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German Pages 433 [434] Year 2010
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
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Bernhard Heininger
Die Inkulturation des Christentums Aufsätze und Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt
Mohr Siebeck
Bernhard Heininger, geboren 1958; Studium der Volkswirtschaftslehre, Katholischen Theologie, Pädagogik an der Universität Würzburg; 1986–1996 Assistent am Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese, Universität Würzburg; 1989 Promotion zum Dr. theol.; 1995 Habilitation; seit 1999 Ordinarius für Neutestamentliche Exegese am Biblischen Institut, Universität Würzburg; 2004–2009 Studiendekan.
e-ISBN PDF 978-3-16-151544-6 ISBN 978-3-16-150546-1 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. © 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Für Christine
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt Aufsätze und Studien, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – innerhalb der letzten zehn Jahre am Würzburger Lehrstuhl für Neutestamentliche Exegese entstanden sind. Da sie zum Teil an entlegener Stelle veröffentlicht sind, habe ich das Angebott meines Münchener Kollegen und des Hauptherausgebers der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament“, Jörg Frey, gerne angenommen, die Aufsätze in einem eigenen Band dieser renommierten Reihe zu publizieren. Obwohl ihr Entstehungskontext sehr unterschiedlich ist und von der für „weitere Kreise“ gedachten Ringvorlesung bis zu den hochwissenschaftlichen Symposien des an unserer Fakultät angesiedelten Graduiertenkollegs „Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen“ (DFG) reicht, glaube ich in ihnen doch so etwas wie einen roten Faden entdecken zu können: Es ist die Frage nach der „Inkulturation des (frühen) Christentums“, wie sie sich im Neuen Testament und in der frühchristlichen Literatur widerspiegelt. Das betrifft in erster Linie Paulus (und seinen ältesten „Biographen“ Lukas), der wie kein zweiter fürr den Spagat zwischen jüdischer Herkunft und griechisch-römischer Umweltt steht (Nr. 3–6). Das betrifft nicht minder das Verhältnis zum römischen Staat und seiner imperialen Ideologie, die im nachpaulinischen Schrifttum zunehmend die Optik der neutestamentlichen Autoren (mit)bestimmtt (Nr. 7 und 8). Es gilt weiter für die Entwicklung von Riten (Nr. 9; vgl. auch Nr. 2), die nicht zuletzt die Philippuschristen von den „Normalchristen“ trennt (Nr. 11). Und es betrifft schließlich auch die „Frauenfrage“: Der emanzipatorische Impuls von Gal 3,28 war das eine, seine Rezeption und Adaption innerhalb des frühen Christentums das andere (Nr. 12–14). Dass Jesus das „Haupt“ (nicht nur) dieser Aufsatzsammlung bildet (Nr. 1 und 2), versteht sich von selbst. Dass der Aufsatzband nach meiner schweren Erkrankung und ihren andauernden Folgen überhaupt noch erscheinen konnte, verdanke ich vielen Menschen. Neben meiner Familie möchte ich insbesondere meinen Arztt und Freund Dr. Martin Dreier erwähnen, dessen Vater zu meinen theologischen Lehrern zählte und dessen ärztliches Ethos mir stets aufs Neue Bewunderung abverlangt. Ohne meine wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dipl.-Theol. p Agnes g Rosenhauer,, der das Projekt j von Anfang g an eine Her-
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Vorwort
zensangelegenheit war und in deren Händen die Fäden zusammenliefen, wäre der Aufsatzband nicht fertig geworden. Dafür danke ich ihr sehr, und für vieles, vieles mehr. Mein Assistent, Dipl.-Theol. Heinz Blatz, sorgte mit seinem organisatorischen Talent und seinem stets erfrischenden Optimismus für die notwendige Entlastung. Meine Sekretärin, Frau Hannelore Ferner, musste sich durch schwerstes exegetisches Terrain kämpfen und hat die Schreibarbeiten dennoch mit gewohnter Routine souverän erledigt. Michael Schurk besorgte nicht minder routiniert den Computersatz. Zwei Generationen studentischer Hilfskräfte haben sich um das Lesen der Korrekturen verdient gemacht: Simon Gahr, Milva Reinhold, Anja-Bettina Heinrich und Marievonne Schöttner. Ihnen allen sage ich herzlichen Dank! Schließlich bedanke ich mich beim Verlag Mohr Siebeck und dessen Cheflektor Dr. Henning Ziebritzki nicht nur für die exzellente technische Zusammenarbeit, sondern mehr noch für die Geduld, die sie mir entgegengebracht haben. Das Buch ist ein Geburtstagsgruß an meine Frau Christine. Sie vermittelt denen, die nicht sehen, was wir sehen, und die nicht so hören, wie wir hören, jeden Tag aufs Neue eine Ahnung von der Wirklichkeit, die größer ist, als jene schwerstbehinderten Menschen sie wahrzunehmen vermögen. Während Christine die Inkulturation der Nächstenliebe praktiziert, denke ich darüber nach. Weiterer Worte bedarf diese Widmung nicht. Würzburg, im Mai 2010
Bernhard Heininger
Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................VII
I. Der „historische Jesus“ 01. Apokalyptische Wende Jesu. Ein Beitrag zur Vor- und Frühgeschichte des Vaterunsers (Mt 6,9–13 par Lk 11,2–4) .......
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02. Das letzte Mahl Jesu. Rekonstruktion und Deutung ....................
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II. Paulus und seine Welt 03. Die Inkulturation der Nächstenliebe. Zur Semantik der „Bruderliebe“ im 1. Thessalonicherbrief ....................................
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04. Vom Konflikt um die Küche zum Rezept für die Gemeinde. Die Vegetarismusdebatte Röm 14,1–23 in „neuer Perspektive“ ..
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05. Einmal Tarsus und zurück (Apg 9,30; 11,25–26). Paulus als Lehrer nach der Apostelgeschichte ............................ 133 06. Das Paulusbild der Apostelgeschichte und die antike Biographie ................................................................................. 157
III. Die Auseinandersetzung mit dem Kaiserkult 07. „Politische Theologie“ im Markusevangelium. Der Aufstieg Vespasians zum Kaiser und der Abstieg Jesu ans Kreuz ............ 181 08. Soziale und politische Metaphorik im Kolosserbrief .................. 205
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Inhaltsverzeichnis
IV. Riten und Rituale 09. Von der Jugendweihe zur Taufe. Initiationsriten in der Antike und im frühen Christentum ............................................. 231 10. Hebr 11,7 und das Henochorakel am Ende der Welt ................... 257 11. Das „Sakrament des Brautgemachs“ im Philippusevangelium. Eine Problemanzeige.................................................................. 275
V. Genderfragen 12. Die fromme Witwe. Hanna und das lukanische Frauenideal (Lk 2,36–38) .............................................................................. 311 13. Die „mystische“ Eva. 1 Tim 2,8–15 und die Folgen des Sündenfalls in der Apokalypsis Mosis ........................................ 339 14. Jenseits von männlich und weiblich. Das Thomasevangelium im frühchristlichen Diskurs der Geschlechter ............................. 357
Nachweis der Erstveröffentlichungen ............................................... 397 Register ............................................................................................ I. Stellen (in Auswahl) .................................................................. II. Hebräische, griechische und koptische Begriffe ......................... III. Namen und Sachen..................................................................... IV. Autoren ......................................................................................
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I. Der „historische Jesus“
1. Apokalyptische Wende Jesu? Ein Beitrag zur Vor- und Frühgeschichte des Vaterunsers (Mt 6,9–13 par Lk 11,2–4)
I. Die Fragestellung Wer die Mühe nicht scheut und sich einmal eingehender mit der Basileiaverkündigung Jesu auseinandersetzt, steht sehr rasch vor einem Problem: Neben Aussagen, die allem Anschein nach von der Gegenwart der Gottesherrschaft handeln (vgl. Lk 11,20; 17,20f.), stehen solche, die das Reich Gottes offenbar erst für die Zukunft erwarten (Lk 11,2; 13,28f.). Die Frage, ob, und wenn ja, wie diese, dem Augenschein nach widersprüchlichen Aussagen auf einen Nenner zu bringen sind, hat innerhalb der neutestamentlichen Exegese durchaus unterschiedliche Antworten erfahren: Wer, wie etwa JOHN DOMINIC CROSSAN, Jesus ganz und gar der Gegenwart verpflichtet sieht, kann Äußerungen, die das Reich Gottes in die Zukunft legen, schlecht gebrauchen. Sie werden deshalb entweder präsentisch umgedeutett oder fallen aus dem Raster authentischer Jesusworte heraus.1 Umgekehrtt gehen die Exegeten vor, deren Sympathie der basileia im Futur gilt. Da nicht sämtliche Gegenwartsaussagen als sekundäre Bildungen verdächtigtt werden können, behilft man sich hier vielfach mit einer Uminterpretation: An die Stelle der Gegenwart der Gottesherrschaft tritt deren Nähe: Noch ist das Reich Gottes nicht da, es steht aber sozusagen vor der Haustür.2 Und natürlich gibt es unter den Auslegern auch solche, die den goldenen 1 Vgl. mit Blick auf die zweite Vaterunserbitte J.D. CROSSAN , Der historische Jesus. Aus dem Englischen von Peter Hahlbrock, München 21995, 390–392, sowie dessen Zusammenstellung angeblich „authentischer“ Jesustraditionen in DERS., Was Jesus wirklich lehrte. Die authentischen Worte des historischen Jesus. Aus dem Englischen von Peterr Hahlbrock, München 1997, wo das Vaterunser in der Liste der von CROSSAN als authentisch erachteten Jesustraditionen nicht auftaucht. 2 Vgl. etwa D. ZELLER, Jesu Ankündigung des Reiches Gottes – ein ungelöster Scheckk auf Zukunft?, in: H. Wissmann (Hg.), Zur Erschließung von Zukunft in den Religionen: Zukunftserschließung und Gegenwartsbewältigung in der Religionsgeschichte, Würzburg 1991, 89–102, hier 90: „Jesu Grundbotschaft besagt nun, daß die ganz nahe bevorsteht.“
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Apokalyptische Wende Jesu?
Mittelweg pflegen (oder sich nicht entscheiden können?): Wo Jesus von der Gegenwart der Gottesherrschaft spricht, da gehe es um deren punktuelle Realisierung, gleichsam um die Gottesherrschaft im Fragment (wie in den Dämonenaustreibungen), wo von ihrer Zukunft die Rede ist, beziehe sich das auf die endgültige Durchsetzung des Reiches Gottes.3 Die folgenden Ausführungen wollen – sozusagen im Sinne eines literarischen Denk-Sprech-Versuchs – den drei skizzierten Lösungstypen noch einen vierten an die Seite stellen. Ich nenne ihn den biographischen Lösungstyp. Er besagt im Kern, dass sich gegenwärtige und zukünftige Basileiaaussagen auf verschiedene Etappen der Verkündigung Jesu verteilen. Konkret geht es um die Hypothese, dass Jesus, angestoßen durch eine Art Berufungsvision (vgl. Lk 10,18) und beflügelt durch den Erfolg seiner Dämonenaustreibungen, in dezidierter Antithese zu seinem Lehrer Johannes zunächstt die Gegenwart der Gottesherrschaft ausrief, diese Position aber späterr zugunsten einer zukünftig ausgerichteten basileia korrigierte, weil die Widerstände gegen seine Person und die Inhalte seiner Botschaft immer größer wurden. Insbesondere gegen Ende seines Wirkens, als sich die Katastrophe seines Todes am Kreuz bereits abzuzeichnen begann, würde eine Rückkehr zu den naheschatologischen Positionen des Täufers durchaus Sinn machen. Testen wollen wir diese Hypothese anhand des Vaterunsers, das mit der zweiten Du-Bitte („Dein Reich komme“) vielleicht den prominentesten Beleg überhaupt zum Thema beisteuert und gerade in jüngerer Zeit wieder Gegenstand heftiger Kontroversen geworden ist.4 Wir beginnen mit der Rekonstruktion der ältesten Fassung.
3 Prägnant H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum (BThSt 20), Neukirchen-Vluyn 1993, 29: „Aus dem Jenseits, wo sie (sc. die Gottesherrschaft) vermutet, geahnt, gefürchtet wird, erstreckt sie sich bis ins Dieseits. Aus der Zukunft, von der sie erhofft und ersehnt wird, streckt sie sich aus ins Jetzt“; ähnlich zuletzt G. DAUTZENBERG, Art. Reich Gottes, in: NBL III, 307–313, hier 309. 4 Vgl. die Diskussion zwischen U. M ELL, Gehört das Vater-Unser zur authentischen Jesustradition? (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4), in: BThZ 11 (1994) 148–180, der die Rü ckführung des Vaterunsers auf den historischen Jesus erneut in Zweifel zieht, und K. HAA CKER , Stammt das Vater-Unser nicht von Jesus? In: ThBeitr 27 (1996) 176–182. M ELL macht im „Vatergebet“ das übergreifende „Minimalgebet der jüdischen Synagoge“ aus; es sei als Schlüssel zu Jesu Theologie ungeeignet. Nach der Kritik HAACKERS rudert MELL inzwischen wieder zurück, vgl. U. MELL, Das Vater-Unser als Gebet der Synagoge. Eine Antwort an Klaus Haacker. In: ThBeitr 28 (1997) 283–290.
II. Rekonstruktion
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II. Rekonstruktion 1. Die Überlieferungslage Weder das gegen 70 n.Chr. abgefasste Markusevangelium noch das um die Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. zu datierende Johannesevangelium überliefern das Vaterunser.5 Fündig wird man – innerhalb des Neuen Testaments – lediglich bei Matthäus, der das „Unser Vater“, wie man eigentlich richtig übersetzen müsste, ziemlich exakt in die Mitte seiner Bergpredigt gestellt (Mt 6,9–13) und einer dreistufigen Mahnung über die rechte Frömmigkeit (Mt 6,1–18) inkorporiert hat, sowie bei Lukas, bei dem das Vaterunser (11,2–4) den Auftakt einer kleinen Komposition über das Beten bildet (Lk 11,1–13). Daneben existiert noch eine dritte Version des Herrengebets, die in der Didache, einer frühchristlichen Gemeindeordnung aus den ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s n.Chr., festgehalten ist (Did 8,2f.). Sie steht der matthäischen Variante sehr nahe, weicht aber auch in einigen Punkten ab.6 Da die Didache das Matthäusevangelium entweder kannte oder zumindest Traditionen benutzte, die dem Matthäusevangelium sehrr nahe stehen7, beschränken wir uns für die Rekonstruktion der ältesten Gestalt des Vaterunsers auf die beiden kanonischen Fassungen. Diese weisen auch so noch eine Reihe von Unterschieden auf, wie die folgende möglichst wörtlich gehaltene Textsynopse zeigt:
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Möglicherweise verrät Mk 11,25 eine Kenntnis des Vaterunser (so H. SCHÜRMANN , Das Lukasevangelium. Zweiter Teil. Erste Folge: Kommentar zu Kap. 9,51–11,54 [HThK K III/2,1], Freiburg i.Br. 1994, 179); sicher ist das aber nicht (wegen Mt 6,14f.). Für das Johannesevangelium wird häufig auf 12,28 verwiesen („Vater, verherrliche deinen Namen“), das „sich wie eine christologische Wendung der Vater-unser-Bitte“ um die Heiligung des Namens Gottes lesen lasse, vgl. R. SCHNACKENBURG , Das Johannesevangelium. Zweiter Teil: Kommentar zu Kap. 5–12 (HThK IV/2), Freiburg i.Br. 41985, 486. 6 Die Unterschiede sind notiert und besprochen bei K. NIEDERWIMMER, Die Didache (KAV 1), Göttingen 1989, 170–173. Vom Umfang her am bedeutendsten ist sicher die zweigliedrige Schlussdoxologie („Denn dein ist die Macht und die Herrlichkeit bis in Ewigkeit“), die so nur eine Parallele in einigen koptischen Versionen zu Mt 6,13 hat und eventuell auf 1 Chr 29,11f. als Vorbild rekurrierte oder am Abschluss vergleichbarerr j üdischer Gebete Maß nahm. 7 Vgl. die Diskussion bei K. N IEDERWIMMER, Didache (s. Anm. 6) 71–77, der selbstt gegen eine direkte literarische Kenntnis des Matthäusevangeliums votiert.
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Apokalyptische Wende Jesu?
Anrede Du-Bitten
Wir-Bitten
Mt 6,9–13
Lk 11,2–4
Unser Vater in den Himmeln, geheiligt werde dein Name, es komme deine Herrschaft, es geschehe dein Wille wie im Himmel auch auf (der) Erde. Unser Brot, das für morgen (?), gib uns heute. Und erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir erlassen haben unseren Schuldnern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns von dem Bösen.
Vater, geheiligt werde dein Name, es komme deine Herrschaft,
Unser Brot, das für morgen (?), gib uns Tag für Tag. Und erlasse uns unsere Sünden, wie auch wir selbst jedem erlassen, der uns (etwas) schuldet. Und führe uns nicht in Versuchung.
2. Synoptischer Vergleich Im Unterschied zu Mt 6,9–13 fällt die lukanische Version deutlich kürzer aus. Bereits in der Anrede („Vater“) ist auf das Possessivpronomen („unser“) und die Lokalisierung im Himmel verzichtet, die dritte Wir-Bitte („es geschehe dein Wille, wie im Himmel auch auf [der] Erde“) fehlt völlig, ebenso die bei Mt zu konstatierende Erweiterung der dritten Du-Bitte um die Bewahrung vor dem Bösen. Da schwer einzusehen ist, warum Lukas die genannten Textteile gestrichen haben sollte, dürfte die lukanische Version zumindest vom Umfang her dem ursprünglichen Text bzw. der Form, in der er Eingang in die Logienquelle fand, am Nächsten kommen.8 Allerdings hat der dritte Evangelist den Wortlaut an einigen Stellen geändert: Motiviert durch das Ausbleiben der Parusie und die dadurch verursachte Dehnung der Zeit ersetzt er in der Brotbitte , „heute“, durch , „Tag für Tag“9, und auch in der zweiten Du-Bitte dürfte Matthäus mit den „Schulden“ ( ) das Ursprüngliche besser bewahrt haben. 8
Das ist weitgehend Konsens, vgl. nur G. SCHNEIDER , Das Vaterunser des Matthäus, in: À cause de l’évangile. Études sur les Synoptiques et les Actes (FS J. Dupont) (LeDiv 123), Paris 1985, 57–90, hier 61f.; für die Kommentare etwa U. LUZ , Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1–7 (EKK I/1), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1985, 335f. Dagegen möchte J.H. CHARLESWORTH, A Caveat on Textual Transmission and the Meaning of Abba. A Study of the Lord’s Prayer, in: Ders. (Hg.), The Lord’s Prayer and other prayer texts from the Greco-Roman era, Valley Forge 1994, 1–14, hier 4, wieder die mt Version als die ältere erweisen. Die Diskussion um die Rekonstruktion der ursprünglichen Q-Fassung ist bestens erschlossen bei S. CARRUTH / A. G ARSKY , Documenta Q. Reconstructions of Q Through Two Centuries of Gospel Research Excerpted, Sorted and Evaluated. Q 11:2b–4, Leuven 1996, weshalb ich mich hier auf die wichtigsten Gesichtspunkte beschränke. 9 Dazu tritt ein sprachliches Argument: findet sich innerhalb des NT nur bei Lukas, vgl. Lk 19,47 diff Mk; Apg 17,11 v.l.; ohne Artikel gebraucht Lukas die Wendung Lk 16,19; Apg 2,46.47; 3,2; 16,5 u.ö.
II. Rekonstruktion
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Lukas führt mit den „Sünden“ einen abstrakten theologischen Begriff ein, während bei Matthäus noch das anschaulich-konkrete Bild von der Geldschuld mitschwingt.10 Falls die unterschiedlichen Tempora im Nachsatz der Vergebungsbitte ( vs. ) nicht auf ein aramäisches perfectum coincidentiae zurückzuführen sind („wie auch wir hiermitt vergeben“), bezeugt Lk auch an dieser Stelle die jüngere Variante.11 Die auff der Basis des synoptischen Vergleichs rekonstruierte älteste Fassung des Herrengebets, die in dieser Form Bestandteil der Logienquelle war, hatte demnach vermutlich folgenden Wortlaut12: „Vater! Geheiligt werde dein Name, es komme deine Herrschaft! Unser Brot, das für morgen (?), gib uns heute, und erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir erlassen haben unseren Schuldnern, und führe uns nicht in Versuchung!“
Ob damit schon die ursprüngliche Gestalt des Vaterunsers erreicht ist, wird nach wie vor diskutiert. Umstritten ist vor allem der Nachsatz der Vergebungsbitte, der inhaltlich eine gewisse Spannung in den Duktus des Gebets hineinträgt – während sonst durchweg vom Handeln Gottes die Rede ist, geht es an dieser Stelle dezidiert um das Handeln von Menschen – und auch formal die Trias der Wir-Bitten etwas stört. Ohne den Nachsatz ergäbe sich im Griechischen ein einheitliches Ganzes in Form dreier mitt verbundenen Kurzbitten.13 Ich neige deshalb dazu, den Nachsatz derr Vergebungsbitte als frühes Interpretament der das Vatergebett tradierenden Q-Gruppe zu betrachten. Das streng theologisch ausgerichtete Gebet spricht nur von Gott und seiner Herrschaft, christologische Elemente fehlen. Das wird man zunächstt 10 Vgl. G. S CHNEIDER, Vaterunser (s. Anm. 8) 67; H. S CHÜRMANN , Lk II/1 (s. Anm. 5) 197, die zurecht die Partizipialwendung im Nachsatz der Vergebungsbitte bei Lukas als Indiz für die Ursprünglichkeit der auswerten. Gegen SCHÜRMANN , aber mit F. BOVON , Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband Lk 9,51–14,35 (EKK III/2), Zürich / Düsseldorf 1996, 121, halte ich auch die partizipiale Formulierung samt ihrerr Verallgemeinerung für lukanisch und matthäisches im Nachsatz fürr ursprünglich. 11 G. S CHNEIDER , Vaterunser (s. Anm. 8) 68 mit Anm. 36. 12 Mit A. V ÖGTLE, Der „eschatologische“ Bezug der Wir-Bitten des Vaterunsers, in: Ders., Of fenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte. Neutestamentliche Beiträge, Freiburg 1985, 34–49, hier 36f.; G. SCHNEIDER, Vaterunser (s. Anm. 8) 60, wobei ich allerdings in der Übersetzung des eine abweichende Meinung vertrete (s. dazu die Auslegung). 13 A. V ÖGTLE, Bezug (s. Anm. 12) 35f.; vgl. auch J. ABRAHAMS , The Lord’s Prayer, in: Ders., Studies in Pharisaism and the Gospels, Cambridge 1924, Repr. New York 1967, 94–108, hier 96f.
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Apokalyptische Wende Jesu?
einmal als Argument gegen eine Gemeindebildung ins Feld führen dürfen, auch wenn damit die Authentizität des Gebets als Gebet Jesu noch nicht gesichert ist. Unbeschadet dessen liegt aber auf alle Fälle eine sehr alte Tradition vor, da man den Text relativ mühelos ins Aramäische zurückübersetzen kann.14 Formal stellt die rekonstruierte Fassung ein „sprachliches Kleinod“ (MELL) dar; die sechs „Grundworte“ bauen sich stufenmäßig zu drei Teilen auf: An die lediglich aus einem Wortt bestehende Anrede schließen sich zwei Du-Bitten in Form eines synonymen Parallelismus membrorum an; diese münden in drei Wir-Bitten. Darüber hinaus zeigt das Griechische sowohl in den Du-Bitten ( / ) wie in den Wir-Bitten (- , -, - ) Spuren von Endreim. Die folgenden Ausführungen gelten der inhaltlichen Erschließung dieses Textes.
III. Das Gebet zum Vater 1. Die Anrede In der Anrede Gottes als Vater sah JOACHIM JEREMIAS, einer der führenden Neutestamentler des 20. Jahrhunderts, „das Herzstück des Gottesverständnisses Jesu... Er hat mit Gott geredet wie ein Kind mit seinem Vater“15. Diese These ist oft wiederholt und z.T. in geradezu naiver Weise popularisiert worden: Das dem griechischen zugrunde liegende aramäische abba entstamme der frühkindlichen Lallsprache und bedeute soviel wie „Papa“ oder „Vati“.16 Zwei Dinge sind diesbezüglich anzumerken. Erstens: Zwar ist es wahrscheinlich, dass Jesus abba für die Anrede Gottes benutzt hat, völlige Sicherheit haben wir aber nicht. Das einzige direkte Zeugnis für abba als Gebetsruf Jesu findet sich in der Getsemaniperikope, wo abba neben dem griechischen ! stehen geblieben ist (Mk 14,36). Allerdings ist die Authentizität der Szene wohl nicht zu erweisen.17 Andererseits erklärt sich der Umstand, dass die frühe Gemeinde den zweisprachigen Ge14 Nachzulesen etwa bei J.A. FITZMYER, The Gospel According to Luke (X–XXIV). Introduction, Translation and Notes (AncB 28A), Garden City 1985, 901. 15 J. J EREMIAS , Neutestamentliche Theologie. I. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 3 1979, 73. 16 Vgl. etwa H. M ERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (SBS 111), Stuttgart 31989, 85; J. G NILKA , Das Matthäusevangelium. Erster Teil: Kommentar zu Kapitel 1,1–13,58 (HThK I/1), Freiburg i.Br. 1986, 217; G. S CHNEIDER, Gott, der Vater Jesu Christi, in der Verkündigung Jesu und im urchristlichen Bekenntnis, in: Ders., Jesusüberlieferung und Christologie (NT. S 67), Leiden 1992, 3–38, hier 14. 17 Vgl. stellvertretend für andere J. GNILKA , Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: Mk 8,27–16,20 (EKK II/2), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1979, 256–264, der einerseits auf die formale Stilisierung des Gebets Jesu im Rückgriff auf die Psalmen verweist, sich bezüglich der Gebetsanrede aber für ein authentisches Jesuswort entscheidet.
