtung Unendlichkeit würde den Kreis immer mehr seines zirkulären Charakters berauben und ihn mehr und mehr als gerade Linie erscheinen lassen. Die Metapher kann nicht bis zum Ende gedacht werden, denn noch davor wird sie im Kopfe des Denkenden explodieren. Das JohEv gebaucht diese Sprengmetaphern immer wieder. Er beginnt mit einem bestimmten Bild, das der Rezipient (ob innerhalb oder außerhalb der Erzählung) einfach imaginieren kann, führt dann aber ganz plötzlich eine Wendung in das bildliche Gedankenexperiment ein, die den Rezipienten beinahe schielen lässt und die gedankliche Weiterzeichnung des Bildes unmöglich macht. Eben jenes Phänomen ist im Ich-Bin-Wort in Joh 11,25f. erlebbar: Zunächst wird das Bild eines Lebens trotz Sterbens vorgestellt. Den frühjüdischen und auch frühchristlichen Jenseits- und Auferstehungsvorstellung ist dieses Bild nicht allzu fern, es kann also 155
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Der Tod als biographisches Ende ist auch für Jesus ein Teil der Schöpfungsordnung, er gehört zum Leben dazu. Jesu verzögerndes Verhalten illustriert diesen Sachverhalt. Lazarus muss zunächst sterben, bevor er ihm zur Hilfe kommt. Jeder Mensch muss dieses Ende erleiden. Doch gleichzeitig lebt der Mensch weiter, auch im Sterben. Nicht erst am letzten Tag wird er wieder leben, sondern im gegenwärtigen ἐγώ εἰμι Jesu lebt der Mensch, auch wenn er stirbt.156 Von Jesu Kommen in unser Raum-Zeit-Gefüge her ergibt sich eine Dynamisierung der Zeiten, die mit einem abstrakten Lehrwissen nicht eingefangen werden kann. Und so stellt er Martha angesichts seiner paradoxen Rede die provokative Frage: πιστεύεις τοῦτο; | Glaubst du das? Er fragt eben nicht οἶδας τοῦτο; | Weißt du das bzw. hast du das gesehen oder gelernt? Und Martha gibt eine eigentümliche Antwort: εγὼ πεπίστευκα | Ich habe geglaubt oder Ich bin im Glauben. Sie sagt allerdings nicht νῦν πεπίστευκα (vgl. V. 22 νῦν οἶδα).157 Ihr Glaube scheint also nicht erst durch die jüngste Rede Jesu hervorgerufen worden sein. Sie hat bereits geglaubt, dass Jesus der Sohn Gottes, der in den Kosmos Kommende, ist (σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ ὁ εἰς τὸν κόσμον ἐρχόμενος). Vielleicht ist dieser Glaube durch Jesu Verspätung enttäuscht worden, aber vielleicht ist sie Jesus auch gerade aus diesem Glauben heraus entgegengelaufen, ohne genau zu wissen, was sein Kommen ins Hier und Jetzt für die menschlichen Zeitdimensionen bedeuten könnte. Jesus Christus ist der stets Kommende (Partizip Präsens), daran hat Martha geglaubt. In dieser letzten Antwort Marthas an Jesus geraten die Zeiten offensichtlich etwas durcheinander. Das Kommen Jesu in die Welt, die Inkarnation und Intemporalisierung ereignen sich stets in der Gegenwart und sind deshalb weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft zu verbannen. Durch das Kommen des präexistenten, wenn man so will, zeitlosen Logos in die Zeit werden die verschiedenen Dimensionen der Zeit jedoch dynamisiert, sodass zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine logische Grenze mehr gezogen werden kann. Im Anschluss an die Begegnung mit Jesus geht Martha zurück zu ihrer Schwester Maria und sagt ihr, dass der Lehrer anwesend sei (πάρεστιν) und nach ihr rufe (V. 28).158 Die heimliche (λάθρᾳ) Weitergabe der Nachricht mag ein weiterer Hinweis auf die Bedrohungssituation (vgl. V. 8) sein.
mühelos an ein Leben nach dem Tod gedacht werden. Nun aber wird die Wendung in das Bild einführt: Wer lebt und glaubt, wird nicht mehr sterben. Er geht schon jetzt, zu Lebzeiten, ins ewige Leben ein, obwohl er aber weiterhin noch sterben muss. Das Paradox des Lebens trotz Sterbens und des Lebens ohne Sterben bis in Ewigkeit kann als Sprengmetapher verstanden werden, die schwerlich bis zum Ende gedacht werden kann, welche vielmehr die Grenzen des theoretischen Vollzugs und die Grenzen des linearen Zeitdenkens erleben lässt. 156 Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 426. 157 Mehr zum Perfektgebrauch von πιστεύω unter 3.4.2 Grammatik. 158 Dass von diesem Ruf Jesu zuvor nicht berichtet wurde, ist wohl eine erzählerische Ellipse, kein Schwindel Marthas, um ihre Schwester in Bewegung zu setzen.
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V. Textanalyse
Innerhalb einer späteren Interaktion zwischen Jesus, der umherstehenden Menge und den Schwersten werden plötzlich die Rollen vertauscht. Nicht mehr Jesus agiert verzögernd im Hinblick auf das übergeordnete Interaktionsziel der ‚Gesundung‘ des Lazarus, sondern Martha blockiert den Zieleinlauf. Ihr Einwand ist an der rituellen und biologischen Zeit orientiert (V. 39): κύριε, ἤδη ὄζει, τεταρταῖος γάρ ἐστιν | Herr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage tot. Das Gespräch mit ihrem Herrn vor Bethanien (V. 20–27) hat bei ihr offensichtlich keine Einsicht über das grenzenlose νῦν des Glaubens erwirkt. Die natürlich, ja sinnlich wahrnehmbare Verwesungszeit und die jüdischen Bestattungsriten159 veranlassen sie dazu, Jesus von seinem Vorhaben abzuraten. Damit bekräftigt sie den schwesterlichen Vorwurf (V. 21.32) und den Vorwurf der Juden (Joh V. 37), Jesus sei zu spät gekommen. Jesus aber verweist erneut auf ihr Gespräch (V. 40): ἐὰν πιστεύσῃς ὄψῃ τὴν δόξαν τοῦ θεοῦ | wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen. Diesmal jedoch spricht er nicht vom Leben im Sterben, sondern vom Sehen der göttlichen Herrlichkeit, die der Glaube an den Sohn Gottes ermöglicht, und wiederholt damit seine anfängliche Vorausdeutung (V. 4): Diese Krankheit ist zur Verherrlichung Gottes. Weder die biologischen, noch die rituellen Zeitzäune können ihn davon abhalten, Lazarus zu helfen. Die Aussicht auf die δόξα τοῦ θεοῦ vermag alles in einen neuen Zeithorizont zu stellen. Wer glaubt, kann aus einem neuen Zeitfenster weit blicken. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Jesus und Maria (Joh 11,28–33) Maria folgt dem Ruf der Schwester unmittelbar (ταχὺ/ταχέως V. 29.31). Von sich aus war sie ihm nicht entgegengegangen, nun aber, da Jesus sie ruft, macht sie sich schnell zu ihm auf den Weg an jenen Ort außerhalb des Dorfes, an dem Martha Jesus getroffen hat und an dem er weiterhin verweilt (V. 30). Die Juden, die aufgrund der heimlichen Meldung Marthas nicht wissen, weshalb Maria aufbricht, folgen ihr. Maria begegnet ihrem Herrn erst, als sie gerufen wird, dann aber unverzüglich (V. 29.31). Im Kontrast zu ihrer Schwester ist sie weniger berechnend (Martha war Jesus entgegengegangen), steht unmittelbarer und affektiver zu den gegebenen Handlungssituationen. Sie eröffnet die Interaktion nicht wie ihre Schwester mit vorschnellem Wissen, sondern indem sie zu seinen Füßen niederfällt (V. 32f.). Sie wiederholt den leisen Vorwurf der Schwester wortwörtlich mit Betonung des Possessivpronomens: εἰ ἦς ὧδε οὐκ 159 Nach jüdischem Glauben ist totes Fleisch eine maßgebliche Quelle für Unreinheit (vgl. DAVIES, Death, Burial and Rebirth in the Religions of Antiquity, 1999, 95). Aus diesem Grunde ist eine unverzügliche Bestattung der Toten geboten (vgl. Dtn 21,23 LXX: ταφῇ θάψετε αὐτὸν ἐν τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ). Nach dem Begräbnis blieb die Grabeshöhle drei Tage für Besucher offen, auch um den tatsächlichen Eintritt des Todes überprüfen und garantieren zu können (vgl. DAVIES, Death, Burial and Rebirth in the Religions of Antiquity, 1999, 102). Das Kommen Jesu am vierten Tage nach dem Todeszeitpunkt ist deshalb nach jüdischer Sitte eindeutig ‚zu spät‘ (vgl. VOLP/ZANGENBERG, Begräbnis und Totenpflege, 2005, 122–128).
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ἄν μου ἀπέθανεν ὁ ἀδελφός | Wärst du hier gewesen, wäre mein Bruder nicht gestorben.160 Ebenso wie ihre Schwester ist sie an der verstrichenen biographischen Zeit ihre Bruders orientiert. Ihre Abhängigkeit von Jesu Eingreifen artikuliert sie nicht wie ihre Schwester durch Wissensbekundungen, sondern durch die Gestik der Proskynese. Sie weint, gemeinsam mit den Juden. Ein konkreter Interaktionszweck Marias bei dieser Begegnung ist nicht auszumachen. Blickt sie mit weniger Zuversicht auf die Ankunft des Herrn als ihre Schwester? Ist ihre Reaktion Ausdruck von Erwartungs- und Hoffnungslosigkeit? Ist aus ihrer Sicht zu diesem Zeitpunkt jeder Hilferuf bereits vergebens? Ist sie deshalb zunächst im Haus geblieben? Oder ist ihre Geste sogar von noch größerem Vertrauen durchwirkt? Diese Fragen müssen offenbleiben. Die Darstellung Marias bei der anschließenden Salbung begünstigt freilich eine positive Gesamtwahrnehmung ihres Verhaltens gegenüber Jesus. Ihr fehlenden Glauben vorzuwerfen ist zumindest von dieser Handlungssequenz her nicht sehr überzeugend, dennoch bleibt ihre Haltung ambivalent. Auch Jesu Reaktion auf die Begegnung mit Maria unterscheidet sich von der vorangegangenen Interaktion. Als er sie weinen sieht (ὡς εἶδεν αὐτὴν κλαίουσαν), empört er sich (ἐμβριμάομαι) und ist erschüttert (ταράσσω). Von der Gelassenheit, die er dem anfänglichen Hilferuf der Schwestern (V. 3f.) oder dem furchtsamen Zaudern der Jünger (V. 8–10) entgegenbringt, ist nichts mehr zu spüren. Er begibt sich unmittelbar in die Emotionalität der Situation hinein. Sein Erzürnen richtet sich nicht gegen die Trauer oder das fehlende Vertrauen Marias und der Juden, das sich in ihren Tränen ausdrückt,161 denn erstens weint Jesus selbst nur wenig später (V. 35) und zweitens hätte man das ἐμβριμάομαι für diese Aussageabsicht mithilfe eines Dativobjekts (αὐτοῖς) viel eindeutiger auf die Personengruppe beziehen können (vgl. Mk 1,43; 14,5 | Mt 9,30). Neuere vorwiegend synchron arbeitende Kommentare deuten die Emotionalität Jesu deshalb häufig als Zorn und Erschütterung über seinen eigenen Tod, indem sie auf die weiteren Belege von ταράσσω in Joh 12,27; 13,21 hinweisen, die eindeutig im Kontext des Todes Jesu stehen,162 oder aber der Zorn wird auf
160 Die minimale syntaktische Umstellung gegenüber der Aussage der Schwester Martha (Joh 11,21), nämlich des Possessivpronomens μου vor das ἀπέθανεν, deutet möglicherweise eine stärkere emotionale Befangenheit Marias an, wenngleich das Pronomen weiterhin im Genitiv und nicht im Dativ (mir/für mich) steht. 161 So interpretieren es u.a. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, 211986, 310; HOLTZMANN, Evangelium des Johannes, 1908, 211; SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium II, 2000 (1970), 421; SCHNEIDER, Das Evangelium nach Johannes, 41988, 216; SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, 1998, 191; THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 738. 162 Vgl. BUSSE, Das Johannesevangelium, 2002, 187; CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 111; NEYREY, The Gospel of John, 2007, 199; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 530–533.
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V. Textanalyse
die generelle Macht des Todes bezogen. 163 Freilich wird damit nur das ταράσσω, nicht aber ἐμβριμάομαι weiter erklärt. Eine weitere Deutungsvariante konjiziert, dass Jesus sich gegen seinen eigenen Geist (τῷ πνεύματι) erzürnt bzw. ihn bedrängt (vgl. Mk 1,43) und in oder von sich selbst (ἑαυτόν) erschüttert ist. Die Häufung der reflexiven Pronomina in V. 33–38 in Verbund mit dem eigentlich transitiven Verb ἐμβριμάομαι ist jedenfalls nicht unauffällig. Es ist durchaus denkbar, dass Jesus sich in diesem emotionalen Moment und angesichts der tiefen Trauer Marias und der Juden von den Folgen seines eigenen verzögernden Verhaltens erschüttern lässt. Er hat diese große Trauer, den schmerzhaften Tod des geliebten Freundes in Kauf genommen, ἵνα πιστεύσουσιν (vgl. V. 15).164 Seine Reaktion weist auf die Herausforderung einer konsequenten Orientierung am Glauben und der δόξα τοῦ θεοῦ in jedem gegenwärtigen Moment hin. Das biographische Ende, die Begrenzung der Lebenszeit, bleibt nämlich Teil des Lebens. Der leibliche Tod wird auch von Jesus nicht vollständig abrogiert. Er bleibt auch für ihn in all seiner Menschlichkeit ein beklagenswerter Teil des Lebens, insbesondere für die Zurückgebliebenen, auch wenn er für den Toten selbst nicht das letzte Wort behält. Seine Erschütterung zeigt, dass eine Orientierung an der δόξα τοῦ θεοῦ alles andere als selberverständlich und bequem ist. Jesus und der Vater (Joh 11,41b–42) Zwischen der zweiten Auseinandersetzung mit Martha am Grab (V. 39f.) und der Auferweckungstat ereignet sich eine besondere Interaktion zwischen Jesus und seinem göttlichen Vater (V. 41b–42), obwohl ein Totengrab zumindest nach jüdischer Tradition aufgrund der Unreinheit der Toten nicht gerade als Ort besonderer Gottesnähe gelten kann.165 Wie kurz vor seinem eigenen Tod (Joh 17) ruft er auch hier seinen Vater an. Eine Reaktion des Vaters auf Jesu Anrede kann höchstens in der Wirkung der Auferweckungsworte Jesu gefunden werden. Während die Menge den Stein aufhebt, hebt Jesus seine Augen auf zum Vater und dankt ihm, dass er ihn erhört hat. Er habe gewusst, dass Gott ihn jederzeit (πάντοτέ) erhöre, aber wegen des herumstehenden Volkes habe er gesprochen, damit sie glauben (ἵνα πιστεύσωσιν; vgl. V. 15), dass der Vater ihn gesandt hat. Jesus ist also, was sein Zeitverhalten betrifft, vom Vater abhängig, der ihm allerdings durch das πάντοτέ seiner Erhörung jegliche Freiheit ge-
163 Vgl. WENGST, Das Johannesevangelium, 2001, 32; ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 431. 164 Zu einer ähnlichen Deutung kommt L. Schenke. Er betont noch stärker als H. Thyen, dass Jesus sowohl angesichts seines eigenen Todes als auch angesichts des Todes seines Freundes erschüttert ist (vgl. SCHENKE, JohannesKommentar [elektronische Neuauflage], 2014, 194). 165 Vgl. VOLP/ZANGENBERG, Begräbnis und Totenpflege, 2005, 123.
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währt. Allein um der Menge willen hat Jesus zu eben diesem Zeitpunkt gesprochen. Auf welche seiner letzten Worte nimmt Jesus hier Bezug: Auf seinen Befehl, den Stein zu erheben (V. 39)? Auf die abstrakte Rede über den Glauben (V. 25f.40), die ja letztlich nur an Martha gerichtet war? Auf seine Verheißung, dass diese Krankheit nicht zum Tod führe, sondern zur Herrlichkeit Gottes (V. 4.23)? Der besondere temporale Verweis auf das πάντοτέ der göttlichen Erhörung, zu dem die Rede vor der Menge adversativ gestellt wird, lässt vermuten, dass Jesus auf seinen besonderen Umgang mit der Zeit anspielt. Er hätte Lazarus auch früher (oder noch später) zu Hilfe eilen können, weil der Vater ihn immer erhört, doch um des Glaubens der Menschen willen, wählte er diesen Zeitpunkt und verzögerte seine Reise, versichernd, dass diese Krankheit nicht zum Tode sei. Alles deutet darauf hin, dass gerade die Verzögerung den Glauben hervorruft. Nicht nur, weil damit das Wunder zu einer Auferweckung statt einer Heilung intensiviert wird, sondern auch, weil mit den gewohnten Denkund Zeitsystemen gebrochen und eine Neuorientierung angeregt wird. An Stelle von starrem Wissen und allgemeiner Meinung wird der Glauben an die Dynamik der göttlichen Herrlichkeit beworben. Jesus und Lazarus (Joh 11,43f.) Es folgt diejenige Interaktion, auf die das gesamte vorherige Geschehen abzielt. Jesus ruft mit lauter Stimme: Λάζαρε, δεῦρο ἔξω | Lazarus, komm heraus. Das erste Mal in dieser Geschehensfolge kommt es zu keinerlei Verzögerungen. Lazarus folgt dem Befehl sofort, trotz der Binden um Füße, Hände und Gesicht, die eindrücklich von Bestattung und definitivem Tod zeugen. Keinerlei Zeitnormen stehen ihm im Weg. Er wartet seine Stunde ab und nutzt sie, sobald sie von Jesus angezeigt wird (vgl. Joh 5,25.28). Den Herumstehenden befiehlt Jesus (in Vorahnung des Tötungsbeschlusses in Joh 12,10f.?), die Binden zu lösen und Lazarus gehen zu lassen. Lazarus selbst bleibt in der gesamten Interaktionssequenz, abgesehen von seinem Heraustreten aus dem Grab, völlig passiv. Hohepriester und Pharisäer + Kaiaphas (Joh 11,47–53.57) Durch den Bericht der Menge kommt eine weitere Interaktion zwischen den Hohepriestern und Pharisäer zustande, welche die politischen Folgen des Zeitverhaltens Jesu beschließt. Sie versammeln sich im Synhedrion und beraten über eine angemessene Reaktion auf Jesu Taten. Lassen sie ihn gewähren, so werden alle an ihn glauben (πάντες πιστεύσουσιν εἰς αὐτόν). Jesu übergeordnetes Interaktionsziel bedeutet den Oberen eine Gefahr, zum einen weil sich damit innerjüdisch ein neues Machtgefüge ergibt (vgl. Joh 4,1–3), zum anderen weil ihrer Prognose nach die Römer kommen und ihnen sowohl den Ort als auch den Stamm bzw. das Volk (ἔθνος) wegnehmen werden. Die Erwägungen der Versammelten sind an politischer Opportunität orientiert. Ihr Interesse gilt der Bewahrung der Ruhe, der Vermeidung von Aufruhr und Veränderung. In
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V. Textanalyse
einer Phase, in der es um die Konsolidierung der relativen Autonomie und guten Beziehung zu den römischen Besatzern geht, erscheint ihnen ein Aufruhr halsbrecherisch. Von dem Vorwurf der Blasphemie (vgl. Joh 5,18; 10,33; 19,7) ist im Rahmen des Tötungsbeschlusses keine Rede. Später wird es ironischerweise der Präfekt des römischen Kaisers, Pilatus, sein, der sich vor den Juden fürchtet (Joh 19,8), nicht umgekehrt. Und die jüdischen Oberen selbst müssen Jesus vor Pilatus dann erst noch als Aufrührer gegen den Kaiser ausweisen (Joh 19,12), weil Pilatus selbst keine Schuld an ihm finden kann (Joh 18,39; 19,4.6). Kaiaphas, der Hohepriester jenes Jahres, wirft dem Rest der Versammlung Unwissen (ὑμεῖς οὐκ οἴδατε οὐδέν) und fehlendes Kalkulationsvermögen (οὐδὲ λογίζεσθε) vor, nämlich darüber, dass es ihnen nütze, wenn ein Mensch für das Volk (λαός) stirbt und dadurch nicht das ganze Volk/der ganze Stamm (ἔθνος) zugrunde geht. Sein konkreter Interaktionszweck ist die Tötung Jesu und die Bewahrung des unabhängigen jüdischen Volkes. Auch er ist, so die erste Vermutung, an der politischen Zeit orientiert.166 Seine Amtsperiode, seine Machtposition und die relative Unabhängigkeit unter der römischen Besatzung sollen durch keinen Unruheherd gefährdet werden. Gemäß dem Erzählerkommentar (V. 51f.) entspringen sein Wissen und seine Prognose gerade nicht seiner eigenen soteriologischen Einsicht, sondern er prophezeit (προφητεύω) die Relevanz des Todes Jesu aus seiner Rolle als Hohepriester heraus. Das ist in zwei Richtungen hin deutbar: Entweder sein Handeln wird als ein Baustein innerhalb des übergreifenden Heilsplans Gottes bewertet oder er wird zur Marionette politisch-religiöser Zeitrhythmen degradiert. Die tief- und weitreichende Bedeutung des Todes Jesu nicht nur für das eigene Volk, sondern auch für die verstreuten Kinder Gottes (V. 40; vgl. Joh 10,16) ist dem Hohepriester jedenfalls nicht einsichtig. In dem von diesem Tage an gefällten Tötungsbeschluss des Synhedrions fallen paradoxerweise zwei Zeitsysteme ineinander: die (vordergründig) politisch opportune Zeit und die Zeit der δόξα τοῦ θεοῦ. Es ist eine Vorwegnahme der Paradoxie des Kreuzesgeschehens, in dem Tod und Leben, Schande und Herrlichkeit ineinanderfallen. Nur wenig später, beim Einzug nach Jerusalem, wird man aus Jesu Munde schließlich hören, dass die Stunde gekommen sei, dass der Menschensohn verherrlicht werde (Joh 12,23). Die indirekte Reaktion Jesu und seiner Jünger auf den Tötungsbeschluss ist der Rückzug in die Wüste Ephraims. Man weiß nicht, wie lange sie dort bleiben. Jesus wandelt vorerst nicht mehr in der Öffentlichkeit Judäas (οὐκέτι παρρησίᾳ περιεπάτει ἐν τοῖς Ἰουδαίοις), der Tötungsbeschluss setzt einen eindeutigen Schnitt auch für das Verhalten Jesu. Die anfängliche Furcht der Jünger (V. 8) erscheint gerechtfertigt, dennoch ist von keinem Wort der Reue über die Bethanienreise die Rede. Im Gegenteil, der Glaube der Augenzeugen (V. 45) wiegt die negativen Folgen auf bzw. stellt sie in den größeren Kontext gött-
166
Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 436.
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licher Fügung. In V. 57 wird der Beschluss durch die Hohepriester und Pharisäer mittels einer Verfahrungsordnung weiter konkretisiert. In Joh 12,1 reist Jesus dann auch bereits wieder zurück nach Judäa, ohne die dortige Gefahr zu scheuen. Jesus und die Juden (Joh 11,34–39.41.44b–46.55f.) Die erste berichtete Reaktion Jesu auf die mittrauernden Juden ist negativ. Jesus ergrimmt, ist erregt, als er Maria und die Trauergemeinde weinen sieht. Doch, wie oben bereits erörtert, muss sich diese Reaktion nicht zwangsläufig gegen die Juden und ihre Trauer richten, das geben die reflexiven Bezugsobjekte (τῷ πνεύματι/ἑαυτόν) nicht eindeutig her. Vielmehr ist das Weinen der Juden Auslöser für Jesu Missmut gegenüber seinem eigenen Verhalten bzw. der daraus resultierenden Situation. In seinem Gebet zum Vater wird deutlich, dass er jederzeit hätte eingreifen können, er aber um des Glaubens der Menge willen so geredet und gehandelt hat. Dies tut er aber aus keinem nüchtern-berechnenden oder teilnahmslosen Gestus heraus, sondern in tiefer Verbundenheit mit den Menschen, die er liebt. Nur deshalb kann ihn die bedrückende Situation des Todes und der Trauer auch reuen. Um der Macht der Todesfinsternis mit seiner lichten Herrlichkeit zu begegnen, fragt Jesus die Anwesenden schließlich nach dem Begräbnisort (V. 34). Der Interaktionszweck ist der Gang zum Grab, welchem die Angesprochenen nachkommen, indem sie ihn ohne Umschweife dorthin führen wollen: ἔρχου καὶ ἴδε | komm und sieh. Doch Jesus verzögert erneut den Aufbruch (V. 35). Er weint (δακρύω statt κλαίω). Er lässt sich nochmals von der Situation ergreifen. Er zeigt seine Liebe zu Lazarus, zeigt, wie schwer es ihm gefallen sein muss, den Tod des Freundes einfach abzuwarten, und dass die Trauer über den Tod zum Leben dazugehört. Er bestätigt mit seinem Weinen auch die Legitimität der Trauerriten, die sich traditionsgemäß über sieben Tage erstreckten. 167 Doch, die mit Tränen säen (Ps 125,5LXX: οἱ σπείροντες ἐν δάκρυσιν), werden mit Jubel ernten ‒ so ähnlich wird Jesus in den Abschiedsreden, bezogen auf seinen eigenen Tod, wiederholen: Wenn ein Weizenkorn, das in die Erde fällt, nicht stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht (Joh 12,24). Auch in Joh 16,21 wird die Notwendigkeit des Schmerzes (λύπη) und die Verwandlung in Freude (χαρά), wenn die Stunde des Gebärens gekommen ist, angesprochen. Auch hier wird das neue Leben, das aus der tiefen Bedrängnis (θλῖψις) entsteht, thematisiert. Jesu Liebe zu Lazarus erkennen auch die Juden (V. 36). Sie erkennen auch Jesu Gram über die Folgen seines eigenen verzögernden Verhaltens, verstehen aber die Hintergründe seines Verhaltens nicht. Deshalb führen die Beobachtung seiner Liebe einerseits und ihr Wissen um seine Heilungsmacht andererseits bei einigen von ihnen zu fast spöttischer Verwunderung (V. 37): οὐκ 167
Vgl. DAVIES, Death, Burial and Rebirth in the Religions of Antiquity, 1999, 107.
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V. Textanalyse
ἐδύνατο […] ἵνα καὶ οὗτος μὴ ἀποθάνῃ; | Konnte er nicht machen, dass dieser nicht stirbt? Auch die Verwunderung der Juden liegt in der Orientierung an der biographischen Zeit bzw. an dem, was sie bereits von Jesu Wundermacht kennen, begründet. Zu Lebzeiten hätten doch Heilungschancen bestanden, warum hat Jesus sie wie bei der Blindenheilung nicht rechtzeitig ergriffen? Jesus ist erneut in sich empört (V. 38: πάλιν ἐμβριμώμενος ἐν ἑαυτῷ). Wegen des impliziten Vorwurfs der Juden oder wegen seiner eigenen Verspätung? In dieser Empörung oder aus dieser Empörung heraus geht er endlich zum Grab, so lässt es die Partizipialkonstruktion ἐμβριμώμενος ἐν ἑαυτῷ ἔρχεται εἰς τὸ μνημεῖον vermuten. Die Hintergrunddetails zum Grab in V. 38 (ἦν δὲ σπήλαιον καὶ λίθος ἐπέκειτο ἐπ᾽ αὐτῷ | Es war aber eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war) deuten eine weitere Verzögerung an. Noch ist der Grabstein im Weg, wieder ein Hindernis auf der Zielgeraden, das Jesus nun mit einem direkten Befehl an die Anwesenden zu beheben sucht: ἄρατε τὸν λίθον | Hebt den Stein weg (V. 39). Die Anwesenden leisten Jesu Befehl nach Marthas verzögernder Intervention schließlich Folge und heben den Stein weg (V. 41). Ein weiterer schlichter Befehl Jesu in V. 44b veranlasst die Loslösung der Binden des Auferstandenen und seine Freilassung. In V. 45f. wird von der Reaktion der umstehenden Menge der Juden auf die Wunderhandlung Jesu berichtet. Viele (πολλοί) glaubten an ihn bzw. kamen zum Glauben. Das ideelle Interaktionsziel Jesu ist damit erreicht (vgl. V. 4.15.42), auch wenn einige den Pharisäern Bericht erstatten und damit die Gefahr für Jesus (wohl wissentlich) schüren. Er hat trotz aller Vorwürfe und Vorbehalte seiner Interaktionspartner den richtigen Zeitpunkt abgepasst, die Gunst der Stunde abgewartet und schließlich zugunsten seines Interaktionsziels genutzt. Das Passafest als jährliches widerkehrendes Befreiungsfest zum Nachvollzug des Exodusgeschehens bringt die Juden aus Bethanien wieder nach Jerusalem (V. 55), und zwar um der eigenen Heiligung/Reinigung (ἵνα ἁγνίσωσιν ἑαυτούς) willen. Sie sind an einer rituellen Zeit orientiert. Der Name des Festes ( | ֶפּסַחauslassen, überspringen, vorübergehen) ruft das Schutzzeichen an den Türen der Hebräer in der Nacht des Exodus in Erinnerung, welches sie vor dem Strafgericht Gottes bewahren sollte (Ex 12,27). Jesus hingegen ist den jüdischen Rechtsinstanzen aufgrund des Tötungsbeschlusses auf dem Fest schutzlos ausgeliefert. Über ihm steht kein Schutzzeichen, das ihn vor dem Tod bewahrt. Die Hohepriester und Pharisäer verschärfen den Beschluss vor dem Passafest, indem sie nun auch den Vollzug der Gefangennahme forcieren. Jeder, der über Jesu Aufenthaltsort Kenntnis habe, soll ihn ergreifen bzw. ausliefern (V. 57). Wird Jesus deshalb auf die Teilnahme am Fest, das die Befreiung kommemoriert, verzichten? So überlegen die Passapilger und wägen rituelle Zeitvorgaben gegen die Bedrohung der Lebenszeit ab. Doch es kommt anders. Jesus wird trotz Todesgefahr nach Jerusalem reisen, weder weil er die Gefahr
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verkennt, noch um sich selbst zu heiligen, sondern um von Gott verherrlicht zu werden. Als die Menge von Jesu Aufenthalt in Bethanien erfährt, reist sie dorthin (Joh 12,9). Ihr Ziel ist die Begegnung sowohl mit dem Wundertäter als auch mit dem Auferweckten. Ihre zeitliche Orientierung ist wohl intersubjektiver Natur, wenngleich das Verlassen des Festortes kurz vor Beginn des Festes für eine Begegnung mit Jesus bzw. Lazarus schon eine brisante Verschiebung der Prioritäten bedeutet. Jesus, Lazarus, Martha & Maria (Joh 12,1–3[7]) Ehe die Spekulationen der Festreisenden über Jesu Verbleib eine Antwort finden und Jesus nach Jerusalem einzieht, findet erneut eine Interaktion zwischen Jesus und den Geschwistern Lazarus, Martha und Maria im Beisein der Jünger statt. Sechs Tage vor dem Passafest geht Jesus zurück nach Bethanien, wohl auf der Durchreise nach Jerusalem. Lazarus und seine Schwestern reagieren auf den Besuch mit einem Gastmahl, bei dem Martha den Tischdienst übernimmt. Lazarus ist unter denjenigen, die mit Jesus am Tisch liegen. Er ist wohl der Einzige unter den Geschwistern, der während des Gastmahls auch tatsächlich Brot mit Jesus bricht. Teilt und empfängt er erneut das Brot des Lebens (vgl. Joh 6,65.58)?168 Möglich ist auch, dass Jesus überhaupt erst aus Anlass des Mahls nach Bethanien kommt, welches die Geschwister ihm zu Ehren und zum Dank ausrichten. 169 Sowohl Lazarus als auch Martha sind an konventionellen Rhythmen orientiert. Denn es entspricht guter antik-jüdischer Konvention, den Hausgast mit Brot zu bewirten und bei festlichen Gastmählern zu Tische zu liegen.170 Insbesondere vor dem Passafest öffneten Juden in und um Jerusalem ihre Pforten für Festpilger.171 Auch Maria handelt sittenkonform. Innerhalb des antiken Judentums war es üblich, Gästen Wasser zum Waschen ihrer Füße zu reichen.172 Maria aber reicht nicht nur das Wasser zur Reinigung, sondern fällt Jesu erneut zu Füßen (vgl. Joh 11,32), nimmt einen Liter teuren Nardenöls statt des üblichen Wassers, salbt damit die Füße Jesu und trocknet sie mit ihren Haaren, sodass
168
Vgl. ZIMMERMANN, The Narrative Hermeneutics of John 11, 2008, 98. Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 442. 170 Vgl. HILTBRUNNER , Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, 2005, 25; JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, 41967, 42. 171 Vgl. HILTBRUNNER , Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, 2005, 103. 172 Vgl. Gen 18,4; 19,2; 24,32; 43,24; Ri 19,21; 1 Sam 25,41; ferner AUGENSTEIN, Das Liebesgebot, 1993, 30; BILLERBECK/STRACK, Band I: Das Evangelium nach Matthäus, 1922, 427 (zu Mt 6,17): „Einem Gast Gelegenheit zu bieten, sich selbst zu salben oder ihm durch einen Sklaven die Füße salben zu lassen, galt als Anstandspflicht.“; HILTBRUNNER, Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, 2005, 24. 169
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V. Textanalyse
das ganze Haus nach Salböl duftet. Die Salbung bzw. Fußwaschung geschieht auch nicht wie üblich vor der Mahlzeit, sondern währenddessen. 173 Ob Maria mit dieser Handlung der traditionellen Gastfreundschaft bloß in besonders leidenschaftlicher Art und Weise nachkommen will, schlicht ihrer Liebe und ihrem Dank Ausdruck verleiht, 174 oder einen anderen Interaktionszweck bspw. die Nachahmung einer Königssalbung 175 verfolgt, ist nicht restlos zu klären. An die Antizipation des Todes Jesu ist auf diegetischer Ebene wohl eher nicht zu denken. 176 Eher ist anzunehmen, dass, wie ihre Schwester Martha sich zuvor zu Jesus als dem Messias bekannt hat (Joh 11,27), sich auch hinter Marias Handlung ein Bekenntnis zu Jesus als dem messianischen König verbirgt. Unmittelbar im Anschluss wird Jesus als König von Israel in Jerusalem einziehen (Joh 12,13). Vor dem Hintergrund der Flucht Jesu vor dem Versuch der Königserhebung durch die Menge in Joh 6,15 oder der ‚falschen‘ Königstitulatur bei der Kreuzigung in Joh 19,19 wird Marias Bekenntnis dadurch aber auch in gewissem Sinne anfechtbar.177 Eine direkte Reaktion Jesu auf die Salbungshandlung der Maria wird nicht erwähnt. Judas und Jesus (Joh 12,4–8) Es ist hingegen Judas Iskariot, der eine erste Reaktion auf die Salbung zeigt und sich in die Interaktion einmischt. Die Szene ereignet sich kurz vor dem Verrat und der Gefangennahme Jesu (μέλλων αὐτὸν παραδιδόναι | er war im Begriff, ihn zu verraten). Judas hinterfragt das Verhalten Marias. Seiner offen artikulierten Kritik zufolge wäre der genau bezifferte Gegenwert für das Öl (τριακοσίων δηναρίων | dreihundert Denare) besser in der Armenfürsorge investiert. Seine Zeitorientierung bei dieser Handlungsbewertung können wir dem anschließenden Erzählerkommentar entnehmen. Er möchte das Geld nicht für Arme ausgeben, sondern es als Schatzhalter für sich selbst einbehalten.
173
Vgl. AUGENSTEIN, Das Liebesgebot, 1993, 29; THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 766; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 549. 174 Die Salbung diente in erster Linie der Körperpflege und dem Wohlbefinden (vgl. AUGENSTEIN, Das Liebesgebot, 1993, 29; BILLERBECK/STRACK, Band I: Das Evangelium nach Matthäus, 1922, 426). Wenn sie freiwillig vollzogen wurde, konnte sie als Ausdruck der Liebe zwischen zwei freien Personen verstanden werden (vgl. AUGENSTEIN, Das Liebesgebot, 1993, 31). 175 Vgl. atl. Königssalbungserzählungen in 1 Sam 10,1; 1 Sam 16,13; 2 Sam 2,4; 2 Sam 5,3; 1 Kön 1,39; 2 Kön 9,6; 2 Kön 11,12; 2 Kön 23,30; atl. Priestersalbung in Ex 29,7; 30,30; 40,13; Lev 8,12; ferner die Parallelen zum Nardenduft bei der Speisung des Königs in Hld 1,12; darüber hinaus finden sich aber auch atl. Salbung eines Altars/Steinmahls in Gen 13,13; Ex 29,36; 40,10; Lev 8,11; Num 7,1.10; 7,84. 176 Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 776. 177 Vgl. ebd.
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Wenn er zu diesem Zeitpunkt schon den Beschluss zum Verrat gefasst hat,178 ist seine Intention eindeutig. Investitionen müssen solange aufgeschoben werden, bis die Einkünfte ab dem Zeitpunkt der Gefangennahme des Herrn vollkommen in den eigenen Besitz übergehen. Aber auch wenn es bloß darum ginge, vereinzelt Geld aus dem gemeinsamen Vorrat zu entwenden, ist sein Handeln an ökonomischen Erwägungen orientiert. Jesus verteidigt Maria, sie solle das Öl nicht in Geld umtauschen, sondern εἰς τὴν ἡμέραν τοῦ ἐνταφιασμοῦ μου τηρήσῃ αὐτό | bis zum Tag meines Begräbnisses bewahren. Das τηρέω macht Jesu Aussage mehrdeutig. Soll Maria das Öl nun aufbewahren, um den Herrn am Tag des Begräbnisses zu salben, oder ist in der jetzigen Salbung die spätere Totensalbung bereits aufbewahrt bzw. vorweggenommen? Hier ist ein weiteres Paradoxon angesprochen, das sich aus der Doxa des Todes Jesu ergibt. Indem Maria das Öl jetzt an den lebendigen Jesus verschwendet, bewahrt sie es für sein Begräbnis. 179 In der Königssalbung, dieser verherrlichenden Geste Marias, ist gleichzeitig der schändliche Tod Jesu mitangezeigt. 180 Der Duft des Lebens folgt dem Duft des Todes Lazari und beugt dem Duft des Todes Jesu vor bzw. zeigt schon jetzt an, dass sich kein Todesgeruch entwickeln wird, denn er wird am dritten Tag auferstehen. Jesus ergänzt: Arme habt ihr allezeit (πάντοτε) bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. Während die Verbindung zwischen Jesus und seinem Vater immer besteht (vgl. Joh 11,42), wird diejenige zwischen den Jüngern und Jesus bald abbrechen, denn der Tag verfügt eben nur über die festgelegten zwölf Stunden, die Dunkelheit kommt bestimmt (vgl. Joh 9,4; 11,9). Hier wird man mit einer ethisch und zeitlich brisanten Problemstellung konfrontiert, denn in der zeitlichen Gegenüberstellung von Jesu begrenztem Aufenthalt in der Welt einerseits und bleibender Verantwortung gegenüber den Armen in der Welt andererseits geht es letztlich um das komplexe Verhältnis zwischen Prinzipien- und Situationsethik. Soll man den zeitlos gültigen Gesetzen der Armenfürsorge oder dem, was die Situation fordert, mehr Bedeutung beimessen? Weil seine Intentionen niederträchtig sind, konterkariert Judas jede Prinzipienethik. Doch auch unabhängig von den hinterhältigen Intentionen des Judas, bleibt es eine ethisch brisante Sachlage, ist doch die Armenfürsorge eine gewichtige und unverändert gültige Weisung der Tora.181 Verschwenderischer 178 Gegen eine frühzeitige Planung seines verräterischen Vorgehens spricht Joh 13,27, wo der Satan erst bei der Mahlgabe in Judas fährt. Demgegenüber wird in Joh 13,2 jedoch berichtet, der Diabolos sei dem Judas bereits ins Herz gegeben (ἤδη + Perfekt). Ebenso ist die Verordnung der Pharisäer zur Auslieferung Jesu zum Zeitpunkt der Salbung bereits gefällt (Joh 11,57). 179 Vgl. WENGST, Das Johannesevangelium, 2001, 50. 180 Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 178. 181 Die Vernünftigkeit der Argumentation zugunsten der Armenfürsorge heben u.a. M. Theobald (vgl. a.a.O., 176) und K. Wengst (vgl. WENGST, Das Johannesevangelium, 2001, 49) hervor.
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V. Textanalyse
Luxus und Geldgier auf der einen Seite und die Ausnutzung und Verelendung der armen Bevölkerung auf der anderen Seite werden im Rahmen der Sozialkritik der atl. Propheten auf das Schärfste verurteilt. 182 Aus dieser Perspektive heraus verwundert Jesu Verteidigung des verschwenderischen Gebrauchs von teurem Salböl auf Kosten der Armenfürsorge. Andererseits ist die Abgabe von Geld oder anderen Gütern an Arme in der Tora an ganz konkrete Abgabezyklen gebunden, 183 damit die Sozialfürsorge gleichmäßig und gerecht auf allen Schultern verteilt werden kann.184 In Dtn 15,11 heißt es ausgerechnet am Ende der Bestimmung über das zyklisch wiederkehrende Erlassjahr in deutlicher Parallelität zu Jesu Aussage: Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden. Für die Armen, die es allezeit gibt, muss also in geregelten Abläufen gesorgt werden. Das Begräbnis Jesu aber steht nun unmittelbar bevor und bedarf der immediaten Aufmerksamkeit und Sorge. Ferner kann man im Frühjudentum (insbesondere in der mPeʼa) die Unterscheidung zwischen ẓedakah ()צְ ָד ָקה, der Wohltätigkeit i.S. materieller Unterstützung und gemilut ḥasadim () ֲחסָדִ ים ְגּמִילוּת, wörtlich das Schenken von liebevoller Güte, das Ausüben von Barmherzigkeit finden. Letztere Tugend überbietet die wohltätige Armenfürsorge als ein weit umfassenderer Ausdruck von Mitgefühl und Nächstenliebe. Jener Liebesdienst nämlich ergeht sich nicht allein in materieller Unterstützung, sondern auch im liebevollen Dienst an der Person; im Dienst nicht nur an den Armen, sondern an allen Menschen; im Dienst nicht nur an den Lebenden, sondern auch an den Toten. Der Liebesdienst, insbesondere der Dienst an den Toten, steht über der Armenfürsorge, insofern er nicht als reziprok und damit als wahrhaft altruistisch (lat. alter | der Andere) bzw. uneigennützig aufgefasst wird.185 Somit ist auch von der mündlichen Tora her ein Argument für den Vorrang des Liebesdienstes Marias (selbst, wenn sie nicht aus der Intention einer vorzeitigen Totensalbung heraus gehandelt hat) vor der allgemeinen wohltätigen Armenfürsorge gegeben und Jesu Reaktion damit nicht als Verstoß gegen die Vorgaben der Tora zu verstehen.
182
Vgl. u.a. Am 2,6f.; 4,1; 5,11; 6,4–6; 8,4–6; Jes 1,23; 10,2. Alle drei Jahre wird der Zehnte als Armensteuer erhoben (Dtn 14,28f.; 26,12–15); alle sieben Jahre ist Brachejahr, dessen Erträge an Arme verteilt werden (Ex 23,11); alle sieben Jahre gibt es einen allgemeinen Schuldenerlass (Dtn 15,1–18); die Schuldsklaverei wird auf sechs Jahre beschränkt (Ex 21,2–6). 184 Alle weiteren atl. Maßnahmen der Armenfürsorge verfolgen eher präventive Zwecke, d.h. versuchen, Armut oder zumindest deren Eskalation zu verhindern: Verbot der Ausbeutung (Ex 22,20–21), das Recht auf Nachlese nach Ernten (Lev 19,9f.; Lev 23,22; Dtn 24,19– 22), Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35–38; Dtn 23,20–21), Beschränkungen bei Pfandnahme (Ex 22,25–26; Dtn 24,6.10–13.17), Regulierung von Maßen/Gewichten (Dtn 25,13–16) etc. 185 Vgl. POSNER/BEN-SASSON/LEVITATS, Art. Charity, 2007, 569; RABINOWITZ/LEVITATS, Art. Gemilut Ḥasadim, 2007, 427f. 183
3. Joh 11,1–12,11
309
Indirekt: Lazarus und die Oberen (Joh 12,10f.) Die Hohepriester reagieren auf die zunehmende Popularität der beiden Freunde Jesus und Lazarus mit einem weiteren Tötungsbeschluss, der nicht nur Jesus, sondern nun auch Lazarus gilt. Sie fürchten eben das, was übergeordnetes Ziel des Handelns Jesu in Bethanien war: der Glaube der jüdischen Bevölkerung (Joh 12, 11; vgl. Joh 11,48). Diese Furcht hängt mit politischen Zeitregimen zusammen. Einen religiösen Umsturz können sich die jüdischen Oberen unter römischer Besatzung nicht erlauben, ohne Restriktionen ihrer Macht fürchten zu müssen. 3.3.2 Auswertung Die nüchterne Bilanz der Handlungssequenz in Joh 11,1–12,11 sind zunächst einmal zwei Tötungsbeschlüsse, andererseits aber auch die Verbreitung und Festigung des Glaubens an Jesu lebensspendende Kraft sowohl bei den Juden aus Bethanien (V. 45) als auch bei den Passapilgern aus Jerusalem (Joh 12,11) und, so lässt jedenfalls deren vertrauensvolle Hingabe vermuten, auch bei den Geschwistern Maria, Martha und Lazarus. In allen Interaktionen, ausgenommen der prägnanten Begegnung zwischen Lazarus und Jesus, tun sich temporale Konflikte auf. Während Jesus sein Handeln durchweg von einer doxologisch qualifizierten Stunde und dem Ziel des Glaubens dirigieren lässt, ohne dabei die natürlichen Zeitrhythmen außer Acht zu lassen, bleiben die Jünger wie auch die Schwestern an indeklinablen Zeitstrukturen wie der Lebenszeitbegrenzung, rituellen Zeitregimen oder biologischen Rhythmen verhaftet und in ihrer Handlungsfreiheit und -courage beeinträchtigt. Bei den Juden steht meist die rituelle Zeit im Vordergrund, ob beim Trauerzeremoniell oder den Festzeiten des Passas. Die jüdischen Oberen wiederum richten sich zuvorderst an der politisch opportunen Zeit aus und besitzen im Falle des Kaiaphas nur qua ihres Amtes die Weitsicht für zukünftige Entwicklungen, können die Situation aber nie im Kern erfassen. Die doxologische Stunde steht auch bei der Salbung im Vordergrund des Handlungs- und Erleidensinteresses Jesu. Das baldige Eintreten der Stunde rechtfertigt Marias verschwenderischen Umgang mit Salböl. Oberflächlich werden von Judas Prinzipienethik/Gesetzeskonformität und Situationsethik gegeneinander ausgespielt. Sein vom Erzähler attestiertes ökonomisches Interesse entlarvt seine Abwägung jedoch als habgieriges Kalkül. Jesus tritt in Erwiderung auf Judas für ein situationskonformes Handeln ein. Regelmäßige Armenfürsorge und die Achtsamkeit gegenüber dem Bedarf der gegenwärtigen Situation sollten nicht in Opposition zueinander gebracht werden.
310
V. Textanalyse
3.4 Zeitinszenierung 3.4.1 Semantik Rahmende Zeit- und Ortsangaben Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus beginnt in V. 1 unverzüglich mit dem Kernproblem, das Anlass und Motor der Handlungssequenz ist: Ἦν δέ τις ἀσθενῶν | Es war aber einer krank. In der zweiten Vershälfte werden die zentralen Figuren und der Handlungsort eingeführt. Was uns die Erzählung schuldig bleibt, ist eine zeitliche Verortung der Szene. Während die anschließende Salbungsperikope relativ präzise in die Geschehensfolge eingeordnet wird (Joh 12,1: sechs Tage vor dem Passafest, an dessen Rüsttag die Kreuzigung stattfindet; vgl. Joh 19,14), verbleibt die erste Handlungssequenz, die Auferweckung des Lazarus, in historischem und erzählchronologischem Schwebezustand. Die losen Enden verhindern eine exakte Einordnung nicht nur auf einem historischen Zeitstrahl, sondern auch in die Evangeliumschronologie. Allein von ihrer Position im Text und ihrer inhaltlichen Vernetzung erhält die Interaktionssequenz ihre chronologische Bestimmung, denn weder am Anfang in V. 1 noch am Ende in V. 54 werden explizite temporale Brücken zum Vorhergehenden oder Nachfolgenden geschlagen. Die nachfolgende Salbungsszene beginnt mit einer kardinalen Zeitangabe, die wiederum keine direkte temporale Verbindung zum Vorhergehenden herstellt. Dem Erzählverlauf zufolge spielt sich das Geschehen rund um Auferweckung und Salbung irgendwann zwischen dem Besuch Jesu auf dem Tempelweihfest bzw. dem Rückzug an den Wirkungsort Johannes des Täufers (Joh 10,40–42) und seiner erneuten Reise nach Jerusalem zum Passafest ab (Joh 12,12). Je nachdem, ob die Feste ganz selbstverständlich demselben Jahreskreis zugeordnet werden, 186 ergibt das auf einem absoluten Zeitstrahl einen Zeitraum von 3 ½ Monaten (oder eben mehreren Jahren), in welchem sich die Ereignisse in Bethanien abgespielt haben könnten. 187 Für die Zuordnung in 186
Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 20. Blickt man auf das ganze Evangelium, ergeben die joh. Festerwähnungen kein vollständiges, linear-chronologisches Gefüge. Mit den drei genannten Passafesten (Joh 2,13.23/6,4/11,55; 12;1.12.20; 18,28.39; 19,14.31.42) könnte man das Evangeliumsgeschehen insgesamt auf ein Zeitintervall von zwei bis drei Jahren festlegen (vgl. GOURGUES, The Superimposition of Symbolic Time and Real Time in the Gospel of John, 2008, 54), allerdings wird an keiner Stelle eindeutig bestätigt, dass es sich um die Passafeste dreier aufeinanderfolgender Jahre handelt. M. Daise kommt auf Basis von literarkritischen Erwägungen zu dem Schluss, dass die Geschehnisse des vierten Evangeliums ursprünglich lediglich eine Jahresspanne umfassen (vgl. DAISE, Feasts in John, 2007, 171). Die übrigen Feste werden lose im textlichen Zwischenraum verteilt (Laubhüttenfest in Joh 7,2.10f.14.37; Tempelweihfest in Joh 10,22), manche Feste werden nicht einmal namentlich bestimmt (Joh 5,1). Ob diese drei Jahreskreise abbilden, ist für das joh. Zeitverständnis wohl eher zweitrangig. Wichtig ist vielmehr sowohl deren symbolisch-theologische als auch ethisch-pragmatische 187
3. Joh 11,1–12,11
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dasselbe Jahr sprechen v.a. inhaltliche Brücken nach vorne und hinten, nämlich dass die Jünger Jesu sich auf einen nicht weit zurückliegenden (νῦν) Steinigungsversuch der Juden beziehen, der sich mit dem Bericht vom Tempelweihfest deckt (Joh 10,31) und dass der unmittelbar an die Auferweckung anschließende Todesbeschluss (V. 53) in V. 57 i.S. eines Ausführungsplans konkretisiert wird und den Hintergrund für die Spekulationen der Juden kurz vor dem Passafest bildet (V. 55f.). Ein bestimmtes Jahr, in dem beide Feste stattgefunden haben, ist aus diesen Angaben jedoch nicht zu erheben. Dafür kann allenfalls noch der innerszenische Verweis auf das Jahr des Hohepriesters Kaiaphas zu Rate gezogen werden. Jedoch verhelfen auch diese Angaben in Kombination mit den rahmenden Zeitangaben nur zur Eingrenzung einer groben Zeitspanne: die zehnjährige Amtsperiode des Hohepriesters, in die eines der Passafeste zu Jesu späteren Lebensjahren gefallen ist. Die Auferweckung des Lazarus hat damit irgendwann zwischen Tempelweihfest und Passafest in irgendeinem Jahr der Amtszeit Kaiaphasʼ stattgefunden. Auch die Ortsangaben verzichten auf eindeutige Zuordenbarkeit. Das Bethanien der Geschwister ist offensichtlich nicht identisch mit dem gleichnamigen Wirkungsort Johannes des Täufers, an dem sich Jesus nach dem Tempelweihfest befindet (Joh 10,40; vgl. Joh 1,28). Weil sich der Aufenthaltsbericht in Joh 10,40–42 und der Einsatz der Handlungssequenz in V. 1 aber völlig unverbunden gegenüberstehen, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, dass Martha und Maria die Nachricht über die Krankheit ihres Bruders tatsächlich vom einen Bethanien ins andere Bethanien senden. Wo Jesus sich zu dem genauen Zeitpunkt befindet, als jemand krank war (V. 1), wird von der Erzählung nicht explizit gemacht. Der Ort, an dem Jesus vor der Abreise nach Bethanien bleibt (V. 6), ist ebenso wie der Ort, an dem er vor dem Gang zum Grab bleibt (V. 30), namenlos (τόπος). Eine mögliche Erklärung für die Atopie beider Szenen liefert die Qualifizierung von Zeit und Raum. Es geht der Erzählung nicht um eine chrono-logische Abfolge der Reiseziele, also nicht um die abstrakt-metrische Logik von Raum und Zeit i.S. eines Messinstruments, sondern um die rechte Zeit, den Kairos, sowohl für das Bleiben an einem Ort als auch für das
Bedeutung. Letztere äußert sich bspw. in den Graden normativer Verpflichtung, die die unterschiedlichen Figuren der rituellen Zeit gegenüber empfinden (vgl. Jesus und die Brüder in Joh 7,2–10). Zudem werden die Feste in ihrer raum-zeitlichen Beschaffenheit immer wieder zu Triebfedern des Konflikts (vgl. CARTER, Festivals, cultural intertextuality, and the Gospel of John’s rhetoric of distance, 2011, 4). Die Atmosphäre des Jerusalemer Tempelweihfestes lässt die Juden bspw. auf die Klärung der Messiasfrage drängen, denn die jüdische Messiaserwartung war ursprünglich einmal sehr eng mit dem Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels verbunden (vgl. Mi 4,1;5,1). Die Juden nutzen außerdem die institutionelle Zeit des Festes als Anlass, um Jesus ein Selbstbekenntnis coram publico (παρρησίᾳ) abzugewinnen. Einen ähnlichen festzeitlichen Ausgangspunkt haben auch die Konflikte rund um die Sabbatheiligungen (Joh 5,1–8; 9,1–41).
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V. Textanalyse
Aufbrechen zu einem anderen Ort.188 Es ist vorstellbar, dass das Spiel mit den Ortsnamen einer kalkulierten temporal-topologischen Irritation dient, mithilfe derer die Frage nach dem genauen Aufenthaltsort und der genauen Zeit ad absurdum geführt werden soll. Die exakten Distanzen zwischen den Aufenthaltsorten spielen für das Geschehen offensichtlich keine Rolle, weshalb hier auf Spekulationen über die Reisezeit von Bethanien jenseits des Jordans zum Bethanien der Geschwister bewusst verzichtet wird. Der Erzählung geht es nicht um eine schlichte geographische Information. 189 Es geht ihr nicht darum zu zeigen, dass Jesus aufgrund der Distanz gar nicht vor dem Tod seines Freundes hätte eintreffen können,190 sondern darum, dass Jesus es schlichtweg nicht tat und der eingetretene Tod damit in augenfälliger Diskrepanz zu seiner vielversprechenden Prognose in V. 4 steht. 191 Genau diese Diskrepanz führt schließlich auch zum Vorwurf der beiden Schwestern. Ferner wird durch die Ort- und Zeitangaben eine enge symbolische Verbindung zwischen Auferstehung als Neugeburt und Taufe bzw. der Glaubensausbreitung hergestellt. Trotz Todesgefahr bricht Jesus nach seinem Aufenthalt am Taufort des Johannes, dem Bethanien jenseits des Jordans, wieder ins judäische Bethanien auf, um eine Neugeburt nicht nur aus Wasser und Geist, sondern eine leibliche Neugeburt zu veranlassen. Das anschließende Passafest fügt ein Motiv-Panorama aus Schutzzeichen, Befreiung, Schlachtopfer und Jerusalemer Konflikttopologie hinzu, in das die konkreten Interaktionen kurz vor dem Fest eingezeichnet werden. Die Pendelbewegung zwischen loser chronologischer Perikopenfolge und deren kausaler bzw. motivischer Verknüpfung „lädt den Rezipienten zu einer nachlaufenden Mitautorenschaft ein“ 192 . Er muss selbst entscheiden, ob die kausale, dramaturgische, geographische, temporale oder semantisch-symbolische Verknüpfung der jeweiligen Perikope im Vordergrund des Interesses stehen sollte. Die Erzählinstrumente, die dem Leser bei der Entscheidung assistieren, werden im dritten Analyseschritt noch genauer inspiziert. Szeneninterne Zeitangaben Bekräftigt wird die Mitautorenschaft durch den spezifischen Einsatz von Zeittermini innerhalb der Erzähleinheit. Die Handlungen und Bewegungen der unterschiedlichen Figuren werden durch einen temporalen Faden aus überwiegend ordinalen Zeitangaben miteinander verstrickt, dessen genauer Anfang und dessen genaues Ende jedoch im Dunkeln bleibt. Der Fokus liegt auf Abfolge, Syn- oder Desynchronisierung und dem besonderen Rhythmus der Ereignisse 188
Vgl. GOURGUES, The Superimposition of Symbolic Time and Real Time in the Gospel of John, 2008, 54. 189 Vgl. ZIMMERMANN, The Believers Across the Jordan, 2013, 454. 190 So die Einschätzung von FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 201. 191 Vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 511. 192 KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 76.
3. Joh 11,1–12,11
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innerhalb der Szene. Fünfmal wird in dieser Szene eine Sinneswahrnehmung statt mit einfacher Partizipialkonstruktion durch ein ὡς (teilweise in Verbindung mit τότε) und damit explizit temporal mit einer darauf reagierenden Handlung verknüpft.193 Demgegenüber nimmt die Konjunktion οὖν in der Szene 23-mal die ambivalente Zwischenposition zwischen Konsekutiv- und Temporalkonjunktion ein. Nicht nur die Sinneswahrnehmung und deren Handlungsimpulse, sondern auch die Sprechhandlungen und Reisestationen Jesu werden in der Interaktionssequenz raffiniert temporalisiert. Charakteristisch für das JohEv ist die Zählung von Tagen, häufig ohne einen wirklichen Ausgangs- oder Endpunkt der Zählung mitzuliefern: Jesus bleibt δύο ἡμέρας, als er von der Krankheit erfährt (V. 6); der Tote liegt τέσσαρας ἤδη ἡμέρας im Grab, bis Jesus zu ihm kommt (V. 17); πρὸ ἓξ ἡμερῶν τοῦ πάσχα kommt Jesus nach Bethanien (Joh 12,1);194 oder aber die Verwendung eines bestimmten Tages als Markierungspunkt in Ermangelung einer kalendarischen Einordnung: ἀπ᾽ ἐκείνης οὖν τῆς ἡμέρας beschlossen sie, ihn zu töten (Joh 11,53); εἰς τὴν ἡμέραν τοῦ ἐνταφιασμοῦ μου (Joh 12,7) soll Maria das Salböl bewahren. 195 Beiden Strategien der Zeitstrukturierung − der Tageszählung und der demonstrativen Indexierung − geht es
193 Vgl. Joh 11,6: Als Jesus vom Tod Lazari hört, bleibt er zwei Tage; Joh 11,20: Als Martha vom Kommen Jesu hört, geht sie ihm entgegen; Joh 11,29: Als Maria vom Ruf Jesu hört, steht sie (schnell) auf; Joh 11,32: Als Maria kommt und Jesus sieht, fällt sie auf die Knie; Joh 11,33: Als Jesus sie weinen sieht, ergrimmt er. Über das gesamte Evangelium verteilt, taucht sonst nur noch an 14 weiteren Stellen ein ὡς als Temporalkonjunktion auf (Joh 2,9.23; 4,1.40; 6,12.16; 7,10; 8,7; 12,35f.; 18,6; 19,33; 20,11; 21,9), niemals aber in dieser Dichte innerhalb einer Perikope. 194 Vgl. die Mehrung der Tageszeitangaben am Beginn des JohEvs (Joh 1,29.35.43: τῇ ἐπαύριον; Joh 2,1: τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ) und in der Passions- und Auferstehungserzählung (Joh 12,1: πρὸ ἓξ ἡμερῶν τοῦ πάσχα; Joh 12,12: τῇ ἐπαύριον; Joh 13,1: πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα; Joh 18,28: ἦν δὲ πρωΐ [...] ἵνα μὴ μιανθῶσιν ἀλλὰ φάγωσιν τὸ πάσχα; Joh 19,14: ἦν δὲ παρασκευὴ τοῦ πάσχα; Joh 19,31: ἐπεὶ παρασκευὴ ἦν; Joh 20,19: οὔσης οὖν ὀψίας τῇ ἡμέρᾳ ἐκείνῃ τῇ μιᾷ σαββάτων; Joh 20,1: τῇ δὲ μιᾷ τῶν σαββάτων; Joh 20,26: μεθ᾽ ἡμέρας ὀκτὼ πάλιν ἦσαν ἔσω οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ). Die Angaben der Tage weisen auf ein besonderes Interesse an der raum-zeitlichen Konkretion der ersten sowie der letzten Ereignisse während Jesu Wirkzeit auf Erden hin. Dennoch lässt sich aus den Angaben nur mit Mühe eine genaue Wochenfolge rekonstruieren (mehr dazu in der Analyse von Joh 2,1–11[12] unter 1.4.1 Semantik). 195 Vgl. auch Joh 1,39: ἔμειναν τὴν ἡμέραν ἐκείνην; Joh 5,9/9,14: ἦν δὲ σάββατον ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρα; Joh 15,4: ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ γνώσεσθε; Joh 16,23: ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ ἐμὲ οὐκ ἐρωτήσετε οὐδέν; Joh 16,26: ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ ἐν τῷ ὀνόματί μου αἰτήσεσθε.
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V. Textanalyse
nicht um absolute Datierungen, 196 sondern um die Darstellung der Aktionsdauer oder des Aktionszeitpunktes in Relation zu anderen Ereignissen und damit um szenische Zeitrelationen.197 Zu Beginn bleibt Jesus also zwei Tage an dem Ort (evtl. Bethanien jenseits des Jordans), an dem er die Nachricht von der Krankheit des Lazarus erhält (V. 6). Auch späterhin ist Jesus, als Maria zu ihm kommt, noch (ἔτι) an dem Ort, wo Martha ihm begegnet ist, und noch nicht in das Dorf gegangen (V. 30). Durch diese raumzeitliche Anordnung wird eine doppelte Verzögerung, ein noch nicht (οὔπω V. 30) des Kommens Jesu zu seinem geliebten Freund Lazarus inszeniert (vgl. die noch nicht gekommene Stunde in Joh 2,4). In Kontrast dazu steht die Darstellung der Handlungen der Schwestern, die dreimal, teilweise eilig auf ihn zukommen (V. 3.20.29). Marias Reaktion wird durch die ordinalen Geschwindigkeitsadverbien ταχύ und ταχέως (V. 29.31) mit dem von Martha übermittelten Ruf Jesu in einen temporalen Zusammenhang gestellt. Erst war Maria im Haus sitzen geblieben (V. 20), nun aber, da Jesus sie ruft, steht sie schnell auf und geht zu ihm. Das Temporaladverb steht in gewisser narrativer und semantischer Parallelität zur späteren Auferstehung des Lazarus. Auch Lazarus reagiert unmittelbar auf den Ruf Jesu und es gibt eine auffällige Übereinstimmung der gebrauchten Lexeme (ἐξέρχομαι κτλ.; φωνέω κτλ.; [ἀνίστημι κτλ./ἐγείρω κτλ.]) in beiden Szenen. Als Jesus nach den beiden Verzögerungen schließlich am Grab ankommt, richtet er seine Augen nach oben (V. 40: ἄνω), statt sich nun endlich Lazarus in der Tiefe der Höhle zuzuwenden. Die Dankbarkeit Jesu gegenüber seinem Vater zeigt einerseits, dass Jesus selbst eigentlich gar nicht an irgendwelche Zeitrhythmen gebunden wäre ‒ das πάντοτε der göttlichen Erhörung (V. 42) macht die dreimalige Verzögerung möglich ‒, er aber um des Glaubens der Jünger willen zu einer ganz bestimmten Zeit handelt ‒ das Interaktionsziel von Glaube und (V. 15.42) und Offenbarung der δόξα τοῦ θεου (V. 4) macht die Verzögerungen also 196 In diesem Sinne bemerkt U. Schnelle in Bezug auf den Passahinweis in Joh 12,1: „Die Zeitangabe sperrt sich gegen eine genaue Festlegung, denn sowohl der Ausgangspunkt der Zählung als auch die Anzahl der zu zählenden Tage sind ungewiß.“ (SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, 1998, 198) Ebenso ist die Zeitspanne zwischen Benachrichtigung Jesu über die Krankheit Lazari und seiner Auferweckung für M. Theobald von keiner konkreten ‒ man möchte hinzufügen: historischen ‒ Bedeutung (vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 713). 197 Die joh. Zählung der Stunden (Joh 1,39; 4,6; 4,52; 18,28; 19,14) folgt einem ähnlichen Motiv. Sowohl die Zeitangaben der Stunden als auch der Tage können viererlei Funktion übernehmen: Zusätzlich zum (1) relationalen Bezug zwischen Ereignissen und Handlungen, können sie (2) die raum-zeitliche Konkretheit der Ereignisse betonen, (3) dramaturgische Signalwirkung ausüben oder (4) die Ereignisse mit symbolisch-theologischer Bedeutung anreichern. Diese Funktionen müssen nicht zwangsläufig alternativ zueinander stehen, sondern können durchaus auch kumulativ zur Wirkung gelangen (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 204).
3. Joh 11,1–12,11
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nötig. Zum anderen verstärkt das πάντοτε den Kontrast zwischen Jesu Zeitorientierung und Marthas Glauben an eine abstrakt zukünftige Auferstehung am letzten Tage (V. 24).198 Bei den Sprechhandlungen Jesu mit den Jüngern und später mit Martha fällt ein eigenwilliger Rhythmus aus Handlungsaufforderung, Einwand, Erklärung und Einwilligung auf, der im ersten Durchgang mit den Jüngern mithilfe verschiedener ordinaler Zeitangaben strukturiert und intensiviert wird. Die Zeitangaben markieren den Beginn des Gesprächs und haben Signalwirkung für rhetorische Sprünge zwischen astronomischer (V. 9), biologischer (V. 11) und biographischer (V. 14) Zeitebene:199 ἔπειτα μετὰ τοῦτο Handlungsadhortativ (V. 7: ἄγωμεν) → Einwand der Jünger (V. 8) Erklärung Jesu (V. 9f.) Ταῦτα εἶπεν, καὶ μετὰ τοῦτο Handlungsankündigung (V. 11: πορεύομαι) → Einwand der Jünger (V. 12) τότε οὖν Erklärung Jesu παρρησίᾳ + Handlungsadhortativ (ἄγωμεν V. 14f.) → Einwilligung und Handlungsadhortativ des Thomas (V. 16: ἄγωμεν) Ein ähnlicher Rhythmus ist im Gespräch mit Martha zu erkennen, allerdings ohne Intensivierung durch Zeitadverbien: Implizite Handlungsankündigung (V. 23: ἀναστήσεται ὁ ἀδελφός σου) → Einwand Marthas (V. 24) Erklärung Jesu (V. 25f.) Implizite Handlungsaufforderung (πιστεύεις τοῦτο;) → Einwilligung Marthas (ναὶ κύριε, ἐγὼ πεπίστευκα) Und erneut kurz vor der Auferweckung: Handlungsaufforderung (V. 39: ἄρατε τὸν λίθον) → Einwand Marthas (V. 39b) Erklärung Jesu (V. 40) → Einwilligung der Menge (V. 41: ἦραν οὖν τὸν λίθον) Die Verzögerungen sind sowohl räumlicher als auch hermeneutischer Art.
198
Mehr dazu unter 3.4.2 Grammatik. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass diese Grenzmarker auch den (imaginierten) Redepausen Jesu in der tatsächlichen Sprechsituation nachempfunden sind. 199
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V. Textanalyse
Aufschlussreich ist auch ein Blick auf das Zeitvorkommen innerhalb der wörtlichen Reden. Dabei fällt auf, dass die Redeakte Jesu zwar mittels Zeitadverbien fein gegliedert und aufeinander bezogen werden, innerhalb seiner Redebeiträge aber leidglich nominale Zeitbezüge vorkommen, d.h. solche, die sich zwar mitunter auf eine metrische Größe beziehen, diese aber metaphorisch auf einen anderen (teilweise ebenso temporalen) Sachverhalt übertragen oder aber auf abstrakte Größen hinweisen, die lediglich einen indirekten Vergangenheits- oder Zukunftsbezug aufweisen: die anfängliche Voraussage der Krankheit nicht zum Tode, sondern zur Herrlichkeit (V. 4); die Rede von Tag und Nacht als Metapher für Jesu Zeit auf Erden als Licht der Welt (V. 9f.); der Bezug auf den Schlaf/Wach-Rhythmus als Metapher für Tod und Auferstehung (V. 11); die mit dem gegenwärtigen Leben verwobenen Zukunftsgrößen von Auferstehung und Ewigkeit (V. 25f.), die die unterschiedlichen Zeithorizonte des Auferstehungsglaubens Jesu und Marthas kontrastieren (während Martha die Auferstehung am letzten Tag, also am Ende der Zeit erwartet, spricht Jesus von einer präsentischen Auferstehung); das weder kardinal noch ordinal einzuordnende πάντοτε der göttlichen Erhörung (V. 42; Joh 12,8). Darüber hinaus setzt Jesus diese abstrakt oder implizit zeitbezogenen Größen in ein konditionales und damit zumindest mittelbar zeitliches Verhältnis mit dem Glauben (V. 25f.40): Jeder, der glaubt oder mit anderen Worten: Erst wenn man glaubt, wird man leben, auch wenn man stirbt, und bis in Ewigkeit nicht sterben. Erst wenn man glaubt, wird man die Herrlichkeit Gottes sehen. Einzig in Erwiderung auf Judas bezieht er sich direkt auf eine tatsächliche biographische Größe, nämlich sein eigenes Begräbnis (Joh 12,7) bzw. seine begrenzte Zeit im Beisein der Jünger (Joh 12,8). Das πάντοτέ/οὐ πάντοτε dient hier der Gegenüberstellung von Prinzipien- oder deontologischer Ethik und Situationsethik und als Prolepse auf den Tod Jesu. In Jesu Befehl an Lazarus (Λάζαρε, δεῦρο ἔξω) wird keinerlei Verb, sondern werden zwei Adverbien gebraucht, von denen eines sowohl topologische als auch temporale Bedeutung tragen kann: δεῦρο | hierher oder bis jetzt.200 Durch diese Doppelsemantik wird nicht nur ein räumlicher, sondern auch ein temporaler Wendepunkt markiert. Die Redeanteile der übrigen Figuren sind demgegenüber mit Zeitangaben bespickt, die überwiegend vom konkreten Standpunkt des jeweiligen Sprechers abhängig (deiktisch) sind. Die Jünger sprechen von der νῦν drohenden Gefahr und vom erneuten (πάλιν) Hinübergehen (V. 8), wodurch die gegenwärtige Situation Jesu in unmittelbare Beziehung zum letzten Judäa- bzw. Jerusalemaufenthalt gesetzt und die Vorbehalte der Jünger gegen einen Aufbruch verstärkt werden; Martha weiß νῦν über die Wirksamkeit Jesu Fürbitte (V. 22), womit sie ihr gegenwärtiges Wissen in eine temporale und mehr noch kausale Relation zu den jüngsten Ereignissen setzt, etwa dem (Zuspät-)Kommen Jesu; sie informiert Jesus darüber, dass Lazarus schon (ἤδη in V. 39) stinkt, wodurch sie noch einmal 200
Vgl. BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 61988, 353.
3. Joh 11,1–12,11
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Jesu Verspätung betont, ähnlich wie die Vorwürfe der Schwestern in V. 21.32. Durch die überwiegend deiktisch-ordinalen Zeitangaben wird die Kohärenz, d.h. der Bedeutungszusammenhang der unterschiedlichen Ereignisse und Handlungen, einer bloßen Kohäsion, d.h. dem formalen, chronikalischen Textzusammenhang, vorgezogen.201 Der wiederholte Hinweis auf den vierten Todestag des Lazarus (V. 17.39) dient der Betonung des Todes gegenüber dem Zustand einer bloßen Krankheit. Er unterstreicht im Verbunde mit der Angabe über das zweitägige Bleiben Jesu (V. 6) die Diskrepanz zwischen Jesu Prophezeiung in V. 4 und der tatsächlich eingetroffenen Todessituation. Man fragt sich, wie man ausgerechnet angesichts dieser Fehlprognose Jesu zum Glauben kommen soll (V. 15)? Der Glaube fordert offensichtlich eine neuartige Auseinandersetzung mit Tod und Krankheit, Leben und Gesundung. Der temporale Bezug zum Passafest (V. 55; Joh 12,1) und zu Jesu Begräbnis (V. 7) intensivieren die Verzahnung von Tod und Auferstehung Jesu und Lazari. 3.4.2 Grammatik Nicht untypisch für eine Erzählung ist die Dominanz von Aoristformen gegenüber den übrigen Tempora in dieser Szene.202 In den narrativen Passagen wechseln sich die erzählenden Vordergrundtempora Aorist und Präsens Historicum ab. Der Wechsel zwischen Aorist und Präsens insbesondere bei den verba dicendi hat, abgesehen vom vergegenwärtigen Effekt des Präsens Historicums, keinen erkennbaren inhaltlichen Grund. 203 Um den durativen Aspekt von Handlungen oder Zuständen zu betonen (z.B. ἔμεινεν in V. 6.54; ἐζήτουν in V. 8.56; ἔμελλεν in V. 51; Joh 12,6; περιεπάτει in V. 54) oder um die Szene zu reliefieren (u.a. in V. 2.5.6.20.29.36.37.38.47.51.54.56; Joh 12,2.6.11; sowie beim Gebrauch von εἶμι), wird das Imperfekt oder auch das Plusquamperfekt
201
Vgl. ESTES, The Temporal Mechanics of the Fourth Gospel, 2008, 168. Kohärenz kommt von. lat. cohaerere im Partizip Präsens Aktiv, Kohäsion vom gleichen Verb im Partizip Perfekt Passiv. Kohärenz besteht demnach, wenn die Ereignisse aktiv bzw. inhärent oder qualitativ miteinander zusammenhängen, Kohäsion hingegen, wenn sie nachträglich, von außen miteinander in Zusammenhang gebracht werden (etwa durch eine chronologische Einordnung auf einem quantifizierbaren Zeitstrahl). Eben diese Kohärenzleistung des vierten Evangeliums nimmt auch J. Frey wahr, wenn er feststellt, dass „den temporalen Notizen im 4. Evangelium [...] in vielen Fällen weniger eine ‚historische‘ als vielmehr eine dramaturgische Funktion“ zukommt (vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 176). 202 Die Erzähleinheit umfasst 171 Verben im Indikativ, davon 70 Verben im Aorist, 46 Verben im Präsens, 33 Verben im Imperfekt (davon 14-mal εἰμί), sieben Verben im Perfekt (davon dreimal οἶδα), sechs Verben im Plusquamperfekt (von λέγω/zweimal von ἔρχομαι/οἶδα/περιδέω/δίδωμι), sowie neun Verben im Futur. 203 Vgl. a.a.O., 83.
