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German Pages 268 Year 2022
Karl Katschthaler Zwischen Atmosphäre und Narration
Lettre
Karl Katschthaler, geb. 1965, lehrt deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Debrecen, Ungarn. Unter dem Namen »Ausgesuchtestenohren« ist er als Musiker auf den Gebieten Musique concrète, Sound Art und Ambient aktiv.
Karl Katschthaler
Zwischen Atmosphäre und Narration Zum Verhältnis von Musik, Sprache und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert
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Inhalt
1.
Einleitung............................................................... 7
2.
Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik ............................... 23 2.1 Christoph Ransmayr und Franz Hautzinger: Musik als Supplement des Textes ...................................... 25 2.2 Imre Kertész: »atonale« Musik als Folie des Schreibens ................ 38 2.3 Luigi Nono und das Verstummen Hölderlins.............................. 51 3.
Verstummen: Stille und Schweigen.................................................. 65 3.1 John Cages 4’33”: Verstummen und Rahmung ........................... 71 3.2 Jennifer Walshe: Rekontextualisierung des Verstummens............... 83 4.
Erzählen: zur Narrativität der Musik.............................................. 111 4.1 Gustav Mahler: angelagerte Narrative in der 6. Symphonie .............. 112 4.2 Alban Bergs Lyrische Suite und die Frage autobiografischer Authentizität .......................... 140 4.3 Narrativität und Krise in der Musik György Kurtágs...................... 156 5.
Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde ..................... 171
6.
Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf ............................ 205
7. 7.1
Auf dem Weg zur Atmosphäre........................................ 223 Annea Lockwoods A Sound Map of the Danube zwischen Klangkunst und Komposition ................................ 227 Schlussfolgerungen: zwei Arten des Hörens ........................... 242
7.2
Tabellenverzeichnis ....................................................... 245 Abbildungsverzeichnis .................................................... 247 Literaturverzeichnis....................................................... 249
1. Einleitung
Musik kann man hören. Musik kann man lesen. Dies sind zwei scheinbar banale Aussagen, die aber schnell zu komplexen Problemstellungen führen, wenn man beginnt sie zu hinterfragen. Eine erste Frage, die sich stellt, ist die nach den jeweiligen Bedingungen. Musik kann man hören, wenn sie aufgeführt wird oder wenn sie mit technischen Mitteln realisiert wird, also etwa abgespielt oder gestreamt wird. Auf der anderen Seite, Musik kann man lesen, wenn es einen Notentext gibt, wenn sie also notiert worden ist und wenn man dazu in der Lage ist, eine solche Partitur zu lesen. Bereits an dieser Stelle zeigt sich, dass die beiden Rezeptionsarten von Musik, Hören und Lesen, nicht einfach austauschbar sind, und dass auch keine einfache Und-Verknüpfung zwischen ihnen besteht. Musik kann man hören und lesen, dieser Aussage kann nicht so ohne weiteres beigepflichtet werden. Musik kann man sicherlich hören, ohne sie lesen zu können, denn ein großer Teil der Musikhörenden ist nicht in der Lage Musik zu lesen, da die Kenntnis der Notenschrift fehlt oder, wenn diese auch gegeben ist, die komplexe Fähigkeit des stummen Partiturlesens. Zudem zeigt sich nun auch, dass es sich beim Hören bzw. Lesen von Musik um zwei grundverschiedene Rezeptionsweisen handelt, nämlich um die sinnliche (Hören) und um die imaginative (Lesen). Auf Grund der besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sie erfordert, mag letztere gegenüber dem sinnlichen Hören von Musik elitär erscheinen. Theodor W. Adorno, der bekanntlich das stumme Lesen der Partitur dem sinnlichen Hören der Aufführung gegenüber bevorzugte, hat versucht, das Partiturlesen von seinem eli-
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tären Charakter zu befreien, indem er es der Musikpädagogik als ihr Hauptanliegen empfahl: Ihr [der Musikpädagogik] Ideal wäre das adäquate, aber stumme Lesen von Musik, so wie das Lesen der Sprache selbstverständlich ist. Dabei wird vorab an die Fähigkeit des Partiturlesens zu denken sein. Sie geht dem kindlichen Geist keineswegs so durchaus ab, wie die Weisheit der Erwachsenen es sich vorstellt, der die Kinder bekanntlich nie kindlich genug sein können. Der Musiker, der als Kind über eine Instrumentationslehre, ein Buch mit Erklärungen der Schlüssel, des Transponierens, mit einfachen Anweisungen zum Partiturlesen und Ähnlichem geraten ist, weiß, welche bunte Lockung von alldem ausgeht, und ihr hätte Musikpädagogik eher nachzugehen als dem Ringelreihen aus dem Kindergarten.1 Offensichtlich ist die Musikpädagogik diesem Ratschlag Adornos nicht gefolgt, wohl aber nicht deswegen, weil Adorno die kognitiven Fähigkeiten von Kindern überschätzt hätte, sondern aus soziologischen Gründen. Warum dem Lesen von Musik gesellschaftlich nicht annähernd ein so hoher Stellenwert eingeräumt wird wie dem Lesen von Schrift, das zu untersuchen, wäre Aufgabe der Soziologie. Adorno selbst liefert von der Dialektik der Aufklärung bis zur Negativen Dialektik Hinweise auf den Zustand der Gesellschaft, der die Vernachlässigung und Marginalisierung des Nicht-Utilitären begünstigt. Im Zusammenhang mit Musikästhetik ist der »Geist« das Schlüsselwort im Zitat. Gegenüber der sinnlichen Rezeption von Musik propagiert Adorno eine vergeistigte Rezeption. Grund dafür ist zunächst die erfahrene Unzulänglichkeit der Aufführungen: Stumm imaginatives Lesen von Musik könnte das laute Spielen ebenso überflüssig machen wie etwa das Lesen von Schrift das Sprechen, und solche Praxis könnte zugleich Musik von dem Unfug heilen, der 1
Adorno, Theodor W.: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Gesammelte Schriften. Bd. 14, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003 (= stw 1714), S. 110.
1. Einleitung
dem kompositorischen Inhalt von fast jeglicher Aufführung heute angetan wird.2 Hier wird ein Spannungsverhältnis angesprochen, das zwischen notierter Musik und ihrer Aufführung notwendigerweise besteht. Auf der einen Seite ist die musikalische Notation zwar immer auch Handlungsanweisung, Verschriftlichung korporal-aktionsmäßiger Vorgänge – Martin Zenck vergleicht in diesem Sinne Partituren mit Schauspieltexten und nennt beide »eingefrorene Handlungen«.3 Auf der anderen Seite besteht Adorno aber darauf, dass sich die Notation von Musik nicht in dieser Handlungsanweisung erschöpft, sondern sie, ähnlich wie der Schauspieltext auch, darüber hinaus eine quasi literarische Qualität hat. Aus literarischer Perspektive gesehen ist der Notentext Fixierung des Werks. Noch in der Ästhetischen Theorie wiederholt Adorno seine Skepsis gegenüber der Aufführung und hebt dann die Bedeutung der Notation für die Genese des Werks hervor: Partituren sind nicht nur fast stets besser als die Aufführungen, sondern mehr als nur Anweisungen zu diesen; mehr die Sache selbst. […] Musik realisieren war zumindest bis vor kurzem soviel wie die Interlinearversion des Notentextes. Die Fixierung durch Schrift oder Noten ist der Sache nicht äußerlich; durch sie verselbständigt sich das Kunstwerk gegenüber seiner Genese: daher der Vorrang der Texte vor ihrer Wiedergabe.4
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Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft I/II. Gesammelte Schriften. Bd 10.1 und 10.2, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003 (= stw 1710), S. 177. Vgl. Zenck, Martin/Becker, Tim/Woebs, Raphael: DFG-Forschungsbericht »Theatralität« der Bamberger Historischen Musikwissenschaft: S. 11, URL: www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/ppp_professuren/musikwissenschaft/theatral.pdf [abgerufen am 03.10.2020]. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2003 (= stw 1707), S. 153f.
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Für Adorno erhält ein Musikstück seinen Werkcharakter offensichtlich erst durch die Verschriftlichung. Als Werk ist daher der Notentext das Primäre, die Aufführung bloß sekundär. Damit aber wird das sinnliche Hören von Musik ebenfalls sekundär gegenüber dem imaginativen »Hören«, dem stummen Lesen der Partitur. Diese Auffassung entspricht nicht mehr der heutigen Auffassung von Musik, die im 20. Jahrhundert nicht zuletzt aus technischen Gründen einen Epochenwandel erfahren hat. Etwas salopp formulierend und Adorno ungenau zitierend, aber in der Sache durchaus richtig, entwickelt Gernot Böhme die Gegenthese zu Adornos Privilegierung der Partitur: Sicher ist aber, dass die große Periode des Platonismus in der Musik zu Ende gegangen ist. Platon kritisierte die Leute, die mit den Ohren herauszufinden trachteten, was harmonische Intervalle sind. Und noch Adorno konnte sagen, die angemessene Weise, eine Sinfonie zu hören, sei, die Partitur zu lesen. Wie himmelweit sind wir heute davon entfernt! Fraglich ist uns mit der modernen Musik geworden, ob sie überhaupt noch adäquat notiert werden kann. Es scheint, dass die Sinnlichkeit in der Musik eine Rehabilitation erfahren hat und wir gegen die ganze platonische Periode sagen müssen, dass, was Musik ist, nur hörend erfasst werden kann. Vielleicht muss man sogar sagen, dass das eigentliche Thema der Musik das Hören selbst ist.5 In Umkehrung von Adornos These vom Primat des Notentextes gegenüber der Aufführung propagiert hier Böhme den Primat der sinnlichen Rezeption von Musik gegenüber ihrer Notation. Begründen lässt sich dieser Paradigmenwechsel vom Lesen zum Hören tatsächlich auch mit Musik, die nur hörend erfasst werden kann, da das Ergebnis des Kompositionsprozesses in diesem Fall keine Partitur ist, sondern eine Aufnahme oder eine Datei. Diese akusmatische Musik, wie wir sie etwa
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Böhme, Gernot: Das große Konzert der Welt. In: Seiffarth, Carsten/Sturm, Martin (Hg.): Sam Auinger & friends: a hearing perspective. Bd.2: Theorie. Wien: Folio Verlag, 2007, S. 3-15, S. 12. [Hervorhebung im Original.]
1. Einleitung
aus der Musique concrète kennen oder aus im Gefolge des Soundscape Project entstandenen Kompositionen aus elektronisch bearbeiteten oder auch unbearbeiteten Field-Recordings, macht auf Grund ihres technisch völlig andern Entstehungsprozesses Notation überflüssig. Will man dieser Art von Musik ihren Werkcharakter nicht absprechen, was gänzlich willkürlich wäre, dann kann Notation nicht mehr als ausschließlicher Garant des Werkes gelten. Der Werkcharakter akusmatischer Musikstücke kommt daher gerade nicht im stummen Lesen zu seiner vollen Verwirklichung, sondern im sinnlichen Hören. Insofern kommt es tatsächlich zu einer Aufwertung des Hörens. Allerdings gibt es auch heute keineswegs nur akusmatische Musik und außerhalb dieser hat die Notation ihren Stellenwert nicht eingebüßt. Zur Verschriftlichung mit Hilfe von Noten sind andere Formen der Notation getreten, die Aktionsnotation, die graphische Notation und die Textnotation. Neue Formen der Notation ziehen auch neue Formen des Lesens nach sich, doch auch eine graphische Partitur kann stumm gelesen werden, nur heißt hier »Lesen« etwas anderes als im Fall des Notentextes einer konventionell notierten Partitur. Es ist daher als emphatische Übertreibung zu verstehen, wenn Böhme in Bezug auf die heutige Situation davon spricht, dass Musik »nur hörend erfasst werden« könne. Auch heute gilt zweifellos, dass Musik – abgesehen von der akusmatischen – nicht nur hörend rezipiert werden kann, sondern auch lesend, dass Musik also auch eine nicht-sinnliche, imaginative Seinsweise hat. Gegenüber Adorno ist wiederum mit Blick auf die heutige Musik ins Treffen zu führen, dass der Primat des Lesens des Notentextes gegenüber dem sinnlichen Hören der erklingenden Musik nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Im Fall der elektronischen Musik zeigt sich, dass sich das Verhältnis umkehrt: Die nicht lesbare Aufnahme oder Datei ist das Primäre, eine allfällige Partitur, wie etwa die zu Karlheinz Stockhausens im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln realisierten frühen rein elektronischen Kompositionen angefertigten »Studienpartituren«, wird zum Sekundären. Die Einleitung zur Studie II nimmt genau auf diese veränderte Kompositionsweise und ihre Folgen Bezug:
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Mit dieser Studie II wird Elektronische Musik erstmalig als Partitur veröffentlicht. Sie gibt dem Tontechniker alle für eine klangliche Realisation nötigen Daten und möge Musikern und Liebhabern als Studienpartitur dienen, vor allem in der Verbindung mit der Musik.6 Explizit wird hier darauf verwiesen, dass diese Partitur nicht zum stummen Lesen gedacht ist, sondern das Hören der Musik nur begleiten bzw. weitere, nicht vom Komponisten selbst vorgenommene Realisierungen der Musik ermöglichen soll. Nicht von ungefähr ist in Bezug auf letzteres nicht vom Notentext, sondern von »Daten« die Rede, was eine Exaktheit und zugleich Starrheit der Anweisung suggeriert, welche dem Notentext fremd sind. Das Werk ist nicht diese Partitur, sondern die vom Komponisten im Studio vorgenommene Realisation der Musik. Weitere Realisierungen sind nur zu restaurativen Zwecken sinnvoll, wenn die Aufnahme der Originalrealisierung des Komponisten im Laufe der Zeit zu Schaden kommt. Im digitalen Zeitalter wird die Realisation exakt und unbeschränkt vervielfältigbar und verteilbar, was nicht nur einen veränderten Stellenwert des Urheberrechts nach sich zieht – Stichwort Sampling – sondern auch die Erhaltbarkeit von Aufnahmen in hohem Maße beeinflusst. Die digital gespeicherte Realisation elektronischer Musik wird dadurch unvergleichlich sicherer konservierbar als etwa ein Tonband, denn nicht nur für seltene historischen Aufnahmen gilt: »The best form of preservation is dissemination.«7 Die technische Entwicklung macht die Notation als Festhalten des Werks gänzlich überflüssig. Über diese Konservierungsfunktion gegenüber dem Werk und die Anweisungsfunktion gegenüber dem Ausführenden hinaus hat die Notenschrift aber noch eine weiter Funktion, auf die ebenfalls bereits Adorno verweist:
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Stockhausen, Karlheinz: Nr. 3 Elektronische Studien. Studie II. Partitur, Wien/Zürich/London: Universal Edition, 1956, S. III. [Hervorhebung von mir.] Brooks, Tim: How Copyright Law Affects Reissues of Historic Recordings: A New Study. In: ARSC Journal 36 (2005), S. 183-203, S. 186.
1. Einleitung
Wohl sind Noten keine pure Anweisung auf die Aufführung, sondern zum Text objektivierte Musik. Darum gravitieren sie zum stummen Lesen. Wodurch aber der Text zu einem wird, das immanent mit ihm Gemeinte, das gar keiner realen Aufführung bedarf, ist ein zeitlich sich Entfaltendes.8 Durch den Hinweis darauf, dass Musik ein sich zeitlich Entfaltendes sei und gerade dadurch qua Notation zum Text werde, verweist Adorno auf die jahrtausendealte und immer noch gängige Auffassung von Musik als Zeitkunst. Der musikalische Text wird so in die Nähe des erzählenden sprachlichen Textes gerückt. Die musikalische Narration besteht aus einer zeitlichen Abfolge von klanglichen Ereignissen, die im Zusammenhang miteinander stehen, und zwar so, dass die Reihenfolge der im Verlauf der Zeit stattfindenden Ereignisse nicht vertauschbar ist, ohne dass dieser Zusammenhang zerstört wird. Das Lesen eines sprachlichen, erzählende Texts hat bekanntlich einen doppelten Zeitbezug: die erzählte Zeit als die Zeitebene der Geschichte, die erzählt wird und die Erzählzeit, die Zeitebene des Lesers dieser Erzählung. Letztere kann zudem subjektiv als unterschiedlich lang empfunden werden, unabhängig davon, wie lange der Leser objektiv messbar für die Lektüre des Textes braucht, was neben situativen und individualpsychologischen Gründen auch vom Erzählten und der Art der Erzählung abhängt. Eine wesentliche Funktion der Erzählung ist somit die Gliederung des Verlaufs der Zeit. Analog dazu gliedert auch narrative Musik den Verlauf der Zeit und lässt ihn subjektiv als langsamer oder schneller erscheinen. Das Lesen eines Notentexts hat ebenfalls einen doppelten Zeitbezug, die Lesezeit als die Zeit, die der Leser braucht, um die Partitur zu lesen, und die Verlaufszeit der Musik als die Zeit, die von den klanglichen Ereignissen und ihrer Abfolge gegliedert wird. Im Fall des vom Blatt lesenden Musikers fallen die beiden Zeiten in eins, da das Lesen des Notentextes und
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Adorno, Theodor W.: Musikalische Schriften I–III. Gesammelte Schriften. Bd. 16, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003 (= stw 1716), S. 517.
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seine Aufführung synchron erfolgen. Für den Hörer freilich erhält die Musik diesen narrativen Charakter nicht dadurch, dass sie notiert und somit zum Notentext wird, sondern durch das Erklingen der musikalischen Ereignisse im Verlauf der Zeit, ähnlich wie ja auch ein mündlich überlieferter erzählender Text narrativen Charakter hat. Die Frage der Narrativität von Musik kann also ebenfalls vom stummen Lesen des Notentextes abgekoppelt werden. Dass der angesprochene Paradigmenwechsel auch die Narrativität der Musik, also ihren Zeitbezug betrifft, auch darauf liefert Gernot Böhme einen ersten Hinweis: Denn in der Tat sind ja Grundcharaktere traditioneller Musik, also reine Töne und Harmonien, etwas, das gegenüber der Geräusch- und Tonwelt neuer Musik ausgezeichnet ist, nämlich Sinusschwingungen und Harmonien, etwas, das eine naturale Basis hat. Die jetzt über 2000-jährige Herrschaft des Pytagoreismus in der Musik ist nicht nur ein kulturelles Phänomen. Das kann man schon eher von einer anderen, durch die Musiktradition immer wieder verstärkten Erwartung sagen, nämlich, dass Musik eine Zeitgestalt habe, einen Anfang und ein Ende, welches auf der Basis von Tonalität in der Regel eine Kadenz verlangt. […] Da es im atonalen Klangmaterial keine ausgezeichneten Töne mehr gibt, entfallen auch die Kadenzen, durch die ein Musikstück definitiv zu einem Ende geführt wird. Schlusspunkte werden ein Problem. Sie werden häufig abrupt und überraschend gesetzt, oder sie können auch gänzlich fehlen. Letzteres ist übrigens aus der außereuropäischen Musik längst bekannt. Insofern ist die Möglichkeit von Endlosschleifen oder offenen Enden in der Musik auch keine radikale Neuerung.9 In dieser Perspektive verlöre also die Musik mit der Tonalität auch ihre narrative Funktion, genauer gesagt die Fähigkeit beim Rezipienten den Eindruck eines Abschlusses hervorzurufen. Es ist wohl kein Zufall, dass in der Narrationsforschung dieses Phänomen der narrative closure auch 9
Böhme, Gernot: Auf dem Weg zum »Konzert der Welt«: Neue Musik als Schule des Hörens. In: Neue Zeitschrift für Musik 172.4 (2011), S. 48-51, S. 49.
1. Einleitung
»emotionale Kadenz« genannt wird. Die Beschreibung, die David J. Velleman von diesem Phänomen in Bezug auf sprachliche Narrative gibt, weist über die Verwendung des musikalischen Begriffs »Kadenz« hinaus erstaunliche Nähe zu einem narrativen Verständnis tonaler Musik auf, wie es Böhme oben beschrieben hat: [A] description of events qualifies as a story in virtue of its power to initiate and resolve an emotional cadence in the audience. What follows from these premises is that the power to initiate and resolve an emotional cadence ought to endow narrative with its power to render events intelligible. […] What’s more, the emotion that resolves a narrative cadence tends to subsume the emotions that preceded it: the triumph felt at a happy ending is the triumph of ambitions realized and anxieties allayed; the grief felt at a tragic ending is the grief of hopes dashed or loves denied. Hence the conclusory emotion in a narrative cadence embodies not just how the audience feels about the ending; it embodies how the audience feels, at the ending, about the whole story. Having passed through the emotional ups and downs of the story, as one event succeeded another, the audience comes to rest in a stable attitude about the series of events in its entirety.10 Die Aufeinanderfolge der Ereignisse, die zu einem Abschluss kommt, der sie als abgeschlossenes Ganzes erscheinen lässt, wobei das Ganze mehr ist als die Teile, aus denen es sich in sukzessiver Abfolge zusammengesetzt hat, das alles trifft auch auf ein tonales musikalisches Werk zu. Bemerkenswert ist auch, dass Velleman die emotionale Wirkung der Ereignisse betont und von einer »emotionalen Kadenz« spricht, obwohl er sich nicht auf Musik, deren primär emotionale Wirkung außer Zweifel steht, bezieht, sondern auf sprachliche Narrative. Einzig die Fähigkeit der Narration »to render events intelligible« ist in Bezug auf Musik insofern zu modifizieren, als der Sinn nicht durch die Semantik der Wörter, sondern durch den Bezug der Töne aufeinander im
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Velleman, J. David: Narrative Explanation. In: The Philosophical Review 112/1 (2003), S. 1-25, S. 18f. [Hervorhebungen von mir.]
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Rahmen des tonalen Systems zustande kommt. Auf andere Weise zwar, aber auch in der Musik entsteht der Sinn in der Narration. Böhme ist nicht der Einzige, der die durch die Kadenz hervorgebrachte narrative Kraft der tonalen Musik in der nicht tonalen Musik zumindest als gefährdet ansieht. Susan McClary zum Beispiel, eine Proponentin der narratologischen Musikwissenschaft, beschränkt die Periode narrativer Instrumentalmusik auf die zwischen ungefähr 1700 und 1900, die Zeit, in der Komponisten »most focused on notions of the centered Self« Musik hervorbringen, die durchsetzt ist von »narratives of subjective becoming or Bildung.«11 Mit der Krise des Konzepts Bildung und der des zentrierten Selbst um 1900 habe aber die AvantgardeMusik des 20. Jahrhunderts eine antinarrative Einstellung entwickelt. Folglich teilt McClary die Musikgeschichte der westlichen Musik in Bezug auf ihre Narrativität in drei verschiedene Perioden ein: eine pränarrative vor 1700, eine narrative von 1700 bis 1900 und eine antinarrative nach 1900. McClarys Auffassung von musikalischer Narrativität beruht stark auf der Figur des Komponisten, der entweder bewusst seine Subjektivität in einem musikalischen Narrativ ausdrückt oder aber ebenso bewusst eine antinarrative Einstellung entwickelt. Sie betrachtet Narrativität als eine dem Text inhärente Qualität, die vom Komponisten in den Notentext je nach Einstellung und Zeitperiode eingearbeitet wird oder eben nicht. In der Auffassung der sogenannten post-klassischen Narratologie ist aber Narrativität nicht mehr eine Eigenschaft »inherent in a text, but rather an attribute imposed on the text by the reader who interprets the text as narrative, thus narrativizing the text.«12 Diese narrativierende Aktivität des Lesers, die aus einem Text erst eine Narration macht, basiert in Monika Fluderniks »natürlicher« Narratologie auf
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McClary, Susan: The Impromptu That Trod on a Loaf: Or How Music Tells Stories. In: Narrative 5.1 (1997), S. 20-35, hier: S. 24. Fludernik, Monika: Natural Narratology and Cognitive Parameters. In: Herman, David (Hg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences, Stanford, CA: CSLI Publications, 2003, S. 243-267, hier: S. 244.
1. Einleitung
dem Phänomen der »human experientiality«, der menschlichen Fähigkeit, Erfahrungen zu evozieren. Diese Naturalisierung der Narratologie bedeutet freilich nicht, dass Narrativität kein kulturelles Konstrukt sei. Daher können auch »unnatürliche« Fälle von Narrativität in die natürliche Erfahrung des Lesers integriert werden.13 Dies ermöglicht auch einen neuen Blick auf die Narrativität von Musik. Sich auf die Einsichten der postklassischen Narratologie stützend, verschiebt Vincent Meelberg den Fokus der musikalischen Narratologie vom Komponisten hin zum Hörer, indem er die Entstehung von musikalischem Sinn abhängig macht von einer aktiven Höreinstellung, die auf lineare Entwicklung fokussiert: »the meaning of the music the listener is listening to is not fixed by the music itself. Musical meaning emerges as a result of the interaction between the music and the listener.«14 Wenn aber erst der Hörer das Musikstück zu einer Narration macht, dann kann auch Musik, die McClary als antinarrativ betrachtet, also atonale und posttonale Musik, als Narrativ rezipiert werden, solange sie gehört wird als »representation of a succession of events that succeed each other in time.«15 Meelberg berschreibt in der Folge diese narrative Höreinstellung als eine aktive Suche nach closures mit dem Ziel, individuelle musikalische Ereignisse und Charaktere im musikalischen Text auszumachen: The principles by which music can be divided into events all depend on musical tension and resolution. Without tension and resolution there would be no perceptible change, and therefore no recognizable musical groupings. Yet, musical tension and resolution are representations. Consequently, musical events are the result of representations.
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Vgl. dazu: Abott, H. Porter: Narrativity. In: Hühn, Peter/Pier, John/Schmid, Wolf (Hg.): Handbook of Narratology, Berlin; New York: De Gruyter, 2009 (= Narratologia 19), S. 309-328, hier: S. 320. Meelberg, Vincent: New Sounds, New Stories: Narrativity in Contemporary Music. Amsterdam: Leiden University Press, 2006, S. 7f. Ebd., S. 39.
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Therefore, musical events are themselves representations, rather than physical entities.16 Dies ist ein Konzept von Musik nicht als sinnlich erfahrbarer Klang, sondern als mentales Konstrukt. Hören wird hier also wenigstens metaphorisch zum Lesen. Diese Auffassung ähnelt Marie-Laure Ryans Definition des Narrativs in Bezug auf die Sprache: The innate affinity of narrative and language can be explained by the fact that narrative is not something that is perceived by the senses: it is constructed by the mind, either out of data provided by life or out of invented materials. Similarly, as a mode of representation, language speaks to the mind rather than to the senses, though it is of course through the senses that its signs are perceived.17 Hier schließt sich der Kreis: Wenn Musik mehr den Geist anspricht als die Sinne, dann hat sie unabhängig davon, ob sie nun tonal, atonal oder posttonal ist, eine narrative Qualität. Was Böhme als den Platonismus in der Musikästhetik für beendet erklärt, lebt weiter in der hörerzentrierten Narrativität der Musik. Auch ohne den Notentext stumm zu lesen, hat der Hörer, der durchaus auch sinnlich hört, durch seine aktive Höreinstellung Anteil auch an dem nicht sinnlich klingenden, sondern mental konstruierten Sinn der Musik. Im übertragenen Sinn liest er hörend die Musik und verleiht ihr dadurch Sinn. So ergibt sich auf der kognitiven Seite der Musik also die Bezugsreihe von Narration – Sprache – Literatur – Lesen – Zeitkunst, wobei Lesen metaphorisch als das aktive Hören verstanden wird. Freilich hat Musik nicht nur diese kognitive Seite, sondern natürlich auch eine emotionale. Gernot Böhme setzt hier ähnlich wie McClary im 20. Jahrhundert eine Epochenschwelle an, wenn er seine Ästhetik der Atmosphäre auf die Musik anwendet. Die Erweiterung des Materials
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Ebd., S. 76. Ryan, Marie-Laure: Narration in Various Media. In: Hühn, Peter/Meister, Jan Christoph/Pier, John/Schmid, Wolf (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin: de Gruyter, 2009, S. 263-281, hier: S. 270.
1. Einleitung
hin zum Geräuschhaften und zum »Konzert der Welt« durch erweiterte Spiel- und Gesangstechniken, durch die Verwendung von Alltagsgegenständen als Klangerzeuger, durch die durch die technische Entwicklung erschlossenen Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung, Aufnahme, Bearbeitung und des Sampling und durch die bereits erwähnte unbeschränkte Reproduzierbarkeit und Verfügbarkeit der Musik im digitalen Zeitalter, habe den Musikbegriff von der Zeitkunst hin zur Raumkunst verschoben: In der neuen Musik aber begann man teils durch Verwendung der klassischen Instrumente, teils durch elektronische Installationen ganz bewusst an der Raumgestalt von Musik zu arbeiten und damit dem Raum überhaupt zur Anerkennung als einer wesentlichen Dimension musikalischer Gestaltung zu verhelfen. Diese Dimension kann unter Umständen zur eigentlichen Dimension eines musikalischen Kunstwerks werden, bei dem dann konsequenterweise so etwas wie Anfang und Ende und ein Prinzip zeitübergreifender Gestalt nicht mehr verlangt werden können.18 Mit anderen Worten: die Verschiebung weg von der Zeitkunst und hin zur Raumkunst bedeute eine Abkehr von den narrativen Prinzipien der Musik. Insofern stimmt Böhme mit McClary überein, beide konstatieren eine antinarrative Wende in der Neuen Musik. Allerdings sieht Böhme diese Wende nicht als intentionale Entscheidung der Komponisten, sondern in erster Linie als eine Veränderung, die durch technische und soziale Entwicklungen hervorgebracht worden sei. Auf der einen Seite ist diese Veränderung für Böhme an eine Veränderung des Hörens gebunden: Es geht um Hören als Raumerfahrung, es geht um unendliche oder offene Zeitgestalten, es geht um musikalische Sequenzen und Figuren als Gesten, es geht um das Intervallhören, um das Hören von »Dissonanzen« als Sounds und es geht um eine Wiederentdeckung der Stille
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Böhme: 2007, S. 7.
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und der Stimme. Und es geht schließlich um die Entdeckung natürlicher bzw. auch industriell-technischer Geräusche in ihrer Musikalität.19 Hören als Raumerfahrung wird hier als neues Hören präsentiert, das von den Hörern von Musik eine Umstellung erfordert. Der an die Vorstellung von Musik als Zeitkunst und ein entsprechendes Hören, nämlich das narrative Hören gewöhnte Musikkonsument muss folglich andere Hörgewohnheiten und -fähigkeiten erlernen. Dieses Hören hat immer noch stark kognitive Aspekte. Hören als Raumerfahrung, als Erfahrung von akustischen Atmosphären wird anderswo von Böhme allerdings als ein stark emotionales Hören beschrieben. Dies hat zunächst mit den Eigenschaften des musikalischen Raums zu tun, der sich vom geometrischen Raum unterscheide und eher dem topologischen Raum ähnle: Zwar gibt es im musikalischen Raum Richtungen, es gibt auch Gestaltartiges, es gibt auch eine Art Außereinander, aber all dieses nichtstrikt im Sinne einer Scheidung, sondern vielmehr in Form sich wandelnder, ineinanderfließender, hervortretender und verschwindender Gebilde.20 Diese Eigenschaften des musikalischen Raumes sind einem narrativen, d.h. strukturierenden, die musikalischen Ereignisse klar scheidenden Hören geradezu abträglich. Das Ineinanderfließen der Gebilde im musikalischen Raum begünstige vielmehr ein nicht-analytisches, ein emotionales Hören: Hinzu kommt, dass dieser Raum affektiv erfahren wird: Breitgelagertes als schwer und bedrückend, Aufsteigendes als erleichternd und freudig, Zersplitterndes als lustig usw. Beides zusammengenommen, erkennt man, dass es sich bei dem musikalischen Raum genau genommen um den erweiterten leiblichen Raum handelt, d.h. um das
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Böhme: 2011, S. 51. Böhme: 2007, S. 7.
1. Einleitung
Hinausspüren in den Raum, das von der Musik geformt und artikuliert wird. Diese Entdeckung, dass die Musik die grundlegende atmosphärische Kunst ist, hat für die Musiktheorie ein altes, immer lästiges und doch unausweichliches 7 Problem gelöst, nämlich die Frage, worin die sogenannte emotionale Wirkung von Musik eigentlich besteht. Gegenüber den hilflosen Assoziationstheorien bzw. den Theorien, die die Fantasie als Zwischenglied bemühten, kann die Ästhetik der Atmosphären die einfache Antwort geben, dass die Musik als solche die Modifikation des leiblich gespürten Raumes ist.21 Das Wichtigste an dieser Konzeption des musikalischen Raums als erweitertem leiblichen Raum besteht wohl darin, dass sie den Leib und das korporale Erfahren in die Musikästhetik zurückbringt. Musik ist eben nicht nur etwas kognitiv Verarbeitetes, sondern auch etwas mit dem Leib emotional Erfahrenes. Auf der sinnlichen Seite der Musik steht so die Bezugsreihe von Atmosphäre – Klang – Musik – Hören – Raumkunst, wobei mit Hören hier das sinnliche Hören, das korporale Hören, gemeint ist, das leiblich im Raum als Atmosphäre erfahren wird. Musik soll im Folgenden als zwischen diesen zwei Polen stehend analysiert werden. Auch wenn es in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zweifellos eine Verschiebung von der Zeitkunst zur Raumkunst gibt, so soll dies aber nicht als Epochenwechsel betrachtet werden, sondern als Ausdruck einer Ambivalenz, die der Musik als Medium eigen ist. Musik soll aufgefasst werden als Zeitkunst und Raumkunst, wobei die Konjunktion keine einfache Und-Relation suggerieren soll, sondern ein unauflösliches Spannungsverhältnis.
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Ebd., S. 7f.
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2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Ein Gemeinsames von Literatur und Musik besteht in ihrer jeweiligen Lesbarkeit. Das stumme, imaginative Lesen der Partitur bringt den Notentext in der Vorstellung zum inneren Klingen, das stumme Lesen eines literarischen Textes lässt mit Hilfe der Imagination Figuren, Schauplätze und Handlung vor dem inneren Auge und Ohr erscheinen. Auch Musik war in der westlichen Tradition lange primär etwas Geschriebenes, nicht von ungefähr spricht man in Bezug auf die musikalischen Werke dieser Tradition ebenfalls von Literatur. Der Komponist spielt die Rolle des Autors. Diese musikalische Literatur ist aber trotz der Bedeutung, die in dieser Tradition dem stummen Lesen des Notentexts eingeräumt werden kann, doch immer zur Aufführung bestimmt gewesen, sollte also auch zum Klingen gebracht werden und auch als klingende Musik rezipiert werden. Durch die Trennung des Komponisten als Autor und des ausführenden Musikers als Interpret kommt es zu einem Auseinanderdriften der beiden Sphären: Musik als Literatur und Musik als Performance. Im 20. und 21. Jahrhundert sehen wir die Gegenbewegung der Wiederannährung von Autorschaft und Ausführung, man denke etwa an die Bedeutung der Instrumentalist_innen als Komponist_innen im Jazz oder an die neuere Entwicklung hin zu Composer/Performer_innen, die ihre Kompositionen selbst als Ausführende zur Aufführung bringen, häufig sogar auf Grund der auf sehr spezielle Fähigkeiten und/oder Persönlichkeitsmerkmale abgestellten Kompositionen nur selbst zur Aufführung bringen können.
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Auf der anderen Seite waren literarische Texte, mit Ausnahme des Dramas, nicht zur Aufführung bestimmt, sondern zum stummen Lesen, das sich mit wachsendem Alphabetisierungsgrad gegen das laute Vorlesen durchgesetzt hat. Dennoch haben in besonderem Maße lautlich gestaltete literarische Texte immer zur klanglichen Verwirklichung in der Rezitation gestrebt. Die im 20. Jahrhundert im Zuge der Entwicklung des Radios entstandene Gattung des Hörspiels ist wohl am ehesten mit der musikalischen Partitur vergleichbar. Beider Text, der Notentext des musikalischen Werks wie das Textbuch des Hörspiels, ist Anweisung zur Ausführung und Festschreiben des Werkes zugleich. Im 21. Jahrhundert schließlich hat sich mit dem Hörbuch eine Verbreitungsweise von Literatur entwickelt, die das Vorlesen von literarischen Texten und ihre hörende Rezeption rehabilitiert. Häufig verbindet sich die Rezitation im Hörbuch alternierend oder auch als Untermalung mit Musik. Es liegt nahe, den Einsatz von Musik hier als atmosphärisch zu betrachten, Musik zur Schaffung oder Verstärkung von Atmosphären, die der Text bzw. sein Vortrag nicht oder nicht in ausreichendem Maße zu schaffen im Stande ist. In diesem Sinne käme der Musik eine Hilfsfunktion zu. Sie machte das Erlebnis der hörenden Rezeption des literarischen Textes erst zu einem immersiven. Parallel zu der von Gernot Böhme in der Musik des 21. Jahrhunderts konstatierten »Rehabilitation der Stimme«1 gewinnt auch im Hörbuch die menschliche Stimme wieder an Bedeutung. Stimmfärbung und Stimmeinsatz der Rezitator_in bestimmen in hohem Maße die Rezeption des literarischen Textes mit. Lesen die Texte die Autor_innen selbst, so nähert sich das Hörbuch dem Phänomen der Composer/Performer_innen insofern an, als ein Gefühl der Authentizität erzeugt wird, wenn Autor_in und Ausführende in eins fallen. Im Folgenden soll anhand eines Beispiels beides untersucht werden, die Frage der Stimme des Autors als Rezitator und die Funktion der Musik in Zusammenhang mit dem literarischen Text im Hörbuch.
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Vgl. Böhme: 2011, S. 51.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
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Christoph Ransmayr und Franz Hautzinger: Musik als Supplement des Textes
Mit seinem sowohl der 2007 im S. Fischer-Verlag erschienenen gedruckten Fassung von Damen & Herren unter Wasser als auch dem zwei Jahre später produzierten Hörbuch vorangestellten »Brief aus der Wüste«, siedelt der Autor Christoph Ransmayr selbst seine Bildergeschichte im Kontext der Schreibübung zur Entwicklung der narrativen Kompetenz und Anregung der Vorstellungskraft an, wenn er sich und uns an derartige schulische Aufgabenstellungen erinnert. Damit wird klar, dass er ein frivoles Spiel mit sich und dem Leser oder Zuhörer zu spielen beabsichtigt, denn als Meistererzähler hat er es wohl kaum noch nötig, solche narrativen Fingerübungen zu absolvieren, geschweige denn sie zu veröffentlichen. Auch seine Vorstellungskraft muss offensichtlich nicht mehr trainiert werden, denn er absolviert die selbst auferlegte Übung mit Bravour. Mitten in der marokkanischen Wüste sitzend kann er sich eine in den Tiefen des Meeres spielende Geschichte ausdenken, angeregt allein durch Fotos von Unterwasserwesen seines Freundes, des Bildhauers und Fotographen Manfred Wakolbinger. Freilich macht er sich die Übung nur scheinbar schwer, denn wir erfahren, dass die Wüste ihm körperlich wohl kaum zu schaffen macht. Er sitzt dort nämlich nicht auf einem der schaukelnden Kamele, die er vorüberziehen sieht, sondern komfortabel »in der kühlen Lounge« (9).2 Nur scheinbar lässt er am Schluss des Briefes offen, ob diese Bildergeschichte für Erzähler und Zuhörer, den er auffälliger Weise zuerst nennt, oder Leser Plage oder Vergnügen ist, denn wenn der Meistererzähler den Typus der Bildergeschichte als eine der »Spielformen des Erzählens […] noch einmal vorführen« (10) möchte, dann kann es natürlich nur um die Leichtigkeit des Erzählens gehen, die virtuos aufgeführt wird. Mit dieser Kontextualisierung zwischen Fingerübung und Ausstellung von Virtuosität bewegt sich Ransmayr in auffallender Nähe 2
Ransmayr, Christoph: Damen & Herren unter Wasser: eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2007. Die Seitenangeben in Klammern im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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zu einer musikalischen Gattung, die jedes Klavier lernende Kind als Plage und jeder Klaviermusik liebende Konzertbesucher als Vergnügen kennt, nämlich die Etüde. Die Klavieretüde hat einerseits genau diese Doppelfunktion der Fingerübung zum Erreichen von Virtuosität und der Ausstellung der erreichten Virtuosität. Andererseits hat sie sich aber auch zu einer Gattung entwickelt, die diesen Übungs- und Ausstellungscharakter transzendiert, indem in ihr zugleich musikalisch auch mehr gesagt werden kann. Man denke hier etwa an die EtüdenZyklen von Frédéric Chopin, Franz Liszt, Claude Debussy und György Ligeti, um nur einige herausragende Beispiele aus der Musikgeschichte zu nennen. In der Musikwissenschaft verfügt diese Gattung bereits über eine umfangreiche Literatur. Die Sekundärliteratur zu Ransmayrs »Etüde« ist dagegen sehr überschaubar. Wie wir noch sehen werden, wird aber Ransmayrs Bildergeschichte in dem bisher einzigen Aufsatz, der sich mit ihr beschäftigt, als ein den bloßen Übungscharakter transzendierender Text gelesen. Zunächst aber werfen wir kurz einen Blick darauf, worum es in Rans-mayrs Text eigentlich geht. Ich-Erzähler und Protagonist ist Herr Blueher, ein Ex-Museumswärter oder eigentlich ein GroßflossenRiffkalmar, in den er verwandelt worden ist. Eines Tages nämlich findet er sich ähnlich wie Kafkas Gregor Samsa in einem Tierkörper wieder, anders als letzterer wacht er aber nicht im eigenen Bett auf, sondern findet sich in den Tiefen des Meeres wieder. Wie er dort hingekommen ist, daran hat er anscheinend keine Erinnerung und mit dieser Frage beschäftigt er sich auch nicht, obwohl er sich selbst nun als Forscher sieht. Wo aber andere Unterwasserforscher nach neuen Arten suchen, um sie dann zu kategorisieren und zu benennen, so forscht Herr Blueher nach Exemplaren der eigenen Spezies, das heißt, nach weiteren verwandelten Ex-Menschen, denen er dann neue Namen gibt. Diese sind: Herr Reddish: Ex-Wasserbettverkäufer – Imperialgarnele, Frau Horange: Ex-Schwimmlehrerin – Kronenqualle, Herr Blackthorn: Ex-Installateur – Geisterpfeifenfisch, Frau Whitey: Ex-Ministerin – Flohkrebs, Frau Purpleheart: Ex-Schönheitskönigin – Rotlippen Fledermausfisch und Herr Greenfinch: Ex-Dammbauer – Nacktschnecke. Bei der Namensgebung folgt er einem System,
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alle Namen müssen eine englische Farbbezeichnung enthalten. Sich selbst braucht er keinen neuen Namen zu geben, denn er schreibt das »Ü« als »ue« und so – wer hätte es gedacht – steckt das englische »Blue« bereits in Blueher drin. Der Reihe nach erzählt er über diese in Meeresfrüchte verwandelten Menschen, mit denen er in eine Art telepathischen, von ihm »Fischfunk« genannten Kontakt tritt und so auch ihre menschlichen Vorgeschichten erfährt. Wenn man sich die Berufe ansieht, die diese Verwandelten früher ausgeübt haben, dann ist in den meisten Fällen unschwer ein gestörtes Verhältnis zum Wasser zu vermuten. Diese Erwartung wird bestätigt. Der Installateur fürchtet Undichtigkeiten, die Schwimmlehrerin das Ertrinken eines Schülers, der Wasserbettverkäufer das Platzen eines Bettes und der Dammbauer natürlich den Dammbruch. Ausnahmen sind die Ex-Ministerin, die Ex-Schönheitskönigin, mit der Herr Blueher nicht nur telepathisch, sondern auch erotisch verkehrt – ja, es muss wirklich eine ehemalige Schönheitskönigin sein – und eben der Ex-Museumswärter Blueher selbst. Aber auch in diesen Fällen stellt sich heraus, dass sie direkt oder indirekt Probleme mit Flüssigkeiten hatten: die Ministerin war gegen ihre Neigung für das Meer zuständig, die Schönheitskönigin hatte Angst auszutrocknen und Herr Blueher selbst litt unter unkontrollierbaren Schweißausbrüchen. Die Verwandlung in Meereswesen und die Versetzung ins Wasser hat all diese Ex-Menschen von ihren Phobien und Manien befreit, sie haben, wie Blueher sagt, »den Frieden der Tiefe« (81) gefunden. Manuela Rossini liest diese Wesen im Sinne des kritischen Post-Humanismus der Animal Studies als »post-anthropozentrische Schöpfungen«3 , deren Libido sich »natürlich que(e)r«4 orientiere. Die Erzählung schiebe so »die Zentralität des männlichen und menschlichen Prinzips in den Hintergrund«5 zugunsten des in der westlichen
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Rossini, Manuela: Submarine Spielformen menschlicher Existenz von Christoph Ransmayr – ein Wassermann erzählt. In: Ulrich, Jessica/Ulrich, Antonia (Hg.): Tierstudien. Bd. 4 (2013), Metamorphosen, S. 39-49, hier: S. 40. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45.
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Philosophie vergessenen Urelements Wasser. Herrn Bluehers naturphilosophische Spekulation am Ende der Erzählung über die »Umkehrung der Pyramide« (75) der von der Evolution hervorgebrachten Lebewesen durch Rückmetamorphose in einen formlosen Zustand bloßer Möglichkeit steigert Rossini zu einer Apologie Ransmayrs als Vorreiter einer post-humanistischen Philosophie: »Ransmayr öffnet den Menschen durch sein Tier-Werden radikal auf das ›Andere‹ der Zukunft, jenseits eines metaphysischen oder teleologischen Horizonts, jenseits jeglicher Bestimmung und Bestimmtheit.«6 Zweierlei übersieht Rossini dabei. Erstens bleiben die verwandelten Ex-Menschen trotz »Fischfunk« und Unsicherheit über ihre eigene Sexualität durchaus anthropomorph. Die Telepathie funktioniert auch nur unter ihresgleichen, zu nicht-verwandelten Tieren haben sie keinerlei Verbindung. Mehr noch, sie leben auch immer noch in der Menschenzeit, das heißt, langsamer und damit länger als ihre scheinbaren Artgenossen.7 Die Verwandelten bilden also eine Art Mikrosoziotop innerhalb des Meeresbiotops, das immerhin so hermetisch zu sein scheint, dass keiner der Verwandelten zu einem Opfer eines Räubers wird, obwohl unter dem Meeresspielgel »viele Wesen hier vor allem Opfer« (81) seien, wie Herr Blueher feststellt. Zweitens unterschätzt Rossini – hier auch wieder unkritisch Ransmayr folgend – das Problem des Verlusts der menschlichen Sprachfähigkeit durch die Verwandlung. Was Rossini durch einen »literarischen Kunstgriff Ransmayrs«8 für gelöst erachtet, ist es in Wahrheit aber keineswegs. Denn obwohl der Erzähler, Herr Blueher, schon recht früh feststellt, dass Worte für ihn an Bedeutung verlieren würden, dass sich die Silben einer Sprache auflösten in Geräusche, hat dies keinerlei Auswirkungen auf sein Erzählen. (Vgl. 18-21) Bis zum Ende bleibt er als Erzähler ein eloquenter Meister seiner menschlichen Sprache und
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Ebd., S. 48. Herr Blueher spekuliert nur an einer Stelle, dass sich auch das in Zukunft noch ändern könnte und sich die Zeit seiner »gegenwärtigen Art gemäß dehnen« (18) könnte, dies geschieht aber bis zum Ende der Erzählung nicht. Rossini: 2013, S. 42.
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ihrer Rhetorik. Die tierische »Universalsprache« wortloser »Urverständigung, in der Tiere schon seit je zwischen den Signalen der Bedrohung und der Geborgenheit zu unterscheiden vermochten« (55) bringt er gar zu simplifizierend mit der modernen Lingua franca Englisch in Zusammenhang: »Meine Englischkurse in einer Abendschule […] erschienen mir so nachträglich als eine Art Einübung in die Universalsprache der Tiefe« (58) heißt es da. Dass die Sprache der Erzählung sich aber nicht verwandelt, ja nicht einmal wandelt,9 das scheint mir das Grundproblem dieser Bildergeschichte zu sein, ein Mangel, der auch nicht durch das Medium der Stimme im Hörbuch10 ausgeglichen werden kann. Zweifellos fügt die Stimme des Lesenden dem gedruckten Text etwas hinzu, was dieser nicht enthält. Dieser Mehrwert erschöpft sich keineswegs in der Realisierung einer Lektüre, einer von vielen möglichen, durch die der Lesende zum Medium, zum Vermittler zwischen dem Text und dem Hörer wird. Die Stimme als leibliches Phänomen sitzt nämlich auf eine bestimmte Art und Weise im Körper, hat also selbst eine ›Physis‹. In diesem Sinne hat Stimmlichkeit immer auch ein erotisches Element, das Roland Barthes so beschreibt: »Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus. Es gibt keine neutrale Stimme.«11 Für Sybille Krämer ist daher Paul Zumthor folgend die Stimme nicht einfach ein Instrument der Rede, sondern bringt in ihrer unberechenbaren Leib-
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Dass sich an einer einzigen Stelle das bedeutungsleer gewordene Wort »hübsch« in seinen Zischlaut verwandelt, der auch im Schwung der Tentakel verkörpert wird, fällt da nicht ins Gewicht. Wenn Rossini meint, dass der »Fischfunk« als Universalsprache auch den Tieren eigen sei (vgl. Rossini: 2013, S. 42), dann verkennt sie die Mehrdeutigkeit, mit der Herr Blueher den Begriff »Universalsprache« verwendet. Ransmayr, Christoph; Hautzinger, Franz: Damen & Herren unter Wasser: eine Bildgeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger. Wien: Mandelbaum Verlag: Extraplatte, 2009. Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990 (= es 1367), S. 280.
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lichkeit »das Unsagbare zum Ausdruck, zeigt also, was die Rede verschweigt.«12 Was die Rede verschweigt, ist im Fall von Damen & Herren unter Wasser ihr eigenes Verstummen, welches die Stimme als Potentialität ihrer eigenen Impotenz zwar im Erklingen mit enthält,13 das aber im Akt des Rezitierens aktualisiert werden müsste, um nicht bloße Potentialität zu bleiben. Eine solche Aktualisierung der Potentialität des Verstummens könnte etwa in der Brüchigkeit der Stimme zum Ausdruck kommen, im Stottern, kaum hörbaren Flüstern. Eine solche Aktualisierung der Potentialität des Verstummens würde ermöglicht durch die Tatsache, dass die Transposition des geschriebenen Textes ins Medium der Stimme immer auch Aufführungscharakter hat, unabhängig davon, ob es sich um eine Lesung vor Publikum oder eine vor dem Mikrophon im Studio handelt.14 Auf dieser Ebene ist die Stimme dann doch auch als 12
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Krämer, Sybille: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Perfor-mativität als Medialität. In: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz: zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt: Suhrkamp, 2002, S. 323-346, hier: S. 340. Diese Erotik der Stimme fasst Bernhard Waldenfels als ihre Fremdheit im Hörphänomen, eine Fremdheit, welche eine dem Stimmklang innewohnende Eigenschaft sei. Vgl.: Waldenfels, Bernhard: Stimme am Leitfaden des Leibes. In: Epping-Jäger, Cornelia/Linz, Erika (Hg.): Medien/Stimmen, Köln: DuMont, 2003, S. 31-34. Technische Medien können dieser genuinen Fremdheit des Stimmklangphänomens nur etwas hinzufügen. Vgl.: Sowodniok, Ulrike: Stimmklang und Freiheit: zur auditiven Wissenschaft des Körpers. Bielefeld: transcript, 2013, S. 18. Ich beziehe mich hier auf die von Giorgio Agamben Aristoteles folgend festgestellte Symmetrie von Potenz und Impotenz, die im Akt dazu führt, dass er nicht einfach nur ein Potential verwirklicht: »Wenn jede Potenz gleichermaßen Potenz-zu-sein wie Potenz-nicht-zu-sein ist, kann sich der Übergang zum Akt nur vollziehen, indem die eigentliche Potenz nicht zu sein in den Akt überführt (Aristoteles sagt ›gerettet‹) wird.« Agamben, Giorgio: Die kommende Gemeinschaft. Berlin: Merve, 2003, S. 37. Hier folge ich der Argumentation von Stephanie Bung, die im Gegensatz zu Jürg Häusermann, der den Aufführungscharakter am Grad des öffentlichen Anteils der Lesung festzumachen scheint, davon ausgeht, dass dieser Aufführungscharakter schon durch die Transposition ins stimmliche Medium allein entsteht, denn »Text und Stimme lassen sich nicht ›eins zu eins‹ aufeinander abbilden,
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ein Instrument zu betrachten, dem der Text als Partitur dient, die der Sprecher mit Hilfe der Modulation seiner Stimme interpretiert.15 In Ransmayrs Aufführung seiner eigenen Partitur als Sprecher gibt es auf der dynamischen Ebene eine nur sehr kleine Bandbreite, was wohl auch mit der Zoomtechnik der Studioaufnahme mit nahem Mikrophon zu tun hat, aber nicht nur dadurch erklärbar ist. Die Lautstärke ist unangestrengt und verbleibt im Mittelbereich, musikalisch würde man sagen: im Mezzoforte. Umso stärker variierend arbeitet Ransmayr mit dem temporalen und dem melodischen Akzent. Besonders auffallend sind dabei Dehnungen von Silben, Längungen von Zäsuren zwischen den Teilen zusammengesetzter Wörter, Überbetonungen sinntragender Silben und manchmal sogar der onomatopoietische Einsatz der Sprechmelodie, wenn er zum Beispiel die Stimme bei den Wörtern »durchschwebte« und »vorüberschweben« in einer Weise moduliert, die dieses Schweben hörbar zu machen bemüht ist. Diese sich manchmal an der Grenze zum Bemühten und Affektierten bewegende Sprechweise holt die Anfangs erläuterte Ambivalenz der Etüde, zugleich Übungsstück und Virtuosenstück, auf die Ebene der
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zumal wenn man mit Doris Kolesch davon ausgeht, dass es sich dabei um zwei verschiedene Verkörperungsformen von Sprache handelt.« Bung, Stephanie : »Lu par l’auteur«. Das Hörbuch »Claire dans la forêt« von Marie Darrieussecq. In : Böhm, Roswitha/Bung, Stephanie/Grewe, Andrea (Hg.) : Observatoire de l’extrême contemporain, Edition lendemains : BoD – Books on Demand, 2009, S. 35-54, hier : S. 44. Zur Auseinandersetzung mit Häusermann vgl. ebd., S. 37-43 und Häusermann, Jürg: Das Hörbuch zwischen öffentlicher Lesung und privater Rezeption. In: Rautenberg, Ursula (Hg.): Das Hörbuch – Stimme und Inszenierung. Wiesbaden: Harrassowitz, 2007, S. 55-74. »Betrachtet man die Sprechstimme als ein Instrument, so dient der Text als Partitur.«, meint Tilla Schnickmann mit Bezug auf das Hörbuch. Die Modulation der Stimme findet auf mehreren Ebenen statt: Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus, Pausen und Zäsuren (temporaler Akzent), Lautstärke (dynamischer Akzent), Melodie (melodischer Akzent), Artikulationsschärfe (artikulatorischer Akzent). Vgl.: Schnickmann, Tilla: Vom Sprach- zum Sprechkunstwerk. Die Stimme im Hörbuch: Literaturverlust oder Sinnlichkeitsgewinn? In: Rautenberg, Ursula (Hg.): Das Hörbuch – Stimme und Inszenierung. Wiesbaden: Harrassowitz, 2007, S. 21-54, hier: S. 32 und S. 34-38.
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Stimmlichkeit und damit der Aufführung. Der Meistererzähler ist nicht auch ein Meistersprecher, sondern hörbar ein sehr bemühter Laie. Gerade dieses nach Virtuosität heischende Sprechen macht den Grundwiderspruch des Textes, dass hier nämlich jemand eloquent in der Sprache der Luftmenschen erzählt, der in ein Wasserwesen verwandelt worden ist, besonders deutlich. Luft ist so nicht nur ein Element, nach dem sich der in einen Kalmar verwandelte Herr Blueher manchmal noch sehnt, sondern unterminiert in der Körperlichkeit und damit Luftabhängigkeit des Sprechens die Hauptrolle des Wassers. Dieses »Heimweh nach der Luft« (14) auf der Ebene der Fiktion und ihre Unverzichtbarkeit für die Aufführung des Textes korrespondieren auch mit der Ebene der Musik, die – so meine Hypothese – in diesem »Klangbuch«, wie der Verlag Mandelbaum seine Hörbücher der Reihe »Bibliothek der Töne« nennt, nicht nur eine der Narration ebenbürtige Rolle spielt, sondern zu ihrem Supplement wird. Das Verhältnis von Musik zur Narration fasse ich hier einen Vorschlag Lawrence Kramers aufgreifend als Supplement im dekonstruktiven Sinn. Was heißt das? Zunächst heißt es, dass die Narration als das Primäre betrachtet wird und die Musik als das Sekundäre. Weiters heißt es, dass der Narration etwas fehlt, was sie mit ihren eigenen Mitteln nicht zu ergänzen im Stande ist. Die Musik als Supplement übernimmt diese Aufgabe. Aber statt durch den Ausgleich des Mangels die Narration zum vollständigen Ganzen zu machen, überschreitet die Musik ihr Mandat, sie wird zum Exzess. Dadurch kommt es zur Umkehr des Verhältnisses: die als Begleitung sekundäre Musik wird zum Primären und die einst primäre Narration zur Begleitung.16
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Vgl. Kramer, Lawrence: Musical Narratology: A Theoretical Outline. In: Indiana Theory Review Bd. 12 (1991), S. 141-162. Kramer illustriert das Exzessive des Supplementcharakters der Musik gegenüber der Narration am Beispiel von Wagner, wenn er nicht ganz ohne Ironie die Frage stellt: »Why bother to follow all that stuff Wotan is saying to Erda when we can just listen to the doom-laden procession of the leitmotivs?« Ebd., 155. Der Erfolg der symphonischen Version des Rings von Lorin Maazel, des »Rings ohne Worte«, mag darüber hinaus zeigen, dass der Text tatsächlich als störend empfunden werden kann.
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Bevor ich das näher erläutere, möchte ich noch einmal zum Etüdencharakter zurückkommen, denn auch er ist in besonderer Weise in Franz Hautzingers Musik aufgehoben. Franz Hautzinger wollte eigentlich Zirkustrompeter werden,17 wurde stattdessen aber zu einem der wichtigsten Composer/Performer der Gegenwart im Bereich der freien Improvisation.18 Hörer, die mit solcher Musik noch keine Erfahrungen gemacht haben und sich nicht gerade durch besondere auditive Offenheit und Toleranz auszeichnen, neigen meist dazu, das klingende Ergebnis der Anstrengungen dieser Musiker auf mangelnde Kompetenz zurückzuführen: Der kann ja nicht Trompete spielen! Die Ironie der Geschichte will es, dass diese den Hörer selbst entlastende Vermutung in Hautzingers Fall wortwörtlich zutrifft. Als junger Student an der Grazer Musikuniversität hat er sich nämlich beim Versuch, möglichst hohe Virtuosität auf seinem Instrument zu erreichen, kaputtgeübt: Ich habe dann eineinhalb Jahre studiert, war fleißig, weil ich dachte, wer arbeitet, kommt schneller ans Ziel, und je mehr man arbeitet, desto schneller. Nur funktioniert der Mensch halt nicht so. Eineinhalb Jahre später war dann alles zu Ende. Meine Lippe war kaputt. Meine
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Vgl. Hautzinger, Franz: Das Gegenteil vom Trompeten-Tütü. Interview von Kerstin Kellermann, 23. März 2012, URL: www.kerstinkellermann. com/2012/03/franz-hautzinger-das-gegenteil-vom-trompeten-tuetue/. [abgerufen am 22.10.2020]. Bis in die erste Hälfte der 90er Jahre ist er in der Wiener Jazzszene aktiv, dann geht er in Richtung freie Improvisationsmusik. Ab 1997 spielt er auch auf der Vierteltontrompete. Die endgültige Befreiung vom Jazz findet mit seinem Viertelton-Solotrompeten-Album Gomberg statt, das im Jahr 2000 erscheint. Weitere Meilensteine sind Gomberg II »Profile« 2007 und The Neubacher Blech 2008. Neben reger Zusammenarbeit mit verschiedenen Improvisationsmusikern kommt Hautzinger auch vorübergehend unter den Einfluss des Reduktionismus von Radu Malfati und der Komponistengruppe Wandelweiser und beschäftigt sich mit arabischer Musik, was ihm zu besserem Hören von Vierteltönen verhilft. Nick Cain nennt diesen Werdegang in The Wire treffend einen »intriguing narrative arc, from jazz to improvisation to Reductionist Improv.« Cain, Nick: Franz Hautzinger: The Reluctant Reductionist. In: The Wire 293 (2008), S. 14.
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Oberlippe hatte keine Spannung mehr, sie war einfach gelähmt. Ich konnte sozusagen nicht mal mehr schlecht, nicht mal mehr gar nicht spielen. Ende. Ende von komplett allem. Ende auch der musikalischen und persönlichen Identität.19 In dieser schweren Krise wird Hautzinger dann zum Komponisten wider Willen, komponiert, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, »Bierzelt-Kommerz Musik« für den Musikantenstadel und »nebenbei avantgardistischen Jazz«.20 Daneben gibt er aber auch die Trompete nicht auf und entwickelt so völlig neue Spieltechniken, in denen das, was im konventionellen Sinn Nicht-Spielen-Können zu nennen wäre, aufgehoben ist: Das Gegenteil ist für mich interessant.« […] Dadurch kam ich zu einer Trompetentechnik, die nicht konventionell war, nicht auf Fanfare und Militär und das ganze Tütü abfuhr, sondern ich fand eine Musik, die schräg und abstrakt war. Wenn man der Trompete den Ton weg nimmt [sic!], bleibt noch eine Fülle von Geräuschen, Klängen und Möglichkeiten; ich rutschte hinein und merkte, dass ich an meinem Gegenteil arbeite. Das Gegenteil von null ist nicht null.21 Ausgangspunkt dieser Arbeit am und im Klang ist die Atmung, wohl auch, weil sie Auslöserin des Problems war: »Meine Lehrer sahen leider nicht, dass meine Atemtechnik völlig inexistent war. Drei Jahre lang spielte ich immer auf meiner Lippe. Und da ich sehr fleißig war, habe ich eben jeden Tag gespielt, bis kein Ton mehr heraus kam.«22 Auch hier also eine Art »Heimweh nach der Luft«, von daher die vielen Atmungsund Luftstromgeräusche in Hautzingers Musik. Hautzingers Leidensgeschichte und ihre Konsequenzen haben aber auch eine musikgeschichtliche Dimension. Die Erweiterung des musikalischen Materials, zu der Hautzinger durch sein erworbenes 19 20 21 22
Fraenzl, Andrea: Improvisationstalent. Franz Hautzinger, Lehrbeauftragter am Institut für Popularmusik im Interview. In: Tritonus Bd. 36 (2004), Nr. 2, S. 6. Hautzinger: 2012. Ebd. Ebd.
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körperliches Handicap gezwungen wurde, macht ihn zugleich zu einem Beiträger zu der wohl wichtigsten musikgeschichtlichen Entwicklung des langen 20. Jahrhunderts. Beginnend mit Gustav Mahler und den Komponisten der Zweiten Wiener Schule, verstärkt dann bei den Serialisten »über die französischen Spektralisten bis [… zur] Musique concrète instrumentale eines Helmut Lachenmann haben Komponisten […] das mögliche Klangmaterial von Musik scheinbar ausgereizt.«23 In dieser Situation kam Instrumentalisten, indem sie zu Improvisatoren und Instrumentenbauern24 wurden, die Aufgabe zu »ein nuanciertes Geräuschklangvokabular« zu entwickeln, »das sich ein Komponist am Schreibtisch oder auch am Computer nicht ausdenken kann«25 und auf diese Weise das Material der Musik wie auch ihren Charakter noch einmal radikal zu erweitern und zu verändern. Seither sind alle Klänge, die abstrakt sind, oder genauer gesagt, abstrakt gehört werden musikfähig. Gernot Böhme fasst dies in seiner Ästhetik der Atmosphären so zusammen: »Wir können heute sagen, dass es sich immer dann um Musik handelt, wenn es bei einem akustischen Ereignis um die akustische Atmosphäre als solche geht, d.h. um das Hören als solches, nicht
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Nauck, Gisela: Im Klang arbeiten. Innovationen in der aktuellen Im-provisationsszene. In: Auditive Perspektiven 2/1 (2012), S. 1-6. URL: https://edoc.hu-be rlin.de/bitstream/handle/18452/7527/nauck.pdf?sequence= 1& isAllowed=y [abgerufen am 23.10.2020]. Franz Hautzinger ist zwar nicht selbst zum Instrumentenbauer geworden, kaufte aber 1997 von Albrecht Huber, für den das Instrument ursprünglich gebaut worden war, eine Vierteltontrompete des Instrumentenbauers Franz Weber im bayrischen Chieming, nachdem er zufällig gehört hatte, dass Huber das Instrument nicht mehr haben wollte. Vgl. Felber, Andreas: Gombergs langer Marsch: Versuch über Franz Hautzinger und seinen kurven- und schluchtenreichen Werdegang Franz Hautzinger. URL: www.franzhautzinger.com/Downloads/FranzHautzinger_Bio_D_Full.rtf [abgerufen am 23.10.2020] und das Interview: Schindelbeck, Frank: Franz Hautzinger im Gespräch mit Frank Schin-delbeck. In: Jazz Pages, 4. 12. 2010. URL: https://jazzpages.de/franz-hautzinger-im-gespraech-mi t-frank-schindelbeck-101204 [abgerufen am 22.10. 2020]. Ebd.
