Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt: Zur Soziologie des Urchristentums 9783666539305, 3727809388, 3525539304, 9783525539309


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German Pages [344] Year 1994

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Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt: Zur Soziologie des Urchristentums
 9783666539305, 3727809388, 3525539304, 9783525539309

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ΝΤΟΑ 28 Helmut Mödritzer · Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt

N O V U M T E S T A M E N T U M ET ORBIS A N T I Q U U S (ΝΤΟΑ) Im Auftrag des Biblischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz herausgegeben von Max Küchler in Zusammenarbeit mit Gerd Theissen

Zum Autor: Helmut Mödritzer, geboren 1965. Studium der Evangelischen Theologie 19841990 in Heidelberg. Abschluß mit dem 1. Kirchlichen Examen. Anschließend Promotion bei Prof. G. Theißen mit vorliegender Arbeit. Seit 1993 Vikar im Dienst der Evangelischen Landeskirche in Baden.

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS

Helmut Mödritzer

Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt Zur Soziologie des Urchristentums

UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG SCHWEIZ VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN 1994

28

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Mödritzer, Helmut: Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums /Helmut Mödritzer. - Freiburg [Schweiz]: Univ.-Verl.; Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1994 (Novum t e s t a m e n t u m et orbis antiquus; 28) ISBN 3 - 7 2 7 8 - 0 9 3 8 - 8 (Univ.-Verl.) ISBN 3 - 5 2 5 - 5 3 9 3 0 - 4 (Vandenhoeck u. Ruprecht)

NE: GT

Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates der Universität Freiburg Schweiz, des Landes Baden-Württemberg und der Evangelischen Landeskirche in Baden Die Druckvorlagen wurden vom Verfasser als reprofertige Dokumente zur Verfügung gestellt © 1994 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3 - 7 2 7 8 - 0 9 3 8 - 8 (Universitätsverlag) ISBN 3 - 5 2 5 - 5 3 9 3 0 - 4 (Vandenhoeck und Ruprecht)

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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1 Stigma, Stigmatisierung, Selbststigmatisierung: begriffliche Bestimmungen 7 1.1 Abweichendes Verhalten als »interaktionistisches« Konzept: Stigmatisierung 8 1.2 Redefinition von Stigmata und Schuld durch deren freiwillige Vorwegnahme: Selbststigmatisierung 14 1.3 Vorläufer. „Selbststigmatisierung" und ihre Anwendung auf das Christentum 30 2 Formen von Selbststigmatisierung bei Johannes dem Täufer 2.1 Elemente asketischer Selbststigmatisierung im Auftreten Johannes des Täufers 2.1.1 Der Ort des Auftretens des Täufers als asketische Form von Selbststigmatisierung 2.1.2 Tracht und Speise des Täufers als Ausdruck asketischer Selbststigmatisierung 2.2 Die Verkündigung des Täufers als Ausdruck provokatorischer Selbststigmatisierung 2.3 Elemente forensischer Selbststigmatisierung bei Johannes dem Täufer 2.3.1 Die Taufe des Johannes als Ausdruck forensischer Selbststigmatisierung Zur religionsgeschichtlichen Einordnung der Johannestaufe . . 2.3.2 Das Martyrium des Täufers als Ausdruck forensischer Selbststigmatisierung

37 44 44 49 56 67 67 71 78

2

INHALTSVERZEICHNIS 2.4 Die Vorstellung des «Elia redivivus» als Verstehenshintergrund für das selbststigmatisierende Verhalten des Täufers 2.5 Ergebnisse und Auswertung

3 Formen von Selbststigmatisierung bei Jesus von Nazaret 3.1 Elemente asketischer Selbststigmatisierung in der Verkündigung Jesu 3.1.1 Besitz-, Heimat- und Schutzlosigkeit als asketische Formen von Selbststigmatisierung als Realisierung von wahrer Nachfolge 3.1.2 Jesu Mahnung zu Feindesliebe und Gewaltverzicht als Ausdruck asketischer Form von Selbststigmatisierung zur Uberwindung gegnerischer Aggressivität (Mt 5,3848 par Lk 6,27-36) Aggressionsüberwindung durch Selbststigmatisierung 3.2 Elemente provokatorischer Selbststigmatisierung im Handeln Jesu 3.2.1 Jesu Reinheitsverständnis als Akt provokatorischer Selbststigmatisierung 3.2.2 Tempelaktion und Tempelwort Jesu als Akte provokatorischer Selbststigmatisierung 3.3 Das Martyrium Jesu als Ausdruck forensischer Selbststigmatisierung 3.4 Ergebnisse und Auswertung