318
V. Textanalyse
(V. 13.19.30.44.57) bemüht.204 Der gelegentliche Gebrauch von λέγω im Imperfekt (V. 36.47.56) statt wie üblich im Präsens Historicum oder Aorist lässt sich mit dem Subjekt der imperfektiven Rede erklären. Immer ist es eine Gruppe von Juden (oder Ältesten und Pharisäern), die eingeleitet durch das verbum dicendi im Imperfekt Ansichten austauschen oder Fragen diskutieren. Der Tempusgebrauch ist deshalb nicht nur auf das Stilmittel der Tempusvariation zurückzuführen,205 sondern erweckt den Eindruck eines iterativen Gemurmels, das nicht so sehr aus der ergebnisorientierten, ereignisexternen Perspektive des Aorist, sondern aus der ereignisinternen und zugleich hintergrundinformativen Perspektive des Imperfekts auf den Sprechakt schaut.206 Perfektformen werden v.a. dann gebraucht, wenn die Erzählung sich auf ein Geschehen bezieht, dass vor der gegenwärtigen Erzählzeit stattgefunden hat und/oder wenn das statische Moment des auf eine Handlung folgenden anhaltenden Zustandes bzw. Resultates betont werden soll.207 Die im Kapitelvergleich eher durchschnittliche Frequenz von Futurformen trozt hoher Verszahl (insgesamt neunmal in V. 12.22–25.40.48 und keinmal in Joh 12,1–11) 208 wird durch 204 Zur Relief-Funktion des griech. Imperativs vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 244–249; WEINRICH, Tempus, 62001, 281; FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 89–93. 205 Vgl. a.a.O., 77. 206 Zu Äußerungen einer unbestimmten Mehrheit im Imperfekt vgl. BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 182001, 270 (§ 329). 207 In Joh 11,11f. ist Lazarus entschlafen, er befindet sich immer noch im Zustand des Schlafes; in Joh 11,13 rekurriert der Erzähler auf die abgeschlossene Rede Jesu zu den Jüngern zwei Verse zuvor; in Joh 11,19 wird das Kommen der Juden zu den Schwestern dem Kommen Jesu zeitlich vorgeordnet, sie verweilen nun immer noch dort; in Joh 11,30 wird das Nicht-Kommen Jesu nach Bethanien der Begegnung mit Maria vorgeordnet, er verweilt immer noch vor Bethanien; in Joh 11,34 fragt Jesus nach dem abgeschlossenen Begräbnis, an dem der Leichnam Lazari sich immer noch befindet; in Joh 11,42 wusste Jesus schon, bevor er gesprochen hat (worauf auch immer sich εἶπον bezieht), dass der Vater ihn jederzeit erhört; in Joh 11,44 ist Lazarus bereits bei der Bestattung in Leinen gewickelt worden und ist es auch jetzt noch; in Joh 11,57: haben die Priester schon vor dem Kommen der Festpilger Maßnahmen zur Gefangennahme getroffen, ihr Gebot gilt auch jetzt noch. 208 Die 171 Futurformen des JohEvs verteilen sich wie folgt auf die einzelnen Kapitel: Kapitel Treffer Anzahl der Kapitel Treffer Anzahl der Verse/Kapitel Verse/Kapitel Joh 16 31 33 Joh 12 8 50 Joh 14 24 31 Joh 15 7 27 Joh 6 14 71 Joh 21 5 25 Joh 8 12 59 Joh 1 4 51 Joh 13 12 38 Joh 2 3 25 Joh 7 9 53 Joh 19 3 42 Joh 10 9 42 Joh 3 2 36 Joh 11 9 57 Joh 9 1 41 Joh 4 8 54 Joh 17 1 26
3. Joh 11,1–12,11
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andere prospektive Formen wie futurische Periphrasen (μέλλειν + Infinitiv Präsens in V. 51; Joh 12,4), Präsens pro futuro (πορεύομαι in V. 11), Imperative (V. 34.39.44) bzw. Adhortative (V. 7.15.16), Aoriste der Konditional- (V. 12.22.25.26.40.48.50.57) und Finalsätze (V. 11,4.11.15.16.31.42.50.52.53. 55.57; Joh 12,7.9.10) oder teilweise deliberative Konjunktiven (V. 56) kompensiert.209 Im Gegensatz zu anderen Passagen des Evangeliums greifen die beiden Handlungssequenzen (Kap. 11 und 12) vermehrt auf Partizipialkonstruktionen zurück,210 die verschiedene Handlungen vor-, nach- und beiordnen, statt sie in einer absoluten Zeitstufe zuzuordnen.211 Aufmerken lässt die Kombination aus dem Adverb νῦν als Gegenwartsmarker und dem Imperfekt von ζητέω in V. 8. Damit wird nicht allein die durative Aktionsart des Strebens der Juden bekräftigt und an dessen Manifestationen in der Vergangenheit (die Steinigungsversuche auf dem Tempelweihfest) erinnert, sondern die anhaltende Bedrohung, die von diesem Streben ausgeht, findet besondere Betonung. In V. 20 fällt ein schneller Tempuswechsel von Aorist zu Präsens zu Aorist auf. Die Erklärung dafür ist simpel: Das präsentische ἔρχομαι ist auf seine Stellung im abhängigen ὅτι-Satz (als Martha hörte, dass Jesus kommt) zurückzu-
Joh 5 8 46 Joh 20 1 31 Statistik entnommen aus BibleWorks 9. Software for Biblical Exegesis & Research, 2013. 209 Zu alternativen prospektiven Formen neben dem Futurtempus vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 124–128. 210 Die insgesamt 486 Partizipien des JohEvs verteilen sich wie folgt auf die einzelnen Kapitel: Anzahl der Anzahl der Verse/KaKapitel Treffer Kapitel Treffer Verse/Kapitel pitel Joh 6 59 71 Joh 7 21 53 Joh 1 37 51 Joh 9 21 41 Joh 11 37 57 Joh 13 21 38 Joh 12 35 50 Joh 21 18 25 Joh 5 33 46 Joh 2 11 25 Joh 19 28 42 Joh 14 10 31 Joh 8 27 59 Joh 10 9 42 Joh 20 27 31 Joh 15 6 27 Joh 4 26 54 Joh 17 6 26 Joh 3 25 36 Joh 16 5 33 Joh 18 24 40 Statistik entnommen aus BibleWorks 9. Software for Biblical Exegesis & Research, 2013. 211 Mehr zur temporaldeiktischen Funktion von Partizipien im methodischen Teil IV unter 2.2.4 Grammatik: Verbalform: b) Temporaldeixis im Indikativ und Partizip; vgl. ferner BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 182001, 277f. (§ 339); BORNEMANN/RISCH, Grammatik, 21978, 220–228.
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V. Textanalyse
führen. Zu dem Zeitpunkt, als Martha von Jesu Kommen hört und ihm entgegengeht, befindet er sich wohl auch noch in Bewegung, deshalb steht an dieser Stelle das vollzugsfokussierte Präsens von ἔρχομαι anstelle eines summarischen Aorists. Dieser Tempusgebrauch passt auch zum folgenden Verb ὑπαντάω (entgegenkommen/begegnen). Die Tempuswahl unterstreicht die Unmittelbarkeit und Eifrigkeit der Reaktion Marthas auf das Kommen Jesu im Gegensatz zu Marias Sitzen(-bleiben). In V. 21 finden wir einen Irrealis der Vergangenheit (mit Imperfekt in der Protasis und Aorist in der Apodosis)212 als Hinweis auf Marthas Bedauern über die irreversiblen Folgen Jesu Zuspätkommens (Wenn du hier gewesen wärest, wäre er nicht gestorben). Umso mehr erstaunt das νῦν οἶδα | jetzt weiß ich im Folgevers. Martha weiß nun: Was/so viel Jesus Gott bittet, wird Gott ihm geben. Das νῦν stellt ihr Wissen in Zusammenhang mit Jesu jüngstem Kommen. Weiß sie es auch jetzt (noch) oder jetzt erst? Der Futurgebrauch von Geben (δώσει) weist auf Marthas generelle Zukunftshoffnung hin und hat einen direktiven Unterton.213 Sie könnte auch abstrakt-generell sagen: Was du Gott bittest, gibt er dir.214 Sie sagt aber: Wie viel du Gott bittest, wird er dir geben. Marthas Rede wird somit in eine eigentümliche Spannung zwischen einem Bedauern über die irreversiblen Folgen der Vergangenheit und einer abstrakt bleibenden Zukunftshoffnung gestellt. Im folgenden Redegang (V. 25–27) werden Futur, Präsens oder Vergangenheitstempora immer wieder alternierend aufeinander bezogen. Jesus bestätigt Marthas Zukunftshoffnung. Lazarus wird auferstehen (ἀναστήσεται). Als Martha dies aber auf eine abstrakte Zukunft, den letzten Tag, hindeuten will, reagiert Jesus mit dem klar präsentischen ἐγώ εἰμι-Wort. Zukunft und Gegenwart werden von ihm in zwei Konditionalsätzen zum Thema Leben und Sterben miteinander verschränkt. Wer glaubt (Partizip Präsens), wird, auch wenn er stirbt (Konjunktiv Aorist), leben (Futur). Jeder, der lebt und glaubt (Partizip Präsens), stirbt nicht (Konjunktiv Aorist) bis in Ewigkeit (Zukunftsbezug). Die conditio ist jeweils im Präsens gehalten, während die Folge im Futur steht oder um einen Zukunftsbezug erweitert ist. Im Rückverweis auf dieses Gespräch in V. 40 steht anstelle des Partizip Präsens ein Konjunktiv Aorist (ἐὰν πιστεύσῃς)
212 Zur grammatischen Zusammensetzung eines Irrealis der Vergangenheit vgl. BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 182001, 290f. (§ 360). 213 Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 425. 214 Eine präsentische Apodosis in Marthas Aussage würde jedenfalls zu Jesu Rede zum Vater in Joh 11,42 passen, wo es heißt, der Vater erhöre ihn immer/jederzeit (πάντοτέ μου ἀκούεις).
3. Joh 11,1–12,11
321
in der Protasis, wohl weil in dieser Situation am Grab Marthas Unglaube bereits offenkundig wird,215 die Folge ist aber ebenfalls im Futur gehalten (ὄψῃ τὴν δόξαν τοῦ θεοῦ). Das Resultat der Glaubensconditio darf nicht so verstanden werden, dass der Tod das Leben zu einem gewissen zukünftigen Zeitpunkt ablöst (nämlich dem Zeitpunkt des leiblichen Sterbens) oder umgekehrt das Leben den Tod (zum Zeitpunkt des fernen letzten Tages). Vielmehr ist das Leben im Glaubenden jederzeit gegenwärtig: εἰς τὸν αἰῶνα. Zukunft und Gegenwart werden auf diese Weise auch durch die Tempusverwendung eng miteinander verschränkt. Dabei wird v.a. das Durative des vom Glauben qualifizierten Lebens hervorgehoben, anstatt einen punktuellen Zeitpunkt für Sterben, Auferstehen und eschatologisches Heil festzulegen. Auffällig ist ferner der Tempusgebrauch in Marthas abschließender Antwort (V. 27). Ihr Glaube an Christus als den in die Welt Kommenden (ἔρχομαι im Partizip Präsens) wird ins Perfekt versetzt (πεπίστευκα). Dies lässt unterschiedliche Schlüsse zu. In manchen Übersetzungen wird das Perfekt inchoativ, also als Beginn eines Zustands verstanden. Martha ist zum Glauben gekommen. 216 Dafür fehlt aber sowohl die grammatikalische 217 als auch eine semantische Grundlage und das, obwohl der Text sonst so häufig auf ein νῦν zur Präzisierung der temporalen Bezüge zurückgreift (vgl. V. 8). Ein weiterer Erklärungsversuch erkennt im Perfektgebrauch eine Intensivierung von Marthas Glaubensbekenntnis (sog. intense perfect). 218 M.E. legt der sonstige Perfektgebrauch von πιστεύω im JohEv aber einen anderen Befund nahe. Fünf von sechs Perfektbelegen von πιστεύω stehen im Kontext einer kritischen Reflexion des jeweiligen Glaubens. Auf das petrinische Glaubensbekenntnis in Wir-Form (Joh 6,69) folgt die Ankündigung des Verrats durch einen der Jünger. In Joh 8,31 wird der Glaube der Juden thematisiert, der, wie der Fortgang der Rede zeigt, nicht von Dauer ist. Schließlich wird in Joh 20,29 auf den Kleinglauben des Thomas verwiesen. Auch in Joh 3,18 wird πιστεύω im Perfekt von Jesus in einem negativen Zusammenhang, nämlich dem Nicht-Glauben erwähnt. Die einzige positive Verwendung von πιστεύω im Perfekt in Joh 16,27 kann wiederum auf die temporale Stereoskopie der Abschiedsreden zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund legt sich die Vermutung nahe, dass das Perfekt auch in hiesigem Kontext dazu dient, das Perfektive, also Abgeschlossene und 215
ἐάν mit Konjunktiv Aorist bezeichnet das „unter Umständen zu Erwartende“, das jedoch vom gegenwärtigen Standpunkt der Gegenwart abweicht (vgl. BLASS/DEBRUNNER/REHKOPF, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 182001, 303 [§ 373]). 216 Eine inchoative Übersetzung findet sich z.B. im Münchner Neuen Testament (1998). 217 Eine ingressive oder inchoative Bedeutung trägt das Perfekt nur im Verbund mit statischen Verben, wozu πιστεύω m.E. nicht (wie etwa εἰμί) gerechnet werden kann (vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 118). 218 So v.a. bei FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 104; DERS., Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, 2000, 436.
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V. Textanalyse
Statische an Marthas Glauben zu betonen (in diese Richtung weisen auch die Wissensbekundungen in V. 22.24).219 Marthas Antwort wird so in eindeutigen Kontrast zur präsentisch formulierten Frage Jesu: πιστεύεις τοῦτο; (V. 26) gestellt. Kurz zuvor hatte sie schon einmal den Gegenwartsbezug Jesu missverstanden und von der zukünftigen Auferstehung gesprochen (V. 24), und wenn sie in V. 39 Jesus vom Grab abhalten will, bestätigt sie damit ihren limitierten Glauben. Der Perfektgebrauch von πιστεύω kann demnach als kritische Darstellung von Marthas Glauben gelesen werden, einem Glauben, der sich zwar auf Jesus als den gegenwärtig (in die Welt) kommenden Messias richtet, von dessen gegenwärtiger Anwesenheit Martha ihrer Schwester im Anschluss auch berichtet (V. 28: διδάσκαλος πάρεστιν), daraus aber keinerlei ethisch-praktische Schlüsse für Handlungsentscheidungen bzw. -bewertungen in der Gegenwart zieht, sondern weiterhin allenfalls an abstrakten Zukunftshoffnungen festhält und sich gleichzeitig von den verpassten Gelegenheiten der Vergangenheit zurückhalten lässt. Mit Frey übereinstimmend ist der perfektive Glaube Marthas jedoch nicht i.S. einer generellen Kritik an der von ihr in V. 24 geäußerten futurisch-eschatologischen Hoffnung zu werten, sondern vielmehr als Kritik an einem fehlenden Bezug und einer fehlenden Konsequenzialisierung dieser futurischen Hoffnung für die Gegenwart.220 In der Salbungsperikope lassen sich keine Auffälligkeiten und Disharmonien im Tempusgebrauch erkennen. Wohl aber Nuancierungen, die z.B. Vordergrund- und Hintergrundhandlungen voneinander absetzen (Joh 12,3f.: Marthas Tischdienst und Lazarus’ Anwesenheit am Tisch stehen im Imperfekt, während Marias Salbung durch den Aorist in den Vordergrund rückt) oder Judas als ‚chronischen‘ Dieb durch ereignisinterne Imperfekt- und Präsensverwendung bei der Beschreibung in Joh 12,6 darstellen. 3.4.3 Chronologik In Joh 11,1–12,11 findet sich nahezu kein Vers, der nicht auf explizite oder implizite Weise auf das Vergangene Bezug nimmt oder kommende, evangeliumsinterne oder -externe Ereignisse anklingen lässt. Bei einer Handlungseinheit, die eine Mittelstellung innerhalb des Plotgefüges einnimmt, muss dieses engmaschige Netz von Vor- und Rückverweisen nicht verwundern. Joh 11,1– 12,11 übernimmt Scharnierfunktion zwischen den beiden großen Gliederungsteilen des Evangeliums, die von einschlägigen Kommentaren und Einleitungsliteratur vorgeschlagen werden: Jesu Offenbarung vor der Welt (Joh 1– 219 Das Perfekt vereint nach B. Fanning dreierlei Bedeutungselemente: das aktionsartliche Stative, die temporale Vorzeitigkeit und den Aspekt des summarischen Blickpunktes (vgl. FANNING, Verbal Aspect in New Testament Greek, 1990, 119). Das πεπίστευκα der Martha drückt also ihren gegenwärtigen Zustand aus, der sich als Abschluss einer Gemütsbewegung versteht. 220 Vgl. FREY, Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, 2000, 456.
3. Joh 11,1–12,11
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12) und Jesu Offenbarung vor den Seinen (Joh 1–13).221 Ein Scharnier ist aber nur dann funktionstüchtig, wenn es mit beiden Seiten wirksam verbunden ist. Diese Verbindung stellen die vielen Vor- und Rückverweise her. Der Entropieindex der vielfältigen Anachronien variiert stark.222 Während die analeptische Prolepse auf die Salbung (V. 2) und die synchrone Prolepse auf den Grabesbesuch (V. 17)223 die Chronologik spürbar detonieren lassen, zielen andere ‚sanftere‘ Vor- und Rückbezüge, teilweise nur motivischer Art, meist innerhalb der Figurenrede als Erinnerung oder Antizipation, darauf ab, den Spannungsaufbau zu fördern, und setzen mit sorgfältiger Hand besondere Aufmerksamkeitsmarker. Jede Abweichung von der linearen Chronologie in hiesiger Analyse aufzugreifen, wäre weder in jedem Einzelfall aufschlussreich, noch in der Gesamtschau besonders erhellend. Es werden deshalb im Folgenden nur solche Anachronien betrachtet, die entweder einen besonders hohen Entropiewert aufweisen, d.h. den linearen Lesevorgang besonders stören oder von besonderer inhaltlicher Relevanz sind. Gleich in der Exposition der Handlungseinheit wird der Leser einer Anachronie ausgesetzt, die eine hohe Sprengkraft für die chronologische Linearität birgt. Sie berichtet von einem der Perikopenfolge nach noch ausstehenden Geschehen im Vergangenheitstempus, um in diesem Zuge die beiden Ereignisse in Bethanien in einen engen Zusammenhang zu stellen. In V. 2 wird mit jeglichen Regeln der Chronologik gebrochen. Es wird im summarischen Aorist von einem externen, zeitlich distanzierten Standpunkt auf das gesamte Geschehen von Auferweckung und Salbung geblickt, um zu demonstrieren, dass der thematischen Stringenz der Erzählsequenz in diesem Moment mehr Bedeutung zukommt als der linear-temporalen. In dieser komplexen Einheit mündet des Einen Lebensgewinn mitten im Tode in des Anderen Tötungsbeschluss (V. 53) und Todesvorbereitung (Salbung in Joh 12,3-7), die wiederum zu des Einen Tötungsbeschluss führt (Joh 12,10). Bei der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus ist nicht nur durch die analeptische Prolepse auf die Salbung in V. 2 von Anfang an auch der drohende Tod Jesu mit im Blickpunkt, sondern auch durch den lebendig vorgetragenen Vorbehalt der Jünger (V. 8: νῦν ἐζήτουν σε λιθάσαι), der Ana- und Prolepse zugleich ist; durch die Bereitschaft des Thomas, mit ihm zu sterben (V. 221
Zur Einteilung des Evangeliums in zwei Phasen der Offenbarung vgl. u.a. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, 62007, 515f.; DORMEYER, Einführung in die Theologie des Neuen Testaments, 2010, 129; SCHENKE, JohannesKommentar [elektronische Neuauflage], 2014, 9; THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 27–29. 222 Mehr zum Entropieindex der Anachronien im methodischen Teil IV unter 2.2.5 Chronologik: Zeit-Räume im Text, b) Reihenfolge. 223 Als analeptische Prolepse wird eine Prolepse bezeichnet, die etwas dem Erzählverlauf noch Zukünftiges vorwegnimmt, als wäre es schon geschehen. Als synchrone Prolepse wird eine Prolepse bezeichnet, die etwas dem Erzählverlauf noch Zukünftiges vorwegnimmt als würde es gerade geschehen.
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V. Textanalyse
16); durch die Heimlichkeit der schwesterlichen Nachrichtenübermittlung (V. 28), die die Angst vor dem Gefangennahme andeutet; durch die prophetischen Aussagen des Kaiaphas über das Sterben für (V. 50) und Jesu Deutung der Salbung auf den Tag seines Begräbnisses hin (Joh 12,7). Zusätzlich wird die Verweisstruktur auf den Tod Jesu motivisch und semantisch über die Nähe Bethaniens zu Jerusalem (V. 18), über die Lexeme ἄγω κτλ.; πορεύομαι κτλ.; ἔρχομαι κτλ.; δοξάζω κτλ. und über die analoge Beschreibung des Grabes Lazari zu Jesu Grab (V. 38.44; vgl. Joh 19,40; 20,1) verdichtet. Bestätigung findet die Todeserwartung im Rahmen dieser Erzähleinheit schließlich im Tötungsbeschluss in Joh V. 53 und dem Gebot zur Auslieferung in V. 57. Den Todesprolepsen stehen die zahlreichen Vorverweise auf den erst in V. 43f. definitiv zur Erfüllung kommenden konkreten Interaktionszweck gegenüber, nämlich die Gesundung bzw. Auferweckung des Lazarus. Im Vergleich zu den übrigen Wundergeschichten des JohEvs fällt die Umkehrung der Erzählreihenfolge auf. Die Wundertat geschieht nicht zu Beginn, sondern am Ende der Erzählung. 224 Spannung erzeugen bis dahin eine Reihe von inhaltlichen, repetitiven Prolepsen auf die Gesundung/Auferweckung in figuraler Rede, z.B. indem Jesus seiner Zuversicht Ausdruck verleiht, dass die Krankheit Lazari nicht zum Tode führe (V. 4); indem er ankündigt, ihn aufzuwecken (V. 11); indem die Jünger von seiner Rettung sprechen (V. 12); indem Jesus Martha die Auferstehung ihres Bruders prophezeit (V. 23) oder in abstrakten Worten von einem Leben im/trotz Sterben(s) spricht (V. 25). Hinzu treten die (motivischen) Analepsen auf die Blindenheilung, die ein positives Ende auch dieses Krankheitsfalles in Aussicht stellen (V. [9f.] 37).225 Auch an Beginn und Ende der Salbungsperikope wird nochmal analeptisch auf die Auferweckung des Lazarus verwiesen (Joh 12,1.9). Sodann wird mehrfach betont, dass zwischen Jesus und den Geschwistern ein inniges Verhältnis besteht (V. 3.5.11.36), das ein helfendes Eingreifen Jesu erhoffen lässt. Angesichts des drohenden Todes seines Freundes irritiert Jesu verzögerndes Verhalten ebenso wie seine Freude über sein eigenes Fernbleiben (V. 15), die sich erst kurz vor dem Gang zum Grab in Trauer verwandelt (V. 35). In diesem Verweiszusammenhang steht natürlich auch die irritierende Prolepse in V. 17, die in synchroner Diktion vom Gang Jesu zum Grab berichtet 224
Der strukturelle Vergleich mit den übrigen joh. Wunderberichten offenbart eine besondere Spannungstechnik der Auferweckungserzählung. Während die vorangegangenen Erzählungen jeweils mit der Wundergeschichte beginnen und erst anschließend in den Reden Jesu ihr theologischen Potenzial entfalten, leiten die Dialoge Jesu mit den Jüngern, Martha, Maria und den Juden in der Lazaruserzählung zur Wunderhandlung über. Hier führt der Glaube zum Leben und nicht das wiedergewonnene Leben zum Glauben (vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 414). 225 Auch die Tag/Nacht-Metaphorik in Jesu Rede mit den Jüngern (Joh 11,9f.) erinnert an die Blindenheilung, denn auch dort rechtfertigt Jesus seine Handlungspläne mit dem Hinweis auf die Legitimität bzw. Notwendigkeit des Wirkens am Tage statt in der Nacht (Joh 9,4).
3. Joh 11,1–12,11
325
und über den viertägigen Todeszustand des Lazarus aufklärt, lange bevor Jesus in V. 38 tatsächlich zum Grab geht. Ebenso wie das Trösten der Juden, das an zwei Stellen eigens erwähnt wird (V. 19.31), soll die Prolepse zum Grab den definitiven Todeszustand des Lazarus betonen, den die Schwestern Jesus zusätzlich noch vorhalten (V. 21.32.39b). Interaktionszweck (Lebensgewinn des Lazarus) und Interaktionshemmnis (Todesgefahr Jesu) werden so auf gleiche Weise pro-vociert und darüber hinaus in einen engen thematischen Zusammenhang, nämlich dem der ablaufenden biographischen Zeit, gestellt. Doch es bleibt nicht bei diesen beiden handlungsleitenden Kräften. Die für das JohEv nicht unübliche, in diesem Kapitel aber besonders frequentierte Thematisierung des Glaubens (insgesamt neunmal in V. 15.25–27.40.42.45.48; Joh 12,11) bestimmt die Handlungssequenz zusätzlich zum drohenden Tod Jesu und zur Rettung des Lazarus. Der Glaube, zunächst nur in Final- und Konditionalgefügen (V. 15.25.26.40.42), später auch im Indikativ bei den Juden festgestellt (V. 45; Joh 12,11), kann als eigentliches, ideelles Interaktionsziel bezeichnet werden, das sowohl der Gefahr des drohenden Todes Jesu als auch der schlichten Bewahrung des Lebens des Lazarus übergeordnet wird. Er ist der Grund für Jesu Verzögerungen, der Grund für die Auferweckungstat und schließlich auch der Grund für den Tötungsbeschluss der Juden (V. 48–53). Konkreter Interaktionszweck, konkrete Interaktionshemmnis und ideelles Interaktionsziel fallen am Ende in eins, so wie Glauben, Sterben und Leben in Jesu abstrakten Konditionalsätzen schon einander zugeordnet worden waren (V. 25f.). Die Auferweckung des Lazarus zum Leben und mehr noch der Glaube der Juden aufgrund dieses Zeichens provozieren den Tötungsbeschluss Jesu. Aber nicht nur Pro-, Analepsen und Repetitionen moderieren die Zeit dieser Interaktionseinheit, auch die eine oder andere Achronie lässt die Figuren (oder Leser) bisweilen aus dem Ereignisstrom auftauchen und in einen zeitlichen Schwebezustand treten. Sie sind zugleich auf die Zeit bezogen und durch Metaphorik oder Abstraktion dem unmittelbaren Fluss der Zeit und dem Ereignisverlauf ein Stück weit enthoben. Achrone Aussagen finden sich in dieser Handlungseinheit vornehmlich in Jesu Munde, wenn er gnomisch-metaphorisch vom Wandeln bei Tag und bei Nacht spricht V. 9f., sich in V. 25f. ganz grundsätzlich und zeitunabhängig mit Auferstehung und Leben gleichsetzt oder seine Erhörung in V. 42 durch seinen Vater mit einem πάντοτε (ent-)terminiert. Auch Kaiaphas trifft eine zugleich achrone und proleptische Aussage, wenn er in V. 50 in abstrakt-generellem Ton über den Nutzen des Opfers eines Menschen für das Volk referiert und damit Jesu Tod vorwegnimmt. Diese Aussage kann er aber, so der Erzählerkommentar, nur treffen, weil er in diesem Jahr Hohepriester war (V. 51). Auffällig ist ferner, dass die Prolepsen, die nicht in Erfüllung gehen, i.e. unzuverlässige Prolepsen, nur im Munde der Figuren im Umfeld Jesu, nicht aber in Jesu Munde erklingen. Die Ältesten und Pharisäer prognostizieren den
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V. Textanalyse
Verlust von Land und Leuten, wenn sie Jesus gewähren lassen (V. 48). Später wird sich jedoch herausstellen, dass der römische Präfekt keine Schuld an Jesus finden kann (Joh 18,39; 19,4.6) und er sich vor den Juden fürchtet (Joh 19,8), nicht umgekehrt. Sie müssen den römischen Präfekten erst darauf hinweisen, dass Jesus eine Gefahr für den Kaiser sein könnte. Und auch Marthas Vorausblick auf eine Auferstehung ihres Bruders am letzten Tage (V. 24) erweist sich als insbesondere zeitlich fehlgeleitet, denn ihr Bruder wird noch am selben Tage auferstehen. Thomas kündigt an, mit seinem Rabbi sterben zu wollen (V. 16), und wird später ausgerechnet derjenige sein, der Jesu Kreuzigungsmale sehen muss (20,25), um seine Auferstehung zu glauben. Und auch die Juden kurz vor dem Passafest können das Kommende nicht recht voraussehen, denn ihre rhetorische Frage in V. 56 macht deutlich, dass sie ein Kommen Jesu zum Fest für sehr unwahrscheinlich halten. Die Handlungseinheit ist von einem Wechsel aus summarischen Expositionen und Hintergrunderzählungen, Pausen durch erklärende Erzählerkommentare (V. 2.5.13.18.38b.45.51; Joh 12,4b.6) und überwiegend dialogischen Szenen bestimmt. Szenisch, d.h. in approximativer Deckung von Erzählzeit und erzählter Zeit, sind die Begegnungen zwischen Jesus und seinen Jüngern (V. 7–16, abgesehen von dem Erzählerkommentar in V. 13), zwischen Jesus und Martha (V. 20–27.39f.), zwischen Jesus und seinem Vater (V. 41–42) und zwischen den Ältesten und Pharisäern (V. 47–50) gestaltet. Was die Richtung der Handlungseinheit betrifft, so ist zumindest die Erzählung von der Auferweckung (V. 1–44) final motiviert, insofern immer wieder die Krankheit und der Tod betont werden, aber auch die bevorstehende Heilung/Auferstehung vorweggenommen wird. Diese Tendenz wird durch die hohe Frequenz an Finalsätzen bestätigt (V. 4.11.15.16.19.31.37.42.56.52.53. 55.57; Joh 12,7.9.10). 3.4.4 Auswertung Die vielen ordinalen, innerszenischen Zeitbestimmungen positionieren die einzelnen Handlungen und Ereignisse nicht auf einem historischen Zeitstrahl, sondern sind dazu geeignet, die Ereignisse bzw. Interaktionen dynamisch zueinander in ein temporales Gefüge einzuordnen und konkret wirken zu lassen. Insofern haben sie per se mehr das konkrete Verhalten der Figuren in der Zeit im Blick als ein abstraktes Verfließen der Zeit. Durch die ordinalen Zeitangaben wird ein besonderer Rhythmus des Verhaltens Jesu offenbar: die mehrfache Verzögerung im Prozess der Rettung des Lazarus (V .6: ἔμεινεν ἐν ᾧ ἦν τόπῳ δύο ἡμέρας; V. 30: ἦν ἔτι ἐν τῷ τόπῳ; [V. 35: ἐδάκρυσεν ὁ Ἰησοῦς]; V. 41f.: Gebet zum Vater), die aufgrund des πάντοτε der göttlichen Erhörung möglich, aufgrund des ideellen Interaktionsziels ἵνα πιστεύσητε in V. 15 (V. 42) nötig ist. Gleichzeitig wird man nicht behaupten können, dass es der Erzählung in dieser Handlungssequenz nur auf eine dynamische Binnenrelation der Ereignisse ankäme. Dass die Erzählung nicht vollständig auf kardinale, rahmende
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Zeitangaben verzichtet, ist weiterer Beleg für ihre Insistenz auf raum-zeitliche Konkretion der Ereignisse, ohne sich dabei jedoch einer chronikalischen Logik unterordnen zu wollen. Darüber hinaus können bestimmte Temporalsemanteme auch symbolisch-theologische Relevanz haben (insbesondere das Passafest; das zweitägige Bleiben an einem Ort; der letzte Tag und die Ewigkeit; das Sieben-Tage-Schema, das πάλιν der jesuanischen Jerusalemreisen etc.). Vergleicht man die Zeitangaben innerhalb der wörtlichen Rede miteinander, wird deutlich, dass Jesus sich vornehmlich nominaler Zeitangaben bedient, also solcher Zeitreferenzen, die nur auf den ersten Blick mit einer metrischen Zeitgröße verbunden sind, sich aber eigentlich metaphorisch oder abstrakt-generell auf die Zeit als menschliche Wahrnehmungskategorie beziehen. Lediglich eine kardinal-deiktische Zeitreferenz bemüht Jesus, nämlich auf den Tag seiner Beerdigung, auf den hin die konkreten Handlungen, in diesem Falle die Salbung durch Maria (Joh 12,7f.), ausgerichtet werden. Die übrigen Figuren gebrauchen indessen vor allen Dingen ordinal-deiktische Zeitangaben. Das gibt Aufschluss über ihre tiefe Verwurzelung in den alltäglichen Zeitrhythmen und -strukturen, in denen sie offenbar ganz aufgehen. Diese Zeitverwurzelung resultiert wiederum in den vielen unzuverlässigen Prolepsen der Figuren (V. 16.24.48.56). Durch die spezielle Tempusverwendung werden die Handlungen der Interaktionssequenz mit besonderer Temporaldeixis versehen und in ihren Aktionsmodi nuanciert. Besondere Bedeutung erwächst der Gegenüberstellung von Marthas abstrakter Zukunftshoffnung (V. 22: δώσει; V. 24: ἀναστήσεται), die in einem statisch-perfektivem Glauben (V. 27 πεπίστευκα) gründet auf der einen Seite und Jesu präsentisches ἐγώ εἰμι ἡ ἀνάστασις καὶ ἡ ζωη (V. 25), seine präsentische Frage nach dem Glauben (V. 26: πιστεύεις τοῦτο) und die enge Verschränkung von Futur-, Präsens- und Vergangenheitsformen in seinen Glaubensconditionalia in V. 25f. auf der anderen Seite. Durch die Tempuswahl wird das Durative des vom Glauben qualifizierten Lebens den punktuellen Vorstellungen von Tod, Auferstehung und letztem Tag gegenübergestellt. Die Zeitdimensionen werden nicht als voneinander abgetrennte Bereiche des menschlichen Lebens vorgestellt, sondern auf das engste miteinander verbunden, wobei der Gegenwart durch die präsentischen Spitzenaussagen Jesu zentrale Bedeutung verliehen wird. Durch die chronologischen Feinheiten der Erzählsequenz werden wiederum konkreter Interaktionszweck: der Lebensgewinn des Lazarus (V. 4.11.12.23. 25.37), und Interaktionshemmnis: die Todesgefahr in Judäa (V. 16.18. 50.53.57), durch verschiedene Anachronien pro-vociert und Leben und Tod auf diese Weise besonders eng aufeinander bezogen. Die entscheidende Hintergrundfolie bildet aber das ideelle Interaktionsziel: der Glaube, der in verschiedenen Final- und Konditionalsätzen immer wieder mit Tod und Leben in Beziehung gesetzt wird (V. 15.25–27.40.42.45.48; Joh 12,11). Der Glaube ist nicht nur in der Lazarusgeschichte eng mit der Auferstehung und Lebensgabe
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V. Textanalyse
verbunden, sondern stellt noch weitreichender den Grund für den Beschluss der Juden, Jesus zu töten, während der Tod Jesu am Kreuz wiederum die Lebensrettung aller bedeutet (V. 51f.; vgl. auch die soteriologischen Aussagen in Joh 10,11.15.17f.). Auch in der Salbungserzählung werden Tod und Leben eng miteinander verbunden, so die Salbungsgerüche den Todesgerüchen des toten Lazarus gegenüberstehen und die Salbung und Abtrocknung der Füße nicht nur den andrängenden Tod Jesu und sein Begräbnis vorausdeuten, sondern eben auch dessen Auferstehung. Die wohlriechenden Düfte zeigen schon jetzt an, dass sich kein Totengeruch ausbreiten wird können. 226 3.5 Zeitwahrnehmung und -bewertung 3.5.1 Erwartungen Extratextuelle Erwartungen Innerhalb der Lazaruserzählung ist es v.a. das Verhalten Jesu gegenüber seinen Freunden, das eindeutig kontraintuitiv inszeniert wird. Die innige Beziehung Jesu zu Lazarus und seinen Schwestern wird wiederholt betont (V. 3.5.11.36), auch die Prolepse auf die Salbung durch Maria ruft das Bild einer vertrauten, gar intimen Beziehung auf. Auf das besorgte Hilfsgesuch der Freundinnen reagiert Jesus allerdings mit einem distanzierenden Rätselwort: Diese Krankheit ist nicht zum Tode (V. 4). Auf die Besorgnis der Schwestern geht er mit keiner besonderen Sensibilität und Empathie ein. Er wartet noch zwei Tage ab, bis er zu ihnen nach Bethanien reist. In V. 15 drückt er sogar seine Freude (χαίρω) darüber aus, nicht bei dem Kranken und seinen Schwestern gewesen zu sein. An keinem Punkt der Unterredung mit den Jüngern drückt er ein Bedauern über den Tod seines Freundes aus. Umso deutlicher tritt demgegenüber sein Stimmungsumschwung während der Begegnung mit Maria und den Juden hervor (V. 33.35). Er ergrimmt in seinem Geist, ist in sich selbst aufgewühlt, schließlich weint er sogar. Im Rahmen der Interaktionsanalyse war bereits die These zur Diskussion gestellt worden, Jesus sei an dieser Stelle v.a. ob seines eigenen Verhaltens erschüttert und in sich ergrimmt. Erst jetzt erfährt er das Ausmaß seines Handelns in all seiner Konkretion. Er empfindet tiefe Trauer über den unwiderruflichen Tod seines Freundes, und als er zum Grab geführt werden soll, weint er. Damit wird die Brutalität des Todes, die Kompromisslosigkeit der menschlichen Sterblichkeit ernst genommen, ohne sie vorschnell unter dem souveränen Handeln Jesu zu nivellieren. Menschliche Zeitabhängigkeit und göttliche Zeitsouveränität alternieren in dieser Erzählung. Beide Dimensionen werden in der Figur Jesu zusammengebracht und laufen auf ihren Kulminationspunkt in der Stunde der Kreuzigung zu. 226
Vgl. GIBLIN, Mary’s Anointing for Jesus’ Burial-Resurrection (John 12:1–8), 1992, 560–564.
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Durch den Bruch mit konventionellen Freundschaftsvorstellungen erlebt der Leser die Verzögerung der Reise Jesu nach Bethanien umso intensiver. Dass Jesus die Krankheit des Lazarus von Anfang an in den Zusammenhang des Todes stellt (V. 4), verstärkt die Erwartungshaltung des Lesers, Jesu müsse doch helfend eingreifen, damit seine Prognose auch wahr würde. Ebenso unverständlich erscheint es, dass er den Jüngern nicht sofort seinen tatsächlichen Aufbruchsgrund und seine Pläne mitteilt, um sie zu einem schnellen Handeln zu motivieren. Denn ihr Einwand und Hinweis auf die Gefahr in Judäa ist überzeugend und bedarf der guten Gegengründe. Der Leser ist durch die Redegänge auf unterschiedlichen Ebenen zunächst dazu angehalten, den Reflexionsgang der Jünger mitzugehen und wird hinsichtlich der erwarteten Problemlösung weiter ‚hingehalten‘. Die Rückkehr Jesu von Ephraim nach Bethanien (Joh 12,1), wo ihm aufgrund des Tötungsbeschlusses unmittelbare Gefahr droht, widerspricht (wie schon der erste Aufbruch nach Bethanien) jeder vernünftigen Erwartung. Auch wenn die genauen zeitlichen Abläufe im Dunklen bleiben, erscheint die Rückkehr mindestens verfrüht. Die Wogen haben sich – das kann man an dem Wirbel um Lazarus und den Tötungsbeschluss gegen Lazarus (Joh 12,9–11) sehen – noch nicht geglättet. Jesu Handeln widerspricht einem ganz basalen menschlichen Überlebensinteresse. In der Salbungserzählung ist v.a. das Verhalten Marias ungewöhnlich, insofern ihre Mithilfe beim Tischdienst ihrer Schwester wesentlich näherläge als das besondere Salbungsritual. Ihr Handeln zeichnet sich in besonderer Weise gegenüber dem ihrer Geschwister ab und ist in doppelter Weise unzeitgemäß. Einerseits, weil die Salbung bzw. Fußwaschung üblicherweise vor der Mahlzeit, nicht währenddessen stattfindet, 227 andererseits aber auch vor dem Hintergrund der Deutung ihrer Handlung durch Jesus: Sie ‚bewahre‘ das Öl für das künftige Begräbnis. Im Rahmen dieser Deutung nimmt sie mit ihrer Salbung eine Handlung vorweg, die nach linearem Zeitverständnis auch erst später, nämlich zum Zeitpunkt des Begräbnis, hätte passieren können. Jesu Reaktion wiederum, die Verteidigung Marias gegen den Vorwurf des Judas, ist insofern unerwartet, als verschwenderischer Luxus und Geldgier auf Kosten der armen Bevölkerung im Rahmen der Sozialkritik der atl. Propheten auf das Schärfste verurteilt werden228 und auch unabhängig der atl. Vorlage einer Vorbildfigur wie Jesus intuitiv eher das Eintreten für Armenvorsorge als die Verschwendung teuren Nardenöls zu eigenen Gunsten zugetraut würde. Die Priorisierung seiner eigenen (unzeitgemäßen) Salbung über die Notwendigkeit der Armenfürsorge wird als kontraintuitive Reaktion auf das Verhalten Marias 227 Vgl. AUGENSTEIN, Das Liebesgebot, 1993, 29; THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 766; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 549. 228 Vgl. u.a. Am 2,6f.; 4,1; 5,11; 6,4–6LXX: καὶ τὰ πρῶτα μύρα χριόμενοι καὶ οὐκ ἔπασχον οὐδὲν ἐπὶ τῇ συντριβῇ Ιωσηφ; Am 8,4–6; Jes 1,23; 10,2.
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und Judas’ empfunden, strenggenommen allerdings nur, wenn man die niederen Beweggründe des Judas nicht kennen und die Situation des drohenden Todes ausklammern würde; strenggenommen auch nur dann, wenn man den Liebesdienst (gemilut ḥasadim) nicht der materiellen Wohltätigkeit (ẓedakah) überordnet.229 Intertextuelle Erwartungen Weder Totenauferweckungen noch Salbungshandlungen sind eine Originalität des vierten Evangeliums. Potenzielle Skripts für den Evangeliumsleser lassen sich aus ähnlichen und doch varianten Erzählungen von Auferweckungen und Salbungen beziehen und i.S. von Erwartungserfüllung und Erwartungsbruch auswerten. Auferweckungserzählungen Bevor ein intertextueller Vergleich angestellt wird, lohnt sich zunächst eine Unterscheidung zwischen Texten über eine allgemeine eschatologische Totenauferstehung am letzten Tag und Berichten über die Wiederbelebung von Toten.230 V.a. Letztere sind hinsichtlich der Erwartung des Lesers an den Narrationsverlauf der Lazaruserzählung von Interesse. Auf jene Erzählberichte werden wir uns im Folgenden auch konzentrieren. Aus atl. Tradition kennen wir die Auferweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta durch Elija in 1 Kön 17,17–24. Im Vergleich zu dieser Erzählung fällt vor allen Dingen der Kontrast zwischen der vorwurfsvollen Anrufung Gottes durch Elija (1 Kön 17,20) und dem dankenden Wort Jesu in seiner Rede mit dem Vater (Joh 11,41f.) ins Auge. Während Elija Gott für sein vergangenes Unheilshandeln anklagt, wirkt Jesu Wort gegenwartsgewiss (sein Vater erhöre ihn πάντοτε | jederzeit) und verdeutlicht die alleinige Ausrichtung Jesu Zeitverhaltens am ἵνα δοξασθῇ und ἵνα πιστεύσωσιν anstelle von anderen äußeren Zeitabläufen. Er fordert von Gott nicht, sich nun endlich einmal der Notleidenden anzunehmen, die die Menschen vor ihm zur Klage bringen, sondern weiß um das Immer der göttlichen Erhörung. Er wählt nur um des Glaubens der Menge willen diesen genauen Zeitpunkt seines Auferweckungshandelns. In 2 Kön 4,18–37 ist ein weiterer Wiederbelebungsbericht zu finden. Insbesondere in der Haltung der Mutter des toten Knaben lassen sich Analogien zur Lazaruserzählung entdecken. Wie Maria fällt die Mutter des toten Knaben dem heilenden Elischa zu Füßen, sowohl vor als auch nach der Heilung (2 Kön 4,27.37; vgl. Joh 11,32; 12,3). Ähnlich wie Judas in der Salbungsperikope versucht der Diener Gehasi, die Mutter von dieser überschwänglichen Geste abzubringen, während Elischa für sie Partei ergreift (2 Kön 4,27). Die Beziehung 229 Mehr zur talmudischen Unterscheidung zwischen Liebesdienst und Wohltätigkeit s.o. unter 3.3.1 Interaktionsanalyse. 230 Vgl. ZIMMERMANN, Vorbild im Sterben und Leben (Die Auferweckung des Lazarus), 2013, 753.
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Elischas zu der Schunemiterin erscheint auf den ersten Blick vergleichbar mit der Beziehung Jesu zu den Schwestern. Elischa erfährt Unterstützung von ihr, kann bei ihr wohnen und essen. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die Schunemiterin mit ihrem Hilfsgesuch so lange nicht von Elischa ablässt, bis er ihr zu ihrem bereits gestorbenen Sohn folgt. Sie lässt keine Verzögerung zu, nicht wie Maria und Martha, deren Lage ja insofern drängender ist, als zum Zeitpunkt ihrer Nachricht noch die Möglichkeit der Heilung zu Lebzeiten besteht. Von den Schwestern Lazari wird keine direkte Reaktion auf Jesu Zurückweisung in Joh 11,4 berichtet, sie bitten nicht weiter. Ferner differiert der relativ langwierige und v.a. körperlich-intime Auferweckungsprozess des Jungen durch Elischa (2 Kön 4,33–35) vom kurzen, effektvollen Auferstehungsbefehl Jesu an Lazarus (Joh 11,43). Die zeitlichen Abläufe beider Erzählungen weichen also an entscheidenden Punkten voneinander ab. Das Kind der Schunemiterin ist bereits tot. Von Elischa ist von Anfang an eine Wiederbelebung und keine Heilung gefordert und er folgt der bittenden Frau unmittelbar. Jesus handelt deutlich zeitsouveräner. Er nimmt sich die Zeit, die in Hinblick auf den Glauben der Jünger und der Juden nötig ist. Die Auferweckung selbst dauert wesentlich kürzer, ist aber ebenso effektiv. Es geht der Erzählung nicht um das Zeichen an sich, sondern darum, dass durch das kairotische Eingreifen Jesu alle zum Glauben kommen und erkennen, dass er der Sohn Gottes ist, der nicht nur Kranke heilen, sondern die gewohnten Rhythmen von Leben und Tod durchbrechen kann, wann immer (πάντοτε) er will. Aus den altorientalischen Nachbarkulturen sind vornehmlich Mythen über die Tötung und Wiederbelebung von Göttern bekannt, wie bspw. des sumerischen Gottes Dumuzi, des ugaritischen Baal, des syrisch-phönizischen Adonis und der phrygischen Attis. Diese Mythen standen wohl eher in ätiologischer Funktion für den Jahreszeitenzyklus 231 und weisen keine bemerkenswerten Ähnlichkeiten zur Lazaruserzählung auf. Schon eher stellt die pagane Umwelt einen mit der joh. Erzählung vergleichbaren Narrationsstoff bereit, z.B. in den Erzählungen rund um den Wanderphilosophen und Wundertäter Apollonios von Tyana, dessen Wirkzeit wie die Jesu in das 1. Jh. n. Chr. fällt. Von ihm wird berichtet, er habe ein Mädchen, das kurz nach seiner Hochzeit verstorben war, durch eine Berührung und „einige unverständliche Worte“ auferweckt, allerdings nur „aus dem Scheintode“. Ob er dabei „noch einen Lebensfunken an ihr wahrgenommen hatte […] oder ob er das erloschene Leben wieder zurückgerufen und angefacht hatte“, vermag der Berichterstatter Philostratos von Lemnos allerdings nicht zu ergründen (Philostr Ap 4,45).232 Die Betonung des viertägigen Todeszustandes des Lazarus (Joh 11,17.39) spricht demgegenüber eine ganz andere Sprache.
231 232
Vgl. AHN, Art. Auferstehung, 1998, 213. Zitiert nach WAGNER, NTAK 5, 2008, 213f.
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V. Textanalyse
Ähnlich wie die Erzählung von Apollonios wird auch bei der Auferweckung der Tochter des Jaïrus, eine synopt. Parallele in Mk 5,21–34, der Tod relativiert. Das Mädchen ist nicht gestorben, es schläft nur, spricht Jesus dort zu den Trauernden, woraufhin die Menge ihn auslacht. Zwar spricht Jesus auch in Joh 11,11 in euphemistischer Weise vom Schlaf des Lazarus, aber nicht ohne wenig später in aller Offenheit (παρρησίᾳ) dessen definitiven Tod zu betonen (V. 14), der in der Folge auf narrativer Ebene nachdrücklich durch Hinweis auf den Todeszeitpunkt und den Leichengeruch (V. 39) bestätigt wird. Mit den beruhigenden Worten des synopt. Jesus bei der Auferweckung der Tochter des Jaïrus im Hinterkopf erscheinen das Abwarten des joh. Jesu bis zum tatsächlichen Eintritt des Todes Lazari und sein Ergrimmen und Weinen angesichts des definitiven Todes umso langwieriger und gravierender. Überschneidungen mit der Apollonioserzählung weist auch eine andere synopt. Erzählung auf: die Auferweckung des Jünglings zu Nain in Lk 7,11–17. Das Setting des Trauerzugs und die unverzügliche Abwendung der Trauer durch Jesus verbinden die lk. mit der Apollonioserzählung. Die Auferweckung (wenn sie denn überhaupt eine ist) geschieht jeweils durch Berührung und ein kurzes Wort.233 Im Anschluss werden der/die Tote mit dem trauernden Familienmitglied wiedervereint. Die lk. Erzählung berichtet schließlich noch von einem Bekenntnis der Menge zu Jesus als gottgesandten Propheten. Gerade diese offenbarungstheologische Konsequenz des Wunderhandelns kontrastiert die Folgen Jesu Handelns in der Lazaruserzählung. Hier kommen zwar auch einige der umherstehenden Juden zum Glauben, es wird aber nicht genauer spezifiziert, welche Rolle oder welches Amt sie Jesus zuschreiben (V. 45; Joh 12,11). Darüber hinaus wird die Nachricht nicht im ganzen Gebiet verbreitet (vgl. Lk 7,17), sondern ausgerechnet an die Pharisäer herangetragen, sodass es zum dramatischen Tötungsbeschluss durch die jüdischen Oberen kommt. Die Verlängerung der Lebenszeit des Einen leitet das Ende der Lebenszeit des Anderen ein. Jesu einzigartiges Zeitverhalten führt das Ende seiner Zeit auf Erden herbei ‒ ein Zeitkontrast, der als Spezifikum der joh. Lazaruserzählung gerade im Vergleich mit synopt. Paralleltexten deutlich wahrgenommen werden kann. Es ist bemerkenswert, dass der Tötungsplan durch das Synhedrion im JohEv nicht wie bei den Synoptikern auf die Tempelreinigung und die Ankündigung der Zerstörung folgt (Mk 11,15–19; 12,1–9 | Mt 21,12–17; 24,1f.), sondern auf die Auferweckung des Lazarus. 234 Der Grund ist damit nicht ein blanker Blasphemievorwurf, sondern die Macht Jesu, die gewohnten Lebensrhythmen zu durchbrechen, indem er im Tod Leben spendet. Auch in Joh 5,17f. ist die besondere zeitliche Gleichordnung Jesu mit seinem Vater Anlass für den Tötungswunsch der Juden. Es ist genau dieses zeitdynamisierende Handeln Jesu, 233 Vgl. METTERNICH, Auferstanden in Naïn (Auferweckung des Sohnes einer Witwe aus Naïn), 2013, 577. 234 Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 415.437.
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dass die jüdischen Oberen in ihren starren Zeitkonzepten bedroht und zu Gegenmaßnahmen veranlasst, die jene Dynamisierung letztlich aber noch weiter vorantreiben werden. Neben Jesus vollziehen auch andere ntl. Figuren Auferweckungen. Petrus erweckt die Jüngerin Tabita aus Joppe (Apg 9,36–42). Und Paulus begegnet dem totgeglaubten Eutychus (Apg 20,9f.). Im Falle der petrinischen Auferweckung fordern die beiden hilfesuchenden Männer Petrus notabene dazu auf, nicht zu zögern (μὴ ὀκνήσῃς διελθεῖν ἕως ἡμῶν). Man möchte hinzufügen: so, wie Jesus damals bei Lazarus zögerte. Paulus wiederum findet den aus dem Fenster gefallenen Eutychus und bescheinigt den Umherstehenden, dass in ihm noch Leben sei (Apg 20,9f.). Ob es sich dabei tatsächlich um eine Totenauferweckung handelt oder ähnlich wie bei Apollonios lediglich um die Erweckung eines Schlafenden oder Bewusstlosen, ist unklar. Auch in der apokryphen Literatur gibt es einige Berichte über Totenerweckungen. Das Kindheitsevangelium des Thomas schildert zwei explizite Totenerweckung in Jesu Kindheitstagen (KThom 9,1–3; 15,1f.; 16,1–3). In KThom 16,1–3 rennt Jesus (ἔδραμεν ὁ Ἰησοῦς) zum gerade eben Verstorbenen und heilt ihn unverzüglich. Er lässt keine Zeit verstreichen. Ebenso kommt er auch in KThom 15,2 zu dem sterbenden Jakobus gerannt (προσέδραμεν τὸ παιδίον Ἰησοῦς), um ihn durch einen Hauch noch rechtzeitig vor dem Tod zu bewahren.235 In KThom 9,1–3 weist der Befehl an den Toten gewisse Ähnlichkeiten zur Lazaruserzählung auf: ἔκραζε φωνῇ μεγάλῃ heißt es in KThom 9,3 (vgl. Joh 11,43: φωνῇ μεγάλῃ ἐκραύγασεν).236 Allerdings erweckt der junge Jesus das tote Kind hier nur, um seine eigene Unschuld zu konfirmieren. Nachdem der Junge bestätigt, dass Jesus ihn nicht vom Dach gestoßen hat, befiehlt ihm Jesus, sich wieder zur Ruhe zu legen (καὶ κοιμοῦ). Es geht in dieser Erzählung also nicht um eine Auferstehung oder Neugeburt εἰς τὸν αἰῶνα (vgl. Joh 11,26), sie spielt sich innerhalb eines ganz anderen Zeithorizonts ab. Ferner verfügen auch die apokryphen Apostelakten über Totenerweckungsberichte (z.B. ActJ 46f.; 48–54; 76f.; ActThom 54; ActAndr 23f.). Die Auferweckung des Artemispriesters durch den Apostel Johannes in ActJ 46f. weist insbesondere in Zentralstellung der Glaubens- und Bekehrungsthematik Entsprechungen zur Lazaruserzählung auf. Vergleichbar zu Marthas Bekenntnis und Marias Proskynese fällt der Verwandte des toten Priesters „ergriffen vor
235 Die Textbasis für den Vergleich bietet eine frühe Fassung von KThom (aus dem Codex Sabaiticus) herausgegeben von AASGAARD, The Childhood of Jesus, 2010, 219–232, auch in Orientierung an der deutschen Übersetzung, die im Rahmen eines Übersetzungsprojektes an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz erarbeitet wurde (http://www.ev.theologie.uni-mainz.de/Dateien/Gesamtuebersetzung.KThom.Sabaiticus.pdf). 236 Vgl. ZIMMERMANN, Vorbild im Sterben und Leben (Die Auferweckung des Lazarus), 2013, 754.
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V. Textanalyse
Zittern und Beben“ 237 auf die Knie und bestätigt die Frage des Johannes nach seiner Bekehrung zum Herrn mit „Ja, Herr“, das dem ναὶ κύριε, ἐγὼ πεπίστευκα der Martha in V. 27 ähnelt. Eine große Abweichung zwischen beiden Erzählungen betrifft jedoch die Rolle des Hilfesuchenden und des Auferweckten. Der hilfesuchende Verwandte muss die Auferweckung in ActJ 47 selbst durchführen, wohingegen Maria und Martha nur Zuschauer sind, und die leibliche Auferstehung des Artemispriesters wird um die geistige, nämlich die Bekehrung des Auferweckten zum Christusglauben ergänzt, während Lazarus in der joh. Erzählung keinerlei Bekenntnis abgerungen wird. Die Schilderungen der Totenerweckungen durch die Apostel legen den narrativen Fokus insgesamt auf die Bekehrung, den Lebenswandel bzw. den Glauben sowohl der Bittenden als auch der Auferweckten. Hinsichtlich der Zentralstellung des Glaubens stehen sie der Lazaruserzählung sehr nahe, allerdings ist das Gewicht derart stark auf die geistige Auferstehung gelegt, dass die Dimension des biographischen Endes und damit der Ernst des leiblichen Todes marginalisiert zu werden droht. Dieser Ernst wird dem Leser der Lazaruserzählung durch den verzögerten Eingriff Jesu in die Notsituation effektvoll nahegebracht, insbesondere wenn die Leseerfahrung aus anderen Wiederbelebungsberichten eigentlich eine unmittelbare Linderung der Not erwarten lässt. Steht dieses Medley an Auferweckungs- bzw. Wiederbelebungserzählungen im Ganzen oder in Teilen im Erfahrungshintergrund der Rezeption der Lazaruserzählung, so treten die Besonderheiten der joh. Lazaruserzählung für ihn deutlich hervor: einerseits der definitive Todeszustand des Lazarus in all seiner Dramatik und andererseits das kairotische Zeitverhalten des joh. Jesus, das mitten in der dramatischen Notlage auf den Glauben abzielt. Salbungserzählungen Sowohl in der jüdischen als auch in der Tradition der Nachbarvölker ist eine Vielzahl von Salbungserzählungen aufbewahrt. Im AT wird in unterschiedlichen Kontexten von Salbungen (LXX: χρίω/ἀλείφω; MT: ) ָמשַׁחgesprochen – neben der Salbung Aarons bzw. der Aaroniden zu Priestern238 v.a. von verschiedenen Königssalbungen.239 Eine enge 237
Im Folgenden zitiert nach der Übersetzung von PEIPER, Bekehrung praktisch: Verwandtschaft mit Jesus (Totenauferweckung des Artemispriesters) – ActJoh 46f., 2017, 351f. 238 Vgl. Ex 28,41; 29,7.29; 30,30; 40,13–15; Lev 8,12; Num 3,3; Ps 133,2. 239 Vgl. 1 Sam 10,1 (Saul); 1 Sam 16,12f.; 2 Sam 2,4; Ps 89,21 u.v.m. (David); 1 Kön 1,39 (Salomo); 1 Kön 19,16 (Jehu, Sohn Nimschis zum König und Elischa zum Priester); 2 Kön 9,3.6 (Jehu, Sohn Joschafats); 2 Kön 11,12 (Joasch); 1 Kön 23,30 (Joahas). Argumente für die gattungskritische Lesart von Joh 12,1–8 als Inszenierung einer privaten Königssalbung im Vergleich zu den Königssalbungen Sauls, Davids und Jehus liefert SVÄRD, John 12:1–8 as a Royal Anointing Scene, 2015, 249–268. Entscheidende Abweichungen von der atl. Gattung der privaten Königssalbung sind für D. Svärd die Fuß-Ölung, außerdem fehlen eine explizite Proklamation Jesu als König (welche erst in Joh 12,13 nachgeholt wird), die
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motivische Verbindung zwischen der atl. Königssalbung und der Salbung Jesu durch Maria ergibt sich über Hld 1,12: Solange der König an der Tafel liegt, gibt meine Narde ihren Duft.240 Die Szenerien weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf. Der König liegt zu Tische und es ist von einem Duft (Hld 1,12LXX: ὀσμὴν νάρδου) die Rede, so wie Jesus im Hause der Geschwister zu Tische liegt und der Duft des Salböls den Raum erfüllt (Joh 12,2f.). Auch das erotische Ambiente des Hoheliedes findet in der Begegnung Marias und Jesu Widerhall.241 Die Königsthematik klingt wenig später beim Einzug in Jerusalem erneut an, bei dem Jesus als ὁ βασιλεὺς τοῦ Ἰσραήλ empfangen (Joh 12,13) und seine Ankunft als Erfüllung von Zionsweissagungen gedeutet wird (Joh 12,15). Auch im Hohelied wird vom Einzug Salomos in Jerusalem berichtet, er jedoch wird auf einer prunkvollen Sänfte getragen, um zu seiner Hochzeit zu gelangen (Hld 3,8–11), während Jesus auf einem Füllen nach Jerusalem einreitet (Joh 12,14), um dort den schändlichen Kreuzestod zu sterben, womit er jegliche Erwartungen an einen majestätischen Messias bricht. Unwiderrufliche Bestätigung findet die inverse Königsinthronisation Jesu zuletzt in der Kreuzesaufschrift (Joh 19,19–22). Jedoch werden im Evangelium auch königskritische Töne (Joh 6,15) laut, die es mit dem restlichen Befund in Beziehung zu setzen gilt. Die Königsmotivik der Salbungserzählung wird auch im Rahmen der Bewertungsorientierung noch eine Rolle spielen. In Jes 61,1 spricht ein von Gott Gesalbter (LXX: ἔχρισέν με) und Geistbegabter über seine Beauftragung, den Armen (LXX: πτωχοί; vgl. Joh 12,5) frohe Botschaft zu überbringen und den Gefangenen ihre Freilassung zu verkünden. Insofern sich hier ausgerechnet der Gesalbte für die Armen einsetzt, steht die Tradition konträr zum Vorwurf des Judas, der Salbung und Armenfürsorge gegeneinander ausspielt.242 Eine weitere ethisch interessante Vergleichskomponente zwischen der joh. Salbungserzählung und der atl. Tradition halten die prophetische Sozialkritik sowie verschiedene Segens- und Fluchworte bereit. Hier ist z.B. an die Kritik der verschwenderischen Praxis der Oberen Israels in Am 6,6 zu denken: Ihr Verkündigung eines königlichen Auftrages, die Herabkunft des Geistes (die ebenfalls andernorts in Joh 1,32f. berichtet wird), und schließlich handelt es sich abweichend um die Salbung des Königs durch einen weiblichen „Propheten“. Diese Gattungsbeugungen dienen, so D. Svärd, dem theologischen Ansinnen, Jesus „as serving and dying royal Messiah“ (a.a.O., 268) darzustellen, außerdem das Motiv des Bräutigam-Messias und die Metapher Jesu Körpers als (gesalbter) Tempel fortzuführen. 240 Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 775. 241 Vgl. a.a.O., 176. 242 Neben diesen Inthronisationstexten spielen auch die Salbungshandlungen im Kontext von Trauerriten (2 Sam 12,20; 2 Sam 14,2) oder aber bei der verführerischen, weiblichen Schönheitspflege (Est 2,12; Jdt 16,7; Rut 3,3) eine Rolle. Zusammengenommen liefern all diese Erzählungen einen interessanten Hintergrund für die Rezeption der joh. Salbungserzählung.
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V. Textanalyse
trinkt den Wein aus großen Humpen, ihr salbt euch mit dem feinsten Öl (LXX: μύρα χριόμενοι) und sorgt euch nicht über den Untergang Josefs.243 Im Kontrast dazu ist es in der joh. Salbungserzählung Judas, der den Reichtum veruntreut, nicht der Gesalbte selbst. Von ähnlichem, assoziativem Interesse ist die Erzählung aus dem Buch Tobith, in der ein spezieller Duft (ὀσμή) die Flucht des Dämons (δαιμόνιον) bewirkt (Tob [GII] 6,17; 8,3). Der Vorwurf an Jesus, er sei von einem Dämon besessen, war bei den öffentlichen Reden Jesu vor der Salbung immer wieder von der Menge bzw. den Juden artikuliert worden (Joh 7,20; 8,48–52; 10,20). In Joh 7,20 war es speziell Jesu Antizipation des Tötungsplans, der zum Anlass jenes Vorwurfs gereichte. Judas wiederum wird kurz nach der Salbung im zeitlichen Kontext der Fußwaschung tatsächlich Träger des Diabolos (Joh 13,2) bzw. des Satans (Joh 13,27). Die Umkehrung des Vorwurfs der Juden wird, vor diesem Hintergrund gelesen, durch den Duft bei der Salbung indiziert, der Verrat des Judas schon hier in Erwartung gestellt. Die Salbung speziell der Füße muss im jüdischen Kontext nicht unbedingt erstaunen, liest man doch im Traktat des babylonischen Talmuds zum Sabbat (bShab 66b): „Wenn sie sich parfümierten, brachte man Öl und Salz und bestrich ihnen die Innenseite ihrer Hände und die Sohlen ihrer Füße.“ Anders war es wohl im römischen Kulturkreis, der eher die Salbung des Hauptes (wie in Mk 14,3–11 | Mt 26,6–13), nicht der Füße vorsah (Plin Nat 13,4 [21f.]).244 Bevor der reiche traditions- und motivgeschichtliche Hintergrund noch erweitert und auf seine Wirkung für den Bewertungsprozess der joh. Salbungserzählung hin ausgewertet wird, sollen zunächst noch Resonanz und Varianz im Verhältnis zu den synopt. Parallelerzählungen (Mk 14,3–11 | Mt 26,6–13 | Lk 7,36–50) ausgeleuchtet werden. Michael Theobald hat in seinem Johanneskommentar das Verhältnis der joh. Salbungserzählung zu den synopt. Überlieferungen detailliert besprochen und in einer Vergleichstafel zur Übersicht gebracht. 245 Ohne seine überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktionen teilen zu müssen, kann die Indexierung der unterschiedlichen Foki der Erzählvarianten für die Frage nach der Lesererwartung aufschlussreich sein. Allen Varianten ist zunächst ein narratives Schema gemeinsam: Im Rahmen eines Gastmahlsettings wird Jesus von einer Frau berührt, wogegen sich seitens eines/einiger Anwesenden/r Protest erhebt, den Jesus abzuwenden und die Frau zu verteidigen sucht. 246 Während das MkEv, das MtEv und das JohEv laut Theobald im Wesentlichen der Passion zugeordnet seien, gehe es im LkEv hauptsächlich 243 Im republikanischen Rom führte der mit exotischen Salben betriebene Luxus übrigens im Jahre 189 v. Chr. zu einem (vergeblichen) Verbot (Plin Nat 13,24; vgl. HURSCHMANN, Art. Kosmetik, 2006). 244 Vgl. WENGST, Das Johannesevangelium, 2001, 48. 245 Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 767–769. 246 Vgl. a.a.O., 769.
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um die Darstellung der Dankbarkeit der sündigen Frau. Es gilt nun, genau zu beobachten, wo die joh. Fassung die Erwartungen eines synopt. vorgeprägten Lesers erfüllt und an welcher Stelle sie mit ihnen bricht oder über sie hinausgeht. Zunächst einmal handelt es sich in den synopt. Varianten um eine unbekannte Frau (MkEv | MtEv) bzw. eine stadtbekannte Sünderin (LkEv), nicht wie im JohEv um Maria. Durch die Personenwahl ist die joh. Erzählung bereits in einen viel engeren Zusammenhang mit der Auferweckung des Lazarus und damit auch viel grundsätzlicher mit dem Thema des Todes gestellt. Diese Verbindung wird u.a. durch die Kontrastierung des Leichengeruchs Lazari (Joh 11,39) mit dem Duft des Salböls (Joh 12,3) intensiviert. Sodann verbindet die joh. Variante, jeweils mit eindeutigen Wortübereinstimmungen, die lk. Motive der tiefen Liebe einer Frau (Lk 7,47) und der intimen Reinigungs- bzw. Salbungshandlung der Füße mit den Haaren einerseits, mit dem mk. | mt. Thema des vorweggenommenen Begräbnisses (Mk 14,8 | Mt 26,12) andererseits. Daraus ergibt sich eine ganz neue Handlung, in der die paradoxe Vereinigung von Tod und Lebendigkeit, Bewahrung und Verschwendung, Erniedrigung und Erhöhung den Leser staunen, innehalten und genauer hinsehen lässt. Gegenüber der lk. Variante sticht nicht nur der Todesbezug der joh. Salbung hervor, sondern auch die Neuordnung von Aktion und Reaktion der Beteiligten. Die Tränen Marias (Joh 11,33) sind im Gegensatz zu denen der lk. Sündern bereits getrocknet, denn Jesus hat ihren Bruder zuvor zum Leben erweckt. Maria benetzt die Füße Jesu deshalb nicht mit Tränen, sondern ‚nur‘ mit Öl. Während im LkEv die Sünderin in ‚Vorleistung‘ geht, ist es im JohEv das lebensspendende Handeln Jesu, das Maria zur Salbung, zur Dankbarkeit und zum Glauben bewegt.247 Wie in der lk. Version trocknet sie seine Füße, jedoch tut sie dies nach der Salbung, nicht nach der Waschung, was im Kontext anderer Salbungsrituale ungewöhnlich erscheint. Charles Giblin erkennt in der Salbung und Trocknung eine „burial-resurrection prediction“ 248. Nicht allein das Begräbnis (Salbung), auch die Auferstehung (Trocknung) ist in dieser doppelten Tat vorweggenommen, ohne dass diese Vorwegnahme notwendigerweise auf eine bewusste Intention Marias zurückgeführt werden müsste.249 Im Gegenüber zum MtEv | MkEv fällt wiederum auf, dass die joh. Fassung nicht nur eine Vorwegnahme des Begräbnisses und der Auferstehung, sondern durch die Salbung speziell der Füße auch eine Art Vorwegnahme der bald er-
247
Die Gegenüberstellung von Maria und Martha, wie sie in Lk 10,38–42 vorgenommen wird – Martha als die tüchtige Dienerin und Maria als die aufmerksame Zuhörerin –, wird im JohEv allenfalls angedeutet. Auch im JohEv dient Martha zu Tisch (Joh 12,2), während Maria eine ungewöhnliche Haltung zu Jesus (auf Ebene seiner Füße annimmt) annimmt. Der Konflikt entspinnt sich aber aus dem Vorwurf des Judas und nicht zwischen den beiden Frauen. 248 GIBLIN, Mary’s Anointing for Jesus’ Burial-Resurrection (John 12:1–8), 1992, 563. 249 Vgl. a.a.O., 560.
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V. Textanalyse
folgenden Fußwaschung (Joh 13,1–20) ist. Maria entspricht damit Jesu Anweisung an die Jünger schon vor dessen Verlautbarung (Joh 13,14). Die joh. Salbung wird in diesem Zuge noch viel enger mit der Abschiedsbegegnung zwischen Jesus und den Jüngern vernetzt. Darüber hinaus könnte die Fußsalbung auch als Substitution der üblichen Reinigung vor dem Passafest gelten, die in Joh 11,55 explizit im Zusammenhang mit der Jerusalemreise einiger Juden erwähnt wird. Gemeinsam ist der mt. | mk. und der joh. Fassung, dass die Salbung εἰς τὸν ἐνταφιασμόν | εἰς τὴν ἡμέραν τοῦ ἐνταφιασμοῦ | für den Tag des Begräbnisses vollzogen wird. Im MkEv | MtEv wird im Rahmen der Verteidigungsrede Jesu der Frau selbst die Intention der Vorwegnahme der Salbung zugeschrieben, wohingegen im JohEv der Bezug zum Begräbnis nur im Rahmen der eigenen zeitüberblickenden (Voraus-)Deutung Jesu besteht. 250 Nicht hat sie die Salbung für das Begräbnis vorweggenommen (Indikativ Aorist in Mk 14,8: προέλαβεν μυρίσαι τὸ σῶμά μου εἰς τὸν ἐνταφιασμόν | Mt 26,12: πρὸς τὸ ἐνταφιάσαι με ἐποίησεν), sondern sie wird oder soll das Öl für das Begräbnis bewahren. Wie bereits zahlreich in der Lazaruserzählung angewandt (V. 4.11.15.42), wird den Ereignissen auch an dieser Stelle im JohEv durch eine ἵνα-Konstruktion (Konjunktiv Aorist in Joh 12,7: ἵνα […] τηρήσῃ | damit sie es bewahre) eine übergeordnete Zielbestimmung eingetragen, die nicht notwendigerweise mit den tatsächlichen Beweggründen der Handelnden übereinstimmt, den Ereignissen aber (meist schon prospektiv) einen besonderen Sinn zuschreibt. Gerade in der Gegenüberstellung mit der synopt. Version zeigt sich die Dialektik der joh. Argumentation: Indem Maria es jetzt verschwendet, bewahrt sie das Öl für das Begräbnis auf. Der ἵνα-Satz ist nicht als einfacher Finalsatz mit indirekt appellativer Ausrichtung zu verstehen. Jesus weist Maria nicht an, den Rest des Öls zu bewahren, wie in manchen Auslegungen zu lesen ist.251 Indem sie den noch Lebendigen salbt, beugt sie vielmehr nicht nur dem am vierten Tage einsetzenden Leichengeruch (vgl. Joh 11,39) vor, sondern wendet den Todesgeruch durch ihre tiefe Liebe ab. Leben und Tod, Liebe und Einsamkeit werden schon zu diesem Zeitpunkt dialektisch aufeinander bezogen und ineinander aufgehoben.
250
Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 176. Vgl. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, 211986, 318 (Anm. 4); HOLTZMANN, Evangelium des Johannes, 1908, 220; SCHNEIDER, Das Evangelium nach Johannes, 41988, 224; SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, 1998, 199. Wäre das ἵνα im Sinne dieser Ausleger imperativisch bzw. klar futurisch zu verstehen, so würde Maria jedenfalls dem Wort Jesu keine Folge leisten, denn nach seinem Tod sind es Joseph von Arimathäa und Nikodemus (Joh 19,3–40), nicht Maria, die den Leichnam Jesu salben (vgl. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium II, 2000 [1970], 462). 251
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Für die tatsächliche Intention Marias legen sich zwei Möglichkeiten nahe. Entweder sie hat schlicht aus intuitiver Dankbarkeit für die Auferweckung ihres Bruders gehandelt,252 oder sie hat tatsächlich so etwas wie eine Königsalbung im Sinn gehabt.253 Es ist freilich auch denkbar, dass sich Letzteres aus Ersterem ableitet. In der mk. Version wird das Wort Salbung (ἀλείφω) vermieden, vermutlich gerade deshalb, weil es der Königsinthronisation nahesteht und sich damit nicht in die mk. Christologie einpassen lässt.254 In der joh. Version ist dagegen ein performatives Bekenntnis Marias zu Jesus als messianischen König in Nachholung und Nachahmung des Bekenntnisses der Schwester (V. 27) durchaus denkbar und würde im Blick auf die Flucht Jesu vor einer Königserhebung durch die Menge (Joh 6,15) und die Königstitulatur bei der Kreuzigung (Joh 19,19) die bleibende Ambivalenz ihres Glaubens anzeigen. In diese Richtung weist auch der Fakt, dass einzig das JohEv von einer tatsächlichen ‚Wiederholung‘ der vorzeitigen Salbung durch Joseph von Arimathäa und Nikodemus nach dem Kreuzestod berichten, wohingegen die Synoptiker allenfalls ein Salbungsvorhaben der Frauen (Mk 16,1 | Lk 23,56–24,1) erwähnen, welches dann aber durch die Auferstehung Jesu hinfällig wird und unerfüllt bleibt. Der Bezug zum Begräbnis dient sowohl in der synopt. als auch in der joh. Fassung der Apologie für den verschwenderischen Umgang mit kostbarem Salböl. In der mt. und joh. Version wird sogar der Preis genannt, der dem Einwand der Jünger bzw. des Judasʼ zufolge in die Armenfürsorge hätte investiert werden können. Damit wird zumindest in die mk. | mt. und joh. Version der Salbungserzählung ein weiteres ethisch und zeitlich brisantes Thema eingeflochten: Situationsethik steht Prinzipienethik gegenüber. Während das LkEv auf den Umgang mit Sündern fokussiert ist und die Position der unbarmherzigen Pharisäer völlig unstrittig als Negativschablone ausgewiesen wird, erfährt der Einwand im MkEv | MtEv und im JohEv größere Berechtigung. Der Kritik an Luxus und Verschwendung auf Kosten der armen Bevölkerung fehlt es in ihren Grundsätzen zweifellos nicht an Legitimität. Das MkEv und MtEv artikulieren den ethischen Skopus der Szene noch deutlicher, indem hier einerseits Jesus das Handeln Marias eindeutig als gut (καλός) bewertet und zumindest die mk. Version andererseits in einem Konditionalsatz sogar noch ergänzt: Wann immer ihr wollt, könnt ihr Gutes tun (ὅταν θέλητε δύνασθε αὐτοῖς εὖ ποιῆσαι). Von Jesus werden also beiderlei Handlungsoptionen, Armenfürsorge und Salbung, für gut befunden. Allein der Zeitpunkt, der Kairos der Situation entscheidet, welcher Handlung der Vorrang eingeräumt werden muss. In der joh. Version wird der Einwand des Judas viel ausdrücklicher negativ bewertet, indem er als Dieb bezeichnet wird und seine diabolischen Intentionen entlarvt 252
Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 174. Vgl. a.a.O., 178. 254 Vgl. a.a.O., 171. 253
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V. Textanalyse
werden. Die eindeutig negative Intention des Judas schlichtet die agitatorische Gegenüberstellung von Armen- und Christusfürsorge im Vergleich zur mk. | mt. Version zumindest graduell. Es ist klar, dass der Vorwurf des Judas zurückzuweisen ist. 255 Die zeitsensible Grundtendenz in der Antwort Jesu bleibt aber auch im JohEv bestehen: Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit (Joh 12,8). Insbesondere im Hinblick auf den baldigen Verrat des (nur im JohEv schon an dieser Stelle mit Judas identifizierten) Agitators erscheint ein bedarfsgerechtes Handeln in der gegenwärtigen Situation absolut notwendig. Maria von Magdala, die am Ostermorgen zum Grab gehen wird, um – so legen es jedenfalls die synopt. Berichte nahe (Mk 16,1 | Lk 23,55– 14,1) – den Leichnam zu salben, schreitet im Vergleich zu Maria von Bethanien offensichtlich zu spät zur Tat, denn das Grab ist bereits leer und der Tote bereits auferstanden (Joh 20,1.11–18). Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem assoziativen Vergleich der joh. Salbungserzählung sowohl mit atl./frührabbinischen/paganen Äquivalenten als auch synopt. Parallelkonstruktionen? Der Vergleich v.a. mit atl. Salbungserzählungen hat den allgemeinen Kontext ausgeleuchtet, in denen Salbungen vollzogen, aber auch wahrgenommen und eingeordnet wurden, und stellt damit Deutungskategorien für die joh. Erzählung bereit. So kann der Leser, je nachdem, welche Erzählung oder Tradition sein Verständnis von Salbungshandlungen prägt, Marias Handlung als Bekenntnis zu Jesus als messianischen Herrscher, Priester oder Botschafter des Friedens wahrnehmen, kann den starken Bezug zu Tod und Begräbnis oder eher: das Körperlich-Sinnliche und Intime, schließlich auch das Verschwenderisch-Genüssliche daran nachempfinden. All jene Facetten einer Salbung werden durch die joh. Erzählung nicht alternativ, sondern kumulativ bewahrt und unterstützt. Darüber hinaus ist der Einwand des Judas gegen den verschwenderischen Umgang mit Salböl vor der atl.-frühjüdischen Kontrastfolie zwar zu gewissem Grade erwartungsgemäß, angesichts des würdigen Salbungsempfängers Jesus, dessen imminenten Todes, sowie der diabolischen Intention des Judas werden der Widerstand des Judas jedoch wirksam konterkariert und die Erwartungen an Jesus als Messias modifiziert. Jesus ist der wahre König, die rettende Gestalt, allerdings nicht, wie zu erwarten wäre, mit prunkvollen Insignien ausgestattet, nicht mit dem Geist Gottes statisch auf ihm ruhend (Jes 61,1: πνεῦμα κυρίου ἐπ᾽ ἐμέ), sondern gesenkten Hauptes seinen Geist hingebend (Joh 19,30) und für das Leben der Menschen schändlich sterbend.