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das Hören von etwas.«26 Damit fasst Böhme den Musikbegriff rein rezeptionsästhetisch und vollzieht damit den Perspektivenwechsel vom Produzenten zum Rezipienten nun auch im Feld der Musik. Trotzdem hat auch dieser Musikbegriff eine produktionsästhetische Seite, die Trompeter Axel Dörner im Interview folgendermaßen beschreibt: »Es ist abstrakt. Und Abstraktion lässt viel zu an Offenheit. Das ist ja das faszinierende daran: diese Offenheit. Sonst könnte man ja konkrete Geräusche machen, die ganz konkret an etwas erinnern. Oder etwas imitieren.«27 Diese Arbeit am und im Klang bedeutet zugleich eine Verräumlichung der Musik, die traditionell als eine Zeitkunst betrachtet wurde. Dazu noch einmal Gernot Böhme: »Was entdeckt wurde, ist, dass der einzelne Ton, das Tonensemble, aber auch die Tonfolge oder besser gesagt, die Geräuschfolge räumliche Gestalten haben, Figuren und Ensembles im Raum bilden.«28 In diesem Kontext arbeitet Franz Hautzinger mit seiner Trompete und schafft Musik, in der die traditionellen Elemente Melodie und Rhythmus weitgehend eliminiert sind und so der Klang in den Vordergrund rückt. Im vorliegenden Fall sind diese Trompetenklänge von Anfang an bis zum Ende kontinuierlich anwesend, auch wenn Ransmayr spricht. Aufnahmetechnisch wird dann die Musik leicht gedämpft und die Sprechstimme darübergelegt. Es gibt auch keine Zäsur, nicht einmal beim Wechsel von CD 1 zu CD 2, das Fade-out und Fade-in dort signalisieren Kontinuität. Hautzinger schafft also einen akustischen Raum, in Böhmes Terminologie eine Atmosphäre, vor deren Hintergrund sich Ransmayrs Stimme abhebt. Doch ist dies bei weitem nicht alles, was Hautzingers Musik leistet, denn in ihr findet nichts weniger statt als die Verwandlung der Sprache, die Ransmayrs Text nicht leisten kann. Sind nämlich ganz am Anfang
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Böhme, Gernot: Akustische Atmosphären. Ein Beitrag zur ökologischen Ästhetik. In: Klang und Wahrnehmung: Komponist – Interpret – Hörer, hg. von Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt. Mainz: Schott, 2001, S. 3848, hier: S. 46. Nauck: 2012, S. 6. Ebd., S. 42.
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noch durchaus Töne auszumachen, so dringt Hautzinger dann immer mehr ins Innere dieser Töne vor und löst sie so gleichsam von innen her auf. Alle klanglichen Ereignisse sinken immer wieder in lang andauernde und nur minimal in sich bewegte Klangflächen zurück. Oft gibt es nur minimale Veränderungen der Klangfarbe, des Geräuschanteils oder der Qualität des Geräuschanteils, nicht aber der Tonhöhe. Oder wenn schon einmal die Tonhöhe sich verändert, dann in Vierteltönen. Immer mehr treten Schwebungen auf und schließlich, sehr deutlich hörbar etwa beim Übergang von CD 1 zu CD 2, Luftstromgeräusche: wir sind mit Hilfe eines speziellen Mikrophons im Inneren der Trompete. Erst am Schluss finden wir wieder Töne, sogar eine allerdings stark repetitive Tonfolge von Quarten, doch kehrt das Stück danach wieder zu Klängen mit hohem Geräuschanteil zurück, am Schluss kein Ende, sondern ein Fade-out. Was der Text Ransmayrs nur diskursiv verhandeln, nicht aber vorführen und was auch die Stimme Ransmayrs nicht aufführen kann, das führt Hautzinger in seiner Musik auf: die Umkehrung der Evolution, die Rückverwandlung ins Wasserstoffatom und die Utopie einer Welt aller Möglichkeiten. Die Töne verwandeln sich zurück in Geräusche, von denen sie sich als Töne erst abgehoben haben, die Klänge werden unter das Mikroskop gelegt und zerlegt, neu geformt und wieder zerlegt. Auch Trompetentöne sind eine Möglichkeit, eine Möglichkeit aber unter unendlich vielen mit Hilfe der Trompete produzierten Klängen und Geräuschen. Indem Franz Hautzinger Verlust und Verwandlung der Sprache der Luftmenschen, von der in der Erzählung Christoph Ransmayrs nur die Rede ist, mit musikalischen Mitteln aufführt, wird seine Musik zum Exzess, zum Supplement der Narration und damit zum Primären. Das Wesentliche findet hier in der Musik statt, begleitet von der Stimme Ransmayrs und ihrer Narration. Musik kann also an die Stelle der Literatur treten und diese verdrängen, indem sie dem Topos Ausdrucks des Unsagbaren jenseits der Sprache gerecht wird. Vielleicht interessanter noch ist der Fall, wenn Literatur, die vor dem Paradoxon steht, dass etwas nicht literarisch fassbar und nicht mit der Sprache sagbar ist, aber dennoch ausgedrückt und
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Zwischen Atmosphäre und Narration
gesagt werden muss, und zwar in der Literatur gesagt werden muss, die Musik zu Hilfe ruft und mit Hilfe einer Strukturanalogie das Paradoxe tatsächlich zu leisten im Stande ist.
2.2
Imre Kertész: »atonale« Musik als Folie des Schreibens
Einen solchen Fall haben wir mit dem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman eines Schicksalslosen von Imre Kertész vor uns, in dem die Shoah, konkret Auschwitz, zur Sprache gebracht wird, und zwar in der Form eines Romans. Auch Kertész stand vor dem Grundparadoxon der Shoah-Literatur, das darin besteht, dass es barbarisch ist, wie man Adorno abwandelnd sagen könnte,29 nach Auschwitz einen Roman zu schreiben, der Auschwitz überlebende Schriftsteller aber einen solchen über Auschwitz schreiben muss. Zur Entwicklung einer Sprache für einen Roman über Auschwitz, d.h. zur Entwicklung einer Schreibweise, in der das genannte unauflösliche Paradoxon aufgehoben ist, hat Kertész die Musik, genauer gesagt, die »atonale« Musik zu Hilfe gerufen. Imre Kertész war weder Musikwissenschaftler noch Musiker, er war aber sowohl ein gebildeter, offener und sehr aufmerksamer Hörer nicht nur der Musik der Klassik und der Romantik, sondern auch der klassischen Moderne, insbesondere auch der sogenannten Zweiten Wiener Schule, als auch ein an Musikästhetik interessierter Laie, den seine Adorno-Lektüre wiederum auf die von Arnold Schönberg geprägte Schule hinführte und sein Verständnis von deren Musik prägte. Dieses Verständnis der freitonalen, frei-atonalen und der Zwölftonmusik und ihres Verhältnisses zur funktional-tonalen Musik des 17.-19. Jahrhunderts hat ihn Analogien sehen lassen zu ästhetischen 29
Die gewöhnlich verkürzt und somit verfälschend zitierte Diagnose Adornos erfasst, liest man den ganzen Satz im Kontext genau dieses Paradoxon. Der Satz lautet: »Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I/II, 2002, S. 11-30, hier: S. 30.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Entscheidungen, die er als Autor treffen musste, um über Auschwitz schreiben zu können. Dabei geht es um das Problem der Erzählbarkeit oder Nicht-Erzählbarkeit, der Sagbarkeit oder Nicht-Sagbarkeit von Auschwitz, welches Kertész für sich lösen musste, um seinen Roman eines Schicksallosen schreiben zu können. Die zentrale ästhetische Entscheidung, zu der Kertész sich durchringt, ist die Selbstbeschränkung auf das Sagbare. Im Galeerentagebuch schreibt er dazu: Nur das Sagbare sagen und darauf vertrauen, daß das nur aus Sagbarem bestehende fertige Werk in seiner Geschlossenheit – und seiner Wortlosigkeit – mehr über das Unsagbare sagen wird, als versuchte ich, es direkt zu fassen.30 Um dieses Ziel zu erreichen, braucht er eine rigide Struktur, die er im Eintrag vom 26. Dezember 1970 im Galeerentagebuch mit der Zwölftontechnik vergleicht: Durch die Lektüre Adornos sehe ich wieder völlig klar, daß die Technik meines Romans der Zwölfton- bzw. Reihentechnik, also einer integralen Kompositionsmethode, folgt. Sie verbietet freie Charaktere und die Möglichkeit einer freien Wendung der Erzählung. Die Charaktere sind hier thematische Motive, die innerhalb der Struktur der Totalität, welche von außen her über den Roman herrscht, auftreten; […] Der Verlauf der Erzählung ist von vornherein durch die STRUKTUR festgelegt, Wendungen wie Fluchten, anekdotische Teillösungen, beruhigende oder phantastische Elemente und »Ausnahmen« können hier also nicht in Betracht kommen.31 Die Analogie besteht hier also in erster Linie in der Rigidität der Methode, in der Strenge der Regel, die sich der Komponist in der Reihentechnik in bewusster Selbstbeschränkung auferlegt, um dem nicht mehr durch funktionale Tonalität vorgeordneten musikalischen Material eine Struktur gleichsam von außen aufzuprägen. Die Analogie reicht aber 30 31
Kertész, Imre: Galeerentagebuch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1999 [1992], S. 24. Ebd., S. 26-27.
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noch weiter, denn Kertész weiß offensichtlich, dass es sich bei der Dodekaphonie um eine Kompositionsmethode handelt, dass sie sich also an den Komponisten richtet, dem sie hilft, ein musikalisches Kunstwerk zu schaffen, dass sie aber für das Hören dieses Musikstücks nicht relevant ist. Im selben Eintrag im Galeerentagebuch heißt es abschließend: »Diese Technik ist übrigens nur dann ein Sieg, wenn sie so ›unhörbar‹ ist wie in einem dodekaphonen Musikstück.«32 In diesem Sinne kann Kertész dann einige Seiten weiter in einem mit dem Jahr 1972 datierten Eintrag über die Wirkung dieser Struktur feststellen: So wird der Akt der Rettung, strukturell gesehen, ebenso zur Absurdität wie der Akt der Gefangennahme und der Einlieferung ins KZ und ist als solcher, musikalisch gesprochen, nichts weiter als ein Krebsgang der Reihe, jedoch (bzw. also) im wesentlichen aus dem gleichen Stoff.33 Ist also das eine Element der Analogie die Strenge der Struktur, die sich der Künstler bewusst auferlegt, so ist das andere der Bruch mit der Tradition, was Kertész im Rückblick noch einmal in einer im Rahmen der Berliner Lektionen im November 2000 gehaltenen Rede deutlich macht, wenn er folgendermaßen über die Möglichkeit einer Nach-AuschwitzSprache reflektiert: Was für eine Sprache ist das? Ich habe sie, zu meinem eigenen Gebrauch, mit einem Fachwort aus der Musik als atonale Sprache bezeichnet. Sehen wir nämlich die Tonalität, die einheitliche Tonart, als eine allgemein anerkannte Konvention an, dann deklariert Atonalität die Ungültigkeit von Übereinkunft, von Tradition. Auch in der Literatur existierte einmal der Grundton, eine auf eine allgemein anerkannte Moral und Ethik gestützte Wertordnung, die das Beziehungsgeflecht von Sätzen und Gedanken bestimmte.34
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Ebd., S. 28. Ebd., S. 31. Kertész, Imre: Die exilierte Sprache. In: ders.: Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 206-221, hier: S. 212.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Hier spricht der an seiner Adorno-Lektüre geschulte Hörer, aus dessen Perspektive im Verhältnis von musikalischer, tonaler Tradition und Atonalität ein ähnlicher Bruch erkennbar wird wie im Verhältnis von Vor-Auschwitz-Sprache und Nach-Auschwitz-Sprache. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass aus der Perspektive der Schöpfer der atonalen Musik und der Zwölftontechnik nicht Antwort auf die Ungültigkeit der Wertordnung sein sollte, sondern im Gegenteil, der Versuch diese Wertordnung aufrechtzuerhalten und für die Zukunft festzuschreiben. Arnold Schönberg selbst definiert sich noch 1931 nicht nur als deutscher Komponist, sondern stellt in seinem Essay mit dem Titel Nationale Musik eine Parallele her zwischen dem musikgeschichtlichen Wendepunkt, den das Werk von Johann Sebastian Bach für die deutsche Musikgeschichte bedeutet habe, und seiner eigenen Erfindung der Zwölftontechnik, der er die Aufgabe zuschreibt, die Überlegenheit der deutschen Kultur und insbesondere der deutschen Musik zwar nicht für die nächsten 1000, aber doch für die nächsten 100 Jahre zu garantieren.35 Freilich können auch in der Musik Intention des Komponisten und Werk nicht gleichgesetzt werden. Es geht hier nicht darum, Schönberg, der eben auch noch recht lange dem deutschnationalen Geist der Zeit verhaftet war, in irgendeiner Weise zu diskreditieren, oder die Tragfähigkeit der Analogie zu unterminieren, mit der Kertész arbeitet, sondern vielmehr darum, aufzuzeigen, dass der musikästhetische Vermittler zwischen dieser Musik der Zweiten Wiener Schule und ihrem Hörer Kertész, nämlich Adorno, diese Nationale Musik vor Auschwitz bereits mit der Musik nach Auschwitz in Verbindung gebracht hat, und zwar in affirmativer Weise, d.h. als eine Art Musik nach Auschwitz bereits vor Auschwitz. Diese Umdeutung beginnt nicht bei Schönberg, sondern schon bei Gustav Mahler, dessen 9. Symphonie Adorno bekanntlich als das erste Werk der Neuen Musik bezeichnet hat. In seiner Monografie zum Werk Mahlers schreibt Adorno 1960 nicht zu letzterer, sondern zur 6. Symphonie: 35
Vgl. Schönberg, Arnold: Stil und Gedanke: Aufsätze zur Musik, hg. v. Ivan Vojtěch, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1976, S. 250-254.
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Identifiziert Mahlers Musik sich mit der Masse, so fürchtet sie diese zugleich. Die Extreme ihres kollektiven Zuges, etwa im ersten Satz der Sechsten Symphonie, sind jene Augenblicke, wo der blinde und gewalttätige Marsch der vielen dazwischen fährt: Augenblicke des Zertrampelns. Daß der Jude Mahler den Faschismus um Dezennien vorauswitterte wie Kafka im Stück über die Synagoge […].36 Diese Lesart des die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts vorwegnehmenden Kunstwerks bzw. des Künstlers als Seismograph der Entwicklungen seiner Gesellschaft popularisierte im Falle Mahlers nach Auschwitz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Leonard Bernstein in einem Essay in dem seine bei CBS erschienene Gesamtaufnahme der Symphonien Mahlers begleitenden Beiheft und in zahlreichen Interviews. Qua prophetischer Kraft wird die Musik Mahlers und in der Folge auch die der Schönbergs und der Zweiten Wiener Schule zur Musik nach Auschwitz. Als solche bietet sie sich Imre Kertész als Analogie für die gesuchte Sprache nach Auschwitz geradezu an. Es ist sicherlich kein Zufall, dass wie im obigen Zitat Adorno auch Kertész in der schon zitierten Rede zur exilierten Sprache ebenfalls auf Kafka verweist: Ich schreibe gern auf Ungarisch, denn so empfinde ich die Unmöglichkeit des Schreibens besser. Das ist übrigens ein Wort Kafkas, der, als er in einem Brief an Max Brod die Situation des jüdischen Schriftstellers analysiert, von drei Unmöglichkeiten spricht: »der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit anders zu schreiben«. Und dann sagt er: »Fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben.« Heute würde er vielleicht noch hinzusetzen: die Unmöglichkeit, über den Holocaust zu schreiben.37
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Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik. In: ders.: Die musikalischen Monographien. Gesammelte Schriften. Bd. 13, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= stw 1713), 2003, S. 149-319, hier S. 183. Kertész: 2004, S. 217-218.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Erst durch diese Lesart Adornos, in der die Sprache nach Auschwitz bei Kafka bereits angelegt oder gar vorweggenommen zu sein scheint und in Analogie dazu auch in der Musik der Zweiten Wiener Schule eine Kompositionstechnik und eine Entwicklung des musikalischen Materials erscheine, die den Holocaust ebenfalls vorausahnen habe lassen, wird die Analogie zwischen atonaler Musik und atonalem Roman bei Kertész verständlich und zugleich legitimiert. Eine weitere Legitimation der Analogie ist also gar nicht mehr nötig. Trotzdem ist es interessant, sich die Frage des Verhältnisses zur ungültig gewordenen Tradition in beiden Fällen an den jeweiligen Werken genauer anzusehen, da hierbei erstaunliche Parallelen zutage treten, welche die Tragfähigkeit der Analogie weiter untermauern können. Im Folgenden möchte ich daher diese Parallelen am Beispiel des Romans eines Schicksallosen auf der einen Seite und der Drei Orchesterstücke op. 6 von Alban Berg auf der anderen erläutern. Das Verhältnis zur Tradition, von dem hier die Rede sein wird, ist nicht einfach ein Bruch mit ihr, nicht ein Hinter-sich-Lassen der Tradition und ein Neuanfang, denn das ist unmöglich. Eine Stunde null gibt es weder in der Literatur noch in der Musik. Brechen kann man in beiden Künsten mit der Tradition nur, indem man sich auf sie bezieht, sonst würde man ja nicht mit dieser Tradition brechen, sondern sich in eine Art Niemandsland begeben. Intertextualität ist folglich notwendige Voraussetzung für einen Bruch mit der Tradition. In beiden Beispielen handelt es sich um die Art der Intertextualität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich der Text bzw. die Musik als Hypertext auf einen früheren Text bzw. eine frühere Musik als Hypotext bezieht. Im Fall des Romans eines Schicksallosen ist bekanntlich nicht nur ein solcher Hypotext annehmbar, sondern das Spektrum reicht von Goethes Bildungsroman Wilhelm Meister, den etwa Péter Szirák als den zentralen Hypotext betrachtet38 , doch auch eine Reihe anderer Gattungen sind genannt wor-
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Vgl.: Szirák, Péter: Kertész Imre. Bratislava: Kalligram, 2003, S. 24-29.
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den wie die Reiseerzählung39 , Tagebuch und pikaresker Roman40 und sogar der Schulaufsatz41 . Louise O. Vasvári hat weitreichende Parallelen zwischen dem Anfang und dem Ende sowie den Protagonisten des Romans eines Schicksallosen und Albert Camus‹ L’Etranger gefunden.42 Mein Beispiel hier soll aber eine der am häufigsten erwähnen intertextuellen Anspielungen im Roman eines Schicksallosen sein, nämlich die auf Dantes Divina Commedia. Nach seiner Rückkehr nach Budapest trifft Köves Gyuri auf einen wohlmeinenden Journalisten, der ihn nach seinen Erfahrungen im Konzentrationslager fragt und schließlich die Frage nach der »Hölle« stellt: »Haben wir uns denn«, fragte er, »das Konzentrationslager nicht als die Hölle vorzustellen?«, und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht.43
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Vgl.: Keck, Annette: Merkwürdiges Warten. Imre Kertész‹ Beitrag zu einer Poetik des Wartens zwischen Erinnern und Vergessen im Roman eines Schicksalslosen. In: Günter, Manuela (Hg.): Überleben schreiben: zur Autobiographik der Shoah. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, S. 139-154, hier: S. 143. Vgl.: Butzer, Günter: Topographie und Topik. Zur Beziehung von Narration und Argumentation in der autobiographischen Holocaust-Literatur. In: ebd., S. 5175, hier: S. 60. Vgl.: Horváth, Csaba: A prózailag rendezett valóság történetei (Kertész Imre: Sorstalanság, Závada Pál: A fényképész utókora). In: Kovács, Árpád (Hg.): Regények, Médiumok, Kultúrák. Budapest: Argumentum, 2010, S. 443-450, hier: S. 449. Vasvári, Louise O.: The Novelness of Imre Kertész’s Sorstalanság (Fatelessness). In: Vasvári, Louise O.: The Novelness of Imre Kertész’s Sorstalanság (Fatelessness). In: Tötösy de Zepetnek, Steven/Vasvári Louise O. (Hg.): Imre Kertész and Holocaust Literature. West Lafayette, IN: Purdue University Press, 2005, S. 258270, hier: S. 261-262. Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1998 [1975], S. 272.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Thomas Meyer hat darauf hingewiesen, dass das Spiel der Anspielungen, das sich mit der Anspielung auf Dantes Hölle entfalten könnte, nicht stattfindet und bezeichnet den Roman in diesem Sinn als »aliterarisch«, da der Roman ein geschlossener Kosmos der Negation sei, ohne Bezüge nach außen.44 Doch ist eben in der Negation der Bezug nach außen, der Bezug auf den Hypotext sehr wohl vorhanden. Das kulturelle Konzept des Konzentrationslagers als Hölle gerade auch mit Bezug auf Dantes Konzept der Hölle, das der Protagonist an der zitierten Stelle für sich zurückweist und das ihm unbekannt ist, ist dem Leser und auch dem Autor Kertész sehr wohl bekannt und zwar aus seinem ambivalenten Gebrauch in Primo Levis Se questo è un uomo. Günter Butzer hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass die erzählte Geschichte im Wesenlichen in beiden Texten identisch ist: Sammellager, Deportation, Ankunft in Auschwitz, Initiation, Beschreibung der Lagerstrukturen, Überleben in der Krankenbaracke. Durch groteske Ironie und radikale Beschränkung der Perspektive distanziere sich Kertész Text aber von dem Levis.45 Damit handelt es sich also um eine spezielle Form der Intertextualität, in der sich der Hypertext vom Hypotext distanziert. Ganz ähnlich kann man das intertextuelle Verhältnis von Alban Bergs Drei Orchesterstücken op. 6, insbesondere des dritten mit dem Titel Marsch, zu Gustav Mahlers 6. Symphonie beschreiben. Eigentlich gibt es einen dominierenden musikalischen Charakter, der beiden Werken als Hypotext zugrunde liegt, nämlich der des Militärarsches. Dieser als Militärmarsch traditionell in einer Dur-Tonart stehende, das Erreichen des Ziels und Sieg verheißende musikalische Charakter wird bereits von Mahler bis zu einem gewissen Grad in Distanz gerückt, indem er ihn erstens von Dur nach Moll überführt und zweitens in einem Maß ins Gigantische ausdehnt, das Federico Celestini davon sprechen lässt,
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Vgl.: Meyer, Thomas: Bemerkungen zu Imre Kertész‹ Projekt der ›Schicksalslosigkeit‹. In: Günter: 2002, S. 97-120, hier: S. 112. Vgl.: Butzer: 2002, S. 60.
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dass ein einziger Militärmarsch die gesamte Symphonie dominiere.46 Das Fortschreiten dieses gigantischen Marsches wird schon im ersten Satz der Symphonie immer wieder von Ruheinseln durchbrochen, die noch »Glück am Rande der Katastrophe«47 verheißen. Im Finale wiederum wird der Steigerungsaufbau wiederholt von plötzlichen Einbrüchen gestoppt, sie symbolisch in den in Mahlers Entwürfen noch fünf, dann drei und schließlich in der Endfassung der Symphonie zwei sogenannten Hammerschlägen kulminieren. Dieser Marsch der sechsten Symphonie führt also immer schon in den Untergang, oder wie Theodor W. Adorno es ausgedrückt hat: »Ohne Vernunft und selbsterhaltende Kontrolle sich genießend und verschwendend tragen die Elevationen im Finale der Sechsten Symphonie teleologisch den Untergang in sich.«48 Der Charakter des Marsches ist also offensichtlich bereits bei Mahler alles Triumphalen beraubt, diese Destruktion des Marschcharakters funktioniert aber gerade durch die Bezugnahme auf das Fortschreitende, zum Sieg Drängende des traditionellen Marschcharakters. In Theodor W. Adornos Lesart deutet die Musik Mahlers auf diese Weise bereits auf die erst kommende historische Katastrophe voraus, wie aus der oben bereits zitierten Stelle über die Sechste Symphonie hervorgeht.49 Berg nun bezieht sich nicht nur durch die Verwendung des Charakters und die Entscheidung, einen atonalen Marsch zu schreiben sowohl auf den Militärmarsch als auch auf Mahlers Marsch und distanziert sich dadurch von beiden, sondern zitiert Mahler auch in Form der Hammerschläge, deren zwei in der Endfassung der Symphonie Mahlers erklingen: der erste in Takt 336 und der zweite in Takt 479, der dritte am Schluss der Symphonie wurde jedoch von Mahler gestrichen. Berg jedoch lässt den Hammer fünfmal fallen, wie es ursprünglich auch von Mahler geplant war, ein Plan, den Mahler allerdings verworfen hat. Im
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Vgl.: Celestini, Federico: Die Unordnung der Dinge: das musikalische Groteske in der Wiener Moderne (1885 – 1914). Stuttgart: Steiner, 2006, S. 100. Adorno: Mahler, 2003, S. 218. Ebd. Vgl. Fußnote 69.
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Marsch fallen zunächst drei Hammerschläge unmittelbar hintereinander in Takt 126 (Abbildung 1). Die drei unmittelbar aufeinander folgenden Hammerschläge sind dynamisch stark differenziert. Diese Abnahme der Stärke der Hammerschläge von fff über f bis zu p kann man lesen als eine Nachbildung der Mahlerschen Hammerschläge, die weit über eine bloße Übernahme der ursprünglich 3 Hammerschläge des Finales der 6. Symphonie hinausgeht. Der Hammerschlag in Takt 336 und der in Takt 479 des Finales der Symphonie Mahlers unterscheiden sich nämlich in ihrer Stärke. Während der erste im fff steht, finden wir beim zweiten nur nochff. Den dritten Hammerschlag hat dann Mahler sozusagen dynamisch maximal reduziert, indem er ihn gestrichen hat.
Abbildung 1: Alban Berg: Drei Orchesterstücke op. 6, Marsch, Takt 126.
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Bei Berg nun ist nicht nur die Abnahme der Stärke des Schlages von ersten zum zweiten nachgebildet, sondern tendenziell auch das Verschwinden des dritten. Dieser dritte Hammerschlag soll nämlich im p erklingen, während zugleich die dynamische Zurücknahme der Großen Trommel und des Tremolos der Pauken erst auf dem Weg von vom ff zum f sind. Dies lässt den dritten Hammerschlag tendenziell unhörbar werden, jedenfalls aber je nach akustischen Verhältnissen schwer bis überhaupt nicht unterscheidbar. Berg hat also hier auf engstem Raum nicht nur die drei Hammerschläge in Mahlers 6. Symphonie nachgebildet, sondern virtuell auch die Streichung des dritten. Wenig später fällt in Takt 142 der vierte und der fünfte erklingt schließlich ganz am Schluss des Stückes. Berg zitiert nicht nur die ursprüngliche, von Mahler verworfene Zahl von Hammerschlägen, sondern er bringt den vierten Hammerschlag (Abbildung 2) auch noch in Zusammenhang mit Mahlers sogenanntem »Katastrophenrhythmus« aus seiner Neunten Symphonie in Takt 120ff. (Abbildung 3).
Abbildung 2: Alban Berg: Drei Orchesterstücke op.6, Marsch, Takte 142f.
Dadurch erscheint nicht nur der fünfte Hammerschlag am Ende des Marsches, anders als bei Mahler, motiviert gleichsam als Besiegelung der Katastrophe. Der in Takt 142 von den Pauken gespielte »Katastrophenrhythmus« (Abbildung 2) weist auch Ähnlichkeit mit dem Paukenmotiv am Ende von Mahlers 6. Symphonie (Abbildung 4) auf. Im 2. Takt des Paukenmotivs Mahlers findet sich das Modell für die drei Hammerschläge in Takt 126 des Marsches. Auch hier schon die drei Achtelnoten, durch je eine Achtelpause getrennt, auch hier schon die dynamische Diminuierung.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Abbildung 3: Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9, Takte 120ff.: „Katastrophenrhythmus“.
Abbildung 4: Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6, Finale, Schlusstakte
Die vielfältigen Bezüge zu Mahlers Symphonik und insbesondere zu dessen vom Marsch geprägten 6. Symphonie in Bergs Marsch, auf die ich hier hingewiesen habe, ergeben insgesamt das Bild, dass es sich bei dieser Form der musikalischen Intertextualität zugleich um eine Hommage an den von Berg über alles geschätzten Mahler, als auch um eine Distanzierung von ihm und zugleich um eine noch weiter gehende Distanzierung vom traditionellen Marschcharakter handelt. Eine gewisse Distanzierung gegenüber dem Vorbild Mahler entsteht nicht zuletzt auch dadurch, dass die Hammerschläge nun im atonalen Kontext stehen und daher nicht mehr als geräuschhafte Einbrüche des Realen in das Imaginäre des Marsches sind, sondern integrale Teile der atonalen Klang- und Geräuschwelt.50 Das optimistische Versprechen des Mili50
Dass es sich insgesamt in den Drei Orchesterstücken op. 6 tatsächlich intendiert nicht nur um eine Klangwelt im traditionellen musikalischen Sinn, sondern auch um eine Geräuschwelt handelt, das macht Berg gleich mit dem ersten der drei Stücke, Präludium, deutlich, das sich langsam aus der Stille und geräuschhaften, rein perkussiven Klängen erhebt und dann wieder in diese und
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tärmarsches wird also nicht mehr wie bei Mahler getrübt und schließlich in die Katastrophe geführt, sondern die Katastrophe ist schon von Anfang an da.51 Es zeigt sich somit, dass die Art und Weise wie Berg sich von dem in Adornos Lesart die Katastrophe bereits prophezeienden Mahler und der bei diesem noch wirksamen musikalischen Sprache des traditionellen Marsches musikalisch distanziert, eine strukturelle Ähnlichkeit aufweist mit der Art und Weise wie Kertész sich von Levi, der Auschwitz mit dem kulturellen Konzept der Hölle, also in der Sprache vor Auschwitz zu fassen versuchte, literarisch distanziert. Die Analogie zwischen atonaler Musik und atonalem Roman, die Kertész für seine literarische Auseinandersetzung mit dem Überleben von Auschwitz in seinem Roman eines Schicksalslosen ins Treffen führt, ist offensichtlich mehr als nur eine Metapher. Sie beruht auf einer strukturellen Parallele der Distanzierung von der traditionellen musikalischen Sprache des 19. Jahrhunderts bei Alban Berg und der von der traditionellen literarischen Spra-
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schließlich die Stille zurücksinkt. Der perkussive Klang von Mahlers »Großem Hammer« im dritten Stück fügt sich in diesem Sinn in die bereits am Anfang etablierte Geräuschwelt ein. Zur Problematik des »Hammerinstruments« bei Berg vgl.: Katschthaler, Karl: Mahlers »großer Hammer« als Instrument und Symbol bei Alban Berg und Wolfgang Rihm. In: ders. (Hg.): Gustav Mahler – Arnold Schönberg und die Wiener Moderne, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2013, S. 91-104. Sie ist dies auch in Bezug auf die Form, genauer gesagt auf die für die Symphonie konstitutive Sonatenform. Die These des Berg-Spezialisten Derek Jarman, dass in Hintergrund der Formgestaltung des Marsches bei Berg immer noch die Sonatenform stünde, ist zwar mehrfach bestritten worden, doch lässt sich, bedenkt man die zahlreichen Bezüge auf die Sechste Symphonie von Mahler, der Hypotext dieser Symphonie und damit auch der Sonatenform nicht wegdiskutieren. Vgl. zu dieser Diskussion: Jarman, Douglas: The Music of Alban Berg. Faber: London, 1979, S. 177. DeVoto, Mark: Alban Bergs Drei Orchesterstücke op. 6: Struktur, Thematik und ihr Verhältnis zu Wozzeck. In: Grasberger, Franz/Stephan, Rudolf (Hg.): Alban Berg Symposion Wien 1980: Tagungsbericht, Alban Berg Studien, Bd. 2. Wien: Universal Edition, S. 97-107. Puffett, Derrick: Berg, Mahler and the Three Orchestral Pieces Op. 6. In: Pople, Anthony (Hg.): The Cambridge Companion to Berg, Cambridge University Press: Cambridge, 1997, S. 111144 und Katschthaler: 2013, S. 96ff.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
che vor Auschwitz bei Imre Kertész. Die Erneuerung der musikalischen Sprache wird zum Vorbild für die Erneuerung der literarischen. Nicht nur der Schriftsteller ist in der zweiten Hälfte es 20. Jahrhunderts ein Künstler nach Auschwitz, sondern auch der Komponist. Noch einmal könnte man Adornos Diagnose der Situation nach Auschwitz modifizieren und sagen, auch das Schreiben eines Streichquartetts ist barbarisch geworden. In dieser paradoxen Lage befindet sich der Komponist Luigi Nono, wenn er sein erstes Streichquartett schreibt.
2.3
Luigi Nono und das Verstummen Hölderlins
Fragmente – Stille, An Diotima ist der Titel des einzigen Streichquartetts des venezianischen Komponisten Luigi Nono. Bereits der Titel verweist auf die Fragmentierung des geschlossenen Kunstwerks und auf das Verstummen, als seien nach Auschwitz nur noch Fragmente eines Streichquartetts möglich, die sich am Rande des Verstummens, der Stille bewegen. Uraufgeführt 1980 beim Internationalen Beethovenfest in Bonn vom Auftrag gebenden LaSalle Quartett. Über die Aufführung dieses Werks in Ungarn beim Festival Földvári Napok im Jahr 2004 durch das Pellegrini Quartett schrieb der Kritiker der Musikzeitschrift Muzsika in einem einzigen Satz nur, dass sie durch Lärm von Lastwägen und laut zugeschlagenen Autotüren gestört worden sei.52 Über eine Aufführung des wohl berühmtesten stillen Stücks Musik des 20. Jahrhunderts, John Cages 4’33”, unter den gleichen Umständen, hätte der Kritiker wohl kaum von der Störung durch von außen kommende Geräusche sprechen können, denn die Sensibilisierung der Perzeption für zufällig auftretende Umweltgeräusche und Klänge gehört gerade zur Intention
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Molnár, Szabolcs: Nyári intenzív. Földvári Napok, 2004, in: Muzsika 47/8 (2004), S. 18: »Másnap a Pellegrini Vonósnégyes koncertjének második részét – ezen Luigi Nono nagyszabású (közel negyven perces) műve, a Fragmente – Stille, An Diotima hangzott el – tették tönkre sietős kamionok és zajosan becsapódó gépkocsiajtók.«
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von Cages Stück. Im Fall von Nonos Streichquartett bedeutet Stille offensichtlich etwas anderes, nicht einen Zustand der Ent-Spannung, in dem dann der Zufall die Musik macht, sondern im Gegenteil: die verdichtete Spannung der Pause. Luigi Nono erläutert dazu selbst: Bei Cage kommt die Pause von einem asiatischen Denken – ›Leeres‹ und ›Volles‹. Für mich dagegen ist das Schweigen – die musikalische Pause – vielmehr wirklich intensiv: man lebt dort gerade wie in einem Kreuzpunkt: dort schweigt man, man sieht, man muss wach sein nach allen Richtungen.53 Nicht nur diese Auffassung der Pause als Spannung verbindet Nono mit György Kurtág, der sein Stück für Klavier und Rezitatorin Samuel Beckett: Mi is a szó. Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval, op. 30a ganz auf diesem Prinzip der spannungsgeladenen Pause aufgebaut hat, sondern auch der Titel Fragmente und der von diesem signalisierte Umgang mit dem Text. Für sein Stück für Sopran und Violine Kafka-Fragmente, op. 24 verwendet Kurtág Texte aus den Oktavheften Kafkas. Dabei bezieht sich der Titel Fragmente nicht allgemein auf den fragmentarischen Charakter dieser Texte Kafkas, sondern vor allem darauf, dass Kurtág diese zusätzlich fragmentiert. Der Umfang der herausgeschnittenen Textbruchstücke reicht dabei von 4 Sätzen bis zu einem einzigen Wort. Insgesamt 40 dieser Bruchstücke vertont Kurtág und stellt sie zunächst durch die Datumsangaben am Ende jedes Stückes in die chronologische Reihenfolge des Kompositionsprozesses. Die voll und ganz autorisierte Reihung der Stücke in der Partitur dagegen stammt nicht vom Autor, sondern von seinem Schüler und Freund András Wilheim. Diese Offenheit der Form, die Verweigerung gegenüber der Großform in einem Werk, das immerhin eine Länge von ca. einer Stunde hat, findet sich erklärtermaßen auch beim Luigi Nono der Fragmente:
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Luigi Nono im Gespräch, zitiert in: Kropfinger, Klaus: … kein Anfang – kein Ende …: Aus Gesprächen mit Luigi Nono. In: Musica 42 (1988), S. 165-171.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Für mich sind die verschiedenen Konflikte wie sie sich in musikalischen Episoden, auch in fragmentarischen Abschnitten in der Musik niederschlagen, entscheidender. Ein Material von vielen Seiten darzustellen, ihm neue Qualitäten abzugewinnen, ist mir heute wichtiger als geschlossene Formen zu komponieren. Um ein Beispiel aus der Geschichte zu wählen: Schumann eher als Brahms.54 Auch diese historische Bezugnahme auf Schumann in Bezug auf den Fragmentcharakter findet sich in den Kafka-Fragmenten Kurtágs wieder. Ihre Ansiedlung zwischen zwei Polen, zwischen Fragmentierung und Zyklusbildung, zwischen Herausbrechen und Zusammenfügen, dessen Ergebnis aber durch Instabilität gekennzeichnet ist, stellt sie in eine historische Entwicklung zum Fragmentarischen, die mit Schumanns Liederzyklen und Carnaval beginnt.55 Doch auch Schaffensbiographisches verbindet die beiden Komponisten: Nonos Streichquartett entstand nach einer dreijährigen Schaffenskrise und wird oft als Bruch mit seiner vorher präferierten Ästhetik politischen Engagements betrachtet. Auch Kurtágs Streichquartett ist nach einer Lebens- und Schaffenskrise des Autors entstanden und trägt eben deshalb die Opuszahl 1. Schließlich haben beide Komponisten ihre gegenseitige Wertschätzung jeweils in Hommagen an den anderen auch musikalisch geäußert.56 Sogar die Texte, auf die sich Nono anfänglich in seine Skizzen zu seinem Streichquartett bezieht, sind eben jene Oktavhefte und Tagebücher Kafkas, aus denen Kurtág seine Fragmente herausgebrochen
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Luigi Nono, zitiert in: Spangemacher, Friedrich: Arbeitsgespräch mit Luigi Nono, Sept. 1980, Manuskript. Vgl. dazu ausführlich: Katschthaler, Karl: Latente Theatralität und Offenheit. Zum Verhältnis von Text, Musik und Szene in Werken von Alban Berg, Franz Schubert und György Kurtág. Framkfurt a.M.: Peter Lang, 2012, S. 114-123. Kurtág, György: Omaggio a Luigi Nono op. 16 für gemischten Chor a cappella nach Texten von Anna Achmatova und Rimma Dalos (1979). Nono, Luigi: Omaggio a György Kurtág per contralto, flauto, clarinetto, basso tuba e live electronics (1983-86).
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Zwischen Atmosphäre und Narration
hat.57 Auch wenn schließlich in der Partitur Nonos keine Texte Kafkas vorkommen, sondern sie durch Hölderlin-Fragmente sozusagen ersetzt worden sind, bleibt der Bezug zu Kafka dennoch und gerade über diese Hölderlin-Fragmente erhalten. In einem Brief an das LaSalle Quartett setzt nämlich Nono hinter den Hinweis auf die »Interiorität« dieser Fragmente in Klammern den Namen »Kafka«.58 Doch auch an Hölderlin interessiert Nono in erster Linie das Fragmentarische: Seit einigen Jahren beschäftige ich mich mit dem Werk Hölderlins, wobei mich vor allem die in der kritischen Gesamtausgabe dokumentierten Varianten interessieren. Ersetzt Hölderlin Worte, Phrasen oder auch nur die Vokalfärbungen durch neue, so zeigt sich der Text plötzlich in einem anderen Licht; wo Rhythmus, Farbe und Semantik sich ändern, ergeben sich aus der ursprünglichen Fassung mehrere mit jeweils eigenen Qualitäten. Mich fasziniert Hölderlin gerade unter diesem, wenn man so will, eher technischen Gesichtspunkt.59 Dieses Fragmentarische, das er bereits in der Variantendarstellung der kritischen Ausgabe von Hölderlins Werken findet, verstärkt Nono noch, indem er aus verschiedenen Gedichten Bruchstücke von einer Länge von einem bis neun Wörtern, die meist kürzer als ein Vers sind, herausbricht. In der Partitur sind es dann tatsächlich diese 53 Fragmente, welche die musikalischen Abschnitte des Streichquartetts markieren, und nicht die 52 in völlig regelmäßigen Abständen verteilten Partiturziffern, die offensichtlich auch hier nicht mehr mit der musikalischen Struktur zu tun haben als in anderen Partituren.60 57
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Vgl. dazu: Kirchert, Kay-Uwe: Wahrnehmung und Fragmentierung: Luigi Nonos Kompositionen zwischen »Al gran sole carico d’amore« und »Prometeo«. Saarbrücken: Pfau, 2006, S. 193-194. Brief mit der Katalognummer 44.32/08 im Archivio Luigi Nono, zitiert in: ebd., S. 195. Luigi Nono zitiert in: Spangemacher: 1980. Wolf Frobenius hat darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der Analytiker des Quartetts unreflektiert die Gliederung durch die Partiturziffern für die musikalische Gliederung nimmt. Er verweist dagegen auf die musikalischen Analogi-
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Anders als Kurtág die Kafka-Fragmente hat aber Nono diese Hölderlin-Fragmente nicht vertont. Sie stehen in der Partitur in einer Form, als wären sie Spielanweisungen für die Instrumentalisten. Sollten sie das tatsächlich sein, dann sind sie aber sicherlich auch mehr als das. Sonst hätte Nono sie wohl nicht am Anfang seiner Partitur mit der Angabe, aus welchem Vers welchen Gedichts Hölderlins sie jeweils entnommen sind, aufgelistet, so dass sich, liest man sie der Reihe nach, fast ein neues Gedicht ergibt. Ein Gedicht mit Lücken allerdings, denn vor und hinter jedem Zitat stehen konsequent immer drei Punkte. Aber diese Punkte verweisen nicht nur auf das Fragmentarische, sondern ebenso auf Sinnzusammenhänge, nicht auf jene, denen sie entrissen worden sind, darauf verweisen die Angaben zu Vers und Gedicht, sondern auf potenzielle neue, von der fragmentierenden Lektüre des Komponisten gestiftete. Im zweiten Teil der Partitur hat Nono selbst durch verschiedene Symbole, die nicht unmittelbar aufeinander folgende Fragmente miteinander verbinden, insgesamt vier Bezugsreihen hergestellt. Die erste besteht aus den Großbuchstaben A – B – C – D – E – F und verbindet die folgenden Textfragmente: A 27 …eine Welt…/jeder von Euch… B 29 …wie gerne würd ich… C 31 …unter euch wohnen… D 32 …Ihr Herrlichen!… E 34 …den Raum… F 35 …in freiem Bunde… In diesem Fall verbindet Nono die Zitate aus dem Gedicht »Die Eichbäume« miteinander und schafft so eine Art fragmentarische neue Strophe,
en, die bei Zitatwiederholungen auftreten und Nonos Markierung von Strängen im 2. Teil des Werks. Vgl.: Frobenius, Wolf: Luigi Nonos Streichquartett »Fragmente – Stille, An Diotima«. In: Archiv für Musikwissenschaft 54/3 (1997), S. 177-193, hier: S. 183.
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indem er die aus verschiedensten Verszeilen des Gedichts entnommenen Teile neu zusammensetzt. Dass es ihm dabei nicht nur darum geht, die gemeinsame Herkunft dieser Fragmente zu markieren, zeigt sich darin, dass er dies nicht immer nur mit Fragmenten aus ein und demselben Gedicht tut. Die Reihe 1 – 2 – 3 – 4 verbindet Zitate aus drei verschiedenen Gedichten. Nono wollte mit diesen Markierungen also nicht so sehr auf den ursprünglichen Hölderlinschen Zusammenhang, sondern vielmehr auf neue Zusammenhänge hinweisen. Ermutigt durch diese Hinweise Nonos im zweiten Teil, kann man zunächst die oft angesprochene mögliche Zweiteilung des Werks, die bei Partiturziffer 26 den zweiten Teil beginnen lässt und die sich auch in der musikalischen Textur hören lässt, in weitere Abschnitte untergliedern: Der erste Abschnitt des ersten Teils (1 – 9) wird geprägt durch das Wortfeld geheim – selig – tief – fern. Der zweite Abschnitt (10 – 17) spricht von Stille und Ruhe. Mit Nummer 18 folgt das zentrale Fragment in der Funktion der Spiegelachse, wie Hermann Spree in seiner musikalischen Formanalyse des Quartetts festgestellt hat61 . Sein Text lautet: »…hoffend und duldend…«. Mit Nummer 19 beginnt mit »…heraus in Luft und Licht…« der erste Abschnitt des zweiten Teils, den man bis Nummer 26 ansetzen kann. Im Folgenden gliedern dann die erwähnten Markierungen Nonos den zweiten Teil in vier sich zum Teil überschneidende Abschnitte, denen ein letzter ab Nummer 47 folgt. Darüber hinaus werden aber auch fragmentarische Kreisstrukturen sichtbar, die sich gegen Ende, sich dabei sukzessive auf den Anfang zurückbeziehend, häufen: 47 …wenn in der Ferne… 8 …wenn aus der Ferne… 51 …zum Äther hinauf … 9 …aus dem Äther… 52 …im Grunde des Meeres… 4 …wenn aus der Tiefe… 61
Vgl. Spree, Hermann: Fragmente-Stille, An Diotima: ein analytischer Versuch zu Luigi Nonos Streichquartett. Saarbrücken: Pfau, 2004, S. 88.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
53 …An…Neckars friedlichschönen Ufern…eine stille Freude mir…wieder… 1 …geheimere Welt… Eine zweite strukturelle Auffälligkeit sind sowohl im ersten als auch im zweiten Teil refrainartige Wiederholungen, die auch ihre musikalische Entsprechung finden, wie Wolf Frobenius festgestellt hat.62 Im ersten Teil geht es hier auf der Ebene der Hölderlinfragmente um einen Teil von Vers 81 aus der mittleren Fassung des Gedichts »Diotima«, der wiederholt wird in Kombination mit dem ihm folgenden Vers aus demselben Gedicht und Zitaten aus zwei anderen: Diotima, mittlere Fassung, Vers 81 und 82: Habe, wenn in reicher Stille, Wenn in einem Blick und Laut Fragmente – Stille, An Diotima, Partiturziffern 18-20:
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Im zweiten Teil kommt in der Refrainpassage noch eine weitere Zitatebene hinzu, denn das insgesamt fünfmal wiederholte Hölderlinfragment »…das weißt aber du nicht…« (28, 30, 33, 44, 46) verbindet sich mit der Spielanweisung »Mit innigster Empfindung«, die bekanntlich von
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Vgl. Frobenius: 1997, S. 183.
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Beethoven stammt.63 Allerdings taucht diese Bezugnahme auf Beethoven nicht mit diesem Hölderlinfragment zusammen zum ersten Mal auf, sondern findet sich bereits ganz am Anfang des zweiten Teils mit Fragment Nummer 19: »…heraus in Luft und Licht…«, womit indirekt der zweite Teil klar in Zusammenhang mit der Freiheitshoffnung der Gefangenen in »Fidelio« gestellt wird. Dieser utopischen Hoffnung wird das in diesem Kontext fast brutal wirkende »…das weißt aber du nicht…« litaneiartig gegenübergestellt. Brutal schon deswegen, weil es eines der ganz wenigen Fragmente ist, in denen das Verb nicht ausgespart ist oder nur als Partizip aufscheint. Damit stellt gerade dieses am häufigsten wiederholte Fragment ein Abweichen von der utopischen Sprache der Gewaltlosigkeit dar, die Nonos Freund, der Philosoph Massimo Cacciari Robert Musil zuschreibt als eine Sprache, die ohne das Verb »sein« auskommt.64 Derrida zitierend, entwirft Cacciari davon ausgehend die Utopie einer Sprache ohne Verben: »Since the verb to be and the predicating act are implied in every other verb and every common noun, non-violent language would be, at most, a language of pure invocation, of pure adoration. It would utter only proper nouns to invoke the other from far away.« […]This language is the most extreme utopia conceivable. It is the last dimension of the reality’s participation in utopian nature. […] This language would be, in reality, a form of listening, as happens for Kierkegaard in true prayer, in which pure attention to conversation with God is freed from any seduction, from any pretense, and from any question, and stands in pure listening.65 Der Kontrapunkt der Zitate mit finiten Verben reicht bis fast zum Schluss des Quartetts, die letzten drei Fragmente kehren dann aber
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Die Spielanweisung findet sich im letzten Satz des späten Streichquartetts in a-moll, op. 132, der überschrieben ist mit den Worten: »Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit, in der lydischen Tonart«. Cacciari, Massimo: Posthumous People: Vienna at the Turning Point. Stanford, CA: Stanford University Press, 1996, S. 206. Ebd.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
wieder zurück zur Verblosigkeit des Anfangs, ein weiteres Indiz für die Kreisstruktur von Anfang und Ende. Für das Publikum bleibt das Beethoven-Zitat unhörbar, nicht nur, weil es sich um das Zitat einer Spielanweisung handelt, die nur für die Musiker sichtbar und lesbar ist, sondern auch deswegen, weil Nono seine Ausführung durch die musikalische Textur, auf deren Ausführung es sich richtet, extrem erschwert: extreme Doppelgriffe mit Vierteltontrübungen und Lagenwechsel machen die Intonation an diesen Stellen mit den Worten von Walter Levin, dem ersten Geiger des uraufführenden LaSalle Quartetts, »zum halsbrecherischen Wagnis«66 . Ein Vibrato, auf das Beethovens Anweisung wohl zielt, sei also rein technisch hier unvorstellbar. Dazu kommt noch die der Aufforderung »mit innigster Empfindung« geradezu widersprechende Anweisung »Sotto voce« (wörtlich: »unter der Stimme«, also »stimmlos). Nono deutet also Beethovens Anweisung, die er in der Partitur zitiert, um und gibt ihr einen neuen, paradoxen Sinn, der auf ihre Unhörbarkeit zielt. (Vgl. Abbildung 5) Im genau gleichen Sinn unhörbar, aber nicht stumm sind die Hölderlinfragmente in der Partitur, über die es in deren Vorwort auch wieder mit einem eingebauten Hölderlin-Zitat heißt, sie »sollen in keinem Falle während der Aufführung vorgetragen werden«, aber: Die Ausführenden mögen sie »singen« ganz nach ihrem Selbstverständnis, nach dem Selbstverständnis von Klängen, die auf »die zartesten Töne des innersten Lebens« hinstreben.67 Diese Worte sollen also auf paradoxe Weise zugleich verschwiegen und gesungen werden, indem sie von den Musikern zu inneren Singstimmen verinnerlicht werden. Sie stehen somit in Verbindung mit der Ebene, die Martin Zenck als Grundebene des Quartetts identifiziert hat, wenn er von der »Stille als durchgehender Ebene« spricht, »die durch
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Walter Levin im Rahmen eines Symposions an der Universität Witten/Herdecke im Jahr 2001, zit.n. Allwardt, Ingrid: Die Stimme der Diotima: Friedrich Hölderlin und Luigi Nono. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2004, S. 53. Nono, Luigi: Fragmente – Stille, An Diotima per quartetto d’archi (1979-1980). Mailand: Ricordi, 1980 (133049).
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Abbildung 5: Luigi Nono: Fragmente – Stille, An Diotima, Partiturziffern 33, 34.
© Casa Ricordi, Milano – by kind permission.
Klangereignisse durchbrochen wird.«68 Dies verortet Nonos Werk aber nicht nur innerhalb oder am Ende des »Paradigmenwechsels vom Klang zur Stille«, den Zenck in seinem Aufsatz historisch nachzeichnet. In dieser Perspektive dehnt Nono die Geste des Dal-niente-Schlusses, des Verstummens, das in der Wiener Moderne, vor allem bei Gustav Mahler und Alban Berg,69 eine Lösung des Finalproblems war, zum Prinzip seines ganzen Quartetts aus, das so ständig verstummt und weder Anfang noch Schluss hat. Beim Hörer stellt sich dadurch das Gefühl eines
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Zenck, Martin: Dal niente – vom Verlöschen der Musik. Zum Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille in der Musik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. In: MusikTexte: Zeitschrift für Neue Musik 55 (1994), S. 15-21, hier: S. 21. Man denke etwa an den Schluss von Mahlers neunter Symphonie und an den von Bergs Streichquartett Lyrische Suite.
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
Stillstehens der Zeit ein, das Nono im Vorwort zur Partitur in Bezug auf die durch ein breites Spektrum verschieden langer Fermaten markierten Pausen »die Stille des zeitlosen Singens« nennt. In Massimo Cacciaris Perspektive macht genau dieses Verstummen den kairologischen Rang der Musik aus. Der »Klang … der dazu aufruft … das Schweigen zu hören«70 , lässt erst die Zeit wahr werden. Die Zeit ohne kairos nämlich sei chronos phagos und als solcher auch autophagos, sie fresse sich selbst. Gegen die »Zerstörungswut der Zeit« setzt er die »Idee des Augenblicks«71 als einer diesseitigen Utopie der Erlösung: Doch damit Zeit sei, damit die Vorstellung einer Zeit, die nicht zum Tode verurteilt, zum Tode geboren ist, überhaupt faßbar wird, muß die Konzeption aufgegeben werden, die aus der Zeit den absoluten Herrscher gemacht hat. Wenn das Seiende wie Nichts ist, wenn jedes Ding nur »Nahrung« der Zeit ist, dann kann die Zeit nur sterben. Wenn jedoch das Seiende eine eigene Zeit hat, wenn eine Zeit dieses Seienden, dieser endlichen Kreatur denkbar ist, dann kann Zeit sich nicht auf die Bewegung der unerbittlichen Degradation, auf das progressive Erlöschen jeder Energie, auf den irreversiblen »Tod der Sonne« reduzieren. […] Die Zeit der reinen Konsumierung verschlingt sich selbst. Wenn sich die Möglichkeit der Rekreation im Leben nicht ergibt, dann läßt sich auch »Wiederauferstehung« (»Apokatastasis«), ein »Nachher« nicht denken. […] Jede religiöse Idee der Auferstehung verkommt zur machtlosen Tröstung über die irreversible Sterblichkeit des Seienden, wenn sie nicht die Möglichkeit dieses ek-tropischen Augenblicks im Leben der Seienden selbst aufzeigen kann. Wenn keine Form der Rekreation »hienieden« aufweisbar oder vorstellbar ist, dann ist jedes Ding, und die Zeit jedes Dinges, nur flüchtige Erscheinung, Wahnsinn, auf dessen Ende angstvoll zu warten wäre.72
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Cacciari, Massimo: Zeit ohne Kronos: Essays. Klagenfurt: Ritter, 1986, S. 9. Ebd., S. 11 Cacciari, Massimo: Der Tod der Zeit. In: Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.): Die Sterbende Zeit: zwanzig Diagnosen. Darmstadt: Luchterhand, 1987, S. 1322, hier: S. 19-20. [Hervorhebungen im Original].
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Erst im Rahmen dieser Zeit-, Erlösungs- und Utopiekonzeption Cacciaris werden Nonos Worte über das innerliche Singen der Hölderlinfragmente im Vorwort der Partitur voll verständlich, wo er diese HölderlinZitate beschreibt als: vielfältige Augenblicke, Gedanken, Stillen, »Gesänge« aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln, um auf andere Weise die Möglichkeit wiederzuentdecken, nicht »der Hoffnung Lebewohl zu sagen«73 Stille als Schweigen und Raum des Hörens erweist sich bei Nono letztlich als Festhalten am Utopischen. In dieser Hinsicht ist sein Streichquartett also kein Bruch, sondern im Gegenteil, eher eine Brücke von den politisch-utopisch ausgerichteten Werken vor der dreijährigen Krise zu seinem Spätwerk der komponierten Stille, einer Stille, die sein Schüler Helmut Lachenmann treffend so charakterisiert: The silence into which Nono’s late works lead us is a fortissimo of agitated perception. It is not the sort of silence in which human searching comes to rest, but rather one in which it is recharged with strength and the sort of restlessness which sharpens our senses and makes us impatient with the contradictions of reality. It is a silence which does not make one passive and subservient, but rather activates one’s longing, sharpens the perceptions beyond what can be heard, vis-à-vis our own human destiny, and makes one long for that clarity in the face of which people understand their sacrifice and to which Nono’s Il canto sospeso is a monument.74 Mit dem Hinweis auf Il canto sospeso, die Kantate, in der Nono 1956 Abschiedsbriefe zum Tode Verurteilte Widerstandskämpfer in einer seriellen Komposition vertonte, stellt auch Lachenmann die Verbindung zwischen den zur Stille tendierenden späten Werken Nonos mit seinen
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Zitiert nach der Übersetzung aus dem Italienischen von Wolf Frobenius, die viel besser ist als die in der Partitur zu findende: Frobenius: 1997, S. 181. Lachenmann, Helmut: Touched by Nono. In: Contemporary Music Review 18/1 (1999), S. 17-30, hier: S. 27. [Hervorhebungen im Original].
2. Hören – Lesen: zum Verhältnis von Literatur und Musik
frühen, politisch engagierten her. Still sind auch die literarischen Texte Hölderlins, Texte vor Auschwitz also, die Nono in ihrer Fragmentarität aber als Texte nach Auschwitz liest, in seiner Komposition. Indem die Texte zwar sichtbar sind für die Musiker, aber nicht hörbar sind für das Publikum, bringt Nono sie zum Schweigen. Zugleich aber wirft er auch die Frage ihrer Vertonung auf, gerade indem er sie eben nicht in gewohnter Weise vertont, sondern ihr Eingehen in die Musik bzw. ihre Transformation in Musik und ihre Hörbarkeit in dieser Transformation offenlässt. Ob Hölderlins fragmentarische Texte in der Stille der musikalischen Fragmente Nonos zu hören sind, bleibt fraglich.
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3. Verstummen: Stille und Schweigen
Im Zusammenhang mit der Stille im Spätwerk von Luigi Nono wurde bereits auf die andersartige Stille bei John Cage hingewiesen. Diese Stille soll nun mit dem in Zusammenhang mit Ransmayrs Rezitation kurz angesprochenen Potentialitätskonzept von Giorgio Agamben in Beziehung gesetzt werden, um seine Besonderheit herauszuarbeiten. Aristoteles lesend und interpretierend unterscheidet der Philosoph Giorgio Agamben zwei symmetrische Formen von Potenz, nämlich die Potenz etwas zu sein und die Potenz etwas nicht zu sein oder Impotenz. Im ersteren Fall ist das Objekt der Potenz ein bestimmter Akt und im Akt zu sein bedeutet in diesem Fall einen Übergang zu einer bestimmten Aktivität. Im zweiten Fall ist dagegen das Objekt der Potenz die Potenz selbst. Auf Grund der Symmetrie der beiden Arten von Potenz kann im Akt nie nur die Potenz-zu-sein wirksam sein, sondern muss auch die Potenz-nicht-zu-sein mittransportiert oder gerettet werden. Potenz ist also immer zugleich Potenz und Impotenz: Jede Potenz etwas zu sein oder etwas zu tun, ist für Aristoteles […] immer auch die Potenz nicht zu sein oder nicht zu tun […], wenn das nicht so wäre, würde die Potenz immer schon in den Akt übergehen und sich mit ihm vermischen […]. Diese ›Potenz des Nicht‹ ist das große
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Geheimnis der aristotelischen Lehre über die Potenz, die aus jedem Vermögen aus diesem selbst heraus ein Unvermögen macht.1 Aristoteles illustriert diese Symmetrie der beiden Potenzen mit dem Beispiel des Harfenspielers, der gleichermaßen die Potenz zu spielen und die Potenz nicht zu spielen hat. Agamben transformiert den antiken Harfenisten in einen modernen Pianisten und erläutert dann sein Beispiel folgendermaßen: Das bedeutet, dass, auch wenn zu jedem Pianisten notwendigerweise die Potenz zu spielen und die nicht zu spielen gehört, Glenn Gould gleichwohl der einzige ist, der es vermag, nicht nicht zu spielen und, indem er seine Potenz nicht ausschließlich auf den Akt, sondern auch auf seine Impotenz richtet, gleichsam mit seiner Potenz nicht zu spielen spielt. Gegenüber der Fähigkeit, die ihre Potenz nicht zu spielen einfach leugnet und ohne Bedenken aufgibt, bewahrt und übt Meisterschaft im Akt nicht das Vermögen zu spielen […], sondern die Potenz nicht zu spielen.2 Lesen wir diese Stelle nur oberflächlich, so kommen wir leicht zum Schluss, dass der virtuose Pianist sein Können zur Schau stelle, während der wahre Meistermusiker nicht so sehr von seiner Potenz zu spielen Gebrauch mache, sondern im Akt des Spielens die Virtualität, die Potenz nicht zu spielen bewahre.3 Schauen wir genauer hin, dann offenbart die zitierte Stelle unbeantwortete Fragen, von denen die wohl
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Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz. Berlin: Merve, 1998, S. 13. Agamben: 2003, S. 38. Diese stark vereinfachende Lesart vertreten etwa Emmanuel Alloa und Alice Lagaay in ihrer Einleitung zum von ihnen herausgegebenen Sammelband Nicht(s) sagen: Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, 2008, S. 7-24, hier: S. 19. Sie wird nicht unbedingt glaubwürdiger, wenn Alloa und Lagaay in der Fußnote zur entsprechenden Stelle (Fußnote 33) von »Aristoteles‘‹ Pianisten« sprechen, den Agamben mit Glenn Gould in Zusammenhang bringen würde.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
frappierndste lautet: Warum sagt Agamben, Glenn Gould sei der einzige Pianist, der seine Potenz nicht nur auf den Akt des Spielens richte, sondern auch auf seine eigene Impotenz? Warum ausgerechnet Glenn Gould? Ist es deswegen, weil Glenn Gould praktisch die gesamte Literatur, die er gespielt hat, auf deutlich andere Weise gespielt hat sowohl als seine historischen Vorgänger als auch als seine zeitgenössischen Konkurrenten auf dem Markt der Klaviervirtuosen? Wäre also in diesem Sinne eine besondere Aufmerksamkeit auf die Rettung der eigenen Impotenz in der Aktualisierung seiner Potenz zu Spielen das Geheimnis seiner Einzigartigkeit? Könnte man genau das aber nicht auch über viele andere Pianisten sagen? Oder ist Glenn Gould deswegen der einzige, weil er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt vom öffentlichen Auftreten zurückgezogen hat und in diesem Sinne seine Potenz nicht zu spielen aktualisiert habe? Doch auch in dieser Hinsicht ist er historisch betrachtet nicht der einzige. Ohne weiter der wohl unbeantwortbaren Frage nachzugehen, warum Agamben Glenn Gould den einzigen nennt, möchte ich auf einen weiteren Aspekt hinweisen, der wiederum nicht ausschließlich, aber vielleicht in besonderem Maße Glenn Gould als einen Meister der Aktualisierung seiner Potenz nicht zu Spielen im Akt des Spielens ausweist. Im Kommunikationsprozess des Musizierens kann der Betrachter Goulds Potenz nicht zu spielen in einigen seiner unkonventionellen, das Klavierspiel begleitenden, korporalen Gesten erkennen. François Delalande hat in seiner Analyse von Goulds Spieltechnik anhand der von Bruno Monsaingeon gefilmten Aufführungen drei verschiedene Arten von Gesten unterschieden: tatsächlich Klang produzierende Gesten, die er »geste effecteur« nennt, visuell wahrnehmbare Gesten, die nicht unmittelbar an der Klangproduktion beteiligt sind und die er als »geste accompagnateur« bezeichnet, und schließlich »geste figuré«, Gesten, die zwar durch den produzierten Klang wahrgenommen werden können, die aber keine unmittelbare Korrespondenz in der körperlichen
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Bewegung des Pianisten haben.4 Im Fall von bestimmten begleitenden Gesten, nämlich Goulds Bewegungen mit der linken Hand, während er nur mit der rechten Hand Klavier spielt, deutet Delalande die Bewegungen der beiden Hände als von verschiedenen Orientierungen motiviert. Während die Bewegungen der rechten Hand auf die Klangproduktion gerichtet sind, verkörpern die der linken Hand das Lesen des Notentextes.5 Wir können daher sagen, dass diese Gesten die Produktion des Klangobjekts nicht nur begleiten, sondern auch Goulds Potenz nicht zu spielen, den Notentext stumm zu lesen und dieses Lesen in Gesten zu verkörpern, die keinen Klang produzieren, für den Betrachter erfahrbar machen. Analog dazu kann auch Goulds berüchtigtes Summen und Singen während des Klavierspiels statt als Ablenkung von diesem als Gesten wahrgenommen werden, die ein Klangobjekt erzeugen, das zwar in Beziehung zum Lesen des Notentexts steht, aber nicht unmittelbar in Beziehung mit den effektiven Gesten, die unmittelbar auf das Klavierspiel gerichtet sind und das hörbare Klangobjekt erzeugen. Bezugnehmend auf die Korporalität des Musizierens, auf »the physicality of music making itself (the sight of the body’s labors to produce sound«, lenkt Richard Leppert die Aufmerksamkeit auf die Wirkung, welche die während einer musikalischen Aufführung produzierten korporalen Gesten auf die musikalische Erfahrung sowohl des Ausführenden als auch des Beobachters ausüben: Precisely because musical sound is abstract, intangible, and ethereal – lost as soon as it is gained – the visual experience of its production is crucial to both musicians and audience alike for locating and communicating the place of music and musical sound within society and culture. […] Music, despite its phenomenological sonoric ethereality, is an embodied practice, like dance and theater.6 (1995: xxf.) 4
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Vgl. : Delalande, Françoise : La gestique de Gould : éléments pour une sémiologie du geste musical. In: Guertin, Ghyslaine (Hg.): Glenn Gould pluriel. Québec: Louise Courteau, 1988, S. 85-111, hier: S. 92. Vgl. ebd. Leppert, Richard: The Sight of Sound: Music, Representation, and the History of the Body. Berkeley, CA: University of California Press, 1995, S. xxf.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
Auf dem Feld des Theaters hat Erika Fischer-Lichte beobachtet, dass die Kunst des Schauspiels im Zuge der Entstehung des literarischen Theaters im 18. Jahrhundert insbesondere in Hinblick auf die Funktion des Körpers des Schauspielers neu konzipiert werden musste. Um als perfektes Medium die Bedeutungen physisch ausdrücken zu können, die der Autor des Dramas mit seinem Text transportieren wollte, musste der Schauspieler seinen Leib und seine Leiblichkeit vergessen machen: Die Bedeutungen, die der Dichter im Text zum Ausdruck gebracht hatte, sollten im Leib des Schauspielers einen neuen sinnlich wahrnehmbaren Zeichen-Körper finden, in dem alles ausgelöscht bzw. zum Verschwinden gebracht war, was nicht der Übermittlung dieser Bedeutung diente, was sie affizieren, verfälschen, beschmutzen, kontaminieren oder in sonst einer Weise beeinträchtigen könnte.7 Der Schauspieler hatte also seinen phänomenalen, sinnlichen Leib in einen semiotischen Körper zu verwandeln und damit einen Prozess der Entkörperlichung durchlaufen. Dieses Konzept des Schauspielens ist nach Fischer-Lichte dadurch gekennzeichnet, dass Verkörperung Entkörperlichung voraussetzt. Sie lokalisiert es somit im Bereich des kartesianischen Geist-LeibDualismus. In der Theaterpraxis aber lassen sich phänomenaler Leib des Schauspielers und semiotischer Körper nie ganz voneinander trennen, der semiotische Körper bleibt in der Wahrnehmung immer vom sinnlichen Leib kontaminiert. In der zeitgenössischen Theaterpraxis verschiebt sich daher nach Fischer-Lichte der Fokus auf das Moment der Destabilisierung der Wahrnehmung, die zwischen dem phänomenalen, sinnlichen Leib und dem semiotischen Körper hin und her wechselt. In diesem Theater sind Aufführungen entstanden, die den Körper nicht als vollständig form- und beherrschbares Material voraussetzen, sondern konsequent von der Doppelung von Leib-Sein und Körper-Haben, von phänomenalem Leib und semiotischem
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Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 136.
