Musik als Spiel - Spiel als Musik: Die Integration von Spielkonzepten in zeitgenössischer Musik, Musiktheater und Klangkunst 9783839449325

Außermusikalische Prinzipien des Spiels - freie wie streng regelbasierte - können Kompositionsprozesse, Aufführungssitua

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German Pages 300 [292] Year 2021

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Musik als Spiel - Spiel als Musik: Die Integration von Spielkonzepten in zeitgenössischer Musik, Musiktheater und Klangkunst
 9783839449325

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Marion Saxer (†), Karin Dietrich, Julian Kämper (Hg.) Musik als Spiel – Spiel als Musik

Musik und Klangkultur  | Band 40

Marion Saxer (Prof. Dr.), geb. 1960, verst. 2020, lehrte Musikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Ihre Forschungsschwerpunkte waren die Zeitgenössische Musik sowie Musik und Medien. Karin Dietrich (Dr.), geb. 1971, arbeitet als Musikwissenschaftlerin und Musikdramaturgin und leitet das Institut für zeitgenössische Musik IzM der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt a.M. Julian Kämper, geb. 1989, ist Musikwissenschaftler und Dramaturg im Bereich der zeitgenössischen Musik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sport- und Spielprinzipien in der Musik, alternative Konzertformate sowie interdisziplinäre Kompositionen.

Marion Saxer (†), Karin Dietrich, Julian Kämper (Hg.) Unter Mitarbeit von Sebastian Rose

Musik als Spiel – Spiel als Musik Die Integration von Spielkonzepten in zeitgenössischer Musik, Musiktheater und Klangkunst

Aufsätze aus der Ringvorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (Wintersemester 2018/19), ein Kooperationsprojekt des Musikwissenschaftlichen Instituts der Goethe-Universität Frankfurt am Main und des Instituts für zeitgenössische Musik IzM der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: OPAK Werbeagentur, Frankfurt am Main Satz: Sebastian Rose Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4932-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4932-5 https://doi.org/10.14361/9783839449325 Buchreihen-ISSN: 2703-1004 Buchreihen-eISSN: 2703-1012 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort

Karin Dietrich | 7 Einleitung

Julian Kämper | 9

I. SPIELKONZEPTE UND SPIELTHEORIEN Das Spiel zwischen Offenheit und Regel Kulturwissenschaftliche Spielkonzepte mit Blick auf künstlerische Formen und Prozesse

Regine Strätling | 23 Spielfeld versus Konzertbühne Zur Interpretation gamebasierter Musik an Beispielen von hans w. koch

Julian Kämper | 55 „aufs Spiel setzen“ Spieltheoretisch motivierte Wettkampfsituationen in der Arbeit von Iannis Xenakis

Robin Hoffmann | 73 „Es gibt da einen Vertreter, der mir nicht gehorcht.“ Eine kleine Studie zur Rolle des Spielverderbers in der neueren Musik

Michel Roth | 111

II. KLANGKUNST UND PERFORMANCE Gehen, Laufen, Rennen Spielformen des Parcours in musiktheatralen Performances der Gegenwart

Sarah Mauksch | 153 Zeit und Aufmerksamkeit Spielkonzepte und ihr Verhältnis zu Performance, Rezeption und Partizipation – ein Werkstattbericht

Kirsten Reese | 173 Spielend hören, hörend spielen Das Playsonic-Projekt von Alter Oper Frankfurt, Ensemble Modern, HfMDK Frankfurt und Invisible Playground

Karin Dietrich, Sebastian Quack, Orm Finnendahl | 183

III. COMPUTERSPIEL Komponieren/Spielen/Machen Musik und Computerspiel

Julia H. Schröder | 195 Ein Polardiagramm für die Analyse gamifizierter audiovisueller Werke

Marko Ciciliani | 217 (Press) Play Björks App-Album Biophilia

Ulrich Wilker | 245 THIS FEELS GREAT Gamedesign und Komposition

Annesley Black, Jonas Hansen, Marion Saxer | 263

ANHANG Autor*innen | 281 Personenregister | 289 Auswahlbibliographie | 293

Vorwort Karin Dietrich

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“1 Friedrich Schiller

„Da machen wir was zusammen.“ Das war die spontane Reaktion Marion Saxers, als ich ihr von der Idee berichtete, dass die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) gemeinsam mit dem Ensemble Modern und der Alten Oper Frankfurt ein Festival zum Experimentierfeld „Musik und Spiel“ unter dem Titel Playsonic plante. Aus der Idee Marion Saxers entwickelte sich die Ringvorlesung Spiel2, die im Wintersemester 2018/19 als Kooperationsveranstaltung der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der HfMDK stattgefunden hat. Die Vorlesung brachte im Nachgang zum Festival Musik- und Kulturwissenschaftler*innen, Komponist*innen, Interpret*innen und Spielemacher*innen zusammen, um über die Integration von Spielkonzepten in zeitgenössische Musik, Musiktheater und Klangkunst zu sprechen und das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln heraus zu betrachten. Dabei wurden sowohl wissenschaftliche, theoretische als auch praxisbezogene Sichtweisen auf das Phänomen vorgestellt und in einen Dialog gebracht, um so der „zunehmenden Bedeutung des Spielbegriffs als ästhetischer Kategorie in den Künsten im Lauf des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen“, wie es in der Ankündigung der Ringvorlesung hieß. Die Vorträge und Gespräche, von denen ein Großteil in diesen Band eingegangen ist,

1

Schiller, Friedrich: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert (Hg.), Sämtliche Werke, Bd. 5 Erzählungen/Theoretische Schriften, München: Hanser 41967, S. 618.

8 | Karin Dietrich

gaben einen Überblick über die Vielfalt kompositorischer Ansätze, die spielerische Konzepte einbeziehen, untersuchten Besonderheiten dieses Spiels im Spiel und fragten nach seinem Stellenwert innerhalb der Kultur der Gegenwart. Ich bin Marion Saxer unsagbar dankbar für ihre Initiative und das Mitgestalten dieses gemeinsamen Projekts. Und so vieler anderer. Umso schmerzlicher hat uns ihr unerwarteter Tod 2020 getroffen. Durch die Weiterführung der Arbeit an dieser Publikation im Redaktionsteam mit Julian Kämper und Sebastian Rose, denen ich für ihren unermüdlichen Einsatz und ihre Energie für die Sache danke, wurde es möglich, den Band in Marion Saxers Sinne fertigzustellen. Ganz dem Geist verpflichtet, dass wir nicht in einer Kultur leben wollen, „die sich nur mit SowiesoVerstandenem beschäftigt“, wie sie es in einem der Gespräche der Ringvorlesung formulierte. Dank für die Unterstützung und das Mittragen der Publikation gilt auch den Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität, namentlich Prof. Dr. Thomas Betzwieser, Dr. Sarah Mauksch und Prof. Dr. Barbara Alge, und meiner Assistentin Theresa Bub. Nicht zuletzt möchte ich auch allen Autor*innen danken, die mit großer Geduld und Mitarbeit das Erscheinen des Bandes ermöglicht haben. Marion Saxer hätte dieses Buch vermutlich all denen gewidmet, die sich immer wieder der „Zumutung“ aussetzen, sich auf neue, ungewohnte Themenfelder einzulassen. Wir möchten deshalb diesen Band Marion Saxer und ihrem Andenken widmen, weil sie uns wiederum so oft das Feld eröffnete für die Begegnung mit Neuem.

Frankfurt am Main, Februar 2021

Einleitung Julian Kämper „Wir sind nicht am Ende dieses Diskurses, sondern mittendrin.“ Karin Dietrich

I. Es gibt ikonische Spielbegegnungen, die sich in die Geschichte der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts eingeschrieben haben. Zwei prominente Protagonisten bestritten 1968 in Toronto eine Partie Schach: Marcel Duchamp und John Cage – Duchamp konnte die Partie für sich entscheiden. Das Schachbrett war verkabelt und an ein raumumgreifendes Lautsprechersystem gekoppelt, sodass jede Bewegung einer Spielfigur über den mit Sensoren ausgestatteten Untergrund Klangereignisse auslöste und die akustische Situation im Raum veränderte. Bei diesem klingenden Schachspiel mit dem Titel Réunion stehen die Klangresultate in Relation zum Spielgeschehen. Es existiert keine Partitur und auch keine Improvisationsvorlage, das Schachspiel selbst ist die Spielanweisung – angenommen, Duchamp und Cage hätten tatsächlich alles daran gesetzt, die Partie zu gewinnen, ohne sich von akustischen oder gestalterischdramaturgischen Überlegungen leiten zu lassen. Für Duchamp, der es bis zur Teilnahme an Schacholympiaden brachte, war das Spiel – und Schach im Speziellen – ein wiederkehrendes Motiv und ein Katalysator, die damals geltenden Regeln der Kunst zu brechen und damit den Kunstbegriff auf den Kopf zu stellen. Im Jahr 1983 trafen sich in einem elektronischen Studio in Den Haag die beiden Komponisten Louis Andriessen und Cornelis de Bondt, um eine Partie Tischtennis zu spielen. Der Performance- und Installationskünstler Dick Raaijmakers war ebenfalls anwesend und zeichnete den Spielverlauf mit zwei Tonbandgeräten auf. Das flüchtige Tischtennisspiel wurde auf diese Weise medial für die Ewigkeit festgehalten und Raaijmakers entwarf aus dem Material ein stereophones Radiostück mit dem Titel Ping-Pong, bei dem die räumlichen und

10 | Julian Kämper

zeitlichen Dimensionen der ursprünglichen Ballwechsel allmählich verzerrt und abstrahiert werden, womit sich das Gehörte immer mehr loslöst von seiner ursprünglichen Quelle. Später rekonstruierte Raaijmakers die einstige Spielpartie in einem „Mechanischen Musiktheater“, allerdings nicht mit Spielenden aus Fleisch und Blut, sondern mit mechanischen Vorrichtungen, die den Ball im Rhythmus von Andriessen und de Bondt hin und her katapultierten. Spielbegegnungen wie diese legen Zeugnis darüber ab, dass ein außermusikalisches Spiel durch den Einsatz von Medien und technischen Konfigurationen zu einem musikalischen Ereignis werden kann, dass eine Partie Schach oder ein Tischtennisspiel durch Kontextverschiebungen als musikalische Aufführung betrachtet werden können. Kompositorische Konzepte, denen nicht-musikalische Spielideen zugrunde liegen, können generell eine doppelte Relation zum Spielgedanken herstellen: Neben dem außermusikalischen Spielebezug kommt die Tatsache zum Tragen, dass Musik bereits aufgrund ihrer Angewiesenheit auf die musikalische Interpretation im Kern spielerisch verfasst ist, wie die Rede vom „Instrumentalspiel“ belegt. Wir haben es also mit einem vertrackten Sachverhalt, einem „Spiel im Spiel“, zu tun. Ganz gleich, ob es sich um freies Spiel oder regelgeleitetes und wettkampfbasiertes Spiel – wie das Duellieren in den genannten Beispielen – handelt. Ob dabei vom Austragen eines Spiels mit musikalischen Elementen oder von einem musikalischen Vortrag mit spielerischen Elementen gesprochen werden müsste, ist nicht immer scharf zu trennen. Zumal, wenn bei ortsspezifischen Spiel-Kompositionen auf Spielplätzen, in Turnhallen oder im öffentlichen Raum auch noch der Konzertsaal als räumliche Instanz wegfällt, der jegliches Bühnengeschehen als ein genuin musikalisches deklarieren kann. Zu unterscheiden sind spielbezogene Kompositionen auch dahingehend, ob sie auf die Welt der Spiele verweisen oder ob sie das Prinzip des Spielens für sich selbst anwenden. Zum einen referieren audiovisuelle Kompositionen auf die Oberflächen der Computerspielästhetik, zitieren kultige Soundeffekte oder Retrografiken, persiflieren Spielshows aus Fernsehen und Rundfunk, enthalten Reminiszenzen an geschichtsträchtige Sportgroßereignisse oder adaptieren das Prinzip des Duellierens für ihre formale Gestalt. Zum anderen werden im Akt der Aufführung tatsächlich reglementierte Spiele ausgetragen, dies trifft auf das Gros der in den Beiträgen diskutierten Kompositionen zu und dies in den meisten Fällen in Kombination mit akustischen und visuellen Referenzen. Dann werden Unvorhersehbarkeit und Kontingenz, die für das Spiel konstitutiv sind, zu zentralen Kennzeichen der Musik. Dabei sind die spielstrategischen Maßnahmen, die unter Bezugnahme auf die jeweilige (außermusikalische) Spiellogik ergriffen werden, für das klangliche Resultat und den musikalischen Verlauf formbildend.

Einleitung | 11

Björn Heile zufolge ist die kompositorische Bezugnahme auf Spiel generell als eine Lösung für das „Form-Problem in der neuen Musik“1 zu verstehen, sind doch jedem Spiel, egal welcher Art, spezifische formale und zeitliche Strukturen eingeschrieben, die sich als Schablone für kompositorische Operationen heranziehen lassen. Werden außermusikalische Spiele – Brettspiele, Kartenspiele, Computerspiele, Sportspiele, Geschicklichkeits- oder Glücksspiele – in die Musik integriert, werden den Interpretierenden nicht selten Fähigkeiten abverlangt, die außerhalb ihres professionellen Metiers liegen. Zwar erarbeiten und proben die Interpret*innen ihre eigenen Interpretationsansätze und entwickeln ihren künstlerischen Zugriff auf die Spiel-Kompositionen, aber die Offenheit des Spiels lässt eine perfektionierte Einstudierung nicht zu, stets muss ad hoc auf gegnerische Strategien, algorithmische Feedbacksysteme oder andere Widerstände reagiert werden. Damit sind die Spielenden auch der einkalkulierten und dem regelgesteuerten Spiel inhärenten Gefahr des Scheiterns und Verfehlens ausgesetzt, wenngleich der Fehler im Kontext der spielbasierten Musik eine neue Zuschreibung erhält: Der Fehler kann fruchtbar und formbildend sein, und er ist Indiz für die – aus künstlerischer Perspektive reizvolle – Kontingenz des Spiels respektive der Aufführung. Im Gegensatz zum klassischen Musikvortrag, bei dem es um handwerklich und ausdrucksästhetisch perfektioniert dargebotene Notentexte geht, ist mit den künstlerischen Arbeiten mit Spielbezug zuweilen eine „Poetik des Scheiterns“ verknüpft, um die „Fehler, die in Abweichung von einem bestimmenden System geschehen, für eben dieses System nutzbar und produktiv zu machen.“2 Der Fehler, wie er hier aufgefasst wird, und mit ihm das Spiel als solches können konventionelle Denkmuster und tradierte Systeme aufbrechen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage evident, wie mit dem SiegNiederlage-Code, der zumindest für wettkampfartige Spiele charakteristisch ist, im Kontext der Kunst umzugehen ist, läuft doch das Streben nach Gewinnen dem allgemeinen Verständnis von autonomer Kunst zuwider. Es ist zu beobachten, dass die Spiele oftmals in multimedialen Umgebungen stattfinden, zumindest aber überwiegend eine visuelle Komponente enthalten:

1

Heile, Björn: „Homo Ludens? Spiel und Spielen im Werk von Mauricio Kagel“, in: Klüppelholz, Werner (Hg.), Vom instrumentalen zum imaginären Theater: Musikästhetische Wandlungen im Werk von Mauricio Kagel, Hofheim: Wolke, S. 109-127, hier S. 116.