III. Das Gebet zum Vater
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betsruf „Abba! Vater!“ weiter pflegte (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6), am besten als Erinnerung an die Gottesanrede Jesu. Zweitens haben neuere philologische Untersuchungen hinsichtlich der Bedeutung und der Reichweite von abba ein höheres Maß an Klarheit geschaffen.18 Zwar stammt der Begrifff aus der Familiensprache, er ist als solcher aber keineswegs nur dem Kleinkind zu eigen, sondern wird auch von erwachsenen Kindern ihren Vätern gegenüber gebraucht oder dient zur respektvollen Anrede an alte Männer. Seine adäquate Übersetzung lautet entweder „Vater“ (als Anrede), „derr Vater“ oder „mein Vater“. Obwohl der Begriff in den wenigen erhaltenen aramäischen Gebeten der Umwelt nicht bezeugt ist, meint SCHELBERT, aramäisch sprechende jüdische Fromme hätten „in ihren persönlichen Gebeten keine Hemmungen gehabt ..., ‚abba’ zu verwenden, wenn sie Gott mitt ‚Vater’ oder ‚mein Vater’ anreden wollten“19. So oder so ordnet sich die Anrede Gottes als Vater in einen breiten Fluss antiker religiöserr Tradition ein. Seit Homer gilt Zeus bei den Griechen als " #$ $ , als „Vater der Menschen und Götter“, der als solcher auch im Gebet angegangen werden kann.20 Das macht sich beispielsweise die altstoische Kultdichtung zu Nutze, wenn etwaa das Bittgebet am Ende des berühmten stoischen Kleantheshymnus den „Vater Zeus“ – hier Chiffre für die (immanent gedachte) stoische Allgottheit – um Bewahrung vor „verderblicher Unerfahrenheit“ und die Gabe der „Einsicht“ anfleht21: „Darum, o Zeus, Allesgebender, Dunkelumwölkter, Hellblitzender, bewahre (% ) die Menschen vor verderblicher Unerfahrenheit! Die vertreibe, o Vater ( ), aus der Seele; gib (#&), dass wir stoßen auf Einsicht ('()), auf die gestützt du mit Recht alles lenkst ...“
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Vgl. G. S CHELBERT, Sprachgeschichtliches zu „abba“, in: P. Cassetti (Hg.), Mélanges Dominique Bartélemy (OBO 38), Freiburg / Göttingen 1981, 395–447; DERS ., Abba, Vater! Stand der Frage, in: FZPhTh 40 (1993) 257–281; J.A. FITZMYER, Abba and Jesus’ Relation to God, in: À cause de l’Évangile. Etudes sur les Synoptiques et les Actes (FS J. Dupont) (LeDiv 123), Paris 1985, 15–28; J. B ARR , Abba Isn’t Daddy, in: JThS 39 (1988) 28–47. 19 G. S CHELBERT, Art. Abba, in: RGG4 1, 5f., hier 6. Insofern ist das Urteil von O. H OFIUS , Art. , in: TBLNT2 II, 1723–1728, hier 1726, die Verwendung des Wortes abba durch Jesus müsse „als schlechterdings unerhört gelten“, doch zu relativieren. 20 Vgl. Hom., Il 1,544; Od 1,28 u.ö.; rezipiert z.B. bei Aristot., Pol I 12, 1259b2, oderr Epiktet, der die Formel in seinen Diatriben mehrfach benutzt (Diss I 3,1; 19,12; u.ö.). Zur Anrede des höchsten Gottes im Gebet als * bei Homer vgl. Il 3,365f.; Od 20,201f.; u.ö.; ausführlicher dazu G. SCHRENK / G. Q UELL, Art. , in: ThWNT V, 946–1025; H. H OMMEL , Der Himmelsvater, in: Ders., Sebasmata. Studien zur antiken Religionsgeschichte und zum frühen Christentum (WUNT 31), Tübingen 1983, 3–43. 21 Die folgende Übersetzung nach B. EFFE , Hellenismus. Die griechische Literatur in Text und Darstellung 4 (Rec UB 8064), Stuttgart 1985, 158f.; für eine erste Annäherung an den Hymnus vgl. S. LAUER, Der Zeushymnus des Kleanthes, in: M. Brocke u.a. (Hgg.), Das Vaterunser, Freiburg 1974, 155–162.
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Apokalyptische Wende Jesu?
Sieht man einmal von der ersten Zeile ab oder formulierte man jene um, könnte dieser „individuellste Ausdruck stoischer Religiosität“ (M. POHLENZ) glatt als christliches Gebet durchgehen, zumal die sprachlichen Anklänge an das Vaterunser, insbesondere in seiner matthäischen Fassung, evident sind.22 Arat von Soloi, Schüler Zenons und Verfasser der auch im Neuen Testament zitierten berühmten Phainomena (vgl. Apg 17,28!), stellt seinen Versen einen Gruß an den „Vater Zeus“ voran23; der um dieselbe Zeit (3. Jh. v. Chr.) schreibende Kallimachos weiß um diese Sitte und lässt deshalb das Bittgebet am Ende seines Zeushymnus (beachte die Parallele zu Kleanthes!) ebenfalls mit einer Grußadresse beginnen: „Sei gegrüßt, Vater, sei noch einmal gegrüßt! Gib (## ) sittliche Größe und Wohlstand ... Gib (## ) sittliche Größe und Wohlergehen.“24 Die jüngere bzw. kaiserzeitliche Stoa schließt hier nahtlos an. Epiktet behandelt das Thema der Vaterschaft Gottes in der dritten und neunten Diatribe des ersten Buches seiner Dissertationes ausführlich; kann man vom Menschen als „Sohn Gottes“ sprechen, so auch im Gegenzug von Gott als „Schöpfer, Vater und Erhalter“ (Diss I 9,4–7; vgl. I 3,1f.). Herakles ließ sich die Rede von Zeus als Vater der Menschen nicht nur gefallen, sondern wusste, dass „alle einen Vater haben, der immerdar und unaufhörlich für sie sorgt ... Er hielt ihn (sc. Zeus) wirklich auch für seinen Vater und nannte ihn so und tat alles, was er tat, im Hinblick auf ihn“!25 Nach Dio Chrysostomus trägt Zeus als einziger unter den Göttern die Beinamen „König“ und „Vater“, und zwar, wie Dion mutmaßt, letzteres wegen seiner Fürsorge und Milde.26 Das sind beileibe nicht alle Belege, doch mögen sie genügen, um in der Vatermetapher ein Epitheton auszumachen, „das der consensus omnium gentium dem höchsten Gott zuerkennt“.27 Erst recht ist die Gottesbezeichnung „Vater“ dem Judentum geläufig, auch wenn sie nicht zu den führenden alttestamentlichen theologischen Metaphern im engeren Sinn gehört.28 Im Blick auf das Vaterunser macht es Sinn, zwischen der bloßen Bezeichnung Gottes als Vater (wie z.B. in Dtn 32,6; Jer 3,19; Mal 2,10) und der dezidierten Anrede Gottes als Vater (Jes 63,15f.) zu unterscheiden. Nur letzteres interessiert an dieser Stelle. Die Belege lassen sich an zwei Händen abzählen und stammen mehrheitlich aus dem Umfeld 22 Die „Bewahrungsbitte“ formuliert Kleanthes wie Mt 6,13 mit % , außerdem kehrt der Imperativ #& in der Brotbitte Mt 6,11 wieder. Dazu kommt noch die Anrede mit , die wieder näher bei der lk Version steht. 23 Arat., Phaen 15: „Sei gegrüßt, Vater ( ), großes Wunder, große Hilfe für die Menschen ...“ 24 Callim., Hymn 94–96; vgl. vorher schon die Vater-Anrede in Z.15 und Z.43 (* ). 25 Epict., Diss III 24,15f.; dazu J.-J. DUHOT , Épictète et la sagesse stoïcienne, Paris 1996, 89–101 („La parenté divine“). 26 Dio Chrys., Or 1,39f.; interessant auch Or 36,36: „Im Vertrauen auf diese Dichter errichten die Menschen Altäre für den Zeus-König und scheuen sich nicht, ihn bisweilen in ihren Gebeten Vater zu nennen.“ (Hervorh. von mir). 27 K.W. M ÜLLER, König und Vater, in: M. Hengel / A.M. Schwemer (Hgg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt (WUNT 55), Tübingen 1991, 21–43, hier 26. 28 L. PERLITT, Der Vater im Alten Testament, in: H. Tellenbach (Hg.), Das Vaterbild in Mythos und Geschichte, Stuttgart 1976, 50–101, hier 98; H. Ringgren, Art. +., in: ThWAT I, 1–19. O. Hofius, Art. , in: TBLNT2 II, 1723–1728, hier 1724, zählt insgesamt 15 Belege (ohne die nach protestantischem Verständnis apokryphen bzw. pseudepigraphen Tob; Sir; Weish).
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des hellenistischen Judentums. „Herr, Vater (LXX: ) und Gebieter/Gott meines Lebens“ lautete die wiederholte Anrede Gottes in einem Gebet, das um der Kontrolle von Zunge, Herz und Augen willen gesprochen ist (Sir 23,1.4, vgl. auch 51,10)29; Weish 14,3 bringt die Vateranrede (gut hellenistisch) mit der Vorsehung Gottes zusammen. Noch eindrücklicher ist vielleicht das Gebet des greisen Priesters Eleazar 3 Makk 6,2–15, das mit einer Adresse an Gott als „großmächtigen König“, als „höchsten und allmächtigen Gott“ einsetzt (V.2) und ihn dann wiederholt als Vater anspricht (V.3.8). An den „Vaterr des Alls“ richtet sich das Sündenbekenntnis Evas (Apk Mos 32,2), aber auch die Fürbitte der Engel, Gott möge Adams Schuld doch vergeben (Apk Mos 35,2)! Besonders hoch gehandelt wird seit der Arbeit STROTMANNS ein Fragment aus dem Apokryphon Ezechiel (frg. 2), das nach seiner frühesten Bezeugung in 1 Clem 8,3 folgendermaßen lautet: „Ich (sc. Gott) sagte zu den Kindern meines Volkes: Wenn eure Sünden von der Erde bis in den Himmel reichen und wenn sie röter als Scharlach und schwärzer als Sacktuch wären, aberr ihr zu mir aus ganzem Herzen umkehrt und sprecht: ‚Vater ( )!’, so will ich euch als heiliges Volk erhören.“30 Werfen wir von da aus schließlich noch einen Blick nach Palästina. Soweit der fragmentarische Erhaltungszustand der Texte überhaupt ein sicheres Urteil zulässt, begegnen Vaterbezeichnung und Vateranrede für Gott in Qumran relativ selten.31 Noch aus vorqumranischer Zeit stammt 4 Q 504, ein für den liturgischen Gebrauch an Wochentagen bestimmter Text, der in Z.1 den Vatertitel bringt und später von Israel als Sohn Gottes spricht (fr. 2, Kol III, Z.1.4–7). „Unser Vater“ kommt einmal in einem Fragment derr Sabbatlieder vor (4 Q 511, fr. 127), ein anderes Mal in einem Hochzeitsritual aus dem 1. Jh. v.Chr. (4 Q 502, fr. 39,3; Lesung unsicher). Schon länger bekannt ist die Attribuierung Gottes als Vater und Mutter in den Hodajot.32 Seit der vollständigen Veröffentlichung derr Fragmente aus Höhle 4 neu in den Blickpunkt geraten ist ein Beleg, der die Anrede Gottes mit „Mein Vater“ nun für das Gebet eines Einzelnen eindeutig belegt: „Mein Vater (hebr.: abi) und mein Gott! Lasse mich nicht in der Hand von Völkern...“ (4 Q 372, fr. 1,16; eine direkte Parallele dazu in 4 Q 360, fr. 5,15). Zu beachten bleibt darüber hinaus, dass einigen jüdischen Wundercharismatikern in der rabbinischen Tradition ein Sohnesstatus vor Gott zugeschrieben wurde. Im Zusammenhang mit Choni dem Kreiszieher, derr mTaan 3,8 zufolge vor Gott „wie ein Haussohn“ gewesen sei, begegnet sogar zweimal die Abbaanrede: im Munde Chonis selbst (bTaan 23b) und seines ebenfalls als Regenzauberers tätigen Enkels Chanan ha-Nehba (bTaan 23b). Beide Stellen sind aber spät und 29
A. S TROTMANN , „Mein Vater bist du!“ (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vater schaftt Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften (FThSt 39), Frankfurt a.M. 1991, 78, bestimmt es als „selbständiges kleines Klagelied eines einzelnen“; bedauerlicherweise liegt ausgerechnet zu dieser Stelle keine hebräische Textüberlieferung vor. 30 Ähnlich Ex Am NHC II,6 135,29–136,4; der Schluss mit der Vateranrufung Gottes auch bei Cl. Al., Paed I 10,91. Ausführlich dazu A. STROTMANN , Vater (s. Anm. 29) 145–156; überzogen dagegen die Folgerungen bei U. MELL, Vater-Unser (s. Anm. 4) 168f., demzufolge die palästinische Gemeinde mit dem liturgischen Ruf „Abba“ ihre Umkehr dokumentiert habe bzw. Jesus nach Analogie von Apokr Ez, fr.2 und im Blickk auf das „Unheilskollektiv“ Israel den Begriff abba formuliert haben soll. 31 Vgl. A. S TROTMANN , „Vater“ (s. Anm. 29) 330–359. 32 Vgl. 1 QH 17,35f. (= 9,35f. alte Zählung): „Denn Du bist Vater für alle [Söhne] Deiner Wahrheit und jauchzt auf über sie wie eine liebevolle Mutter über ihr Kind, wie ein Pfleger versorgst du am Busen all Deine Werke“.
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unterliegen nach der sorgfältigen Analyse SCHELBERTS dem Verdacht, sekundär eingefügt worden zu sein.33
Die Anrede Gottes als Vater ist demnach weniger exklusiv als zunächst vielleicht angenommen, sondern Teil eines religiösen Sprachspiels, das sowohl der griechisch-hellenistischen Kultur wie auch dem Judentum vertraut ist. Die Aktualisierung derart vorgegebener Sprachmöglichkeiten in Gestalt des abba bleibt aber auffällig, zumal sie bis dato „the earliest attestation of this term in a vocative sense“ darstellt.34 Unterschiede zu Platon, der Stoa oder auch Teilen des hellenistischen Judentums, wo der Vatermetapher stets ein Zug ins Große anhaftet – Gott als Vater der Schöpfung –, bestehen darüberhinaus insofern, als die Abbaanrede Gott dezidiert aus der Perspektive häuslicher Erfahrung wahrnimmt: „’Abba’ sagt man zuhause über den Tisch, wenn man den Vater ansprechen will.“35 Die zweifelsohne auch in der Verkündigung des Täufers vorhandene Nähe Gottes, die dort mit Gerichtsmetaphorik verbunden ist (vgl. Mt 3,11f. par Lk 3,16f.), bekommt auf diese Weise ausgesprochen familiäre Züge. Das passt zu zwei Gleichnissen Jesu, die ihr Bildmaterial ebenfalls aus der Welt der Familie beziehen und deren Vaterfiguren wohl doch auf Gott zu beziehen sind: Das bei Lukas überlieferte Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32)36 und das in Mt 21,28–31 erhaltene Gleichnis vom Vater und den beiden Söhnen.37 Ich sehe deshalb keinen zwingenden Grund, die Abbaanrede Jesus abzusprechen. 2. Die Du-Bitten An die Vateranrede schließt sich die Bitte um die Heiligung des Gottesnamens unmittelbar an. Jenes „Heiligen des Namens“ wird oft als Aufforderung zum Beten verstanden, etwa im Sinne des Lobpreises Gottes als des Heiligen in den Psalmen (vgl. Ps 99,3.5.9; 103,1; 105,3), oder als Mahnung, dem Willen Gottes gegenüber gehorsam zu sein und seine Gebote zu halten (Lev 22,31f.). Auch an das Schwurverbot Jesu, das im Rückgriff auf Ex 33
G. S CHELBERT, Sprachgeschichtliches (s. Anm. 18) 398–405. J.A. F ITZMYER, Abba (s. Anm. 18) 30. 35 H. W EDER, Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, Zürich 3 1994, 176. 36 Näheres dazu, auch zur Deutung der Vaterfigur auf Gott bei B. HEININGER , Metaphorik, Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergutgleichnissen bei Lukas (NTA.NF 24), Münster 1991, 161–165. 37 Ob man darüber hinaus auch Mt 11,9–11 par Lk 11,11–13 mit heranziehen soll, wie häufig vorgeschlagen wird, ist nach den eingehenden Analysen von M. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß (HBS 15), Freiburg i.Br. 1998, 304–315, fraglich. Zwar gehen die Bilder nach EBNER auf Jesus zurück, der Vaterbegriff sei aber erst sekundär (wenn auch in der allerersten Anwendung) hinzugekommen. 34
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20,7; Dtn 5,11 den Missbrauch des Gottesnamens für Eidesleistungen kritisiert (vgl. Mt 5,33–37), ließe sich denken. Im Blick auf die direkt folgende Bitte um das Kommen der Gottesherrschaft und eingedenk des Charakters des Vaterunsers als Bittgebett – sämtliche Gebetsäußerungen „wollen“ etwas von Gott – dürfte aber weniger an eine menschliche als vielmehr an eine göttliche Aktion gedacht sein: Gott selbstt soll für die Heiligung seines Namens sorgen!38 Das liegt in der Fluchtlinie von Ez 36,16–25, demzufolge Gott seinen „bei den Völkern entweihten Namen wieder heiligen“ wird (V.23). Im Kontext Ezechiels ist das gleichbedeutend mit der Rückführung Israels aus dem Exil; dadurch erweist der Gott Israels vor dem Forum heidnischer Öffentlichkeit seine Macht. Die Bitte um die Heiligung des Namens Gottes zielt also darauf, dass Gott endlich „ernst machen“ möge, dass er seine Macht vor aller Augen öffentlich demonstriert. Inhaltlich läuft das letztendlich auf dasselbe hinaus, was die zweite Vaterunserbitte mit den Worten „Deine Herrschaft komme!“ erfleht. Ungewöhnlich daran wirkt nur die Rede vom „Kommen der basileia“, die im Vatergebet die jüdischen Ohren vertrautere Rede vom „Kommen Gottes“ ersetzt.39 Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich Sach 14, eine erstt spät (nach 300 v.Chr.) an das Sacharjabuch angehängte Schilderung des „Tages des Herrn“, die mit dem eschatologischen Kampf gegen die feindlichen Völker einsetzt (14,1–3) und dann fortfährt: „Und der Herr, mein Gott, wird kommen und alle Himmlischen mit ihm. An jenem Tag wird keine Hitze mehr sein und keine Kälte noch Frost..., kein Wechsel von Tag und Nacht, auch zur Zeit des Abends wird Licht sein... Und der Herr wird dann König sein über die ganze Erde; an jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name derr einzige.“ (Sach 14,5–9)
Die Erwähnung des „Namens“ in Sach 14,9 lenkt den Blick auf das Vatergebet zurück und unterstreicht: Beide Bitten, die Bitte um die Heiligung des Namens ebenso wie die Bitte um das Kommen der basileia, meinen in der Sache dasselbe: Sie erflehen das Kommen Gottes als König in Macht. Genau hier beginnen dann aber die Probleme. Stößt sich die derart aufgewiesene eschatologische Ausrichtung der beiden Du-Bitten nicht mit derr von Jesus anderweitig behaupteten Gegenwart der Gottesherrschaftt (vgl. Lk k 11,20; 17,20f.!)? Und ist es nicht so, dass die Heiligkeit Gottes nur hier, 38 Mit J. G NILKA , Mt I (s. Anm. 17) 218f.; M. L IMBECK, Matthäus-Evangelium (SKK. NT 1), Stuttgart 1998, 105, oder R. FELDMEIER, Verpflichtende Gnade. Die Bergpredigtt im Kontext des ersten Evangeliums, in: Ders. (Hg.), Salz der Erde. Zugänge zur Bergpredigt (Biblisch-theologische Schwerpunkte 14), Göttingen 1998, 15–107, hier 61. Anders dagegen U. LUZ , Mt I (s. Anm. 8) 342–344, der sich für eine „offene Deutung“ aus spricht: Es sei sowohl an ein Handeln des Menschen wie an ein Handeln Gottes gedacht. 39 Vgl. Jes 35,4: „Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung; er selbstt wird kommen und euch erretten“; weiter Jes 40,9f.; 59,19f.; 66,15.18; Mal 3,1f.
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aber nirgendwo sonst in der Jesustradition ein Thema ist?40 Und wäre es von daher nicht folgerichtiger, die beiden Du-Bitten auf das Konto der nachösterlichen Gemeinde bzw., spezieller, der Tradenten der Logienquelle zu buchen, für die der futurische Aspekt der Basileiabotschaft Jesu ebenso wie der Gerichtsgedanke wieder signifikant in den Vordergrund tritt?41 Unmittelbares Vorbild könnte das Qaddisch gewesen sein, das im Anschluss an die Verlesung der Tora und später auch zum Abschluss jedes wichtigen Synagogengebetes gesprochen wurde, und nach dem Urteil solcher Koryphäen wie PAUL FIEBIG oder JOACHIM JEREMIAS noch in die Zeit vor 70 n.Chr. zurückreicht42: „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen hat, und sein Reich entstehe in eurem Leben und in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit. Sprechet: Amen! Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten!“
Gerade die Kombination der Bitten – Heiligung des Namens undd Aufrichtung des Königtums Gottes – macht das Qaddisch zu einer ausgezeichneten Parallele.43 Allerdings ist die vorgeschlagene Frühdatierung keineswegs über jeden Zweifel erhaben44, und man wird auch in Rechnung stellen müssen, dass es innerhalb der authentischen Jesustradition durchaus Basileiaaussagen gibt, deren zukünftige Ausrichtung schwerlich bestritten werden kann45: Neben den Saatgleichnissen (vgl. etwa Mk 4,26–29; Mk 4,30–32 parr Mt 13,31f.; Lk 13,18f.), die – möglicherweise vor dem Hintergrund 40 Vgl. U. M ELL, Vater-Unser (s. Anm. 4) 169, demzufolge man nicht umhin könne, „kräftig Wasser in den Wein vorgeblicher Jesus-Authentizität zu schütten“. In Lk 1,49 ist die Heiligkeit Gottes Bestandteil des Magnifikat. 41 Zur Entwicklung der Basileia-Vorstellung im frühen Christentum vgl. G. DAUTZENBERG , Der Wandel der Reich Gottes-Verkündigung in der urchristlichen Mission, in: Ders. / H. Merklein / K. Müller (Hgg.), Zur Geschichte des Urchristentums (QD 87), Freiburg i.Br. 1979, 11–32; speziell zur Eschatologie der Logienquelle P. HOFFMANN , Studien zur Theologie der Logienquelle (NTA.NF 8), Münster 31982, 34–50. 42 Vgl. auch I. ELBOGEN, Der jüdische Gottesdienst in seiner Entwicklung, Frankfurt 3 1931, Nachdr. Hildesheim 21995, 92–95; der Text wird zitiert nach C.K. BARRETT / C.J. THORNTON (Hgg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments (UTB 1591), Tübingen 2 1991, 239. 43 Eine andere, häufig genannte Parallele liegt mit der 11. Bitte des Schemone Esre (auch: Amidah), des Achtzehngebets, vor; sie lautet: „Bring zurück unsere Richter wie zuerst und unsere Berater wie im Anfang und sei König über uns, du allein. Gepriesen seist du Jahwe, der da liebt das Recht!“ (Übers. nach J. LEIPOLDT / W. GRUNDMANN , Umwelt des Urchristentums II: Texte zum neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 71986, 232) 44 J.A. F ITZMYER, Luke (s. Anm. 14) 901; J.P. M EIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus. Vol. II: Mentor, Message, and Miracles, New York 1994, 361f., weisen zurecht darauf hin, dass die älteste schriftliche Fixierung dieses Gebetes erst aus dem 6. Jh. n.Chr. (!) stammt. Das sollte methodisch zu einer gewissen Vorsicht raten lassen. 45 Vgl. D. ZELLER, Ankündigung (s. Anm. 2) 93f.