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Körper ausgehen. Verwendungen des Körpers finden im leiblichen In-der-Welt-Sein der Schauspieler/Performer ihr Fundament und ihre Begründung. Damit eröffnen sie die Möglichkeit für eine Wiedereinführung des Begriffs der Verkörperung, allerdings in einer vollständigen und radikalen Neudefinition.8 Im Modus der Präsenz wird es für den Schauspieler/Performer sogar möglich, »seinen phänomenalen Leib als einen energetischen hervorzubringen und damit die Zuschauer zu animieren, sich selbst als energetischen Leib zu empfinden.«9 Betrachtet man nun musikalische Performance als eine Praxis des Embodiment, dann erkennt man, dass sie über lange Zeit hinweg ebenfalls eine Art Verkörperung als Entkörperlichung gewesen ist. Vom professionellen Musiker wurde erwartet, dass er das Instrument zu einem Teil seines Körpers integriert. Sein derart erweiterter phänomenaler Leib hatte ein perfektes Medium des Ausdrucks der musikalischen Bedeutungen zu sein, die der Komponist in seinen »Text«, den Notentext, hineingelegt hatte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben aber einige Komponisten selbst die Aufmerksamkeit auf den phänomenologischen Leib des Musikers und seine Präsenz in der Aufführung gelenkt. Ich denke hier an das instrumentelle Theater Mauricio Kagels und Dieter Schnebels Körperkompositionen, um nur zwei Beispiele zu nennen.10 8 9 10
Ebd., S. 139. Ebd., S. 170. Aber sogar ein Komponist wie György Kurtág, der immer wieder seine Ablehnung von Körpergesten geäußert hat, da er sie als Ablenkung von der Musik selbst empfand, hat sein selbstauferlegtes Verbot theatraler Mittel mit seinen Kafka-Fragmenten gebrochen. Diese sind nämlich charakterisiert durch eine latent Theatralität, die gerade von in den Notentext komponierten Körpergesten, die bis zur Proxemik reichen, hervorgebracht wird. Vgl. dazu Katschthaler: 2012, S. 84-107. Zu Kagels und Schnebels auf das Visuelle, das Theatrale und das Korporale fokussierende Werk siehe unter anderem: Schnebel, Dieter: Mauricio Kagel: Musik, Theater, Film. Köln: DuMont Schauberg, 1970; Nauck, Gisela: Dieter Schnebel: Lesegänge durch Leben und Werk. Mainz: Schott, 2001; Jarzina, Asja: Gestische Musik und musikalische Gesten: Dieter Schnebels Visible
3. Verstummen: Stille und Schweigen
3.1
John Cages 4’33”: Verstummen und Rahmung
John Cages stilles Stück 4’33” drängt sich zunächst nicht als Beispiel für Musikmachen als inkorporierte Praxis auf. Sieht man sich aber einige Aufführungen des Stücks an, insbesondere die durch David Tudor und durch Cage selbst, stellt man fest, dass die Leiblichkeit des Ausführenden dabei eine spezifische Rolle spielt und die Frage nach der Präsenz des phänomenalen Leibes des Ausführenden sich sehr wohl stellt. Zuerst soll die Aufmerksamkeit auf David Tudors Gesten bei der Uraufführung von Cages stillem Stück 1952 in Woodstock gerichtet werden. Wie allgemein bekannt, fand die Uraufführung von 4’33” im Rahmen eines Konzerts mit zeitgenössischer Klaviermusik statt. Im ersten Teil dieses Konzerts in der Maverick Concert Hall in Woodstock erklangen kurze, experimentelle Klavierstücke von Cage, Morton Feldman, Earl Brown und Christian Wolff. Unmittelbar vor Cages stillem Stück brachte Tudor die serialistische erste Sonate für Klavier von Pierre Boulez, der damals in den USA noch ein recht unbekannter Komponist war, zur Aufführung. Durch diese Programmierung einer serialistischen Sonate, die in der europäischen Tradition der musikalischen Avantgarde steht, unmittelbar vor 4’33” wurde der größtmögliche Überraschungseffekt erzielt. Das Konzert wurde mit The Banshee von Henry Cowell geschlossen, einem Stück also, das ohne die Verwendung der Tastatur des Klaviers aufzuführen ist. Der Pianist hat sich in den Korpus des Klaviers zu beugen und dort das Klangobjekt zu erzeugen, indem er die Saiten mit den Händen bearbeitet. Obwohl es sich bei Cages stillem Stück um die Summe von zufallsgenerierten Stillen handelt, wurde die Programmierung des Stücks an der vorletzten Stelle im Konzert nicht durch Zufallsoperationen bestimmt, sondern geht auf David Tudors Überlegungen und
Music: Analyse musikalischer Ausdrucksgesten am Beispiel von Abfälle I,2., für einen Dirigenten und einen Instrumentalisten, und Nostalgie, Solo für einen Dirigenten. Berlin: Weidler, 2005; Salzman, Eric/Desi, Thomas: The New Music Theater: Seeing the Voice, Hearing the Body. Oxford/New York, NY: OUP, 2008 und Rebstock, Matthias/Roesner, David: Composed Theatre Aesthetics, Practices, Processes. Bristol: Intellect, 2012.
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sogar Experimente mit der Anordnung der Stücke zurück,11 war also die bewusste und wohlüberlegte Entscheidung des ausführenden Pianisten. In Bezug auf Körpergesten des Ausführenden sind die signifikanten Unterschiede zwischen diesen in Tudors Solokonzert nacheinander aufgeführten Stücken offensichtlich. Im Fall der Sonate von Boulez hat der Pianist, insbesondere durch die sich ständig verändernde Dynamik und den großen Tonumfang des Stückes, eine große Menge von effektiven Gesten auf die Tastatur des Klaviers zu richten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die serialistische Sonate von Boulez somit nicht von einer virtuosen Sonate des 19. Jahrhunderts, in der das Können des Pianisten effektvoll ausgestellt wird. Bei der Aufführung des Stücks von Cowell dagegen werden effektive Gesten auf unkonventionelle Art und Weise eingesetzt, weil sie nicht auf die Tastatur des Klaviers zu richten sind, sondern direkt auf die Saiten im Korpus des Instruments, was eine völlig veränderte Körperhaltung des Pianisten zur Folge hat. Anstatt vor der Tastatur des Klaviers zu sitzen, steht er neben dem Instrument und beugt sich in dessen Korpus hinein, sodass seine effektiven Gesten dem Publikum zumindest teilweise verborgen bleiben. Der Pianist hat Bewegungen auszuführen, die er als Pianist nicht trainiert hat und die ungewohnt für ihn sind, das heißt, es werden Anforderungen an ihn gestellt, die mit großer Wahrscheinlichkeit seine eigene leibliche Wahrnehmung und sein physisches Wohlbefinden beeinflussen. Die daraus resultierende Anspannung des Ausführenden kann sich durchaus auf das Publikum der Aufführung übertragen. In einer Aufführung von Cages stillem Stück sind Körpergesten notwendigerweise stark reduziert, da ja keine effektiven Gesten vorgese-
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Vgl. Holzaepfel, John: Cage and Tudor. In: Nicholls, David (Hg.): The Cambridge Companion to John Cage. Cambridge/New York, NY: Cambridge University Press, 2002, S. 169-185, hier: S. 104. Auch Tudors Rolle im Entstehungsprozess von 4'33'' darf nicht unterschätzt werden. So war etwa er es, der Cage davon überzeugte, das Stück abzuschließen und tatsächlich zur Aufführung zu bringen. Cage hatte nämlich Zweifel, ob ein solches stilles Stück als seriöses musikalisches Werk betrachtet werden könne.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
hen sind und in »the act of silencing the performer«,12 wie es Douglas Kahn ausgedrückt hat, der Pianist sozusagen zum Schweigen gebracht, also inaktiviert wird. Dieser Akt der Inaktivierung des Pianisten hat die Forschung dazu verleitet, die Bedeutung der leiblichen Präsenz und der Gesten des Ausführenden zu unterschätzen, sie manchmal geradezu zu ignorieren. Petra Maria Meyer erwähnt nur die Geste des Öffnens und Schließens des Tastaturdeckels, die jeweils Anfang und Ende der drei Sätze des Stückes signalisiert. Sie zieht daraus die Schlussfolgerung, dass diese Aktion des Pianisten ihn zu einem Schauspieler mache, der seine gewohnte Rolle nur spielt, um aus ihr herauszutreten. Das Publikum richte seine Aufmerksamkeit daher nicht mehr auf das Podium, sondern beginne aktiv die Geräusche im Konzertsaal zu hören.13 Kattrin Deufert geht in ihrer Dissertation über Cages Theater der Präsenz sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie behauptet, dass das Publikum einer Aufführung von Cages stillem Stück seine Aufmerksamkeit nicht auf den Ausführenden richte, da dieser mit der offensichtlichen Geste des Nicht-Spielens nur den zeitlichen Beginn des Stückes markiere. Sie ist ebenfalls davon überzeugt, dass das Publikum stattdessen auf die Umweltgeräusche achten werde.14 Diese Lektüre von Cages Komposition und ihrer Aufführung als das bloße Setzen eins Zeitrahmens15 kann bis zu einem Vortrag zurückverfolgt werden, den der deutsche Komponist Jakob Ullmann auf dem Festival zu Ehren von John Cage aus dem Anlass seines achtzigsten Geburtstags 1992 in Frankfurt gehalten hat. In diesem Vortrag stellt Ullmann fest, dass jede Konstellation zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort als eine Aufführung von Cages stillem Stück betrachtet 12 13
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Kahn, Douglas: John Cage: Silence and Silencing. In: The Musical Quarterly 81/4 (1997), S. 556-598, hier: S. 560. Vgl. Meyer, Petra Maria: Als das Theater aus dem Rahmen fiel. In: FischerLichte, Erika/Kreuder, Friedemann/Pflug, Isabel (Hg.): Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Tübingen: Francke, 1998, S. 135-195, hier: S. 140f. Vgl. Deufert, Kattrin: John Cages Theater der Präsenz. Norderstedt: Books on Demand, 2001, S. 50. Vgl. Meyer: 1998, S. 143.
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werden kann, sofern es jemanden gibt, der auf die zufällig auftretenden Umweltgeräusche hört.16 Michael Rebhahn argumentiert dagegen, dass der Hörer in diesem Fall zwar die Methode von John Cage verwende, nicht aber sein Stück aufgeführt werde, da kein Aufführungsrahmen geschaffen würde. Die Rahmung der Aufführung bestehe nämlich nicht nur aus einem Zeitrahmen, sondern benötige auch einen spezifischen Raum und die spezifische Erwartungshaltung des Publikums, das eine musikalische Aufführung erwartet. Daraus zieht Rebhahn den Schluss, dass eine Aufführung von 4’33” nur in einer konventionellen Konzertsituation funktionieren könne,17 was uns zurückführt zur Uraufführung des Stückes durch David Tudor. Die kontroverse Frage, ob 4’33” einer konventionellen Konzertsituation bedarf, ist nicht einfach zu entscheiden, wenn wir in Betracht ziehen, dass es sich bei diesem Stück um einen Komplex aus verschiedenen Partituren18 und Aufführungen handelt, die sich, nur Aufführun16
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Ullmann, Jakob: Im Bergwerk des Geistes. In: Schädler, Stefan/Zimmermann, Walter (Hg.): John Cage: Anarchic Harmony. Ein Buch der Frankfurter Feste ´92/Alte Oper Frankfurt; ein Festival zum 80. Geburtstag. Mainz: Schott, 1992, S. 105-107, hier: S. 107. Vgl. Rebhahn, Michael: »We must arrange everything«: Erfahrung, Rahmung und Spiel bei John Cage. Saarbrücken: Pfau, 2012, S. 77f. Nach Thomas E. Maier sind drei verschiedene Versionen der Partitur zu unterscheiden: 1. Die verlorengegangene Partitur mit Notensystemen, die David Tudor bei der Uraufführung 1952 in Woodstock verwendete. 2. Die unveröffentlichte graphische Partitur von 1952/53, die Cage Irwin Kremen zum Geburtstag geschenkt hat, und 3. die veröffentlichte Textpartitur »Tacet« aus dem Jahr 1960, die in revidierter Form 1986 wiederveröffentlicht wurde. Vgl. dazu: Maier, Thomas E.: Ausdruck der Zeit: Ein Weg zu John Cages stillem Stück 4'33''. Saarbrücken: Pfau, 2001, S. 150-154. Keine Kenntnis hat Maier von der unveröffentlichten Partitur, die Cage 1986 für seine eigene Aufführung des Stückes in Köln angefertigt und mit der Widmung: »For Wulf Herzogenrath with friendship silently.« ins Gästebuch des Organisators der Veranstaltung geklebt hat. Es handelt sich dabei um eine kaligraphische Version der Textpartitur, welche die von Cage für mit Hilfe von Zufallsoperationen für seine Aufführung determinierten Dauern der Sätze des Stücks enthält. Vgl. Arns, Inke/Saavedra-Lara, Fabian: Sounds like Silence: Introduction. In: dies. (Hg.): John Cage: 4'33'' – Sounds Like Silence: Silence Today. Leipzig: Spector Books, 2012, S. 15-22, hier: S. 15.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
gen durch David Tudor und John Cage selbst in Betracht zeihend, über einen beträchtlichen Zeitraum von der Uraufführung 1953 bis zur letzten Aufführung durch John Cage selbst im Jahr 1986 erstrecken.19 Thomas E. Maier zitiert die Aussage Cages aus dem Jahr 1966, wonach er das Stück nicht mehr benötige, da man nicht mehr in der Kategorie der Dreisätzigkeit zu denken brauche. Doch schon 1954 habe Cage davon gesprochen, dass er sich das Stück allein im Wald anzuhören pflege. In seinen Norton Lectures an der Harvard Universität Ende der 1980er Jahre schließlich stellte Cage über das Hören von 4’33” fest: »[…] you do it either in ordinary circumstances or in extraordinary circumstances, it works very well.«20 Wenn wir aber in Betracht ziehen, auf welche Weise David Tudor das Stück mehrmals aufgeführt hat, so müssen wir Michael Rebhahn zustimmen, dass die konventionelle Konzertsituation für diese Aufführungen signifikant ist. In dieser Rahmung werden aber auch der phänomenale Leib des Pianisten und seine Gesten relevant. William Fetterman hat Davis Tudors Aufführung eine spezielle gestische Qualität zugeschrieben.21 Das Öffnen und Schließen des Tastaturdeckels ist dabei nur ein Element eines gestischen Repertoires, ein Element, das bereits vorher in einigen Stücken Cages aufgetaucht ist, darunter auch in Water Music, einem Stück, das im ersten Teil des Solokonzerts von David Tudor in Woodstock gespielt wurde.22 Zum Repertoire der Gesten von David Tudors Aufführung von 4’33” gehören weiterhin das Platznehmen auf dem Sessel vor dem Klavier, das Starten der Stoppuhr, das Blicken auf die Stoppuhr, das Stoppen der Stoppuhr
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David Tudor Uraufführung von 4'33'' fand am 29. August 1952 in der Maverick Concert Hall in Woodstock statt. Cage selbst führte das Stück 1973 auf dem Harvard Square in Cambridge, Massachusetts und im selben Jahr an mehreren verschiedenen Schauplätzen in New York City auf. Seine letzte Aufführung des Stückes fand im Rahmen einer Kunstausstellung in Köln am 31. August 1986 statt. Zit. n. Maier: 2001, S. 167f. Vgl. Fetterman, William: John Cage’s Theatre Piece: Notations and Performances. Amsterdam: Harwood Academic Publishers, 1996, S. 75. Vgl. Maier: 2001, S. 156.
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und das Niederdrücken eines der drei Pedale des Klaviers, nach Kenneth Silverman je ein anderes in jedem der drei Sätze des Stücks.23 Die signifikanteste Geste David Tudors bei der Aufführung von 4’33” ist aber sicherlich die disziplinierte Aktion des Lesens der Partitur und des Umblätterns ihrer Seiten. Tudor selbst hat auf die Bedeutung dieser Geste hingewiesen: »It’s important that you read the score as you’re performing it, so there are these pages you use. So you wait, and then turn the page. I know it sounds very straight, but in the end it makes a difference.«24 Er hat seine Aufführungen des Stückes auch als eine Art von Meditation und kathartische Erfahrung beschrieben. Freilich handelt es sich dabei offensichtlich um die Perspektive des Ausführenden und es gibt keine Garantie dafür, dass auch das Publikum an dieser kathartischen Erfahrung teilhat. Auf der einen Seite demonstriert Tudor mit seiner Aufführung, dass Musik zustande kommen kann auch durch das stumme Lesen der Partitur, ohne dass sie also gespielt würde. Auf der anderen Seite liest Tudor die Partitur auf dem Podium nicht nur für sich selbst. Durch seine leibliche Präsenz als ein Pianist, der eine Partitur liest, die aus leeren Takten besteht, eine Partitur, welche die Abwesenheit von Musik und zugleich ihre Potenz zu sein zeigt, spielt er diese Partitur zugleich auch und kommuniziert diese in der Partitur notierte Musik in Richtung Publikum. Die Präsenz seines phänomenologischen Leibes, seine Gestik und Mimik, sind nicht nur Teil seiner Aufführung als Schauspieler, wie Meyer meint, sondern Teil auch der in der Partitur notierten Musik, die er liest. Aus dieser Perspektive betrachtet kann 4’33” als ein Stück angesehen werden, das auf paradoxe Weise die Korporalität der musikalischen Aufführung in den Vordergrund stellt, indem es den Ausführenden zum Schweigen bringt, das heißt, seine effektiven, auf Klangerzeugung ausgerichteten Gesten inaktiviert. Noch komplexer wird die Aufführungssituation in zwei Aufführungen durch John Cage selbst, die Nam June Paik gefilmt hat. »Welcome to 23 24
Vgl. Silverman, Kenneth: Begin Again: A Biography of John Cage. New York, NY: Alfred A. Knopf, 2010, S. 118. Zit. n. Fetterman: 1996, S. 75.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
Harvard Square! […] Mr Cage will recreate his [!] famous performance of Woodstock in the summer of 1952« informiert uns ein männliches Voiceover in Nam June Paiks video A Tribute to John Cage aus dem Jahr 1973. In diesem Video dokumentiert Paik zwei verschiedene Aufführungen von 4’33” durch Cage selbst an zwei verschiedenen Schauplätzen. Der erste Schauplatz ist der Harvard Square, ein großer dreiecksförmiger Platz im Zentrum von Cambridge, Massachusetts, der als Einkaufszentrum vor allem für Studierende der Harvard Universität fungiert. In Paiks Video sehen wir zunächst Arbeiter einen Flügel ins Zentrum des Platzes schieben. Der Flügel zieht in der Folge schnell eine größere Gruppe überwiegend junger Erwachsener an, die auf den Beginn der Veranstaltung warten. Dann löst sich John Cage aus der Menge und setzt sich ans Klavier. Er startet die Stoppuhr, legt sie neben die Partitur aufs Klavier und schließt den Tastaturdeckel, eine Aktion, die er im Verlauf der Zeit noch zweimal wiederholt, um die drei Sätze des stillen Stücks zu markieren. Obwohl er nicht die Seiten umblättert, wie es David Tudor bei der Uraufführung des Stückes getan hatte, so ist dennoch klar, dass Cage hier nicht seine eigene Aufführung wiederholt, wie das Voiceover des Videos behauptet hat, sondern die Uraufführung und die folgenden Aufführungen durch Tudor. Daher ist er in dieser Aufführung am Harvard Square nicht einfach nur der Komponist, der sein eigenes Stück zur Aufführung bringt, sondern bis zu einem gewissen Grad auch ein Schauspieler, der David Tudor verkörpert, wie dieser 4’33” aufführt. Es ist mir nicht bekannt, ob dem Publikum auf dem Platz bewusst war, dass John Cage die Uraufführung seines berühmten stillen Stückes nachspeilen würde, aber selbst wenn sie darüber Bescheid gewusst hätten, ist es doch unwahrscheinlich, dass sie auch gewusst hätten, wie David Tudor das Stück uraufgeführt hatte. Sie müssen aber bemerkt haben, dass die Veranstaltung von Nam June Paik gefilmt wurde. Die Zuschauer_innen müssen sich daher der Tatsache bewusst gewesen sein, dass sie das Publikum eines Konzerts in einem Film spielen. Das hatte ihnen nicht gesagt werden müssen, noch hatte ihnen gesagt werden müssen, wie sie sich zu verhalten hätten, denn der Flügel auf dem Platz erzeugte eine spezifische Rahmung der Situation. Ein musikalisches Instrument auf der Straße verweist auf
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eine Straßenmusiksituation, ein Flügel auf der Straße auf eine höchst ungewöhnliche Straßenmusiksituation. In diesem Fall bringt nicht der Straßenmusiker die Menschen dazu, stehen zu bleiben und seiner Musik zu lauschen, sondern das Musikinstrument als Objekt selbst. Der Flügel selbst verwandelt die Menge in ein Publikum eines Konzerts. Da der Flügel als Straßenmusikinstrument höchst ungewöhnlich ist, hat das Publikum auf dem Platz womöglich gar nicht erwartet, dass John Cage sich wie ein typischer Straßenmusikant verhalten werde. Einige im Publikum sind überrascht von Cages Verhalten, wie man auf dem Video sehen kann, aber sie sehen und hören sich die Aufführung zu Ende an und applaudieren dann, verhalten sich also ganz entsprechend der Rahmung einer Konzertsituation. Die zweite von Paik aufgenommene Aufführung Cages von 4’33” fand in New York City statt. Obwohl es sich dabei ebenfalls um eine Aufführung auf der Straße handelt, ist sie von ganz anderer Art als die in Cambridge. Zunächst entschieden sich Cage und Paik dazu, nicht die dreisätzige Version des Stückes aufzuführen und zu filmen, die auch in den drei publizierten Versionen der Partitur vorliegt, sondern eine viersätzige Version. Eine viersätzige Version wurde nie als Partitur veröffentlicht, es gibt aber einen Hinweis auf eine solche im Programm von David Tudors Solokonzert in Woodstock, wo 4’33” als »4 pieces« angeführt wird. Ob es sich dabei um einen Druckfehler handelt, ist nicht geklärt, aber Paiks Video zeigt, dass 4’33” auch in vier Sätzen, oder genauer gesagt auch als vier Stücke aufgeführt werden kann, da jeder ›Satz‹ von Cage an einem anderen Schauplatz verwirklicht wird. Diese vier Schauplätze wurden mit Hilfe des I Ching und einem Stadtplan von New York City durch Zufallsoperationen festgelegt. Es handelte sich um ein freies Grundstück mit Blick auf den Harlem River, eine Stelle am Times Square, eine in der Bleeker Street und für den ersten Satz oder das erste Stück die Adresse 2100 3rd Avenue in Harlem. Während der Aufführung des zweiten, dritten und vierten Satzes sieht man im Video von Paik Cage ruhig am Gehsteig stehen, wie er den urbanen Umgebungsgeräuschen lauscht. Am Schauplatz on Harlem allerdings verläuft die Aufführung des ersten Satzes anders. Philip Max Gentry beschreibt das Geschehen in seiner Dissertation folgendermaßen:
3. Verstummen: Stille und Schweigen
Here, the sight of Paik’s video camera and Cage’s stoic stance attracted the attention of several African American teenage boys. They mug for the camera briefly, and then one turns to Cage and asks what is being taped. Cage looks briefly stricken at having to break his silence, but quickly – and nervously – smiles and explains what he is doing. It is difficult to imagine Cage similarly breaking his silence at the Maverick, or Lincoln Center, but this is Harlem in 1973, and he is out of his comfort zone. Race matters, even for John Cage.25 Obwohl Gentry in einer Fußnote auf die Aufführung am Harvard Square Bezug nimmt und dort auch anmerkt, dass es interessant wäre, die beiden Aufführungen miteinander zu vergleichen, benützt er den kurzen Vergleich dann nur dazu, um seine These von Rasse und sozialer Differenz als den einzigen Faktor, der in diesem Fall eine Rolle spielt, zu stützen, wenn er schreibt: […] Cage performs 4'33'' on a piano in the middle of Harvard Square, surrounded by a respectful audience of young white college students. Here, Cage is clearly much happier, and cheerfully receives his applause at the end.26 Auf der Straße in Harlem war es nicht möglich, das Publikum zum Schweigen zu verpflichten und so konnte auch der Ausführende nicht weiter schweigen. Selbstverständlich ist auch die soziale Signifikanz des 1973 schweigend auf dem Gehsteig in Harlem stehenden weißen, männlichen phänomenologischen Leibes nicht zu unterschätzen, die eine Reaktion der afroamerikanischen Kinder hervorruft. Auch steht außer Zweifel, dass der bis heute andauernde strukturelle Rassismus der amerikanischen Gesellschaft nicht nur diese Situation und Cages Reaktion in ihr geprägt hat, sondern Cages Verhalten auch in andern Situationen. Dafür spricht etwa seine Reaktion auf die Aufführung seines Solo for Voice No. 8 aus den Song Books (1970) durch den schwarzen
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Gentry, Philip Max: The Age of Anxiety: Music, Politics, and McCarthyism, 19481954. Ph. D. Thesis, University of California, Los Angeles, 2008, S. 169. Ebd. Fn. 2.
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und offen homosexuellen Komponisten und Sänger Julius Eastman an der University of Buffalo am 4. Juni 1975, die körperliche Nacktheit und homoerotische Anspielungen enthielt. George E. Lewis beurteilt diese Aufführung als ein bewusstes Austesten der Grenzen durch Eastman: »Eastman’s performance that day may have constituted an intersectional testing of the limits of his membership – or, in American racial parlance, his ›place‹ – in the experimental scene.«27 John Cage, als hätte er den schwarzen Mann in seine Grenzen verweisen wollen, zieht diese in seiner Vorlesung am nächsten Tag sehr klar, wenn er sagt: When you see that Julius Eastman from one performance to the next, he does the same thing, harps on the same thing, in other words does his thing and that his thing unfortunately has become this one thing of sexuality. […] I don’t approve because the ego of Julius Eastman is closed in on the subject of homosexuality. And we know this because he has no other idea to express.28 Auch wenn also auch John Cage nicht frei von rassistischen Vorurteilen war, ist es wirklich so schwer vorstellbar, dass Cage sein Schweigen in einer ähnlichen Situation auch am Harvard Square gebrochen hätte? Die Tatsache, dass er dort während der Aufführung nicht angesprochen wurde, kann nicht mit sozialer Differenz allein erklärt werden. Zu der nicht zu leugnenden Intersektionalität von sozialer Differenz und Rasse muss auch die Differenz der beiden Schauplätze in Hinsicht auf die Rahmung der Situation hinzugezogen werden. Die Präsenz des Flügels auf dem Harvard Square schafft einen Rahmen, der die Menge zum Schweigen verpflichtet, während die Abwesenheit des Flügels und auch jedes anderen Instruments diesen Rahmen nicht herstellt. In Harlem fehlt das signifikante Objekt, das die Menge zum Schweigen
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Lewis, George E :. Foreword .In: Parker ,Renée Levine/Leach ,Mary Jane (Hg ). : Gay Guerrilla: Julius Eastman and His Music. Rochester, NY: University of Rochester Press, 2015, S. vii-xix, hier: S. xi. Zit. n. dem Transkript von Cages Vorlesung in: Schlegel, Steven: John Cage at June in Buffalo, 1975. MA Thesis: State University of New York at Buffalo, 2008, S. 32.
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bringt und in ein zuhörendes und zuschauendes Publikum verwandelt. Innerhalb dieser anderen Rahmung der Abwesenheit des Instruments kann der signifikante Leib des Ausführenden nicht als der eines Musikers dekodiert werden. Daher kann das Geschehen auch nicht als eine musikalische Aufführung dekodiert werden. Selbstverständlich macht es auch für den Ausführenden einen großen Unterschied, ob er vor einem Flügel sitzt, auf den er starren kann, wenn er den Augenkontakt mit der Menge vermeiden will, oder ob er allein auf einem Gehsteig steht und so der Menge ohne Puffer ausgesetzt ist. Im ersteren Fall kommuniziert er mit dem Publikum durch sein Instrument hindurch, auch wenn er die Tasten nicht berührt und kein Klangobjekt erzeugt. Im zweiten Fall kommuniziert er mit den Vorbeikommenden in einer Faceto-face-Situation, was auch bedeutet, dass er nicht musikalisch mit ihnen kommuniziert. Seine Bereitschaft, Fragen zu beantworten wird in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Rahmungskraft der jeweiligen Situation höchstwahrscheinlich jeweils eine andere sein. Genau in dieser Hinsicht kann es fruchtbar sein, die Aufführungen am Harward Square und in Harlem mit einer dritten Aufführung Cages zu vergleichen, die er am 31. August 1986 im Rahmen der Eröffnung einer Ausstellung im Kunstverein in Köln ausgeführt hat.29 Der Filmkritiker und Forscher Daniel Kothenschulte war damals unter den Besuchern der Eröffnung der Ausstellung und berichtet Folgendes von Cages Aufführung: Cages Uraufführung einer »Neufassung« von 4'33'' sollte die Ausstellung »Die 60er Jahre – Kölns Weg zur Kunstmetropole« eröffnen. Tatsächlich wurde das Werk bereits 1952 uraufgeführt, aber erst 1960 offiziell verlegt. Auch ich war skeptisch. Wie sollte es Cage gelingen, die in drei Sätzen geteilte Stille auf ähnliche Art zum Klingen zu bringen, wie es dem Pianisten David Tudor bei der Uraufführung möglich war, als
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Philip Max Gentry hat von dieser Aufführung offensichtlich keine Kenntnis, jedenfalls aber bezieht er sich nicht auf sie. Er ist damit freilich nicht der einzige, ich habe in der von mir gesichteten Literatur zu 4'33'' keinen Hinweis auf sie gefunden.
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man das unvorbereitete Publikum noch hörbar irritieren konnte? Inzwischen war es schließlich zu einer Ikone der Avantgarde geworden. Bei meiner Ankunft war der Kunstverein prall gefüllt. Nur wenige hatten Sicht auf den Komponisten, der sein Werk selbst vortragen wollte. Man wartete auf eine Vorrede, Ungeduld machte sich bemerkbar. Der Geräuschpegel im Saal war durch die Gespräche der Anwesenden inzwischen derart angestiegen, dass man ohnehin kaum eine würdige Konzertatmosphäre mehr erwarten durfte. Dann plötzlich Applaus aus der Saalmitte. Das war es gewesen. Ich hatte das Meisterwerk gehört und es nicht einmal bemerkt. Cage musste eine Vokalversion vorgetragen haben, ohne uns Hinterbänkler wenigstens informiert zu haben.30 Die Rahmung der Ausstellungseröffnung erzeugt andere Erwartungen als die des Konzerts. Sie erzeugt die Erwartung, Ansprachen zu hören, Objekte zu betrachten und möglicherweise Performances, nicht aber zum Schweigen verpflichtet zu werden und schweigend Musik zuzuhören. Cage nimmt daher auch nicht vor einem Klavier Platz, sondern an einem kleinen Tisch, der vor Sigmar Polke’s Schimpftuch, einem der Objekte der Ausstellung, steht und signalisiert den Beginn des ersten Satzes des stillen Stücks durch das Umdrehen eines leeren Trinkglases. Diese visuelle Geste, die den Beginn des Musikstückes signalisiert, konnte aber von Kothenschulte und vielen anderen Besucher_innen der Ausstellungseröffnung nicht gesehen werden. Da aber das aufgeführte Stück bekanntlich mit keiner intentionalen Klangerzeugung verbunden ist, bedeutet das, dass sie die Aufführung des Stücks nicht wahrnehmen. Diese Situation war dem Veranstalter der Eröffnung, Wulf Herzogenrath, offensichtlich bewusst, denn er macht seinerseits einen Versuch, den Beginn der Aufführung zu markieren und das Publikum zum Schweigen zu bringen, woran sich Kothenschulte aber offenbar
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Kothenschulte, Daniel: Viereinhalb Minuten mit John Cage: Erinnerung an eine Kölner Aufführung von 4'33'' – und warum man in der Musik noch längst nicht kennt, was man schon weiß. In: ON – Neue Musik Köln 2/09 (2009): S. 10-11, hier: S. 10f.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
nicht erinnert. Im Moment, als Cage am Tisch Platz genommen hatte, aber noch bevor er die Stoppuhr startete, ruft Herzogenrath in die Menge: »Bitte Ruhe! Danke!«31 . Aber dieser Versuch, das Publikum zum Schweigen zu bringen, scheitert, nach kurzem Gelächter geht die Unterhaltung munter weiter. Ein wesentlicher Teil des Publikums hört also nicht der Musik der Umweltgeräusche zu, sondern den Worten des jeweiligen Gesprächspartners. Dieser Teil des Publikums nimmt keine Notiz von der Aufführung, weil es den semiotischen Körper des Ausführenden und seine Gesten nicht sehen kann. Für Cage funktioniert das Stück in seinem Sinne auch in dieser Situation, den für ihn wird der Lärm der Gespräche im Publikum zur Musik seines Stückes, wie dies auch für den Teil des Publikums möglich ist, der ihn und seine Gesten sehen kann. Für sie findet tatsächlich eine Aufführung der Vokalversion des Stückes statt. Alle anderen hören den Lärm zwar auch, für sie findet aber keine Aufführung statt, weil sie außerhalb der Rahmung der Aufführung verbleiben bzw. innerhalb einer anderen Rahmung, nämlich der der Ausstellungseröffnung. So kann man Cages Aufführung von 4’33” in Köln auch als die ultimative Demonstration der essenziellen Bedeutung des Visuellen in der Musikaufführung betrachten. Hier knüpft Jennifer Walshe mit ihrem stillen Stück an, in dem sie die Herangehensweise von Cage aufgreift und in gewissem Sinne umkehrt.
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Jennifer Walshe: Rekontextualisierung des Verstummens
Seit 2007 hat Walshe mit Grúpat ein Projekt entwickelt, in dem sie als »Kuratorin« insgesamt 11 Musiker_innen versammelt hat. Es handelt sich dabei allerdings um eine im Laufe der Zeit höchst elaborierte
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Klaus vom Bruch hat die Performance von Cage auf Video dokumentiert. Die Aufforderung von Herzogenrath ist darauf klar zu hören. Das Video ist online zugänglich: https://vimeo.com/showcase/2619667/video/40439093 [abgerufen am 08.10.2020].
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und mittlerweile auch als solche geoutete Fiktion. Hinter allen 11 Musiker_innen steckt Jennifer Walshe selbst. Eine wesentliche Rolle in der Ästhetik von Grúpat kommt dem Spiel mit der Grenze zwischen dem auralen und dem visuellen Bereich zu. So vermischen sich etwa in der Partitur seiner Three Songs von Grúpat-Mitglied Ukeorin O’Connor Text und Bild, wenn er Zeichen des internationalen phonetischen Alphabets auf Fotos der Landschaft von South Dublin County appliziert, um dadurch eine Mischung des Visuellen und Auralen zu erreichen oder genauer: »In this work the macrological geographical structures of South Dublin are replicated micrologically in the singer’s mouth«.32 Richtet sich hier die Notation also in erster Linie an die Sängerin, die aus Text und Bild in einem körperlichen Transformationsprozess Klang hervorbringen soll, so geht The Dowager Marchylove noch einen Schritt weiter in Richtung Evokation von Klang im Betrachter. Für sie_ihn ist es nämlich Programm, diese Grenze zwischen dem Visuellen und Auralen nicht bloß aufzuweichen oder zu überschreiten, sondern mit Hilfe ihrer Überwindung auch die Flüchtigkeit des Klangereignisses zu überwinden, indem sie_er es im Bild festhält. Ihr_sein A Childs Album of Noise sind nicht bloß 8 Klavierstücke, geschrieben für Flor Hartigans Schüler_innen, sondern Teil des Werkes ist auch die synchrone Aufführung dieser 8 Stücke durch diese Schüler_innen, die zufälligerweise alle unweit voneinander in einem Viertel von Tallaght wohnen, bei offenen Fenstern, während derer Dowager draußen auf der Straße flaniert und den Klang fotografiert. Worum es ihr_ihm dabei geht, ist die Erforschung der Möglichkeiten, Klänge in ihrer Abwesenheit hörbar zu machen. Sie_er sei »interested in the memory of sounds, an absence which 32
Zitiert nach der Pdf-Datei mit dem Kapitel über Ukeorin O´Connor auf: www.milker.org/personnel/04 %20oconnor/Ukeoirn %20O %20Connor.pdf [abgerufen am 14.03.2012]. Diese Dateien sind auf der umgestalteten Homepage von Jennifer Walshe nun nicht mehr abrufbar, liegen mir aber als abgespeicherte Dateien vor. Die Pdf-Dateien entsprechen inhaltlich und vom Design her den entsprechenden Kapiteln im schwer zugänglichen Buch: Walshe, Jennifer (Hg.): Grúpat. Dublin: Project Press, South Dublin County Council, 2009.
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could be brought into hearing through looking and reading.«33 Die vielleicht radikalste Infragestellung der Grenze zwischen dem Auralen und dem Visuellen unternimmt aber wohl Turf Boon mit seinem »silent movie« mit dem Titel The Softest Music in the World.34 Auf dem viergeteilten Bildschirm erscheint zunächst im Rechteck rechts oben eine nicht näher identifizierbare Schokoladenfigur, deren langsames Schmelzen während der ganzen Dauer des Videos dort zu sehen bleibt. In den restlichen drei Bildrechtecken wechseln dagegen die Bilder im Verlauf des Videos. Wir sehen zunächst bis 1’30” zwei Hände, die mit Wattestäbchen auf zwei Marshmallows trommeln, dann zerschlagen sie einen Luftballon mit aufgemaltem Tigerkopf und eine Hand demonstriert zugleich darüber mit einem Stäbchen anhand einer schematischen Zeichnung das Schlagen des 4/4-Taktes. Bei 1’40” taucht als neues Bild das einer Hand auf, die eine kleine Spielzeugtrompete am Mund eines Teddybären bedient. Dann wird mit den Wattestäbchen auf einer Eichel und kleinen Baummodellen getrommelt. Ein Finger zeigt auf nebeneinander aufgereihte Zuckerherzchen mit Aufschriften wie »Dream«, »New love«, »How nice« etc. Im weiteren Verlauf werden diese auch einzeln von zwei Händen kurz ins Bild gerückt und wieder entfernt. Dazwischen wird ein Plüschhündchen mit einem Hammer bearbeitet. Alle diese Elemente wiederholen sich abwechselnd und in drei Quadranten des geteilten Bildes, allerdings in unterschiedlicher Frequenz und Dauer. Der Tigerkopfluftballon taucht nur zweimal in der ersten Hälfte des Videos auf, das Plüschhündchen erst in der zweiten Hälfte, das Schlagen des 4/4-Taktes zieht sich dagegen durch das ganze Video, genauer: es taucht zwischen 1’21” und 4’16” immer
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Zitiert nach der Pdf-Datei auf: www.milker.org/personnel/08 %20dowager/dow ager.pdf [abgerufen am 14.03.2012]. Zugänglich online auf dem You-Tube-Channel von »turfbo«: http://youtu.be/x h86IgyYUXc, [abgerufen am 18.05.2021]. Auf diesem Channel mit 5 Abonnenten gibt es nur dieses eine Video, das dort am 6. Februar 2008 eingestellt wurde. Seither wurde es 2527-mal angesehen. Es gibt drei Kommentare, »I can’t here it«, »I like this very good idea from the very jump« und »Funny!«. [Stand: 18.05.2020].
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wieder auf. Das Video ist bei 4’25” in dem Moment zu Ende, in dem die Schokoladenfigur zur Gänze geschmolzen ist. Was auf den ersten Blick wie ein etwas dümmlicher Scherz wirken mag, steht gerade auch durch den 4/4-Takt in Verbindung mit Cages 4’33”, das wahrscheinlich ursprünglich ebenfalls im 4/4-Takt geschrieben worden ist35 und bei der Uraufführung und danach immer wieder ebenfalls als frecher Scherz rezipiert worden ist. Ist dieses Stück später auch als eine Art Metamusik rezipiert worden, in dem das NichtSpielen des Instruments auf die musikalische Qualität der Umgebungsklänge aufmerksam macht, so wirkte es doch bei seiner Uraufführung auf das Publikum als schlechter Scherz bzw. Provokation. Bei der Uraufführung durch David Tudor in der halboffenen Maverick Concert Hall in Woodstock am 29. 8. 1952 begann das Publikum während des dritten Satzes laut zu werden und verließ zum Teil die Halle. Nach dem Konzert fand eine heftige Diskussion zwischen den anwesenden Komponisten und dem Publikum statt, das zum Teil aus professionellen Musikern (Komponisten, Mitgliedern des New York Philharmonic Orchestra), Avantgardemusik-Enthusiasten und zum Teil aus Leuten aus Woodstock bestand. Diese Diskussion endete nach der Erinnerung von Earl Brown in dem Ausruf eines Künstlers: »Good people of Woodstock, let’s run these people out of town!«36 Diese heftigen Reaktionen – Cage meinte später, das Stück hätte ihn die Freundschaft einiger guter Freunde gekostet – erklären sich aus dem Kontext, in dem es uraufgeführt wurde. Entscheidend war dabei offensichtlich nicht, dass es sich um eine Wohltätigkeitsveranstaltung mit einem zum großen Teil der Neuen Musik offen gegenüberstehenden oder sogar involvierten Publikum handelte, sondern die Erwartungen und Verhaltensregeln, die ein 35
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Die erste Partitur des Stückes ist verloren gegangen und wurde 1989 von David Tudor rekonstruiert, allerdings in zwei unterschiedlichen Versionen. Eine davon präsentiert 4'33'' als Klavierstück mit einem System aus Violinschlüssel und Bassschlüssel und im 4/4-Takt. Zu den verschiedenen Partituren des Stückes vgl.: Gann, Kyle: No Such Thing as Silence: John Cage’s 4'33''. New Haven, CT: Yale University Press, 2010, S. 167-187. Vgl. Revill, David: The Roaring Silence. John Cage. A Life. New York: Arcade, 1992, S. 165f. Zu Programm und Verlauf des Konzerts vgl.: Gann: 2010, S. 5-8.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
Soloklavierabend mit sich bringt. Das Publikum hat in dieser Situation still zu sein und sogar den Hustenreiz bis zur Pause zwischen den Sätzen zu unterdrücken, der Pianist dagegen erzeugt Klänge auf seinem Instrument. In 4’33” wird die Verpflichtung zur Stille auf den Ausführenden auf dem Podium ausgedehnt, denn er verhält sich damit so, wie sich in einem solchen Konzert das Publikum zu verhalten hat, mit dem Unterschied, dass er alleine auf dem Podium sitzt und somit dieses Verhaltensmuster als die Aufführung selbst und damit als die Musik präsentiert wird. Der Eindruck der Zuseher bei der Uraufführung, dass sich hier jemand über sie lustig macht, war daher naheliegend und wohl auch unvermeidlich. Ist also der Kontext von Cages stillem Stück ursprünglich und abgesehen von einigen CD-Aufnahmen bis heute das Konzert, so verhält es sich bei Walshes »stillem« Stück in dieser Hinsicht anders. Vom Medium Video her kann man es zunächst nicht eindeutig einem Kontext zuordnen. Sieht man es auf YouTube, so könnte man es dem Kontext Musikindustrie zuordnen und als Musikvideoclip rezipieren. Die Länge von 4’31” entspricht der üblichen Länge in diesem Bereich. Damit aber ergibt sich ein weiterer Bezug zu Cage, und zwar nicht nur über die beinahe identische Länge der beiden Werke. Cage nämlich sprach in seiner Vassar Lecture am 28. Februar 1948, schon vier Jahre bevor er 4’33” verwirklichte, davon, ein stilles Stück zu schreiben und es an die Musikindustrie zu verkaufen, und zwar an den Zweig, der Hintergrundmusik produziert und verbreitet: I have, for instance, several new desires (two may seem absurd, but I am serious about them): first, to compose a piece of uninterrupted silence and sell it to the Muzak Co. It will be 3 or 4 12 minutes long – these being the standard lengths of ›canned‹ music and its title will be ›Silent Prayer.‹ It will open with a single idea which I will attempt
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to make as seductive as the color and shape or fragrance of flower. The ending will approach imperceptibly.37 Kyle Gann verweist auf den Widerspruch zwischen der Beschreibung des Stückes in den letzten beiden Sätzen und seiner vorher genannten ununterbrochenen Stille und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass dieser Plan zwangsläufig zum Scheitern verurteilt gewesen sei und Cage, um dann sein stilles Stück schreiben zu können, zuerst das Konzept von Stille überdenken hätte müssen.38 Man kann aber wohl auch die Ironie in den Vordergrund rücken, die darin besteht, dass Cage das Stück an eine Firma verkaufen möchte, die auf dezente Hintergrundmusik für Hotels, Geschäfte etc. spezialisiert ist. Welche Musik könnte dezenter sein als eine unhörbare? Im Kontext der dezenten Hintergrundmusik, könnten 4 12 Minuten Stille tatsächlich »verführerisch wie der Duft einer Blume« wirken. Auch das Herannahen des Endes wäre nicht wahrnehmbar, denn das Ende wäre nur rückblickend feststellbar, wenn das folgende dezente Musikstück beginnt. Die Schwierigkeit hätte also vor allem darin bestanden, das Stück an Muzak zu verkaufen. Walshes stilles Stück besteht nun tatsächlich aus 4 12 Minuten Stille und der Titel könnte mit dem Begriff »soft music«39 auch auf Hintergrundmusik, Chill-out-Musik und ähnliche heute verbreitete Formen von Gebrauchsmusik verweisen. Zugleich ist der Titel auch ironisch lesbar, wenn man davon ausgeht, dass die allersanfteste Musik eben auch eine Musik sein könnte, die so still ist, dass sie unhörbar ist. Als Videoclip mit unhörbarer Musik könnte daher Walshes Stück als Rekontextualisierung von Cages 4’33” oder sogar als rekontextualisierte Realisierung seines »Silent Prayer« gelesen werden. Eine solche Rekontextualisierung findet aber noch in einer weiteren Hinsicht statt. Der Kontext, um den es sich dabei handelt, ist der der bildenden Kunst. Schon Cages Stück steht mit der bildenden Kunst 37 38 39
Cage, John: Writer. Previously Uncollected Pieces. Hg. von Richard Kostelanetz. New York: Limelight, 1993, S. 43. Vgl.: Gann: 2010, S. 126f. So gibt es im Internetradiobereich tatsächlich die Kategorie »soft music«, unter der eine eigene Gruppe von Radiosendern zu finden ist.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
in zweierlei Weise in Verbindung. Zum einen kam der letzte Anstoß zur Verwirklichung von den monochromen weißen Bildern Robert Rauschenbergs, die Cage 1951 in New York gesehen hatte und die ihn nicht nur begeisterten, sondern die er auch aus ihrem von Rauschenberg intendierten christlich-religiösen Kontext herauslöste und in seinem Sinn rekontextualisierte. Er sah im Weiß nicht die Gegenwart Gottes, sondern eine Abwesenheit, die den Betrachter nicht mehr dominierte: Is it true that anything can be changed, seen in any light, and is not destroyed by the action of shadows? Before such emptiness, you just wait to see what you will see. […] The white paintings caught whatever fell on them; why did I not look at them with my magnifying glass?40 Doch nicht nur diese Vorgängigkeit von Rauschenbergs weißen Bildern in der Entstehungsgeschichte41 von 4’33” verbindet das Stück mit der bildenden Kunst, sondern die Gestaltung einer der Partituren stellt es auch nachträglich in diesen Kontext. Es handelt sich dabei um die sogenannte Kremen-Version, eine Partitur, die Cage 1953 hergestellt und Irwin Kremen zum Geburtstag geschenkt hatte. Diese Partitur besteht aus 6 weißen Seiten mit vertikalen Linien, welche die einzelnen Sätze voneinander abgrenzen. Sie ist in proportionaler Notation mit Entsprechungsverhältnissen von Zeitdauer und Papierbreite geschrieben, so dass 1 Sekunde 81 Inch in der Horizontalen entspricht. Der erste Satz wird daher von zwei 3 34 Inches voneinander entfernten vertikalen Linien markiert, der zweite Satz beginnt auf Seite 2, Seite 3 ist weiß und die Schlusslinie des zweiten Satzes findet sich in der Mitte von Seite 4 und so weiter. Da die vertikalen Linien jeweils über die ganze Seite verlaufen, ergibt sich ein Partiturbild, das den weißen Bildern von
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Cage, John: Silence: Lectures and Writings, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, S. 107f. Cage erkennt diese im Motto der Vorlesung über Rauschenberg offen an: »Tho Whome it May Concern: The white paintings came first; my silent piece came later.« Ebd., S. 98.
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Rauschenberg, insbesondere denen, die aus mehreren nebeneinander angeordneten Tafeln bestehen, sehr ähnlichsieht.42 Wenn sich Cage also im Medium der Notation nachträglich auf die bildende Kunst bezieht, so stellt Walshe ihr Stück bereits durch die Wahl des Mediums Video in diesen Kontext und nimmt dadurch zugleich eine weitere Rekontextualisierung vor. Indem es zur Verschiebung vom Medium der Tafelmalerei zum Medium Video kommt, verschiebt sich aber auch der Kontext der Aufführung und Rezeption. Aus der Aufführung im Konzert wird die Vorführung in der Ausstellung. Zu sehen war dieses Video dann auch tatsächlich in einer Ausstellung mit dem Titel »Video Black: Snow Illusions And Other Questions (»what the fuck is video art«)« vom 22. Oktober bis zum 1. November 2008 in der Galerie »The Joinery« in Dublin. Ebenfalls in Dublin war das Video im Rahmen der Grúpat-Retrospektive vom 11. bis zum 14. Februar 2009 im Project Arts Centre ausgestellt. In der Ankündigung dieser Ausstellung wird das Video explizit als »musikalischer Stummfilm« bezeichnet: An installation consisting of music, sound poetry, fashion, photography, objects and performance by the Grúpat collective of international sound artists. Featuring Turf Boon’s silent musical film and self built instruments, the extravangant [sic!] costumes of the Dowager Marchylove and a garden shed full of secrets fo [sic!] be discoverd [sic!] by torchlight.43 Damit wird das Werk noch einmal explizit auch mit Cages 4’33” in Verbindung gebracht, da letzteres ja auch als »silent piece« bezeichnet zu werden pflegt und sich auch John Cage selbst mit dieser Bezeichnung auf sein Stück bezogen hat.44 Der Medienwechsel wird damit nun auch sprachlich nachvollzogen.
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Vgl. Gann: 2010, S. 181. Auf der Homepage des Programms »In Context 3« des South Dublin County Council: URL: http://incontext.southdublin.ie/index.php?option=content&task =view&id=269 [abgerufen am 15.3.2012]. Vgl. Fußnote 136.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
Mit diesem Medienwechsel in Zusammenhang steht auch, dass es Jennifer Walshe mit der Stille um etwas anderes geht als John Cage. Nicht um das Hören der Umwelt als Musik geht es ihr, sondern um das Sehen von Musik. Die Stummheit dieser Musik ist nämlich nicht nur dadurch bedingt, dass das Video ein Stummfilm ist und daher keine Tonspur hat, sondern auch durch die Art und Weise, wie in diesem Video Musik gemacht wird. Die Mittel, mit denen hier perkussive Musik gemacht wird, sind nicht geeignet, diese auch wirklich hörbar zu machen. Das Mittel dazu ist die Dämpfung. Die Trommelschlägel sind Wattestäbchen, der Hammer schlägt auf ein mit Watte ausgestopftes Stofftier. Die Geräusche, die auf diese Weise entstehen, liegen sicherlich an der Grenze der Hörbarkeit, so dass die Unhörbarkeit tendenziell den gezeigten musikalischen Handlungen bereits immanent ist und durch das Fehlen der Tonspur nur perfekt gemacht wird. Trotzdem ist aber das Video, wenn es abgespielt wird, weder im Kontext YouTube noch im Kontext Ausstellung wirklich stumm, denn das Fehlen des Tons macht im ersten Fall die Geräusche des Computers wie z.B. die der Ventilatoren oder der Festplatte wahrnehmbar, im zweiten Fall die des Abspielgeräts, z.B. die mechanischen Geräusche des DVD-Players. Erst die neueste Entwicklung des Tablet PCs, der ohne sich bewegende mechanische Teile auskommt, macht ein lautloses Abspielen möglich. Das Video verweist so auch auf eine aurale Schicht, die bei der technischen Reproduktion von Musik immer vorhanden ist, normalerweise aber nicht wahrgenommen wird, weil ihr Schallpegel im Verhältnis zur abgespielten Musik zu gering ist. Auf den ersten Blick verbindet dieser Aspekt das Video wieder mit dem Stück von Cage, indem es niedrigpegelige Klänge wahrnehmbar macht, doch ist der entscheidende Unterschied darin zu sehen, dass im Unterschied zu den zufälligen Umweltklängen bei Cage es sich hier um Klänge handelt, die durch die technische Reproduktion der Musik selbst verursacht werden. Darüber hinaus können sich aber natürlich auch zufällige Umweltklänge in der Wahrnehmung des Rezipienten mit den auf dem Video gesehenen Bildern verbinden und so bei jedem Abspielen immer neue, vom Zufall gesteuerte Soundtracks entstehen. Dies wäre eine Cage nahestehende Rezeptionsweise des Videos.
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Aber, wie gesagt, steht wohl die Frage des Sehens von Musik im Vordergrund, wenn man von den Bildinhalten ausgeht. Das Medium des Videos war vor allem in der Glanzzeit von MTV und ähnlichen Fernsehsendern mit der Rezeption von Popmusik verbunden, worauf Walshe schon mit der popmusikkompatiblen Länge des Videos von 4 12 Minuten verweist, aber auch mit den aus der Textwelt von Popsongs entnommenen Reizwörtern, die im Video auf Zuckerherzchen gezeigt werden, wodurch die Textvermittlung nicht mehr aural durch den Gesang, sondern visuell vor sich geht. Durch das Zeigen auf die einzelnen in einer bestimmten Sequenz aufgereihten Textbausteine bzw. ihr sukzessives Ins-Bild-Rücken und wieder Entfernen entsteht, auch wenn die Melodie fehlt, doch ein Rhythmus und die Wiederholung dieser Szene in bestimmten zeitlichen Abständen erzeugt einen Refrain-Charakter. Durchbrochen werden diese Popmusikreferenzen allerdings durch das Demonstrieren der Schlagtechnik des Dirigenten, so dass also die stumme Musik des Videos nicht auf ein Genre festgelegt wird, es sei denn, man würde hier an die Art von Crossover denken, die darin besteht, dass Popsongs für Symphonieorchester arrangiert und dann von einem solchen unter einem Dirigenten aufgeführt werden. Das durchaus intensive Verhältnis Jennifer Walshes zur Popmusik ist aber in keiner Weise mit dem Begriff des Crossovers fassbar. Walshes Zugang zur Popmusik ist paradigmatisch ablesbar an ihrem Stück G.L.O.R.I.- für Stimme, das sie am 6. 5. 2005 in Cork uraufgeführt hat und das 2010 auf ihrer Solo-CD nature data erschienen ist. Entstanden ist das Stück aus einem 2005 gestarteten, dann aber bald aufgegebenen Notationsprojekt. Walshe schreibt selbst über dieses Projekt und die Gründe seines Scheiterns: In 2005 I decided to try and make an index card system which would contain carefully-notated examples of every pop song quotation I carry around in my head. This project quickly grew completely out of control as it became clear that I could spend the rest of my life notating the quotations in detail without ever finishing. G.L.O.R.I.- is the first piece that came out of the project. The score is notated only using text (see above), and relies heavily on the sonic memory of the
3. Verstummen: Stille und Schweigen
performer. The text switches font every time a switch is made to a different song.45 In den Liner Notes zur CD schreibt Daniel Spicer über dieses Stück: »G.L.O.R.I.–« is a lunatic micro-medley in which Walshe races through tiny snippets of pop songs, from Abba to Cream to Dizzee Rascal, all smashed together and sung in a frenzied, real-time onrush, like a malfunctioning synaptic jukebox.46 Durch das hohe Tempo und die schnellen Wechsel von Song zu Song, der immer auch einen Wechsel im Timbre der Stimme mit sich bringt, nähert sich dieses Stück in der Interpretation von Jennifer Walshe einer Klangfarbenmelodie für menschliche Stimme. Auf der anderen Seite stellt das Stück durch seinen hohen Zitatcharakter auch die Frage nach Authentizität und Bedeutung in der Popmusik. Wenn in der Popmusik die Bedeutung eines Songs nicht ablösbar ist von seiner unverwechselbaren Interpretation durch eine_n Sänger_in, wovon auch Jennifer Walshe selbst ausgeht, dann verlieren die Songschnipsel in G.L.O.R.I.- genau diese ihre Bedeutung und werden zum Material. Umgekehrt hängt die Bedeutung von G.L.O.R.I.- nicht in der gleichen Weise an der Interpretation von Jennifer Walshe wie etwa die von Peggy Sue an der von Buddy Holly47 , denn im Unterschied zur Popmusik verschmelzen beim Stück von Walshe Komposition und Performance nicht zu einer untrennbaren Einheit.48 Das Stück verwendet zwar 45
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Auf der Website des irischen Contemporary Music Centre. Dort ist auch ein Video von Walshes Aufführung des Stückes beim Kilkenny Arts Festival 2007 zu sehen: URL: www.cmc.ie/articles/article1386.html [abgerufen am 09.10.2020]. Liner Notes zur CD: Jennifer Walshe: nature data. Interval IL05, 2010. Dave Laing bringt dies auf den Punkt: »The song ›Peggy Sue‹ has no real existence outside Buddy Holly´s record of it.« Laing, Dave: Listen to Me. In: Frith, Simon/Goodwin, Andrew (Hg.): On Record: Rock, Pop and the Written Word. London: Routledge, 1990, S. 326-340, hier: S. 327. Daran ändern auch die vielen Coverversionen in der Popmusik nichts, im Gegenteil: Eben deswegen spricht man von Coverversionen und nicht von Interpretationen eines Songs, weil die durch die Originalperformance zustande kommende Bedeutung des Songs in der Coverversion verloren geht. Er gewinnt
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Popsongschnipsel als Material, funktioniert aber selbst nicht wie ein Popsong. Jennifer Walshes Interesse an der Popmusik ist nicht das des Crossovers, sondern ein Interesse an der Körperlichkeit der Stimme: As a composer who works with the voice, I’m interested in examining the connections between these voices, these bodies; the connections between the disparate vocal timbres of popular music. These connections cannot be classified systematically; they function within the sprawl of popular music and are based in the subjectivity of my ears as a fan of popular music rather than the objectivity of a distanced observer.49 Diese für Jennifer Walshe in der Popmusikrezeption entscheidende Körperlichkeit der Stimme ist in ihrer Performance von G.L.O.R.I.zwar durchaus vorhanden, denn trotz des ständigen Wechsels des Timbres bleibt ihre Stimme von Anfang bis Ende erkennbar, zugleich ist das Stück aber auch die stimmliche Materialisierung der von Walshe in dem oben zitierten Aufsatz angesprochenen subjektiven Erforschung des Netzes von Bezügen zwischen den Stimmen der Popmusik. Dieser Bezug zur Popmusik muss in Turf Boons musikalischem Stummfilm notwendigerweise fehlen. Schon eher scheint ein Bezug zu Michael Maierhofs »Ästhetik des Alltags«50 zu bestehen, wenn man sich die alltäglichen Gegenstände vergegenwärtigt, die in dem Video zu sehen sind und zum Teil auch visuell zur Klangerzeugung eingesetzt werden. Das Rückgrat des Videos
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dann entweder eine neue Bedeutung oder auch nicht, dann funktioniert die Coverversion nicht oder nur als schwacher Abglanz des Originals. Walshe, Jennifer: Popular Timbre Family Trees. In: KunstMusik. Schriften zur Musik als Kunst 5 (2005), S. 49-52, hier: S. 50. Maierhof hat sich in mehreren Schriften zum Verhältnis von Künstler und Alltag geäußert und dabei die Position vertreten, Komponisten sollten zur Materialerneuerung Alltagsgegenstände zur Klangproduktion verwenden. Vgl. Maierhof, Michael: Anker in der Realität. Die andere Dimension eines Crossover. In: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 71 (2007): Crossover, S. 15-16 und ders.: Die Würde einer Tupperdose. In: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 76 (2008): Alltag, S. 28-30.
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bildet eine schmelzende Schokoladenfigur, ein lautloser Vorgang also, der auch die Länge des Films bestimmt. Es handelt sich dabei auch um einen durchaus alltäglichen Vorgang, der abläuft, wenn man z.B. Schokolade in der Sonne liegen lässt. Diesem lautlosen Vorgang werden verschiedene Vorgänge der Klangerzeugung gegenübergestellt, in denen ebenfalls alltägliche Gegenstände – Wattestäbchen, Marshmallows, Stoffhündchen, Hammer – eine Rolle spielen. Freilich findet hier weder eine systematische Erforschung der Klangmöglichkeiten von Alltagsgegenständen noch ihre Kultivierung durch ihren Einsatz im Konzert statt wie bei Maierhof. Die Gegenstände bleiben banale Alltagsgegenstände, deren Klangpotential im Film nicht realisiert wird. Die Realisierung des Klangs wird in die Vorstellung des Betrachters verlegt. Dadurch werden die klangerzeugenden Handlungen, die aber eben keinen Klang erzeugen, in ihrer Theatralität vorgeführt. Dieses Hervorheben der Theatralität von Musik ist nun wiederum etwas, was Jennifer Walshe sowohl mit John Cage als auch mit Maierhof und dem Komponist_innenkollektiv stock.11 verbindet, dem sowohl Maierhof als auch Walshe angehören. Damit stellt sie sich aber auch in eine europäische Traditionslinie der Theatralisierung von Musik, die man mit den Namen Dieter Schnebel und Mauricio Kagel umreißen kann. Ein Aspekt der Theatralsierung besteht in Turf Boons The Softest Music in the World nämlich in der Verhinderung des Klangs, was das Werk in den Kontext dessen rückt, was Marianne Kesting das »Musikalische Theater der Verhinderung« genannt hat, als dessen avanciertesten Vertreter sie eben Mauricio Kagel ausmacht, den sie in mehreren Traditionslinien situiert. Eine ist die der Valentinaden, in denen sowohl die Umstände als auch die inneren Befindlichkeiten der Beteiligten die Aufführung und damit das Erklingen von Musik verhindern, eine andere die der nur noch imaginierten Musik, wie sie etwa bei E.T.A. Hoffmann und bei Franz Kafka thematisiert wird. Hier gerate Kunst und in erster Linie Musik als »letzte Vertreterin des Transzendentalen« in die Diskrepanz von Kunstwollen und Reali-
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sierung sowie von Kunstwollen und öffentlicher Rezeption und werde daher gar nicht mehr notiert.51 Bei Kagel nun fände sich beides: In seinem riesigen Œvre »Instrumentalen Theaters« gibt es sowohl valentinsche Verhinderungen der Musik, qualvolle Impotenz wie höchste Kunstintention, die nicht mehr zum musikalischen Klang, zu ihrer Realisierung findet und nur durch die zufälligen Ränder von Klang oder durch Bild und Gestik umrissen wird.52 Auch Kagel hat bei einem seiner Stücke verhinderter Musik auf das Medium des Films zurückgegriffen. Es handelt sich dabei um Solo von 1967, das offensichtlich von Dieter Schnebels nostalgie (visible music II) von 1960/62 inspiriert worden ist. Wenn Schnebel in seinem Stück die visuell-korporale Komponente der Musik und der öffentlichen Aufführung von Musik von der Klangerzeugung trennt und dadurch ausstellt, so schafft er ein Theater über die musikalische Podiumssituation. In Kagels Stück geht es dann nicht mehr um die Podiumssituation, denn zum einen wird der leere Zuschauerraum durch eine Glasscheibe von den herumliegenden Instrumenten und dem Dirigenten abgetrennt, wodurch eine Anspielung auf die Aufnahmesituation im Studio zustande kommt. Zum anderen kommt bei Kagel mit dem Medium Film ein weiterer Akteur und zugleich Medium der Komposition, nämlich die im Raum bewegte Kamera hinzu: In solchem Dirigismus der Kamera mag man eine leise Ironie gegenüber Film und Fernsehen vermuten. Zu fotografieren ist ja nur die Dekoration und die vergebliche Bemühung des Dirigenten in vier Rollen und Masken. Dirigieren, vor abwesenden Musikern und abwesendem Publikum ist – komisch, ja, die Komik der Dirigiergesten, für sich genommen, wird geradezu ausgestellt.53
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Vgl.: Kesting, Marianne: Die Erschöpfung des Kunstwerks: Imaginäre Musik oder Musikalisches Theater der Verhinderung. In: Klüppelholz, Werner (Hg.): Kagel …./1991, DuMont Dokumente. Köln: DuMont, 1991, S. 221-230. Ebd., S. 225. Kesting: 1991, S. 229.