255
Vgl. MARITZ, Judas Iscariot: Ironic Testimony of the Fallen Disciple in John 12,1–11, 2014, 303.
3. Joh 11,1–12,11
341
Intratextuelle Erwartungen (intra- und extradiegetisch) Die Lazaruserzählung wird, wie unter 3.4.3 Chronologik deutlich wurde, von einer Reihe von Prolepsen auf die Genesung des Lazarus, auf den Tötungsbeschluss und auf den Glauben der Juden durchzogen. Ebenso ist die Salbung von Beginn der Erzähleinheit an für den Leser mit im Blick. Insgesamt spannt sich ein dichtes Verweisnetz in allen Richtungen, sowohl nach vorne als auch nach hinten (z.B. Rückverweise auf die Blindenheilung in V. 37 oder auf den Aufenthalt in Jerusalem in V. 8), um die Erzähleinheit. Dieses Verweisnetz konditioniert und reguliert die Leseerfahrung des Rezipienten. Durch das Verweisnetz werden drei Ereignisse zur Erwartung gestellt: der Tod Jesu, das Leben Lazari und der Glaube bzw. die Offenbarung der Herrlichkeit. Der Tod Jesu ist auf intradiegetischer Ebene im Vorbehalt der Jünger und in dem Rückverweis auf die Gefahr in Jerusalem (V. 8), aber auch durch die Todesbereitschaft des Thomas und der Heimlichkeit der Nachrichtenübermittlung (V. 28), schließlich definitiv durch den Tötungsbeschluss (V. 53) bzw. den Auslieferungsbefehl (V. 57) vorangekündigt. In Jesu eigenen Worten lässt sich das sichere Todesschicksal in den Motiven der sicher eintreffenden Nacht (V. 9f.), im Verweis auf seine eigene lebensspendende Kraft, die ja aus seiner Todesbereitschaft entspringt (V. 25f.), und schließlich dem expliziten Verweis auf das eigene Begräbnis (Joh 12,7f.) ablesen. Ferner ist in der Fußsalbung der Maria die Abschiedsszene der Fußwaschung antizipiert und das sensitive Spiel mit Gerüchen bringt Tod und Auferstehung Lazari mit Tod und Auferstehung Jesu zusammen: Der Todesgeruch Lazari (V. 39) wird dem Duft und der Fülle des Lebens (Joh 12,3) bei der Salbung gegenübergestellt, der wiederum dem Todesgeruch Jesu vorbeugt. Extradiegetisch wirft der Tod Jesu in der Salbungsprolepse (V. 2), dem Lokalkonnex Bethanien ‒ Jerusalem (V. 18), der analogen Grabbeschreibung (V. 38.44; vgl. Joh 19,40; 20,1) und der lexematischen Verknüpfung (ἄγω κτλ.; πορεύομαι κτλ.; ἔρχομαι κτλ.; δοξάζω κτλ.) seinen Schatten voraus. Beide Erzählungen dieser Erzähleinheit stehen unter dem Damoklesschwert des baldigen Fortgangs Jesu, der durch ihn selbst in den zeitlichen Horizont seiner Begleiter eingetragen wird: innerhalb der Lazaruserzählung implizit angedeutet in der Metaphorik des Zwölf-Stunden-Tages (V. 9f.); binnen der Salbungserzählung durch einen expliziten Hinweis auf die begrenzte Zeit Jesu auf Erden (Joh 12,8). Gleichzeitig wird das erwartete Ende Jesu immer wieder retardiert, denn der Tag hat nun einmal seine festgelegten zwölf Stunden, ehe die Nacht hereinbricht (V. 9). Trotz Tötungsbeschluss (V. 53) und Ergreifungsgebot (V. 57) legt noch keiner Hand an Jesus, die Stunde der Verherrlichung wird erst in Joh 12,23 tatsächlich gekommen sein (ἐλήλυθεν ἡ ὥρα ἵνα δοξασθῇ), und selbst dann ist dem Ende Jesu noch eine ganze Szenenreihe des Abschieds vorgeschaltet.
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V. Textanalyse
Die Rettung Lazari wird intradiegetisch durch die Prognose Jesu (V. 4), die Ankündigung seines Eingreifens (V. 7.9–11.15), durch die Zuversicht der Jünger auf Rettung (V. 12), durch Jesu Prophezeiung in der Begegnung mit Martha (V. 23) und seine abstrakten Reden über das Leben trotz des Todes (V. 25f.), durch die Zuversicht Marthas (V. 22.24), durch die Erwartungshaltung der Juden in Erinnerung an die Blindenheilung (V. 37) und durch die Garantie der väterlichen Erhörung (V. 41) in Aussicht gestellt. Extradiegetisch wird diese Erwartung durch die motivischen Gemeinsamkeiten mit anderen Wunderhandlungen Jesu verstärkt (V. 9: Tag/Nacht-Motiv; vgl. Blindenheilung in Joh 9,4). Zu Beginn der Salbungshandlung wird ferner auf die Auferweckung rückverwiesen, sodass die Salbung von vornherein unter dem Zeichen der Lebensfülle und lebensspendenden Kraft Jesu steht. Doch diese Erwartung wird durch strukturelle und inhaltliche Vorbehalte expandiert und strapaziert: Das zweitägige Abwarten Jesu (V. 6) und die mehrfache Betonung des viertägigen Todeszustandes (V. 17.39) machen die Verzögerung explizit und werden intradiegetisch durch die Trauerriten der Juden (V. 19.31) und die Vorwürfe der Schwestern (V. 21.32.39b) in ihrer Wirkung unterstützt. Auch die Struktur der Erzählung zielt darauf ab, die Spannung auf die erwartete Lösung zu schüren: Zwischen erster Beschreibung der Notlage in V. 3 und ihrer Abwendung werden drei Dialoge Jesu mit den Jüngern, mit Martha und mit Maria installiert. Sowohl die Jünger (V. 8) als auch Martha (V. 39) verzögern das Eingreifen Jesu durch ihre Vorbehalte. Auf inhaltlicher Ebene blockiert Marthas abstrakt-futurischer Auferstehungsglaube die Einsicht in Jesu gegenwärtige Handlungsmacht. Als weiteres dilatorisches Motiv, das auch andernorts in enger thematischer Verbindung zur Glaubenserweckung steht, ist das Bleiben Jesu an einem Ort zu verstehen, 256 das zweimal in diese Erzähleinheit eingeflochten ist (V. 6.30). Als Jesus sich endlich zum Grab aufmachen will, überkommt ihn plötzlich die Trauer (V. 35) und die Juden sprechen untereinander noch einmal seine Verspätung an (V. 37). Ein natürliches Hindernis auf dem Weg zur ersehnten Lösung stellt der Stein vor dem Grab dar. Schließlich ist die Erwartung des Lesers auf einen dritten Zielpunkt hin gespannt: das Zuglaubenkommen bzw. die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu als Sohn Gottes. Jenes ideelle Interaktionsziel wird schon in der Reaktion Jesu auf das erste Bitten der Schwestern in V. 4 aufgerufen (die Krankheit führt zur Verherrlichung Gottes und seines Sohnes) und über die Erzählung hinweg weiter wachgehalten: V. 15.42 stellen den Glauben der Umstehenden jeweils im Rahmen der charakteristischen joh. ἵνα-Konstruktion in Aussicht. Jesu theologische Redegänge (V. 25–27.40) erheben den Glauben zur conditio des (ewigen) Lebens. Auf der anderen Seite werden verschiedene Glaubenstypen und 256
Vgl. Joh 4,40–42; 10,40f. Mehr dazu auch in der Analyse Fernheilungserzählung unter 2.4.1 Semantik, Anm. 104.
3. Joh 11,1–12,11
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deren Ambivalenz und Insuffizienz beschrieben: Thomas mangelt es an Einsicht hinsichtlich des tatsächlichen Aufbruchsgrundes nach Bethanien; Martha kennt nur einen abstrakt futurischen Auferstehungsglauben, auch Maria bleibt in Trauer verhaftet und verkennt Jesu Handlungsmacht und die Potenzialität seines speziellen Kairos, ein Teil der Juden verrät Jesus an die Pharisäer. 257 Einzig Lazarus, ganz am Ende der Auferweckungserzählung, folgt dem Ruf Jesu ohne Vorbehalte und Einwände, dabei freilich in völliger Passivität. Durch das oben skizzierte Verweisnetz lässt die Erzählung den Leser durch unterschiedliche Mittel einerseits die Rettung des Lazarus, den Tod Jesu und den Glauben der Protagonisten erwarten, verschiebt andererseits immer wieder die Erwartungserfüllung. Die Rettung Lazari ist schließlich nur ganz kurz, innerhalb von zwei Versen (V. 43f.) abgehandelt. An einer detaillierten Darstellung der Wundertat Jesu ist die Erzählung offenbar nicht interessiert, das zeigt sich insbesondere im Vergleich mit aufwendigen Erzählungen wie der Auferweckung des schunemitischen Knaben durch Elischa in 2 Kön 4,33–35 (s.o.). Die Pointe liegt vielmehr darin, dass Jesus, unbeachtet der Vorbehalte der Jünger einerseits und unbeachtet der Vorwürfe der Schwestern andererseits, den richtigen Zeitpunkt für sein Eingreifen gewählt hat, sodass das eigentliche Interaktionsziel zumindest partiell zur Erfüllung kommen kann: Einige der Juden sind zum Glauben gekommen (V. 45; Joh 12,11; vgl. V. 15) und auch das Verhalten der Geschwister in der Salbungserzählung ist von Dankbarkeit und einem tiefen Vertrauen in Jesus geprägt. Diese Errungenschaft kann auch durch die negative Konsequenz des Todesbeschlusses nicht geschmälert werden, denn sogar dieser wird noch mit positiven Folgen bedacht (V. 51f.). Die vielfältige Erzeugung von Erzählspannung258 und ihre Auflösung fördert liminale Erfahrungen und führt zu vertiefter Einsicht: Die irritierende, antipathische Freude Jesu über den Tod seines Freundes (V. 15) wird in tiefe Empathie aufgelöst (V. 35). Das gelassene Zögern angesichts der Not des Freundes (V. 6) wird in tiefem Gottvertrauen verankert (V. 42) und zeitigt Glaubenserfolge (V. 45). Die viertägige Verzögerung (V. 6.17) ermöglicht eine tiefere Einsicht in die Handlungspotenziale des Gottessohnes. Die Angst der Jünger vor der Todesgefahr (V. 8) wird zwar im Tötungsbeschluss (V. 53.57) bestätigt und weiter vorangetrieben, jedoch mit einem positiven Vorzeichen versehen (V. 50–52), sodass sich in der Erwartung des Todes Freud und Leid vermählen, gleich wie in Jesu eigener Empfindung angesichts des Schicksals seines Freundes. Umwege im Narrationsverlauf entwickeln eine eigene Effizienz: Warten lohnt sich ‒ auch für den Leser! 257
Vgl. dazu MOLONEY, Francis J., Can Everyone be Wrong? A Reading of John 11.1– 12.8, in: NTS 4/49 (2003), 505–527. 258 Mehr zum Instrument der Erzählspannung und deren Verhältnis zur Lesererwartung im methodischen Teil IV unter 2.3.1 Die Schlüssel zu Zeit und Ethik in der Leserrezeption, Anm. 168.
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V. Textanalyse
In Joh 12,1 kehrt Jesus wiederum gegen die Erwartungen der Juden, die sich für das Passa vorbereiten (V. 55f.), aus der Wüste nach Judäa in die Stadt Bethanien zurück. Durch die Salbung und Jesu Reaktion darauf wird nun auch bei Jesu Freunden aus Bethanien die Erwartung an seinen baldigen Fortgang, sogar konkret seinen Tod und sein Begräbnis geweckt. Auf extradiegetischer Ebene wird zum zweiten Mal der Verrat des Judas in Erwartung gestellt (vgl. Joh 6,71). Die Zeichen des bevorstehenden Todes Jesu verhärten sich und die vorzeitige Salbung für seinen Tod mündet in den Tötungsbeschluss gegen den Gastgeber Lazarus (Joh 12,10f.). Die Erwartung an die Tötung Lazari durch die jüdischen Oberen wird allerdings im Gegensatz zur Todeserwartung Jesu zumindest evangeliumsintern nicht erfüllt. 3.5.2 Bewertungsorientierung Instrumente Metaphorizität und Symbolizität In der Erzähleinheit von Auferweckung und Salbung floriert ein lebendiges Metaphernbeet. Es ist in einer Reihe von Dualismenangelegt: Licht/Dunkelheit, Tag/Nacht, Schlaf/Wachsamkeit, Lebendigkeit/Krankheit und Tod, Salbduft/Leichengeruch, wobei jeweils der positive Teil auf Jesus, sein Wirken und seine Person bezogen sind. Auch wenn in V. 9f. keine eindeutige Identifikation Jesu mit dem Licht des Kosmos erfolgt, so ist diese vom Ich-Bin-Wort in Joh 8,12 her bereits mitgedacht. Ferner ist die Rede von der Wirksamkeit am Tage eine direkte Antwort Jesu auf die Handlungshemmnis der Jünger. Das Sehen (βλέπειν) ist hier, wie Zimmermann zeigt, doppelsinnig gebraucht. Es bedeutet sowohl eine empirisch-sinnliche Wahrnehmung des Tageslichtes, als auch eine „‚emphatische Anschauung‘ des ‚inneren Auges‘“ 259, das Jesus als Licht der Welt erkennt. Licht und Tag gehören zu Jesu Sein und Handeln. Hinzu kommt seine Ankündigung, Lazarus aufzuwecken (V. 11), auch das Wachen und Wecken steht in Jesu Macht. Im Rahmen eines weiteren Ich-Bin-Wortes in der Rede mit Martha offenbart Jesus sich als die Auferstehung und das Leben (V. 25), wohingegen Krankheit und Tod in V. 4 klar von der Verherrlichung des Gottessohnes getrennt wurden. In Joh 12,3 wird er von Maria mit kostbarem Öl gesalbt, das seinen Körperduft in Kontrast zum Leichengeruch des Lazarus (V. 39) stellt. Die Dualismen sind, so sehr sie einander gegenüberstehen, sehr eng aufeinander bezogen und funktionieren jeweils nicht ohne einander. Der Tag kann nur auf zwölf Stunden festgelegt sein, wenn dann auch tatsächlich die Nacht einbricht. Lebensspendende Kraft wird im dunklen Angesicht des Todes wirksam und sichtbar. Schatten gibt es nur durch Licht. Und so geschieht auch die Kreuzigung Jesu, die eigentlich dunkle Todesstunde, am helllichten Tage (Joh 259
ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 50.
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19,14). Es ist die Stunde, in der die Doxa am klarsten aufscheint. Maria Magdalena wiederum kommt im Dunklen zum leeren Grab (Joh 20,1), Jesus aber ist nicht mehr dort, sondern ist mitten in der Nacht auferstanden. So können und dürfen Dunkelheit, Tod und Nacht nicht zur Auflösung gebracht werden, weil sie als Kontrastfolie unabdingbar sind. Wenn Jesu Handeln in dieser Erzähleinheit in den Kontext von Licht, Leben und Tag gestellt wird, so werden damit freilich eindeutige Signale für die positive Bewertung seines Handelns ausgesandt, selbst dann, wenn er durch sein Warten vermeintlich ‚sinnlos‘ die kostbare Tages- und Wirkzeit verstreichen lässt. Gleichzeitig ist Jesu Handeln aber auch auf die Wirkung der Dunkelheit, der Nacht und des Todes angewiesen, will er die Menschen glaubend machen, dass er der Sohn Gottes ist. Sie müssen die Nacht kennen, um die Bedeutung des Tages zu erleben. Die Erwähnung des bevorstehenden Passafestes am Ende der Lazaruserzählung liefert darüber hinaus ein Motiv-Panorama aus Schutzzeichen, Befreiung, Schlachtopfer und Jerusalemer Konflikttopologie, in das die konkreten Interaktionen eingezeichnet werden. Die Salbungshandlung addiert die semantische Assoziation zum wohlgefälligen Duft beim Opfervollzug (θυσία ὀσμὴ εὐωδίας τῷ κυρίῳ) 260 , der sich gemeinsam mit der Ankündigung Christi als Gottes Lamm (Joh 1,19) und dem Kreuzigungsdatum am Rüsttag des Passafestes (Joh 19,14) zu einem bedeutungsschweren Motivcluster formiert. Jesus wird als das alleinige Opfer gezeichnet, das Leben bewahrt und die Beziehung zwischen Gott und den Menschen wiederherstellt. In eine ähnliche Richtung weisen die atl. Überlieferung von Salbungen im Zusammenhang mit Weihhandlungen heiliger Orte, z.B. Altären, von Orten der Begegnung zwischen Mensch und Gott.261 Obendrein ist der Mangel an Öl zum Salben ein wiederkehrendes Motiv bei Fluchworten oder Unheilsprophezeiungen (Dtn 28,40; Mi 6,15); umgekehrt ist Fülle an Öl und Wein oftmals Inhalt von Segenssprüchen oder Heilsweissagungen (Jes 25,6; Weish 2,7), was zur positiven Deutung der Salbung und v.a. des Salbungsempfängers beiträgt. Narrative Verknüpfung Neben der offensichtlichen narrativen Verknüpfung zum Kreuzestod Jesu durch Todesbeschluss (V. 52.57) und Salbung für das Begräbnis (Joh 12,7f.) wird insbesondere durch die Ort- und Zeitangaben eine enge motivische Verbindung zwischen Auferstehung als Neugeburt und Taufe bzw. der Glaubensausbreitung hergestellt. In Joh 4,1–3 ist das Wissen der Pharisäer um die Tauftätigkeit Jesu (oder seiner Jünger) Anlass, Judäa zu verlassen. Ist mit dieser Tauftätigkeit auch die Unterredung mit Nikodemus über die Neugeburt aus 260 Vgl. Gen 8,21 LXX; Ex 29,18.25.41LXX; Lev 2,12; 4,31; 6,8.4; 8,21.28; 17,4.6; 23,13.18; 26,31LXX; Num 15,3.5.7.10.13f.24; 18,17; 28,6.8.13.24.27; 29,2.6.11.13.36 LXX; Jdt 16,16LXX; Sir 50,15LXX; Ez 6,13; 16,19; 20,28.41 LXX; Dan 4,37LXX. 261 Vgl. Gen 31,13; Ex 29,36; 30,23–26; 40,9f.; Lev 8,11; Num 7,1.10.84.
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Wasser und Geist (Joh 3,1–21) angesprochen? In Joh 10,40 kehrt Jesus zum Taufort des Johannes zurück, nachdem die Juden Jesus kurz zuvor auf dem Tempelweihfest zu ergreifen suchten. Nun aber, in Joh 11,17 bricht Jesus von diesem Taufort, dem Bethanien jenseits des Jordans (vgl. Joh 1,28), nach zwei Tagen trotz Todesgefahr wieder ins judäische Bethanien auf, um eine Neugeburt nicht nur aus Wasser und Geist, sondern eine leibliche Neugeburt zu veranlassen. 262 Die Verbreitung des Glaubens, ob durch Taufhandlung oder leibliche Neugeburt in der Auferstehung, steht im Mittelpunkt des jesuanischen Itinerars, legt sich positiv auch um seine Reise nach Bethanien und liefert schlussendlich den Grund für das Ende der Reise, für den Tötungsbeschluss in V. 48.53.263 Darüber hinaus lässt sich das Gastmahl in Bethanien im Anschluss an die Auferweckung als positive Erfüllung der Konditionalsätze Jesu in Kafarnaum (Joh 6,51.54.58) verstehen. Wer von seinem Brot ist, wird bis in Ewigkeit leben. Lazarus aber ist der Einzige von den Geschwistern, der tatsächlich mit Jesus zu Tische liegt (Joh 12,2). 264 Distribution der Erzählzeit und Figurenautorität Den Sprechhandlungen Jesu (der wörtlichen Rede) wird im Vergleich zu den wechselnden Dialogpartnern über die Erzähleinheit hinweg deutlich mehr Erzählzeit zugeteilt. Jesus ist lediglich bei drei kurzen von insgesamt elf Dialogen in hiesiger Erzähleinheit nicht involviert (V. 28: Maria und Martha; V. 36f.: die Juden untereinander; V. 47–50: die jüdischen Oberen). Die längeren Dialoge dominiert er mit seinen unterschiedlichen Redegängen. In der Unterhaltung mit den Jüngern (V. 7–16) stehen den 22 Worten der Gesprächspartner bspw. 62 jesuanische Worte gegenüber. Häufig wird die Reaktion seiner Redepartner narrativ ausgespart, so etwa die Reaktion der Schwestern auf Jesu anfängliche Zurückweisung (V. 4), oder der Jüngerschar auf die Demonstration seiner Freude trotz des Todes Lazari (V. 15), oder Marias auf seine Verteidigung gegen Judas (V. 7f.). Im Falle des Lazarus bleibt die Reaktion nonverbal und ist besonders kurz abgehandelt (V. 44), und auch von Judas ist keine weitere Reaktion dokumentiert (V. 8). Neben Jesus kommt allein den jüdischen Oberen derart verdichtete Redezeit zu (V. 47–50). Die wörtliche Rede innerhalb dieser Erzähleinheit wird demnach um zwei Machtpole herum angeordnet.
262
Das (zweitägige) Bleiben an einem Ort (μένειν ἐκεῖ) steht auch an anderer Stelle im Evangelium in engem Zusammenhang mit dem Zuglaubenkommen (vgl. Joh 4,40–42; 10,40f.). In der hiesigen Handlungssequenz bleibt Jesus zweimal an einem nicht näher bestimmten Ort (Joh 11,6.30: ἐν τῷ τόπῳ). 263 Zur Bedeutung der geographischen Angabe in Joh 10,40 als Scharnier zwischen Beginn und Ende Jesu Wirkzeit, zwischen Tauftätigkeit des Johannes und Kreuzigung Jesu vgl. DERS., The Believers Across the Jordan, 2013, 454. 264 Vgl. DERS., The Narrative Hermeneutics of John 11, 2008, 98
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Dass zwischen diesen Machtpolen auch eine hierarchische Ordnung besteht, wird erst die Analyse der Figurenautoritäten zeigen. Die eigentliche Kernhandlung der ersten Erzählsequenz, die Auferweckung, wird besonders kurz, innerhalb von zwei Versen (V. 43f.), über die Bühne gebracht. Die unterschiedlichen Dialoge nehmen demgegenüber eindeutig mehr Raum ein. Sie sind nicht bloßer Appendix einer großen Wundertat, sondern bereiten diese vor und geben ihr letztlich Sinn und Ziel (V. 15: ἵνα πιστεύσητε). Somit geht es nicht um die Tat allein, nicht um bloßen Aktionismus zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt. Jesus könnte freilich jederzeit wirkmächtig eingreifen (V. 42), er tut es aber zu einem bestimmten Zeitpunkt, jedoch nicht, bevor nicht gewisse Vorkehrungen getroffen und Vorgespräche geführt worden sind und sich der Tod den Angehörigen nicht von seiner dunkelsten und beklagenswertesten Seite gezeigt hat. Insgesamt ist ein hoher Anteil an wörtlicher Rede in Relation zu den narrativen Passagen zu vermerken. Reisedetails werden fast gänzlich ausgespart; der Weg von Bethanien nach Bethanien wird ebenso narrativ ausgespart wie die genaue Lokalisierung des ‚Vororts‘, an dem Jesus zunächst verweilt (V. 30), bevor er sich endlich zum Grab aufmacht. Es kommt offenbar nicht auf die Verortung und Datierung der Szenen in einem absoluten Koordinatensystem an, sondern auf die Relation der Schauplätze und Ereignisse zueinander. Der intendierte Glaube bedarf besonderer Begegnungen zur rechten Zeit und am rechten Ort, er kann nicht erzwungen und über den Zaun gebrochen werden. Die beiden Machtpole Jesu einerseits und der jüdischen Oberen andererseits, die die Analyse der Erzähl- und Redezeiten sichtbar gemacht hat, werden von Erzählerkommentaren flankiert, die die Autorität und Souveränität ganz klar zugunsten Jesu distribuieren. Den Pharisäern und Hohepriestern, insbesondere Kaiaphas, wird die Glaubwürdigkeit durch gezielte Kommentare entzogen, etwa wenn ihre Verhandlungen als kontingent und kurzsichtig dargestellt werden (V. 47–53). Sie selbst sind sich der Tragweite ihrer Entscheidungen nicht im Mindesten bewusst (V. 51). Daneben werden auch die Jünger mit kommentierenden Hinweisen zu ihrem Missverstehen (V. 13) eindeutig der Souveränität Jesu untergeordnet. Jesu Tadel an Marthas fehlendem Glauben in V. 40 weist in dieselbe Richtung. Von den Jüngern zur Anrede Jesu gebrauchte Hoheitstitel untermauern das hierarchische Gefälle: ῥαββί V. 8; κύριος V. 2.3.12.21.27.32.34.39. Im Rahmen der Salbungserzählung wird Jesus schließlich in die Tradition der Königsinthronisation und der Erwartung an einen rettenden Messias (Gesalbten) eingezeichnet. Handlungsmotivation und -folgen Die Handlungsfolgen sprechen im Kern zugunsten des jesuanischen Verhaltens. Er riskiert den Tod seines Freundes, ein unter normalen Umständen schändliches Vergehen. Doch tut er dies mit einem klaren Handlungsziel, ἵνα
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V. Textanalyse
δοξασθῇ (V. 4) und ἵνα πιστεύσητε (V. 15), welches er durch sein genaues Zeitmanagement auch erreicht (V. 45; Joh 12,11). Im engeren Vergleich mit den Synoptikern stellt sich heraus, dass im JohEv nicht die Tempelreinigung Ausschlag für Tötungsbeschluss gibt, sondern die Auferweckungshandlung Jesu. Es ist also nicht in erster Linie ein Blasphemievorwurf, der zum vernichtenden Urteil führt, sondern die ungeheure Lebensmächtigkeit Jesu, die v.a. politisch gefürchtet wird. Die von den jüdischen Eliten prognostizierten Folgen Jesu Verhaltens, nämlich die Wegnahme von Land und Volk durch die römischen Besatzungsmacht (V. 48), möglicherweise eine Anspielung auf den ersten jüdischen Krieg, 265 werden später im Evangelium eindeutig umkehrt. Pilatus als Repräsentant der Römer hat keinerlei Interesse an Jesu Tod und kann keine Schuld an ihm finden (Joh 18,31.38; 19,4–6.12). Er wird von den Juden letztlich zur Kreuzigungsstrafe überredet, weil alles andere ‒ nach Meinung der Juden ‒ seine Feindschaft gegenüber dem Kaiser offenbaren würde (Joh 19,12). Der finale Tötungsbeschluss (V. 53) wird zudem noch mit positiven Handlungsfolgen versehen (V. 51f.): Der Tod des Einen rettet die Vielen. Schwer wiegt jedoch die Folge der Auferweckung des Lazarus und des erneuten Aufenthalts Jesu in Bethanien bei ihm und seinen Geschwistern. Auch Lazarus wird von den Hohepriestern auf die Tötungsliste gesetzt (Joh 12,10f.). Der Tötungsbeschluss wird mit der Verbreitung des Glaubens durch seine eigene Auferweckung durch Jesu räsoniert. Die Auferweckung gebiert Todesgefahr, jedoch wird die tatsächliche Tötung des Lazarus, im Gegensatz zu der Jesu, von der Erzählung im Folgenden nicht geschildert. Thomas’ Bereitschaft, mitzugehen und mitzusterben (V. 16), wird insofern als hohl und folgenlos entlarvt, als er in Joh 14,5 seine Wegblindheit offenbart und bei seiner späteren Begegnung mit dem Auferstandenen in Joh 20,24–31 als der große Zweifler auftrifft. In ähnlicher Weise wird auch die Bereitschaft des Petrus, Jesus zu folgen und sein Leben für ihn zu lassen, von Jesus, wissend um seine Verleugnung, zurückgewiesen (Joh 13,36–38). Die anfängliche Anfrage der Schwestern des Lazarus um Jesu Hilfe ist besonders nachvollziehbar. Marthas unmittelbares Zugehen auf Jesus bei seiner Ankunft, Marthas und Marias Vorwurf an Jesus, er sei zu spät gekommen, wie auch Marthas Glaubensbekenntnis sind jedoch ambivalent gezeichnet. Zwar erreichen die Schwestern letztlich ihren anfänglichen Handlungszweck, die Rettung ihres Bruders, in V. 39f. offenbart aber zumindest Martha nochmals ihren unvollständigen Glauben. So steht sie der Lebensrettung des Bruders eher entgegen, als diese voranzutreiben. Die übrigen Jünger werden in der gesamten Auferweckungsperikope nicht einmal mehr erwähnt und es ist auch von keinem Zuglaubenkommen der Jünger die Rede. Sie treten erst bei der Salbungserzählung – erneut abschlägig – wieder auf. Abermals ist es ein einzelner Jünger, der mit einem bestimmten 265
Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 435.
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Verhalten nach vorne drängt, dessen Einwand aber vereitelt wird und folgenlos bleibt. Die Handlungsmotivation des Judas in der Salbungserzählung wird eindeutig negativ skizziert (s.u.). Er ist mit seinem Vorwurf der Verschwendung hauptsächlich an der Einbehaltung des gesparten Geldes interessiert (Joh 12,6). Petrus Maritz hat jedoch darauf hingewiesen, dass Judas durch seinen Verrat, der zumindest bei den Synoptikern von den Hohepriestern entsprechend vergütet wird (Mk 14,10f. | Mt 26,15 | Lk 22,3–6), den teuer gesalbten Christus ‚verkauft‘ und dadurch in joh.-ironischer Weise letztlich doch die Rettung der ‚Armen‘ bewirkt. Er verkauft das Salböl durch die Auslieferung des Gesalbten und gibt es damit (freilich unbewusst) zur Erlösung der ‚Armen‘ hin, gleich wie er in V. 5 gefordert hatte.266 Die Folgen der Handlung Marias werden allein in der Deutung Jesu als Vorwegnahme der Totensalbung positiv bewertet. Explizite Wertungen Im Falle des Judas kann man von einer explizit negativen Charakterisierung und Abwertung seines Verhaltens durch den Erzähler sprechen. Er wird ausdrücklich mit dem dichten, wertenden Begriff des Diebes versehen (Joh 12,6), und seine negativen Intentionen, sowohl der bevorstehende Verrat (V. 4), als auch die Veruntreuung des Geldes (V. 6), lassen in der Wahrnehmung des Lesers keinen Zweifel an der Frevelhaftigkeit seines Verhaltens. Der Einwand gegen die Verschwendung des Salböls mit Hinweis auf die Armenfürsorge wird für den Leser also vor allen Dingen dadurch diskreditiert, dass er der ‚bösen‘ Figur des Diebes Judas zugeschrieben wird, nicht notwendigerweise aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung. 267 Die verschwenderische Liebeshandlung der Maria im Hier und Jetzt wird hingegen von Jesus in seiner ganzen Autorität verteidigt. Der Leser muss sich entscheiden: Gebe ich dem Einwand des Diebes Recht, oder folge ich der Stimme des guten Hirten (vgl. Joh 10,1–18)? 268 Ferner stellt die von den Jüngern angesprochene Tötungsabsicht (V. 8) die Juden in Jerusalem von Beginn der Erzähleinheit an in ein negatives Licht. Die Anzeige bei den Pharisäern (V. 46) bestätigt das Bild. Über die Erzählsequenz hinweg werden aber auch immer wieder positive Züge einiger Juden angesprochen: ihre Empathie und Mittrauer (V. 19.31.33), der Glaube einiger Juden (V. 45; 12,11), ihr Interesse an Jesu Verbleib (V. 56; Joh 12,9). Die Mitglieder des 266 Vgl. MARITZ, Judas Iscariot: Ironic Testimony of the Fallen Disciple in John 12,1–11, 2014, 315. Es ist freilich zu bedenken, dass die joh. Schilderung des Verrats keinerlei Vergütung des Judas überliefert. Judas verrät zwar den Ort, an dem sich Jesus oft mit seinen Jüngern versammelt (Joh 18,2), bleibt bei der Gefangennahme selbst aber völlig passiv. 267 Vgl. a.a.O., 303: „it could be argued that the nuanced differences, for example in making the ‘villainised’ Judas protest against the cost of the ointment and showing concern for the poor, changes how the remark is heard. Thus eventually the scene communicates differently as the role players – more specifically actants – are different.“ 268 Vgl. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 178.
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V. Textanalyse
Hohen Rates werden in ihrer Einschätzung der Situation ferner von Kaiaphas explizit negativ bewertet. Er wirft ihnen Unwissenheit und Misskalkulation vor (V.49f.). Von der Erzählung wird sein Einwand wiederum insofern in fragwürdiges Licht gerückt, als er diese Aussage allein aus seinem Hohepriesteramt heraus treffen könne. Intensität Leseransprache Es wird auch in dieser Handlungseinheit nicht direkt an den Leser appelliert, wohl aber kann er sich im Rahmen der doppelten Adressierung einiger gnomischer Konditionalsätze angesprochen fühlen. Wer in der Nacht wandelt, ohne Christi Licht in sich zu tragen, wird sich stoßen (V. 9) und hat mit Blick auf Joh 3,20f. womöglich auch etwas zu verbergen, diese Weisheit kann der Leser auch auf sein eigenes Wandeln anwenden. Darüber hinaus entfalten auch die verschiedenen Glaubensconditionalia Geltung für den Leser. Wenn der Leser glaubt, so wird auch er nicht sterben bis in Ewigkeit und die Herrlichkeit sehen bzw. leben, auch wenn er stirbt (V. 25f.40). Zweimal werden Figuren im Dialog direkt auf ihren Glauben angesprochen: einmal, als Jesus sein Interaktionsziel gegenüber den Jüngern offenbart ἵνα πιστεύσητε | damit ihr glaubt (V. 15), und ein weiteres Mal, als Jesus Martha fragt: πιστεύεις τοῦτο; | Glaubst du das? (V. 26) Von beiden Bezugnahmen auf den Glauben in der zweiten Person Plural/Singular kann sich auch der Leser herausfordern lassen. Glaubt er das? In der Salbungserzählung ist die Aussage Jesu über seine zeitlich begrenzte Präsenz auch für die Situation des Lesers interessant: Arme habt ihr alle Zeit bei euch, mich aber habt ihr nicht alle Zeit (Joh 12,8). Kann diese Rechtfertigung des verschwenderischen Umgangs mit Luxusgütern für den Leser, der ja ohnehin in der Zeit nach dem Weggang Jesu aus der Welt lebt, überhaupt Gültigkeit erlangen? Oder geht es grundsätzlich um die Abwägung der Situationsgegebenheit gegenüber transsituativen Prinzipien? Die Ironie von Verschwendung (entgegen der Bedürfnisse der Armen) und Bewahrung (für die Bedürfnisse der Armen) im Kreuzesgeschehen bindet den Leser jedenfalls durch das Wissenssurplus an die Erzählung als seinen ‚Komplizen‘. Unmittelbarkeit der Erzählung Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus und der Salbung durch Maria wird einerseits durch besonders viel wörtliche Rede und Verwendung des Präsens Historicums in den erzählenden Passagen in den Modus der Unmittelbarkeit zum Geschehen gestellt. Auch erzählerische Details über den Ort (V. 18), über die Anwesenheit der Juden (V. 19.31), über die Settings am Grab (V. 38) und das äußere Erscheinungsbild des Auferweckten (V. 44), über Gerüche (V. 39; Joh 12,3), über Accessoires der Figuren (Joh 12,6) tragen zur Intensivierung des Leseerlebnisses bei.
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Andererseits schaltet sich die Erzählinstanz an vielen Stellen eindeutig reflexiv in das Geschehen ein, durch Kommentare über das Missverstehen der Jünger (V. 13), über die Verbindung von Jesus zu den Geschwistern (V. 2.5), über die falsche Einschätzung der trauernden Juden (V. 31), über das vermeintliche Wissen des Kaiaphas (V. 49f.), über die Verfahrensordnung des Tötungsbeschlusses (V. 57), durch die Vorwegnahme des Judas-Verrats (Joh 12,4) und durch den Hinweis auf dessen niedere Beweggründe (Joh 12,6). Außerdem stehen den verba dicendi im vergegenwärtigenden Präsens Historicum mindestens ebenso viele verba dicendi im Aorist und Imperfekt gegenüber. Die Erzählinstanz ‚zwingt‘ den Leser mithilfe dieser narrativen Eingriffe dazu, wieder in Distanz zum Geschehen zu treten, nachdem die Unmittelbarkeit der wörtlichen Rede sie in den Ereignisverlauf hatte eintauchen lassen. Auch die komplexe Dramaturgie aus zahlreichen Pro- und Analepse bzw. Mehrfachnennungen bewirken eine Distanznahme, indem sie den linear-chronologischen Ablauf des Geschehens stören oder gar durchbrechen. Wir haben es bei dieser Handlungssequenz weiter mit einer internen Fokalisierung i.S. einer Mitsicht mit der Jesusfigur zu tun, die aufgrund Jesu eigener Souveränität und Omniszienz nahezu einer Nullfokalisierung (d.h. einer Übersicht, bei der der Erzähler mehr weiß als irgendeine Figur) gleichkommt. Die Mitsicht und Unmittelbarkeit zu Jesus wird verstärkt durch die Darstellung seiner inneren Stimmungslagen (Freude in V. 15; Grimm in V. 33.38; Trauer in V. 35). Die Erzählinstanz hält Jesu Perspektive für die maßgebliche und möchte die Leser zur Übernahme dieser Perspektive bewegen. Deshalb fokalisiert sie überwiegend auf Jesus, lässt aber gleichzeitig den Perspektiven der übrigen Figuren durch Verwendung der wörtlichen Rede so viel Raum, dass die Missverständnisse und auch deren Zeitorientierungen von den Lesern wahrgenommen und miterlebt werden können. Durch die Übereinstimmung zwischen der Erzählerposition und der dargestellten Position Jesu, kommen der Erzählung selbst bzw. ihrer Christusinterpretation wiederum Legitimation und Autorität zu.269 Die Erzählung vollzieht eine Pendelbewegung zwischen effektvoller Konkretion und Unmittelbarkeit zum Geschehen und kommentierender und interpretierender Abstraktion. Diese Doppelstruktur gibt dem Leser einerseits die Möglichkeit, sich in die Konfliktsituation und die unterschiedlichen Positionen der Figuren einzufühlen, bietet andererseits aber zugleich auch die nötige Distanz und Perspektivenvielfalt, um ihn zu einer weitsichtigen und begründeten Bewertung der Handlung zu veranlassen. Applikationspotenzial Empathiepotenzial besteht sowohl gegenüber den Jüngern, deren Einwände für eine Reise nach Judäa plausibel vorgetragen werden, als auch gegenüber den 269
Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 162.
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Schwestern, die nachvollziehbar die Abwesenheit Jesu und den Tod ihres Bruders beklagen. Selbst der Vorwurf der Juden, Jesus hätte Lazarus doch wie den Blinden heilen können, ist verständlich. Basierend auf diesem Empathiepotenzial vollzieht der Leser auch eine Bewertung der Figuren bzw. empfindet damit assoziierte Gefühle der Syn- und Antipathie. Mit Maria und Martha wird der Leser eher mitleiden und um den endgültigen Tod des Bruders bangen, während der Tötungsbeschluss der Juden, der sowohl Jesus als auch Lazarus trifft, Empörung und Ärger hervorruft. Die Nähe und Einsehbarkeit der jeweiligen Handlungssituationen bestimmt auch das Empathiepotenzial. Während das Handeln Marias in der Salbungsszene für den Leser ganz konkret, sogar sinnlich wahrnehmbar wird, wirken die moralische Forderung des Judas daneben hohl und zusammenhanglos (Joh 12,3–6). Thematische Anknüpfungs- und Vergleichspunkte bieten, wie bei der Leseransprache bereits erwähnt, die Bezugnahmen zum eigenen Glauben, aber auch die Trauer, der Ärger und die Rat- und Hilflosigkeit angesichts des Todes eines nahen Angehörigen. Darüber hinaus ist der innere Ärger im Blick auf moraline, unaufrichtige Vorhaltungen, wie die des Judas, Teil der Lebensrealität der Leser. Der Konflikt zwischen situations- und prinzipienethischen Abwägungen spiegelt ein ethisches Dilemma mit zahlreichen Anwendungsbeispielen für den Leser. In, durch und entlang der Erzählung kann er sich auf Lösungssuche begeben. 3.5.3 Auswertung Die Lazaruserzählung trägt eine spezielle Eignung für den dritten Methodenschritt der Erwartungsanalyse, insofern in ihr − mit Leihgabe der Worte Theobalds − „andauernd Erwartungen enttäuscht bzw. überboten oder neu ausgerichtet werden.“270 Die Erzählung lässt den Leser durch unterschiedliche Mittel einerseits auf die Rettung des Lazarus warten, verschiebt andererseits die Erfüllung dieser Erwartung immer wieder und lässt den Leser das Handeln Jesu als verzögernd wahrnehmen. Die Rettung selbst ist schließlich nur ganz kurz innerhalb von zwei Versen (V. 43f.) abgehandelt. Hierin liegt offenbar nicht die eigentliche Pointe des Geschehens, sondern darin, dass Jesus ‒ unbeachtet der Vorbehalte der Jünger einerseits und unbeachtet der Vorwürfe der Schwestern wegen seiner Verspätung andererseits ‒ den richtigen Zeitpunkt für sein Eingreifen gewählt hat, denn das eigentliche Interaktionsziel ist erfüllt: Einige der Juden sind zum Glauben gekommen (V. 45; Joh 12,11). Extratextuell lassen v.a. die Freundschaft zwischen Jesus und den Geschwistern, sowie die Notsituation des Lazarus das Eingreifen Jesu erwarten 270 THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 713. Andernorts bestimmt M. Theobald gewisse „Unterbrechungen des Erzählfadens“ allerdings als „sekundäre Einschübe“ (a.a.O., 715). Auf eine Glättung des Erzählfadens mittels Redaktionskritik wird in hiesiger Studie verzichtet.
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und die Verzögerung intensiver erleben. Der Stimmungsumschwung Jesu (V. 15/V. 33.35) zeigt, dass in dieser Erzählung menschliche Zeitabhängigkeit und göttliche Zeitsouveränität wirksam nebeneinandergestellt und in der Figur Jesu sogar miteinander verquickt werden. Jesus berücksichtigt in seinen Reden und Interaktionen konkrete menschliche Zeitsysteme (Tag/Nacht; Schlafen/Wachen; Festzeiten; Auferstehung am jüngsten Tag), bezieht diese aber stets auf ein göttliches ‚Zeit‘-System, das zeitliche Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dynamisiert (insbesondere in V. 25f.; V. 42) und zugunsten einer andauernden Lebensgabe über die Zeiten hinweg aufhebt. Die Rücksichtnahme auf menschliche Zeitsysteme einerseits und die souveräne Verzögerung andererseits sind dem übergeordneten doppelten Interaktionsziel der Offenbarung der Herrlichkeit (V. 4) und Glaubenserweckung (V. 15) untergeordnet. Im intertextuellen Vergleich zur Vergangenheitsfixierung Elijas bei seiner Auferweckungstat (1 Kön 17,17–24) fallen Jesu Gegenwartsgewissheit, seine Dankbarkeit gegenüber der göttlichen Erhörung zu jeder Zeit auf. Trotz des Vertrauens in seine göttliche Lebensmacht wird der leibliche Tod in all seiner Dramatik und Dunkelheit ernst genommen. Jesu Lebensmacht vermag nicht nur, ‚Scheintode‘ zu überwinden (vgl. Heilung durch Apollonios von Tyana; Auferweckung der Tochter des Jaïrus; Erweckung des Eutychus) und geistige Neugeburten (vgl. u.a. Act J 46f.) zu veranlassen, sie schaut dem leiblichen Tod ins Auge, riecht seine Folgen, leidet am Verlust. Die Folge Jesu lebensspendenden Handelns ist, joh. gelesen, nicht bloß eine positive Glaubensverbreitung (vgl. Auferweckung des Jünglings zu Nain), sondern in dramatischem Sinne der Beschluss Jesu eigenen Todes. Er spendet nicht irgendein Leben, er spendet sein Leben. Für den Leser eröffnen die vielen Umwege und Verzögerungen im Narrationsverlauf die Chance, das Handeln Jesu und der übrigen Figuren vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Zeitsysteme zu reflektieren. Mit den Figuren gemeinsam (intratextuell) entwickeln sie Erwartungen an das Handeln Jesu in der dramatischen Situation, betrachten diese Erwartungen aber zugleich auch aus der zeitlichen Perspektive des Gottessohnes, die in seinen Reden und Erzählerkommentaren nachvollziehbar wird. Auf diese Weise ist es den Lesern möglich, die liminalen Erfahrung zwischen Tod und Leben, Angst und Zuversicht, Trauer und Freude mitzuerleben und über dieses Erleben zu vertiefter Einsicht zu gelangen. In der Salbungserzählung ist es Marias Handeln, das in der Deutung Jesu, wiederum den gängigen Erwartungen und Zeitsystemen widerspricht. Indem sie das Öl jetzt an ihm ‚verschwendet‘, bewahrt sie es für sein späteres Begräbnis. Indem sie den Lebendigen salbt, bewahrt sie den Toten vor Fäulnis und Vergehen. Auch hier wird entgegen der üblichen Zeitsysteme etwas Bevorstehendes in die sichere Gegenwart geholt, ohne den Zukunftsaspekt des Bevorstehenden zu tilgen. Auch diese Handlung Marias bleibt in der Deutung Jesu
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V. Textanalyse
im Dazwischen der Zeiten. Dass diese Salbung eine vor- oder rechtzeitige Salbung zum Tode ist, entnehmen wir jedoch allein Jesu zeitsouveräner Deutung des Geschehens, nicht der Intention der Salbenden selbst (vgl. Mk 14,8 | Mt 26,12). Neben der Erwartungslenkung beeindrucken die latenten, aber wirksamen Bewertungsmechanismen der Erzählung. Durch eine Kombination aus narrativer Gewichtung zugunsten der Redeanteile Jesu, positiver metaphorischer Kontextualisierung seines Handelns, positiver Bilanzierung seines Verhaltens mittels verheißungsvoller Handlungsfolgen (ausgenommen des Tötungsbeschlusses gegen Lazarus), expliziter Abwertung seiner Gegner (z.B. des Judas als Dieb), sowie Autorisierung Jesu mithilfe von informativen Erzählerkommentaren, dem Gebrauch von Hoheitstiteln, Königsritualen und der Präsentation Jesu als Handlungssouverän werden die Bewertungsprozesse des Lesers nachhaltig beeinflusst. Gleichsam sind alle übrigen Figuren (Maria, Martha, die Juden, die Jünger), ausgenommen der eindeutig negativ charakterisierten Figur des Judas, mit einer Ambivalenz aus positiven und negativen Verhaltensnuancen gezeichnet. Lazarus wiederum ist der Einzige, der in seiner empfangenden Passivität offenbar alle Bedingungen erfüllt, um das ewige Leben zu erhalten. Jedoch bleibt er gerade aufgrund dieser Passivität sehr blass. Ihn als Leitfigur wahrzunehmen bedeutet für den Leser eine besondere Herausforderung. Ein Urteil über das Verhalten und die leitenden Zeitnormen der übrigen Figuren zu fällen bleibt dem Leser anheimgeben. Auch er ist danach gefragt, ob er im Dunkeln oder im Hellen wandeln will, ob er glaubt, was Jesus von der gegenwärtigen Auferstehung berichtet, ob ökonomische, rituelle, politische oder natürliche Zeitrhythmen sein Handeln anleiten sollen und ob die beinahe konturlos passive Haltung des Lazarus für ihn richtungsweisend werden kann. Die thematische Dominanz der ablaufenden biographischen Zeit (ob Jesu oder Lazari), das Changieren zwischen Eile, Vorwegnahme und Verzögerung angesichts des drohenden Endes bindet notabene ein temporales Netz um die gesamte Szenerie von Auferweckung Lazari und Salbung Jesu. Die Frage, die alles zu bestimmen scheint, ist: Wie soll man sich im Angesicht des drohenden Todes verhalten? 3.6 Fazit Auch die Analyse der Auferweckungs- und Salbungserzählung hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass die Wahrnehmung der Situation, die Handlungsmotivationen, -entscheidungen und deren Bewertung von den leitenden Zeitperspektiven der interagierenden Personen abhängig sind. Die Jünger werden in der Lazarusperikope durch eine einseitige (an der Vermeidung des Todes ausgerichtete) biographische Zeitperspektive bzw. eine (am Schlaf/WachRhythmus ausgerichtete) biologische Zeitperspektive in ihren Handlungen ge-
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hemmt. Martha denkt einerseits an ganz konkrete, verpasste (Heilungs-)Gelegenheit lebt andererseits in einer abstrakt-fernen Zukunftshoffnung, sodass sie die Möglichkeiten, die in Jesu (Zuspät-)Kommens liegen, misskalkuliert. Maria und die sie umgebenden Juden sind vornehmlich an Trauerriten orientiert. Auch die Erfahrung mit der zurückliegenden Blindenheilung spielt in ihre Einschätzung der gegenwärtigen Situation und deren begrenzten Möglichkeitsspielraum mit ein. Jesus hingegen versucht, seine Interaktionspartner zu einer Reflexion dieser Zeitorientierung zu bewegen und sie durch den Hinweis auf eine neue Zeitperspektive das Potenzial der gegenwärtigen Situation sehen zu lassen, nämlich die Perspektive der Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit, während das Licht noch scheint – freilich im Angesicht der nächtlichen Finsternis des Todes, ohne jedoch deren handlungshemmender Macht. Er ist an einer Offenbarung orientiert, die zu einem (räumlich und zeitlich) weitsichtigeren Glauben führt, weil sie Zukunft und Vergangenheit, Zeitlichkeit und Ewigkeit neu aufeinander bezieht. Lazarus erweist sich als einzige Person, die in seiner Reaktion auf Jesu Stimme des Lebens von keinerlei Zeitnormen zurückgehalten wird. Für ihn ist die Stunde, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden (Joh 5,25), genau jetzt gekommen. Und er handelt entsprechend. In der Auseinandersetzung des Hohen Rates mit Jesus und seiner lebensspendenden Kraft wird eine weitere handlungsleitende Zeitnorm offenbar: die Orientierung an Amtszeiten und politischen Opportunitäten. Jedoch fallen am Ende der Geschehensfolge die politisch opportune Zeit, die die jüdischen Oberen leitet, und die doxologisch bestimmte Zeit, die Jesu Verhalten orientiert, paradoxerweiser in eins. Der Tötungsbeschluss wird zwar um der römischen Besatzung und der gewünschten Unabhängigkeit willen gefällt, dient aber auf anderer Ebene der Verherrlichung Jesu. Im Prozess vor Pontius Pilatus treten beide Zeiten aber wieder fundamental auseinander. Hier ängstigt sich mit einem Mal der römische Präfekt vor der jüdischen Menge (Joh 19,8) und nicht umgekehrt (V. 48). Er drängt darauf, das ius gladii und damit seine Verantwortung für den Tod Jesu abzugeben (Joh 18,31.39; 19,6.12), nicht etwa darauf, die Unabhängigkeit der jüdischen Oberen aufgrund eines Aufruhrs in ihren Reihen zu beschränken. Deren Tötungswunsch ist, vom Ergebnis her betrachtet, gerade nicht politisch opportun, aber weiterhin von doxologischer Bedeutung. Am Ende nämlich ordnen die Juden sich selbst dem römischen Kaiser vollkommen unter (Joh 19,15), ohne dass es die Situation zwingend erfordern würde. Sie haben die politische Opportunität ihrer Beschlüsse ganz offensichtlich misskalkuliert, ihre Unabhängigkeit eigens verspielt und die Offenbarung der königlichen Herrlichkeit des Gottessohnes (Joh 19,19–22) in der Kreuzigung selbst noch vorangetrieben. Judas, der offenkundige Dieb und Verräter, bringt obendrein ökonomische Zeitabwägungen ins Spiel. Alles, was jetzt ausgegeben und ‚verschwendet‘
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V. Textanalyse
wird, kann ihm später nicht zugutekommen. In seinen Augen ist der gegenwärtige Augenblick nicht die richtige Zeit für derlei Investitionen. Oberflächlich erklärt er seinen Vorbehalt mit der Sorge um die Armen. Das Prinzip der Armenfürsorge wird gegen das der Situation angemessene Handeln, gegen den Liebesdienst der Maria ausgespielt. Doch Jesu Reaktion eröffnet einen neuen Zeithorizont, angesichts dessen sich regelmäßige Armenfürsorge und die Achtsamkeit gegenüber dem Bedarf der gegenwärtigen Situation nicht ausschließen. Den Armen kann und soll zu allen Zeiten geholfen werden, Jesu Stunde aber steht kurz bevor und fordert immediate Aufmerksamkeit. Maria muss sich jedoch in keinem Moment zwischen Liebesdienst und Todesvorbereitung, zwischen praktizierter Barmherzigkeit und konfessiver Inthronisation, zwischen einem Leben in Fülle und ‚moralischer‘ Bescheidenheit entscheiden. Es findet gleichzeitig statt. Kurz bevor der Kairos für das Königtum Jesu gekommen ist (Joh 12,23), wird der Lebensspender für den Tod gesalbt; indem dieser erniedrigt wird, ist er verherrlicht; noch bevor er in Hass und Missgunst geschändet wird, ist er durch Liebestat gesalbt; indem verschwendet wird, wird alles bewahrt. So ist in der Salbungshandlung das Paradoxon des Kreuzestodes bereits vorfiguriert, denn in der Stunde der Kreuzigung, treten die Leere des Todes und die Fülle des Lebens, Sinnwidrigkeit und Sinnlichkeit, Einsamkeit und unaufkündbare Liebe, zusammen. In diesem Punkt wird der Tod in das Leben hinein aufgehoben, die Zeitmodi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden dynamisiert. Für das ethische Verhalten in der Zeit bedeutet das eine Begünstigung des Situationsbedarfs, ohne damit per se bewährte Normtraditionen und Prinzipien oder den Blick auf die Zukunft ad acta legen zu müssen. Der spontane, irreguläre Liebesdienst, insbesondere der Dienst an den Toten, steht schon in der Tora und ihrer (mündlichen) Auslegung über der Armenfürsorge, insofern er als nicht reziprok und damit als wahrhaft uneigennützig und ganz auf den Anderen ausgerichtet (altruistisch) aufgefasst wird. Die Schrift (γραφή)/das Geschriebene (γεγραμμένον)/das Gesetz (νόμος) erfährt ferner auch an anderer Stelle des JohEvs Würdigung in seiner bleibenden Normativität, 271 jedoch nie ohne auf die besondere gegenwärtige Situation zugeschnitten zu werden. Die Normen bedürfen der situativen Adaption und eines kairotischen Vollzugsmomentes, bei dem weder Vergangenheitsbezug noch Zukunftsverantwortung über die Gegenwart gestellt werden, ebenso wenig aber in Vergessenheit geraten sollen. Die Orientierung an ökonomischen Investitionszyklen, etwa der Einbehalt des 271 Vgl. u.a. Joh 2,13f.; 5,1 (Jesu Pilgerreisen zum Pascha); Joh 5,39 (Jesus als Messias nach atl. Verheißung); Joh 7,23 (Jesus argumentiert mit traditionellen Sabbatvorschriften); Joh 7,38 (Geistankündigung als Erfüllung der Schrift); Joh 8,17 (Rekurs auf atl. Zeugenrecht); Joh 10,34–36 (Rekurs auf atl. Vorstellung von den Göttersöhnen); sowie die Erfüllungszitate aus Jesu Munde Joh 13,18; 15,25; 17,12. Vgl. dazu auch BURRIDGE, Imitating Jesus, 2007, 322–325; VAHRENHORST, Johannes und die Tora, 2008, 20.
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Haushaltsgeldes, um später alleiniger Profiteur zu sein, wird demgegenüber als egoistisches Diebesverhalten abgewertet und in einen klaren Gegensatz zum spontanen Liebesdienst gestellt. Wie in Joh 7,1–9 spielen auch vor dem letzten Passafest rituelle Zeitnormen eine Rolle für das Verhalten der Personen. Die Juden etwa kommen vor dem Fest nach Jerusalem, um sich zu heiligen/reinigen (V. 55) und diskutieren darüber, ob die Todesgefahr oder die rituellen Vorgaben wohl für Jesu Verhalten ausschlaggebend sein würden: Kommt er oder kommt er nicht zum Fest (V. 56)? Für Jesus aber, so wird später deutlich, geben weder Todesgefahr noch Ritus Ausschlag für seine Reisepläne, sondern die Stunde der Verherrlichung des Menschensohnes (Joh 12,23). Insgesamt werden in dieser Interaktionseinheit also eine Vielzahl möglicher Zeitnormen vorgestellt und dem Leser zur Reflexion angeboten. Bei der Analyse der Geschehenskonfiguration, der konkreten erzählerischen Darstellung, wurde auf semantischer Ebene deutlich, dass die interne Dynamik zwischen den Geschehenselementen im Vordergrund steht, ohne dass diese auf einem externen, absoluten Zeitstrahl verortet werden müssten, um zur Konkretion zu gelangen. In Verbund mit den Tempora und der dramaturgischen Komposition der Erzählung können die Zeitangaben unterschiedliche Blickwinkel der Figuren auf die Zeit und daraus folgende Konflikte genauer hervortreten lassen. Innerhalb der wörtlichen Rede fällt die Häufung von nominalen (d.h. metaphorisch-abstrakten) Zeitbezügen in Jesu Wortbeiträgen gegenüber den überwiegen deiktisch-ordinalen Zeitbezügen der übrigen Figuren auf. Jesus geht hierbei zwar auf menschliche Zeitrhythmen ein (Tag/Nacht; Schlaf/Wachen; Leben/Tod), transferiert diese aber stets auf eine translineare Ebene (präsentische Auferstehung und Lebensspende; Ewigkeit; immerwährende göttliche Erhörung etc.). Zusammen mit den vielen transtemporalen Achronien in Jesu Reden einerseits und den vielen unzuverlässigen Prolepsen im Munde der übrigen Figuren andererseits wird der Kontrast zwischen den gängigen menschlichen Zeitnormen (biographisch, biologisch, ökonomisch, politisch, rituell) und der göttlichen Stunde der Verherrlichung als Orientierungspunkt besonders akzentuiert. So konnte bspw. Marias vermeintlich abgeschlossener, wasserdichter Glaube zwischen Vergangenheitsreue und abstrakter Zukunftshoffnung lokalisiert werden, während Jesus die Tatsachen der Vergangenheit (den definitiven Tod des Lazarus) und die abstrakten Hoffnungen der Zukunft (Lazarus wird wieder leben) dynamisiert und auf die Gegenwart bezieht, um so neue Handlungspotenziale für die Gegenwart zu eröffnen. Das ana- und proleptische Verweisnetz aus Todesverweisen und Lebenshoffnung wird eingebettet in das wiederkehrende, übergreifende Ziel der Glaubenswirkung und Offenbarung (vgl. u.a. auch Joh 2,11.22; 4,48.50.53; 5,24; 7,5.32.38; 9,3.35–38; 18,37; 20,8). Tod und Leben werden nur im Glauben richtig aufeinander bezogen; damit findet auch jegliches menschliche Verhalten, das sich immer zwischen den beiden Polen von Leben und Tod abspielt,
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V. Textanalyse
erst im Glauben an den Gottessohn und seine Verherrlichung am Kreuz die richtige Rhythmik. Um diesen Rhythmus allmählich nachzuvollziehen, muss auch der Leser zunächst die Verzögerungen auf dem Weg zur Lebensgabe (durch das Bleiben Jesu an unterschiedlichen Orten fern des Grabes trotz Mehrfachbetonung der Freundschaft und Dramatik der Situation; durch die abstrakten Reden trotz konkreter Gefahr; durch die vielen Redegänge mit unterschiedlichen Personen; durch Jesu plötzliche Ergriffenheit; durch seine Rede mit dem Vater; durch den Gestank des viertägig Toten usw.) intensiv erleben. Die Kontrastfolie verschiedener intertextueller Skripts rückt die akute Notsituation, das tatsächliche leibliche Ableben, das schmerzliche Ende eines geliebten Menschen, aber auch dessen schlussendliche leibliche Auferstehung in den Fokus seiner Wahrnehmung. Darüber hinaus wird die Lebensmacht Jesu ganz eng mit seinem Todesschicksal (Tötungsbeschluss) verbunden. Die erneute Reise vom Rückzugsort Ephraim zurück nach Judäa wird insbesondere nach dem konkreten Tötungsbeschluss auch vom Leser wiederum als verfrüht erlebt, ebenso wie die Salbung des lebendigen Jesus die eigentliche Totensalbung vorwegnimmt. Die Herrscher- und Königsbilder, die mit der Salbung aufgerufen werden, werden im schändlichen Kreuzestod neu geordnet, ohne dass Jesus die besondere Würde, die in der Salbung bestätigt wird, verliert. Er wird als wahrer König und Retter den Geist Gottes an alle, die an ihn glauben, mit gesenktem Haupt übergeben (Joh 19,30). Der Lebensspender wird für den Tod gesalbt und durch eine Liebestat gereinigt, noch bevor er Spott und Schande erleben muss. Auf diese Weise erlebt der Leser in der szenischen Einheit aus Auferweckung und Salbung zwei dem intuitiven Zeitsystem widersprechende Verhaltensweisen Jesu (einerseits Verzögerung, andererseits Beschleunigung/Vorwegnahme) und lernt, diese auch im Blick auf die abweichenden Zeitorientierungen der übrigen Figuren und im Blick auf die jeweiligen konkreten Handlungssituationen und die übergeordnete Zielrichtung des gesamten Evangeliums neu einzuordnen. Dabei helfen ihm auch unterschiedliche Bewertungsmechanismen und Intensitätsmoderatoren. Einerseits wird er mittels wörtlicher Rede, historischem Präsens und atmosphärischen Details zum Setting in die Bewegung und die Perspektiven der Figuren einbezogen, auch er wird gefragt: Glaubst du das? Andererseits wird er mittels Erzählerkommentaren, mittels entropischen Pround Analepsen sowie einer überwiegenden Fokalisierung auf den omniszienten Jesus in wertende Distanz zum Geschehen gebracht. Diese Kombination aus Nähe und Distanz bildet den ethischen Nährboden und Anstoß für die Bewertungsprozesse des jeweiligen Zeitverhaltens durch den Leser. Auf die positive Bewertung Jesu Handelns nach Todeseintritt des Lazarus und trotz eigener aktueller Todesgefahr wirken eine spezielle Metaphorik von Licht und Finsternis, Tag und Nacht, die Darstellung Jesu als wahres Passaopfer, sowie die positiv
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dargestellten Handlungsfolgen, die rhetorische Überlegenheit Jesu, seine Handlungsdominanz und seine Autorität, die in der Personenanrede mehrfach betont und im Gespräch mit dem Vater bestätigt werden, hin. Für die ethische Orientierung und Reflexion des Lesers ist gleichsam entscheidend, dass die übrigen Figuren sehr ambivalent gezeichnet sind und sich deren jeweiliges Verhalten einer eindeutigen Einordnung in Gut und Böse sperrt. Einzig das Verhalten des Judas wird durch einen Erzählerkommentar, der einerseits auf seinen Verrat vorverweist, ihn andererseits eindeutig als Dieb bezeichnet, unmissverständlich negativ dargestellt. Die mittrauernden und anteilnehmenden Juden, die von Jesus weitere Wunder erwarten, auf sein Geheiß den Stein wegrollen, angesichts der Auferweckung zum Glauben kommen, die Jesus aber auch an die Pharisäer verraten, können nicht eindeutig als Widersacher Jesu gelten, ebenso wenig wie der Hohepriester, der aus seinem Amt heraus die besondere (soteriologische) Bedeutung Jesu Todes prophezeit. Auch die beiden Schwestern Maria und Martha weisen in ihren Reaktionen sowohl positive (anhaltendes Vertrauen auf Jesu Eingreifen; Hingabe im Liebesdienst) als auch negative Züge (Vorwurf des Zuspätkommens; abstrakte Zukunftshoffnungen; Vorbehalt am Grab) auf. Und die Jünger, allen voran Thomas, erklären sich zwar zur absoluten Nachfolge bereit, werden aber später ihren Kleinglauben noch unter Beweis stellen. Der Ambivalenz des Verhaltens der unterschiedlichen Figuren korrespondiert eine Vielzahl an divergierenden und konfligierenden Zeitsystemen, die das jeweilige Verhalten orientieren. Diese habituellen Zeitrhythmen versperren den Figuren mitunter den Blick auf die konkrete Situation, den gegenwärtigen Moment, dessen Handlungsmöglichkeiten, Handlungserfordernis oder Handlungsunbedarf. Lazarus handelt als einzige Figur der Stunde des Lebenswortes Jesu entsprechend und wird in seinen Taten von keinerlei abweichenden Zeitnormen blockiert. Gleichwohl wird er von der Erzählung recht blass und konturlos gezeichnet, wodurch die Wahrnehmung und Akzeptanz Lazari als positive Leitfigur für den Leser zur Herausforderung wird. Jesu Handeln und Zeitorientierung ist hingegen sehr stark konturiert, mitunter anstößig und verblüffend. Für ihn ist, sosehr er sich auf die Rhythmen seiner Interaktionspartner einlässt, der Nullpunkt der Kreuzigungsstunde leitend, in der Tod und Leben, die Irreversibilität der Vergangenheit und die Potenzialität der Zukunft so aufeinander bezogen werden, dass eine erfüllende Zeit, eine ewige Gegenwart entsteht.
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V. Textanalyse
4 Ausblick auf weitere Zeitkonflikte 4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
Von Hippokrates wissen wir βίος βραχὺς, ἡ δὲ τέχνη μακρή | das Leben ist kurz, das Handwerk aber lang (Aph 1,1).272 Die exegetische τέχνη dieser Studie, das methodische Handwerkszeug, ist auf eine besonders detaillierte Analyse von narrativen Zeitkonflikten angelegt, die sowohl viel erzählte Zeit (Zeit zur Analyse) als auch Erzählzeit (Textumfang der Ergebnisse) in Anspruch nimmt. Da nun auch für die Fertigstellung einer Dissertation gewisse Zeitnormen herrschen, die, wenn sie auch nicht zwingend obligat, so doch von gewisser Berechtigung sind, können in dieser Studie nicht alle Zeitkonflikte des JohEvs und nicht alle in derartigem Umfang untersucht werden. Wohl aber kann ein Ausblick auf einige weitere joh. Zeitkonflikte gewagt werden, die sich wie die behandelten Texte für eine gründlichere zeit-ethische Betrachtung anbieten würden. Der Ausblick wird auf die erste Analyseebene und damit die konkreten Interaktionen fokussiert, um in erster Linie dem blinden Fleck der Theorie für die konkreten Interaktionen und ihre zeitliche Konstitution zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. 4.1 Joh 2,13–22: Tempelaufbau in drei Tagen Nach dem Hochzeitsfest in Kana findet eine erste Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden im Tempel statt. Sie hat ihren Ursprung und Auslöser in der Tempelreinigung durch Jesus kurz vor dem ersten berichteten Passafest. Nachdem Jesus das Haus seines Vaters kompromisslos von Händlern, Rindern, Schafen, Tauben und Wechslern befreit, ihre Tische umgestoßen und das Geld ausgeschüttet hat, fragen ihn die Juden nach dem Zeichen dafür, dass er das tut (V. 18: τί σημεῖον δεικνύεις ἡμῖν ὅτι ταῦτα ποιεῖς; | Was für ein Zeichen zeigst du uns, dass du das tust?). Meinen sie ein Zeichen dafür, dass er das tun darf, ein Zeichen der Legitimation seiner Vollmacht, wie es die synopt. Juden von Jesus im Anschluss an die Tempelreinigung (und die Verfluchung des Feigenbaums) fordern (Mk 11,27–33 | Mt 21,23–27 | Lk 20,1–8)? Als das Passafest nach der Tempelreinigung beginnt, glauben viele, weil oder als sie die Zeichen sahen, die er tat (V. 23: θεωροῦντες αὐτοῦ τὰ σημεῖα ἃ ἐποίει). Damit wird entweder auf die Hochzeit zu Kana zurückverwiesen (V. 11) oder eben auf die Tempelreinigung selbst als Zeichen.273 Dann wäre die Frage der Juden keine nach der Legitimation, sondern eine nach der Deutung seiner Handlung: Was für ein Zeichen zeigst du uns, weil oder indem du dies tust? Was soll die Tempelreinigung bedeuten? Die Jünger Jesu, die während der Tempelreinigung ebenso anwesend sind, haben eine Vorahnung, was die 272
Zitiert nach der Ausgabe von T. J. ab Almeloveen: HIPPOCRATES, Aphorismi, 1756,
273
Vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 175.
2.
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Tempelreinigung bedeuten könnte, dadurch, dass sie sich an das Schriftwort aus Psalm 69,10 erinnern: Der Eifer um dein Haus wird mich verzehren (V. 17). Mit der Schrift als Deutungsschlüssel können sie ahnen, worauf Jesu Handeln im Tempel hinausläuft. Den Juden aber muss Jesus erst noch ein Gleichnis zum weiteren Verständnis darreichen. Sie können die zukünftigen Folgen seines (und ihres) Tuns nicht einmal annährungsweise abschätzen, obwohl gerade sie (oder Teile von ihnen) sich für sein Todesschicksal verantwortlich zeigen werden. Jesus antwortet auf ihre Anfrage mit dem formal abwegigen, inhaltlich zeitexplosiven Tempelwort. Sie sollen den Tempel niederreißen, er werde ihn in drei Tagen aufbauen (V. 19). Diese Aussage widerspricht jeglicher Zeitlogik der Juden. Sie fragen ungläubig: In 46 Jahren wurde dieser Tempel erbaut, und du wirst ihn in drei Tagen erbauen? (V. 20) Sie sind an ihren Erfahrungen mit der Bauzeit des Tempels orientiert, weshalb ihnen diese Zeitangabe völlig absurd erscheint. Jesus aber ist nicht an erfahrungsbasierten Bauzeiten, sondern an der Stunde seiner Verherrlichung durch die Herrlichkeit seines Vaters orientiert (Joh 17,5), die gemäß menschlicher Zeiterfahrung Unmögliches möglich macht: das Sterben und Aufrichten des toten Leibes nach drei Tagen. Harold Attridge hat ferner darauf hingewiesen, dass Jesus mit dieser Zeichendeutung die alten Funktionen des Tempels übernimmt, nämlich Gottespräsenz zu garantieren, und zwar unabhängig von objektiven Räumen (Jerusalem) und Zeiten (rituelle Festzeiten): „If the old Temple stood in correlation with the sequence of festivals, with change and renewal, the new Temple stands in relationship with eternity, an a-temporal eternity that is present in Jesus and in the community of his disciples.“274
In Jesus wird eine qualitativ neuartige Zeit präsent, die den traditionellen, rituellen Rhythmen gegenübersteht. Die Juden versuchen hingegen erst wesentlich später, nämlich beim Laubhüttenfest, das erste Mal tatsächlich Jesu Leibes-Tempel ‚niederzureißen‘, bzw. ihn zu ergreifen (Joh 7,30).275 Dass ihnen das bis zur Nacht zum Rüsttag (Joh 18,12) nicht gelingt, wird an verschiedenen Stellen im Evangelium ganz unterschiedlich begründet: in Joh 7,30 und Joh 8,20 mit der noch ausstehenden Stunde; in Joh 7,44–49 mit der ehrfürchtigen Scheu der Diener vor seiner Wortmächtigkeit; 276 in Joh 8,59 und Joh 10,39 wird wiederum berichtet, dass er schlicht ihrer Hand entkam, bzw. sich verbarg. Die Erklärungen für den Aufschub der Festnahme liegen also auf ganz unterschiedlichen Ebenen und bieten unterschiedliche Möglichkeiten der Deutung. Das Motiv der ὥρα weist sowohl 274
ATTRIDGE, Temple, Tabernacle, Time and Space in John and Hebrews, 2010, 267. Der Verfolgungs- und Tötungswunsch der Juden wird freilich bereits nach der ersten Sabbatheilung artikuliert (Joh 5,16.18). 276 Ebenso kann Jesus offenbar auch auf dem Tempelweihfest seine Steinigung allein durch seine Schriftauslegung verhindern (Joh 10,31–38). 275
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V. Textanalyse
auf die theologische Bedeutung einer göttlich vorherbestimmten Stunde Jesu hin, übernimmt aber gleichsam auch dramaturgische Funktion als Prolepse auf die Stunde der Kreuzigung. Das Entkommen aus der Hand der Juden erklärt den Aufschub eher historisch-konkret, und die ehrfürchtige Reaktion der Diener trägt im Zusammenhang mit dem Appell des Nikodemus auf Einhaltung der üblichen Prozessordnung (Joh 7,50f.: erst Verhör, dann Urteil) ein ethischpraktisches Gepräge. So wird ein und dasselbe zeitliche Phänomen auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit Sinn angereichert und liefert damit eine lückenlose Darstellung, Erklärung und Bedeutung der Rhythmik des Geschehens. Im Anschluss an das Tempelwort wird erneut von einer Erinnerung der Jünger Jesu berichtet. Dieses Mal jedoch erinnern sie nicht die Schrift wie in V. 17, sondern Jesu Tempelwort, und zwar erst nach seiner Auferstehung (V. 22). Erst in der Erinnerung an seine Worte, glauben sie an Schrift und Wort und verstehen, was sie vorher nur ahnen konnten. Auf Basis des Schriftwortes aus den Psalmen allein und ohne den Blick auf das Kreuzigungsgeschehen können sie die gegenwärtigen Ereignisse nicht deuten. Die besonderen narrativen Inszenierungsstrategien dieses ersten Zeitkonflikts Jesu mit den Juden sind durchaus eines näheren Blickes wert, wenn er auch hier nicht geleistet werden kann. In einer solchen Analyse könnte u.a. die Interpretation des Tempuswechsels von κατέφαγέν με (Ps 68,10LXX) zu καταφάγεταί με (V. 17) fallen, ebenso wie ein Blick darauf, mit welchen Zeitangaben der historisch brisante Tempelbau hier verzeitigt wird (Zeitpositionsoder Zeitdauerangaben?), warum ausgerechnet die Taubenverkäufer und Geldwechsler zweimal angesprochen werden und die Schafsverkäufer nur einmal, wie die frühzeitig Analepse auf Tod und Auferstehung im Tempelwort im Gesamtrahmen des Evangeliums zu verstehen und v.a. wie die Vorblende auf den Jüngerglauben nach Ostern zu werten ist. Aufschlussreich für die Leserwahrnehmung dieser Zeitkonfliktinszenierung wäre selbstverständlich im Besonderen ein synopt. Vergleich. Die joh. Darstellung bricht mit den chronologischen Erwartungen eines synopt. geprägten Lesers, nicht nur weil sie die Tempelreinigung in der Evangeliumschronologie vorzieht und den Tötungswunsch der Juden durch Jesu eigene Voraussage seines Todes ersetzt, sondern auch weil das Tempelwort bei den Synoptikern nur von den späteren Anklägern paraphrasiert wird (Mk 14,58 | Mt 26,61; vgl. ferner Apg 6,14 als Anklage gegen Stephanus) und nicht im Munde Jesu selbst ergeht. Außerdem verknüpft die joh. Version die Vollmachtsfrage (im MkEv und MtEv erst nach der Feigenbaumerzählung) direkt mit der Tempelreinigung und modifiziert sie (je nach Übersetzung des ὅτι in V. 18) in eine Deutungsfrage, bzw. hält sie absichtlich im Zwischenfeld zwischen Deutungs- und Legitimationsfrage. Während die Juden die Zeichen der Zeit gar nicht verstehen und an ihren Erfahrungswerten mit der Dauer eines Tempelbaus hängenbleiben, die Jünger wiederum die Bedeutung Jesu Verhaltens nur vage durch Erinnerung eines Schriftwortes erahnen, ist Jesus sich seiner unausweichlichen Stunde schon jetzt, ganz
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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am Anfang der Evangeliumschronologie und damit seines Offenbarungswirkens, bewusst und richtet sein Handeln danach aus. 4.2 Joh 5,1–18[19–47]: Der erste Sabbatkonflikt In Joh 5,1–18[19–47] kommt es dem Verlauf des Evangeliums zufolge zum ersten Sabbatkonflikt zwischen Jesus und den Juden. Damit erblicken wir die erste Konfrontation, die nicht nur implizit durch divergierende Zeitorientierungen der interagierenden Personen ausgelöst wird, sondern bei der die Zeitnorm offen artikuliert und explizit zum Gegenstand des Vorwurfs gemacht wird. Zugleich ist dieser Zeitkonflikt von besonderer Brisanz für den weiteren Verlauf der Ereignisse, weil er − wiederum erstmalig im Verlauf des Evangeliums − den Verfolgungs- und Tötungswunsch der Juden provoziert. Von diesem ersten expliziten Zeitkonflikt an mehren sich sowohl die Ergreifungsversuche (Joh 7,30.32.44; [8,20]; 10,39), die erst mit Verzögerung in Joh 11,57 institutionell bestätigt und in Joh 18,12 ausgeführt werden, sowie das/die Tötungsbegehren/versuche (Joh 7,1.19.25; 8.37.40; 10,31), die wiederum erst in Joh 11,53 juristisch beschlossen und in Joh 19,16–30 durchgeführt werden. Es ist die erste Interaktion im Zusammenhang mit einer Wunderhandlung, die von Jesus selbst initiiert wird. Er fragt den Kranken am Teich Bethzatha die rhetorische Frage, ob er gesund werden wolle (V. 6), im Wissen, dass dieser schon viel Zeit hatte (πολὺν ἤδη χρόνον ἔχει). Dieses πολὺν χρόνον kann auf die Zeit der Krankheit, auf die Zeit des Dort-Liegens (κατάκειμαι) 277 oder schlichtweg auf dessen fortgeschrittenes Alter bezogen werden. In jedem Falle ist Jesus die Hoffnungslosigkeit der Situation des Kranken bewusst, die jener dann auch, die Heilung weiter verzögernd, zum Ausdruck bringt. Er habe keinen Menschen, der ihn rechtzeitig zum Wasser trage. Er sei stets zu spät, um die Wirkung des heilenden Wassers abzupassen. Was seine Heilung also verhindert, ist seine Langsamkeit bzw. Lahmheit. Er kommt nicht in den Rhythmus der Heilanstalt, der im wohl sekundären V. 4 näher erläutert wird.278 Ein Engel kommt gemäß einem Kairos (κατὰ καιρὸν) in den Teich und wühlt die Wasser auf. Allein der Erste, der ins Wasser hineingeht, wird geheilt. Der Langzeitkranke kann diesem Kairos nicht nachkommen. Gegenüber Jesus äußert er nur indirekt seinen Wunsch, gesund zu werden. Sein Ja zur Gesundung steht unter einem zeitlichen Vorbehalt und bringt Resignation zum Ausdruck. Vielleicht hofft er darauf, dass Jesus ihn bei der nächsten Wasserbewegung hineinträgt. 277 Nach BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 61988, 835 meint κατάκειμαι häufig speziell das Darniederliegen von Kranken. 278 Joh 5,4 wird nur von einige Majuskeln (ab dem 5. Jh.) und Minuskeln (ab dem 9. Jh.) bezeugt und weder von Papyri, noch von den wichtigen, alten Textzeugen wie dem Codex Sinaiticus/Vaticanus (aus dem 5. Jh.) gelesen. Doch auch ohne den erklärenden Vers wird die Zeitproblematik beim Heilungsprozesses des Kranken in seiner Erwiderung auf Jesu Frage deutlich.