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einer in die Krise geratenen Basileiaverkündigung Jesu – dezidiert auf das überwältigende Kommen der Gottesherrschaft abheben, wäre hier vor allem an den sogenannten eschatologischen Ausblick in Mk 14,25 zu erinnern, ein m.E. authentisches Jesuslogion.46 Das prophetische Wort ist im Wissen um den baldigen Tod gesprochen: Jesus wird sterben, bevor er noch einmal an einem Festmahl teilnehmen kann; Wein gibt es für ihn erst wieder, wenn Gottes Herrschaft sich endgültig durchgesetzt hat. 3. Die Wir-Bitten a) Welches Brot? Die Brotbitte ist eine alte crux interpretum. Schon die Kirchenväter verstanden den Sinn des das Brot näher bestimmenden griechischen Adjektivs nicht mehr: Wird entsprechend heutiger liturgischer Praxis um m das tägliche Brot gebeten oder um das notwendige Brot oder gar um das eucharistische Brot, wie Hieronymus, der Übersetzer der Vulgata, meinte? Eine sichere Antwort fällt schwer, da in der außerbiblischen griechischen Literatur praktisch nicht vorkommt47 und die Bedeutung des Adjektivs allein mit Hilfe philologischer Mittel erschlossen werden muss. Aus der Vielzahl der vorgetragenen wissenschaftlichen Hypothesen greife ich die beiden wichtigsten bzw. populärsten Lösungsvorschläge heraus.48 Die philologisch sauberste Lösung erklärt von dem Verb her, das seiner Grundbedeutung nach so viel wie „herankommen, hinzugehen“, im zeitlichen Sinn auch „herannahen, bevorstehen, folgen“ heißt.49 Das ließe für als mögliche, aber sprachlich wohl nicht völlig einwandfreie Ableitung des substantivierten Partizips & (= „die Zukunft“) die Bedeutung „zukünftig, regelmäßig wiederkehrend“ zu oder, philologisch noch ein Stückk befriedigender, die Bedeutung „morgig, für den nächsten Tag“. Im zweiten Fall hätte man 46 Die Rekonstrukion des ältesten Abendmahlsberichts ist, aufgrund der dif ferierenden Überlieferungen bei Matthäus und Markus auf der einen (Mt 26,26–29; Mkk 14,22–26) sowie Lukas und Paulus auf der anderen Seite (Lk 22,15–20; 1 Kor 11,23–26), ein nach wie vor ungelöstes Problem. Trotz anderslautender neuerer Vorschläge halte ich es diesbezüglich immer noch mit H.-J. KLAUCK , Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum 1. Ko rin therbrief (NTA.NF 15), Münster 21986, 297–323, der von einem allmählichen Wachstum des Abendmahlsberichts im m Verlauf des Über liefe rungspro zesses aus geht und insbesondere die Deutung des Bechers auf das Bundesblut als sekundär erachtet. 47 Der einzige unsichere Beleg ist ein Ausgabeverzeichnis auf Papyrus (Preisigke, SB I 5224), das neben Kichererbsen, Stroh, usw. auch eine halbe Obole für ... nennt. Vermutlich ist zu zu ergänzen. Mehr haben wir nicht. 48 Wer tiefer gehen will, sei verwiesen auf: W. FOERSTER, Art. , in: ThWNT II, 587–595; C. M ÜLLER, Art. , in: EWNT II, 79–81; C. HEMER, , in: JSNT 22 (1984) 81–94; W. G RIMM , Art. , in: TBLNT2 I, 204–206; rasch und solide informiert auch U. LUZ, Mt I (s. Anm. 8) 345. 49 F. P ASSOW , Handwörterbuch der griechischen Sprache. Erster Band, zweiter Teil, Leipzig 51847, Nachdr. Darmstadt 1993, 1019.
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als Weiterbildung des stehenden Ausdrucks () zu betrachten, der sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Neuen Testaments in der Bedeutung „der folgende, nächste Tag“ gut belegt ist.50 Nach wie vor hat ihre Anhänger aber auch die Herleitung von 2, „dazu sein“, obwohl sie philologisch mit den größeren Schwierigkeiten verbunden ist. Denn nach den Regeln der griechischen Wortbildungslehre müsste das entsprechende Adjektiv eigentlich und nicht lauten, d.h. müsste das ausgestoßen werden.51 Man behilft sich dann mit der Ableitung „von der Präposition und einer Form des Verbums 3“52, wobei in der Mehrzahl der Fälle der Ausdruck 4 " 5, d.h. so viel wie „zum Dasein, zum Leben gehörig“, die Folie abgibt, auf deren Hintergrund unser Adjektiv gebildet ist. Das legitimiert dann die bereits erwähnte Übersetzung von mit „nötig, notwendig“.
Geht man von der letztgenannten Ableitung aus und paraphrasiert dementsprechend die Brotbitte mit den Worten „Das für die Existenz notwendige Brot, das Brot, das wir brauchen, gib uns heute!“53, dann führt das zu einem Gebet, das man am Morgen spricht und in dem man um den Lebensunterhalt für den bevorstehenden Tag bittet. Das würde ausgezeichnet zur Situation jener Jüngerinnen und Jünger Jesu passen, die wie ihr Meister Haus und Hof verlassen, ihren Beruf an den Nagel hängen und fortan eine Wanderexistenz am Rande der Gesellschaft führen. Sie ziehen morgens ohne Proviant los und sind darauf angewiesen, dass sie unterwegs etwas zu essen vorgesetzt bekommen (vgl. Lk 10,4.7!). Der Umstand, dass das Gebet zum Vater Bestandteil der Logienquelle ist, also von Leuten tradiert wurde, für die das Siegel „Wanderradikale“ exakt zutrifft, ist ein gewichtiges Argument für diese Deutung bzw. mindestens dafür, dass das auf dieser Traditionsstufe so verstanden wurde. Aber war das Vatergebet von Anfang an nur als gruppenspezifisches, d.h. speziell in die Situation der Wanderradikalen hineinzielendes Gebet konzipiert? Die philologisch besser begründete Ableitung des von („Unser Brot, das für morgen, gib uns heute!“) schließt die Wanderradikalen als Zielgruppe des Gebets zwar nicht zwangsläufig aus54, 50 Vgl. nur für das Neue Testament Apg 7,26: 6 7 8; ohne 8 Apg 16,11; 20,15; 21,18. Das Nachtgesicht in Apg 23,11 eröffnet mit der Zeitangabe 6 7 , „in der darauf folgenden Nacht“. 51 U. L UZ, Mt I (s. Anm. 8) 346; anders W. G RIMM , TBLNT2 I (s. Anm. 48) 205, der auf Analogiebildungen wie aufmerksam macht. 52 W. FOERSTER , ThWNT (s. Anm. 48) 590. 53 So etwa J. G NILKA , Mt I (s. Anm. 17) 223; M. LIMBECK , Mt (s. Anm. 38) 107; H. S CHÜRMANN , Lk II/1 (s. Anm. 5) 195f. 54 Originell und überlegenswert ist der Vorschlag von W. BINDEMANN , Das Brot für morgen gib uns heute. Sozialgeschichtliche Erwägungen zu den Wir-Bitten des Vaterunsers, in: BThZ 8 (1991) 199–215, der das einerseits im Sinne von „für morgen“ bestimmt, andererseits aber an der Verortung in der „Wanderradikalenszene“ festhält. Mit Blick auf die Emmaus geschichte (Lk 24,13–35), die die von der ersten WirBitte ins Auge gefasste Situation ideal typisch festhalte, bestimmt BINDEMANN den Ort der
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ermöglicht aber auch ein etwas anderes Szenario. Gut vorstellbar wäre die Bitte um das „Brot für morgen“ ebenso im Munde von Tagelöhnern, die oft nicht wissen, ob sie am nächsten Tag Arbeit finden und ihre Familien ernähren können (vgl. Mt 20,1–15). Nicht um Reichtümer geht es, sondern um das bloße Überleben; das „heute“ lässt die Dringlichkeit der Bitte noch erahnen. Vielleicht darf man in den Adressaten sogar die Bettelarmen derr Seligpreisungen sehen, die buchstäblich nichts haben und hungern (Mtt 5,3f. par Lk 6,20). Für sie garantierte das erbetene Brot sogar noch etwas mehr als bloße Sättigung; es wäre ein Zeichen für die Gegenwart der ihnen zugesagten Gottesherrschaft („... denn ihr werdet gesättigt werden“!). Von daher wird man auch die heute weithin abgelehnte eschatologische Deutung, welche die Brotbitte als Bitte um das Brot des endzeitlichen Mahls versteht („Dieses zukünftige Brot gib uns heute!“)55, zumindest im Auge behalten müssen. Dass der Zusammenhang von Gottesherrschaft und Gastmahl (vgl. Jes 25,6) Jesus geläufig war, geht aus Mt 22,1–14 par Lkk 14,16–24 oder Mk 14,25 eindeutig hervor, die möglicherweise von Lukas stammende Einleitung zum Gastmahlsgleichnis weist explizit auf das Brott als Element der Reich Gottes-Hoffnung hin (Lk 14,15).56 Problematisch an der eschatologischen Deutung ist, dass gerade die von Jesus praktizierte Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern Realsymbol der bereits angebrochenen Gottesherrschaft zu sein scheint57, während die Brotbitte in Verlängerung der beiden Du-Bitten einer extremen Naherwartung Ausdruck verleiht, die quasi stündlich mit dem Einbrechen der Gottesherrschaft rechnet. b) Schuldenerlass Die Abfolge von Brot- und Vergebungsbitte erinnert daran, dass derr Mensch nicht „vom Brot allein [lebt], sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt“ (Dtn 8,3). Als notorische Schuldenmacher, die Brotbitte im abendlichen Dankgebet des Wander missionars über dem Brot, das in derr Hausgemeinde, die ihn aufgenommen hat, gebrochen wird. „Die Bitte um das tägliche Brot ist im Munde eines Wanderradikalen der Jesusbewegung Bitte um ein offenes Haus am nächsten Abend, um eine Mahlgemeinschaft, die dann wieder das Brot mit ihm teilt.“ (ebd. 205) 55 J. J EREMIAS, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, in: Ders., Abba, Göttingen 1966, 152–171, hier 165–167; R. BROWN, The Pater Noster as an Eschatological Prayer, in: Ders., New Testament Essays, Garden City 1968, 275–320, hierr 301–308. 56 Insofern ist die Kritik von A. VÖGTLE, Bezug (s. Anm. 12) 39f., Jesus habe seinen Zuhörern ein Verständnis des Brotes als „Brot der Heilszeit“ nicht zutrauen können, sicher überzogen. 57 Vgl. diesbezüglich jetzt meine Ausführungen zur Mahlpraxis Jesu in G. VANONI / B. H EININGER , Das Reich Gottes (NEB.Themen 5), Würzburg 2002.
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ihr Konto ständig überziehen und deshalb bei Gott dauerhaft „in der Kreide stehen“, brauchen Menschen das Wort der Vergebung genau so dringend wie das tägliche Brot. Ungewöhnlich ist das gewählte Bild: Der Terminus , „Schulden“, stammt aus der Welt des antiken Kreditgeschäfts.58 Wenn jemand Geld aufnimmt für den Kauf von Waren wie z.B. Weizen, Wein oder auch Papyrusblätter – antike Belege dafür liegen vor –, dann wird eine Schuldurkunde ausgestellt, die (häufig mit einer Form von -) die Schuldsumme festhält, darüber hinaus den Zinssatz nennt, den Termin zur Begleichung der Schulden sowie eventuelle Zwangsmaßnahmen für den Fall der Zahlungsunfähigkeit.59 Wie diese im schlimmsten Fall aussehen konnten, illustriert Mt 18,25: „Da er aber nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn, seine Frau und seine Kinder und seine ganze Habe zu verkaufen und (den Erlös ihm) zu bezahlen.“ Solche Situationen möchte die zweite Wir-Bitte des Vaterunsers tunlichst vermeiden: „Und erlasse uns unsere Schulden“ – das ist die ganz unbescheidene Bitte um einen Strich durch die Rechnung der Sünden bzw. um den Ausgleich von Konten, die tief in den roten Zahlen stecken! Ungleich schwieriger zu beantworten ist die Frage nach dem Zeitpunkt des erbetenen Schuldenerlasses. Bis zur Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. durch die Römer steht mit dem Opferkult ja eine Institution zur Verfügung, welche die Vergebung persönlicher wie kollektiver Schuld ermöglicht. Die frühchristliche Gemeinde oder jedenfalls ein Teil von ihr nimmt nachweislich am Tempelkult teil (vgl. Apg 3; Mt 5,23f.!). Aber ist es für den historischen Jesus wirklich vorstellbar, dass er seinen Nachfolgern ein Gebet hinterlässt, dessen Vergebungsbitte auf das Sühneritual am Tempel zielt, wo doch die Kritik am Tempel und seinem Betrieb quer durch alle Traditionsstränge bezeugt und vermutlich auch der Auslöser für Verhaftung und Hinrichtung Jesu gewesen ist?60 Mehr für sich hat deshalb die eschatologische Deutung, die auf der Linie der nachexilischen Pro-
58 Altes Testament und Frühjudentum wissen selbstverständlich darum, dass sich der Mensch vor Gott schuldig macht und deshalb der Vergebung bedarf. Die dafür gebrauchten Metaphern sind aber mehrheitlich der Kult- und Rechtssprache entnommen; Metaphern aus dem Finanzwesen fehlen praktisch vollkommen (Ansätze in diese Richtung vielleicht in 2 Sam 19,20: die Schuld nicht „anrechnen“; Ps 130,12: von der Macht der Sünde „loskaufen“). Erst die spätere rabbinische Tradition beschreibt das Verhältnis des Menschen zu Gott als das eines Schuldners zu seinem Gläubiger und gebraucht den Schuldenerlass als Bild für die Vergebung der Sünden, vgl. ExR 31 (91b); weiter Tanch 97a/b; TMal 1,14. 59 Vgl. B. H EININGER , Metaphorik (s. Anm. 36) 91–94. 60 Vgl. Mk 11,15–19 parr; Joh 2,13–17 (Tempelaktion) und Mk 13,2; 14,58; 15,29 parr; Joh 2,19; Apg 6,14 (Tempelwort); dazu zuletzt K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament (FRLANT 184), Göttingen 1999.
III. Das Gebet zum Vater
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phetie Sündenvergebung als Gabe der Endzeit betrachtet61, also den in derr zweiten Wir-Bitte erbetenen Schuldenerlass im Gericht am jüngsten Tag lokalisiert.62 Aber auch diese Lösung ist nicht ganz ohne Probleme. Wenn nämlich zutrifft, dass mit Mk 2,5 („Mein Kind, deine Sünden sind vergeben“) ein echtes Jesuswort vorliegt, d.h. dem Gelähmten die Vergebung der Sünden (die ein Privileg Gottes bleibt) von Jesus hier und jetztt schon zugesprochen wird, und zwar außerhalb jeglichen kultischen Rahmens und ohne jede Bedingung63, dann macht die Bitte um einen zukünftigen Schuldenerlass auf der Ebene des historischen Jesus wenig Sinn, bzw. bedarf einerr besonderen Erklärung.64 Wesentlich besser verortet wäre die eschatologisch verstandene Bitte hingegen beim Täufer, falls Mk 1,4 („verkündigend eine Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“) die historischen Umstände sachgemäß wiedergibt und das 9 : ; $ an dieserr Stelle wirklich futurischen Sinn hat.65 Im Kontext der Johannestaufe, etwa als Abschluss des nach Mk 1,5 geforderten Sündenbekenntnisses, ergäbe die zweite Wir-Bitte (sogar mit dem Nachsatz!) einen guten Sinn! c) Die Versuchungsbitte Die letzte Wir-Bitte, die eine schöne Parallele im jüdischen Abendgebett hat66, irritiert den frommen Beter noch heute: Führt Gott etwa selbst in 61 Vgl. Mi 7,19 und für die Rezeption dieser Vorstellung in (vor)neutestamentlicherr Zeit 11 QMelchizedek (= 11 Q 13), einen auf der Basis von Jes 61,1; 52,7 (und anderen Stellen) geknüpften Midrasch für das „Ende der Tage“ (Kol. II, Z.4), an dem Malkizedek, eine himmlische Erlösergestalt, für die „Gefangenen ... Freilassung ausruft, um ihnen nachzulassen die Last ihrer Verschuldungen“ (Z.6; vgl. auch Z.8). Darauf erfolgt die Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes. 62 Neuerdings wieder prononciert vertreten von J.P. MEIER, Jew II (s. Anm. 44) 301: „The petition for forgiveness has in view the fearful final judgement that God the king will hold on the last day.“ 63 Vgl. H.-J. K LAUCK , Die Frage der Sündenvergebung in der Perikope von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12 parr), in: Ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 286–312. 64 Das sieht auch H. SCHÜRMANN , Lk II/1 (s. Anm. 5) 197f., der allerhand Gedankenakrobatik aufwenden muss, um die Dinge auf die Reihe zu bringen. Einerseits konzediertt er, dass den Jüngern Jesu „die Vergebung bereits – freilich bedingt – zugesprochen war“, andererseits hätten sich die Jünger „unter dem Eindruck der gesteigerten sittlichen Forderung Jesu“ zunehmend „als hoffnungslos der Schuld verfallene Sünder“ verstehen müssen und stets aufs Neue der Vergebung bedurft! 65 So J. E RNST , Johannes der Täufer. Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte (BZNW 53), Berlin / New York 1989, 334f.; ihm folgt J.P. MEIER, Jew II (s. Anm. 44) 55. 66 bBer 60b (= Bill. I 422): „Bringe mich nicht in die Gewalt der Sünde und nicht in die Gewalt der Schuld und nicht in die Gewalt der Versuchung und nicht in die Gewaltt der Verachtung; es möge in mir der gute Trieb herrschen und nicht möge in mir derr schlechte Trieb herrschen!“ Vgl. auch 11QPs 24,10f. (= Ps 155 = syrPs III): „Denk an
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Versuchung? Wo der Teufel abhanden gekommen ist, scheint diese Konsequenz in der Tat unausweichlich. Der Vers selbst lässt die Frage nach dem Urheber der Versuchung allerdings ein Stück weit offen; außerdem bietet sich die Philologie zur Beruhigung des aufgewühlten religiösen Gewissens bereitwillig an: Dem griechischen " 9'7 liege ein aramäischer Kausativ zugrunde, die adäquate Wiedergabe des ursprünglichen Textes müsse deshalb „lass’ nicht zu, dass wir in Versuchung geführt werden“ lauten oder, besser noch, „mach’, dass wir nicht in Versuchung geraten“.67 Abgesehen davon, dass selbst Spezialisten derlei sprachliche Ausweichmanöver skeptisch beurteilen68, ist auch in der Sache so viel nicht gewonnen. Denn die Auskunft, der Kausativ drücke ein zweipoliges Geschehen aus, „bei dem das veranlasste Objekt durch das veranlassende Subjekt nicht in eine rein passive Rolle gedrängt wird“69, mag Gott ein Stück weit entlasten, nimmt ihn aber keineswegs aus der Verantwortung. Die Rahmenerzählung des Hiobbuches (Ijob 1–2) ist dafür das beste Beispiel. Auch hier ist es ja so, dass Gott im Zuge fortschreitender theologischer Reflexion durch die Einfügung der beiden Himmelsszenen (Ijob 1,6–12; 2,1–7) nicht mehr unmittelbar am Unglück Hiobs und damit an dessen „Versuchung“ beteiligt ist70, sondern Satan die Rolle des direkt verantwortlichen Versuchers übernimmt (vgl. Ijob 2,7). Das ändert aber nichts daran, dass Gott zu jedem Zeitpunkt Herr des Geschehens bleibt und infolgedessen das Geschick Hiobs letztlich auch bestimmt (vgl. Ijob 1,12; 2,6!).71
mich und vergiss mich nicht und bring mich nicht in allzu große Härten, lass meine Jugendsünde fern sein von mir und meiner Vergehen werde nicht gedacht.“ 67 Vgl. schon J. H ELLER, Die sechste Bitte des Vaterunsers, in: ZKTh 25 (1901) 85– 93; dann vor allem J. CARMIGNAC , Recherches sur le „Notre Père“, Paris 1969, 236–304, und aus der jüngeren Literatur E. JENNI , Kausativ und Funktionsverbgefüge. Sprachliche Bemerkungen zur Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung“, in: ThZ 48 (1992) 77–88. 68 Vgl. die Ausführungen bei M. LIMBECK, Mt (s. Anm. 38) 110–112, sowie das Urteil bei M. GIELEN, „Und führe uns nicht in Versuchung“. Die 6. Vater-Unser Bitte – eine Anfechtung für das biblische Gottesbild, in: ZNW 89 (1998) 201–216, hier 204: „Mit philologischen Argumenten läßt sich also die theologische Sachfrage zur 6. Vater-Unser-Bitte, ob Gott Menschen zum Bösen versuche, nicht beantworten.“ 69 E. J ENNI , Kausativ (s. Anm. 67) 85. 70 Zur literarischen Schichtung und Genese des Hiobbuches vgl. L. SCHWIENHORST S CHÖNBERGER / G. S TEINS , Zur Entstehung, Gestalt und Bedeutung der Ijob-Erzählung (Ijob 1f.; 42), in: BZ.NF 33 (1989) 1–24. 71 J.M. L OCHMAN , Unser Vater. Auslegung des Vaterunsers, Gütersloh 1988, 119: „Mit Namen wird er (sc. Satan) im Prolog des Hiobbuches genannt: Die treibende Kraft der quälenden Versuchung, der der fromme Hiob – mit Zustimmung und unter der letzten Regie Gottes selbst – ausgesetzt wird.“
III. Das Gebet zum Vater
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Im Übrigen Ü ist, wie gerade das Beispiel Hiobs zeigt, der Gedanke von der Erprobung derr Frommen der atl.-jüdischen Literatur durchaus vertraut.72 Neben Hiob wäre vor allem an Gen 22 und dessen Rezeption innerhalb der frühjüdischen (und frühchristlichen) Literaturr zu erinnern, wo explizit von der Versuchung Abrahams durch Gott die Rede ist.73 Mehrfach ist das Volk während des Wüstenzugs „göttliches Testobjekt“; die Prüfung zielt darauf ab, „ob sie nach meiner Weisung wandeln wollen oder nicht“ (Ex 16,4).74 Abraham, aber auch andere große Gestalten der jüdischen Geschichte sind die Vorbilder (vgl. Sirr 2,10), mit Hilfe derer die späte Weisheitsliteratur ein Problem auf- bzw. bearbeitet, das sich den Frommen und ihren säkularen Verwandten, den Moralisten, zu allen Zeiten stellt: dass sie im Getriebe der Welt auf der Strecke bleiben – getreu dem Motto: „Der Ehrliche ist immer der Dumme“ – bzw. von Schicksalsschlägen genau so wenig verschont bleiben wie die Gottlosen. „Mein Sohn, wenn du dich anschickst dem Herrn zu dienen, so bereite dich auf Anfechtung (LXX: 9 &) vor; mache dein Herz fest, werde stark, damitt du nicht erschrickst zur Zeit der Not ... Denn im Feuer wird Gold geprüft, und gottgefällige Menschen im Ofen des Elends“ (Sir 2,1f.5). Die häufig kolportierte Auffassung, „Versuchung durch Gott“ werde hier als „pädagogisches Mittel verstanden..., das der Erziehung des Menschen dienen soll“75, übersieht aber, dass Sir 2 den Urheber der Versuchung genau so in der Schwebe lässt wie die dritte Wir-Bitte des Vaterunsers, und geht darüberr hinaus an der eigentlichen Intention dieses und ähnlicher weisheitlicher Texte vorbei. „Versuchung“ ist in der Weisheitsliteratur in erster Linie eine theologische Kategorie, ein Deutemuster, das dem Frommen die Bewältigung seiner Leidenserfahrung ermöglichen und ihn davor bewahren will, an Gott bzw. an dem einmal gewählten Lebensentwurf irre zu werden. Weder für Jesus Sirach noch für den Verfasser des Weisheitsbuchs ist Glaube ein Selbstläufer. Wie stellt sich der ntl Befund dar? „Menschliche“ Versuchungen, die bestanden werden können (1 Kor 10,13), dürften für Paulus weitgehend mit dem identisch sein, was er sonst in seinen Lasterkatalogen nennt; speziell im Kontext von 1 Kor 10,13 zählt err Götzendienst, Essen und Trinken sowie Unzucht auf (1 Kor 10,7f.). 1 Kor 10,13 belegtt darüber hinaus, dass Paulus auch eine „Versuchung“ kennt, die über menschliches Maß hinausgeht und mit den dem Ende vorausliegenden eschatologischen Wirren – „der Stunde der Versuchung“ nach Offb 3,10 – identisch ist.76 Der Verfasser des ersten Petrusbriefs begreift die Anfeindungen, Denunziationen und vielleicht auch staatlichen Zwangsmaßnahmen, denen seine Adressaten als Minderheit in einer heidnischen Umgebung ausge-
72 Für das Folgende vgl. H. SEESEMANN , Art. 2 ., in: ThWNT VI, 23–37; W. P OPKES , Art. ) vom Glauben abfallen. Der „Augenblick der Versuchung“ steht für die „Bedrängnis oder Verfolgung wegen des Wortes“ ( @ A #' #B &' ) in Mk 4,17 par Mt 13,21. Das ist nach zwei Seiten hin auswertbar. Zum einen ruft 2@ apokalyptische Konnotationen wach: Der Ausdruck gibt in Mk 13,19 den Terminus technicus für die eschatologische Anfechtung. Und zum anderen weist #'& in Verbindung mit dem „Wort“ und dem möglichen Glaubensabfall auf eine klar umrissene frühchristliche Situation: Die Situation der Wanderradikalen, die um der Verkündigung des Evangeliums allerlei persönliche Unbill erleiden und im Extremfall damit rechnen müssen, „vor Synagogen, Behörden und (staatliche) Obrigkeiten“ geschleppt zu werden.80 Vor dem jüdischen Tribunal müssen die Anhänger 77 Vgl. R. F ELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief (WUNT 64), Tübingen 1992, 105–110. 78 Weniger äußerer Druck als vielmehr innere Ermüdungserscheinungen sind es, die den Autor des Hebräerbriefs auf das Vorbild Christi verweisen lassen, „der in allem auf gleiche Weise versucht worden ist“ (Hebr 4,15; vgl. auch 2,17f.). 79 A. V ÖGTLE, Bezug ( s. Anm. 12) 44f.; U. LUZ , Mt I (s. Anm. 8) 348. 80 Vgl. Lk 12,11 (im Griechischen dort 9!) sowie Mt 5,11f. par Lk 6,22f., wo Matthäus die den Boten der Logienquelle zugefügten Schmähungen dezidiert als
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Jesu Rede und Antwort stehen, es droht ihnen unter Umständen sogar die Todesstrafe.81 Aber, nicht vor denen sollen sie sich fürchten, die den Leib töten können, sondern vor dem, der auch noch in die Hölle werfen kann (Lk 12,4f.). Das ist Gott! An ihn wendet sich die letzte Vaterunserbitte, eine solche Situation der „Versuchung“ erst gar nicht zuzulassen.