83 91 95 98

99

110 123 132 133 144 156 164

4 Formen von Selbststigmatisierung bei Paulus 168 4.1 Die Rezeption von Jesu Strategie der Selbststigmatisierung für die paulinische Missionspraxis 171 4.1.1 Der Tod Jesu als gewaltsames Prophetengeschick 1 Thess 2,13-16 als Beispiel forensischer Selbststigmatisierung von Seiten der Gemeinde in Thessaloniki 172 4.1.2 Problem und Lösung des Umgangs von ,Starken' und ,Schwachen' in Korinth als Beispiel innergemeindlichasketischer Selbststigmatisierung (1 Kor 8) 184 4.1.3 Der „Narr" als „Weiser": Selbststigmatisierung zum Zweck der Wiedererlangung apostolischer Autorität und Legitimität (2 Kor 11-12) 196 Gal 6,17: Stigma und der Anspruch auf Charisma und Autorität211

INHALTSVERZEICHNIS 4.2 Jesu Strategie der Selbststigmatisierung als Hintergrund des paulinischen Christusmythos 4.2.1 Phil 2,6-11 als mythische Symbolisierung von Jesu defektiver Selbststigmatisierung 4.2.2 Soteriologische Sinndeutungen des Todes Jesu als Ausdruck kulpativer Selbststigmatisierung 4.3 Ergebnisse und Auswertung

3

214 215 227 241

5 Formen von Selbststigmatisierung bei Ignatius von Antiochien 245 5.1 Die Bedrohung der Identität des Ignatius durch seine Verurteilung sowie durch innergemeindliche Gegner 248 5.2 Selbststigmatisierung als Charismaerneuerung 253 5.3 Ergebnisse und Auswertung 262 6 Selbststigmatisierung, Entstigmatisierung, Charismatisierung: abschließende Bemerkungen 265 6.1 Selbststigmatisierung: ein urchristliches „Basismotiv" 265 6.2 Entstigmatisierung als vollzogener Vorzeichenwechsel sowie das Problem der Quellen 273 6.3 Das Urchristentum als charismatische Bewegung: der terminologische Rückgriff auf Max Weber 277 Literaturverzeichnis

285

Stellenverzeichnis

327

5

Vorwort

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1992/93 von der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet. Mein Dank gilt besonders Herrn Prof. Dr. Gerd Theißen. Er hat die Arbeit angeregt. Durch seine kritische und intensive Begleitung und Anteilnahme an einem mir wichtigen Thema habe ich viel gelernt. Die Arbeit verdankt ihm weit mehr, als dies ein Vorwort auszudrücken vermag. Herrn Prof. Dr. rer. pol. K. Hungar danke ich für die Übernahme des Korreferates. E. Wiedenmann, Dr. D. Trobisch und A. Merz haben die Korrekturen gelesen: Danke! Das Land Baden-Württemberg ermöglichte mir durch ein 23-monatiges Stipendium die zügige Fertigstellung der Arbeit. Auch hierfür sei gedankt. Meinen Eltern und Bettina danke ich für die menschliche Unterstützung, die mir jenseits der Fertigstellung dieser Arbeit zuteil wurde. Diese Unterstützung und mein Dank dafür sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Schließlich gilt mein Dank Prof. Dr. M. Küchler sowie Prof. Dr. G. Theißen für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe N O V U M T E S T A M E N T U M E T ORBIS ANTIQUUS.