2

Ingold, Felix Philipp/Sánchez, Yvette: „Zur Einführung“, in: dies. (Hg.): Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität, Göttingen 2008, S. 10-18, hier S. 11.

12 | Julian Kämper

beispielsweise agieren die Spielenden in algorithmischen, komplex konfigurierten Feedback-Systemen, zu denen sie sich verhalten müssen; aus grafischen Anzeigen leiten sie Klangaktionen ab; bei Spielkonzepten, die stark auf Bewegung ausgerichtet sind, werden ihnen körperlich-motorische Fertigkeiten abverlangt; zu Spielfeldern modifizierte Bühnenanordnungen lösen das traditionelle Konzertdispositiv auf; oder aber das musikalische Agieren wird von der Konzertbühne auf mobile Endgeräte verlagert; kurz gesagt: das Motiv des Spielens äußert sich in den wenigsten Fällen innermusikalisch. Und damit sind die Wege schon bereitet, um das Spiel auch in performativen, musiktheatralen und klangkünstlerischen Formaten fruchtbar zu machen. In jedem Einzelfall muss neu bewertet werden, welchen Stellenwert die Musik in den multimedialen SpielSetups innehat, zumal es oftmals visuelle Reize sind, die die Interpretierenden durch das Spiel leiten und zu musikalischen Aktionen veranlassen. Zwar lassen sich spielstrategische Komponenten in der Musikgeschichte – genannt seien Mozarts Musikalische Würfelspiele – ausmachen, jedoch setzt die reflektierte und strukturelle Auseinandersetzung mit dem Bereich des Spiels erst im 20. Jahrhundert, insbesondere um die Jahrhundertmitte ein. „Diese Bezugnahme künstlerischer Praxis auf Aspekte des Spiels ist nicht neu, sie hat aber erneut Konjunktur“, eröffnet Regine Strätling ihren Beitrag. Und so zeigen auch die zahlreichen Beispiele aus der jüngeren und jüngsten Musikgeschichte, wie Spielkonzepte als Katalysator für das Neue in der Gegenwartsmusik fungieren und wie vielfältig die musikalischen Äußerungsformen des Spielerischen sind. Damit rückt das Spiel in die Nähe des Experimentbegriffs und birgt sogar das Potenzial, jenen im Zusammenhang mit der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts überstrapazierten Begriff abzulösen – oder hat er das bereits? Die Vorstellung, dass der künstlerische Prozess einer in sich schlüssigen und auf sich selbst bezogenen Logik folgt, die aber keine per se musikalische oder kompositorische sein muss, haben Spiel und Experiment gemein. Dennoch gibt es bemerkenswerte Akzentverschiebungen: Während das Experiment auf die Naturwissenschaften mit ihren empirisch angelegten und evaluierbaren Versuchsanordnungen zurückgeht, mit denen natürliche Gesetzmäßigkeiten, die als unverrückbar erscheinen, verifiziert werden, das Ergebnis eines Experiments in diesem Sinne das Kriterium der Intersubjektivität erfüllen sollte, ist das Spiel hingegen eng an den Begriff der Subjektivität geknüpft. Spielen impliziert einen freigeistigen Prozess, der Kreativität freisetzt.

Einleitung | 13

Marion Saxer hat den Experimentbegriff auf seine „Bedeutungsverschiebungen“3 im Verlauf des 20. Jahrhunderts untersucht. Dabei hat sie auf den unscharfen Gebrauch des Experimentbegriffs hingewiesen, der häufig „mit Vorstellungen des wagemutigen Aufbruchs in neues, unbekanntes Terrain“ 4 verbunden ist und der „uns heute als verschlissen, abgenutzt, eine leere Worthülse, der sich keine klare Bedeutung zuordnen lässt“5, erscheint. Auch wenn eine eindeutige, musikwissenschaftliche Definition des Experimentbegriffs wegen seines inflationären und umgangssprachlichen Gebrauchs nahezu unmöglich ist, lässt sich aber sehr wohl differenzieren, an welchen Schnittstellen zwischen Komposition (bzw. kompositorischer Vorüberlegung), Aufführung und Rezeption das Experiment wirksam werden kann. „Eine entscheidende Wende in der Begriffsauffassung des Experiments wurde von John Cage eingeleitet. Waren die vorangegangenen Begriffskonzepte ausschließlich produktionsästhetisch orientiert und somit der Werkästhetik verpflichtet, formuliert Cage erstmals eine rezeptionsästhetische Position.“6

Diese Neubewertung des musikalischen Experimentbegriffs lässt sich laut Saxer deshalb an Cage festmachen, weil er „von der traditionellen Rolle des Komponisten absieht und sich selber als Hörer begreift“7. Wie lässt sich das auf den Spielbegriff übertragen? Die Schwierigkeit einer definitorischen Bestimmung, wie Saxer sie für den Experimentbegriff feststellt, gilt in ähnlicher Weise für das Spiel mit seinem kaum zu überblickenden Assoziations- und Bedeutungsraum, wie die multiperspektivischen Beiträge zeigen werden. Und der Experimentbegriff im Sinne einer Unbestimmtheit der eintretenden Ereignisse ist durchaus kompatibel mit dem Kriterium der Unvorhersehbarkeit, das dem Spiel als zentrales Merkmal zugeschrieben wird. Insofern ist auch für die Auseinandersetzung mit musikalischen Äußerungsformen des Spiels eine aufführungsbzw. rezeptionsästhetische Perspektive unverzichtbar, wenn Bühnenakteur*innen und das Publikum in gleicher Weise die Möglichkeit erhalten, mit Entweder-OderEntscheidungen den Verlauf und die Form der Aufführung mitzuprägen.

3

Saxer, Marion: „Nichts als Bluff? Das Experiment in Musik und Klangkunst des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“, in: Musik & Ästhetik 11/43 (2007), S. 53-67, hier S. 55.

4

Ebd., S. 53.

5

Ebd., S. 53.

6

Ebd., S. 58.

7

Ebd., S. 59.

14 | Julian Kämper

Wie das Experiment garantiert auch das Spiel einen geschützten Raum, in dem unkonventionelle Wege begangen werden können. Denn Spiel findet per definitionem zeitlich und räumlich abgetrennt von Arbeit, von Alltag, von Ernst statt. Und dies in doppelter Hinsicht, wenn das Spiel im Kunstkontext ausgetragen wird, ereignet sich die Aufführung selbst ja auch in einem hermetisch vom Alltag und vom Bereich der Nicht-Kunst abgeschirmten Raum. Vor diesem Hintergrund stellen die Beiträge des vorliegenden Bands in ihrer Summe den Spielbegriff dahingehend auf den Prüfstand, ob er ein zentrales Paradigma für die zeitgenössische Musik ist. Spätestens seit Johan Huizingas Abhandlung Homo Ludens8 von 1938, in der der Kulturphilosoph die These aufstellt, dass unsere Kultur der menschlichen Lust und Fähigkeit zum Spielen entspringe, wird dem Spiel in den Kultur- und Kunstwissenschaften Bedeutung geschenkt, gegenwärtig in gesteigertem Maße.9 Im musikpädagogischen und musikanthropologischen Kontext hingegen ist das Spiel längst ein wichtiger Gegenstand, wenn es um Modelle der musikalischen Erfahrung und ästhetischen Erziehung geht.10 Mit dem Spielen ist oftmals auch der Begriff des Lernens und des Aneignens fremder Gegenstände verbunden, sodass das Spiel auch immer wieder zum Modell für Vermittlungsstrategien wird. Dabei zielt dieser didaktische Gedanke, dass man sich (komplexe) Musik über spielerische Methoden schneller und intuitiver aneignen könne als über Lektüre, auf Kinder und Erwachsene gleichsam ab. Dezidiert musikwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit diesem Themenkomplex sind hingegen rar. Es fehlen Methoden und Codierungen, wenn es um die Zusammenführung zweier eigenständig gewachsener Kulturformen – Musik und Spiel – geht, aus denen sich

8

Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938], Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 241956.

9

Vgl. u.a. Strätling, Regine: Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld: transcript 2012; Strätling, Regine; Moser, Christian (Hg): Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung, München: Fink 2019.

10 Vgl. u.a. Fischer, Timo: „Musik als Spiel. Anthropologisch-pädagogische Reflexionen“, in: Heister, Hanns-Werner (Hg.), Mimetische Zeremonien – Musik als Spiel, Ritual, Kunst, Berlin: Weidler 2007, S. 71-92; Richter, Christoph: Musik als Spiel. Orientierung des Musikunterrichts an einem fachübergreifenden Begriff. Ein didaktisches Modell, Wolfenbüttel u. Zürich: Karl Heinrich Möseler Verlag 1975 (Schriften zur Musikpädagogik, 1); Wetzel, Tanja: Geregelte Grenzüberschreitung. Das Spiel in der ästhetischen Bildung, München: kopaed 2005 (Kontext Kunstpädagogik, 1).

Einleitung | 15

Hybride ergeben, die weder das eine, noch das andere sind: eben Musik als Spiel und vice versa. Dieser Sammelband stellt erstmals die Vielfalt kompositorischer Zugriffe auf das Spiel nebeneinander, legt ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede offen und gibt Methoden an die Hand, um einem aktuellen Phänomen in der zeitgenössischen Musik aus musikwissenschaftlicher Perspektive adäquat zu begegnen.

II. Die hier versammelten Textbeiträge von Komponist*innen, Spieleentwickler*innen sowie Musik- und Kulturwissenschaftler*innen befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Spielbegriff und legen anhand zahlreicher anschaulicher Beispiele dar, wie sich Spiel und Spielen in musikalischen Kontexten äußern können. Es wird deutlich, welche erheblichen Konsequenzen die künstlerische Aneignung von Spielprinzipien für kompositorische Entscheidungen, für die Aufführungspraxis sowie für den Rezeptionsprozess gleichermaßen haben kann – je nachdem, in welchen dieser drei Bereiche das spezifisch Spielerische verlagert wird. Theoriebildende Beiträge und ausführliche Werkanalysen werden flankiert von Gesprächen mit und zwischen Künstlerinnen und Künstlern, die über ihre spielbezogenen Arbeiten und die damit verbundenen Herausforderungen, Potenziale und Arbeitsmethoden berichten. Diese interdisziplinären Gesprächskonstellationen zeigen beispielhaft, wie aus neuen Kollaborationsformen, etwa zwischen Komponist*innen und Spieleentwickler*innen, neue Denkansätze und Formate entstehen. Der vielfältigen und multiperspektivischen Auseinandersetzung mit dem kompositorischen Umgang mit Prinzipien des Spiels geht eine grundlegende Einführung der Kulturwissenschaftlerin Regine Strätling voran. In ihrem Textbeitrag Das Spiel zwischen Offenheit und Regel. Kulturwissenschaftliche Spielkonzepte mit Blick auf künstlerische Formen und Prozesse stellt sie variierende Definitionen von Spiel gegenüber und kommt dem weiten, definitorisch nur schwer fassbaren Spielbegriff auf die Spur. Was ist das Wesen des Spiels? Was sind seine Kennzeichen? Im Laufe der Zeit hat man dies unterschiedlich beantwortet, wie die Autorin übersichtlich nachzeichnet. Strätling führt Vokabular, Begrifflichkeiten und Spieltheorien ein, mit denen sie den Boden bereitet für eine spezifisch musikwissenschaftliche Perspektive. Ausgehend von den Massenphänomenen Sport und e-Sport, bei denen ein Millionenpublikum live oder vor dem Bildschirm einzelnen Akteur*innen beim Austragen von Spielen zusieht, werden in Spielfeld versus Konzertbühne. Zur

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Interpretation gamebasierter Musik an Beispielen von hans w. koch Parallelen zur musikalischen Aufführungspraxis im Konzert gezogen. Die Integration von Game-Elementen wird in diesem Zusammenhang als eine kompositorische Strategie begriffen, um eine gesteigerte (körperliche) Präsenz der Interpret*innen zu erzeugen und die Kommunikation zwischen Bühnenakteur*innen und Publikum zu intensivieren. Die Argumentation wird konkretisiert anhand von spielbasierten Stücken des Komponisten und Klangkünstlers hans w. koch, in denen sich eine Ästhetik des Imperfekten manifestiert. Robin Hoffmann legt in „aufs Spiel setzen“. Spieltheoretisch motivierte Wettkampfsituationen in der Arbeit von Iannis Xenakis eine ausführliche Analyse von Xenakis Werken Stratégie, Duel und Linaia-Agon vor. Diesen drei Werken ist gemeinsam, dass ihnen Modelle der mathematischen Spieltheorie zugrunde liegen: Die Aufführung der Orchester- bzw. Ensemblekompositionen wird in einen kompetitiven Wettstreit zweier Parteien überführt, bei dem nicht mehr nur innermusikalische Maßstäbe angelegt werden, um über Formverlauf und Anordnung des musikalischen Materials zu entscheiden. Hoffmann erläutert das multimediale Setup der Aufführungssituation und beschreibt, wie die Abhängigkeitsverhältnisse sich verschieben und die Dirigiertätigkeit neu ausgerichtet wird, wenn die Orchesterpraxis nicht mehr auf eine einzelne Dirigentenfigur zentriert ist. Das wettkampforientierte Spielprinzip, so legt Hoffmann dar, kann in doppelter Weise produktiv sein: während es bei den Orchesterwerken als formbildendes Element für die Abfolge mobiler Klangstrukturen angewendet wird, verbindet sich beim kammermusikalischen Linaia-Agon der formal angelegte Wettstreit mit der Erzählung von einem rituellen Wettkampf zweier mythischer Gestalten. Michel Roth entwickelt in seinem Beitrag „Es gibt da einen Vertreter, der mir nicht gehorcht.“ eine Perspektive auf Spielkonzepte in der Musik über die Figur des „Spielverderbers“ und mit ihm über Regelverstöße, Übertretungen und Tabubrüche, die er als Möglichkeiten produktiver Partizipationsform auffasst. An zahlreichen Beispielen von den 1970er Jahren bis heute beschreibt er unterschiedliche Formen einer nicht-kooperativen Musizierpraxis, die der Idee eines „Auseinanderspielens“ folgen. Roth stellt auch eigene Arbeiten vor, in denen er die Kommunikationsbedingungen für die Bühnenakteur*innen bewusst erschwert oder verunmöglicht und mitunter Störer einsetzt. Im Beitrag Gehen, Laufen, Rennen von Sarah Mauksch wird das Spiel mit der Denkfigur des Parcours verknüpft. Auf diese Weise möchte die Autorin einen Spielbegriff entwickeln, der für einen musiktheatralen Gegenstand funktionsfähig gemacht werden kann. Mit Rekurs auf Spieltheorien und die Topologie bespricht sie Arbeiten aus dem Feld des Musiktheaters, der Klangkunst und der Performance