IV. Apokalyptische Wende Jesu? 1. Ergebnisse Die meist für selbstverständlich angesehene Attribuierung des Vaterunsers an den historischen Jesus erweist sich bei genauerem Hinsehen doch als problematischer als es zunächst scheint. Zwar sind die Hindernisse wohl nicht unüberwindbar, eine differenzierte Betrachtung ist aber auf jeden Fall angebracht. Spezifisch jesuanische Elemente zeigen sich m.E. in derr Anrede Gottes als abba (selbst wenn diese weniger singulär ist als lange Zeit angenommen), in der zweiten Du-Bitte, die mit der basileia nichtt nur ein „Zentralwort“ (J. BECKER) der Verkündigung Jesu präsentiert, sondern auch mit der Bitte um deren „Kommen“ von frühjüdischen Sprachgewohnheiten abweicht (sonst wird das Kommen Gottes als König herbeigefleht), und in der Brotbitte, die sich – unabhängig davon, ob man nun mit „morgig“ oder „notwendig“ übersetzt – gut in das palästinische Milieu mit seinen sozialen Erosionserscheinungen einfügt und bezeichnenderweise (im Unterschied zu den übrigen Bitten) keine direkte jüdische Parallele vorzuweisen hat.82 Gut vorstellbar ist aber auch, dass die Brotbitte, ebenso wie die am Ende des Gebets platzierte Versuchungsbitte, auf das Konto der Tradenten der Logienquelle geht, da beide Bitten vorzüglich zur ungesicherten und z.T. lebensbedrohlichen Wanderexistenz dieser frühchristlichen Missionare passen. Unbestritten sollte der eschatologische Charakter der beiden Du-Bitten sein. Für die drei Wir-Bitten istt dies hingegen nicht so sicher. Man kann sie eschatologisch interpretieren, muss es aber nicht. Entscheidet man sich mit J.P. MEIER für die futurische Lesart, gibt es vor allem im Blick auf die dann für das Gericht in Aussichtt gestellte Sündenvergebung Erklärungsbedarf.83 Charakteristisch für Jesus ist der bedingungslose Zuspruch der Sündenvergebung hier und jetzt (Mkk „Ver folgung“ interpretiert, während Lukas stärker auf den Synagogenausschluss abhebt. 81 D. ZELLER, Kommentar zur Logienquelle (SKK.NT 21), Stuttgart 1984, 73f. 82 Bill. I, 420, verweist auf Spr 30,8; J. GNILKA , Mt I (s. Anm. 17) 224, auf die 9. Bitte des Schemone Esre: „Segne für uns, Jahwe, unser Gott, das Jahr zum Guten in allen Arten seines Ertrags ... und gib Tau und Regen auf die Oberfläche der Erde“. 83 Das übersieht J.P. M EIER, Jew II (s. Anm. 44) 301, völlig.
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2,5). Andererseits scheint das gewählte Bild („Geldschulden“) wiederum spezifisch jesuanisch zu sein. Das gilt für die erste Du-Bitte gerade nicht: Die Heiligung des Gottesnamens steht in der Jesustradition wie ein erratischer Block da. Der Gesamteindruck fällt demnach ambivalent aus: Einerseits ist die jesuanische „Färbung“ des Gebets zum Vater unverkennbar, andererseits sperrt sich der Text gegen eine allzu simple Verrechnung unter die authentische Jesustradition. Da es nicht ratsam ist, die eingangs rekonstruierte älteste Gestalt des Vaterunsers (das „Gebet zum Vater“) noch weiter literarkritisch zu dekomponieren, also einen Teil der Bitten Jesus, einen anderen der frühen Gemeinde zuzuschlagen, der klar strukturierte Aufbau (1 + 2 + 3 Glieder) vielmehr für einen einheitlichen Entwurf von Anfang an spricht, scheint sich eine ältere, seinerzeit von SCHULZ vertretene Lösung förmlich aufzudrängen: Das Gebet zum Vater ist eine Bildung der frühen Gemeinde bzw. deren Wanderprediger.84 Die von uns als „jesuanisch“ identifizierten Elemente erklärten sich dabei so, dass man bewusst am Sprachgebrauch Jesu Maß nimmt. 2. Das „Gebet zum Vater“ als Gebet Jesu Gegen die Zuschreibung an die frühe Gemeinde spricht allerdings ein wenig der Umstand, dass das Vatergebet auf christologische Elemente verzichtet.85 Und auch wenn man im Blick auf den eschatologischen Charakter des Gebets oder einzelner Teile davon nicht mehr den Optimismus eines HELMUT MERKLEIN teilt, der die authentische Jesustradition im Wesentlichen von futurischen Basileiaaussagen bestimmt sah86 – völlig ausblenden wird man diese auch nicht können, wie Mk 14,25 und die Saatgleichnisse aus Mk 4 nachdrücklich zeigen.87 Auffälligerweise fallen gerade die genannten Belege in die Spätphase des Wirkens Jesu (evident im Fall von Mk 14,25). Damit rückt die eingangs formulierte Hypothese wieder ins Blickfeld: Sollte Jesus gegen Ende seines Lebens wieder zu den naheschatologischen Positionen des Täufers zurückgekehrt sein, und ist das Vaterunser ein weiterer Beleg für diese „apokalyptische Wende“? Die (für die Verortung beim historischen Jesus) „schwerverdaulichen“ Ele84
S. S CHULZ, Q. Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 86f. Soweit richtig H. SCHÜRMANN , Lk II/1 (s. Anm. 5) 205. 86 H. M ERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu (FzB 34), Würzburg 31984, 115–117. 87 J.P. MEIER, Jew II (s. Anm. 44) 309–347, betrachtet darüber hinaus noch Mt 8,11f. par Lk 13,28f. und Mt 5,3f.6 par Lk 6,20f. als authentische zukünftige Basileiaaussagen, während er Mt 10,23; Mk 9,1; 13,30 als Gemeindebildungen ausmacht. Letzteres geschieht m.E. zu Recht, aber auch im Fall von Mt 8,11f. par Lk 13,28f. ist die Authentizität nicht sicher. Die drei jesuanischen Makarismen ließen sich auch präsentisch verstehen. 85
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mente des Vaterunsers wie z.B. die Heiligung des Gottesnamens oder die für die Endzeit reservierte Sündenvergebung erklärten sich dann als Aufnahme genuiner Täuferstoffe, denen Jesus freilich mit der Voranstellung der Abbaanrede eine eigene Note verliehen hätte.88 Argumente für diese Hypothese gibt es durchaus. Mehr allgemein: Der Zug Jesu nach Jerusalem muss nicht nur eine Frömmigkeitsübung gewesen sein, sondern könnte auch an die Hoffnung anknüpfen, wonach Gott seine Herrschaft auf dem Zion bzw. von Jerusalem aus errichtet (reflektiert in Lk 19,11f.!). Diese spielte im jüdischen Krieg nachweislich eine Rolle. Speziell auf das Vatergebet bezogen: Schon immer wurden die Bezüge zwischen dem Vaterunserr und der Getsemaniszene (Mk 14,32–42 parr) gesehen. Hier wie dort betett Jesus, redet Gott mit abba an (14,36) und fordert die Jünger auf zu beten, damit sie nicht dem (hier wohl endzeitlich zu verstehenden) & verfallen (14,38).89 Eine ältere Überlegung VAN TILBURGS ging dahin, das Vaterunser als „a liturgical reflection upon the Gethsemane story“ zu verstehen.90 Mehr für sich hat m.E. die umgekehrte Annahme: Dass nämlich das Vatergebet im Hintergrund der Getsemanierzählung steht, vielleichtt sogar deren erzählerischen Nukleus bildet. Der Nachweis für diese These wäre allerdings noch zu führen.
88 Die – allerdings nur von Lukas gebotene – Einleitung zum Vaterunser „Herr, lehre uns beten, wie Johannes seine Schüler lehrte“ (Lk 11,1) erhielte so eine völlig neue Dimension: Jesus machte auch materialiter Anleihen beim Täufer! Zur Gebetspraxis derr Johannesjünger vgl. auch Lk 5,33 diff Mk 2,18. Zuzugeben ist: Lukas ist der Theologe des Gebets, d.h. beide Stellen unterliegen dem Verdacht redaktioneller Bildung. 89 Vgl. nur M. G IELEN, Versuchung (s. Anm. 68) 211f.; W. P OPKES , Die letzte Bitte des Vater-Unser. Formgeschichtliche Beobachtungen zum Gebet Jesu, in: ZNW 81 (1990) 1–20, hier 11–17. 90 S. VAN TILBURG , A Form-Criticism of the Lord’s Prayer, in: NT 14 (1972) 94–105, hier 96.104; kritisch dazu G. STRECKER, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 1984, 112.
2. Das letzte Mahl Jesu Rekonstruktion und Deutung I. Verunsicherung: Abendmahlsdarstellungen Im Würzburger Museum am Dom hängt – noch, möchte man fast sagen („der Leser begreife“, vgl. Mk 13,14) – ein Bild von Michael Triegel, das den Titel „Abendmahl“ trägt. Das Vorbild, Leonardo da Vincis berühmte Mailänder Abendmahlsdarstellung von 1496/99, erschließt sich selbstt mäßig vorgebildeten Besuchern des Museums sofort, und dennoch ist bei Triegel vieles anders. Wie da Vinci präsentiert Triegel einen langen rechteckigen, mit einem weißen Tischtuch gedeckten Tisch, an dem aber nurr eine Person – in der Mitte, dem Betrachter gegenüber – Platz genommen hat. Wahrscheinlich ist es Jesus, letzte Sicherheit verschafft uns der Künstler diesbezüglich jedoch nicht. Das Gesicht des Sitzenden ist fast ohne jede Kontur; Augen, Nase und Mund sind allenfalls zu erahnen. Auf dem Tisch stehen einige Gläser, die nach Beschaffenheit und Form eher aus derr Gegenwart als aus der Zeit Jesu stammen, und auch das für Triegels „neutestamentliche“ Bilder charakteristische Ei fehlt nicht. Ähnlich irritierend wirkt schließlich die rote Kirsche auf dem weißen Hintergrund des Tischtuchs, auf einem dahin geworfenen Zettel hat der Künstler seinen Namen und das Jahr (1994) verzeichnet. Über die Motive von Triegels „Mutationen“ lässt sich trefflich spekulieren: Dass Jesus kein Gesicht hat, könnte darauf anspielen, dass der Mann aus Nazaret vielen unserer Zeitgenossen fremd, ja zu einem Schemen ohne Konturen geworden ist oder, stärker vom Künstler und dessen ostdeutscher Vergangenheit her gedacht, nie konkrete Konturen besaß. Und dass Jesus allein am Tisch sitzt, darf vielleicht als Anspielung auf die starkk rückläufige Zahl der Gottesdienstbesucher verstanden werden, die inzwischen sogar schon für Spott sorgt.1 Triegels Bild ließe sich, zumal in einerr historischen, d.h. rückwärtsgewandten Perspektive, aber auch als Versuch 1 So z.B. in der Titelstory der Weihnachtsausgabe des Spiegels von 1997: „Liebsterr Jesus, wir sind vier...“, in: Der Spiegel 52 (1997) 58–68, wo der drastische Rückgang derr Kirchgänger und die hohen Austrittszahlen unter Anspielung auf das bekannte Kirchenlied parodiert werden. Ebd. 61 ein weiteres Exemplar gegenwärtiger da Vinci-Rezeption:
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Das letzte Mahl
lesen, fest eingefahrene Denkgewohnheiten bzw. Vorstellungen in Frage zu stellen oder gar aufzubrechen. Denn da Vincis Abendmahl ist derart omnipräsent (auf Kunstkarten und in Kunstbänden, in Religionsbüchern, im Web und zuletzt im Thriller2), dass wir uns das letzte Mahl Jesu irgendwie nach dem Bild dieses großen Italieners vorstellen: der Meister inmitten der Zwölf, an einem langen Tisch sitzend. Das ist schon im Blick auf das kulturelle Setting falsch: Wie die Griechen und Römer lagen Juden (und damit auch Jesus und seine Jünger) beim Essen zu Tisch!3 Man mag das als unwichtiges historisches Detail abtun (das auch Triegel nicht korrigiert). Ob Jesus nun bei Tisch lag oder saß, spiele doch keine Rolle. Mag sein. Solch historisches Desinteresse verliert sich aber schnell, wenn wir nach den Mahlteilnehmern fragen, die Triegel bewusst ausspart: Wer mit Jesus beim letzten Mahl zu Tisch lag, kann uns nicht egal sein! Die vertraute und durch da Vinci sozusagen fest zementierte Vorstellung, dass es die Zwölf waren, kann sich zwar auf das Markusevangelium (und die von ihm abhängigen Seitenreferenten Matthäus und Lukas) stützen4, ist aber schon von Seiten des Johannesevangeliums nicht wirklich gedeckt: Dort fehlt nicht nur ein expliziter Hinweis auf die „Zwölf“ – diese spielen im Johannesevangelium ohnehin nur eine sehr eingeschränkte Rolle; neben 6,67.70f. werden sie nur noch einmal in 20,24 („Thomas, einer von den Zwölf“) erwähnt –, sondern es liegt auch mit dem „Jünger, den Jesus liebte“, eine Gestalt mit am Tisch, die den synoptischen Evangelien nachweislich abgeht. Seine Identifizierung mit dem Zebedaiden Johannes schafft mehr Probleme als sie löst und ist deshalb inzwischen zu Recht aufgegeben worden.5 Deshalb: Waren es wirklich nur die Zwölf, die am letzten Mahl Jesu teilnahmen? Wo bleiben z.B. die Frauen, die ausweislich Mk 15,40f.
Die Jeanswerbung des Herstellers Otto Kern präsentierte einen Mann umgeben von zwölf Frauen an einem langen Tisch, alle mit nacktem Oberkörper und mit Jeans bekleidet. 2 Vgl. D. BROWN , Sakrileg (The Da Vinci Code). Aus dem Amerikanischen von P. VAN P OLL, Bergisch Gladbach 2004. Der Originaltitel bringt die Bezugnahme auf den großen italienischen Künstler besser zum Ausdruck; das Buch selbst verfügt trotz des großen Verkaufserfolgs („Megaseller“) nur über einen mäßigen Plot und strotzt von theologischen Halbwahrheiten und Irrtümern. 3 Näheres dazu bei B. H EININGER, Art. Tischsitten, in: K. Scherberich (Hg.), Familie – Gesellschaft – Wirtschaft (Neues Testament und Antike Kultur 2), Neukirchen-Vluyn 2005, 34–37. 4 Vgl. Mk 14,17 par Mt 26,20; Mk 14,20. Lk 22,14 weicht nur geringfügig ab, er ersetzt die „Zwölf“ durch die „Apostel“, was aufgrund des lukanischen Apostelkonzepts auf das Gleiche hinausläuft. 5 Vgl. fürs Erste den knappen Exkurs zum Lieblingsjünger bei U. S CHNELLE, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 32004, 244f.; eine eingehende Untersuchung sämtlicher Lieblingsjüngerstellen bei M. THEOBALD, Der Jünger, den Jesus liebte, in: Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 219–255.
I. Verunsicherung: Abendmahlsdarstellungen
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Jesus von Galiläa aus gefolgt sind und ihn auch auf seinem letzten Weg zum Kreuz noch begleiteten, nachdem ihre männlichen Kollegen im Garten Getsemani Reißaus genommen hatten?6 Man kann noch einen Schritt weitergehen. In Triegels Abendmahlsdarstellung deutet wenig darauf hin, dass überhaupt ein Mahl stattfand. Die Gläser auf dem Tisch scheinen eher für Wasser als für Wein gedacht zu sein; von dem schon erwähnten Ei und der Kirsche abgesehen findet sich nichts Essbares auf der Tafel, auch kein Brot. Zwar ist über der am Tisch sitzenden Gestalt ein Netz mit diversen Früchten ausgespannt – zu erkennen sind einige Kürbisse, Äpfel, Orangen und Zitronen –, erreichbar sind sie aber nicht. Sie hängen, wie die sprichwörtlichen Trauben, zu hoch. Schon von 1976 bis 1979 hatte einer der Vorgänger Triegels innerhalb derr da Vinci–Rezeption der jüngeren deutschen Gegenwartskunst, der Stuttgarter Künstler Ben Willikens, diesen Gedanken geradezu ins Extrem gesteigert: Nicht nur die Jünger, sondern auch Jesus selbst werden bei ihm entfernt, allein die Raumperspektive ist beibehalten. Man blickt in einen kahlen Fließenraum mit einer leeren, horizontalen Tafel: kein Tisch, keine Speisen, keine Mahlteilnehmer mehr.7 Selbstverständlich verdanken sich derartige ästhetische Provokationen der künstlerischen Freiheit und laufen in weiten Teilen dem neutestamentlichen Textbefund zuwider. Wer sich anschickt, das letzte Mahl Jesu zu rekonstruieren und seinem tieferen Sinn nachzuspüren, tut dennoch gutt daran, sie ernst zu nehmen. Denn die entsprechenden neutestamentlichen Textzeugnisse sind weitaus weniger eindeutig und klar, als es die heutigen liturgischen Vollzüge (und hier insbesonders die Hochgebete) vielleichtt suggerieren. Nicht nur die Frage, werr am letzten Mahl Jesu teilnimmt, wird, wie gesehen, durchaus unterschiedlich und möglicherweise auch nicht erschöpfend beantwortet; die Frage, was beim letzten Mahl über6 Für eine Teilnahme der Frauen am letzten Mahl Jesu spricht sich jetzt nachdrücklich aus: M. T HEOBALD , Das Herrenmahl im Neuen Testament, in: ThQ 183 (2003) 257–280, hier 262f.; zustimmend aufgenommen von M. EBNER, Die Etablierung einer „anderen“ Tafelrunde. Der „Einsetzungsbericht“ in Mk 14,22–24 mit Markus gegen den Strich gelesen, in: Paradigmen auf dem Prüfstand. Exegese wider den Strich (FS K. Müller) (NTA.NF 47), Münster 2004, 17–45, hier 44 Anm. 81. 7 Vgl. B. WILLIKENS, Abendmahl, Stuttgart 1980 (Ausstellungskatalog mit sämtlichen Skizzen und Entwürfen); dazu H. S CHWEBEL, Bildverweigerung im Bild, in: A. Mertin / H. Schwebel (Hgg.), Kirche und moderne Kunst, Frankfurt a.M. 1988, 113–123 (die Abbildung auf S. 122). Weitere Hinweise zur Rezeption des Abendmahls in der Kunstt in dem sehr lesenswerten Band von P. BIEHL, Symbole geben zu lernen II. Zum Beispiel: Brot, Wasser und Kreuz. Beiträge zur Symbol- und Sakramentendidaktik (WdL 9), Neukirchen-Vluyn 1993, 78–82 mit den Abbildungen im Materialteil 315–323. Dort auch der Hinweis auf ein weiteres Werk der Leonardorezeption mit Lokalkolorit: Siegfriedd Rischars „Ich bin bei euch – Das Abendmahl, frei nach Leonardo da Vinci“ von 1982. Siegfried Rischar lebte in Aschaffenburg.
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haupt geschah, findet in den Evangelien ebenfalls unterschiedliche Antworten. Während die Synoptiker, also Markus, Matthäus und Lukas, das letzte Mahl Jesu als Paschamahl stilisieren (vgl. Mk 14,12–16), in dessen Verlauf Jesu den „Verräter“ identifiziert (Mk 14,17–22 par)8 und den Elementen Brot und Wein durch die (so genannten) Deuteworte einen neuen, tieferen Sinn zuweist, stellt sich der Mahlverlauf in Joh 13,1–30 signifikant anders dar. Das Abschiedsmahl Jesu nach Johannes ist – trotz der einleitenden Zeitangabe „vor dem Paschafest“ (Joh 13,1) – kein Paschamahl (dazu später), und den Anfang macht hier das Waschen der Füße der Jünger durch Jesus (Joh 13,4f.), was Petrus nicht in den Kopf will und dessen Sinn Jesus deshalb mehrfach und ausführlich erklären muss (Joh 13,6–20).9 Erst dann folgt die Bezeichnung des Verräters (Joh 13,21–30), kombiniert mit der Vorstellung des schon erwähnten geliebten Jüngers. Einen den synoptischen Überlieferungen in Mk 14,22–25 parr Mt 26,26–29; Lk 22,15–20 vergleichbaren Einsetzungsbericht sucht man in Joh 13,1–30 wie auch im übrigen Johannesevangelium vergebens.10 Etwas anderes kommt noch hinzu. Die kanonische Apostelgeschichte und die apokryphen Apostelakten erwähnen mehrfach die frühchristliche Praxis des „Brotbrechens“, ohne dass ein direkter Bezug zum letzten Mahl Jesu erkennbar wäre.11 Das gilt auch für die Didache, eine um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert zu datierende frühchristliche
8 Näheres dazu, auch zum johanneischen Seitenstück Joh 13,21–30 bei H.-J. K LAUCK , Judas – ein Jünger des Herrn (QD 111), Freiburg i.Br. 1987, 55–63.80–87. 9 Zu unterscheiden sind die soteriologische Deutung, die von V.6–10 reicht und vermutlich der Feder des Evangelisten entstammt, sowie die paradigmatische Deutung der Fußwaschung V.12–15, die sich wohl der johanneischen Redaktion verdankt. In diesem Sinn jedenfalls J. B ECKER, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11–21 (ÖTBK 4/2), Gütersloh/Würzburg 31991, 498f. 10 Das bedeutet keineswegs, dass die johanneische Gemeinde kein Herrenmahl feierte; das von der Redaktion nachgeschobene so genannte „eucharistische Redestück“ Joh 6,51c–58 belegt vielmehr die Existenz einer Herrenmahlsfeier für den johanneischen Traditionsbereich. Ob man den Auftrag dazu allerdings von einem letzten Mahl Jesu herleitete, ist eine andere Frage. Vermutlich hatte die johanneische Gemeinde Kenntnis von den (synoptischen?) Ein setzungsberichten; vgl. diesbezüglich die gelehrten und grundsoliden Ausführungen von L. WEHR, Arznei der Unsterblichkeit. Die Eucharistie bei Ignatius von Antiochien und im Johannesevangelium (NTA.NF 18), Münster 1987, 242–261. 11 Vgl. Apg 2,42.46; 20,7.11; ActThecl 5; außerhalb der Apostelakten noch Lk 24,35 und bes. 1 Kor 10,16. Vor allem auf Grund von 1 Kor 10,16 beziehen die Kommentatoren den Ausdruck allerdings auf das gesamte Gemeinschaftsmahl; Lukas denke an das tägliche Sättigungsmahl, ohne dieses von der Eucharistie abzuheben (vgl. G. S CHNEIDER , Die Apostelgeschichte. Einleitung und Kommentar zu Apg 1,1–8,40 [HThK 5,1], Freiburg i.Br. 1980, 286; A. WEISER, Die Apostelgeschichte. Kap. 1–12 [ÖTBK 5] [GTBS 507], Gütersloh 1981, 104).
I. Verunsicherung: Abendmahlsdarstellungen
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Gemeindeordnung aus dem syrischen Raum12. Diese berichtet in den Kapiteln 9 und 10 von einer kirchlichen Mahlfeier, die „Eucharistie“ genanntt wird, ohne auf das letzte Mahl Jesu bzw. den Tod Jesu als sakramentales Heilsgeschehen zu rekurrieren. Schon HANS LIETZMANN hatte diesen Befund dahingehend ausgewertet, dass von einem doppelten Ursprung der frühchristlichen Mahlfeier auszugehen sei13: Nämlich (1) dem „Brotbrechen“, das die Urgemeinde in Kontinuität zur regelmäßigen Mahlpraxis des vorösterlichen Jesus, d.h. seiner Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, als Vorwegnahme des endzeitlichen Festmahls der vollendeten Gottesherrschaft vollziehe, und (2) der Abendmahlsfeier, wie wir sie vor allem m aus dem 1. Korintherbrief kennen (vgl. 1 Kor 11,17–34) und wie sie auch die synoptischen Einsetzungsberichte (Mk 14,22–25 par Mt 26,26–29; Lkk 22,15–20) widerspiegeln. Letztere sei erst in Analogie zu den hellenistischen Totengedächtnismählern bzw. zur Kultmahlpraxis der Mysterienreligionen entwickelt worden.14 HERBERT BRAUN hat die LIETZMANNS Thesen bereits innewohnende historische Skepsis gegenüber einem letzten Mahl Jesu, das in den Einsetzungsworten sein Ziel und seinen Höhepunkt findet, in der ihm eigenen Schärfe derart auf den Punkt gebracht, dass man sich unwillkürlich wieder an Willikens’ (nicht existentes) Abendmahl erinnertt fühlt: „Das letzte Mahl Jesu dürfte eine Zurückverlegung des in den hellenistisch-christlichen Gemeinden geübten Herrenmahls hinein in die letzten Tage Jesu sein; denn das Mahl trägtt das Gepräge hellenistisch-sakramentaler Religiosität und ist in palästinensisches, auch qumranisches religiöses Denken schwer einzuordnen.“15
12 K. N IEDERWIMMER, Die Didache (KAV 1), Göttingen 1989, 78–80, datiert die Quellen der Schrift noch in das 1. Jh. n.Chr., die Endredaktion setzt er zwischen 110–120 n.Chr. an, als Abfassungsort vermutet er Syrien; K. W ENGST, Didache (Apostellehre). Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Schrift an Diognet, Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert (SU 2), Darmstadt 1984, 61–63, votiert ähnlich, geht aber mitt der Abfassungszeit noch ein wenig herab (Anfang des 2. Jh.). 13 Vgl. H. LIETZMANN, Messe und Herrenmahl. Eine Studie zur Geschichte der Liturgie, Bonn 1926, dessen These einer Neubegründung des Abendmahls durch Paulus sich allerdings nicht durchsetzen konnte. Neuere Versuche sprechen weniger von zwei nebeneinander, sondern eher von zwei aufeinander folgenden Etappen, vgl. L. SCHENKE , Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung, Stuttgart 1990, 107–– 114, und vor allem B. K OLLMANN , Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeierr (GTA 43), Göttingen 1990, 251–258. Noch differenzierter äußert sich B. CHILTON , A Feast of Meanings. Eucharistic Theologies from Jesus through Johannine Circles (NT.S 72), Leiden 1994, 146. 14 Als nächste Analogie werden diesbezüglich die Dionysosmysterien gehandelt, wo die Theophagie, das „Gottessen“, in Form des Rohfleischessens und des Weingenusses („Der Gott ist im Wein“) praktiziert wurde. 15 H. B RAUN , Jesus – der Mann aus Nazareth und seine Zeit (GTB 1422), Gütersloh 2 1989 ((= 1969), 40.