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Mit Hilfe des Mediums Film greift Kagel dieses Element des Komischen im Dirigieren, dass schon bei Schnebel als Dirigieren in Abwesenheit der Musiker deutlich vorhanden war, nicht nur auf, sondern steigert es noch. Ein guter Teil dieser komischen Wirkung kommt sowohl bei Schnebel als auch bei Kagel von der ins Leere gehenden Expressivität der Dirigiergesten. Genau diese aber fehlt bei Walshe, wenn das Dirigieren auf das schulmäßige Schlagen des Taktes reduziert und so jeder Ausdruckskomponente beraubt wird. Statt auf subjektiven Ausdruck verweist die Ausstellung des Taktschlagens hier auf die Zeitlichkeit von Musik, die Markierung des gleichmäßigen Verlaufs der Zeit durch das Metrum, der dann durch den Rhythmus der Musik strukturiert wird. Auf einen anderen Aspekt der Zeitlichkeit der Musik verweist die schmelzende Schokoladenfigur, nämlich auf ihre Vergänglichkeit. Wie Musik im Verlauf der Zeit sich entfaltet, indem sie in jedem Augenblick nicht nur erklingt, sondern gleich auch wieder verklingt, so erscheint die Schokoladenfigur in ihrem Vergehen in jedem Augenblick in einer neuen Form, die ebenfalls gleich wieder vergeht. Komisch wirkt auch diese Demonstration der Zeitlichkeit von Musik allemal. Komik schlägt aber in Kagels Film in Schrecken um, wenn plötzlich Feuer ausbricht, der Dirigent mit seinem Stab eine der weiblichen Statuen ersticht und der Saal schließlich zusammenstürzt. Dieses bei Kagel sehr deutliche destruktive Element findet sich in ambivalenter Weise gerade auch als komisches im Video von Walshe. Ambivalente Komik charakterisiert die zentrale Szene des Videos, in der ein Plüschhäschen mit einem Hammer traktiert wird. Das Lachen bleibt einem hier leicht im Halse stecken, wenn man auf Grund der mimetischen Qualität des Plüschtiers das lebendige Vorbild assoziiert. Genau in dieser Ambivalenz von Komik und Gewalt und Brutalität verweist diese Szene auf die Grundfragen des Videos. Würde ein mit dem Hammer malträtierter Hase Laute des Schmerzes von sich geben oder lautlos leiden? Der Plüschhase jedenfalls »erträgt« die Schläge lautlos, als klangerzeugende Handlungen bleiben sie also folgenlos. Doch auch als destruktive Handlungen bleiben sie folgenlos, das Stofftier bleibt intakt. Die Ausstellung der auf Klangerzeugung zielenden Geste wird ambivalent.
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Eine Aufführung von 4’33” ist immer auch eine Vorführung dieser Theatralität der Musik, die durch das »silencing« des Performers ebenfalls hervorgehoben wird. Cage selbst hat dies im Gespräch mit David Shapiro auf den Punkt gebracht: »What could be more theatrical than the silent piece? Somebody comes on stage and does absolutely nothing.«54 Offensichtlich war sich auch Cage selbst der Tatsache bewusst, dass die Hervorhebung der Theatralität auch bereits der in dieser Hinsicht reduktionistischen Aufführung von David Tudor immanent war. Es ist überhaupt keine Aufführung von 4’33” vorstellbar, die diese Hervorhebung vermeiden könnte, es sei denn eine, die auf jedes visuelle Moment und damit aber auch auf die Abgrenzung der drei Sätze voneinander verzichten würde. Wenn Cage also darauf besteht, dass das Stück in drei Sätzen aufzuführen ist,55 dann besteht er damit auch auf der Unterstreichung der Theatralität der Aufführung oder nimmt sie zumindest in Kauf. Theatralität ist daher dem Stück eingeschrieben, also komponiert und braucht nicht erst vom Ausführenden zusätzlich eingebracht zu werden, wie dies in verschiedenen Aufführungen geschehen ist. So haben etwa Mitglieder des RSO Ensemble Berlin, die 1982 4’33” als ein Ensemble aus Oboe, Klarinette und Fagott aufgeführt haben, pantomimisch auf ihren Instrumenten gespielt, was das theatrale Element der Körperbewegung bei der musikalischen Klangerzeugung durch das Ausbleiben des Klangs unterstreicht, damit aber wohl an der Intention Cages vorbeigeht. Noch weiter entfernte sich von der immanenten Theatralität des Stückes die Aufführung von Jeffrey Kresky 1985 in Wayne, New Jersey, in der er nicht nur eine Reihe von Requisiten, sondern auch eine Schauspielerin einsetzte, welche die Rolle des Notenumblätterns übernahm. Er selbst grüßte das Publikum, als er aufs Podium trat, verstellte umständlich und mehrmals die Höhe seines Klaviersessels und wischte sich mit einem Taschentuch über die Augenbrauen, während die junge Dame immer wieder die Noten umblätterte. Genau solche theatralen Mittel, die im Fall von 4’33” überflüssig sind, 54 55
Cage, John: On Collaboration in Art: A Conversation with David Shapiro. In: RES: Anthropology and Aesthetics, 10 (1985), S. 103-116, hier: S. 105. Vgl. Fetterman: 1996, S. 80.
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aber andererseits auch als dramatisches Potential in ihm stecken, setzt Jennifer Walshe in ihrem Stück für 10 Spieler und DVD mit dem Titel Hygiene ein, das am 27. Januar 2011 von den Mitgliedern von stock11.de in Berlin uraufgeführt wurde.56 Die 10 Performer der Uraufführung sind in sechs Gruppen im Spielraum verteilt. Ganz links und ganz rechts sitzen ein Geiger und eine Bratschistin, die somit auch den Spielraum abstecken. Dazwischen sind vier Zweiergruppen von Spielern verteilt. Links sitzen sich zwei Spieler an einem Tisch gegenüber, rechts vorne sitzen zwei an einem Tisch nebeneinander. In der Mitte des Spielraumes stehen zwei Performer vorne mit dem Profil zum Publikum hintereinander, hinten stehen zwei frontal zum Publikum nebeneinander. Hinter letzteren ist die Projektionsfläche für das Video bzw. den »Film«, wie es in der Ankündigung der Uraufführung hieß. Bereits diese Aufstellung mit ihrer Symmetrie von Zweiergruppen und der Rahmung durch die beiden Streicher bzw. durch Publikum und Projektionsfläche verweist auf einen hohen Grad von Abgeschlossenheit und Inklusion, durch den das Stück gekennzeichnet wird. Symmetrie ist auch ein prägendes Element der Gestaltung der Beleuchtung des Spielraumes. Permanent spenden Licht nur die Leselampen der Spieler bzw. Spielergruppen, die Spielraumbeleuchtung, die den ganzen Raum erhellt, wird immer nur phasenweise eingeschaltet. In den dunklen Phasen sieht daher das Publikum immer nur jene Spieler bzw. Teile von deren Körpern, die sich im Ausstrahlungsbereich der Leselampen befinden. Diese alternierenden Phasen von Beleuchtung des Raumes und Verdunkelung stellen auch das zunächst auffallendste Gliederungselement der Aufführung dar. Gegliedert wird dadurch das Stück in fünf dunkle und vier helle Phasen unterschiedlicher Zeitdauer, also insgesamt 9 alternierende Abschnitte. Die Verteilung der Zeitdauern sieht dabei so aus:
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Stock11.de-Mitglied Maximilian Macoll hat eine Videoaufzeichnung dieser Uraufführung auf YouTube eingestellt: http://youtu.be/rdwK4xNKb_U [abgerufen am 09.10.2020].
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Tabelle 1: Verteilung der Zeitdauern in Hygiene von Jennifer Walshe ●
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●
○
●
○
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0'29''
1'20''
1'22''
1'38''
0'29''
1'30''
1'45''
1'11''
1'29''
Rechnet man die Zeitdauern der Phasen der Dunkelheit und der Beleuchtung jeweils zusammen, so ergibt sich eine fast genaue Zweiteilung der Gesamtdauer: 5 Minuten und 34 Sekunden Dunkelheit stehen 5 Minuten und 39 Sekunden Beleuchtung gegenüber. Aber auch die in der Mitte stehende Dunkelheitsphase von 29 Sekunden Dauer teilt das Stück in zwei symmetrische Teile von jeweils 4 alternierenden Phasen. In der ersten Hälfte des Stückes überwiegt mit insgesamt 2 Minuten und 48 Sekunden gegenüber 1 Minute und 51 Sekunden deutlich die beleuchtete Phase, in der zweiten Hälfte übertrifft genau umgekehrt die Phase der Dunkelheit mit 3 Minuten 14 Sekunden die der Beleuchtung mit 2 Minuten und 41 Sekunden. Auch die Verteilung der Zu- und Abnahmen der hellen und der dunkeln Phasen über den ganzen Verlauf des Stückes zeigt ein symmetrisches Muster: Tabelle 2: Verteilung der Abnahme und Zunahme der hellen und dunklen Phasen in Hygiene von Jennifer Walshe ●
Die Sonderstellung der kurzen Dunkelphase in der Mitte wird auch dadurch unterstrichen, dass sie als einzige zur Gänze von Streicherklängen erfüllt wird. Dieses Erklingen von Violine und Viola ist das zweite sofort auffallende Gliederungselement der Aufführung des Stückes. Sie erklingen viermal jeweils in den Dunkelphasen mit Ausnahme der einleitenden. Damit wird die visuelle Hell-Dunkel-Gliederung von einer auralen Gliederung überlagert, die ebenfalls alternierend funktioniert und ebenfalls 9 Teile ergibt, die allerdings mit Ausnahme des zentralen Teils nicht mit den 9 Teilen der visuellen Gliederung übereinstimmen. Die Streicher setzen hörbar zwar immer in den Dun-
3. Verstummen: Stille und Schweigen
kelphasen ein, füllen diese aber nicht aus. Dennoch entsteht auf diese Weise eine Verknüpfung von der Verdunkelung des Spielraums und dem Erklingen von musikalischen Klängen, die wenigstens zum Teil auf traditionellen Instrumenten mit konventioneller Spielweise hervorgebracht werden. Zum Teil deswegen, weil zu den Streichern auch mit Hilfe von Alltagsgegenständen erzeugte Klänge treten, im ersten Teil wird auf Flaschen geblasen, im zweiten, zentralen Teil ebenso, im dritten werden Stäbe gegeneinander geschlagen und Steine von einem Trinkglas in ein anderes geschüttet. Dazu kommt im zweiten und im vierten Teil die menschliche Stimme, zuerst als Zählen des Pulses und schließlich als in mehreren Anläufen zum Schreien gesteigertes Sprechen. Insgesamt entstehen so in den Dunkelphasen auf der auralen Ebene Phasen gesteigerter Intensität, welche insgesamt im Verlauf des Stückes auf den Höhepunkt am Schluss hin zunimmt. Freilich beschränkt sich die aurale Ebene nicht auf die Dunkelphasen. Auf dieser Ebene beginnt das Stück schon in der ersten Hellphase bei circa 1 Minute mit dem Klopfen von Fingern auf eine Tischplatte, dem Zu-Boden-Fallen von Gegenständen und dem Geräusch von Fußgetrampel. Das Zählen des Pulses in der zweiten Streicherphase wird vorher schon durch ebenfalls mit dem Puls in Zusammenhang stehende D-Laute eingeleitet. Beides wird umspannt von einer längeren Phase des Händereibens, die den größten Teil der vorausgehenden Hellphase ausfüllt und sich auch noch in die folgende Hellphase erstreckt. Gefolgt wird es von einem lauten, regelmäßigen Klopfgeräusch und vom nochmaligen Zählend des Pulses, das erst zu Beginn der folgenden vierten Dunkelphase abbricht. Dazwischen gibt es immer wieder kurze Phasen der Stille, die nicht länger als 10 bis 20 Sekunden dauern. Längere Abschnitte der Stille gibt es nur zwei, die wiederum symmetrisch angeordnet sind: die erste zwischen 2’20” und 3’12”, die zweite zwischen 8’21” und 9’21”, unterbrochen nur durch das Zu-Boden-Fallen eines Gegenstandes zu Beginn der letzten Hellphase bei 8’47”. Das sind die Geschehnisse auf der auralen Ebene, das also, was in einer reinen Tonaufnahme einer Aufführung des Stückes zu hören wäre. Darüber hinaus gibt es aber in diesem Stück auch eine rein visuelle Ebene, die der Vi-
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deoprojektionen und eine dritte Ebene, welche sowohl mit der auralen als auch mit der visuellen verbunden ist, nämlich die Aktionsebene. Die Videoprojektionen nehmen zeitmäßig einen viel größeren Raum ein, als es Maierhof in seinen Stücken mit Videos für zweckmäßig hält, da bei ihm der Klang im Vordergrund steht und eine ausgedehnte visuelle Ebene eben davon ablenken könnte. Im Fall von Hygiene aber, kann man nicht sagen, dass die aurale Ebene im Vordergrund stehen würde, da das Stück eben von der Integration der auralen und der visuellen Ebene über die Vermittlung der Aktionsebene lebt. Die Ebene der Videoprojektion tritt aber aus diesem Zusammenhang heraus, da sie ja unabhängig von den Aktionen der Spieler abläuft. Dennoch ist auch sie mit der Aktionsebene verbunden, was schon ganz am Anfang des Stückes klar wird, wenn auf der Projektionsfläche ein Countdown von 5 bis 1 abläuft, nach dem sich die ihn beobachtenden Spieler von der Projektionsfläche im Hintergrund abwenden und ihre Spielstellungen einnehmen. Das Ende des Stückes wird ebenso auf der Ebene der Videoprojektion signalisiert, wenn unmittelbar vor dem Angehen der Beleuchtung der Schriftzug »stock11« und dann der Titel Hygiene kurz erscheinen. So legt also der »Film« den zeitlichen Rahmen fest, in dem dann die Aktionen der Spieler nach einem genauen Zeitplan ablaufen. Diese Synchronisation der Projektionsund der Handlungsebene wird im Verlauf des Stückes immer wieder deutlich, wenn etwa genau zum ersten Erklingen der Streicher mit den geblasenen Flaschen zwischen 2’20” und 3’12” ein Still mit einer Menschengruppe mit gelb-weißen Gebilden vor ihr gezeigt wird oder die ganze Dunkelphase zwischen 7’02” und 8’47” von der Wiederholungssequenz der bewegten abstrakten Bilder des ersten Teils ausgefüllt wird. Auch die zentrale Dunkelphase wird in ihrer Funktion der Zweiteilung des Stückes auf der Projektionsebene durch den pickenden, roten Vogel akzentuiert, der nur zu Beginn dieser Phase zum einzigen Mal zu sehen ist. Alle weiteren Elemente der Projektionsebene werden wiederholt, zumindest als kurze Einblendung in der letzten Phase des Stückes, die ansonsten geprägt wird durch das Motiv einer vor einem Spielzeugtier geschwenkten Lupe, das ebenfalls unwiederholt bleibt, weil es erst am Schluss zum ersten Mal auftaucht. Die sich bewegenden
3. Verstummen: Stille und Schweigen
abstrakten Bilder, die unterbrochen vom schon beschriebenen Still den ersten Teil bestimmen, verbinden zugleich durch die erwähnte Wiederholungssequenz im zweiten Teil diesen mit dem ersten. Das ikonische Bild des blauen Kindes, das für einen Moment am Anfang des zweiten Teils aufleuchtet, kehrt ein paar Sekunden vor Beginn der letzten Dunkelphase wieder, danach ebenfalls nur kurz eingeblendet die sich bewegenden Spielzeugroboter der zentralen und das Still der ersten Dunkelphase, so dass hier also nach der Rahmung der Wiederholungssequenz der abstrakten Motive in einer Art Coda das Videogeschehen des ersten Teils rekapituliert wird, und zwar in einer Weise, welche eine Entwicklung des Videomaterials vom Abstrakten zum Figürlichen nahelegt. Die den ersten Teil dominierenden abstrakten Motive, die dann noch einmal im Block im zweiten Teil wiederholt werden, werden nun endgültig von figurativen Motiven abgelöst. Solche figurativen Elemente haben sich im ersten Teil schon stellenweise zwischen die in ihrer Farb- und Formgebung zum größten Teil an Kandinsky erinnernden abstrakten Bilder geschoben und dominieren dann, wie schon gezeigt, den zentralen Teil. Auf diese Weise entsteht ein eigenständiges visuelles Geschehen, das nicht bloß eng mit dem Aktionsgeschehen verknüpft ist, sondern auch dessen zeitlichen Rahmen markiert und mit dessen zeitlichem Ablauf synchronisiert ist, wodurch es zu einem formgebenden Element wird. Der Abfolge der Hell- und Dunkelphasen folgt es bis auf die zwei genannten Ausnahmen der zentralen und der vierten Dunkelphase nicht, sondern überlagert sie, wodurch wiederum seine Eigenständigkeit sichtbar wird. Ganz ähnlich, nämlich als Überlagerung voneinander unabhängiger »Spuren« oder »Stimmen« funktioniert auch die wenig später entstandene und 2011 in Donaueschingen uraufgeführte Komposition Watched Over Lovingly by Silent Machines. Barbara Barthelmes schreibt darüber: Diese Spuren werden parallel geführt, sind mal weit voneinander entfernt und entgegengesetzt, mal kreuzen und verbinden sie sich punktuell. Doch für den Hörer und Betrachter wirken diese – jede für sich autonomen – »Stimmen« aus Bildern, Worten, Gesten und Klängen aufeinander ein, hat die Führung der einen Stimme Folgen für die an-
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dere. Je näher sie aneinander geraten, desto heftiger schlagen die Funken, blitzt an den Naht- und Schnittstellen Sinn und Aussage, Narratives auf. Grund dafür ist die Narrativität des Bildausschnitts […].«.57 Bis auf die letzte Aussage des Zitats könnte das durchaus auch als Beschreibung von Hygiene fungieren. Narrativ sind die bewegten Bilder in Hygiene nämlich auch nach der Verschiebung vom Abstrakten zum Figürlichen höchstens rudimentär. Anders als im späteren Stück findet Narration hier nicht auf der Projektionsebene, sondern vielmehr auf der Aktionseben statt, die sich somit als das die einzelnen »Spuren« verbindende Element erweist. Die Verbindung von visueller und auraler Ebene durch die Aktionsebene wird am deutlichsten sichtbar, wenn man die Stimmen der Violine und der Viola betrachtet. Die durch ihre Positionierung links und rechts außen den räumlichen Rahmen bildenden Musiker spielen ihre Instrumente nicht nur in den schon beschriebenen vier Phasen, in denen sie auch tatsächlich Töne hervorbringen, sondern setzen darüber hinaus auch in den Hellphasen vor ihrem ersten, dritten und vierten Erklingen gleichzeitig ein, allerdings ohne mit dem Bogen, den sie auf und ab bewegen, die Saiten des Instruments zu berühren, das daher stumm bleibt. Dieses sozusagen pantomimische Spiel der Instrumente rückt den visuellen und theatralen Anteil des Instrumentalspiels in den Vordergrund, verweist aber gerade dadurch auf die Verbindung zwischen der auralen mit der visuellen Ebene hin, die über die theatrale Ebene integriert werden. Dieser visuell-theatrale Aspekt, der durch das pantomimische Spiel der Geige und der Bratsche mit der aural-musikalischen Ebene verbunden wird, kommt voll zur Geltung im Spiel der von den beiden Instrumentalisten eingerahmten Zweiergruppen von Spielern, die allesamt zeitweise verschiedene Klänge hervorbringen, zeitweise aber auch stumme Handlungen zu vollziehen haben. Die zwei vorne in der Mitte
57
Barthelmes, Barbara: Geschichten im Kopf. Über Jennifer Walshes Komposition Watched Over Lovingly by Silent Machines. In: Positionen 91 (2012), S. 35-36, hier: S. 36.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
stehenden Spieler kreisen mit den Armen und den Hüften, bücken sich, schwingen mit dem Fuß, kreisen mit dem Kopf und beugen die Knie. Dazwischen geben sie Zeichen mit Leuchtstiften. Die beiden hinten stehenden Spieler wiederum geben mit an Cheerleader-Pompoms erinnernden Lamettabüscheln Winkerzeichen,58 später übernehmen sie ebenfalls die Leuchtstifte. Am Tisch links hinten wiederum bricht immer wieder ein Ringkampf zwischen den beiden Spielern aus, in dem sie einander über den Tisch hinweg bei den Armen fassen und der als Fußgetrampel auch auf der auralen Ebene erscheint. Dazu kommt noch das von den am Tisch rechts vorne sitzenden und schließlich auch von den stehenden Spielern betriebene Pulsmessen mit der rechten Hand am Handgelenk oder am Hals. All diese Handlungen zusammen verweisen auf spielerische Weise auf den ideologischen Kontext, in den Jennifer Walshe das Stück explizit im Programmheft der Uraufführung gestellt hat. Es ist dies der Kontext des deutschen Diskurses der Volksgesundheit und Leibesertüchtigung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, auf dessen starke militaristische Implikationen im Sinne einer Kriegsertüchtigung durch das Ringen am Tisch als auch durch die Winkerzeichen angespielt wird. Diese Handlungen wiederholen sich mit Variationen in den einzelnen Phasen des Stückes und sie intensivieren und steigern sich zugleich auf das Ende hin. So beginnt bei 9’21” in der letzten Hellphase am Tisch links hinten eine Serie von Ringkämpfen, die in schneller Abfolge bis zum Ende des Stückes andauert. Das immer wieder praktizierte, tonlose Sprechen der am Tisch rechts vorne sitzenden und der stehenden Spieler geht in der letzten Dunkelphase über in 7 Anläufe des lauten Sprechens, das sich in jedem Anlauf jeweils zum Schreien steigert. Der Text, der dabei gesprochen wird, ist kaum verständlich, weil simultan verschiedene Textfragmente noch dazu in atemberaubendem Tempo gesprochen bzw. gebrüllt werden, durch einige wenige verständliche Wortgruppen können sie aber als Fragmente aus August 58
Auch dieses Element hat Walshe in Watched Over Lovingly by Silent Machines übernommen und weitergeführt, indem sie dort diese Winkerzeichen mit anderen Gesten der Kommunikation ohne Worte verbunden hat. Vgl.: dazu: ebd.
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Strindbergs psychotischem autobiographischem Roman Inferno identifiziert werden. Die Wiederkehr des Gleichen bleibt ohne Ausweg, die Steigerung der Intensität macht dies nur noch deutlicher, Hygiene als »Volksgesundheit« mündet am Ende ins psychische »Inferno«. Trotz der Unverständlichkeit des Textes entsteht auf der einen Seite im Spielraum ein Theaterstück mit nachvollziehbarer Dramaturgie. Eben diese Unverständlichkeit des Textes zeigt auf der anderen Seite aber auch, dass es beim Textsprechen nicht um die Vermittlung diskursiver Inhalte geht, sondern auf das Erzeugen von Klangereignissen, die auf der gleichen Ebene angesiedelt sind wie die anderen auch, die Geräusche, die Streicherklänge, die auf den Flaschen geblasenen Töne. Die Performativität des Musikbegriffs wird so in den Vordergrund gerückt. Daher denke ich, das Stücke wie Hygiene oder auch Watched Over Lovingly by Silent Machines auch den Begriff »audiovisuelle Komposition« sprengen, mit dem Barthelmes letzteres Stück zu fassen versucht: In Watched Over Lovingly by Silent Machines ist multimediale Komposition wörtlich genommen und meint nicht die Verschmelzung der Medien, sondern die parallele Montage verschiedener, autonomer medialer Spuren – der Töne, Geräusche, Klänge (ob von Instrumenten, Alltagsobjekten, dem Körper oder der Stimme hervorgebracht), der Filmsequenzen, der Gestik, des Textes – zu einem radikal polyphonen Stück.59 Es ist sicherlich nicht falsch, in Zusammenhang mit diesen Stücken von radikaler Polyphonie zu sprechen, in dem Begriff ›Polyphonie‹ scheint aber immer noch ein Primat des Auralen mitzuschwingen. Da alle Elemente auf allen drei Ebenen, der auralen, der visuellen und der theatralen, gleichberechtigt als integrale Bestandteile der Komposition behandelt werden, kann man Hygiene als Musikstück letztlich nur mit Hilfe eines hybriden Musikbegriffs gerecht werden, der die aurale Ebene nicht mehr privilegiert. In dieser Hybridität des Musikbegriffs zeigt sich auch, dass Jennifer Walshe in Hygiene weit hinausgeht sowohl über 59
Ebd.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
Cages implizite Theatralität von 4’33” als auch über die »Ästhetik des Alltags« von Maierhof. Während bei Maierhof die klanglichen Möglichkeiten von Alltagsgegenständen erforscht werden, welche dann durch die Verpflanzung in die klassische Konzertsituation gleichsam geadelt werden, so werden sie von Walshe in einen zugleich und gleichermaßen auralen und theatralen Prozess integriert, den die Komposition hervorbringt. Wenn Cage ein Minimum an Theatralität in 4’33” gleichsam in Kauf nimmt, wenn er darauf besteht, dass die Dreisätzigkeit des Werkes für das Publikum nachvollziehbar sein soll, alles was über die reduktionistische Theatralität der zum Paradigma gewordenen Uraufführung von David Tudor hinaus geht, aber als Hinzufügung zur Komposition erscheint, so sind die explizit theatralen Elemente von Hygiene integrative Teile der Komposition. Musik wird hier explizit theatral. Vorgeführt und ironisiert zugleich wird diese explizite Theatralität der Musik an der Stelle, wo deutlich sichtbar, vor allem aber auch deutlich hörbar, nämlich ziemlich geräuschvoll eine Menge Notenblätter zu Boden fallen. Was wie ein Unfall wirkt, kann auch gelesen werden als ironische Anspielung auf das Stück mit dem beziehungsvollen Titel leaves von Walshes Lehrer Michael Pisaro aus dem Jahr 1997. Dort nämlich soll jedes einzelne Notenblatt, nachdem erklungen ist, was darauf notiert ist, zu Boden fallen. Das sanfte Geräusch des zu Boden schwebenden einzelnen Notenblattes ist integraler Teil des klanglichen Geschehens in dieser Komposition. In Hygiene dagegen ist das Geräusch der allesamt gleichzeitig zu Boden fallenden Notenblätter keineswegs sanft wie zu Boden sinkende Baumblätter im Herbst, um die Anspielung von Pisaros Titel explizit zu formulieren, mehr noch: Die Notenblätter fallen hier zu Boden, noch bevor erklungen ist, was auf ihnen notiert ist, wenn überhaupt etwas auf ihnen notiert ist. Keiner kümmert sich um den Vorfall, die Aktionen laufen ohne Unterbrechung weiter ab wie ein Uhrwerk, oder genauer gesagt: wie eine perfekte Inszenierung. Gerade diese Perfektion wird letztlich in dem Moment des Fallens der Notenblätter ironisiert. Der Hörer/Zuseher bekommt keinerlei Anhaltspunkte für die Entscheidung der Frage, ob dieser »Unfall« nun Teil des perfekten Ablaufs ist oder aber als Unfall eine Störung. Die Affirmation der
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Theatralität der Musik wird somit nicht zurückgenommen, sondern bestätigt. Die Reduktion der musikalischen Geste auf stumme Aktion, wie sie bei Cage und Walshe zu beobachten ist, findet eine literarisch-dramatische Entsprechung in einem Stück Peter Handkes, in dem die Schauspieler_innen auf der Bühne zum Schweigen gebracht werden. In Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten aus dem Jahr 1992 wird auf der Bühne kein Wort gesprochen, es gibt keinen dramatischen Text. Der Text des bei Suhrkamp erschienenen »Schauspiels« wirkt auf den ersten Blick wie ein ausgedehnter Nebentext, als bestünde er nur aus Regieanweisungen.60 Wäre dem so, dann handelte es sich in diesem Fall tatsächlich um »eingefrorene Handlungen«.61 Der Text könnte direkt mit einer Aktionspartitur verglichen werden. Bei näherer Betrachtung erweist er sich aber als ein narrativer Text, in dem ein Ich-Erzähler eine Theateraufführung beschreibt und gerät so an die Grenze zwischen Narration und Performanz.62 Im Fall sowohl der beiden in vorangegangenen Kapiteln besprochenen musikalischen Beispiele von Nono und Cage als auch von Handkes »stummem« Stück verbindet sich das jeweilige Zum-Schweigen-Bringen eines Elements der Aufführungssituation mit einer performativen Unbestimmtheit des Textes, mit der sich jede Aufführung auseinandersetzen muss. Bei Handkes »Schauspiel«63 han-
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Dies behauptet etwa Grieshop, Herbert: Rhetorik des Augenblicks: Studien zu Thomas Bernhard, Heiner Müller, Peter Handke und Botho Strauss. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1998, S. 159. Vgl. Zenck, Martin/Becker, Tim/Woebs, Raphael: DFG-Forschungsbericht »Theatralität« der Bamberger Historischen Musikwissenschaft: S. 11, URL: www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/ppp_professuren/musikwissenschaft/theatral.pdf [abgerufen am 03.10.2020]. Vgl. Katschthaler, Karl: Zum Schweigen bringen. Peter Handkes »Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten« im Kontext von Ästhetiken der Abwesenheit. In: Bombitz, Attila/Pektor, Katharina (Hg.): »Das Wort sei gewagt«. Ein Symposium zum Werk von Peter Handke [= Österreich-Studien Szeged; 15], Wien: Praesens, 2019, S. 163-169. So lautet der Paratext auf dem Titelblatt: Handke, Peter: Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Ein Schauspiel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992.
3. Verstummen: Stille und Schweigen
delt es sich ohne Zweifel um einen narrativen Text. Für seine Aufführung auf der Theaterbühne bedeutet das, dass das Narrativ entweder als eine lineare Abfolge von Aktionsanweisungen gelesen werden muss oder aber eine Adaptation vorgenommen werden muss, wie es im Allgemeinen bei der Dramatisierung narrativer Texte nötig ist. Im Laufe der Aufführungsgeschichte entwickeln sich Aufführungskonventionen, die wiederum zukünftige Aufführungen beeinflussen.
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4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Es wird nun Zeit, nach der Narrativität der Musik zu fragen. Fragt man, wie Musik narrativ wird, wie sie also narrativ gelesen und gehört werden kann, dann kann man zwei Arten des Narrativwerdens der Musik unterscheiden. Die erste findet man in der Partitur selbst, es handelt sich dabei um narrative Elemente, die in der Musik selbst zu finden sind. In diesem Sinne ist diese erste Art von musikalischer Narrativität eine komponierte Narrativität. Die zweite Art des Narrativwerdens der Musik entsteht in und vermittels der Aufführungsgeschichte. Es handelt sich dabei um Narrative, die außerhalb der Musik entstehen und existieren, die sich an die Musik anlagern und auf diese Weise zum Teil der Musik werden, wenn man unter Musik nicht nur den Notentext versteht, sondern auch ihre Rezeption. Man könnte die komponierte Narrativität auch primäre Narrativität und die sich in der Werkgeschichte anlagernde sekundäre Narrativität nennen. Beide Formen musikalischer Narrativität entwickeln sich nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in einer Wechselbeziehung. Da auch die primäre Narrativität im Sinne der Verschiebung des Schwerpunkts vom Autor zum Leser eine Narrativität ist, die sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte verändert, wird ihre Lektüre, also ob und wie das musikalische Werk narrativ gehört wird, von den sich anlagernden Narrativen beeinflusst. Umgekehrt bestimmen narrative Elemente der Komposition mit darüber, ob und welche Narrative sich an das Werk im Laufe der Aufführungsgeschichte anlagern können, indem sie sozu-
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Zwischen Atmosphäre und Narration
sagen Andockstellen bereithalten, an denen sich bestimmte Narrative festmachen können. Beide Formen der musikalischen Narrativität beeinflussen so nicht nur das Erleben und das Verständnis des Publikums, sondern auch der Ausführenden und somit die Art der Aufführung, was sich wiederum auf die Aufführungsgeschichte auswirkt. So entsteht in der Aufführungsgeschichte ein sich verstärkender Kreislauf von Performativität und Narrativität, der bestimmt, was wir im Fall eines musikalischen Werks zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt eigentlich als die Musik lesen und hören. Ein historisches Beispiel, das diesen Kreislauf und seine Funktionsweise gut verdeutlichen kann, ist Gustav Mahlers 6. Symphonie und innerhalb dieser der berühmte »große Hammer« im Finalsatz.
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Gustav Mahler: angelagerte Narrative in der 6. Symphonie
In Mahlers Symphonie Nr. 6 gibt es bekanntlich zwei Punkte, die auf Grund der Revisions- und Aufführungsgeschichte dieses Werkes zu Gustav Mahlers Lebzeiten bis heute umstritten sind und deren Erörterung in keinem Programmheft und kaum einer Kritik fehlen. Der eine umstrittene Punkt ist die Reihenfolge von Scherzo und Andante, der andere sind die zwei bzw. drei Hammerschläge im Finale. Es gibt kaum eine CD- oder Konzert-Kritik, in der nicht auf diese Hammerschläge und ihre akustische Qualität Bezug genommen würde, sodass man fast von einer Obsession mit dem Hammer sprechen kann. Verwendet wird das Instrument, das Gustav Mahler »großer Hammer« nannte, nur im Finale seiner 6. Symphonie, im »Marsch«, dem dritten der Drei Orchesterstücke op. 6 von Alban Berg, der Mahlers Hammerschläge zitiert und in dem mit Schlägen der großen Trommel und Hammerschlägen beginnenden Dis-Kontur von Wolfgang Rihm, der so-
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
mit noch einmal Mahler und gleichsam als ein Zitat eines Zitats auch Berg zitiert.1 Die erwähnte Obsession der Kritik mit den Hammerschlägen in Mahlers 6. Symphonie mag also wohl auch etwas mit dieser Exklusivität des Instruments zu tun haben. Die relativ häufige Aufführung und die vielen Einspielungen dieser Symphonie in jüngerer Zeit haben aber auch zu einer Klangvorstellung im Bewusstsein des Publikums geführt, die sich auch in den Kritiken spiegelt. Diese Klangvorstellung ist gekennzeichnet durch die Klangfarbenmerkmale dunkel, schwer, tief, wuchtig vor allem aber muss der Hammerschlag gut zu hören sein, das geht aus Attributen wie durchdringend, vernichtend, zerschmetternd, wuchtig und negativen Kennzeichnungen wie zu zurückhaltend oder
1
Vgl. dazu Williams, Alastair: Swaying with Schumann: Subjectivity and Tradition in Wolfgang Rihm’s ›Fremde Szenen‹ I–III and Related Scores. In: Music and Letters 87/3 (2006), S. 379-397. Dort heißt es auf S. 379f.: »While few of his pieces respond to an individual composer to the extent that Fremde Szenen does, many of them, particularly from the 1970s, are saturated with historical memory. Indeed, this characteristic is evident in the concluding Mahlerian Abgesang of Morphonie, Sektor IV for string quartet and orchestra (1972-3) – the work that brought Rihm to prominence in 1974 at the Donaueschingen Music Festival. This score provided a benchmark for the extreme late and post-Romantic textures that Rihm was to deploy extensively in the 1970s, for example in the two massive orchestral Adagios, Dis-Kontur (1974) and Sub-Kontur (1974-5). The former opens with huge hammer and bass drum blows and proceeds in discontoured shapes, punctuated by pauses that resonate with the corporality of the music; the latter provides a similar topography in its opening percussion blows, minus hammer, and subsequent thick textures.« Rihm selber versteht dies und andere Zitate aus der Musikgeschichte aber nicht als wörtliche, sondern als durch seine Lippen assimilierte und somit als »hereingefallene« erkennbare Töne. Vgl.: Rihm, Wolfgang: Über Dis-Kontur: Notizen zu einem Vortrag (1976). In: ders.: ausgesprochen. Schriften und Gespräche, hg. v. Ulrich Mosch, Mainz: Schott, 1997 (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 6), Bd. 2, S. 291-296, hier S. 293. Zu weiteren Mahlerschen Anklägen in Dis-Kontur vgl.: Williams, Alastair: New Music and the Claims of Modernity. Aldershot: Ashgate, 1997, S. 136-139. Zu den Hammerschlägen bei Mahler, Berg und Rihm und ihrem Zusammenhang vgl.: Katschthaler: 2013, S. 91-104.
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Zwischen Atmosphäre und Narration
wie ein Sandsack hervor. Die meisten dieser Attribute für die Lautstärke des Hammerschlages weisen auch bereits auf eine metaphysische Interpretation hin, von der später noch die Rede sein wird. Einen solchen durchdringenden Effekt mit einem Hammer zu erzielen ist keineswegs einfach und der Name des Instruments deswegen auch nicht selbsterklärend. Meist wird heute ein schwerer, langstieliger Holzhammer verwendet, mit dem auf eine hölzerne Unterlage, oft eine Art Holzkiste geschlagen wird. Micheal Gielen ließ aber auch gerne auf das Podium schlagen, »wenn es hohl klingt«.2 Leonard Bernstein ließ für seine Aufnahme im Jahr 1967 eine Holzkiste mit hineingebohrtem Schallloch mit der großen Trommel, die für die Aufführung des VerdiRequiems für die New Yorker Philharmoniker angefertigt worden war, kombinieren, die er beide unisono anschlagen ließ.3 Herbert von Karajan ließ den Hammerschlag gar elektronisch verstärken, »damit ihn jeder hört.«4 Den Einsatz von Elektronik hatte aber auch schon Adorno für nötig befunden, um die Hammerschläge auch tatsächlich hörbar zu machen, wenn er 1960 meinte, die Hammerschläge seien »bis heute nicht recht zu hören« und würden »wohl ihrer elektronischen Realisierung harren«.5 Die meisten Orchester und Dirigenten kommen freilich auch heute noch ohne elektronische Verstärkung aus, die Schlagzeuger lassen sich aber nicht selten etwas Neues einfallen, als Dirigent müsse man sich da etwas »anbieten lassen«, meint etwa Stefan Soltész.6
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5
6
Vgl.: Gielen, Michael/Fiebig Paul: Mahler im Gespräch. Die zehn Sinfonien. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2002, S. 123. Vgl. Wilheim, András: Hammer, in: ders.: Esszék. Írások a zenéről. Budapest: Kortárs Kiadó, 2010, S. 39-43, hier: S. 39. Nach Aussage des Schlagzeugers der Berliner Philharmoniker, Fredi Müller, in dem Hörstück »Der dritte Hammerschlag« von Karl-Heinz Blomann und Claas Hanson, WDR 2006. Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomie. In: ders.: Die musikalischen Monographien. Gesammelte Schriften. Bd. 13, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morrs und Klaus Schulz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003 (= stw 1713), S. 149-319, hier: S. 270f. Ebenfalls in dem in Fn. 162 angegebenen Hörstück.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Diese Kreativität bei der ständigen Neuerfindung des »Hammers« als Instrument für Mahlers sechste Symphonie wirkt fast anachronistisch in einer Zeit, in der die Bewegung der historisch informierten Aufführungspraxis sich schon lange nicht mehr auf die alte Musik, die Barockmusik und die Klassik beschränkt. Aus dieser Perspektive stellen sich zwei Fragen: •
•
Wie kamen die Hammerschläge überhaupt in die Partitur und was zeigt ein Vergleich der verschiedenen Entstehungsstufen vom Autograf bis zu den verschiedenen Partiturfassungen? Welches »Instrument« wurde von Mahler selbst bei der Uraufführung in Essen verwendet und wie hat es sich eventuell in weiteren vom Komponisten geleiteten Aufführungen verändert?
Sieht man sich zunächst das Autograf an, das das Schlussdatum 1. Mai 1905 trägt und sich im Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien befindet, so muss man feststellen, dass der Hammer während der Niederschrift der Partitur offensichtlich noch keine Rolle gespielt hat. Die Idee mit den Hammerschlägen kam Mahler anscheinend erst nachträglich, denn die Hammerschläge sind mit Blaustift in die Partitur eingetragen. Die Nachträglichkeit der Eintragung ist z.B. auf S. 257 deutlich zu erkennen, wo der Hammerschlag in Takt 783 aus Platzgründen unmittelbar nach dem ff-Zeichen für die kleine Trommel auf der untersten Notenlinie ihrer Zeile in Form einer Viertelnote eingetragen ist. Ebenfalls mit Blaustift sind das ff-Zeichen für den Hammer direkt unter dem für die kleine Trommel und die Pausenzeichen für ihn bis ans Ende der Zeile eingetragen. Vor dem Notensystem hat Mahler zwischen kleine Trommel und Pauken das Wort Hammer (»Hamer« mit einem Strich als Verdoppelungszeichen über dem m) geschrieben. Ähnliche Eintragungen finden sich auch in den Takten 530, 479, 336 und 9, an letzterer Stelle allerdings ohne die Bezeichnung »Hammer«. Man kann aber wohl in Analogie zu den anderen vier Stellen auch hier davon ausgehen, dass der Hammer gemeint ist. Von diesen fünf nachträglich in das Autograf eingetragenen Hammerschlägen haben es nur drei in die Partitur geschafft, die Mahler für die Uraufführung der Symphonie im Rahmen
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Zwischen Atmosphäre und Narration
des Tonkünstlerfestes in Kassel am 27. Mai 1906 verwendet hat, nämlich die in den Takten 336, 479 und 783. Diese erste Partiturfassung erschien 1906 bei C. F. Kahnt in Leipzig mit der Plattennummer 4526. Hans Ferdinand Redlich bezeichnet sie in seinem kritischen Bericht zu seiner Ausgabe der »Originalfassung« in der Edition Eulenburg (Plattennummer EE 6520) als Fassung (A). Als Fassung (B) bezeichnet er diejenige, in der die Reihenfolge Scherzo – Andante zu Andante – Scherzo vertauscht wurde und die noch vor der Uraufführung, bei der Mahler diese Reihenfolge verwendete, mit derselben Plattennummer 4526 erschien. Ein Exemplar dieser Fassung (B) verwendete Mahler dann im Sommer 1906 für die Revision seiner Symphonie, die zu Fassung (C) führte, welche wiederum mit derselben Plattennummer noch im selben Jahr erschien. In dieser Fassung (C) ist der dritte Hammerschlag in Takt 783 gestrichen worden. Redlich meinte aber, Mahler habe die Absicht gehabt, nicht nur die Reihenfolge der Mittelsätze wieder zurückzustellen, sondern auch den dritten Hammerschlag wiederherzustellen. Er stellt zwar richtigerweise fest, dass diese von ihm angenommenen Absichten nie in einer von Mahler autorisierten Druckfassung ihren Niederschlag gefunden haben, meint dann aber doch in Bezug auf diese Änderungen und die Revision der Instrumentierung: Ich bin sicher, dass viele dieser Instrumentationsretuschen von Mahler letztlich zurückgezogen worden wären – ähnlich wie im Fall der nur zeitweise vertauschten Mittelsätze und dem nur zeitweise kanzellierten dritten Hammerschlag – wenn Mahler länger gelebt und damit die Möglichkeit gehabt hätte, die VI. Symphonie noch weiterhin in öffentlichen Aufführungen zu erproben.7 Weder für Mahlers angebliche Absicht, die Reihenfolge der Mittelsätze in der Fassung (A) wiederherzustellen, noch für seine »möglicherweise erst aus dem Jahre 1910!«8 stammende Idee der Wiederherstel7 8
Hans Ferdinand Redlich am Schluss seiner Einleitung zu seiner Ausgabe der 6. Symphonie, Edition Eulenburg Nr. 586, S. XXVI. Ebd., S. XXV.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
lung des dritten Hammerschlags, gibt Redlich Quellen an. Woher diese Annahmen stammen, bleibt damit im Dunkeln. Sein Schusswort verweist aber klar darauf, dass die Basis seiner Vermutungen – oder in seiner Perspektive die Sicherheit – auf einem ästhetischen Urteil beruht. Nach Redlichs Auffassung haben die Retuschen Mahlers der Symphonie nichts Gutes getan und wären daher sicherlich von Mahler später, wenn er das zwangsläufig auch selbst eingesehen hätte, zurückgenommen worden. Dies ist der Subtext von Redlichs Schlusswort in der Einleitung. Damit aber hat er die Basis dafür gelegt, dass auch heute noch Dirigenten vor der Entscheidung stehen, den dritten Hammerschlag zu inkludieren oder nicht. Die meisten entscheiden sich zwar für die revidierte Fassung, also für die Fassung letzter Hand, es gibt aber sogar einige Einspielungen, die auch den dritten Hammerschlag enthalten.9 Es ist natürlich nicht ausschließbar, dass Mahler seine Meinung irgendwann noch geändert hätte, wenn er länger gelebt hätte, aber das bleibt reine Spekulation. Dass er gute Gründe hatte, den dritten Hammerschlag zu streichen und dass dieser Strich die Konsequenz anderer Veränderung an dieser Stelle ist, das geht aus einem Blick in das Exemplar der Partitur in der Fassung (B) hervor, in das Mahler seine Änderungen in verschiedenen Farben eingetragen hat. Diese Partitur befindet sich im Besitz der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien und trägt die Signatur N/6/14. Dort sind folgende Änderungen Mahlers zu sehen: • •
•
9
In Takt 782 ist der Aufstieg der Flöten und Oboen in der zweiten Takthälfte gestrichen (rot). Dieser Aufstieg wird nun von der auf zusätzlich gezogenen Notenlinien zwischen Hammer und Harfen notierten Celesta übernommen (rot). Beim Harfenglissando darunter sind p und Crescendo-Zeichen gestrichen und durch ff ersetzt (rot). Keineswegs nur »Außenseiter« wie Leif Segerstam oder Benjamin Zander haben sich entschlossen, den dritten Hammerschlag in ihren Aufnahmen erklingen zu lassen, sondern auch ein »Mainstream-Dirigent« wie Simon Rattle.
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Zwischen Atmosphäre und Narration
• • •
• •
In Takt 783 ist nicht nur der Hammer gestrichen (rot). Auch das ff der kleinen Trommel ist zum mf reduziert (rot). Beim »Schicksalsrhythmus« in den Pauken ist ein Schlögel gestrichen, das ff zum f reduziert und es findet sich die Eintragung »Holzschl« und zweimal »gedämpft« Der Dur-Moll-Wechsel in den Takten 783 und 784 wird verstärkt mit Fagotten und Klarinetten (rot). Bei den Trompeten und Posaunen ergänzt Mahler an der gleichen Stelle ff und Decrescendo zum p bzw. pp(blau).
Insgesamt ergibt sich also folgendes Gesamtbild: Mahler hat hier offensichtlich nicht bloß den Hammer gestrichen, sondern insgesamt die Rolle des Schlagzeugs stark zurückgenommen zugunsten eines stärkeren Hervortretens des Dur-Moll-Wechsels, bei dem auch ansonsten kein Hammerschlag stattfindet. Letztere Tatsache liefert zwar kein Argument gegen Redlichs Geschmacksurteil, wohl aber für die Konsequenz von Mahlers Revision. Michael Gielen trifft hier sicherlich genau ins Schwarze, wenn er in Bezug auf den dritten Hammerschlag meint: »Von einem formalen Standpunkt aus, glaube ich, war es auf jeden Fall richtig, ihn zu streichen.«10 Mahler dachte zunächst also an fünf, beginnend bereits in Takt 9, über das ganze Finale verteilte Hammerschläge, die allerdings nicht gleichmäßig verteilt sind, sondern in der zweiten Hälfte häufiger werden. Takt 9 und Takt 530, wo bereits in der Druckfassung (A) der Hammer fehlt, entsprechen einander: Es folgt Dur-Moll-Wechsel und Schicksalsrhythmus in den Pauken. Da auch Takt 783 diesem Bild entspricht, ist die Streichung des Hammers dort, wie schon gesehen, nur konsequent. Bei Takt 336, dem ersten Hammerschlag in den Druckfassungen, finden wir zwar den Dur-Moll-Wechsel, nicht aber den Schicksalsrhythmus, später, bei Takt 479 schließlich, fehlt auch der Dur-Moll-Wechsel. Der Hammerschlag in Takt 336 und der in Takt 479 unterscheiden sich aber auch in ihrer Stärke. Während der erste im fff
10
Gielen: 2002, S. 122.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
steht, finden wir beim zweiten nur nochff. Während der erste Hammerschlag nur mit den Pauken, diese allerdings nur im ff, zusammen erklingt, die dann überraschender Weise nicht den Schicksalsrhythmus schlagen, erklingen mit dem zweiten zusammen Pauken, große Trommel, Becken und Tamtam, alle imff. In Fassung (C) fügt Mahler an dieser Stelle die Anmerkung hinzu: »Becken und Tam-Tam nur im Falle der Hammer nicht ausreichend besetzt ist.« Aber auch beim ersten Hammerschlag gibt es in Fassung (C) eine zusätzliche Anmerkung. In Fassung (A) steht dort folgende Charakterisierung des angestrebten Klangs des Hammers: »Kurzer, mächtig, aber dumpf hallender Schlag von nicht metallischem Charakter«. In Fassung (C) kommt in Klammern hinzu: »wie ein Axthieb«. Zwischen Fassung (A) und Fassung (C) liegt die Uraufführung der Symphonie unter Mahler in Essen, also die erste Gelegenheit, den Klang des Hammers zu verwirklichen. Offensichtlich war Mahler mit der erzielten Klangwirkung nicht zufrieden und sah sich genötigt einen Präzisierungsversuch der Beschreibung zu unternehmen. Die Anmerkung zum zweiten Hammerschlag ist auf den ersten Blick widersprüchlich: András Wilheim weist auf den metallischen Charakter des Beckens hin und darauf, dass das Tamtam zwei Takte lang klingt und sein dynamisches Maximum erst nach dem Anschlag erreicht.11 Als Unterstützung des Klangs des Hammers betrachtet, wäre also das Becken ungeeignet, weil es metallisch klingt, das Tamtam, weil es weder kurz noch mit dem Hammerschlag zugleich erklingt. Die rein quantitative Auffassung des Hammerschlags bringt Andraschke zur Schlussfolgerung, diese beiden Instrumente, »die zusammen mit der großen Trommel den zweiten Hammerschlag gegenüber dem ersten klanglich steigern, sollen demnach gar nicht eingesetzt werden.«12 So einfach ist das aber wohl nicht. Andraschke selbst zitiert eine Stelle aus einem Bericht über die »inoffizielle Generalprobe« der Symphonie noch in Wien in der Neuen Musik-Zeitung
11 12
Vgl: Wilheim: 2010, S. 42. Andraschke, Peter: Gustav Mahlers Retuschen im Finale seiner 6. Symphonie, in: Stephan, Rudolf (Hg.): Mahler-Interpretation. Aspekte zum Werk und Wirken von Gustav Mahler, Mainz, New York: Schott, 1985, S. 63-80, hier: S. 77.
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vom 14. Juni 1906, wo Mahler mit der Aussage zitiert wird, »daß er nirgends die Absicht habe zu lärmen, daß er durch Verwendung der verschiedenen Schlaginstrumente nur Abwechslung in der Klangfarbe erzielen wolle.«13 Zur Variation der Klangfarbe aber sind Becken und Tamtam durchaus geeignet. Nun kann man also beide auch als Kontrastwirkung zum Hammer auffassen.14 In dieser Perspektive zeigt die Anmerkung Mahlers Unsicherheit in Bezug darauf, ob er den nicht metallischen Hammerklang mit dem metallischen des Beckens kontrastieren soll oder aber sein nicht metallischer Charakter auch ohne diesen Kontrast ausreichend zur Geltung kommt und nicht als Zurücknahme einer angeblich ursprünglich komponierten Steigerung, wie Andraschke meint: Mahler wollte demnach das, was er durch die Zunahme an Schlagzeug ursprünglich als Steigerung komponiert hat, letztlich in der Neufassung nicht mehr als solche verstanden wissen; geschieht dies bereits im Blick auf den in der Neufassung eliminierten 3. Hammerschlag?15 Wenn es dabei nur um Klangstärke gegangen wäre, warum hat er dann aber in der Neufassung nicht einfach Becken und Tamtam an besagter Stelle ebenfalls eliminiert? Die Formulierung »ausreichend besetzt« kann man aber eben nicht nur auf die Stärke des Klangs, sondern durchaus auch auf seine Qualität beziehen. Die Frage also, ob der Hammer »ausreichend besetzt« sei, ob also Becken und Tamtam an dieser Stelle erklingen sollen oder nicht, ist keineswegs einfach zu
13 14
15
Zit. n. ebd., S. 70. Diese Auffassung widerspricht auch prinzipiell der von Andraschke, dass nämlich »der instrumentale Effekt des Hammers« nicht bedeutend sei, sondern »eher klangunterstützend« wirke. Von der abenteuerlichen Argumentation, in die sich Andraschke dann verstrickt, laut der dem Hammer nur symbolische Bedeutung zukomme, und zwar nicht einmal als Hammer, sondern als Beil, wird später bei der Thematisierung der metaphysischen Interpretation des Hammers in seiner Rezeptionsgeschichte noch die Rede sein. Vgl.: Andraschke: 1985, S. 79. Ebd.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
beantworten. Die Entscheidung muss letztlich der Interpretation des Dirigenten überlassen bleiben. Aber auch die Anmerkung zum ersten Hammerschlag und auch der Zusatz dort beziehen sich offensichtlich nicht auf die Stärke, sondern auf die klangliche Qualität. Natürlich meint Mahler hier nicht, der Hammerschlag soll so laut wie ein Axthieb sein und damit im großen Orchester unhörbar, wie Wilheim richtig feststellt, sondern er soll qualitativ so klingen wie ein Axthieb. Dies kann nur mit anderen Mitteln erreicht werden als mit einem tatsächlichen Axthieb. Mit welchen Mitteln aber? In der Partitur finden sich keinerlei Hinweise darauf, womit und wie die Hammerschläge auszuführen sind. Man erfährt also nichts darüber, mit welcher Art von Hammer worauf geschlagen werden soll. Schon Paul Bekker stellt daher 1921 fest: In bezug auf die Aufführung und wirksame klangliche Darstellung bleibt der Hammerschlag ein Problem. Auch Mahler hat den Klang nur beschrieben, aber keine Weisungen für die Ausführung gegeben. Soweit ich Aufführungen des Werkes hören konnte, ist der Hammerschlag akustisch nicht der Absicht entsprechend zur Geltung gekommen.«16 In den Kritiken der Uraufführung der Symphonie in Essen 1906 ist von einer »Riesentrommel« die Rede, die Mahler anfertigen und nach Essen habe bringen lassen.17 Näher beschrieben wird dieses Instrument in einer Kritik der Uraufführung in der Zeitschrift »Signale für die musikalische Welt«: Dann der Hammerschlag! Da für einen solchen die kühnsten Hilfsmittel der modernen Instrumentation versagten und der Pistolenschuß, als noch nicht konzertfähig, nicht in Betracht kam, so ließ Herr Mahler einen Rahmen von anderthalb Meter im Quadrat mit dem Fell ei-
16 17
Bekker, Paul: Gustav Mahlers Sinfonien. Berlin: Schuster & Loeffler, 1921, S. 359. Vgl.: Grange, Henry-Louis de la: Gustav Mahler, Vol. 3: Vienna: Triumph and Disillusion (1904-1907). Oxford, New York: Oxford University Press, 2000, S. 814.
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nes ausgewachsenen Ochsen bespannen, verlieh diesem Rahmen zur Erzeugung der nötigen Resonanz einen halben Meter Tiefenausdehnung und stellte diesen Apparat, von vielen als das Wahrzeichen seiner neuen Schöpfung begrüßt, auf die oberste Stufe der Estrade. Warum der Apparat nicht in Tätigkeit trat, ist mir unklar geblieben. Es heißt, daß ein genügend kräftiger Mann, der den Schlag gegen das Ochsenfell in einer ekrasanten Stärke hätte vollführen können, in Essen und Umgegend nicht aufzutreiben war.18 Diese Beschreibung gibt einige Rätsel auf. Was soll es heißen, dass »der Apparat nicht in Tätigkeit trat«? Ist er demzufolge zwar auf der Estrade gestanden, als Symbol, wie es in der Kritik heißt, aber in der Aufführung dann gar nicht verwendet worden? Was hat es dann aber zu bedeuten, dass die Beschreibung mit dem emphatischen Ausruf »Dann der Hammerschlag!« beginnt? Lässt das nicht auf eine beeindruckende Wirkung ebendieses Hammerschlags schließen? War etwa der Hammerschlag nur visuell beeindruckend, akustisch aber gar nicht wahrnehmbar? Eine Kritik der Wiener Erstaufführung im Musikalischen Wochenblatt vom 17. Januar 1907 könnte in diese Richtung weisen. Dort heißt es, dass »der gefürchtete, an drei Stellen des Finales niedersausende Schlag mit dem 2 Meter langen Hammer als solcher von der Masse des Publikums kaum bemerkt worden sein dürfte.« Es ist wohl kaum anzunehmen, dass die Masse des Publikums einen immerhin zwei Meter langen Hammer nicht gesehen hätte, wohl aber ist denkbar, dass der Hammerschlag im Orchestertutti akustisch untergegangen ist, d.h. nicht hörbar war. So jedenfalls könnte man die Formulierung »als solcher nicht wahrgenommen« interpretieren. In derselben Zeitschrift findet sich in der Ausgabe vom 21. Juni 1906 allerdings auch eine Kritik der Essener Uraufführung, in der es heißt:
18
Zitiert nach der Mitteilung dieser Kritik in: Stephan: 1985, S. 115. Rudolf Stephan gibt als Autor Leopold Schmidt an, Henry-Louis de la Grange schreibt sie dagegen Otto Neitzel zu. Alle anderen bibliographischen Angaben stimmen aber bei beiden Autoren überein: Signale für die musikalische Welt 64, 1906, S. 690f.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
da sauste plötzlich zum Schlage des gesamten Orchesters ein Hammerschlag dröhnend nieder, mit ›roher Kraft‹ stürmte das wilderregte Orchester dahin, da – wiederum derselbe ominöse, niedersausende und nervenaufrüttelnde Hammerschlag, der alle etwa Geistesabwesende energisch zur Sache zurückrief. Überhaupt spricht die Mehrheit der Kritiken der Essener Uraufführung dafür, dass das »Riesentrommel« und manchmal auch »Donnermaschine« genannte Hammerschlag-Instrument bei der Aufführung selbst gar nicht zum Einsatz gekommen ist. Von insgesamt 11 Kritiken, in denen das Thema Hammerschläge angesprochen wird, sprechen 6 explizit davon, dass diese in der Uraufführung nicht ausgeführt wurden.19 In einer von ihnen wird als Grund angegeben, dass die »Wirkung aber dem Komponisten nicht genügt haben soll«.20 Die anderen 5 Kritiken, in denen der Hammer erwähnt wird sind entweder nicht eindeutig in Bezug auf seinen tatsächlichen Einsatz in der Aufführung, da man nicht entscheiden kann, ob sich das Gesagte auf die Partitur, die ja vor der Aufführung bereits veröffentlich und nach dem Bericht einer anderen Kritik auch verbreitet war,21 bezieht oder auf die Aufführung (3 Kritiken)22 , oder aber sie sind aus anderen Gründen nicht zuverlässig (2 Kritiken). So ist in einer von ihnen, in der es heißt, dass der Hammer »an den
19
20 21
22
So heißt es im Essener General-Anzeiger vom 29. 5.1906: »und die Riesentrommel, die zuerst ganz oben auf dem Podium prangte, [ist] schließlich ganz verschwunden.« Friedrisch Brandes berichtet im Juniheft 1906 des Kunstwarts, dass die Riesentrommel »bei der Aufführung nicht mehr vorhanden« gewesen sei. In der Neuen Musik-Zeitung vom 14. 6. 1906 ist vom Niedersausen des Hammers nur im Konjunktiv die Rede, Max Hehemann spricht in der Neuen Zeitschrift für Musik vom 6. 6.1906 davon, dass »die Hammerschläge auf die viereckige Riesentrommel ganz weggefallen sind«. Eduard Reuß in Neue musikalische Presse vom 30. 6.1906. Der Kritiker des Musikalischen Wochenblatts vom 21. Juni 1906 beobachtete »Musiker und Musikverständige zu Dutzenden mit der rotgehefteten kleinen Partitur in der Hand im Stadtgarten«. Dortmunder Zeitung vom 28. 5. 1906, Essener Volks-Zeitung vom 29. 5. 1906, Hannoverscher Courier (Abendblatt) vom 31. 5. 1906.
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Zwischen Atmosphäre und Narration
beiden in Betracht kommenden Stellen seine niederschlagende Wirkung nicht verfehlte« vorher von einem Hammer »wahrscheinlich aus bestem Krupp’schen Stahl« die Rede und wird die Symphonie schließlich die »Sinfonie mit den zwei Hammerschlägen« getauft.23 Diese Bezeichnung findet sich übereinstimmend in der zweiten Kritik, die oben schon zitiert wurde. Zudem geht aus den Kritiken auch nicht hervor, ob der Kritiker die beschriebenen Eindrücke tatsächlich bei der Uraufführung gewonnen hat oder aber bei den Proben. Insgesamt scheint es also eher wahrscheinlich zu sein, dass mit der mit dem großen Holzhammer zu schlagenden »Riesentrommel« nur bei den Proben experimentiert worden ist. Ob ihr Fehlen bei der Aufführung bedeutet, dass der Hammer dort überhaupt nicht zum Einsatz kam oder aber auf irgendetwas anderes – etwa auf das Podium – geschlagen wurde, das lässt sich auf Basis der erhaltenen Zeugnisse nicht rekonstruieren. Wie sehr oder eben wie wenig die Hammerschläge unter Mahlers Leitung hörbar waren und worauf sie in und nach Essen ausgeführt wurden, das bleibt somit unklar. Mahlers Antwortbrief an Willem Mengelberg mit dem Poststempel 18. VIII. 1906 schafft leider auch keine Klarheit. In diesem gibt Mahler seiner Freude Ausdruck, »unter so vielem wüsten Zeug […] so verständnisinniges und tiefbegreifendes zu vernehmen« und fährt dann fort: Schade, daß Sie mir Ihre Bemerkung bezüglich des »Hammers« so spät mitgetheilt. Jetzt ließ sich da nichts mehr thun da mein »Imprimatur« schon vor Wochen gegeben war. Aber Sie haben ganz Recht in der Sache, ich habe es auch gefühlt, aber wieder daran vergessen. Nun, wir können es ja in Amsterdam nach Ihrer Methode versuchen, und eventuell in einem Nachtragsblatt der Partitur anschließen.24 Leider ist der Brief Mengelbergs, auf den Mahler Bezug nimmt nicht erhalten geblieben und auch die Aufführung in Amsterdam nicht zustande gekommen, sodass also im Dunkeln bleibt, welche Änderungen
23 24
Vgl.: Generalanzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen vom 29. 5. 1906. Zit. n. Stephan: 1985, S. 69f.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Mengelberg Mahler nach der Uraufführung der Symphonie vorgeschlagen hat. Immerhin aber unterstreicht der Brief Mahlers Unzufriedenheit mit seiner Lösung und die Hoffnung, die Wirkung des Hammerschlags verbessern zu können. Erst 1933 findet sich in einer Kritik von Julius Korngold über eine Aufführung der 6. Symphonie unter Clemens Krauss in der Neuen Freien Presse vom 10. Januar die explizite Feststellung der Hörbarkeit des Hammerschlags: »[…] und schließlich saust ein richtiger Hammer nieder. Der Held fällt unter den Hammerschlägen des Geschicks, und man hört sie.« Auch wenn die Hammerschläge also vielleicht in der Frühzeit der Aufführungsgeschichte nicht gut hörbar waren, so wird der Hammer allerdings in den Kritiken der Jahre 1906 und 1907 sehr häufig erwähnt. Stefan Hanheide hat folgende 9, zählt man die Wiederholung in München mit, 10 Aufführungen der 6. Symphonie vor dem 1. Weltkrieg gefunden:25
25
Vgl.: Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang: Interpretationen der Sechsten Symphonie. Osnabrück: epOs-Music, 2004, S. 164f. Guido Adler zählte allerdings 1914 noch 21 Aufführungen dieser Symphonie, also mehr als doppelt so viele. Vgl.: Adler, Guido: Gustav Mahler. Wien, Leipzig: Universal-Edition, 1916, S. 91. Aus dem Vorwort zu dieser Ausgabe geht hervor, dass es sich um den unveränderten Nachdruck eine Studie aus dem Jahr 1914 handelt. Adler gibt aber nur diese Gesamtzahl an, weder sagt er etwas über eventuell darin enthaltene Wiederholungen noch gibt er Daten oder Quellen zu einzelnen Konzerten an. Es kann also sein, dass es mehr als die Aufführungen gegeben hat, die Hanheide dokumentieren konnte, es ist aber auch möglich, dass Adlers Zahl zu hoch gegriffen ist.