Meißenheim/Heidelberg, im September 1993

Helmut Mödritzer

1 Begriffliche

Bestimmungen

7

Kapitel 1 Stigma, Stigmatisierung, Selbststigmatisierung: begriffliche B e s t i m m u n g e n Gesellschaftlich abweichendes Verhalten - wie umgekehrt normentsprechendes Verhalten - sind das Ergebnis eines sozialen Definitionsprozesses. Dies läßt sich als Ergebnis der Stigmatisierungsdiskussion der 60-er Jahre dieses Jahrhunderts festhalten 1 . Wer von gesellschaftlich definierten Normen und Werten deutlich abweicht, gilt als marginalisiert bzw stigmatisiert. Als solcher ist ihm die gesellschaftlich-soziale Einflußnahme vorerst verwehrt. Im Gegenteil: Allzu oft wurden und werden noch heute maxginalisierte und stigmatisierte Gruppen das Opfer gesellschaftlicher Aggressionen, indem auf sie (kollektiv) Agressionen abgeleitet werden. Zugleich läßt sich aber eine umgekehrte, der ersten scheinbar widersprechende Erfahrung machen: daß nämlich Charismaträger oftmals aus ehemals marginalisierten Kreisen stammen. Stigma: die identitätsbedrohende Marginalitäts- und Ohnmachtserfahrung bzgl gesellschaftlicher Einflußnahme und Charisma: die Fähigkeit, neue Werte zu setzen und sozialen Einfluß (frei von institutioneller Anerkennung) geltend zu machen, gehören demnach offenbar irgendwie zusammen. Herauszufinden wie sie dies tun (eingegrenzt auf eine Analyse des Neuen Testaments und seiner Umwelt), das ist die Aufgabe, die sich die hier vorgelegte Arbeit gestellt hat. Sie versucht dabei, mit Hilfe des aus der Stigmatisierungsdiskussion der 60-er Jahre dieses Jahrhunderts erwachsenen soziologischen Strukturbegriffs der Selbststigmatisierung eine Antwort zu geben 2 . Das Phänomen der Selbststigmatisierung - so die hier vertretene zentrale These - ist es, das Sinnzusammenhänge umzudrehen vermag. Beginnend und *Cf zusammenfassend G. Hellerich: Art. Stigmatisierung; G. Grubitzsch/G. Rexilius (Hg.): Psychologische Grundbegriffe. Mensch und Gesellschaft in der Psychologie. Ein Handbuch, Hamburg, 2.Auflage 1987, S. 1046-1049. 2 Grundlegend für die folgenden Ausführungen sowie für Selbststigmatisierung überhaupt die Arbeiten des Soziologen W. Lipp: Selbststigmatisierung; M. Brusten/J. Hohmeier (Hg.): Stigmatisierung 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975, S.25-53. Ferner ders.: Charisma-Social Deviation, Leadership and Cultural Change. A Sociology of Deviance Approach; The Annual Review of the Social Sciences of Religion 1 (1977), S.59-77 sowie ders.: Stigma und Charisma. Uber soziales Grenzverhalten (Schriften zur Kultursoziologie 1), Berlin 1985.

8

1 Begriffliche Bestimmungen

anfänglich freilich zuerst nur für eine kleine Trägergruppe, unter bestimmt e n Bedingungen (cf u) hingegen auch für einen dann stets wachsenden Kreis. Dieser Prozeß, der ebenso spannend wie letztendlich unvorhersehbar ist und der in engstem Zusammenhang steht mit charismatischen Prozessen (im Sinne M. Webers), soll uns im weiteren Verlauf der Arbeit leiten. Am Anfang steht daher eine knappe Einführung in die Problematik der Stigmatisierungsdiskussion, der „Mutter" des daraus erwachsenen Begriffes der Selbststigmatisierung, der darauf näher eingeführt werden soll. Ein dritter Abschnitt dieses Kapitels grenzt das Phänomen der Selbststigmatiserung auf (Judentum und) Christentum ein und fragt nach geschichtlichen (philosophischen wie religionssoziologischen) Vorläufern des Modells der Selbststigmatisierung in seiner Anwendung auf die beiden genannten religiösen Zeichensysteme und legt damit zugleich den Fortgang der folgenden Kapitel fest. Entsprechend gliedert sich der einleitende Abschnitt in folgende Punkte: • Gesellschaftlich abweichendes Verhalten und damit die Verteilung von Macht und Einfluß innerhalb einer Gesellschaft werden als Ergebnis interaktionistischer Prozesse und soziologisch mit Hilfe des Begriffs der Stigmatisierung verstanden. • Als Möglichkeit, diesen gesellschaftlichen Definitionsprozeß zu unterlaufen und damit rückgängig zu machen, läßt sich die Praxis der Selbststigmatisierung in ihren verschiedenen Phänotypen verstehen. • Eine forschungsgeschichtliche Betrachtung ordnet das Phänomen der Selbststigmatisierung in seiner Anwendung auf (Judentum wie) Christentum historisch in die übergreifende Frage des Wertewandels ein.