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V. Textanalyse
Jesus reagiert mit einem eindeutigen und direkten Imperativ: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher! (V. 8) Die Reaktion des Kranken darauf ist ebenso direkt wie der Imperativ. Der Kranke wird sofort (εὐθέως) gesund, nimmt sein Bett und geht umher (V. 9). Eine 38 Jahre währende Krankheit wird sofort geheilt, ohne dass der kultische Kairos des sich bewegenden Wassers abgepasst werden müsste. Hier wird die erste Zeitnorm gebrochen. Während der Mensch am Teich aufgrund der langwierigen Krankheit und der streng getakteten Kultrhythmen die Hoffnung auf Heilung längst aufgegeben hat, kommt Jesus, als oder weil er ihn sieht und um seine vielen Jahre (mit der Krankheit) weiß (V. 6: τοῦτον ἰδὼν ὁ Ἰησοῦς κατακείμενον καὶ γνοὺς ὅτι πολὺν ἤδη χρόνον ἔχει | als/weil Jesus diesen liegen sah und wusste, dass er bereits viel Zeit [so verbracht] hatte), auf ihn zu, um ihn zu heilen. Es macht den Anschein, als wäre es geradezu Jesu Intention, seine Unabhängigkeit von den üblichen, vermeintlich unumstößlichen Zeitdeterminationen zu illustrieren. Im Anschluss an die Heilung entweicht er so zügig, dass der Geheilte ihn nicht nach seinem Namen fragen kann, mit der Begründung, dass eine Volksmenge an dem Ort war (V. 14). Möchte er doch kein Aufsehen erregen? Was ist seine leitende Zeitnorm bei diesem Verhalten? Das wird im Rahmen des darauffolgenden Zeitkonflikts mit den Juden offenbar. Erst nach dem Wunderauftakt wird ein weiteres Zeitsystem eingeführt: Ἦν δὲ σάββατον ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ. | Es war aber Sabbat an jenem Tag (V. 9). Die Auseinandersetzung zwischen den Juden und Jesus wird mit dieser Zeitangabe eröffnet, zunächst allerdings recht umständlich über den Geheilten als Mittelsmann. Die direkte Konfrontation wird insbesondere dadurch verzögert, dass der Geheilte seinen Heiler nicht kennt und ihn erst zufällig wieder im Tempel trifft. Hier erinnert ihn Jesus an seine Heilung und hält ihn dazu an, nicht mehr (μηκέτι) zu sündigen (V. 14), damit ihm nichts Schlimmeres passiert. Man könnte nun annehmen, seine vormalige Krankheit sei Ursache der Sünde und jede weitere Sünde werde noch schlimmere Krankheiten hervorbringen. Diese Kausalität zwischen Sünde und Krankheit wird aber im späteren Falle des Blindgeborenen und seiner Familie in Joh 9,3 verneint. Auf welche sündige Vergangenheit das μηκέτι verweist, ist unerheblich. Die negativen Erfahrungen der Vergangenheit (ebenso wie die 38 Jahre währende Krankheit) sind hier eben nicht handlungsleitend. Als die Juden erfahren, dass Jesus den Befehl zum Wandeln ausgesprochen und zum Sabbatbruch verführt hat, beginnen sie mit der Verfolgung (V. 16). Die plötzliche Gesundung des langjährig Kranken ist für sie zu keinem Zeitpunkt Anlass zum Staunen oder einer Nachfrage wert, allein das Bett Tragen und der darin enthaltene Sabbatbruch stößt auf ihr Interesse (V. 10.12.16) und gereicht ihnen zur Anklage. Während der Sabbatbruch ‚nur‘ die Verfolgung veranlasst, ist Jesu Antwort auf die Anklage (V. 17: ἀπεκρίνατο αὐτοῖς) Auslöser für die Tötungsabsicht (V. 18) der Ankläger. Was ist es, was die Juden derart aufwiegelt? Schlimmer
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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noch als der Bruch mit den gewohnten Zeitnormen, dem Sabbat, ist offenbar Jesu alternative Zeitorientierung. Sein Vater wirke bis jetzt (ἕως ἄρτι) und auch er wirke (V. 17). Dieses bis jetzt kann in zwei Richtungen interpretiert werden. Einige Exegeten werten es als die Kennzeichnung eines ununterbrochenen, unaufhörlichen Wirken Gottes auch am Sabbat, in das sich das κἀγὼ ἐργάζομαι | auch ich wirke Jesu einreiht und damit den Vorwurf des Sabbatbruches mit Berufung auf Gottes Handeln entkräftet.279 Denkbar ist dabei auch eine noch wörtlichere Übersetzung des ἕως ἄρτι in Anknüpfung an den Schöpfungsbericht. Zwar ruht Gott am siebten Tag (Gen 2,3 LXX: καταπαύω) nach seinem ganzen Werk, das er zu tun begonnen hatte (ἀπὸ πάντων τῶν ἔργων αὐτοῦ ὧν ἤ ρξ α το ὁ θεὸς ποιῆσαι), wohl aber wirkt er auch am Ruhetag und über diesen hinaus in diesem seinem Werk weiter. Dementsprechend wirkt Gott bis jetzt (ἕως ἄρτι ἐργάζεται), d.h. bis in den jeweils gegenwärtigen Sabbat hinein. Das Wirken Gottes ist mit dem die Schöpfung beschließenden Sabbat ja nicht abgeschlossen, auch danach entsteht immerzu neues Leben aus seiner Hand. Der Fokus auf das (Weiter-)Wirken ist mit der Verbwahl näher begründet, denn auch in V. 17 ist nicht mehr vom aktiv schöpferischen Machen (ποιέω) die Rede, sondern von ἐργάζομαι | wirken, erwirken, ausführen im Medium. An keiner Stelle sagt Jesus, dass er den Kranken gesund gemacht habe, lediglich dass er gesund geworden sei (V. 14: ἴδε ὑγιὴς γέγονας). Die anhaltende lebensspendende Macht Gottes ist also auch vom Sabbat nicht aufzuhalten. Diese Zeitorientierung der Wirkmächtigkeit Gottes nimmt Jesus auch für sich in Anspruch. Er beansprucht Gleichzeitigkeit mit dem Vater280 und diese Inanspruchnahme der Gleichzeitigkeit zur göttlichen Wirkzeit verschärft die Aversion der Juden gegen ihn und schürt ihren Tötungswunsch, denn die Behauptung der Synchronität mit dem ewigen Gott wäre mit Jesu Tod als Manifestation der Endlichkeit wirksam widerlegt. Im Anschluss an die erneute Entrüstung der Juden eröffnet Jesus (darauf antwortend) eine längere monologische Rede über den Wirkzusammenhang von Vater und Sohn, auf die die Juden zumindest der Erzählung nach vorerst keine weitere Rückmeldung geben (V. 19–47). In der längeren Rede Jesu wird ein Finalsatz artikuliert, der als übergreifendes Interaktionsziel gedeutet werden könnte: ἵνα πάντες τιμῶσι τὸν υἱὸν καθὼς τιμῶσι τὸν πατέρα (V. 23). Wenn im Wunderwirken die Gleichzeitigkeit des Wirkens von Vater und Sohn erkannt wird, können Sohn und Vater gleiche Ehre empfangen. Darüber hinaus spielen aber auch eschatologische Themen wie Gericht, Auferstehung der Toten und ewiges Leben eine Rolle. Erneut tritt die charakteristische Stunde auf. Diesmal nicht durch ein Personalpronomen oder einen 279 Vgl. u.a. KAMMLER, Christologie und Eschatologie, 2000, 14f.; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 304f. 280 Vgl. FREY, Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, 2000, 342.
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V. Textanalyse
Artikel näher bestimmt, dafür aber zeittheoretisch paradoxiert: ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν | Es kommt die Stunde und ist schon jetzt (V. 25). Diese Zeitaussage korrespondiert mit dem göttlichen Wirken bis jetzt, denn in beiden Fällen geht es nicht um eine metrische Zeitangabe, sondern um eine Dynamisierung der Zeitmodi mit Blick auf die Gegenwart. Durch das Wirken des Gottessohnes in, mit und unter der menschlichen Zeit, zugleich aber die menschliche Zeitlichkeit und Endlichkeit im Blick auf die göttliche Ewigkeit überwindend, werden die strengen Grenzen der Zeitmodi aufgehoben. Weder meint das Bis-Jetzt von der Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt und nicht weiter, etwa i.S. einer Ablösung des göttlichen Wirkens durch das Wirken seines Sohnes, noch meint die kommende Stunde eine ausschließlich zukünftige Größe, die nicht in ihre eigene Vergangenheit hineinwirken kann. Sie ist schon jetzt wirksam, ereignislinear gedacht sogar vor dem Eintreffen der Kreuzigungsstunde, die die Zeiten zu dynamisieren einsetzt. Schon vor der Kreuzigungsstunde bringt Jesus den guten Wein (Joh 2,9f.), leitet die Menschen zur wahren Anbetung an (Joh 4,23), lässt die Toten seine Stimme hören, damit sie leben (V. 25; Joh 11,43). Und mit dieser Dynamisierung der Zeiten können auch das Gericht, die Auferstehung und die Gabe des ewigen Lebens nicht mehr als rein futurische Eschata wahrgenommen werden, sondern rücken in die Gegenwart, jedoch ohne ihren Zukunftsaspekt zu verlieren. Wer Jesu Wort hört und an den glaubt, der ihn gesandt hat, der hat das ewige Leben (V. 24: ἔχει ζωὴν αἰώνιον im Präsens) und ist aus dem Tod ins Leben hindurchgegangen (μεταβέβηκεν ἐκ τοῦ θανάτου εἰς τὴν ζωήν im Perfekt). Rund um die Erzählung von der Heilung des Gelähmten werden also mehrere Zeitnormen vorgestellt, vorgelebt und miteinander in Beziehung gebracht. Der Wettlauf mit der kultisch rhythmisierten Zeit des Heilungsrituals, die schwerwiegende Erfahrung einer langwierigen Krankheit und die fortgeschrittene Lebenszeit, die ‚geheiligte‘ und blockierte Zeit des Sabbats stehen der kommenden und gegenwärtigen Stunde bzw. der Wirkzeit Gottes bis jetzt und darüber hinaus entgegen. Wie die unterschiedlichen Zeitnormen und -orientierungen im Detail über Semantik, Grammatik und Chronologik dargestellt und prononciert werden, welche Lesererwartungen geschürt, gebrochen und neujustiert werden und welche Bewertungsmechanismen schließlich dessen ethische Reflexion über die vorgestellten Zeitnormen flankieren, kann zu dieser Stunde nur anklingen. Aufschlussreich sind z.B. die Dominanz ordinaler über wenige kardinale Zeitangaben (z.B. die [späte] Sabbatinformation in V. 8); das bereits angesprochene perfektive μεταβέβηκεν und die Präsentia in Jesu Rede (V. 24); der ereignisinterne (iterative?) Imperativ von ποιέω in V. 16; die intensive Problembeschreibung einerseits (V. [4]5–7) und die repetitiven Heilungsbefunde andererseits (τεθεραπευμένος in V. 10; ὑγιής in V. 9.11.14.15; ἰαθείς in V. 13); die Repetition des Heilungsimperativs Jesu (V. 8.11.12); die Analepse des frühzeitigen Entweichens Jesu (V. 13) und die verspätete Begegnung zwischen Jesus und
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dem Geheilten (V. 14); die ausschließlich indirekten ‚Bewusstseinsberichte‘ der Juden in der Interaktion mit Jesus (V. 16.18) im Kontrast zu den direkten Antworten Jesu an sie (V. 17.19). Nahelegen würde sich auch ein Vergleich mit den synopt. Parallelerzählung und deren Vorziehen der Sündenvergebung vor die Heilung, oder mit der Heilung des Gelähmten durch Petrus „im Namen Jesu Christi“ in Apg 3,1–10, 281 oder mit rabbinischen Sabbattargumim/Mishnatraktaten (wie z.B. tSchab 15,16 [134]; mYom 85b), sowie eine Untersuchung der Metaphorik von Bethzatha als Haus der Gnade u.v.m. Der Lahme leidet unter den starren kultischen Zeitregimen und wird von Jesus daraus erlöst, indem er diese gesetzlichen Zeitregime selbst bricht und die Folgen erleidet. Der Sabbatbruch und sein Anspruch der Gleichzeitigkeit mit dem Vater, die er in der Auferweckung des Lazarus noch einmal effektvoll demonstriert, provozieren letztlich seine Tötung. 4.3 Joh 7,1–10[11–52; 8,12–59] 282: Kairos von Licht und Wasser In Joh 7,1–10 klafft ein offener Zeitkonflikt, der vielerorts bemerkt, selten jedoch zufriedenstellend interpretiert und in die zeit-ethische Dynamik des gesamten Evangeliumsgeschehens eingeordnet wird. Die Brüder fordern Jesus mit explizit direktivem Sprachakt dazu auf, nach Judäa zu gehen (μετάβηθι ἐντεῦθεν καὶ ὕπαγε εἰς τὴν Ἰουδαίαν), damit auch seine Jünger seine Werke sehen, die er tut (V. 3). Sie begründen ihre Aufforderung mit einer logischen Regel: Wer öffentlich sein will, handelt nicht im Verborgenen. Eines der großen Jahresfeste, an dem viele Juden extra nach Jerusalem reisen, scheint ihnen die perfekte Gelegenheit für eine solche Offenbarung Jesu (V. 4). Der Erzählerkommentar begründet die Aufforderung der Brüder mit deren fehlendem Glauben (V. 5). Dadurch erhält sie den negativen Charakter einer Versuchung, wenngleich sich ihre Anfrage durchaus in Jesu grundsätzlicher Sprach- und Argumentationslogik bewegt (Joh 3,20f.: Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind). Jesus lehnt ihre Aufforderung mit einer zeitlichen Begründung ab: ὁ καιρὸς ὁ ἐμὸς οὔπω πάρεστιν, ὁ δὲ καιρὸς ὁ ὑμέτερος πάντοτέ ἐστιν ἕτοιμος | Mein Kairos ist noch nicht gekommen, euer Kairos aber ist immer bereit (V. 6). Und 281
Zum Heilungswunder in Apg 3,1–10 und dessen Auslegung vgl. HORN, Entsetzen an der Schönen Pforte (Die Heilung des Gelähmten im Tempel) – Apg 3,1–10, 2017, 134–144. 282 Die anschließenden Reden Jesu auf dem Laubhüttenfest zeigen einerseits weitere Zeitkonflikte auf, geben andererseits Auskunft über Jesu spezielle Zeitorientierung und werden deshalb mitverhandelt. Da in Joh 8,12 formal mit einem πάλιν und auch inhaltlich durch die Licht- und Zeugnisthematik an die Rede am letzten Tag des Laubhüttenfests angeknüpft wird, die eingeschobene Szene in Joh 7,53–8,11 wiederum handschriftlich schlecht bezeugt ist (s.u. Anm. 325), wird hier davon ausgegangen, dass in Joh 8,12 das Geschehen auf dem Laubhüttenfest weitergeht und mindestens bis Joh 8,59 reicht.
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V. Textanalyse
er ergänzt: Euch kann die Welt nicht hassen (οὐ δύναται ὁ κόσμος μισεῖν ὑμᾶς), mich aber hasst sie, weil ich über sie zeuge, dass ihre Werke böse sind (V. 7). Warum kann die Welt die Brüder nicht hassen? Die Welt kann sie nicht hassen, weil die Brüder selbst aus der Welt und eben nicht wie die Jünger in Joh 15,18f. von Jesus aus ihr heraus erwählt sind.283 Im Gegensatz zu Jesus können sie das Böse in der Welt nicht bezeugen und werden deshalb auch nicht von ihr gehasst.284 Jesus weist mit seiner Antwort darauf hin, dass es nicht seine Pflicht ist, im Lichte der Öffentlichkeit zu handeln, um zu bezeugen, dass seine Werke gut sind, sondern dass er selbst das Licht ist, das gute von schlechten Werken unterscheiden lässt (Joh 3,19; 8,12; 12,35.36). Die Zeit für die endgültige Scheidung im Aufscheinen seiner Herrlichkeit ist jedoch noch nicht gekommen. Jesus kontert schließlich mit einem Imperativ. Die Brüder sollen zum Fest hinaufgehen, er aber gehe nicht hinauf zu diesem/an diesem/für dieses Fest, weil sein Kairos noch nicht erfüllt sei (V. 8). Jesus bleibt in Galiläa (V. 9). Doch bereits im nächsten Vers wird berichtet, dass auch Jesus, nachdem seine Brüder hinaufgegangen waren zum Fest, hinaufging οὐ φανερῶς ἀλλὰ [ὡς] ἐν κρυπτῷ | nicht sichtbar, sondern im Verborgenen (V. 10). Jesu Antwort an die Brüder und sein Aufgang zum Fest widersprechen sich also. Während die meisten Exegeten diesen Widerspruch zu harmonisieren trachten, wollen wir mit Tyler Smith diese Täuschung der Brüder durch Jesus wahrnehmen und gelten lassen.285 Dies tun wir auch und v.a. gegen die Intuition, Jesu Verhalten stets als unmittelbar nachahmenswert und ethisch instruktiv interpretieren zu wollen. Jesu Verhalten gegenüber seinen Brüdern ist, ähnlich wie sein Verhalten gegenüber seiner Mutter oder gegenüber den Schwestern Lazari, eben sowohl nach antiken als auch nach modernen Normen nicht in direktem Sinne mustergültig.286 Für Adele Reinhartz sind jene Begegnungen sogar Grund genug, dem joh. Jesus grundsätzlich (insbesondere auch aufgrund der hohen Christologie des JohEv) jeglichen ethischen Modellcharakter abzusprechen.287 Gleichwohl, so die Argumentation dieser Studie, ist Jesu Verhalten sehr wohl ethisch signifikant, wenn auch nicht immer unmittelbar praktikabel und kopierbar. Sein Verhalten offenbart eine von den Brüdern abweichende Zeitnorm. Die Brüder sind an rituellen Zyklen bzw. öffentlicher Zeit orientiert. Sie stehen mit ihrer Aufforderung im Gegensatz zu Jesu Jüngern, die ihrem Rabbi in Joh 11,8 aufgrund der Gefahr abraten, nach Judäa zu gehen. Jesus aber sieht zu jenem Zeitpunkt keinen Grund mehr, der Gefahr auszuweichen, denn der Tag hat zwölf Stunden, und wer bei Tag umhergeht, stößt sich nicht (Joh 283
Vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 386. Vgl. AUGUSTINUS, Tractates on the Gospel of John 55–111, 2010, 9 (28,8.1). 285 Vgl. SMITH, Deception in the Speech Profile of the Johannine Jesus (John 7.1–10), 2017, 169–191. 286 REINHARTZ, The Lyin’ King? Deception and Christology in the Gospel of John, 2017, 124–127. 287 Vgl. neben a.a.O., 117–133 auch DIES., A Rebellious Son?, 2017, 234. 284
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11,9f.). Sowohl die Brüder als auch die Jünger sind an weltlichen Rhythmen orientiert, die Jünger an der aktuellen Gefahr, die Brüder an der rituellen bzw. öffentlichen Zeit. Jesu Zeitorientierung scheint demgegenüber inkohärent. In Joh 7,1.6–8 meidet er die Lebensgefahr in Judäa, in Joh 11,8–10 geht er sie ein, denn die Zeiten für Tag und Nacht, Leben und Tod seien ohnehin festgelegt. Bei genauerem Hinsehen, kann man jedoch sehen, dass es stets dieselbe Zeit ist, die seiner Handlung Richtung gibt: die Stunde, der Kairos ἵνα μεταβῇ ἐκ τοῦ κόσμου τούτου πρὸς τὸν πατέρα | dass er hinübergehe aus dieser Welt zum Vater (Joh 13,1). Auf eben jenen Zeitpunkt macht er in Joh 11 aufmerksam, indem er eine abstrakte Auferstehungshoffnung präsentisch erfüllt und dadurch seinen Tötungsbeschluss heraufführt. Er verweist damit bereits auf seine Todesstunde, die Leben schafft. Auf eben jenen Zeitpunkt macht er auch in Joh 7 aufmerksam. Die Brüder fordern ihn auf, von hier hinüberzugehen (V. 3: μετάβηθι ἐντεῦθεν), doch der Kairos, die Stunde ἵνα μεταβῇ ἐκ τοῦ κόσμου τούτου (Joh 13,1) ist eben noch nicht erfüllt. Jesus täuscht seine Brüder auf deren weltlicher Bedeutungs- und Verstehensebene, indem er angibt, nicht zu diesem Fest hinaufzugehen.288 Doch wie Smith an der Sinnvielfalt der Präposition εἰς demonstriert hat, kann Jesu Antwort eben auch bedeuten, dass er nicht auf dem Fest oder während des Festes hinaufgeht (zum Vater), weil die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Erst auf einem anderen Fest (nämlich dem Passa) geht er hinauf. Seine Antwort kann ebenso bedeuteten, dass er nicht für dieses spezifische Fest hinaufgeht,289 weil er eben nicht an Festzeiten und öffentlichem Ruhm interessiert ist, sondern hinaufgeht, um dort von der entscheidenden Stunde seines Weggangs zu dem, der ihn gesandt hat, und von der Bedeutung dieses Weggangs zu lehren (V. 33–39). Fokus und Richtung Jesu Handlungen vor und auf dem Fest sind also von der Stunde seines Weggangs zum Vater bestimmt. Das wird nicht nur in seiner Antwort an die Brüder deutlich, sondern auch an der Tatsache, dass er später im Verborgenen und nicht mit ihnen hinaufgeht, ebenso wie an Struktur und Hergang seiner offenen (παρρησίᾳ; vgl. auch V. 26) Rede auf dem Fest. Die Struktur seiner Rede zu verfolgen wird dadurch erschwert, dass mitunter nicht klar ist, mit wem und zu wem er eigentlich gerade spricht. In Joh 7,1–52 werden einige Personengruppen in die Ereignisse eingeflochten: die Gruppe der Juden (V. 1.2.11.13.14.35: Ἰουδαῖοι), 290 die Menge(n) (V. 12.20.31.32.40.43.49: 288
Vgl. SMITH, Deception in the Speech Profile of the Johannine Jesus (John 7.1–10), 2017, 180. 289 Vgl. a.a.O., 179f. 290 Über die Gruppe der Juden und ihre Rolle im JohEv wurde in der Forschung viel und intensiv diskutiert, bisweilen mit dem starken Interesse, die antisemitischen Wogen des vierten Evangeliums zu glätten (vgl. u.a. CARON, Qui sont les «Juifs» de l’évangile de Jean?, 1997). Die Diskussion kann an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit aufgenommen werden. Einen guten forschungsgeschichtlichen Überblick zu diesem Thema stellt VON WAHLDE, The “Jews” in the Gospel of John., 2000, 30–55 (für die Jahre 1983–1998) zur
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V. Textanalyse
ὄχλοι/ὄχλος), 291 ferner einige von den Jerusalemern (V. 25: τινες ἐκ τῶν Ἱεροσολυμιτῶν), schließlich die Oberen (V. 26.48: ἄρχοντες), die Pharisäer (V. 32.45.47.48: οἱ Φαρισαῖοι), die Hohepriester (V. 32.45: οἱ ἀρχιερεῖς)292 und deren Knechte (V. 32.45.46: οἱ ὑπηρέται). Immer wieder überlagern und vermischen sich die Adressaten Jesu in den unterschiedlichen Redeabschnitten.293 Insbesondere die zahlreichen Übergänge von Gesprächen (bzw. Gesprächs- oder Bewusstseinsberichten) über Jesus in dritter Person (V. 11–13; 15; 25–27; 31f.; 35f. 40–43) zur direkten Anrede durch Jesus in zweiter Person erschweren die genaue Zuordnung der Dialogpartner und erwecken den Eindruck einer mehrspurigen Konversation.294 Die Brüder tauchen nach ihrem Gang zum Fest nicht mehr auch. Für Nolette/Tolmie verschwinden sie damit in der Gruppe der Juden, werden vielleicht sogar ein Teil von ihr.295 Trotz der Mehrspurigkeit ihrer Adressierung kann die Rede Jesu in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung durchaus nachgezeichnet werden. Die Fragen und Inquisitionen der Kontrahenten sind stets auf seine Herkunft gerichtet. Sie fragen nach der Herkunft seiner Lehre: V. 15: πῶς οὗτος γράμματα οἶδεν μὴ μεμαθηκώς; | Wie/Woher kennt dieser die Schrift, wenn er sie doch nicht gelernt hat? oder nach der Herkunft Jesus selbst: V. 27: ἀλλὰ τοῦτον οἴδαμεν πόθεν ἐστίν· ὁ δὲ χριστὸς ὅταν ἔρχηται οὐδεὶς γινώσκει πόθεν ἐστίν | Aber von diesem wissen wir, woher er ist. Der Christus aber, wenn der kommt, von dem weiß niemand, woher er kommt. V. 41f.: μὴ γὰρ ἐκ τῆς Γαλιλαίας ὁ χριστὸς ἔρχεται; οὐχ ἡ γραφὴ εἶπεν ὅτι ἐκ τοῦ σπέρματος Δαυὶδ καὶ ἀπὸ Βηθλέεμ τῆς κώμης ὅπου ἦν Δαυὶδ Verfügung; einen guten forschungssystematisierenden Überblick gibt ZIMMERMANN, “The Jews”: Unreliable Figures or Unreliable Narration?, 2013, 71–109 (bis 2013). Die Juden können als ethnisch-kulturelle Gruppe (im Gegenüber zu den Römern), als geographische Gruppe (im Gegenüber zu den Galiläern), als traditionsgeschichtlich-historische Größe (Nachkommen in der Linie Judahs), als religiös-theologische Gruppe (Anhänger der judäischen Religion) oder als funktionelle Gruppe (religiöse Autoritäten in Jerusalem) aufgefasst werden (vgl. a.a.O., 73). R. Zimmermann macht insbes. darauf aufmerksam, dass, wenngleich die Juden in Joh 18,20 als einheitliche Gruppe angesprochen werden, die Identität dieser Gruppe jedoch ungemein komplex und vielschichtig ist und kaum auf eine homogene Entität heruntergebrochen werden kann (vgl. a.a.O., 88). 291 Die (Volks-)Menge und die Juden werden tlw. nahezu synonym als Antipode zu Jesus aufgestellt (Joh 7,11f.) (vgl. a.a.O., 73), in Joh 7,13 jedoch oppositioniert: Die Menge spricht aus Angst vor den Juden nicht offen. 292 Die Jerusalemer grenzen sich explizit von den Oberen ab (Joh 7,26) und die Pharisäer und Hohepriester von der Menge (Joh 7,49). 293 Vgl. BENNEMA, The Crowd: A Faceless, Divided Mass, 2013, 349. 294 Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 286. 295 Vgl. NOLETTE/TOLMIE, The Brothers of Jesus, 2013, 242.
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ἔρχεται ὁ χριστός; | Der Christus kommt doch wohl nicht aus Galiläa? Sagt nicht die Schrift, dass der Christus aus dem Geschlecht Davids aus dem Dorf Bethlehem, wo David war, herkommt? Inmitten dieser Diskussion um Jesu Herkunft spricht Jesus jedoch über seine Bestimmung: V. 33f.: ἔτι χρόνον μικρὸν μεθ᾽ ὑμῶν εἰμι καὶ ὑπάγω πρὸς τὸν πέμψαντά με. | Noch eine kleine Zeit bin ich mit euch und [dann] gehe ich zu dem, der mich gesandt hat. ζ η τή σε τέ με καὶ ο ὐχ ε ὑ ρ ήσ ετ έ [με], καὶ ὅπου εἰμὶ ἐγὼ ὑμεῖς οὐ δύνασθε ἐλθεῖν | Ihr werdet mich su ch e n /gegen mich ermitteln296 und n ich t fin d en , und wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen. Dies ist die erste von mehreren Ankündigungen, dieser Art. In Joh 8,21 kündigt Jesus im Tempel erneut seinen Weggang an. Hier heißt es: Joh 8,21:ἐγὼ ὑπάγω καὶ ζ η τ ή σετ έ με, καὶ ἐν τῇ ἁμαρτίᾳ ὑμῶν ἀπο θ αν ε ῖσ θε | Ich gehe weg und ihr werdet mich su ch en /gegen mich ermitteln, und in euren Sünden werdet ihr ste rb en . Auch gegenüber dem Volk und seinen Jüngern erwähnt er seinen Weggang (Joh 12,35f.; 13,33). Seine Jünger werden ihn suchen, ihm aber nicht folgen können. Wenig später heißt es noch markanter: Joh 14,19:ἔτι μικρὸν καὶ ὁ κόσμος με οὐκέτι θεωρεῖ | Noch eine kurze Zeit und die Welt sieht mich nicht mehr ὑμεῖς δὲ θ ε ω ρ ε ῖ τέ με, ὅτι ἐγὼ ζῶ καὶ ὑμεῖς ζήσ ε τε . | Ihr aber seh t mich , weil ich lebe und ih r leb en w erd et. Was bei den nichtglaubenden Juden die Folge suchen und nicht finden bzw. suchen und sterben war, ist bei den nachfolgenden Jüngern sehen und leben – ζήσετε statt ζητήσετε. Weshalb finden die Juden ihn nicht? Weil sie bloß seine weltliche Herkunft sehen (V. 27) und daraus eine weltliche Bestimmung errechnen, etwa dass er zu den Griechen geht (V. 35) oder sich gar selbst umbringen will (Joh 8,22). Sie sind von der Welt (Joh 8,23) und denken in deren Grenzen. Indem Jesus nicht gleich zu Beginn mit seinen leiblichen Brüdern zum Fest hinaufkommt, verstärkt er seine Dissoziation nicht nur von weltlichen Festzyklen, sondern auch von seiner weltlichen Herkunft und weist damit umso deutlicher auf seinen Weggang aus der Welt zu seinem wahren Vater hin, woher er auch kam. Wie in Joh 5,10–13 suchen die Juden ihn (V. 11), bis er selbst überraschend mitten im Fest auftritt (V. 14). Dorit Felsch beschreibt richtig: „Hier wie da geht alle Aktivität und Souveränität allein von Jesus aus, der nicht gefunden wird, sondern findet, der sich nicht an den Erwartungen und Zeiten ‚der
296 Mehr zur juristischen Bedeutung von ζητέω in Ermittlungskontexten unter 4.7 Joh 18,1–19,16: Prozessverschleppung.
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V. Textanalyse
Welt‘ orientiert, sondern seinen eigenen καιρός bestimmt.“297 So wie die eschatologische Zeichnung Maleachis den Herrn am Ende der Zeit plötzlich in seinen Tempel treten lässt: καὶ ἐξαίφνης ἥξει εἰς τὸν ναὸν ἑαυτοῦ κύριος ὃν ὑμεῖς ζητεῖτε | Und plötzlich kommt zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht (Mal 3,1LXX), tritt auch Jesus plötzlich auf dem Fest auf.298 Jesu Rede auf dem Laubhüttenfest drängt in die Richtung seiner Bestimmung, während seine Kontrahenten sich mit seiner Herkunft beschäftigen und den erwarteten Messias weiterhin in ferner Zukunft verorten (V. 31). Jesus macht sie darauf aufmerksam, dass derjenige, den sie in ferner Zukunft erwarten, schon da ist299 und bald wieder zurückgeht, wo sie ihn nicht mehr finden können (V. 33f.). Bei einigen aus der Menge kann er sogar positive Reaktionen auf seine Rede hervorrufen (V. 31.40.46). So entsteht am Fest der Lese bzw. Versammlung (Ex 23,16; 34,22: | אֹסֵף ;◌ְ ַ ֤חג ָהֽאָ ִסףversammeln) ein σχίσμα (V. 43) über Jesu Herkunft und Messianität. Francis Moloney beschreibt das Laubhüttenfest als Fest der Herkunft und Geschichte (in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten), und zugleich der eschatologischen Bestimmung.300 Insbesondere Sach 14 liefert den eschatologischen Rahmen des Festes. So heißt es in Sach 14,6–8: Und es wird geschehen an jenem Tag, da wird kein Licht sein, die prächtigen Gestirne ziehen sich zusammen. Dann wird es einen Tag lang – er ist dem Herrn bekannt – weder Tag noch Nacht werden; und es wird geschehen, zur Zeit des Abends, da wird Licht werden. Und es wird geschehen an jenem Tag, da werden lebendige Wasser aus Jerusalem fließen, die eine Hälfte zum östlichen Meer und die andere Hälfte zum hinteren Meer; im Sommer wie im Winter wird es so geschehen.301
Und in Sach 14,16f.: Und es wird geschehen: Alle Übriggebliebenen von allen Nationen, die gegen Jerusalem gekommen sind, die werden Jahr für Jahr hinaufziehen (LXX: ἀναβήσονται), um den König, den Herrn der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern. Und es wird geschehen, wenn eines von den Geschlechtern der Erde nicht nach Jerusalem hinaufziehen wird (LXX: ἐὰν μὴ ἀναβῶσιν), um den König, den Herrn der Heerscharen, anzubeten, über diese wird kein Regen kommen […]302
Vor dem Hintergrund dieser eschatologischen Zeichnung des Laubhüttenfestes ist es besonders interessant, dass Jesus sich zunächst weigert, mit den Brüdern
297
FELSCH, Die Feste im Johannesevangelium, 2012, 173. Vgl. ebd. 299 Vgl. BRANT, John, 2011, 139: „John shows their thoughts moving in the right direction, but their habit of projecting the coming of the messiah into the future prevents them from recognizing that he has come.“ 300 Vgl. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 66; ferner FELSCH, Die Feste im Johannesevangelium, 2012, 175.209; ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 288. 301 Zitiert nach der Übersetzung der Revidierten Elberfelder Bibel (1993). 302 Zitiert nach der Übersetzung ebd. 298
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hinaufzugehen. Wird ihm das Schicksal der Heiden widerfahren, die nicht herausziehen und deshalb keinen lebensspendenden Regen empfangen? Nein, denn er ist nicht nur selbst das Licht, das gute von bösen Taten unterscheidet (s.o.), sondern er ist selbst die Quelle des lebendigen Wassers (Joh 4,10.13f.): Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Leib fließen (V. 38). Deshalb ist er nicht an die Festzeiten gebunden. Noch deutlicher wird diese Unabhängigkeit in der Auseinandersetzung mit den Ritualen rund um das Laubhüttenfest und deren Auslegungstraditionen. Eine wichtige Rolle für die Festlichkeiten spielt die tägliche Wasserspende. Am Morgen eines jeden Festtages wird in einer Prozession Wasser vom Teich Siloam zum Tempel getragen und dort gemeinsam mit Wein auf einem Altar dargebracht (mSuk 4)303 Dies ist denn auch der Teich, in dem sich der Blindgeborene seine Augen wäscht und seine Augenlicht erhält (Joh 9,7f.). Felsch hat die Zusammenhänge von Sukkottraditionen und Joh 7 besonders gründlich nachgezeichnet. In ihrer Studie zu den Festen im JohEv zeigt sie, dass Jesu Ausruf am letzten Tag des Festes (V. 37–38) als Antwort auf das Zeremoniell am siebten Tag des Laubhüttenfestes insbesondere dem siebenmal wiederholten Hoschiaʼna-Rufes (Hilf doch!) verstanden werden kann.304 Dieser Ruf repräsentierte zu Beginn der Entwicklung der Laubhüttenfesttraditionen ein schlichtes Gebet zum Schöpfergott um gute Ernte, wurde nachexilisch zu einem Flehen um Beistand und Errettung aus Not und Bedrängnis im Glauben an die bleibende Präsenz JHWHs mit seinem Volk und erhielt v.a. im Zusammenhang mit Sach 14 eine eschatologische Dimension als Bitte um die endgültige Erlösung Israels.305 In der rabbinischen Tradition (mSuk 4,9; tSuk 3,3.7–13) wurde die Bedeutung der Wasserspende während der sieben Tage des Laubhüttenfestes noch weiter fortentwickelt. Das Wasser, das am Fest dem Teich Siloam entnommen und über dem Altar ausgegossen wird, gilt nun als Symbol für das eschatologische Heilswasser (vgl. Ez 47,12) zum Zwecke der Sündenvergebung und Reinigung (vgl. Sach 13,1), das einst aus der Tempelschwelle strömen wird, um Leben für alle Lebewesen zu geben (vgl. Ez 47,9) und mit den Urwassern der Schöpfung zusammenfließt (tSuk 3,10). In ySuk 5,1 wird dieses eschatologische Wasser gar mit dem Empfang des Heiligen Geists verbunden. Am letzten Tag des joh. Laubhüttenfests, der von Felsch überzeugend mit dem siebten Festtag („Tag des Hoschana“, WaR 37,2) identifiziert wird, 306 ruft (ἔκραξεν) nun Jesus in Antwort auf den Hoschia’na-Ruf: ἐάν τις διψᾷ ἐρχέσθω πρός με καὶ πινέτω ὁ πιστεύων εἰς ἐμέ, καθὼς εἶπεν ἡ γραφή, ποταμοὶ ἐκ τῆς κοιλίας αὐτοῦ ῥεύσουσιν ὕδατος ζῶντος | Wenn jemand dürstet, komme er zu mir und
303
Vgl. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 67. Vgl. FELSCH, Die Feste im Johannesevangelium, 2012, 209–211. 305 Vgl. a.a.O., 179–182. 306 Vgl. a.a.O., 176–178. 304
374
V. Textanalyse
es trinke, wer an mich glaubt, gleich wie die Schrift sagt: ‚Ströme lebendigen Wassers werden aus seinem Leib fließen‘.307
Das Schriftwort lässt sich auf kein einzelnes atl. Schriftzitat zurückführen, sondern ruft die Assoziationen mehrerer atl. Schriftstellen hervor.308 Darunter befinden sich zum einen die reiche Tradition einer eschatologischen Tempelquelle (Sach 13f.; Ez 47,1–12), zum anderen die Tradition des wasserspendenden Felsens während der Wüstenwanderung (Jes 48,21; Ps 78,16f.20; vgl. auch Jes 2,13; 12,3; 35,6f.; 17,13; 44,4). In der Verbindung beider Motive im Kontext Jesu Ausruf auf dem Fest wird Jesus selbst zur Person, „aus dem die eschatologischen Tempelwasser fließen werden, deren Erwartung den Wasserritus von Sukkot bestimmt.“309 Wie schon in Joh 2,17 das Tempus des atl. Schriftzitates von Aorist zu Futur umgewandelt wird (ὁ ζῆλος τοῦ οἴκου σου κα τ α φ άγ ε τ α ί με | Der Eifer um dein Haus wird mich verzehren statt Ps 68,10LXX: ὁ ζῆλος τοῦ οἴκου σου κατέ φ αγ έν με) und Jesus in Joh 6,31f. das von den Gegnern zitierte Schriftwort über die Gabe des Mannas durch Gott von Aorist zu Präsens verbessert (ἔδωκεν zu δίδωσιν), so wird auch in dieser Akklamation Jesu auf dem Laubhüttenfest das Strömen des Wassers von der Vergangenheit (Ps 77,20LXX: ἐρρύησαν) in die (nahe) Zukunft (V. 38: ῥεύσουσιν) verlagert.310 Was das Volk Israels in der Vergangenheit erfahren durfte, wird nicht mehr nur in der alljährlichen Wiederholung auf diesem Laubhüttenfest vergegenwärtigt und eschatologisch in Erwartung gestellt, sondern in einem konkreten historischen Augenblick ein für alle Mal eingelöst und vervollständigt, nämlich am Kreuz. Hier übergibt Jesus als das Licht der Welt (Joh 8,12) und die Quelle lebendigen Wassers seinen Geist (Joh 19,30), und aus seiner Seite treten Blut und Wasser heraus (Joh 19,34). Er ist der Tempel (vgl. Joh 3,21), aus dem das heilende Wasser fließt. Felsch folgert abschließend: „Die Wasser der Schöpfung, das Wasser während der Wüstenwanderung als der Zeit, in der die Geschichte Israels als Gottesvolk begann, und die zukünftig aus dem Tempel strömenden Wasser, die eschatologisches Heil mit sich bringen, fließen zusammen in der Wasserspende von Sukkot und im Kreuzestod Jesu.“311
Das Schriftzitat in V. 38 weist also voraus auf die Stunde des Kreuzestodes und der Verherrlichung, auf Jesu Weggang zum Vater, auf Jesu Bestimmung. 307 Ich folge hier der Übersetzung von Felsch, die aus den überzeugenden Gründen der inhaltlichen Kohärenz zur joh. Christologie (allein Jesus ist Quelle des lebendigen, geistspendenden Wassers zum ewigen Leben; vgl. Joh 2,21; 6,35; 10,27f.; 11,26; 19,34) das Wasser aus dem Leib Jesu und nicht aus dem Leib der Glaubenden fließen lässt und deshalb die Interpunktation von ो (nach πινέτω) zurückweist (vgl. a.a.O., 190–193). 308 Vgl. a.a.O., 200. 309 A.a.O., 208. 310 Vgl. a.a.O., 202–206. 311 A.a.O., 210.
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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Er kommt nicht zu Beginn des Festes mit den Brüdern hinauf, weil nicht seine leibliche Herkunft, sondern seine wahre Bestimmung im Mittelpunkt steht. Er ist nicht Sohn Josephs, sondern vom Himmel gekommen (Joh 6,42) und dorthin zurückkehrend. Sein Fleischwerden, sein Zelten in der Welt (Joh 1,14) ist wie das siebentägige Zelten auf dem Laubhüttenfest (Lev 23,42f.) nur vorübergehend. Er kommt in der Mitte des Festes in den Tempel und lehrt, weil er sich von denen, die nach ihm trachten, nicht finden lässt, sondern selbst in aller Plötzlichkeit und Selbstbestimmung findet/ermittelt und offenbart. Er verweist am letzten, großen Tag des Festes in Antwort auf die Bitte um Regen, Beistand und eschatologische Rettung (Hoschia’na-Ruf) auf seine Kreuzigung: Denn es werden Ströme lebendigen Wassers aus seinem Leib fließen. Er ist Quelle des Wassers zum ewigen Leben und Licht der Welt, das Gutes vom Bösen scheidet, er gibt den Heiligen Geist (V. 39; vgl. Joh 19,30), und indem er sein Leben gibt, wäscht er rein und schafft neues, ewiges Leben. In der Kreuzigungsstunde formiert sich die wahre familia dei, der geliebte Jünger nimmt Jesu Mutter zu sich und wird damit zu seinem wahren Bruder. Die Anfrage der Brüder dagegen gleicht der Anfrage der Juden in Joh 10,24: εἰ σὺ εἶ ὁ χριστός, εἰπὲ ἡμῖν παρρησίᾳ | Wenn du der Messias bist, so sage es uns offen/öffentlich, sowie der Anfrage des Judas in Joh 14,22: κύριε, [καὶ] τί γέγονεν ὅτι ἡμῖν μέλλεις ἐμφανίζειν σεαυτὸν καὶ οὐχὶ τῷ κόσμῳ; | Herr, und was ist geschehen, dass du im Begriff bist, dich uns sichtbar zu machen, aber nicht der Welt? Sie alle richten nach dem, was vor Augen ist (V. 24), und halten Jesu Rede und Auftreten vor der Welt deshalb für verborgene Rede. Jesus selbst aber bezeugt im Prozess (Joh 18,20): ἐγὼ π α ρ ρ η σ ί ᾳ λελάληκα τῷ κόσμῳ, ἐγὼ πάντοτε ἐδίδαξα ἐν συναγωγῇ καὶ ἐν τῷ ἱερῷ, ὅπου πάντες οἱ Ἰουδαῖοι συνέρχονται, καὶ ἐν κρυπτῷ ἐλάλησα οὐδέν. | Ich habe i n O f f e n h e i t geredet zur Welt, ich habe immer in einer Synagoge und im Heiligtum gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen, und im Verborgenen redete ich nichts.
Weil die Juden nur im Rahmen dessen, was sie kennen, im Rahmen traditioneller jüdischer Rhythmen, Begriffe und Kategorien urteilen, sehen sie die Offenbarung seiner Herrlichkeit nicht. 312 Sie sehen deshalb auch nicht, dass das Laubhüttenfest, das traditionell als das Fest JHWHs (Lev 23,39; Ri 21,19; Jub 16,27)313 bezeichnet wurde, zur Ankündigung des Tages bzw. der Stunde Jesu wird. So verkündet Jesus noch im Rahmen des Laubhüttenfests in Joh 8,56: Abraham, euer Vater, wurde froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich. Felsch hat eine interessante Parallele zum Jubiläenbuch hergestellt, in dem Abraham als Urheber des Laubhüttenfests dargestellt wird. Das wichtigste Motiv des Festes ist hier die Freude Abrahams (Jub 16,20.25.27.29.31). So nennt Abraham das Fest dann auch „Fest des Herrn, 312 313
Vgl. BRANT, John, 2011, 138. Vgl. FELSCH, Die Feste im Johannesevangelium, 2012, 175.
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V. Textanalyse
Freude über das Annehmen des höchsten Gottes“ (Jub 16,27).314 Dieses Fest des Herrn wird in der Auslegung Jesu sein Tag, an dem er seinen Weggang zum Vater ankündigt und über den sich Abraham freut. Wer zu schnell urteilt und die Welt nach den traditionellen Kategorien der Welt wahrnimmt, wird Jesus nicht finden. Ist Jesu Verhalten nachahmungswürdig? Ist Joh 7, wie Theobald darlegt, ein „Lehrstück zum Zeit-Verständnis“315? Sollten auch wir uns mehr am Kairos ausrichten, statt ihn wie die Brüder „durch den Lärm unserer eigenen Zeitregie“316 zu übertönen? Handelt Jesus richtig und gut? Die Juden auf dem Fest, die ihn suchen und über ihn debattieren, bewerten jemanden, der irreführt (πλανάω), eindeutig als nicht gut (V. 12). Und unsere moralische Intuition würde ihnen Recht geben. Dass Jesus seine Brüder täuscht, erscheint deshalb nicht gerade nachahmenswert. Wer täuscht, bricht das achte Gebot: οὐ ψευδομαρτυρήσεις κατὰ τοῦ πλησίον σου μ α ρ τ υ ρ ί α ν ψευδῆ | Du sollst nicht falsch Zeu g n is ablegen gegen deinen Nachbarn (Ex 20,16 LXX; Deut 5,20LXX). Doch legt Jesus falsches Zeugnis ab? Legt nicht gerade er wahres Zeugnis von der Welt ab (V. 7: ἐγὼ μ α ρ τ υ ρ ῶ περὶ αὐτοῦ [ὁ κόσμος, Anm. d. Verf.] ὅτι τὰ ἔργα αὐτοῦ πονηρά ἐστιν | ich bezeuge von ihr [der Welt, Anm. d. Verf.], dass ihre Werke böse sind), ebenso wie er es vielfach von seinem Vater ablegt (Joh 3,11.31–34; 5,36; 8,14; 10,25). Jesus selbst fragt in der Anhörung durch den Hohepriester Hannas: εἰ κακῶς ἐλάλησα, μ α ρ τ ύ ρ η σ ο ν περὶ τοῦ κακοῦ· εἰ δὲ καλῶς, τί με δέρεις; | Wenn ich schlecht geredet habe, so b ezeu g e das Schlechte. Wenn ich aber gut geredet habe, warum schlägst du mich? (Joh 18,23) In Erwiderung darauf schickt Hannas Jesus zu Kaiaphas, der wiederum lässt Jesus zu Pilatus führen, weil es eben nicht in ihrer Macht steht, etwas Schlechtes über ihn zu bezeugen. Jesus führt die Brüder dementsprechend nicht in die Irre, sondern ebenso wie die Festbesucher, auf einen Umweg. Diese Verzögerung soll sie davon abhalten, das gegenwärtige Geschehen nur nach den Kategorien der wiederkehrenden Festtraditionen wahrzunehmen und danach zu beurteilen. μὴ κρίνετε κατ᾽ ὄψιν, ἀλλὰ τὴν δικαίαν κρίσιν κρίνετε | Richtet nicht nach dem Augenschein, sondern richtet gerecht, ist seine Lehre auf dem Fest (V. 24). Das gerechte Richten bedarf jedoch der Umwege und der Verzögerungen, weil die traditionellen Kategorien für schnelle Urteile nicht mehr bereitstehen. Dazu gehört auch, dass von der Herkunft nicht unmittelbar auf die Bestimmung geschlossen wird. Nikodemus hat dies in Ansätzen verstanden. Zwar auf Basis der Tradition, des Gesetzes, aber zugunsten der Verzögerung und des Verzichts auf schnelle Urteile plädiert er für eine Anhörung Jesu vor seiner Verurteilung (V. 50f.). Er möchte ihn zuerst hören (ἀκούω πρῶτον) und wissen, was er tut (γινώσκω τί 314
Vgl. a.a.O., 182f. THEOBALD, Das Evangelium nach Johannes, 2009, 514. 316 A.a.O., 514. 315
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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ποιεῖ), und ihn nicht sofort nach dem Augenschein verurteilen. Die Pharisäer können wiederum nicht anders, als nach dem Augenschein und der Herkunft zu urteilen. So entgegnen sie Nikodemus: Bist du auch ein Galiläer? Forsche und siehe, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht (V. 52). Was das Wie der Zeitinszenierung, die Konfiguration des erzählten Geschehens angeht, wäre eine Untersuchung der Verbindung zwischen μένω (V. 9) und anderen Vorkommen des Verbes im JohEv interessant. Ferner könnten die vielen Imperfekt-Verwendung in den Handlungen der Kontrahenten Jesu aufgeschlüsselt und die Häufung von Zeitadverbien wie οὔπω/οὐδέπω analysiert werden. Die (intertextuellen) Erwartungen, die sich aus atl. Texten und deren frühjüdischer Auslegung ergeben, wurden in diesem Ausblick zu Joh 7 bereits recht umfangreich aufbereitet. Weiteren Aufschluss über Jesu Handeln auf dem Laubhüttenfest könnten Vergleiche mit ephesinischen Festtraditionen ergeben, 317 auch Parallelitäten und Abweichungen von den synopt. Erzählungen über die Ablehnung Jesu in seiner Heimat (Mk 6,1–6 | Mt 13,54–5) bzw. Jesu Umgang mit seinen Angehörigen (Mk 3,20f.31–35 | Mt 12,46–50 | Lk 8,19– 21),318 oder von der Versuchung Jesu durch den Satan (Mk 1,12f. | Mt 4,5–7 | Lk 4,9–12)319 könnten das joh. Profil in der Zeichnung der Brüder und der Diskussionen auf dem Fest noch stärker hervortreten lassen. Jesu Argumente für seine Sabbatheilungen (V. 21–23) sind ferner mit rabbinischen Sabbattargumim/Mishnatraktaten vergleichbar (tSchab 15,16 [134]; mYom 85b) und in ihrer Aussagerichtung prüfbar. 320 Auch frühjüdische Traditionen über einen ‚Verborgenen Messias‘ (V. 27) (Hen [aeth] 48,6; 62,7; 4 Es 7,28; 13,26.32.51– 52; ApcBar [syr] 29,3; 39,7; 72,2; Just dial 8,4; 110,1) könnten genauer untersucht werden.321 In Richtung einer besonderen Lesererwartung deutet Felsch mit der Nachzeichnung folgender Rezeptionswirkung: „Der Evangelist erzeugt damit für seine Lesenden denselben Überraschungseffekt, den das öffentliche Erscheinen Jesu mitten auf dem Fest in der Erzählhandlung für die anderen Mitglieder der Festgemeinde hat, die ihn vorher vergeblich suchten.“ 322
Die Abweichung Jesu von seinen Worten gegenüber den Brüdern ist wohl auch für den Leser unerwartet. In Hinblick auf den Leser ließen sich auch die besonderen Effekte der Überlagerung der Kontrahenten untersuchen. Behindert diese Erzählstrategie möglicherweise auch den Leser bei schnellen Urteilen über die 317 Vgl. dafür CARTER, Festivals, cultural intertextuality, and the Gospel of John’s rhetoric of distance, 2011, 1–7. 318 Vgl. dafür THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 385. 319 Vgl. dafür BROWN, The Gospel according to John: Volume 1 (i–xii), 1975, 308. 320 Vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 391. 321 Vgl. ATTRIDGE, Some Methodological Considerations Regarding John, Jesus, and History (Vortrag gehalten am Princeton Theological Seminary 2016), [im Erscheinen], 14. 322 FELSCH, Die Feste im Johannesevangelium, 2012, 173.
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V. Textanalyse
Kontrahenten, und fühlt sich der Leser durch die unklare Adressierung selbst stärker angesprochen? Untersuchenswert wäre auch der Umstand, dass die weltliche Herkunft Jesu im JohEv letztlich ungeklärt bleibt, und ob dies, wie Attridge annimmt, als „strategy designed to keep the reader guessing“ 323 aufgefasst werden kann und ihn letztlich auch auf die soteriologische Botschaft aufmerksam macht, die bestreitet „that origin is destiny“ 324. Schauen wir noch einmal auf die Ebene des Was des Geschehens, so ist eine Zeitstrategie Jesu von besonderem Belang. Indem er gegen den Festrhythmus und dann wieder mit ihm agiert, kann er auf die nahe und qualitative neue Stunde der Erfüllung der Bittgebete im Kreuzigungsgeschehen hinweisen. Indem er an die Tradition anknüpft und signifikant von ihr abweicht, kann er die Bedeutung seiner Sendung sichtbar machen. Einige, so berichtet die Erzählung, lassen sich von Jesu Lehre tatsächlich ‚irreführen‘ oder besser: auf Umwege führen (V. 46f.; vgl. auch V. 26.31.40f.), nehmen sie in ihrer besonderen Bedeutung wahr und kommen dadurch teilweise zu Glauben. 4.4 Joh 8,2–11: Kurzer Prozess mit einer Ehebrecherin? Unabhängig davon, dass Joh 7,53–8,11 in den ältesten Textzeugen nicht enthalten und wohl einer sekundären Redaktion zuzuschreiben ist, 325 lässt sich auch hier ein für den Leser interessanter Zeitkonflikt entdecken. Er reiht sich besonders gut in die übrigen Zeitkonflikte ein, denn wie bei der Hochzeit zu Kana, der Fernheilung, dem Laubhüttenfest und der Auferweckung des Lazarus handelt Jesus auch hier verzögernd. Ob das in dieser Perikope inszenierte Zeitverhalten Jesu den sekundären Charakter der Erzählsequenz wiederum auch in bestimmter Hinsicht bestätigt, wird im Folgenden zu prüfen sein. Als Jesus nach dem (oder noch während des/oder unabhängig vom) Laubhüttenfest 326 frühmorgens wieder (V. 2: ὄρθρου δὲ πάλιν) in den Tempel 323 ATTRIDGE, Some Methodological Considerations Regarding John, Jesus, and History (Vortrag gehalten am Princeton Theological Seminary 2016), [im Erscheinen], 26 (mit Erlaubnis des Autors zitiert). 324 A.a.O., 29. 325 In vielen wichtigen Handschriften, u.a. in den Bodmer-Papyri, im Codex Sinaiticus, Vaticanus und Alexandrinus ist die Pericope Adulterae nicht überliefert. Die frühesten handschriftlichen Bezeugungen stammen aus dem 5./6. Jh. (Codex Bezae). Jedoch lassen sich die thematischen, linguistischen und kontextuellen Verbindungen zwischen dieser Perikope und dem Rest des Evangeliums auch nicht vollständig kappen (vgl. KEITH, Pericope Adulterae, 2008, 381–383). Interessant für hiesige Analyse ist, dass die Perikope in der frühen Kirche v.a. aus ethischen Gründen missachtet wurde, prominent von den Novatianern, den rigoristischen Gegnern der zweiten Buße (vgl. BAUM, Perikope von der Ehebrecherin, 2012, 13f.). 326 In Joh 7,37 ist von Jesu Auftritt am letzten Tag des Laubhüttenfestes die Rede. Wenn er in Joh 8,2 nun früh-morgens (also am nächsten Tag) in den Tempel kommt, muss strenggenommen davon ausgegangen werden, dass das Fest bereits vorbei ist. Da die hier beschriebene Szene aber als sekundäre Einfügung zu betrachten ist und, weil in Joh 8,12–59 formal
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kommt, und das Volk lehrt, bringen die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau, die sie auf frischer Tat (ἐπ᾽ αὐτοφώρῳ) beim Ehebruch ertappt haben. Sie fragen Jesus nach seiner Meinung (V. 5: σὺ οὖν τί λέγεις; | Du also, was sagst du?). Das Ziel ihrer Nachfrage wird vom Erzähler offengelegt. Sie wollen Jesus versuchen, um ihn verklagen zu können. Sie sind an gerichtlichen Zeitvorgaben, einer Prozessordnung, ausgerichtet, die von Nikodemus jüngst noch Erinnerung gerufen wurde (Joh 7,51: μὴ ὁ νόμος ἡμῶν κρίνει τὸν ἄνθρωπον ἐὰν μὴ ἀκούσῃ πρῶτον παρ᾽ αὐτοῦ καὶ γνῷ τί ποιεῖ; | Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn zuerst angehört hat und erkannt hat, was er tut?). Sie möchten Jesus nun mittels eines stichhaltigen Grundes zur Anklage kurzen Prozess machen. Jesu Reaktion ist ungewöhnlich. Er bückt sich und schreibt mit dem Finger in den Sand. Er reagiert also nicht direkt, man könnte fast sagen gar nicht auf ihre Anfrage und wehrt einem kurzen Prozess durch sein verzögerndes Handeln. Was Jesus da in den Sand schreibt, erfahren wir nicht. Drückt er damit höchst symbolisch und implizit aus, dass er der Finger oder Arm Gottes, dessen handelndes Organ ist, das die Erde beschreibt? Oder ist es in Bezug auf den Umgang mit dem Gesetz ein Anklang an Ex 31,18 (Dtn 9,10) und die steinernen Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte − hier aber verläuft alles Geschriebene im Sande? Soll dies bedeuten, dass es schlichtweg keine ein für alle Mal schriftlich fixierbaren und universalisierbaren Rechtssätze gibt? Oder soll damit eine hermeneutische Lektion erteilt werden: Inhalt und Bedeutung des Geschriebenen werden uns deshalb vorenthalten, weil sich Sinn und Bedeutung immer erst im direkten Interpretationsakt ergibt, weil Sinn nur kurzfristig an der (Erd-)Oberfläche erscheint, um ähnlich unvermittelt wieder zu verschwinden? In seinem Handeln steckt viel Spekulations- und Interpretationsspielraum. Man fragt sich auch, warum Jesu Kontrahenten nicht auf das Geschriebene eingehen? Sind sie blind für die Bedeutung, die Jesu Worte transportieren? Seit dem Laubhüttenfest ist eine Zuspitzung des Konflikts zwischen Jesus und den Juden zu bemerken, immer öffentlicher und lauter wird über ihn diskutiert, immer konkreter werden die Verfolgungsgesuche (Joh 7,32). In Joh 9,1–41 wiegelt ein weiterer Sabbatkonflikt die Gemüter auf, auf dem anschließenden Tempelweihfest kommt es erneut (wie bereits in Joh 8,59) zu einem Steinigungsversuch (Joh 10,31), bis der Konflikt über die Auferweckung des Lazarus hinweg schließlich im Tötungsbeschluss (Joh 11,53) kulminiert. Jesus selbst steht also in dieser Szene bereits kurz vor der Anklagebank. Doch nun wird der Rechtsfall von der Ehebrecherin eingeschaltet, wie ein retardierendes wie inhaltlich (Licht- und Zeugnisthematik) an die Rede auf dem Laubhüttenfest angeknüpft wird (s.o. Anm. 282), ist davon auszugehen, dass die Szene sich nicht auf dem Laubhüttenfest, sondern unabhängig davon zuträgt. Damit wird freilich keine historische, sondern lediglich eine dramaturgische Aussage getroffen.
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V. Textanalyse
Moment im direkten Schlagabtausch, wie ein taktisches Zwischenspiel. Nicht Jesus und seine Lehre stehen im Vordergrund der Anklage, sondern die Ehebrecherin wird eingewechselt, aber ohne dass Jesus vollkommen aus dem Fokus gerät. Zwei Rechtsfälle laufen plötzlich parallel. Im Rechtsfall der Ehebrecherin soll der Rechtsfall Jesu indirekt mitvorangetrieben werden. Erst als seine Kontrahenten weiterfragen (V. 7: ὡς δὲ ἐπέμενον ἐρωτῶντες αὐτόν | als sie aber dabei blieben, ihn zu fragen) richtet Jesus sich wieder auf und sagt diesen bedeutsamen Satz: ὁ ἀναμάρτητος ὑμῶν πρῶτος ἐπ᾽ αὐτὴν βαλέτω λίθον | Wer sündlos ist von euch, werfe als ersten einen Stein auf sie. Nur wer sündlos ist, darf Urteile fällen und vollziehen − eine völlig utopische Rechtsvorstellung. 327 Normalerweise beginnen die Zeugen bei einer Steinigung mit der Urteilsvollstreckung (Dtn 17,7), nun sollen es die Sündlosen sein. Jesus selbst beugt sich wieder nieder und gibt seinen Kontrahenten damit Zeit, seine Reaktion angemessen zu kontern. Sie gehen einer nach dem anderen weg. Zuerst die Ältesten, denn proportional zur Länge der Lebenszeit mehren sich auch die Gelegenheiten, sich zu versündigen. Die Frau, die zwar immer im Mittelpunkt stand (V. 3), aber dennoch bis zum Schluss passiv bleibt, antwortet auf die Frage Jesu: Hat dich niemand verurteilt?, mit den kurzen Worten: Niemand, Herr. – Auch ich verurteile dich nicht. Gehe hin, von nun an sündige nicht mehr!, gibt Jesus der Frau noch mit auf den Weg. Die Ehebrecherin ist letztlich nur Zuschauerin. Sie wirkt an der Urteilsfindung in keinerlei Weise mit. Auch in dieser Perikope würde sich eine genaue Untersuchung der narrativen Zeitinszenierung, etwa des charakteristischen ἐπιμενῶ in der Frage der Ankläger (V. 7), das κάτω statt ἄνω in Jesu Bückbewegung (V. 6) etc., wie auch der Zeitwahrnehmung und -bewertung durch den Leser lohnen. Es ließe sich insbesondere ein intertextueller Vergleich mit der synopt. Salbung in Bethanien durch eine Sünderin (Lk 7,36–50) oder mit der Geschichte von Susanna und Daniel (Dan 13,1–64) ziehen. Im Vergleich der sich ähnelnden Perikopen eröffnet sich ein Spiel um Pointen. Während im lk. Material die Hinwendung Jesu zu den Armen und Sündern im Fokus und in der Susannaerzählung die ungerechte Lynchjustiz der jüdischen Obrigkeit in der Kritik steht, geht es in der joh. Perikope v.a. um den Konflikt zwischen Jesus und den Juden, Prozessordnungen und Urteilsbegründung, die Spannung zwischen Gesetzesobservanz und gnädiger Zuwendung, zwischen schneller Verurteilung einer Tat und aufwendiger Ansehung des Menschen und seiner Situation. Die Erzählungen folgen einem gemeinsamen Skript: Eine Frau steht im Mittelpunkt, sie wird von männlichen Glaubensgenossen einer Fehltat bezichtigt, von einer dritten Person aber in Schutz genommen. Die Erzählungen brechen aber an ganz bestimmten Stellen aus diesem Skript aus und legen damit einen eigenen Fokus.
327
Vgl. AICHELE, Reading Jesus Writing, 2004, 356.
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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Im Vergleich zeigt sich bspw., dass die Ehebrecherin im JohEv nicht zu Unrecht der Sündentat bezichtigt wird. Sie wird auf frischer Tat ertappt. Das ist eine Besonderheit, denn es bedeutet, dass es eigentlich nichts zu entscheiden gibt. Das gewöhnliche κατακρίνω i.S. von unterscheiden zwischen schuldig oder nicht schuldig, ist letztlich überflüssig. Die Frau ist schuldig, dafür gibt es handfeste Augenzeugen. Die Juden haben sie dabei gesehen. Aber Jesus und zugleich auch der Leser werden trotzdem gefragt: Du, was sagst du? (V. 5) Es geht also nicht mehr um abstrakte Gesetzesauslegung κατ᾽ ὄψιν, sondern um das unmittelbare Verhalten gegenüber Menschen, die sich evident an der Gemeinschaft versündigt haben. Das führt den Leser in eine moralische Zwickmühle. Befinden sich bei Susanna ganz eindeutig die falschen Zeugen in der Schuld und nicht die Protagonistin, so ist im Falle der Ehebrecherin im JohEv die Schuldfrage klar zuungunsten der Angeklagten zu beantworten. Den ersten Stein möchte er aber dennoch nicht werfen, wenn dazu nur die Sündlosigkeit berechtigt. Plötzlich steht damit auch der Leser mit seinen Sünden in der Mitte der Ankläger bzw. schleicht mit ihnen von dannen. Man könnte auch fragen, warum der Sünderin hier im Gegensatz zur lk. Salbungsgeschichte am Ende keine Sünden vergeben werden. Die sonst bekannten Regeln der Schuldzuschreibung, -vergeltung und Schuldaufhebung werden in dieser joh. Erzählung offenbar durchbrochen. Der Leser muss sich, ethisch gesehen, neu orientieren. Urteile und Orientierungen müssen überdacht werden. Der Einzelfall, der hier parallel zum Fall Jesus aufgemacht wird, sensibilisiert für eine ganz bestimmte ethische Problemlage: den Umgang mit der evidenten eigenen und der evidenten fremden Sünde. Die Perikope beliefert uns aber mit keiner universalisierbaren Norm, keiner absoluten Lösung für dieses Problem. Sie sagt allein: Sei nicht so schnell mit deinen Entscheidungen, deinen Urteilen und deinen Lösungen. Das letzte (und das erste) Wort ist Gott. Freilich sprengt diese Interaktionssequenz insofern das bisherige Zeitmuster, als hier außer im Motiv der Pharisäer und Schriftgelehrten, Jesus verklagen zu wollen, kein Verweis auf die Kreuzigungsstunde sichtbar wird. Darin wird der sekundäre Charakter dieser Erzählsequenz dann doch noch erkennbar. Jesu eigene Ausrichtung an der Stunde der Verherrlichung ist in dieser Perikope nicht von Belang. Sein Mediationswort ist eher weisheitlicher Natur. Es spricht die grundsätzliche Sündenverfallenheit eines jeden Menschen an. Insofern ist in dieser späteren Perikope nur das Symptom der Verzögerung, nicht aber der eigentliche Grund und die besondere Richtung dieses Verhaltensmusters Jesu mittradiert. 4.5 Joh 9,1–41: Der zweite Sabbatkonflikt Die Heilung des Blindgeborenen ist Anlass für den zweiten Sabbatkonflikt zwischen Jesus und den Juden bzw. dem dezimierten Kreis der Pharisäer. Nicht
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nur wird die Gruppe der Antagonisten teilweise auf eine politisch-religiöse Oppositionspartei begrenzt, auch das Konfliktthema wird weiter zugespitzt auf die Frage nach der Vergangenheit, nach vergangenen Sünden, nach Kontinuität, Tradition und Gesetz, Herkunft und Identität. Damit steht diese Interaktionssequenz in enger Verbindung mit den auf dem Laubhüttenfest (Joh 7,1–52; 8,12– 59) angestoßenen Themen der Herkunft und Bestimmung. Der Ausrichtung auf das Gewesene, Bestehende und Gewusste, stehen in dieser erzählten Begegnung die Offenbarung der ἔργα τοῦ θεοῦ (V. 3) in der begrenzten Zeit des φῶς τοῦ κόσμου und die göttliche Erhörung (V. 31) als Neuschöpfung (V. 41: Blinde werden sehend; Sehende werden blind; Ausgestoßene werden angehört; Richtende werden gerichtet) gegenüber. Vorgestellt werden die unterschiedlichen Zeitorientierungen in einer vertrackten Interaktionskette, bei der immer wieder neu die Frage nach Identität und Herkunft des Blindgeborenen einerseits und Jesu andererseits gestellt und vorangetrieben wird: Jünger und Jesus Jesus und Blindgeborener Nachbarn und Blindgeborener Pharisäer und Blindgeborener Juden und Eltern Juden/Pharisäer und Blindgeborener Jesus und Blindgeborener Jesus und Pharisäer
9,2–5 9,1,6f. 9,8–13 9,15–17 9,18–23 9,24–34 9,35–38 9,39–41
In der Ereignisabfolge von der unaufgeforderten Heilung eines Kranken hin zu dessen Inquisition durch die Antagonisten Jesu, gepaart mit dem Unwissen des Kranken über den Verbleib des Heilenden, sind Parallelen zur Heilung des Gelähmten (Joh 5,1–18) zu erkennen. Auch die nachgereichte Datierung des Geschehens auf einen Sabbat, nachdem die Heilung bereits vollzogen ist (V. 14: ἦν δὲ σάββατον ἐν ᾗ ἡμέρᾳ), erinnert an den vormaligen Sabbatkonflikt. Jedoch sind sowohl die Personenkonstellation als auch die Befragungsrunden bei der Blindenheilung wesentlich dichter. Es wird insgesamt viermal nach dem Wie der Heilung gefragt (V. 10.15.19.26), neben den Pharisäern und dem Blindgeborenen selbst werden auch noch Nachbarn, Juden und Eltern als Fragende und Befragte involviert. Nachdem der Blindgeborene zweimal detailliert seine Heilung beschrieben hat (V. 11.15),328 ist bei der letzten Antwort des Blindgeborenen auf die erneuten Fragen der Pharisäer (oder Juden?) seine Ungeduld klar
328
Die Veränderung der Antwort des Blindgeborenen je nach Fragesteller − zunächst Nachbarn, dann Pharisäer − ist aufschlussreich für die besondere Konfliktsituation Jesu mit den Pharisäern. Gegenüber den Pharisäern spricht der Sehendgewordene nämlich nicht von
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
383
herauszuhören: εἶπον ὑμῖν ἤδη καὶ οὐκ ἠκούσατε· τί πάλιν θέλετε ἀκούειν; | Ich habe es euch schon gesagt und ihr habt nicht gehört. Was wollt ihr es nochmal hören? (V. 27) Jesus selbst ist während dieser Befragungen lange Zeit abwesend, wohl die längste Zeit innerhalb der gesamten Evangeliumserzählung. Dies wird von David Rensberger dahingehend ausgelegt, dass der Blindgeborene zeitweise Jesu Rolle übernimmt. 329 Beide, Jesus und der Blindgeborene, werden von den Kontrahenten als Sünder bezeichnet (der Blinde in V. 2.34; Jesus in V.16.25.31– 33).330 Liest man die Inquisition des Blindgeborenen durch die Juden in V. 24– 33 durch die Linse der Inquisition Jesu durch Hannas in Joh 18,19–24, im Rahmen derer Jesus den Hohepriester in Joh 18 auf die Jünger als kundige Auskunftsgeber verweist, erscheint das mühselige Frage- und Antwortspiel umso tragischer. Der Blindgeborene gibt Gott die Ehre (V. 24), steht für Jesus ein und bezeugt offenherzig, dass sein Heiler kein Sünder sein kann, sondern von Gott kommen muss. Daraufhin werfen die Juden ihn hinaus. Sie können sein Zeugnis nicht fassen. Nicht nur die Frage nach dem Wie der Heilung, sondern auch die Frage nach Herkunft, Verbleib oder Identität des Heilenden wird mehrfach gestellt und ganz unterschiedlich beantwortet (V. 11: ὁ ἄνθρωπος ὁ λεγόμενος Ἰησοῦς; V. 17: προφήτης; V. 24: ἁμαρτωλός; V. 31: θεοσεβής; V. 33: παρὰ θεοῦ; V. 35– 38: ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου). Die Heilung selbst wird, wie auch die vorherige Sabbatheilung, von Jesus initiiert und vor dem Hintergrund eines langen Krankheitsverlaufs (V. 1: τυφλὸς ἐκ γενετῆς) graviert. Die Heilungstat besteht jedoch, anders als zuvor, nicht allein aus einer Handlungsaufforderung, sondern dem Imperativ geht eine (zeichenhafte) Heilungshandlung, nämlich die Salbung der Augen mit einem Erdenbrei voraus (V. 6), die vom Blindgeborenen immer wieder berichtet wird (V. 11.13). Die Heilshandlung wiederum quittiert eine Unterredung mit den Jüngern, in der unterschiedliche Zeithorizonte gegeneinandergehalten werden. Während die Jünger nach der sündigen Vergangenheit des Blindgeborenen bzw. seiner Eltern fragen und einen Kausalzusammenhang zu seiner Krankheit herstellen wollen, verweist Jesus auf die zu offenbarenden Werke Gottes, solange es Tag ist, bzw. solange er als das Licht in der Welt ist. Nicht die sündige Vergangenheit markiert seinen zeitlichen Handlungshorizont, sondern die Zeit bis zur Nacht, bis zur Stunde seines Todes und Weggangs aus der Welt. Der Imperativ wird vom einer Salbung der Augen (Joh 9,11: ἐ π έ χ ρ ι σ έ ν μου τοὺς ὀφθαλμούς), sondern vom Auflegen eines Breis (Joh 9,15: πηλὸν ἐπέθηκέν μου ἐπὶ τοὺς ὀφθαλμούς). Außerdem verschweigt er den Imperativ Jesu zum Gehen und Waschen, vielleicht um ihn des Sabbatbruches weniger ‚schuldig‘ aussehen zu lassen. 329 Vgl. RENSBERGER, Johannine Faith and Liberating Community, 1988, 42. Im Rahmen dieser Rollenübernahme ist das auch absolute ἐγώ εἰμι in Joh 9,9 im Munde des Blindgeborenen bezeichnend. 330 Vgl. PARSENIOS, Rhetoric and Drama in the Johannine Lawsuit Motif, 2010, 60.