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Das letzte Mahl
BRAUNS Diktum liegt bald fünfzig Jahre zurück, und die Zahl derer, die gegenwärtig entschieden für die Historizität eines letzen Mahls Jesu eintritt, dürfte die Zahl der Skeptiker bei Weitem übersteigen. Dennoch steckt der Stachel tief, den Exegeten wie LIETZMANN oder BRAUN im Fleisch ihrer neutestamentlichen Epigonen und Künstler wie Triegel oder Willikens im Auge des Betrachters hinterlassen haben und immer noch hinterlassen. Von einem Konsens, gerade im Blick auf die Rekonstruktion der Einsetzungsberichte, sind wir noch weit entfernt, und man gewinnt manchmal fast den Eindruck, als gäbe es diesbezüglich ebenso viele Hypothesen wie Forschungsmeinungen. Die Verwirrung ist nicht selten groß, und es ist das Ziel der nachfolgenden Ausführungen, daraus resultierenden potentiellen Verunsicherungen ein Stück weit entgegen zu wirken. Unser Interesse gilt dabei vorrangig den Einsetzungsberichten.
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte 1. Überlieferungslage und synoptischer Vergleich Wie bereits angedeutet, sind die Einsetzungsberichte ein Spezifikum der synoptischen (Mk 14,22–25 par Mt 26,26–29; Lk 22,15–20) und der paulinischen Tradition (1 Kor 11,23–25[.26]). Rein literarisch betrachtet, kann die paulinische Variante das höchste Alter für sich beanspruchen, da der 1. Korintherbrief in den 50er Jahren des 1. Jh. n.Chr. geschrieben wurde und die Evangelien knapp 20 (Mk) bzw. 30 Jahre (Mt; Lk) später zu datieren sind. Über das wirkliche Alter der Einsetzungsberichte ist damit aber noch nichts gesagt, da die Abendmahlsüberlieferung zum einen Bestandteil der dem Markusevangelium (und damit auch den beiden Seitenreferenten Matthäus und Lukas) vorausliegenden Passionsgeschichte war und zum anderen, wie gerade das Beispiel von 1 Kor 11,23–25 zeigt, ursprünglich vermutlich sogar einmal für sich existierte und selbständig tradiert wurde.16 Paulus selbst liefert im Übrigen einen Hinweis auf das hohe Alter der Überlieferung, wenn er gleich am Anfang von 1 Kor 11,23–25 unter
16 Das bestätigen die Analysen von W. REINBOLD , Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien (BZNW 69), Berlin/New York 1994, 133–137, demzufolge der älteste Passionsbericht lediglich eine Mahlnotiz mit der Ansage des Verräters und der Ankündigung der Petrusverleugnung (Mk 14,18–20.29f.) enthielt, die Einsetzungsworte demnach erst später hinzugekommen sind. Andererseits gilt: „die Abendmahlsüberlieferung ist älter als eine kontinuierliche Passionsgeschichte, zumindest eine solche, in der die Abendmahlsüberlieferung bereits miterzählt wurde“ (J. G NILKA , Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: 8,27–16,20 [EKK II/2], Zürich/Neukirchen-Vluyn 1979, 240).
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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Verwendung klassischer Traditionstermini (, ##&) darauf verweist, dass er den nachfolgend zitierten Einsetzungsbericht , „vom Herrn“, empfangen habe. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Paulus Jesus noch vor dessen Tod begegnet sei (etwa im Kontext des Synhedrialprozesses) und auf diese Weise Kenntnis von den Einsetzungsworten erhalten habe, noch, dass der auferweckte und erhöhte Herr ihm die Einsetzungsworte in einer Vision bzw. Audition, sei es vor Damaskus oder in einer der anderen, zahlreichen Visionen, mitgeteilt habe.17 Die Wendung verweist vielmehrr auf den Urheber der Tradition, d.h. Paulus führt den ihm aus urchristlicher Überlieferung zugekommenen Einsetzungsbericht letztlich auf Jesus zurück.18
Legt man die Texte nun nebeneinander (vgl. die am Ende dieses Beitrags abgedruckte Text- und Motivsynopse), so stellt man auf den ersten Blickk fest, dass sie von der Grundstruktur her im Wesentlichen gleich sind: Auff eine einleitende Situationsangabe folgen jeweils Brotgesten und Brotworte bzw. Bechergesten und Becherworte, ehe eine Todesprophetie bzw. der so genannte „eschatologische Ausblick“ die eigentliche Abendmahlsüberlieferung beschließt. In voller Länge und am Ende des Einsetzungsberichts haben wir diesen eschatologischen Ausblick allerdings nur bei Markus und Matthäus (mit leichten Modifikationen), während Paulus nur mehr ein rudimentäres Wissen darum erkennen lässt, wenn es am Ende von 1 Kor 11,26 heißt, die Korinther würden bei ihrer Herrenmahlsfeier den Tod des Herrn verkünden, „bis er kommt“ (:C D E 7). Lukas wiederum bringt zwarr den eschatologischen Ausblick in einer gegenüber Mk 14,25 nur unwesentlich modifizierten Form19, zieht ihn aber nach vorne und verdoppelt ihn (Lk 22,16.18): Dem dritten Evangelisten zufolge verzichtet Jesus „von nun an“ nicht nur auf den Wein, sondern auch auf das Essen des Pascha(lamms), bis sich die Herrschaft Gottes vollendet. Hinzu kommt, dass Lukas das Mahl durch die Redeeinleitung noch wesentlich dezidierter als Markus als Paschamahl stilisiert (vgl. Lk 22,15) und in Lk 22,17 bereits einen Becherr 17
So aber H. M ACCOBY , Paul and the Eucharist, in: NTS 37 (1991) 247–267, der die Überlieferung der neutestamentlichen Abendmahlsworte ausschließlich auf eine Paulus um das Jahr 50 zuteil gewordene Vision bzw. Audition zurückführen will. Dafür sprichtt nichts; vgl. ausführlich zu den paulinischen Visionen B. H EININGER , Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie (HBS 9), Freiburg i.Br. 1996. 18 Vgl. C. WOLFF , Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 270; ähnlich W. SCHRAGE , Der erste Brief an die Korinther. 3. Teilband: 1 Kor 11,17–14,40 (EKK VII/3), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1999, 29. 19 An Stelle des markinischen bevorzugt Lukas nachgestelltes ', das 5 lässt er aus und fügt stattdessen ein. Darüber hinaus hat Lukas die etwas verschachtelte markinischen Satzkonstruktion am Ende des Verses („bis zu jenem Tag, wann ich es [sc. das Gewächs des Weinstocks] neu trinke in der Herrschaft Gottes“) deutlich gekürzt und damit auch vereinfacht („bis die Herrschaft Gottes kommt [E 7]). Das E 7 am Schluss findet sich auch in 1 Kor 11,26, sodass mit traditionsgeschichtlichen Querverbindungen zu rechnen ist.
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Das letzte Mahl
erwähnt ( , ohne Artikel!), den man dann entweder mit dem zu den Vorspeisen gereichten ersten Becher eines Paschamahls, dem so genannten Kidduschbecher, oder dem am Ende der aus Paschahaggada und dem ersten Teil des Paschahallels bestehenden Paschaliturgie (dazu später) gereichten zweiten Becher (Haggadabecher) zu identifizieren hätte. Nach wie vor herrscht innerhalb der exegetischen Diskussion keine Einigkeit darüber, ob die genannten Abweichungen auf die Hand des Lukas zurückgehen20 oder ob der Evangelist in Lk 22,15–18 auf eine Sonderüberlieferung zurückgreift. Letztere hätte dann entweder Jesu letztes Mahl als „Urbild“ des zur eucharistischen Feier umgestalteten Paschamahls“ präsentieren wollen21 oder, was mir plausibler erscheint, die Kultätiologie einer urchristlichen Paschafeier abgegeben, die man einmal im Jahr beging.22 Man hätte dann in Lk 22,15–18 sozusagen einen sehr frühen Beleg für die Ausbildung des christlichen Osterfestes (das in Rom nachweislich nicht vor 165/66 n.Chr. gefeiert wurde). Eine gewisse Unterstützung für diese Sicht liefern vielleicht die Quarta- oder Quartodezimaner, eine kleinasiatische frühchristliche Gruppierung, die das Osterfest in Anlehnung an den jüdischen Paschatermin am 14. Nisan, d.h. am Tag des Frühlingsvollmondes (quartadecima luna, daher der Name) feierten und nicht am darauffolgenden Sonntag wie die übrigen Kirchen.23
Neben diesen vor allem den lukanischen Mahlverlauf (bzw. Lk 22,15–18) betreffenden Differenzen gibt es noch weitere Unterschiede. Matthäus und Markus zufolge spricht Jesus über dem Brot einen Lobspruch (5 ' ), Lukas und Paulus zufolge aber ein Dankgebet (5C ). Die in Mk 14,22 („Nehmt“) und in Mt 26,26 („Nehmt, esst“) zu lesende Aufforderung (M [=Motiv] 7) geht Lukas und Paulus völlig ab; hingegen kennen beide das Deutewort zum Brot offenbar nur mit einer Applikation (M 9a.b: „der für euch hingegeben wird“ bzw. „für euch“), von der wiederum 20
So etwa B. KOLLMANN , Ursprung (s. Anm. 13) 162–164; T. S ÖDING , Das Mahl des Herrn. Zur Gestalt und Theologie der ältesten nachösterlichen Tradition, in: Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie (FS T. Schneider), Mainz 1995, 134–163, hier 137, sowie von den Kommentatoren G. S CHNEIDER, Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband: Kap. 11–24 (ÖTBK 3,2), Würzburg 1977, 444; J. ERNST , Das Evangelium nach Lukas (RNT), Regensburg 61993, 447f. 21 In diesem Sinn H. S CHÜRMANN , Der Abendmahlsbericht Lk 22,7–38 als Gottesdienstordnung, Gemeindeordnung, Lebensordnung, Paderborn 1957, 31f.; ihm folgen z.B. W. WIEFEL, Das Evangelium nach Lukas (ThHK 3), Berlin 1988, 365f.; J.A. FITZMYER , The Gospel According to Luke. Teilband 2: X–XXIV (AncB 28A), Garden City 1985, 1421.1429; J. N OLLAND , Luke. Teilband 3: 18:35–24:53 (WBC 35C), Dallas 1993, 1045. Vgl. außerdem noch F. B OVON , Le récit lucanien de la Passion de Jésus (Lc 22–23), in: C. Focant (Hg.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and the New Literary Criticism (BEThL 110), Leuven 1993, 393–423. 22 F. H AHN , Die alttestamentlichen Motive in der urchristlichen Abendmahlsüberlieferung, in: EvTh 27 (1967) 337–374, hier 342.353f. 23 Vgl. dazu zuletzt G. ROUWHORST , The Quartodeciman Passover and the Jewish Pesach, in: QuLi 77 (1996) 152–173, sowie die klassische Studie von B. LOHSE , Das Passafest der Quartadezimaner, Göttingen 1953.
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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Markus und Matthäus nichts wissen, und überliefern überdies im direkten Anschluss an das Brotwort den so genannten Anamnesisbefehl (M 10: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“). Paulus, und nur Paulus, bringt den Gedächtnisauftrag darüber hinaus auch – leicht modifiziert („sooft ihr trinkt“) – beim Becherwort (M 21). Bei den Bechergesten stehen erneut Matthäus und Markus auf der einen sowie Lukas und Paulus auf der anderen Seite eng beieinander. Nur in Mt 26,27 par Mk 14,23 ist explizit davon die Rede, dass Jesus einen Becher nimmtt ((); Lukas und Paulus begnügen sich an dieser Stelle mit dem Hinweis auf die gleichgelagerte Praxis bei der Brothandlung (F ) und haben einen ganz bestimmten Becher im Blick ( , „den Becher“). Nur sie überliefern auch die Rubrik k B #G, „nach dem Essen“ (M 12), verzichten aber, gleichsam im Gegenzug und unisono, auf das bei Matthäus und Markus überlieferte Dankgebet (5C ) sowie auf die Notiz vom Weiterreichen des Bechers an die Jünger (M 14). Dass alle daraus tranken, ist sozusagen ein markinisches „Alleinstellungsmerkmal“. Beim Becherwort variieren die Texte wieder stärker, ohne dass die bislang beobachteten Tendenzen (Mt/Mk vs. Lk/Paulus) grundsätzlich in Frage gestellt würden. Nur Matthäus hat vor dem Deutewort noch eine Aufforderung (M 17: „Trinkt alle daraus“), und nur der erste Evangelist fügtt dem Becherwort noch die Zweckbestimmung „zur Vergebung der Sünden“ an (M 20). Paulus wiederum ist der Einzige, wir hatten es schon erwähnt, der das Becherwort mit einem Anamnesisbefehl abschließt. Wo es aber um m die Deutung des Bechers bzw. der Becherhandlung geht, treffen wir wieder auf die bekannten Oppositionen. Nach Mk 14,24 par Mt 26,28 deutett Jesus den Becher bzw. seinen Inhalt, also den Wein, auf „das Blut meines Bundes, das für viele ausgegossen wird“24, nach Lk 22,20 und 1 Kor 11,25 dagegen den Becher bzw. das Kreisen des Bechers auf den „neuen Bund in meinem Blut“ – wobei nur Lukas eine Applikation anschließt, die in ihrer Ausrichtung („für euch“) jedoch wiederum von Markus und Matthäus abweicht („für viele“) und stattdessen mit der Applikation zum Brotwortt parallel geht. 24 Gegen eine Identifizierung des Becherinhalts, d.h. des Weins, mit dem Bundesblutt hat sich zuletzt vor allem U. LUZ , Das Evangelium nach Matthäus. 4. Teilband: Mt 26–28 (EKK I/4), Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 2002, 116; D ERS., Das Herrenmahl im Neuen Testament, in: BiKi 57 (2002) 2–8, hier 4, gewandt. Gedeutet werde nicht das Elementt „Wein“, sondern der „Becher“; wie beim Brot gehe es um den Vorgang, das Kreisen des Bechers und das gemeinsame Trinken aus dem einen Becher. M.E. liegt aber die „traditionelle“ Sicht der Dinge, nämlich dass der Becher metonymisch für den Inhalt steht, wesentlich näher, vgl. J. G NILKA , Mk II (s. Anm. 16) 245; H.-J. K LAUCK , Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief (NTA.NF 15), Münster 21982, 311; O. H OFIUS , Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1 Kor 11,23b–25, in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 989, 224..
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Das letzte Mahl
2. Auswertung: Unterschiedliche Mahltypen Die Summe der Einzelbeobachtungen führt zu einem eindeutigen Befund: Während Matthäus nur unwesentlich von Markus abweicht, stimmt Lukas, wenn wir den „Paschamahlbericht“ Lk 22,15–18 einmal beiseite lassen, in weiten Teilen mit Paulus überein – gegen Markus, den er ja gemäß der Zwei-Quellen-Theorie gekannt haben muss! Die wenigen Abweichungen, die Matthäus gegenüber Markus aufweist, erklären sich durchweg als redaktionelle Bearbeitungen des markinischen Textes; die matthäische Tendenz, Texte zu parallelisieren, kommt auch in dieser Perikope zum Ausdruck.25 So korrespondiert das dem markinischen , „nehmt“, hinzugefügte ' , „esst“ (M 7), der Aufforderung zum Trinken beim Becherwort ( H 5 ), die eine Transformation des markinischen Berichts (M 15: „und sie tranken alle daraus“) darstellt. Möglicherweise sieht sich Matthäus zu diesen zusätzlichen Imperativen durch eine wachsende Scheu vor den Elementen des Herrenmahls veranlasst; speziell im Blick auf die Aufforderung zum Trinken des Bechers wird gelegentlich auch die Vermutung geäußert, Matthäus wende sich gegen die Tendenz, die Eucharistiefeier nur unter der Gestalt des Brotes zu feiern oder es solle der Gemeinschaftsbecher verpflichtend gemacht werden. Die Einführung des Jesusnamens und der Jünger gibt dem Text eine größere Selbständigkeit. Als stilistische Variation wird man die Redeeinführung ' (statt markinischem 4 3 5 2) betrachten dürfen, auch wenn an dieser Stelle ein „minor agreement“ mit Lukas und Paulus vorliegt! Ähnlich liegt der Sachverhalt in V.28, wo Matthäus noch ein ' einschiebt und an Stelle von ?I $ 4 $ schreibt. Das der Applikation hinzugefügte 9 : ; setzt nicht nur Assoziationen zum Sühne wirkenden Sterben des Gottesknechts frei (Jes 53,10–12)26, sondern schlägt auch das zentrale Thema der matthäischen Jesusdarstellung an: die Vergebung der Sünden.27 Schon Mt 1,21 (im Rahmen der Geburtsankündigung) hatte die „Rettung des Volkes von ihren Sünden“ als entscheidende Aufgabe bestimmt, Mt 9,6 dann die himmlische Vollmacht des Menschensohns zur Sündenvergebung betont. Hier kommt nun der Grund für diese Vollmacht in den Blick, das sühnewirkende Sterben Jesu. Vielleicht darf man in dieser, Matthäus eigenen Zweckangabe darüber hinaus auch eine Spitze gegen den Täufer und seine Jünger sehen. Jedenfalls lässt Matthäus bei der Johannestaufe die Bemerkung, dass diese zur Vergebung der Sünden geschehen sei, aus (vgl. Mt 3,1f. diff Mk 1,4), hier fügt er die Formulierung explizit ein. Für Matthäus bewirkt die Johannestaufe keine Sündenvergebung. Sündenvergebung gründet allein im erlösenden Sterben Jesu Christi, an dem die gemeinsame Feier des Herrenmahls Anteil gewährt. Schließlich hat Matthäus auch den eschatologischen 25 Vgl. J. G NILKA , Das Matthäusevangelium. II. Teil: Kommentar zu Kap. 14,1 – 28,20 und Einleitungsfragen (HThK I/2), Freiburg i.Br. 1988, 399f. Damit ist allerdings noch nicht darüber entschieden, ob die Abweichungen auf den Evangelisten selbst zurückgehen oder der vorausliegenden Gemeindeliturgie geschuldet sind. Eventuell ist auch mit beiden Möglichkeiten zu rechnen. 26 Ebd., Mt II (s. Anm. 25) 402, denkt darüber hinaus an den Pascharitus als mögliche Bezugsgröße, da dieser zur Zeit des zweiten Tempels verstärkt als Sühne- und Entsündigungsritus gewertet worden sei. 27 D.A. H AGNER , Matthew 14–28 (WBC 33B), Dallas 1995, 773: „It (sc. die Sündenvergebung) is finally the real purpose of the coming of Jesus”; ähnlich U. LUZ, Mt IV (s. Anm. 24) 116.
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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Ausblick sprachlich variiert: Auf das einleitende verzichtet er ebenso wie auf das J 5 , er präzisiert den Zeitpunkt des „Nicht-mehr-Trinkens“ („von nun an“) und das Gewächs des Weinstocks durch ein Demonstrativpronomen ( ), außerdem ist derr kommunikative Aspekt noch stärker betont ( ?$) und gut matthäisch statt von derr „Herrschaft Gottes“ von der „Herrschaft meines Vaters“ die Rede.
Für Lukas stellt sich der Sachverhalt etwas anders dar. Von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, die als Angleichung an den Markustext verstanden werden können28, stimmt der lukanische Bericht nahezu wörtlich mit 1 Korr 11,23b–25 überein. Wo Lukas jedoch von Paulus abweicht wie im Deutewort zum Becher – an Stelle des stärker gräzisierenden > > K schreibt er > K – oder wie im Fall des Anamnesisbefehls, den er nur (beim Brotwort) bringt, repräsentiert der dritte Evangelist wohl die ältere Tradition.29 Das schließt eine literarische Abhängigkeit des lukanischen Berichts von 1 Kor 11,23b–25, was rein zeitlich ja durchaus möglich wäre, sachlich aber vor große Schwierigkeiten stellen würde, von vornherein aus. Daher legt sich die Annahme, dass Lukas über eine Sondertradition verfügte, die mit der von Paulus in 1 Kor 11,23b–25 zitierten Tradition identisch war, fast zwingend nahe. Eine ansprechende Überlegung gehtt dahin, dass sowohl Paulus wie auch Lukas diese Sonderüberlieferung aus der antiochenischen Gemeinde bezogen.30 Dafür spricht: Paulus wirkte in seiner Frühphase als antiochenischer Gemeindemissionar, Lukas wiederum m verrät in der Apostelgeschichte eine sehr gute Kenntnis von antiochenischen Gemeindetraditionen (vgl. Apg 11,25f.; 12,25; 13–14). Treffen diese Überlegungen einigermaßen zu, dann haben wir für die früheste Phase des Urchristentums mit (mindestens) zwei Typen von Einsetzungsberichten zu rechnen, die – wie gleich noch zu zeigen sein wird – auch unterschiedliche Formen der Herrenmahlsfeier im frühen Christentum reflektieren: Den soeben in Antiochien lokalisierten Einsetzungsbericht, der Eingang in den 1. Korintherbrief und in das Lukasevangelium gefunden hat, und einen zweiten, von einigen Forschern in Jerusalem verorteten Einsetzungsbericht31, dessen Weg schließlich in das Markusevangelium führte.
28 Das betrifft das E# 5 2 (M 5), für das 1 Kor 11,23 keine Parallele hat, sowie die Applikation beim Becherwort, die von Lukas (J. N OLLAND, Lk III [s. Anm. 21] 1044: von der vorlukanischen Tradition) nach markinischem Vorbild gestaltet ist. 29 Vgl. H. M ERKLEIN, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 157–180, hier 159; B. K OLLMANN , Ursprung (s. Anm. 13) 164. 30 Vgl. P. S TUHLMACHER, Das neutestamentliche Zeugnis vom Herrenmahl, in: ZThK K 84 (1987) 1–35, hier 19, dessen Vermutung, Paulus habe bei seinem Missionsunterrichtt eine in der Heidenmission gebräuchliche Vorform der lukanischen Passionsgeschichte benutzt, allerdings reichlich spekulativ erscheint. 31 Vgl. R. P ESCH , Das Abendmahl und Jesu Todesverständnis, in: K. Kertelge (Hg.), Der Tod Jesu (QD 74), Freiburg i.Br. 1976, 137–187, 137 187, hier 169f.