1.1 Abweichendes Verhalten als »interaktionistisches« Konzept: Stigmatisierung „Alle gesellschaftlichen Gruppen stellen Verhaltensregeln auf und versuchen sie - zu gewissen Zeiten, unter gewissen Umständen - durchzusetzen. Gesellschaftliche Regeln definieren Situationen und die ihnen angemessenen Verhaltensweisen, indem sie einige Handlungen als «richtig» bezeichnen, andere als «falsch> verbieten. Wenn eine Regel durchgesetzt ist, kann ein Mensch,

1.1 Stigma und Stigmatisierung

9

der in dem Verdacht steht, sie verletzt zu haben, als besondere Art Mensch angesehen werden, als eine Person, die keine Gewähr dafür bietet, daß sie nach den Regeln lebt, auf die sich die Gruppe geeinigt hat. Sie wird als Außenseiter angesehen" 1 . Eine von der Gesellschaft als Außenseiter angesehene Person gilt in ihrer sozialen Identität als stigmatisiert. Stigma (gr στίγμα von στίζειν) bezeichnet dabei ursprünglich ein Brandmarken oder Tätowieren mit einem spitzen Werkzeug (zur Begriffsdefinition cf unten). Die Person ist mit „Unehre": also mit einem moralischen Makel, behaftet oder zugleich auch bzgl ihrer körperlichen Erscheinungsweise durch „körperliche(n) Zeichen physischer Unstimmigkeit" 2 diskreditiert. Dabei ist - über E. Goffman hinausgehend 3 - zu betonen, daß nicht das dem Stigmatisierten zugeschriebene Merkmal an sich bereits diskreditierend ist, sondern erst die negative Definition des Merkmals dieses als diskreditierend erscheinen läßt. Es waren die Griechen, die „den Begriff Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen (schufen), die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren" 4 . Bereits hier wird deutlich, welche Dimensionen innerhalb eines interaktionistischen Prozesses Stigmata innewohnen: einmal bestehen sie aus kognitiv wahrnehmbaren Eigenschaften einer Person, zum andern beinhalten sie eine Bewertung dieser Eigenschaften, und zuletzt implizieren sie ein dieser Person gegenüber angemessenes Verhalten5. Damit läßt sich zugleich einiges zur Funktion von Stigmatisierungen aussagen 6 . Die Funktion von Stigmata und Stigmatisierung wird wohl zu Recht in Verhaltensweisen gesehen, die man als „Identitätsstrategien" bezeichnen kann: „Identitätsstrategien sind Verhaltensweisen, die der Bewahrung eines gefährdeten bzw. der Wiederherstellung eines gestörten psychischen Gleichgewichtes dienen. Die Begegnung mit einem Stigmatisierten stellt in vielen Fällen eine Bedrohung der eigenen Identität . . . dar . . . Das Gleichgewicht wird dann durch betonte Abgrenzung, d.h. durch Herausstellen der eigenen »Norman e . H.S. Becker: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt 1973, S.l.

2

L.c. E. Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt 1967, S.9. 3 Cf ebd., S . U . 4 L.c. E. Goffman, Stigma, S.9 5 Cf hierzu J. Hohmeier: Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß; M. Brüsten / J. Hohmeier (Hg.): Stigmatisierung 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975, S.5-24:7f. 6 Zum Folgenden cf ebd., S.lOff.

10

1 Begriffliche

Bestimmungen

l i t ä t « und Ablehnung der Abweichung des anderen, zu stabilisieren versucht" 7 . Dies gilt sowohl für ein Individuum wie auch für die Gesamtgesellschaft, der es damit primär um eine Systemerhaltung wie um die Herrschaftsfunktion von Stigmatisierung zu gehen scheint. Im umgekehrten Fall heißt dies dann aber: Wird mit Hilfe von Stigmatisierung die eigene Identität wieder ins Lot gebracht, so wird die des abweichenden Individuums (oder der Gruppe) zwangsläufig umso mehr bedroht und als „unnormal" qualifiziert. Zuletzt sei kurz auf die Frage der Durchsetzbarkeit von Stigmata eingegangen: eine entscheidende Rolle spielt dabei die Macht, die eine Gruppe zur Durchsetzung ihrer Stigmatisierung hat, bzw die Macht, welche die zu stigmatisierende Person (oder Gruppe) besitzt, dieses Anliegen erfolgreich zu verhindern.