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vor, die zwischen Aufführung und Ausstellung changieren: die Rezipierenden bewegen sich durch ortsspezifisch und bisweilen installativ entworfene Situationen hindurch und erzeugen durch den Akt des Gehens ihre individuelle Lesart. Die Komponistin und Klangkünstlerin Kirsten Reese stellt in einem Werkstattbericht eine Reihe eigener Arbeiten vor, die mehr oder weniger explizit von Spielprinzipien durchzogen sind. Im Zentrum ihrer Reflexionen steht ihre Komposition Kugelspiele für Akkordeon, Live-Elektronik, Videoprojektion und Geduldsspiele. Reese selbst führt diese Geduldspiele auf der Bühne aus, während die Akkordeonistin nicht eine fixierte Partitur ausführt, sondern auf den Spielverlauf und dessen Ausgang reagiert. Dabei beschreibt Reese, wie sich die Dichotomie von Freiheit und Regel auf ihr Komponieren auswirkt. Das Publikum begreift sie in diesem Kontext als „Mitspieler“, das die Stücke individuell erkundet und durch die eigene Aktivität erst hervorbringt und formt. Das Playsonic-Festival, das 2018 in Kooperation zwischen der Alten Oper Frankfurt, der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt und dem Ensemble Modern stattgefunden hat, darf als ein Prototyp gelten, wie Musik und Spiel als zwei eigenständige und historisch gewachsene Kulturbereiche zusammengeführt werden können. Das dreitägige Festival war eine regelrechte Spielwiese, um in interdisziplinär besetzten künstlerischen Teams Verbindungen aller Art zu erkunden. Karin Dietrich, Sebastian Quack und Orm Finnendahl schildern rückblickend ihre Eindrücke und benennen auf Basis ihrer Erfahrungswerte Anreize und Herausforderungen, die solch spielbasierte transdisziplinäre Arbeits- und Kreativprozesse mit sich bringen. Karin Dietrich schildert die Beweggründe für dieses Festival sowie die künstlerisch-methodischen Ansätze der Kreativprozesse. Sebastian Quack plädiert unter anderem für eine neutrale Architektur, die hybride und noch unbeschriebene Formen aus Spiel und Musik als eigenständige Erfahrungsräume ermöglicht und diese nicht in einen Musikkontext mit entsprechender Erwartungs- und Rezeptionshaltung verschiebt. Orm Finnendahl reflektiert den Entstehungsprozess eines Spiel-Projekts, das von ihm als Komponisten eine Form erforderte, die nicht nur den Ensemblemusiker*innen, sondern auch dem Publikum ein spielerisches Agieren und Eingreifen ermöglichte. Die Computerspiel-Branche wächst weiterhin und auch die akademische Auseinandersetzung mit Computerspielen bzw. digitalen Spielen nimmt zu. Deshalb bilden diejenigen Beiträge einen eigenen Themenblock, die sich mit Computerspielästhetik, deren technischen Konfigurationen und deren Immersionspotenzial sowie mit den Zusammenhängen zwischen Computerspiel und Musik befassen. Computerspiele werden hierbei als eine künstlerische Gattung

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begriffen, auch wenn es noch fortwährend Diskurse darüber gibt, welchen ästhetischen und künstlerischen Stellenwert digitale Spiele gegenüber den traditionellen Künsten einnehmen – oder besser: welchen Stellenwert man ihnen zusprechen möchte. Die Schnittstellen zwischen Computerspiel und Musik werden zum Teil schon besetzt von der noch jungen Disziplin Ludomusicology, eine Subdisziplin der Game Studies und der Musikwissenschaft. Ihre drei Hauptuntersuchungsgegenstände sind: Musik als Designelement in Computerspielen, Sonderformen der Musikspiele sowie aus der Computerspielkultur hervorgegangene musikalische Praktiken. So werden bewährte Analysewerkzeuge aus den Mutterdisziplinen adaptiert und modifiziert, zudem werden neue, medienspezifische Methodiken entwickelt. 11 Auf diese Diskurse und Terminologien wird im Folgenden immer wieder rekurriert, wenn es um audiovisuelle Kompositionen mit Computerspiel-Elementen oder musikalische Arbeiten in Gestalt eines Computerspiels geht. Julia H. Schröder stellt in ihrem Beitrag Komponieren/Spielen/Machen eine Reihe solcher Verbindungen zwischen Musik und Computerspiel vor. Sie erkennt in Computerspielen das Potenzial, einen attraktiven und neuen Zugang zu Musik vermitteln zu können. Bestenfalls kann der spielerische Zugriff das Verständnis von Musik vertiefen – jenseits von Spezialistentum, wie Schröder anhand von zahlreichen Beispielen darlegt. Mit Rekurs auf Terminologien, Typologien und Genre-Spezifikationen aus der Computerspielforschung führt der Textbeitrag die Strategien und Wirkungsweisen auf, mit denen Musik – oder Sound allgemein – hinsichtlich Design, Narration, Dramaturgie, Immersion und Emotionalisierung in Computerspielen eingesetzt wird. Marko Ciciliani gibt einen Einblick in das künstlerische Forschungsprojekt „GAPPP – Gamified Audiovisual Performance and Performance Practice“, das bis 2020 unter seiner Leitung an der Kunstuniversität Graz angesiedelt war und das künstlerische wie methodische Impulse gibt für die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit spielbasierten Kompositionen. Dass dieser Forschungsansatz ein ganzheitlicher ist, der die Bereiche Komposition, Interpretation und Rezeption gleichberechtigt in den Blick nimmt, belegt Cicilianis Polardiagramm für die Analyse gamifizierter audiovisueller Werke, das er als Analysewerkzeug entwickelt hat für die im Kontext des Forschungsprojekts entstandenen audiovisuellen Kompositionen, die auf unterschiedliche Weise Elemente aus Computerspielen integrieren.

11 Vgl. Kamp, Michiel [u.a.] (Hg.): Ludomusicology. approaches to video game music, Sheffield [u.a.]: Equinox Publishing 2016; Fritsch, Melanie: Performing Bytes: Musikperformances der Computerspielkultur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018.

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2011 hat die isländische Künstlerin Björk das App-Album Biophilia veröffentlicht: eine unkonventionelle Kombination aus neuen Musiktiteln und einer gamebasierten Applikation für Smartphones. Ulrich Wilker widmet sich dieser Sonderform, erklärt ihre Funktionsweisen und Interaktionsmöglichkeiten, analysiert die Analogien zwischen den Spielmechanismen und den musikalischen Strukturen und diskutiert, inwiefern die Anwendung der App ein aufmerksameres Hören der Musik befördern kann. Dabei führt er Definitionen von Musikspielen, Sound Toys oder Composition-Instruments ins Feld, um Biophilia einzuordnen. Begleitend zu einer Porträt-CD der Komponistin Annesley Black sind unter dem Titel THIS FEELS GREAT Mini-Computerspiele entworfen worden, die sich auf unterschiedlichen Ebenen auf Blacks Instrumental- und elektroakustische Kompositionen beziehen. Game Designer Jonas Hansen hat die Kollaboration verantwortet und eines dieser Spiele gestaltet. Im Gespräch mit Marion Saxer blicken beide zurück auf die transdisziplinäre Zusammenarbeit, auf die dramaturgische Funktion der Musik innerhalb dieser Computerspiele und schließlich auf ihre Suche nach einer Form, die beide Kulturbereiche – Musik und Computerspiel – als solche mit ihren jeweils konstitutiven und medienspezifischen Eigenschaften respektiert und dennoch ein hybrides Dazwischen entstehen lässt. Im Rahmen dieser Gesprächsrunde, die den Abschluss der Ringvorlesung bildete, baut Marion Saxer mit einem differenzierenden Blick immer wieder thematische Brücken zu anderen Beiträgen – womit dieser Praxisbericht einen vorläufigen Schlusspunkt dieser Beitragssammlung setzt, zugleich aber unbedingt als Startpunkt begriffen werden sollte. Das weite Feld des Spielerischen in der Musik zu sichten und in seiner Vielfalt punktuell zu beleuchten, ist die Intention dieses Sammelbandes. Die Integration von Spielkonzepten in zeitgenössischer Musik, Musiktheater und Klangkunst ist, wie die Beiträge zeigen, kein sehr junges Phänomen, aber die künstlerische und reflektierte Auseinandersetzung mit Spiel im 21. Jahrhundert nimmt zu. Diese kompositorischen Positionen auch musikwissenschaftlich gründlich zu beleuchten und zu fassen zu bekommen, hierfür geben die hier versammelten Beiträge, durch die sich die Leser*innen wie in einem Open-World-Spiel explorativ hindurchbewegen können, einen Anstoß.

Das Spiel zwischen Offenheit und Regel Kulturwissenschaftliche Spielkonzepte mit Blick auf künstlerische Formen und Prozesse Regine Strätling

Quer durch die Künste lässt sich gegenwärtig die Tendenz beobachten, den Schaffens- oder den Rezeptionsprozess, den Umgang mit dem jeweiligen Material oder die Konzeption der Rolle des Publikums so zu gestalten, dass sie Affinitäten zum Spiel entwickeln. Diese Bezugnahme künstlerischer Praxis auf Aspekte des Spiels ist nicht neu, sie hat aber erneut Konjunktur. Dabei entwickelt sie auch neue Formen, die nicht zuletzt durch neue Formen des Spielens motiviert sind, allen voran die verschiedenen Formen von Computerspiel bzw. allgemeiner Formen des Spielens mit dem Computer. Ein wesentlicher Effekt dieser künstlerischen Bezüge auf das Spiel ist, dass der Status der jeweiligen Produktionen als Kunst gewissermaßen aufs Spiel gesetzt wird. „Ist das noch Kunst oder ist das Spiel?“ – mag sich mancher Leser, Betrachter, Zuschauer oder Zuhörer1 fragen und damit einen Gegensatz von Kunst und Spiel suggerieren. Während solche Formen künstlerischer Praxis die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Spiel aufwerfen, hat komplementär dazu die Diskussion über den Kunststatus – sei es des Spiels, sei es bestimmter Spiele – in den letzten Jahren immens Fahrt aufgenommen, vor allem im Bereich der Computerspielforschung. Die Debatte bewegt sich dabei zwischen Positionen, die die Gemeinsamkeiten von Kunst und Spiel hervorheben oder zumindest argumentieren, manche Spiele seien

1

Um der besseren Lesbarkeit willen wird hier und im Folgenden das generische Maskulinum verwendet. Es bezieht sich auch auf Personen weiblichen Geschlechts sowie andere Geschlechteridentitäten. Eine Ausnahme bilden die Inhalte, die ausdrücklich auf Frauen bezogen sind.

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Kunst, und Positionen, die strikte Grenzen zwischen Kunst und Spiel ziehen.2 An dieser Debatte wird vor allem eine Gemeinsamkeit von Kunst und Spiel einmal mehr deutlich: Für beide scheint es, zumindest seit Kunst ihre gesellschaftliche Autonomie reklamiert, gleichermaßen schwierig, das Verhältnis zu ihrem ‚Außen‘ zu bestimmen: Kunst wie Spiel scheinen einen besonderen Bedarf an Abgrenzung zu haben zu dem, was sie nicht sind. Und für Kunst wie Spiel wird gleichermaßen für das, was sie jeweils ‚nicht sind‘, immer wieder, und immer wieder unbefriedigend, Arbeit, Realität, Ernst oder Alltag in Anschlag gebracht. Kunstwerke wie Spiele sind Phänomene, die sich – zumindest seit sich das Kunstsystem von bestimmten inhaltlichen und formalen Anforderungen an Kunst verabschiedet hat3 – nicht durch spezifische Gegenstände und auch nur bedingt durch ihnen inhärente Charakteristika auszeichnen, sondern wesentlich auf Grenzziehungen beruhen, wobei mit der Relevanz der Grenze für ihre Bestimmung zugleich auch die Problematiken der Grenzziehung in den Fokus geraten. Diese werden da besonders virulent, wo Kunst ihre Grenzen zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen gerade durch die Bezugnahme auf ein anderes so

2

Schlaglichter auf die inzwischen umfangreiche Debatte zum Kunststatus von Computerspielen wirft Stephan Schwingeler, der auch am Ludwig Forum Aachen die Ausstellung Digital Games: Kunst und Computerspiele im Winter 2017/18 kuratiert hat: Schwingeler, Stephan: „Digitale Spiele: Kunstdiskurse“, in: Christoph Hust (Hg.), Digitale Spiele. Interdisziplinäre Perspektiven zu Diskursfeldern, Inszenierung und Musik, unter Mitarbeit v. Ineke Borchert, Bielefeld: transcript 2018, S. 35-46. Grundsätzlich birgt die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Spiel Schwierigkeiten, auch, wenn man von vornherein die darin eigentlich implizierte Frage, was Kunst ist, ausklammert und Kunst auch nicht soziologisch als „Kunstsystem“ begreift, sondern die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Spiel auf das einzelne Kunstwerk herunterbricht. Zu diesen Schwierigkeiten siehe auch Rora, Constanze: „Spiel und Kunst: Einleitung“, in: Zeitschrift für ästhetische Bildung 1/1 (2009), S. 1.

3

Spätestens seit Duchamps Readymades kann Kunst im Grunde ‚irgendetwas‘ machen, wenngleich nicht ‚irgendwie‘. Dem entsprechend schreibt auch Vincent Pécoil im Anschluss an die berühmt gewordene Formulierung Thierry de Duves: „[C]’est justement ce qui fait la valeur ou la force de l’art d’aujourd’hui que de se permettre n’importe quoi, ou peu s’en faut.“ [dt: „Das, was den Wert oder die Kraft der heutigen Kunst ausmacht, ist, sich alles oder fast alles erlauben zu können“, übers. v. R. S.]. Pécoil, Vincent: N’importe quoi, Ausstellungskat., Dijon: Les presses du réel 2009, S. 3.