384
V. Textanalyse
Blindgeborenen wiederum ohne Einwand und Widerrede befolgt. Ein Austausch zwischen Jesus und dem Blindgeborenen findet erst nach den Inquisitionsreigen von Nachbarn, Pharisäern und Juden und seinem Ausschluss aus der Synagoge statt (V. 35–38). Auch die Nachbarn sind, ebenso wie die Jünger, an der Vergangenheit des Blindgeborenen orientiert und daran interessiert, diese Vergangenheit mit seiner gegenwärtigen Situation in Kontinuität zu bringen. Sie haben ihn seiner Zeit vor allen Dingen als Bettler wahrgenommen (V. 8) und versuchen nun, eine Wesenskontinuität zwischen dem bekannten, blinden Bettler und dem, der da sehend vom Teich Siloam zurückkehrt, herzustellen. Nachdem der Bettler über den Aufenthaltsort seines Heilers keine Auskunft geben kann, wird er zu den Pharisäern gebracht. Auch ihnen erklärt er den Heilungsvorgang. Dieses Mal entsteht eine Meinungsverschiedenheit über die Identität des Heilers, nicht des Geheilten. Jene, die v.a. an den Sabbatvorschriften orientiert sind, wollen ihm aufgrund seiner Sabbatheilung keine Gottesnähe attestieren (V. 16: οὐκ ἔστιν οὗτος παρὰ θεοῦ | dieser ist nicht von Gott). Sie lehnen die physischen Beweise für seine Gottesnähe, nämlich seine Heilungsmacht, ab und ziehen stattdessen ‚logische‘ Schlussfolgerungen i.S. einer Sündenkausalität vor: Er heilt am Sabbat, wer am Sabbat heilt, ist Sünder, ein Sünder ist nicht von Gott (V. 16). 331 Für den ehemals Blinden ist Jesus ein προφήτης (V. 17). Das Präfix προ- kann sowohl räumlich als auch zeitlich verstanden werden, sodass ein Prophet entweder ein Vorsager oder ein Vorhersager ist (φημί | sagen). Hatte der Blinde in V. 11 noch auf den Menschen namens Jesus verwiesen (ὁ ἄνθρωπος ὁ λεγόμενος Ἰησοῦς), so erscheint er ihm nun bereits als Prophet, später wird er ihn gar als von Gott stammend (V. 33: παρὰ θεοῦ) bezeichnen. In der Auseinandersetzung mit seinen Kontrahenten wächst des Geheilten Sehvermögen stetig an,332 in der zweiten Begegnung mit Jesus schließlich spricht er ihn nicht nur als Herrn an (V. 36.38: κύριε), sondern glaubt an ihn als den Menschensohn. Die Juden sind nicht überzeugt von der Antwort des Blindgeborenen. Sie bezweifeln, dass die Heilung überhaupt stattgefunden hat. Nun sollen die Eltern des Geheilten Rede und Antwort stehen, doch aus Furcht vor dem Synagogenausschluss verweigern sie den Pharisäern die Verknüpfung zwischen blinder Vergangenheit und sehender Gegenwart ihres Sohnes. Sie identifizieren den Sehenden zwar als ihren Sohn. πῶς δὲ νῦν βλέπει | wie/warum er nun sieht, wollen sie aber nicht wissen (V. 21). Er sei schon erwachsen (ἡλικίαν ἔχειν), er könne für sich selbst reden. Damit sind die Eltern einerseits an dem schon gefällten Beschluss der Juden (ἤδη γὰρ συνετέθειντο οἱ Ἰουδαῖοι), Christusbekenner aus der Synagoge zu werfen (V. 22), also an der imminent drohenden Gefahr orientiert, andererseits aber auch an der biographischen Zeit,
331 332
Vgl. a.a.O., 134. Vgl. RENSBERGER, Johannine Faith and Liberating Community, 1988, 45f.
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
385
die ihren Sohn in seiner gegenwärtigen Lebensetappe für sich selbst verantwortlich macht. Anstatt darüber zu staunen, dass ihrem blind geborenen Sohn im Erwachsenenalter nach so vielen Jahren doch noch das Augenlicht geschenkt wird, und sich davon ermutigen zu lassen, für das Licht zu zeugen, verweisen sie ängstlich auf das fortgeschrittene Alter ihres Sohnes. Und wieder (V. 24: ἐκ δευτέρου) wird der Sehendgewordene gerufen und ein weiterer Fragereigen seitens der Juden oder Pharisäer − das Subjekt des Rufes wird nicht präzisiert (V. 24) – setzt ein. In der erneuten Auseinandersetzung sowohl mit den Eltern als auch mit dem Sehendgewordenen offenbaren sich neben der traditionellen Sabbatbindung und der Sündensequenzierung weitere Zeithorizonte der Pharisäer: zum einen der (macht-)strategische, reaktionäre Beschluss zum Synagogenausschluss (V. 22), der (vor-)schnell (ἤδη) auf die rasante Glaubensverbreitung durch Jesu Zeichenhandlungen reagiert, zum anderen die Rückbesinnung auf die eigenen religiösen und ethnischen Traditionen, die Jüngerschaft Moses (V. 28f.), die keines neuen Propheten bedarf. Der ehemals Blinde wiederum reagiert nicht mit Kontinuitätsgaranten, sondern im Gegenteil mit dem Hinweis auf den absoluten Erfahrungs- und Kontinuitätsbruch: ἐκ τοῦ αἰῶνος οὐκ ἠκούσθη ὅτι ἠνέῳξέν τις ὀφθαλμοὺς τυφλοῦ γεγεννημένου | von Ewigkeit her hat man nicht gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat (V. 32; vgl. auch die Reaktion der Knechte der Pharisäer und Hohepriester in Joh 7,47). Die Pharisäer halten ihm seine Sündenvergangenheit (Erbsünde?) vor und werfen ihn hinaus (V. 34). Ihre buchstäblich konservative Zeitorientierung begünstigt vor allen Dingen exkludierende Mechanismen. Demgegenüber zeigt der Blinde, dass Herkunft nicht immer mit Bestimmung gleichzusetzen ist. 333 Die Unterredungen zwischen Jesus und dem ehemals Blinden (V. 35–38) und Jesus und den Pharisäern (V. 39–41) wirken im Vergleich zu den nicht enden wollenden, mitunter redundanten Befragungsrunden besonders kurz. Gegenüber den Pharisäern bestätigt Jesus die vom Blindgeborenen wahrgenommenen Kontinuitätsbrüche. Er ist in die Welt gekommen, ἵνα οἱ μὴ βλέποντες βλέπωσιν καὶ οἱ βλέποντες τυφλοὶ γένωνται | damit die Nicht-Sehenden sehend und die Sehenden blind werden (V. 39). Er hebt die altbewährten Sündenkausalitäten nicht nur gegenüber den Jüngern, sondern auch gegenüber den Pharisäern auf. Wer blind ist, hat keine Sünde. Die Sünde seiner Antagonisten bleibt gerade deshalb, weil sie behaupten, sehend zu sein (V. 41; vgl. Joh 15,22–24).
333
H. Attridge erkennt v.a. in Joh 3 und Joh 7 ein „counter-principle, which seems to deny that origin is destiny“ (ATTRIDGE, Some Methodological Considerations Regarding John, Jesus, and History (Vortrag gehalten am Princeton Theological Seminary 2016), [im Erscheinen], 29; zitiert mit Erlaubnis des Autors); vgl. ferner DERS., Divine Sovereignty and Human Responsibility in the Fourth Gospel, 2014, 189.
386
V. Textanalyse
Hinsichtlich der Inszenierungsmodi und leserlenkenden Strategien der Narration ließen sich u.a. die mannigfachen Wiederholungen (z.B. in der Dialektik der Blindheit in V. 1.2.6.13.17.18.19.20 und des Neu-Sehens in V. 7.10.11.14.15.17.18.19.21), die Redundanz der Inquisitionen und die Abwesenheit Jesu untersuchen. Aber auch die engen (motivischen) Verbindungen nach vorn zur Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–54) insbesondere im Rahmen der Licht/Dunkelheit-Metapher und zurück zur Heilung des Gelähmten in Joh 5,1–18 könnten spannende Nebenbestimmungen liefern. Weitere Parallelerzählungen, z.B. der Synoptiker, die von der Heilung eines Blinden bei Jericho berichten (Mk 10,46–52 | Mt 20,29–34 | Lk 18,35– 43) oder auch das Blindwerden und Wiedersehen des Paulus im Rahmen seiner Bekehrungserzählung (Apg 9,1–19, [22,1–21; 26,9–23])334 und die Blendung des Magiers Barjesus Elymas durch Paulus (Apg 13,6–12)335 liefern interessante Kontrastfolien und Skripte, die die Erwartung der Leser in bestimmte Richtungen beeinflussen können. Den üblichen (kausalen, traditions- oder identitätsbasierten) Kontinuitätsgaranten wird in dieser Erzählung eine Schule des Neu- und Besser-Sehens gegenübergestellt. Zimmermann hat die Erzählung des Blindgebornen als „Schlüsselereignis“ 336 des Sehens bezeichnet, bei dem Sehen und Glauben in eine enge Verbindung treten; denn Sehen beschreibt „einerseits eine sinnliche Wahrnehmung, andererseits eine empathische Anschauung, eine geistige Erkenntnis.“337 Diese Schule des Sehens ist verknüpft mit einer gezielten Irritation der Zuschreibungen: Wer ist Sünder? Die Eltern, der Blinde, Jesus? Wer ist blind? Der Blinde, die Sehenden, die Pharisäer? Die Irritationen zielen nicht darauf ab, starre Wahrnehmungsraster zu bestätigen, sondern neue Seiten des Beobachteten herauszustellen. Ein Vorgang, den Zimmermann in Anknüpfung an Wittgenstein als „Aspektwechsel“ schätzt, der Altbekanntes nicht mit immer gleichen Zuschreibungen belastet, sondern als etwas Neues kennenzulernen wagt. 338 Der Blinde wird so nicht mehr nur als Sünder oder als Bettler oder als Außenseiter wahrgenommen, sondern als Geschöpf Gottes, an dem das Werk Gottes offenbar werden kann (V. 3). Die üblichen Sichtweisen, die an den Dingen v.a. das Bekannte, das Kontinuierliche, das Redundante, das Invariante erkennen und zu reproduzieren trachten, weil dies mitunter Zeitersparnis 334
Eine interessante Auslegung zur paulinischen Erblindung liefert NAJDA, Blind werden, um in Wahrheit zu sehen! (Die Heilung des Paulus) – Apg 9,1–19 (22,1–21; 26,9–23), 2017, 180–188. 335 Der geblendete Magier wird in dieser Erzählung von Paulus interessanterweise als υἱός διαβόλου | Sohn des Teufels (Apg 13,10; vgl. Joh 8,44) beschimpft und sodann geblendet. Für weitere Auslegungen zu dieser Erzählung vgl. FÖRSTER, Der besiegte Magier (Die Blendung des Barjesus Elymas)–Apg 13,6–12, 2017, 216–227. 336 ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 47. 337 A.a.O:, 49. 338 Vgl. a.a.O., 56.
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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bedeutet, insofern eben gar nicht mehr genau hingesehen, sondern nur noch eingeordnet werden muss, werden ersetzt durch eine Form des Sehens, die sich auf die Abweichungen, auf Erfahrungs- und Kontinuitätsbrüche konzentriert und so im Sehen schöpferisch wirkt. Diese Form des Sehens nutzt das Tageslicht bzw. das Licht der Welt, um die Dinge auch tatsächlich in neuem Lichte zu sehen. Und der Pro-phet ist dann nicht mehr derjenige, der vorsagt, damit alle nachplappern können, sondern derjenige, der positiv neu (an-)zusagen wagt und i.S. des Pygmalion-Effekts auch neuschöpft. Die Schule des Sehens durchbricht die Ökonomisierung der Werturteile durch unterkomplexe und starre Klassifizierungen mit dem Einsatz von gezielten Irritationen, neuen Attributierungen, mittels eines Spiels aus Redundanz und Varianz, Wiederholung auf der einen und Erwartungs- und Kontinuitätsbrüchen auf der anderen Seite. „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“339 Wenn wir einer Person oder einer Sache immer schon ein Etikett oder einen Namen verliehen haben, so berauben wir uns der immer neuen Sicht auf diese Person oder Sache, wir sparen uns die Zeit, sie noch einmal anzusehen. Wir sehen nur noch das Etikett, nicht mehr die lebendige Wirklichkeit dahinter. Die Erzählung von der Blindenheilung lässt uns eben jenen zeiteinsparenden Prozess der Etikettierungen um des eigenen Komforts willen hinterfragen. 4.6 Joh 13,1–10.36–38 und 21,15–19: Liebe bis ins Ende hinein Die Fußwaschungsszene ist insofern eine spannende Untersuchungsstätte für das Verhältnis von Zeit und Ethik, als der Akt der Fußwaschung häufig als stabile, gar zeitlose Verhaltensnorm bzw. exemplarische Liebeshandlung wahrgenommen wird. Bis heute wird die Fußwaschung in vielen christlichen Gemeinden i.S. der imitatio Christi praktiziert. Die jährliche Fußwaschung durch den römisch-katholischen Papst am Gründonnerstag ist nur ein Beispiel unter vielen.340 Der Akt der Fußwaschung ist ‚zeitlos‘, weil er prima facie unmittelbar nachgeahmt werden kann und wenig Anpassung an die gegenwärtige Situation bedarf. Darüber hinaus wird die Fußwaschung vom joh. Jesus selbst als Handlungsbeispiel (Joh 13,15: ὑπόδειγμα, […] ἵνα […] ποιῆτε) ausgezeichnet. Bei genauer Beobachtung der Interaktion und der in ihr involvierten Handlungsfiguren wird jedoch deutlich, dass die Fußwaschung in vielerlei Hinsicht 339
HEGEL, Phänomenologie des Geistes (1807), 22013, 20. Für die Revitalisierung der Fußwaschung als kirchliches Sakrament votiert THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, 2004, 189. Die Fußwaschung wird gegenwärtig v.a. in nordamerikanischen Pfingstgemeinden als ein Sakrament gefeiert (vgl. ARCHER/HAMILTON, Anabaptism-Pietism and Pentecostalism: scandalous partners in protest, 2010, 197). In Brethren-Gemeinden dient die Fußwaschung der Vorbereitung auf das Abendmahl (vgl. a.a.O., 194). 340
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V. Textanalyse
stark temporal determiniert und damit weniger zeitlos und der unmittelbaren Nachahmung angedient ist, als zunächst angenommen. Insbesondere an der Reaktion des Petrus und dessen Protest gegen die Fußwaschung durch seinen Herrn können wir deren besondere zeitliche Ausrichtung erkennen. Die Interaktion findet während eines Abendessens vor dem Passafest (V. 1: Πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα) statt. Ein Bewusstseinsbericht informiert uns darüber, dass Jesus selbst erkennt, dass seine Stunde gekommen ist, um von der Welt hinüberzugehen zum Vater. Es ist Zeit für sein eigenes Passa, das, wie bereits Augustin bemerkt hat, in seiner ursprünglichen hebr. Bedeutung den Übergang (der Israeliten über das Rote Meer) bezeichnet ( | ָפּסַחübergehen).341 Der Erzähler informiert außerdem darüber, dass Jesus die Seinen εἰς τέλος | bis ins Ende hinein liebte.342 Ebenso weiß Jesus, dass ihm vom Vater alles in die Hände gegeben wurde (V. 3). Jesus steht vom Mahl auf (V. 4: ἐγείρεται ἐκ τοῦ δείπνου), legt sein Obergewand ab (τίθησιν) und nimmt ein Leinentuch auf (λαβών) und gürtet sich damit. Er gießt Wasser in ein Becken und beginnt (ἤρξατο), die Füße der Jünger zu waschen. 343 Er kommt zu Petrus und dieser reagiert fragend: κύριε, σύ μου νίπτεις τοὺς πόδας; | Herr, du wäschst mir die Füße? (V. 6) Sein Einwand drückt Unbehagen mit Jesu Handeln aus. In der Kommentarliteratur zur Fußwaschung wird der Grund für sein Unbehagen mehrheitlich in antiken Normen der sozialen Hierarchie gesucht. Petrus empfindet es als unangebracht, sich von seinem Herrn
341
Vgl. AUGUSTINUS, Tractates on the Gospel of John 55–111, 2010, 3 (55,1). Im Vergleich mit Mt 24,12–13 zeigt sich die Besonderheit der joh. Liebe εἰς τέλος. Der mt. Endzeitvision nach wird die Liebe erkalten, weil die Ungerechtigkeit überhandnehmen wird. Wer trotzdem bis ans Ende bleibt (ὑπομείνας εἰς τέλος), wird gerettet. Der joh. Jesus aber liebt bis in das ungerechte Ende hinein und schafft eben dadurch Rettung. 343 Die lange Einleitung und besonders detailreiche Schilderung der Waschung über zwei Verse hinweg wird von A. Culpepper als Verzögerung bezeichnet, die beim Leser Spannung auslösen soll: „The delay in the action of the scene caused by the extended introduction is prolonged by the detailed description in v. 4 of Jesus’ preparations, discarding his garments and wrapping the towel about himself. V. 4, therefore, begins the action but builds suspense.“ (CULPEPPER, The Johannine Hypodeigma: A Reading of John 13:1–38, 1991, 137) 342
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
389
die Füße waschen zu lassen.344 Diese Erklärung ist sowohl in soziologischer Hinsicht plausibel,345 als auch aus narrativer, insofern Petrus Jesus mit κύριε adressiert und dieser später die Thematik des Verhältnisses vom Meister zum Knecht wiederaufzunehmen scheint (V. 12–17). Gleichwohl ist bei genauerem Hinsehen auch ein zweiter Grund für sein Unbehagen denkbar, den man sogar für authentischer halten kann. Man kann diesen Grund erspüren, wenn man sich in die Lage der Jünger hineinversetzt, die erneut, wie kurz zuvor in Bethanien, zum Abendessen um den Tisch versammelt sind. Man kann die gespannte Stimmung wahrnehmen, die sich aus Jesu jüngsten Voraussagen ergibt, dass das Licht bald schon von der Finsternis abgelöst wird (Joh 12,35f.), dass, wer immer sein Leben liebt, es verlieren wird (Joh 12,25), und wer immer nicht an Jesu Wort glaubt, am letzten Tag durch eben jenes gerichtet wird. Inmitten des Essens nun steht Jesus auf und beginnt, die Füße seine Jünger zu pflegen. Ein aufmerksamer Leser wird sich an eine weitere Begebenheit erinnern können, in der eine Erzählfigur mit ungewöhnlichem Timing inmitten eines Mahles aufsteht, um eines anderen Füße zu umsorgen: die Salbung Marias in Joh 12,3.346 Umso intensiver muss der joh. Petrus die Ähnlichkeit beider Situationen wahrgenommen haben, so er sie doch selbst miterlebt hat.347 In 344 Vgl. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, 211986, 355; BROWN, The Gospel according to John: Volume 2 (xiii–xxi), 1978, 565; CULPEPPER, The Johannine Hypodeigma: A Reading of John 13:1–38, 1991, 138; KEENER, The Gospel of John, 2003, 908– 909; LABAHN, Simon Peter: An Ambiguous Character and His Narrative Career, 2013, 157; MATHEW, The Johannine Footwashing as the Sign of Perfect Love, 2018, 388; THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, 2004, 60; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 585–586; ZUMSTEIN, DAS JOHANNESEVANGELIUM , 2016, 487–488. 345 Zu Anlass und Ausführung antiker Fußwaschung vgl. KEENER, The Gospel of John, 2003, 904: „But whereas well-to-do hosts provided water and sometimes servants to wash a guest’s feet, they rarely engaged in the foot washing themselves. Washing feet was a menial task, and one who sought to wash another’s feet normally took the posture of a servant or dependent. From an early period Greek literature depicted servants washing the feet of strangers as an act of hospitality, as well as washing their masters’ feet. Foot washing could be performed by free women (1 Tim 5:10), who might compare their role with that of servants (1 Sam 25:41; Jos. Asen. 13:15/12; 20:4). In both early Jewish and Greco-Roman texts, foot washing frequently connotes servitude.“ Zur Bestimmung der Fußwaschung als Sklavendienst vgl. ferner MATHEW, The Johannine Footwashing as the Sign of Perfect Love, 2018, 109; THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, 2004, 42.56.59. 346 Auf extradiegetischer Ebene (für den Leser) sind die semantischen Gemeinsamkeiten beider Szenen der Fußsalbung (12,2–3) und -waschung (13,4–5) aufschlussreich: Es handelt sich um eine Mahlszene (δεῖπνον), bei der beide Protagonisten das Salböl/Leinentuch aufnehmen (λαμβάνω), um die Füße (τοὺς πόδας) ihres Gegenübers zu pflegen und diese nach der Pflege abzutrocknen (ἐκμάσσω). 347 Die Anwesenheit Petri bei dem Mahl in Bethanien kann daraus geschlossen werden, dass Lazarus einer von denen war, die am Tisch lagen (Joh 12,2), und die Reaktion auf die Salbung aus dem Jüngerkreis (Judas) entstammt (Joh 12,4–6).
390
V. Textanalyse
Bethanien war Maria aufgestanden, um Jesu Füße zu salben und zu trocknen, und Judas hatte interveniert (Joh 12,4–6). Dessen Einwand war Jesus begegnet, indem er die Notwendigkeit der Salbung erklärt hat. Marias Salbung gelte schon jetzt εἰς τὴν ἡμέραν τοῦ ἐνταφιασμοῦ μου | für den Tag meines Begräbnisses (Joh 12,7).348 Was mag Petrus also gedacht habt, als nun bei diesem weiteren abendlichen Mahl vor dem Passafest, diesmal im feindlichen Jerusalem, Jesus aufsteht, um die Füße der Jünger zu pflegen? Herr, du wäschst meine Füße? Hinter dieser Frage steckt nicht allein aufrichtige Demut vor seinem Meister, sondern auch die ehrliche Furcht vor den Dingen, auf die diese Fußwaschung hindeuten könnte. Jesu Antwort lässt Petrus nicht gerade aufatmen: Was ich tue, verstehst du jetzt (ἄρτι) nicht, du wirst es hernach (μετὰ ταῦτα) erfahren (V. 7). Jesus hält Petrus weiterhin in Spannung, was seine Zukunft betrifft. Und Petrus erhält seine abwehrende Haltung aufrecht: οὐ μὴ νίψῃς μου τοὺς πόδας εἰς τὸν αἰῶνα | Du sollst meine Füße bis in Ewigkeit nicht waschen (V. 8). Εἰς τὸν αἰῶνα wird häufig mit nie mehr/nimmermehr/nie übersetzt. Wörtlich bedeutet es jedoch bis in Ewigkeit und zeigt einerseits eine interessante Opposition zu Jesu Liebe bis ins Ende (εἰς τέλος) in den einleitenden Versen der Szene an. Strenggenommen ist dies nur auf extradiegetischer Ebene und damit nicht für Petrus wahrnehmbar. Andererseits ist εἰς τὸν αἰῶνα aber auch ein Ausdruck, den wir (und Petrus) aus Jesu Lehre über das Evangelium hinweg gut kennen. Jesus spricht von einer Quelle des Wassers, das εἰς τὸν αἰῶνα quillt (Joh 4,14); von Brot, das jedem, der davon isst, εἰς τὸν αἰῶνα leben lässt (Joh 6,51.58); von seinem eigenen Bleiben beim Vater εἰς τὸν αἰῶνα (Joh 8,35). In Joh 10,28 gibt Jesus als guter Hirte seinen Schafen ewiges Leben, auf dass sie εἰς τὸν αἰῶνα nicht zugrunde gehen mögen. Der markanteste Gebrauch des Ausdrucks ist jedoch in Jesu Reaktion auf Marthas Bedauern über den Tod ihres Bruders zu hören (Joh 11,25f.): Ich bin die Auferstehung und das Leben. Jeder, der an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt (κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται). Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben bis in Ewigkeit (οὐ μὴ ἀποθάνῃ εἰς τὸν αἰῶνα). Beobachtet man die Reaktion Petri in dessen eigentümlicher Zeitorientierung, wird die Parallelität zu Jesu Worten über das ewige Leben offenbar: οὐ μὴ νίψῃς μου τοὺς πόδας εἰς τὸ ν α ἰῶ ν α. Petrus gebraucht dieses jesuanische Idiom, um gegen die Fußwaschung zu protestieren, als wollte er die tödlichen 348
Eine Verbindung zwischen dem Mahl der Fußwaschung und dem Mahl bei der Salbung stellt bereits Origenes her, jedoch nur in Bezug auf Judasʼ betrügerisches Verhalten, welches in beiden Szenen eine Rolle spielt (vgl. ORIGEN, Commentary on the Gospel According to John. Books 13–32, 2006, 346 [32,23]). In moderner Kommentarliteratur stellen lediglich A. Culpepper, C. Keener und J. Thomas diese Verbindung her, jedoch ohne Petri Reaktion in diesem Lichte zu interpretieren (vgl. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 120; KEENER, The Gospel of John, 2003, 909; THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, 2004, 57f.).
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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Inklinationen derselben abwehren. Besser als eine Fußwaschung εἰς τὴν ἡμέραν τοῦ ἐνταφιασμοῦ μου erscheint ihm keine Fußwaschung εἰς τὸν αἰῶνα. Er möchte Teil an Jesu angekündigtem ewigem Leben haben und ist noch nicht bereit, sein Leben zu lassen. Er versteht (noch?) nicht, dass und wie die Aufgabe des eigenen Lebens die Aufnahme neuen Lebens bedeuten kann (Joh 10,17). Als erkenne Jesu den wahren Grund für Petrus abwehrende Reaktion, antwortet er: ἐὰν μὴ νίψω σε, οὐκ ἔχεις μέρος μετ᾽ ἐμοῦ | wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Teil an mir (V. 8). Petrus hätte keinen Anteil an ihm, der die Auferstehung und das Leben ist (Joh 12,25), wenn er die Fußwaschung nicht empfänge. Sobald Petrus diese Kausalität verstehen lernt, wird seine Reaktion ins Gegenteil verkehrt. Sein zögerndes Abwehren wird zum ungeduldigen Drängen. Nicht nur seine Füße solle Jesus waschen, sondern auch seine Hände und sein Haupt (V. 9). Wieder steht seine Reaktion gegen das, was an der Zeit ist, denn wer gewaschen ist, bedarf nichts, außer dass ihm die Füße gewaschen werden (V. 10). Und die Jünger, außer einer von ihnen, sind nach Jesu Angabe schon rein. Sie müssen bloß diese Fußwaschung empfangen und untereinander tun, wie Jesus ihnen getan hat, denn die Knechte sind eben nicht größer als der Herr (V. 16). Das ὑπόδειγμα, zu dessen Nachahmung Jesus hier auffordert, ergeht sich jedoch nicht im buchstäblichen Sinne der Fußwaschung. Wie Alan Culpepper gezeigt hat, wird der Begriff auch in anderen Kontexten häufig zur Auszeichnung eines noblen Todes gebraucht (2 Makk 6,28.31; 4 Makk 17,22f.; Sir 44,16).349 Auch für Bincy Mathew ist die Fußwaschung zumindest aus Jesu Perspektive bereits eng mit der Liebestat am Kreuz verbunden.350 Die Jünger sollen einander lieben, wie Jesus sie geliebt hat, so heißt es im berühmten, einzig expliziten joh. Gebot (V. 34; vgl. auch Joh 15,9–17). Was diese Liebe εἰς τέλος beinhaltet, spricht Jesus noch in den Abschiedsreden an (Joh 15,13: Größere Liebe als diese hat keiner, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde), bevor er sie am Kreuz selbst vollendet (Joh 19,30: τετέλεσται).351 Petrus aber behält seine eigentümliche Arhythmie aus Hemmnis und Voreiligkeit bis zum Schluss. Bei der Frage nach dem Verräter schickt er den geliebten Jünger vor (V. 24). Nachdem klar ist, dass Judas der Verräter sein wird, gewinnt Petrus neuen Mut und handelt in seiner nächsten Auseinandersetzung 349
Vgl. CULPEPPER, The Johannine Hypodeigma: A Reading of John 13:1–38, 1991, 142f. In einem jüngst erschienenen Aufsatz geht A. Culpepper noch weiter und folgert: „When Jesus says, ‘You also ought to wash one another’s feet’ (13:14), the sense may well be that his followers should be willing to die for one another if necessary.“ (DERS., The Creation Ethics of the Gospel of John, 2017, 85) 350 Vgl. MATHEW, The Johannine Footwashing as the Sign of Perfect Love, 2018, 388. 351 Die preparatorische Relevanz der Fußwaschung auf Jesu Tod sowohl für die Jünger als auch die Leser hat THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, 2004, 59f.115.187 hervorgehoben. Vgl. ferner HAYS, The Moral Vision of the New Testament, 1996, 144f.
392
V. Textanalyse
mit Jesus erneut voreilig. Er fragt Jesu, wohin er gehe, worauf Jesus erwidert: Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt (νῦν) nicht folgen, du wirst aber später (ὕστερον) folgen (V. 36). Petrus möchte ihm aber νῦν folgen und ist mit einem Mal bereit, sein Leben für ihn zu geben (V. 37). Woher kommt diese Bereitschaft? Vielleicht daher, dass er nun weiß, dass er durch die Fußwaschung bereits Anteil an Jesu ewigem Leben hat. Jesus antwortet erneut in souveräner Skepsis: τὴν ψυχήν σου ὑπὲρ ἐμοῦ θήσεις; | dein Leben willst du für mich geben? Seine Rückfrage ähnelt Petri anfänglicher Frage: Du wäschst mir die Füße? (V. 38) Und weihevoll kündigt Jesus an (ἀμὴν ἀμὴν λέγω σοι), dass Petrus ihn in dieser Nacht dreimal wird verleugnet haben, noch bevor der Hahn kräht. Nach diesem Gespräch wird deutlich, dass Petrus entgegen seiner verkündeten Bereitschaft, sein Leben zu lassen, auch weiterhin den Tod fürchtet und aufgrund dessen immer wieder ‚taktlos‘ handelt. Das ist nicht erst in seiner Verleugnung Jesu evident (Joh 19,15–18.25–27), sondern schon während der Gefangennahme (Joh 18,1–11). Während Jesus sich den Soldaten aushändigt, um seiner Jünger Leben zu retten, zieht Petrus überstürzt sein Schwert und schlägt dem Knecht des Hohepriesters das Ohr ab. Jesus hält ihn zurück und fragt: Den Kelch, den mir mein Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken? (Joh 18,11) Er lehrt Petrus, passiv zu bleiben und zu empfangen, was ihm von Gott gegeben ist, so wie es auch notwendig gewesen war, die Fußwaschung anstandslos vom Sohn Gottes zu empfangen. Wie unten eigens (unter 4.8 Joh 20,1–10: Wettrennen zum Grab) verhandelt, ist auch nach der Kreuzigung Jesu Petri besonderes Timing zu beobachten. Im Wettrennen zum Grab kommt er nicht gegen den geliebten Jünger an, geht dann aber, während jener nur hineinschaut, zuerst ins Grab hinein. Einen Vorsprung verschafft ihm dieser Vorgang jedoch nicht, denn allein dem geliebten Jünger wird vom Erzähler Glauben attestiert (Joh 20,8). Nimmt man nun das 21. Kapitel hinzu, so führt es, sollte es auch nur ein sekundärer Appendix zum restlichen Evangelium sein, dieses Zeitmuster in Petri Verhalten fort. Erneut ist es der geliebte Jünger, der den Auferstandenen zuerst erkennt (Joh 21,7). Erst als dieser seine Entdeckung kundtut, gürtet sich Petrus und wirft sich kurzerhand ins Wasser, wohl um zum Auferstandenen am Ufer zu schwimmen, während die Jünger mit dem Boot zum Ufer kommen. Eng verbunden mit der oben besprochenen Auseinandersetzung zwischen Jesus und Petrus während des letzten Abendmahls vor der Kreuzigung ist ihre Begegnung im Anschluss an das erste Frühstück nach der Kreuzigung, das im Anschluss an den Fischfang stattfindet (Joh 21,15–19). Die Initiative geht dieses Mal von Jesus aus. Er fragt Petrus die gleiche Frage dreimal, als wolle er
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
393
Petri dreimaliger Verleugnung entgegenwirken:352 Σίμων Ἰωάννου, ἀγαπᾷς με πλέον τούτων; | Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? (Joh 21,15) Es wurde vielfach diskutiert, ob der semantische Wechsel zwischen φιλέω und ἀγαπάω in diesem Frage- und Antwortspiel zwischen Jesus und Petrus schlichtweg stilistischer Natur im Gebrauch von gleichbedeutenden Synonymen sei, 353 oder eine tiefergehende Bedeutung trägt. Im Vergleich beider Begegnungen vor und nach der Kreuzigung bemerkt David Shepherd, dass sich das Alternieren der Synonyme am besten erklären lässt, wenn die dreimalige Frage als „crucial part of Jesus’ effort in ch. 21 to remind Peter of the kind of love (ἀγάπη) that Jesus had demanded of him on the night he was betrayed (ch. 13–17) and that Peter subsequently failed to grasp or express (ch. 18)“354, verstanden wird. Diese Liebe zeichnet sich dadurch aus, dass sie bis ins Ende hinein (εἰς τέλος) geliebt wird, wie Jesus in der Kreuzigung effektvoll gezeigt hat. Diese Liebe ist also von besonderer temporaler Qualität, insofern sie bis zum Ende reicht und dieses Ende für die Geliebten erleidet. Das einsam erlittene Ende wird in der Liebe für den Anderen zum Anfangspunkt neuer Gemeinschaft, neuen Lebens. Eben diese Liebe ist es, die der auferstandene Jesus seinem Jünger Petrus lehren will. Er tut dies, indem er auf eben jenes Bildfeld und sogar jene Semanteme zurückgreift, die er in seiner Rede vom guten Hirten (Joh 10,1–21.26–29) verwendet: βόσκε τὰ ἀρνία μου | Nähre meine Lämmer (Joh 21,15); ποίμαινε τὰ πρόβατά μου | Weide meine Schafe (Joh 21,16); βόσκε τὰ πρόβατά μου | Nähre meine Schafe (Joh 21,17). Der gute Hirte, mit dem sich Jesus in Joh 10,11 gleichsetzt und in dessen Amt er Petrus nun beruft, lässt sein Leben für seine Schafe (vgl. Joh 10,15: τὴν ψυχὴν μου τίθησιν ὑπὲρ τῶν προβάτων). Shepherd beschreibt Jesu rhetorisches Manöver wie folgt: „Indeed, given the clear intent of Jesus’ question in v. 15 to help Peter grasp and embody the ἀγάπη that lays down its life, an evocation of the shepherd discourse can only be intended to remind Peter of the primary responsibility of the Good Shepherd […] the shepherd lays down his life for his sheep.“355
352
Die Verbindung der dreimaligen Verleugnung Petri mit der dreimaligen Frage Jesu ergibt sich auch über die ähnliche Szenengestaltung am Kohlefeuer (Joh 18,18; 21,9: ἀνθρακιά). 353 So urteilen u.a. BARRETT, Das Evangelium nach Johannes, 1990, 558; MOLONEY, Love in the Gospel of John, 2013, 151 (Anm. 51); PARSENIOS, Rhetoric and Drama in the Johannine Lawsuit Motif, 2010, 72; SÖDING, Das Wortfeld der Liebe im paganen und biblischen Griechisch, 1992, 327 (Anm. 256). 354 SHEPHERD, “Do You Love Me?” A Narrative-Critical Reappraisal of ἀγαπάω and φιλέω in John 21:15–17, 2010, 792. 355 A.a.O., 791. Auch F. Tolmie hat die enge Verbindung zwischen Petri übereilter Bereitschaft, sein Leben für Jesus zu lassen (Joh 13,37), mit dem Hirtenmotiv aus Joh 10 herausgestellt. Für F. Tolmie verspricht Petrus in Joh 13 etwas, ohne zu realisieren, was er da verspricht (vgl. TOLMIE, The [not so] Good Shepherd, 2006, 364).
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V. Textanalyse
Nur in seiner letzten Frage gebraucht Jesus selbst φιλέω statt ἀγαπάω, um – folgt man Shepherds Auslegung – Petrus den Spiegel vorzuhalten, auf dass er erkennen möge, dass er bisher nicht ‚richtig‘, nicht εἰς τέλος geliebt hat, sondern immer nur so weit, bis sein Leben in Gefahr stand. Und auch jetzt versteht Petrus seinen Irrtum nicht, sondern ist traurig, weil sein Herr ihn dreimal nach seiner Liebe gefragt hat. Erneut sagt ihm Jesus weihevoll (ἀμὴν ἀμὴν λέγω σοι) seine Zukunft voraus (vgl. Joh 13,38): Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet (ζωννύω; vgl. Joh 21,7) und gingst umher, wohin du wolltest, wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst (Joh 21,18). Der Erzähler informiert den Leser, dass dieses von Jesus gezeichnete Bild zugleich ansagt, mit welchem Tod Petrus Gott am Ende preisen wird (Joh 21,19: ποίῳ θανάτῳ δοξάσει τὸν θεόν). Er preist ihn jedoch nicht mit seinem Leben, das er freiwillig gibt für seine Freunde. Wenn Petrus damals nicht verstand, was es heißt, bis zum Ende zu lieben, so tut er es auch jetzt nicht, nachdem Jesus in der Kreuzigung ein weiteres Beispiel gesetzt hat, welches die Fußwaschung weit übersteigt. Sein Unvermögen, die ganze Reichweite der Liebe Jesu zu erfassen, geschweige denn ihm gleichzukommen, zeigt sich nicht nur an semantischen Abweichungen, sondern in seiner fehlenden Nachfolge. Als er die schlichte Aufforderung von Jesus hört: ἀκολούθει μοι | Folge mir (Joh 21,19), dreht er sich um (ἐπιστραφεὶς ὁ Πέτρος), schaut dem geliebten Jünger beim Folgen zu und fragt Jesus, was denn mit diesem sei. Jesus muss seinen Befehl zur Nachfolge wiederholen, während seine Brüder die vermeintliche Unsterblichkeit des geliebten Jüngers diskutieren. Petrus ist somit nicht nur unfähig, der gute Hirte zu sein, er kann nicht einmal die Rolle eines Schafes übernehmen, das dem Hirten folgt. Tolmie schlussfolgert: „He can only ‘shepherd’ Jesus’ sheep by doing himself what is expected of the sheep of the Good Shepherd: following the Good Shepherd!“356 Jedoch endet das JohEv, ohne Petri Nachfolge darzustellen. Von einer innerjoh. Rehabilitierung Petri, die häufig in dieser letzten Begegnung gesehen wird,357 kann zumindest nach dieser Lesart nicht die Rede sein. Teilweise wurde die besondere Verteilung der Erzählzeit (detaillierte Schilderung der Fußwaschung), die Chronologie der Erzählung (Prolepse auf die Liebe bis ins Ende hinein am Kreuz), sowie die Semantik der Zeitangaben (εἰς τὸν αἰῶνα; εἰς τέλος) bereits angesprochen. Weiterführende Analysen könnten
356
A.a.O., 367. Vgl. u. a. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 121; MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 329; PARSENIOS, Rhetoric and Drama in the Johannine Lawsuit Motif, 2010, 78; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 785f.; ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 787. 357
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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die besondere Bedeutung des Zeitbegriffs (εἰς) τέλος auch im Vergleich zu dessen Gebrauch in anderen Texten (wie z.B. Ez 22,30; Mk 13,3–8; Mt 24,12f., Offb 21,6; 22,13; Hen [aeth] 18,14–15) in den Blick nehmen. Es ließen sich ferner Vergleiche zu anderen Fußwaschungserzählungen des AT (z. B. Gen 18)358 oder anderer Umfeldliteratur (z.B. die Fußwaschung in TestAbr 3) anstellen. Die Aufforderung an die Jünger, dem Beispiel Jesu gleichzukommen (Joh 13,15), und das konkret formulierte Gebot der Liebe (Joh 13,34f.; 15,9– 17), sowie die eindringliche Frage Jesu an Petrus: Liebst du mich? (Joh 21,15– 17) gälte es in deren jeweiligem appellativem Wert für den Leser herauszustellen. Der Blick auf die temporalen Umstände der Fußwaschung hat nicht nur gezeigt, dass dieses ὑπόδειγμα im Zeichen einer Liebe steht, die εἰς τέλος reicht und damit die Bereitschaft, das eigene Leben für den Anderen zu lassen, einschließt. Die genaue Beobachtung der Interaktionspartner und ihrer Zeithorizonte hat auch gezeigt, weshalb Menschen angesichts dieser Liebe an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft kommen und auch an die Grenzen ihrer Willenskraft. Jesu Orientierung an der Stunde, seine Orientierung an dem Ende, das neuen Anfang schafft, ist eben nicht einfach nachzuahmen. Petri Widerstand gegen die Fußwaschung ist nicht nur Resultat seiner Treue zu Normen der Hierarchie, sondern Resultat seiner Ausrichtung an der gewünschten Ewigkeit, die aus seiner Perspektive kein Lebensende vorsieht. Dass eine Liebe, die für den Anderen das Ende erleidet, Ewigkeit und neues Leben erwirkt, ist für ihn nicht fassbar, geschweige denn handlungsleitend. In der Folge tritt er über das Evangeliumsgeschehen hinweg immer wieder als derjenige auf, der entweder zu langsam/zögerlich oder zu voreilig/forsch agiert. 4.7 Joh 18,1–19,16: Prozessverschleppung Während auch in den Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) Zeithorizonte und -orientierungen thematisiert und debattiert werden − der Zeitorientierung Jesu verleiht insbesondere das ἔτι μικρὸν in Joh 13,33; 14,19; 16,16–19 eine bedeutungsvolle Prägung −, werden die Effekte der divergierenden und konfligierenden Zeitnormen erst im Anschluss an die langen Reden erneut in konkreten Handlungen manifest. Im Anschluss an Jesu Gebet zum Vater wird seine Ergreifung ein letztes Mal durch die seltsam zurückhaltenden oder zurückgehaltenen Soldaten verzögert (V. 5–7; vgl. Joh 7,30.44–52; 8,20; 10,39). Erst ein zweimaliges ἐγώ εἰμι (V. 5.8)
358
Einen Vergleich der joh. Fußwaschung und der Fußwaschung in Gen 13 stellt schon Origenes her. In seiner Interpretation übersteigt das Handeln des joh. Jesus das Abrahams, insofern er die Fußwaschung selbst ausführt und nicht nur das Wasser dafür bringen lässt (vgl. ORIGEN, Commentary on the Gospel According to John. Books 13–32, 2006, 351 [32,47]).
396
V. Textanalyse
und ein beschwichtigendes Wort gegenüber dem kampf- und verteidigungsbereiten Petrus bewirken Jesu Ergreifung durch die Schar (V. 12). Jesus treibt seine eigene Gefangennahme voran. Kurz vor und während der Abschiedsreden hatte er bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass seine Stunde nun gekommen sei (Joh 13,1; 17,1; [13,31; 16,5; 17,5.13]). Das darauffolgende Verhör im Palast des Hohepriesters, wohin die Soldatenschar Jesus führt, wird von einer dreimaligen Verleugnung Petri durchwoben. In dieser Interaktionssequenz ist, wie beim späteren Pilatus-Prozess und dem Wettrennen mit dem geliebten Jünger zum Grab, ein symptomatischer Wechsel zwischen drinnen und draußen zu beobachten. Zunächst darf Petrus nicht mit hinein in den Hof des hohepriesterlichen Palastes, wird aber dann durch Zurede des schon hineingegangenen, anderen Jüngers359 von der Türhüterin (vgl. Joh 10,3) hineingelassen.360 Dort wärmt er sich nach seiner ersten Verleugnung am Kohlenfeuer der Knechte, was weiterhin eine Art ‚Draußen‘ suggeriert und noch einmal verdeutlicht, dass er nur in den nichtbeheizten Innenhof (αὐλή; vgl. Joh 10,1) eingelassen wurde.361 Bevor Petrus seinen Herrn das zweite und dritte Mal verleugnet (V. 25–27), wird Jesus einer ersten Befragung durch den Hohepriester Hannas, dem Schwiegervater des schon erwähnten Kaiaphas (Joh 11,49), unterzogen. Jesus leitet die Fragen nach seiner Lehre und seinen Anhängern weiter an seine Hörerschaft aus dem Tempel und überlässt ihnen die Verantwortung. Er wird noch in ganz anderer Weise Verantwortung, nicht bloß für seine eigenen Taten, übernehmen. Auf die körperliche Gewalt eines Knechtes reagiert er, indem er diesem die Beweislast für sein angebliches Fehlverhalten überträgt. Hannas weiß offensichtlich nicht darauf zu reagieren und überantwortet den Angeklagten an Kaiaphas (V. 24), der Jesus wiederum zum Prätorium vor Pilatus führen lässt (V. 28). Immer weiter wird der Prozess verschleppt − von einem Befragenden zum Nächsten –, und die Verantwortlichkeit und Urteilsgewalt zirkulieren vom Befragten zum Ankläger, zum Befragenden, zum Angeklagten, von draußen nach drinnen, nach draußen, nach drinnen (V. 29.33.38b; 194f.9.23), schließlich aber auch von unten (V. 36) nach oben (Joh 19,11). Man könnte nun genau
359
Der ἄλλος μαθητής wird u.a. von H. Thyen mit dem geliebten Jünger identifiziert (vgl. THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 711), wodurch die Analogien dieser Jüngerbewegung zum Wettrennen zum Grab (Joh 20,1–10) umso stärker hervortreten. Ferner wird auch das Bild des guten Hirten, der durch die Tür in den Schafstall (Joh 10,1: διὰ τῆς θύρας εἰς τὴν αὐλήν) gelangt, aufgerufen und mit dem geliebten Jünger in Kontakt gebracht (vgl. TOLMIE, The [not so] Good Shepherd, 2006, 366), während Petrus mehrfach seine Unfähigkeit beweist, die Aufgabe des guten Hirte zu übernehmen. 360 Ist Petrus der μισθωτός, der bezahlte Knecht, der bei der ersten Gefahr seine Schafe im Stich lässt (Joh 10,12f.)? 361 Vgl. WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 257f.
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
397
nachzeichnen, wie, wann und welche Verantwortungen und Entscheidungsgewalten umgeleitet werden. 362 Entscheidend ist aber die dilatorische Wirkung der besonderen Verhandlungsführung, die erst in V. 36 ihre entscheidende Wendung nimmt, nämlich als Jesus sein Königtum vom Kosmos dissoziiert. Wäre er König dieser Welt, würden seine Diener gegen seine Überantwortung an die Juden kämpfen. Kurz zuvor hatte Jesus seine Jünger von Dienern zu Freunden aufsteigen lassen (Joh 15,14f.). Auch sie sind nicht von dieser Welt (Joh 15,19). Jesus verlagert die Verfügungsgewalt über sein Schicksal weg von hier (V. 36: οὐκ ἔστιν ἐντεῦθεν), weg von seinen Dienern, weg von seinen Freunden, weg von der Welt. Und nun kann man beobachten, wie mit einem Mal auch die Ankläger das Verfügungsrecht für sich zu beanspruchen suchen. Die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit (V. 38) wartet Pilatus gar nicht ab, sondern wendet sich erneut an die Juden. Diese reklamieren die Urteilsgewalt in Rekurs auf ihr Blasphemie-Gesetz (Joh 19,7), Pilatus wiederum verweist auf seine Macht, Jesus auszuliefern (Joh 19,10: ἐξουσία ἀπολῦσαι). Dementgegen lokalisiert Jesus die Macht ἄνωθεν, sie kommt von oben, allein die Sündenschuld liegt hier, bei den Auslieferern (Joh 19,11), und er wird damit Recht behalten, denn das Geschrei der Juden wird Pilatus gegen dessen eigene Intuition (Joh 19,12) handeln lassen. 363 Die Juden wiederum, die Pilatusʼ Unsicherheit bemerken, berufen sich auf die nächst ‚höhere‘ Instanz (auf Erden), den Kaiser (Joh 19,12) und erhöhen damit gleichermaßen den Druck auf Pilatus. Noch ein letztes Mal fragt Pilatus sie: Soll ich euren König kreuzigen? (Joh 19,15) Und ein letztes Mal demonstrieren sie absolute Kaiserzugehörigkeit und verleugnen damit ihre eigene Messiaserwartung, jedenfalls die messianische Erwartung einer politischen Heilsgestalt im Erbe Davids (vgl. Joh 7,42). Nach eigener Aussage haben sie keinen König außer dem Kaiser (Joh 19,15). Noch gravierender leugnen sie damit ihren eigenen Gott, denn das Volk Israel hatte Yahweh einst als einzig wahren König ausgerufen (Ri 8,23; 1 Sam 8,7). Ihre Raserei gegen Jesus veranlasst sie schlussendlich dazu, nicht nur ihre politischen, sondern auch ihre religiösen Ziele gegen sich selbst zu wenden. 364 Erst jetzt, nachdem der Prozess die Juden dazu gebracht hat, mit der völligen Unterwerfung unter den Kaiser ihre ethnische Unabhängigkeit und ihre religiösen Überzeugungen aufzugeben, liefert Pilatus Jesus aus, ἵνα σταυρωθῇ (Joh 19,16).
362 In Kurzzusammenfassung werden die Befugnisse und Rechenschaftspflichten von der Soldatenschar zum Hohepriester Hannas (Joh 18,13), zu Jesus (Joh 18,19f.), zu den Juden im Tempel (Joh 18,21), zum Knecht (Joh 18,23), zu Kaiaphas (Joh 18.24), zu Pilatus (Joh 18,28), zu den Juden (Joh 18,31a), zurück zu Pilatus (Joh 18,31b), zu Jesus als König der Juden (Joh 18,33), zu den Hohepriestern und dem Volk (Joh 18,35) verschoben. 363 Vgl. LINCOLN, Truth on Trial, 2000, 132. 364 Vgl. a.a.O., 136.
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V. Textanalyse
George Parsenios hat diese paradoxe Verkehrung des Prozesses in seiner anregenden Analyse des Gerichtsmotivs aus rhetorisch-dramatischer Sicht transparent werden lassen. Über das Evangelium hinweg steht Jesus im Mittelpunkt der Ermittlungen seiner Gegner gegen ihn, bis er schließlich auf der Anklagebank des Pilatus sitzt. Hinweis auf das forensische Setting der Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Gegnern geben die Begriffe ζητεῖν | suchen, aber auch ermitteln; μήνυσις | Anzeige, Bericht; ἐλέγχειν | überführen (vgl. insbesondere Joh 11,56f. , aber auch Joh 5,18; 7,1.11.19.10.30; 8,37.40.46; 10,39; 18,4.7.8), die vergleichbar in Sophoklesʼ Tragödie König Ödipus vorkommen. Dort sucht Ödipus den Mörder des Königs von Theben zu ermitteln, ohne zu wissen, dass die Investigationen zu ihm selbst führen werden. 365 Die dramatische Inszenierung der Prozessermittlungen im JohEv provozieren eine ähnliche, tragische Umkehrung: Die Kläger werden zu den Angeklagten, der Gerichtete zum Richter. Jesu Verfolgung durch die Juden führt letztlich zu seiner Entlastung, denn dort, wo er nach der bzw. durch die Kreuzigung hingeht, werden sie ihn suchen, aber nicht finden können, vielmehr werden sie in ihren Sünden sterben (Joh 7,34; 8,21).366 An Jesus kann Pilatus wiederum keinerlei Schuld finden (V. 38; 19,4.6), wie er dreimal und damit wirksam erklärt (vgl. die dreimalige Verleugnung der Petrus).367 Er selbst hätte keine Macht über Jesus, wenn sie ihm nicht von oben gegeben wäre (Joh 19,11). Jesus allein hat die Macht, sein Leben zu geben und wieder zu nehmen (Joh 10,18).368 Pilatus fragt nach der Wahrheit (Joh 18,38) und offenbart damit seine eigene Sünde, die in der Verwerfung Jesu Zeugnisses begründet ist. Wer Jesu Zeugnis nicht annimmt, besiegelt Gottes Wahrheit nicht (Joh 3,33) und wird schließlich vor Gericht stehen (Joh 12,48).369 Der wahre Richter ist Gott, der seinen Sohn zur Rettung in die Welt sendet (Joh 12,47). Wer den Sohn nicht annimmt, ist gerichtet. Gott ist in Wahrheit derjenige, der ermittelt und richtet (Joh 8,50: ζητῶν καὶ κρίνων).370 In dieser Deutungslinie kann bei genauem Hinsehen das intransitiv wirkende Hinsetzen Pilatusʼ auf den Richterstuhl (Joh 19,13: ἐκάθισεν) auch in seiner transitiven Bedeutung wahrgenommen werden. Er führt Jesus nicht nur heraus, sondern setzt ihn auf den Richterstuhl. 371 Eine ähnliche Umkehrung von Ankläger und Sünder haben wir in Joh 9 bemerkt.372 Die Stunde Jesu offenbart sich in diesem Prozess also auch im juristischen Sinne in ihrer fundamental umkehrenden Funktion: „The hour of Jesusʼ
365
Vgl. PARSENIOS, Rhetoric and Drama in the Johannine Lawsuit Motif, 2010, 49–85. Vgl. a.a.O., 133. 367 Vgl. a.a.O., 79–82. 368 Vgl. a.a.O., 37. 369 Vgl. a.a.O., 39. 370 Vgl. a.a.O., 64–71. 371 Vgl. a.a.O., 38. 372 Vgl. a.a.O., 60. 366
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
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death and resurrection is also the moment when his condemnation is reversed, and this condemnation falls instad upon his persecutors.“373 Zum Gegenstand weiterer aufschlussreicher Untersuchung ließen sich neben spezieller Zeitsemantik und Tempuswahl u.a. die komplexe Chronologie der Verhöre, das reiche symbolisch-metaphorische Netz an Fest- und Tageszeitangaben, draußen und drinnen, oben und unten, sowie aufgrund der starken joh. Abweichungen bei der Prozessschilderung auch der Erwartungshorizont des Lesers im Rahmen des synopt. Vergleichs erheben. Die hiesigen Beobachtungen werden lediglich durch ein vorläufiges Fazit mit üppigem Restbestand an Fragen abgeschlossen: Die hinter dem Verhalten stehenden Zeitnormen der einzelnen Prozessakteure sind vielfach undurchsichtig. Weshalb z.B. brauchen die Soldaten so lange, um Jesus festzunehmen? Was hält sie zurück? Warum muss Jesus sich selbst ausliefern? Warum wird der Prozess seitens der Juden auf den ineffizienten Umweg über mehrere Instanzen geschickt? Warum finden Hannas und Kaiaphas keine schnellere und effektivere Lösung, die ihrem Volk und dessen Unabhängigkeit dient? Weshalb zieht Pilatus den Prozess hin, indem er sich ruhelos zwischen der Volksmenge und Jesus, zwischen draußen und drinnen hin und her bewegt? Allein, weil er keine Schuld an ihm findet (V. 38; Joh 19,4)? Einzig das DraußenBleiben der Juden vor dem Prätorium wird mit rituellen Zeitnormen (das bevorstehende Passafest und die obligatorische Reinigung) eindeutig erklärt (V. 28). An diesem Punkt des Geschehensverlaufs treten allerdings, wie bereits in der Analyse zu Joh 11,1–12,11 beobachtet, zwei Zeiten besonders hervor: die politisch opportune und die doxologische Zeit − und zugleich fundamental auseinander. Politisch ist es eben doch nicht opportun, Jesus so schnell wie möglich den römischen Herrschern auszuliefern. Im Gegenteil, der römische Präfekt zieht den Prozess hin, ängstigt sich vor der jüdischen Menge (Joh 19,8) und nicht umgekehrt (Joh 11,48). Er dringt darauf, das ius gladii und damit seine Verantwortung für den Tod Jesu abzugeben (V. 31.39; Joh 19,6.12), nicht etwa darauf, die Unabhängigkeit der jüdischen Oberen aufgrund eines Aufruhrs in ihren Reihen zu beschränken. Deren rasender Tötungswunsch, angezeigt durch den durchdringenden Imperativ σταύρωσον | Kreuzige! (Joh 19,6.15), folgt keinem politischen Kairos mehr, allerhöchstens noch rituellen Zeitvorgaben, welche die Präsenz eines Leichnams während des großen Passasabbats missbilligen (vgl. Joh 19,31) und deshalb die schnelle Abwicklung der Exekution fordern. Schließlich ordnen die Juden sich im Eifer ihrer Tötungsgelüste selbst dem römischen Kaiser vollkommen unter (Joh 19,15), ohne dass es die Situation zwingend erfordern würde, und machen Jesus überdies nominell zu ihrem König, denn so hält es Pilatus irreversibel auf der Kreuzesinschrift fest (Joh 19,19–22). Die Hohepriester und Pharisäer haben die politische 373
A.a.O., 69.
400
V. Textanalyse
Opportunität ihrer Beschlüsse überschätzt, ihre Unabhängigkeit eigens gegen den römischen Präfekten ausgespielt und die Offenbarung der königlichen Herrlichkeit des Gottessohnes selbst noch vorangetrieben. Am Ende ist es die Stunde der Herrlichkeit, die doxologische Zeit, die alleinige Erfüllung und Bekräftigung findet. Das politische Motiv des Königtums wird dem der Offenbarung und Bezeugung der Herrlichkeit und Wahrheit untergeordnet. 374 Die Stunde der Offenbarung vertauscht Kläger und Angeklagte, Richtende und Richter, Macht und Ohnmacht. 4.8 Joh 20,1–10: Wettrennen zum Grab Ein letzter Ausblick sei dem Wettrennen des Petrus und des anderen Jünger, den Jesus lieb hatte, zum Grab gewidmet, auch wenn dieser Konflikt letztlich aus dem Rahmen des bisher Behandelten fällt, insofern Jesus hier nicht als Interagent involviert ist. Beinahe unmerklich jedoch übernimmt der geliebte Jünger, wie wir sehen werden, in diesem Zeitkonflikt die Rolle bzw. das Zeitmuster Jesu. Das Rennen geht nicht eher los, als Maria aus Magdala den beiden Jüngern vom leeren Grab berichtet. Sie kommt am ersten Tag der Woche nach der Kreuzigung früh morgens bei Dunkelheit zum Grab und obwohl sie nur im Dunkeln sieht, dass der Stein vom Grab weg ist (V. 1), rennt (τρέχω) sie zu den Jüngern und teilt ihnen ihre Vermutung mit, dass sie den Herrn aus dem Grab weggenommen haben, wir aber nicht wissen wo sie ihn hingelegt haben.375 Daraufhin gehen Petrus und der andere Jünger ‚hinaus‘ (ἐξέρχομαι)376 und kommen/gehen (ἔρχομαι im Imperfekt)377 zum Grab. In V. 4 wird noch einmal genauer erklärt, dass die beiden Jünger nicht etwa nur zum Grab gehen, sondern miteinander 374
Vgl. LINCOLN, Truth on Trial, 2000, 128. In der Forschungsliteratur wird vielfach diskutiert, wer mit dem Wir und dem Sie gemeint seien. Sind im Wir Petrus und der geliebte Jünger inbegriffen (vgl. MOLONEY, The Gospel of John, 1998, 518f.)? Dient es als Spur oder bewusste Markierung für den Gebrauch der mk. Vorlage, die von mehreren Frauen am Grab berichtet (vgl. BAUER, Das Johannesevangelium, 31933, 229; THYEN, Das Johannesevangelium, 22015, 756; dagegen BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, 211986, 529 [Anm. 4])? Wird mit dem Wir ganz allgemein auf die Jesusanhänger abgehoben (vgl. THOMPSON, The God of the Gospel of John, 2001, 411), bzw. geht es hier um eine Gegenüberstellung von Wir und Sie als „typical ingroup and out-group boundary marking“ (MALINA/ROHRBAUGH, Social-Science Commentary on the Gospel of John, 1998, 280)? Und auch das Subjekt in der 3. Person Plural des vermuteten Leichendiebstahls wird von Maria nicht genauer präzisiert. Spielt sie auf die jüdischen Antagonisten, die Hohepriester, an (vgl. SCHENKE, JohannesKommentar [elektronische Neuauflage], 2014, 316)? 376 Unklar ist, wo heraus die beiden Jünger gehen. In Blick auf Joh 10,10.19 wohl aus ‚ihrem‘ Haus, in dem die Jünger gegenwärtig ausharren. 377 Nach BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 61988, 630f. kann ἔρχομαι sowohl das stärker resultative Kommen als auch das prozessorientierte Gehen bezeichnen. Das Imperfekt verstärkt letztere Aktionsart. 375
4. Ausblick auf weitere Zeitkonflikte
401
dorthin laufen, der andere Jünger dabei schneller ist als Petrus und als Erster zum Grab gelangt. 378 Er schaut in das Grab hinein und sieht dort die Leinentücher liegen, aber anders als in Joh 18,15f. tritt nicht er, sondern Petrus als Erster ins Grab hinein. Petrus sieht nicht nur das Leinentuch, sondern entdeckt zudem das Schweißtuch vom Haupte Jesu an einem anderen Platz. Erst jetzt tritt auch der geliebte Jünger hinzu, sieht und glaubt. Im Anschluss gehen die beiden Jünger wieder gemeinsam zu sich (nach Hause). Der geliebte Jünger ist somit zwar effektiv schneller am Grab, verzichtet aber auf sein Vorlaufsrecht und verzögert seinen Eintritt dadurch, dass er Petrus vorlässt. Jedoch wird allein ihm im Anschluss an das Sehen auch Glauben attestiert. Vom Erzähler wird noch ergänzt, dass beide, Petrus und der geliebte Jünger, die Schrift nicht kannten (V. 9). Dies ist nicht als Erklärung für einen unvollständigen Glauben des geliebten Jüngers zu verstehen, sondern erklärt im Gegenteil die Überlegenheit des geliebten Jünger gegenüber Petrus. Jener sieht und glaubt nicht, dieser aber sieht und glaubt, obwohl ihm die Schrift als Deutungsschlüssel für die Ereignisse noch gar nicht zur Verfügung steht. 379 Allein der geliebte Jünger kann die augenscheinlichen Dinge – das leere Grab mit den zurückgebliebenen Leinentüchern und dem Schweißtuch des Toten – in ihrer tieferen Bedeutung erfassen. Er erkennt den Zustand des Grabes als Zeichen für Jesu Auferstehung; er glaubt, ohne den Auferstandenen zu sehen (vgl. Joh 20,29); oder mit den Worten von James Ressiguie: „The Beloved Disciple represents the ideal point of view of the narrative, seeing beyond appearances and judging correctly (7:24).“380 Hat diese seine Fähigkeit, das Bedeutsame hinter oder in den Dingen zu sehen, etwas mit seinem besonderen Verhalten in der Zeit zu tun? Damit, dass er obwohl er die Möglichkeit hätte, als Erster in das Grab zu treten, davon Abstand nimmt, seinen Eintritt verzögert und sich „im doppeltem Sinne [als] der zuvorkommende Jünger“381 gibt − einerseits vor allen anderen Zeit habend, andererseits sich Zeit lassend? Ist er auch deshalb der ‚Vorzeige‘-Jünger, 382 weil sein Zeitverhalten 378
Zur zeitlichen Detailansicht des Weges der Jünger zum Grab in Joh 20,4 vgl. WAGEFiguren als Handlungsmodelle, 2015, 267. 379 Vgl. u.a. MOLONEY, ‘For As Yet They Did Not Know the Scripture’ (John 20:9): A Study in Narrative Time, 2014, 103; THOMPSON, John, 2015, 413; ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 747. Darüber, was als die Schrift (ἡ γραφή) zu gelten hat, herrscht bei den Exegeten Uneinigkeit. F. Moloney hat m.E. sehr überzeugend dargelegt, dass es sich bei diesem Schriftbezug um eine Selbstreferenz des Evangeliums handeln muss. Das Evangelium nimmt schließlich über die Erzählung hinweg immer wieder die Auferstehung Jesu als Deutung des leeren Grabes vorweg, Petrus und dem geliebten Jünger steht es allerdings z.Z. der Auffindung des leeren Grabes noch nicht als Deutungshilfe zur Verfügung (vgl. MOLONEY, 97–111). 380 RESSEGUIE, The Beloved Disciple, 2013, 545. Auch im Nachtragkapitel erkennt der geliebte Jünger den Herrn noch vor Petrus und allen anderen Jüngern (Joh 21,7). 381 WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 269f. 382 Vgl. THOMPSON, John, 2015, 409f. NER,
402
V. Textanalyse
dem Zeitverhalten Jesu in gewisser Weise ähnelt? Schließlich ist er der einzige Jünger, der bis zur Stunde Jesu am Kreuz ausharrt, der von dieser Stunde an (Joh 19,27: ἀπ᾽ ἐκείνης τῆς ὥρας) die Mutter Jesu zu sich nimmt, kurz bevor Jesus seinen Geist auf-/übergibt (Joh 19,30). Er ist zwar schneller, prescht aber nicht vor und gewinnt gerade durch diese Verzögerung, den Umweg, die zeitliche und räumliche Distanz, einen Vorsprung im Sehen als, in der empathischen Anschauung383 Jesu als auferstandenen Sohn Gottes. Im Anschluss an die Interaktion am Grab und sein österliches Zu-GlaubenKommen verbreitet der geliebte Jünger seinen Glauben nicht sofort, sondern geht mit Petrus nach Hause. Er wartet die Erscheinung des Auferstandenen ab, weil nur die individuelle und persönliche Begegnung mit dem Auferstandenen Glauben erzeugen kann. 384 Die Jünger verlassen also das Grab, schieben die Begegnung mit dem Auferstandenen auf und räumen Maria von Magdala diesbezüglich einen Vorsprung ein, den sie mit keinem Wettlauf einholen können. Einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung dieser Auslegungsrichtung könnten weitere Analysen des mehrfachen Tempuswechsels zwischen Präsens Historicum, Imperfekt und Aorist, der überwiegend ordinal strukturierten Zeitsemantik, der besonderen Metaphorik dieser Szene (Dunkelheit vs. Licht der Welt; Wettkampfmetaphorik etc.) und der Übereinstimmungen und Unterschiede zur Lazaruserzählung leisten. Es ließe sich auch ein Vergleich mit Berichten über Leichenspiele als Teil antiker Bestattungsrituale (z.B. in Hom Il 23, 422–424) anstellen. Im Rahmen einer Untersuchung der Intensität des Leseerlebnisses könnte auch der appellative Wert des selbstreferenziellen Schriftbezugs in Verbindung mit Glauben in V. 9 von Belang sein. 385 Die bisher (ob detailliert oder ausblicksartig) analysierten Zeitkonflikte schöpfen mitnichten den Fundus joh. Zeitkonflikte aus. Der zeitethische Filter kann über das Besprochene hinaus noch viele weitere konfligierende Zeitnormen zu Tage fördern – darunter bspw. diejenigen Zeitnormen, die sich in der verzögernd-zurückweisenden Antwort Jesu auf die Frage der Menge in Joh 6,25–27, wann er denn nach Kafarnaum gekommen sei, verbergen; oder aber diejenigen, die dem Drängen der Juden auf eine Antwort auf die Christusfrage in Joh 10,24 (Bis wann hältst du unsere Seele hin? Bist du der Christus, sag es uns offen!) innewohnen. Unter dem positiven Eindruck, dass die vielfältigen Erträge der bisherigen Textanalyse bereits einen guten Ein- und Überblick über joh. Zeitnormen und -konflikte gewähren und damit genug ‚Textdaten‘ liefern, um zu repräsentativen Ergebnissen zu gelangen, schreiten wir nun zur Auswertung und Bündelung der Daten voran. καὶ νῦν ἔτι βίος βραχὺς, ἡ δὲ τέχνη μακρή. 383 Zum christologischen Sehen als… vgl. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 58f. Mehr zur joh. Schule des Sehens außerdem unter 4.5 Joh 9,1–41: Der zweite Sabbatkonflikt. 384 Vgl. ZUMSTEIN, Das Johannesevangelium, 2016, 748. 385 Zur Appellfunktion von Joh 20,9 vgl. WAGENER, Figuren als Handlungsmodelle, 2015, 269f.
Teil VI
Ergebnisse 1. Rekapitulation der Anfangsfragen, -thesen und -ziele 0. Rekapitulation der Anfangsthesen
Es ist nun an der Zeit, die noch lose verwobenen exegetischen Beobachtungen aus dem analytischen Teil systematisch zusammenzubinden und auf die anfangs gefassten Grundfragen und -thesen zurück zu beziehen. Der Forschungseinblick in Teil II der Arbeit hat gezeigt, dass in den bisherigen exegetischen Beobachtungen zur Zeit im JohEv deren ethische Relevanz höchstens am Rande thematisiert wurde. Das konkrete erzählte Geschehen mit seinen vielen aufwendig synchronisierten Interaktionen und Zeitkonflikten wurde (mitunter aus Vorbehalt gegenüber allzu positivistischen historischen Rückschlüssen) häufig zum blinden Fleck der narrativen, zeitgeschichtlichen und theologischen Deutungshorizonte (Teil II, Kap. 1). Umgekehrt war aus der Betrachtung der ersten ethischen Rehabilitierungsversuche des JohEvs als narrative Ethik erkennbar geworden, dass zwar die Figuren und deren Handlungen, oder das Konzept der Mimesis als Nachahmung von Handlungen, oder das sprachliche Feld des Handelns mögliche Zugriffspunkte für die narrative Ethik des JohEvs bieten. Die zeitliche Struktur erzählter Handlungen und die Zeitsensibilität vieler im JohEv dargestellten Handlungskonflikte blieben dabei jedoch bisher unbeachtet (Teil II, Kap. 2). Deshalb ist aus dem Forschungskapitel folgende Grundthese erhoben worden: Der ethische Filter, welcher die konkreten Interaktionen des erzählten Geschehens akzentuiert, verheißt, den Blick auf die Zeit(en) im JohEv zu vertiefen. Umgekehrt weist die Empirie gehäufter joh. inszenierter Zeitkonflikte darauf hin, dass der temporale Filter den Blick auf die Ethik im JohEv neu schärfen und deren Rehabilitation im Rahmen der ntl. Ethik wirksam begleiten kann. Im theoretischen Teil III der Arbeit wurde deutlich, dass der blinde Fleck der Exegese einen blinden Fleck der theoretischen Verhältnisbestimmung von Zeit, Ethik und Erzählung reflektiert. Die Narratologie zeigt wenig Interesse für die erzählte Zeit an und für sich, unabhängig von ihrem Verhältnis zur Erzählzeit (Teil III, Kap. 1); die narrativen Ethikansätze des JohEvs überblenden die Ebene des Geschehens überwiegend mit der Untersuchung der ethischen Darstellungsweise bzw. der ethischen Wirkung des Textes auf den Leser (Teil
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VI. Ergebnisse
III, Kap. 2), und die Ethiktheorie verfügt über keine systematische Relevanzanalyse der Zeit für die unterschiedlichen Ebenen menschlicher Interaktionen und deren ethischer Reflexion (Teil III, Kap. 3). Auf Basis der ausführlichen theoretischen Besprechung des Verhältnisses von Zeit und Ethik (Teil III, Kap. 3) und auf Basis der Arbeit im Mainzer Graduiertenkolleg „Die Zeitdimension in der Begründung der Ethik“ wurden deshalb zunächst ganz grundsätzliche Thesen zur Relevanz der Zeit für die unterschiedlichen Ebenen menschlicher Interaktionen und deren Reflexion formuliert: Es gibt keine zeitlose Ethik, (1) denn erstens sind menschliche Interaktionen nicht zeitlos: a) Handlungen/Interaktionen passieren zu einem bestimmten Zeitpunkt. b) Handlungen/Interaktionen können in ihrer Dauer differieren. c) Handlungen/Interaktionen sind zeitlich mehrdimensional (durch ihre Voraussetzungen, die Handlungssituation und ihre Folgen). d) Zeitpunkt, Zeitdauer, Reihenfolge und Inhalt von Handlungen sind von leitenden Zeitnormen abhängig. Diese zeitlichen Bestimmungen von Handlungen/Interaktionen, sowie ihre leitenden Zeitnormen können zum Gegenstand ethischer Reflexionen und Bewertungen werden. (2) Zweitens sind aber auch die Reflexion und Bewertung von Interaktionen, von deren zeitlicher Strukturierung und deren leitenden (Zeit-)Normen nicht zeitlos: a) Die Reflexion findet zu einem bestimmten Zeitpunkt statt. b) Die Reflexion kann eine bestimmte Dauer haben (durch Stufen der Abwägungen/Differenzierungsgrade). c) Die Reflexion ist mehrdimensional (indem sie Vergangenheits-, Gegenwarts-, Zukunftsorientierung aufweist) und kann die Zeitdimensionen unterschiedlich priorisieren.
Die neue Verhältnisbestimmung von Zeit, Ethik und Erzählung (Teil III, Kap. 4) hat in Hoffnung gestellt, dass wir durch die Analyse der narrativen Inszenierung von Zeit im Rahmen konkreter Interaktionen auf Ebene des erzählten Geschehens zu einem besseren Verständnis über das Verhältnis von Zeit und Ethik innerhalb (und im Zuge der Prä- und Refiguration auch außerhalb) von Erzählungen gelangen, insbesondere auch zu einem besseren Verständnis von unterschiedlichen Zeitnormen und deren Relevanz für menschliches Handeln. Das JohEv hat sich nicht nur aufgrund seiner grundsätzlichen Teilhabe an der Erzählgattung für die Untersuchung der Bedeutung der Zeitdimensionen für die Ethik qualifiziert (wie Paul Ricœur gezeigt hat, beziehen sich die metaphorischen Referenzen von Erzählungen explizit auf die Sphäre des Handelns und dessen zeitlicher Werte)1. Auch aufgrund einer Vielzahl zu beobachtender Zeitkonflikte zwischen den joh. Figuren und der erzählerischen Oszillation des JohEvs zwischen temporaler Abstraktion und Konkretion hat es sich als ideales
1
Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 9.
2. Zeitnormen und Konfliktmuster
405
Forschungsareal angedient. Aus den ersten thetischen Beobachtungen im Forschungseinblick und in der Theorie ist schließlich eine konkrete Zielsetzung für die Arbeit erwachsen (Teil III, Kap. 4.3.): Ziel der Arbeit ist es, in Auseinandersetzungen mit dem Text des JohEvs und seinen Figureninteraktionen eine ethische Zeitkompetenz zu entwickeln, d.h. das Vermögen, handlungs- und verhaltenssteuernde Zeitnormen zu erkennen, sie reflexiv zu durchdringen und zu bewerten, um diese auf lange Sicht hin mitgestalten zu können. So wie der ethische Filter den Blick auf die Zeit im JohEv zu vertiefen verheißt, so soll auch umgekehrt der temporale Filter den Blick auf die Ethik im JohEv neu schärfen. Flankiert und präzisiert wurde diese Zielbestimmung von folgenden Forschungsfragen: (1) Welche Zeitorientierungen/-normen werden im JohEv inszeniert? Wie stehen diese Zeitnormen zueinander? Welche Konfliktmuster ergeben sich aus ihnen? (2) Welche Zeitnorm(en) werden dem Helden der Evangeliumserzählung zugeschrieben? Was trägt die Christologie zum Verhältnis von Zeit und Ethik und was trägt das Verhältnis von Zeit und Ethik zur Christologie bei? (3) Welche Relevanz haben Abweichungen/Erwartungsbrüche/Verzögerungen auf der Ebene der Interaktion sowie der Ebene der Darstellung für die ethische Reflexionszeit und deren ‚Effizienz‘? (4) Welche Zeitorientierung schlägt das JohEv insgesamt für gelingende Interaktionen und deren Reflexion vor? (5) Ist diese Zeitorientierung praktikabel? Ist auch das Zeitverhalten der Figuren von mimetischer Qualität für den Leser? (6) Welche Impulse ergeben sich aus den exegetischen Beobachtungen für die Ethiktheorie? (7) Welche Impulse ergeben sich aus den exegetischen Beobachtungen für eine zeitsensible theologische Ethik? (8) Diese Fragen werden nun in den folgenden Kapiteln zusammenfassend beantwortet.