Das Wort Stigma begegnet auch im Neuen Testament innerhalb des Corpus Paulinum Gal 6,17. Paulus schreibt dort, er trage die Stigmata (Wundmale, Malzeichen) Jesu an seinem Leib: έγώ γαρ τα στίγματα τοϋ Ίησοϋ έν τω σώματί μου βαστάζω. Hier ist es ausreichend, darauf hinzuweisen, daß der Zentralbegriff dieser Arbeit im Neuen Testament selbst begegnet und nicht erst künstlich in die neutestamentlichen Texte hineintransportiert werden muß 8 . Diese Feststellung gilt in gleichem Maße für den Pendantbegriff zu Stigma - dem Begriff des Charisma (χάρισμα). Denn Charisma kann - genealogisch gesehen - vom Begriff des Stigma als möglicher Quelle für Charisma nicht getrennt gesehen werden. Dabei sollte man zwischen der neutestamentlichen und der soziologischen Verwendung des Charismabegriffes im Sinne M. Webers keine allzu große Distinktion sehen oder beide Verständnisse gar gegeneinander ausspielen 9 . M. Weber selbst gibt an, den Begriff aus der Theologie entnommen zu haben 1 0 , sodaß er für ihn „nichts Neues" 11 darstellt. Dabei umschreibt der Begriff des Charisma in der paulinischen Verwendung „eine staunenerregende, in die Vertikale weisende" Tätigkeit, die sich als „Offenbarung des Geistes" 12 definieren läßt. Eben dieses (vertikale und numinose) Verständnis begegnet nun bei M. Weber, wenn er Charisma als „Gnaden7

L.C. J. Hohmeier, Stigmatisierung, S . l l . Uber die Frage der Verwendung des Begriffes im paulinischen Kontext cf Kapitel 4.1.3 dieser Arbeit über Formen von Selbsstigmatisierung bei Paulus. 9 So aber H.J. Schütz: Charisma und soziale Wirklichkeit im Urchristentum; W. A. Meeks (Hg.): Zur Soziologie des Urchristentums. Ausgewählte Beiträge zum frühchristlichen Gemeinschaftsleben in seiner gesellschaftlichen Umwelt (TB 62), München 1979, S.222-244. 10 Cf M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, 5.rev. Auflage, Tübingen 1976, S.124. Er verweist dort auf die kirchenrechtlichen Arbeiten von R. Sohm sowie auf K. Holl. u L . c . ebd., S.124. 12 L.C. Kl. Berger: Art. χάρισμα; E W N T III (1983), Sp.ll01-1105:1105. 8

1.1 Stigma und Stigmatisierung

11

gäbe" oder als außeralltägliche Kraft bezeichnet 13 . Und wenn M. Weber Charisma an nur eine Person - den Charismatiker - bindet, Paulus dagegen von der charismatischen Gemeinde als einer Vielzahl von Geistbegabten und Charismatikern spricht, so entspricht dies einer Entwicklung im Verständnis des Begriffs, die bereits innerhalb des Neuen Testaments festzustellen ist. Denn schon 1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6 wird Charisma exklusiv an nur eine Person gebunden - uzw zur Gemeinde/eiiunp 14 ! Die Verwendung des Charismabegriffs als Herrschaftsbegriff läßt sich demnach bis in neutestamentliche Zeit zurückverfolgen 15 . Darüber hinaus hat die Verwendung des Charismabegriffs mE einen Vorteil im Vergleich mit anderen Arten, über Autorität zu handeln. So wird bspw über Jesu Autorität oftmals dogmatisch-appellativ gesprochen. Jesu Autorität gründet mal in seiner Gesetzeskritik, die die Grundlage aller antiken Religion in Frage stellt16, mal in einer ungeahnten Unmittelbarkeit Jesu17, 18 in Jesu Glaube, der ihn partizipieren läßt an der Allmacht Gottes oder in der paradoxen Einheit von radikalisierter Thora und radikalisierter Gnade19. Gegenüber solchen normativen Aussagen ist der Begriff des Charisma deskriptiv und darüber hinaus auch in die Alltagssprache eingegangen. Manches von dem, was oben als Grund für Jesu Autorität gesehen wurde, begegnet inhaltlich auch bei einer Verwendung des Begriffs des Charisma. Dieser kann jedoch das Vorhandensein von Autorität bei einer Person beschreiben, ohne daß von dieser Person bzw dessen Autorität gleich jeder erfaßt werden muß; umgekehrt ist es aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen, daß diese Person betroffen macht. Der Begriff des Charisma ist demnach offen für Nähe und Distanz des Analysierenden. Zurück zur Diskussion um sozial abweichendes Verhalten. Es läßt sich demnach sagen, daß abweichendes Verhalten - in aller Regel - gesellschaftlich sanktioniert wird. Wie aber läßt sich sozial abweichendes Verhalten verstehen? 13