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Das letzte Mahl
Hier schließt sich sofort eine weitere Frage an: Wie konnte es zur Ausbildung solcher unterschiedlicher Mahlberichte kommen? An dieser Stelle empfiehlt sich ein Blick auf die Gattung: Bei allen Varianten der Abendmahlsüberlieferung handelt es sich um so genannte Kultätiologien, d.h. um Erzählungen, „die den Brauch der Gemeinden begründen sollen und zugleich widerspiegeln“.32 Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte sagen daher zunächstt einmal nicht, was Jesus „in der Nacht, da er verraten wurde“, sagte oder tat, sondern geben Auskünfte darüber, wie frühchristliche Gemeinden ihr Herrenmahl feierten. Und das geschah, wenn wir die Überlieferung nicht völlig falsch interpretieren, auf durchaus unterschiedliche Weise. Während nämlich Markus und der von ihm abhängige Matthäus mit einer Mahlnotiz einsteigen (vgl. Mk 14,22; Mt 26,26: „als sie aßen“) und Brotgesten und Brotworte sowie Bechergesten und Becherworte unmittelbar daran anschließen lassen, spiegeln der paulinische und wahrscheinlich auch der lukanische Text33 eine andere Mahlfolge und damit auch eine andere Mahlpraxis wider. Zwar wird auch in 1 Kor 11,23b–25 der Becher wie das Brot mit einem Deutewort bedacht, aber erst B #G, „nach dem Essen“! Demnach reflektiert der lukanisch-paulinische Traditionstyp eine Mahlfeier, die mit dem Brotritus eröffnet wird; dann folgt das Sättigungsmahl, ehe der Becherritus die Feier beschließt. Die markinische Tradition lässt hingegen auf eine Mahlfeier zurückschließen, in der Brotund Becherhandlung als „eucharistische Doppelhandlung“ das Sättigungsmahl abschließen, wie aus Mk 14,26 („und lobpreisend gingen sie hinaus zum Ölberg“) unmissverständlich hervorgeht.34 32 F. H AHN , Motive (s. Anm. 22) 339; vgl. auch H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 297f., der noch einmal zwischen Kultsage oder Stiftungsbericht (nur kultbegründend, ohne direkte Funktion bei der Feier), Kultanamnese (kultbegleitende Erzählung, zur Rezitation bestimmt) und liturgischer Rubrik oder Gottesdienstnorm (reglementiert den äußeren Ablauf der Feier) unterscheidet. Vgl. auch D ERS., Präsenz im Herrenmahl. 1 Kor 11,23–26 im Kontext hellenistischer Religionsgeschichte, in: Ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 313–330, hier 319f. Für das AT ließen sich als Beispieltexte nennen: Gen 28,20–22: Die Gründungslegende für das Heiligtum in Bet-El; Ex 12: Die Erzählung erklärt, wie Pascha gefeiert werden soll. 33 Bei Lukas ist insofern eine leichte Verschiebung zu konstatieren, als er das F nachstellt („Und den Becher in gleicher Weise nach dem Essen“). Das könnte so verstanden werden: Auch den Becher, wie das Brot, nach dem Essen (also eine Anpassung an Markus). Möglicherweise will sich Lukas beide Lektüren offen halten. 34 Mit H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 295. Der von P. LAMPE , Das korinthische Herrenmahl im Schnittpunkt hellenistisch-römischer Mahlpraxis und paulinischer Theologia Crucis (1 Kor 11,17–34), in: ZNW 82 (1991) 183–213, hier 184 Anm. 4, und M. KLINGHARDT, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen/Basel 1996, 280 Anm. 11, vorgetragene Einwand, & 5 $ (Mk 14,22) heiße nicht „nachdem sie gegessen hatten“, sondern „als/während sie aßen“, weshalb sich der Schluss auf die Abfolge
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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Die bei Markus noch erkennbare Abfolge von Sättigungsmahl, eucharistischer Doppelhandlung und – wenn wir Mk 14,26 noch mitbedenken – Lobgesang erinnert von ferne an den Ablauf eines hellenistischen Symposions mit abendlichem Gastmahl (cena), Trankspende für die Gottheit und anschließendem Gelage mit Lehrvorträgen, philosophischen Diskussionen, Gesprächen, Musik und Liedern. Einfluss von Seiten des Symposions auff die markinische Tradition und vielleicht auch auf die Darstellung des Evangelisten istt deshalb nicht auszuschließen. Für das von den Korinthern praktizierte Herrenmahl istt dies sogar wahrscheinlich. Bekanntlich zitiert Paulus die Abendmahlsüberlieferung gerade deshalb, weil die Mahlfeier der Korinther dem Anspruch eines #2 , eines „Herrenmahls“, nicht gerecht wird: „Ein jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg ( )35, und der eine hungert, der andere ist betrunken“ (1 Kor 11,21). Paulus verweist zur Beseitigung der Missstände nicht nur auf die (eigenen) Häuser zum Essen und Trinken (1 Kor 11,22), sondern empfiehlt auch aufeinander zu warten (11,33: #C , was man auch mit „Nehmt einander an!“ übersetzen könnte). Das auf solche Weise angedeutete Szenario würde sich gut in den Ablauf eines antiken Symposions fügen: Die Wohlhabenderen unter den Korinthern begannen bereits am späten Nachmittag mit dem Mahl (das #2 /die cena beginnt nach antiken Quellen um die 9. Stunde, also nachmittags um 15.00 Uhr), die Sklaven und abhängigen Lohnarbeiterr treffen dagegen erst ein, als der von den Bessergestellten mitgebrachte Proviant weitgehend aufgezehrt ist, und partizipieren „nur“ noch an der sakramentalen Doppelhandlung über Brot und Wein, die in Analogie zur Trankspende beim Symposion an das Ende des Mahls gerückt ist und zum nachfolgenden Wortgottesdienst überleitete, der sozusagen das christliche Pendant zum Gelage des Symposions mit seinen philosophischen Diskussionen, mit Musik und Gesang darstellt.36 Ein Vorteil dieser Lösung besteht darin, dass sie den Textbefund in seiner linearen Abfolge ernstnimmt: 1 Kor 11,17–22 thematisiertt Paulus das Sättigungsmahl, 1 Kor 11,23–26 bringt er die Abendmahlsüberlieferung und damit die eucharistische Doppelhandlung ein, 1 Kor 12–14 finden sich verstärkt Elemente des Wortgottesdienstes. Problematisch daran ist, dass man das L („jeder“) nichtt ganz wörtlich nehmen darf37 – es sind ja nur die Reichen, die ihr Mahl vorwegnehmen –, und, was noch schwerer wiegt, dass das #G der Abendmahlsüberlieferung seinen Bezug zu einem Sättigungsmahl verliert (1 Kor 11,23–25 wird ja mit der Trankspende parallelisiert). Es ist aber unwahrscheinlich, „dass Paulus diese Paradosis zitierte, wenn Sättigungsmahl – eucharistische Doppelhandlung verbiete, zielt insofern ins Leere, als Klauck Ersteres nicht behauptet hat und die entscheidende Textbeobachtung m.E. darin zu sehen ist, dass 14,26 direkt auf das Becherwort folgt. 35 ist hier mit der Mehrzahl der antiken Belege und der Mehrzahl derr Ausleger zeitlich im Sinn von „vorwegnehmen“ verstanden, vgl. zuletzt nur P. LAMPE , Herrenmahl (s. Anm. 34) 191–193, oder C. WOLFF , 1 Kor 261. Die schon von G. THEIS SEN , Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse von 1 Cor XI 17–34, in: Ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 31989, 290–317, hier 300 mit Anm. 1, für ein Verständnis im Sinne des Simplex („einnehmen“) angeführte Apellas-Stele kann die Argumentation alleine nicht tragen; außerdem kann es sich dort um eine Verschreibung handeln ( statt ). Damitt auch gegen O. H OFIUS , Herrenmahl (s. Anm. 24) 318. 36 Vgl. H.-J. K LAUCK , 1. Korintherbrief (NEB.NT 7), Würzburg 31992, 81f.; vgl. auch D ERS., Gottesdienst in der Gemeinde von Korinth, in: Ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg, 1989, 46–58, hier 55–58. 37 Diesbezüglich ist O. H OFIUS , Herrenmahl (s. Anm. 24) 217f., mit seiner Kritik am consensus plurium völlig im Recht.
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Das letzte Mahl
die Korinther nicht einen entsprechenden Ablauf befolgten“.38 Insofern hat vielleicht der Vorschlag PETER LAMPES mehr für sich, der – ebenfalls vor dem allgemeinen Hintergrund des Symposions und dezidiert von der Praxis des Eranos her (jeder steuert etwas zum Essen bei) – das „Voressen“ der Korinther mit den primae mensae (= Hauptgang) und das „Essen“ im Kontext der Abendmahlsüberlieferung mit den secundae mensae (= Nachtisch) in Verbindung bringt, wobei dann das Brotwort der am Beginn der secundae mensae stehenden Anrufung der Laren und Genien des Hausherrs bzw. des Kaisers und das Kelchwort dem Trankopfer beim Mischen des ersten Kraters an der Schwelle zum Gelage parallel gehen soll.39
III. Vergegenwärtigung: Die älteste Tradition Halten wir, sozusagen in Form einer Zwischenbilanz, noch einmal die wesentlichen Fakten fest: Der detaillierte synoptische Vergleich der vier Einsetzungsberichte förderte zwei Traditionsstränge zutage, den markinischen und den lukanisch-paulinischen, die sich nicht nur in semantischen Details, sondern auch hinsichtlich des Mahlverlaufs unterscheiden. Verantwortlich dafür dürften differierende frühchristliche Mahltypen sein (Sättigungsmahl, eucharistische Doppelhandlung vs. Brothandlung, Sättigungsmahl, Becherhandlung), deren Unterschiede ein Stück weit der Inkulturation des Christentums in die hellenistische Welt geschuldet sind (Symposion!). Andererseits sind die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Traditionssträngen immer noch so beachtlich, dass ein gemeinsamer „Urbericht“ vermutet werden kann. Allerdings bewegen wir uns hier auf sehr dünnem Eis. Zwar ist die Rekonstruktion eines solchen Urberichts „kein aussichtsloses Unterfangen“40, aber sie ist „äußerst schwierig und muss bis zu einem gewissen Grade hypothetisch bleiben“.41 Das kann man nicht genug unterstreichen. Wenn daher im Folgenden ein solcher Rekonstruktionsversuch unternommen wird, so handelt es sich um eine wissenschaftliche Hypothese, die den schwierigen Textbefund besser verstehen helfen soll und keinesfalls um eine dogmatische Wahrheit (dogmatische Wahrheiten verkünden Exegeten ohnehin nie). Es kann auch anders gewesen sein. Und wenn die nachfolgende Rekonstruktion das eine oder andere Element als „sekundär“ bzw. nachträg38
P. LAMPE , Herrenmahl (s. Anm. 34) 184; ähnlich O. H OFIUS , Herrenmahl (s. Anm. 24) 215f. 39 Vgl. P. L AMPE , Herrenmahl (s. Anm. 34) 198–203. Kritik an dieser Lösung äußert M. K LINGHARDT , Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 34) 282–286. 40 M. THEOBALD , Herrenmahl (s. Anm. 6) 262. 41 H. M ERKLEIN, Erwägungen (s. Anm. 29) 161. Vgl. auch G. THEISSEN / A. M ERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1989, 373: „Aber man kann nicht genug betonen: Es handelt sich bei solchen Rekonstruktionen um Vermutungen.“
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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liches Interpretament ausschaltet, bedeutet das keineswegs, dass eine solche nachträgliche Deutung zweitrangig oder gar „falsch“ wäre. Vielmehrr gilt gerade an diesem Punkt: Der tiefere Sinn des letzten Mahles Jesu hatt sich den frühen Christinnen und Christen erst nach und nach erschlossen. Da sowohl die markinische wie die lukanisch-paulinische Tradition Elemente des „Urberichts“ enthalten können, empfiehlt es sich methodisch, jeweils nach den relativ ältesten Elementen zu fragen.42 1. Das Brotwort Dieser hermeneutischen Vorüberlegungen eingedenk konzentrieren wirr unser Interesse auf die Rekonstruktion der Brotworte und der Becherworte. Im Fall des Brotwortes lautete die entscheidende Frage: Waren Applikation und Anamnesisbefehl schon Bestandteil des „Urberichts“ (und hätte sie Markus oder eine vormarkinische Tradition dann gestrichen) oder sind die beiden Motive erst später hinzugewachsen? Im Blick auf die auch als ?-Formel bezeichnete Applikation verbietet sich eine einfache Lösung schon deshalb, weil der markinische Traditionszweig ja ebenfalls eine Applikation kennt – jedoch beim Becherwort! Lukas ist Markus darin gefolgt, wobei die Formulierung noch den Kompromiss erkennen lässt – anstelle des markinischen ?I $ schreibt er analog zum Brotwort ?I ?$ –, Paulus hingegen schweigt an dieser Stelle. Das führt zu einer ersten Schlussfolgerung: Ursprünglich gab es nur eine Applikation, die lukanische Doppelung ist redaktionell.43 Die Frage ist nur, wo die ?-Wendung ursprünglich stand: Beim Brotwort, wie es die paulinische Überlieferung will, oder beim Becherwort, wie es der markinischen Traditionslinie entspricht? Mehrere Argumente sprechen dafür, dass Paulus an dieser Stelle die älteste Tradition bewahrt hat. Zum einen wäre das Brotwort, das vom Becherwortt ursprünglich durch eine ganze Mahlzeit getrennt war, ohne eine Applikation nur schwer bzw. kaum verständlich44; zum anderen wirkt das markini42 H. M ERKLEIN, Erwägungen (s. Anm. 29) 161; H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 299. 43 Das ist Konsens, vgl. schon H. S CHÜRMANN , Der Einsetzungsbericht Lk 22,19–20. II. Teil einer quellenkritischen Untersuchung des lukanischen Abendmahlsberichtes Lkk 22,7–38 (NTA 20, H.4), Münster 1955, 65–69; dann H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 306f.; B. K OLLMANN , Ursprung (s. Anm. 13) 174; T. S ÖDING , Mahl (s. Anm. 20) 137. Davon weicht W. REINBOLD , Bericht (s. Anm. 16) 56, lediglich insofern ab, als er den Zusatz zum Becherwort der vorlukanischen Gemeinde zuweist. 44 So bereits H. S CHÜRMANN , Einsetzungsbericht (s. Anm. 43) 118, und P. N EUENZEIT, Das Herrenmahl. Studien zur paulinischen Eucharistieauffassung (StANT 1), München 1960, 109f.; gefolgt von H. M ERKLEIN, Erwägungen (s. Anm. 29) 166; H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 309f. Einwände gegen diese Lösung erhebt T. SÖDING , Mahl (s. Anm. 20): Erstens würden geschichtliche mit literarkritischen Argumenten verwechselt, zweitens sei aufgrund der unbestreitbaren markinischen Parallelisierungstendenzen
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Das letzte Mahl
sche Kelchwort theologisch überladen, insofern sich Bundesmotiv und das Motiv vom stellvertretenden Sühnetod Jesu überlagern.45 Denkbar wäre von daher, dass die ?-Wendung zum zweiten Deutewort „wanderte“, als man Brot- und Becherworte am Schluss der Feier konzentrierte. Eine gewisse Bestätigung für diese Sicht liefert Joh 6,51c („das Brot ... ist mein Fleisch für das Leben der Welt“ [! : ... H ?I G & HG]), das johanneische Gegenstück zum synoptischen und paulinischen Brotwort. Unabhängig davon, ob man den Teilvers nun noch dem Evangelisten oder schon der johanneischen Redaktion zuweist46, ist mit dem „Aufgriff traditioneller Abendmahlsüberlieferung“ zu rechnen47, und das ist ein gewichtiges Argument für die Stellung der ?-Formel beim Brotwort! Darüber hinaus ergibt sich von Joh 6,51c her eine klare Option für die ursprünglich universale Ausrichtung („für viele“) der Applikation, da dem joh ?I G & ] 2 5 T [])[] , „zu dem Zweck, dass sie mein Gedächtnis feiern (wörtl. tun)“60, bei der zwar keine Mahlfeier erwähnt, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit erschlossen sollst dich erinnern an diesen Tag alle Tage deines Lebens, und halte ihn von Jahr zu Jahr alle Tage deines Lebens“); Jos., Ant 2,317 (9 )). Dabei gilt stets: Ereignisse der Vergangenheit werden wegen ihrer Bedeutung für die Gegenwart aktualisiert; man erinnert sich, „um in der Gegenwart zu bestehen“ (H.-J. K LAUCK , Herrenmahl [s. Anm. 24] 315). Zu diesem Aspekt vgl. auch J. B LANK , Was heißt nach dem Neuen Testament: Das Herrenmahl feiern?, in: Ders., Studien zur biblischen Theologie (SBA 13), Stuttgart 1992, 97–132, hier 114–116. 55 Ganze vier Belege weist die LXX zu 9 ) aus: Zwei notorisch schwierige Psalmtitel (Ps 37,1 LXX; 69,1 LXX), Lev 24,7 im Zusammenhang mit den Schaubroten, schließlich Weish 16,6 (die Israeliten „erhielten ein Zeichen der Rettung, damit sie sich der Weisung deines Gesetzes erinnerten [9 ) G & ]). Vgl. H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 316. 56 J. J EREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 31960, 243. 57 H.-J. K LAUCK Herrenmahl (s. Anm. 24) 317; B. K OLLMANN , Ursprung (s. Anm. 13) 187. 58 H. LIETZMANN, An die Korinther I, Tübingen 1907, 132. 59 Diog. L. 10,18; ) ist zwar nicht überliefert, aber durch die Übersetzung Ciceros gesichert: ut et sui et Metrodori memoria colatur (Fin 2,101). Darüber hinaus würdigt Cicero den Mahlcharakter der Stiftung. 60 B. LAUM , Stiftungen in der griechischen und römischen Antike. Ein Beitrag zur antiken Kulturgeschichte. II. Urkunden, Leipzig 1914, 141 Nr. 203.
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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werden kann. Und das Testament einer gewissen Epikteta sieht einen bestimmten Geldbetrag für die feierliche Begehung ihres Gedächtnisses und des Gedächtnisses ihrer Familie vor.61 Im Hintergrund solcher Stiftungen steht der Glaube an die persönliche Gegenwart des Verstorbenen und die Mahlgemeinschaft mit ihm; das Mahl zu seinem Gedächtnis sichert ihm m ein gewisses Weiterleben. Von daher wird man die Entstehung des Anamnesisbefehls am besten „in der vorpaulinischen hellenistischen Gemeinde ansetzen. Das heißt zugleich, dass man schon vor Paulus das letzte Mahl Jesu als Vorbild für die Gestaltung des Gemeindemahls ansah“.62 2. Das Becherwort Vor nahezu unüberwindbare Hürden stellt aber das Becherwort. Wie gesehen differieren nicht nur die Formulierungen beider Traditionen, sondern differiert auch die theologische Motivik: Während die matthäisch-markinische Version mit dem Ausdruck „Bundesblut“ wohl direkt auf Ex 24,8 anspielt, wo Mose im Anschluss an ein Bundesopfer (den Altar und) das Volkk mit dem Blut des Opfertieres besprengt und sagt: „Seht, das ist das Blutt des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen hat auf Grund all dieserr Gebote“ (im Anschluss daran findet ein Mahl mit den Ältesten statt), hebtt die lukanisch-paulinische Variante mit der Betonung des „neuen Bundes“ auf den nach Jer 31,31–34 verheißenen neuen und endgültigen Bund Gottes mit seinem Volk ab.63 Der Umstand, dass das Bundesmotiv in beiden Traditionszweigen vorkommt, spricht für sein hohes Alter; gegenteiligen Äußerungen zum Trotz dürfte die lukanisch-paulinische Variante den Vorzug vor der markinischen Version verdienen.64 Zum einen lässt sich die markinische Form des Becherworts („Dies ist mein Blut“) leichter als sekundäre Angleichung an das Brotwort („Dies ist mein Leib“) verstehen und kommt damit der liturgischen Tendenz zur Parallelisierung entgegen, während die umgekehrte Entwicklung von der parallelen markinischen zur asymmetrischen lukanisch-paulinischen Form schwerer vorstellbar ist. Zum anderen bekundet die markinische Formulierung „Dies ist mein Leib 61 B. LAUM , Stiftungen (s. Anm. 60) II 43, Nr. 43. Weitere Belege bei H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 83–86; dort auch der Hinweis auf zahlreiche lateinische Stifterurkunden in, an, ob memoriam. 62 H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 317. 63 Der Bezug auf Jer 31,31–34 ist allerdings nicht unumstritten, vgl. die Diskussion bei W. S CHRAGE , 1 Kor III (s. Anm. 18) 39 mit Anm. 12, sowie W. G ROSS , Zukunft fürr Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund (SBS 176), Stuttgart 1998, 158–160. 64 Mit H. M ERKLEIN , Erwägungen (s. Anm. 29) 164; G. THEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 372; M. THEOBALD , Herrenmahl (s. Anm. 6) 262. Anders z.B. T. S ÖDING , Mahl (s. Anm. 20) 140–145, der die markinische Version als die ältere betrachtet; C. N IEMAND , Abendmahl (s. Anm. 44) 104 Anm. 42 („Weiterreflexion“). („Weiterreflexion ).
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/ Dies ist mein Blut“ ein viel stärkeres Interesse an den Elementen als solchen, zeigt also eine größere Tendenz zu der sich später entfaltenden sakramentalen Betrachtungsweise und ist daher „überlieferungsgeschichtlich unter allen Umständen als sekundär anzusehen“.65 Schließlich ist daran zu erinnern, dass das Trinken von Blut für jüdische Ohren etwas Abscheuliches darstellt und die markinische Formulierung daher im Munde Jesu nur schwer vorstellbar ist. Hingegen betrachtet die hellenistische Kultur indirekten Blutgenuss (durch Essen von ungeschächtetem Fleisch) nicht nur als etwas Normales, sondern kennt auch den Wein als Blutersatz und praktiziert direktes Bluttrinken im sakralen Ritus.66 Insofern wäre es durchaus vorstellbar, dass beim Übergang in heidnisch-hellenistisches Milieu unter Einfluss von Ex 24,8 aus dem „neuen Bund in meinem Blut“ (Lk/Pls) das „Blut des Bundes“ (Mk) wurde. Ist damit auch die Zugehörigkeit des Bundesmotivs zur ältesten Abendmahlstradition erwiesen? Konzentrierte man sich nur auf die markinische Abfolge von Bericht („und sie tranken alle daraus“), Deutewort („Dies ist mein Blut des Bundes“) und eschatologischen Ausblick („Ich werde nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken ...“), müsste die Antwort wohl negativ ausfallen. Denn das Deutewort zum Becher kommt eindeutig zu spät, da es ja erst nach dem Darreichen und Trinken des Bechers erfolgt67, und steht zudem in einer gewissen Spannung zum eschatologischen Ausblick in Mk 14,25 (literarkritisch eine echte Doppelung!).68 Dass Letzteres zum ältesten Bestand der Abendmahlsüberlieferung gehört, legt sich m.E. aufgrund der Reminiszenzen in 1 Kor 11,26 („bis dass er kommt“) und Lk 22,18 („bis die Herrschaft Gottes kommt“) zumindest nahe.69 Die Probleme würden sich lösen, wenn man das Deutewort zum Becher als zwar frühe, aber dennoch sekundäre Interpretation begreift. 65
H. M ERKLEIN , Erwägungen (s. Anm. 29) 165; H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 311. Einschränkend wäre allerdings hinzuzufügen, dass auch bei Markus die „letzte Konsequenz“ (Klauck), nämlich die Identifizierung des Brotes und des Weines mit Leib und Blut Christi, noch nicht gezogen ist. 66 Vgl. H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 312, die entsprechenden Belege ebd. 43 mit Anm. 25.50–53. Damit gegen T. S ÖDING , Mahl (s. Anm. 20) 140 mit Anm. 30, der den religionsgeschichtlichen Befund ignoriert. Ihm zufolge ist die Anstößigkeit der markinischen Formulierung Indiz für deren höheres Alter. 67 Einer der ersten Leser des Markusevangeliums, Matthäus, hat diese Unebenheit bemerkt und das Hysteroproteron daher gestrichen (s.o.)! 68 H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 321; C. NIEMAND , Abendmahl (s. Anm. 44) 105. 69 Mit H. M ERKLEIN, Erwägungen (s. Anm. 29) 173f. Wahrscheinlich hat Markus den älteren Wortlaut bewahrt; redaktionell bzw. später hinzugefügt sein könnten die AmenEinleitung und das G ) J , vgl. H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 320f. Methodische Bedenken meldet allerdings K. BACKHAUS , Hat Jesus vom Gottesbund gesprochen?, in: ThGl 86 (1996) 343–356, hier 348f., an: Das Logion sei nur in
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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Nun hat aber der lukanisch-paulinische Überlieferungsstrang Ü diese Probleme nicht, insofern dort auf eine dem markinischen Bericht vergleichbare Notiz vom Trinken verzichtet ist. Nicht wenige Exegeten streichen daher den eschatologischen Ausblick Mk 14,25, der zwar für authentisch gehalten wird, aber einem anderen Kontext entstamme, belassen stattdessen das Becherwort der ältesten Tradition und führen es darüber hinaus auff den historischen Jesus zurück.70 Das entscheidende Argument gegen die Verortung des eschatologischen Ausblicks in der Abendmahlsüberlieferung sieht THEOBALD in der mangelnden „Kongruenz des AmenWortes mit der Becherhandlung“. Dass Jesus den eigenen Becher, aus dem er zuvor getrunken habe, in der Runde kreisen ließ und alle daraus tranken, bedeute eine Abweichung vom Gewöhnlichen und sei von vornherein auf eine Deutung hin angelegt; diese liefere aber der eschatologische Ausblick gerade nicht.71 Dagegen passe die Vorstellung des Neuen Bundes vorzüglich zum Kreisen des Bechers, der Gemeinschaft untereinander und mit Gott schaffe. Jesus habe „die Seinen in der Stunde der drohenden Trennung dazu ermächtigen [wollen], auch ohne ihn das Mahl der Gottesherrschaft weiterhin zu begehen, in der unerschütterlichen Hoffnung auf Gottes baldiges Kommen“.72 Nun scheint diese Deutung aber eher durch den – aus der Abendmahlstradition doch eliminierten – eschatologischen Ausblick (Gottesherrschaft!) sowie den Anamnesisbefehl inspiriert zu sein als durch die Konzeption des „Neuen Bundes“, die darüber hinaus in der Form, in derr sie THEOBALD präsentiert, seitens des Alten Testaments und der frühjüdischen Theologie nicht gedeckt ist.73 Sowohl für Jer 31,31–34 als auch für die freilich spärliche rabbinische Rezeption – die Rede vom „Neuen Bund“ findet sich in der entsprechenden Literaturr ganze zwölf Mal!74 – ist der Torabezug des Neuen Bundes konstitutiv: bei Jeremia in dem m Sinn, dass Jahwe die Tora in das „Herz“, d.h. das Erkenntnis- und Willenszentrum, eines jeden Israeliten einschreibt, sodass die Adressaten selbst von Grund auf verändert werden und ein Bundesbruch für die Zukunft faktisch ausgeschlossen ist. Genau darin liegt auch einem Traditionsstrang und und auf einer späteren Stufe bezeugt; 1 Kor 11,26 sei kein Rudiment des eschatologischen Ausblicks Jesu, sondern belege vielmehr die Parusieerwartung der Gemeinde. 70 Vgl. zuletzt K. B ACKHAUS , Jesus (s. Anm. 69) 346–355; G. THEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 372f.; M. THEOBALD , Herrenmahl (s. Anm. 6) 264f.; vgl. auch den Überblick ausgewählter Forschungspositionen bei W. K IRCHSCHLÄGER , „Bund“ in derr Herrenmahltradition, in: H. Frankemölle (Hg.), Der ungekündigte Bund? Antworten des Neuen Testaments (QD 172), Freiburg i.Br. 1998, 117–134, hier 128–130. 71 M. THEOBALD, Herrenmahl (s. Anm. 6) 265f. 72 Ebd. 266. 73 Es sei denn, die lukanisch-paulinische Tradition wäre doch schon von Ex 24,8 herr zu verstehen und partizipierte an dessen sühnetheologischen Implikationen. Das legt sich aber gerade in der Argumentation THEOBALDS nicht nahe, der wie THEISSEN das „in meinem Blut“ als sekundären, vom Kreuzestod Jesu inspirierten Zusatz aus dem Becherwortt ausklammert. Vgl. M. THEOBALD , Herrenmahl (s. Anm. 6) 271. 74 Das rabbinische Material ist aufgearbeitet bei A.F. S EGAL , Bund in den rabbinischen Schriften, in: KuI 6 (1991) 147–162; F. A VEMARIE , Bund als Gabe und Recht. Semantische Überlegungen zu berit in der rabbinischen Literatur, in: Ders. / H. Lichtenbergerr (Hgg.), Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher, frühjüdischer und urchristlicher Tradition, Tübingen 1996, 163–216.