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abgrenzungsbedürftiges Phänomen thematisiert, auf die Probe stellt und reflektiert: eben das Spiel.4 Der Versuch, genauer zu bestimmen, was passiert, wenn Kunstwerke Spielelemente bzw. Aspekte des Spiels integrieren – sei es das Spiel als Struktur, als materialer Gegenstand oder als Aktivität – und damit letztlich ihre Separierung von und Bezugnahme auf andere gesellschaftliche Teilbereiche problematisieren, führt unweigerlich dazu, nicht nur über die Beziehung(en) zwischen Kunst und Spiel, sondern auch über die involvierten Terme „Kunst“ und „Spiel“ selbst nachzudenken: Worin besteht das Spielelement bestimmter Kunstwerke und welche Theorien des Spiels erweisen sich für eine Analyse produktiv? Wie lässt sich Spiel im jeweiligen konkreten Fall überhaupt fassen? Von welchem Begriff von Spiel gehen wir aus, wenn wir nach der Lektüre eines Buches oder dem Besuch einer Theaterveranstaltung oder eines Konzerts finden, das sei eine Art Spiel gewesen? Mit Blick auf diese Fragen unternimmt vorliegender Beitrag eine Sichtung prominenter Positionen philosophischer und vor allem kulturwissenschaftlicher Spielreflexion hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf Kunst und ihrer Relevanz für eine Analyse von Kunstwerken. Eine solche Sichtung erscheint mir für die Kunstwissenschaften produktiv, weil meines Erachtens die Reduktion der Vielfalt von Spielkonzepten auf ein einziges Masterkonzept die Gefahr unangemessener Generalisierung birgt, die leicht die Spezifika des jeweiligen Kunstwerks aus dem Blick verliert. In der Analyse von Kunstwerken scheint mir das Operieren mit einer Bandbreite unterschiedlicher Ansätze geeigneter, um zu bestimmen, was

4

Man könnte pointieren, dass Kunst mit dem zunehmenden Abschied von Regelkonventionen, der mit Kants subjektiver Wende in der Ästhetik fulminant eingeleitet wurde, zunehmenden Spielcharakter annimmt (und sich damit die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Spiel überhaupt erst stellt), insofern als Spiele wesentlich Formphänomene sind: Formgebungen frei von festen inhaltlichen Bestimmungen (wenngleich nicht frei von Inhalten), mit dem Ziel, Affekte wie Spannung, Überraschung und Spaß zu ermöglichen – und sei es vermittelt durch Ängste, Enttäuschung, Langeweile u.ä. –, sinnliche und intellektuelle Reize zu generieren und dem Menschen seine Welt und sich selbst fasslich zu machen. Aufschlussreich sind diesbezüglich die Überlegungen des Soziologen Georg Simmel zum Spiel. Er begreift das Spiel als genuines Beispiel einer nicht von Inhalten dominierten Form. Umgekehrt könnte man in dieser Eigenschaft die ästhetische Qualität von Spielen lokalisieren. Vgl. Simmel, Georg: Grundfragen der Soziologie, in: ders.: Gesamtausgabe Bd. 16, hg. von Gregor Fritzi/Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1999, insb. Kap. 3 „Die Geselligkeit. Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie“, S. 103-121.

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eigentlich in dem je eigenen Bezug eines konkreten Werks auf Aspekte des Spiels bzw. der je eigenen Integration von Spielelementen oder -konzepten passiert und welche Auswirkungen das auf die prekäre Grenzziehung zwischen Kunst und Nicht-Kunst hat. Der Fokus liegt im Folgenden auf Konzeptionen des Spiels, die a) im Rahmen ästhetischer Überlegungen das Spiel zu einer zentralen Kategorie machen, b) das Verhältnis von Spiel und Kunst explizit thematisieren, und c) mir für die Analyse ludischer Kunstwerke besonders ergiebig scheinen oder aber diesbezüglich prominent diskutiert werden. Im Durchgang durch einflussreiche Positionen der Spielreflexion werden sich zugleich bestimmte historische Konjunkturen und Reflexionszusammenhänge abzeichnen, die auch die Frage nach dem Standort der derzeitigen Spielforschung aufwerfen. Abschließend soll am Beispiel einer Performance der Gruppe She Pop zum einen noch einmal die Problematik der Grenzziehungen sowie der Zusammenhang von Offenheit und Regel erörtert und zum anderen das Potential einiger der im Folgenden vorgestellten Spieltheorien erprobt werden.

ANNÄHERUNGEN AN DEN BEGRIFF DES SPIELS Was ist eigentlich Spiel? Während das Wort „Spiel“ in der alltäglichen Kommunikation ganz unproblematisch scheint, erweist es sich als außerordentlich schwierig, Spiel zu definieren. Das liegt an der semantischen Offenheit des Begriffs, die dazu führt, dass das Wort in einer Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungen und Kontexte verwendet wird.5 Selbst wenn man metaphorische Verwendungen beiseite lassen und sich allein auf konkrete Spiele beschränken will, bleibt die Schwierigkeit, ein Gemeinsames zu bestimmen, schon allein wegen der großen Bandbreite unterschiedlicher Spiele. Und: Was sind überhaupt konkrete, tatsächliche Spiele? Wann beginnt die metaphorische Verwendung des Wortes? Tatsächlich lässt sich beim Wort „Spiel“ kaum zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung unterscheiden. Das zeigt etwa die Frage – bei der in nuce auch die Beziehung von Kunst und Spiel berührt ist –, ob Musikinstrumente

5

Diese Resistenz des Spielbegriffs gegen Definitionen wird in den einschlägigen Publikationen immer wieder betont. Die Vielfältigkeit der Bedeutungsmöglichkeiten wird eindrucksvoll im Eintrag „Spiel“ im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm vorgeführt, diese Definitionsresistenz des Spiels wird aber auch konzeptionell produktiv wie etwa in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, in denen Spiele zum paradigmatischen Beispiel für sein Konzept der Familienähnlichkeit werden.

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gespielt oder ‚eigentlich‘ zum Klingen gebracht werden, wobei in letzterem Falle vom Spielen nur in übertragener Bedeutung die Rede wäre. Während Instrumente im Deutschen gespielt werden – z. B. ‚Klavier spielen‘ –, werden sie in anderen Sprachen zum Klingen gebracht oder angeschlagen. Im Italienischen etwa ist das entsprechende Verb ‚suonare‘ (‚zum Klingen bringen‘, z. B. ‚suonare il pianoforte‘) im Unterschied zu ‚giocare‘ (‚spielen‘), das Spanische verwendet die Verben ‚sonar‘ oder auch ‚tocar‘ (‚anschlagen‘) im Unterschied zu ‚jugar‘ (‚spielen‘). Im Deutschen umfasst der Begriff „Spiel“ zudem all das, was im Englischen mit den Begriffen von play und game unterschieden wird. Dabei ist mit play eher das Moment der Aktivität, der freien Bewegung – und zwar für ganz verschiedene Bedeutungen des Wortes – verbunden. Mit Bezug auf menschliches Spielen wird zudem der Affektgehalt dieser Tätigkeit hervorgehoben: Play meint amusement, Unterhaltung, Spaß, Zerstreuung,6 weiterhin auch das aufführende Spiel. Demgegenüber wird mit game eher das regelgeleitete Spiel bezeichnet, das Spiel als institutionalisierte Struktur und als Artefakt, innerhalb dessen sich, wie Natascha Adamowsky hervorhebt, das Moment des freien „play entfalten kann, aber nicht muss“.7 Damit ist auch schon ein Begriffspaar angesprochen, das die Diskussion über Spiele bis heute maßgeblich beherrscht, nämlich dasjenige von Freiheit und Regel, welches leicht abgewandelt als „Offenheit und Regel“ auch über diesem Aufsatz steht. Wie sehr die Beschäftigung mit Spiel historisch in diese Dichotomie eingespannt ist, wird sich im Folgenden zeigen.

KONJUNKTUREN DER SPIELREFLEXION Die folgenden Überlegungen dienen, wie eingangs betont, vorrangig der Sichtung verschiedener, vor allem kulturwissenschaftlicher Spielkonzepte mit Blick auf ihre Produktivität im Umgang mit Kunstwerken. Unter einer kulturwissenschaftlichen Spielforschung verstehe ich eine Forschung, die sich mit der historischen Kontextualisierung einzelner Spielphänomene in einer bestimmten

6

Vgl. das Oxford English Dictionary, das das Substantiv play als „activity engaged in for enjoyment and recreation“ definiert: https://en.oxforddictionaries.com/definition/ play vom 01.03.2019.

7

Adamowsky, Natascha: „Game Studies und Kulturwissenschaft“, in: Klaus SachsHombach/Jan-Noël Thon (Hg.), Games Studies. Aktuelle Ansätze zur Computerspielforschung, Köln: Herbert von Halem 2015, S. 324-372, hier S. 345.

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Kultur, die damit auch eine bestimmte Spiel-Kultur ausbildet, beschäftigt.8 Wenn Spiele kulturelle Praktiken mit einer gewissen Materialität sind, die in kulturwissenschaftlicher Sicht Aufschluss über eine Kultur erlauben, so ist natürlich auch die Beschäftigung mit Spielphänomenen selbst in dieser Hinsicht aufschlussreich. Diese Beschäftigung ist dann nicht nur oder weniger wegen der gewonnenen Einsichten über das Phänomen Spiel interessant, sondern wird aussagekräftig mit Bezug auf die jeweilige kulturell verankerte Selbst- und Weltwahrnehmung. Das gilt auch für die aktuelle Hochkonjunktur der kunst- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Spielphänomenen. Ein Grund für diese ist zweifellos das Aufkommen eines neuen Mediums (im technischen Sinne), des Computers und der damit einhergehenden, durch das neue Medium bedingten, aber in ihrer massiven Verbreitung sicher nicht allein durch das neue technische Dispositiv erklärbaren neuen Spielmöglichkeiten: den verschiedenen Varietäten des Computerspiels. Die Verbreitung des Computerspiels seit den ersten Spielkonsolen der 1970er Jahre und die in den letzten zwanzig Jahren zunehmende kulturwissenschaftliche Beschäftigung damit haben zum Entstehen eines neuen Forschungsfeldes, wenn nicht einer neuen Disziplin geführt – der Game Studies.9 Über dieses Aufkommen neuer Spielmöglichkeiten, neuer games im oben definierten Sinne hinaus mag aber eine viel umfassendere Erfahrung der Virtualisierung von Lebensbereichen sehr viel bedeutender für die aktuelle Konjunktur des Interesses an Spielphänomenen sein.10 Nicht zuletzt darum, weil

8

Zum spezifisch kulturwissenschaftlichen Umgang mit Spielen siehe ebd. S. 342-372. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht, so Adamowsky, die in ihrem Aufsatz Computerspiele in einer Kultur- und Mediengeschichte des Spiels verortet, sind Spiele „immer und zuallererst Spiele, die gespielt werden“ (ebd., S. 344).

9

Dazu exemplarisch N. Adamowsky: „Game Studies und Kulturwissenschaft“, S. 343344. Adamowsky weist zu Recht darauf hin, dass Computerspiele „im Sinne von Computergames“ nur einen wichtigen, gleichwohl kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum digitaler Spielkultur darstellen.

10 Walz und Deterding etwa diagnostizieren aktuell eine den Alltag erfassende Tendenz zur „Gamification“, die nicht mehr darin bestehe, dass sich Menschen in die virtuelle Welt von Spielen flüchten, sondern dass Spiele [games] in die Welt des Alltags eindringen: Seit Beginn der 2000er Jahre lasse sich eine „ludic reality invasion“ konstatieren. Walz, Steffen P./Deterding, Sebastian: „An Introduction to a Gameful World“, in dies. (Hg.), The Gameful World: Approaches, Issues, Applications, Cambridge, MA u.a.: MIT Press 2014, S. 1-14, hier S. 3. Siehe auch den Beitrag von Zimmerman, Eric: „Manifesto for a Ludic Century“ in demselben Band, S. 19-22.

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im Spiel „die Idee einer ‚virtuellen Realität‘ schon immer angelegt“ 11 ist, fasst man unter Spiel eine innerhalb eines begrenzten Rahmens frei erfundene Welt, die sich von der realen Wirklichkeit emanzipiert. Die Formation einer neuen Disziplin, der Game Studies, setzt historisch in dem Moment ein, als eine ganz anders orientierte Hochkonjunktur nicht der Auseinandersetzung mit Spielen, sondern der Verwendung des Spielbegriffs wieder abflaut. Gemeint ist hier der poststrukturalistische Rekurs auf den Spielbegriff seit den späten 1960er bis zu den frühen 1980er Jahren. Er wurde modisch, um zunächst ganz anders geartete Virtualisierungen zu beschreiben: die Virtualität nicht digitaler Welten, sondern diejenige sprachlicher Zeichen. Die Entkopplung von sprachlichem Zeichen und Bedeutung und die Einsicht in die Entstehung von Bedeutung durch letztlich unendliche Verweisungszusammenhänge der Zeichen untereinander wurde etwa von Jacques Derrida und Roland Barthes als Spiel der Zeichen oder als Spiel des Textes beschrieben.12 An den Spielbegriff in programmatischen Texten des Poststrukturalismus schließt die derzeitige kulturwissenschaftliche Spielforschung gerade nicht an. Vielmehr rekurriert sie vornehmlich auf zwei sehr viel ältere Texte, und zwar Texte, die die kulturwissenschaftliche Spielforschung – kulturwissenschaftlich avant la lettre – überhaupt erst begründen: die 1938 erschienene Studie des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga Homo Ludens: Troeve eener bepaling van het spel-element der cultuur (in der deutschen Übersetzung Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel) und das 1958 publizierte Buch des französischen Soziologen Roger Caillois Les jeux et les hommes: Le masque et le vertige (dt. Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch). Trotz der Spanne von zwanzig Jahren, die zwischen beiden Publikationen liegt, eint diese, dass sich

11 Wetzel, Tanja: „Spiel“, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart: Metzler 2003, S. 577-618, hier S. 615. 12 Derrida, Jacques: „La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines“, in: ders., L’écriture et la différence, Paris: Éd. du Seuil 1967, S. 409-428; Barthes, Roland: „Texte (théorie du)“ [1973], in: ders., Œuvres complètes 2: 19661973. Hg. v. Éric Marty. Paris: Seuil 1994, S. 1677-1694, hier S. 1682. Neben Barthes und Derrida ist v. a. auch Lyotards Anschluss an Wittgensteins sprachpragmatisches Interesse an Spielen im Zuge seiner Überlegungen zum Sprachspiel zu nennen. Zum poststrukturalistischen Spielbegriff siehe Neuenfeld, Jörg: Alles ist Spiel. Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit einer Utopie der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 138ff., mit Fokus v.a. auf Derrida auch Küchler, Tilman: Postmodern Gaming: Heidegger, Duchamp, Derrida, New York u.a.: Peter Lang 1994.