2. Zeitnormen und Konfliktmuster 2. Zeitnormen und Konfliktmuster
Welche Zeitorientierungen/-normen werden im JohEv inszeniert? Wie stehen diese Zeitnormen zueinander? Welche Konfliktmuster ergeben sich aus ihnen? Die analytischen Funde bestätigen nachdrücklich, dass die joh. Zeitdarstellung nicht nur nach ihrem historischen oder zeitgeschichtlichen Aussagewert, ihrer dramaturgischen Funktion oder ihrer theologischen Bedeutung befragt werden kann, sondern dass sich auch ein ethischer Blick auf das Zeitverhalten
406
VI. Ergebnisse
der Figuren in den konkreten Szenen lohnt. Aus den schon anfangs diagnostizierten Zeitkonflikten sind eine ganze Reihe weiterer Zeitkonflikte erwachsen, bei denen Jesus einerseits und seine Gesprächspartner andererseits zu abweichenden Einschätzungen des Handlungsbedarfs kommen, den Kairos einer Handlung unterschiedlich terminieren, die Handlungspotenziale verschiedentlich abwägen und Handlungen unterschiedlich bewerten. Hinter diesen Konflikten wurde die Orientierung an widerstreitenden Zeitsystemen vermutet und freigelegt. In diesem Zuge wurde offenkundig, dass insbesondere Jesu Verhalten eine beispielhafte Neuorientierung hinsichtlich der ethischen Bewertung und praktischen Inanspruchnahme dieser Zeitsysteme nahelegt. Diese unterschiedlichen Zeitsysteme sollen nun noch einmal nach Relevanz und Vorkommen gelistet werden. 2.1 Zeitnormen der Figuren In den untersuchten Zeitkonflikten spielen für die Interaktionspartner Jesu zuvorderst rituell-religiöse bzw. kultische Zeitnormen eine handlungsorientierende Rolle: Der Gelähmte beklagt seine ‚Lahmheit‘ gegenüber den Kultrhythmen am Teich Bethzatha (Joh 5,7); die Juden/Pharisäer treiben den Konflikt mit Jesus mehrmals in Berufung auf Sabbatkonventionen voran (Joh 5,10.16; 9,16; 19,31); die Juden in Bethanien sind an Trauerriten orientiert (Joh 11,19.31); die Brüder Jesu agieren in Ausrichtung an den öffentlichen Festzeiten des Laubhüttenfestes (Joh 7,2–4); die nach Jerusalem pilgernden Juden sind an Festzeiten des Passa und dessen Reinheitsvorschriften orientiert (Joh 11,55; 18,28); sogar Pilatus hält sich an ihren Brauch (συνήθεια ὑμῖν), zum Passafest einen Angeklagten freizugeben. Eine weitere, besonders einflussreiche Zeitnorm ist die der ablaufenden Lebenszeit bzw. der imminenten Gefahr (die diese Lebenszeit bedroht). So ist die Bitte des Königlichen an Jesus an dem drohenden Lebensende seines Sohnes ausgerichtet (Joh 4,47.49), ebenso wie das Hilfsgesuch der beiden Schwestern Lazari (Joh 11,4f.). Die Jünger wollen aufgrund der von den Juden ausgehenden Gefahr ihren Rabbi nicht nach Judäa ziehen lassen (Joh 11,8), und auch die Eltern des Blindgeborenen haben Angst vor dem Beschluss der jüdischen Obrigkeit zum Synagogenausschluss (Joh 9,20–23; vgl. auch die Menge in Joh 7,13) und dessen existentiellen Folgen. Ebenso sind die Handlungen und Äußerungen Petri mit der Furcht vor dem Lebenszeitende zu plausibilisieren (Joh 13,8; 18,10.17.25–27). Schließlich treten entweder traditionsbasierte oder erfahrungsbasierte Erwartungen als handlungsleitende Normen auf. Hier ist v.a. die Vergangenheit für die Einschätzung der Situation bzw. die Handlungen bestimmend: Auf ihre Erfahrungen mit dem langwierigen Tempelbau berufen sich die Juden in ungläubiger Reaktion auf Jesu Tempelwort (Joh 2,13–22); die Galiläer nehmen Jesus aufgrund seiner vergangenen Taten auf dem Fest in Jerusalem bei sich
2. Zeitnormen und Konfliktmuster
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auf (Joh 4,45); die Jünger fragen nach der Sündenvergangenheit des Blindgeborenen bzw. seiner Eltern (Joh 9,2); die Nachbarn des Blindgeborenen sehen nur seine Vergangenheit als Bettler (Joh 9,8); die Juden in Bethanien kritisieren Jesu Zuspätkommen auf Basis ihrer Erfahrung mit der Blindenheilung (Joh 11,37); die Juden auf dem Laubhüttenfest fragen nach Jesu Ausbildung zur Legitimation seiner Schriftlehre (Joh 7,15); einige Gruppen auf dem Laubhüttenfest berufen sich bei ihrer Einschätzung Jesu auf traditionelle Messiaserwartungen (Joh 7,27.41f.52); Martha rekapituliert in ihrer Trauer um den Tod ihres Bruders einen traditionell eschatologischen Auferstehungsglauben (Joh 11,24). Teilweise spielt auch die öffentliche bzw. intersubjektive Zeit eine Rolle, so bei den Brüdern, die Jesus weniger aufgrund des Laubhüttenfestes als aufgrund der damit verbundenen Öffentlichkeit nach Judäa drängen wollen (Joh 7,2–4). Die Gelegenheit, Jesus und den von ihm auferweckten Lazarus zu begegnen, ist der Grund für die Menge, nach Bethanien zu reisen (Joh 12,9). Interessant ist, dass zuvor von der Reise vieler Juden nach Jerusalem zum Passafest und den erforderlichen Reinigungen berichtet wird (Joh 11,55), jetzt aber eine andere Zeitnorm für die Reise ins nahegelegene Bethanien dominiert, denn, wie es einen Vers zuvor aus Jesu Munde heißt: ἐμὲ δὲ οὐ πάντοτε ἔχετε | mich aber habt ihr nicht allezeit (Joh 12,8). Diese Abweichung von den regulären Zeitorientierungen aus dem Glauben an Jesus heraus sind für die Hohepriester dann Anlass, den Tötungsbeschluss für Lazarus zu fällen (Joh 12,10f.). Daneben offenbaren die Mutter Jesu, sowie der Festordner ihre Ausrichtungen an (Hochzeits-)Festkonventionen (Joh 2,3.10). Auch Lazarus und Martha halten sich beim Gastmahl in Bethanien an die Mahlkonventionen (Joh 12,2). Nur Maria bricht mit diesen Konventionen, insofern sie mitten im Mahl (wie auch Jesus später in Joh 13,4f.) zur Fußwaschung bzw. -salbung übergeht. In besonderen Gefahrensituationen spielt mitunter die topographische Zeit (Wegzeit von Kana nach Kafarnaum in Joh 4,46–54 und von Bethanien jenseits des Jordans nach Bethanien in der Nähe Jerusalems in Joh 11,1–44) eine zusätzliche Rolle für die jeweiligen Bewertungen des Handlungsbedarfs. Auch politische Opportunitäten (Joh 11,47–53: die jüdischen Oberen wollen Aufruhr in Zeiten römischer Besatzung vermeiden, um ihre Unabhängigkeit nicht zu gefährden), rechtliche Zeitvorgaben (Joh 7,51: Nikodemus plädiert auf reguläre Prozessordnung, die eine Anhörung des Angeklagten vor dem Urteil vorsieht) und ökonomische (Investitions-)Zeiten (Joh 12,5f.: Judas will das Geld nicht für Öl ‚verschwenden‘, sondern sparen und für sich einbehalten) sind für die Einschätzung des jeweiligen Handlungsbedarfs durch die Figuren ausschlaggebend. Ferner spielt das Thema der Macht über die Zeit bei den Handlungen der Figuren eine Rolle. Zum einen ist bei den niedriggestellten Tischdienern, aber auch bei dem Blindgeborenen (und ehemaligen Bettler), dem Gelähmten und Lazarus, sofortiger Gehorsam gegenüber den Aufforderungen Jesu zu beobachten. Verzögerung bei der Ausführung der Anordnungen ist in dieser
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VI. Ergebnisse
Gruppe von Handlungsträgern nicht geboten. Der Ungehorsam der Knechte der Hohepriester und Pharisäer gegenüber dem Befehl der Höhergestellten ergibt sich allein aus der überwältigenden Erfahrung mit Jesu neuartiger Rede (Joh 7,46), normalerweise wären auch sie an den Zeithorizont der Unmittelbarkeit von Befehl und Ausführung gebunden. Für ihre Abweichungen empfangen sie Rüge von ihren Vorgesetzten. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch das Chaos um die Kapitalgerichtsbarkeit. Wer hat Macht, über das Lebensende eines Menschen zu verfügen? Die jüdischen Oberen formulieren zwar den Tötungsbeschluss (Joh 11,53), ohne aber die effektive Entscheidungsgewalt zu haben (Joh 18,31). Pilatus, der die politische Entscheidungsmacht über Leben und Tod beansprucht (Joh 19,10), findet keine Schuld und verschleppt den Prozess durch sein mehrmaliges Hinein- und Hinaustreten in das und aus dem Prätorium signifikant, während die Juden ihn an diesem Rüsttag zum Passafest vehement zum Todesurteil drängen (u.a. auch weil rituelle Zeitvorgaben die Präsenz eines Leichnams während des großen Passasabbats missbilligen; vgl. Joh 19,31). Letztlich ist es wohl allein die Furcht vor dem Kaiser, die Pilatus zu diesem Urteil bewegt (Joh 19,12.15f.), wodurch sein Handeln doch wiederum nur Ausdruck der Ohnmacht und der Untertänigkeit ist. Eigentlich ist es auch nicht der Kaiser, sondern Jesus selbst, der das ius gladii innehält. Er hat die Macht, sein Leben zu geben (Joh 10,17f.: ἐξουσία θεῖναι τὴν ψυχήν). 2.2 Zeitnorm(en) Jesu Auch die handlungsleitenden Zeitorientierungen Jesu sehen auf den ersten Blick vielfältig und teilweise verworren, gar inkohärent aus (οὔπω ἥκει ἡ ὥρα μου; ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν; ἦλθεν ἡ ὥρα; ὁ καιρὸς ὁ ἐμὸς οὔπω πάρεστιν; ἕως ἡμέρα ἐστίν; ἔρχεται νύξ; ἵνα δοξασθῇ; ἔτι μικρὸν χρόνον; εἰς τὸν αἰῶνα; εἰς τέλος etc.). Bei genauerem Hinsehen wird jedoch erkennbar, dass sich jegliche Zeitverweise auf das Integral der sog. Stunde der Verherrlichung, d.h. das Integral von Todesstunde und gleichzeitiger Überwindung des Todes, ausrichten und sich von ihm her verstehen. Die Stunde kann jedoch nicht als ‚Zeitstunde‘ in unserer linearen Uhrenzeit verstanden werden. Im Gegenteil: Sie hebt die lineare Zeitrechnung auf, indem sie sich über mehrere Kapitel (Tage) zieht. 2 Mit diesem Integral kann deshalb auch kein lineares Zeitintegral gemeint sein, dass eine Zeitspanne von Tod bis Auferstehung umfasst. Vielmehr ist die Stunde ein inhaltlich qualifiziertes Integral, welches die Schande am Kreuz und die Herrlichkeit, den Tod und das ewige Leben paradoxerweise integriert. Indem das Weizenkorn stirbt, bleibt es nicht allein, sondern bringt viel Frucht (Joh 12,24) oder wie Ruben Zimmermann deutlich macht: „Life is given
2
Vgl. MOLONEY, Love in the Gospel of John, 2013, 165.
2. Zeitnormen und Konfliktmuster
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through surrendering, not after it.“ 3 Kreuzesschande und Verherrlichung, Tod und Leben können im JohEv nicht zeitlich nachgeordnet werden, sie fallen in einem Brennpunkt zusammen. Seine noch nicht gekommene Stunde der Verherrlichung (Joh 2,4) bzw. sein noch nicht gekommener Kairos zum Hinübergehen (Joh 7,6–8) geben Jesu Handlungen ebenso Orientierung wie die begrenzte Tageszeitspanne bis zum Eintreffen der Nacht bzw. der Finsternis des Todes (Joh 9,4f.; 11,9f.; 12,35f.). Seine Liebe reicht, so der Erzähler, εἰς τέλος (Joh 13,1), d.h. bis in den Tod (vgl. Joh 19,30: τετέλεσται) hinein. Er selbst kündigt schon früh den Tempelneubau in drei Tagen an – eine Anspielung auf die Zerstörung seines eigenen Leibestempels und dessen Wiederaufrichtung und Neuausrichtung. Dieser zukünftige Prozess aus Zerstörung und Neuausrichtung seines Leibestempels erklärt und begründet auch die vorangegangene, rigorose Reinigung des Hauses seines Vaters von jeglichen Tausch- und Verkaufsgeschäften (Joh 2,19). Jesus selbst gibt freiwillig, nicht im Tausch, nicht zum Gegenwert und er gibt das Wertvollste: sein eigenes Leben (Joh 10,17f.). Seine Liebe reicht bis in den Tod hinein und fordert keine Vergeltung oder Genugtuung. Auf dem Laubhüttenfest leitet Jesus die traditionellen Ausrichtungen und die wiederholende Inszenierung der eschatologischen Heilsgüter der Wasser-, Blut- und Geistgabe auf das einmalige zeitliche Konkretum seiner Kreuzigungsstunde um (Joh 7,37–39; vgl. Joh 19,30.34). In der Auseinandersetzung mit Pilatus macht er deutlich, dass Macht und Bestimmung ἄνωθεν gegeben sind. Das meint einerseits eben von oben, andererseits aber auch vom Anfang her. In der Auseinandersetzung mit Nikodemus erklärt er, dass nur, wer aus diesem Anfang/von oben geboren wird, das Reich Gottes sehen wird (Joh 3,3). Die Richtungsbestimmung ἄνωθεν weist nicht nur auf eine uranfängliche Bestimmung des Weltverlaufs durch den Vater hin oder auf ein fernes Oben, dessen Residenz im Himmel, sondern eben auch auf das Oben und den Anfang, der im zeitlichen und räumlichen Konkretum der Kreuzigungsstunde quer zu unseren Linearitäten und Kontinuitäten hineinbricht. Darin steckt ein schöpferisches ἄνωθεν, das jenseits der sieben Schöpfungstage und über den Sabbat als Ruhetag hinaus im Vater wie auch im Sohn wirksam wird (Joh 5,17). Und so wird auch klar, weshalb die Stunde einerseits noch kommend, andererseits jetzt da und gekommen sein kann, weshalb die Eschata teilweise in ihrer Zukünftigkeit angesprochen und zugleich präsent dargestellt sind, weshalb ewiges Leben (ζωὴ αἰώνιός) schon vor der Lebenszeitgrenze nicht durch die Lebenszeitbegrenzung (κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται) ausgeschlossen wird (Joh 11,25f.). Die Kreuzigung als historisch konkretes Datum ist zugleich Urdatum der Durchbrechung historischer Linearitäten. Im absoluten Ende wird der Anfang geboren, und zwar nicht i.S. einer zyklischen Wiederkehr des ewig Gleichen, sondern als qualitativer Neuanfang. 3
ZIMMERMANN, Towards an 'Ethic of Life' in the Gospel of John, 2016, 48.
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VI. Ergebnisse
Die Liebe εἰς τέλος und das Leben εἰς τὸν αἰῶνα sind auf das engste miteinander verbunden. In Joh 12,49f. spricht Jesus von dem Gebot (ἐντολή), das ihm sein Vater gegeben hat, das er tun und reden soll. Darauf folgt eine weitere Näherbestimmung des Gebots: ἡ ἐντολὴ αὐτοῦ ζωὴ αἰώνιός ἐ σ τ ιν | sein Gebot i s t das ewige Leben. Das Gebot aber, das Jesus im Folgenden (in der Fußwaschung und schließlich am Kreuz) tut und redet (Joh 13,34f.; 15,9–17) ist das Gebot der Liebe εἰς τέλος. Das Gebot der Liebe bis ins Ende hinein (εἰς τέλος) ist das ewige Leben (ζωὴ αἰώνιος). Gleichwohl wird man festhalten müssen, dass das Handeln und Walten des Gottessohnes nicht nur dieses dynamisierende Zeitintegral der Stunde von Schande und Verherrlichung berücksichtigt, sondern dass der Sohn Gottes als der Mensch Jesus sehr wohl in die menschliche (lineare oder zyklisch gedachte und gestaltete) Zeit hineintritt und sich auf diese Zeit einlässt. So dominant die integrale Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung seinen Handlungshorizont bestimmt, so wichtig ist es zu bemerken, dass er sich auf die weltlichen Zeiten und Rhythmen einlässt, sie ernst nimmt, sie schlussendlich in aller Intensität erleidet. Er nimmt stets Bezug auf die Rhythmen des Kosmos, lässt sie aber von der Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung dynamisch neuordnen: Auf dem Hochzeitsfest handelt er schlussendlich durchaus zu Gunsten der Festtagskonventionen, die über das gesamte Fest hinweg den Ausschank von Wein vorsehen, kehrt lediglich die Richtung der Ausschankkonvention (von schlechtem zu gutem Wein) um. Er nimmt auch Bezug auf die traditionelle Vorstellung von der Präsenz Gottes in seinem Tempel, transzendiert jedoch den starren Raum mit festgelegten Begegnungszeiten, auf die relationale Begegnung mit ihm selbst als dem neuen, stets zugänglichen Tempel der Gottespräsenz. Er argumentiert mit Tag/Nacht- und Schlaf/Wach-Rhythmen, um für seine Jünger zu plausibilisieren, wann es an der Zeit ist zu handeln. Er selbst kann sogar Müdigkeit empfinden (Joh 4,6). Jedoch hebt er auch diese natürlichen Rhythmen insofern auf, als er Lazarus aus dem ‚Schlaf‘ erweckt (Joh 11,11) und am helllichten Tag die größte Finsternis des Todes erleidet (Joh 19,14). Er zieht zu den Festzeiten nach Jerusalem hinauf (Joh 2,13; 5,1; 7,14.37; 12,12), die durch Wiederholung vergegenwärtigenden Rituale dieser Feste bezieht er aber auf die konkrete, irreversible Realisierung und Vervollständigung vergangener und zukünftiger Heilsgüter im Kreuzesgeschehen. Er bezieht sich aktiv und explizit auf Traditionen aus der Geschichte Israels (Abraham als Stammvater in Joh 8,37.39f.56.58, Moses und das Gesetz in Joh 3,14; 5,45–47; 6,32; 7,19.22f.; 8,17; 10,34–36; 15,25; die Propheten und Schriften/Schrift in Joh 6,45; 7,38.; 13,18; 15,25; 17,12; Gerichtsvorstellung in Joh 3,17f.; 5,22–30; 9,39; 12,31.47f. und traditionelle Auferstehungshoffnungen in Joh 5,25.28f.; 6,39f.44). Er zentriert diese Traditionen aber im Kreuzesgeschehen neu, insofern dieses konkrete Ereignis deren Erfüllung oder gar Überbietung (vom Gesetz zur Gnade) entspricht. Er knüpft an die Traditionen
2. Zeitnormen und Konfliktmuster
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aus der Vergangenheit an, um das Neuartige ihrer Erfüllung überhaupt erst deutlich machen zu können. In Konsequenz ist nun sein Wort die zu erfüllende Tradition (Joh 5,24; 8,50; 14,23; 15,20; vgl. auch Joh 18,9.32). Darüber hinaus werden bestimmte inhaltliche Zielrichtungen Jesu Verhaltens in und mit der Zeit in den untersuchten Konflikten sichtbar. Jesu verzögerndes Verhalten beim ersten Wunder in Kana zeitigt zwei ‚Erträge‘: Er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn (Joh 2,11). Beide Zielrichtungen werden über die Zeitkonflikte hinweg mehrmals als Telos oder Ergebnis seines besonderen Zeitverhaltens artikuliert (Glaube in Joh 4,53; 7,31; 9,38; 11,15.42; 13,19; Offenbarung der Herrlichkeit in Joh 7,18; 11,4; vgl. auch Joh 9,14: Der Blindgeborene gibt Gott, wie von den Juden gefordert, die Ehre/Herrlichkeit [δόξα], indem er Jesus zunächst als Prophet, von Gott kommend und schließlich als Menschensohn er- und bekennt). Die Ausrichtung auf Glauben und Offenbarung der Herrlichkeit gipfelt schließlich in der Liebe, die εἰς τέλος reicht und auf die Jünger übertragen wird (Joh 13,34f.; 14,15.21.23f.; 15,9–17; 21,15–17). An dieser Liebe wird umgekehrt offenbar, wer die Jünger des Gottessohnes sind (Joh 13,35). Das Glaubens- und Offenbarungstelos des Helden geht auch in der Zielrichtung des gesamten Evangeliums auf (Joh 19,35; 20,31). Der Glaube ist wiederum sehr eng mit dem Leben verbunden, denn durch den Glauben, sollen die Rezipienten des Evangeliums Leben haben in seinem Namen (Joh 20,31). Auch nach Jesu eigenen Worten hat derjenige, der glaubt, schon jetzt das ewige Leben (Joh 3,15f.36; 5,24; 6,40.47.54: 10,10.28; 17,2f.; 20,31). 2.3 Konfliktmuster Jesu Zeitorientierung an der integralen Stunde und die unterschiedlichen Zeitnormen seiner Interagenten kollidieren in bestimmten Konfliktmustern miteinander, die im Folgenden skizziert werden sollen. SABBATHEILUNGEN (Joh 5,1–18; 9,1–41) Initiative Jesu → Resignation Gelähmter/Einwand Jünger auf Basis von Kultrhythmen/klassischer Kausalitäten → Effektive Heilung → aufwendige Inquisition der Kontrahenten auf Basis von Sabbatkonventionen → Umkehrungen: Gleichzeitigkeit von Vater & Sohn; Sehende werden blind HILFSGESUCH (Joh 2,1–11; 5,43–54; 11,1–53) Initiative (Mutter, Königlicher, Martha & Maria) → Verzögerung (Jesus) aus begrenztem Zeithorizont & Handlungsspielraum heraus → Beharrlichkeit → „Überraschungstat“ → (bestätigter) Glaube/Offenbarung der Herrlichkeit
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VI. Ergebnisse
JÜNGERNACHFOLGE (Joh 1,46.49; 11,8.12.16; 13,6.8f. etc.) Einwand/Verzögerung (Nathanael, Thomas, Petrus) → Überzeugung (Jesus) auf Basis vergangener Erfahrungen/Traditionen → Übereile/Ungeduld → Beschwichtigung/ Aufruf zur Geduld VERSUCHUNGEN (Joh 7,1–14; 8,1–11) Versuchung (Brüder; Pharisäer) auf Basis von Festzeiten/Prozessordnung
→ Verzögerung (Jesus) → „Überraschungstat“
→ Verschwinden/Abwendung VERFOLGUNG/VERURTEILUNG Jesu Wirken/Lehre → Versuch der nachträglichen Deutung/ Festnahme/Verurteilung (Antagonisten) auf Basis von traditionellen Urteils-/ Wahrnehmungskategorien → Verzögerung der ζήτησις/κρίσις → Freiwillige Auslieferung Aus den Konfliktmustern wird v.a. ersichtlich, dass Jesu Zeitverhalten zumeist darauf abzielt, die Grenzen des Handlungsspielraumes auch in der Wahrnehmung seiner Interagenten zu öffnen. Das Verhalten der Interagenten und deren leitende Zeitnormen finden demgegenüber in der Begrenzung ihren Ursprung oder ihre Bestimmung. Bei den Sabbatheilungen geht die Initiative jeweils von Jesus aus. Von dem Geheilten selbst oder von den Jüngern kommen Vorbehalte, entweder was die Möglichkeiten einer Heilung aufgrund der langen Krankheit (Joh 5,7) oder was die Würdigkeit des Kranken aufgrund seiner vergangenen Sünde angeht (Joh 9,2). Jesus durchbricht beide Begrenzungen und heilt ohne jedes Zögern. Die anschließenden Urteile der Juden/Pharisäer wollen den Handlungsspielraum nachträglich begrenzen, indem sie auf das Sabbatgebot verweisen. Sie betreiben besonders im Falle der Blindenheilung aufwendige, jedoch ineffektive Inquisitionen, ohne ein Ergebnis zu zeitigen. Ihr Handeln steht damit im Kontrast zu Jesu höchst effektivem Heilshandeln. Die Folgen der Sabbatinteraktionen sind jeweils eine Art Umkehrung der Begrenzung: Vater und Sohn wirken auch an und jenseits des letzten Schöpfungstages schöpferisch (Joh 5,17); Blinde werden sehend und Sehende werden blind (Joh 9,39). Bei den Hilfsgesuchen liegt die Initiative nicht bei Jesus, sondern bei der Mutter Jesu, dem Königlichen oder Maria und Martha. Sie vertrauen bei ihren Anfragen zwar auf die Handlungsmacht Jesu in der jeweiligen Notsituation, ihre konkreten Bitten offenbaren gleichwohl eine limitierte Vorstellung, von
2. Zeitnormen und Konfliktmuster
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dem, was tatsächlich möglich ist. Die Mutter gibt gar keine konkrete Anweisung, sondern bemerkt nur den Weinmangel und befiehlt dann den Tischdienern zu tun, was immer Jesus gebietet (Joh 2,5). Der Königliche will Jesus im Blick auf die Todesgefahr seines Sohnes unbedingt nach Kafarnaum bringen, vielleicht weil er eine physische Heilshandlung für möglich hält. Maria und Martha möchten ebenso, dass Jesus nach Bethanien zum schwerkranken Bruder reist, und äußern später ihr Bedauern, dass er den Tod nicht rechtzeitig abgewendet hat. Martha glaubt zwar daran, dass Gott Jesus gibt, wie viel auch immer er ihn bittet (Joh 11,22), ihr Auferstehungsglaube ist aber dennoch auf die eschatologische Zukunft begrenzt (Joh 11,24). In allen Fällen reagiert Jesus mit Verzögerung (Joh 2,4; 4,48; 11,4–6) auf das Gesuch, um ihm schließlich doch, allerdings auf jeweils überraschende, nicht erwart- und kalkulierbare Art und Weise nachzukommen. Auch hier werden die ursprünglichen Begrenzungen des errechneten Handlungsspielraumes überwunden. In einigen Situationen, in denen die Jünger zur Nachfolge aufgefordert sind, handeln diese sonderbar arrhythmisch. Zunächst wird ein Einwand oder Vorbehalt vorgebracht (Joh 1,46.48: Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen? […] Woher kennst du mich?; Joh 11,8.12: Die Jünger verweisen auf die Gefahr in Judäa und die natürlichen Heilungschancen des Lazarus; Joh 13,6.8: Petrus bringt einen Einwand gegen die Fußwaschung vor), daraufhin leistet Jesus Überzeugungsarbeit, indem er auf ihren Zeithorizont eingeht und ihn gleichzeitig überbietet (Joh 1,48: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich; Joh 11,14f.: Lazarus ist gestorben. Und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin, damit ihr glaubt; Joh 13,8: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du keinen Teil an mir), was bei den Beteiligten wiederum in Übereile und Ungeduld ausschlägt (Joh 1,49: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!; Joh 11,16: Lasst uns mit ihm gehen, damit wir mit ihm sterben; Joh 13,9: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt!). Darauf reagiert Jesus schließlich, zumindest im Falle Nathanaels und Petri, wieder mit Beschwichtigung und Aufruf zur Geduld (Joh 1,50: Du wirst noch Größeres als das sehen; Joh 13,10: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen werden). Dass sie sich stets gegen den Takt, gegen das, was an der Zeit ist, verhalten, steht in Wechselbeziehung zu dem, was sie jeweils für möglich halten, wie sie den Handlungsspielraum bewerten. Hier wirkt sich ihr begrenzter Zeithorizont nicht nur auf die Einschätzung des Handlungsbedarfs und der Handlungsmöglichkeiten aus (Was der Handlung), sondern wirkt wiederum auf ihren Umgang mit der Zeit (Wann der Handlung) zurück. Das Konfliktmuster Versuchung steht auf den ersten Blick parallel zum Konfliktmuster Hilfsgesuch, insofern jeweils die Initiative von Jesu Interagenten ausgeht und er wiederum verzögernd darauf reagiert. Der Ausgang ist aber ein anderer. Die Kontrahenten, die Jesus versuchen wollen, achten auf Zeiten und Rhythmen, die das gesellschaftliche Zusammenleben regeln, und sind an
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VI. Ergebnisse
diese gebunden. Die Brüder benötigen die öffentliche Zeit, um Jesus vorführen zu können; die Schriftgelehrten und Pharisäer müssen sich an die Prozessordnung halten (die ein nachweisbares Vergehen voraussetzt), um Jesus überführen zu können. Das Ergebnis dieser Konflikte ist weder eindeutig positiv noch negativ. Die Brüder verschwinden in der Masse auf dem Laubhüttenfest und treten nicht wieder in Aktion, die Pharisäer und Schriftgelehrten ziehen ohne Erfolg vom Schauplatz ab, jedoch auch ohne dass ihnen eine besondere Läuterung oder Einsicht quittiert wird. Ein besonders vielschichtiger und sich über das gesamte Evangelium ausbreitender Zeitkonflikt schwelt, abgesehen von den speziellen Versuchungssituationen, in den übergreifenden Verfolgungs- und Verurteilungsversuchen seitens der Widersacher Jesu. Die Juden/Pharisäer trachten immer wieder danach, nachträglich zu einer Deutung oder Verurteilung Jesu Verhaltens zu kommen. Sie tun dies auf Basis ihrer vergangenheitsorientierten, traditions- oder erfahrungsbasierten Wahrnehmungs- und Urteilskategorien (Joh 2,18.20: Versuch der Deutung der Tempelreinigung; Joh 5,10–18; 9,13–41: Urteil über Sabbatbruch; Joh 11,31.37: Deutung des Geschehens rund um den Tod des Lazarus; Joh 11,45–53: Beratung des Hohen Rats aufgrund Jesu Taten). Jedoch kommen sie zu keinem Zeitpunkt zu einem treffenden Urteil, weil sie – wovor Jesus auf dem Laubhüttenfest warnt – κατ᾽ ὄψιν, also nach dem Angesicht oder auch nach dem Augenblick richten (Joh 7,24). Das, was sie unmittelbar sehen, reduzieren sie auf das, was ihnen durch ihre festgelegten, sofort verfügbaren Kategorien hindurch erscheint. Nie aber blicken sie hinter das, was ihre traditionellen Kategorien nicht sichtbar machen können. Wenn sie Jesus suchen (ζητέω), so lässt er sich nicht finden (vgl. Joh 7,34.36; 8,21), sondern gibt sich freiwillig hin: Joh 7,10–14: die Juden suchen ihn auf dem Laubhüttenfest, er selbst ist aber heimlich hinaufgegangen und zeigt sich dann in der Mitte des Festes im Tempel; Joh 7,30: einige von den Jerusalemern suchen ihn zu ergreifen, aber seine Stunde ist noch nicht gekommen (vgl. auch Joh 8,20); Joh 7,32.45f.: die Hohepriester und Pharisäer senden ihre Knechte aus, um Jesus zu ergreifen, diese aber ergreifen ihn aufgrund seiner neuartigen Lehre nicht; Joh 10,39: die Juden suchen ihn zu ergreifen, aber er entgeht ihren Händen (vgl. auch Joh 7,44); Joh 11,56f.: die Juden auf dem Passafest suchen ihn auch aufgrund des Auslieferungsbefehls, doch erst in Joh 18,4–11 liefert sich Jesus selbst aus. Die langwierigen Inquisitionen durch die Kontrahenten Jesu, auch über den Umweg der Geheilten (Joh 5,10–18; 9,8–41), kommen so zu keinem Erfolg. Sogar der eigentlich Prozess Jesu wird durch den ‚Richter‘ immer weiter verschleppt. Der Handlungsspielraum des Pilatus ist ebenso von Zeitnormen begrenzt. So darf er zum Passafest einen Gefangenen freigeben (Joh 18,39). Jedoch nur einen Gefangenen und nur zum Passafest. Das steht in deutlichem Kontrast zu Jesu Handlungsspielraum, der zu dem denkbar unmöglichsten Zeitpunkt der Begrenzung, am Kreuz, alle freigibt. Erst nachdem Jesus in seinem letzten Plädoyer deutlich macht, dass die eigentliche Macht über sein Leben von oben
2. Zeitnormen und Konfliktmuster
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gegeben ist und nicht bei Pilatus ruht (Joh 19,10f.), ist der Weg zum Kreuzigungsbefehl freigegeben. Die Motive derer, die Jesus ‚gesucht‘ und unter Inquisition gestellt haben, um ihn verurteilen zu können, werden nun ins Gegenteil verkehrt. Sie unterwerfen sich dem römischen Kaiser (Joh 19,15), von dem sie Unabhängigkeit bewahren wollten (Joh 11,48), und ‚erheben‘ Jesus zum König der Juden. Dass es ihnen zuvor immer wieder misslingt, Jesus zu finden oder auf ein Urteil oder eine Deutung ‚festzunageln‘, hängt nicht nur damit zusammen, dass sie nach dem Augenblick urteilen, sondern auch damit, dass sie nicht die Ehre/Herrlichkeit des Vaters suchen (Joh 5,44: τὴν δόξαν τὴν παρὰ τοῦ μόνου θεοῦ οὐ ζητεῖτε). Sie nehmen stattdessen gegenseitig voneinander Ehre entgegen. Jesu vormals erwähntes Telos ist im Kontrast dazu die Verherrlichung des Vaters, durch dessen Herrlichkeit auch der Sohn verherrlicht wird (Joh 11,4; vgl. auch Joh 7,18). Diese Verherrlichung darf aber nicht als reziprokes Wechselspiel gedacht werden, als würde der Sohn den Vater verherrlichen und der Vater diese Verherrlichung dann zurückgeben. Das Gleiche gilt dem von Jesus kritisierten Tauschgeschäft: Ehre gegen Ehre. Vielmehr wird er in und durch die Herrlichkeit Gottes verherrlicht, er nimmt also Teil an ihr. Damit bleibt Gott alleiniger Ursprung der Herrlichkeit.4 Die Stunde der Kreuzigung und Verherrlichung ist dann, wie George Parsenios gezeigt hat, zugleich „the moment also of the condemnation and judgment of his opponents. The hour of Jesusʼ death and resurrection is also the moment when his condemnation is reversed, and this condemnation falls instead upon his persecutors.“5 Der absolute Zeitkonflikt findet in der Stunde der Verherrlichung am Kreuz statt und subsummiert gleichsam alle anderen Zeitkonflikte unter sich. 2.4 Vielfalt, Inkohärenzen, Tendenzen, Übergänge Jesu Verhalten kann, wie wir gesehen haben, mit einer übergreifenden Zeitorientierung in Zusammenhang gebracht werden, nämlich mit der integralen Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung, die keiner Zeitstunde moderner Uhrenzeit, auch nicht einem antiken Tageszwölftel entspricht, sondern diese linearen oder zyklischen Vermessungen gerade aufhebt. Er reagiert allenfalls in distanziertem Bezug und in Rücksichtnahme auf die vielen unterschiedlichen Zeitorientierungen seiner Interagenten, um Begegnung und Verständigung überhaupt zu ermöglichen. Bei den übrigen Figuren sind demgegenüber eine Vielzahl leitender Zeitnormen zu beobachten. Diese Zeitnormen beeinflussen v.a. den Zeitpunkt der Handlungen (u.a. Joh 19,31: die Juden wollen den Leichnam vor dem Sabbat 4 5
Vgl. CHIBICI-REVNEANU, Die Herrlichkeit des Verherrlichten, 2007, 328. PARSENIOS, Rhetoric and Drama in the Johannine Lawsuit Motif, 2010, 69.
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VI. Ergebnisse
des Passafestes abnehmen), sie beeinflussen teilweise die (angestrebte) Reihenfolge der Handlungen (u.a. Joh 7,50f.: Nikodemus plädiert auf Anhörung vor Verurteilung), sie beeinflussen aber auch den Inhalt der Handlungen bzw. die Richtung der Handlungsentscheidungen (u.a. Joh 5,10: die Juden verbieten dem Geheilten, am Sabbat sein Bett zu tragen). 6 Teilweise ist auch mehr als eine Zeitnorm von Relevanz für das Verhalten, sodass mehrere Zeitnormen in Kombination auftreten und handlungsleitend wirken. Das Hilfsgesuch des Königlichen ist bspw. sowohl an der Lebenszeit des Sohnes als auch an der topographischen Zeit orientiert. In Kombination machen sie den besonderen Zeitdruck seines Bittens aus. Mitunter treten verschiedene Zeitnormen in einer Person in Konflikt: Marthas Verhalten und ihre Einschätzung des Handlungsbedarfs sind bspw. zum einen von endgültigen Lebens- und natürlichen Verwesungszeiten abhängig, zum anderen kennt sie die Vorstellung von einer Auferstehung am letzten Tag und weiß, dass, wie viel Jesus bittet, Gott ihm gibt. Das resultiert darin, dass sie sich beinahe in den Zeiten verliert (Joh 11,27). Die Menge der Juden in Joh 12,9 nimmt demgegenüber eine Hierarchisierung der Zeitnormen vor, indem sie sich trotz des nahenden Passafestes und inmitten der Reinigungsvorbereitungen (Joh 11,55) nach Bethanien aufmacht, um die dort weilenden Jesus und Lazarus zu sehen (Joh 12,9). Bisweilen wird unter der Deckung vermeintlich ‚zeitloser‘ Prinzipien (Armenfürsorge) in Wirklichkeit nach einer ganz anderen, eigennützig ökonomisierten Zeitrechnung gehandelt (Joh 12,5f.). Brüche mit traditionellen Zeitkonventionen werden indessen von den Figuren immer aufgrund einer Neuorientierung an Jesus gewagt: Die Menge bricht in Joh 12,9 mit rituellen Festzeiten, um Jesus zu sehen; Maria bricht in Joh 12,3 mit den Zeitkonventionen eines Gastmahls, um Jesus die Füße zu waschen; die Knechte brechen in Joh 7,45f. mit der unmittelbaren Gehorsamspflicht, weil sie über seine Rede staunen. Schließlich kann die Orientierung an fehlgeleiteten Zeitnormen zu Inkohärenzen im Verhalten führen, so v.a. im Falle der Orientierung des Hohen Rates an vermeintlichen politischen Opportunitäten (Joh 11,48), die schließlich genau das Gegenteil von dem bewirken, was ursprünglich intendiert war. Ungewollt agieren sie schlussendlich nach der Gunst der Stunde Jesu (Joh 19,15). Teilweise haben die Figuren durchaus eine Ahnung von Jesu abweichender Zeitorientierung, welche die linearen Grenzen menschlicher Zeit zu transzendieren vermag. Die Mutter instruiert die Tischdiener, obwohl Jesus ihr zu verstehen gegeben hat, dass seine Stunde noch nicht gekommen ist (Joh 2,5); der Königliche bittet Jesus auch nach Zurückweisung weiter um seine Hilfe (Joh 6 Der Einfluss von Zeitnormen auf die Dauer der Handlung wird zumindest im JohEv nicht eindeutig inszeniert. Das zweitägige Bleiben Jesu an einem Ort könnte vorsichtig in diese Richtung gedeutet werden (Joh 4,43; 11,6; Erscheinungen des Auferstandenen nach zwei Tagen).
2. Zeitnormen und Konfliktmuster
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4,49) und glaubt Jesu Lebenswort (Joh 4,50); Martha glaubt weiterhin an Jesu Interventionsmacht, obwohl Jesus erst kommt, als Lazarus schon tot ist (Joh 11,22). Insgesamt begründet sich gerade im Kontrast mit Jesu Zeitorientierung die Annahme, dass das erweiterte Spektrum menschlicher Zeitorientierungen letztlich antiproportional eine Begrenzung des erwägbaren Handlungsspielraums mit sich führt. Nun könnte man argumentieren, dass die Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten der Regelfall dessen ist, was eine Norm bewirkt, insofern Normen eben bestimmte Handlungsweisen präferieren und andere damit ausschließen. Begreift man eine Norm jedoch nicht nur als linear-begrenzende Richtschnur i.S. einer erlernten oder intuitiv angeeigneten Handlungsorientierung (oder -begründung), die in eine bestimmte Richtung lenkt, begreift man Normen stattdessen wie Christoph Möllers als „positive markierte Möglichkeiten“7, die „nicht dabei stehenbleiben, Vorgaben zu machen, sondern darüber hinaus Unterscheidungen einführen, durch die in der Welt Distanz von der Welt genommen werden soll“ 8, die sich also durch Abstand zur Unmittelbarkeit der Handlungssituation und damit gerade einer erweiterten Perspektive auszeichnen, so wird die Unzulänglichkeit der einseitig linearen oder einseitig zyklischen Zeitnormen offenbar. Diese lenken ohne Abstand zum Geschehen entweder immerzu in eine Richtung oder immerzu im Kreise und begrenzen damit negativ den Handlungsspielraum. Negativ verstandene Normen und zugehörige Habitualisierungen führen zwar zur Entlastung von Entscheidungs- und Zeitdruck durch Rückgriff auf erprobte Handlungsmuster,9 sie laufen aber Gefahr, aufgrund eben dieses linearen Zeitdrucks auf die Zukunft hin die gegenwärtige Situation und ihre Erfordernisse zu missachten. Durch Distanz von den einseitig linearen oder zyklischen Rhythmen der Ereignisfolgen und -situationen kann paradoxerweise eine größere Nähe zu und Rücksicht auf die Handlungssituationen erzielt werden. Auf diese Weise können neue, situationssensible Handlungschancen freigelegt werden. Eben dieses Phänomen wird sichtbar an Jesu Distanz zu zyklischen und linearen Zeitnormen des Kosmos und ihrer gleichzeitigen Beachtung und positiven Aufhebung in einen größeren Zeithorizont hinein. Die Öffnung hin zu neuen Lebensweisen und Handlungsmöglichkeiten wird von den Figuren teilweise staunend wahrgenommen. Sowohl der Blindgeborene als auch die Knechte der Hohepriester und Pharisäer reagieren auf die einengenden Fragen der Inquisiteure mit Perspektiverweiterungen (Joh 7,46: Noch nie hat ein Mensch so geredet; Joh 9,32: Seit Ewigkeit hat niemand gehört, dass jemand
7
MÖLLERS, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 13f. A.a.O., 14f. 9 Vgl. BECK, Medien und die soziale Konstruktion von Zeit, 1994, 283. 8
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VI. Ergebnisse
einem Blinden die Augen geöffnet habe). In ihren eigenen Handlungssituationen kommt Jesu Interaktionspartnern diese besondere Aufmerksamkeit für die Situation und deren Handlungsmöglichkeiten aber abhanden, und zwar aufgrund ihrer starren Kategorien und erprobten negativ-begrenzenden Normen, aufgrund ihres Zeitdrucks, zu einem Urteil/einer Entscheidung zu kommen, oder aufgrund ihrer Skepsis, die sich aus ihren bereits gefällten Urteilen speist. Ob mit Jesu Zeitorientierung möglicherwiese ein einseitiger Fokus auf die Gegenwart der Handlungssituation protegiert wird, wird unter 5. Dynamisierung der drei Zeitdimensionen in der joh. Ethik noch genauer erörtert. Ob seine Distanzierung von den regulären Zeitflüssen und seine vollkommene Immunisierung gegen den Lebenszeitdruck praktikabel sind, soll unter 6. Mimetische Ethik? diskutiert werden. Zunächst werden aber die Beobachtungen zu Jesu Zeitorientierung christologisch eingeholt und zugespitzt.
3. Christologische Zuspitzung: Die Gunst der Stunde 3. Christologische Zuspitzung
Welche Zeitnorm(en) werden dem Helden der Evangeliumserzählung zugeschrieben? Was trägt die Christologie zum Verhältnis von Zeit und Ethik und was trägt das Verhältnis von Zeit und Ethik zur Christologie bei? Die Ergebnisse im Bereich der Zeitnormen und Konfliktmuster zeigen einmal mehr, dass der joh. Jesus trotz der immer wieder festgestellten hohen Christologie des vierten Evangeliums in die Zeit kommt, sich sogar in bestimmtem Grade auf die Zeitbezüge seiner Interaktionspartner einlässt und einen Rhythmus entwickelt, der auf die Offenbarung der Herrlichkeit in der Zeit und den Glauben der Interaktionspartner, aber auch deren Bereitschaft εἰς τέλος zu lieben abzielt. Im Hintergrund des Handelns Jesu ist jedoch gleichsam der temporale Nullpunkt der Kreuzigungsstunde leitend, in der Tod und Leben, die Irreversibilität der Vergangenheit und die Potenzialität der Zukunft so aufeinander bezogen werden, dass eine erfüllende Zeit, eine ewige Gegenwart entsteht. In dieser Präsenz Christi, die als neue Zeitqualität verstanden werden kann, gibt es keine lineare Vor- oder Nachordnung von Glaube, Tun und Heil. Ferner sind in dieser gegenwärtigen Stunde sowohl alle vorangegangenen als auch alle nachfolgenden Generationen jeweils mit ihrer eigenen Vergangenheit und Zukunft präsent. Ihre Handlungen können im Glauben an die Stunde Jesu ganz neu normiert werden, und zwar so, dass sie weder durch vergangene Taten, Schuld, verpasste Gelegenheiten oder gesellschaftlich auferlegte Zeitregime determiniert, noch auf ein unumgängliches, natürliches oder göttliches Fatum reduziert werden. Das eröffnet einen neuen Blick auf die Gunst der Stunde, die Bonheur, die gute Stunde, die Handlungen sowohl vor Hast als auch vor Lethargie bewahrt.
3. Christologische Zuspitzung
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Die Handlungen des joh. Jesus zielen in ihrer zeitlichen Strukturierung und in ihrer inhaltlichen Ausrichtung darauf, diese Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung samt ihrer neuen Zeitqualität als Integral von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Gottes relationaler Präsenz zu offenbaren.10 Grund für seine vielen Verzögerungen ist letztlich nicht seine ausstehende Stunde selbst, sondern die gewünschte Offenbarung und Wahrnehmung der Bedeutung dieser Stunde seitens seiner Interagenten in den jeweiligen Begegnungen. Er handelt nicht apathisch und teilnahmslos für seine eigene Stunde, zu seiner Gunst, sondern auf die Wirkung dieser Stunde als neue Zeitqualität auf das Leben seiner Interaktionspartner hin. Jesus, so die christologische These, kann deshalb als wahrer Zeitgenosse verstanden werden. Hören wir zunächst die Beschreibung eines wahren Zeitgenossen von Giorgio Agamben: „Those who are truly contemporary, who truly belong to their time, are those who neither perfectly coincide with it nor adjust themselves to its demands. They are thus in this sense irrelevant [inattuale]. But precisely because of this condition, precisely through this disconnection and this anachronism, they are more capable than others of perceiving and grasping their own time […] Contemporariness is […] that relationship with time that adheres to it through a disjunction and an anachronism […] And to be contemporary means in this sense to return to a present where we have never been.“ 11
Während Agamben diese Beschreibung vor allen Dingen auf Paulus und seinen Umgang mit der messianischen Zeit im Dazwischen, d.h. zwischen Naherwartung und Parusieverzögerung bezieht, 12 so ist zumindest aus der joh. Darstellung heraus zu behaupten, dass Jesus die skizzierte Zeitgenossenschaft schon zu seinen Wirkzeiten und nicht erst nach seinem Weggang erfüllt und begründet. Der joh. Jesus kommt in die Zeit, lässt sich auf sie ein, begegnet den Menschen in ihrer Zeit und erleidet deren lineare, finale Zeit. Dennoch steht er, wie oben umschrieben, aufgrund seiner Orientierung an der integralen Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung, des Todes und Lebens auch in eigentümlicher Distanz zu den Rhythmen des Kosmos. Er selbst ist der Gegenwart stetiger Anachronismus: Er wird nicht, er ist (ἐγένετο bei den Geschöpfen – ἦν beim präexistenten Logos im Prolog); er bringt den guten Wein zuletzt (Joh 2,10); er ist der neue Tempel der Gottespräsenz ohne chronologische oder topographische Bindung (Joh 2,21); sein Lebenswort gilt immer und überall (Joh 4,50); er kann auch am Sabbat schöpfend wirken, denn er wirkt mit Gott gleichzeitig auch über die Schöpfungstage hinaus (Joh 5,17); er ist das Licht, das in 10 Vgl. FREY, Die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft Christi, 2013, 157: „In diesem erinnerten Jesus sind die Vergangenheit seiner Geschichte – im Kern sein Tod und seine Verherrlichung – und die eschatologische Zukunft gleichermaßen präsent [...] In seiner Person sind die Zeiten eins.“ 11 AGAMBEN, What Is an Apparatus? and Other Essays, 2009, 40f.51f. 12 Vgl. a.a.O., 52f.
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VI. Ergebnisse
der Dunkelheit scheint und den Tag anzeigt (Joh 8,12; 9,4f.), welches Blinde sehend und Sehende blind macht (Joh 9,39); er hebt den Tod als definitive Endlichkeit auf (Auferweckung des Lazarus in Joh 11,43f.; Erscheinungen des Auferstandenen in Joh 20–21). Ungeachtet seiner Anachronie zur Gegenwart sind Jesu Sein und Wirken auf das Engste mit der Gegenwart verwoben. Keine der Figuren verwendet derart viele Gegenwartsadverbien in seinen Reden und Antworten wie Jesus (21 von 29 Belegen für νῦν entfallen auf Jesu Rede: Joh 2,8; 4,18.23; 5,25; 8,11.40; 9,41; 12,27.31; 13,31.36; 14,29; 15,22.24; 16,5.22; 17,5.7.13; 18,36; 21,10; hinzu kommen acht Inzidenzen für ἕως ἄρτι/ἄρτι: Joh 5,17; 13,7.19.33; 14,7; 16,12.24.31). In die Kerbe der Gegenwart schlagen auch die durchweg präsentisch formulierten Ich-Bin-Worte, sowie die in der Exegese immer wieder bemerkten präsentisch-eschatologischen Aussagen (Joh 3,16.18f.; 5,25; 12,31 u.a.). Daneben stehen aber – ebenfalls vielfach zum exegetischen Problem erhoben – eindeutig futurisch-eschatologische Aussagen (Joh 5,28f.; 6,39f. 44.54; 12,48). Diese Spannung kann man, wie Rudolf Bultmann es unternommen hat, literarkritisch lösen.13 Oder man moderiert sie, wie wir bei Jörg Frey lernen, i.S. der „Verschmelzung der temporalen Horizonte“ mit Hinweis auf die beiden Brennpunkte des Evangeliums, einerseits die Stunde Jesu und andererseits die Gegenwart der nachösterlichen Gemeinde. 14 Letztere Methode wird der Aussageabsicht und dem komplexen joh. Zeitverständnis fraglos sehr viel gerechter als die Verlagerung des Problems auf die redaktionelle Genese des Textes. Dennoch kann man fragen, ob die Spannung nicht auch auf Geschehensebene und nicht erst vor dem Hintergrund der nachösterlichen Gemeinde eine produktive Spannung ist, die zu betrachten weitere christologische Einsichten verspricht. Wir behaupten deshalb, dass bereits auf Ebene des erzählten Geschehens beide Dimensionen der präsentischen und der futurischen Eschatologie, nämlich im Zeithorizont des joh. Jesus als wahrem Zeitgenossen vereint werden. Aufgrund seiner Zeitgenossenschaft, die zu einer Gegenwart zurückkehrt, in der wir nie gewesen sind (s.o. Zitat Agamben), spricht und agiert der joh. Jesus in einem von der Zukunft informierten Jetzt. Diejenigen Eschata, die er in seinen Begegnungen mit den Menschen vergegenwärtigt, verlieren bei der Vergegenwärtigung nicht ihren Zukunftsaspekt. Das bringen v.a. die in der temporalen Doppelperspektive belassenen ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν-Sätze zum Ausdruck (Joh 4,23; 5,25). Die präsentischen Eschata – das bereits vollzogene bzw. ausgesetzte Gericht, sowie das gegenwärtig anbrechende ζωὴ αἰώνιος für 13
Vgl. BULTMANN, Art. Johannesevangelium, 1959, 841. Die doppelte Zeitperspektive auf die Stunde Jesu in Joh 4,23 und Joh 5,25 (ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν) wird von R. Bultmann konsequent zugunsten der sich stets wiederholenden existentiellen Gegenwart gedeutet (vgl. DERS., Das Evangelium des Johannes, 211986, 139f.). 14 Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 295f.
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jeden, der glaubt – verlieren ihren Zukunftsaspekt insofern nicht, als in diesen Eschata eine kontinuierliche Offenheit inmitten der Begrenzung der Gegenwart freigelegt wird. Derjenige, der glaubt, wird nicht mehr von den traditionellen Urteilskategorien der Sünde und des Gesetzes in seiner sündigen Tat und seiner Schuld, d.h. in seiner Vergangenheit festgehalten, sondern auf den neuen Handlungsspielraum in der Gemeinschaft mit Gott hingewiesen. Derjenige, der glaubt, hat das ewige Leben jetzt, weil die in der Zukunft drohende Lebensbegrenzung und das gefürchtete Ende aller Beziehung schon jetzt in die neue Gemeinschaft mit Gott hinein aufgehoben werden (Joh 11,25: κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται). Diese Offenheit inmitten der aus der Vergangenheit entstehenden, gegenwärtigen Begrenzung kann als Wesen der Zukunft verstanden werden: „The future sketches an inherent open-endedness and non-definitiveness, it enjoys a certain hermeneutic privilege over the past and the present […] This open-endedness of the future forces us to leave room for transformation and newness, and to make space for an in-breaking which is beyond our doing.“ 15
Die üblichen Sichtweisen, die an den Dingen v.a. das Bekannte, das Kontinuierliche, das Redundante, das Invariante erkennen und zu reproduzieren trachten (weil dies Zeitersparnis bedeutet und insofern eben gar nicht mehr genau hingesehen, sondern nur noch eingeordnet werden muss), werden i.S. der Zeitperspektive des joh. Jesus ersetzt durch eine Form des Sehens aus der emphatischen Distanz. Diese Form des Sehens weiß nicht nur Linearitäten und Kausalitäten zu beschreiben, sondern ist in besonderer Weise offen für Abweichungen, Erfahrungs- und Kontinuitätsbrüche und wirkt bereits in der emphatischen Anschauung16 und im beschreibenden Wort schöpferisch. Das Licht der Welt, das von der Stunde der Verherrlichung aus scheint, lässt die Dinge tatsächlich in neuem Lichte sehen. „The ones who can call themselves contemporary are only those who do not allow themselves to be blinded by the lights of the century, and so manage to get a glimpse of the shadows in those lights […] to be contemporary is, first and foremost, a question of courage, because it means being able not only to firmly fix your gaze on the darkness of the epoch, but also to perceive in this darkness a light that, while directed toward us, infinitely distances itself from us.“17
Der joh. Jesus übertrifft diese Zeichnung eines Zeitgenossen von Agamben, insofern er das Licht nicht nur wahrnimmt, das uns aus der Distanz entgegenscheint und die Schatten unserer Zeit offenbart. Er selbst ist das Licht, das von der neuen Zeit, der Stunde der Verherrlichung her scheint, und er kann deshalb als mutiger Zeuge der Schattentaten auftreten (Joh 3,19–21;7,7; 8,12).
15 BIERINGER/ELSBERND, Introduction: The “Normativity of the Future” Approach, 2010, 12. 16 Vgl. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder, 2004, 50. 17 AGAMBEN, What Is an Apparatus? and Other Essays, 2009, 45f.
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VI. Ergebnisse
Aus der vom wahren Zeitgenossen eingegangenen Distanz kann jedoch nicht, wie teilweise versucht, der Modus einer Konventikelethik und der Absonderung von sozialen Bezügen abgeleitet werden. 18 Vielmehr kann diese Distanz als ethische Reflexionsschmiede des emphatischen Sehens und der Aufmerksamkeit für die Situationen und ihre varianten Handlungsmöglichkeiten gewürdigt werden. „It is important to realize that the appointment that is in question in contemporariness does not simply take place in chronological time: it is something that, working within chronological time, urges, presses, and transforms it. And this urgency is the untimeliness, the anachronism that permits us to grasp our time in the form of a ‘too soon’ that is also a ‘too late’; of an ‘already’ that is also a ‘not yet.’“19
Als wahrer Zeitgenosse ist der joh. Jesus nicht nur Inspiration für einen begrenzten Kreis an ‚Insidern‘ zu einer bestimmten Zeit. Aufgrund seiner Weitsicht und dem besonderen Zeithorizont der integralen Stunde, in der die Zeitdimensionen aus ihrer Linearität erhoben und dynamisiert werden, wird er vielmehr zum inspirierenden Zeitgenossen auch für uns, für alle vergangenen und alle kommenden Generationen. Bevor das besondere Zusammenspiel der Zeitdimensionen im Rahmen der joh. Ethik in Kap. 4 näher erörtert wird, ist zunächst noch genauer auf ein besonderes Bindeglied zwischen Zeit und Ethik zu blicken: Erwartungsbrüche.
4. Erwartungsbruch als temporale Triebfeder ethischer Reflexion 4. Erwartungsbruch als temporale Triebfeder der Ethik
Welche Relevanz haben Abweichungen/Erwartungsbrüche/Verzögerungen auf der Ebene der Interaktion sowie der Ebene der Darstellung für die ethische Reflexionszeit und deren ‚Effizienz‘? Bereits im theoretischen Teil dieser Studie ist darauf hingewiesen worden, dass die Rezipierbarkeit eines Textes damit steht und fällt, ob er einen sinnvollen Mittelweg zwischen Redundanz (bekannte Rahmenbedingungen) und Variation (singuläre Fälle), 20 oder in Ricœurs Worten zwischen Sedimentierung und Innovation 21 einzuschlagen vermag. Durch das erzählerische Generalschema gewinnt die Geschichte an Abstraktion, durch die Abweichungen von ihm gewinnt die Geschichte an Bedeutung. Das Ziel dieser Pendelbewe-
18 Vgl. CARTER, Festivals, cultural intertextuality, and the Gospel of John’s rhetoric of distance, 2011, 6. 19 AGAMBEN, What Is an Apparatus? and Other Essays, 2009, 47. 20 Vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 38. 21 Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 110–343.
4. Erwartungsbruch als temporale Triebfeder der Ethik
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gung muss eine „Kombination von Überraschung und befriedigter Erwartung“22 sein.23 Deshalb wurde der Blick im Rahmen der Zeitanalyse v.a. auf Besonderheiten, Auffälligkeiten und Abweichungen gerichtet, weil eben diese den Text mit Bedeutung anreichern und als ethischen Experimentierkasten qualifizieren. Auf der anderen Seite wurden im methodischen Teil Erwartungen, ihre Erfüllungen sowie ihre Brüche als der Zugang zur Zeitwahrnehmung des Lesers herausgestellt. 24 Der Zusammenhang beider präliminaren Feststellungen wurde aber erst durch die Analyse anschaulich. Die Zeitwahrnehmung des Menschen wird im Spiel mit Erwartungen und Erwartungsbrüchen reguliert, seine ethischen Reflexionen wiederum durch Redundanz und Varianz stimuliert. Daraus schließen wir nun im Anschluss an die Analyse insbesondere Jesu Zeitverhaltens die besondere Funktion von Brüchen, Varianzen und Abweichungen als temporale Triebfedern ethischer Reflexionen. Denn erst indem Jesus von den Erwartungen seiner Interagenten (oder den Lesern) abweicht, sie mitunter warten lässt und Spannung erzeugt, kann er ihren Fokus auf das eigentlich Entscheidende lenken: die Offenbarung der Herrlichkeit; das Lebenswort, das immer gilt; die Stunde der Verherrlichung. Indem er Umwege und Verzögerungen einbaut und sich dabei teilweise sogar tatsächlich ‚moralisch fragwürdig‘ verhält,25 regt er dazu an, Gewohnheiten und selbstverständlich gewordene Normen (auch Zeitnormen) zu hinterfragen und zu reflektieren. Erwartungsbrüche und Varianzen lassen Zeitschleifen entstehen, die zur Reflexion genutzt werden können. Unter Zeitdruck lässt sich umkehrt nämlich nicht gut ethisch reflektieren, unter Zeitdruck kann nur mithilfe von bereits internalisierten, fraglos gültigen Normen und Gewohnheiten gehandelt werden. Das bedeutsame Spiel mit Variation und Redundanz, Erwartung- und Erwartungsbruch, Sedimentierung und Innovation 26 erfolgt sowohl auf Ebene des Geschehens (durch Jesu erwartungsungemäßes Verhalten), als auch auf Ebene der Narration (durch Abweichungen vom erzählerischen Generalschema: Gattungsbeugungen, kalkulierte semantische Absurditäten, Tempuskontraste, Anachronien mit hohem Entropiewert etc.). Teilweise laufen die Abweichungen in Jesu Verhalten und der Darstellungsweise parallel (Jesu Gebrauch von rhetorischen Stilmitteln wie z.B. Sentenzen in Joh 2,4; 4,48; 7,33f.;
22
KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 50. Mehr dazu im theoretischen Teil III unter 2.3 Ethische Erzählung und erzählerische Ethik. 24 Mehr dazu im methodischen Teil IV unter 2.3.1 Die Schlüssel zu Zeit und Ethik in der Leserrezeption. 25 Mehr zu den ‚moralisch‘ fragwürdigen Verhaltensweisen Jesu unter 6. Mimetische Ethik? 26 Vgl. RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 110–343. 23
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VI. Ergebnisse
11,4.9f.2627 oder Sprengmetaphorik in Joh 11,25f. 28), teilweise werden die Abweichungen auf der Ebene des erzählten Geschehens durch die Abweichungen auf der Darstellungsebene verstärkt (proleptische Analepse in Joh 11,2), oder es werden Abweichungen eingefügt, die nur für den Leser wahrnehmbar sind (dramatische Ouvertüre zur Fleischwerdung des präexistenten Logos in Joh 1,1–18). Die ‚Arbeitsweise‘ des Evangeliums läuft demnach insgesamt parallel zur Ausrichtung Jesu Verhaltens in der Zeit: Es führt zu tieferem Verständnis durch Umwege, Rätsel, Verzögerungen. 29 Durch den gezielten Einsatz multipler Irritationen wird auf unterschiedlichen Ebenen der Ökonomisierung von Werturteilen durch unterkomplexe und starre Klassifizierungen vorgebeugt. Das Spiel mit Redundanz und Varianz führt auf Umwege, unterbindet die ‚Effizienz‘ kurzer (Urteils-)Prozesse und beugt die sonst starren Klassifizierungen in solchem Maße, dass sie neue Facetten wahrnehmen lassen. Dadurch lässt die Erzählung auf mehreren Ebenen ‚Altes‘ und Redundantes neu sehen. Auf Ebene des erzählten Geschehens kann im Rahmen der Wahrnehmungsschule Jesu bspw. die Blindheit des Bettlers nicht mehr einseitig auf seine Sünde zurückgeführt werden; die Gesetzeshüter können das Gesetz nicht mehr hüten, weil auf einmal nicht mehr die Zeugen, sondern die Sündlosen mit der Urteilsvollstreckung betraut sind; der erwartete Messias kommt aus Galiläa und nicht aus Bethlehem; die Krankheit des Lazarus führt nicht zum Tod, sondern zur Verherrlichung; der Gelähmte ist nicht auf das Kultwasser angewiesen, um wieder gehen zu können; das Lebenswort gilt unabhängig von räumlichen Distanzen und zeitlichen Begrenzungen etc. Die Verzögerungen sowohl auf Ebene des erzählten Geschehens als auch auf Ebene der Darstellung entwickeln in diesem Zusammenhang eine eigene ‚Effizienz‘ (lat. efficere | hervorbringen, bewirken). Indem einerseits bestimmte Erwartungen bei den Figuren oder Lesern erzeugt und wachgehalten werden, dann aber erwartbare Handlungsmuster aufgebrochen und Habitualisierungen hinterfragt werden, können situations- und v.a. zeitsensiblere Lösungswege gewonnen werden. Mora contra morem, könnte man diese Technik zusammenfassen – Verzögerung gegen die Gewohnheit. 27 Jesus reagiert auf die Anfragen seiner Kontrahenten häufig mit überzeitlichen Gnomen oder Sentenzen, die eine Art Verzögerung und Distanzierung in den Dialog eintragen (z.B. in Joh 2,4; 4,48; 7,33f.; 11,4.9f.26). Mehr zur Wirkweise joh. Sentenzen im methodischen Teil IV unter 2.3.3 Bewertungsorientierung, Leseransprache. 28 Mehr zu dieser besonderen metaphorischen Figur in der Analyse (Teil V) zu Joh 11,1– 12,11 unter 3.3.1 Interaktionsanalyse, Anm. 155. 29 Vgl. MEEKS, The Man from Heaven in Johannine Sectarianism, 1972, 69: „The book functions for its readers in precisely the same way that the epiphany of its hero functions within its narratives and dialogues.“ Im Kontrast zu W. Meeks Bestimmung läuft diese Parallele im Verstehen zwischen Intradiegese und Extradiegese aber nicht auf einen Konventikelglauben bzw. eine Isolierung der Johannesversteher hinaus, sondern zu einem tieferen Verstehen für jeden Leser.
5. Dynamisierung der Zeitdimensionen
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5. Dynamisierung der drei Zeitdimensionen in der joh. Ethik 5. Dynamisierung der Zeitdimensionen
Welche Zeitorientierung schlägt das JohEv insgesamt für gelingende Interaktionen und deren Reflexion vor? Das JohEv bleibt nicht bei der bloßen Beschreibung von Zeitnormen und der Inszenierung von Konflikten stehen. Es macht auch Vorschläge für eine gelingende Orientierung in den Zeiten. Anregungen zur Entwicklung einer eigenen Zeitkompetenz gibt es einerseits auf der Ebene des erzählten Geschehens anhand der vielfältigen Zeitkonflikte, ihrer Voraussetzungen und Folgen, und anhand der Nachzeichnung des Zeitverhaltens seines Helden, andererseits auf Ebene der Darstellung durch besondere Techniken der Zeitinszenierung und schließlich auch auf der damit eng verbundenen Ebene der Leserlenkung durch das Spiel mit Erwartungen und besonderen Bewertungsinstrumenten. Vier zusammenhängende Tendenzen bzw. Strategien, die unterschiedlichen Zeitdimensionen menschlichen Lebens zu kalibrieren, lassen sich aus den Beobachtungen der der Analyse abstrahieren: (1) Linearität wird stets durchbrochen. Dies geschieht auf Ebene des erzählten Geschehens, indem Jesus an weltliche Rhythmen und Zeitnormen anknüpft, sie aber stets beugt und berstet. Er bricht mit den Ausschankkonventionen, indem er den guten Wein bis zum Schluss aufhebt (Joh 2,13–22); er bricht mit den jüdischen Sabbatgeboten, indem er neue Sehkraft und Beweglichkeit schafft (Joh 5,1–18; 9,1–41), und mit Festkonventionen, indem er zu spät kommt und die eschatologischen Hoffnungen nicht in ewigen, rituellen Wiederholungen vergegenwärtigt, sondern in seinem Kreuzestod zur Erfüllung bringt (Joh 7,1–52); sein Handeln ist trotz vielfältiger Verzögerungen von absoluter Effizienz geprägt (bei der Weinverwandlung, der Fernheilung, der Auferweckung, die jeweils nur von einem kurzen Imperativ ausgehen); bei ihm gilt Verschwendung als Bewahrung (Joh 12,1–8); seine Handlungsentscheidungen missachten Todesgefahr (bei der Reise nach Judäa in Joh 11; bei der Gefangennahme in Joh 18,1–11; beim Prozess vor Pilatus in Joh 18,28–19,16 und den vielen weiteren Provozierungen der Juden und ihrer Oberen); er hebt die Linearität von Herkunft und Bestimmung auf (im Umgang mit dem Königlichen und anderen ‚Höhergestellten‘; durch die Heilung des seit 38 Jahren Gelähmten und des Blindgeborenen; insofern er seine Gottessohnschaft ungeachtet seiner Herkunft aus Galiläa bezeugt); er durchbricht traditionelle, futurisch-eschatologische Auferstehungs-, Ewigkeits-, Gerichtsund Messiaserwartungen, indem er sie vergegenwärtigt oder gar aufhebt. Schließlich und wesentlich erleidet er die Linearität und Endlichkeit menschlichen Lebens im Kreuzestod und überwindet den Tod als absolute Grenze des Lebens. Von diesem letzten Bruch mit der linearen Zeit verstehen und ergeben sich wiederum alle vorherigen Brüche.
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VI. Ergebnisse
Auch auf Ebene der Erzählung wird die Linearität insbesondere durch chronologische Irritationen (mittels einer Vielzahl von Achronien und Anachronien), aber auch durch den alinearen Gebrauch von Temporaldeiktika und durch das Changieren zwischen konkreter zeitlicher Abstimmung innerszenischer Interaktionen (mittels Zoom-Funktion) und unscharfer chrono-/topographischer Einordnung der Szenen in die Gesamtchronologie (Molekularität der einzelnen Szenen durch Gebrauch von ordinalen/referentiellen Zeitangaben ohne metrischen Haftpunkt, insbesondere einer Vielzahl von -μετὰ ταῦτα Jahreszahlen Verzicht auf einem ;Verbindungen ; der Doppelbenennung Bethaniens in Joh 10,40 [vgl. Joh 1,28] und Joh 11,18; Rätsel um ἴδιαπατρίς in Joh 4,44 etc.). Sogar auf der Ebene der Urteile werden Linearität und Reproduktion insofern durchbrochen, als neue Wahrnehmungskategorien eingeführt werden, die traditionelle Kausalitäten (z.B. von Sünde und Krankheit; Schuld und Bestrafung) und linientreue Urteilsschlüsse (auf Basis des Gesetzes, vergangener Erfahrungen oder Konventionen) wirksam durchkreuzen. (2) Motivation/Ausrichtung guten Lebens ist die Stunde der Verherrlichung statt das letzte Gericht. In Anbetracht der vielen Linearitätsbrüche stellt sich die Frage, wie und ob die Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überhaupt noch miteinander in Verbindung gebracht werden können. Entspricht der Molekularität der einzelnen Szenen auf Darstellungsebene auch eine Molekularität der Zeitdimensionen im generellen Zeitverständnis der JohEvs? Bedeutet der Bruch mit der Linearität, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nun auch im Handeln und in der ethischen Reflexion asyndetisch nebeneinanderstehen? Ist gar nur noch die Gegenwart von Belang? Freys Untersuchungen zufolge kann in Bezug auf das vierte Evangelium weder von einem mystischen Verfließen der Zeit, noch von einem existentialen, atemporalen Zeitverständnis, noch von einer Aufteilung in eindeutig voneinander unterschiedene heilsgeschichtliche Stadien die Rede sein. Das joh. Zeitverständnis pendele vielmehr zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Kon- und Retrospektion, zwischen raum-zeitlicher Konkretion und theologisch-überzeitlicher Abstraktion, zwischen präsentischen und futurisch-eschatologischen Heilsaussagen und lasse diese unterschiedlichen Zeithorizonte (v.a. in den Abschiedsreden) durch die spannungsvoll aufeinander bezogenen Brennpunkte von Kreuzesstunde und Gegenwart des Evangelisten/seiner Leser miteinander verschmelzen.30 In Ergänzung dazu können die Zeitdimensionen m.E. nicht nur auf Ebene der Evangeliumskommunikation, sondern auch auf
30
Vgl. FREY, Das johanneische Zeitverständnis, 1998, 294–296.
5. Dynamisierung der Zeitdimensionen
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Ebene des konkreten erzählten Geschehens und damit des praktischen Lebensvollzugs und dessen ethischer Reflexion neu angeordnet und in Zusammenhang gebracht werden. Im Hinblick auf eine ethische Zeitorientierung wird deutlich, dass im JohEv nicht die Orientierung am letzten Tag des unaufhebbaren Gerichts zur Motivation für gutes Handeln erhoben wird (wie z.B. in den mt. Endzeitgleichnissen in Mt 24,45–25,30). 31 Stattdessen wird im JohEv das ‚gute‘ Leben an der Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung ausgerichtet. Nicht nur ist Jesus selbst in all seinem Wirken an jener integralen Stunde ausgerichtet, auch das Verhalten der übrigen Figuren wird v.a. dann positiv wahrgenommen und gerechtfertigt, wenn es unter dem Eindruck dieser Stunde und im Hinblick auf diese Stunde vollzogen wird (z.B. die Salbung durch Maria). Ferner wird durch die besondere narrative Darstellungstechnik der Anachronien die Stunde auch vor deren Eintritt immer wieder in den Horizont des gegenwärtigen Geschehens geholt. Was aber zeichnet die Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung als Motivationsgeber guten Lebens gegenüber dem zukünftigen Gericht aus? Gemeint ist mit der Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung der ‚Zeitpunkt‘, in dem Jesus sein Leben für die Seinen gibt und damit neues Leben schafft. In dieser Stunde liebt er buchstäblich bis ins Ende hinein (εἰς τέλος; vgl. Joh 13,1) und hat damit in der äußersten Dunkelheit neues Licht, in der äußersten Verlassenheit neue Beziehung, in der äußersten Schande Verherrlichung, im Ende neuen Anfang, im Tod ewiges Leben geschaffen. Die Liebe Jesu bis ins Ende hinein, die Hin- und Aufgabe seines eigenen Lebens wird im JohEv einerseits als Motivationsgeber, andererseits als Qualitäts- und Zeitnorm guten Handelns, Verhaltens und Lebens ausgewiesen. Im Gegensatz zur Orientierung am Gericht trägt die Orientierung am schändlichen Kreuzestod nämlich keine Selbstgerechtigkeit in sich. Der Einsatz des eigenen Lebens für den Anderen geschieht hier nicht aus Furcht vor dem eigenen Gerichtetwerden. Der Einsatz des eigenen Lebens für den Anderen ist von Eigennutz befreit, denn wer in Orientierung an Jesu Kreuzestod bereit ist, in unbegrenzter Liebe sein Leben für den Anderen zu geben, kann dabei keine Vergeltung oder Rückzahlung für sich selbst erwarten. Wer sein Leben geben will, wer bereit ist, alles zu geben, was er hat, erwartet weder Restitution noch Retribution. Zugleich ist in Jesu Liebeshandeln angezeigt, dass in der Liebe εἰς τέλος die absolute Linearität und Begrenzung der Endlichkeit wiederum aufgehoben 31 Vgl. CULPEPPER, The Creation Ethics of the Gospel of John, 2017, 86: „For all the emphasis on punishment, hell, and eternal torment in some brands of Christian preaching, it is worth noting that John gives scant attention to the threat of suffering or punishment as an inducement to ethical living.“ Zur marginalisierten Rolle des letzten Gerichts im JohEv und der Liebe Jesu als Motivationsgeber an dessen statt vgl. ferner BURRIDGE, Imitating Jesus, 2007, 327; HAYS, The Moral Vision of the New Testament, 1996, 150.
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VI. Ergebnisse
wird. In der Liebe bis ins Ende hinein muss das Ende nicht mehr gefürchtet werden, weil die Liebe im Ende neue Beziehung schafft. Die Motivation guten Handelns ist somit die von Jesus aufgezeigte Möglichkeit, in der Liebe bis ins Ende hinein die Grenzlinien des Endes und der Beziehungslosigkeit zu durchbrechen, und nicht etwa die Möglichkeit, die eigenen Taten in der endgültigen Krisis als der absoluten (Ent-)Scheidung zu vergelten. (3) Der Lebenszeitmangel wird paradoxerweise durch die Hingabe der eigenen Lebenszeit für den Anderen gelöst. In der Ausrichtung an der Liebe εἰς τέλος steckt auch eine neue Strategie, mit dem Lebenszeitmangel umzugehen. Der Lebenszeitmangel ist uns im theoretischen Teil III unter 3.5 Existentielle Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik als die entscheidende Triebfeder ethischer Probleme und Reflexionen aufgefallen. In jenem Theoriekapitel ist festgehalten worden, dass aus dem Bewusstsein von Mangel und Irreversibilität der Zeit (aufgrund der eigenen Sterblichkeit) im Kontrast zu einer Vielzahl von (Handlungs-)Möglichkeiten überhaupt erst die Idee von der ‚falschen‘ Entscheidung entstehen kann. Dem Zeitmangel korrelieren aber nicht nur ein Mangel an Handlungsevidenzen, sondern in Konsequenz daraus auch Konkurrenzverhältnisse, Missgunst und Neid, die Verhalten und Verhältnisse wiederum negativ beeinflussen. Die negativen Konkurrenzverhältnisse bilden den eigentlichen Kern des ‚Falschen‘, weil sie Beziehungen und das friedliche Zusammenleben zerstören. Das tatsächliche Problem ist letzten Endes nicht in dem Kontrast zwischen irreversiblem Zeitverlust und exponentiellem Möglichkeitsgewinn erkannt worden, sondern in der Vorstellung, nur das Ergreifen sämtlicher (bzw. ausschließlich ‚richtiger‘) Wahlmöglichkeiten mache den Menschen vollkommen und sage etwas über seinen Wert aus. Der Lebenszeitmangel zwängt uns auf diese Weise immer wieder das Denken in linearen Kategorien auf. In der Philosophie wurde das ethische Problem, das uns der Lebenszeitmangel aufgibt, von Odo Marquard im Hinweis auf mitmenschliche Kommunikation und Teilhabe gelöst. Indem wir an der Lebenszeit anderer partizipieren, so der Lösungsvorschlag, gewinnen wir an Lebenszeit und kompensieren unseren Lebenszeitmangel. 32 Im JohEv wird diese Lösungsstrategie jedoch radikal überboten: Indem wir unser Leben hingeben für Andere, so macht das JohEv am Beispiel Jesu deutlich, erhalten wir neuen Lebensreichtum. Nicht Teilhabe, sondern Hingabe verspricht eine neue Fülle der Zeit. Nicht indem wir die Zeit des Anderen für uns 32 MARQUARD, Zeit und Endlichkeit, 2015, 231: „Es gibt nicht nur den jeweils Einzelnen, sondern es gibt auch die Anderen, unsere Mitmenschen, die, weil sie viele sind, viele Leben und Lebenszeiten leben, an denen wir teilnehmen können und dadurch – in gewisser Hinsicht – auch ihre Leben haben: auch ihre Lebenszeiten [...] Die Kommunikation mit ihnen ist für uns – zeitmangelkompensatorisch – die Chance, trotz der Einmaligkeit unseres Lebens, viele Male zu leben, also trotz der Einzigkeit unserer Lebenszeit viele Lebenszeiten zu haben“.