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Tabelle 3: Aufführungen der 6. Symphonie Gustav Mahlers vor dem 1. Weltkrieg Datum
Ort
Dirigent
Orchester
Bemerkungen
27.5.1906
Essen
Gustav Mahler
Städtische Orchester Essen und Utrecht
Uraufführung
8.10.1906
Berlin
Oskar Fried
Philharmonisches Orchester
Erstaufführung Mahler anwesend
8.11.1906
München
Gustav Mahler
Kaimorchester
Erstaufführung Wiederholung am 14.11.1906 unter Bernhard Stavenhagen
4.1.1907
Wien
Gustav Mahler
Konzertvereinsorchester
Erstaufführung, erstmals »Tragische«
11.3.1907
Leipzig
Hans WindersteinWinderstein Orchester
6.11.1911
München
Ferdinand Löwe
Konzertvereinsorchester
28.11.1911
Wien
Ferdinand Löwe
Konzertvereinsorchester
Ende 1911
Prag
Wilhelm Zemanek
9.2.1912
Dessau
Franz Mikorey
Erstaufführung
MahlerGedenkfeier Erstaufführung
Herzogliche Hofkapelle
Erstaufführung
Zu den vier genannten Aufführungen 1906/07 hat Hanheide insgesamt 69 Kritiken eruiert. Auf dieser Textbasis vergleicht er die Rezeption der Symphonie vor und nach dem Ersten Weltkrieg, wobei er nach dem Krieg nur Aufführungen in Ländern berücksichtigt, deren Kriegsteilnahme mit einer Niederlage endete, da seine Hauptfragestellung auf den Einfluss der Erfahrung des Krieges und seines Verlustes zielt. Zu
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
diesen 22 Aufführungen fand er 55 Rezensionen.26 Für seine Untersuchung stellt er auf Grund von in den Kritiken wiederholt vorkommenden Begriffen Bedeutungsfelder zusammen. Der Hammer wird dabei dem Bedeutungsfeld H (Kraft, Trotz, Wucht, Härte, Hammer) zugeordnet. Für den hier untersuchten Zusammenhang ist auch noch das Bedeutungsfeld L (Lärm) von Bedeutung, wie sich später noch herausstellen wird. Sieht man sich die Entwicklung dieser beiden Komponenten an, so ergibt sich statistisch folgendes Bild:27 Tabelle 4: Bedeutungsfelder in Bezug auf die Symphonie als Ganze 1906/07
1919-1933
Nennungen
Anteil
Nennungen
Anteil
H
14
31,1 %
15
30,6 %
L
15
33,3 %
1
2 %
Tabelle 5: Bedeutungsfelder in Bezug auf die vier Sätze zusammen 1906/07
1919-1933
Nennungen
Anteil
Nennungen
Anteil
H
56
81,2 %
37
67,3 %
L
43
62,3 %
5
9 %
Tabelle 6: Bedeutungsfelder in Bezug auf den 4. Satz allein 1906/07
1919-1933
Nennungen
Anteil
Nennungen
Anteil
H
21
46,7 %
16
59,3 %
L
18
40 %
3
11,1 %
26 27
Vgl.: Hanheide: 2004, S. 165-173. Vgl. dazu im Detail: ebd.: S. 222-238.
127
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Der Hammer fällt also in die in beiden Zeiträumen vor allem in Zusammenhang mit dem Finale am häufigsten genannte Kategorie. Die Kategorie Lärm hingegen, die 1906/07 noch die zweithäufigste und für das Gesamtbild der Symphonie sogar die häufigste ist, spielt im späteren Zeitraum praktisch keine Rolle mehr. Löst man nun den Hammer aus dem Bedeutungsfeld heraus, dem Hanheide ihn für seine Auswertung zugeordnet hat, so bekommt man auf Basis seines Korpus von Kritiken folgendes statistische Bild für Hammer und »Riesentrommel«: Tabelle 7: Frequenz von Hammer und Riesentrommel in den Kritiken 1906/07
1919-1933
Hammer
Riesentrommel
Hammer
Riesentrommel
4. Satz
20
7
4
0
Gesamt
33
7
7
0
Diese Daten unterstreichen zum einen die Tatsache, dass sich Mahlers »Riesentrommel« schon in Essen nicht bewährt hatte und deswegen diese Konstruktion – eventuell bereits bei der Uraufführung, sicherlich aber bei späteren Aufführungen – nicht mehr zum Einsatz kam. Zum andern aber zeigt der starke Rückgang der Nennungen des Hammers selbst, dass die Hammerschläge kein Aufsehen mehr zu erregen vermögen, was ja auch durchaus verständlich ist, sollten sie im großen Orchestertutti tatsächlich nicht recht heraushörbar gewesen sein, wie zu vermuten ist. Dazu kommt wohl noch, dass die Frage, ob es 2 oder 3 Hammerschläge zu sein haben, die heute so umstritten ist, in diesen Jahren noch nicht diskutiert wird.28 Der Wandel des Stellenwerts 28
Diese Frage scheint sich überhaupt nicht zu stellen. So berichtet der Kritiker des Musikalischen Wochenblattes am 21. Juni 1906 auf der einen Seite davon, dass schon am Tag vor der Uraufführung »Musiker und Musikverständige zu Dutzenden mit der rotgehefteten kleinen Partitur in der Hand im Stadtgarten« zu sehen gewesen seien, mit einer Partitur also, die drei Hammerschläge enthielt, auf der anderen Seite spricht er dann von der »Sinfonie mit den zwei Hammerschlägen« und beschreibt auch nur zwei. Hat er also selbst nicht in die Partitur
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
der Frage der »richtigen« Zahl der Hammerschläge dürfte wohl mit der Entwicklung der Interpretation dieser Hammerschläge zu tun haben, die daher im Folgenden näher beleuchtet werden soll. Einer der bedeutendsten Mahler-Dirigenten des 20. Jahrhunderts, Michael Gielen, erklärt im Gespräch mit Paul Fiebig die beiden Hammerschläge zunächst formal aus ihrer Stellung heraus. Sie markierten die zwei Hauptteile der Durchführung. Im weiteren Verlauf des Gesprächs vermischt sich diese Erklärung dann aber mit der metaphysischen Erklärung der Hammerschläge als »Axthiebe des Schicksals«. Die Streichung des dritten Hammerschlages, die Gielen, wie schon oben zitiert, zuerst rein formal legitimiert, erklärt er nun rein auf dieser metaphysischen Ebene, wenn er diesen letzten Hammerschlag als Besiegelung des Todes interpretiert und dann spekuliert, dass Mahler ihn, als sich seine Vorstellung vom Tod später in eine anthroposophische Richtung entwickelt habe, gestrichen habe, weil er nicht mehr zu dieser neuen Todesauffassung gepasst habe.29 Abgesehen vom originellen Gedanken Gielens, einen Zusammenhang mit verschiedenen Todesvorstellungen Mahlers herzustellen, ist diese zweigleisige Erklärung sehr alt. So schreibt Paul Stefan bereits 1912: The first development is broken off by a fearful crash of the whole orchestra, with a dull blow from the hammer falling, like a falling tree. The march-rhythm of the commencement introduces a further development. It seeks tranquillity. A second crash falls. Repetition of all fear and dread; each attempt to pierce the night of despair is in vain amid this ceaselessly raging storm. A long rigid pedal on A sets a goal. The
29
geschaut oder hat er darin den dritten Hammerschlag übersehen? Oder hat er den »Beinahmen« einfach aus dem Generalanzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen vom 29. 5. 1906 abgeschrieben und deswegen auch nur zwei Hammerschläge beschrieben? Wie immer dem auch sei, zwei oder drei, das scheint egal zu sein. Vgl.: Gielen: 2002, S. 122ff.
129
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movement becomes slower and slower; the leading-motive major-minor and the beating blows of destiny triumph.30 Die formale Erklärung Gielens entspricht offensichtlich genau der von Stefan, welcher parallel zu dieser auch bereits von Schicksalsschlägen spricht. Auch Guido Adler vergleicht wenig später die Hammerschläge im Finale der 6. Symphonie mit Schicksalsschlägen.31 Sehr früh also beginnt die Interpretation der Hammerschläge als Schicksalsschläge, wohl auch um sie gegen Angriffe zu immunisieren, die sie der Lächerlichkeit preiszugeben versuchten. Diese Absicht wird am deutlichsten bei Paul Bekker: An drei Stellen des Finale schreibt Mahler Erklingen des Hammers vor: »Kurzer, mächtig, aber dumpf hallender Schlag von nicht metallischem Charakter.« Dieser Klangeffekt ist ebenso belächelt und zum Gegenstand billiger Scherze gemacht, wie als unästhetisch beanstandet worden. Eines wie das andere beruht auf ärmlichem Mißverstehen. Mahler schwebte vor die Andeutung des Eingreifens von etwas Außerweltlichem, etwas Übermächtigem, Schicksalhaftem, etwas, gegen dessen niederschmetternde, übernatürliche Wirkung der Mensch nicht mehr ankämpfen kann. Er gelangt an die Grenze der Leistungsfähigkeit, will darüber noch hinaus, wird zu Boden geschlagen. Dies ist der Sinn des Hammers.32 Die symbolische Aufladung der Hammerschläge mit außermusikalischen Bedeutungen ist aber nur die eine Strategie Bekkers im Kampf gegen die Verächter dieser Symphonie. Sehr ausführlich bemüht er sich auch darum, die Hammerschläge aus der Form des Finales heraus als formale Notwendigkeiten zu legitimieren: 30
31 32
Stefan, Paul: Gustav Mahler. A Study of His Personality and Work. New York: Schirmer, 1913. Aus dem darin zu findenden Vorwort des Übersetzers erfährt man, dass es sich um die Übersetzung einer Studie Stefans handelt, die zunächst 1910 entstand, dann 1911 erweitert und schließlich 1912 noch einmal speziell für die Übersetzung erweitert und revidiert wurde. Vgl.: Adler: 1916, S. 71. Bekker: 1921, S. 209.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Es galt, die Einzelteile nicht nur thematisch und dynamisch gegeneinander abzugrenzen. Es mußten Zäsuren geschaffen werden, die gleichsam wie Riesenpflöcke die großen Stufungen des Baues auf weite Entfernung hervortreten ließen. Mahler erfindet sich ein Mittel, durch das er gedanklich, dynamisch und formal zu gliedern und gleichzeitig die überquellende Masse des Stoffes architektonisch zu bändigen weiß. Dieses Mittel ist der Hammer. Über seine symbolische Bedeutung wurde bereits gesprochen. Seine Verwendung beschränkt sich aber nicht auf Erfüllung der Symbolik. Sie dient gleichzeitig noch den Zwecken großliniger Gestaltung, erwächst also aus gedanklicher, klanglicher und formaler Notwendigkeit. Dreimal schallt dieser Hammerschlag. Zum erstenmal nach Abschluß des Vordersatzes, unmittelbar vor Beginn der Durchführung. Zum zweitenmal beim Abschluß der Durchführung. kurz vor Wiederbeginn des Hauptsatzes. Zum drittenmal beim Abschluß der Wiederholung vor der Koda.33 Knapp zusammengefasst wird diese zweigleisige Legitimierung der Hammerschläge dann von Hans Ferdinand Redlich in seiner Monographie über Alban Berg, wenn er über den Hammer im Finale der 6. Symphonie Mahlers schreibt, dass er dort »seine architektonisch ausgerichteten drei Schicksalsschläge austeilt«.34 Über diese Interpretation der Hammerschläge scheint also, jedenfalls unter den Mahler freundlich gesinnten Autoren, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Einigkeit zu herrschen. Auffallend ist freilich auch, dass zwar Adler und Stefan die Revision Mahlers akzeptieren und von zwei Hammerschlägen ausgehen, auf der anderen Seite aber nicht nur Redlich, dieser aus den oben schon genannten Gründen, auf drei Hammerschlägen beharrt, sondern auch Bekker ganz selbstverständlich von drei Schlägen ausgeht, ohne die Revision Mahlers überhaupt zu erwähnen. Freilich werden die drei Hammerschläge bei ihm implizit formal gerechtfertigt, während die Schicksalsebene, die durchaus auch
33 34
Ebd., S. 227. Redlich, Hans Ferdinand: Alban Berg: The Man and His Music. London: J. Calder, 1957: 1957, S. 94.
131
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vorhanden ist, in dieser Frage keine Rolle spielt. Eine solche beginnt sie erst zu spielen, nachdem diese Schicksalsebene mit der autobiographischen Ebene verbunden worden ist. Für diese Verknüpfung ist Alma Mahler verantwortlich zu machen: Im letzten Satz beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden. ›Der Held, der drei Schicksalsschläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie einen Baum.‹ Dies Mahlers Worte.35 Die Einschränkung, die Alma Mahler hier halbherzig zugesteht, dass Gustav Mahler »später« vom Helden der Symphonie und nicht von sich selbst gesprochen habe, hält nicht lange an, denn wenige Zeilen später kommt Alma Mahler auf ihre eigene Interpretation der Hammerschläge der 6. Symphonie und auch der Kindertotenlieder zu sprechen: Er hat sowohl mit den Kindertotenliedern wie auch mit der Sechsten sein Leben ›anticipando musiziert‹. Auch er bekam drei Schicksalsschläge, und der dritte fällte ihn.36 Dass es tatsächlich aus Gustav Mahlers Sicht eine autobiographische Ebene in seiner 6. Symphonie geben könnte, das bestätigt auch Alfred Roller, allerdings auf ganz andere Weise als Alma Mahler: Am Abend nach der Generalprobe zur »Sechsten Symphonie« fragte er seinen Freund, einen Nicht-Musiker, ob er einen Eindruck empfangen habe. Und als dieser, noch unter der von dem Werk hervorgerufenen Erschütterung bloß schluchzend zu stammeln vermochte: »Wie kann ein Mensch von Ihrer Güte so viel Grausamkeit und Unbarmherzigkeit ausdrücken!«, da sagte Mahler ernst und bestimmt: »Es sind Grausamkeiten, die mir angetan worden sind, die Schmerzen, die ich zu dulden hatte!«37 35 36 37
Mahler, Alma: Gustav Mahler – Erinnerungen und Briefe. Amsterdam: Bermann-Fischer, 1949, S. 92. Ebd.: S. 93. Roller, Alfred (Hg.): Die Bildnisse von Gustav Mahler. Leipzig, Wien: E.P. Tal, 1922, S. 162.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Demnach hätte Gustav Mahler den autobiographischen Gehalt seiner Symphonie keineswegs als Prophezeiung, sondern sozusagen im konventionellen Sinn als Erinnerung an Vergangenes aufgefasst. Auch die Verbindung von Schicksalhaftem und Dämonischem in seiner Symphonie, die Julius Korngold hergestellt hat, scheint Mahler bestätigt zu haben, jedenfalls berichtet Korngold das so in seinen Erinnerungen.38 Eine Bestätigung von Almas Theorie der Schicksalsantizipation ist dagegen nicht überliefert. So zweifelhaft diese Interpretation also ist, so einflussreich hat sie gewirkt. Die Abhängigkeit von der zitierten Aussage Alma Mahlers zeigt sich sehr deutlich in der Interpretation des Finales der sechsten Symphonie und insbesondere der Hammerschläge darin durch Peter Andraschke. Er zitiert am Anfang seiner Analyse des Finales genau die besagte Stelle aus Almas Erinnerungen. Danach geht er zwar mit keinem Wort auf die These der Schicksalsantizipation ein, seine Interpretation wird aber geprägt vom Konzept des Helden und der Schicksalsschläge. Dies führt Andraschke so weit, den Hammerschlägen überhaupt jede klangliche Bedeutung abzusprechen. So schreibt er zur Anmerkung Mahlers zum ersten Hammerschlag: Denn der Hammerschlag hat primär Symbolcharakter und ist Ausdruck der außermusikalischen Klangvorstellungen, wie sie etwa in der Anmerkung angesprochen sind. Und auch die Ergänzung in der zweiten Druckfassung wie ein Axthieb ist kein näher bestimmender Instrumentalhinweis, sondern präzisiert die sinngehlatliche Bedeutung dieses Schlages.39 Später wird er in dieser Hinsicht sogar noch deutlicher, wenn er über die schon im obigen Zitat erwähnte Hinzufügung, den Klammerausdruck »(wie ein Axthieb)« feststellt: »Er erläutert jedoch wider Erwar-
38
39
Vgl. die in Lebrecht, Norman: Gustav Mahler. Erinnerungen seiner Zeitgenossen. Mainz/München: Schott/Piper, 1993 veröffentlichte Stelle aus einem unveröffentlichten Manuskript Julius Korngolds im Besitz von Ernst Wolfram Korngold, S. 176. Andraschke: 1985, S. 73.
133
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ten nicht den Klangcharakter des Instruments, sondern besitzt außermusikalische Bildkraft.«40 Eine Begründung für seine Feststellung, die dezidiert eine Aussage Mahlers über den Klangcharakter des Hammerinstruments ausschließt, bleibt er freilich schuldig. Eine Begründung wäre hier aber umso dringender erforderlich, als er ja anscheinend eine Erläuterung des Klanges des Hammers erwartet. Warum kann dann aber Mahlers Hinweis nicht auf den Klang bezogen werden? Sicherlich kann Mahlers Formulierung sehr leicht mit dem symbolischen Gehalt verbunden werden, den Alma Mahler mit der Symphonie und den Hammerschlägen verbunden hat, aber diese symbolische Ebene der Aussage schießt eine klangliche Ebene nicht aus. Mehr noch, selbst das gestische Moment des Hammerschlages, dessen Wirkung im Konzert Andraschke mit Recht sehr hoch veranschlagt, ist nicht zwangsläufig ein Argument gegen eine klangliche Wirkung des Schlages. Andraschke meint dazu: »Die im Konzert auffällig wahrnehmbare Geste des Schlagens und das Eindeutige ihres Symbolgehalts vermögen das fehlende verbale Programm für diese Symphonie zu ersetzen […].«41 Das von Gustav Mahler bewusst und hartnäckig verweigerte verbale Programm zur sechsten Symphonie ersetzt die Geste des Hammerschlags sicherlich nur mit der verbalen Hilfe von Alma. Ohne diese nämlich ist der Symbolgehalt der Geste wohl nicht so eindeutig, sondern eher im Gegenteil mit recht vielfältigen Assoziationen verbindbar. Interpretiert man die drei Hammerschläge zusätzlich wie Alma Mahler als Antizipation von drei Schicksalsschlägen, von denen der letzte der eigene Tod ist, so wird die Streichung dieses letzten Schlages zwangsläufig zu einem Akt des Aberglaubens, einem Versuch, den eigenen Tod zu verhindern. Genau diese Sichtweise, dass Mahler nämlich den letzten Hammerschlag aus reinem Aberglauben gestrichen habe, wird von den zwei heftigsten Befürwortern der Wiederherstellung des dritten Hammerschlages vertreten. David Matthews übernimmt vorbehaltlos Almas Deutung und plädiert dann für die Wiederherstellung des dritten Hammerschlags unter Beibehaltung der revidierten 40 41
Ebd., S. 76. Andraschke: 1985, S. 79.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Instrumentierung, denn so wäre er von der Klangwirkung her nicht schwächer als die anderen. Wenn der »Held« also vom dritten Hammerschlag gefällt werden soll, dann soll der auch nicht zu schwach ausfallen? Diese Inkonsequenz im Vergleich zu Redlich, dem alten Proponenten der Wiederherstellung, der bekanntlich auch die Retuschen der Instrumentierung rückgängig machen wollte, sticht noch deutlicher hervor, wenn Matthews sich dann noch auf Noman Del Mar’s Argument beruft, dass nach dem Tod Mahlers die Streichung nicht mehr nötig sei, da sie ja aus reinem Aberglauben Mahlers erfolgt sei.42 Del Mar möchte allerdings wie schon Redlich auch die Instrumentierung der ersten Fassung wieder herstellen.43 Formal argumentiert Matthews damit, dass es sich bei allen drei Stellen um die Markierung eines Kollapses handle, »collapse of the second statement of the exultant D-major second subject« in Takt 336, Kollaps desselben in A-Dur in Takt 479 und schließlich der »last and most desperate attempt to sustain an exultant A-major« und »entrance of the motto« in Takt 783.44 Genau diese letztgenannte Wiederkehr des Dur-Moll-Wechsels zusammen mit dem Schicksalsrhythmus ist der Punkt, der, wie wir gesehen haben, gerade gegen den dritten Hammerschlag spricht, wenn man sich von Almas Theorie der Schicksalsantizipation, dem einzigen Element in diesem Kontext, das von Gustav Mahler nie autorisiert worden ist, verabschiedet und tatsächlich das musikalische Geschehen und Mahlers Korrekturen vor der letzten von ihm autorisierten Drucklegung berücksichtigt.45 Dann kann man auch den Geräuschcharakter des Hammerschlags erkennen und in den Vordergrund rücken, wie das etwa Albrecht Dam42
43 44 45
Vgl.: Matthews, David: The Sixth Symphony. In: Mitchell, Donald/Nicholson, Andrew (Hg.): The Mahler Companion. Oxford: Oxford University Press, 1999, S. 366-375, hier: S. 374f. Vgl. Del Mar, Norman: Mahler’s Sixth Symphony. A Study. London: Eulenburg Books, 1980, S. 152. Vgl.: Matthews: 1999, S. 375. Ich finde von daher Matthews‹ Argumentation höchst problematisch, problematischer noch als die von Redlich, der sich immerhin auf Gustav Mahlers Intentionen beruft, auch wenn er ihren Beweis schuldig bleibt.
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meyer getan hat. Er interpretiert in dieser Perspektive die zwei Hammerschläge als Signale der Krise der Sonatenform: Der erste Anlauf zu einem Durchbruch, einem Ausbruch aus der Destruktion, der zur Kirmesmusik entstellte Hymnus nämlich, wird vom ersten Hammerschlag vereitelt. Aus der Antithese der Jahrmarktsmusik, der Flucht ins gleichsam Meditative der Fis-Dur-Sphäre, wird der Hörer durch die apokalyptischen Signalmotive herausgerissen, die symmetrisch zwischen den Hammerschlägen stehen. Der dritte Anlauf, der des glanzvollen Hymnus, mündet wiederum in den Hammerschlag, diesmal zusätzlich unter Aufbietung aller Schlagkraft der anderen Rhythmusinstrumente. Banaler Jubel, pastorale Weltflucht und chorhafte Apotheose als Fluchtwege aus der Destruktion werden als Möglichkeiten durchgespielt und genau damit unmissverständlich vereitelt.46 In dieser Perspektive steht der Hammer zusammen mit den Herdenglocken für das Eindringen des Geräuschhaften in die konventionelle Welt der Symphonik. Das Erschrecken des Publikums mit dem Orchestertuttischlag, nachdem die Musik formal bereits zu einem Ende gekommen ist, der damit anders als die Hammerschläge strukturell völlig unvermittelt kommt,47 ist somit nicht »letzte Pointe«, sondern »letzte Konsequenz«:
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Dammeyer, Albrecht: Pathos – Parodie – Provokation. Authentizität versus Medienskepsis bei Friedrich Nietzsche und Gustav Mahler. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S. 318f. Wenn Andraschke dagegen schreibt: »Die Hammerschläge gehören nicht unmittelbar zur kompositorischen Grundstruktur des Satzes; sie sind erst im Autograph nachträglich zugefügt worden. Sie haben – zumindest die in die Druckfassungen übernommenen – auch keine die Formulierung unterstützende Funktion, sondern fallen überraschend und unerwartet wie Schicksalsschläge.« (Andraschke: 1985, S. 79), so ersetzt hier offensichtlich die Schicksalssymbolik noch einmal eine musikalische Analyse.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Hätte zumal die Reprise den Hörer glauben machen können, lediglich einem ästhetischen Ereignis beizuwohnen, wird er nun gezwungen, sich existenziell, und das meint: körperlich, zur Musik zu verhalten.48 In dieser Hinsicht könnte man dann die Hammerschläge tatsächlich als Antizipation, als Vorausdeutung auf das schreckliche Ende deuten, freilich nicht im Sinn einer auf die Musik projizierten angeblichen autobiographischen Prophezeiung, sondern als Unterminierung der symphonischen Norm durch das Übertreten der Grenze des Musikalischen zum Geräusch hin und in erster Linie durch das Übertreten der Konventionen der Symphonik. In diesem Zusammenhang ist noch einmal daran zu erinnern, dass Hanheide in den Kritiken aus den Jahren 1906 und 1907 eine deutliche Dominanz des Bedeutungskomplexes Lärm festgestellt hat und zwar sowohl in der Gesamtauffassung der Symphonie als auch und insbesondere in der Rezeption des Finales. Bei vielen Kritikern haben sich die Grenzüberschreitungen Mahlers in dieser Symphonie zunächst offensichtlich so sehr in den Vordergrund der Wahrnehmung geschoben, dass das konventionell Symphonische in den Hintergrund gedrängt wurde und tendenziell das ganze Werk als Lärm wahrgenommen wurde. Auch den Vorwurf des Mangels an Erfindung und der musikalischen Leere des Werkes, den man nicht nur in der ausführlichen Kritik der Essener Uraufführung von Gustav Altmann in der Zeitschrift Die Musik und in der Kritik der Münchner Erstaufführung von Hugo Daffner im Musikalischen Wochenblatt, um nur zwei Beispiele für den Zeitraum 1906/07 zu nennen, sondern auch bei Julius Korngold in der Neuen Freien Presse noch 1933 finden kann, muss man wohl in diesem Kontext betrachten.49 Auch dieses Urteil verweist auf die Hilflosigkeit im Umgang mit den Übertretungen der Konvention. Dass aber, zumindest nach dem Ersten Weltkrieg, durchaus die formale Stringenz des Finales bereits erkannt werden konnte, das zeigt etwa die Kritik von Dr. W. Jacobs in der Abendausgabe der Kölnischen Zeitung vom 26.
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Dammeyer: 2005, S. 325 Die Musik V. 19, 1. Juliheft 1906; Musikalisches Wochenblatt, 22. November 1906 und Neue Freie Presse, 10. Januar 1933.
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10. 1927 über die Aufführung des Gürzenich-Orchesters unter Hermann Abendroth am Vortag. Über das Finale heißt es da: Dieser Satz gehört zum Größten, was Mahler geschaffen, und auch das Klangbild, die grelle Instrumentierung, die Häufung des Schlagzeugs – wie hat man über den Schicksalshammer gespottet – kann heute nur als angemessen empfunden werden. Hier hat der Inhalt die Form gefüllt, und der gewaltige Apparat erfüllt seinen Zweck. Zu dieser musikalisch-formalen Angemessenheit der Mittel gehören auch die zwei Hammerschläge der revidierten Fassung. Ihre formale Notwendigkeit lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der erste Hammerschlag ersetzt zunächst ein rhythmisches Geschehen (»Schicksalsrhythmus« der Pauken) und dann der zweite ein rhythmisches (»Schicksalsrhythmus«) und ein harmonisches Geschehen (Dur-Moll-Wechsel: »Motto«). Damit ist aber der einzelne Hammerschlag, der als solcher weder ein rhythmisches noch ein harmonisches Geschehen ist, sondern Geräusch, überfordert. Diese Feststellung ist natürlich keine Kritik am Einsatz des Hammers, im Gegenteil. Die Zunehmende Überforderung durch zunehmende Repräsentation von nicht mehr Vorhandenem bei gleichzeitiger Abnahme der Stärke des Hammerschlags ist an diesen Stellen gerade das musikalische Geschehen: Musik gelangt an die Grenze des Geräuschs. Die Stelle, an der der dritte Hammerschlag stand, aber hat die Funktion der Reprise: »Schicksalsrhythmus« in den Pauken und das »Motto« des Dur-Moll-Wechsels kehren wieder, kurz bevor dann der Tuttischlag die symphonischen Konventionen in erschreckender Weise verletzt. Der dritte Hammerschlag hat so gesehen keine Berechtigung. Die Diskussion über Pro und Kontra der »Wiederherstellung« des dritten Hammerschlags und wohl auch die Entscheidungen mancher Dirigenten in dieser Richtung werden wohl kein Ende finden, solange sich die metaphysische Interpretation und insbesondere die auf Alma Mahler zurückgehende Antizipationstheorie halten können. Exemplarisch für diese Ambivalenz des dritten Hammerschlags soll hier am Schluss noch einmal eine Aussage von Michael Gielen über diesen stehen: »Ich mache ihn natürlich nie, weil Mahler ihn gestrichen hat, ich will ihn
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
aber einmal hören, mit großer Trommel und Tamtam dazu, so dass er die richtige Wucht hat.«50 Solange diese ambivalente Rezeptionssituation anhält, wird der dritte Hammerschlag seine Faszination auch weiterhin ausüben. Wie sollen aber nun die verbliebenen zwei Hammerschläge klingen? Wendet man hier die Perspektive der historisch informierten Interpretationspraxis an, so stellen sich die Hammerschläge in dieser Hinsicht schnell als »irrationaler Klang« heraus, wie Wilheim das formuliert. Im Unterschied zu vielen anderen Instrumenten, die meist auf eine lange Entwicklungsgeschichte zurückblicken können und dementsprechend auch auf eine mehr oder weniger große Anzahl von sich auf die verschiedenen Entwicklungsstufen beziehenden schriftlichen Quellen sowie erhalten gebliebene Instrumente selbst, fehlt beides in Bezug auf Mahlers Hammerinstrument. Wir wissen zwar von seinen Experimenten mit einer »Riesentrommel«, es ist aber auch zu vermuten, dass Mahler diese Variante des Hammerschlaginstruments verworfen hat. Wir hätten zwar durchaus die Möglichkeit, diese Riesentrommel nachzubauen und mit ihr noch einmal zu experimentieren,51 aber wir würden so nur ein Instrument nachbauen und einsetzen, welches Mahler selbst nicht genügt hat. Daher gibt es auch keine Geschichte des Hammerschlaginstruments Mahlers und somit auch keine historische
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Gielen: 2002, S. 122. Ein solches Experiment haben Karl-Heinz Blomann und der Komponist Claas Hanson im Zuge der Live-Performance ihres am 27. Mai 2006 vom WDR ausgestrahlten Hörstücks »Der dritte Hammer« auf dem Novembermusic Festival 2007 im niederländischen Hertogenbosch durchgeführt. In der Kurzbeschreibung des Hörstücks ist von einer Bauanleitung zu Mahlers Hammerschalginstrument die Rede: »Im Selbstversuch experimentieren internationale Klangkünstler während des Festivals ›open systems‹ 2005 mit der Bauanleitung für das in Essen damals erfolglos erprobte ›Hammerschlag-Instrument‹.« URL: www.hördat.de/pdf.pl?a=Blomann&b=Der+dritte+Hammerschlag&c=WDR [aufgerufen am 18.05.2021]. Eine Bauanleitung existiert aber nach E-Mail-Auskunft Hansens als solche nicht, auch er ging von den wenigen überlieferten Hinweisen auf die Konstruktion des Instruments aus.
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Praxis. Es gibt nur eine moderne Praxis der Ausführung des Hammerschlags, die bereits oben skizziert wurde. So wie für den Instrumentator Mahler der Hammerschlag zum Grenzfall wurde, so ist er ein solcher auch für die historisch informierte Interpretationspraxis. Wenn im Fall der 6. Symphonie Gustav Mahlers und der Hammerschläge im Finale die sich an die Musik anlagernden Narrative zur Herausbildung der heute üblichen Auffürhungspraxis beigetragen haben, so führen beide, die komponierte Narrativität und die angelagerten Narrative in einem anderen Fall zu einer potentiellen Veränderung der Aufführungspraxis.
4.2
Alban Bergs Lyrische Suite und die Frage autobiografischer Authentizität
Die Feststellung, dass Musik ein Medium, das Narrativ aber kein Medium, sondern ein transmedialer kognitiver Rahmen ist, wird wohl kaum noch eine Kontroverse auslösen. Wenn aber Transmedialität eine Kerneigenschaft des Narrativs ist, wenn das Narrativ also die Fähigkeit hat, in verschiedenen Medien aufzutreten, dann kann es auf zwei unterschiedliche Weisen definiert werden. Zunächst kann das Narrativ als medienunabhängig konzipiert werden. Dies muss auf einem Abstraktionsniveau geschehen, das es erlaubt, das Konzept des Narrativs auf verschiedene Medien anzuwenden. Die andere Möglichkeit besteht darin, einen Prototyp des Narrativs zu definieren, der eine Menge typischer Eigenschaften enthält, von denen dann, liegt ein Narrativ vor, einige, aber nicht alle im gegebenen Medium vorgefunden werden müssen. Ein Beispiel für erstere Methode ist Werner Wolfs Definition des Narrativs in seinem Artikel »Music and narrative« in der Routledge Encyclopaedia of Narrative Theory, wo er das Narrativ beschreibt als »a cog-
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
nitive frame that can inform a plurality of signifying practices in order to meaningfully represent, and make sense of, temporal experience.«52 Fotis Jannidis kritisiert solche hochabstrakten, medienunabhängigen Konzepte des Narrativs als »nothing more than a marginally useful hypostatized abstraction.«53 Als Alternative dazu schlägt er, die zweite Methode der Definition des Narrativs als transmedialer Rahmen anwendend, folgenden Prototyp vor: »a narrator tells an audience of listeners something that happened,« dem er eine Reihe typischer Eigenschaften zuordnet: »The histoire is a self-contained meaningful structure whose most important components are chronology, causality, teleology, and intentionality«54 Die wichtigste Eigenschaft des Narrativs sei aber seine Repräsentationalität (»representationality«), da nämlich gelte: »[a] story is not a narrative, but the representation of a story is.«55 Die logische Schlussfolgerung aus dieser repräsentationalen Konzeption des Narrativs ist, dass das Narrativ zwar einerseits medienunabhängig definiert werden muss, andererseits aber immer als in einem Medium verankert behandelt werden sollte.56 In Bezug auf musikalische Narrativität muss daher die Frage gestellt werden, durch welche Eigenschaften das Narrativ im Medium der Musik verankert wird. Wenn aber einerseits das Erzählen einer Geschichte den Prototyp des Narrativs darstellt und andererseits weitgehend anerkannt ist, dass Musik keine Geschichten erzählen kann, dann kann man die Frage nach der Narrativität der Musik nur aus einer Position der Distanz zum Prototyp heraus stellen. Dieses Dilemma kann wahrscheinlich nur gelöst werden, wenn man sich das Narrativ in der Musik nicht als eine formale Struktur vorstellt, sondern als Repräsentation von 52
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Wolf, Werner: Music and Narrative. In: Herman, David/Jahn, Manfred/Ryan, Marie-Laure (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London and New York: Routledge, 2005, S. 324-329, hier: S. 324. Jannidis, Fotis: Narratology and Narrative. In: Müller, Hans-Harald/Kindt, Tom (Hg.): What Is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin: Walter de Gruyter, 2003, S. 35-51, hier: S. 51. Ebd. Ebd., S. 50. Vgl. ebd.
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Bedeutung, oder wenn, wie Lawrence Kramer es formuliert, gilt: »narrative elements in music represent, not forces of structure, but forces of meaning.«57 Kramers Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Musik seit der Renaissance in vielfältiger Weise und in einer Reihe unterschiedlicher Gattungen vom Lied und der Programmmusik bis zu Symphonien, die das Publikum immer wieder dazu angeregt haben, Narrative in ihnen zu finden oder mit ihnen zu verbinden, auch wenn ihnen kein explizites Programm beigegeben war, eingesetzt worden ist, Narrative zu begleiten.58 Im Anschluss an diese Beobachtung versucht Kramer Jacques Derridas philosophisches Konzept des Supplements im musikwissenschaftlichen Kontext für die Modellierung des Verhältnisses von Musik und Narrativ fruchtbar zu machen, wenn er meint: »[i]n relation to narrative, music is a supplement, in the deconstructive sense of the term.«59 Der Begriff des Supplements wird dabei mehrdeutig verwendet, da es zugleich Exzess und Heilung sei. In Kramers Worten: By taking on a supplement, a presumed whole puts its wholeness into question. The act of addition exposes an unacknowledged lack which the supplement is needed to counter. And in countering that lack the supplement exceeds its mandate and comes to replace the whole it was meant (not even) to repair.60 Das Resultat ist die Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses von Musik und Narrativ, das dadurch gekennzeichnet ist, dass das Narrativ das Primäre und die Musik das Sekundäre ist, eine Begleitung, die dem Narrativ etwas hinzufügt. Als Supplement nämlich: »the music becomes the primary term and the story its mere accompaniment.«61 57 58 59 60 61
Kramer: 1991, S. 161. Vgl. ebd., S. 154. Ebd., S. 144. Ebd., S. 155. Ebd. Das ist zwar ein elegantes Argument, doch kann das wohl nicht das letzte Wort in Bezug auf das Verhältnis von Narrativ und Musik sein. Kramer scheint an die Oper und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, vor allem an Wagner zu denken, wenn er behauptet, dass man nicht auf die Worte, sondern bloß auf
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Susan McClary teilt mit Lawrence Kramer die Überzeugung, dass narrative Elemente in der Musik in erster Linie Bedeutungen generieren und nicht Strukturen, wenn sie musikalische Texte als kulturelle Texte liest.62 Allerdings gibt sie ihrer Argumentation aber auch eine historische Dimension. Sie beschränkt nämlich, wie oben schon erwähnt, die Zeit des Narrativs in der Instrumentalmusik auf die Periode zwischen etwa 1700 und 1900, eine Zeitspanne von rund 200 Jahren »in European history most focused on notions of the centered Self«, in der die Instrumentalmusik »narratives of subjective becoming or Bildung«
62
die Musik zu achten brauche. In diesem Kontext erwähnt er zwar Wagners Leitmotivtechnik, nicht aber ihre narrative Funktion, die darin besteht, einen guten Teil des Narrativs vom Text in die Musik zu verlagern. Es zeigt sich, dass sich sein Argument auf einen spezifischen Fall von Intermedialität in einer spezifischen historischen Epoche stützt. Doch auch in Bezug auf diese Epoche kann man die Frage stellen, ob die Art und Weise der Rezeption, die Kramer vorschlägt, d.h. nur auf die Musik zu hören und nicht auf die Worte, wirklich universell ist oder nicht vielmehr eine historisch und soziologisch determinierte Rezeptionsweise unter anderen. Wenn wir etwa das Beispiel von Romeo Castelluccis Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Oper Orfeo ed Euridice in Wien im Jahr 2014 nehmen, dann ist nur schwer vorstellbar, dass das Publikum dem Rat Kramers folgt und nur auf die Musik hört. Castellucci stellt nämlich eine Parallele her zwischen dem Narrativ der Oper und der Biographie einer jungen Frau, die nach einem Unfall sic him sogenannten Minimal Conscious State (MCC) befindet. Bilder dieser Frau, die in einem Krankenhauszimmer im Bett liegend mit Kopfhörern die Radioübertragung dieser Opernaufführung verfolgt, auf eine riesige Leinwand, welche die Bühne nach hinten abschließt, projiziert. Mit Hilfe kurzer Texteinblendungen wird das Publikum über die Biographie der früheren Baletttänzerin und ihre Familie informiert, während sich die Kamera durch Straßen und enge Korridore bewegt, bis sie schließlich am Bett der jungen Frau ankommt. Eine narratologische Analyse dieser Inszenierung müsste mehrere Ebenen von Intermedialität berücksichtigen. Vgl. dazu Katschthaler, Karl: A World in Between: Staging Brain-damaged Patients and Human Dignity. In: Campos, Luis/Schopf, Fiona Jane (Hg.): Music on Stage, Volume 2. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2016, S. 58-74. Vgl. McClary:1997, S. 21.
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beschrieben habe.63 Mit der Krise des Konzepts der Bildung64 und der Krise des zentrierten Selbst um 1900 habe aber die Avantgarde-Musik des 20. Jahrhunderts eine antinarrative Haltung entwickelt: The radical compositional devices associated with primitivism, expressionism, and chance emerged as attempts at breaking the hegemony of narrativizing musical processes, so engrained by 1900 that extreme solutions such as these seemed the only recourse.65 McClary wertet Arnold Schönbergs Zwölftontechnik in diesem Kontext als Versuch, nicht intendierte Rückfälle in die Tonalität und damit den narrativen Abschluss in der Kadenz zu vermeiden.66 Schönbergs Schüler und treuer Anhänger Alban Berg war sicherlich vertraut mit dieser antinarrativen Haltung seines Lehrers und Vorbilds. Dennoch kann Bergs Streichquartett mit dem Titel Lyrische Suite, obwohl es sich um eine Zwölftonkomposition im Sinn von Schönbergs Methode handelt, nicht so einfach dem Bereich der antinarrativen Instrumentalmusik zugeschlagen werden. Vielmehr kann man es als ein Beispiel für antinarrative Musik in der Krise betrachten, oder – aus einer anderen Perspektive betrachtet – als narrative Musik in der Krise. Um diese Hypothese zu unterstützen, werde ich zunächst das supplementäre Verhältnis von Narrativ und Musik im Fall der Lyrischen Suite 63 64
65 66
Ebd., S. 24. Den Begriff Bildung versteht McClary als den Prozess der Erziehung und Selbstkultivierung, der im 19. Jahrhundert zur Herausbildung einer spezifisch bürgerlichen Art von Subjektivität führt. Dieser Prozess wird im Bildungsroman modelliert als die Entwicklung eines jungen Mannes zu einer Persönlichkeit, die Aspekte von Rationalität, Emotionalität, ästhetischem Empfinden und sozialer Verantwortlichkeit in sich integriert. Das paradigmatische Modell dieses Erziehungsromans als Bildungsroman ist Johann Wolfgang von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795-96). Mehrere moderne Romane aus der Zeit der Jahrhundertwende und dem frühen 20. Jahrhundert basieren auf diesem Paradigma, zeigen aber zugleich Momente der Krise des Bildungskonzepts des 19. Jahrhunderts. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törless (1906). McClary: 1997, S. 22. Vgl. ebd., S. 32, Fn. 9.
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untersuchen, dann eine Reihe von kulturellen Narrativen identifizieren, auf die narrative Elemente der Musik Bezug nehmen, und schließlich eine narratologische Kritik des Begriffs »Musik als Autobiographie« formulieren, der von Constantin Floros in seiner Monographie über Alban Berg67 eingeführt worden ist, wobei die Lyrische Suite eine prominente Rolle gespielt hat. Constantin Floros und George Perle haben unabhängig voneinander in der Lyrischen Suite ein unterdrücktes Narrativ von ehelicher Untreue und unmöglicher Liebe entdeckt, das in der durch Charles Baudlaires Gedicht De profundis calmavi (übersetzt von Stefan George) ausgedrückten Verzweiflung und somit in der sogenannten »geheimen Gesangsstimme«, ein Begriff, der von Perle geprägt wurde, im letzten mit Largo desolato überschriebenen Satz der Lyrischen Suite mündet. Seither begegnet dieses Narrativ dem Publikum routinemäßig in Programmheften und ähnlichen die Aufführung des Quartetts begleitenden Texten. Das einfache private Narrativ von Bergs außerehelicher Affäre mit Franz Werfels Schwester Hanna Fuchs-Robettin wird darin präsentiert als das unterdrückte Programm des Streichquartetts, ohne dessen Kenntnis der Schlüssel zum Verständnis der Musik fehle. Diese geradezu Fetischisierung des Narrativs hinter der Musik lässt Zweifel aufkommen an der Gültigkeit von Kramers Konzept der Musik als Supplement der Narration, das er mit dem Beispiel Wagner illustriert, wen er fragt: »Why bother to follow all that stuff Wotan is saying to Erda when we can just listen to the doom-laden procession of the leitmotives?«68 Warum sind wir dann so fasziniert von der Liebesgeschichte von Alban Berg und Hanna Fuchs-Robettin? Doch Kramer liegt vielleicht dennoch richtig. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass der supplementäre Charakter des Verhältnisses von Musik und Narration nirgends so klar sichtbar wird wie im Fall der Lyrischen Suite. Alban Berg war nicht der erste Komponist, der den programmatischen Charakter seiner Komposition bestritt oder ein existierendes 67 68
Floros, Constantin: Alban Berg: Musik als Autobiographie. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1992. Kramer: 1991, S. 155.
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Programm zu unterdrücken versuchte.69 Gustav Mahler etwa hat das bereits ausformulierte Programm seiner 3. Symphonie explizit widerrufen. Zu nennen ist hier auch der Fall seiner 6. Symphonie, die als »die Tragische« bekannt ist. In diesem Fall wurde das »geheime« Programm nicht von Musikwissenschaftlern entdeckt, sondern, wie wir oben gesehen haben, von seiner Witwe Alma Mahler-Werfel »enthüllt« und von Musikwissenschaftlern und Kritikern propagiert.70 Eine ähnliche Fixierung von Kritik und Publikum hat sich, wie wir ebenfalls gesehen haben, seither mit Bezug auf die Hammerschläge im Finale entwickelt, welche die von Mahler antizipierten drei Schicksalsschläge in seinem späteren Leben symbolisieren sollen. In Hinblick auf Berg und die Lyrische Suite gibt es aber einen wesentlichen Unterschied. Mahler steht mit seiner Symphonie in der Tradition der Beethovenschen Symphonie, welche laut Kramer dadurch gekennzeichnet sei, dass sie das Publikum dazu anrege, »to find originary stories where the composer has 69
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Bergs Komposition enthält mehrere Verweise auf seine Liebesaffäre, seine Sehnsucht nach Erfüllung dieser Liebe und ihre Unmöglichkeit. Diese Verweise hat er mit Hilfe eines Zahlensymbolismus und der die Noten bezeichnenden Buchstaben des Alphabets (z.B. A B für Alban Berg, H F für Hanna Fuchs) ohne jede Erklärung verschlüsselt in die Partitur geschrieben. Für den Leser der publizierten Partitur bleiben diese Verweise daher unsichtbar. Allerdings hat Berg ein Exemplar der gedruckten Partitur annotiert, indem er diese versteckten Verweise mit verschiedenen Farben markierte und so enthüllte und erklärte. Zudem schrieb er auch die Worte von Stefan Georges Übersetzung des Gedichts von Baudelaire zwischen die Notenzeilen des letzten Satzes. George Perle, der diese annotierte Partitur entdeckt hat, konstruierte daraus die von ihm so genannte »geheime Gesangsstimme«, indem er die dem Text zugeordneten Noten extrahierte und transponierte, wo das nötig war, um sie von einer Sopranstimme singbar zu machen. Vgl. dazu Perles Ausgabe der Partitur der Lyrischen Suite mit der ausgeschrieben Gesangsstimme: Perle, George (Hg.): Lyrische Suite für Streichquartett (1926). Neuausgabe von George Perle (inkl. »der geheimen Gesangsstimme«). Wien: Universal Edition, 2005. Im Unterschied zu Bergs Lyrischer Suite, wo es immerhin die vom Komponisten annotierte Partitur gibt, findet sich kein Beweis, dass Gustav Mahler ein solches »geheimes« Programm in Sinn gehabt hätte, als er die Symphonie komponierte. Das von Alma Mahler-Werfel »enthüllte« Programm ist möglicherweise ihre eigene Kreation, die dazu dienen sollte, die Symphonie zu popularisieren.
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left them unspecified.«71 Berg hat dagegen keine solche Symphonie geschrieben, deren paradigmatische Rezeptionsweise in der Elaboration eines impliziten Narrativs bestand, sondern eine Komposition in einer Technik, die McClary folgend zumindest zum Teil mit dem Ziel entwickelt wurde, der Narrativierung der Musik im 19. Jahrhundert ein Ende zu setzen. Berg hat das Narrativ nicht erst bewusst unterdrückt, indem er das Programm geheim gehalten und den Text von Baudlaires Gedicht, den Text der sogenannten geheimen Gesangsstimme, aus der Partitur entfernt hat, sondern schon mit seiner Entscheidung eine Zwölftonkomposition zu schreiben. In der Rezeption des Stücks scheint sich aber eine Umkehr des supplementären Charakters des Verhältnisses von Musik und Narrativ vollzogen haben: Das unterdrückte Narrativ schiebt sich als »geheimes« in den Mittelpunkt des Interesses und drängt die Musik in den Hintergrund. Mit der Enthüllung dieses »Geheimnisses« beginnt das autobiographische Narrativ nun als Supplement zu funktionieren und die kulturellen Narrative, auf die die Musik verweist, zu verdrängen. Welche kulturellen Narrative können nun mit der Lyrischen Suite in Verbindung gebracht werden? Eines von ihnen versteckt sich hinter der »concealed vocality« des Largo desolato, die von Hans-Ferdinand Redlich in den 1950er Jahren entdeckt wurde.72 Hinter dieser verborgenen Vokalität steckt mehr als nur die »geheime Gesangsstimme« und die Unterdrückung des Texts von De profundis clamavi von Baudelarie/George. Es stimmt zwar, dass Berg Hanna Fuchs-Robettin über das Largo desolato schrieb, es sei ein »Lied ohne Worte (denn niemand außer dir darf wissen, daß diese Töne des letzten Satzes den Worten Baudelaires unterlegt sind!)«73 Perle geht aber zu weit und irrt sich, wenn er daraus im Vorwort zu seiner kritischen Ausgabe der Lyrischen Suite »inkl. der geheimen Gesangsstimme« den Schluss zieht, dass der Komponist »die authentische Fassung seines Stückes« verborgen »und stattdessen der 71 72 73
Kramer: 1991, S. 154. Vgl. Redlich: 1957, S. 142. Zit. n. Perle: 2005, S. X.
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Welt nicht mehr als ein ›Arrangement‹ hinterlassen [habe], das keinen höheren Anspruch auf Endgültigkeit und Authentizität erhebt als die einst geläufige Orchesterfassung von Isoldens Liebestod aus Tristan und Isolde […].«74 Falsch ist das erstens, weil das ästhetische Subjekt, wie Hermann Danuser erläutert hat, durch das Gedicht von Baudelaire in die Sphäre ästhetischer Moderne versetzt wird. Daher kann das Werk nicht auf ein autobiographisches Bekenntnis reduziert werden.75 Das Konzept der Unsterblichkeit im Liebestod, auf das sich Berg mit den Zitaten aus Wagners Tristan bezieht, verbindet sich in der Lyrischen Suite mit Baudelaires modernem Konzept der Unmöglichkeit der Liebe des in den Abgrund geworfenen poète maudit.76 Perles Behauptung ist weiters in der Hinsicht falsch, als Berg den Text des Gedichts ja nicht einfach unterdrückt, sondern ihn in Musik verwandelt hat. Calvin Scott hat gezeigt, dass die melodische Linienführung der in die Instrumentalstimmen integrierten »geheimen Gesangsstimme« perfekt die Intonation der Verse spiegelt, wie sie in der Rezitation von Gedichten durch zeitgenössische Schauspieler zum Tragen kam. Diese Transformation oder Übersetzung von Worten in Musik, die »intermedial contouring of the declamation« genannt wird, wird deutlich z.B. in der bogenförmigen Kontur der melodischen Linienführung in den Takten 22-27, in der Beschleunigung in Takt 30 und in der absteigenden Melodie beginnend mit Takt 40.77 Scott zeigt auch, dass es sich bei Georges Übersetzung des Texts von Baudelaire bereits um eine intermediale Transformation handelt, da George von der musikalischen Qualität der Sprache des Textes ausgegangen sei. Er stellt fest, dass George versucht habe, die »mélodie
74 75
76 77
Ebd. Vgl. Danuser, Hermann: Nahe Ferne: Aufgehobene Dichtung in moderner Musik. In: Krones, Hartmut (Hg.): Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wien: Böhlau, 2001, S. 27-44, hier: S. 30f. Vgl. Ebd., S. 32. Vgl. Scott, Calvin: »Ich löse mich in tönen …«: Zur Intermedialität bei Stefan George und der Zweiten Wiener Schule. Berlin: Frank & Timme, 2007, S. 139.
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rythmique« und den musikalischen Klang des französischen Gedichts in einen »flow of carefully chosen sonorous words«78 zu transformieren. Diese Verschiebung weg von der Bedeutung und hin zum Klang in der Lyrik der Moderne ist von Jacques Le Rider, in seiner Interpretation von Julia Kristevas Revolution der poetischen Sprache, beschrieben worden als eine »Feminisierung«. Diese Feminisierung der Kultur entspricht der eine der zwei Typen von Moderne, die er unterscheidet.79 Dieser Typ der Moderne folge dem kosmogonischen Eros und wird für Le Rider von Gustav Klimt repräsentiert. Den anderen Typus der Moderne assoziiert er mit Arnold Schönberg und Ludwig Wittgenstein, welche er als Vertreter der asketischen Moderne bezeichnet. Deren Vision der Überwindung der Krise der Kultur und des künstlerischen Schaffens ist nicht die der Erotisierung von Kultur und Kunst, sondern steht im Gegensatz dazu. Sie setzen auf das Genie des Mannes, der sich abhärtet, indem er seine Sensualität unterdrückt und Barrieren errichtet gegen die Feminisierung der Kultur.80 Männlicher Protest, die Suche nach aristokratischer Schönheit, die Seele auf der einen Seite, die Feminisierung des Schreibens, Schreiben als Glücksversprechen, das Leibliche auf der anderen Seite – dies sind die binären Oppositionen des Männlichen und des Weiblichen in diesem kulturellen Kontext.81 Während die erste Phase von Schönbergs Werk noch dem Jugendstil nahesteht, wendete er sich in der nächsten Phase von Sinnlichkeit und Mystizismus ab und Logik und Rationalismus zu, indem er die Dissonanz emanzipierte und schließlich die Zwölftontechnik entwickelte.82 Es ist kein Zufall, dass Schönberg sich im Vorwort zu sei-
78 79 80 81 82
Ebd. Vgl. Le Rider, Jacques: Das Ende der Illusion: Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1990, S. 151. Vgl. ebd., S. 162. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. Le Rider: 1990, S. 160; Gerlach, Reinhard: Musik und Jugendstil der Wiener Schule, 1900-1908. Laaber: Laaber-Verlag, 1985 und Rosen, Charles: Arnold Schoenberg. Chicago, IL: University of Chicago Press, 1996, S. 26ff.
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ner Harmonielehre (1911) auf Otto Weininger bezieht,83 der das weibliche und das männliche Prinzip als unversöhnliche Gegensätze betrachtete. Auch Karl Kraus stimmte dieser Ansicht Weiningers zu, betrachtete aber im Gegensatz zu diesem, den Antagonismus des Weiblichen und des Männlichen nicht als tödlich, sondern fasste den Konflikt zwischen den zwei Prinzipien als die schöpferische Kraft des Menschen auf.84 Hier aber taucht ein Dilemma auf. Einerseits braucht der männliche Genius das Weibliche, um kreativ zu sein, andererseits zieht es ihn hinunter. Die einzige mögliche Lösung besteht, wie Nike Wagner schließt, in sexueller Abstinenz. Diese These illustriert Wagner mit der Figur Gustav Mahlers, wie sie von seiner Witwe Alma Mahler-Werfel in ihrer Autobiographie beschrieben wurde. Mahler habe zölibatär gelebt, da er gefürchtet habe, vom Weiblichen hinuntergezogen zu werden.85 Als Karl Kraus Frank Wedekinds Drama Die Büchse der Pandora in einer Privataufführung in Wien auf die Bühne brachte, idealisierte er die Figur des Schriftstellers Alwa. Alwa, der in Wedekinds Stück ein dekadentes Produkt der Kaffeehauskultur ist, wurde von Kraus als der einzige charakterisiert, der intellektuell über den um Lulu herum stattfindenden Ereignissen steht. In dieser Krausschen Version sei Alwa ein heroisch-masochistischer Gefangener hoffnungsloser Liebe, der aber nicht daran umkomme, sondern sein Leiden in Kreativität verwandle.86 Alban Berg, der einer der eingeladenen Gäste der Privataufführung von Kraus war, identifizierte sich mit dieser Interpretation der Figur und machte Alwa in seiner unvollendeten Oper Lulu, zu der er nach Wedekinds Stück selbst das Libretto gestaltete, zum Komponisten. Leon Botstein beschreibt Bergs von Kraus beeinflusste Idealisierung des Weiblichen folgendermaßen:
83 84 85 86
Vgl. Schönberg, Arnold: Harmonielehre. 3. verb. Auflage. Wien: Universal Edition, 1922, S. VI. Vgl. Le Rider: 1990, S. 159. Vgl. Wagner, Nike: Geist und Geschlecht: Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982, S. 149. Vgl. ebd., S. 182-185.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Like Kraus he idealized a premodern and nostalgic notion of nature and the feminine, and therefore an idealized characterization of love. The spiritual in love emerged from the carnal desire [sic!] but had to lead to creativity.87 Wie verhalten sich nun diese kulturellen Narrative zur Lyrischen Suite? Wir haben schon gesehen, dass Berg, als er sein »Lied ohne Worte« im Largo desolato schrieb, den Text des Gedichts von Baudelaire in Musik transformierte, indem er sich von der diskursiven Bedeutung der Worte ab und ihrem Klang und Rhythmus zuwandte. Als Folge dieses Vorgehens werden Klang und Rhythmus der Worte zwar verstärkt, ihre Bedeutung aber verschwindet. Diese intermediale Transposition kann als die letzte Konsequenz der Tendenz zur Feminisierung des Schreibens betrachtet werden. Die Unterdrückung der Worte des Gedichts und ihre Sublimation in der Musik müssen verbunden werden mit der Frage, warum Berg die Gattung des Streichquartetts gewählt hat, um Hanna Fuchs-Robettin seine Liebe zu erklären. In seinem langen Brief an sie vom Juli 1925, gesteht er, dass er am liebsten Lieder schreiben würde, dies aber nicht tun kann, weil die Worte dieser Lieder sein Geheimnis verraten würden. Er schließt daraus, dass er gezwungen ist, Lieder ohne Worte zu schreiben und fügt lakonisch hinzu: »Vielleicht wird’s ein Streichquartett!«88 Er hätte kaum eine bessere musikalische Gattung wählen können, um seine Liebe zugleich zu erklären und zu verbergen. Nach Melanie Unseld ist die Gattung des Streichquartetts nach Beethoven auf der einen Seite charakterisiert durch ein höchstes Niveau an Rationalität und kann somit für Berg ein Vehikel sein, sowohl Distanz zu gewinnen als auch sein Inneres zu verbergen.89 Auf der 87
88 89
Botstein, Leon: Alban Berg and the Memory of Modernism. In: Hailey, Christopher (Hg.): Alban Berg and His World. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2010, S. 299-343, hier: S. 321. Zit. n. Floros, Constantin: Alban Berg und Hanna Fuchs: die Geschichte einer Liebe in Briefen. Zürich: Arche, 2001, S. 32. Vgl. Unseld, Melanie: »Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende. Stuttgart: Metzler, 2001, S. 203.
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anderen Seite ist das Streichquartett ein intimes Genre, da es für die Aufführung an einem nicht-öffentlichen Ort vorgesehen ist. Daher ist es geeignet, intensiv Subjektivität auszudrücken.90 Unseld zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Berg seine intensiven Emotionen im Streichquartett in extreme Ästhetisierung überführt habe.91 Es muss darauf hingewiesen werden, dass sich ein ähnlich hohes Maß an Ästhetisierung bereits in Stefan Georges Übersetzung des Gedichts von Baudelaire findet, die Alban Berg für seine »Lied ohne Worte« im Largo desolato der Lyrischen Suite verwendet hat. Wir haben auch gesehen, dass Georges Ästhetizismus im Kontext der Feminisierung der Kultur angesiedelt werden kann. Baudelaire aber wurde von Le Rider in einem kulturellen Kontext verortet, in dem der Kultus des mundus muliebris und Misogynie koexistieren. Diese Koexistenz antagonistischer Weiblichkeitsbegriffe folgt dem Muster der Koexistenz von »spleen« und »idéal«. Karin Westerwelle hat argumentiert, dass Baudelaire nicht danach gestrebt habe, den »spleen« durch das »idéal« zu transzendieren: Baudelaire zielt nicht darauf, den Spleen zugunsten des Ideals aufzuheben. […] Die Produktion von Kunst (des Ideals) erfolgt aus der Perspektive eines Temperaments, des ›Spleen‹. […] Die Reihenfolge von Spleen und Ideal entspricht deswegen dem Konzept moderner Kunst: Sensibilität und Subjektivität kennzeichnen in der romantischen Epoche, wie Baudelaire sie definiert, das Kunstobjekt.92 Auf dieser Basis kann das Gedicht De profundis clamavi als Abstieg in die Hölle des »spleen« gelesen werden, im Zuge dessen die Gegensätze austauschbar werden: Zunächst hieß es in Anspielung auf die Glückseligkeit bringende Frauenfigur Beatrice aus Dantes Vita nuova und vielleicht in Erinne90 91 92
Vgl. ebd., S. 331, Fn. 47 Vgl. ebd., S. 203. Westerwelle, Karin: Baudelaires Rezeption der Antike. Zur Deutung von Spleen und Idéal. In: dies. (Hg.): Charles Baudelaire: Dichter und Kunstkritiker. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, S. 27-75, hier: S. 32f.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
rung an die gleichnamige Erzählung Balzacs »La Béatrix« […] dann in der Vorveröffentlichung von 15 Gedichten […] »Spleen«. Da beide Titel, herkömmlich betrachtet, Gegensätzliches bezeichnen, hier aber austauschbar werden, scheinen schwarze Innenansicht und repräsentierende ideale Weiblichkeitsfigur verbunden.93 All dies verortet Alban Berg in einem Zwischenraum, allerdings nicht zwischen Romantik und Moderne, was bis heute einer populären Charakterisierung der Musik Bergs entspricht, sondern zwischen zwei verschiedenen Spielarten der Moderne: zwischen Schönbergs asketischer Moderne der Zwölftontechnik und der sinnlichen Moderne der Feminisierung der Kultur. Als Ambivalenz finden wir genau diesen Gegensatz eingeschrieben in die Musik der Lyrischen Suite, und zwar genau an der Stelle, wo im Text der Ausruf steht: »und dieser nacht: ein chaos riesengroß«. In den Takten 31 und 32 (Abbildung 6) finden wir eine in sich bewegte Klangfläche, eine Technik, die in der atonalen Musik als tonales Auflösungsfeld verwendet wird.
Abbildung 6: Alban Berg, Lyrische Suite, Largo desolato, Takte 31-32.
93
Ebd., S. 35f.
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Abbildung 7: Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 2 für Sopran und Streichquartett op. 10, 4. Satz, Takte 93-98.
Used by permission of Belmont Music Publishers, Los Angeles.