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beide Autoren vor dem Hintergrund der Erfahrung einer ungeheuren politischgesellschaftlichen Krise dem Spiel als einem Bereich der Kultur zuwenden, der auf den ersten Blick von dieser Krise weitestmöglich entfernt ist. Während Huizinga den Homo Ludens im vollen Bewusstsein der Bedrohung, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, schrieb, wandte sich Caillois dem Spiel während des Zweiten Weltkrieges im argentinischen Exil zu, wo er auch Huizingas Buch in der spanischen Übersetzung kennenlernte. Mit Huizingas Homo Ludens und Caillois’ Les jeux et les hommes setzte eine Aufwertung von faktischen Spielen als Kulturelement ein. Zuvor fanden konkrete Spiele zwar in der Pädagogik und Entwicklungspsychologie wissenschaftliche Wertschätzung. Die philosophische Spieltheorie hingegen hatte sich bemüht, den Begriff des Spiels – im Singular – von solchen konkreten Spielen fernzuhalten, und zwar durchaus explizit.13 So mahnte zumindest Schiller in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen an der Stelle, an der er den für seine Abhandlung zentralen Begriff des Spiels einführt: „Freilich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen Leben im Gange sind und die sich gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten.“14 Tatsächlich kann man tendenziell schon an der grammatischen Form, d. h. der Rede von Spiel im Singular oder Spielen im Plural, philosophische Spieltheorien von kulturwissenschaftlichen unterscheiden. Auch wenn der Fokus dieses Beitrags auf kulturwissenschaftlichen Spielkonzepten liegt, ist im Zusammenhang des vorliegenden Bandes ein Blick auf ausgewählte philosophische Spielkonzepte aufschlussreich, wo sie auf den Spielbegriff im Zuge ästhetischer Reflexionen rekurrieren. „Spiel“ wird in der philosophischen Ästhetik um 1800 zu dem zentralen Begriff für die theoretische Entfaltung eines bestimmten Kunstverständnisses, das mit dem Konzept Autonomie verbunden wird, wobei hier der Spielbegriff mit Bezug auf die Rezeption von Kunst eingeführt wird. Die programmatische Verwendung des Spielbegriffs in diesem Sinne setzt ein mit Kant, der diesen auf den ersten Seiten der Kritik der Urteilskraft verwendet, um das Eigentümliche der ästhetischen Erfahrung zu bestimmen, die bei ihm noch die des Schönen ist. Der Begriff des „Spiels“ erfährt hier eine erstaunliche Aufwertung, war in den maßgeblichen Ästhetiken des 18. Jahrhunderts „spielerisch“

13 Eine Ausnahme diesbezüglich stellt Wittgensteins Auseinandersetzung mit Spielen dar, die gerade bei der Verschiedenheit existierender Spielformen ansetzt. Vgl. Anm. 5. 14 Schiller, Friedrich: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert (Hg.), Sämtliche Werke, Bd. 5 Erzählungen/Theoretische Schriften, München: Hanser 41967, S. 570-669, hier S. 617.

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mit Bezug auf Kunstwerke pejorativ konnotiert als kindisch, unnütz, unvernünftig – ganz anders als in der mathematischen Theoretisierung des Spiels, die Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzte.15 Mit Kant löst sich die Ästhetik tendenziell von die Kunstproduktion bestimmenden Regelästhetiken und wendet sich ganz dem Rezipienten zu: Ob etwas schön ist oder nicht, zeige sich allein an einer ganz bestimmten Rezeptionserfahrung. Das Schöne bringe, so Kant, den Rezipienten in einen als lustvoll erfahrenen Gemütszustand. Dieser Gemütszustand bestehe in einem besonderen Zwischenzustand, der auf halbem Wege zur begrifflichen Erkenntnis nicht so sehr steckengeblieben als im Spiel befindlich ist. So heißt es in § 9 in dem Passus, in dem Kant das Spiel einführt: „Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung [des schönen, Lust generierenden Gegenstandes, R.S.] ins Spiel gesetzt werden, sind hierbei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt. Also muss der Gemütszustand in dieser Vorstellung der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse überhaupt sein.“ 16

Was genau hier unter Spiel zu verstehen ist, wird nicht explizit gemacht; gemeint scheint eine Bewegung des Hin und Her. Zumindest ist auch dieser Spielbegriff bestimmt durch die eingangs erwähnte Dichotomie von Freiheit und Regel: Das Spiel ist eine freie Bewegung der Erkenntniskräfte, weil diese angesichts des Schönen nicht ganz so reglementiert sind wie bei der üblichen Verstandestätigkeit. Der Verstand scheitert in der begrifflichen Fixierung, der Zuordnung des wahrgenommenen Gegenstandes zu einem bestimmten Begriff. Stattdessen kommt es zu einem harmonischen Ausgleich der Erkenntniskräfte. Dieser Ausgleich gelingt allein in der Erfahrung des Schönen, weil hier die Unterwerfung

15 So etwa in Gottscheds Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste 1760. Dazu ausführlicher Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel, Heidelberg: C. Winter 1998, S. 159ff. Zur mathematischen Spieltheorie als Methode der Wahrscheinlichkeitsberechnung, die im späten 17. Jahrhundert einsetzte, und ihrem Zusammenhang mit dem Aufkommen einer neuen literarischen Ästhetik, die um 1800 mit dem realistischen Roman Literatur auf Wahrscheinlichkeit verpflichtete, siehe Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen: Wallstein 2002. 16 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werke in zwölf Bänden, Bd. 10, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 111990, S. 132.

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der Einbildungskraft durch die Begriffe des Verstandes ausgesetzt ist – denn das Schöne gefällt ohne Begriff. Dieses Verständnis des Spiels als eines Zustands des harmonischen Ausgleichs, der allein durch das Schöne ermöglicht wird, übernimmt Schiller 1795 in Über ästhetische die Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Der Literaturwissenschaftler Jörg Neuenfeld vermutet, die Attraktion der Spielkategorie liege darin, dass sie eine unbewusste oder verdeckte Bewältigungsstrategie darstelle angesichts einer als problematisch erfahrenen, da sich zunehmend ausdifferenzierenden Lebenswirklichkeit. 17 Ob diese Motivation durchgehend der philosophischen Spieltheorie unterlegt werden kann, will ich hier dahingestellt sein lassen. Für Schillers Rekurs auf den Spielbegriff ist diese Diagnose aber unbedingt zutreffend, skizziert doch Schiller in seiner Abhandlung sehr genau, auf welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen er reagiert: auf das im Terror versinkende Freiheitsversprechen der Französischen Revolution, aber auch auf die problematischen Effekte einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft.18 Schiller stellt nun die These auf, dass sich durch Kunst die gesellschaftlich-politischen Probleme bei der Realisierung von Freiheit beheben lassen. Diese These beruht auf der Charakterisierung des Menschen als sinnlich-moralisches Doppelwesen. Während der Mensch einerseits den Zwängen seiner Natur, andererseits den Gesetzen der Moral ausgesetzt ist, einerseits empfindendes, andererseits denkendes Wesen ist, vermag der Anblick des schönen Kunstwerks, beide eigentlich antagonistischen Seinsweisen zu verbinden und dadurch die mit den beiden Seinsweisen verbundenen Zwänge aufzuheben. Diese in der Kunstrezeption erlangte Freiheit und Harmonie verbindet Schiller mit dem Begriff des Spiels. So heißt es im berühmten 15. Brief: „[D]er Mensch“ – und wir können das verstehen als ‚der ganze Mensch‘ – „soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen.“19 Auch wenn der Mensch hier als ein Spielender entworfen ist, heißt Spiel an dieser Stelle nicht mehr, als dass seine unterschiedlichen Vermögen und Seinsweisen harmonisch in einen Ausgleich gebracht sind. Auch hier finden wir also eine Variante der Dichotomie

17 J. Neuenfeld: Alles ist Spiel, S. 12. 18 Darum wurde Schillers Abhandlung auch als „Vorwegnahme einer Marx’schen Entfremdungsthese“ gelesen. Siehe u.a. Volkening, Heide: „Arbeit am Charakter: Schillers ästhetisches Spiel“, in: Christian Moser und Regine Strätling (Hg.), Sich selbst aufs Spiel setzen: Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung, Paderborn: Fink 2016, S. 67-78, hier S. 68. 19 F. Schiller: „Über die ästhetische Erziehung“, S. 617-618.

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von Freiheit und Regel, wenngleich das Moment der Regel dabei im Gewand anthropologisch bedingter Nötigungen erscheint. Spiel wird damit für Kant wie für Schiller zu einer Denkfigur, die Antagonismen auf eine Weise vereint, dass der Mensch eine Erfahrung individueller Freiheit macht. Der Begriff „Spiel“ fungiert also keineswegs, um eine spezifische Struktur des ästhetischen Gegenstands zu beschreiben, sondern dient allein dazu, eine Seinsweise des ein Kunstwerk wahrnehmenden Subjekts zu fassen, die sich durch ein harmonisches, bewegtes Ineins sonst konträrer anthropologischer Bedingtheiten auszeichnet. Dabei ist diese paradoxe Struktur, die ein im gewöhnlichen Leben unmögliches Sowohl-als-Auch zustande bringt, ein Moment, das quer durch die Disziplinen bis heute mit dem Spiel verbunden wird. Dieser Rekurs auf das Spiel als eine philosophische Denkfigur erfährt bei den Frühromantikern Novalis und Friedrich Schlegel noch einmal eine Ausweitung zur „welterklärenden Generalformel“20 – parallel zu einer Ausweitung des Kunstverständnisses. Allerdings wird der Begriff des „Spiels“ in ihren Schriften nur sporadisch und in wechselnden Zusammenhängen verwendet, und es ist fraglich, inwieweit ihm ein programmatischer Stellenwert zukommt, zumal unter Aktualisierung ganz unterschiedlicher Bedeutungsnuancen des Begriffs unterschiedliche Facetten frühromantischer Poetik entfaltet werden.21 Grundsätzlich wird auch hier das Moment der Freiheit betont in der Forderung nach künstlerischer Autonomie, anders aber als Kant und Schiller haben die Frühromantiker dabei viel stärker auch die Form des Kunstwerks selbst und nicht nur die psychische Disposition der Rezipienten im Blick. Anders auch als Kant und

20 So die Formulierung bei S. Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 220, für die insbesondere Friedrich Schlegels „Gespräch über die Poesie“ [1800] Belegstellen bereithält wie etwa in der Rede einer der fiktionalisierten Gesprächsteilnehmer davon, dass „[a]lle heiligen Spiele der Kunst […] nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk“ seien. Siehe Schlegel, Friedrich: „Gespräch über Poesie“, in: ders., Kritische Schriften, hg. v. Wolfdietrich Rasch, München: Hanser 31970, S. 473-529, hier S. 505. 21 Ruth Sonderegger hingegen argumentiert im Anschluss an Winfried Menninghaus dafür, dem Spielbegriff bei Friedrich Schlegel einen programmatischen Stellenwert zuzusprechen. In der Auseinandersetzung mit Schlegel entwickelt Sonderegger ihrerseits ein Verständnis von Ästhetik, das ästhetische Erfahrung als grundsätzlich spielerisch versteht, als unabhängig von spezifischen Gegebenheiten des Kunstwerks im Modus des Spiels erfolgend. Sonderegger, Ruth: Für eine Ästhetik des Spiels, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2000.

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Schiller, die bei ihrem Spielbegriff ganz von konkreten Spielen absehen und Spiel als abstrakte Bewegungsfigur verstehen, rekurrieren die Frühromantiker zumindest teilweise auch auf sonst pejorative Spielverständnisse, wenn sie die Dimension des Zufalls oder das ‚Kindische‘ und ‚Närrische‘ des Spiels einbeziehen.22 Der philosophische Spielbegriff verliert nach 1800 seine Attraktivität, er findet allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg erneut zu ähnlicher Prominenz. Es ließen sich dafür diverse Ansätze anführen. Mit Blick auf die Künste scheinen mir hier aber vor allem der Philosoph Hans-Georg Gadamer und der Semiotiker Roland Barthes interessant. Grundsätzlich vertreten der Hermeneutiker Gadamer und der Strukturalist Barthes gegensätzliche Positionen, insofern als Gadamer dem Kunstwerk eine Wahrheit zuspricht, der es sich im, wenn auch als unendlich konzipierten, hermeneutischen Prozess des Verstehens anzunähern gilt, wohingegen Barthes der Annahme einer solchen Wahrheit strikt widerspricht. Dennoch rekurrieren beide auf den Begriff des Spiels nicht wie Kant und Schiller, um eine spezifische Gemütsverfassung des Rezipienten angesichts des Schönen zu beschreiben, sondern um – mit Gadamer – „die Seinsweise des Kunstwerkes selbst“ zu fassen.23 Spiel ist hier keine selbständige Aktivität des rezipierenden Subjekts, sondern eine Aktivität des Kunstwerks selbst: Das Kunstwerk ist ein Spiel, bei dem der Rezipient nicht der Spieler, sondern eher der Spielball ist. Hans-Georg Gadamer rekurriert auf den Spielbegriff in Wahrheit und Methode, um die Rezeptionshaltung des hermeneutisch vorgehenden Kunstbetrachters zu charakterisieren, der sich auf das Kunstwerk einlässt, anstelle sich auf die subjektive Qualität seines Kunsterlebnisses zu konzentrieren. „Spiel“ ist auch bei Gadamer etwas Dynamisches, eine Bewegung des Hin und Her, die potentiell unendlich und ohne konkretes Ziel ist: „Die Bewegung, die Spiel ist, hat kein Ziel, in dem sie endet, sondern erneuert sich in beständiger Wiederholung.“24 In diese Bewegung begibt sich der oder die Spielende hinein: Der Spielende, so Gadamer, erfährt das Spiel als eine „ihn übertreffende Wirklichkeit.“25 Spiel ist

22 So in Novalis: „Monolog“ [1798], in: Hans-Joachim Mähl (Hg.), Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, München und Wien: Hanser 1978, S. 438-439. 23 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960], Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck 41975, S. 97. 24 Ebd., S. 99. 25 Ebd., S. 104.