5. Dynamisierung der Zeitdimensionen
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in Anspruch nehmen, sondern indem wir unsere Lebenszeit für ihn geben, wirkt sich die darin entstehende oder fortwirkende Beziehung erfüllend auf unsere Lebenszeit aus. Am Kreuz ruft Jesus τετέλεσται | es ist erfüllt und übergibt seinen Geist (Joh 19,30). Diese Erfüllung kann nicht als Auffüllung eines Zeitbottichs mit linearer Zeit verstanden werden, im Gegenteil, Jesus stirbt am Kreuz. Dass Jesus das Ende seiner Lebenszeit mit seiner Liebe εἰς τέλος erfüllt, wirkt vielmehr erfüllend auch auf unsere Lebenszeit. Er übergibt uns im Ende seinen Geist und lässt die Beziehung damit weitergehen. Und so kann auch das joh. Versprechen eines ewigen Lebens (ζωὴ αἰώνιος) nicht als unendliche Zeitspanne verstanden werden, die irgendwann nach dem Tod beginnt, sondern nur als gegenwärtig anbrechendes Leben in nicht abbrechender Beziehung zum Lebensgeber und den Mitgeschöpfen. Das wichtige joh. Lexem αἰών κτλ. ist ohne sein inhaltliches Bezugswort ἡ ζωή nicht bestimmbar.33 Ewig ist insofern nicht bloßes Charakteristikum einer unendlichen Zeitspanne, sondern Ewigkeit bedeutet ein erfüllendes Leben, das man schon jetzt im Glauben an die liebende Hingabe Jesu führt (Joh 3,15f.36; 5,24; 6,40.47.54: 10,10.28; 17,2f.; 20,31). Noch einmal: Das Gebot der Liebe εἰς τέλος, das Jesus tut und redet, ist das ewige Leben (Joh 12,50). Und so bezeichnet auch für uns das ewige Leben jene erfüllende Zeit, die wir – motiviert und inspiriert durch Jesu liebende Hingabe – in der liebenden Hingabe unserer eigenen Lebenszeit für den Anderen erleben. (4) Der neue Anfang im Kreuzestod, die Verherrlichung in der Schande, die Liebe in der absoluten Beziehungslosigkeit öffnen die Gegenwart in Treue zur gemeinsamen Geschichte auf die Möglichkeiten der Zukunft hin. Die eschatologische Orientierung des JohEv richtet sich, wie oben verdeutlicht, nicht auf den letzten Tag des Gerichts, sondern an der Stunde der Lebenshingabe am Kreuz aus. Das zeigt sich v.a. in Joh 7, wo die traditionellen eschatologischen Erwartungen des strömenden Lebenswassers und das Ausschütten des Geistes aus dem Tempel nicht auf das Eschaton verlegt, sondern auf den historischen Zeitpunkt des Kreuzes umgeleitet werden (Joh 7,38f.). Das Kreuz ist aber nicht nur einmaliger historischer Augenblick der Erfüllung, sondern der Punkt, an dem historische Linearitäten aufgehoben werden, denn in der Liebe bis ins Ende hinein wird neuer Anfang geschaffen. Lineare Zeitabläufe, Anfang und Ende, Vor- und Nachordnung werden dynamisiert. Die zukünftigen Eschata, die im Kreuz zur Erfüllung kommen, werden also nicht auf einen historischen Punkt, nämlich das Datum der Kreuzigung, auf ein lineares Chronometer eingeschränkt, als seien sie für alle ‚Spätgeborenen‘ endgültig vergangen und als lägen sie für alle ‚Frühgeborenen‘ in unerreichbarer Zukunft. Durch die Dynamisierung der Zeit in der Kreuzigung und Auferstehung werden die zukünftigen Eschata zu jedem Zeitpunkt vergegenwärtigt, ohne jedoch 33
Vgl. VAN DER WATT, The Use of αἰώνιος in the Concept ζωὴ αἰώνιος in John’s Gospel, 1989, 217–228; ZIMMERMANN, Towards an 'Ethic of Life' in the Gospel of John, 2016, 41.
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VI. Ergebnisse
ihren Zukunftsaspekt (den Aspekt der Neuschöpfung und Offenheit) zu verlieren. Im Mittelpunkt menschlicher Lebensweise und deren ethischer Reflexion soll also dem JohEv zufolge die Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung stehen, in der die Linearität und Endlichkeit des Menschen in die göttliche Neuschöpfung zu jeder Zeit aufgehoben wird. Es bleibt der Tod am Ende des menschlichen Lebens. Es bleibt der Tod als bedauernswerter Teil des Lebens, insbesondere im Blick auf den Verlust geliebter Angehöriger. Der Tod beendet aber ‚nur‘ die weltliche Lebenszeit. Der viel grundsätzlichere Kern des Lebens, nämlich das Leben in Beziehungen, insbesondere in der Beziehung zu Gott, wird durch den Tod nicht beendet. Der eigene Tod (und der daraus entstehende Lebenszeitmangel) muss insofern nicht gefürchtet werden: Erstens, weil das Gericht ohnehin schon zu Lebzeiten gehalten wird, und zwar nicht nach dem gesetzesmäßigen Kriterium der richtigen Wahl aus einer Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, sondern nach dem Kriterium des Glaubens. Was aber bedeutet Glauben im JohEv? Er tritt immer in Verbform, nie substantiviert auf und bezieht sich stets auf Jesus in seiner Beziehung zu seinem göttlichen Vater. 34 Darüber hinaus ist der Glaube sehr eng mit dem (ewigen) Leben verbunden (Joh 3,15f.36; 5,24; 6,40.47.54: 10,10.28; 17,2f.; 20,31).35 Der Glaube bezieht sich, noch genauer, auf die Liebe Gottes bis ins Ende hinein, die sich in der Hingabe seines eigenen Lebens (und zwar in der Hingabe seines einzigen Sohnes in die Endlichkeit hinein) manifestiert und darin neues Leben verspricht: Denn so (sehr) hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht an ihn glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes. (Joh 3,16–18)
Der eigene Tod muss zweitens auch deshalb nicht gefürchtet werden, weil die Hin- und Aufgabe der eigenen Lebenszeit für den Anderen neue Beziehung und damit neues Leben schafft. Die Hingabe des eigenen Lebens bis in den Tod hinein führt dazu, dass der Tod seine negative Begrenzung als absolute Isolation verliert und dass auch die Zeit bis dahin unter Entlastung von Gütevergleichen und Wettbewerben um Gerechtigkeit beziehungsreicher und damit erfüllender wird.
34 Vgl. KOESTER, The Word of life, 2008, 162; UEBERSCHAER, „…damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes…“ (Joh 20,31), 2017, 451f.466.470. 35 A.a.O., 470f. Zur engen Verbindung von Glauben und Leben vgl. auch KOESTER, The Word of life, 2008, 161f.
5. Dynamisierung der Zeitdimensionen
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Weder müssen ‚zeitaufwendige‘ Begegnungen ohne ‚Mehrwert‘ im Namen der Effizienz wegrationalisiert, noch müssen zur eigenen Persönlichkeitsfindung alle Optionen restlos ausgetestet werden. Die Lebensfülle liegt nicht im Auskosten aller Optionen mit dem Ziel der Selbstperfektionierung, sondern in der Hingabe des eigenen Lebens und der eigenen Lebenszeit für den Anderen. Denn nicht in der optimalen Nutzung der Uhrenzeit, sondern in der ‚Verschwendung‘ der Zeit in Begegnungen mit dem Anderen, in lebendigen Beziehungen finden und bewahren wir die Fülle der Zeit. Das entlastet von Hast in Bezug auf die Zukunft, weil mit der Begrenzung des Lebens auch die Begrenzung der Wirkmöglichkeiten aufgehoben wird. Es besteht kein Grund zur Eile und zur Ökonomisierung der Zeit, um den anderen Menschen ‚voraus‘ zu sein und am Ende mehr erreicht zu haben als diese. Das entlastet aber auch von Lethargie und Handlungshemmnis. Denn diese Hemmnis entsteht ursprünglich aus fehlenden Handlungsevidenzen, sekundär wird sie wiederum von deren vermeintlicher Bewältigung riskiert: von neuen linearen Zeitnormen, die zwar neue Handlungsevidenzen herstellen, aber nur indem sie den Handlungsspielraum negativ begrenzen und mitunter durch Androhung von Strafe bei Nichteinhaltung paralysierend wirken. Die Zeitorientierung an der schöpfenden Liebe Gottes bis ins Ende hinein gibt Raum für eine Sensibilität für den richtigen Augenblick, denn die vielen linearen und zyklischen Zeitregime der jeweiligen Gesellschaft werden in der Dynamisierung der Zeit im Kreuzesgeschehen relativiert. Nun wurde bis dato überwiegend über den Zusammenhang von Zukunft und Gegenwart im Rahmen der Dynamisierung linearer Zeit gesprochen. Die Vergangenheit kam dabei kaum zur Sprache. Wird die Vergangenheit bei der Aufhebung der Linearität nun vollends zurückgelassen? Spielt die Vergangenheit für gegenwärtige Handlungen und ethische Reflexionen überhaupt noch eine Rolle? Aus den Beobachtungen Jesu Verhaltens in der Zeit wird deutlich, dass Beziehungen grundsätzlich von Geschichte und in Geschichten und in Treue zu diesen Geschichten leben. Der joh. Jesus knüpft immer wieder an die Geschichte Gottes mit seinem Volk an (das Gesetz Moses, Abraham als Stammvater, Jerusalem als Ort der Anbetung, Gerichtsvorstellungen, Auferstehungsund Messiaserwartungen als eschatologisches Traditionsgut), um diese aus neuer Perspektive wahrnehmbar und gegenwärtig bedeutsam werden zu lassen. Wenn Jesus bestreitet, dass Herkunft mit Bestimmung gleichzusetzen ist, bestreitet er nicht die Bedeutung der Herkunft, der Tradition, der Geschichte an sich. Er spricht die Menschen zwar in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation, jedoch immer mit ihrer individuellen Geschichte an (den Gelähmten, der schon 38 Jahre krank war; den von Geburt an Blinden; die Samaritanerin mit ihren vielen Männern; Nathanael als ‚rechten Israeliten‘; Nikodemus als Israels Lehrer). Aber er reduziert sie nicht auf ihre Geschichte, sondern lässt sie ihr Leben in Kontinuität und Treue zu ihrer Geschichte neu sehen. Beziehungen leben
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VI. Ergebnisse
einerseits von Kontinuität und Treue, andererseits aber auch von Varianz und neuen Blickwinkeln. Die besondere Zeitinszenierung des JohEvs lanciert einen neuen Kompass zur Orientierung in den Zeiten, nämlich die Liebe, die ins Ende und in die absolute Beziehungslosigkeit hineinreicht und diese und das Ende überwindet. Dieser neue Kompass irritiert die gewohnten Linearitäten der irreversibel ablaufenden Zeit und den unaufhörlich drängenden Lebenszeitmangel. Es bleiben jedoch Bedenken, ob jener neue Kompass einerseits ‚magnetisch‘ und attraktiv genug ist, andererseits genug Irritation verspricht, um auch im alltäglichen Leben und Handeln praktikabel zu sein und die Macht und Vielfalt (zyklisch)linearer Zeitnormen wirksam umlenken zu können. Die Frage der Praktikabilität und Nacharmbarkeit der vom JohEv vorgeschlagenen Zeitorientierung seines Helden soll im folgenden Kapitel traktiert werden.
6. Mimetische Ethik? 6. Mimetische Ethik
Ist diese Zeitorientierung praktikabel? Ist auch das Zeitverhalten der Figuren von mimetischer Qualität für den Leser? Wie oben eingeräumt, haben die meisten habituellen Zeitrhythmen und normen (ob linear oder zyklisch) den Vorteil, Handlungsmöglichkeiten einzugrenzen und damit Handlungsevidenzen hervorzurufen. Habituelle Zeitrhythmen und -normen, so könnte man argumentieren, sind letztlich notwendig, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Ohne sie würde stets zu viel Zeit zur Abwägung veranschlagt und der Kairos der Handlung wäre wohl längst verflogen. Zugleich wurde aber am Verhalten Jesu im Konflikt mit seinen Interagenten festgestellt, dass Habitualisierungen zwar zur Entlastung von Entscheidungsund Zeitdruck durch Rückgriff auf erprobte Handlungsmuster führen, sie aber zugleich riskieren, im Einlassen auf den linearen oder zyklischen Strom der Zeitrhythmen die gegenwärtige Situation und ihre Erfordernisse zu missachten. Durch Jesu Distanz zu den einseitig linearen oder zyklischen Verlaufsordnungen konnte paradoxerweise eine größere Nähe zu den und Rücksicht auf die Handlungssituationen beobachtet werden. Doch ist diese Distanz durchhaltbar? Ist Jesu Verhalten in allen Bereichen von mimetischer Qualität und haben auch die übrigen Figuren etwas zur Imitatio beizutragen? Folgende Fragekreise sollen in diesem Kapitel traktiert werden: (1) Ist Jesu konkretes Handeln von mimetischer Qualität? Ist im JohEv allein Christus Vorbild? 36 Geht die Ethik des JohEv in der Christologie auf?37
36 37
Diesen Eindruck gewinnt man bei BURRIDGE, Imitating Jesus, 2007, 285–346. Vgl. MATERA, New Testament Ethics, 1996, 92–117.
6. Mimetische Ethik
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(2) Sind die übrigen joh. Figuren unterschiedliche ‚Typen‘ ethischen Verhaltens mit abgestufter mimetischer Qualität? Wenn ja, welche Figuren eignen sich am besten/am wenigsten als Vorbild? (3) Ist der Leser aufgrund des nachösterlichen Erkenntnisstands zu einer besseren Lebensweise befähigt als die Figuren? Ad (1) Gegen die ‚Eignung‘ des joh. Jesus als ethisches Vorbild können (und wurden in der Forschung) drei Einwände erhoben werden: Im Gefolge Ernst Käsemanns ‚doketischer‘ Auslegung des JohEvs, welche die Herrlichkeit Gottes in Christus zum Zentrum der joh. Theologie erhebt, den Kreuzestod als bloßen Durchgang zu dieser Herrlichkeit versteht und die besondere Überlegenheit des joh. Jesus gegenüber der Welt betont,38 ist immer wieder auf Jesu fehlende Menschlichkeit hingewiesen worden. Als einer von Wayne Meeksʼ Einwänden gegen eine joh. Ethik ist diese Auslegungstradition weiter oben im theoretischen Teil bereits besprochen und entkräftet worden, und zwar mit dem Hinweis darauf, dass Jesus im vierten Evangelium sehr wohl menschliche Gefühle und körperliche Bedürfnisse testiert werden (Reue und Trauer in Joh 11,33.35.38; Müdigkeit in Joh 4,6) und seine Menschlichkeit darin kulminiert, dass er die menschliche Lebensbegrenzung in der Liebe εἰς τέλος erleidet und nicht etwa passionslos durch sie hindurchgeht.39 In der freiwilligen Hingabe seines Lebens wird nicht seine Apathie gegenüber und seine Dissoziation von der Welt, sondern seine Fähigkeit, sie durchdringend zu lieben, offenbar. Das zweite Problem bei der Beurteilung der mimetischen Qualität des joh. Jesus erkennen einige Exegeten in den fehlenden konkreten Handlungsvorlagen. Außer der Fußwaschung gäbe es keinerlei Anhalt, wie die gebotene Liebe tatsächlich umzusetzen sei. „The difficulty, however, is how this formal assertion of Jesus as ethical pattern is to be unpacked in terms of specific behaviors. Jesus in the Fourth Gospel does not actually do much of anything except make grandiloquent revelatory speeches. The actions that he does perform are primarily of miraculous character“40. „The most explicit moral imperative, the love command, is not explained in terms of tangible actions […] The actions that this love would entail are left unarticulated.“41
38
Vgl. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 41980 (1966), insbes. 26– 28.40.45–50.61–64. 39 Mehr zur Entkräftung der Einwände von W. Meeks im theoretischen Teil III unter 2.4 Narrative Ethik des Johannesevangeliums als implizite Ethik. 40 HAYS, The Moral Vision of the New Testament, 1996, 143. 41 TROZZO, Exploring Johannine Ethics, 2017, 11–13. Einen Mangel konkreter Handlungsimpulse stellt auch WEYER-MENKHOFF, Ethik des Johannesevangeliums, 2014, 251 für das JohEv fest.
434
VI. Ergebnisse
Diese Beobachtungen sind ganz richtig, konkrete imitierbare Handlungen stellt das JohEv nicht zur Verfügung. Ganz im Gegenteil, manch eine konkrete Handlung des joh. Jesus wirkt gar so unsittlich, dass sie eine unmittelbare Nachahmung vereitelt (s.u. dritter Einwand). Sogar die nähere Betrachtung der Fußwaschung als einzig explizites ὑπόδειγμα im JohEv hat die Skepsis genährt, diesen Akt ohne Weiteres als zeitloses und jederzeit kopierbares ‚Handlungsbeispiel‘ zu verstehen. Aus dem Verhalten des joh. Jesus sind weder abstrakte Prinzipien, noch konkrete Handlungsvorlagen deduzierbar. Wohl aber wird eine besondere Handlungsorientierung erkennbar, und zwar eine Orientierung temporaler Art: die Ausrichtung auf die integrale Stunde von Tod und Leben, Schande und Verherrlichung, in der die liebende Hingabe des eigenen Lebens neue Lebensfülle schafft. Diese in vielerlei Hinsicht extreme Orientierung wird im Folgenden nach ihrer Imitierbarkeit befragt werden müssen. Zunächst aber soll noch ein weiterer, schon angesprochener Einwand behandelt werden. Allen voran Adele Reinhartz gibt zu bedenken, dass Jesu konkretes Verhalten insbesondere auch vor dem Hintergrund frühjüdischer und hellenistisch-römischer ethischer Normen als unsittlich bewertet werden müsse, 42 sich deshalb also nicht zur Imitatio eigne.43 Als ‚unmoralisch‘ werden die verzögernden Reaktionen Jesu auf die Anfragen seiner Mutter, des Königlichen, der Brüder und der Schwestern Maria und Martha aufgefasst. Gegenüber seiner Mutter verhalte er sich (u.a. entgegen des fünften Gebotes) respektlos (Joh 2,4), gegenüber den unaufschiebbaren Anfragen des Königlichen (Joh 4,48) und der Schwestern (Joh 11,4–6) taktlos und gegenüber seinen Brüder unaufrichtig, weil er sie (u.a. entgegen des achten Gebotes) täusche (Joh 7,6–10).44 Entlang dieser Beispiele kann freilich noch einmal neu gefragt werden, ob Jesu Umgang mit seinen Mitmenschen im JohEv wirklich stets „a loving acceptance […] gently teasing questioning which seeks a response“ 45 ist. Sowohl Reinhartz als auch Frey suchen in der theologischen bzw. christologischen Aussageabsicht des JohEvs eine Erklärung für das ‚amoralische‘ Verhalten des joh. Jesus: „If we allow ourselves to get distracted by the ethical question, that is, if we focus in explaining away the lie, we risk missing the main point: that the Gospel of John is entirely, and exclusively, interested in Christology.“ 46
42
Vgl. REINHARTZ, A Rebellious Son?, 2017, 234. Vgl. a.a.O., 233.247; DIES., The Lyin’ King? Deception and Christology in the Gospel of John, 2017, 117–133. 44 Zum offenkundig ‚unmoralischen‘ Verhalten Jesu v.a. in den Wundererzählungen vgl. ferner FREY, ‘Ehical’ Traditions, Family Ethos, and Love in the Johannine Literature, 2013, 791f. 45 BURRIDGE, Imitating Jesus, 2007, 337. 46 REINHARTZ, The Lyin’ King? Deception and Christology in the Gospel of John, 2017, 133 43
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„The ‘normal’ expectation of ‘loving’ behavior is deliberately disappointed in order to draw the reader’s attention to the theological meaning of the sign-narratives.“47
Geht die Ethik im JohEv also tatsächlich in der Christologie auf bzw. sogar in ihr unter? Lindsey Trozzo rettet den ethische Kapazität des JohEvs, indem sie den Glauben an Christus auf Basis von Joh 6,28f. als „ethical act“ ausweist.48 Um den Glauben nicht bloß als kognitives Dafürhalten, sondern als praktischen Lebensvollzug fassbar zu machen, bestimmt sie einen „missing link“ zwischen kognitivem Glauben und moralischem Tun: Die Einheit mit dem Vater ist für sie der ‚Gegenstand‘ der Imitation: „It is not Jesus’s direct actions in the Gospel that serve as an ethical example. Rather, the audience is called to imitate Jesus’s unity with God and his response to God.“49 Doch auch die erstrebte Einheit mit Gott kann den Lebensvollzügen des ethischen Akteurs m.E. schwerlich zu konkreter Orientierung gereichen. Dafür müsste man schon wissen, wie und worin diese Einheit in unserer Welt und unter unseren Bedingungen gegenständlich wird. Zwar macht auch die hiesige Studie das Imitationspotenzial des joh. Jesus nicht an konkreten Handlungen fest. Sie erkennt aber in Jesu Lebensorientierung und Weltwahrnehmung dessen mimetische Qualität. Seine Handlungsorientierung und Situationswahrnehmung ist durch ihre temporale Zuspitzung sogar greifbar und gegenständlich. Der joh. Jesus lehrt uns, unsere Lebensvollzüge an der integralen Stunde von Tod und Leben auszurichten, in der die liebende Hingabe des eigenen Lebens neue Lebensfülle schafft. Es kann somit nicht darum gehen, aus jeder konkreten (situations- und zeitbedingten) Handlung des joh. Jesus zeitlose Prinzipien und Handlungsmuster zu abstrahieren und diese in jeder Situation blind zu kopieren, sondern es geht darum, seine zeitliche Handlungsorientierung nachzuvollziehen, die sich im Blick auf und im Glauben an das Kreuzigungsgeschehen konkretisiert. Der Glaube regt dann nicht ‚wie von selbst‘, gänzlich wundersam, vielleicht noch mithilfe des Parakleten zum richtigen Handeln an, sondern der Glaube gibt in seiner Ausrichtung an der Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung substanziellen, nämlich zeitlichen Anhalt für ein der Situation angemessenes Verhalten. Cornelis Bennema definiert Mimesis wie folgt: „person B represents or emulates person A in activity or state X [in order to become like person A].“50 47
FREY, ‘Ehical’ Traditions, Family Ethos, and Love in the Johannine Literature, 2013,
792. 48
Vgl. TROZZO, Exploring Johannine Ethics, 2017, 93. A.a.O., 96. 50 BENNEMA, Mimesis in the Johannine Literature, 2017, 25. Die Zielbestimmung „in order to become like person A“ steht in Klammern, weil sie nur für die mimetische Relation Glaubender–Jesus und Glaubender–Gott, nicht aber für die mimetische Relation Sohn–Vater gelte. 49
436
VI. Ergebnisse
Auf Basis der bisherigen Ergebnisse sollen in Zuspitzung auf das JohEv die Module „activity“ oder „state“ als Inhalte der Mimesis durch ‚zeitliche Orientierung der Tätigkeit oder des Zustands‘ ersetzen werden. Der joh. Jesus fungiert dann nicht als Vorbeter oder Vorturner, der die Nachahmung und Reproduktion seines Verhaltens veranlasst. Das Problem der Christus-Mimesis wird und wurde darin erkannt, dass Jesu Handeln in besonderer Weise als einmalig zu gelten hat und deshalb strenggenommen ohnehin nicht wiederholbar ist.51 Wohl aber kann Jesu Wirken, so das Ergebnis dieser Studie, als Kompass und Wahrnehmungsschule 52 mit ungewöhnlichen Zeitkoordinaten verstanden werden. Diese Wahrnehmungsschule lässt einerseits Bekanntes neu entdecken, andererseits koordiniert und orientiert sie Handlungsabwägungen, Reflexionsund Bewertungsprozesse im Blick auf die integrale Stunde von schändlicher Kreuzigung und erfüllendem Leben. In Jesu Wirken kommt, wie oben expliziert, wahre Zeitgenossenschaft zur Erfüllung. Er stellt sich zugleich unter das Regiment der linearen Zeit und in aufschlussreiche Distanz zu ihr. So sehr das JohEv ein theologisches und hochreflektiertes Evangelium darstellt, so sehr spielt sich das erzählte Geschehen unter unseren konkreten menschlichen Raum-Zeit-Bedingungen, unter den Bedingungen der menschlichen Endlichkeit ab. 53 Georg Horntrich erkennt in dieser Doppelbestimmung ein emanzipierendes Moment: „Die Spannung zwischen Zeitgebundenheit und Zeitenthobenheit schützt vor der Absolutierung bestimmter Zeitnormen.“ 54 Jedoch ist die konsequente Adaption eines solchen Zeithorizontes, wie bereits mehrfach angedeutet, in vielerlei Hinsicht fragwürdig. Schon Jesu eigene Erschütterung über den Tod des Lazarus und die Trauer der Schwestern zeigen, dass eine Orientierung an der Kreuzesstunde und der δόξα τοῦ θεοῦ alles andere als selberverständlich und bequem ist. Es wiegt darüber hinaus schwer, dass die im Evangelium konkret beschriebenen Taten, die vom joh. Jesus aus diesem Zeithorizont heraus begangen werden, nicht als vorbehaltlos nachahmenswert gelten können. Obendrein wird für uns Geschöpfe, denen die Lebenszeitbegrenzung so tief ins Bewusstsein geschrieben ist, eine davon unbe-
51
Vgl. HORN, Mimetische Ethik im Neuen Testament, 2016, 198. Zur Funktionsbestimmung theologischer Ethik als „Wahrnehmungsschule“ vgl. ROTH, Theologische Ethik als Wahrnehmungsschule für das Leben, 2016, 49–55. 53 T. Brodie schreibt dazu: „Johnʼs time based structure has meaning. It indicates that however high the gospelʼs theology may soar, the foundation for the entire narrative is the most basic element of limited human life – the reality of being placed at one point in the vast flow of time and, until the fateful hours strike, of living out a succession of days, seasons, and years. In other words, the gospel is grounded in the most basic reality of human experience.“ (BRODIE, The Gospel According to John, 1993, 26) 54 Vgl. HORNTRICH, Gut in der Zeit, 2003, 345. 52
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rührte Zeitorientierung in vielen Fällen gar nicht durchhaltbar sein. Im Gegenteil, in den meisten Handlungssituationen ist es weder möglich noch geboten, sich ausschließlich auf die liebende Hingabe bis ins Ende hinein zu stützen. Weder kann das JohEv als Anleitung dazu dienen, ständig sein Leben aufs Spiel zu setzen (Petri Bereitschaft, sein Leben zu geben, wird in Joh 13,37f. von Jesus selbst als inkonsequent entlarvt), noch völlig naiv in jedem Ende einen Anfang zu sehen. Eben jenen naiven Anfangsglauben hat Aleida Assmann unter dem Begriff der „Fiktion des Anfangs“ als ein Symptom des Zeitregimes der Moderne entlarvt.55 Was die neuzeitlichen Anfangsfiktionen aber tatsächlich zur puren Fiktion macht, ist die Annahme, dieser Anfang könne jederzeit aus eigener Kraft geschaffen werden, sei „menschlich erzeugt und immer wieder revidierbar“56. Doch der Anfang, der in der integralen Stunde Jesu aufbewahrt ist, geht eben gerade nicht von einem radikalen ‚Cut‘ mit allem, was uns einst zurückhielt, aus. Der Anfang in der Kreuzigungsstunde geht umgekehrt darauf zurück, dass jemand trotz widrigster Bedingungen seine Beziehungen nicht hat abbrechen lassen. Dieser beschriebene Anfang entsteht aus der Treue und dem Willen zur Gemeinschaft bis in schuldhaftesten Verstrickungen; er kann auch nicht aus eigener Kraft erarbeitet werden, sondern ergibt sich gerade aus der Schwäche vor und für den Anderen. Eine derart radikale Liebe und Beziehungstreue, die bis in den Tod hineinreicht und über jegliche Vergehen hinwegsieht, ist in unserem Alltag sicherlich nicht viabel, schlicht und ergreifend, weil eine solche Verhaltensorientierung lebensgefährlich wäre. Da sich die ausschließliche Orientierung an einer Zeitnorm wie der integralen Stunde als utopisch erweist, kann es bei der joh. Imitatio nur approximativ um eine adäquate Hierarchisierung der Zeitnormen im Brennpunkt der Stunde gehen.57 Folgende Aussagen indizieren Zeitnormen, die sich außerhalb dieses Brennpunktes bewegen: Die leitende(n) Zeitnorm(en) sind ausschließlich meinen neuen Anfängen (oder den Anfängen meiner Peergroup) zuträglich. Sie begünstigen meine Selbstinszenierung und fördern mein grundsätzliches Bestreben, anderen ‚voraus‘ zu sein. Sie wirken entsolidarisierend und führen dazu, dass Beziehungen, die sich außerhalb des Effizienzradius befinden, nicht mehr unterhalten werden können. Sie lassen alles und jeden zurück, der sich an mir vergangen hat, der mich im Blick auf mein Ziel aufhält, der nicht in den Takt passt oder dessen Fehler mein Weiterkommen oder das der Gesellschaft hemmen. Sie lassen mich verzweifeln, sobald mir die Verfügungs- und Gestaltungsgewalt über mein Leben entzogen wird, Pläne durchkreuzt werden und ich mich selbst in einer Position der Schwäche wie-
55
Vgl. ASSMANN, Ist die Zeit aus den Fugen?, 2013, 149–164. A.a.O., 155f. 57 Vgl. ZIMMERMANN, Die Logik der Liebe, 2016, 69–78. 56
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VI. Ergebnisse
derfinde. Sie vergrößern die Gräben zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und wirken somit desintegrierend. Sie lehren mich, nur für mich und die mir zeitlich Unmittelbaren Verantwortung zu übernehmen. Folgende Aussagen indizieren Zeitnormen, die sich im Brennpunkt der integralen Stunde von Tod und Leben bewegen: Die leitende(n) Zeitnorm(en) motivieren mich dazu, Zeit für andere zu investieren. Sie helfen mir, in meiner Lebenszeit nicht nur Erfahrungen anzuhäufen, die mich selbst vielfältig und vollkommen dastehen lassen, sondern Erfahrungen zu sammeln, die mich beziehungsfähig machen. Sie lassen mich nicht verzweifeln, wenn es zu Verzögerungen bei der Erreichung meiner Ziele kommt, sie können diese Verzögerungen als notwendige Schleifen eines erfüllten Lebens wertschätzen. Sie drängen diejenigen, die dem Tempo des Lebens nicht (mehr) gewachsen sind, nicht an den Rand, sondern halten ihnen die Möglichkeit offen, den Rest der Welt auch einmal aus den Takt zu bringen. Die Präferenz und Tendenz der Zeitnormen im Brennpunkt der Stunde liegt auf der intersubjektiven Zeit, nicht i.S. genauer Termine und Zeitabsprachen, sondern i.S. einer Investition oder gar Verschwendung der Zeit für den Anderen. Entlang Jesu ‚vorgelebter‘ Zeitorientierung können wir die ‚Investition‘ unserer eigenen Lebenszeit, sowie konventionelle Zeitnormen, die unser Handeln in bestimmte Chronologien zwängen, überdenken. Der Glaube an den lebensbewahrenden Kreuzestod moderiert die althergebrachten Zeitrhythmen und -habitus so, dass weder die Vergangenheit ihren determinierenden Schatten voraus-, noch die Zukunft ihren Schrecken der Ungewissheit zurückwirft. Ad (2) Das Figurenverhalten gibt v.a. Auskunft darüber, wo die Schwierigkeiten liegen könnten, sich auf die jesuanische Zeitnorm einzulassen und die vorherrschenden Zeitnormen in deren Brennpunkt zu organisieren. Auch das Verhalten der übrigen Figuren neben Jesus ist also in eben jener Hinsicht von mimetischer Qualität. Die einzelnen Charaktere können jedoch nicht schematisch als Positiv- oder Negativbeispiele verdingt werden. Günstigstenfalls dienen der geliebte Jünger und Judas als relativ starkes Vorbild bzw. Abschreckungsbeispiel. Der geliebte Jünger zahlt dafür jedoch den Preis seiner Anonymität und stilisierten Blässe, gar Unnahbarkeit. Zwischen diesen beiden Polen befindet sich ein Spektrum unterschiedlicher Verhaltensweisen, die einer absoluten Klassifizierung in Gut und Böse, Richtig und Falsch widerstehen. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass unsere ethischen Reflexionen sich nicht bloß aus schnellen Urteilen speisen sollten. Zwar arbeitet das JohEv wiederholt mit dualistischen Bildern wie Tag und Nacht, Licht und Finsternis, Uranos und Kosmos, oben und unten, Geist und Fleisch und lässt darin die ethischen Bewertungspole von Gut und Böse mitschwingen.
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Diese Dualismen lassen aber in der Folge keine starren Rubrizierungen der Figuren in absolut gut und absolut schlecht zu,58 vielmehr herrscht Bewegung zwischen den Dualismen, und zwar aufgrund Jesu Dynamisierung der Zeit. Er kommt, lebt und leidet unter den Bedingungen der linearen Lebenszeit und der linearen Urteile,59 versetzt jene strenge Grenzziehung in seiner unverbrüchlichen Liebe εἰς τέλος jedoch neu in Bewegung. Im Glauben an Jesus und in Ausrichtung am Kreuzesgeschehen werden die Dualismen aufgeweicht: „Those from below are not hopelessly consigned to die in their sins because they are from below […] For John, the two realities of flesh and Spirit are separated but they can nevertheless be transcended through faith in Jesus Christ.“60
Die Figuren des JohEvs können daher nicht einseitig der einen oder der anderen Seite zugeordnet werden, sondern befinden sich auf unterschiedlichen Stufen auf dem Weg zwischen unten und oben. Wir wollen aber nicht der Versuchung unterliegen, sie erneut in einer linearen Reihe zwischen unten und oben anzuordnen, Maria über Martha, Martha über die Brüder, die Brüder über Pilatus o.ä. Auf diese Weise wäre doch wieder nur der Oberste auf der Leiter sinnvoll imitierbar. Die Figuren entwickeln vielmehr insofern mimetische Qualität, als sie mit ihrer eigenen Weltwahrnehmung und ihren eigenen Zeithorizonten in Konflikte eintreten und dabei unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten erproben, unterschiedliche (Zeit-)normen erkennbar und deren Einfluss deutlich machen. Jede dieser Figuren organisiert in ganz eigener Art und Weise die eigenen Zeitnormen im Brennpunkt Jesu abweichender Zeitorientierung. Diese Zugänge entsprechen auch ihren Persönlichkeiten, stehen irgendwie in Kontinuität zu ihrem bisherigen Leben. So versucht Nikodemus, auf Basis der jüdischen Prozessordnung eine Anhörung für Jesus herauszuschlagen, um ihn vor dem Tötungswillen der Juden zu retten. Die Mutter Jesu spricht Jesus zwar aus Festkonventionen heraus an, setzt ihm aber in der Lösung des Problems keine zeitlichen Vorgaben, sondern vertraut schlicht auf die Gehorsamspflicht der Tischdiener und die Befehlsgewalt Jesu. Petrus kaschiert seine Angst vor dem Tod zwischen Demutsbekundungen und versucht, diese Fehlorientierung wettzumachen, indem er dann doch seine Bereitschaft äußert, sein Leben für seinen Herrn zu lassen. Jedoch hält er diese Neuorientierung in der äußersten Gefahr nicht durch und verleugnet. Der Königliche setzt seine letzte Hoffnung in der Todesbedrohung seines Sohnes auf Jesus, glaubt dessen Lebenswort aus der Ferne und überwindet seinen begrenzten topographischen Horizont. Einige von den Juden auf dem
58
Auf die Ambivalenz der joh. Figuren hat besonders HYLEN, Imperfect Believers, 2009 hingewiesen. 59 Vgl. HAYS, The Moral Vision of the New Testament, 1996, 156: „Finally, in the Fourth Gospel incarnation deconstructs dualism.“ 60 PARSENIOS, A Sententious Silence, 2012, 25.
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VI. Ergebnisse
Laubhüttenfest versuchen, ihren Eindruck von Jesu Auftreten mit ihren traditionellen Messiaserwartungen abzugleichen etc. Die Figuren sind instruktiv, nicht indem sie zeigen, was wir unter allen Umständen tun oder unterlassen sollen, sondern indem sie zeigen, warum wir gerade in unseren alltäglichen Kontexten nicht immer können, was wir eigentlich könnten, nämlich uns ganz auf das Kreuzesgeschehen zu verlassen. Ad (3) Der Leser kann die vielen Zeitkonflikte nun aus einer Beobachterperspektive mitverfolgen, kann seine Zeitschranken mit denen der Figuren vergleichen und ggf. Umwertungen vornehmen. Der Leser reflektiert aber das Figurenverhalten, noch stärker, als jede Figur es selbst kann, im Brennpunkt der integralen Stunde, auf die der gesamte Evangeliumsplot zuläuft und von der her sich alles versteht. Die Figuren im JohEv haben allenfalls eine Ahnung von diesem temporalen Brennpunkt, insoweit Jesus im Gespräch auf seine Stunde vorverweist bzw. auf seine Gemeinschaft und Gleichzeitigkeit mit dem Vater zurückverweist. Daraus ergibt sich die Frage, ob der Leser von seinem nachösterlichen Posten aus und unter Rückgriff auf die deutenden und verweisenden Erzählerkommentare nicht viel eher dazu in der Lage sei, seine Handlungen im Brennpunkt dieser Stunde zu organisieren. Hat der Leser den Figuren in dieser Hinsicht etwas voraus? Sind die Konflikte und Missverständnisse nur ein epistemologisches Instrument des Erzählers, das auf den Erkenntnisfortschritt des Lesers hinarbeitet? Zu diesem Schluss kommen jedenfalls einige Arbeiten, die den hohen Interpretations- und Abstraktionsgrad des JohEvs und die besondere hermeneutische Situation der nachösterlichen joh. Gemeinde hervorheben.61
61 C. Hoegen-Rohls spricht z.B. von einem „‚ekklesiologischen Vorbehalt‘, der besagt, daß sich wahres Jüngersein in der Nachfolge Jesu erst nachösterlich realisiert.“ (HOEGENROHLS, Der nachösterliche Johannes, 1996, 311). Vgl. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, 1987 (1983), 162: „The author just needs someone to misunderstand so that the metaphorical character of Jesus’ words can be emphasized or explained [...] This misunderstandings, therefore, lead readers to feel a judgmental distance between themselves as ‘insiders’ who understand the elusive implications of Jesus’ revelatory discourses and those who have rejected Jesus.“; DERS., The Johannine Hypodeigma: A Reading of John 13:1–38, 1991, 141: „As the reader moves on through the text, he or she watches from this advanced vantage point while the disciples grope for understanding.“; MYERS, Just Opponents? Ambiguity, Empathy, and the Jews in the Gospel of John, 2017, 172: „In this way, the identity of Jesus that the Gospel purports becomes more persuasive for those listening to the story than to those within it.“; MOLONEY, ‘For As Yet They Did Not Know the Scripture’ (John 20:9): A Study in Narrative Time, 2014, 101f.: „Peter and the Beloved Disciple are characters in the story, and must suffer from the time constraints that such a role places upon them. As yet they cannot know the Scripture (τὴν γραφήν), as they are part of it. However, those who believe without seeing, for whom this Gospel was written (v. 31: γέγραπται), do not have those constraints. They are the readers and hearers of this Gospel. They have it in hand; they are hearing it recited, or watching its performance.“
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Wir halten jedoch dafür, dass der Leser nicht notwendigerweise stets mehr weiß und v.a. kann als die Figuren. Damit soll keine historische Aussage über die ethischen Kapazitäten Jesu tatsächlicher Zeitzeugen getroffen werden. Vielmehr geht es darum anzuerkennen, dass auch im Hinabtauchen in das Figurenerleben und deren Konflikte, nicht nur in der deutenden theologischen, nachösterlichen Abstraktion die Zeithorizonte des Evangeliums erkundet und erlernt werden können. Die Figuren eröffnen uns eine Perspektive auf Jesu Zeithorizont, die sehr viel kontextgebundener ist und Alltagsnähe besitzt.62 Im Hinabtauchen in das erzählte Geschehen und seiner konkreten Kontexte wurde bspw. spürbar, dass Petrus die Fußwaschung nicht nur aus Demut ablehnt, sondern die Situation auf Basis seiner Erfahrungen bei der Salbung fürchtet. Jesu Deutung der Salbung als Vorbereitung für sein Begräbnis lassen Petrus bei der eigenen Fußwaschung erschaudern. Er ist noch nicht bereit, sein Leben in der Liebe εἰς τέλος zu lassen, und wird es womöglich nie in dieser Radikalität sein. Die Figuren mit ihren jeweiligen Zeithorizonten treten mit Jesu Zeitorientierung in unmittelbaren Konflikt. Insbesondere seine Verzögerungen wirken nicht nur auf das Lesererleben, sondern in viel stärkerer Brisanz auf das Zeiterleben der Figuren. Die Verzögerungen werden nicht bloß inszeniert, um den Lesern aus sicherer Distanz genug Zeit und Muße zur Reflexion zur Verfügung zu stellen, sondern zeigen auch, wie dramatisch und nahezu unausführbar es sein kann, sich auf Jesu Zeitorientierung einzulassen, und wie tief unsere Lebensvollzüge eigentlich in den linearen und zyklischen Zeitstrukturen verankert sind. Die Figuren erleben die Auswirkungen der neuen Zeitorientierung physisch. Nur in der Immersion in ihr Erleben ist uns als Spätgeborene diese Konfrontation zwischen regelmäßigen Zeitrhythmen und der Dynamisierung der Zeit durch Jesu Hingabe seines eigenen Lebens überhaupt möglich. Glauben wird nicht durch die abstrakte Darstellung des Kreuzigungsgeschehens hervorgerufen, sondern durch die Schilderung in einer lebhaften Geschichte. Bei diesem Wiedererleben spielt der Paraklet eine entscheidende Rolle. Je weiter wir uns vom Kreuzesgeschehen wegbewegen, je geregelter und selbstverständlicher dessen Reinszenierung im jährlichen Passions- und Osterzyklus ist, desto weniger können wir das dynamische, aufbrechende, durchkreuzende Element des Kreuzesgeschehens wahrnehmen. Der Paraklet bürgt nun einerseits für die nicht abbrechende Beziehung Jesu zu den Seinen trotz seines Todesleidens bzw. durch es hindurch. Andererseits überbrückt der Paraklet den Abstand zwischen der nachträglichen Reflexion und den zu reflektierten Ereignissen durch Zeugnis, Erinnerung und Unterweisung (Joh 15,26; 16,7–11). Er 62 Darin steckt außerdem eine theologische Aussage: Die Wirkung der integralen Stunde von Kreuzigung und Leben, die die linearen Zeitabläufe dynamisiert, kann in ihrer Wirkung nicht linear auf diejenigen begrenzt werden, die nach Ostern stehen, sondern sie entfaltet ihre Wirkung ebenso auf alle vergangenen Generationen zurück.
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VI. Ergebnisse
ruft in uns auch den neuen Zeithorizont der integralen Stunde wach, der immer wieder in den linearen Bezügen unterzugehend droht. 63 Ingolf Dalferth weist darauf hin, dass die entscheidende qualitative Unterscheidung zwischen Alter und Neuer Zeit der christlichen Zeitorientierung bisweilen hinter der quantitativ-kontinuierlichen Zeitrechnung im Epochennebeneinander (vor und nach Christi Geburt) zu verschwinden droht.64 Nur im Erleben der Zeitkonflikte und im lebendigen Nachvollzug der radikalen Neuordnung der Zeit auch durch die Zeugnis- und Erinnerungsarbeit des Parakleten und die lebhafte Evangeliumserzählung haben wir eine Chance, aus den überlagernden, linearen Rhythmen aufzutauchen. Aus der genauen Beobachtung des Figurengeschehens heraus wird erkennbar, dass der arabesque, psychagogische Effekt, den Harold Attridge für das JohEv insgesamt beschrieben hat, sowohl auf Leserebene als auch auf Ebene des erzählten Geschehens wirkt. 65 Die Figuren sind demnach auch insofern ‚Vorreiter‘, als sie unterschiedliche Möglichkeiten erproben, mit den Rätseln, Verzögerungen und Durchbrechungen der Linearität umzugehen. Beide, die Erzählfiguren und die Leser der Erzählung, haben eine Art ‚Vorsprung‘ gegenüber dem jeweils Anderen. Die Figuren können als ‚Zeit-‘ oder ‚Augenzeugen‘ verstanden werden, insofern sie besonders nah am Geschehen und dem Ursprung der Zeitdynamisierung stehen. Die Leser wiederum verfügen über Distanz und Interpretationsschlüssel zur Erzählung. Ziel muss es sein, eine Balance zwischen beiden ‚Sehpunkten‘ zu finden, der Situationsnähe und der notwendigen Distanz. Denn weder garantiert Augenzeugenschaft Erkenntnis: 66 Die Juden suchen Jesus und finden ihn nicht, obwohl er immer wieder nach Jerusalem zu ihnen kommt. Noch erwirkt der Besitz eines Deutungsschlüssels unmittelbar den Glauben an das Ausgedeutete und die Evidenz der sich daraus ergebenden, veränderten Lebensvollzüge. Es kann schlussendlich weder um eine ‚Copy-Paste‘-Imitation Christi gehen, noch um eine ‚Copy-Paste‘-Imitation der Charaktere, sondern um das Finden eines eigenen Zugangs zum Christusgeschehen und des darin dynamisierten Zeithorizonts als Orientierung für das eigene Leben. Es steht in Aussicht, dass der Leser durch das Figurenerleben hindurch zu einem besseren Umgang mit den eigenen Zeitrhythmen und deren Konfliktpunkten mit dem temporalen Brennpunkt der Stunde gelangt.
63 Vgl. HAYS, The Moral Vision of the New Testament, 1996, 155: „the presence of the Paraclete to guide the community of believers provides comfort and moral confidence for the community [...] the Spirit continues to reaffirm the life-giving power of Jesus“. 64 Vgl. DALFERTH, Gott und Zeit, 1994, 22. 65 Vgl. ATTRIDGE, The Gospel of John: Genre Matters?, 2015, 40–44. 66 Kritische Rückfragen zur Verlässlichkeit und zum Erkenntnisvorsprung von Augenzeugen stellt ZIMMERMANN, Augenzeugenschaft, 2015, 224–234.
7. Exegetische Impulse für die Ethiktheorie
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7. Exegetische Impulse für die allgemeine (Zeit-)Ethiktheorie 7. Exegetische Impulse für die Ethiktheorie
Welche Impulse ergeben sich aus den exegetischen Beobachtungen für die Ethiktheorie? Die exegetischen Ergebnisse dieser Studie setzen für die allgemeine Ethiktheorie Impulse in drei Richtungen: (1) Die Beobachtungen am erzählten Geschehen des JohEvs können wichtige Hinweise auf die Bedeutung von Zeit für menschliche Lebensweisen und deren ethische Reflexion und Bewertung geben. Die exegetische Analyse der Zeitbehandlung im JohEv hat auf Ebene des erzählten Geschehens, insbesondere im Rahmen einer Vielzahl inszenierter Zeitkonflikte zwischen den Figuren deutlich gemacht, dass Zeit für menschliche Interaktionen von grundsätzlicher Relevanz ist. Mittels komplexer narrativer Techniken zur textlichen Evokation von Zeit (auf semantischer, grammatischer und chronologischer Ebene) gelingt es der Erzählung des JohEvs, auf unterschiedliche, leitende Zeitorientierungen aufmerksam zu machen. Die Interagenten des JohEvs richten ihre Handlungen an rituellen Festzeiten und Sabbatgeboten, erfahrungs- oder traditionsbasierten Erwartungen wie Messias-, Gerichts- und Auferstehungserwartungen, an Festkonventionen, politischen Opportunitäten, ökonomischen Investitionszeiten, an hierarchischen Zeitregimen und im Besonderen an der endlichen Lebenszeit aus. Diese Zeitnormen beeinflussen einerseits Zeitpunkt, Zeitdauer und Reihenfolge, andererseits aber auch den Inhalt ihrer Handlungen. Die unterschiedlichen Zeitnormen können mitunter in Kombination auftreten, sie können unterschiedlich priorisiert und hierarchisiert werden, sie führen sowohl interpersonal als auch intrapersonal zu Konflikten. (2) Die Beobachtungen an der Geschehenskonfiguration des JohEvs machen auf die besondere Eignung von Erzählungen als Medium für die Einübung von Zeitkompetenz aufmerksam. Erzählungen wie das JohEv stellen aufgrund ihrer nicht notwendigerweise anisotropen Anordnung von Handlungen und Ereignissen, aufgrund ihrer grundsätzlichen Linearität mit gleichzeitiger Offenheit für Umwege und Abweichung und aufgrund ihrer mannigfachen Techniken zur Evokation von Zeit in der Wahrnehmung des Lesers ein optimales Forschungsfeld für den Zusammenhang von Zeit und Ethik dar. Wir erinnern uns an die Beschreibung dieser besonderen Disposition von Erzähltexten durch Nadine Benz: „Der literarische Text kann Zeiterfahrung auf vielerlei, nicht notwendig lineare bzw. kontinuierliche Weise stiften. Er strukturiert und rhythmisiert Zeit und konstituiert so die Möglichkeit einer rezeptiven Zeiterfahrung, die in empirischen Studien nicht repräsentiert werden könnte. Der literarische Text greift auf menschliche Zeiterfahrung zurück und vermag sie zugleich zu modifizieren. Aus diesem Grund stellt die Literatur ein besonders fruchtbares
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VI. Ergebnisse
›Korpus‹ dar, ein Laboratorium, um die bis heute bestehenden Aporien der Zeit zu diskutieren und in ihrer ästhetischen Erscheinung zu analysieren.“67
Im Zuge der dreifachen Ricœur’schen Mimesis 68 nimmt der Erzähltext Anhalt an tatsächlichen Zeiterfahrung und steht damit in der Nähe zu unseren tatsächlichen Lebens- und Handlungsumständen. Er kann diese sodann kreativ konfigurieren, indem er bekannte Zeitnormen aufgreift, sie aber unterschiedlichen Figuren zuschreibt, verschiedentlich kombiniert und in Konflikt treten lässt. Dabei kann er mitunter auch durch Bewertungen auf der Figurenebene oder Bewertungslenkungen auf der Ebene der Darstellung den relativen Wert oder Unwert von unterschiedlichen Zeitnormen reflektieren. Narrationen bieten sich deshalb, so das Ergebnis dieser Studie, grundsätzlich als ethisches Laboratorium einer zeitsensiblen Ethik an, da unterschiedliche Zeitnormen vom Leser wahrgenommen, ‚im Trockenen‘ ausprobiert, reflektiert und bewertet und ggf. in das eigene Leben ‚refiguriert‘ werden können, um schlussendlich zu einer besseren Zeitkompetenz zu gelangen. Insbesondere die rezipierende Teilnahme an verschiedenen Zeitkonflikten lässt den Leser die Auswirkungen der leitenden Zeitnormen erleben und für sich in ihren Begrenzungen und Möglichkeiten evaluieren. Die gewünschte Zeitkompetenz oder vielleicht eher -geschicklichkeit besteht im Wesentlichen auch daraus, die Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und deren Manifestationen in konkreten Zeitnormen in ein positives Verhältnis zueinander zu setzen. Der Erzähltext des JohEvs verspricht dabei einen besonderen Erkenntniswert, weil hier neben den ‚selbstverständlichen‘ Zeitnormen eine Zeitorientierung sichtbar wird, die die Zeitnormen des Alltags in ihrer Beschränkung offenzulegen und zu transzendieren weiß und das fundamentale ethische Problem der Endlichkeit des menschlichen Lebens neu einordnen lässt. In ihrer überwiegend linearen oder zyklischen Struktur haben die von den Figuren übernommenen Zeitnormen v.a. begrenzende Wirkung. Sie begrenzen den jeweiligen Handlungsspielraum und können allein dadurch zu neuen Hand-
67 BENZ, (Erzählte) Zeit des Wartens, 2013, 17. In Anwendung auf den Text des JohEvs vgl. ferner BRANT, John Among the Ancient Novels, 2015, 165f. in ihrer Beschreibung des novellistischen Charakters des JohEvs: „Aspects of the Gospel’s emplotment of events, subjective experience of time, layers of time, and unfolding present, push the description closer to that of the novel. The novel is different from the biography, not because it is about a fictional person – the Alexander Romance proves this not to be true – but because it is freed from the tempo of historical time, the retrospective narrative of a life ended, a story already complete, to the time of experience, to the passage of time moving forward that is individual rather than historical.“ 68 Die dreifache Mimesis, bestehend aus Präfiguration, Konfiguration und Refiguration, ist im theoretischen Teil III der Arbeit unter 1.1 Narrative Versprachlichung von Zeiterfahrungen (Hermeneutik) ausführlich vorgestellt worden.
7. Exegetische Impulse für die Ethiktheorie
445
lungsevidenzen führen. Demgegenüber steht die dynamisch strukturierte Zeitorientierung Jesu an der integralen Stunde von Kreuzesschande und Verherrlichung. Diese abweichend organisierte ‚Zeitnorm‘ führt, wie die exegetischen Beobachtungen zeigen, nicht zur Begrenzung, sondern im Gegenteil zur Öffnung des Handlungsspielraums und zu einer neuen Sensibilität für die Gunst der Stunde. Der Erzähltext des JohEvs zeichnet sich auch dadurch als Laboratorium der Ethik aus, dass er den Lesern Angebote zum Umgang mit Zeit unterbreitet, das Problem des Verhältnisses von Zeit und Ethik aber nicht systematisch und prinzipiell für sie löst. Er lässt den Leser die Komplexität des ethischen Verhältnisses von Zeitnormen und Lebensweisen wahrnehmen und lädt ihn dazu ein, es für sich selbst, bestenfalls in der Begegnung mit dem gekreuzigten und verherrlichten Christus zu bestimmen. 69 (3) Das Medium der Erzählung, speziell das JohEv, hat gezeigt, dass Erwartungsbrüche als temporale Triebfeder ethischer Reflexionen fungieren. Das JohEv entwickelt ein bedeutsames Spiel aus Variation und Redundanz, Evokation von Erwartungen und deren Bruch, sowohl auf Ebene des Geschehens (durch Jesu Aufgreifen von Traditionen, Erwartungen und Zeitnormen und deren sukzessive Aufhebung), als auch auf Ebene der Narration (durch das inter-, intra- und extratextuelle Spiel mit Erwartungen). Dabei wird deutlich, dass Erwartungsbrüche zwar zu einer gedehnten Zeitwahrnehmung führen und mitunter ein Gefühl der Langwierigkeit und Ineffizienz, teilweise auch der Ungeduld hervorrufen, dass aus diesen Umwegen aber besondere Bedeutsamkeit erwächst. Die Ökonomisierung der Werturteile durch unterkomplexe und starre Rubrizierungen wird mit dem Einsatz von gezielten Irritationen durchbrochen. Die Irritationen und Umwege wirken aber nur im Ausgang vom bereits Bekannten bedeutsam. Zu viele Abweichungen vom Generalschema gefährden den Relevanzindex und damit die erwünschte Aufmerksamkeit des Empfängers, zu wenige gleichermaßen. 70 In der Distanz zu und im Umweg um die bekannten Urteilskategorien werden dann ethische Reflexionen angetrieben, die zum einen die Situationen, zum anderen deren Handlungsmöglichkeiten neu wahrnehmen und einschätzen lehren.
69
Vgl. ATTRIDGE, The Gospel of John: Genre Matters?, 2015, 42f.: „The text offers suggestions about how those theoretical uses are to be resolved, but does not offer an argument that definitively resolves them [...] While it does not argue a case, it does lead readers to consider the complexity of certain issues and thus serves as a kind of psychagogic program, always keeping the theoretical questions subordinated to the effort to facilitate an encounter of the reader and the crucified and glorified Christ.“ 70 Vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, 32013, 39. P. Ricœur beschreibt den Relevanzindex als „geregelte Deformation“ (RICŒUR, Zeit und Erzählung I, 1988, 310).
446
VI. Ergebnisse
8. Exegetische Impulse für eine theologische Zeitethik 8. Exegetische Impulse für eine theologische Ethik
Welche Impulse ergeben sich aus den exegetischen Beobachtungen für eine zeitsensible theologische Ethik? Aus der existentiellen Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik im theoretischen Teil III der Arbeit sind zwei Anfragen an eine zeitsensible theologische Ethik hervorgegangen: (1) Wie kann der Mensch von seinem existentiellen Rechtfertigungszwang im Blick auf die begrenzte Lebenszeit entlastet werden, ohne ihn damit gleich schon seiner jeweiligen praktischen Verantwortlichkeit zu entledigen? (2) Wie gelangt der Mensch zu einem Gefühl von Rechtzeitigkeit, sowohl was seine einzelnen Handlungen, als auch was seinen übergreifenden Lebenszusammenhang betrifft? Der Rechtfertigungszwang – wir rekapitulieren die These aus dem Theoriekapitel III 3.5 – entsteht dadurch, dass der Mensch aus dem Missverhältnis von irreversiblem Zeitverlust und exponentiellem Möglichkeitsgewinn heraus zur Annahme gelangt, nur das Ergreifen sämtlicher (bzw. ausschließlich ‚richtiger‘) Wahlmöglichkeiten verleihe ihm Daseinskontrolle und -berechtigung. Das Zeitproblem der ungeheuren Diskrepanz zwischen Lebenszeit und Weltzeit, welches ethische Reflexion überhaupt erst nötig macht ist, so haben wir gefolgert, eng mit einem Sinnproblem verbunden. Sich auf das ‚Schicksal‘ oder die göttliche Vorherbestimmung zu retten, die aus den biblischen Texten erhoben wurde und wird, reicht als exegetisches Manöver mitnichten aus. Ein Rückzug auf die göttliche oder natürliche Determination unserer Handlungsentscheidungen unter Ausschluss jeglichen Freiheitsbegriffs wäre auch insofern fatal, als damit das Verantwortungsgerüst zusammenbricht und zugleich der Ethik der Boden unter den Füßen entzogen wird. Selbst wenn die Annahme eines unfreien Willens heute teilweise schon von den Naturwissenschaften mit Hinweis auf die komplexen neuronalen Prozesse oder die psychologische Motivik rund um die Entscheidungsfindung akkreditiert wird,71 fühlt sich der Mensch immer noch entscheidungsfrei,72 will und 71
Vgl. ROTH, Verantwortung, Determinismus und Indeterminismus, 2017, 298–306. Nach G. Roth gibt es drei Faktoren, die die dem Menschen zumindest das Gefühl von Willensfreiheit vermitteln: (1) der Erlebniszustand im Rahmen eines Konflikts divergenter Handlungsmotive. Damit ist „ein energetischer, das Spektrum möglicher Handlungen einschränkender und fokussierender psychischer Zustand“ angesprochen, „ der dann eintritt, wenn bestimmten Handlungsmotiven starke entgegengesetzte Motive gegenüberstehen“; (2) die Annahme einer Kohärenz von Wollen und Tun. Aus dem zeitlichen Nacheinander von Wollen und Tun folgere der Mensch eine direkte Beeinflussung seines Tuns durch sein Wollen; umgekehrt habe der Mensch einen „Zwang zur Konsistenz von Absicht und Handlung“, unter dessen Einfluss er seine Handlungen häufig nachträglich auf sein Wollen zurückführe; (3) die Vorstellung von einer offenen Zukunft, insofern „uns im gegenwärtigen Augenblick 72
8. Exegetische Impulse für eine theologische Ethik
447
soll es im Blick auf sein Verantwortungsgefühl auch bleiben. Determinismus schließt Handlungsfreiheit auch nicht grundsätzlich aus, sondern ist durchaus mir ihr kompatibel.73 „Von Freiheit sprechen wir“ mit Michael Roth, „wenn unserer Handlung sich unseren Wünschen und Motiven verdankt und weder Resultat von Zwang noch Zufall ist.“ 74 Die Motive unserer Willensakte sind wiederum von unseren Bedürfnissen, Sehnsüchten und Gefühlen bedingt, die uns eine Grundrichtung ‚vorgeben‘ bzw. ein „fundamentales Aussein-auf“75 ausmachen. Das „fundamentale Aussein-auf“ geht jedoch nicht auf unsere freie Entscheidung zurück, sondern entsteht im Horizont des „Abwägens, in dem sich das herrschende Motiv durchsetzt.“ 76 Das Problem von Willensfreiheit, Determinismus und Verantwortung kann an dieser Stelle nicht in seinem vollen Umfang ausgerollt werden. Vielmehr wird ein bescheidener Beitrag der Johannesexegese zu jenem Abwägen geleistet, in dessen Horizont sich das „fundamentale Aussein-auf“ einstellen oder jedenfalls modifizieren lassen könnte. Außerdem soll der Zusammenhang dieses joh. „Ausseins-auf“ mit der praktischen Verantwortung des Menschen zusammengebracht werden. Der Zeithorizont des JohEvs löst das Problem des Lebenszeitmangels und der eigenen Rechtfertigungsnot, indem es eine alternative Ausrichtung des eigenen Lebens vorschlägt. Nicht das Gericht und die eigene Gerechtsprechung am letzten Tag dienen der Ethik des JohEvs als Motivationsgarant, sondern die Ausrichtung an der Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung. Diese zeichnet sich durch Jesu liebende Hingabe seines eigenen Lebens, durch seine Beziehungstreue bis in den Abbruch aller Beziehungen hinein aus. Der Lebenszeitmangel wird dementsprechend nicht durch die Hoffnung auf zukünftige Retribution und Rechtfertigung der eigenen Taten und Handlungsentscheidungen bewältigt (eschatologische Gerichtsvorstellungen), auch nicht durch die Teilhabe am Leben anderer kompensiert (Odo Marquard),77 sondern durch die Hingabe des eigenen Lebens für den Anderen und die darin erhaltene Lebensfülle aufgehoben. In der Verschwendung der eigenen Zeit für den Anderen entsteht eine neue Fülle der Zeit abseits linearer Zeitökonomisierungen und kalkulierter Einsparungen von Uhrenzeit. Diese abweichende Zeitorientierung sagt zugleich etwas über die bleibende Verantwortung des Menschen in der Welt aus. Indem der Mensch seine Zeit noch nicht festgelegt erscheint, was wir in der Zukunft tun werden.“ Die Annahme einer offenen Zukunft habe jedoch eigentlich nur mit der Komplexität neuronaler Prozesse zu tun, die zwar absolut determiniert, aber (noch) nicht vollständig nachrechenbar seien (vgl. a.a.O., 300). 73 Vgl. ROTH, Willensfreiheit?, 2011, 55. 74 A.a.O., 65. 75 Formulierung von R. Spaemann, zitiert nach a.a.O., 63. 76 Ebd. 77 Vgl. MARQUARD, Zeit und Endlichkeit, 2015, 231.
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VI. Ergebnisse
für den Anderen ‚verschwendet‘ (oder nach neuer Zeitorientierung viel eher gewinnbringend investiert), bleibt er ihm keine Antworten schuldig. Seine eigene Zeit für den Anderen hinzugeben ist bereits eine von tiefer Responsibilität und Relationalität durchdrungene Haltung zum Mitmenschen. Dieses ganz grundlegende Verständnis von Verantwortung i.S. der kontinuierlichen Antwortbereitschaft muss nicht von vornherein mit Begriffen von Schuld, Strafe und deren Zurechenbarkeit belastet werden, wie die neuzeitliche Begriffsgeschichte es uns vorgegeben hat.78 Jene strafrechtliche Bestimmung von Verantwortung i.S. des Alternativismus (die Annahme eines faktischen Andershandeln-Könnens des Täters zum Zeitpunkt der Tat) ist nach Gerhard Roth auch nicht mit den Erkenntnissen der Neurobiologie und Psychologie über die menschliche Entscheidungsfindung vereinbar.79 Auf Basis jener naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ist die Voraussetzung für Verantwortlichkeit nicht die Möglichkeit, aus freiem Willen anders handeln zu können, 80 sondern vielmehr „erstens die Fähigkeit, die für eine bestehende Situation geltende Verhaltensnorm zu erkennen, und zweitens diese Kenntnis bzw. Einsicht in das eigene Verhalten einfließen lassen zu können.“ 81 Oder theologisch gewendet: Verantwortung in ihrer grundlegendsten Form wird dadurch vorausgesetzt, dass erstens die für jeden Lebensvollzug bestehende Zeitnorm erkannt wird, nämlich dass die Hingabe der eigenen Lebenszeit für den Anderen eine Fülle der Zeit hervorbringt. Die zweite Voraussetzung ist es, diese Einsicht in das eigene Verhalten einfließen lassen zu können, sie zu internalisieren. Die Fähigkeit, sich auf jene Zeitorientierung einzulassen, die uns das JohEv präsentiert, einwickeln wir im letzten Grunde jedoch nicht auf Basis von logischen Gründen und empirischen Evidenzen oder schlicht dem Gebot zu lieben. „Zeitfragen sind also auch Glaubensfragen“ 82, wie Georg Horntrich feststellt. Dass in der Hingabe der eigenen Lebenszeit die Zeit zur Erfüllung kommt, wird v.a. im Vertrauen darauf plausibel, dass Jesu Festhalten an der Liebe bis in das Ende hinein tatsächlich neue Lebensfülle hervorgebracht hat. Der Verantwortungsbegriff jenseits von Strafe und Schuldzurechnung ist nur dann durchhaltbar, wenn im Blick auf und im Glauben an das Kreuzesgeschehen Schuldzuschreibungen, strafende Retribution und Rechtfertigungsmaßnahmen (zumindest außerhalb des staatlichen Rechtssystems) verzichtbar erscheinen. Damit soll die Möglichkeit, (auch theologisch) schuldig zu werden, keinesfalls verleugnet oder die eigene Schuldhaftigkeit ignoriert werden. Vielmehr ist diesem 78 Vgl. FONNESU, Der Begriff der Verantwortung in der Neuzeit und in der Aufklärung, 2017, 113. 79 Vgl. ROTH, Verantwortung, Determinismus und Indeterminismus, 2017, 307f. 80 Dass die grundsätzliche Möglichkeit, anders handeln zu können, keinesfalls deterministischen Vorstellungen widerspricht und das Ergreifen von Handlungsalternativen per se noch keine Willensfreiheit begründen, betont ROTH, Willensfreiheit?, 2011, 14f. 81 ROTH, Verantwortung, Determinismus und Indeterminismus, 2017, 311. 82 HORNTRICH, Gut in der Zeit, 2003, 339.
8. Exegetische Impulse für eine theologische Ethik
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Verantwortungsbegriff daran gelegen, nicht das ganze Leben an der eigenen Rechtfertigung oder an fremden Schuldzuweisung auszurichten und darauf die eigene Daseinsberechtigung zu stützen. 83 Dass Gott seinen eigenen Sohn in die Begrenzung der Zeit gesandt hat, dass er die Endlichkeit am eigenen Leib erlitten hat, dass er die Todesverlassenheit und Ausgrenzung aus dem Leben durch seine ewige Liebe überwunden hat, gibt uns glaubhaft Anlass dazu, auch in der Todesbedrohung noch auf Gottes schöpferische Macht zu zählen. Sie kann den erbarmungslosen Fluss der Zeit sowohl während als auch am Ende eines jeden einzelnen Lebens erbarmungsvoll in die göttliche Ewigkeit hinein aufheben. In der lebhaften Erzählung des JohEv wird diese entgrenzende göttlichen Liebe erfahrbar. Damit ist letztlich auch schon die zweite Anfrage an eine theologische Ethik beantwortet: Wie gelangt der Mensch zu einem Gefühl von Rechtzeitigkeit, sowohl was seine einzelnen Handlungen, als auch was seinen übergreifenden Lebenszusammenhang betrifft? Rechtzeitig handelt, wer nach Christi Vorbild seine Lebenszeit nicht dazu einsetzt, andere zu überholen und abzuhängen, sondern sie für den Anderen und dessen Integration in die Gemeinschaft hingibt. Wir leben rechtzeitig, wenn wir durch unser Festhalten an zwischengeschöpflichen Beziehungen und durch unsere grundsätzliche Antwortbereitschaft die ewige Gemeinschaft des Schöpfers mit seiner Schöpfung abbilden und so „Verbindlichkeit in Vorläufigkeit“ 84 schaffen. Rechtzeitig vollziehen wir unser Leben nicht in der Hoffnung auf die positive Retribution unserer Taten am Ende unserer Lebenszeit bzw. am Ende der Weltzeit. Rechtzeitig vollziehen wir unser Leben auch nicht in der Hoffnung auf gegenwärtige Vergeltung unserer Zeitinvestitionen zugunsten unserer linearen Selbstvervollkommnung oder unseres ‚Weiterkommens‘ von einem Level zum nächsten. Rechtzeitig vollziehen wir unser Leben im Brennpunkt der Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung mit der Bereitschaft, jederzeit
83 Wie M. Roth in Anschluss F. Nietzsche feststellt, verdankt sich „[D]as Bedürfnis zu strafen [...] unserer mangelnden Empathie gegenüber Menschen und damit unserem mangelnden Verständnis für menschliche Taten“ (ROTH, Willensfreiheit?, 2011, 133). Die Zuspitzung des Verantwortungsbegriffs auf Willensfreiheit, Schuldzurechnung und Strafe steht demnach im Gegensatz zu der hier vorgeschlagenen Antwortfähigkeit in der Hingabe der eigenen Lebenszeit für den Anderen. Je mehr Zeit wir investieren, uns mit dem Menschen und seiner „Motivgeschichte“ auseinanderzusetzen, je mehr Zeit wir ihm einräumen, selbst Rede und Antwort zu stehen, desto verständlicher (und vorbeugbarer) wird seine Tat und desto weniger müssen wir vergelten (vgl. a.a.O., 134). Diese Art der Verantwortung kann insofern unangenehm werden, als wir bemerken, dass uns die Tat unter anderen Umständen durchaus auch selbst hätte passieren können. Wir können uns nicht mehr vollständig von ihr distanzieren, weil die Motive im Zweifel auch uns einsichtig und verständlich sind (vgl. a.a.O., 136f.). 84 MEESTERS, Zur Bedeutung des Faktors Zeit im Rahmen einer theologischen Ethik, 1981, 300.
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VI. Ergebnisse
unsere Lebenszeit für den Anderen hinzugeben, und in der Hoffnung auf eine daraus entstehende erfüllende Zeit.
9. Ausblick auf weitere Fragen 9. Ausblick auf weitere Fragen
Varianzen regen uns vor dem beruhigenden Hintergrund des redundanten Bekannten dazu an, neue Facetten wahrzunehmen. Sie regen uns dazu an, das Gewohnte zu hinterfragen und überhaupt neue Fragen zu stellen. Deshalb kann diese Studie auch nicht mit abschließenden Antworten auf die anfangs gestellten Forschungsfragen enden, sondern nur mit neuen (Rück-)Fragen das Gespräch eröffnen: (1) In welchem Verhältnis stehen die im JohEv inszenierten Zeitnormen zu gegenwärtigen Zeitnormen? Im Ergebnisteil ist bereits auf das von Assmann untersuchte moderne Zeitregime Bezug genommen worden. Über diesen kurzen Verweis hinaus wäre ein Vergleich der aus dem joh. Texten herausgearbeiteten Zeitnormen mit den Zeitnormen der modernen oder postmodernen Gesellschaft aufschlussreich. Haben sie eine ähnliche Struktur? Sind sie überwiegend zyklisch oder linear ausgerichtet? Wurde uns die lineare Zeit in all ihrer Unnachgiebigkeit erst und ausgerechnet von einer „protestantischen Ethik“ 85 mitsamt des Verbots der Zeitverschwendung und des Gebots der Effizienz aufgezwungen? 86 Wo sind die inhaltlichen Abweichungen zwischen joh. inszenierten und modernen Zeitnormen? Verlieren religiös-rituelle Zeitnormen und Jenseitserwartungen tatsächlich an Relevanz für den (post-)modernen Menschen? Gibt es Surrogate? In einem Interview mit der ZEIT hat der emeritierte Professor für Wirtschaftspädagogik Karlheinz Geißler folgende Beobachtung getroffen: „Da heute immer weniger Menschen an das Jenseits oder die Wiedergeburt glauben, verschwindet auch die Hoffnung, Dinge im nächsten Leben anders oder besser machen zu können. ‚Du lebst nur einmal‘ ist das Motto des modernen Menschen, und er ahnt, dass er alles, was er erledigen will, in seine 70, 80, 90 Jahre Lebenszeit pressen muss.“ 87
Die Zeitnormen der Moderne überlappen sich demnach mit den beobachteten Zeitnormen der joh. Figuren, was die Virulenz der Lebenszeitbegrenzung, nicht aber was den Umgang damit angeht. Die joh. Figuren reagieren mit tra-
85
Vgl. die aufschlussreiche Nachzeichnung einer protestantischen (Zeit-)Ethik durch WEBER, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 2016 (1904–1905), 143f. 86 Vgl. ROSA, Beschleunigung, 102014, 282. 87 COEN/STEPHAN, »Uhren sind moderne Diktatoren«, 2. Ausgabe vom 5. Januar 2017, 16.
9. Ausblick auf weitere Fragen
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ditionellen Auferstehungs-, Gerichts- und Messiaserwartungen auf Bedrohungen. Der joh. Jesus entwirft jedoch bereits eine abweichende Strategie: Nicht die Jenseitsvertröstung kompensiert den Zeitmangel, sondern die Hingabe der Zeit für den Anderen bringt eine erfüllende Zeit. Der Lösungsvorschlag der Moderne steht im diametralen Gegensatz dazu. Hartmut Rosa analysiert: „Wer unendlich schnell wird, braucht den Tod als Optionenvernichter nicht mehr zu fürchten.“88 Ist Beschleunigung zum neuen Heilmittel gegen Lebenszeitmangel geworden? Ökonomische und politische Opportunitäten spielen sicherlich in allen Gesellschaften eine Rolle. Die Wachstums- und Profitfanatismen der westlichen Gesellschaft werfen jedoch die Frage auf, ob der ökonomische Zwang in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen möglicherweise die Funktion des Brennpunkts aller anderen Zeitorientierungen übernommen hat (Stichwort ‚Temponomie‘)? Nicht nur der synchrone, auch der diachrone Vergleich von Zeitnormen in unterschiedlichen Kulturkreisen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, könnte insbesondere für politische Mediationsprozesse und Entwicklungszusammenarbeit aufschlussreich sein. Warum lebt man, überspitzt gesagt, im Norden strikter nach der linearen Uhrenzeit als im Süden und wie wirkt sich das auf politische Konflikte aus? 89 Welche Rolle spielen erfahrungs- und traditionsbasierte Erwartungen noch in der modernen Gesellschaft? Charakteristikum des modernen Zeitregimes ist es Assmanns Analyse zufolge, dass die Vergangenheit mit allerlei (epochalen) Zäsuren, so gut es geht, von der Gegenwart abgeschnitten wird,90 jene nur noch in Archiven und Museen konserviert wird.91 Neben der bereits besprochenen Fiktion des Anfangs und der Beschleunigung erkennt sie auch in der „kreativen Zerstörung“ einen Aspekt des neuen Zeitregimes: der radikale Bruch mit dem Alten, um Neues erschaffen zu können. 92 Darin erkennen wir Parallelen zu unseren Überlegungen über den Erwartungsbruch als temporale Triebfeder ethischer Reflexion, über die Notwendigkeit der Varianz, um Bedeutung zu generieren. Wir erinnern aber auch daran, dass die vom JohEv angebotene Varianz nicht ohne Redundanz auskommt. Sie will Altes nicht ganz abschneiden, gar zerstören, sondern den unhinterfragten und entsolidarisierenden Strom der Zeit, ob nach vorne oder im Kreis, pausieren, um Zeit für andere zu gewähren.
88
ROSA, Beschleunigung, 102014, 292. Für einen literaturwissenschaftlichen Vergleich der diachronen Art würde sich – auch aufgrund des andienlichen Verhältnisses von Redundanz und Varianz zum JohEv –z.B. die Arbeit von ZIOLKOWSKI, Hesitant Heroes, 2004 anbieten. 90 Vgl. ASSMANN, Ist die Zeit aus den Fugen?, 2013, 132–148. 91 Vgl. a.a.O., 179–183. 92 Vgl. a.a.O., 174–178. 89
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VI. Ergebnisse
Diese zentripetale Dynamik von Varianz und Redundanz steht also im Gegensatz zur zentrifugalen Kraft der zyklischen Zeit oder zum rücksichtslosen Ruck nach vorne. Dass viele der Schlussfolgerungen der hiesigen Studie aus dem joh. Textbestand bereits vor dem Horizont der gegenwärtigen Zeitregime getroffen wurden, lässt sich nicht abstreiten. Das moderne Regiment der linearen Zeitabläufe ist allerdings erst in der Auseinandersetzung mit den joh. Zeitinszenierungen derart intensiv wahrnehmbar geworden. Darüber hinaus sind im Ringen mit den bisweilen so fremd wirkenden Zeithorizonten des JohEvs die Möglichkeit und Richtung der Kritik an jenen linearen Zeitnormen angelegt und geformt worden. Man kann das als hermeneutischen Zirkel bezeichnen. Ich erkenne darin einen produktiven Aushandlungsprozess, in welchen jeder Leser und Exeget mit seiner ganzen Person, also auch seinen Denk- und Lebenskontexten eintritt, um in der Konfrontation mit den fremden Abläufen und deren Brüchen neue Impulse für die eigenen gewohnten Denk- und Handlungsschemata mitzunehmen. Auf diese Weise wurde die joh. Erzählung zum persönlichen Laboratorium des zeitethischen Urteilens. (2) Wie können die im JohEv inszenierten Zeitnormen mit anderen biblisch inszenierten Zeitnormen zusammengebracht werden? Die festgestellte Besonderheit der joh. Zeitmodulation, nämlich ihre Ausrichtung an der Stunde der Kreuzesschande und Verherrlichung statt am letzten Tag des Gerichts, weist bereits darauf hin, dass andere ntl. Texte auch andere Zeitausrichtungen inszenieren und repräsentieren können. Muss und kann man diese unterschiedlichen ntl. Zeithorizonte harmonisieren und integrieren oder kann man sie gar produktiv miteinander ins Gespräch bringen? Wie bezieht man die Dynamisierung der Zeit in der joh. Zeichnung bspw. auf das Zeitsystem des LkEvs, das alles akribisch der Reihe nach aufzuschreiben gedenkt (Lk 1,3: ἀκριβῶς καθεξῆς σοι γράψαι),93 dabei unterschiedliche heilsgeschichtliche Stadien markiert (Lk 16,16) und den göttlichen festgelegten Heilsplan (δεῖ) betont? Wie steht die joh. Orientierung an der Stunde zu den lebhaft geschilderten Gerichtsvorstellungen im MtEv (Mt 16,27; 25,14–46) und dessen Aufruf zu Wachsamkeit angesichts der Plötzlichkeit des Tag des Herren (Mt 24,32– 25,13)? Weshalb kann der mk. Jesus schon zu Beginn seines Wirkens in Galiläa davon sprechen, dass die Zeit erfüllt und das Reich Gottes herbeigekommen ist (Mk 1,15), obwohl sich seine Offenbarung als Sohn Gottes (abgesehenen von den Bekenntnissen der Besessenen in Mk 3,11; 5,7) bis ans Kreuz hinauszögert (Mk 15,39)? Welche Zeitkonflikte werden in den übrigen Evangelien
93 Das Adverb ἀκριβῶς kann sowohl zum ersten Teil des Satzes (παρηκολουθηκότι ἄνωθεν πᾶσιν ἀκριβῶς | nachdem ich alles von Anfang an akribisch erkundet habe), als auch zum zweiten Satzteil (ἀκριβῶς καθεξῆς σοι γράψαι | in guter Ordnung akribisch aufzuschreiben) gezählt werden.