Cf M. Weber, Wirtschaft 1, S.124.245. Cf hierzu J. Roloff: Der erste Brief an Timotheus (EKK XV), Neukirchen 1988, S.255ff. 15 Cf hierzu auch M. Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen 1992, S.72, der darauf hinweist, daß vom Geist Gottes überkommene Menschen (Charismatiker) stets auch Macht über andere Menschen ausüben. 16 So E. Käsemann: Der Ruf der Freiheit,Tübingen, 5.Auflage 1972. 17 So G. Bornkamm: Jesus von Nazareth, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 13. Auflage 1983. 18 So E. Ebeling: Jesus und Glaube; ZThK 55 (1958), S.170-185. 19 So H. Braun: Der Sinn der neutestamentlichen Christologie; ZThK 54 (1957), S.341377. 14

12

1 Begriffliche Bestimmungen

Die Soziologie als Ordnungswissenschaft hat auch die Aufgabe, mögliche Erklärungen für »unordentliches«, für deviantes Verhalten bereitzustellen und dies nicht als nicht weiter erklärungsbedürftig darzustellen. Abweichendes Verhalten hat seine Gründe und begegnet nicht von ungefähr. Abweichendes Verhalten hat aber umgekehrt, zumindest in bestimmten Fällen was oft übersehen wird - auch Motive und Intentionen, um seinerseits auf die Gesellschaft zu wirken und neue Regeln einzuführen20. Behält man diesen Doppelaspekt von abweichendem Verhalten, die Frage nach der causa efficiens und causa finalis, im Auge, lassen sich zwei nacheinander zu stellende Fragen formulieren: • wie wird Abweichung ausgelöst (als Akt)? und • wie gestaltet Abweichung ihrerseits die Gesellschaft um (als Potenz)? Das oben angerissene, von E. Goffman 21 und H.S. Becker 22 entwickelte Konzept der Stigmatisierung ermöglicht der Soziologie für die Erklärung abweichenden Verhaltens einen neuen Blickwinkel. Kern dieses Konzeptes des „symbolischen Interaktionismus" ist, daß es die Gesellschaft selbst ist, die „die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet" 23 , schafft. Gegenstand der Untersuchung sind also zuerst diese „strukturellen Vorbedingungen" von Stigmata, von jenen Eigenschaften also, die „zutiefst diskreditierend" 24 sind. Das Ergebnis ist 20 L . C . H.S. Becker, Außenseiter, S.l: „Doch der Mensch, der . . . a l s Außenseiter abgestempelt ist, kann darüber hinaus durchaus verschiedener Ansicht sein. Er könnte die Regel, nach der er verurteilt wird, nicht akzeptieren und den Menschen, die über ihn urteilen, Kompetenz und Berechtigung absprechen. Damit taucht eine zweite Bedeutung des Begriffs auf: Der Regelverletzer kann seine Richter als Außenseiter empfinden". Wichtig ist der Hinweis, daß wir uns hierbei noch nicht im Bereich von Selbststigmatisierung befinden, sondern noch in einem Verteilungskampf von gesellschaftlicher Macht, an dessen Ende die siegen werden, „deren soziale Stellung ihnen Waffen und Macht gibt . . . ihre Regeln durchzusetzen" (I.e. ebd., S.16). 21 Cf E. Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969; ders.: Stigma. 22 Cf A n m 1. 23 L . C . E. Goffman, Stigma, S.9-10. Insofern ist es in der Tat zutreffend, von einer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zu sprechen. Cf P.L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1969=1991. 24 L.c. E. Goffman, Stigma, S.9.11.