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darum keine Tätigkeit des Subjekts, sondern für das Subjekt eine Erfahrung, die das Ordnungsgefüge des Spiels bereithält.26 Mit ganz unterschiedlichen Grundannahmen bezüglich künstlerischer Werke greift auch Roland Barthes den Spielbegriff auf, um eine bestimmte Rezeptionserfahrung zu beschreiben: Auch Barthes fasst mit dem Begriff „Spiel“ eine Bewegung, die vom Kunstwerk – hier des Textes – ausgeht und die weder vom Autor noch vom Rezipienten kontrolliert werden kann. Es ist die Bewegung der unendlichen Verweisungszusammenhänge sprachlicher Zeichen, die jede definitive Sinnzuschreibung unmöglich machen: „le texte est lu comme un jeu mobile de signifiants, sans référence à un ou à des signifiés fixes“.27 Der Rezipient kann sich dieser Bewegung, diesem Spiel, das potentiell unendlich ist, nur überlassen. Diese theoretische Betonung der Offenheit des Sinns, des Hin und Her einer unabschließbaren Deutungsbewegung kommt nicht von ungefähr. Sie wird von den Künsten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorweggenommen. In den Künsten der Moderne wird die grundsätzlich angelegte Deutungsoffenheit von Kunst dynamisiert und zum Programm gemacht, ja das Spiel mit Deutungsmöglichkeiten wird zum Ausweis ihrer Modernität. Ich werde darauf zurückkommen, möchte aber nach der historischen Skizzierung des Nachdenkens über Spiel in ästhetischen Zusammenhängen zunächst ausgewählte kulturwissenschaftliche Spielkonzepte diskutieren, die ich für die derzeit einflussreichsten und für die Auseinandersetzung mit den Künsten am produktivsten halte.

26 Sonderegger diskutiert ausführlich Gadamers „Hermeneutik des Spiels“ und schließt in ihrem Verständnis des Spiels als potentiell unendliche Bewegung des Hin und Her teilweise an Gadamer an, allerdings indem sie im Rekurs auf Friedrich Schlegel diese Bewegung als Hin und Her zwischen hermeneutischer und antihermeneutischer Rezeption eines Kunstwerks bestimmt und insofern anders lokalisiert. Eine Ästhetik des Spiels besteht laut Sonderegger im Hin und Her zwischen zwei gegensätzlichen und sich gegenseitig auflösenden Rezeptionsformen, einer verstehend-hermeneutischen Sinnkonstitution einerseits und einer nichthermeneutischen Sinnauflösung, in der die Aufmerksamkeit auf das Materiale des Kunstwerks, auch sein willkürliches Gemachtsein gerichtet ist, andererseits. Vgl. R. Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. 27 R. Barthes: „Texte (théorie du)“, S. 1682. Dt.: „der Text wird wie ein bewegliches Spiel der Signifikanten ohne Referenz auf ein oder mehrere feste Signifikate gelesen“; übers. v. R. S.

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KULTURWISSENSCHAFTLICHE SPIELKONZEPTE UND IHR POTENZIAL FÜR DIE ANALYSE VON KUNSTWERKEN Mit der Reduktion des Spiels auf eine philosophische Denkfigur, die wir in der idealistischen Ästhetik Kants und Schillers ebenso finden wie in der poststrukturalistischen Theoriebildung,28 brechen, wie bereits angedeutet, Huizinga und in seiner Folge Caillois in ihrer kulturwissenschaftlichen Hinwendung zu konkreten Spielen. Nichtsdestoweniger stellt auch Huizinga eine weitreichende These auf, geht es ihm doch um nicht weniger als um den Nachweis, dass Spiele nicht nur kulturelle Phänomene unter anderen sind, sondern dass alle Kultur aus dem Spiel entstanden ist und Kultur grundsätzlich Spielcharakter hat. Unabhängig von der Frage, inwieweit Huizinga diesen Nachweis erbracht hat, möchte ich einen Blick auf die gleich zu Beginn seines Buches vorgelegte Definition des Spiels werfen, die außerordentlich einflussreich geworden ist: „Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel […] eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft […]“.29

Auch Huizinga hebt das Ineinander von Freiheit und Regel hervor, wobei Freiheit hier im Sinne einer freiwilligen Handlung verstanden wird. Vor allem aber finden wir in Huizingas Spieldefinition auf allen Ebenen eine Betonung der Grenze, der Abgrenzung des Spiels vom Nicht-Spiel: auf der Ebene von Raum und Zeit, aber auch auf pragmatischer und ontologischer Ebene. Von dem „gewöhnlichen Leben“ abgegrenzt ist das Spiel materiell nutzlos, im Hinblick auf die Alltagsbelange unproduktiv, ist „nicht so gemeint“, ist ein von lebensweltlichen Konsequenzen entlastetes Handeln. Auf den ersten Blick scheint diese Spieldefinition eine ganze Reihe von Anschlussmöglichkeiten an künstlerische Aktivitäten zu bieten. Nehmen wir die

28 Auch in Ruth Sondereggers Spiel-Ästhetik haben wir es noch mit einer solchen abstrakten Figur zu tun. Vgl. Anm. 21 und 26. 29 Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938], Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1987, S. 22.

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Theateraufführung oder die musikalische Darbietung im Konzertsaal: Auch hier führen die Künstler eine Handlung außerhalb des gewöhnlichen Lebens durch, die „sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft“ und „mit der kein Nutzen erworben wird“. Die Rede von einem Außerhalb des gewöhnlichen Lebens ist zweifellos vage und erklärungsbedürftig, und dass diese Handlung als „nicht so gemeint“ empfunden wird, ist für die Theateraufführung plausibler als für das Konzert; gleichermaßen gilt aber sicher, dass diese Handlung den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann. Auch wenn die Darbietung vor Publikum letztlich materielles und/oder symbolisches Kapital schaffen kann, ist die eigentliche künstlerische Tätigkeit ‚unnütz‘. Die Künste haben nun für Huizinga keinesfalls einen herausgehobenen Stellenwert unter den von ihm analysierten Kulturphänomenen; sie werden erst im zehnten von zwölf Kapiteln unter dem Titel „Spielformen der Kunst“ erörtert, im Anschluss an Kapitel zu Spiel und Recht, Spiel und Krieg usw. In seinen Überlegungen zu den „Spielformen der Kunst“ rekurriert Huizinga auf die auch von mir eben genannten Strukturanalogien von Spiel und Kunst, um pauschal die grundsätzliche Spielaffinität künstlerischer Werke zu behaupten. Im Weiteren aber betont Huizinga eine ganz bestimmte Spielform, die er für alle behandelten Künste immer wieder in Anschlag bringt: den Wettkampf. Tatsächlich sieht Huizinga das spielerische Moment der Kunst ganz wesentlich darin, dass Künstler in einen Wettstreit mit anderen Künstlern treten. Dabei ist diese Privilegierung einer einzigen Form von Spielen eigentlich in Huizingas allgemeiner Definition gar nicht angelegt. Doch auch unabhängig von dieser aus meiner Sicht unzureichend begründeten Privilegierung einer einzelnen Spielform bietet Huizingas pauschale Behauptung, alle Kunst sei spielerisch,30 letztlich keinen Ansatzpunkt für die Untersuchung des spezifischen Spielcharakters einzelner Werke, erst recht nicht nichtaufführungsbasierter Kunstwerke. Schon Huizingas Betonung des agonistischen Charakters der Künste fokussiert letztlich das Moment künstlerischer Interaktion, ohne das einzelne Werk zu berücksichtigen. Aber auch seine allgemeine Definition von Spiel, so plausibel sie ist, bietet für die Analyse von Kunst keinerlei Werkzeug, weil sie nur die Einsicht zulässt, alle Kunst sei wesentlich Spiel. Dennoch ist laut Huizinga nicht aller Kunst solch ein Spielcharakter in gleichem Maße zu eigen: Mit Blick auf die Kunst der Moderne konstatiert Huizinga einen Verfall der Spielqualität, und die Geschichte der Künste ist für ihn letztlich eine Verfallsgeschichte ob einer zunehmenden Distanz zum Spiel.

30 Siehe insb. ebd. S. 173.

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Gleichwohl bieten sich die Elemente aus Huizingas Definition für die Reflexion einzelner Werke an, womöglich aber eher als Ausgangs- und Abstoßungspunkt: Ich denke hier vor allem an das von mir eingangs angesprochene und bei Huizinga so betonte Moment der Grenze – in räumlicher, zeitlicher, pragmatischer und ontologischer Hinsicht. So spielen etwa metafiktionale Romane nicht nur innerhalb der, sondern auch mit den Grenzen der Fiktion, ziehen den Leser in ein Spiel mit ontologischen Ambivalenzen.31 Auch Marcel Duchamps rotierende Scheiben, die an optische Spielzeuge erinnern und von denen er Spielzeugversionen zum Verkauf herstellte, hinterfragen, wie schon seine Readymades, Wesensbestimmungen und Grenzen der Kunst. 32 Und neuere Theaterarbeiten, gerade solche, die den Spielcharakter des Geschehens über das im engeren Sinne theatrale Spiel hinaus ausweiten, indem sie ihren Aufführungen operative Spielanordnungen zugrunde legen,33 aber auch schon die Happenings der 1950er und 60er Jahre problematisieren nicht nur die Grenzziehung zwischen Spiel und demjenigen, von dem das Spiel konventionell als Nicht-Spiel abgegrenzt scheint – Alltag, Ernst, Handeln mit Konsequenzen –, sondern stellen

31 Zur Metafiktionalität als Spiel, das die Rahmungen von Fiktionen problematisiert, bricht und verschiebt, siehe u.a. Mader, Ilona: „Metafiktionalität als Spiel mit Fiktionsrahmen“, in: Julia Dettke/Elisabeth Heyne (Hg.), Spielräume und Raumspiele in der Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 65-84. 32 Dazu ausführlicher Grøtta, Marit: „Playing with Optical Toys. Techniques of Visual Play from 19th Century Popular Culture to Marcel Duchamp“, in: Christian Moser/Regine Strätling (Hg.), Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung, Paderborn: Fink 2016, S. 347-360. 33 Ein viel diskutiertes aktuelleres Beispiel wäre etwa Ferdinand von Schirachs Stück Terror, das ein fiktives Schwurgericht auf die Bühne bringt und einen fiktiven Fall verhandelt, wobei die Zuschauer durch Abstimmungsmöglichkeiten auf den Gang der Verhandlung und das Urteil Einfluss nehmen. Aufschlussreich zum Spielcharakter aktueller Performances sind die methodischen Überlegungen von Männel, Juliane: „‚Put theater at play‘: Spielanordnungen im Theater. Aktuelle Tendenzen und methodische Fragen an Aufführungen als Spiel-Situationen“, in: Christoph Hust (Hg.), Digitale Spiele. Interdisziplinäre Perspektiven zu Diskursfeldern, Inszenierung und Musik, unter Mitarbeit v. Ineke Borchert, Bielefeld: transcript 2018, S. 205-218. Männel schlägt die kritische Befragung des Begriffs „Game Theatre“ vor, der bisher allein auf solche Performances beschränkt sei, die in der einen oder anderen Weise in ihrer Gestaltung auf Computerspiele, deren Erfahrungsmodi und deren Ästhetik bezogen sind, jedoch die neueren Tendenzen, Aufführungen wie Spielsituationen unter aktiver Einbeziehung des Publikums zu gestalten, nicht berücksichtigt.

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auch den tradierten Kunstbegriff zur Disposition. Der Ansatz, Spiel als ein durch Rahmungen modelliertes Phänomen zu fassen, ist zweifellos produktiv, sei es zur Bestimmung des frei und spontan gestalteten Als-ob-Spiels, das durch die metakommunikative Rahmung „das ist Spiel“ eine paradoxe Kommunikationssituation schafft,34 sei es zur Definition des durch konventionelle Regeln geschaffenen Spiels, dessen Regelwerk einen Spielraum und eine Spielzeit rahmt und diese damit absondert vom Raum- und Zeitkontinuum des ‚gewöhnlichen Lebens‘. Dennoch besteht nicht nur das Spannende und Unterhaltende, sondern vor allem auch der ästhetische Reiz der eben genannten künstlerischen Formen nicht so sehr in der eindeutigen Rahmung eines Geschehens, das als Spiel ausgewiesen wird, sondern darin, dass das Spiel den Vorgang der Rahmung selbst erfasst: Es sind Spiele mit spezifischen Rahmungen.35 Sämtlichen bisher vorgestellten Spielkonzepten – seien es die philosophischen Spielkonzepte Kants und Schillers, die der Frühromantiker oder diejenigen Gadamers und Barthes’, sei es das kulturwissenschaftliche Konzept Huizingas – ist ihr universalistischer Charakter gemein. Genau das ist bei dem Ansatz von Roger Caillois anders, und das macht Caillois’ Buch Les jeux et les hommes bis heute so attraktiv und produktiv in den Kunst- und Kulturwissenschaften. Caillois schließt zunächst beinahe nahtlos an Huizingas allgemeine Spieldefinition an, wenn er das Spiel mit Hilfe einer Reihe formaler Eigenschaften definiert. Auch Caillois situiert das Spiel im Spannungsfeld von Freiheit und Regel: Übereinstimmend mit Huizinga begreift auch er das Spiel als „eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann“ und die in einer zeitlich und räumlich eingegrenzten, von den nützlichen Geschäften des Alltags

34 Siehe dazu Bateson, Gregory: „A Theory of Play and Fantasy“ [1955], in: ders., Steps to an Ecology of Mind: Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Epistemology, Northwale, NJ: Aronson 1987, S. 177-193. Bateson zeigt in seiner Arbeit über die kommunikative Struktur des Spielraums, dass im Spiel logische Paradoxien nicht aufgelöst werden, sondern vielmehr eine paradoxale Struktur das Spielgeschehen überhaupt erst konstituiert. 35 Natascha Adamowsky geht so weit, das Rahmenmodell als inadäquat für ein Verständnis von Spielphänomenen zu bestimmen und stattdessen das Wesentliche aller Spiele als Spiel mit Rahmungen zu fassen. Mir scheint es produktiver, nicht beide Konzepte als einander ausschließend zu verstehen, sondern letzteren Aspekt als Spezifikum bestimmter Spielformen zu begreifen, zu denen auch ludische Kunstwerke gehören können. Adamowsky, Natascha: Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt a. Main/New York: Campus 2000, S. 38.