9. Ausblick auf weitere Fragen
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inszeniert? Gibt es weitere Zeitnormen, auf die die mk. | mt. | lk. Figuren aufmerksam machen? Wie reagiert der mk. | mt. | lk. Jesus jeweils auf diese Zeitnormen? Auch über die Erzählliteratur der Evangelien hinaus könnte nach Zeitnormen Ausschau gehalten werden. Lesen wir in Röm 12,11 die Unterweisung Dient dem Kyrios (τῷ κυρίῳ δουλεύοντες), oder (wie von einigen Handschriften abweichend bezeugt) Dient dem Ka iro s (τῷ κ α ι ρῷ δουλεύοντες) und wie würde man nach paulinischer Theologie dem Kairos richtig dienen? Welche Rolle spielt die Naherwartung (1 Thess 4,15–18; 1 Kor 16,22; Röm 13,11–14; Phil 4,5) und der (deutero-)paulinische Aufruf zur Geduld (ὑπομονή in Röm 8,25; 15,4f.; vgl. auch Röm 5,3f.; 1 Thess 1,3; 2 Thess 1,4; 3 Kol 1,11; 2 Kor 1,6; 6,4; 1 Tim 6,11; Tit 2,2) bzw. die (deutero-)paulinischen Beschreibungen von Christi oder Gottes Geduld und Langmut (ἀνοχή, μακροθυμία in Röm 2,4; 9,22; 2 Thess 3,5; 1 Tim 1,16) für die Ethik? Hat die Rettung aus der Todesgefahr (2 Kor 1,8–10) den Umgang des Paulus mit dem eigenen Tod und seinen Blick auf die Parusie verstellt (Phil 1,23)? Welche Rolle spielt der böse Widersacher, der das Kommen Christi verzögert, für die Ethik (2 Thes 2,1–12)? Ferner könnte auch eine Untersuchung der (End-)Zeitstrukturierungen der Offenbarung im Abgleich mit den joh. Zeitmodulationen wichtige Einsichten zur ntl. Verhältnisbestimmung von Zeit und Ethik bringen. (3) Welche neuen Perspektiven ergeben sich entlang der joh. Zeitorientierung für moderne Bildungsprozesse? Die joh. Zeitkonflikte, insbesondere das Spiel mit Redundanz und Varianz, hat uns darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig Zeit für die Reflexion der eigenen Urteilskategorien und Wahrnehmungsraster ist. Unter Zeitdruck lässt sich wenig Neues sehen. Im Hinblick auf moderne Bildungsprozesse ließe sich fragen, ob wir Bildungsempfänger derzeit eigentlich zu zeitethisch ‚kompetenten‘ Mitgliedern der Gesellschaft erziehen. Moderne Bildungsprozesse leiden nämlich v.a. unter Zeitdruck. Im Mittelpunkt steht die fachbezogene Kompetenzaneignung/-erweiterung. Damit ist u.a. eine Ausrichtung des Lernens auf die „Bewältigung von Anforderungen“ unter Ausklammerung von „zunächst ungenutzte[m] Wissen“94 verbunden. Hier wird ein wichtiger Zeitfaktor angesprochen: Alles Wissen soll unmittelbar anwendbar und nutzbar sein. Wissensgegenstände zu hinterfragen lernen erfüllt dieses Nutzenkalkül freilich nicht, sondern steht ihm eher im Wege. So steht immer weniger das Verstehen und Hinterfragen von komplexen Funktionszusammenhängen im Mittelpunkt als das Funktionieren an sich. „Immer weniger Leute werden wissen, was sie tun,
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Kultusministerkonferenz, Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, 2005, unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/ 2004_ 12_16-Bildungsstandards-Konzeption-Entwicklung.pdf (abgerufen 06.02.2018), 16.
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VI. Ergebnisse
indem sie lernen, weshalb sie so tun“95, so die Beobachtung Hans Blumenbergs. Das Ergebnis, das Produkt, der Ertrag bestimmen das Sichtfeld. Ein empathisches Sehen als… i.S. des JohEvs ist hierbei kaum mehr möglich. Der Nobelpreisträger und Wirtschaftspsychologe Daniel Kahnemann hat in seinem einflussreichen Buch Thinking, Fast and Slow von 2011 die zwei temporalen Modi menschlichen Denkens für ein populärwissenschaftliches Publikum zugänglich gemacht. Er hat v.a. ins Bewusstsein gerufen, dass die meisten Handlungsentscheidungen unterbewusst und recht unhinterfragt getroffen werden. Das sog. „System 1“, das automatisch und v.a. schnell, mit wenig oder keiner Anstrengung und ohne Kontrolle durch das bewusste Wollen abläuft, 96 wird nur vom sog. „System 2“ gestört, „when an event is detected that violates the model of the world that System 1 maintains.“ 97 Das zweite System entspricht den Umwegen und Irritationen, die wir am Verhalten des joh. Jesus in seinen Begegnungen mit anderen Personen und deren Zeitnormen und Erfahrungshorizonten ablesen konnten. Seine Umwege bringen das Gegenüber jeweils dazu, neu über die Situation und ihre Handlungserfordernisse und auch über die eigenen (Zeit-)normen nachzudenken. Im Blick auf gegenwärtige Bildungsprozesse, sowohl im Zuge der sog. G8-Reform (Abitur nach der 12. Jahrgangsstufe) als auch des Bologna-Prozesses könnte neu gefragt werden, ob deren Richtlinien nicht zu stark an den Mechanismen von „System 1“ und zu wenig an der Stärkung von „System 2“ interessiert sind. Sollten neben der Philosophie nicht auch andere Fächer öfter Umwege einschlagen und Verfahren hinterfragen, um das „System 2“ zu trainieren?98 Die Ergebnisse der Untersuchung von Zeit und Ethik im JohEv haben jedenfalls darauf hingewiesen, dass das, was in der Philosophie mit jeweils unterschiedlicher Ausrichtung und Ausführung unter Epoché (Edmund Husserl),99 Voie Longue (Ricœur) 100 oder Nachdenklichkeit (Blumenberg) 101 95
BLUMENBERG, Aktualität der Rhetorik, 1996, 123. Vgl. KAHNEMAN, Thinking, fast and slow, 2011, 20. 97 A.a.O., 24. 98 Vgl. VON WEIZSÄCKER, Deutlichkeit, 1981, 126: „Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nichtgestellt zu haben, Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, dass die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdankt.“ 99 Die ἐποχή gilt E. Husserl als Programm einer „phänomenologischen Reduktion“ i.S. einer „gewillten Urteilsenthaltung“, um zum Wesen der beobachteten Phänomene vorzudringen (vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1913, 55.108–129). 100 P. Ricœurs „langer Weg“ führt vor allen Dingen „durch die unterschiedlichen Analysen der Sprache“ und ihrer Reflexion hindurch (vgl. RICŒUR, Hermeneutik und Strukturalismus, 1973, 20). 101 Vgl. BLUMENBERG, Nachdenklichkeit, 1980, 61: „Nachdenklichkeit ist auch Aufschub gegenüber den banalen Resultaten, die uns das Denken gerade dann liefert, wenn nach Leben und Tod, Sinn und Unsinn, Sein und Nichts gefragt wird.“ 96
9. Ausblick auf weitere Fragen
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angestrebt wird, auch für die Ethik unabkömmlich sein könnte. Die unhinterfragte Übernahme von Urteilsformen, die längst ihre Verbindung zu den Anschauungen und Erlebnissen verloren haben, denen sie erwachsen sind, läuft nicht nur Gefahr, an der gegenwärtigen Handlungssituation vorbeizugehen, sondern auch Machtstrukturen zu perpetuieren. Sind Effizienz, Fortschritt, Kompetenz als abstrakte Urteilsformen und Bewertungsparameter, möglicherweise längst nicht so brauchbar, wie wir annehmen? (4) Rückfragen an die Rolle der Ethik als lästiger Nachklapp technologischer Innovation Der enge Zusammenhang von Zeit und Ethik und die Notwendigkeit zeitaufwendiger Umwege für die Ethik, zu welchen der joh. Jesus seine Interagenten und uns anleitet, lassen auch Rückfragen auf die Chronologie von technologischer Innovation und deren ethischer Reflexion zu. In einem Bericht von der „Consumer Electronics Show“ im Januar 2018 in Las Vegas hören wir von einem Aussteller: „Das ist definitiv das Fest des technischen Fortschritts. Also gerade wir Deutschen haben ja auch immer ein bisschen Probleme damit, dass die Sachen immer Daten sammeln und nach Hause telefonieren usw. Das wird hier erstmal überhaupt nicht kritisch gesehen, sondern man versucht, erstmal was zu machen, und über die Gefahren denkt man dann ein anderes Mal nach.“102
Dieses Statement scheint symptomatisch für das Auseinanderdriften von wissenschaftlicher Innovation und ethischer Reflexion. Derjenige, der erfindet, ist in den meisten Fällen nicht selbst mit der Aufgabe betraut, darüber zu reflektieren, ob sein Forschungsresultat negative ‚Nebenwirkungen‘ haben könnte. Ethische Reflexionen hemmen den Fortschritt und das wird überwiegend negativ wahrgenommen. Über die aus dem technologischen Fortschritt neu entstehenden Dilemmata wird später und von anderen diskutiert. Die ethischen Reflexions- und Bewertungsbemühungen kommen den vielen technologischen Innovationen dann kaum mehr hinterher, und zwar weil sie grundsätzlich Zeit und Umwege benötigen. Ein brisantes Beispiel für die Zeitnot der Ethik im Rahmen des technologischen Fortschritts ist das vom Aussteller angesprochene Datenschutzdilemma. Die Frage ist also: Wie können wissenschaftliche Innovation und deren ethische Reflexion zeitlich wieder so miteinander koordiniert werden, dass die ethische Reflexion nicht mehr so spät kommt, dass sie nur noch Schadensbegrenzung betreiben kann? (5) Fragen zum Umgang mit Desynchronisationserfahrungen Im JohEv werden, wie wir gesehen haben, diverse Desynchronisationserfahrungen erlebbar und nachvollziehbar gemacht: Der Gelähmte beklagt seine 102 Transkribiert aus einem Video der ARD TAGESSCHAU, „CES-Messe in Las Vegas zeigt technologische Zukunftsvisionen“, 2018, unter: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-363995.html (abgerufen 06.02.2018), Minute 1:01–1:18.
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VI. Ergebnisse
‚Lahmheit‘ gegenüber den Kultrhythmen am Teich Bethzatha (Joh 5,7); der ehemals Blinde wird über den Sabbatbruch seines Heilers ausgefragt, anstatt dass sich jemand mit ihm über seine Genesung freut (Joh 9,8–17.24–34); Pilatusʼ Berufung auf ein besonderes Passaritual (Joh 18,39) wird gar nicht richtig wahrgenommen und gewürdigt, so rasend fordert die Menge die Kreuzigung Jesu etc. Solche Desynchronisationserfahrungen sind kein Spezifikum einer religiösen Gemeinschaft im römisch-hellenistischem Kontext, sondern lassen sich auch in modernen Gesellschaften ermitteln. Wie der Psychologe Thomas Fuchs gezeigt hat, lassen sich bspw. Depressionen auf die Verlangsamung der Eigenzeit gegenüber einer beschleunigten Außenwelt und Manie auf die Beschleunigung der Eigenzeit gegenüber einer verlangsamten Außenwelt zurückführen.103 Auf der Webseite des dt. Bundesministeriums für Gesundheit ist insbesondere die Depression derzeit unter den virulenten Gesundheitsgefahren gelistet, und es wird darauf hingewiesen, dass bis zum Jahr 2020 „Depressionen oder affektive Störungen laut Weltgesundheitsorganisation weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit“ sein werden. 104 Auch die viel diskutierte demographische Alterung der Gesellschaft vermehrt jene Art von Zeitkonfliktfällen einer beschleunigten Außenwelt dramatisch: „Die Wahl des Mitmachens oder Verweigerns mag sich für alte Menschen gar nicht stellen – ihre Verfasstheit lässt sich nicht einfach zeitlich in ein bestimmtes beschleunigtes Lebenstempo eintakten. Alter bricht herein als Störung; wie Kinder und Kranke haben Alte einen Zeitrhythmus, der durch ihre jeweiligen Befindlichkeiten und Bedürfnisse bestimmt ist und nicht in die Ordnung der modernen Zeittaktung zu passen scheint, aber auch nicht passend gemacht werden kann. Deshalb müssen Institutionen, die sich dieser Gruppen annehmen, wie Kindergärten, Krankenhäuser, Pflege- und Seniorenheime, ihr Zeitregime immer wieder neu aushandeln: die Bedürfnisse ihrer ‚Insassen‘ gegen das Zeitregime der Ökonomie.“ 105
An mehreren gesellschaftlichen Fronten stellt sich also die akute Frage, wie wir mit jenen umgehen, die unsere Effizienz aufhalten. Sollen wir Kindergärten, Krankenhäuser, Pflege- und Seniorenheime zu isolierten Bezirken machen, die in ihren Innengrenzen ein für die Bewohner bekömmliches Zeitklima aufrechterhalten, mit dem Risiko, dass, wann immer die Bewohner aus diesem geschützten Bereich heraustreten, diese mit massiven Desynchronisationserfahrungen konfrontiert werden? Was können wir aus dem Umgang des joh. Jesus mit denjenigen, die am Rande oder außerhalb der gesellschaftlichen Zeitsysteme stehen, wie z.B. der Gelähmte am Teich (Joh 5,1–18), mitnehmen? Wie würde sich eine neue Wertschätzung der Zeitverschwendung für Andere 103
Vgl. FUCHS, Zeiterfahrung in Gesundheit und Krankheit, 2015, 102–109. Vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT, Depression, 2017, unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/depression.html (abgerufen 06.02.2018). 105 SCHÜES, Zeitregime, 2014, 312. 104
9. Ausblick auf weitere Fragen
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auf unseren Umgang mit den ‚Lahmen‘ der Gesellschaft auswirken? Diese Frage löst wiederum weitere Fragen aus, z.B. wie wir mit denjenigen umgehen, die zwar in den ‚isolierten Bezirken‘ von Kindergärten, Krankenhäusern, Pflege- und Seniorenheimen arbeiten, gleichzeitig aber nach den ökonomischen Zeitgesetzen der Außenwelt funktionieren sollen. (6) Rückfragen an die Lohngerechtigkeit: Gehaltsstrukturen im sozialen und im Wirtschaftssektor Im Brennpunkt der ökonomischen Zeit verlieren Zeitrhythmen, die nicht am Fortschreiten, sondern am Zusammenkommen interessiert sind, an Überzeugungskraft. „‘Economic time’ often infiltrates life in such a way that time for the other, time for hospitality, time for friendships or leisure, is viewed, often unconsciously, as an unproductive waste of time. Time becomes a valuable possession of the individual to be managed and protected.“106
Die Gehaltstrukturen fallen in Deutschland zuungunsten der Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen aus,107 in denen besonders viel Zeit für Andere investiert wird. Mit dem Einkommen geht unweigerlich eine öffentliche Wertschätzung einher. Wer wenig verdient, scheint wenig zu leisten. Soziale Berufe verlieren an Attraktivität, obwohl sie auch angesichts des demographischen Wandels immer wichtiger werden. Im Brennpunkt der joh. Stunde könnte also neu gefragt werden, ob Profit ein angemessener Parameter für die Bewertung und Vergütung von Arbeitszeit ist. (7) Fragen zum Umgang mit dem Tod Insbesondere aus den Einsichten über die ethische Brisanz der Todesbedrohung und der eigentümlichen Anregung des JohEvs zum Umgang mit Begrenzung der Lebenszeit stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem Tod mitten im Leben, in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen. Media vita in morte sumus, so beschreibt es ein gregorianischer Choral aus dem 8./9. Jh. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“, heißt es auch in Luthers berühmter Antiphon. Mitten im Leben trifft die Schwestern Maria und Martha der Tod ihres Bruders. Ihre Glaubensgeschwister sind um sie versammelt und begleiten sie in der Trauer (Joh 11,19). Der Tod kann uns zwar auch heute noch mitten im Leben treffen, nämlich dann, wenn wir selbst eine besorgniserregende Diagnose bekommen oder ein Mitglied aus dem Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Soziologisch betrachtet findet das Sterben aber nicht mehr mitten im Leben, sondern überwiegend in Krankenhäusern und Hospizen statt. Weil der Tod mehr noch als die Krankheit lähmend auf diejenigen wirkt,
106 107
VOSLOO, The Feeling of Time, 2008, 347. Vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT, Datenreport 2016, 2016, 144.
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VI. Ergebnisse
die damit konfrontiert werden, ist auch er aus dem ökonomisierten Alltag und v.a. der Öffentlichkeit verbannt worden. Er wird weitestgehend privatisiert. „Obgleich jedes Jahr viele Menschen sterben, etwa ein Prozent der Bevölkerung, ist dies kein Thema, mit dem sich die Bürgerinnen und Bürger unbedingt beschäftigen müssen. Sterben und Tod erfahren jenseits der medial stark positionierten ‚öffentlichen‘ Sterbefälle wenig Aufmerksamkeit. Die Zeichen und Symbole, die diese Lebensphasen ehemals umgaben, sind rar und unaufdringlich geworden oder fehlen ganz. Wenn jemand im Sterben liegt, dringt das selten nach außen, ein eingetretener Todesfall ist kaum eine Information wert: keine Trauerbekleidung, keine Beerdigungsumzüge, kein Glockenläuten, keine Kondolenzpflichten. Abschiedsrituale sind auf das Nötigste und den kleinsten Kreis von Angehörigen beschränkt […] Zum Tod gibt es in unserer Gesellschaft tatsächlich wenig zu sagen: Er ist das unverständliche Nicht-Sein, bleibt wesentlich auf sich beruhen. Dafür wird zum Sterben sehr viel gesagt, es ist ein weithin besprochenes: ein öffentliches Thema. Mit Sterben sind Verläufe und Verfahren angesprochen, Sterben wird als eine Phase des Lebens verstanden und gefürchtet. Der Tod wird heute – seit den 1970er Jahren – vor allem als dieses Verlaufsphänomen diskutiert.“108
Die lähmende Wirkung des Todes wird durch die Privatisierung und Umlenkung des Themas auf den Vollzug des Sterbens gesellschaftlich vielleicht soweit wie möglich eingegrenzt. Kann daraus aber auch ein lebensdienlicher Umgang mit dem Tod hervorgehen? Werden das Problem der Begrenzung der eigenen Lebenszeit und die damit einhergehenden Sinnfragen mit der Privatisierung des Todes und dem Fokus auf den Sterbensprozess gelöst oder bloß betäubt? Wie steht es um Bestrebungen, den Tod so weit wie möglich hinauszuzögern? Ist ein erfülltes Leben notwendigerweise mit einer bestimmten Lebensspanne korreliert? Kann mit mehr Zeit auch mehr aus dem Leben ‚herausgeholt‘ werden? Warum kann der joh. Jesus am Kreuz bereits τετέλεσται | Es ist erfüllt! rufen, wo er doch durch das Todesurteil mitten aus dem Leben gerissen wird und das Sterbensalter noch lange nicht erreicht hat? (8) Welche Rolle spielen Theologie und Kirche für den richtigen Umgang mit der Zeit? Die Aufgabe der christlichen Theologie ist es, in der zeitethischen Debatte unterschiedliche Zeithorizonte in Auseinandersetzung mit den biblischen Texten zu erforschen, die gesellschaftliche Wahrnehmung gegenwärtiger Zeitnormen und -regime zu schulen und auf alternative Zeitorientierungen aufmerksam zu machen. Die Kirche wiederum kann alternative Zeitorientierung auch physisch zugänglich und erprobbar machen, indem sie Räume abseits des ökonomisierten Zeitstroms schafft. Wie die Gestaltung dieser Räume auszusehen hat und mit welcher Normativität sie belegt werden können, ist keineswegs klar festgelegt und bedarf der anhaltenden Diskussionen: Wirkt die in Deutschland nach wie vor geltende Sonntagsruhe eher als Recht für oder Pflicht auf den 108 GÖCKENJAN, Sterben in unserer Gesellschaft – Ideale und Wirklichkeiten, 2008, unter: http://www.bpb.de/apuz/31448/sterben-in-unserer-gesellschaft-ideale-und-wirklichkeiten?p=all (abgerufen 06.02.2018).
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Menschen? Wird der Sonntag als Relikt eines kirchlichen Zeitregiments und dann als bedrückend empfunden oder kann er als Befreiung und Möglichkeit des Auftauchens von den Rhythmen des Alltags gewürdigt werden? Wie steht es um das Tanzverbot an Karfreitag? Ist die jährlich gleichbleibende Wiederholung von Karfreitag und Ostern theologisch sinnvoll? Kommt darin die Dynamisierung der Zeit durch Jesu Kreuzestod und Auferstehung angemessen zum Ausdruck? In wie großer Reproduktion und wie starker Varianz muss der Gottesdienst zur Lebenswelt und zum Alltag des Menschen stehen? In welches Verhältnis sollen Verkündigung, Seelsorge, Kasualien und Verwaltungsaufgaben im Berufsalltag eines Pfarrers gebracht werden? Wie kann der christliche Religionsunterricht die Grenzen des Kompetenzhorizontes durchbrechen, ohne das schulische Bewertungssystem zu untergraben? Wie werden Gelder so allokalisiert, dass die Kirche und diejenigen, die für sie arbeiten, möglichst viel Zeit für Andere ‚verschwenden‘ können und möglichst wenig für die Eigenverwaltung investieren müssen? Wo kann die Kirche außerhalb ihrer gewohnten Räume mitten in der Gesellschaft Zeitinseln zur gemeinsamen ‚Zeitverschwendung‘ schaffen? Wie wird auch die Kirche in Christi wahrer Zeitgenossenschaft wahrhaft zeitgenössisch, in Distanz zu den Rhythmen der Gegenwart und doch in ihnen beheimatet? Wie kann die Kirche sich auch in der Wahrnehmung der Gesellschaft vom anachronistischen Residuum aus der Vergangenheit zur anachronistischen Repräsentantin einer zukunftserfüllten Gegenwart rehabilitieren?
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Die Kurztitel der antiken Autoren richten sich (soweit sie nicht im IATG3 verzeichnet sind) nach dem Abkürzungsverzeichnis des DNP (CANCIK, Hubert/SCHNEIDER, Helmuth [Hgs.], Der neue Pauly [Brill-Online]. Enzyklopädie der Antike, 2006) oder (soweit sie nicht im DNP verzeichnet sind) dem Abkürzungsverzeichnis des Neuen Wettsteins (SCHNELLE, Udo [Hg.], Texte zum Johannesevangelium [Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus I/2], Berlin 2001). Die Kurztitel der Kirchenväter orientieren sich am PGL (LAMPE, Geoffrey W. [Hg.], A Patristic Greek Lexicon, London 1961). AASGAARD, REIDAR, The Childhood of Jesus. Decoding the Apocryphal Infancy Gospel of Thomas, Cambridge 2010. AGAMBEN, GIORGIO, What Is an Apparatus? and Other Essays. Translated by David Kishik and Stefan Pedatella, Stanford, Calif. 2009. –, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt am Main 42012. AHN, GREGOR, Art. Auferstehung. I. Auferstehung der Toten: 1. Religionsgeschichtlich, in: RGG Erster Band: A–B (1998), 913–915. AICHELE, GEORGE, Reading Jesus Writing, in: BibInt 4/12 (2004), 353–368. ANDERSON, Paul N., Aspects of Historicity in the Fourth Gospel: Consensus and Convergences, in: Anderson, P. N./Just, F. S. J./Thatcher, T. (Hgs.), John, Jesus, and history, Volume 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, Atlanta, Ga. 2009, 379–386. –, Introduction to Part 2. Aspects of Historicity in John 5–12, in: Anderson, P. N./Just, F. S. J./Thatcher, T. (Hgs.), John, Jesus, and history, Volume 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, Atlanta, Ga. 2009, 107–115. –, The Riddles of the Fourth Gospel. An Introduction to John, Minneapolis, Minn. 2011. –, Philip: A Connective Figure in Polyvalent Perspective, in: Hunt, S. A./Tolmie, D. F./Zimmermann, R. (Hgs.), Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John (WUNT 314), Tübingen 2013, 168–188. ANDERSON, PAUL N./JUST, FELIX S./THATCHER, TOM (Hgs.), John, Jesus, and history, Volume 1: Critical Appraisals of Critical Views, Atlanta, Ga. 2007. –, John, Jesus, and history, Volume 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, Atlanta, Ga. 2009. –, John, Jesus, and history, Volume 3: Glimpses of Jesus through the Johannine Lens, Atlanta, Ga. 2016. APPEL, KURT/DIRSCHERL, ERWIN (Hgs.), Das Testament der Zeit. Die Apokalyptik und ihre gegenwärtige Rezeption (QD 278), Freiburg/Basel/Wien 2016. ARCHER, KENNETH J./HAMILTON, ANDREW S., Anabaptism-Pietism and Pentecostalism: scandalous partners in protest, in: SJTh 2/63 (2010), 185–202. ARD TAGESSCHAU (Hg.), „CES-Messe in Las Vegas zeigt technologische Zukunftsvisionen“, 2018, unter: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-363995.html (abgerufen 06.02.2018). ARISTOTELES, Physik. Vorlesung über die Natur. Übersetzt von Hans Günther Zekl (Aristoteles. Philosophische Schriften in sechs Bänden 6), ASSMANN, ALEIDA, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. –, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (KVPG 6), München 2007. –, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013.
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Stellenregister Kursive Seitenzahlen verweisen auf eine Fundstelle im Fußnotentext. Weicht die Zählung der Septuaginta von der Zählung des masoretischen Textes ab, steht die Septuagintazählung in Klammern hinter der masoretischen Zählung.
I. Altes Testament Genesis 2,3 49,8–12
365 229
Exodus 4,31 4,8 7,1 7,3 12,27 16 19,8 19,11 19,16 19–24 20,16 23,16 31,18 34,22
220 220 220 267 304 219 218 219 35, 208, 218 218 376 372 219, 379 372
Levitikus 19,9f. 23,22 23,39 23,42f.
308 308 375 375
Deuteronomium 4,34 5,20 9,10 11,2–6
267 376 379 267
15,11 17,7 28,40
308 380 345
Richter 8,23 11,12 21,19
397 198 375
1 Samuel 8,7
397
1 Könige 17,1–24 17,10 17,13 17,17–14 17,17–24 17,18 17,23
264 264 264 330 353 198, 219 264
2 Könige 3,13 4,1–5 4,18–37 4,27 4,33–35 4,44–35
198 220 264, 330 330 343 331
2 Chronik 35,21
198
484
Stellenregister
Esra 1,24
198
Amos 6,6
335
Nehemia 9,10
267
Micha 6,15
345
Psalmen 69(68),10 78(77),16f. 78(77),20 105(104),27–36 126(125),5 135(134),9
361, 374 374 374 267 303 267
Sacharja 13,1 13f. 14,6–8 14,16f.
373 374 372 372
Maleachi 3,1
372
Hoheslied 1,12 3,8–11
335 335
Jesaja 61,1 8,18 20,3 25,6 48,21
335, 340 267 267 345 374
Jeremia 32,20
267
Ezechiel 47,1–12 47,9 47,12
374 373 373
Daniel 13,1–64
380
Apokryphen/Pseudepigraphen Tobit 6,17 8,3
336 336
Sir 44,16
391
2 Makk 6,28 6,31
391 391
4 Makk 17,22f.
391
Weisheit 2,7
345
485
Stellenregister
II. Neues Testament Matthäus 8,5–13 8,8 8,13 8,29 9,14–17 9,30 13,54 13,57 13,58 14,13–21 14,25–25,30 16,27 21,23–27 24,1f. 24,32–25,13 25,14–46 26,6–13 26,12 26,15 26,28 26,29 26,61
262, 265 265 266 220 221 299 261 250, 261 261 220 427 452 360 332 452 452 336 337 349 229 230 362
Markus 1,15 1,43 2,18–22 5,7 5,21–34 6,2 6,3 6,4 6,6 6,30–45 11,27–33 12,1–19 14,3–11 14,5 14,8 14,10f. 14,25 14,58 16,1
452 299 221 198, 220 332 261 261 250 261 220 360 332 336 299 337, 338 349 230 362 339, 340
Lukas 1,3 4,22 4,24 4,30 4,42 5,22–39 7,1–10 7,6 7,11–17 7,17 7,36–50 7,47 8,28 16,16 20,1–8 22,3–6 23,55–14,1 23,56–24,1 Johannes 1,1f. 1,1–18 1,4 1,5 1,9–11 1,10f. 1,14 1,15 1,17 1,19 1,19–36 1,28 1,28f. 1,32f. 1,33 1,43f. 1,45–51 1,46 1,48 1,49 1,50 1,50f. 1,51 2,1
25, 452 261 253 261 250 221 262, 265 265 332 332 336, 380 337 198, 220 452 360 349 340 339
419 38, 225 270 153 252 252 375 146 164 345 224 207 249 269 230 250 253 412, 413 413 32, 412, 413 32, 204, 211, 413 31, 224 269 200, 206–8, 212, 218–19
486 2,1–11 2,1‒12 2,3 2,3f. 2,4 2,5 2,7f. 2,8 2,9 2,9f. 2,10 2,11 2,11f. 2,12 2,13 2,13–22 2,15 2,16 2,17 2,18–21 2,19 2,19–21 2,22 2,23 2,23–25 2,23f. 2,25 2,27 3,1–21 3,3 3,5 3,30 3,33 3,11–34 3,13 3,16–18 3,18 3,19 3,19–21 3,20 3,20f. 3,21 3,22 3,24 3,26 4,1–3
Stellenregister 35, 55, 184, 198– 241, 411 165 209 129, 201–3 1, 3, 36, 209, 219, 238, 409, 434 203, 218, 234 129, 203–4 210 210, 213 204 162, 163, 211, 213, 233, 407 32, 204–5, 293 200 146, 200, 244, 250 148, 410 360–63, 406 164 251 374 56 165, 208 183 164, 165, 182, 231 32 251, 261 243 251 253 253, 346 409 231 147 398 376 269 430 321 185 81 185 186, 367 374 161, 250 163, 165 191 245, 251, 345
4,1–26 4,1–42 4,1–45 4,5 4,6 4,6f. 4,13f. 4,14 4,16 4,18 4,21 4,21–24 4,23 4,25 4,33 4,37 4,39 4,39–42 4,40 4,42 4,43 4,43–45 4,43–54 4,44 4,45 4,45f. 4,46 4,46–50 4,46–54 4,47 4,47f. 4,48 4,48–50 4,49 4,49f. 4,50 4,51 4,51–53 4,52f. 4,53 4,54 5,1 5,1–17 5,1–18 5,1–47 5,6
253 219 36 165 36, 78, 140, 254, 410 264 79, 231, 373 390 150, 260 165 140, 200 253 8, 32, 139, 420 32 38 147 32 252 149 32 249 245–46 135, 150, 189, 242– 79 250–53, 261–64 267 254 163, 190 246–47 55, 407 182, 190, 254, 406 131 1, 3, 246, 254, 257, 262, 272, 434 190 247, 254, 406 131 150, 247, 258, 264 148, 190, 254, 255 248 255 32, 36 157, 190 249, 410 128 36, 382, 411 363–67 363
Stellenregister 5,7 5,9 5,10 5,10–13 5,14 5,17 5,17f. 5,18 5,23 5,24 5,25 5,28f. 5,29 5,36 5,43–54 5,52 5,53 6 6,14 6,15 6,22 6,27 6,28f. 6,31f. 6,34f. 6,39 6,41f. 6,42 6,51 6,54 6,54f. 6,69 7 7,1 7,1–10 7,1–9 7,1–14 7,2–14 7,24 7,2–4 7,2–4 7,2–9 7,2–5 7,3 7,3–4 7,5 7,6–8 7,6–10
4, 132, 406, 412, 456 364 406 371 81 365, 412 332 128, 286 253 147 8, 38, 139, 355, 420 10 185 376 411 254 258 219 32 306, 335 149 264 222 374 264 164 269 375 346, 390 10 229 32, 321 36 56 288–94 357 412 55 81, 375, 414 406 407 131 200, 289 182 4 185 1, 3, 409 434
7,7 7,12–52 7,14 7,20 7,27 7,30 7,31 7,33f. 7,34 7,35 7,37 7,37f. 7,38 7,40f. 7,42 7,44–49 7,44–52 7,46 7,50f. 7,51 8 8,1–11 8,2–11 8,6 8,7 8,10 8,12 8,12–59 8,14 8,20 8,22 8,28 8,31 8,31f. 8,35 8,48 8,48–52 8,49 8,50 8,56 8,58 8,59 9 9,1–41 9,2 9,3 9,4 9,4f.
487 185, 252, 376 369–78 146, 410 209, 336 371, 376 56, 361, 414 32, 372 372 398 371 146, 410 34, 372–75 31, 32, 375 32 397 361 56 408, 417 79, 362, 376 379, 407 36 412 378–81 379 380 200 289, 374 369–78 376 56, 209, 361 371 31 32, 321, 398 32 390 251 336 251, 253 398 375 34 56, 361 29, 46 56, 128, 168, 381– 87, 411 4, 168, 407, 412 168, 364 1, 3, 147, 383 289
488 9,6 9,7f. 9,8 9,8–17 9,11 9,14f. 9,16 9,17 9,20–23 9,21 9,22 9,24–33 9,27 9,28f. 9,29 9,32 9,33 9,38 9,39 9,41 10,1–21 10,11 10,11–18 10,15 10,17 10,17f. 10,18 10,20 10,24 10,25 10,26–29 10,28 10,31 10,39 10,40 11,1 11,1–44 11,1–53 11,1–12,11 11,2 11,3–5 11,4f. 11,4–6 11,5 11,6 11,7 11,7–16 11,8
Stellenregister 161, 383 373 407 456 384 130 384, 406 384 406 384 26, 185, 385 383 146, 383 385 252 385, 417 384 32 385, 412 185 393 292, 393 340 393 391 408 398 336 375 376 393 390 311 56, 361, 414 346 286 55, 85, 168, 407 411 128, 279–359 155, 170, 323 287–88 406 1, 3, 434 180 36, 149, 176, 313 313 288–94 148, 170, 200, 412, 413
11,8–10 11,9 11,9f. 11,12 11,15 11,16 11,17 11,18 11,19 11,20–30 11,22 11,23 11,24 11,24f. 11,25f. 11,25–27 11,26 11,27 11,27f. 11,28–33 11,31 11,33 11,35 11,37 11,38 11,39 11,40 11,41f. 11,43 11,43f. 11,45 11,47–53 11,47–57 11,48 11,51 11,53 11,55 11,56 11,56f. 12,1 12,1–3 12,1–11 12,3 12,4–8 12,5 12,5f. 12,6 12,7
369 147 1, 3, 289 412 328, 350 326, 348, 412 149, 294, 327, 346 149, 150 191, 406 294–98 295, 320 182 297, 407 32 296, 327, 390, 409 320 350 32, 155, 321, 334 162 298–300 330, 406 28, 78, 303, 328, 337 28, 78, 328 303 28, 78, 304 298, 322 298 300–301, 326, 330 331, 333 301 32 347, 407 301–3 326 325 313, 408 150, 338, 406, 407 326 398 313, 329 305–6 56 330, 389 306–8 335 407 349 313, 338, 390
489
Stellenregister 12,8 12,9 12,10f. 12,11 12,12 12,13 12,15 12,16 12,20–50 12,23 12,24 12,25 12,26 12,27 12,35 12,35f. 12,37 12,37‒43 12,42 12,42f. 12,47 12,48 13,1 13,1–10 13,1‒17,26 13,1–20 13,2 13,3 13,4 13,6 13,7 13,8 13,8f. 13,14 13,15 13,21 13,24 13,27 13,33 13,34 13,34f. 13,36 13,36–38 13,37 13,37f. 13,38 13–19 14,5 14,7
340 305, 407 309, 407 32 410 335 335 231 54 209, 302 303, 408 389 201, 253 147 147 371, 389 299 162 26, 32 292 398 398 210, 369, 388, 409 387–92 162 338 336 182 388 388, 412 31, 32, 390 390, 391, 406, 413 412 338 387 299 391 336 371, 395 391 410 392 348 4 292 392 16 292, 348 32
14,11 14,16 14,16f. 14,19 14,20 14,22 14,25f. 14,26 15,1 15,2 15,2–6 15,3 15,9 15,9–17 15,13 15,14f. 15,18f. 15,26 16,2 16,7–11 16,12–15 16,13 16,16–19 16,21 16,27 16,30 16,32 17,1 17,11 17,5 17,7f. 18,1–11 18,1–19,16 18,10f. 18,11 18,12–24 18,19–24 18,20 18,22 18,28 18,29–19,16 18,31 18,32 18,37 18,38 18,39 19,4–6 19,5–7 19,6
253 31 31 371, 395 253 375 31 11 230 231 230 32 79 391, 410 292, 391 397 252 31 26 31 31 31 33, 395 303 321 32 139 210 81 361 32 392 395–400 79 230, 392 396 383 375 361 406 4 408 231, 376 252 397 326, 414 348 395 399
490 19,8 19,9 19,10 19,10f. 19,11 19,12 19,13 19,14 19,15 19,15–18 19,18 19,19 19,19–22 19,25–27 19,26 19,26f. 19,27 19,30 19,34 19,35 20,1 20,1f. 21,7 20,9 20,1–10 20,15 21,15–17 21,15–19 20,17 20,17f. 20,24 20,24–29 20,24–31 20,25 20,29 20,30f. 20,31 21,18 21,19 21,23
Stellenregister 355 302 408 415 397, 398 302, 348, 397 398 345, 410 355, 397, 399, 415 392 326 306 335, 355 200, 203, 392 200 231 402 231, 340, 358, 374, 391, 409, 429 231, 374, 375 183, 185 146, 206, 340, 345 127 392 11, 25–26, 32, 231, 401 400–402 200 393 392–95 269 200 183 253, 292 348 32 321 231 185, 411 394 394 200
Apostelgeschichte 6,14 362 9,36–42 333 20,9f. 333
Römer 3,5f. 8,28–30 12,11 13,11–14
453 78 453 453
1 Korinther 16,22
453
2 Korinther 1,8–10
453
Epheser 5,18
230
Philipper 4,5 1,23
453 453
1 Thessalonicher 1,3 4,15–18
453 453
2 Thessalonicher 2,1–12
453
1 Timotheus 3,8
230
Titus 2,3
230
Offenbarung 14,8 14,10 16,19 18,3 19,15
230 230 230 230 230
Sachregister Kursive Seitenzahlen verweisen auf eine Fundstelle im Fußnotentext.
Abraham 36, 375, 410 Abschiedsreden 30, 31, 32, 33, 38, 188, 391, 396, 468 Achronie 163 Aktionsart Siehe Tempus, Aktionsart Anachronie 16, 17, 21, 24, 162–66, 257, 322, 426 Anachronismus 419 Analepse 24, 163, 164 analeptische Prolepse 285, 323 anaphorische Zeitangabe 58, 66, 138– 40, 148, 196, 249, 254 Anfang 100, 437, 451 Anfang und Ende 102, 107, 393, 409, 428 Aorist Siehe Tempus, Aorist Appell 186, 202, 287 Applikationspotenzial 190–91, 273, 278, 351–52 Armenfürsorge 306, 307, 308, 329, 335, 339, 349, 356 Auferstehung 296, 358, 408, 410 Auferweckung 330–34 Augenzeugenschaft Siehe Zeugenschaft/Zeugnis Autor 121, 176–79 – ~intention 175 Befreiungstheologie 69 Begräbnis 337, 338, 391 Begrenzung des Handlungsspielraums 412–15, 417–18, 421, 431, 444 Begründungsformen 45, 81 – emotionale/affektive 73 – rationale 45, 73 Bekehrung 334
Bekenntnis 306, 339, 383, 411 Beschleunigung 358, 451 Bethanien 311, 346 Bewertung 68, 86, Siehe auch unter Zeit~, Handlung~, Leser~ Beziehungen, menschliche 105, 107, 328, 345, 421, 427, 428–29, 430, 431, 437, 438, 449 Bildung 453–55 biographische Zeitnorm 111, 246–47, 277, 287, 289, 292, 295, 309, 325, 354, 392, 406 Bios Siehe Gattung: Bios birkat ha-minim/Achtzehnbittengebet 26, 29 Blasphemie 302 Bleiben 49, 249, 342, 346, 358 Böse, das Siehe Gut und Böse Bräutigam 201, 218, 221, 228 Brüder Jesu 200, 367–70, 394, 412 Bruderliebe Siehe Liebesgebot Bund 219 Christologie 34–37, 39, 253, 418–22 – hohe 28, 30, 35, 41 chronikalisch 11, 207, 327 Chronologie 161–68 – absolute/lineare 16, 21, 22, 139, 141, 163, 166, 208, 276 – joh. 8–10, 10–14, 34, 39 – relative 22, 140, 141, 276, 314, 426 Chronometer 22, 59, 62, 91, 140, 429 Chronotopos 24, 149–50, 268, 276, 311, 316, 396 Dämon 336
492
Sachregister
Daseinsberechtigung 107, 428–29, 449 Dauer 16, 109, 139, 145, 149, 160, 161–62, 165, 258 deiktische Zeitangabe 58, 66, 138–40, 148, 154, 196, 254, 316 deontologisch 81, 203 Depression 4, 456 Desintegration, temporale 438, 455–57 deskriptive Ethik 68, 76, 183 Detail, erzählerisches 34, 189, 234, 270, 350 Determination – göttliche 36, 45, 77, 446–47 – narrative 23, 45 Deutungsoffenheit 76 diachrone Exegese 14, 118–21 dichte Begriffe 185, 274, 349 Dieb 339, 349 Diegese 34 – diegetische/narrative Ebenen 23, 195 Dionysos 222–23 Distanz 59, 76, 179, 417, 419, 421–22 – narrative 136, 169 – zeitliche 9, 87 Distanz und Unmittelbarkeit 41, 115, 183, 187–90, 192, 272–73, 277, 350–51, 358, 417, 442 doppelte Zeitperspektive des Erzählers 63, 138 dramatischer Modus 187–90 Dualismen 344–45, 438–39 Duft 307, 328, 335, 336, 337, 338, 341, 345 Ebenen des Was, Wie und Woraufhin 82, 84, 115, 126–27 Effizienz 235, 343, 424, 425, 431, 450, 455, 456 Ehre/τιμή 253, 270, 278, 365, 383 Eigennutz 308, 427, 447 Einheit Vater und Sohn 39, 53, 300– 301, 332, 365–66, 435 Elija 219, 264, 330 Elischa 220, 264 Ellipse 162, 215, 346 Emotionen – Jesu 28, 299–300, 303, 328, 343 – Rezeptions~ 190, 273, 352 Emotionen und Zeit 105
Empathie 190, 273, 351 Ende/Vollendung 388, 390, 391, 393, 395, 409, 410, 428 Endlichkeit Siehe Lebenszeit: ihre Begrenzung Entropie 166, 276, 323 Epimythion 67, 75 Ereignis 195 Ereignisfolge/-verlauf 17, 23, 54, 56, 139 Erfahrungswissen 246, 267, 274, 275, 361, 406 Erfüllung Siehe Fülle/Erfüllung Ergreifungsversuche 56, 361, 363, 395, 414 Erhöhung 35, 223, 337 Erinnerung 362 – der Vergangenheit 60 – nachösterliche 31, 37 Erlassjahr 308 Erwartung/Erwartungsbruch 75, 105, 123, 166, 175, 179–83, 217, 235, 239, 247, 262, 267, 274, 275, 277, 343, 352, 422–24, 445 Erzähl – ~fluss 16, 39, 139, 148, 161 – ~perspektive 15, 66, 163 – ~schema 41, 74, 137 Erzählerkommentar 20, 38, 189, 190, 273, 326, 347, 351 Erzähltheorie Siehe Narratologie Erzählung 195 Erzählzeit und erzählte Zeit 15–17, 62, 63, 66, 153, 164, 184, 189, 270, 277, 346 Eschatologie 37–40 – futurische 31, 295, 320, 322, 372 – ihre Ausrichtung 429 – präsentische 228, 296, 320, 366 – Spannung zw. präsentischer und futurischer 38, 101–3, 320, 409, 420–22 Ethik und Ästhetik 68 Ethik und Forschung 455 Ethik und Sprache Siehe Sprachformen der Ethik Ethik, joh. 44, 45, 77–84 – Argumente gegen sie 44, 77 – ihre Rehabilitierung 46
Sachregister Ethikdefinition 45, 67, 110, 196 ethische Signifikanz 41, 81 ethischer Überbau 80 Ethos 69, 196 – der joh. Gemeinde 47 Ewigkeit/ewiges Leben 101–3, 296, 316, 355, 359, 366, 375, 390–91, 395, 409, 410, 411, 420–21, 429, 430 familia dei 200, 231, 375 Familie 217 – ~nethik 49 Fastenfrage 221 Fenster Siehe Hermeneutik: Fenster~ Festzyklus 35, 36, 131, 212, 304, 310, 361, 371, 376, 378, 406, 410 Figuren 196 – als Artefakte 20 – als fiktive Wesen 19, 20, 42, 85 – als Repräsentanten/Typen 19, 86 – als Symbole 20 – als Symptome 20 – als Vorbilder 46, 359, 438–40 – ihre Ambivalenz 239, 244, 253, 299, 339, 343, 354, 359, 438–40 – ihre Entwicklung 17–20 – statische und dynamische 17 Figurenanalyse 51, 125 Figurenverhalten, konkretes 34, 42, 46, 84, 115 Figurenzeit 17, 25, 64, 113, 121, 359, 403 Fiktion 60, 61, 152 Fokalisierung 189, 273, 351 Frames und Skripts 120, 123, 174, 175, 177, 179, 181, 261, 380 freier Wille 446–47 Freiheit 447 Fremdenheilung 265 Frequenz 16, 17, 145, 149, 160, 167 Freundschaft 329, 391 Fülle/Erfüllung 230, 231, 345, 359, 410, 418, 428–29, 430–31, 451 Furcht 105, 191, 278, 406, 408, 427 Fußwaschung 305, 338, 387–92, 434 Futur Siehe Tempus, Futur/futurische Periphrasen
493
Galiläer, Gruppe der 243, 246 Gastfreundschaft 306, 329 Gattung 423 – Bios 53 – Erzählung 116, 192, 443 – Evangelium 56, 404 – Sentenz/Gnome 45, 186–87, 257, 350 – Wundererzählung 324 Geduld 412, 413, 453 – theoretische 3, 6 Gegenwart – des Heils 39, 260, 296, 321, 355, 420–22, 429 – Gottes 100, 361, 410, 419 – Jesu 39, 49, 418, 420 Geist/Paraklet 30–34, 40, 340, 358, 373, 374, 375, 429 Geisthermeneutik 31 Geliebter Jünger 23, 183, 200, 231, 375, 392, 394, 396, 400–402, 438 – als Autor des Evangeliums 13 Geltungsanspruch 75 Geltungsbereich/Reichweite der joh. Ethik 45, 79, 422 gemilut ḥasadim 308, 330 Geriatrisierung 456–57 Gericht 378–81, 398, 410, 420, 427, 430, 447 Geschehen 195 Geschichte, die 99 Geschichtsschreibung Siehe Historiographie Geschwindigkeit 145, 149, 160 Gesetz 356, 379, 381, 382, 421 Geworfensein 94 Glaube 222, 238, 248, 258, 264, 266, 271, 275, 291, 293, 304, 309, 316, 325, 327, 342, 350, 355, 401, 411, 430, 435 – als Evangeliumsabsicht 17, 26 – als praktischer Vollzug 435 – mangelnder 32, 33, 253, 264, 278, 321, 339, 342, 348, 367 – nachösterlicher Siehe nachösterliche Erkenntnis/Glaube – vorösterlicher 32, 42, 43 Glaube und Sehen 386 Glaube und Zeit 448
494
Sachregister
Gleichzeitigkeit 256, 257, 258, 265, 277 – des Ungleichzeitigen 98, 451 – von Vater und Sohn 365 Gnome Siehe Gattung: Sentenz/Gnome Gottesbeziehung 345, 421, 427 Grab 300, 304, 324 Gunst der Stunde Siehe Stunde, die/ἡ ὥρα: ihre Gunst Gut und Böse 68, 76, 106–8, 359, 368, 438–39 Habitualisierung 263, 417, 423–24 Handeln/ἔργον 52, 54 Handlung 195 – ~sbedarf 55, 111, 205, 267, 274, 275, 292, 406, 413 – ~sbeispiel 387, 391, 395, 433 – ~sbewertung 55, 275 – ~sentscheidung 106, 448, 454 – ~sevidenz 106, 116, 265, 428, 431, 445 – ~sfolgen 110, 184, 271, 274, 347 – ~smotivation 53, 184, 271 – ~spotenzial 106, 343, 406, 412–15, 417, 421, 428 – ~szeit Siehe Zeit und Handlung Handlungsverlauf/Plot 17, 24, 137, 167, 196 Hannas 376, 396 Hast 314, 391, 418, 431 Heilsrhythmus, kultischer 56, 363, 406 Heilszeit 42, 103, 228, 229, 236, 409, 410 Heilung Siehe Zeichen/Wunder: Heilungs~ Heimat Siehe Vaterland Herkunft – Jesu 250–53, 370–72, 375 Herkunft und Bestimmung 371–72, 375, 376, 382, 385, 425, 431 Hermeneutik Siehe auch Schrifthermeneutik – Fenster~ 15, 119 – Ikonen~ 120 – Spiegel~ 15, 26, 29, 119 hermeneutischer Zirkel 28, 71, 134, 452
Herrlichkeit/Verherrlichung 208, 210, 211, 216, 222, 223, 235, 237, 238, 241, 252, 278, 288, 293, 296, 298, 300, 302, 307, 330, 342, 345, 355, 356, 357, 358, 361, 374, 375, 399, 400, 408–9, 411, 415, 426–28 Hetero- und Homodiegese 188 Hierarchie 260, 268, 269, 270, 287, 288, 295, 301, 346, 347, 388, 397, 398, 407, 425 Hintergrundinformation/Erzählrelief 38, 154, 160, 189, 193 Hirte 292, 390, 393 Historiographie 60, 152–53, 259, 277 – moderne 22 – objektive 9, 12 historische Abfassungssituation 26 historischer Jesus 9, 10–14, 27, 84 Hochzeit 216, 228 Horizontsverschmelzung Siehe Zeitverschränkung Hosianna 373–74, 375 Ich-Bin-Wort 29, 289, 296, 344, 393, 395 Imperfekt Siehe Tempus, Imperfekt implizite Ethik 45, 73, 79–82 – des JohEvs 47 – in ihrer narrativen Dimension 56 Indikativ und Imperativ 78, 258, 277 Inferenz 23 – Leser~ 17, 174 Initiative 412, 413 Inkarnation 35, 101, 375 Integral der Stunde 408–9, 415, 419, 437, 445 Integrität 76 Intemporation 18, 28, 42, 101, 102, 293, 375, 410, 418 Intensität des Leseerlebnisses 185–91 Interaktion 65, 195 – ~ssequenz 195 – ~szeit Siehe Zeit, interaktionale – ~sziel 129, 196, 247, 248, 258, 288, 291, 325, 327, 347, 411 – ~szweck 129, 196, 248, 287, 324 Interaktionsanalyse 65, 121, 126, 127– 36 Internalisierung 448
Sachregister Intertextualität 180 Ironie 187, 350 Irreversibilität der Zeit 98, 106, 418, 428 Isolation 430 ius gladii 355, 399, 407–8 Jenseitsvertröstung 451 Jerusalem 251, 269, 361 Johannes der Täufer 224, 250 Joseph von Arimathäa 339 Judas 51, 306–8, 339, 349, 355, 359, 375, 438 Juden/Ἰουδαῖοι 26, 29, 286, 349, 359, 369, 379 Kafarnaum 244, 250 Kaiaphas 302, 311, 350 Kairos/καιρός 36, 55, 97, 105, 210, 226, 339, 343, 356, 363, 367, 372, 453 Kalender 60, 139, 142 Kana 207, 269 Kanon 69, 71, 103 Kausalität 99, 168, 383, 385 Kohärenz 21 – des Lebens 76 – In~ 11, 22, 24, 416 Kohärenz und Kohäsion 22–25, 317 Kommunikation zwischen Erzähler und Leser 17, 20, 233, 272, 350 Konfiguration/Mimesis II 60, 82, 98, 113, 123, 137 Konflikt Siehe Zeitkonflikt(e) König 269, 270, 335, 340, 358, 397, 399 – ~ssalbung Siehe Salbung: Königs~ Konjunktion 145 Konkretion 115 – ethische 436, 441 – geschichtliche 34, 39, 43, 152, 374 – narrative 18, 35, 40, 42, 43, 55, 115, 146, 189, 208, 216, 238, 250, 254, 276, 326 Konkretion und Abstraktion 41, 71, 72, 74, 86, 98, 106, 115–17, 183, 193, 238, 253, 259, 351, 358, 442 Kontextualität der Ethik 69 Kontingenz 106
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Kontinuität 31, 33, 39, 382, 421, 431 – ~sbruch 385, 387, 421 Konventikelethik, joh. 45, 79, 422 Konvention/Konventionsbruch 55, 112, 202, 204, 211, 216, 233, 305, 407, 425 Kosmos/κόσμος 252, 368, 397 Kreuzigung 168, 223, 231, 236, 241, 328, 344, 355, 356, 358, 359, 366, 374, 375, 378, 391, 393, 408, 410, 415 Laboratorium der Ethik 61, 76, 116, 122, 439, 444 Laubhüttenfest Siehe Sukkot Lazarus 19, 301, 305, 355, 359 Leben/Lebensfülle 247, 248, 257, 259, 264, 266, 267, 270, 274, 275, 278, 293, 327, 342, 355, 356, 359, 365, 375, 411, 421, 428–29, 430–31, 448, 451 Lebenseinsatz 292, 353, 391, 392, 393, 409, 427, 428–29, 430, 434, 438, 447, 448 Lebensgeschichte/Biographie 431–32 Lebensweise 68, 87, 197, 435 Lebenszeit 248 – ihre Begrenzung 87, 94, 106–8, 246, 274, 278, 287, 300, 328, 334, 353, 357, 366, 406, 425, 428–29, 430, 446, 450 – ihre Verlängerung 458 Lebenszeit und Weltzeit 106 Leerstelle/Informationslücke 20, 24, 239 Leiblichkeit 35 Leser 176–79 – ~bewertung 126, 174–76, 183–93, 278, 354, 358 – ~erwartung 174, 179–83, 277, 329, 352 – ~haltung 191–92 – ~rezeption 20, 174–76 – ~wirkung 15, 19, 83, 126 Lethargie 363, 418, 431 Letztbegründung 75 Licht 153, 186, 289, 291, 344, 350, 368, 373, 374, 387, 421–22 Liebe 337, 389, 392–95, 410
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Sachregister
Liebe Gottes 79 Liebe Jesu 303, 388, 390 Liebesdienst 28, 48, 54, 308, 330, 338, 349, 356, 358, 387, 391 Liebesgebot 79, 391, 410, 427,429,448 Lieblingsjünger Siehe Geliebter Jünger Linearität der Zeit Siehe Zeit, lineare Linearitätsbruch 35, 297, 357, 366, 408, 409, 415, 418, 422, 425–26, 439 Literarkritik 9, 11–13 Macht und Zeit 407–8 Magie 223 Maria 19, 298–300, 305–6, 305, 337, 338, 339, 359, 390, 411 Martha 253, 294–97, 348, 355, 359, 411 Materialethik 45 Medialität der Ethik 68 Menschlichkeit Jesu 36, 433 Meschlichkeit Jesu 78 Messias 228, 335, 372, 397 Metaethik 109 Metalepse 53 Metapher 184, 226, 344–45 – absolute 89 – Spreng~ 102, 296 metaphorische Ethik 70, 268–69, 274, 278, 344–45, 358 Mimesis 19, 46, 240, 278, 387, 435 ‒ implizite und explizite 49 ‒ performative und existentielle 49 – temporale 435–38, 439–40 Mimesis I, II, III Siehe Präfiguration, Konfiguration, Refiguration mimetische Ethik 240, 278, 387, 432– 42, 444 – des JohEvs 46–49 mimetische Qualität – der Figuren 45, 46, 49, 354, 359, 401, 438–40 – Jesu 47, 54, 240, 359, 368, 376, 387, 432–38 Missverständnis 20, 440 Moral 196 Mose 385, 410 Motivierung des Erzählgeschehens 167, 183, 259, 326
Mutter Jesu 200, 215, 231, 375, 411, 439 Nachdenklichkeit 67, 116, 241, 454 Nachfolge 394, 413 nachösterliche Erkenntnis/Glaube 25, 31, 33, 37, 41, 42, 114, 440–42 nachösterliche Perspektive 15, 26, 31, 40, 114 Narration 195 narrative Ethik 70, 72–77 – des JohEvs 47 – ihre drei Ebenen 82, 84–86, 115, 126 Narratologie 14–26, 61–64, 75 Nathanael 253, 412, 413 Natur und Kultur 104 Nazareth 207, 250, 262 Negativfolie 41 Neid 106, 428 Neugeburt 33, 345 Neuschöpfung 33, 382, 387, 421, 437 Nikodemus 253, 339, 345, 362, 376, 439 Norm 417 – ihre Definition 68, 197 – norma normans und normata 71 normative Autorität Gottes 72 normative Ethik 41 Offenbarung 208, 210, 211, 216, 219, 222, 235, 237, 238, 259, 274, 314, 342, 355, 367, 375, 382, 383, 400, 411, 419 – nachösterliche 33 offene Rede/παρρησίᾳ 291, 375 öffentliche Zeit 111, 368, 369, 407, 414 ökonomische Zeitnorm 111, 307, 309, 355, 407, 431, 451, 458 Opfer 345 Opportunität 301, 355 Optionenvielfalt 106–8, 106, 428 Ordnung, Dauer, Frequenz Siehe Erzählzeit und erzählte Zeit Ortsangaben 149–50 Paränese 45 Parusie 33, 453 Passafest 304, 312, 345, 388
Sachregister Perfekt Siehe Tempus, Perfekt Person 196 Petrus 32, 51, 348, 387–95, 396, 400– 402, 412, 439, 441 Phantasie 60 Pilatus 19, 396–99, 414 Plot Siehe Handlungsverlauf/Plot politische Zeitnorm 111, 301, 302, 309, 355, 397, 399, 407 possible worlds 23 Postexistenz 31 Präexistenz 31, 34, 35 Präfiguration/Mimesis I 60, 82, 85, 98, 119, 123, 137 Präsens Siehe Tempus, Präsens Prinzipienethik 72, 307, 339, 356 – ntl. 69 Prolepse 24, 163, 164, 165, 166, 214, 257, 323, 325, 341 Prolog 38, 39, 225, 231, 252, 270 Prophet 384 Protention 94 Prozessordnung 376, 379, 398, 407, 414, 439 Prozessverschleppung 396, 399, 414 Rechtfertigung 107–8, 428–29, 431, 446–47 Redaktionsgeschichte 9, 12, 30, 35 Redundanz und Variation 74, 98, 117, 122, 181, 387, 422–24, 445 Refiguration/Mimesis III 60, 64, 82, 86, 119, 123, 152 Reflexion, ethische 67, 110, 115, 241, 275 Reflexionsformen Siehe Begründungsformen Regel, konstitutive und regulative 71 Reihenfolge 16, 162–66 Reinigung 230, 304, 338, 373, 375, 391 Relationalität, menschliche 448, Siehe auch Beziehungen Relativierung der Zeitnormen 425, 431, 436 Relief Siehe Hintergrundinformation/Erzählrelief Retention 94 retributive Gerechtigkeit 308, 427, 447, 448, 449
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Retrospektive 15, 28, 30, 37, 188 rhetorische Ethik ‒ des JohEvs 53 Rhythmus – biologischer 291, 309, 354, 410 – Erzähl~ 16 – Handlungs~ 315, 413 Richten 376, 377, 387, 398, 414, 424, 426 rituelle Zeitnorm 112, 304, 309, 355, 357, 361, 368, 376, 378, 399, 406, 408, 410 Ritus 304 – Bestattungs~ 298 – Reinigungs~ 357, 406 – Trauer~ 303, 355, 406 Roman 64 Sabbat 365, 385 Sabbatkonflikt 56, 363–67, 381–87, 406, 411 Salbung 334–40, 345, 383, 390 – Königs~ 306, 307, 334 Samaria 251 samaritanische Frau 51, 253, 260 Satan 336 Schande 302, 358, 408 Schawuoth 218 Schöpfung 100, 365, 373, 374, 409, 412, 449 Schrift/ἡ γραφή 25, 231, 361, 362, 374, 401, 410 Schrifthermeneutik 45, 71, 361, 362, 374, 379, 401 Schuld 302, 381, 426, 448 Seele/ψυχή 293 Sehen als 233, 344, 384, 386–87, 386, 401–2, 421–22, 454 Sein und Werden 36 Sein zum Tode 94 Selbstgerechtigkeit 427, 428, 431, 437, 447 Selbstreferentialität 25, 231 Selbstverständlichkeit der Zeit 59, 104 Sendung 252 Sentenz Siehe Gattung: Sentenz/Gnome Showing und Telling 47, 122, 192, 225, 231 Siloam 373, 384
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Sachregister
Sinn 107, 446 Situationsethik 41, 307, 339, 356 Situationssensibilität 41, 356, 387, 417, 424 Skripts Siehe Frames und Skripts Sonntag 458 Sorge 95 Spannung 16, 105, 151, 166, 174, 182– 83, 191–92, 224, 262, 342, 343 Spiegel Siehe Hermeneutik: Spiegel~ Spiel 71, 76, 117, 174, 312, 380, 423, 445 Spirale 117 Sprachformen der Ethik 72 – joh. 45, 51, 80 Sprechakt 129, 182, 202, 287, 288 Steinigung 379, 380 Stillstand – temporaler 15 Stimme 187 Stunde, die/ἡ ὥρα 8, 19, 33, 34–37, 139, 167, 209–10, 226, 227, 236, 328, 345, 357, 359, 361, 362, 365– 66, 369, 374, 399, 408–9, 415, 418– 20, 426–28 – ihr Brennpunkt 437–38, 439, 449 – ihre Gunst 6, 418, 445 Suchen 371–72, 375, 398, 414–15 Sukkot 361, 372–76 Summarie 16, 39, 161 Sünde 106, 364, 373, 380–81, 382, 383, 384, 385, 397, 398, 421 Symbol 184, 268–69 Synagogenausschluss 26, 29, 384, 385 synchrone Exegese 14, 15, 118–21 Synchronisierung 60, 97, 109, 111, 254, 255, 259, 312 – De~ 105, 455–57 – der Uhrenzeit 88 Syntax 59 Synthese des Heterogenen 77, 97, 116 Szene 16, 196 Tag und Nacht 147, 289, 294, 345, 383, 409 Tagesmetaphorik 206, 249, 269, 313, 341, 361 Taufe 312, 345 Täuschung 368, 376
Technologie 455 teleologisch 81, 203 Tempel 208, 251, 253, 360–63, 374, 410, 419 – ~reinigung 360–63 Temporaldeixis 153, 157–60 temporale Doppelperspektive Siehe Zeitverschränkung:– narrative temporaler Schwebezustand 20, 276, 310, 325 Tempus 58, 66, 137, 141, 150–60 ‒ ~aspekt 155, 157, 276 – ~distribution 38, 154, 169, 276 – ~kontrast 38, 40, 170, 319 ‒ ~metaphorik 155 – ~übergang 154, 170, 319 – ~verwendung im JohEv 38 ‒ Aktionsart 156, 160 ‒ Aorist 153, 157–60, 212 – Futur/futurische Periphrasen 38, 153, 156, 157–60, 260 – Imperfekt 157–60, 256, 318 – Perfekt 38, 156, 157–60, 212–13, 255, 321–22 – Plusquamperfekt 213 – Präsens 153, 156, 157–60, 247, 257 – Präsens Historicum 15, 155, 157, 189, 211, 255 – Präteritum, episches 66, 151 ‒ Primär~ 151, 191 ‒ Sekundär~ 151, 191 Textualisierung von Zeit 61–64, 65, 137–44 Theophanie 218–19, 235 Theorie – ihre Langsamkeit 6 Theozentrik 36 Thomas 32, 51, 253, 292, 348, 412 Tod Jesu Siehe Kreuzigung – seine Historizität 28, 409 Tod, menschlicher 430, 457–58 topographische Zeitnorm 112, 246, 277 Tötungsbeschluss 302, 309, 323, 332, 348, 355 Tradition 99, 295, 382, 385, 406, 410, 414 Treue 431, 437 Tugend 19
Sachregister Two-Level-Drama Siehe Zeitverschränkung:– narrative Ubiquität 100, 248 Uhr der Figur 20 Umweg 85, 343, 376, 423, 424, 445, 454 Urteil 412, 414, 418, 424, 426, 439 Variation Siehe Redundanz und Variation Vaterland/πατρίς 244, 250–53, 270 Veränderung 99 Verantwortung 447–50, 447–50 Verbindlichkeit 449 Vergangenheit 93, 94, 132, 153, 168, 297, 322, 353, 356, 357, 359, 364, 366, 374, 382, 383, 406, 411, 414, 418, 421, 431–32, 451 – erinnerte 60 ‒ Quasi~ 60, 152 Vergegenwärtigung 15, 39, 60, 321, 322, 353 – Jesu 39, 49, 418, 420 – narrative 188 Verhalten 196 Verjährung 105 Verleugnung 348, 392, 393, 396 Verschwendung 307, 308, 339 – Zeit~ Siehe Zeit: ~verschwendung Verschwendung und Bewahrung 329, 338, 350, 356 Verspätung 363 Versuchung 413 Verzögerung – als (subjektive) Zeitwahrnehmung 105 – eschatologische 228 – im Handeln der Figuren 209, 292, 298, 397, 401 – im Handeln Jesu 1, 36, 55, 85, 150, 209, 222, 236, 237, 260, 262, 278, 301, 314, 326, 378, 419 – narrative 37, 85, 342, 358, 380 – reflexive 116, 241, 376, 423–24 Wahrheitsanspruch, historischer 60
499
Wahrnehmungsschule 179, 386, 424, 436 Wasser 219, 229, 230, 260, 264, 305, 312, 363, 373–74, 388 Wein 229–31, 373 Welt des Textes/Welt der Erzählung 23, 61, 63, 84, 119, 403 Wettlauf zum Grab 26 Widerspruch 183, 368 Wiederholung 35, 98, 258, 276, 324, 325, 410 Wochenschema 206, 250 Wunder Siehe Zeichen/Wunder Zäsur, zeitliche 31, 33 ẓedakah 308, 330 Zehn Gebote 46, 376, 379 Zeichen/Wunder 267 – ~forderung 360 – ~glaube 28, 262, 274, 275, 277, 360 – ~handlung 220, 257 – ~tätigkeit Jesu 225, 227, 231, 236, 255, 267, 268, 271, 324, 331, 343, 363 – Heilungs~ 264–66, 286, 383 – Speise~ 219–24 Zeit – ~adverbien 58, 137, 138–40, 144 – ~aporie 60, 99, 122 – ~autonomie 36 – ~begriff 89 – ~bewertung 97 – ~druck 254, 265, 417, 418, 423, 453 – ~kategorien 134 – ~kompass 432, 436 – ~kompetenz 5, 113, 116, 405, 425, 444 – ~kulisse 22 – ~mangel 106, 428–29 – ~metapher 58, 289, 325 – ~sensibilität 18, 19, 110, 340, 431 – ~übergreifend 39 – ~verschwendung 1, 4, 438, 447 – als absolute Metapher 89 – als begrenzte Ressource 96, 106 – als Maß 91, 104 – apokalyptische 101 – eschatologische/End~ 101, 373, 409 – für Andere 428–29, 438, 447, 449
500
Sachregister
– göttliche 36, 39, 99–103, 290, 291 – heilige 35, 361 – ihre Dynamisierung 101–3, 296, 297, 353, 356, 357, 366, 410, 422, 425– 32, 439 – ihre ethische Dimension 44, 443 – ihre normative Bedeutung 4–5, 87, 443 – ihre Zersplitterung 93, 100 – interaktionale 105, 113 – lineare 22, 35, 37, 91, 100, 417, 419 – mythische (Ur~) 101 – objektive/kosmologische 60, 90–92, 104, 290 – soziale 96–99, 102, 438, 457 – subjektive/phänomenologische 37, 90, 93–96, 104 – Uhren~ 88, 111, 134, 415 – zyklische 35 –~kategorien 111 Zeit und Bewegung 90–92 Zeit und Erzählung 14, 57, 59, 61–64, 112, 116, 443 – Erzählzeit und erzählte Zeit Siehe Erzählzeit und erzählte Zeit Zeit und Gerechtigkeit 87 Zeit und Geschichte 98 Zeit und Glaube 448 Zeit und Handlung 64, 97–98, 116 Zeit und Kirche 458–59 Zeit und Kultur 451 Zeit und Macht 203, 398, 414 Zeit und Raum als Wahrnehmungskategorien 100 Zeit und Raum im JohEv 35 Zeit und Schöpfung 100, 365 Zeit und Sprache 58, 92 Zeitangabe 137–44 Zeitangabe, implizite 141, 143 Zeitangabe, semantische/explizite 39, 58, 63, 137, 138–40, 143, 144–50 – anaphorische Siehe anaphorische Zeitangabe – deiktische Siehe deiktische Zeitangabe – kardinale/metrische 139, 141, 146 – nominale/metaphorische 147, 316, 325, 327, 357 – ordinale/relative 145, 312, 327
– referentielle 148 – szeneninterne 20, 147, 208–11, 254– 55, 259, 312–17 – szenenrahmende 39, 148, 206–8, 249–54, 310–12 Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft 31, 93–95, 97, 320, 327, 356, 357, 425–32 Zeiteinteilung – heilsgeschichtliche 39, 42 Zeiterfahrung, menschliche 37, 289, 293, 328, 353, 357, 361, 410 Zeiterhabenheit Siehe Zeitsouveränität Zeitgehorsam Jesu 36 Zeitgenossenschaft 419–22, 436, 459 Zeitinszenierung, narrative Siehe Zeitmodulation, narrative Zeitkonflikt(e) 80, 111, 112, 416 – joh. 5–6, 41, 42, 55–56, 121, 237, 357, 378, 403, 406, 411–15, 441 – moderne 455–57 Zeitlosigkeit – der Ethik 109 – des Heilswirkens Jesu 40, 259 – von Prinzipien 1, 103, 387, 434, 435 Zeitmodulation, narrative 5, 17, 21, 61– 64, 65, 83, 113, 126, 137, 183 Zeitnorm/-orientierung 5, 56, 104, 110– 12, 132–35, 417 – antike 132–35 – der Figuren 56, 64, 121, 131, 132, 165, 237, 275, 292, 354, 359, 406–8, 415–17 – des Lesers 193, 440–42 – ihre Definition 197 – ihre Hierarchisierung 437 – Jesu 55, 226, 236, 355, 359, 369, 408–11, 417, 426–28 – menschliche 357 – mimetische 435–38, 439–40 – moderne/postmoderne 6, 437, 450–52 Zeitsouveränität – Gottes 36, 101, 290, 295 – Jesu 27, 28, 36, 42, 225, 227, 265, 293, 300, 314, 328, 330, 331, 353, 364, 373 Zeitunabhängigkeit 18, 436 – Gottes 36, 42, 100 Zeitverhalten
Sachregister – der Figuren 359 – Jesu 55, 123, 262, 315, 332, 358, 359, 417 Zeitverschränkung 15, 23, 25, 29, 33, 40, 321, 327, 356, 420, 426 – narrative 13, 38, 40 Zeitverständnis – existentiales 94 – relationales 96–99, 102, 104, 117, 429, 430 – subjektives 93–96 – theologisches 99–103 – vulgäres 95 Zeitwahrnehmung 58–59, 87, 89
501
– der Figuren 19 – des Lesers 174, 189 – neuronale 96 – psychologische 4 – theologische 99–103 – Zeit als Wahrnehmungsinhalt und kategorie 6, 58, 61 Zeugenschaft/Zeugnis 33, 71, 114, 246, 251, 272, 376, 380, 398 – Augen~ 9, 11, 25, 135 Zukunft 27, 32, 94, 95, 99, 108, 230, 296, 297, 320, 322, 355, 357, 359, 366, 372, 374, 390, 418, 420–21 Zyklizität Siehe Zeit, zyklische
Namensregister Kursive Seitenzahlen verweisen auf eine Fundstelle im Fußnotentext.
Agamben, Giorgio 419, 420–22 Anderson, Paul 13–14, 183 Aristoteles 90, 150 Assmann, Aleida 90, 437, 451 Attridge, Harold 361, 378 Augustin 93, 100, 388 Austin, John 130 Bachtin, Michail 150 Barth, Karl 102 Becker, Eve-Marie 149 Bennema, Cornelis 48, 82, 435 Benz, Nadine 122, 443 Bergson, Henri 90 Bieringer, Reimund 120, 421 Blenkinsopp, Joseph 224 Blumenberg, Hans 67, 89, 90, 95–96, 106, 296, 454 Borst, Arno 96 Brant, Jo-Ann 64, 123 Brown, Raymond 30 Brown, Sherri 50 Bultmann, Rudolf 9 Burridge, Richard 47, 82, 434 Chladenius, Johann 9 Clemens von Alexandrien 8 Coloe, Mary 226 Culpepper, Alan 15–21, 391 Dalferth, Ingolf 101 Drews, Alexander 52, 82 Eder, Jens 20, 85 Einstein, Albert 92 Estes, Douglas 21–25, 317 Fanning, Buist 155–57 Felsch, Dorit 371, 373–5, 377 Finnern, Sönke 150, 175, 188 Flasch, Kurt 101
Fludernik, Monika 139 Fortna, Robert 12 Frey, Jörg 37–40, 41, 43, 140, 420, 426 Fuchs, Thomas 4, 104, 456 Geißler, Karlheinz 450 Genette, Gérard 62, 161–68, 187 Giblin, Charles 55, 337 Gloy, Karen 97 Hamburger, Käte 66, 151 Harweg, Roland 141–44, 159, 189 Hauerwas, Stanley 72 Hawking, Richard 92 Hays, Richard 69, 433 Heidegger, Martin 94–95 Hengel, Martin 222–23 Herder, Johann Gottfried 8, 58 Hippokrates 96, 360 Hoegen-Rohls, Christina 30–34, 191 Hofheinz, Marco 72 Holtzmann, Heinrich J. 9 Horn, Christoph 133 Horntrich, Georg 113, 436, 448 Hunt, Steven 125 Husserl, Edmund 90, 94 Kahnemann, Daniel 454 Kant, Immanuel 44, 91 Käsemann, Ernst 433 Keener, Craig 389 Kierkegaard, Søren 102 Koschorke, Albrecht 75, 122, 168, 193, 423 Koselleck, Reinhart 90, 98 Labahn, Michael 46, 82 Leibniz, Gottfried W. 91 Lessing, Gotthold Ephraim 44 Leutzsch, Martin 221
Namensregister Lyotard, Jean-Francois 73 MacIntyre, Alsdair 98 Maritz, Petrus 349 Marquard, Odo 428 Martínez, Matías 138 Martyn, James 29 Mathew, Bincy 391 MayIntyre, Alsdair 72 McTaggert, John 138 Meeks, Wayne 44, 77, 85 Mesch, Walter 92 Meyer zu Hörste-Bührer, Raphaela 102 Mieth, Dietmar 72 Möllers, Christoph 67, 68, 417 Moloney, Francis 25–26, 372 Müller, Günther 62 Newton, Isaac 91 Nolette, Joel 200 Nünning, Ansgar 62, 65 Parsenios, George 186–87, 398–99, 415, 439 Pfleiderer, Georg 86 Philo von Alexandria 229 Platon 90 Plessner, Helmuth 73 Rehmann-Sutter, Christoph 86 Reinhartz, Adele 368, 434–35 Rensberger, David 383 Ressiguie, James 401 Ricœur, Paul 59, 82, 90, 97, 116, 119, 152, 192, 404 Rorty, Richard 73 Rosa, Hartmut 451 Roselt, Jens 186 Roth, Gerhard 448 Roth, Michael 179, 185, 447
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Sanders, Jack 44 Scheffel, Michael 138 Schmid, Wolf 66, 138, 176 Schmücker, Reinhold 87 Schnelle, Udo 46, 82, 182 Searle, John 130 Seneca, Lucius Annaeus 88 Shepherd, David 393 Siegert, Folker 11–13 Sinclair, Patrick 186 Skinner, Christopher 50 Smith, Tyler 368–69 Sommer, Roy 62, 65 Thatcher, Tom 13 Theobald, Michael 34–37, 336, 352, 376 Thyen, Hartwig 200 Tolmie, Francois 125, 200, 394 Tomaševskij, Boris 139 de Toro, Alfonso 140 Trozzo, Lindsey 53, 83, 433, 435 van der Watt, Jan 46, 47, 82, 85 Wagener, Fredrik 51, 63, 83–84 Weber, Max 1 Weinrich, Harald 151–55, 191–92 Weixler, Antonius 63 Weizsäcker, Carl 8 Wendland, Heinz-Dietrich 44 Wengst, Klaus 26 Werner, Lukas 63 Weyer-Menkhoff, Karl 51, 82 Whitrow, Gerald 174 Wittmann, Marc 96 Zimmermann, Ruben 45, 47, 68, 80, 125, 182, 228, 386–87, 408