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die Neuheit des jeremianischen Bundesschlusses, dessen Verwirklichung das Judentum verständlicherweise erst für das messianische Zeitalter erwartet und der daher in der frühjüdischen Theologie so gut wie keine Rolle spielt.75 Wo die Rabbinen auf Jer 31,33f. Bezug nehmen, sehen sie eine Verinnerlichung der Tora angesagt, die durch ein intensives Studium erworben und, darauf liegt der Akzent, auch nicht mehr vergessen wird.76
Insofern hat die Auffassung, der zufolge das Bundesmotiv nicht schon zum „Urbericht“ gehörte, sondern sozusagen die erste frühchristliche Interpretation des letzten Mahls Jesu darstellt, vielleicht doch die besseren Argumente für sich, zumal Jesus mit der Deutung des Brotes auf seinen Leib ($) einen „anthropologischer Ganzheitsbegriff“ benutzt, der im Unterschied zur H („Fleisch“) die gesamte Person bezeichnet und daher nicht auf U („Blut“) als Komplementärbegriff angewiesen ist.77 Man hätte dann im „Neuen Bund“ ein Indiz für eine beginnende Abgrenzung vom Judentum zu sehen78, etwa in Analogie zu einigen Belegen aus der Damaskusschrift, wo der „Neue Bund“ zur Selbstbezeichnung einer Separatistengruppe dient, die sich räumlich und ideell vom Tempel entfernt hat.79 Das würde auch erklären, warum # ) („Bund“) im Munde Jesu bei den Synoptikern mit Ausnahme von Lk 1,72 (aber dort ist der Sinn anders) nur hier vorkommt, in der späteren neutestamentlichen Literatur aber breit bezeugt ist und sich speziell bei Paulus die Gegenüberstellung von Altem und Neuem Bund findet (vgl. 2 Kor 3,6.14; auch Gal 4,24).80
75 Vgl. die umfassenden Ausführungen von W. G ROSS , Zukunft (s. Anm. 63) 134–152. 76 Vgl. diesbezüglich R.S. S ARASON , The Interpretation of Jeremiah 31:31–34 in Judaism, in: J.J. Petuchowski (Hg.), When Jews and Christians Meet, Albany 1988, 99–123; H. LICHTENBERGER / S. SCHREINER , Der neue Bund in jüdischer Überlieferung, in: ThQ 176 (1996) 272–290. 77 Vgl. dagegen z.B. 1 Kor 15,50, wo es heißt: „Fleisch und Blut werden das Reich Gottes nicht erben.“ Mit H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 321; C. N IEMAND , Abendmahl (s. Anm. 44) 106. 78 Vgl. H. M ERKLEIN, Der (neue) Bund als Thema der paulinischen Theologie, in: ThQ 176 (1996) 290–308. 79 Vgl. CD 8,21: „Alle Männer, die in den Neuen Bund eingetreten sind im Lande Damaskus“; weiter CD 6,19; 19,33; 20,12; in 1 QpHab 2,3 muss „neu“ ergänzt werden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit darf man in dieser Gruppierung die Vorläufer der Qumranessener sehen, vgl. J. M AIER , Der „Neue Bund“ im Land Damaskus, in: WUB 3 (1997) 44–46. 80 G. T HEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 372f. mit Anm. 15, drehen die Argumentation um: Weil jeder Bundesschluss einmalig sei, verwundere es nicht, dass „Bund“ ansonsten kein Thema der Verkündigung Jesu sei. Überzeugender ist m.E. die von Theißen und Merz zugunsten des Bundesmotivs vorgebrachte Überlegung, wonach der Gedanke des „neuen Bundes“ im „neuen Gebot“ der johanneischen Abschiedsreden seine Spuren hinterlassen hat.
II. Vertiefung: Die neutestamentlichen Einsetzungsberichte
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3. Der „Urbericht“ Treffen die Beobachtungen zum Textbefund einigermaßen zu und sind die vorgenannten Überlegungen nicht völlig falsch, dann lässt sich – mit allerr Vorsicht – folgender „Urbericht“ rekonstruieren81: (Und in der Nacht, in der er überliefert wurde), nahm er Brot, sprach den Lobspruch, brach es und sprach: „Dies (ist) mein Leib, für viele.“ In gleicher Weise nahm er nach dem Mahl den Becher, und sie tranken alle daraus. Und er sprach: [„Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut.] Ich werde nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken, wann ich es neu trinke in der Herrschaft Gottes.“
Für das Verständnis ist wichtig: Dieser „Urbericht“ ist ein wissenschaftliches Konstrukt und nicht die Wirklichkeit selber, mit allen Randunschärfen, die solchen Konstrukten von Haus aus zwangsläufig anhaften. Dass man für das Becherwort durchaus zu anderen Ergebnissen kommen kann, haben wir gesehen und Ähnliches gilt auch für die Applikation beim Brotwort oder den Anamnesisbefehl. Vor allem aber bewegen wir uns mit dem „Urbericht“ noch im Bereich der Überlieferungsgeschichte bzw. auf deren frühester Stufe. Rekonstruiert wurde die älteste erreichbare Tradition, die den Ausgangspunkt der komplexen und sich früh verzweigenden neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferung gebildet haben könnte, nicht das letzte Mahl Jesu selbst. Dass bei diesem mehr gesprochen wurde als nurr das Deutewort zum Brot und das Becherwort und wir insofern über den „Urbericht“ nur einen Ausschnitt jenes Mahls zu Gesicht bekommen, versteht sich von selbst Wenn wir daher im Folgenden danach fragen, inwieweit dieser „Urbericht“ in die historische Situation des Abschiedsmahls Jesu zurückreicht, müssen wir uns dieser Beschränkungen stets bewusst sein. Eine methodisch zufrieden stellende Antwort wird darüber hinaus mindestens drei Aspekte berücksichtigen.82 Erstens wird danach zu fragen sein, inwieweit sich 81 Der in runden Klammern gebotene Text der ersten Zeile ist in Anlehnung an 1 Korr 11,23 formuliert, da eine isolierte Überlieferung eine wie auch immer geartete Einleitung verlangt. Das in runde Klammern gesetzte Hilfszeitwort „ist“ will bewusst machen, dass das griechische E im Aramäischen keine Entsprechung hat. Die eckigen Klammern sollen im Bewusstsein halten, dass das Bundesmotiv auch Bestandteil des „Urberichts“ gewesen sein könnte. 82 Zu den Kriterien der Rückfrage nach dem historischen Jesus vgl. jetzt M. EBNER / B. H EININGER , Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB für Wissenschaft 2677), Paderborn 2005, 277–323, 277 323, bes. 298–306. 298 306.
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der von uns rekonstruierte Mahlverlauf in die damals gängige Mahlpraxis einordnen lässt („Milieutreue“). Das betrifft u.a. auch die Frage, ob Jesu letztes Mahl ein Paschamahl war oder nicht. Zweitens: Wie passt das, was Jesus dem „Urbericht“ zufolge tut und sagt, zu seinem übrigen (historisch gesicherten) Wirken und Reden („Kohärenz- oder Konvergenzkriterium“)? Und schließlich drittens: Gibt es etwas „Besonderes“, das Jesu letztes Mahl von jüdischen Mählern und der Mahlpraxis des frühen Christentums abhebtt („Unähnlichkeitskriterium“)?
IV. Vergewisserung: Historische Rückfrage 1. Jüdische Mahlpraxis Über den Ablauf eines jüdischen Mahls zur Zeit Jesu wissen wir relativ wenig. Die rabbinischen Quellen, die gewöhnlich für die Rekonstruktion jüdischer Mahlpraxis herangezogen werden, datieren überwiegend in das 3.–7. Jh. n.Chr.!83 Natürlich ist es nicht ausgeschlossen und sogar wahrscheinlich, dass die entsprechenden Texte ältere, bis in das 1. Jh. n.Chr. zurückreichende Überlieferungen bewahrt haben, letzte Sicherheiten gibtt es aber diesbezüglich nicht. Dieser Prämissen eingedenk lässt sich Folgendes festhalten: Das „altjüdische Gastmahl“ besteht in der Regel aus drei Teilen, (1) aus der Vorspeise, die separat in einem Vorraum und im m Sitzen eingenommen wurde (zwei bis drei Gänge), (2) aus der eigentlichen Hauptmahlzeit, zu der man sich in den Speisesaal begab und nach griechisch-römischer Sitte auf Polster niederlegte84, und schließlich (3) aus dem Nachtisch. Da weder die Evangelien noch Paulus irgendetwas bezüglich einer Vor- oder Nachspeise mitteilen, konzentrieren wir uns auf das eigentliche Mahl. Nach dem rituellen Abspülen beider Hände (vgl. Mkk 7,3!) richtet sich der Gastgeber auf seinem Polster auf, nimmt in sitzenderr Haltung den vor ihm liegenden Brotfladen in die Hand und spricht darüberr ein kurzes Segensgebet: „Gepriesen bist Du, Herr, unser Gott, König derr 83 Die Basis für das Folgende liefert immer noch der Exkurs zum „altjüdischen Gastmahl“ bei H.L. S TRACK / P. B ILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Bd. IV/2, München 81986, 611–639; darüber führt auch D.E. S MITH , From Symposium to Eucharist. The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003, 133–172 („The Jewish Banquet“), nicht so sehr hinaus, obwohl er weiteres Quellenmaterial (Sir; Philo; Qumran) mit einbezieht. Vgl. außerdem noch M. K LINGHARDT, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 34) 175–267. 84 Dieses „Ambiente“ ist in der markinischen Schilderung der Abendmahlsszenerie noch besonders schön zu erkennen: Das für das Mahl anvisierte Obergemach istt , d.h. in diesem Fall „mit Teppichen oder Speisepolstern belegt“ (J. GNILKA , Mk II [s. Anm. 16] 233), dementsprechend legen sich die Mahlteilnehmer wenig späterr zu u Tisch sc (Mk ( 14,15.18; , 5. 8; vg vgl.. auch auc Lk 22,12.14). , . ).
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Welt, der Brot aus der Erde hervorgehen lässt“ (Ber 6,1). Dann bricht err das Brot und reicht die Stücke an die anwesenden Mahlteilnehmer weiter. Auf diese Weise sollte allen Mahlteilnehmern Anteil am Segen gewährtt und die Mahlgemeinschaft konstituiert werden.85 Fügen sich die im Abendmahlsbericht festgehaltenen Brotgesten somitt gut in den Ablauf eines jüdischen Festmahls ein, liegen die Dinge beim m Wein bzw. bei den Bechergesten ein wenig komplizierter. Wein wird im m Verlauf eines jüdischen Festmahls nicht nur zur Vorspeise gereicht, sondern auch während und zum Abschluss der Hauptmahlzeit; darüber hinaus kann Wein zum Nachtisch serviert werden. Man darf aber davon ausgehen, dass die Abendmahlsüberlieferung auf den so genannten „Becher des Segens“ anspielt (vgl. 1 Kor 10,16: G 5 '), den derr Gastgeber oder ein von ihm gebetener Gast nach Beendigung der Mahlzeitt in die Höhe hob und dazu das übliche, aus vier Benediktionen bestehende Tischgebet sprach.86 Dann trank er seinen Becher aus, anschließend tun die übrigen Mahlteilnehmer dasselbe. Die nur bei Markus überlieferte Notiz, dass Jesus seinen Becher weitergab und alle daraus tranken, hat im jüdischen Festmahl höchstens insofern eine Parallele, als der Gastgeber seinen eigenen Becher an besonders zu ehrende Gäste oder beim Mahl nichtt anwesende Familienmitglieder (z.B. die Ehefrau) weitergeben und sie aus seinem Becher trinken lassen konnte.87 Üblich ist aber der Einzelbecher.88 Sieht man von diesem letzten Detail einmal ab, erklärt sich der dem m „Urbericht“ noch zu entnehmende Mahlverlauf problemlos vor dem Hintergrund eines jüdischen Gastmahls. Nun signalisiert allerdings der bei 85
Vgl. H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 183f. Exegetisches Indiz dafür ist der bestimmte Artikel ( ) von , der auf einen mit einer festen Funktion verbundenen Becher verweist, eben den „Segensbecher“, vgl. schon J. J EREMIAS, Abendmahlsworte (s. Anm. 56) 106; dann O. H OFIUS , Herrenmahl (s. Anm. 24) 212: „Der ‚Segensbecher’ ... ist immer und exklusiv der Becher mit Wein, überr dem das Tischdankgebet nach der Mahlzeit gesprochen wird.“ D.E. S MITH , Symposium (s. Anm. 83) 146, spricht in diesem Zusammenhang von einem „ceremonial cup“, derr den „symbolism of a unified community“ trage. 87 Vgl. H.L. S TRACK / P. BILLERBECK, Kommentar (s. Anm. 83) IV/2, 630, mit Berufung auf bBer 51a: „Man sendet ihn (sc. den Becher) als Geschenk an die Familienmitglieder“. 88 Vgl. die Diskussion und Präsentation der jüdischen Quellen bei H.L. S TRACK / P. BILLERBECK, Kommentar (s. Anm. 83) IV/1, 58–61 (im Rahmen des Exkurses zum Paschamahl), mit dem bezeichnenden Fazit: „Die Frage, ob beim Paschamahl ein Gesamtbecher oder Einzelbecher in Gebrauch gewesen seien, ist zugunsten des Einzelbechers zu beantworten.“ Dagegen wirkt der Versuch von J. J EREMIAS, Abendmahlsworte (s. Anm. 56) 63f., aus denselben Quellen ein Plädoyer für den Gemeinschaftsbecher herauszulesen, gekünstelt. Insofern ist es auch zu wenig, wenn J. G NILKA , Mk II (s. Anm. 16) 244, schreibt, es sei „umstritten, ob beim Paschamahl und auch beim jüdischen Festmahl aus einem gemeinsamen Becher getrunken wurde oder der Einzelbecher üblich war.“ Richtig H.-J. . J. K LAUCK UC , Herrenmahl e e a (s. Anm.. 24)) 202 0 mitt Anm.. 18. 8. 86
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Markus (und den beiden Seitenreferenten) überlieferte erzählerische Rahmen, dass das letzte Mahl Jesu nicht nur ein Festmahl, sondern sogar ein Paschamahl war: Der Mahlszene voraus geht die Vorbereitung des Paschamahls (vgl. Mk 14,12–16), unmittelbar im Anschluss an den Einsetzungsbericht ist in Mk 14,26 davon die Rede, dass sie hinaus zum Ölberg gingen, nachdem sie den Lobgesang gesungen hatten. Damit dürfte auf das in derr Paschaliturgie fest verankerte Hallel bzw., genauer, dessen zweiten Teil (= Ps 115–116) angespielt sein. Dementsprechend wäre der Einsetzungsbericht auf den dritten Teil der aus Vorspeise, Paschahaggada (mit Hallel I), Hauptmahl und Abschluss (mit Hallel II) bestehenden Paschafeier zu beziehen, der vom Ablauf her der Hauptmahlzeit eines jüdischen Festmahls entsprach (Tischgebet, Mahl, Segensbecher) und sich lediglich bezüglich der gereichten Speisen (Lamm, Mazzen, Bitterkräuter, Fruchtmus) davon m unterschied.89 Gegen eine Identifizierung des letzten Mahls Jesu mit einem Paschamahl spricht aber die (bessere) johanneische Chronologie. Nach johanneischer Darstellung stirbt Jesus am Freitag, den 14. Nisan, vor Beginn des mitt Sonnenuntergangs beginnenden Paschafestes, d.h. der auf den Todestag Jesu nachfolgende Sabbat fällt mit dem Paschafest zusammen, ist also ein „großer Sabbat“ (Joh 19,31).90 Dass Johannes damit die historischen Abläufe besser bewahrt hat als Markus, bei dem das Paschafest schon am Donnerstagabend beginnt und bis Freitagabend dauert, legt sich aus mehreren Gründen nahe. Zunächst: Wenn Paulus in 1 Kor 5,7 eine urchristliche Tradition zitiert, der zufolge Christus „als unser Pascha(lamm) geopfert worden ist“, dann passtt dies besser zur Datierung des Todes Jesu vor dem Paschafest – zu der Zeit, da im Tempel die Paschalämmer geschlachtet werden.91 Und zum anderen: Die markinische Passions89 Vgl. die schöne tabellarische Übersicht bei G. THEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 374f.; grundlegend zum Paschamahl immer noch der Exkurs bei H.L. S TRACK / P. B ILLERBECK, Kommentar (s. Anm. 83) IV/1, 41–76. Der Mischnatraktat Pesachim siehtt für die Paschafeier insgesamt vier Becher vor: Den „Kidduschbecher“ (= 1. Becher), derr mit einem Segensspruch des Hausvaters gereicht wurde, reichte man zur Vorspeise aus Grünkräutern, Bitterkräutern und Fruchtmus, den „Haggadabecher“ (= 2. Becher) am m Ende der aus Paschahaggada (= Erklärung der Besonderheiten des Paschamahls durch den Hausvater für seine Kinder) und dem ersten Teil des Paschahallels (= Ps 113–114) bestehenden Paschaliturgie, den „Segensbecher“ (= 3. Becher), der zu jedem Festmahl gehörte, und schließlich den Hallelbecher (= 4. Becher) in Verbindung mit dem zweiten Teil des Paschahallels (= Ps 115–116). Innerhalb der neutestamentlichen Exegese hatt sich vor allem J. J EREMIAS , Abendmahlsworte (s. Anm. 56) 1–82, energisch für eine Einschätzung des letzten Mahls Jesu als Paschamahl ausgesprochen; er hat heute aber nurr noch wenig Gefolgschaft (z.B. R. P ESCH , Das Markusevangelium. Kommentar zu Kap. 8,27 – 16,20 (HThK II/2), Freiburg i.Br. 31984 mit einem Nachtrag, 354–357. 90 In dieselbe Richtung weisen apokryphe und (allerdings späte) jüdische Traditionen, vgl. Ev Petr 2,5: „am Tag vor den ungesäuerten Broten“; bSanh 43a: „Am Vorabend des Pesahfestes hängte man Ješu“. 91 Mit G. THEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 375; anders dagegen W. SCHRAGE , 1 Kor III (s. Anm. 18) 383: 1 Kor 5,7 dürfe nicht chronologisch zugunsten einer bestimmten Datierung des Todes Jesu oder des Paschacharakters des letzten Mahls ausgep esst werden. presst we de . Warum Wa u nicht? c t?
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geschichte selbst lässt noch an einigen Stellen durchschimmern, dass Verurteilung und Hinrichtung Jesu in einem früheren Stadium der Überlieferung nicht am, sondern vorr dem Paschafest stattfanden. Mk 14,1f. zufolge soll Jesus nach dem Willen seiner Gegnerr „nicht am Fest“ beseitigt werden92, eine nächtliche Gerichtsverhandlung (vgl. Mk 14,55–– 65), bedeutet einen Verstoß gegen das Feiertagsgebot, zumal wenn ein Todesurteil gefälltt wird, und die von Pilatus gewährte Paschaamnestie (Mk 15,6) macht auch nur Sinn, wenn der Freigelassene noch die Chance zur Teilnahme am Paschafest hat. Schließlich kommtt Simon von Kyrene von der Feldarbeit (Mk 15,21), was an einem Feiertag verboten wäre, und ähnlich liegen die Dinge auch für Josef von Arimathäa, der Mk 15,46 zufolge ein Leinentuch kauft, um Jesus damit zu begraben. Es ist schwer vorstellbar, dass er an einem m hohen Feiertag einen Händler fand, der ihm diese Ware lieferte.93
Es bleibt daher dabei: Für die Erklärung des letzten Mahls Jesu genügtt der Rahmen eines jüdischen Gastmahls; zum Paschamahl mutierte es erst, als man die ursprünglich isoliert überlieferte Kultätiologie in den Kontextt des (vor)markinischen Passionsberichts stellte und mit Mk 14,12–16 bzw. 14,26 rahmte. 2. Brotwort und eschatologischer Ausblick Mit dem Weiterreichen des einen Bechers an die Mahlteilnehmer und dem m gemeinsamen Trinken aus diesem einen Becher sowie den deutenden Worten zu Brot- und Becherhandlung weicht der rekonstruierte Mahlberichtt nun allerdings signifikant von den skizzierten jüdischen Mahlsitten ab. Das kann man durchaus im Sinne des Unähnlichkeitskriteriums als Indiz für die historische Zuverlässigkeit („Authentizität“) des Berichteten werten. Jesus hätte dann beim mahleröffnenden Brotbrechen zusätzlich zu dem m vorgeschriebenen Lobspruch die Worte gesagt: „Dies (ist) mein Leib fürr viele“ und, wie es Sitte war94, den Becher nach dem Mahl angetrunken, ihn dann unter seinen Jüngern kreisen lassen und dazu die im Wesentlichen in Mk 14,25 erhaltenen Worte gesprochen: „Ich werde nicht mehr von dem m Gewächs des Weinstocks trinken, wann ich es neu trinke in der Herrschaftt Gottes.“95 Dabei bezeichnet der Leib ($) nicht einfach die physische Materialität des Körpers, sondern die ganze Person, das leibhaftige Ich oder Selbst96, sodass man auch paraphrasieren könnte: „Das bin ich, das 92 R. P ESCH , Mk II (s. Anm. 89) 321, versucht die durch Mk 14,1f. in die markinische Passionsdarstellung hineingetragene Spannung dadurch aufzulösen, dass er V nichtt mit „Fest“, sondern mit „Festmenge“ übersetzt. Das ist nicht überzeugend, vgl. W. REINBOLD , Bericht (s. Anm. 16) 228, der allerdings andererseits der Notiz jeden historischen Wert abspricht. 93 Alle Argumente nach G. THEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 375f. 94 Vgl. bPes 105b: „... dass der den Segen Sprechende davon kosten müsse.“ 95 Vgl. H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 321; auf derselben Linie auch H. M ERKLEIN , Erwägungen (s. Anm. 29) 171–174. 96 Grundlegend diesbezüglich immer noch E. S CHWEIZER, Art. $ ., in: ThWNT V (1964) VII ( 96 ) 1024–1091; 0 09 ; vg vgl.. auc auch F.. H AHN N , Zum Stand der Erforschung des urchristlichen
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ist meine Person!“ Der eschatologische Ausblick, von der Gattung her ein prophetisches Wort, lässt m.E. klar erkennen, dass Jesus mit seinem unmittelbar bevorstehenden Tod rechnete.97 Gerade der eschatologische Ausblickk fügt sich aber nun glänzend zu dem, was wir auch sonst von Jesus wissen: Seine Mahlgemeinschaften mit allen möglichen und unmöglichen Leuten (vgl. Mk 2,15–17 parr; 6,32–44 parr; Lk 7,36–50; 11,37–54; 19,1–10 u.ö.) sind Realsymbol der anbrechenden Gottesherrschaft98; mehrfach greift err in Bildworten und Gleichnissen (Mk 2,19 parr; Lk 14,15–24 par), in den Seligpreisungen (Lk 6,21 par), im Vaterunser (Mt 6,9–13 par) oder im Logion von der Völkerwallfahrt (Mt 8,11f.) eschatologische Mahlmetaphorikk auf, die sich die Königsherrschaft Gottes im Bild eines festlichen Mahls vorstellt.99 Auch wenn vielleicht nicht alle der genannten Stellen einerr strengen Prüfung auf Authentizität standhalten100, so ist der Gesamtbefund doch eindeutig: Im eschatologischen Ausblick hören wir die ipsissima voxx Jesu. Gilt das auch für das Brotwort? Problematisch erscheint hier vor allem die Applikation „für viele“, die Jes 53,10–12 in Erinnerung ruft, wo es vom Gottesknecht heißt, dass er „sein Leben als Schuldopfer (hebr. WX.) hingab“ (V.10), die Vielen gerecht macht und ihre Schuld auf sich nimmt (V.11) sowie, nun wieder wörtlich, „sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen (LXX: ; $) und trat für die Schuldigen ein“ (V.12). Darf man Jesus selbst schon eine solche sühnetheologische Deutung seines (bevorstehenden) Todes zutrauen oder spricht sich in diesem Elementt der Abendmahlsüberlieferung nicht doch der Glaube der frühesten Christenheit aus, die den Tod Jesu zwar nicht nur, aber doch unübersehbar in sühnetheologischen Kategorien verstanden hat?101 Röm 3,25f. ist dafürr Herrenmahls, in: Ders., Exegetische Beiträge zum ökumenischen Gespräch. Gesammelte Aufsätze I, Göttingen 1986, 242–252, hier 248. 97 Mit H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 321; vgl. auch G. THEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 383. 98 Vgl. B. H EININGER , Das Reich Gottes: Neues Testament, in: G. Vanoni / Ders., Das Reich Gottes. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (NEB.Themen 4), Würzburg 2002, 61–117, hier 84–89. 99 Vgl. Jes 25,6: „Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen.“ 100 Für das Vaterunser habe ich den Nachweis zu führen versucht, vgl. B. H EININGER , Apokalyptische Wende Jesu? Ein Beitrag zur Vor– und Frühgeschichte des Vaterunsers (Mt 6,9–13 par Lk 11,2–4), in: E. Garhammer / W. Weiß (Hgg.), Brückenschläge. Akademische Theologie und Theologie der Akademien, Würzburg 2002, 183–206. 101 Eingehend hat sich dieser Frage gewidmet H. M ERKLEIN, Der Tod Jesu als stellvertretender Sühnetod. Entwicklung und Gehalt einer zentralen neutestamentlichen Aussage, in: Ders., Jesus (s. Anm. 29) 181–191; 181 191; vgl. auch D ERS., Jesu Botschaft von der
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nur ein, freilich sehr früher Beleg: „Ihn (= Christus) hat Gott öffentlich eingesetzt als Sühneort (Y ) in seinem Blut zum Erweis seinerr Gerechtigkeit zum Zweck der Vergebung der zuvor geschehenen Sünden in der Nachsicht Gottes.“ Ein Unterschied zwischen der durch Röm 3,25f. repräsentierten frühchristlichen Deutung des Todes Jesu und dessen Sinngebung in der Abendmahlsüberlieferung sticht sofort ins Auge: Während Röm 3,25f. eindeutig kultisch konnotiert ist – der Begriff Y bezieht sich auf die Sühneplatte im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels, das der Hohepriester einmal im Jahr am Versöhnungstag betritt, um dortt das Blut des Opfertiers auszugießen und auf diese Weise Versöhnung zu erwirken (vgl. Lev 16) –, gibt die Abendmahlsüberlieferung allenfalls indirekt (über den Begriff „Schuldopfer“ in Jes 53,10) kultische Bezüge frei102. Mehr noch: Schon bei Jesaja hat das Leiden und Sterben des Gottesknechts kultkritischen Charakter und ist ein einmaliger Akt, der an die Stelle derr stetig dargebrachten Sühnopfer tritt und diese damit aufhebt.103 Zu Jesus von Nazaret, der im Übrigen auch in den Seligpreisungen Anleihen beim m Propheten Jesaja macht (vgl. Lk 6,20f. par mit Jes 61,1f.), passt diese kultkritische Linie jedenfalls gut, denn es sind gerade seine tempelkritischen Aktionen – die in Mk 11,15–19 parr überlieferte Tempelreinigung und das in verschiedenen neutestamentlichen Traditionssträngen bewahrte Tempelwort, das die Zerstörung des Tempels und (wahrscheinlich) einen durch Gott errichteten neuen Tempel prophezeite (vgl. Mk 13,1f.; 14,58; Joh 2,19f.; Apg 6,14) –, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach an den Galgen brachten.104 Nicht vergessen sollte man schließlich auch, dass der Mkk 2,5 überlieferte Zuspruch der Sündenvergebung durch Jesus in direkterr Opposition zum Tempel steht: Er geschieht räumlich weitab von Jerusalem m in Galiläa, sozusagen auf der Straße, und braucht vor allem eines nicht: das Opfer! Vor diesem Hintergrund gewinnt auch das zu beurteilende Logion Mk 10,45 („Denn auch der Menschensohn kam nicht, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld fürr viele [ 4 $]“) wieder an Dynamik.105 Das alles sind gute Gründe, die Applikation für viele als authentische Jesusüberlieferung zu qualifizieren. Gottesherrschaft. Eine Skizze (SBS 111), Stuttgart 31989, 139–144. Aus der neueren Literatur sei vor allem auf T. K NÖPPLER , Sühne (s. Anm. 44) passim, hingewiesen. 102 Zur Diskussion um Reichweite und Bedeutung des Begriffs WX. vgl. D. K ELLERMANN , Art. WX., in: ThWAT I (1973) 463–472, speziell zu Jes 53,10–12 Ebd. 470. 103 So jedenfalls C. WESTERMANN, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66 (ATD 19), Göttingen 51986, 216. 104 Der letzte Stand der Dinge diesbezüglich bei M. EBNER, Jesus von Nazaret in seinerr Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge (SBS 196), Stuttgart 22004, 178–203. 105 Nach D. LÜHRMANN , Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 181, lässtt sich nicht „sicherstellen, dass das Wort auf den historischen Jesus zurückgeht“. Von der
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V. Vermächtnis: Das letzte Mahl Jesu 1. Das letzte Mahl Jesu als kultkritische Symbolhandlung Auch wenn es wissenschaftlich unehrlich wäre, „sich nicht einzugestehen, dass wir Ablauf und Sinn des letzten Mahles nicht sicher rekonstruieren können“106, dürften die vorgetragenen Beobachtungen und Überlegungen doch zu einigen tragfähigen Ergebnissen geführt haben. Die eingangs zitierte und nach wie vor in der exegetischen Forschung virulente Hypothese, wonach das letzte Mahl Jesu eine „Zurückverlegung“ frühchristlicher, hellenistischer Mahlpraxis wäre, bzw. die Abendmahlstexte eine – sagen wir es ruhig so drastisch – „Erfindung“ der entsprechenden hellenistischen Gemeinden seien, hält einer sorgfältigen Überprüfung nicht stand. Richtig daran ist allerdings, dass die neutestamentlichen Einsetzungsberichte in hohem Maß die liturgische Praxis, aber auch das Selbstverständnis derr frühchristlichen Gemeinden widerspiegeln. Das wird etwa an der Vorstellung vom „Neuen Bund“ sichtbar (wenn man sie als frühestes Interpretament versteht und nicht beim historischen Jesus belässt) oder in den unterschiedlichen Mahlformen, wie sie die matthäisch-markinische Traditionslinie auf der einen und die lukanisch-paulinische Traditionslinie auff der anderen Seite repräsentieren. Trotz dieser unleugbaren Prägung derr Abendmahlstexte durch die Gemeinden kann m.E. mit guten Gründen an der Rückführung dieser Texte auf einen „Urbericht“ (dessen Rekonstruktion im Einzelfall durchaus anders ausfallen kann) festgehalten werden. Dieser „Urbericht“ reicht in die Situation des Abschiedsmahls Jesu zurück. Historisch verantwortet lässt sich daher sagen: Jesus feiert mit seinen Jüngern (und Jüngerinnen?) ein Abschiedsmahl. Dabei nimmt er die fürr ein jüdisches Mahl charakteristischen Brot- und Bechergesten zum Anlass, diesem letzten gemeinsamen Essen einen tieferen Sinn zu verleihen und es darüber hinaus mit seinem eigenen Leben und Sterben zu verknüpfen. Beim Brotbrechen spricht er zusätzlich zum üblichen Segensgebet die Worte: „Dies (ist) mein Leib für viele“, und nach dem Mahl, nachdem alle vom „Segensbecher“ getrunken haben, sagt Jesu zum Abschluss: „Ich werde nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken, wann ich es neu trinke in der Herrschaft Gottes.“ (Mk 14,25) Das weist zunächst einmal auff die Praxis gemeinsamer Mähler mit Zöllnern und Sündern zurück („nichtt mehr“) und konstatiert angesichts des bevorstehenden gewaltsamen Todes das Ende dieser Praxis: In der bisherigen Form (vgl. auch Mt 11,19 parr Lk 7,34) wird es diese Mähler nicht mehr geben. Und: Trotz des nahen Todes bzw. der darin sichtbar werdenden Ablehnung seitens Israel siehtt Formulierung her ist die nächste Parallele 1 Tim 2,6; das Motiv selbst ist auch bei Paulus (und anderswo) zu finden, vgl. 1 Kor 15,3b–5; Gal 2,20 u.ö. 106 G. THEISSEN / A. M ERZ, Jesus (s. Anm. 41) 383.