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gesonderten Sphäre nach eigenen Regeln abläuft.36 Auch Caillois hebt also das Schaffen einer fiktiven oder zumindest anderen Wirklichkeit im Spiel hervor ebenso wie das Beruhen des Spiels auf einer Grenzziehung, einer zeitlichen und räumlichen Separierung. Während sich diese Aspekte mit Huizingas Überlegungen weitgehend decken, kommt als neuer und mit Blick auf die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts immens wichtiger Aspekt die Ergebnisoffenheit von Spielen hinzu. Die Produktivität der Studie von Caillois für die Kunst- und Kulturwissenschaften ist jedoch meines Erachtens eher darin begründet, dass er nicht mit einem generalisierenden Spielkonzept operiert, sondern eine Klassifikation unterschiedlicher Spieltypen vorschlägt. Nun ist Caillois mitnichten der erste, der sich an einer solchen Klassifikation versucht. Vor allem im Bereich der Pädagogik und Kinderpsychologie finden sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreiche Versuche der Gliederung verschiedener Spielphänomene mit jeweils eigenen Gewichtungen.37 Mit Blick auf diese frühen Arbeiten liegt der Gewinn der Caillois’schen Klassifikation für die heutigen Kunst- und Kulturwissenschaften meines Erachtens darin, dass er die Bandbreite empirischer Spiele gerade nicht

36 Siehe Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, Berlin: Matthes & Seitz 2017, S. 30-31, Zitat S. 30. Franz. Original: Les jeux et les hommes: Le masque et le vertige, Paris: Gallimard 1967, S. 42-43, Zitat S. 42: „une activité […] libre […] à laquelle le joueur ne saurai être obligé“. Caillois kommt jedoch zu einer anderen Einschätzung der affektiven Wirkung des Spiels als Huizinga. Während Huizinga zwar wie Caillois das Spiel als notwendig freiwillige Handlung definiert, geht er, anders als Caillois, davon aus, dass der Spielende den Spielcharakter seines Spiels aus den Augen verlieren kann: Spiele können den Spielenden in Bann schlagen und bis zum Äußersten, ja bis in den Tod führen. 37 Einen Überblick über die Ansätze zur Klassifikation vor allem in der pädagogischen und kinderpsychologischen Spielforschung im deutschsprachigen Raum gibt – gleichfalls mit Blick auf pädagogische Überlegungen – Scheuerl, Hans: Das Spiel: Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen [1954], Weinheim und Basel: Beltz 1973, S. 137-142. Im Folgenden stellt Scheuerl seine eigene Gliederung in Bewegungs-, Leistungs-, Darstellungs- und Schaffensspiele vor. Scheuerl charakterisiert in seiner vier Jahre vor Caillois’ Studie publizierten Schrift das Wesen des Spiels als bestimmt durch sechs Momente: Freiheit, innere Unendlichkeit, Scheinhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit. Wegen des Fokus’ vorliegenden Aufsatzes auf die philosophische und kulturwissenschaftliche Spielreflexion kann an dieser Stelle nicht ausführlicher auf Scheuerl eingegangen werden.

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nach Spieltypen sortiert wie beispielsweise nach einsamen und geselligen Spielen oder sensorischen und motorischen Spielen oder auch Kartenspielen, Geschicklichkeitsspielen etc. Die Kategorien seiner Klassifikation sind vielmehr abstrakte Prinzipien, in Caillois’ Terminologie agon (Wettkampf), alea (Zufall), ilinx (Rausch/Taumel) und mimikry (Verstellung). Diese vier Prinzipien können durch Spiele mehr oder weniger in Reinform verkörpert werden, sie können aber auch in eine Kombination gebracht werden. Gleichsam quer dazu führt Caillois eine weitere, binäre Unterscheidung ein, diejenige zwischen paidia und ludus. Während paidia mit Vergnügen, Ausgelassenheit, freier Improvisation und impulsiver Lebensfreude verbunden ist, markiert ludus den entgegengesetzten Pol: Disziplinierung, Hemmung anarchischer Bewegung und Errichtung von Hindernissen. Caillois’ Unterscheidung deckt sich also weitgehend mit der eingangs erwähnten Differenzierung von play und game. Diese beiden entgegengesetzten Tendenzen wirken innerhalb der vier Prinzipien, sodass beispielsweise Spiele nach dem Prinzip der mimikry die Form freier Improvisation annehmen, aber auch streng reglementierten Formen unterworfen sein können. Der Vorteil dieser Klassifikation mit Blick auf spielerische Kunstwerke ist, dass sie erlaubt, nicht einfach nur pauschal und mehr oder weniger diffus deren Spielcharakter zu behaupten oder zu bestreiten, sondern ein Instrumentarium bereitstellt für die präzise Beschreibung sowohl struktureller Phänomene wie auch Modi des Produktions- oder Rezeptionsprozesses und deren affektiver Komponenten. Was sich durch Caillois’ Klassifikation erschließt, ist darüber hinaus die Modellhaftigkeit von Spielen. Spiele dienen als Modelle, indem sie die unseren Alltag bestimmenden Prinzipien gleichsam in Reinform verkörpern. So versuchen etwa viele Spiele, die dem Prinzip agon gehorchen, künstlich eine vollkommene Gleichheit der Chancen herzustellen und jeden Zufall, der Ungleichheit zwischen den Wettstreitenden schaffen könnte, auszuschalten. Wettkampfspiele verkörpern so einen Zustand idealer Chancengleichheit, wie er außerhalb der Grenzen des Spiels nie gegeben ist. Auch Spiele, die sich vollkommen dem Prinzip alea verschreiben, verabsolutieren ein Prinzip, das unseren Alltag prägt, aber außerhalb der Grenzen des Spiels kaum in solcher Reinform anzutreffen ist, weil wir etwa durch Übung oder Geschicklichkeit die Macht des Zufalls zu bannen versuchen. So heißt es bei Caillois: „Im Leben gibt es nichts Klares oder Eindeutiges. Alles ist von Anbeginn an undurchsichtig, die Chancen wie die persönlichen Leistungen. Das Spiel, sowohl agon als auch alea, ist somit ein Versuch, die normale Verworrenheit des Alltagslebens durch einen Idealzustand zu ersetzen. […] Auf die eine wie auf die andere Art entflieht man der Welt, indem man sie

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zu einer anderen macht. Man kann ihr aber auch entfliehen, indem man sich zu einem anderen macht. Dem entspricht die mimikry.“38

Man kann hinzufügen: Auch ilinx ist ein Spielprinzip, bei dem die Welt verändert wird, weil man sich selbst verändert, indem man sich durch „Taumelspiele“ in einen rauschhaften oder tranceartigen Zustand bringt. Wenn Spiele Modellcharakter haben und Aspekte des Lebens gleichsam im Idealzustand anschaulich machen, dann weil sie zugleich auf das Leben bezogen wie davon abgehoben sind.39 Demgegenüber muss jedoch sogleich betont werden, dass diese Modellierung nicht in die Abstraktion mündet, sondern in eine reiche ästhetische Formproduktion, die zum Faszinationspotenzial von Spielen beiträgt. In dieser Kombination aus ästhetischer Formenproduktion und Modellhaftigkeit besteht eine grundsätzliche Nähe des Spiels zu den Künsten, wobei allerdings für das einzelne Kunstwerk immer noch genau zu bestimmen wäre, wie der jeweilige Bezug auf das Leben denn eigentlich gestaltet ist. Wird Caillois’ Klassifikation bis heute in den Kunst- und Kulturwissenschaften außerordentlich viel verwendet und zitiert, bleibt der eigentliche kulturwissenschaftliche Teil seiner Studie, in welchem er aus der Analyse der jeweils dominanten Spielformen Aussagen über bestimmte Gesellschaftsformen trifft, wenig beachtet. Während seine Klassifikation der Spiele alle vier Prinzipien als gleichberechtigt, wenngleich nicht als gleichermaßen ungefährlich nebeneinander stellt, versuchen sich der zweite Teil der Studie und insbesondere die Appendices an einer Genealogie kultureller Stile,40 welche jeweils mit der Präferierung bestimmter Spielformen einhergehen. Caillois macht dabei einen historischen Vorgang aus, „in dessen Verlauf die Welt der Maske und der Ekstase durch die der Leistung und des Glückes ersetzt wurde.“41 Er versteht diesen „Verlauf“ als

38 R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 42-43. Franz. Original: „Car rien dans la vie n’est clair, sinon précisément que tout y est trouble au départ, les chances comme les mérites. Le jeu, agôn ou alea, est donc une tentative pour substituer, à la confusion normale de l’existence courante, des situations parfaites. […] De l’une ou de l’autre façon, on s’évade du monde en le faisant autre. On peut aussi s’en évader en se faisant autre. C’est à quoi répond la mimicry.“ R. Caillois: Les jeux et les hommes, S. 60. 39 Ingeborg Heidemann prägt für diesen Status eines ‚Zwischen‘ den Begriff der „ontologischen Ambivalenz“. Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spieles und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart, Berlin: de Gruyter 1968, S. 10. 40 Siehe R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 180, franz. Original S. 281. 41 Siehe ebd., S. 102-103, (im franz. Original: „la substitution capitale qui remplace le monde du masque et de l’extase par celui du mérite et de la chance“, S. 154)

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Fortschrittsgeschichte, deren Motor das Leistungsprinzip agon ist, wohingegen sich die fatalistische Hingabe an alea bei denjenigen findet, die zwar schon „dem Reich der Verstellung und der Trance […] entrissen“ wurden ob der Berührung mit Völkern und ob der Beherrschung durch Völker, die sich „dank einer langen und mühevollen Entwicklung schon vor Zeiten von der infernalischen Hypothek gelöst haben“, aber für den „Sprung“ zum Prinzip agon noch nicht hinreichend vorbereitet sind.42 Dieses Verdikt über mimikry und ilinx als „infernalische Hypothek“ irritiert bei Caillois umso mehr, als gerade die Berücksichtigung der traditionell wenig gewürdigten, dem Prinzip ilinx gehorchenden „Taumelspiele“ seine Studie zumindest in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Rezeption besonders auszeichnet.43 Durch die Aufnahme der Taumelspiele in den Stand untersuchungswürdiger Spiele unterscheidet sich Caillois’ Arbeit auch von einer beinahe zeitgleich publizierten und in manchem der seinen ähnlichen, dabei aber in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Rezeption deutlich weniger populären Arbeit über Spiele: die 1953 erschienene Studie des Schriftstellers und Essayisten Friedrich Georg Jünger Die Spiele: Ein Schlüssel zu ihrer Bedeutung. Auch Jünger, der sich im Übrigen gleichfalls vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Politik, die für ihn eine Radikalisierung moderner Technophilie und modernen Rationalismus darstellte, den Spielen zuwandte, entwirft eine Klassifikation der Spiele. Diese kennt allerdings nur drei Kategorien: das „auf Zufall abgestellte Glücksspiel“, das „auf Geschicklichkeit abgestellte Geschicklichkeitsspiel“ und die „auf Ahmung abgestellten vorahmend-nachahmenden Spiele“, zu denen auch die Künste, darunter insbesondere Musik und Tanz, gerechnet werden, trotz der für ihre Ausübung erforderlichen Geschicklichkeit. Ilinx hat hier keinen Platz; zu sehr war vielleicht für Jünger der Taumel mit dem Nationalsozialismus verbunden. Was an Jüngers Spiel-Buch aber – gerade mit Blick auf neueste kulturwissenschaftliche Spielbegriffe wie auch die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts – interessant ist, ist sein Begriff der Ahmung, den er dem ungebräuchlich gewordenen Verb „ahmen“

42 Alle Zitate ebd., S. 180. Im franz. Original lautet der entsprechende Satz: „Il arrive en particulier que des populations se trouvent soudain arrachées à l’empire du simulacre et de la transe par le contact ou par la domination de peuples qui, depuis longtemps, grâce à une lente et difficile évolution, se sont dégagés de l’hypothèque infernale.“, S. 281. 43 So wurde etwa für ein 2010 an der HU Berlin gegründetes kulturwissenschaftliches Periodikum unter Berufung auf Caillois der Begriff ilinx titelgebend.

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nachbildet.44 Viel stärker als Caillois mit seiner Kategorie der mimikry begreift Jünger Spiele nicht nur als nachahmend, sondern auch als „vorahmend“: Nicht nur wiederholen Spiele nachahmend Fertiges, Vorhandenes, vergangene Bewegungen (Ahmung ist bei Jünger notwendig an den Vollzug einer Bewegung gebunden), sondern Spiele können sich auch vorahmend auf ein zukünftiges Geschehen beziehen und sich dieses aneignen. In ihrer vorahmenden Qualität sind Spiele schöpferisch.45 Gerade dieser schöpferische Aspekt von Spielen wird in neueren kulturwissenschaftlichen Spielkonzepten betont, wenngleich nur selten mit Bezug auf Jüngers Überlegungen.46 So argumentiert etwa die Kulturwissenschaftlerin Natascha Adamowsky, dass der immer wieder in der Spieltheorie beschworene Aspekt der Spielregel sekundär sei, viel wesentlicher sei, dass Spiele eine „Bewegung ins Ungedeckte und Nicht-Identische“ darstellen: 47 „[Spiel] hat ein bemerkenswertes Vermögen, Disparates in gestaltbare Formen zu bringen. Unbestimmtes, Vagheiten, Namenloses findet performative Vollzüge, aus denen ästhetische Figuren entwickelt werden können. Das Spiel stellt eine Verfahrensweise zur Verfügung, Zusammenspiele zu ermöglichen, und es ist gleichsam der Versuch, sich etwas in seiner Bewegung in Zeit und Raum zur Erscheinung zu bringen und damit eine Verbindung zwischen sich selbst und diesem Etwas zu schaffen. In dieser Verbindung erweist sich das Spiel als ein Weg des vitalen Erkennens.“48

44 Jünger, Friedrich Georg: Die Spiele. Ein Schlüssel zu ihrer Bedeutung. Frankfurt a. Main: Klostermann 1953, S. 47ff. 45 Auch Caillois begreift mimicry als „invention incessante“ (R. Caillois: Les jeux et les hommes, S. 67), als „unaufhörliche Erfindung“ (R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 46), betont in seinen Beispielen aber doch vor allem die Nachahmung. 46 Eine der wenigen mir bekannten Studien, die an Jünger anknüpfen, ist Wolfgang Isers anthropologisch grundierte Theorie der literarischen Fiktion, siehe Isers, Wolfang: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. 47 Adamowsky, Natascha: „Von der Kunst des Findens und dem Spiel des Zeigens: Übungsformen der Subjektivität“ in: Regine Strätling (Hg.), Spielformen des Selbst: Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld: transcript 2012, S. 59-75, hier S. 62. 48 Ebd., S. 64.