Schönberg verwendet eine solche in sich bewegte Klangfläche im letzten Satz seines 2. Streichquartetts op. 10 (Takte 93-99, Abbildung 7). Über dieser Klangfläche wird die Gesangsstimme melismatisch zu den Worten: »ich fühle wie ich über letzter wolke in einem meer kristallnen glanzes schwimme« (Takte 95-98) aus Stefan Georges Gedicht Entrückung. Wie im Allgemeinen in Schönbergs »Weltanschauungsmusik« repräsentiert auch hier die Kombination von ätherischer Gesangsstimme und Klangfläche die Idee des Übernatürlichen in der Musik.94 In den der Klangfläche vorausgehenden Takten blickt das Subjekt des Gedichts auf die »sonnerfüllte klare freie« und klettert »über schluchten
94
Vgl. Sichardt, Martina: Die Entstehung der Zwölftonmethode Arnold Schönbergs. Mainz and New York: Schott, 1990, S. 7-27.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
ungeheuer«. Im Gegensatz dazu ist das Subjekt von De profundis clamavi gefangen in »tiefster Schlucht«, in Dunkelheit und Chaos. Wiederum scheinen die antagonistischen Pole vertauschbar zu sein, wie sie es im Titel von Baudelaires Gedicht waren. Indem Berg nun eine in sich bewegte Klangfläche nicht im atonalen Kontext verwendet, sondern als Teil einer Zwölftonkomposition, stellt er sich in einen Zwischenraum zwischen dem männlichen Heroismus Schönbergs und der Feminisierung der Musik, die Le Rider mit seiner Oper Lulu und seinem Violinkonzert assoziiert.95 Sollten wir nun also nach all dem die Lyrische Suite als »Musik als Autobiographie« bezeichnen, wie Constantin Floros das vorschlägt?96 Ich denke nicht. Wenn Musik kein Narrativ sein kann, kann sie auch keine Autobiographie sein. Wenn aber Musik Bedeutung tragende narrative Elemente enthalten kann, dann kann sie auch autobiographische Elemente enthalten. Solche autobiographischen, narrativen Elemente finden sich sicherlich auch in Bergs Lyrischer Suite. Floros verwendet den Begriff der Autobiographie auf naive Art und Weise. Er stellt nicht einmal die Frage, welche Art von Narrativ eine Autobiographie denn sei. Demzufolge kann er die Rolle von Intertextualität und Intermedialität in diesem Kontext nicht gebührend berücksichtigen. Wie andere Narrative auch, bewegt sich Autobiographie im Feld der Intertextualität. Im Fall der Musik wird die Frage nach autobiographischen Narrativen noch dadurch verkompliziert, dass zumindest zwei verschiedene Medien beteiligt sind, nämlich Text und Musik, die durch mannigfaltige Beziehungen miteinander verbunden sind. Wenn man daher ein anscheinend einfaches und geschlossenes autobiographisches Narrativ als Schlüssel zum Verständnis der Musik nimmt, dann verstellt das den Blick für die intertextuelle Natur kultureller Narrative, die mit den narrativen Elementen in der Musik verbunden sind, und für deren spezifische intermediale Transformationen.97
95 96 97
Vgl. Le Rider: 1990, S. 162. Vgl. Floros: 1992, S. 99. Das Narrativ als einen transmedialen kognitiven Rahmen zu modellieren, erlaubt uns, von narrativen Elementen in der Musik zu sprechen. Musik ist al-
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Paradoxer Weise setzt daher das Konzept von »Musik als Autobiographie« die Praxis fort, die verhindert hat, Musik mit Hilfe kultureller Narrative zu lesen. Mit dem ironisch auf diese Praxis der Verdrängung abzielenden aphoristischen Ausruf »Better NO meaning at all than THOSE meanings!«98 enthüllt McClary die unterschwellige Motivation hinter dieser Praxis. In Bezug auf die Lyrische Suite und ihre Interpretation als autobiographische Musik können wir McClarys Aphorismus modifizieren: Besser nur autobiographische Bedeutung als diese kulturellen Bedeutungen! Nimmt man aber die sich an die Musik anlagernden kulturellen Narrative ernst und nimmt man sie auch musikwissenschaftlich ernst, dann kommt man um eine Analyse der ganzen Breite der Intertextualität und der Intermedialität der Musik nicht herum. Werke eines weiteren Komponisten des 20./21. Jahrhunderts sollen in der Folge herangezogen werden, um die Frage der kompositorischen Narrativität sowie der sich an die Musik in der Werkgeschichte anlagernden Narrative weiter zu vertiefen.
4.3
Narrativität und Krise in der Musik György Kurtágs
Albrecht Wellmer hat bekanntlich auf die »latente Intermedialität« der Musik hingewiesen, womit er vor allem ihre Sprachzugewandtheit meint. Dadurch sei die konzeptuelle und reflexive Dimension ein
98
lerdings nicht auf die gleiche Weise signifikant wie Sprache und erzählt daher auch auf andere Weise. Albrecht Wellmer hat gezeigt, dass musikalische Ereignisse nicht auf die gleiche Weise Zeichen sind wie phonetische Ereignisse im verbalen Diskurs. Während der Diskurs semiotische Relationen zwischen den Zeichen etabliere, sei musikalische Bedeutung nicht auf Zeichen gegründet, sondern auf ein »Signifikanzfeld«. (Vgl. Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache. München: Hanser, 2009, S. 111). Da sich Musik aber ebenfalls an »sprechende und reflektierende Tiere« richte (ebd., S. 103), sei die diskursive und reflexive Dimension der Musik nicht äußerlich hinzugefügt, sondern gehöre intrinsisch zu ihr. (Vgl. ebd., S. 105). Wellmer nennt dies die »latent Intermedialität der Musik« (ebd., S. 24). Daher ist, wenn Musik narrative wird, unweigerlich Intermedialität mit im Spiel. McClary: 1997, S. 31.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
intrinsischer Teil der Musik und ihr nicht extrinsisch hinzugefügt.99 Als Teil eben dieser intrinsischen intermedialen Dimension der Musik kann man auch ihre Narrativität sehen. Um dies zu erläutern, kehre ich hier noch einmal auf Vincent Meelbergs Konzept der musikalischen Narrativität zurück. Beim Studium dieser Konzeption fällt rasch auf, wie sehr Meelberg In Bezug auf die Narrativität der Musik die akusmatische Hörsituation privilegiert, selbst wenn er vom Verhältnis von Aufführung und Narrativität spricht. In seinem musikalischen Narrativitätsmodell fungiert die Aufführung als eine externe Fokalisierungsinstanz. Das bedeutet: »in music the focalization can, and almost always will, change in each performance.«100 Allerdings analysiert er in der Folge keine Aufführungen, sondern nur Audioaufnahmen von Aufführungen und reduziert so die performative Dimension der Musik in seiner Analysepraxis auf die aurale Dimension. Wenn wir aber die akusmatische Hörsituation als zu spezifisch betrachten, um sie zur Grundlage unseres Konzepts von Musik machen zu können, stellt sich heraus, dass unsere Wahrnehmung von Musik in der Konzertsituation, sei es als Publikum, sei es als Ausführende neben der auralen immer auch eine visuelle und eine korporale Dimension hat und in diesem Sinne eine synästhetische ist. Dies kann man auch so formulieren, dass Teil der »latenten Intermedialität« der Musik immer auch eine »latente Theatralität«101 ist. Peformativität muss daher ein integraler Bestandteil eines Konzepts musikalischer Narrativität sein. Musikalische Narrative sind, wie es Alexandra Strohmaier in ihren Vorüberlegungen zu einer performativen Narratologie formuliert hat, »Resultat einer (medial spezifischen) narrativen Praxis, die das Erzählte sowie dessen (textimmanente) Produktions- und Rezeptionsinstanzen (durch den/in dem Akt des Erzählens) performativ
99 Vgl. Wellmer: 2009, S. 104f. 100 Meelberg: 2006, S. 69. 101 Zum Begriff der »latenten Theatralität« und ihrer Rolle bei Kurtág vgl. Katschthaler: 2012, S. 84-107.
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hervorbringt.«102 Um zu zeigen, wie in Wahrnehmung und Reflexion der Musik in diesem Sinne beide Dimensionen, die narrative und die performative, mitgedacht werden können, wende ich mich nun einigen Werken György Kurtágs zu. Stefan Drees hat versucht Kurtágs Stück für Violine, Viola und Orchester op. 42 (2002/03, überarbeitet 2006) mit dem Titel … concertante … als »narrative Verlaufsform«103 zu lesen. Ohne hier die Beschreibung des Stücks und die Analyse seiner musikalischen Verlaufsform, die Drees in seinem Aufsatz gibt, rekapitulieren zu können, möchte ich mich auf zwei miteinander zusammenhängende Aspekte konzentrieren, die beide für die Narrativität des Stücks von Bedeutung sind. Der erste dieser beiden Aspekte ist der Tod, der zweite die Stille. Drees hat gezeigt, dass einige der vielen Anspielungen und Zitate im Stück von Kurtág mit dem Tod in Verbindung gebracht werden können, allen voran und am eindeutigsten ein Teil der Melodie von Liùs Tod aus dem dritten Akt von Giacomo Puccinis Oper Turandot (Takte 23ff. und 237ff., Abbildung 8 und 9) sowie ein Zitat des Seitenthemas des ersten Satzes von Frédéric Chopins Sonate für Klavier in b-moll op. 35 (Takte 239-245). Nach diesem Zitat kehren die Anspielungen an Puccini in den Solostimmen wieder, sind nun aber »ohne Kontakt« im vierfachen Pianissimo zu spielen.104 Diese Art, die Solostimmen zum Schweigen zu bringen, wird sogar noch deutlicher im letzten, mit … epilogo … überschriebenen Teil des Stücks, wo, wie es Drees formuliert, »die Soloinstrumente nunmehr als ihr eigener Schatten«105 erklingen, da hier die Solisten Instrumente ohne Resonanzkörper, eine sogenannte »stumme Violine« und eine
102 Strohmaier, Alexandra: Zur Performativität des Narrativen: Vorüberlegungen zu einer performativen Narratologie. In: Munz, Volker/Puhl, Klaus/Wang, Joseph (Hg.): Language and World: Part Two: Signs, Minds and Actions. Berlin, Boston, MA: De Gruyter, 2010, S. 77-93, hier: S. 90. 103 Drees, Stefan: Das Konzert als narrative Verlaufsform: György Kurtágs »… Concertante …«. In: Neue Zeitschrift für Musik 172/2 (2011), S. 40-43. 104 Vgl. Drees: 2011, S. 40f. 105 Ebd., S. 41.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
»stumme Viola« zu verwenden haben, Instrumente also, wie sie normalerweise nur zum Üben verwendet werden, wenn andere nicht durch Lärm gestört werden sollen. Diese Instrumente sind derart leise, dass sie in Kurtágs Stück elektronisch verstärkt werden müssen, um im Konzertsaal überhaupt hörbar zu sein.
Abbildung 8: György Kurtág: … concertante … op. 42, Takte 23-26, solo Violine und Viola.
© Copyright by Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Reproduced by permission.
Abbildung 9: György Kurtág: … concertante … op. 42, Takte 248-254, solo Violine und Viola, erste und zweite Violinen.
© Copyright by Universal Music Publishing Editio Musica Budapest. Reproduced by permission.
Spätestens hier, im beinahe Verstummen der Soloinstrumente, wird deutlich, dass in Kurtágs Stück auf einer narrativen Ebene eine enge Verbindung zwischen dem narrativen Element des Todes (Puccini-Zitat) und dem des Verstummens (das Zitat wird auf stummen Instrumenten kaum hörbar gespielt) hergestellt wird. Diese Verbindung wird in erster Linie durch komponierte, rein instrumen-
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talmusikalische Mittel hergestellt, auch wenn durch die »stummen« Instrumente im letzten Teil des Werks auch eine visuell wahrnehmbare Komponente hinzukommt. Die narrativen Elemente des Todes und der Stille sind demzufolge integrale Bestandteile der musikalischen Verlaufsform, welche die von Drees so genannte »narrative Verlaufsform« hervorbringt. Drees korreliert diese von ihm so genannte »Nähe zum Tod« nicht wirklich dem, was er das »konzertante Prinzip«106 nennt, stellt also die narrativen Elemente bzw. das Narrativ des Stückes nicht direkt in den Kontext einer bestimmten Art und Weise des Musizierens und der damit verbundenen musikalischen Form. Er verweist zwar auf die mehr als 300 Jahre alte Tradition der konzertanten Musik und ihrer verschiedenen musikalischen und stilistischen Attribute, diskutiert diese aber nicht in historischer Perspektive. Er scheint vielmehr das »konzertante Prinzip« mit dem virtuosen Konzert des 19. Jahrhunderts zu identifizieren und nimmt dieses Konzept als Ausgangspunkt dafür, Kurtágs Stück zu narrativieren: Dem entspricht, dass gerade konzertanten Werken ein gewisses Maß an Narrativität zukommt, da den Soloparts häufig ein Hang zum Theatralen eingeschrieben ist und das musikalische »Auftreten« des Solisten vor allem im romantischen Virtuosenkonzert oftmals geradezu kompositorisch inszeniert wurde.107 Drees benützt dann diese Theatralität des virtuosen Instrumentalkonzerts des 19. Jahrhunderts als Hintergrundfolie für seine narrative Interpretation von Kurtágs Stück, indem er feststellt, dass Kurtág nicht diese Virtuosität in den Vordergrund stelle, sondern diese »zugunsten eines intimen Musizierens«108 zurücknehme. Damit konstatiert Drees eigentlich zwei verschiedene Formen der musikalischen Theatralität,
106 Beide Zitate Drees: 2011, S. 43. 107 Ebd. 108 Ebd. Die historischen Bezüge, die ja nicht nur das Virtuosentum, sondern auch ein solches »intimes Musizieren« hat, bleibt er schuldig.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
denn auch das »intime Musizieren« hat natürlich als Aufführung eine theatrale Dimension, nicht nur das romantische Virtuosenkonzert. Wie können aber Theatralität und Narrativität miteinander in Beziehung gesetzt werden? Natürlich sind Erzählen und In-Szene-Setzen keine Synonyme, auch wenn Drees in seinem Aufsatz die beiden Begriffe als solche zu verwenden scheint. Die in Szene gesetzte Aufführung ist keine Narration, kann aber Narrative evozieren. Das romantische Virtuosenkonzert evoziert Narrative einer historisch spezifischen Art von Subjektivität, Narrative nämlich des Triumphs und der Kultivierung bürgerlicher Subjektivität, indem es die individuelle Stimme des Virtuosen als sich aus dem Orchesterpart heraushebend und sich über das Kollektiv des Orchesters erhebend in Szene setzt. Kurtágs Stück setzt nicht diese Art von Subjektivität in Szene, sie kann aber als sein historischer Referenzpunkt betrachtet werden. In Bezug auf diesen historischen Referenzpunkt nämlich wird in … concertante … eine andere Art von Subjektivität in Szene gesetzt. Diese Subjektivität tritt nicht triumphierend und selbstbewusst auf, sondern konstituiert sich als Konstrukt aus zahlreichen Referenzen sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart, wenn Kurtág auf zahlreiche Kompositionen in der Musikgeschichte und in der Gegenwart sowie auch auf seine eigenen Kompositionen anspielt oder diese zitiert. Diese konstruierte Subjektivität ist stets in Gefahr und muss ständig gepflegt werden. Sie wird in Szene gesetzt als eine prekäre Praxis, die stets in Gefahr ist, zu verstummen oder zum Schweigen gebracht zu werden. Das »intime Musizieren« erweist sich also als kollektive Verhandlung von Subjektivität, die aber keineswegs optimistisch als der menschlichen Natur eher entsprechend als die triumphale bürgerliche präsentiert wird, sondern als ständig vom Verstummen bedrohte. In diesem Sinne beziehen sich »intimes Musizieren« und »Nähe zum Tod« in Kurtágs … concertante … aufeinander. Die Gefahr, zum Schweigen gebracht zu werden, durchzieht als eine Art Leitmotiv auch Kurtágs vielleicht populärstes Werk, die KafkaFragmente für Sopran und Violine op. 24. In diesem Zyklus vertont Kurtág kleine Fragmente aus mehreren Texten Franz Kafkas, vor allem aus
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seinen Tagebüchern. Diese insgesamt 40 Fragmente von Fragmenten sind um das zentrale Stück mit dem Titel Der wahre Weg angeordnet, dessen Position im Zyklus vom Komponisten selbst festgelegt worden ist. Die Anordnung der anderen Stücke des Zyklus in dessen vier Teilen stammt nicht von Kurtág selbst, sondern von seinem Schüler und Freund, dem Musikwissenschaftler András Wilheim, den der Komponist bei der Frage der Anordnung der bereits komponierten einzelnen Stücke des Zyklus zu Rate gezogen hat. Der Komponist selbst hat zusätzlich zu dieser endgültigen, autorisierten und im Druck erschienen Anordnung dem Zyklus eine weitere – letzterer vorgängige – ebenso mögliche Reihenfolge eingeschrieben, nämlich die der Chronologie der Komposition, indem er konsequent jedes Fragment am Ende mit Ort und Zeit seiner Vollendung versehen hat.109 Auf diese Weise wird die Partitur der Kafka-Fragmente in Bezug auf die Form des Zyklus zu einer Notation einer nicht von der individuellen Subjektivität des Komponisten determinierten, sondern dialogisch ausgehandelten musikalischen Großform und somit zu einem »offenen Werk«110 . Der musikalische Verlauf vieler dieser Fragmente ist von Pausen durchsetzt. Oft handelt es sich dabei um Generalpausen mit der Anweisung an die Musiker zu stoppen und wie eingefroren bewegungslos zu verharren. So auch am Ende von Fragment 4 im ersten Teil des Zyklus, das den Titel Ruhelos trägt (Abbildung 10). In Fragment 19 des ersten Teils mit dem Titel Nichts dergleichen hat die Stimme des Soprans ebenfalls zu versagen, diesmal nachdem die Sängerin auf sehr hohen Tonhöhen geschrien und eine Reihe absteigender Sekunden »crescendo e stringendo molto al tempo impossibile«, also immer schneller, bis das Tempo das Singen unmöglich macht, gesungen hat. Diesmal soll die Stimme völlig versagen, sodass die Sängerin nur noch die Lippen bewegt, »jedoch ohne Tonerzeugung«, wie die Anweisung in der Partitur lautet. (Abbildung 11).
109 Vgl. Wilheim, András: Satzfolge und Großform: der Begriff des »offenen Werkes« in den Kompositionen von György Kurtág. In: MusikTexte 72 (1997): S. 35-38 und Katschthaler: 2012, S. 99-115. 110 Wilhelm: 1997, S. 35.
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Abbildung 10: György Kurtág: Kafka-Fragmente, op. 24, Ende von Fragment I.4. Ruhelos.
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In beiden Fällen, sowohl in Ruhelos als auch in Nichts dergleichen endet also eine geradezu manische Aktivität der musikalischen Klangerzeugung letztendlich im Versagen dieser Aktivität und somit im Verstummen, das als Scheitern deutlich gemacht wird. Im Fragment In Memoriam Joannis Pilinszky, der Nummer 6 im vierten Teil des Zyklus, durchdringt die Gefahr des Unmusikalischen und des Verstummens die Musik, deren Fluss durch Zäsuren und Pausen von Anfang bis Schluss des Stückes durchsetzt ist. Dies gilt in erster Linie für den Sopranpart, aber in etwas geringerem Maß auch für den der Violine. Der Text dieses Fragments aus einem Brief Kafkas an Felice Bauer lautet: »Ich kann nicht eigentlich erzählen, ja fast nicht einmal reden; wenn ich erzähle, habe ich meistens ein Gefühl wie es kleine Kinder haben könnten, die die ersten Gehversuche machen.«111 Wird der 111
Zit. nach der Partitur: Kurtág, György: Kafka Fragmente für Sopran und Violine op. 24. Budapest: Editio Musica Budapest, 1992, S. 64f.
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Abbildung 11: György Kurtág: Kafka-Fragmente, op. 24, Ausschnitt aus Fragment I.19. Nichts dergleichen.
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Text zu Beginn noch prosodisch vertont, so stellt sich rasch Verzerrung ein und die Zäsuren werden nicht nur immer länger, sondern verzerren die Wörter, indem sie ihre Silben auseinanderreißen. Es ist kein Zufall, dass der extremste Fall in dieser Hinsicht die zweite Vertonung des Wortes »erzählen« ist, wo die Silben »erhäh-« und »-le« durch zwei Viertelpausen voneinander getrennt werden. (Abbildung 12). Nur die Violinstimme, die über weite Strecken unisono mit dem Sopranpart geführt wird, kann am Ende des Stücks ihr Stottern in einer rudimentären Legatophrase überwinden. (Abbildung 13). Doch der
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
Abbildung 12: György Kurtág: Kafka Fragmente, op. 24, Ausschnitt aus IV.6. In memoriam Joannis Pilinszky.
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Abbildung 13: György Kurtág: Kafka Fragmente, op. 24, IV.6. In memoriam Joannis Pilinszky, Ende.
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Geiger hat auch diese Phrase »senza colore« zu spielen wie den ganzen Part dieses Stückes.
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Das Fragment aus Kafkas Brief, das Kurtág hier vertont, kann gelesen werden als beides, ein autobiographisches Narrativ, in dem Kafka seiner Geliebten über sich selbst und seine psychischen Befindlichkeiten erzählt, und als der Entwurf eines poetologischen Programms. In dieser Poetik trägt Narration immer die Gefahr des Scheiterns in sich. Sprechen trägt die Gefahr des Verstummens in sich. Beides, Sprechen und Erzählen, hat immer wieder gelernt zu werden. Dieses poetologische Narrativ ist der Musik Kurtágs eingeschrieben und wird mit jeder Aufführung des Stücks aufgeführt. Die Komposition simuliert einen Lernprozess mit dem klaren Ziel, eine musikalische Phrase zu formen. Wie in einem teleologischen Narrativ wird dieses Ziel am Ende erreicht, in diesem Fall aber auf einem niedrigen Niveau: Was erreicht wird, ist wenig mehr, als von einem Ton zu einem anderen zu gelangen, zuerst diatonisch, dann chromatisch absteigend. Beide rudimentären Abwärtsbewegungen am Schluss dieses Fragments werden am Beginn des folgenden Stücks zu einer virtuosen Einleitung kombiniert und ausgebaut. (Abbildung 14).
Abbildung 14: György Kurtág: Kafka Fragmente, op. 24, Violinpart am Beginn von IV.7. Wiederum, wiederum.
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Der musikalische Charakter kommt erst im folgenden Stück mit dem Text: »Wiederum, wiederum, weit verbannt, weit verbannt. Berge, Wüste, weites Land gilt es zu durchwandern« voll zur Geltung, und
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
zwar mit einer langgezogenen melismatischen Vokallinie, welche dolcissimo zu singen ist, aber mit schwacher Stimme, die am Ende verebbt. (Abbildung 15). Auch dieser Text Kafkas kann sowohl biographisch als auch poetologisch gedeutet werden, ohne dass sich die beiden Deutungen gegenseitig ausschließen würden. Die untrennbare Verbindung von Erzählen und Leben kommt hier in der Metapher des Wanderns zum Ausdruck, die sowohl als Lebenswanderung als auch als Zwang zum Schreiben verstanden werden kann. Kompositorisch wird dieser Text mit den beiden vorangehenden Stücken eng verknüpft. Diese musikalische Verknüpfung wird noch einmal verstärkt durch den Epilog der Violinstimme am Ende von Wiederum, wiederum, wo der Fluss der Musik zunächst durch Achtelpausen und dann durch die Zäsur einer Generalpause wieder zum Stottern gebracht wird. Die Musik Kurtágs kann daher in Kafka Fragmente als musikopoetologisches Programm gelesen werden, das die Krise des Verstummens zum Zentrum der musikalischen Verlaufsform macht. Darüber hinaus kann der Titel des Stücks In memoriam Joannis Pilinszky mit zwei weiteren Narrativen in Zusammenhang gebracht werden, die sich an das Klangobjekt anlagern, das Narrativ des Todes als Denkmal für den ungarischen Dichter und das Narrativ des Skandals von Auschwitz. Beide Narrative hat Imre Kertész in seiner Rede zur Übernahme des Nobelpreises für Literatur Heureka! 2002 miteinander verbunden, indem er in Bezug auf Pilinszkys Lebens- und Todesthema sagte: Der katholische ungarische Dichter János Pilinszky hat diese schwierige Situation vielleicht am genauesten bezeichnet, als er sie einen »Skandal« nannte; und damit meinte er ganz offenkundig die Tatsache, daß Auschwitz sich im christlichen Kulturkreis ereignet hat und somit für den metaphysischen Geist unverwindbar ist.112
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Kertész, Imre: Nobelvorlesung »Heureka!«. 2002. URL: https://www.nobel prize.org/prizes/literature/2002/kertesz/25352-imre-kertesz-nobelvorlesung/ [abgerufen am 18.05.2021].
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Zwischen Atmosphäre und Narration
Abbildung 15: György Kurtág: Kafka Fragmente op. 24, melismatische Sopranlinie am Ende von of IV.7. Wiederum, wiederum.
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Der latinisierte, christliche Name Pilinszkys im Titel verweist klar auf diesen Zusammenhang von kulturellem Kontext und Auschwitz im Skandal. Krise der Narration und Krise der Komposition werden so in Kurtágs Kafka Fragmenten nicht nur miteinander verbunden, sondern auch mit den Narrativen dieses größeren kulturellen Kontexts, des Kontexts der Krise der europäischen Kultur. Wie in diesem Kontext noch Subjektivität und Ausdruck in der Komposition gerettet
4. Erzählen: zur Narrativität der Musik
werden kann, das soll im Folgenden anhand eines Vergleichs der Kafka-Vertonungen von György Kurtág und Ernst Krenek untersucht werden.
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5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
Von »Musik als Autobiographie« sprach Constantin Floros in Bezug auf Alban Berg.1 Auch bei György Kurtág, insbesondere in seinen KafkaFragmenten Op. 24, wurde bereits eine autobiographische Ebene festgestellt.2 Im Fall von Ernst Krenek weist Eva Maria Stöckler in ihrer Dissertation auf die Möglichkeit einer autobiographischen Lesart vor allem seiner Kafka-Texte verwendenden Kompositionen hin.3 Sieht man sich 1
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Ausgehend von seiner Mitentdeckung des verschwiegenen Programms der Lyrischen Suite entwickelte er seine These vom autobiographischen Charakter der Musik Bergs, welche er in mehreren Aufsätzen auf weitere Werke Bergs ausdehnte und schließlich in einer Monographie vereinte. Vgl.: Floros, Constantin: Das esoterische Programm der Lyrischen Suite von Alban Berg. Eine semantische Analyse. In: Alban Berg. Kammermusik I (= Musik-Konzepte 4), München: text + kritik, 1978, S. 5-48; ders.: Alban Bergs Requiem. Das verschwiegene Programm des Violinkonzerts. In: Neue Zeitschrift für Musik 146/4 (1985), S. 4-8; ders.: Das verschwiegene Programm des Kammerkonzerts von Alban Berg. In: Neue Zeitschrift für Musik 148/11 (1987), S. 11-22 und: ders.: Alban Berg. Musik als Autobiographie. Wiesbaden, Leipzig, Paris: Breitkopf, 1992. Vgl.: Zenck, Martin: Inszenierung von Authentizität in den Kafka-Fragmenten von György Kurtág nebst einem Prolegomenon zu einer Theorie der Authentizität im musikalischen Kunstwerk. In: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Pflug, Isabel/Warstat, Matthias (Hg.): Inszenierung von Authentizität, 2. überarbeitete Auflage. Tübingen, Basel: A. Francke, 2007 (= Theatralität Band 1), S. 129-146. Vgl.: Stöckler, Eva Maria: »… verloren im Dunkel des unübersehbaren Lebensraumes.« Ernst Kreneks Kafka-Rezeption. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2006, ins-
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Zwischen Atmosphäre und Narration
nun die in diesem Zusammenhang genannten Werke von Krenek und Kurtág näher an, so stellt man fest, dass es sich in diesen beiden Fällen um höchst unterschiedliche Formen musikalischer Autobiographie auf Basis von Texten von Franz Kafka handelt. Die beiden Komponisten verbindet biographisch zunächst nichts, sie gehören verschiedenen Generationen an und sind, zum Teil auch wieder durch den Genrationsunterschied mit bedingt, in unterschiedlichen politischen und kulturellen Umfeldern aufgewachsen.4 Dennoch gibt es, wie zu zeigen sein wird, gewisse Parallelen in ihren Biographien, die sich auch in der autobiographischen Schicht ihrer Werke niederschlagen. Die Werke, um die es dabei geht sind von Krenek: 1. Fünf Lieder nach Worten von Franz Kafka Op. 82 (1938) 2. Sechs Motetten nach Worten von Franz Kafka Op. 169 (1959)
Von Kurtág sind es die schon erwähnten: Kafka-Fragmente für Sopran und Violine Op. 24 (1985-87). Betrachtet man die Jahreszahlen der Entstehungszeit dieser drei Werke, so fällt ins Auge, dass sie sozusagen das 20. Jahrhundert durchmessen. Dies tun sie nicht nur in musikgeschichtlicher Hinsicht, sondern vermittelt über die autobiographische Schicht auch in Bezug auf die politischen und kulturpolitischen Verwirrungen und Wendepunkte dieses Jahrhunderts. Das erste Werk entsteht, als Österreich an das »Dritte Reich« angeschlossen wird, das zweite mitten im Kalten Krieg, das letzte schließlich wird nur zwei Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs vollendet. Die Gattungsbezeichnungen, Lieder – Motetten – Fragmente, lassen sehr unterschiedliche musikalische Dispositionen erwarten, aber auch sehr unterschiedliche Texte, die der Vertonung zugrunde liegen.
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besondere S. 60 und S. 86, wo sie von der autobiographischen Determination von Textwahl und Textverständnis spricht. Ernst Krenek wurde 1900 in Wien geboren und starb 1991 in Palm Springs. György Kurtág wurde 1926 im rumänischen Lugoj (ungarisch: Lugos) geboren und lebt heute Budapest.
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
Dennoch schöpfen Krenek und Kurtág aus der gleichen Textquelle, nämlich aus den Tagebüchern und den sogenannten Oktavheften Franz Kafkas. Mehr noch, zum Teil vertonen sie sogar die gleichen Texte. Eine dieser Textparallelen wird in der musikwissenschaftlichen Fachliteratur zu den Kafka-Fragmenten erwähnt5 : im 3. Lied von Kreneks Op. 82 und im 3. Fragment des 4. Teils von Kurtágs Kafka-Fragmenten wird der gleiche Text aus Kafkas Oktavheft G vertont. Die zweite Parallele aber ist allem Anschein nach unbemerkt geblieben.6 Es handelt sich dabei um die 1. Motette von Kreneks Op. 169 und um das Fragment, das alleine den zentralen 2. Teil von Kurtágs Op. 24 bildet und den Titel »Der wahre Weg« trägt. Krenek hat den Text für sein 3. Lied nach Texten von Franz Kafka dem VI. Band der von Max Brod und Heinz Politzer herausgegebenen und 1937 bei Heinrich Mercy Sohn erschienenen Gesammelten Schriften entnommen. Er findet sich dort in der Aphorismensammlung Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, die Kafka selbst mit Nummern versehen hat, als Nummer 43. Zum ersten Mal waren diese Aphorismen bereits 1931 im von Max Brod und Hans Joachim Schoeps bei Kiepenheuer in Berlin herausgegebenen Sammelband Beim Bau der Chinesischen Mauer erschienen.7 Der Text lautet: »Noch spielen die Jagdhunde im Hof, aber das Wild entgeht ihnen nicht, so sehr es jetzt schon durch die Wälder jagt.«8 Der Text weist nicht so eindeutig eine Zweiteilung auf, wie Stöckler annimmt, wenn sie den dritten Teil des Aphorismus nach dem zweiten Komma einfach dem mit »aber« eingeleiteten Satz zuschlägt.9 Die zwei 5 6
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Vgl. Zenck: 2007, S. 137ff. So spricht Zenck in Bezug auf den erwähnten Text fälschlicherweise davon, dass »kein anderer Kafka-Text diese singuläre Doppelinterpretation durch Krenek und Kurtág gefunden« habe. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. Stöckler: 2006, S. 54f. Kafka, Franz: Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hg. v. Max Brod und Hans Joachim Schoeps. Berlin: Kiepenheuer, 1931, S. 233. »Wieder wählt Krenek einen zweiteiligen Text. Zwei Hauptsätze werden durch eine adversative Konjunktion verbunden.«, heißt es in Stöckler: 2006, S. 60.
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Kommata aber gliedern den Text offensichtlich in drei annähernd gleich lange Teile, wobei der erste und der dritte Teil auf der gleichen Zeitebene angesiedelt sind, während der mittlere Teil, der die beiden verbindet, sich aber auch zwischen die beiden schiebt, eine Zukunftsperspektive im Verhältnis zu dieser Zeitebene aufweist. Diese Zukunftsperspektive ist aber in Bezug auf das Wild zum einen eine Vernichtungsperspektive, zum anderen wird sie unterminiert durch die enge Verbindung des ersten und des dritten Teils, die durch die temporäre Klammer von »Noch« und »schon«, sowie durch das Wortfeld ›Jagd/jagen‹ zustande kommt. Dadurch wird der Aphorismus zu einem in sich geschlossenen Kreis und erhält einen statischen Charakter. Die Bewegungen, von denen der Text spricht, sind Bewegungen, die im Kreis laufen, weder die Hunde noch das Wild bewegen sich aus dem jeweiligen Bereich (Hof, Wald) hinaus. Das für das Wild letale Zusammentreffen der beiden Bereiche findet nicht statt, es wird nur von der prophetischen Sprecherinstanz des Textes prognostiziert. Wenn Stöckler also die Dreiteiligkeit des Textes unterbewertet, so scheint sie Zenck geradezu überzubewerten, wenn er den Text wie einen Gedichttext aus drei Versen zitiert.10 Auch im Weiteren spricht er konsequent von den drei Versen des Textes. Diese, ausgehend von Kafkas Text, befremdende Terminologie wird nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass Zenck von der These ausgeht, Krenek habe Kafkas Text als Lyrik interpretiert, indem er den Text musikalisch als Lied komponiert habe.11 Die Terminologie Zencks ist trotzdem problematisch, vor allem, wenn er in Bezug auf den dritten »Vers« von einem »Langvers im Verhältnis zu den beiden ersten Versen«12 spricht. Zum einen wäre höchstens von einem langen Vers zu sprechen, da der betreffende
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Er gibt dabei vor, den Text nach der Ausgabe: Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1953, also nach Max Brods Ausgabe der Gesammelten Schriften, Band VII zu zitieren. Dort wird der Text aber selbstverständlich als Prosatext wiedergegeben. Vgl.: Zenck: 2007, S. 139. Ebd.
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
»Vers« ja nicht aus einem An- und einem Abvers besteht und demzufolge kein Langvers ist, zum anderen besteht der Längenunterschied in einer einzigen Silbe. Krenek legt die unbetonte zweite Silbe des vorletzten Wortes »Wäl-der« auf eine Zweiunddreißigstelnote der in gleicher Tonhöhe eine Achtelnote mit dem abschließenden »jagt« folgt. Dass es, wie Zenck feststellt, hier zu einem Zusammendrängen komme, also zu einer Beschleunigung, die übrigens nicht hier beginnt, sondern auch schon für den zweiten »Vers« gilt, hat folglich nichts mit einer allfälligen unterschiedlichen Länge der einzelnen Teile des Textes zu tun, die auf diese Weise auf gleiche musikalische Dauer gebracht werden sollten, sondern soll wohl den Charakter der Jagd, der schon im zweieinhalbtaktigen Klaviervorspiel angedeutet wird, verstärken. Krenek hat dieses Lied zum einen streng in Zwölftontechnik geschrieben, zum anderen hat er diese Reihentechnik aber auch textdeutend expressiv eingesetzt. Die Reihe, die Krenek hier verwendet, ist der Krebs der Grundreihe von Op. 82, also O(K) . Die so gewonnene Reihe K(O) hat folgende Gestalt (Abbildung 16):
Abbildung 16: Ernst Krenek: Reihe im 3. Lied der Fünf Lieder nach Worten von Franz Kafka op. 82.
Diese Reihe erklingt vollständig schon zweimal in den ersten beiden Takten des Klaviervorspiels. Durch die Verwendung von hauptsächlich Zweiunddreißigstelnoten ist es möglich, alle 12 Töne der Reihe innerhalb eines 4/8-Taktes erklingen zu lassen. Die Takte sind zudem streng symmetrisch gebaut, eine Geste der schnellen Aufwärtsbewegung am Anfang und am Ende des Taktes, dazwischen eine des Pfeifens. Der mittlere Ton der Reihe (6) erklingt dabei zweimal in der »pfeifend« un-
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terschriebenen Sequenz, beide Male im Akkord mit einem anderen Reihenton, zunächst mit (5), dann mit (8), dazwischen erklingt allein (7). Darauf folgt in der rechten Hand des Klavierparts über zwei Takte hinweg ein Triller aus den Reihentönen (1) und (12). Die so im Triller sozusagen abgesteckte Reihe läuft parallel dazu verteilt auf die Singstimme und die linke Hand des Klavierparts ab, wobei allerdings der Reihenton (11) erst nach Ende des Trillers in der Singstimme in Takt 5 erklingt. Dort läuft die ganze Reihe noch einmal unter den Tönen (10, 11, 12) der Singstimme im Klavierpart in Zweiunddreißigstelnoten ab. Im gleichen Takt noch beginnt nach diesem Reihenablauf die Singstimme wieder mit Ton (1) und schreitet in den nächsten beiden Takten bis zu Ton (4) voran. Mit diesem Ton endet der erste Satz des Textes. In der Klavierstimme erklingen dazu die restlichen Reihentöne nun akkordisch. Die letzten beiden Reihentöne erklingen erst nach dieser Akkordsequenz in der Paukenschlagfigur im Subkontrabereich in Takt 7 und 8, welche das Lied in zwei Teile gliedert und den ersten Teil demonstrativ abschließt. Eine gewisse Geschlossenheit und zyklische Struktur gewinnt der erste Teil zusätzlich dadurch, dass die Singstimme mit dem Reihenton (4) endet mit dem sie auch beginnt. Unterminiert wird diese Zweiteilung nicht nur durch die Fortführung der Reihe in der Singstimme mit Reihenton (6) in Takt 8, sondern auch durch die zweimalige Wiederholung der Abfolge von Reihenton (1-4) jeweils am Ende eines Teilsatzes, wodurch wiederum die Dreiteiligkeit des Textes musikalisch-strukturell unterstrichen wird. Allerdings weicht die zweite Wiederholung in einem Punkt von der dritten ab. Das letzte Wort des zweiten Textteils »nicht« wird nämlich nicht auf den schon unmittelbar davor gesungenen Reihenton (4) gesungen, sondern auf den Ton (7), der hier zugleich den höchsten Ton der Singstimme an der auch dynamisch lautesten Stelle des Liedes bildet. Die Reihentöne (5, 6, 10 und 11) erklingen dazu akkordisch im Klavierpart und schließen die Reihe damit beinahe ab. Der fehlende letzte Reihenton erklingt dann aber nur kurz als Vorschlag zum Reihenton (1), mit dem hier in der Klavierstimme kein neuer Reihendurchgang eröffnet, sondern der Triller aus dem ersten Teil für einen Takt wieder aufgenommen wird. Dieser Triller und die Akkordfolge im Folgetakt mit ihrem Ostinato der Reihentöne (1) und (12) verbinden
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
so den dritten Teil des Liedes mit dem ersten. Schließlich verweist auch noch die Tonfolge (1 – 4) am Ende des letzten Satzes auf das Ende der Singstimme im ersten Teil. Allerdings läuft diese Tonfolge nun mehr als doppelt so schnell ab: Sechszehntelnoten statt Achtelnoten und zusätzlich noch die Anweisung »schnell«. Mit der Ergänzung der restlichen Reihentöne im Klavierpart könnte das Lied hier somit zu Ende gehen, aber mit den akkordisch erklingenden Tönen (5 – 8) beginnt zugleich eine verkürzte Reprise des Vorspiels, die ebenfalls in einen Triller mündet, der nun allerdings nicht mehr von den Reihentönen (1) und (12) gebildet wird, sondern von den Tönen (11) und (12). Trotz aller Symmetrien und Figuren des Abschließens endet das Lied fragmentarisch mit dem 11. Reihenton. Bei aller scheinbaren Vorwärtsdynamik der Musik schließt sich immer wieder ein Kreis auf der reihenstrukturellen Ebene durch die Wiederholung der Tonfolge (1 – 4) jeweils am Ende der drei Teilsätze des Textes. Dadurch, dass diese Tonfolge beim ersten Auftreten in der Singstimme mit den Jagdhunden verbunden wird, tauchen diese nicht nur am Ende des zweiten Teilsatzes wieder auf, wo im Text pronominal auf sie verwiesen wird, sondern auch am Ende des dritten. Damit wird in der Musik bereits vorweggenommen, was im Text für die Zukunft prophezeit wird, dass nämlich die Jagdhunde das Wild durch die Wälder jagen werden. Diese Textdeutung vollzieht Krenek aber nicht mit einer Art Leitmotivtechnik, denn die musikalischen Gestalten sind jeweils andere, sondern mit rein reihentechnischen Mitteln, nur die Töne und ihre Reihenfolge stimmen überein. Durchbrochen wird diese Kreisstruktur am Ende der zweiten Textsequenz in Takt 10 durch das verhalten geschriene (mezzoforte) »nicht« auf dem höchsten Ton der Singstimme, wodurch hier der Reihenton (7) die musikalische Figur aus den Tönen (1 – 4) abschließt. Angekündigt wird das hier hinausgeschriene Unheil bereits durch die Paukenschläge in der Klavierstimme in Takt 7 und 8 auf dem 12. Reihenton, der auch hier in Takt 10 im Klavierpart unmittelbar auf den 7. Reihenton der Singstimme folgt und so auf das Ende verweist. Allerdings tritt er, wie schon gesagt nur als Vorschlag auf, geht also unmittelbar in den 1. Reihenton über und versweist so zugleich auf den Anfang. Die Unausweichlichkeit des Kreises wird in den folgenden
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Takten durch das ostinate gleichzeitige Erklingen von (1) und (12) verdeutlicht. Das Ende des Liedes bringt freilich im Nachspiel des Klaviers keine Rückkehr zum Ausgangspunkt, sondern bleibt offen. Genau genommen bleibt mit dem Abbrechen des Trillers aus (11) und (12) auf (11) eben das Ende der Jagd und damit auch der Flucht des Wildes offen. Das heißt, die Jagd hat kein Ende, sie geht weiter. Die Unentrinnbarkeit des Schicksals, die Unmöglichkeit der Rückkehr, das nicht absehbare Ende der Jagd, all diese Element von Kreneks Interpretation des Kafka-Textes verweisen auf eine autobiographische Lesart. Krenek hat seine »5 Lieder nach Worten von Franz Kafka« auf der Flucht geschrieben. Im Oktober 1937 bricht Krenek auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ins Exil nach Amerika auf. Die Entstehung der Kafka-Lieder erhält für ihn im Rückblick einen mit dieser Flucht unmittelbar verbundenen, schicksalshaften Charakter: Wir verließen Wien am 11. Oktober mit dem Nachmittagszug. Ungefähr eine Stunde, bevor wir die Wohnung verlassen mußten, verspürte ich den Drang, nach dem letzten Band meiner Kafka-Ausgabe zu greifen, den Tagebüchern und Betrachtungen, und ich notierte rasch einige der fragmentarischen Eintragungen, die früher bereits meine Aufmerksamkeit erregt hatten, weil ich glaubte, daß ich sie vielleicht auf der Reise gern vertonen würde.13 Krenek schrieb die Lieder dann tatsächlich auf der Reise, das erste noch auf dem Schiff auf Papier der Schifffahrtslinie, auf dem er selbst die Notenlinien mit Bleistift zog, die weiteren zum Teil auf Hotelpapier unter zahlreichen Ortswechseln in seiner ersten Zeit in Amerika. Zum Teil auf diesen Blättern, vor allem aber in seinem Tagebuch notiert Krenek Ort und Zeit der Entstehung der einzelnen Lieder. Diese Angaben wurden auch in das Autograf, das Krenek für Paul Sacher angefertigt hat, und in die gedruckte Ausgabe übernommen.14 Diese Eintragungen am Ende der Lieder lauten der Reihe nach: 13 14
Krenek, Ernst: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1998, S. 960. Vgl. dazu im Detail: Stöckler: 2006, S. 51ff.
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Worcester-Utica, 27. 10. 1937 Chicago, 2.-3. 12. 1937 Omaha Cheyenne, 9. 12. 1937 Hollywood, 1. 1. 1938 San Francisco, 16. 1. 193815
Damit gewinnen die 5 Lieder die chronologische Linearität eines Tagebuches, die Tagebucheintragungen Kafkas werden in Kreneks autobiographischer Lesart und musikalischer Interpretation zu einem musikalischen Tagebuch seiner Exilierung. Auch György Kurtág datiert jedes einzelne seiner Kafka-Fragmente am Ende und auch in seinem Fall sind diese Daten in die Druckausgabe übernommen worden. Anders als Kreneks fünf Lieder sind die 40 Fragmente in 4 Teilen gruppiert, wobei der II. Teil nach dem 19. Fragment allein von »Der wahre Weg« gebildet wird. Damit wird das mit über 7 Minuten Spieldauer deutlich längste Stück des Zyklus ins Zentrum gerückt, seine Länge erreicht annähernd nur das letzte Fragment. Die Vertonung des Kafka-Aphorismus Nr. 43, den vorher schon Krenek vertont hat, steht insgesamt an der 35. Stelle im Zyklus und ist mit etwas mehr als 40 Sekunden Spieldauer eines der kürzesten Stücke. In der Makrostruktur scheint das Stück von Kurtág oberflächlich betrachtet zunächst dem Lied von Krenek ähnlich aufgebaut zu sein. Auch hier gibt es ein Vorspiel des Instrumentalparts und ein Nachspiel desselben, das eng mit dem Vorspiel zusammenhängt. Eine ähnlich zyklische Struktur wie bei Krenek ist damit bereits angedeutet. Die drei Satzteile werden freilich von Kurtág weitaus deutlicher voneinander getrennt, einmal durch die zwei etwa gleich langen instrumentalen Zwischenspiele, zum anderen aber auch durch den jeweils deutlich anderen Charakter der Vokalpartie, nur die drei Anfangssilben des zweiten und des dritten Satzteils werden durch die gleiche musikalische Figur, die allerdings beim zweiten Mal um einen Ganzton tiefer gesungen wird, 15
Vgl. die Partitur: Krenek, Ernst: Fünf Lieder nach Worten von Franz Kafka op. 82 (1937/38) für Singstimme und Klavier. Mainz et al.: Schott, 1986 [1958] (= Edition Schott ED 4749).
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parallel gesetzt. Der wesentlichste Unterschied zur Vertonung von Krenek besteht aber wohl darin, dass es sich bei Kurtágs Komposition um keine Zwölftonkomposition handelt. Es gibt hier keine Reihe, sondern, wie Zenck es formuliert hat, »spannungsreiche Polytonalität«.16 Die Instrumentaleinleitung besteht aus meist übermäßigen Quintakkorden, nur am Beginn von Takt 2 schiebt sich zweimal eine verminderte Quart dazwischen. Die erste und die zweite Quint bilden einen Quintsprung nach oben, der sich nach dem Sprung zurück beim nächsten Sprung nach oben verdoppelt, sodass der Abstand vom oberen Ton der Ausgangsquint zum unteren der angesprungenen wiederum eine Quint bildet. Der nächste Sprung nach oben ist noch größer, hier bilden die beiden letztgenannten Töne eine Septim. Es folgen zwei dreiteilige Figuren, Quinten mit Doppelquintsprung hinunter und zurück und eine Figur, in der auf dem oberen Ton einer verminderten Quart eine übermäßige Quint gebildet wird, auf welche wieder die verminderte Quart folgt. Im Rest des Vorspiels werden dann sogar noch Quinten zu Dreiklängen übereinandergeschichtet. Diese Quintdominanz ist auffallend und alles andere als zufällig, sie weist voraus auf das Ende des Stückes. Die Singstimme, die bei Krenek durchaus liedgemäß und zwar nicht übertrieben, aber doch immer wieder melismatisch behandelt wird, wird bei Kurtág stets in der Nähe des Sprechens gehalten und folgt genau der Prosodie des Textes. Von diesem kaum zum Singen gesteigerten Sprechen weicht einzig der Schluss des Gesangsparts ab. Nach der schon erwähnten dreitönigen Anfangsfigur, die schon vom Anfang des zweiten Satzteils bekannt ist, kommt nämlich plötzlich auf der Silbe »jetzt« ein Vorschlag, eine übermäßige Quint nach oben, gefolgt von einem Septimsprung nach unten. Ab da gibt es nur noch Quintsprünge nach oben, bis der höchste Ton der Singstimme (c´´) erreicht wird, mit dem die Stimme auf »jagt« auch schließt. Beim ersten Quintsprung handelt es sich genau um den, den die oberen Töne der ersten beiden Quinten der Instrumentaleinleitung am Anfang ausführen. Auch die übermäßige Quint des Vorschlags und der folgende 16
Vgl.: Zenck: 2007, S. 140.
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Septimsprung sind aus der Instrumentaleinleitung ableitbar. An genau der gleichen Stelle, an der die Singstimme mit ihren Quintsprüngen beginnt, gibt auch die Violine zum ersten Mal das Akkordspielen auf und beginnt ihrerseits mit Quintsprüngen, die sie über das Ende der Singstimme hinaus weitertreibt, bis sie schließlich im Quintakkord des Anfangs mündet, der nun drei Oktaven höher erklingt. Die Quintsprünge davor bilden der Reihe nach aufgelöste Dreiklänge in hmoll, fis-moll, E-Dur und e-moll, das freilich schon durch das Es des Anfangsakkords unterminiert wird. In Reibung dazu befindet sich die Singstimme, wenn etwa gleichzeitig zum fis-moll der Violine F und C erklingen. Parallel zu diesen tonalen Ambivalenzen geht die Tempoambivalenz: Nach dem »stingendo« für das Zwischenspiel der Violine heißt es beim Einsetzen der Singstimme »quasi a tempo, ma sempre quasi sting.« Diesem doppelten »Quasi« des Tempos entsprechen ein Quasisingen in Quintsprüngen und die Quasitonalität der aufgelösten Dreiklänge im Violinpart. Es ist wohl kaum weit hergeholt, hierin eine musikalische Entsprechung der Quasi-Jagd zu sehen, von der an dieser Stelle der Text spricht. Die erwähnte Rückkehr zum Anfang geht aber noch über die Rückkehr zum Anfangsakkord der Violine hinaus. Es folgt am Anfang des vorletzten Taktes die dreiteilige Quintakkordfigur vom Ende des ersten Taktes um einen Ganzton nach unten transponiert, gefolgt von ihrer Umkehrung und der Anfangsquint in der Originaltonhöhe. Von dieser leitet am Ende des vorletzten Taktes ein Sekundakkord über zum singulären Schlussakkord des Stückes. Dieser im ff sehr stark zu akzentuierende Akkord besteht aus der verminderten Quart der Figur am Anfang von Takt zwei über der dort alternierenden Quint, die allerdings zu einer verminderten Quint zusammengestaucht worden ist. Nachdem also das Instrumentalvorspiel hier schon wieder von neuem begonnen hat, wird es fast gewaltsam abgebrochen. Der Titel, den Kurtág diesem Fragment gegeben hat, weist es als ein der Erinnerung an einen toten Freund gewidmetes Stück aus: »In Memoriam Robert Klein«. Geboren 1918 in Temesvár/Timişoara, wurde Robert Klein als Jude im mit Nazi-Deutschland verbündeten Rumänien zu Zwangsarbeit verpflichtet, kämpfte 1944 als Freiwilliger gegen die
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deutschen Truppen und ging bald nach seinem Philosophieabschluss in Bukarest 1947 mit einem französischen Stipendium nach Paris, wo er sich sofort zum politischen Flüchtling erklärte. Auf rumänischen Druck hin, zog Frankreich das Stipendium zurück, was zur Folge hatte, dass sich Klein mit allen möglichen Arbeiten, so etwa mit Tellerwaschen, über Wasser halten musste. Er war Schüler und Mitarbeiter des Kunsthistorikers André Chastel. Nach einer Gastprofessur an der Universität Montreal im Studienjahr 1965/66 ging er am 22. April 1967 in Italien in den Freitod.17 Kurtág war mit ihm seit seiner Jugend in Temesvár eng befreundet und betrachtet ihn als seinen wichtigsten geistigen Lehrer und Ratgeber neben Ligeti. Bereits als pubertierenden Jugendlichen habe er ihn unter seine Fittiche genommen und ihn mit Autoren wie Paul Valery und Artur Rimbaud bekannt gemacht, aber ihm etwa auch eine Schallplattenaufnahme von Beethovens Neunter besorgt, die er noch nie gehört hatte. Später, 1957 in Paris, machte er, der auch mit Paul Celan befreundet war, Kurtág nicht nur mit dessen Lyrik, sondern auch mit dem Theater Becketts vertraut. Über die Gründe für seinen Freitod hat Kurtág seine eigene Theorie entwickelt: Eine wesentliche Rolle habe nach seiner Ansicht eine unerfüllte Liebe zu einer verheirateten Frau gespielt, die auch schon mit ein Grund für sein Exil gewesen sein soll. Da sie nach Amerika zog, habe er auch die Gastprofessur in Montreal angenommen, um ihr nahe sein zu können. Nach dem Tod ihres Mannes habe sich aber die Hoffnung auf ein gemeinsames Glück durch den Freitod der Frau zerschlagen. Klein habe daraufhin in Florenz, wo er sich mit einem Stipendium aufhielt, nachdem er mit einer Einladung von seine Freunden und Schülern Abschied genommen hat-
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Vgl.: Zerner, Henri: Foreword. In: Klein, Robert: Form and Meaning. Essays on the Renaissance and Modern Art. Princeton, NJ: Princeton University Press, 1980, S. vii – ix.
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te, Selbstmord begangen.18 Ist es da zu weit hergeholt, im Schlussakkord des Fragments, in den die Instrumentaleinleitung zusammengestaucht wird, eine musikalische Reminiszenz dieses Todes des Freundes zu hören, der aller Verfolgung und allem Getriebensein gewaltsam ein Ende setzte? Jedenfalls aber verwendet wie Krenek auch Kurtág den Kafka-Text, um sich damit auf Verfolgung und eine ausweglos erscheinende Situation im Exil zu beziehen, und zwar nicht nur in Hinblick auf den Widmungsträger des Stückes, sondern auch auf sich selbst. Robert Klein ist nämlich, wie schon gesagt, mit Kurtágs Aufenthalt in Paris im Jahr 1957 verbunden, wo Kurtág eine schwere psychische, moralische und kompositorische Krise nach den traumatischen Ereignissen von 1956 in Ungarn durchmachte. Kurtág selbst bestätigt diesen Zusammenhang im Interview mit Ulrich Dibelius: Die Krise im Jahr 1957 hing wesentlich mit den Vorkommnissen während der ungarischen Revolution, dem Aufstand vom Herbst 1956, zusammen. Dazu kam die Einsicht, dass mein kompositorischer Weg in eine Sackgasse geraten war. […] Innerhalb von zwei Wochen war ich tatsächlich zweimal durchgefallen in Politik. Meine Sympathien schwankten mit den Ereignissen. Und immer war ich auf der falschen Seite.19 Diese musikalische Sackgasse hat eine politische Vorgeschichte, die noch in die stalinistische Zeit zurückreicht. Just als sich György und Márta Kurtág 1948 unfreiwillig lange in Rumänien aufhalten, weil man sie nicht nach Ungarn zurück ausreisen lassen will und sie in Bukarest ihren Freund Robert Klein treffen, der in einem Ministerium arbeitet und ihnen seinen Entschluss, nach Paris zu gehen mitteilt, ist dort die eben in der Sowjetunion erschienene, von Andrej Schdanow initiierte
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Vgl. Kurtág im Interview mit Bálint András Varga, in: Varga, Bálint András: Három kérdés Kurtág Györgynek. In: Kurtág György. Összeállította és az interjúkat készítette Varga Bálint András. Budapest: Holnap Kiadó, 2009, S. 11-131, hier: S. 85ff. Dibelius, Ulrich (Hg.): Ligeti und Kurtág in Salzburg. Programmbuch der Salzburger Festspiele. Salzburg: Residenz Verlag, 1993, S. 90.
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Parteiresolution Über die Oper »Die große Freundschaft« bereits bekannt. Die Kurtágs bringen die Nachricht wenig später mit nach Budapest. Die Folge dieser Resolution, die sich gegen den sogenannten Formalismus wandte und die Rückkehr zum sozialistischen Realismus forderte, war in Ungarn vor allem das Verschwinden von bestimmten Werken Bartóks aus den Programmen. 1949 werden seine mittleren Werke verboten und von den ungarischen Komponisten wird ein politisierter Sowjet-Stil gefordert. In dieser Periode, die bis zum Tod Stalins 1953 dauerte, schreibt auch Kurtág einige Werke, die dieser Forderung Genüge tun, wie Märsche für die Armee, Massenlieder, sogar ein Stalin preisendes Chorlied und 1952-53 eine Koreanische Kantate, die im Oktober 1953 bei der 2. Ungarischen Musikwoche aufgeführt wird.20 Im Zuge des Tauwetters, das auf Stalins Tod folgte, wurde dann Bartók nicht nur rehabilitiert, sondern gerade der »verbotene« Bartók wird nun von den Komponisten gefeiert. Kurtág schreibt 1953-54 sein ViolaKonzert nach Bartóks 2. Violinkonzert. Von 1954 bis 1956 ist er dann in erster Linie als Pianist tätig und wird in der Öffentlichkeit auch als solcher wahrgenommen. Nach der Niederschlagung der Revolution 1956 kommt dann in Paris der Bruch in seinem kompositorischen Werk, den Beckles Willson einen gewaltsamen nennt, »the violent rupture in [his] development is apparent at every level of his work.«21 Einher geht dieser Bruch, der sich später auch im Neubeginn mit der Opuszahl 1 für sein Streichquartett äußert, mit Depression, der Selbstverordnung einer Diät und eines strengen Körperertüchtigungsprogramms, der bekannten Therapie bei Marianne Stein und der Hinwendung zur Dodekaphonie, die dann die Opera 1-7 bestimmt. Der Durchbruch, den er dank Marianne Stein in Paris erreicht, ist aber vor allem der Aufschub der Form beim Komponieren. Dieser Auf-
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Vgl. dazu im Detail und zu weiteren Hintergrundinformationen: Beckles Willson, Rachel: »Culture is a vast weapon, its artistic force is also strong.« Finding a Context for Kurtág’s Works: an Interim Report. In: Contemorary Music Review 20/2 (2001), S. 3-37. Beckles Willson: 2001, S. 30.
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
schub betrifft vor allem die Großform, der Kurtág skeptisch gegenübersteht. So trifft er dann noch 1986 im Fall der Kafka-Fragmente nur die Entscheidung, dass »Der wahre Weg« im Zentrum des Zyklus stehen soll. Der zyklische Plan wurde Kurtág nämlich von dem Musiker und Musikwissenschaftler András Wilheim vorgeschlagen und nach einigen wenigen Änderungen vom Komponisten autorisiert.22 Wilheim zieht nicht nur mit Blick auf die Kafka-Fragmente, sondern in Bezug auf das Gesamtwerk Kurtágs die Schlussfolgerung: Es geht also nicht darum, dass das Werk keinen wie auch immer virtuellen Mittelpunkt voraussetzen würde, um den sich die Bestandteile der Serie ordnen, sondern vielmehr darum, dass der Komponist keine Möglichkeit und keinen Sinn für eine alleinseligmachende lineare Ordnung sieht.23 Dadurch wird auch bestätigt, dass der Komponist keinen Sinn in einer linear erzählten Autobiografie sieht und Autobiografie stattdessen als ein Netzwerk von Bezügen und Verweisen gestaltet, die latent vorhanden sind, dabei aber einem Spiel von Verbergen und Enthüllen unterworfen werden.24 Im Zentrum steht damit ein Text, der die Kafka-Fragmente mit einem weiteren Werk Kreneks in Beziehung setzt, das mit dessen fortgesetztem Exil und Kreneks geistiger Auseinandersetzung damit in Verbindung steht. Es handelt sich dabei um die Sechs Motetten nach Wor-
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Vgl. dazu Wilheim: 1997, S. 35-38. Dieser Sachverhalt wird auch von Kurtág selbst in einem Interview mit Ulrich Dibelius bestätigt. Vgl. Dibelius, Ulrich: Meine Gefängniszelle – meine Festung. Porträt György Kurtág. In: MusikTexte 72 (1997), S. 29-35. Wilheim: 1997, S. 38. So wird ja auch in unserem Beispiel der Bezug auf Robert Klein einerseits durch die Widmung im Titel enthüllt, andererseits aber fehlt jeder Hinweis auf die Identität des Widmungsträgers und seine Beziehung zu Kurtág, ganz zu schweigen davon, dass auch die Widmung nur beim Lesen des Programmheftes oder der Partitur dem Publikum überhaupt zu Bewusstsein kommt. Der latente Bezug zu Krenek kommt zwar offen über den Text zustande, ist aber möglicherweise von Kurtág gar nicht intendiert.
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ten von Franz Kafka Op. 169, geschrieben von Oktober 1958 bis April 1959 und uraufgeführt bei den Berliner Festwochen am 29. September 1959 vom RIAS-Chor, der das Werk auch in Auftrag gegeben hatte. Für dieses Werk verwendet Krenek wieder die gleiche Textquelle wie schon für die Lieder und wieder findet sich eine Textparallele mit Kurtágs Fragmenten. Es handelt sich dabei um den Aphorismus Nr. 1 aus der erwähnten Zusammenstellung von Kafka selbst. Dieser Text ist in beiden Fällen von entscheidender struktureller Bedeutung für den jeweiligen Zyklus, allerdings in unterschiedlicher Weise. Während er bei Kurtág eine Art Gravitationszentrum bildet, um das herum die anderen Fragmente in offener Form kreisen, gibt er als Anfangstext der ersten Motette und durch seine teilweise Wiederholung am Ende der 5. Motette Kreneks Zyklus einen Rahmen. In beiden Fällen beziehen sich so aber die anderen Texte auf diesen Grundtext. Wenn zudem in beiden Zyklen, wie auch schon in Bezug auf Kreneks Kafka-Lieder gezeigt, jeweils eine latente autobiographische Ebene mitgelesen werden kann, so lassen sich zwei Fragestellungen formulieren: 1. Was ist diese autobiographische Ebene in den Motetten, wie bezieht sie sich auf die Kafka-Lieder und wie auf Kreneks Erfahrungen mit dem Exil in Amerika und mit der Avantgarde in Europa, insbesondere mit Darmstadt? 2. Wie sind damit Kurtágs Situation in Ungarn, seine Erfahrungen mit der Avantgarde und insbesondere mit Darmstadt vergleichbar?
Die 6 Motetten sind wieder eine Zwölftonkomposition, obwohl Krenek vorher und auch nachher bereits seriell komponiert hat.25 Schon damit
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Die Frage, ob es an einer psychologischen Schwelle gelegen habe, dass es so lange gedauert habe, bis er angefangen habe in dieser Technik zu schreiben, bejaht Krenek in einem Gespräch, das Claudia Maurer Zenck 1980 mit ihm geführt hat: »Ja, z.T. eine psychologische Schwelle, z.T. eine sehr triviale Notwendigkeit, Geld zu verdienen, weil ich Aufträge hatte von Interpreten, ich mußte Konzerte schreiben. Dafür schien mir eine andere Kompositionsart nicht geeignet, ich dachte, sie müssten etwas konventioneller sein. Ganz bestimmt gab
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
also setzt er sie mit seinen zwanzig Jahre vorher entstandenen Liedern in Beziehung, die, wie wir gesehen haben, als eine Art Tagebuch der Exilierung lesbar sind. Da ist es naheliegend zu vermuten, dass es in den 6 Motetten nun auf der autobiographischen Ebene um das nicht ganz freiwillig fortgesetzte Exil und dessen Akzeptanz geht. Die 6 Motetten sind kein avantgardistisches Werk, sondern stehen quer zu den Entwicklungen ihrer Entstehungszeit. Während Krenek rund um dieses Werk serielle Kompositionen schreibt, verliest Pierre Boulez bereits 1957 in Darmstadt seinen Aufsatz Alea, der die Einführung des Zufalls in die serielle Musik begründet. Krenek dagegen greift in den 6 Motetten auf die Zwölftontechnik und ihre sinnanalytische Anwendung auf den Text der Kafka-Lieder zurück. Damit werden sie zu einem anachronistischen Werk, auch wenn Krenek trotz der Verwendung der Gattungsbezeichnung »Motetten« nicht historisierend vorgeht. Ganz freiwillig war das Verbleiben im Exil von Kreneks Seite freilich nicht. Nach anfänglichem Zögern machte er mehrere Versuche, wieder in Europa Fuß zu fassen. 1950 wurde er zu den Kranichsteiner Sommerkursen nach Darmstadt eingeladen, und zwar als amerikanischer Zwölftonkomponist. Vorausgegangen waren dieser Einladung in Deutschland die Rezeption von Schönberg und die Anfänge der Webern-Rezeption in den Jahren 1948/49. In diesem Kontext wurden vor allem Kreneks umfangreiche dodekaphonen Werke wie das 7. Streichquartett oder die 4. Symphonie euphorisch bewertet, da sie die Möglichkeit zeigten, groß angelegte, expressive Kompositionen in dieser Technik zu schaffen. Beim nächsten Darmstädter Aufenthalt 1954 wird zwar die Aufführung des 1951/52 entstandenen und 1953 in Philadelphia uraufgeführten dramatischen Monologs für Mezzosopran und Orchester Medea zum
es in diesen Jahren eine Hemmung.«, in: Kolleritsch, Otto (Hg.): Ernst Krenek. Wien, Graz: Universal Edition, 1982, S. 22. Zum einen zeigt diese Aussage Kreneks sehr deutlich, dass Krenek den linearen Fortschrittsbegriff des Materials ablehnt, zum anderen aber auch, dass die Zwölftontechnik für ihn tatsächlich über die Zeit der Flucht und der ersten Jahre im Exil hinaus einen sicheren Boden bedeutete.
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Publikumserfolg, die Avantgardisten protestieren aber bereits gegen ein ihrer Meinung nach anachronistisches Werk. Vor allem die Kurzoper Dunkle Wasser, die bereits 1950 entstanden und in Los Angeles uraufgeführt worden war, wird zum Misserfolg.26 Kreneks zudem bereits in diesem Jahr geäußerte Kritik an der mathematischen Rigidität des Serialismus stößt auf Ablehnung. Im Jahr darauf wird Kreneks Symphonische Elegie in memoriam Anton Webern aufgeführt. Obwohl sich die Avantgarde zu diesem Zeitpunkt legitimatorisch auf die strukturelle Kompositionsweise Weberns bezieht, oder gerade deswegen, wird dieses Werk zum Problem für die Avantgarde. Krenek rückt nämlich in diesem bereits 1946 entstandenen und im gleichen Jahr in Saragota Springs uraufgeführten Werk den Ausdruckscharakter der Musik seines tragisch verstorbenen Freundes in den Vordergrund, sieht ihn also sozusagen durch die Brille des von Webern selbst vergötterten Gustav Mahler. Mit diesem aus der Perspektive der Avantgardisten bereits hoffnungslos alten Werk kommt Krenek 1955 einerseits zu spät, andererseits aber in Bezug auf das WebernVerständnis auch zu früh. Der Bezug auf Mahler muss ebenfalls völlig anachronistisch erscheinen, denn Adornos Mahler-Rehabilitation findet erst 1960 zu dessen 100. Geburtstag statt.