1.1 Stigma

und

Stigmatisierung

13

immer wieder, daß die Gesellschaft selbst Normalität bzw Devianz definiert und somit auch produziert: „Wenn ... wir ein vollständiges Bild abweichenden Verhaltens gewinnen wollen, müssen wir die beiden möglichen Brennpunkte der Untersuchung in Einklang bringen. Wir müssen abweichendes Verhalten und Außenseiter ... als Konsequenz eines Interaktionsprozesses zwischen Menschen ansehen, von denen einige im Dienst eigener Interessen Regeln aufstellen und durchsetzen, Regeln, welche andere erfassen, die ihrerseits im Dienste eigener Interessen Handlungen begehen, die als abweichend abgestempelt werden" 25 . Auf diesem skizzierten Hintergrund ist es verständlich, daß eine statistische wie auch pathologische Definition abweichenden Verhaltens am Hauptinteresse des symbolischen Interaktionismus vorbeigeht, da beide Definitionen Abweichung gesellschaftsextern betrachten, indem sie auf psychologische Faktoren zurückgeführt wird oder als statistischer Befund nicht weiter erklärt wird 26 . Weiterführen kann hier eine eher relativierende soziologische Betrachtungsweise, die „abweichendes Verhalten als Ungehorsam gegenüber Gruppenregeln" 27 identifiziert. Gegenüber anderen Theorien wird Abweichung hier nicht gesellschaftsextern gesehen, sondern als Produkt alltagsweltlicher Prozesse selbst 28 . Stigmata sind nicht von sich aus gegeben unverrückbar fest - , sondern werden symbolisch zugeschrieben und sozial erst durch die Gesellschaft festgestellt, die mit dem, was sie als normal definiert, das, was unnormal und deviant ist, zugleich mitdefiniert. Stigmatisierung wird hier also begriffen als ein interaktionistisches Konzept - hierin liegt nicht nur ihr Vorteil gegenüber den bio- und psychologistischen Theorien, sondern auch gegenüber rein funktionalistischen Betrachtungsweisen, die abweichendes Verhalten intern aus der Gesellschaft, aus dem ihr zugrundeliegenden System oder dessen ,Verteilungsmechanismen' zu erklären versuchen, ohne dabei jedoch konkret erklären zu können, wie Devianz eigentlich entsteht 29 . L . C . H.S. Becker, Außenseiter, S.148. Cf auch den Titel des Sammelbandes von M. Brusten/J. Hohmeier (Hg.): Stigmatisierung. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, 2 Bde., Darmstadt 1975. 26 Cf H.S. Becker, Außenseiter, S.3-7. 25

27

28

L.C. ebd.,

S.7.

Cf W. Lipp, Selbststigmatisierung, S.26-27. 29 Cf ebd.

1 Begriffliche Bestimmungen

14

Das Konzept der Stigmatisierung steht bzgl abweichendem Verhalten demnach in der Mitte zwischen einem rein internen, dh einem funktionalistischen und einem rein externen Erklärungsmodell. Für das Zustandekommen abweichenden Verhaltens bedarf es eben zweier „Parteien": zum einen die der „Regelsetzer" 30 , zum andern aber die der „jeweiligen abweichenden Menschen" 31 . Und obwohl Akte von Stigmatisierungen wahrscheinlich in allen Gesellschaften begegnen, scheint die Vermutung doch plausibel zu sein, daß ihre Häufigkeit in Verbindung mit der Gesellschaftsstruktur steht 3 2 . Dies hieße dann, daß Stigmatisierungen besonders häufig in Gesellschaften begegnen, die auf einem ausgeprägten Leistungs- und Konkurrenzprinzip beruhen und entsprechende normverschärfende Regeln durchsetzen müssen oder aber in denen verschiedene gesellschaftliche Gruppen in Spannung zueinander stehen und Akte von Stigmatisierung der Durchsetzbarkeit der Interessen einer Gruppe dienen. Gegenüber allen objektivistischen bzw statistischen Theorien hat das Modell der Stigmatisierung ein Plus in der Berücksichtigung des subjektiven Faktors; gegenüber einer Uberbetonung des subjektiven Faktors kann es aber stets die mitgegebenen umfassenden, objektiven Umstände integrieren 33 . Abweichendes Verhalten erscheint demnach als interaktionistisches Konzept, „als Vorgang, den Subjekte - und Gruppen von Subjekten - steuern: «subjektiv» begründet, wird sie (die Abweichung, mErg) interaktionell «konstruiert»" 3 4 .

1.2 Redefinition von Stigmata und Schuld durch deren freiwillige Vorwegnahme: Selbststigmatisierung Wir sahen, wie Stigmatisierung die Identität eines betroffenen Individuums bedroht und sie auch ganz bewußt mit dieser Waffe zu operieren scheint. Im folgenden wird es darum gehen, mit dem Phänomen der Selbststigmatisierung einem Verhaltensmodell zu begegnen, welches Identität zu bewahren sucht, gerade indem es sich zu den >DefektenOpfertheorien