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Jesus seine Botschaft nicht widerlegt, sondern hält gegen alle Hoffnung an der Hoffnung auf das baldige Hereinbrechen der Gottesherrschaft fest. Jesus ist nach wie vor davon überzeugt: Die wird kommen, sie wird die Gestalt eines Gastmahls haben und er wird daran teilnehmen.107 Vor diesem Hintergrund gewinnt nun auch das Brotwort weiter an Profil. Mit den Worten „Dies (ist) mein Leib für viele“ deutet Jesus, daran istt an dieser Stelle noch einmal zu erinnern, nicht das Brot allein, sondern den gesamten Ritus108, also das Brechen und Austeilen des Brotes. Darin wird man, trotz gewichtiger gegenteiliger Meinungen, eine Anspielung auff das „Brechen“ des Leibes Jesu, d.h. auf sein gewaltsames Sterben sehen dürfen. Das bedeutet dann: Wie das Brechen und Austeilen des Brotes den Mahlteilnehmern Anteil an dem über das Brot gesprochenen Segen verleiht, so ist auch Jesu Tod gegen allen äußeren Anschein nicht umsonst, sondern für etwas „gut“, ist ein „Segen“, sodass auch andere etwas davon haben – und das sind nicht nur die anwesenden Jüngerinnen und Jünger, sondern, wenn unsere Rekonstruktion zutrifft, die „Vielen“, d.h. Gesamtisrael. Aber in welchem Sinn? Hier kommt Jes 53,10–12 ins Spiel. Wenn es stimmt, dass schon das vierte Gottesknechtslied eine kultkritische Spitze hat, also das einmalige stellvertretende Sterben des Gottesknechtes die Sühnopfer im Tempel ablöst bzw. aufhebt, und der Rückgriff auf Jes 53 in der Applikation des Brotworts diesen Aspekt zumindest auch im Auge hat, dann bildet das Brotwort den End- und Höhepunkt einer Linie, die mit dem Zuspruch derr Sündenvergebung durch Jesus auf offener Straße ohne vorausgehendes Sündenbekenntnis und ohne Opfer in Galiläa beginnt (Mk 2,5), sich in Jerusalem in Gestalt der Tempelaktion (Mk 11,15–19) und verbaler Tempelkritik (Mk 13,1f.; 14,58) fortsetzt und in den Einsetzungsworten im Abendmahlssaal ihren letzten verbindlichen Ausdruck findet. Sie besagt: Vom Tempel ist kein Heil mehr zu erwarten. Der Kultbetrieb, der Sündenvergebung verspricht und im Gegenzug Opfer verlangt, hat abgewirtschaftet. Niemand braucht mehr nach Jerusalem zum Tempel zu ziehen und dortt ein Opfer für seine Sünden darzubringen. Mit der Tötung Jesu, von derr Jerusalemer Machtclique um den Hohenpriester herum betrieben und von der römischen Staatsmacht vollzogen, desavouiert die Tempelaristokratie nicht nur sich selbst, sondern auch den von ihr kontrollierten Kult, und in genau diesem Sinn kommt Jesu Tod den Vielen zugute, stirbt Jesus für die Sünden der Vielen.
107
Vgl. H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 322. Der Argumentation von U. LUZ, Herrenmahl (s. Anm. 24) 4f., ist nichts hinzuzufügen: Im Griechischen kann sich („dies“) nicht auf ! : beziehen, da Ersteres ein Neutrum, Letzteres aber ein Maskulinum ist! 108
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Das letzte Mahl
Die hier vorgetragene Deutung des Brotwortes in der von uns rekonstruierten Gestaltt fügt sich gut zu der im eschatologischen Ausblick geäußerten Hoffnung auf ein baldiges Hereinbrechen der , insofern nach der Überzeugung der nachexilischen Prophetie Sündenvergebung zu den Gaben der Endzeit gehört: „Er wird sich wiederum unserr erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten. Du wirst all unsere Sünden in die Tiefe des Meeres versenken“ (Mi 7,19).109 Der Targum zu Jes 53, der eine messianische Paraphrase zur Masoravorlage bietet und im Übrigen die Sühneaussagen von Jes 53 eher abschwächt, notiert darüber hinaus die Restitution des Tempels als eine der Vorbedingungen für jene endzeitliche Versöhnung zwischen Gott und seinem Volk.110 Die durch diese Interpretation in das Verhältnis von präsentischem Vergebungszuspruch (Mk 2,5: „Kind, deine Sünden werden vergeben“)111 und endzeitlicher Sündenvergebung (Brotwort) hineingetragene Spannung löst sich dann, wenn man für Jesus am Ende seines Lebens eine apokalyptische Wende veranschlagt, d.h. ein Abrücken von den eschatologischen Gegenwartsaussagen hin zu den naheschatologischen Aussagen seines Lehrers Johannes des Täufers annimmt, was nicht so unmöglich ist, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheint.112
2. Das letzte Mahl Jesu als kultstiftende Symbolhandlung Die bislang vertretene Interpretationslinie begreift das letzte Mahl Jesu als kultkritische Symbolhandlung. Damit ist sozusagen die „negative“ Stoßrichtung dessen erfasst, was beim letzten Mahl Jesu geschieht und gesagt wird. Aber Jesus richtet sich mit den Mahlgesten und Mahlworten nicht nur gegen etwas bzw. jemanden – den Tempel und den ihn beherrschenden Priesteradel –, sondern sein Tun und Reden haben, wenn man das einmal so formulieren darf, einen „positiven“ Effekt: Durch das Brechen und Austeilen des Brotes erhalten die anwesenden Jünger (und Jüngerinnen?) Anteil am Tod Jesu und dem Segen, der von ihm (dem Tod Jesu) ausgeht. Das lässtt sich nun durchaus (selbst wenn der Anamnesisbefehl noch kein Bestandteil der Abendmahlsüberlieferung war) als kultstiftende Symbolhandlung verstehen. Allerdings wohl weniger in dem Sinn, dass Jesus Brot und Wein als Ersatz für die Opfermaterie im Tempel eingesetzt hätte113, sondern eher so, 109
Vgl. auch Jer 31,31–34, wo die Verheißung des neuen Bundes mit der Zusage derr Vergebung schließt; weiter Jer 50,20; Ez 16,63 (ebenfalls im Zusammenhang mit dem m Bundesgedanken); 37,23; Hos 14,3.5 und, sozusagen in apokalyptischer Brechung, Dan 9,24. 110 Vgl. H.-J. K LAUCK , Die Frage der Sündenvergebung in der Perikope von derr Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12), in: Ders., Gemeinde (s. Anm. 36) 286–312, hierr 301–303. 111 H.-J. K LAUCK , Sündenvergebung (s. Anm. 36) 305: „Vergebung durch Gott als gegenwärtig sich vollziehendes Geschehen.“ 112 Vgl. B. H EININGER , Wende (s. Anm. 100) 205f. 113 So B. CHILTON , The Temple of Jesus. His Sacrificial Program Within a Cultural History of Sacrifice, University Park (PA) 1992, 152–154, der dafür allerdings einschneidende Textänderungen vornehmen muss. C HILTON zufolge hätte Jesus beim Brotbrechen gesagt: „Dieses Brot ist (ab sofort) der Leib (für die Opfer im Tempel).“ Als Möglichkeitt immerhin e e woge bei erwogen be G. THEISSEN SS N / A.. M ERZ , Jesus (s. Anm.. 41)) 38 382f..
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dass der eschatologische Ausblick implizit bereits die bleibende Heilszusage Jesu für die Jünger enthält (also: der Tod Jesu bedeutet keineswegs das Ende, das Projekt Gottesherrschaft ist damit nicht „gestorben“) und das Brotwort die Möglichkeit einer anderen Art von Mahlgemeinschaftt eröffnet. Ob die anwesenden Mahlteilnehmer das sofort verstanden, darf eherr bezweifelt werden. Immerhin ergriffen alle, mit Ausnahme der Frauen, die Flucht, auch wenn es das eigene Gewand kostete und man nur noch die nackte Haut zu retten vermochte (Mk 14,51f.!). Es bedurfte erst „derr Begegnung mit dem Auferstandenen, der für sie das Eschaton anbrechen ließ“114, um den tieferen Sinn des letzten Mahls Jesu und dessen sakramentales Potenzial zu erkennen. Die Erzählungen von Mählern mit dem Auferstandenen (Lk 24,13–35.41–43; Joh 21,13f.; Apg 1,4) dürfen vielleichtt als narrativer Reflex solcher österlicher disclosures gelesen werden. Erstt aufgrund der Osterereignisse wurde aus jener prophetischen Symbolhandlung Jesu der Stiftungsakt einer kultisch-sakramentalen Handlung.115 Diese stößt dort auf die ihr angemessene Reaktion, wo jene Erfahrungen gemachtt werden können, die niemand schöner ins Bild gesetzt hat als der Evangelistt Lukas: „Und als er mit ihnen bei Tisch lag, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brott und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr. Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss“? (Lk 24,30–32)
114
H.-J. K LAUCK , Herrenmahl (s. Anm. 24) 322. Vgl. H.-J. K LAUCK , Die Sakramente und der historische Jesus, in: Ders., Gemeinde (s. Anm. 36) 273–285, hier 282: „Freilich bedurfte es für das Verstehen der sakramentalen Potenz, die in diesen Worten und Gesten des Irdischen beschlossen liegt, des Impulses der Auferstehung, die von den ersten Zeugen als Anbruch des Eschaton gedeutett wird.“ Hochinteressant ist darüber hinaus K LAUCKS Hinweis auf das Ende der Kirchenkonstitution des II. Vaticanums (ebd. 285), wo Kirchengründung und Sakramentsbegriff nachösterlich angesetzt würden: resurgens ex mortuis Spiritum suum vivificantem in discipulos immisit et per eum Corpus suum quod est Ecclesia ut universale salutis sac amentum constituit (LG sacramentum ( G 488 = DH 4168). 68). 115
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Das letzte Mahl
Struktur Rahmen
Motive Mt 26,26–29 1 Situationsangabe bzw. Als sie aber aßen, Einleitung
Brotgesten
2 Nehmen 3 Segnen
nahm Jesus Brot (und), sprach den Lobspruch (darüber),
4 5 6 7 8 9a 9b 10
brach es und gab es den Jüngern und sprach: Nehmt, esst, dies ist mein Leib.
Brotworte
Bechergesten
Becherworte
Abschlusswort
Brechen Geben Redeeinführung Aufforderung Deutewort Applikation Applik. (Hingabe) Anamnesisbefehl
11 Nehmen
Und er nahm einen Becher (und),
12 13 14 15
sprach das Dankgebet und gab ihn ihnen
Rubrik Segnen Geben Bericht (Hysteroproteron) 16 Redeeinführung 17 Aufforderung 18 Deutewort
mit den Worten: Trinkt alle daraus; denn dies ist mein Bundesblut,
19 Applikation
das für viele ausgegossen wird
20 Zweckangabe (mit Zusatz) 21 Anamnesisbefehl
zur Vergebung der Sünden.
22 Todesprophetie bzw. sog. eschatolog. Ausblick
Ich sage euch aber: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wann ich es mit euch neu trinke in der Herrschaft meines Vaters.
V. Vermächtnis: Das letzte Mahl Jesu
Mk 14,22–25 Und als sie aßen
Lk 22,19–20 Und er
nahm er Brot, sprach den Lobspruch (darüber), brach es und gab es ihnen und sprach: Nehmt, dies ist mein Leib.
nahm Brot, sprach das Dankgebet,
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1 Kor 11,23b–25 Der Herr Jesus, in der Nacht, in der er überliefert wurde, nahm Brot (und), sprach das Dankgebet,
brach es und gab es ihnen mit den Worten:
brach es
Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Dies tut zu meinem Gedächtnis! Und in gleicher Weise den Becher nach dem Mahl,
Dies ist mein Leib für euch. Dies tut zu meinem Gedächtnis! In gleicher Weise auch den Becher nach dem Mahl,
Und er sprach zu ihnen:
mit den Worten:
mit den Worten:
Dies ist mein Bundesblut,
Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut,
Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut.
das für viele ausgegossen wird.
das für euch ausgegossen wird.
Und er nahm einen Becher,
und sprach:
sprach das Dankgebet und gab ihn ihnen, und sie tranken alle daraus.
Dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis! Wahrlich, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wann ich es neu trinke in der Herrschaft Gottes.
(V.18)
(V.26)
II. Paulus und seine Welt
3. Die Inkulturation der Nächstenliebe Zur Semantik der „Bruderliebe“ im 1. Thessalonicherbrief
I. Startschwierigkeiten: Christliches Leben in der Gemeinde von Thessaloniki Thessaloniki, in der nördlichen Ägäis am Thermaischen Golf gelegen und schon in der Antike auf Grund seiner exzellenten Verkehrsverbindungen (bedeutender Handelshafen; Anbindung an die Via Egnatia, der Haupthandelsstraße für den Verkehr zwischen Italien und den östlichen Provinzen) eine prosperierende Stadt, gehört zu den ersten „Missionsbasen“ des Paulus auf europäischem Boden.1 Von Philippi her kommend und mit Athen (und Korinth) als Ziel vor Augen hatte Paulus die Gemeinde um das Jahrr 49/50 n.Chr. auf seiner zweiten Missionsreise gegründet (vgl. Apg 17,1–9; 1 Thess 2,1–12). Die Widerstände, die der paulinischen Missionspredigt in Philippi erwachsen waren (vgl. 1 Thess 2,2), setzen sich offenbar auch in Thessaloniki fort, und zwar nicht nur während der Erstverkündigung, sondern auch in der Folgezeit.2 Paulus ist daher verständlicherweise mehr als beunruhigt und schickt, weil „Satan“ eine persönliche Visite der Gemeinde verhinderte (2,18), Timotheus von Athen aus nach Thessaloniki (3,1f.). 1 Alles Notwendige zu Thessaloniki jetzt bei C. VOM BROCKE, Art. Thessaloniki, in: NTAK 2 (2005) 171–174; vgl. auch DERS., Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umweltt (WUNT 2/125), Tübingen 2001 (ausführlich). Wer es kürzer liebt, sei auf DERS., Art. Thessalonich, in RGG4 8 (2005) 358f., verwiesen. 2 Vgl. die Rede von der 2@ beim Gründungsbesuch des Paulus, welche die Thessalonicher mit Freude ertrugen (1 Thess 1,6); in 2,14–16 heißt es dann, sie hätten von ihren (zum Verständnis des Begriffs ausführlich C. VOM BROCKE, Thessaloniki [s. Anm. 1] 155–162) dasselbe erlitten wie die judäischen Gemeinden seitens ihrer Umwelt. Auf die aktuellen Bedrängnisse spielt auch 1 Thess 3,3f. an; 2 Kor 8,2 konzediert Paulus später, die Gemeinden Mazedoniens (Philippi, Thessaloniki, Beröa [?]) seien durch harte Prüfungen gegangen, welche die relecture des 2 Thess sogar unter der Rubrik „Verfolgungen“ (#(' ) verbucht. Ob man für die Beurteilung der historischen Situation so hoch greifen soll, muss offen bleiben; T.D. S TILL, Conflict at Thessalonica. A Pauline Church and its Neighbours (JSNT.S 183), Sheffield 1999, 208–227, hat aber sicher recht, wenn er „far more than mental distress distress“ konstatiert.
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Die Inkulturation der Nächstenliebe
Dieser kommt mit erfreulichen Nachrichten zurück: Um „Glauben und Liebe“ der Thessalonicher scheint es bestens bestellt (3,6); nur die aus der Trias in 1,3 (vgl. auch 5,8) noch zu erwartende „Hoffnung“ ist angesichts der in 4,15 angedeuteten Todesfälle offensichtlich etwas unter die Räder gekommen. Weite Teile der mit 4,1 einsetzenden Paränese widmen sich deshalb eschatologischen Themen (vgl. 4,13–5,11), und es ist gut möglich, dass Timotheus diesbezüglich einige konkrete Fragen der Thessalonicher im Gepäck hatte. Ob diese in Briefform ergingen, also nach Analogie des 1 Kor mit einem Fragebrief zu rechnen ist3, lässt sich schlicht nicht mehr klären, ist aber m.E. eher unwahrscheinlich. Es spielt auch für die Interpretation des Briefes keine besondere Rolle. Bedeutender scheint da schon der Umstand, dass die Thessalonicher nicht nur „eschatologischen Klärungsbedarf“ haben, sondern auch hinsichtlich der „Bruderliebe“ (4,9: 4 G #) noch Verbesserungsmöglichkeiten sehen. Zwar spielt Paulus die Dringlichkeit seiner Ermahnungen bezüglich dieses Sachverhalts sofort herunter – im „Einander Lieben“ seien die Thessalonicher von Gott selbst gelehrt ( ## ), sie seien ein Vorbild in ganz Makedonien –, und schließlich gibt es ja auch noch die erwähnten guten Nachrichten durch Timotheus. Aber schon der Blick auf den unmittelbaren Kontext der Ausführungen zur #, d.h. im Wesentlichen auf den von 4,1–5,24 reichenden paränetischen Teil des Schreibens, legt die bestehenden Defizite der Gemeinde schonungslos bloß: An erster Stelle steht die für den Juden Paulus gewöhnungsbedürftige Sexualmoral der Thessalonicher, die er gut jüdisch als deklariert und der er den Willen Gottes zur „Heiligung“ (;'&) der Gemeinde gegenüberstellt (4,3–8).4 Und zweitens scheint es auch innerhalb der Gemeinde nicht zu 3
Vgl. die Überlegungen bei J.S. K LOPPENBORG , Z\^=_`^Z\=, a`b_\_=cdbe and the Dioscuri: Rhetorical Engagement in 1 Thessalonians 4,9–12, in: NTS 39 (1993) 265–289, hier 269–272, zu dem einleitenden 4 # (4,9.13; 5,1), das nach Analogie zum 1 Kor (7,1.25; 8,1; 12,1; 16,1.12) auf einen Fragebrief hinweisen könnte. 4 Worauf Paulus konkret anspielt, ist aufgrund der kryptischen bzw. unpräzisen Ausdrucksweise in V.4.6 nicht ganz klar. Meint in V.4 den eigenen Leib (des Mannes) (so z.B. 2 Kor 4,7; 1 Petr 3,7) bzw., noch konkreter, das männliche Geschlechtsorgan, oder bezeichnet das Wort metaphorisch die (Ehe)Frau (wie z.B. in Sir 36,25)? Entscheidet man sich mit G. H AUFE , Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher (ThHK 12/I), Leipzig 1999, 70f., für die erste Alternative, legt Paulus den Thessalonichern sexuelle Selbstbeherrschung nahe (was sich gut mit der einleitenden Warnung vor der vertrüge); votiert man mit T. HOLTZ, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK XIII), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1986, 156–158, oder A.J. M ALHERBE, The Letters to the Thessalonians. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 32B), New York 2000, 226–228, für die zweite Alternative, empfiehlt Paulus die Ehe als remedium gegen das sexuelle Begehren. Das entspricht antiken Auffassungen zur Ehe, vgl. T. B URKE , Family Matters. A Socio-Historical Study of Kinship Metaphors in 1 Thessalonians (JSNT.S 247), London/New York 2003, 189–193, mit den entsprechenden Belegen. Syntaktisch müsste man wohl auch die „Sache“ (V.6: f') unter die
I. Startschwierigkeiten: Christliches Leben in der Gemeinde
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„stimmen“, d.h. die thessalonischen Christen haben noch keineswegs den Level erreicht, auf dem Paulus eine christliche Gemeinde gerne hätte. Das ist bei einem Sozialgebilde, das bei der Abfassung des Briefes gut ein Jahrr alt sein dürfte5, auch nicht weiter verwunderlich. Wieder lassen die paulinischen Formulierungen eine präzise Näherbestimmung der „Missstände“ nur schwer zu: Spielt die Aufforderung zur „Ruhe“ (C