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Interessanterweise berichtet Krenek im Gespräch mit Claudia Maurer Zenck ohne den eigenen Misserfolg zu erwähnen von dem eines damals noch jungen Komponisten, nämlich von dem Skandal bei der Aufführung seiner 4 Klavierstücke, nach der die Studenten protestiert hätten. Krenek habe dann zwar Stockhausen gegenüber den Studenten verteidigt und ihn auch eingeladen, an einem Gespräch mit ihnen teilzunehmen, doch dieser sei »verschwunden, er wollte nichts damit zu tun haben.« Zugleich stellt sich im Gespräch heraus, dass weder Krenek noch die jungen Avantgardisten das Gespräch miteinander gesucht hätten. Krenek zieht das Resümee: »Ich war ein alter Esel, sie wollten von mir nichts mehr wissen.« Vgl.: Kolleritsch: 1882, S. 19. Zwei Ablehnungen also von Seiten der Studenten, sowohl des jungen Avantgardisten als auch des »alten Esels«, die aber unabhängig voneinander abzulaufen scheinen und trotz Kreneks Bemühungen auch unbezogen aufeinander bleiben. Deutlicher kann die Kluft zwischen ihm und der jungen Avantgarde nicht in Erscheinung treten.
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
1961 schließlich antwortet die Avantgarde in Darmstadt mit einem deklarierten Boykott der Aufführung von Kreneks Oper Leben des Orest, die 1928 entstanden und 1930 in Leipzig uraufgeführt worden war, im dortigen Landestheater.27 Vergleicht man die Aufführungsdaten in Darmstadt mit den Entstehungsdaten der betroffenen Werke Kreneks, so fällt auf, dass mit fortschreitender Zeit immer ältere Kompositionen aufgeführt werden, dass also die zeitliche Kluft zwischen Entstehungszeit und Aufführung immer größer wird. Eine Uraufführung eines Werkes von Krenek gibt es in Darmstadt überhaupt nicht. Nun gibt es keinen Grund anzunehmen, dass diese Werke gegen den ausdrücklichen Willen Kreneks ausgewählt und ins Programm genommen wurden. Viel wahrscheinlicher ist, dass er durchaus an diesen Entscheidungen beteiligt war. Auch in diesen Entscheidungen zeigt sich Kreneks Ablehnung des Fortschrittsbegriffs der Avantgarde, der sich auf die Materialentwicklung stützt, ein Konzept, das Krenek bereits in den 1920er Jahren kritisiert hatte. Für ihn tritt das Material hinter die Idee des Werks und seine Expressivität zurück. Ein Misstrauen gegenüber dem sich ausdrückenden Subjekt gibt es für Krenek nicht. Dies ist ein wesentlicher Unterschied der Position Kreneks nicht nur zu der der Avantgarde der 50er Jahre, sondern auch zu der von Kurtág. Die verschiedenen zyklischen und musikalischen Dispositionen der Kafka-Vertonungen der beiden Komponisten können so auf unterschiedliche Positionen zur Frage des Subjekts zurückgeführt werden. Für Krenek war die Zwölftontechnik in den Kafka-Liedern das Element, das dem Subjekt auf dem Weg ins Ungewisse des Exils Sicherheit verlieh. Nun, zwanzig Jahre später, wird sie in den Motetten mit dem Text »Der wahre Weg« konfrontiert. Es mag zunächst so aussehen, also ob die Verwendung einer einzigen Reihe in ihren 4 Grundformen und einigen Transpositionen wieder eine starke Einheit stiften würde. Wenn Krenek am Ende die primäre Gestalt der Reihe (O) und 27
Zur Rezeption Kreneks in Darmstadt vgl.: Stöckler: 2006, S. 136-139 und Zenck, Martin: Krenek als Problem der Avantgarde. Überlegungen zum Fortschrittsbegriff der Neuen Musik. In: Kolleritsch: 1982, S. 216-237.
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ihre Krebsform (K) ineinander komponiert, so scheinen die Gegensätze damit aufgehoben zu werden. Die Wiederholung der gesprochenen Passage »Der wahre Weg« vom Anfang des Werkes am Ende der 5. Motette scheint diese Abschließung durch Rahmenbildung zu unterstützen. Motette Nr. 6 fungiert dann als Epilog. Dieses hier in aller Kürze zusammengefasste Bild des Werkes, das von Stöckler in ihrer Dissertation gezeichnet wird, klingt überzeugend und stimmt sicherlich auch. Allerdings sind bei genauerer Untersuchung doch Zweifel an der Ausschließlichkeit dieser Interpretation anzumelden, auf Grund derer sie zumindest differenziert werden muss. Anzusetzen ist bei einem Element, das völlig aus dem System der Dodekaphonie herausfällt, ein wichtiges musikalisches Element, das sich außerhalb der Reihe befindet und auch nicht in sie integriert werden kann, weil es nicht über Töne der Reihe verfügt, ja über keinen einzigen der 12 Töne, welche das Material einer Reihe bilden. Es handelt sich um die Sprechstimme, die von Krenek auf der Innenseite des Titelblattes der gedruckten Partitur gefordert wird: Das x bedeutet: in der mittleren (normalen) Stimmlage gesprochen. Pfeile bedeuten mäßiges An- oder Absteigen von oder zur Mittellage.28 Betroffen von dieser Anweisung und Notation ist der Beginn des ersten Textes, der dann während der ganzen 1. Motette genau in dieser Sprechweise an bestimmten Stellen wiederholt wird und schließlich wiederum in der gleichen Weise am Ende der 5. Motette wieder auftaucht. Es handelt sich dabei um Schlüsselwörter nicht nur für die 1. Motette, sondern für den ganzen Zyklus, was ja auch in der rahmenbildenden Wiederholung zum Ausdruck kommt: »Der Weg, der wahre Weg«. Diese Worte bilden durch ihre Wiederholung zwar tatsächlich eine Art Rahmen, fallen aber andererseits durch ihre Artikulationsweise aus dem strengen Rahmen, den die Reihentechnik schafft, heraus. Man könnte versucht 28
Krenek, Ernst: Sechs Motetten nach Worten von Franz Kafka für gemischten Chor a cappella. Kassel: Bärenreiter, 1959 (= Bärenreiter-Ausgabe 3945).
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
sein, die These zu wagen, dass der »Weg« ganz zu schweigen vom »wahre Weg« eben nicht in der Dodekaphonie zu finden sei. Allerdings werden streng genommen nur die Worte »der wahre Weg« tatsächlich nie gesungen. Für die Worte »der Weg« gibt es eine Ausnahme in T. 30/31, wo sie von der Altstimme und noch einmal in T. 35, wo sie vom Tenor auf Reihentöne zu singen sind. Ein Teil des sonst nur gesprochenen Textes wird auf diese Weise doch in das Reihensystem integriert. Die Art und Weise, wie das geschieht, zeigt aber das intendierte Scheitern dieses Integrationsversuchs. Voraus geht diesen Stellen die ausschließliche Verwendung der Reihenform Oes für den folgenden Text: [Der Weg, der wahre Weg] geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden. Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr, dieser Punkt ist zu erreichen. Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele als Verstecke. Oes hat folgende Gestalt (Abbildung 17):
Abbildung 17: Ernst Krenek: Reihe Oes in Sechs Motetten nach Worten von Franz Kafka.
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Ues, die Umkehrung von Oes, diese (Abbildung 18):
Abbildung 18: Ernst Krenek: Reihe Ues in Sechs Motetten nach Worten von Franz Kafka.
Die letzte Wiederholung der Worte »wieder so viele als Verstecke« erklingt nun auf den ersten 6 Tönen der Umkehrung der bisher verwendeten Reihe. Eine weitere Wiederholung des Wortes »Möglichkeiten« beginnt auf dem 7. Ton von Ues und wird von der Altstimme gehalten, während der Sopran »Der Weg« auf den 8. und 9. Ton von Ues zu singen hat. In Takt 32 hat dann der Alt ein weiteres »Zitat« vom Anfang der Motette auf die ersten beiden Töne von Ues zu singen, also nicht wie in T. 3/4 auf die Töne 2, 3 und 4 von Oes. Dieser hier begonnene zweite Durchgang von Ues findet sein Ende in T. 35 mit der zweiten gesungenen Stelle von »Der Weg« mit den Reihentönen 11 und 12. Parallel dazu hat der Bass in den Takten 30-33 den Text zu sprechen, in Takt 35-37 dann zunächst der Alt und schließlich der Sopran. Hier erscheinen im Sopran nun die von Krenek erwähnten Pfeile, mit denen zunächst zweimal ein Anheben der Stimme gefordert wird, die ein eingeklammertes a´´ (also den 9. Ton beider in der ersten Motette verwendeten Formen der Reihe) erreichen soll, d.h. also wohl, beinahe erreichen soll, um dann gleich wieder zur Mittellage abzufallen. Hier wird also der Versuch unternommen, auch noch die Worte »der wahre Weg« in Gesang zu überführen und damit die Möglichkeit zu schaffen, sie in die Reihe zu integrieren. Dieser Versuch scheitert aber offensichtlich, da der notierbare Ton nur beinahe erreicht wird und schließlich wieder zur Mittellage des Sprechens zurückzukehren ist. Zudem ist der in Klammern angedeutete Ton zwar das beiden Reihenformen als 9. Ton
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
gemeinsame (a), andererseits aber an dieser Stelle überhaupt nicht an der Reihe. Unmittelbar vorher ging Ues gerade mit dem 12. Ton zu Ende, unmittelbar danach beginnt sie neu mit dem 1. Ton, womit zugleich ein neuer Textteil beginnt. Nun stellt sich die Frage nach Status und Funktion der Reihe Ues, die an der beschriebenen Stelle zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Für Stöckler sind die beiden Reihenformen Oes und Ues in eindeutiger Weise semantisch besetzt und stehen in Opposition zueinander: Wie schon in op. 82 steht O für das Gegebene, die Setzung eines Gedankens: Oes ist der Weg, das Gehen, die Bewegung, U die Zurücknahme, der Widerspruch, das Entgegengesetzte, hier das Zögern, das Nicht-Gehen, der Stillstand.29 Nun ist aber Ues im weitaus längsten Teil der 1. Motette, nämlich bis zur Fermate über dem Schlussstrich von Takt 60 semantisch überhaupt nicht zuzuordnen, denn es gibt bis dorthin keinen Text, der allein in Ues erklingen würde, sondern alles, was in Ues zu singen ist, erklingt auch und meist zuerst in Oes. Ues ist also hier nicht nur in reihentechnischer Hinsicht als Umkehrung sekundär zur primären Reihe, sondern auch in Bezug auf den Text. Doch auch in den Takten 61-104 ist die semantische Besetzung von Ues keineswegs so eindeutig, wie Stöckler annimmt: In dem darauffolgenden Abschnitt (T. 61-114, Kuriere und Könige) wechseln Oes und Ues einander durch den Text motiviert ab: die durch die Welt jagenden Kuriere in Oes und Fugato-Einsätzen, der adversative Satzteil in Ues.30 Der betreffende Text lautet wie folgt und beginnt in Oes: Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige [mitten in diesem Wort beginnt Ues] oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein [hier Übergang zu Oes] Deshalb gibt es lau-
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Stöckler: 2006, S. 168. Ebd., S. 167.
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ter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu.31 An dieser Stelle wird Oes abgeschlossen und zugleich erklingt in Tenor, Alt und Sopran ein f-moll-Dreiklang (T. 89). Auch dieser f-moll-Akkord fällt natürlich aus dem dodekaphonen System heraus, allerdings nicht in dem Maß wie die gesprochenen Passagen, da er ja immerhin aus Reihentönen besteht, von denen der 9. und der 11. hier auch durchaus an der richtigen Stelle erscheinen, der 4. muss allerdings wiederholt und ausgehalten werden, um am Schluss des Reihendurchgangs noch zu hören zu sein. Zumindest die strengen Regeln werden hier also nicht eingehalten. Der folgende Textabschnitt ist dann ausschließlich Ues zugeordnet: »Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen [nur die Töne 1,2 und 3,4], aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.« Es ist also offensichtlich nicht so, dass nur der adversative Satzteil, entsprechend der angeblichen semantischen Besetzung »das Entgegengesetzte« Ues zugeordnet würde. Tatsächlich zugeordnet werden hier Ues zum ersten Mal in der Motette Textelemente, die nicht auch in Oes erklingen. Hier also erst kommt es zu semantischen Zuordnungen an Ues. Diese semantischen Elemente stehen aber nicht einfach in Opposition zu den »Setzungen« von Oes. Hier sind es die Kinder, ihr Wunsch und ihre Entscheidung, der Wunsch ein Ende zu machen und der Diensteid, der diesen vereitelt. Wunsch und Unmöglichkeit werden also beide Ues zugeordnet, so wird das semantische Feld von Ues in sich widersprüchlich. Ganz am Schluss der Motette wird Ues dann noch das semantische Element »zögern« zugeordnet und Ues im letzten Takt noch einmal auf den »Wunsch« zurückbezogen, wenn durch eine Viertelpause die Silbe »-gern« abgetrennt wird. Dies ist sicherlich auch ein »Sinnbild für das Zögern«32 , wie Stöckler formuliert, es ist aber eben auch durch die lautliche Übereinstimmung eine Wiederholung des Wortes »gern«, das in Takt 90 den Wunsch nach dem Ende
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Zitiert nach der Paritur: Krenek: 1959, S. 9-12. Ebd., 175.
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eingeleitet hat, auf dem 1. Ton von Ues, und nun am Schluss auf ihrem 12. Ton erklingt. Dieser Wunsch geht also am Ende der Motette auf ambivalente Weise scheinbar in Erfüllung. Diese Scheinhaftigkeit wird damit zu einem weiteren wichtigen semantischen Element, das von Ues transportiert wird. Rückblickend wird so auch das Singen von »Der Weg« von dieser Scheinhaftigkeit kontaminiert. »Der Weg, der wahre Weg« bleibt außerhalb des Reihensystems, er hat sich als nur scheinbar integrierbar erwiesen. Wenn also die semantische Besetzung der Reihenformen weitaus komplexer zu sein scheint, als es Stöckler annimmt, so ist ihrer abschließenden Beschreibung der Semantik von Ues durchaus zuzustimmen: Ues ist für Krenek das Sinnbild für die fehlende Perspektive. Der Weg geht nicht weiter. Man kommt nicht voran, mehr noch, es gibt diesen Weg nicht. Alles ist verkehrt, der Mensch geht in die Irre, Rettung ist unmöglich.33 Freilich ist diese Beschreibung zu modifizieren und zu ergänzen. Der Mensch geht nicht in die Irre, weil alles verkehrt ist (Ues als das Oes Entgegengesetzte), sondern weil der Wunsch einen Schein hervorbringt, der ihn in die Irre gehen lässt. Rettung ist unmöglich, weil die Erfüllung des Wunsches außerhalb dieser Scheinwelt unmöglich ist. Ues repräsentiert den Wunsch und seine Unmöglichkeit in einem, repräsentiert also, was Stöckler richtigerweise über Kafka sagt: »zwischen dem Wunsch zu schreiben und der Unmöglichkeit«.34 Auch hier könnte man sagen, was Martin Zenck über die Kafka-Lieder geschrieben hat: »Der Komponist hat also genau seinen Kafka gelesen […]«.35 Der sichere Boden ist damit aber auch der Zwölftontechnik entzogen worden, den wahren Weg gibt es nicht, davon ist Krenek überzeugt. Diese Überzeugung scheint auch György Kurtág zu teilen und auch in seinem Fall gibt es dazu eine Vorgeschichte. Wenn Krenek im kali33 34 35
Ebd. Stöckler: 2006, S. 168. Zenck: 2007, S. 138.
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fornischen Exil isoliert von den Entwicklungen der europäischen Avantgarde ist, so ist dies Kurtág in hohem Maße im kommunistischen Ungarn. Kurtág ist zwar zuhause geblieben, paradoxerweise aber nach seiner Rückkehr aus Paris gerade dort gewissermaßen im Exil. Laut Rachel Beckles Willson waren die 50er Jahre in Ungarn auch auf musikalischem Gebiet geprägt durch Isolation. Dies habe sich erst 1957 begonnen zu ändern: However, from 1957 onwards there was a general sense that neither the so-called Kodály School nor Socialist Realist aesthetics offered a way forward for Hungary: there was a need to re-engage with new Western currents. Perhaps unsurprisingly, what composers latched on to was dodecaphony, the technique which (in the transformation of post war serialism) had been so celebrated in Darmstadt some years earlier.36 Mehrere Komponisten hätten sich daher der Zwölftontechnik zugewendet. Allerdings habe es eine offizielle Opposition gegen solche »Experimente« gegeben und die Dodekaphonie sei auch aus weiteren Gründen umstritten gewesen. Zum einen sei nämlich Bartók ohne sie ausgekommen, zum andern das Bild von der Dodekaphonie stark durch Thomas Manns Roman »Doktor Faustus« und den Pakt Leverkühns mit dem Teufel darin geprägt gewesen. Alles in allem: »dodecaphony was expressive of apocalyptic evil and suffering.«37 Über Kurtágs Verwendung der Zwölftontechnik nach der Pariser Zäsur in seinen Opera 1 – 7 spekuliert vor diesem Hintergrund Beckles Willson an andere Stelle: »Was Kurtág´s use of dodecaphony a further attempt to purge himself? Was it another self-inflicted punishment?«38 Mag die Zwölftontechnik nun Selbstbestrafung gewesen sein oder nicht, jedenfalls markiert ihr Einsatz einen existenziellen Wendepunkt in Kurtágs Biografie, seine
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Beckles Willson, Rachel: The Sayings of Péter Bornemisza, op. 7: a »Concerto« for Soprano and Piano. Burlington: Ashgate, 2004, S. 44. Ebd. Beckles Willson: 2001, S. 30.
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Rückkehr ins Exil, das die Heimat bedeutet. Im letzten der von Beckles Willson angeführten Werke Kurtágs mit Einsatz der Zwölftontechnik, in den 1963-68 entstandenen Bornemisza Péter mondásai, op. 7 (Die Sprüche des Péter Bornemisza) findet sich diese Technik im 1. Teil, der den Titel »Vallomás« (Konfession) trägt und dessen Struktur an Webern erinnert.39 Mit diesem Werk wird also am 5. 9. 1968 in der Stadthalle in Darmstadt 13 Jahre nach dem dortigen Durchfallen von Kreneks Symphonischer Elegie in Memoriam Anton Webern wieder eine Komposition aufgeführt, die sich stark auf die Zwölftontechnik und auf Webern bezieht. Kein Wunder, dass man in Darmstadt mit diesem Werk seine Schwierigkeiten hatte. Trotz perfekter Aufführung40 »fand [das Stück] beim Publikum der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 1968 kaum Verständnis und keinen besonderen Anklang.«41 , schreibt der Förderer und Freund Kurtágs, Wilfried Brennecke, 1986. Während dem Darmstädter »Normalpublikum« das Werk wohl zu modern gewesen sei, sei das für die Teilnehmer an den Sommerkursen gerade umgekehrt gewesen: Die Besucher der Ferienkurse aber waren auf das Allerneueste der damaligen Welt eingestellt. Und gemessen an diesem Fortschrittsglauben fand sich in Kurtágs Musik wohl zu viel Expression, zu viel »19. Jahrhundert«, Tradition, die man in Deutschland jedenfalls längst überholt glaubte.42 39 40 41
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Vgl. dazu: Beckles Willson: 2004, S. 72ff. Durch Erika Sziklay und Loránt Szűcs. Brennecke, Wilfried: Kurtágs Anfänge in der Bundesrepublik Deutschland (1961 – 1969). In: Spangemacher, Friedrich (Hg.): György Kurtág. Bonn: Boosey & Hawkes, 1986, S. 18-27, hier: S. 22. Brennecke: 1986, S. 22. Liest man die von Brennecke im Anhang seines Aufsatzes veröffentlichte Korrespondenz zwischen dem ehemaligen Leiter der Ferienkurse, Wolfgang Steinecke, und Kurtág, so enthüllt sich eine tatsächliche Verspätung Kurtágs in Darmstadt. Steinecke hatte Kurtág nämlich bereits 1961 eingeladen zur Aufführung seiner Klavierstücke op. 3 nach Darmstadt zu kommen und ihm ein Stipendium angeboten. Kurtág aber bittet um eine Verschiebung auf das folgende Jahr, da er »die Reise im Sommer 1961 nicht verwirklichen« könne. Im Dezember 1961 stirbt dann Steinecke auf tragische Weise bei einem
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In den Kritiken der Presse erscheint dann auch eine Rhetorik der Verspätung und des Anachronistischen, wenn Kurtágs Musik mit der von Alban Berg verglichen wird, ihr eine Nähe zum 19. Jahrhundert bescheinigt wird, die sie nicht verleugnen könne, wenn festgestellt wird, dass die Rückgriffe auf die Tradition uneinheitlich und weitschweifig wirkten. Wenn schließlich in der Neuen Zürcher Zeitung der Klavierpart gar als »schlechte Stockhausen-Imitation« und damit als peinlich abgetan wird, ist das Urteil gesprochen: diese Musik ist nicht up to date.43 Doch selbst Brennecke huldigt noch 1986 dieser Fortschrittsrhetorik, wenn er die »Sprüche« verteidigt, indem er schreibt sie »sind in Sprache und Ausdruck durchaus ›moderne Musik‹, obwohl sie von den zur Zeit ihrer Entstehung aktuellen Strömungen weitgehend unabhängig sind.« Den aktuellen Stand der Neuen Musik damals bestimmt er als »Phase der postseriellen Musik Deutschlands, die im Bereich der wirklichen Avantgarde eindeutig und uneingeschränkt von Karlheinz Stockhausen beherrscht wurde.«44 Tatsächlich werden die Darmstädter Ferienkurse 1968 von Stockhausen beherrscht. Seine Hymnen werden aufgeführt und nach seinem 10-tägigen Kompositionskurs improvisieren die teilnehmenden 14 Komponisten in den 5 Räumen eines 2-stöckigen Hauses nach den Vorgaben von Stockhausen Musik für ein Haus, während das Publikum von Raum zu Raum wandert. Verstärkt wird diese Dominanz Stockhausens noch durch die krankheitsbedingte Absage von Pierre Boulez, der somit die »Sprüche« auch nicht kennenlernt. Damit beginnt die Geschichte einer anderen Verspätung, auf die Boulez anlässlich des 60. Geburtstags Kurtágs 1986 selbst verweist. Boulez »entdeckt« Kurtág erst 1981 im Zuge der Uraufführung seiner A boldogult R.V. Truszova üzenetei [Die Mitteilungen des verstorbenen Fräulein R.V. Trussowa], op. 17, die er dann 1983 auch selbst mit
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Autounfall. Kurtágs persönliche Kontakte nach Darmstadt sind damit bis 1968 abgerissen. Für die Originalzitate aus den Kritiken vgl.: Brennecke: 1986, S. 23f. und Beckles Willson: 2004, S. 131-133. Brennecke: 1986, S. 22.
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Adrienne Csengery und dem Ensemble Intercontemporain einstudiert und dirigiert und dann auch einspielt. Damit setzt sich Kurtág mit einem Schlag in der westlichen Avantgarde durch.45 In diesem Kontext also widmet 2 Jahre darauf Kurtág sein Kafka-Fragment mit dem Titel »Der wahre Weg« Pierre Boulez mit den Worten: »Hommage-message à Pierre Boulez«. Der Text dieses Fragments lautet: Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden.46 Musikalisch spannt die Violine das Seil, indem sie mit einer G-Oktave beginnt, deren unterer Ton ein g, also der Ton, auf den die tiefste Saite der Violine gestimmt wird, ist. Diese g-Saite dominiert die ersten Takte mit wiederholten und lang liegenden Tönen. Freilich bewegt sich der obere Ton der Oktave, das g´ schon am Ende des 1. Taktes mikrotonal in Richtung as´, im gleichen Takt zurück zu g´, im 3. Takt dann hinunter in Richtung fis´, zurück zum g´, in Richtung as´, schließlich wird das as´ am Anfang von Takt 4 erreicht. In Takt 5 schließlich wird eine A-Oktave erreicht, deren oberer Ton der leeren a´-Saite der Violine entspricht. Im weiteren Verlauf des Stückes werden auch die weiteren Saiten der Violine angesteuert, die d´-Saite erklingt zum ersten Mal in Takt 11 (mit der tiefen Oktav zusammen in Takt 16). Ebenfalls in Takt 11 erklingt die leere e´´-Saite, dieser Ton wird aber nie mit seiner tiefen Oktav kombiniert. Bis zu Takt 11 also ist die höchstgestimmte Saite der Violine erreicht worden, dann geht es schrittweise wieder abwärts, bis am Ende von Takt 20 ein langsamer Abstieg in Oktaven von d über b auf as stattfindet. Letztere Oktave verengt sich dann auf ein des´ am Anfang von Takt 21. Danach pausiert der Violinpart für den Rest des ersten Drittels dieses langen Taktes. Im zweiten Drittel bewegt sich die
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Dieser Durchbruch mag auch damit zu tun haben, dass es sich hier nun um ein »großes« Orchesterwerk, nicht um Kammermusik handelt, doch darf die Wirkung der »Approbierung« durch eine von Boulez geleitete Aufnahme nicht unterschätzt werden. Zitiert nach der Paritur: Kurtág: 1992, S. 24-27.
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Violinstimme chromatisch vom a zum b. Im dritten Drittel beginnt die Reprise der 5 Eingangstakte des Stückes mit der g-Oktave auf der gSaite der Violine. Auf diesem g endet der Violinpart auch am Ende von Takt 24. Dieser Violinpart wird also einerseits durch chromatisches Voranschreiten von einem der Stimmungstöne des Instruments zu einem anderen charakterisiert, andererseits aber durch das zugleich stattfindende Auflösen dieser Chromatik mit Hilfe von mikrotonalen Schwebungen, die durch aufwärts oder abwärts zeigende Pfeile vor den Noten notiert werden. Die Analogie zwischen dem über dem Boden gespannten Seil des Textes und der auf dem Instrument gespannten, tiefsten gSaite ist naheliegend. Zu bedenken ist aber, dass dieses Seil im Verlauf des Stückes, führt man die Analogie weiter, mehr oder weniger hoch gespannt wird, dann kurz vor dem Ende abreißt und neu gespannt wird, bis es ganz am Ende wieder die ursprüngliche Spannung (g-Saite) erreicht hat. Wird die Chromatik des Violinparts von Anfang an mikrotonal unterwandert, so bewegt sich die Singstimme bis Takt 12 chromatisch um den Ton d´ herum, sie kehrt sowohl vom cis´ als auch vom es´ immer wieder zu diesem Ton zurück. Erst am Ende von Takt 12 kommt etwas Bewegung in die Singstimme, die nun statt wie bisher punktierte Halbe und Ganze Achtel zu singen hat, und zwar vom d´ ausgehend eine Quart nach oben und dann zwei Quarten nach unten, bis dann in Takt 13 auf gis und cis´ das Wort »Höhe« erklingt. Schließlich erreicht die Singstimme in Takt 14 nach d´ und fis´ (»gespannt«) ihren tiefsten Ton, das g, also den Ton, der als g-Saite der Violine das gespannte Seil darstellt. In den folgenden Takten bewegt sie sich dann folgerichtig »knapp über dem Boden« im Bereich von e´ bis c´, also wieder um das d´ herum. In Takt 21 aber finden wir zum Satz »Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen als begangen zu werden.« einen völlig neuen Violinpart. Die beiden Hälften des Satzes werden in der Singstimme musikalisch in mehrfacher Hinsicht scharf kontrastiv gegeneinander abgehoben: in den Notenwerten und damit im Tempo, im Rhythmus und im musikalischen Charakter. Achtelnoten werden plötzlich durch punktierte Halbe und schließlich sogar punktierte Ganze abgelöst, die im
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
Gegensatz zu den synkopierten Achteln gleichförmig voranschreiten. Die Tonhöhenbewegung führt im ersten Teil in einem Bogen hinauf und dann schnell hinunter, im zweiten Teil geht es regelmäßig von Note zu Note alternierend hinauf und wieder hinunter. Aber auch die musikalischen Charaktere, die in der Partitur auch benannt werden, kontrastieren. Dem ernsten, feierlichen Choral geht das unbeschwert heitere Siciliano voran. Freilich werden beide Charaktere ambivalent behandelt, denn über dem Siciliano steht in der Partitur »quasi Cadenza«, am Anfang des Chorals steht in der Violinstimme die Anweisung »senza colore«. Beide Vortragsbezeichnungen widersprechen eigentlich dem jeweils angegebenen Charakter. Doch auch die szenischen Elemente, die jeweils auskomponiert sind, also das Stolpern und das Schreiten, verändern so ihren Charakter: Das Stolpern ist nicht ungeschickt, sondern virtuos, das Schreiten ist nicht Spieglung innerer Ernsthaftigkeit und feierlicher Empfindung, sondern leere Körperbewegung. Die Textstelle wird so musikalisch als komische, ja geradezu clowneske Szene interpretiert. Das »quasi Cadenza«, das dieser Stelle übergeordnet steht und damit wohl auch noch auf den Choral-Teil zu beziehen ist, verweist zunächst einmal auf das Aussetzen der Chromatik der Singstimme an dieser Stelle. Die Intervalle steigern sich im Siciliano-Teil von der Sekund über Terzen und eine Quart zur Quint, nach der die Singstimme zur Chromatik zurückkehrt, die von der wieder einsetzenden Violine aufgenommen und weitergeführt wird, bis dann mit der Reprise der Einleitung die mikrotonalen Elemente wieder auftauchen. In der Singstimme freilich steigern sich noch einmal im Choralteil die Intervalle von der kleinen Sekund über die übermäßige Sekund, die kleine Terz, die große Terz, die verminderte Quart bis zur verminderten Quint, mit der die Singstimme endet. Wo ist hier aber die Kadenz, oder genauer Quasi-Kadenz? Nun, das Stück endet in der Violine mit den Tönen g und h´ also den Tönen der Terz des G-Dur-Dreiklangs. Nicht zu vergessen ist, dass das hier ausgesparte d´, also die Quint dieses Dreiklangs nicht nur die Singstimme dominiert hat, sondern auch zweimal im Siciliano-Teil erklingt. Dazwischen erklingt ein fis´, d´ und fis´ verweisen so auf den D-Dur-
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Dreiklang, die Dominante zu G-Dur, dessen Quint gleich im Anschluss erklingt. Auf die Subdominate von G-Dur wiederum verweist die Quint c-g, die durch den letzten Ton der Singstimme (c´) über der neu gespannten G-Oktave der Violine erklingt. Die Quasi-Kadenz lautet somit V-I-IV-I. Genau beim Wort »stolpern« aber wird der Quasi-Charakter der Kadenz verstärkt, denn dort stolpert die Singstimme auch in Hinblick auf diese Kadenz, wenn statt g´ – c´ dort gis´- cis´ zu singen ist. Nach dieser Cis-Dur-Anspielung, die durch den his´-Vorschlag zum gis´ in der Ossia-Variante noch bestätigt wird, kehrt die Singstimme vorübergehend wieder zur Chromatik um d´ herum zurück, bis schließlich der Choral beginnt. Wie man sieht, gibt es hier keinen festen Boden, weder Zwölftontechnik, die bei Kreneks Vertonung dieses Textes trotz der Unterminierung durch den nicht integrierbaren gesprochenen Teil einen tragfähigen Boden bildete, weder Tonalität, die sich in den tonalen Anspielungen Kurtágs als Quasi-Tonalität erweist, noch chromatische Atonalität, die von den mikrotonalen Schwebungen des Stückes untergraben wird.47 Das Einzige, an dem man das Stück festmachen kann, ist eigentlich die Materialität des Instruments, die auf dem hölzernen Korpus gespannten Saiten der Violine. Die g-Saite trägt das ganze Stück und sie reißt auch nur symbolisch als das im Stück gespannte Seil, sie reißt aber nicht als g-Saite des Instruments, die ja auch noch ganz am Schluss erklingen muss. Selbst die Singstimme ist mit ihrer langen Fixierung auf den Ton d´ auf die Stimmung der Violine, nämlich auf die d´-Saite bezogen. Statt von einem bestimmten Stand des musikalischen Materials auszugehen, wählt Kurtág hier also einen ganz anderen 47
Alan E. Williams spricht in Bezug auf Officium breve in Memoriam Andreae Szervánszky op. 28, das 3 Jahre nach den Kafka-Fragmenten entstand, von »simultaneous reference to at least three kinds of music«: die tonale Sprache, das kindliche Klavierspiel auf den weißen Tasten und die chromatische Sprache der Avantgarde. Auch dort werden diese unterschiedlichen musikalischen/musikhistorischen Sprachen nicht synthetisiert, sondern »maintain a fragile and unstable combination of apparently contradictory levels of meaning.« Vgl.: E. Williams, Alan: Kurtág, Modernity, Modernisms. In: Contemporary Music Review 20/2 + 3 (2001), S. 51-69, hier: S. 59.
5. Subjektivität und Ausdruck: Ernst Krenek, György Kurtág und die Avantgarde
Ausgangspunkt, der im Verhältnis vor allem zu einer Fortschrittskonzeption des musikalischen Materials als geradezu willkürlich erscheinen muss: die leeren Saiten der Violine. Ist hierin ein Teil der »Botschaft« an Pierre Boulez zu sehen, die in der Widmung des Fragments zur Sprache kommt? Oder ist es das Reißen des Seils, das in Kafkas Text gar nicht vorkommt, sodass dann das Stolpern ganz ohne Seil passiert? Es braucht gar kein Seil, über das der wahre Weg führt, man stolpert ohnedies nur dahin? Am Ende aber sind wir wieder dort, wo wir schon am Anfang waren. Auch in dieser Hinsicht gibt es keinen wahren Weg, eigentlich gar keinen Weg. Bewegung hat zwar stattgefunden, aber es war eine Bewegung, die nirgends hinführte, eine Bewegung ohne Richtung, eine Bewegung im Stillstand. Damit aber stünde im Zentrum der KafkaFragmente als Motor jenes paradoxe Prinzip, das in Kreneks Motetten das Ergebnis war. Das heißt natürlich nicht, dass Kurtág hier Krenek, dessen KafkaMotetten er wahrscheinlich gar nicht kennt,48 gegen Boulez ausspielen würde. Dennoch kann die Botschaft an Boulez so gelesen werden, dass Kurtág und Krenek recht gehabt haben und es schon früher gewusst haben. Wie eine Antwort genau darauf klingt Pierre Boulez‹ »Botschaft« an Kurtág zu dessen 60. Geburtstag, deren erster Satz lautet: »Die Musik von Kurtág habe ich erst viel zu spät kennengelernt.« Nach einem Absatz geprägt durch eine eloquente Rhetorik des Versäumnisses folgt ein ebenso eloquentes Lob der Musik Kurtágs. Schließlich wünscht sich Boulez ein neues Werk Kurtágs zur Aufführung und schließt: »Die Botschaft ist auf dem Weg; Geburtstage müssen jeglichem Wunsch günstig sein … Dies ist also der Wunsch, den ich anläßlich dieses Geburtstags ausspreche.«49 Allerdings hat diese »Botschaft« von Boulez mit ihrem Eingeständnis der späten Erkenntnis Kurtág wohl kaum vor der Niederschrift seiner »Botschaft« erreicht, noch konnte umgekehrt Boulez
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Nach einer mündlichen Mitteilung des Schöpfers der Reihenfolge der KafkaFragmente Kurtágs, András Wilheim, kennt er sie »sicher nicht«. Boulez, Pierre: György Kurtág. In: Spangemacher, Friedrich (Hg.): György Kurtág. Bonn: Boosey & Hawkes, 1986, S. 12-13.
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diese kennen, als er seine verfasste, denn die beiden »Botschaften« sind wohl etwa gleichzeitig entstanden.50 Mit seiner »Botschaft« wendet sich Kurtág auch nicht gegen Boulez, dem er ja auch Grund hat, dankbar zu sein, immerhin ist dieses Fragment nach der Widmung nicht nur eine Botschaft, sondern auch eine Hommage an Boulez. Es ist eine Hommage mit einem Augenzwinkern, das in den slapstickhaften Zügen des Stückes zum Ausdruck kommt. Wenn wir bei Krenek die philosophisch-religiöse Reflexion des Subjekts, das sich dem Zeitgeist entgegenstellt, finden, so finden wir bei Kurtág ein Rollenspiel von Verbergen und Enthüllen, von mehrdeutigen, oft ambivalenten Verweisen und die Überzeugung, dass der Weg, da es den wahren Weg nicht gibt, nur von einem Ton zu einem anderen Ton führen kann. Kafkas Seil symbolisiert in den Kompositionen von Krenek und Kurtág somit den »wahren« Weg der Avantgarde, den vergötterten Fortschritt des Materials. Gegen diesen wendet sich Krenek aus der kritischen Position des Subjekts, wodurch er sich endgültig ins Exil verbannt. Für Kurtág hat sich dagegen seine Exilsituation bereits in mehrfacher Hinsicht geöffnet, als der seine Kafka-Fragmente schrieb. Denn er war zu diesem Zeitpunkt ein in der Post-Darmstadt-Welt der Neuen Musik anerkannter Komponist und auch der Eiserne Vorhang sollte nicht mehr lange bestehen bleiben. Kurtág muss sich aus einer postavantgardistischen Position heraus daher nicht mehr gegen den quasi-totalitären Fortschrittsbegriff der Avantgarde stellen, er muss nicht mehr ins Exil, sondern kann diesen Weg der Avantgarde bereits augenzwinkernd der Lächerlichkeit preisgeben.
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Die Komposition von Kurtág ist datiert auf: Szombathely-Budaliget 1985. VIII. 7. – IX. 13., das Buch zum 60. Geburtstag Kurtágs mit dem Aufsatz von Boulez erschien 1986, Spangemachers Vorwort ist datiert auf: Oktober 1985.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist die Debatte um das komplexe Verhältnis der Kunst zu Gesellschaft und Politik wiederaufgelebt. Engagement in Kunst und Kultur und zugleich auch in der Praxis, in Gesellschaft und Politik, werden nicht länger als streng getrennte Bereiche betrachtet, sondern vielmehr als ineinander verschränkt innerhalb eines umfassenden Konzepts politischer Kunst, wie es etwa Jacques Rancière in seinem Buch The Politics of Aesthetics1 darlegt. In den visuellen Künsten ist dieser Praxisturn der Ästhetik durch das traumatische Ereignis ausgelöst worden, das wir mit den Zahlen »9/11« zu bezeichnen gewohnt sind – ein historisches Ereignis, das sich in Kunst und Literatur als »a phenomenological shift: a watershed«2 manifestiere, wie Jill Bennett schreibt. Nach diesem Turn bewege sich die Ästhetik weg von der des »großen Werks« und hin zu einer prozessualen Ästhetik der Relationen.3 Bennet unterscheidet im Rahmen ihrer Idee einer »praktischen Ästhetik« (practical aesthetics) drei leitende Prinzipien: Gegenwärtigkeit (contemporaneity), Transdisziplinarität und Desmologie (desmology).
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Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics: The Distribution of the Sensible. London, New York: Continuum, 2004. Bennett, Jill: Practical Aesthetics: Events, Affects and Art after 9/11. London, New York: I.B. Tauris, 2012, S. 18. Vgl. ebd., S. 10.
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Mit dem Prinzip der Gegenwärtigkeit versucht sie vor allem eine Neukonzipierung des Ereignisses zu fassen, das nun nicht nur privilegiert werde, sondern zudem aufgefasst werde als eine unbestimmte Größe, »an indeterminate entity in formation.«4 Transdiziplinarität ist nötig geworden, da ästhetische Prozesse im globalen Feld stattfinden und daher auch »in an inherently unbounded global field«5 studiert werden müssen. Desmologie wiederum ist ein Begriff, den sie von Michel Serres entleiht und der vor allem eine Verschiebung des Schwerpunkts weg vom Objekt selbst und hin zu den dynamischen Beziehungen zwischen den Objekten abdecken soll: »away from the object per se to its dynamic relations: to process and method – to the means of connecting.«6 Auf dem Feld der Musik und der Musikästhetik sind in den 2000er Jahren mehrere Konzepte von Gegenwärtigkeit entwickelt worden, von denen einige bis heute kontrovers diskutiert werden. Der »Neue Konzueptualismus« wurde vor allem vom Komponisten Johannes Kreidler propagiert, etwa in einem Vortrag, den er bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik im Jahr 2012 gehalten hat. Der Begriff steht im Kontext von Harry Lehmanns Vorstellung von einer »digitalen Revolution« in der Musik.7 Lehmann beschreibt in seinem Buch den »Neuen Konzeptionalismus« mit Begriffen wie »relationale Musik«8 und »gehaltsästhetische Wende«9 und meint damit einen Musikbegriff, der im Gegensatz zu dem der »absoluten« Musik seinen Bezug zur »außermusikalischen« Welt nicht kappt. Die Relationalität der Musik in Bezug auf die außermusikalische Welt sowohl des Komponierenden als auch des Rezipienten ist unter dem Stichwort »Diesseitigkeit« auch von zahlreichen Musikwissenschaftlern und Komponisten diskutiert worden, insbesondere von den
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Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Lehmann, Harry: Die digitale Revolution der Musik: eine Musikphilosophie. Mainz: Schott, 2012. Ebd., 115-126. Ebd., S. 90-94.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
Mitgliedern des Komponistenkollektivs stock11 wie Michael Maierhof, der dafür auch den Begriff einer »Ästhetik des Alltags«10 verwendet, sowie Maximilian Marcoll, Hannes Seidl, and Martin Schüttler.11 2016 hat Jennifer Walshe, die ebenfalls Mitglied von stock11 ist, ein Manifest veröffentlicht, das eine Ästhetik propagiert, die sie »The New Discipline« nennt. Die deutsche Zeitschrift für Neue Musik MusikTexte hat dieses Manifest zusammen mit zahlreichen Beiträgen anderer Komponist_innen und einem Editorial von Jennifer Walshe in deutscher Übersetzung publiziert12 und versucht, so die Diskussion über die Gegenwärtigkeit der Musik auch im deutschen Sprachraum um eine neue Facette zu bereichern. In diesem Editorial kann das Setzen von drei Schwerpunkten der ästhetischen Sensibilität beobachtet werden. Der erste Schwerpunkt wird gebildet von den Verbindungen der Aktionen der Musiker_innen innerhalb der Konzertsituation und den sozialen Strukturen und Rollen, insbesondere in Bezug auf Geschlecht und Rasse: An oboist playing forte against a violin playing piano is not the same as a male performer singing loudly over a female performer, or a white female performer talking loudly over a performer of colour. Different people, with their different bodies, mean vastly different things, are read in vastly different ways.13 Das Medium der Verbindung zwischen der Welt des Konzerts und der sozialen Welt im Allgemeinen sind die phänomenologischen Leiber der 10 11
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Maierhof: 2008: S. 28-30. Vgl. unter anderem: Schüttler, Martin: Diesseitigkeit. In: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 93 (2012), S. 6-9 und Nauck, Gisela: Dekonstruktion und Gegenentwurf: Zum Konzept der Diesseitigkeit in der Musik von Martin Schüttler. In: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 101 (2014), S. 29-32. Walshe, Jennifer: Ein Körper ist kein Klavier: Editorial zur Diskussion über die »Neue Disziplin«. In: MusikTexte: Zeitschrift für Neue Musik 149 (2016): S. 325. Die englischen Originalversionen der in der Nummer der Zeitschrift abgedruckten Texte können von der Homepage der Zeitschrift heruntergeladen werden: URL: https://musiktexte.de/MusikTexte-149 [abgerufen am 18.05.2021]. Ebd., 3.
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Musiker_innen. Ein Bewusstsein der Performativität der musikalischen Aktionen im Verhältnis zu sozialen Strukturen resultiert in einem Bewusstsein der Korporalität des Musizierens. Walshe schließt ihren manifestartigen Text daher mit dem Aufruf, diese Korporalität des Musizierens als einen intrinsischen Teil der Musik zu betrachten: Perhaps we are finally willing to accept that the bodies playing the music are part of the music, that they’re present, they’re valid and they inform our listening whether subconsciously or consciously. That it’s not too late for us to have bodies.14 Diese Valorisierung der Korporalität der Musik wird in mehreren Beiträgen zur Diskussion von Walshes Neuer Disziplin geteilt. Uwe Rasch etwa schreibt über »Musik als Leibesübung« und argumentiert für eine Anerkennung von Körperbewegungen als Parameter musikalischer Komposition.15 Beide, die Sensibilität für die Korporalität der Musik und die für soziale Performativität verbinden sich zum Bewusstsein der Theatralität der musikalischen Aktion. Matthew Shlomowitz beschreibt die Konsequenz des Bewusstseins der Theatralität des Musizierens für das musikalische Denken folgendermaßen: I think most interesting performative composition expands musical thinking into the domains of the visual, choreographic and theatrical through bringing out performative qualities already inherent in music making (as in the silent movement from [Mauricio Kagel’s] Sonant) […].16 Die Aufwertung des Visuellen und des Theatralen in der Musik ist selbstverständlich nichts völlig Neues und reicht zweifellos weiter zurück und über das Beispiel von Mauricio Kagels Werk hinaus, das Walshe anführt. Zusätzlich beruft sich Walshe in ihrem Editorial auch
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Ebd., S. 5. Rasch, Uwe: Musik als Leibesübung. In: MusikTexte: Zeitschrift für Neue Musik 149 (2016): S. 9-10. Shlomowitz, Matthew: Der Spieler als Automat. In: MusikTexte: Zeitschrift für Neue Musik 149 (2016): S. 16-17, hier: S. 17.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
auf Dada, Fluxus und den Situationismus als Vorläufer der Neuen Disziplin.17 Das wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis die Neue Disziplin zu dieser Tradition der »performativen Komposition« steht. Andy Ingamells bezieht sich im Titel seines Beitrags Stop inhaling Oxygen and exhaling Carbon Dioxide, because »we did that in the 60s« ironisch auf diese Frage, um dann das Verhältnis der jungen Generation von Komponist_innen zur Avantgarde-Tradition als eines zu beschreiben, das selbst ein Moment der Ironie in sich trägt: People who do this kind of thing have a particular interest in the Twentieth Century avant-garde(s) because those people were also interested in the ›New‹. But whereas they smashed down artistic barriers The New Discipline plays in the rubble and uses it to construct.18 Indem er ein solches ironisches Verhältnis postuliert, nimmt Ingamells eine gewisse Distanz zu den älteren und toten Komponisten ein, die er als Vorläufer seines eigenen Projekts in der Gegenwart anerkennt. Auch Walshe erkennt Kagel und seine »Musik als Theater« als Vorläufer an, sieht aber auch die Gefahr für die Neue Disziplin, als Teil dieser Tradition ghettoisiert zu werden und betont daher ebenfalls Distanz: […] too much has happened since the 1970s for that term to work here. MTV, the Internet, Beyonce ripping off Anne Teresa De Keersmaeker, Stewart Lee, Girls, style blogs and yoga classes at Darmstadt, Mykki Blanco, the availability of cheap cameras and projectors, the supremacy of YouTube documentations over performances.19 Ähnlich argumentiert auch Brigitta Muntendorf, die nicht in dem von Jennifer Walshe editierten Schwerpunkt vertreten ist, die aber zweifellos zu den jungen Komponistinnen zählt, auf die Walshe mit den Wor-
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Vgl. Walshe: 2016, S. 5. Ingamells, Andy: Hören Sie auf, Sauerstoff ein und Kohlenstoff auszuatmen, weil »wir das in den Sechzigern getan haben.« In: MusikTexte: Zeitschrift Für Neue Musik 149 (2016): S. 22-23, hier: S. 22. Walshe: 2016, S. 5.
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ten »many names that could just as easily have been included«20 verweist, wenn sie sich von ihren potentiellen Vorgängern auf die folgende Weise distanziert: Die Gegenwart heute ist eine andere als die Gegenwart zu Zeiten von Hanns Eisler, Kurt Weill, Nam June Paik oder Luigi Nono. Heute sind diese Komponisten Teil der Geschichte, und somit sind auch ihre Klang- und Kunstsprache Teil der Geschichte und können nicht einfach als Modelle für ein Komponieren mit der Gegenwart verwendet werden – es sei denn, man möchte auf die jeweilige Klangsprache dezidiert verweisen.21 Ähnlich wie Walshe nennt auch Muntendorf technologische und mediale Veränderungen und Entwicklungen als Gründe für ihre Distanzierung von den älteren und toten Komonist_innen, wobei sie insbesondere auf die Entwicklung des Internet und der sozialen Medien verweist.22 Als Folgen dieser Entwicklungen diagnostiziert sie eine Pluralisierung und Hybridisierung der Realität, was wiederum zur Entstehung einer »mixed reality« und eines »Realitäts-VirtualitätsKontinuums« führe.23 Daher bedeutet Gegenwärtigkeit für die Komponierenden, sich mit diesen neuen Kommunikationsstrukturen auseinanderzusetzten.24 In diesem Prozess entfernte sich das Rollenbild der Komponierenden vom teilweise immer noch verbreiteten Bild »des allwissenden Schöpfers und dessen ›Meisterwerk‹«25 und bewege sich in Richtung eines Kommunikators, für den sich die Frage nach dem musikalischen Material neu stelle, da die entscheidende Frage nun nicht mehr sei, wie neu und avanciert das Material ist, sondern 20 21
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Ebd., S. 3. Muntendorf, Brigitta: Anleitung zur künstlerischen Arbeit mit der Gegenwart. In: Hiekel, Jörn Peter (Hg.): Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in Neuer Musik. Mainz: Schott, 2015 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 55), S. 50-55, hier: S. 50. Ebd., 52. Ebd., 57. Ebd., 53. Ebd., 55.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
wie gut es dem kommunikativen Zweck dient. Dieser neue Typ des Komponisten-Kommunikators kann sein Material auch aus den sozialen Netzwerken beziehen und mit Modellen arbeiten, die den sozialen Netzwerken inhärent sind. Die mit diesem Paradigmenwechsel des Materials verbundenen Kompositionsstrategien nennt Muntendorf »Social Composing«.26 Ein gutes Beispiel für dieses soziale Komponieren ist ihre Serie von Stücken für Soloinstrument, Video und Tonband mit dem Titel Public Privacy. In diesen Stücken beschäftigt sich Muntendorf mit der Veränderung der Funktion moderner Privatheit im Verhältnis zur Öffentlichkeit im Zeitalter des Internet und der sozialen Medien. Für das Zeitalter des modernen Individualismus hat Hannah Arendt die Funktion der Privatheit als konstitutiv dafür beschrieben, dem Leben individuelle Tiefe zu verleihen: Das […] wesentlich nicht-private Merkmal des Privaten hat mit seiner Verborgenheit zu tun, damit, daß die eigenen vier Wände der einzige Ort sind, an den wir uns von der Welt zurückziehen können, nicht nur von dem, was in ihr ständig vorgeht, sondern von ihrer Öffentlichkeit, von dem Gesehen- und Gehörtwerden. Wir kennen alle die eigentümliche Verflachung, die ein nur in der Öffentlichkeit verbrachtes Leben unweigerlich mit sich führt. Gerade weil es sich ständig in der Sichtbarkeit hält, verliert es die Fähigkeit, aus einem dunklen Untergrund in die Helle der Welt aufzusteigen; es büßt die Dunkelheit und Verborgenheit ein, die dem Leben in einem sehr realen, nicht-subjektiven Sinn seine jeweils verschiedene Tiefe geben. Die einzig wirksame Art und Weise, die Dunkelheit dessen zu gewährleisten, was vor dem Licht der Öffentlichkeit verborgen bleiben muß, ist Privateigentum, eine Stätte, zu der niemand Zutritt hat und wo man zugleich geborgen und verborgen ist.27
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Ebd., 62. Arendt, Hanna: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Neu-Edition, hg. v. Thomas Meyer. München: Piper, 2020, S. 86.
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Muntendorf reagiert mit den Stücken von Public Privacy auf die Alterung, die diese Beschreibung der Rolle der privaten vier Wände für die Konstitution des Individuums im 21. Jahrhundert erfahren hat. In zahllosen Videos auf YouTube covern Hobbymusiker_innen und manchmal auch professionelle Musiker_innen ihre jeweiligen Lieblingssongs auf ihrem Instrument der Wahl und zeigen sich und ihre Produktion in ihren eigenen vier Wänden der Öffentlichkeit. Dieses Phänomen wird von Muntendorf in ihrer Serie aufgegriffen, indem sie mit der Spannung von Original und Cover sowie der von Individualität und ihrer Verflachung im sozialen Medium spielt. In Muntendorfs Stücken hat nämlich ein Solist auf seinem Instrument live auf eine Collage solcher YouTubeHomevideos mit Covers von verschiedenen Songs auf einem Bildschirm zu reagieren. Freilich soll damit nicht die Sonderstellung des professionellen Musikers betont werden, der die Produktionen der Hobbymusiker_innen auf YouTube zum Ausgangsmaterial für seine »Meisterproduktion« macht. Dies wird von Muntendorf dadurch unterlaufen, dass sie von jedem/er teilnehmenden Musiker_in verlangt, zunächst selbst ein solches Homevideo mit einem Cover seines/ihres Lieblingssongs in seinen/ihren eigenen vier Wänden aufzunehmen. Dieses Video wird vor der Produktion des jeweiligen Musikers oder der jeweiligen Musikerin in die Collage, die während der Aufführung des Stücks auf dem Bildschirm zu sehen ist, an Stelle eines der »originalen« Videos aufgenommen. Der/die Ausführende des Stücks wird so schon vor der Aufführung auch selbst Teil des Prozesses der Selbstenthüllung der eigenen vier Wände im sozialen Medium. Diese Prozedur wird jedes Mal wiederholt, wenn ein neuer Musiker oder eine neue Musikerin das Stück aufführt.28 Dadurch verändert sich die Zusammensetzung des auf dem Bildschirm abgespielten Videos, auf das der/die Aufführende zu reagieren hat im Laufe der Serie. Der Anteil der simulierten Homevideos wird immer größer, bis letztendlich das ganze Video nur noch eine Simulation ist. Simulation und Original sind aber ununterscheidbar, die Grenze zwischen »Meisterwerk« und »Cover« löst sich genauso auf wie die zwischen »authentischem« Homevideo und Simulation. Die 28
Vgl. Muntendorf: 2015, S. 63.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
Stücke Flute Cover (2013) und Piano Cover (2013) funktionieren genau auf diese Weise. Trumpet Cover (2014) aber ist von Anfang an ein simuliertes YouTube-Video, in dem nur die Ästhetik der YouTube-Covervideos verwendet wird, jedoch keine »Originale«. In diesem Stück wird die Auflösung der Grenze zwischen privatem und öffentlich-virtuellem Raum dadurch angesprochen, dass Aktivitäten der Vorbereitung und des Aufwärmens vor der musikalischen Aufführung zum musikalischen Material und für das Publikum hör- und sichtbar gemacht werden.29 Mit der Ambivalenz von Flachheit der Simulation und Tiefe der Subjektivität in Bezug auf die Komposition beschäftigt sich Muntendorf bereits seit ihrer Studienzeit. Der entscheidende Impuls dafür kam 2009 während ihrer Studien bei Rebecca Saunders in Köln. Damals entschloss sie sich, ihre Schreibweise radikal zu verändern, nämlich weg von ihren Anfängen in der spätromantischen Tradition subjektiven Ausdrucks und hin zu einem selbst-reflexiven Ansatz. In dem ersten Stück nach dieser Wende, in Crack (2009) für Orchester, das sie für einen Wettbewerb schrieb, in dem Richard Strauss‹ Tondichtung Ein Heldenleben als Ausgangspunkt und Folie der eigenen Komposition genommen werden sollte, verwendet Muntendorf das musikalische Vokabular des spätromantischen Komponisten, vor allem musikalischen Formen, die mit dem Heroischen und dem Helden assoziiert werden können, dazu, ein Klangfläche orchestralen Bombasts zu erzeugen. Theatrale Gesten, etwa die, wenn die Musiker_innen sich während der Aufführung immer wieder selbst applaudieren, machen es für das Publikum auch visuell deutlich, dass das Stück nicht als Ausdruck authentischer Subjektivität rezipiert werden soll, sondern als ironische Verschiebung des Kontexts.30 Es geht also in Crack um mehr als nur die Distanzierung einer jungen Komponistin von der Tradition, die
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Vgl. Wieschollek, Dirk: Mixed Reality: Zum Aspekt des Visuellen in Brigitta Muntendorfs multimedialem Komponieren. In: Neue Zeitschrift für Musik 175/6 (2014), S. 31-35, hier: S. 35. Vgl. Steins, Hubert: Recycelte Semantik: Neunundzwanzig Jahre jung; Die Komponistin Brigitta Muntendorf. In: Musik-Texte: Zeitschrift für Neue Musik 131 (2011), S. 7-8.
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Spätromantik wäre sowieso schon eine Tradition in der historischen Distanz, sondern um eine Verschiebung des kompositorischen Paradigmas weg vom Kontext des authentischen Komponistensubjekts und hin zur reflektierenden und selbstreflexiven Komponistin, die ihre Rolle als Künstlerin als kommunikative Teilnehmerin in der gegenwärtigen Gesellschaft auffasst. Um die kommunikativen Möglichkeiten ihrer Musik zu erweitern, geht Muntendorf einen Schritt in Richtung transmediale Komposition, indem sie das Video zu einem integralen Bestandteil der Komposition macht, wodurch sie auch das Visuelle zum Teil der Musik macht. Diese Transmedialität kann auch in ihren ebenfalls aus dem Jahr 2009 stammenden Stücken Hinterhall und Überhall beobachtet werden. In Hinterhall werden Saxofon und Schlagzeug mit dem Video verdoppelt. Sind anfangs Aufführung und Aufzeichnung noch synchron und somit visuell ununterscheidbar, so werden sie im Verlauf des Stücks zunehmend asynchron und treten somit visuell immer weiter auseinander. Die visuelle Komponente der Aufführung wird auf diese Weise in ihrer Ambivalenz zwischen Relationalität und Eigenständigkeit bewusst gemacht. Im zweiten Stück, Überhall, ist auf dem Bildschirm nur der Dirigent zu sehen. In diesem Fall treten auditive und visuelle Komponente nicht fortschreitend auseinander, wie im Fall des ersten Stücks, sondern die visuelle Komponente verändert sich selbst bis zu Unkenntlichkeit. Es kommt nämlich zu einer fortschreitenden Zerstörung und Auflösung des Bildes des Dirigenten, indem das Bild immer unschärfer wird, bis schließlich nur noch diffuse Formen und Farben zu sehen sind. Parallel dazu zerfällt auch der Zusammenhang der Musik auf das Ende hin immer mehr.31 Der historische Referenzpunkt für beide Stücke ist Alvin Luciers ikonisches Stück I am sitting in a room (1969). Für diese Klanginstallation, die in der ersten Fassung eine der auditiven korrespondierende visuelle Komponente von Luciers Frau Mary beinhaltete, nahm Lucier folgenden, von ihm selbst gesprochenen Satz auf: »I am sitting in a room, the same one you are in now. I am recording the sound of my speaking 31
Vgl. Wieschollek: 2014, S. 31.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
voice.« Diese Aufnahme spielte er dann im Raum, in dem er saß, ab und nahm den daraus resultierenden Klang wiederum auf. Das aufgenommene Material wurde dann wieder abgespielt und wieder aufgenommen. Dieser Prozess wurde mehrmals wiederholt. Auf diese Weise erkundete Lucier mit seinem Stück die Eigenschaften des Klangs und deren Veränderung sowohl im Raum als auch im Prozess der Aufnahme. Dem entsprach in der ersten Version des Stückes auf der visuellen Ebene eine Polaroidaufnahme des Sessels, auf dem Lucier Platz nahm, die Mary Lucier kopierte. Die Kopie kopierte sie dann wiederum und so weiter. Muntendorf greift genau dieses Konzept der Luciers auf wandelt es in Hinterhall und Überhall in der Hinsicht ab, dass sie es auf die konventionelle Musikaufführung überträgt und anwendet, für die emblematisch der Dirigent steht. Ein Dirigent ist auch auf dem Bildschirm auf der Bühne in Muntendorfs »Tachenoper« Endlich Opfer aus dem Jahr 2013 zu sehen. Dieser Dirigent dirigiert die Musik der Oper mit den gleichen Gesten wie der Dirigent der Aufführung, der vor dem Ensemble steht. Auf Grund der Positionierung des Bildschirms auf der Bühne ist der projizierte Dirigent aber nur für den »realen« Dirigenten der Aufführung und das Publikum zu sehen. Dieser Bildschirmdirigent ist keine einfache Verdoppelung des Dirigenten der Aufführung in einem anderen Medium auf der Bühne. Die Spannung zwischen den beiden Dirigenten ist nicht nur eine transmediale, sondern zugleich auch eine von sozialer Macht und Rasse, da der Dirigent auf dem Bildschirm eine schwarze Person ist, während der Dirigent der Aufführung – entsprechend der statistisch geringen Zahl von schwarzen Dirigenten in der ernsten Musik – weiß ist. Diese asymmetrische Verdoppelung des Dirigenten auf dem Bildschirm steht in Zusammenhang mit dem Thema der Oper. Diese wurde geschrieben für das Taschenoperfestival in Salzburg, das von Regisseur Thierry Bruehl kuratiert und geleitet wird. Alle fünf im Rahmen des Festivals im Jahr 2013 aufgeführten Opern beziehen sich auf eine Bild, das Bruehl den Komponist_innen gegeben hatte, mit der Bitte, in Reaktion auf das Bild eine Oper zu komponieren. Bild und mit ihm verbundenes Ereignis waren Gegenstand massiver Medienberichterstattung im Jahr 2010. Das Foto zeigt die Leichen von zwei
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Roma-Mädchen, die in der Adria ertrunken wahren, auf dem Strand liegend, während rundherum scheinbar anteilslos sich Badegäste sonnen. Muntendorf möchte in ihrer Oper nicht dieses Bild repräsentieren oder das Ereignis erzählen, sondern versucht vielmehr das Unbehagen, das der Betrachter des Bildes spürt, durch ihre Musik zu evozieren. Diese Musik baut fortschreitend eine unangenehme Spannung auf, die Auflösung dieser Spannung bleibt dem Hörer aber verwehrt. Auf der Bühne wird diese Spannung auch visuell umgesetzt als eine zwischen Ensemble und Dirigent, die in symmetrischer Anordnung aufgestellt sind, während ein Kinderchor herumwandert und ein Schauspieler seinen Platz auf der Bühne nicht findet. Als kuratiertes Stück in einem eintägigen Festival steht Muntendorfs Oper nicht nur in Beziehung zu einem Ereignis, das in der sozialen Realität stattgefunden hat, und seiner medialen Repräsentation im Foto und in der Berichterstattung, sondern auch zu den anderen Opern, die auf dem Festival gezeigt wurden. Diese Situation ist vergleichbar mit derjenigen der kuratierten Ausstellung, die Jill Bennett im Sinne ihres Konzepts einer »practical aesthetics« mit Hilfe der Kategorie der Desmologie untersucht hat. Muntendorf kuratiert aber so wie Jennifer Walshe auch selbst. Letztere erfand im Rahmen ihres Projekts Grupát mehrere Komponist_innen und »kuratierte« deren Werke,32 die sie in Wahrheit selbst geschrieben hatte, und erfand später eine ganze Epoche der irischen Nationalmusikgeschichte, indem sie im Rahmen ihres Projekts Aisteach ein »archive for historical documents, recordings, materials and ephe-
32
Vgl. dazu unter anderem das Kapitel »Jennifer Walshe: Rekontextualisierung des Verstummens« in diesem Band und Katschthaler, Karl: From Cage to Walshe: Music as Theatre. In: Schopf, Fiona Jane (Hg.): Music on Stage. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2015, S. 125-139; ders.: An der Grenze zum Klang. Synästhesie und Theatralität bei Jennifer Walshe. In: Musicologica Austriaca 31/32 (2012/13), S. 221-238 sowie Kloos, Franziska: Jennifer Walshe: Spiel mit Identitäten. Hofheim: Wolke Verlag, 2017, insbesondere S. 1334.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
mera relating to avant-garde artistic projects in Ireland since the 19thcentury« ins Leben rief.33 Muntendorf abreitet als Kuratorin in ihrem laufenden Post-PrivacyProjekt in Bamberg, das Aufführungen ihrer eigenen Serie Public Privacy ebenso umfasst wie Kompositionen anderer Komponist_innen, Performances und Installationen.34 Das Projekt kann als eine Erweiterung ihrer Public-Privacy-Stücke über die Musik und Theater hinaus bis zu Performance-Kunst im öffentlichen Raum betrachtet werden. Es beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum, insbesondere in sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook. Die Sorge um das Private hat eine lange Geschichte, hat sich aber im 20. Jahrhundert verstärkt, wie Daniel Solove beobachtet hat: The development of new technologies kept concern about privacy smoldering for centuries, but the profound proliferation of new information technologies during the twentieth century—especially the rise of the computer—made privacy erupt into a frontline issue around the world. Starting in the 1960s, the topic of privacy received
33
34
Die Homepage des Projekts trägt das Copyright des Aisteach Institute Ireland und suggeriert dessen materielle Existenz mit Hilfe einer Adresse und eines Kontaktformulars sowie mit dem Satz: »Access to the archive is available for student research by appointment – if you would like to get in touch, fill in the contact form here.« Der Besucher der Seite hat sich bis zun Disclaimer durchzunavigieren, um über den fiktionalen Charakter des ganzen Archivs zu informiert zu warden. Dort heißt es aufklärend und die ganze Ambivalenz des Projekts ansprechend: »Thank you for reading the fine print, because I have a confession to make – all of the composers and artists on this website are fictional. The Aisteach Foundation is a communal thought experiment, a revisionist exercise in ›what if?‹, a huge effort by many people to create an alternative history of avant-garde music in Ireland, to write our ancestors into being and shape their stories with care.« URL: www.aisteach.org [abgerufen am 17.05.2021]. Muntendorf schreibt auch ein Blog über das Projekt, in dem sie ihre Werke und deren Aufführungen sowie die auch die anderer Komponist_innen kommentiert, die sich in das Konzept des Projekts einfügen lassen. URL: www.brigittamuntendorf.de/blog/[abgerufen am 17.05.2021].
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steadily increasing attention. […] In 1964, journalist Vance Packard declared in his best-selling book The Naked Society that privacy was rapidly »evaporating.« […] In his 1967 book Privacy and Freedom, Professor Alan Westin noted »a deep concern over the preservation of privacy under the new pressures from surveillance technology.« […] Psychologist Bruno Bettelheim observed in 1968, »Everywhere one turns these days it seems that the right to privacy is constantly under assault.«35 Für das 21. Jahrhundert, in dem das Internet und die sozialen Medien für breite Schichten zugänglich geworden sind und von einer ständig steigenden Anzahl von Menschen auch genutzt werden, stellt Solove fest, dass die Nutzer ein ambivalentes Verhältnis zur Frage der Erhaltung ihrer Privatsphäre haben: »although polls indicate that people care deeply about privacy, people routinely give out their personal information and willingly reveal intimate details about their lives on the Internet.«36 Brigitta Muntendorfs Istallation #PRIVATE TWEETS spielt genau mit dieser Ambivalenz. Sie hat für ihre Installation Vogelhäuser mit dem blauen Twitter-Logo an verschiedenen Stellen an Laternenpfosten in Bamberg angebracht (Abbildung 19). Jedes dieser kleinen Häuschen enthält einen MP3-Player und kleine Lautsprecher, womit Aufnahmen von Gesprächen zwischen Menschen in Bamberg wiedergegeben werden, die Muntendorf heimlich in Kneipen, Kaffees und auf der Straße gemacht hat. Zwar fanden diese Konversationen einerseits nicht in den vier Wänden der Beteiligten statt und konnten von allen wahrgenommen werden, die sich zum gegebenen Zeitpunkt in Hörweite befanden, der Akt der Aufnahme dieser Gespräche und vor allem das öffentliche Abspielen dieser Aufnahmen
35 36
Solove, Daniel J.: Understanding Privacy. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2008, S. 4. Ebd., 5.
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
Abbildung 19: Brigitta Muntendorf: Installation #PRIVATE TWEETS. Detail.
Foto: Brigitta Muntendorf.
können aber andererseits als Verletzung des Rechts auf Privatsphäre betrachtet werden. Auf Grund der Konstruktion der Installation müssen die Hörer_innen relativ nahe an das Häuschen herantreten, wenn sie die
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Konversation hören und verstehen wollen. Dies lässt sie in die Situation dessen geraten, der heimlich einer fremden Konversation lauscht. Obwohl in der Installation weder das Internet noch soziale Medien technisch eine Rolle spielen, bringt das Twitter-Logo auf den Vogelhäuschen die öffentliche Verfügbarkeit der heimlich aufgenommenen Privatgespräche in einen Zusammenhang mit der Praxis des Tweetens von Informationen mehr oder weniger privaten Charakters im sozialen Medium. Die Hörer_innen, die sich wie Voyeure fühlen mögen, wenn sie den Aufnahmen mit dem Ohr am Vogelhäuschen lauschen, werden dazu bewegt, auch über die voyeuristischen Züge des Lesens von Tweets von Fremden auf ihren Smartphones nachzudenken. Maximilian Marcoll trägt mit seinem Stück Personal Data (2013) die Frage der Privatsphäre in den sozialen Medien zurück in den Konzertsaal. Diese »Sprechperformance zur Kommunikationsüberwachung«, wie das Stück im Untertitel heißt, ist ein Stück für fünf Sprecher.37 Die Ausführenden haben als Text eine Liste persönlicher und zum Teil sensibler Informationen zu deklamieren, die Name, Geburtsdatum, Religionsangehörigkeit, Wohnadresse, Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Passwort für das E-Mail-Konto, Zugangsdaten für andere Internetdienste wie z.B. Facebook und Twitter und schließlich die IBAN-Nummer des Bankkontos umfassen. Da die Ausführenden diese Datensätze aber simultan im von der Partitur für die jeweilige Stimme vorgegebenen Rhythmus und Tempo zu deklamieren haben, werden die individuellen Daten unverständlich, da das menschliche Ohr nicht in der Lage ist, aus dem Zusammenklang der Stimmen eine einzelne in einer Weise herauszufiltern, die es möglich machen würde, ihren individuellen Text zu identifizieren und zu verstehen, auch wenn es natürlich möglich ist, die einzelnen Stimmen auf Grund von unterschiedlicher Tonhöhe, Intonation und Klangfarbe voneinander zu unterscheiden. Unvermeidlich werden den Ausführenden und dem
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Die Partitur von Personal Data ist als Pdf-Datei auf Marcolls Homepage zugänglich. URL: www.marcoll.de/archives/pieces/personaldata (abgerufen am 17.05.2021).
6. Intertextualität und Vernetzung: Jennifer Walshe und Brigitta Muntendorf
Publikum einer Aufführung dieses Stückes Fragen nach dem Sammeln von Daten, der Filterung von Inhalten sowie des Datenschutzes in den Sinn kommen. Marcoll stellt diese Fragen mit Hilfe genuin musikalischer Mittel und bringt sie in den Konzertsaal. Sicherlich werden diese und ähnliche Fragen des Datenschutzes und der Privatsphäre in den sozialen Medien von einer steigenden Anzahl von Menschen gestellt, aber sie bestimmen wohl nicht immer unsere Praxis in diesen sozialen Medien. Jonathan Frantzen hat dazu in seinem Essay Imperial Bedroom festgestellt: The panic about privacy has all the finger-pointing and paranoia of a good old American scare, but it’s missing one vital ingredient: a genuinely alarmed public. Americans care about privacy mainly in the abstract.38 Beide künstlerischen Beispiele, Muntendorfs Installation im öffentlichen Raum und Marcolls Komposition für den Konzertsaal, holen die Sorge um die Privatsphäre ein Stück weit aus ihrer Abstraktheit, die sie in unserer alltäglichen sozialen Praxis haben mag, nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa. Hier können natürlich nicht alle Performances, Installationen und Kompositionen beschrieben werden, die an Muntendorfs kuratoralem Projekt beteiligt sind, doch die Beispiele, die ich gegeben habe, mögen sowohl auf den transmedialen und transdisziplinären Charakter des Projekts als auch auf seine zahllosen Perspektiven einer Desmologie verweisen, die es in Hinblick auf die Wechselbezüge zischen den präsentierten Werken und vor allem auch zwischen den Werken und Fragen sozialer Praxis eröffnet. Damit komme ich auf den Paradigmenwechsel der Ästhetik zurück, den Jill Bennett nach der Zäsur von 9/11 festgestellt hat und versuche ihn noch einmal in kondensierter Form auf die Verschiebungen in der Musikästhetik im 21. Jahrhundert zu beziehen, die ich am Beispiel von Brigitta Muntendorf und Jennifer Walshe demonstriert habe. 38
Franzen, Jonathan: Imperial Bedroom. In: ders.: How to Be Alone: Essays. London: Fourth Estate, 2010, S. 39-54, hier: S. 40.
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Walshes »Neue Disziplin« und das »soziale Komponieren« Muntendorfs sind gleichermaßen charakterisiert durch vier ästhetische Figurationen: Kontextualität, Theatralität, Transmedialität und Diversifikation. Diese vier Figurationen überlappen sich teilweise mit Jill Bennetts drei Prinzipien einer praktischen Ästhetik nach 9/11: Gegenwärtigkeit, Transdisziplinarität und Desmologie. Die Auswirkungen von Kontextualität und Theatralität und Transmedialität auf das Komponieren und die Aufführung von Musik sind anhand der Beispiele oben schon beschrieben worden. Mit dem Begriff »Diversifikation« versuche ich die Transformation der Rolle des Komponierenden zu fassen, die auf Grund der Auswirkungen der Prinzipien der Transmedialität und Transdisziplinarität unvermeidlich geworden ist. Der diversifizierte Komponist oder die diversifizierte Komponistin ist in einer Person und zugleich immer eine Reihe von Bindestrich-Komponist_innen: Composer-Performer, Composer-Director, Composer-Curator, Composer-Researcher und immer auch Composer-Communicator. Wenn Jennifer Walshe behauptet, dass ihre »Neue Disziplin« keine neue Ästhetik sei,39 sondern bloß eine Art zu arbeiten, dann meint sie meiner Ansicht nach nicht, dass diese neue Art zu arbeiten keine neue Ästhetik hervorbringen würde, sondern dass die diversen neuen Ästhetiken, die von der neuen Art zu arbeiten hervorgebracht werden, nicht zu einer dominanten neuen Ästhetik synthetisiert werden können. Die Diversifizierung des Komponisten führte somit zu einer Diversifizierung der Musikästhetik.
39
Vgl. Walshe: 2016, S. 3.
7. Auf dem Weg zur Atmosphäre
Hat schon John Cage das Hören in den Mittelpunkt gestellt, so findet sich eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes zu einer Musikästhetik, die voll und ganz auf dem Hören als leibliche Erfahrung beruht, in Gernot Böhmes Ästhetik der Atmosphären, in der er die Dichotomie von Musik als Zeitkunst1 und bildender Kunst als Raumkunst überwindet. Er fasst Musik, wie wir schon gesehen haben, in seiner Ästhetik der Atmosphären primär als räumliches Phänomen auf und definiert den musikalischen Raum als erweiterten leiblichen Raum. Musik wird so zur »Modifikation des leiblich gespürten Raumes«, wodurch sich für Böhme auch ihre emotionale Wirkung erklärt.2 Ganz im Sinne von Cage kommt Musik in dieser Ästhetik der Atmosphären primär durch die Einstellung des Hörers zustande, die darin besteht, akustische Phänomene als solche wahrzunehmen und nicht als Äußerungsformen von etwas. Die Hörerfahrung der Atmosphäre ähnelt in dieser Hinsicht der Erfahrung von Narrativität, wie sie Vincent Meelberg beschrieben hat. In anderer Hinsicht ist sie freilich der Hörerfahrung der Narrativierung von Musik entgegengesetzt, da es eben nicht um die Identifizierung und narrative Verknüpfung von klanglichen Ereignissen geht. Man kann eine solche Höreinstellung und Hörerfahrung auch
1
2
Auch Hans Gerche definiert Musik noch als »ihrem Wesen nach Gestaltung der Zeit«, wenn es um die Frage geht, ob Klanginstallationen der Musik zuzurechnen seien. Vgl.: Gerche, Hans: Kunst, die aus dem Rahmen fällt. Zur Genese der Klanginstallation. In: Positionen 65 (2005), S. 2-7, hier: S. 5. Vgl.: Böhme: 2001, S. 42f.
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Zwischen Atmosphäre und Narration
mit dem akusmatischen Hören Pierre Schaeffers in Verbindung bringen, bei dem es darum geht, Klänge als Klangobjekte, d.h. unabhängig von ihrer Quelle, Hervorbringung und eventuellen situationellen Bedeutung zu hören. Pierre Schaeffer verband mit der akusmatischen Situation die Hoffnung auf ein reduziertes Hören, womit er ein Hören auf den Klang als solchen meinte. Michel Chion hat freilich darauf hingewiesen, dass die akusmatische Situation ambivalenter ist, als es Schaeffer wahrhaben wollte, denn sie verleite den Rezipienten zumindest zunächst dazu, die Frage nach der Ursache des Sounds zu stellen und aktiv nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen.3 Freilich ist dieses Konzept des Hörens, wenn es um Field Recording als Klangkunst geht, auch in anderer Hinsicht weiter zu differenzieren. Genau das tut Lawrence English mit seinem Konzept des »relational listening«: […] what I seek through my field recording is a relational condition between my listening within a given horizon and that of the microphones. To me, a successful Field-Recordist is one who can transmit something of themselves in a particular place/time and that something is their listening. I’d argue that if listening is central to the success or failure of a field recording and this practice is to be part of a canon of sound arts, then surely there needs to be an agentive, creative mode of listening. Relational listening is one place where this creative capacity might be found.4 Dieses Konzept des relationalen Hörens funktioniert auf drei Ebenen. Die erste Ebene ist das Hören des Field-Recordisten mit seinen physischen und psychischen Ohren. Diese Ohren funktionieren in erster Linie als Filter, welche abhängig von der gegebenen physischpsychischen Verfasstheit des Hörenden in der Hörsituation bestimmte
3 4
Vgl. Chion, Michel: Audio-Vision. Sound on Screen, New York: Columbia University Press, 1994, S. 32. English, Lawrence: A Beginner’s Guide To… Field Recording. In: FACT Magazine, 18.11.2014. URL: https://www.factmag.com/2014/11/18/a-beginners-guide-to-fiel d-recording/6/[abgerufen am 18.05.21].
7. Auf dem Weg zur Atmosphäre
Klänge zugunsten bestimmter anderer Klänge herausfiltert. Die zweite Ebene sind die Mikrofone und das Aufnahmegerät, welche ebenfalls als Filter fungieren, allerdings in anderer Art und Weise als das physisch-psychische Ohr. Die Mikrofone haben etwa einen bestimmten Frequenzbereich, den sie aufnehmen können bzw. einen engeren Frequenzbereich, in dem sie mit besonderer Empfindlichkeit aufnehmen. Mikrofone haben aber auch eine bestimmte räumliche Ausrichtung, der entsprechend sie aus einer bestimmten Richtung kommende Klänge aufnehmen, Klänge aus anderen Richtungen aber nicht oder nur beschränkt, es sei denn es handelt sich um eine Surround-Konfiguration von Mikrophonen, durch welche eine Rundumaufnahme möglich wird. Die beiden Ebenen sind in der Field-Recording-Praxis miteinander verwoben. Der Aufnehmende hört etwas mit seinem subjektiven physisch-psychischen Ohr, er positioniert seine zum Zweck der Aufnahme dieses Klangobjekts ausgewählten Mikrofontypen in einer Konfiguration, die ihm angemessen erscheint und nimmt auf. Das Abhören dieser Aufnahme kann oft Überraschungen enthalten. Es kommt vor, dass der Aufnehmende beim Abhören der Aufnahme, da er sich zu diesem Zeitpunkt in einer anderen Verfasstheit und Situation befindet oder aus technischen Gründen, da ja Mikrofone auch technisch anders funktionieren als das menschliche Ohr, Klänge hört, die er in der Aufnahmesituation gar nicht wahrgenommen hat. Es kann aber auch passieren, dass er dort wahrgenommene Klänge aus dem gleichen Grund oder aber auch aus technischen Gründen auf Grund der Beschränktheit der Aufnahmetechnik im Vergleich zum menschlichen Ohr nicht hört. Komposition mit solchen aufgenommenen Klängen verändert zudem das Verhältnis des Komponisten zum Klang. Viel deutlicher drängt sich nämlich die Widerständigkeit des Klangs in den Vordergrund, als dies bei der Komposition für traditionelle Musikinstrumente der Fall ist, denn: [… the] dream of the composer controlling all the parameters of sound, bringing them into the realm of the score, ›realised‹ in the electronic-music studio, is challenged by the very materiality of sounds, by their resistance to certain manipulations and transforma-
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Zwischen Atmosphäre und Narration
tions and their ability to suggest directions and relationships during the work process. Composition with recorded sounds becomes a dialogue with the material, in which the composer responds as well as controls.5 Diesen Dialog des Komponisten mit dem Klang könnte man auch das relationale Hören des Komponisten nennen. Der Werk-Begriff bleibt von dieser Verschiebung natürlich nicht unberührt: This re-definition of the role of the composer in relation to the material of sound forces us to rethink the musical work-concept. Far from being a transcendent ideal the musical work can only exist as sound at the moment of its realisation, the moment of perception. It is, in Schaeffer’s terms, concrete!6 Dazu kommt dann im Fall des aus Field Recordings produzierten Klangkunstwerks als dritte Ebene relationalen Hörens die Problematik der Vermittlung des subjektiven Hörerlebens über das Klangobjekt an das Publikum. Für das Gelingen dieser Vermittlung gibt es im Fall der auf Field Recordings basierenden Klangkunst genauso wenig eine Garantie wie im Fall von John Cage’s 4’33”. Der Prozess kann dabei sowohl auf Seiten des Künstlers und des Werks scheitern als auch auf Seiten des Publikums, das abgelenkt sein kann, das außerstande sein kann, sich tatsächlich auf die akusmatische Hörerfahrung einzulassen etc. Freilich muss eine solche von den Vorstellungen des Künstlers abweichende Hörhaltung und Hörerfahrung auf Seiten des Publikums nicht immer ein Scheitern des Kunstwerks bedeuteten. So berichtet Lawrence English in einem Interview von einer Frau, die nach einem seiner Konzerte ihm eine für ihn unerwartete Hörerfahrung berichtete: »She gave me a blow-by-blow account of how my set was like being born, and she had a great methodology for it. I was like ›OK, never
5
6
Parry, Nye: Notation and the Work-Concept in Conceptions of Music and Sound Art. In: Gardner, Thomas/Voegelin, Salomé (Hg.): Colloquium: Sound Art and Music. Winchester, UK, Washington, USA: Zero Books, 2016, S. 31-55, hier: S. 50. Ebd., S. 50f.
7. Auf dem Weg zur Atmosphäre
thought about it like that but I’m glad you get that out of it, that’s awesome‹.« »That’s what you want,« English says, »for someone to listen to the music and if they have no context, to build a context for it. That’s actually for me the mark of success, when someone has given it not just the time but themselves.«7 In der Folge soll ein solches auf Field Recordings basierendes Stück in Hinblick auf die Spannung von Soundscape und Komposition vor dem Hintergrund des relationalen Hörens analysiert werden.
7.1
Annea Lockwoods A Sound Map of the Danube zwischen Klangkunst und Komposition
Der historische Kontext für Annea Lockwoods Klanginstallation A Sound Map of the Danube ist das Soundscape-Projekt des kanadischen Komponisten Murray F. Schafer und seiner Mitarbeiter_innen sowie die von dieser Pionierarbeit ausgehende Entwicklung der Klangökologie. Im Soundscape-Projekt ging es zunächst darum, Klangwelten aufzunehmen und so einerseits hörbar zu machen im Sinn einer bewussten Wahrnehmung und andererseits zu dokumentieren und zu erhalten. Da Schafer die Ursache für die Achtlosigkeit gegenüber dem Hörsinn in der Verwahrlosung der Klangwelt sieht und diese wiederum in erster Linie auf die qualitativen Veränderungen der Geräuschwelt in der Industrialisierung zurückführt, richtet sich sein Dokumentationsprojekt vor allem auf ländliche und weniger auf urbane Geräuschwelten. Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts prägt Schafer in Analogie zum eng-
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Twells, John: »I want to do things that have meaning«: an interview with one of ambient music’s modern masters, Lawrence English. URL: https://www.fact mag.com/2014/08/19/i-want-to-do-things-that-have-meaning-an-interview-wit h-one-of-ambient-musics-modern-masters-lawrence-english/3/[abgerufen am 17.05.21].
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Zwischen Atmosphäre und Narration
lischen Wort für Landschaft, »landscape« den Begriff »soundscape«.8 Landscape und Soundscape, Landschaftsbild oder Ortsbild und deren Geräuschwelt gehören zusammen. Ortsbild und Landschaftsbild sind dort, wo wir aufgewachsen sind, Teil unserer Identität geworden und werden es später auch dort, wo wir unseren Lebensmittelpunkt haben. Als identitätsstiftende Ensembles visueller Elemente für die Bewohner eines Dorfes, einer Stadt, einer Gegend tragen sie nicht nur wesentlich zu individuellen, sondern auch zu kollektiven Identitäten bei. In diesem Sinne kann man dann auch von der visuellen Identität eines Ortes, einer Landschaft sprechen. Diese visuelle Identität, die sich beim Individuum emotional als Heimatgefühl äußert, wird vom Gesetzgeber als schützenswert erachtet, was sich in den Bestimmungen und Institutionen der Raumordnung und des Denkmalschutzes niederschlägt. Trotz dieser institutionalisierten Intention der Erhaltung von Orts- und Landschaftsbild, verändern sich beide durchaus wahrnehmbar, es sei denn, die Erhaltungsintention steigert sich zur Musealisierung. Letztere kann aber kaum als erstrebenswert erscheinen, schon deswegen nicht, weil Identität immer verbunden ist mit Erinnerung. Abgerissene Gebäude, die Neubauten weichen mussten, aber neuerdings auch Kreuzungen, die in den letzten zehn Jahren sukzessive zu Kreisverkehren umgebaut worden sind, werden zu Elementen visueller Erinnerung, materialisiert oft in alten Fotos, die im Dorfmuseum oder im Bildband, der das Dorf »in alten Ansichten« zeigt, zu sehen sind. Identität und Landschaft sind aber keineswegs nur visuell geprägt, denn, wie man in Umkehrung einer berühmt gewordenen Aussage von John Cage sagen könnte: Wir haben nicht nur Augen, sondern auch
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Schafer, R. Murray: The New Soundscape: A Handbook for the Modern Music Teacher. Don Mills: BMI Canada, 1969. In deutscher Übersetzung: Die Schallwelt, in der wir leben. Wien: Universal Edition, 1971 (= Universal Edition Rote Reihe 30).
7. Auf dem Weg zur Atmosphäre
Ohren und wir benützen sie auch.9 1974 besuchte Schafer mit einem Team von Mitarbeitern seines »World Soundscape Projects« fünf Dörfer in verschiedenen Ländern Europas, um sie als Ensembles von Hörbarem zu erforschen und aufzunehmen. Schon in diesen Pioniertagen der Soundscape-Forschung ging es nicht nur um das Erfassen und die Darstellung der gesamten akustischen Gestalt eines Ortes, sondern auch um das Erfragen von Klangvorlieben und Klangerinnerungen der Bewohner. Noch mehr in den Brennpunkt des Interesses rücken Erinnerungen, als im Zeitraum von 1998 bis 2000 eine finnische Forschergruppe unter der Leitung von Helmi Järviluoma die gleichen fünf Dörfer noch einmal aufsucht, ihre Soundscapes mit inzwischen weiterentwickelten Methoden der akustischen Ökologie und der Musikethnologie noch einmal erforscht und mit den Ergebnissen von Schafer vergleicht.10 Eines der fünf Dörfer war Cembra, das Hauptdorf des gleichnamigen Tales ungefähr eine Autostunde östlich von Trient. 1975 stellt Schafer als eines der charakteristischen Soundmarks des Dorfes ein Netzwerk von in Hörweite voneinander plätschernden Brunnen fest. 25 Jahre später sind die Brunnentröge bis auf einen alle leer, das Wasser ist aus der akustischen Landschaft verschwunden. Zusammen mit dem Verschwinden anderer Soundmarks, also für die Klanglandschaft des Ortes signifikanter Klänge, verweist dies auf Modernisierung und Wachstum des Ortes. Der in Bozen geborene, Florentiner Zeitdesigner und Komponist Albert Mayr, der schon Schafer und sein Team nach Cembra begleitet hat, erinnert sich: 9
10
John Cage wies mit dem Satz »We have eyes as well as ears, and it is our business while we are alive to use them.« auf die seiner Musik inhärente Theatralität hin. Vgl. Cage: 1961, S. 12. Die Ergebnisse finden sich zusammen mit dem Wiederabdruck des von Schafer 1977 herausgegebenen Bandes in: Järviluoma, Helmi/Kytö, Meri/Truax, Barry/Uimonen, Heikki/Vikman, Noora (Hg.)/Schafer, R. Murray (Hg.): Acoustic Environments in Change & Five Village Soundscapes. Tampere: TAMK University of Applied Sciences, 2009 (= Tampereen Ammatikorkeakoulu, Series A, Research Papers 13). Zur Weiterentwicklung der Methodologie der SoundscapeForschung vgl.: Järviluoma, Helmi/Wagstaff, Greg: SoundScape Studies and Methods. Helsinki: Finnish Society for Ethnomusicology, 2002.
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Der alte Teil ist wirklich stiller und ausgestorbener als früher. Das merkt man auch akustisch. Wo sind die Leute, die Menschenstimmen und Kinder? […] Das ist ein Unterschied zu 1975, der mir spontan aufgefallen ist. Der Dorfkern ist weniger belebt, erlebt, genutzt.11 Mit dem Wachstum des neuen Teils des Ortes, mit der Entwicklung des Dorfes von einem bäuerlich geprägten zu einem Fremdenverkehrsund Pendlerdorf steigt der Wasserbedarf im Inneren der Häuser und der Gärten und damit verschwindet das fließende Wasser aus der öffentlichen Hörwelt, nicht nur in Cembra. Dieser Verlust ist allerdings nur ein Element in einem größeren Verlustzusammenhang, den Schafer bereits in den 60er Jahren konstatiert hat, was dann zum Ausgangspunkt und zur Motivation des »World Soundscape Projects« und in Folge der akustischen Ökologie wurde. Sein Projekt ist von Anfang an ein musikdidaktisches gewesen, wie bereits der Untertitel seines Soundscape-Buches von 1969 zeigt, der lautet: »A Handbook for the Modern Music Teacher«. Ausgehend von John Cage´s Definition der Musik als »Klang, der uns umgibt«, die Schafer zitiert und übernimmt, fordert er eine Neuausrichtung des Musikunterrichts, in dem es darum gehen soll zu lernen, die Umgebung hörend wahrzunehmen.12 Der Hinweis von Cage auf Thoreau lässt Schafer die Klänge der Natur allerdings deutlich privilegieren oder bestärkt ihn zumindest darin, während Cage selbst an andere Stelle sagte: »Walking down the street is now equivalent to reading Finnegans Wake.«13 Die Hierarchisierung der Umgebungsklänge geht bei Schafer einher mit einer nostalgischen Rückwärtsgewandtheit und einem Kulturpessimismus, in dessen Perspektive schlimmer als die Gegenwart nur die Zukunft sein wird. Im postindustriellen Zeitalter habe Maschinenlärm die Oberhand gewonnen über Natur- und Menschenlaute. Die Zukunft werde bestimmt 11
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Zit. n.: Werner, Hans-Ulrich: Akustische Landschaften in Veränderung. Eine Dokumentation europäischer Klangorte zwischen 1975 und 2000. In: MusikTexte 126 (2010), S. 55-60, hier: S. 59f. Vgl. Schafer: 1971, S. 6f. Cage, John/Feldman, Morton: Radio Happenings I–V. Conversations/Gespräche. English-German Edition, Köln: Edition MusikTexte, 1993, S. 137.
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durch das nichtssagendste aller Motorengeräusche, das des Flugzeugs: »Die ganze Welt ist ein Flughafen. Was gedenken wir dagegen zu tun? Ziel einer Lärmschutzgesellschaft der Musiker: alle unnötigen Geräusche, einschließlich jener der Industrie und des Transportwesens zu eliminieren.«14 Papenburg und Schulze nennen diese Position zu Recht »kulturpessimistischen Essentialismus« und konstatieren eine »Pathologisierung der Gegenwart«.15 Wenn also Schafers Hierarchisierung der Klänge auf wackeligen Beinen steht, so sind seine Verdienste in der Sensibilisierung für das Problem der akustischen Umweltverschmutzung einerseits und die Ausdehnung der Grenzen des Musikbegriffs andererseits unbestreitbar. Freilich wissen wir heute, dass nicht nur der Lärm von Motoren unsere akustische Umwelt verschmutzt, sondern in hohem Ausmaß auch die fast allgegenwärtige Hintergrundberieselung durch Musik. Auch diese Diagnose ließe sich leicht kulturpessimistisch deuten, indem man etwa von der »schwindenden Lebensbedeutung« und somit von der »Krise der Musik« spräche, wie das etwa Bernhard Waldenfels tut.16 Auch er grenzt Musik innerhalb der Hörwelt im Wesentlichen essentialistisch ein, wenn er davon spricht, dass die Töne das Alphabet der Musik bildeten und dann Töne in einer Reihe von Abhebungen von anderen akustischen Phänomenen zu definieren versucht. Am Essentialismus dieser Abgrenzung des Musikbegriffs ändert auch das Zuge-
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Schafer: 1971, S. 65. Die präindustrielle Hörwelt beschreibt er dagegen in Form einer Schäferidylle als verlorenes Paradies: »When men lived mostly in isolation or in small communities, sounds were uncrowded, surrounded by pools of stillness, and the shepherd, the woodsman and the farmer knew how to read them as changes of the environment.« Vgl.: Schafer, R. Murray: The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Rochester, VT: Destiny Books, 1994, S. 44, zuerst erschienen als: ders.: The Tuning of the World. New York: Knopf, 1977. Vgl.: Papenburg, Jens Gerit/Schulze, Holger: Fünf Begriffe des Klangs. Disziplinierungen und Verdichtungen der Sound Studies. In: Positionen: Zeitschrift für aktuelle Musik 86 (2011), S. 10-15, hier: S. 10. Vgl.: Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999 (= stw 1397), S. 188f.
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ständnis nichts, dass die Abgrenzung von Ton und Geräusch ein offener Prozess sei.17 Dem Hören räumt Waldenfels daher auch nur einen »gewissen Primat«18 ein, wenn es um die Frage der Musik geht. Die essentialistische Abgrenzung von Musik in der Hörwelt durch Abgrenzung ihres Materials, die auf Grund der ständigen Materialerweiterung, die im Bereich der heutigen Musik stattfindet, gleichsam in einem Wettlauf, der nicht zu gewinnen ist, immer wieder reformuliert werden muss, kann überwunden werden, wenn man dem Hören ohne Einschränkung Primat einräumt. Dies gelingt Gernot Böhme, indem er zuerst die Dichotomie von Musik als Zeitkunst und bildender Kunst als Raumkunst überwindet. Er definiert in seiner Ästhetik der Atmosphären den musikalischen Raum als erweiterten leiblichen Raum. Musik wird so zur »Modifikation des leiblich gespürten Raumes«, woraus sie auch ihre emotionale Wirkung gewinne.19 Vor dem Hintergrund dieses tatsächlich vom Hören ausgehenden Musikbegriffs stellt sich die Unschärfe der Grenzen von Musik nicht mehr als Problem dar, die Entdeckung der Musikalität der Welt selbst, die Cage und Schafer im Sinn hatten, wird möglich, denn Musik muss nun im Sinn von Klangproduktion nicht mehr notwendig von Menschen gemacht sein. Sie kommt zustande durch eine Einstellung des Hörers, die darin besteht, akustische Phänomene als solche wahrzunehmen, nicht als Äußerungsformen von etwas. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns nun Annea Lockwoods Klanginstallation A Sound Map of the Danube zuwenden und versuchen ihre Grenzen abzustecken und mit ihr Grenzen zu überschreiten. Annea Lockwood ist eine Grenzgängerin zwischen Sound Art, Field Recording und Komposition oder genauer ausgedrückt: Sie überschreitet immer wieder die Grenzen zwischen diesen Bereichen. Schon in ihrer Jugend überschritt sie mit ihren Piano Transplants (1967-71) die Grenze zur Performance, mit The Glass Concert (1967) die Grenze zur Sound Art und mit World Rhythms (1975) wurde sie zu einer Pionierin 17 18 19
Vgl. ebd., S. 191-193. Ebd., S. 196. Vgl.: Böhme: 2001, S. 38-48, hier: S. 42f.
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der Soundscape-Komposition, indem sie zwar nicht die erste derartige Komposition überhaupt schuf, wohl aber die erste, die ausschließlich Klänge natürlicher Quellen enthält. Auf der anderen Seite hat sie nach ihrer Übersiedelung aus Neuseeland nach Europa am Royal College of Music, bei den Darmstädter Ferienkursen und an der Musikhochschule in Köln Komposition studiert und schreibt auch heute noch expressive, atonale Musik für elektro-akustische Instrumente. Die Klanginstallation, um die es hier geht, entstand zwischen 2001 und 2004, war aber nicht die erste Sound Map eines Flusses, die Lockwood geschaffen hat. 20 Jahre vorher hatte sie schon ihre Sound Map of the Hudson River realisiert. Bereits seit den 60er Jahren baute sie ihr River Archive auf, das aus über Jahre hinweg gesammelten Flussaufnahmen besteht. Diese scheinbare Bevorzugung von Naturklängen lässt Lockwood als dem Kulturpessimismus Schafers nahe stehend erscheinen, sie teilt diesen aber nur eingeschränkt. Sicherlich teilt sie Schafers Auffassung, dass der Dominanz des Visuellen und der damit verbundenen Zurückdrängung des Auralen mit einer Stärkung des Hörens begegnet werden sollte. So sagt sie, dass ihre Intention beim Hudson-Projekt gewesen sei, »den Fluss wieder zu Bewusstsein [zu] bringen, der in New York City leicht allein auf Augenfutter reduziert wird – eine Aussicht für die Bewohner der riesigen Glasmonolithen, die zum Beispiel den West Side Highway säumen.«20 Auch wenn sie hier die Autobahn erwähnt, so sieht sie anders als Schafer das Problem nicht in erster Linie im Motorenlärm, der den Fluss übertönt und so verstummen lässt. Beim Donau-Projekt macht sie keine Aufnahmen in den großen Städten wie Wien, Budapest und Belgrad, weil dort der Fluss stumm sei, verstummt allerdings nicht durch die Autos auf den Straßen, die dort überall direkt am Flussufer verlaufen, sondern schon durch die Voraussetzung für den Bau dieser Straßen: die Flussregulierung. Andererseits hebt sie immer wieder das Donaudelta als besonderen Ort hervor, weil es dort keine Verbrennungsmotoren gebe, nicht einmal Flugzeuge,
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Lockwood, Annea: Der Fluss komponiert sich selbst. Eine Klangkarte der Donau. In: MusikTexte 126 (2010), S. 50-52, hier: S. 52.
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was man als direkte Bezugnahme auf Schafer lesen kann. Der Hauptunterschied zu Schafer besteht aber wohl darin, dass Lockwood nicht nostalgisch auf den prä-industriellen Zustand blickt, sondern von einer gegenwärtigen und zukunftsorientierten Diagnose der post-industriellen Welt ausgeht. So sieht sie das Problem vor allem im Ausschluss von Umgebungsklängen durch die Benützung von technischen Geräten wie Walkman und Mp3-Player und die Entwertung von Musik durch die allgegenwärtige Muzak, also die Hintergrundberieselung. Dementsprechend ging es jahrelang in ihrem Kurs am Hunter College um nichts anderes als das Abnehmen der Kopfhörer und das Hören auf die in diesem Fall natürlich durchaus städtische Umwelt.21 Ganz anders als Schafer nämlich hält sie es trotz der Schädlichkeit industrieller Soundscapes, von der auch sie ausgeht, für möglich, dass man auch städtische Soundscapes mit ihren Verbrennungsmotoren als musikalisch, d.h. als ästhetisch interessant wahrnehmen kann. Die Soundinstallationen des Künstlerduos O+A (Bruce Odland und Sam Auinger), die eine solche Wahrnehmungsverschiebung initiieren, bezeichnet sie vor dem Hintergrund der akustischen Ökologie als radikal, vor allem aber betont sie den pragmatischen Aspekt: This is a form of adaptation by the receivers, rather than by the generators and transmitters of noise, so it is good to see O+A´s strong and sustained advocacy for a thoughtful, human approach to the reality of sound generation in urban design and its effects on us.22 Diese Körperlichkeit des Klangs und seine Wirkung auf den Leib betont Lockwood viel stärker als Schafer. Dies zeigt sich nicht nur in ihren Stellungnahmen, sondern auch in ihrem Werk. Schon die bereits als erste Soundscape-Komposition mit ausschließlich natürlichen Klängen
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Vgl. dazu das Interview: Oteri, Frank J.: Annea Lockwood. Conversation Beside the Hudson River, transcribed by Randy Nordschow. Newmusicnox 2003, 4, www.newmusicbox.org/articles/annea-lockwood-beside-the-hudsonriver/4/[abgerufen am 18.05.2021]. Lockwood, Annea: Sound Explorations: Windows into the Physicality of Sound. In: Leonardo Music Journal 19 (2009), S. 44-45, hier: S. 45.
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erwähnten World Rhythms von 1975 verweisen nicht nur mit dem Titel auf den Bereich des Klangs, der wohl am unmittelbarsten auf den Leib einwirkt, nämlich den Rhythmus. Es geht in diesem Stück um Klänge als »physikalische Manifestationen von Energien, die uns und unsere Umgebung ständig beeinflussen, Energien, über die wir uns oft nicht bewusst sind, die aber stark auf uns und unsere Körperrhythmen einwirken.«23 Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu den Überlegungen, die der Realisierung des Hudson-Projekts 1982 vorausgegangen sind. Erster Ausgangspunkt sei die traditionelle peruanische Praxis gewesen, Geisteskranke zu Heilungszwecken an den Fluss zu bringen und davon abgeleitet die Frage, ob Flussklänge »vielleicht auch für einen Stadtbewohner, der täglich mit unerwünschten Klangereignissen bombardiert wird, von Vorteil sein könnten.«24 Dieser Heilungsaspekt der Flussklänge wird zwar 20 Jahre später in Bezug auf das Donau-Projekt nicht mehr explizit erwähnt, doch deuten die Praxis, in städtischer Umgebung keine Aufnahmen zu machen und die Hervorhebung des motorenfreien Deltas an, dass diese Frage für Lockwood immer noch aktuell sein könnte. Dass dieses Thema nicht mehr erwähnt wird, liegt wohl vor allem daran, dass Lockwood sich erst jetzt (2002), daran erinnert, dass sie in ihrer Kindheit viel Zeit an den Wildbächen der südlichen Alpen Neuseelands verbracht habe, die eine Schule des Hörens für sie gewesen seien.25 Nachträglich wird somit die »magnetische« Hingezogenheit Lockwoods zu Flüssen, die verallgemeinert zum »Magnetismus der Flüsse«26 zur Fragestellung ihres Hudson-Projekts geworden ist, lesbar als Evokation oder zumindest Erinnerung von Heimatgefühl, das ja nach Gernot Böhme wesentlich bestimmt wird durch den Sound einer 23
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Lockwood zitiert in Hymer, Jennifer: Von brennenden Klavieren zu Donauklängen. Die Klangwelt der Annea Lockwood. In: MusikTexte 126 (2010), S. 41-46, hier: S. 41. Ebd., S. 43. Vgl.: Lockwood, Annea: Sound Mapping the Danube River from the Black Forrest to the Black Sea: Progress Report, 2001-2003. In: Soundscape. The Journal of Acoustic Ecology 5/1 (2004), S. 32-34, hier: S. 32. Oteri: 2003, S. 9, www.newmusicbox.org/articles/annea-lockwood-beside-thehudson-river/9/[abgerufen am 18.05.2021].
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Gegend.27 Wie wir sehen werden, wird gerade dieser Aspekt des Soundscapes des Flusses als Heimat für die Menschen, die an ihm leben, im Donau-Projekt thematisiert. Jennifer Hymer zieht dann dennoch die Schlussfolgerung: »Lockwood bleibt ihrem Grundprinzip bei der Aufnahme von Flüssen treu, das lautet, nicht zu dokumentieren, sondern den Hörer und die Natur wieder in einen Zustand zusammenzuführen, der heute zum großen Teil vergangen ist.«28 Doch ist es wirklich das, was Lockwood mit ihrer Aufnahmepraxis und der Gestaltung der Installation leistet? Auf den ersten Blick zeigt die Installation durchaus Elemente, die in Richtung dokumentarische Absicht zu deuten scheinen wie die großformatige Karte, auf der die 80 Aufnahmeorte entlang des Verlaufs der Donau verzeichnet sind. Auch die Konzeption, dem Verlauf der Donau von der Quelle bis zum Delta zu folgen und die dabei an verschiedenen Orten gemachten Aufnahmen in genau dieser Reihenfolge zusammenzuschneiden, könnte als dokumentarisches Vorgehen gesehen werden. Damit findet die dokumentarische Konzeption aber auch schon ihr Ende, denn die Auswahl der Aufnahmeorte erfolgt nicht nach einer vorher festgelegten Systematik, sondern scheinbar zufällig, wenn Lockwood sich gemeinsam mit ihrer Partnerin Ruth Anderson auf den Weg macht, um immer so nahe wie möglich am Fluss in dessen Fließrichtung zu reisen und da und dort eine Aufnahme zu machen. Doch auch dieser Anschein trügt, in Wirklichkeit handelt es sich bei den aufgenommenen Klängen um gesuchte Klänge – oder wie Lockwood selbst sie nennt: signifikante Klänge. Dabei legt Lockwood großen Wert darauf, dass die Klänge als Klänge signifikant sind und ihre Signifikanz nicht etwa geliehen bekommen durch die Signifikanz eines Schauplatzes, wodurch eine Art Bilderverbot in Kraft gesetzt wird, das dann auch in der Installation seine Gültigkeit behält. Die Aufnahmeorte sind zwar penibel in der Karte markiert, Fotos von ihnen gibt es aber keine. Ein signifikanter Klang ist grundsätzlich für Lockwood immer ein neuer Klang, ein sich wiederholender Klang, der schon an einer Stelle 27 28
Vgl.: Böhme: 2001, S. 44. Hymer: 2010, S. 44.
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flussaufwärts als signifikant bewertet und somit aufgenommen worden ist, verliert flussabwärts seine Signifikanz, sodass weiter nach einem noch nicht dagewesenen Klang gesucht werden muss. Diese Entscheidung Lockwoods könnte man geradezu als antidokumentarisch bezeichnen. Lockwood hat schon bei der Aufnahme der einzelnen Klänge die Komposition am Ende im Auge, in der sich nach ihrer ästhetischen Entscheidung kein Klang wiederholen darf. Die signifikanten Klänge müssen einem der beiden Klangräume des Flusses: an der Oberfläche oder unter Wasser zuordenbar sein, d.h. es muss sich um Klänge des Wassers handeln und nicht um etwas, was von außen kommend bloß im Wasser resoniert wie etwa Schiffsmotoren oder gar von defekter Aufnahmetechnik erzeugte Klänge. Die Technik des Hydrophons wird zwar eingesetzt, um dem menschlichen Ohr den sonst unzugänglichen Unterwasserklangraum zu erschließen, sie soll aber selbst dabei klangneutral bleiben. Ein Vorfall, den Lockwood berichtet, zeigt, wie Klänge, die zunächst als Rauschen erscheinen, nachträglich signifikant werden können. »In Ulm, Linz, Devín (Slovakia) and at a number of other sites, in late spring, the river hisses strongly, an intense, stable and wide high Hz band which made me think the hydrophone was frying the first time I heard that sound, in Ulm.«29 Eine daraufhin sofort durchgeführte Überprüfung der Funktionstüchtigkeit des Geräts in der Hotelbadewanne lässt aber keine Funktionsstörung erkennen. Später erst, in Wien, erklärt eine Hydrologin Lockwood das Klangphänomen als vom Aufeinanderprallen von mitgeführten und aufgewühlten Steinen aus verschiedenen Ströhmungsschichten des Flusses verursachtes Phänomen. Damit wird der Klang für Lockwood zu einem signifikanten: »this sound which seemed so alien to me at first,« schreibt sie nun »a powerful energy« zu.30 Diese Geschichte zeigt sehr deutlich, dass die Signifikanz eines Sounds eine Frage des Hörens ist, und zwar bereits im Stadium der Aufnahme, nicht erst beim Anhören in der Installation. Mehr noch als ein Sound-Porträt der Donau, bekommen wir also ein Sound-Porträt 29 30
Lockwood: 2004, S. 33. Ebd.
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der Hörerin Annea Lockwood. In diesem Sinne kann man dann auch von einer Dokumentation sprechen, von einer Dokumentation des Hörens auf die Donau. Signifikant sind aber nicht nur Wasserklänge, sondern auch menschliche Stimmen, die »einen parallelen Strom der Sprachen und Erinnerungen« bilden sollen. Dieser Parallelstrom wird gebildet von am Fluss lebenden Menschen, die Lockwood interviewt, eine Praxis, die sie bereits auch beim Hudson-Projekt gepflegt hatte. Allerdings gibt es zwei wesentliche Unterschiede: Die Menschen an der Donau antworten in ihren jeweiligen Sprachen und Dialekten und diese Interviews sind diesmal in der Installation nicht mehr getrennt über eigene Kopfhörer abhörbar, sondern in das Klanggeschehen des Flusses hineingemischt. Zudem lässt Lockwood diese Stimmen im wörtlichen Sinn durch das Wasser hindurchgehen, indem sie die aufgenommenen Interviews mit Hilfe eines Unterwasserlautsprechers in der Donau abspielt und mit dem Hydrophon noch einmal aufnimmt, wodurch sie auf elegante Weise die beiden akustischen Räume des Flusses verbindet. Die zwei Fragen, die Lockwood all den Menschen stellt, zielen auf den »Magnetismus« des Flusses: »Was verbindet Sie mit dem Fluss?« und »Können Sie sich ein Leben fern vom Fluss vorstellen?« Anders formuliert: Die Fragen zielen genau auf die heimatstiftende Funktion des Flusses, die wie schon erwähnt zu einem guten Teil mit dem Hören auf den Fluss verbunden ist. Für den Hörer nun mischt Lockwood diese drei akustischen Räume zu einem Klangraum zusammen. Sie verwendet dazu die aus dem Kino gut bekannte 5.1 Surround Multikanaltechnik. Zwei der im Kreis aufgestellten 5 Lautsprecher werden mit den Unterwasserklängen belegt, zwei mit den Oberflächenklängen und 1 mit den die beiden Klangräume verbindenden menschlichen Stimmen. Dadurch, dass diese Stimmen alle durch das Wasser der Donau hindurchgegangen sind, erhalten sie eine gemeinsame klangliche Färbung, die sie für den Hörer wahrnehmbar miteinander verbindet. Auf der anderen Seite nimmt der Hörer aber auch unmittelbar wahr, dass diese Menschen durch politische und Sprachgrenzen voneinander getrennt werden, wenn er dem unterschiedlichen Klang der verschiedenen Sprachen lauscht. Diese Unmit-
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telbarkeit der Wahrnehmung des Klangs, die Direktheit des Klangs, wie sie es nennt, ist es auch, worauf es Lockwood in erster Linie ankommt: »Sie [die Unmittelbarkeit der Klangwahrnehmung] scheint unter Konzepte und hinter Gedanken zu schlüpfen. Auf diese Weise können die Hörer den Fluss in sich hineinnehmen.«31 Ermöglicht wird diese Unmittelbarkeit des Klangs aber paradoxerweise durch den Einsatz hochspezialisierter Mikrophone und elektronischer Aufnahmetechnik sowie einer höchst künstlichen Multikanalabmischung. Es handelt sich also in keiner Weise um eine gegebene Unmittelbarkeit, sondern um eine hergestellte. Auf dieser Ebene der Unmittelbarkeit des Klangs soll der Hörer über die eigene Identität hinaus und in die Soundscapes hinein bewegt werden. Die unterschiedliche Zeitdauer der einzelnen Soundscapes zwischen 1:10 und 6:19 Minuten beruht auf der subjektiven Einschätzung Lockwoods, wie viel Zeit der Hörer jeweils brauchen wird, um in den angestrebten Zustand zu gelangen. Auch diese Intention hat ihren Ursprung in einer Jugenderinnerung Lockwoods, die in ihre Studienzeit in Deutschland zurückreicht: »I remember one summer, everyday for awhile just picking up a particular stone and trying to figure out what that stone felt like, what it felt like to be that stone, what it feels like to be something other than human […].«32 Dieser Stein wiederum findet sein Echo in den über den gesamten Verlauf des Flusses gesammelten Flusssteinen, die in der Installation unter der Karte aufgeschichtet sind und von den Besuchern in die Hand genommen werden können. Die Steine verweisen somit auf den interaktiven Charakter der Installation, der sich freilich nicht in diesem Element erschöpft. Auch die auf den ersten Blick mit der genauen Verzeichnung von Ort der Aufnahme und Zeitpunkt ihres Vorkommens in der Tonspur so dokumentarisch anmutende große Karte, die innerhalb der Installation noch dazu an eine Kinoleinwand erinnert, erweist sich ebenfalls als interaktives Element. Der ebenfalls angebrachte Zähler nämlich erlaubt 31 32
Lockwood: 2010, S. 51. Oteri: 2003, S. 2, www.newmusicbox.org/articles/annea-lockwood-beside-thehudson-river/2/[abgerufen am 18.05.2021].
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es den Besuchern zu jedem beliebigen Aufnahmeort zu springen, ein Verhalten, mit dem Lockwood auch schon 1982 beim Hudson-Projekt ausdrücklich rechnet. Der erste Grund besteht darin, dass für verschiedene Besucher verschiedene Orte bereits Signifikanz haben können: »People have favorite spots and locals always have favorite spots they want to checkout.«33 Dazu kommt sicherlich auch noch unser durch CD- und Mp3-Technik erlerntes und eingeübtes Verhalten beim Anhören von Aufnahmen zu bestimmten Punkten in der Aufnahme zu springen. Wie sehr Lockwood damit rechnet, zeigt auch die schon geschilderte Gestaltung der Länge der einzelnen Tracks. Als letzte Grenze wird in der Installation die Grenze vom Klang zum diskursiven Moment der Sprache überschritten. Diese Grenze wird nicht nur dann überschritten, wenn ein Besucher eine der vorkommenden Sprachen oder auch mehrere beherrscht, sondern sie kann auch wieder interaktiv überschritten werden, wenn er Steine in die Hand nimmt und sie umdreht. Auf der flachen Seite sind nämlich einzelne Sätze aus den Interviews in englischer Übersetzung aufgemalt. Und schließlich hat der Besucher die Möglichkeit, eine der ausgelegten Broschüren in die Hand zu nehmen, die den ganzen Text der Interviews in englischer Übersetzung enthalten. Die geschichtliche Dimension, die Lockwood durch die Zusammenmischung von Flussklängen und Erzählungen in ihre Installation hineinbringen wollte, »without becoming didactic«34 , erschließt sich in vollem Maß wohl erst auf dieser diskursiven Ebene, wenn der Besucher z.B. nachliest, was Gizela Ivkovic in Novi Sad über Familientrennungen im 2. Weltkrieg, Bombardierungen und Brückenzerstörungen im Balkankrieg erzählt. Diese geschichtliche Dimension schlägt sich aber auch in der Unmittelbarkeit des Klangs nieder, wenn die zunächst sehr nervös klingende Frau, ab einem bestimmten Zeitpunkt höchst leidenschaftlich zu sprechen beginnt.
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Ebd., S. 9, www.newmusicbox.org/articles/annea-lockwood-beside-thehudson-river/9/[abgerufen am 18.05.2021]. Lockwood: 2004, S. 33.
7. Auf dem Weg zur Atmosphäre
Was ist nun dieses zweifellos komplexe Kunstwerk: Klangkunst, Klanginstallation oder gar Komposition? Annea Lockwood selbst tendiert in dieser Frage zu einer weitreichenden Unterschätzung ihres gestaltenden Eingreifens in das Vorgefundene, wenn sie behauptet: »I am listening to what is there, without manipulating it beyond the act of recording, then editing it into a continuum.« Nach dem Zugeständnis, dass aus dem Multikanalmix »some degree of acoustic blending« resultieren wird, fährt sie fort: »Still, the structure will be that the work moves downstream – i.e. given by the river and this does set it apart from music, to my mind.« Zugleich aber schildert sie einige ihrer Entscheidungen bei der Arbeit an dem Werk, die über ein bloßes Editieren des Vorgefundenen weit hinausgehen: »I make selections from my takes based on sonic qualities, contrast between takes and, more intangibly, the degree to which a take has vividness, captures the river’s energy for me.«35 Auf Grund dieser und der geschilderten noch viel weiter reichenden Entscheidungen der Künstlerin komme ich zum Schluss, dass ihre an einer Stelle der Donau gewonnene Erkenntnis, wo ein spezifischer Klang durch die Strömung des Wasser an einer von ihm selbst ausgehöhlten Form entsteht, dass nämlich der Fluss sich selbst komponiere,36 zwar auf den Klang des Flusses selbst zutreffen mag, sicherlich aber nicht auf die von Lockwood geschaffene Sound Map. Auf Grund der von Lockwood getroffenen ästhetischen und konzeptuellen Entscheidungen ist diese keine Repräsentation der Selbstkomposition des Flusses, sondern als interaktive Sound-Installation ein komplexes und ästhetisch befriedigendes Kunstwerk. Annea Lockwood hat auch im Fall von A Sound Map of the Danube ihre Autonomie als Künstlerin bei der Gestaltung ihres Materials keineswegs aufgegeben. Ihr scheinbares Zurücktreten hinter eine intentionslose Autorschaft des Flusses selbst erweist sich als Geste der Zurücknahme von Subjektivität, mit Hilfe
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Aldrich, N.B.: What is Sound Art? Interviews with Jeph Jerman, Annea Lockwood, Chris Mann, Alvin Lucier and Stephen Vitiello, 2003, www.nbaldrich.com/media/pdfs/what_is_sound_art.pdf [abgerufen am 18.05.2021], S. 18. Vgl.: Lockwood: 2010, S. 52.
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derer eine möglichst unmittelbare Objektivität des Klangs angestrebt wird. Als solche ist sie bei der Rezeption der Installation zwar sicherlich mit zu berücksichtigen, zugleich aber ist ihr Scheitern zu reflektieren. Denn die Klänge der Installation sind, wie ich zu zeigen versuchte, vielfach vermittelte, vermittelt durch die Subjektivität des Hörens Annea Lockwoods, das nicht passiv bleibt, sondern gestaltend tätig wird.
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Schlussfolgerungen: zwei Arten des Hörens
Für den Hörer stellt sich die Rezeptionssituation der Klanginstallation grundsätzlich anders dar als die des Konzerts, und zwar sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht. Bei der Besprechung von John Cages Aufführung seines Stücks 4’33” im Rahmen einer Ausstellungseröffnung in Köln sind diese Unterscheide bereits angeklungen. Als Konzert betrachtet, muss diese Aufführung als gescheitert betrachtet werden, da für einen Großteil des Publikums die Konzertsituation nicht zustande kam. Lockwoods hier besprochenes Werk ist aber im Unterschied zu 4’33” von Anfang an nicht für die Konzertsituation und die damit verbundene soziale Hörsituation konzipiert worden, sondern aus Klanginstallation. Die andere soziale Hörsituation letzterer beschreibt Sabine Sanio: Ähnlich wie bei Ausstellungen von Gemälden oder Skulpturen in Museen und Galerien bestehen bei Klanginstallationen in zeitlicher Hinsicht gewöhnlich nur allgemeine Vorgaben, die sich aus den Öffnungszeiten eines Veranstaltungsortes ergeben. Die Ablösung von der Struktur der Aufführungssituation ist in ihrer Tragweite schwer einzuschätzen.37
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Sanio, Sabine: Autonomie, Intentionalität, Situation: Aspekte eines erweiterten Kunstbegriffs. In: de la Motte-Haber, Helga: Klangkunst: Tönende Objekte und klingende Räume. Laaber: Laaber-Verlag, 1999 (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 12), S. 67-118, hier: S. 108.
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Zu diesen schwer einzuschätzenden Konsequenzen gehört sicherlich, wie auch Sanio konstatiert, die Veränderung der Zeitstruktur des Werkes: »Die Bedeutung der zeitlichen Struktur ist geringer, sie ist immer nur eine von mehreren Dimensionen, in denen sich das ästhetische Phänomen präsentiert.«38 Genauer gesagt: Die Klangkünstlerin muss bei der Gestaltung der zeitlichen Struktur ihrer Installation die gegenüber der musikalischen Aufführung in der Konzertsituation veränderte Zeitstruktur der Rezeption in Betracht ziehen. Diese Zeitstruktur der Rezeption ist im Fall der Klanginstallation äußerst flexibel und viel stärker von den individuellen Rezeptionshaltungen der Zuhörer_innen abhängig als in der Konzertsituation, die, wie wir gesehen haben, dem Publikum einen relativ starren Rezeptionsrahmen bereitstellt. Weder die Dauer des Rezeptionsakts ist im Fall der Installation festgelegt noch seine Einmaligkeit. Anders als im Konzert, wo die Rezipienten gezwungen sind, die Aufführung von Anfang bis Ende schweigend auszusitzen, können sie die Installation jederzeit verlassen, aber auch gegebenenfalls mehrmals zurückkehren, d.h. den Rezeptionsprozess nach Belieben unterbrechen und wiederaufnehmen. Hand in Hand mit dieser Auflockerung der Zeitstruktur geht die Aufwertung der Raumstruktur. Wie auch im Fall von A Sound Map of the Danube können die Rezipienten in die Installation eintreten, welche sie dann umgibt und deren Klang sie umhüllt. Vielfältige Ansätze zur Verräumlichung gibt es natürlich auch in der Konzertmusik des 20. und 21. Jahrhunderts, doch bleibt dort meist auch dann die räumliche Grundsituation des Konzertsaals mit seiner Aufteilung in Publikumsraum und Podium erhalten. In der Klanginstallation ist die Verräumlichung des Klangs radikaler und vielfältiger umsetzbar als im Konzertsaal, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Zeitstruktur des Werkes zugleich flexibler und schwächer ist. Noch einmal stellt sich somit heraus, dass Zeit und Raum in Bezug auf Musik und Klangkunst immer in Beziehung miteinander stehen und nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Eine
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Auflockerung oder Abschwächung der Zeitstruktur des Werkes ermöglicht seine verstärkte Verräumlichung. Musik erweist sich als Zeit- und Raumkunst, als eine Kunst, die immer von der Strukturierung von Zeit und Raum handelt. Sie kann entweder den Schwerpunkt mehr auf die Gestaltung der Zeitstruktur oder aber auf die des Raumes legen. Diesen unterschiedlichen Gestaltungsweisen entsprechen auf Rezipientenseite unterschiedliche Hörweisen. Narration und Atmosphäre können demzufolge in Bezug auf Musik und Klangkunst als zwei verschiedene Arten des Hörens betrachtet werden. Wesentlich dabei ist, dass beide Arten des Hörens in beiden Kunstformen zur Geltung kommen, dass also nicht das narrativiernde Hören allein der Konzertmusik vorbehalten ist und das atmosphärische der Klangkunst, sondern dass beide immer in einem Spannungsverhältnis stehen. So können in der Konzertsituation auch räumliche Aspekte in den Vordergrund gerückt werden und in der Installationssituation können der Abschwächung der Zeitstruktur des Werkes entgegengerichtet zeitliche Aspekte betont werden. Dies resultiert in der Freiheit der Hörenden, die bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden, ob und in welchem Ausmaß sie Musik narrativ hören oder sich von ihrer Atmosphäre psychisch und physisch anmuten lassen. Bis zu einem gewissen Grad deswegen, weil diese Freiheit des Hörens keine uneingeschränkte ist. Sowohl die Aufführungssituation des Konzerts als auch die Rezeptionssituation der Klanginstallation geben den Hörenden einen jeweils unterschiedlichen Rahmen vor. Im Fall des Konzerts drängt dieser Rahmen das Publikum in Richtung der Bezugsreihe von Narration – Sprache – Literatur – Lesen – Zeitkunst, im Fall der Installation in die von Atmosphäre – Klang – Musik – Hören – Raumkunst. Die beiden Bezugsreihen stehen immer im Verhältnis zueinander. Welchen Anteil die beiden jeweils haben und wie dieses Verhältnis sich jeweils gestaltet, dass kann global weder für die Konzertmusik noch für die Klangkunst gesagt werden, sondern muss jeweils im konkreten Fall, d.h. am konkreten Werk untersucht werden.
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Verteilung der Zeitdauern in Hygiene von Jennifer Walshe Tabelle 2: Verteilung der Abnahme und Zunahme der hellen und dunklen Phasen in Hygiene von Jennifer Walshe Tabelle 3: Aufführungen der 6. Symphonie Gustav Mahlers vor dem 1. Weltkrieg Tabelle 4: Bedeutungsfelder in Bezug auf die Symphonie als Ganze Tabelle 5: Bedeutungsfelder in Bezug auf die vier Sätze zusammen Tabelle 6: Bedeutungsfelder in Bezug auf den 4. Satz allein Tabelle 7: Frequenz von Hammer und Riesentrommel in den Kritiken
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Alban Berg: Drei Orchesterstücke op. 6, Marsch, Takt 126. Abbildung 2: Alban Berg: Drei Orchesterstücke op. 6, Marsch, Takte 142f. Abbildung 3: Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9, Takte 120ff.: „Katastrophenrhythmus“. Abbildung 4: Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6, Finale, Schlusstakte. Abbildung 5: Luigi Nono: Fragmente – Stille, An Diotima, Partiturziffern 33, 34. Abbildung 6: Alban Berg, Lyrische Suite, Largo desolato, Takte 31-32. Abbildung 7: Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 2 für Sopran und Streichquartett op. 10, 4. Satz, Takte 93-98. Abbildung 8: György Kurtág: … concertante … op. 42, Takte 23-26, solo Violine und Viola. Abbildung 9: György Kurtág: … concertante … op. 42, Takte 248-254, solo Violine und Viola, erste und zweite Violinen. Abbildung 10: György Kurtág: Kafka-Fragmente, op. 24, Ende von Fragment I.4. Ruhelos. Abbildung 11: György Kurtág: Kafka-Fragmente, op. 24, Ausschnitt aus Fragment I.19. Nichts dergleichen. Abbildung 12: György Kurtág: Kafka Fragmente, op. 24, Ausschnitt aus IV.6. In memoriam Joannis Pilinszky. Abbildung 13: György Kurtág: Kafka Fragmente, op. 24, IV.6. In memoriam Joannis Pilinszky, Ende. Abbildung 14: György Kurtág: Kafka Fragmente, op. 24, Violinpart am Beginn von IV.7. Wiederum, wiederum.
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Abbildung 15: György Kurtág: Kafka Fragmente op. 24, melismatische Sopranlinie am Ende von of IV.7. Wiederum, wiederum. Abbildung 16: Ernst Krenek: Reihe im 3. Lied der Fünf Lieder nach Worten von Franz Kafka op. 82. Abbildung 17: Ernst Krenek: Reihe Oes in Sechs Motetten nach Worten von Franz Kafka. Abbildung 18: Ernst Krenek: Reihe Ues in Sechs Motetten nach Worten von Franz Kafka. Abbildung 19: Brigitta Muntendorf: Installation #PRIVATE TWEETS. Detail.
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Folgende Kapitel sind überarbeitete und erweiterte Fassungen von verstreut in Sammelbänden und Zeitschriften erschienenen Aufsätzen: Kapitel 2.1: Musik als Supplement der Narration? Zum Verhältnis von Literatur und experimenteller Musik am Beispiel von Damen & Herren unter Wasser von Christoph Ransmayr und Franz Hautzinger, in: Bombitz, Attila (Hg.): Bis zum Ende der Welt: Ein Symposium zum Werk von Christoph Ransmayr (= Österreich-Studien Szeged 8). Wien: Praesens, 2015, S. 231-240. Kapitel 2.3: »…a fortissimo of agitated perception…« – Stille als Raum des Hörens in Luigi Nonos Fragmente – Stille, An Diotima. In: Fülöp, József/Ritz, Szilvia (Hg.): Inspirationen II: Aufsätze zu Literatur und Kunst (= Károli Könyvek 5). Budapest: L’Harmattan, 2015, S. 18-27. Kapitel 3.1: Absence, Presence and Potentiality: John Cage’s 4’33” Revisited. In: Wolf, Werner/Bernhart, Walter (Hg.): Silence and Absence in Literature and Music (= Word and Music Studies 15). Amsterdam: Rodopi, 2016, S. 166-179. Kapitel 3.2: An der Grenze zum Klang. Synästhesie und Theatralität bei Jennifer Walshe. In: Fuhrmann, Wolfgang/Šedivý, Dominik (Hg.): Musicologica Austriaca 31/32 (2012/13). Sympathien – Übergänge – Resistenzen. Wien: Praesens, 2014, S. 221-238. Kapitel 4.2: What is autobiographical authenticity in music? The question of the »secret vocal part« in Alban Berg’s Lyric Suite revisited from a narratological perspective. In: Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology (AJCN) 7-8 (Autumn 2012/Autumn 2014). Kapitel 6: Pocket Opera, the New Discipline and Public Space: The Intermedia Composer Brigitta Muntendorf and »Practical Aesthetics«. In: Schopf, Fiona Jane (Hg.): Music on Stage, Volume 3. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2018, S. 18-29. Kapitel 7.1: Zwischen Archiv, Klangkunst und Komposition – Annea Lockwoods A Sound Map of the Danube im Kontext von Grenzen und Grenzüberschreitung. In: Balogh, András F./Leitgeb, Christoph (Hg.): Reisen und Grenzen in Zentraleuropa, Wien: Praesens, 2014, S. 61-74.
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Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter März 2021, 96 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2
Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., Dispersionsbindung, 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Achim Geisenhanslüke
Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur Januar 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7
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Literaturwissenschaft Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)
Laboring Bodies and the Quantified Self 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9
Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)
Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit 2020, 432 S., kart., Dispersionsbindung, 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 2: Das Meer als Raum transkultureller Erinnerungen Januar 2021, 258 S., kart., Dispersionsbindung, 25 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4945-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4945-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de