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SPIELKONZEPTE MIT BLICK AUF KÜNSTLERISCHE FORMEN UND PROZESSE In dieser schöpferischen Bewegung ins Offene, die Spiele haben können, liegt zweifellos ihre Nähe zu Formen der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Einiges spricht dafür, dass gerade ihre Eigenschaft, die Prozesshaftigkeit eines Geschehens und dessen affektive Wirkung auf die Beteiligten und nicht dessen Resultat in den Vordergrund zu rücken, das Spiel so attraktiv gemacht hat für moderne Ästhetiken, die die Genese und die Ereignisqualität künstlerischer Aktivität gegenüber der Ordnung des Werks aufwerten.49 Attraktiv ist das Spiel bzw. sind bestimmte Spiele sowohl als Beschreibungskategorie wie als ideeller Bezugspunkt wie auch als konkrete formale Inspiration für das jeweilige Schaffen. Zwar teilt Kunst in dem Maße, wie sie fiktionale Welten eröffnet, ohnehin mit dem Spiel das Moment der Schaffung einer Welt des Als-Ob, der Illusion; und etymologisch bedeutet der Begriff der Illusion – in lusio – nichts anderes als ‚im Spiel sein‘. Über diese schon im Zusammenhang mit Huizingas Homo Ludens angedeutete grundsätzliche Affinität von Kunstwerk und Spiel, die darin besteht, dass beide „außerhalb des gewöhnlichen Lebens“ stehen und im Hinblick auf Zeit und Raum begrenzt sind, hinaus entwickelt die Kunst der Moderne jedoch Verfahren, die sich programmatisch mit anderen Aspekten und Formen des Spiels verbinden als nur im Hinblick auf die Schaffung einer Realität, die von der ‚realen Realität‘ abgehoben ist. Auch der Aspekt des Wettstreitens, den Huizinga so hervorhob, ist dabei allenfalls sekundär. Wo die seit dem 18. Jahrhundert tradierten Kategorien der Kunstproduktion und -rezeption – die Kategorie des organischen, geschlossenen Werkes ebenso wie die der genialischen Autorität des Künstlers – zur Disposition gestellt werden, wird der Einbezug spielerischer Dimensionen in das künstlerische Schaffen zum Modus, diese Kategorien zu reflektieren und zu ironisieren, den bis dahin gültigen Regelkanon zu hinterfragen, Grenzziehungen zu problematisieren und zu neuen Formen der Kunstproduktion zu finden. Unter den diversen Formen der Ludifizierung der Kunst und ihrer Effekte im Hinblick auf Kunstkonzepte möchte ich folgende hervorheben:

49 Dazu Bätzner, Nike (Hg.): Faites vos jeux. Kunst und Spiel seit Dada. Ausstellungskat., Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2005, darin insbesondere der Beitrag von Lüthy, Michael: „Der Einsatz der Autonomie: Spieldimensionen in der Kunst der Moderne“, S. 37-46.

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• Die Ausstellung der Prozessualität der Genese eines Kunstwerks und/oder der









Ergebnisoffenheit seines Verlaufs problematisiert den traditionellen Werkbegriff. Wenn dem Zufall Raum gegeben wird – sei es durch ein spezifisches, den Entstehungsprozess betreffendes Setting, sei es durch eine Interaktion mit den Rezipierenden, welche diesen einen Handlungsspielraum zugesteht, oder sei es durch den Einsatz technischer Kompositionshilfen –, berührt dies die Konzeption des Künstler-Subjekts: Aleatorische Werke unterlaufen Vorstellungen einer das Werk kontrollierenden auktorialen Instanz. Kunstwerke, in denen die aktive Partizipation der Rezipienten angelegt ist, reflektieren nicht nur traditionelle Rezeptionsmodelle, sondern verhandeln auch die Grenze zwischen künstlerischen Formen und alltäglichen Handlungsweisen. Ludische Kunstformen zeichnen sich oft durch ein explizit gemachtes und in seiner Künstlichkeit ausgestelltes Regelwerk aus, das die Produktion oder den Verlauf des jeweiligen Werkes leitet. Dessen Spielregeln ergänzen oder treten an die Stelle der überkommenen und mehr oder weniger impliziten Regeln der Kunst wie etwa die Regeln der Gattung oder Vorgaben für die Rezeption usw. und reflektieren damit tradierte Konventionen. Der Einbezug von Spielgerät (Spielkarten, Puppen, Brettspielen etc., aber auch Computerspielen) problematisiert die Grenze zwischen Hoch- und Alltagskultur.

Kunstwerke, die die Ergebnisoffenheit ihres Verlaufs hervorheben, ja ein gleichsam laborhaftes Setting präsentieren, scheinen dabei ebenso sehr dem Experiment wie dem Spiel verpflichtet. Was allerdings das Spiel vom Experiment unterscheidet, ist die Rolle der Beteiligten: Während des Spiels geht der Spielende im Spielgeschehen auf und analysiert das Spielgeschehen nicht von außerhalb wie im Experiment. Der Einbezug spielerischer Momente führt insbesondere zu künstlerischen Formen, für die Umberto Eco Ende der 1950er Jahre den Begriff des „offenen Kunstwerks“ geprägt hatte. Er bezog sich damit auf Werke, für die die grundsätzliche Mehrdeutigkeit ihrer jeweiligen Bedeutungsträger (bzw. Signifikanten) programmatisch wird und deren Formen einer Erfahrung der Welt als „Geflecht von Möglichkeiten“50 Rechnung tragen. Vor allem aber ist Spielförmigkeit auffällig in der Untergruppe derjenigen „offenen Kunstwerke“, die Eco „Kunstwerke

50 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 201 (Im Original: Eco: Opera aperta: Forma i indeterminazione nelle poetiche contemporanee, Mailand: Bompiani 1962, S. 199-200: „un nodo di possibilità“).

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in Bewegung“ („opere in movimento“) nennt, wobei diese Bewegung durch Aleatorik oder aktive Partizipation der Rezipienten entsteht. Ohne dass Eco den Spielbegriff leitend eingesetzt hätte, ist doch auffällig, wie häufig er immer wieder auf verschiedene Spiele rekurriert zur Beschreibung der gesteigerten Offenheit, die „Kunstwerke in Bewegung“ charakterisiert, etwa in der Beschreibung zweier Kompositionen Stockhausens und Berios, mit der seine Ausführungen zur Poetik des offenen Kunstwerks einsetzen und die er als „Zusammensetzspiel“ („un meccano“ im Original, also eher ein Baukastenspiel) bezeichnet. 51 Heutige spielästhetische Untersuchungen heben denn auch zumeist eher Aspekte solcher Offenheit in Werken hervor, als dass sie auf die Spielkonzepte der (frühen) philosophischen Spielreflexion rekurrieren. So etwa Marion Hohlfeldt, die in ihrer Studie über das Künstlerkollektiv GRAV untersucht, wie künstlerische Formen, die die aktive Interaktion mit dem Rezipienten provozieren, die Grenze zwischen Kunst und Alltag verschieben – ohne sie gleichwohl aufzuheben.52 Dass gerade aleatorische Momente die Grenzen dessen, was als Kunst gilt, erproben, betont auch Holger Schulze – der zugleich das Aleatorische als genuin ludisch erfasst –, wenn er ausführt, dass „die nichtintentionale Werkgenese […] mit dem aleatorischen Spiel die untere Grenze dessen [markiert], was von Künstlern des 20. Jahrhunderts noch als Kunstwerk angesehen wird.“ 53

OFFENHEIT UND REGELN IN TRÄUMLABOR Abschließend möchte ich anhand eines Beispiels einige der behandelten Aspekte noch einmal explizieren und dabei auch das Potenzial der vorgestellten Spielkonzepte erörtern. Vor allem aber zeigt das Beispiel, wie die Integration bestimmter Elemente, die ich als Spielelemente bezeichnen möchte, zu einem Spiel mit Grenzziehungen wird, insbesondere denjenigen zwischen Kunst und Alltag sowie zwischen Künstler und Publikum. Bei diesem Beispiel handelt es sich um das Stück Träumlabor des Performance-Kollektivs She She Pop, das 2010 unter anderem am Berliner Hebbel

51 Ebd., S. 31 (im Original S. 35). 52 Hohlfeldt, Marion: Grenzwechsel: Das Verhältnis von Kunst und Spiel im Hinblick auf den veränderten Kunstbegriff in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit einer Fallstudie: Groupe de Recherche d’Art Visuel, Weimar: VDG 1999. 53 Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel: Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, München: Fink 2000, S. 18.

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am Ufer gezeigt wurde und sich laut Website der Gruppe an „jugendliche ZuschauerInnen“ richtete.54 Wohl war in der von mir gesehenen Aufführung altersmäßig kein einziger Jugendlicher und keine einzige Jugendliche unter den Zuschauern, die Ankündigung lässt sich aber vielleicht auch dahingehend deuten, dass die Performance das Junggebliebene in den erwachsenen Zuschauern adressiert. Dass es in der Performance um den Traum als etwas Nicht-Fertiges, etwas Prozessuales und im Entstehen Befindliches geht, deutet schon der Titel an, der von dem Begriff des „Traumlabors“ die experimentalwissenschaftlichen Konnotationen und die Evokation einer diesen entsprechenden Räumlichkeit bewahrt, in der Wendung „Träumlabor“ den Begriff jedoch dynamisiert und in der Annäherung an das Verb „träumen“ die Verlaufsform hervorhebt. Das Stück ist interaktiv angelegt: Ausgewählte Zuschauer werden von Performerinnen, die als Laborantinnen gewandet sind, auf die Bühne geholt und aufgefordert, einen Traum zu erzählen. Dabei erfolgt die Auswahl der Zuschauer nach dem Zufallsprinzip, genauer mithilfe eines Spiels, welches das Memory-Spiel mit einer Variante der Spiele kombiniert, in denen das Abbrechen von Musik oder allgemeiner das Abbrechen einer Bewegung eine Entscheidung im Spiel herbeiführt, wie das etwa bei der Reise nach Jerusalem oder dem Stopptanz der Fall ist, wo Musik abbricht, oder im Roulette, wo die Bewegung einer Kugel endet: Auf den auf der Bühne aufgebauten Leinwänden sind drei Performerinnen zu sehen, die bei eingespielter Musik mit Memory-Karten hantieren, auf denen Kleidungsstücke, Frisuren usw. zu sehen sind. Wenn die Musik abbricht, wird im Publikum nach einer Person gesucht, bei der sich die Elemente der aufgedeckten Karten finden. Die so ermittelte Person wird auf die Bühne gebeten und aufgefordert, einen Traum zu erzählen. Diesen setzen die Performerinnen ad hoc in Szene, indem sie sich durch Verkleidungen in das Personal des Traums verwandeln. Zusätzlich werden durch ein technisches Equipment, das am Bühnenrand gut sichtbar aufgebaut ist, passende Klänge produziert und mit Hilfe eines Fundus an Materialien Bilder generiert, die auf die auf der Bühne aufgestellten Leinwände projiziert werden. Aus dem Trauminterview wird so ein Geschehen in improvisierten Szenen, Bildern und Klängen, in dem der Träumende mitspielt. Dementsprechend heißt es auf der Website der Gruppe über die Performance: „Der oder die träumende ZuschauerIn führt Regie, ist gleichzeitig ZuschauerIn und MitspielerIn in seinem bzw. ihrem Traum-Clip.“55 Dieses operative Programm mit seinen unterschiedlichen Phasen wird im Laufe der

54 https://sheshepop.de/traeumlabor/ vom 20.9.2018. 55 Ebd.

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Performance mehrfach durchgespielt, sodass sich ein gleichbleibendes Regelwerk in alternative Verläufe auffächert. Das Stück besteht somit aus einem genau kalkulierten Ineinander von festen Elementen und Variablen. Bestimmte explizit gemachte Regeln für den Verlauf und ein Fundus an Materialien stellen einen Ordnungsrahmen bereit, innerhalb dessen ein Geschehen im Sinne von play ablaufen kann. Dessen Verlauf ist offen, und nicht nur durch die Spielregeln provisorisch eingegrenzt, sondern durch die Regeln überhaupt erst ermöglicht. Der Spielverlauf gewinnt dadurch an Komplexität, dass der Zufall, nicht zuletzt durch Einbezug konventionellen Spielgeräts, programmatisch in das Stück eingebaut ist. Zuschauerpartizipation und Integration des Zufalls schaffen eine Offenheit, die eine unendliche Zahl möglicher Realisierungen zulässt. Vermöge dieser programmierten Schaffung von Neuem wird Spannung generiert, sodass auch innerhalb einer ‚Aufführung‘ mehrere ‚Runden‘ gespielt werden können, ohne in Langeweile zu münden. Die Spannung ergibt sich also nicht aus einem Eintauchen in die Illusion eines fiktiven Geschehens, dessen Fortgang und Ausgang dem Zuschauer zunächst verborgen ist, sondern wesentlich aus der konstitutiven Offenheit und Unvorhersehbarkeit des Verlaufs. Eine Immersion in fiktionalen Welten wird auch dadurch verhindert, dass die Gemachtheit der szenischen Improvisationen stets ausgestellt bleibt. Wenn schon das Träumen in Als-Ob-Welten führt, dann führt das Aufführen von Träumen in dieser Performance nicht zu einer gesteigerten Immersionserfahrung, sondern zu einer Markierung der unterschiedlichen Modi, ein Als-Ob herzustellen. Dabei ‚spielt‘ – im Sinne einer eingeklammerten Evokation – die Performance durchaus mit simplifizierenden kunstpsychologischen Analogisierungen zwischen (Tag-)Traum und Kunst,56 wenn der erzählte Traum umgehend in ein Bühnengeschehen mit Regieanweisungen transformiert wird. Nichtsdestoweniger ergibt sich die Spannung, die die Performance generiert, letztlich aber auch aus der existentiellen Situation, in die die Zuschauerakteure gebracht werden – trotz aller Als-Obs. Zwar ist hier alles nur Spiel. Und doch: Ob die Zuschauerakteure Träume erfinden oder tatsächliche Träume preisgeben – die Inszenierung konkretisiert sie in einer von ihnen nicht vorhersehbaren und kontrollierbaren Weise. Und die Performerinnen finden mitunter für die Träume bedrohliche oder

56 Dieser von der Berücksichtigung ästhetischer Form weitgehend absehende Dreischritt von Spiel, Tagtraum und Dichtung bildet die Grundlage einer der Publikationen Sigmund Freuds zum Spiel. Siehe Freud, Sigmund: „Der Dichter und das Phantasieren“, in: ders., Bildende Kunst und Literatur, Studienausgabe Bd. 10, hg. v. Alexander Mitscherlich u.a.m., Frankfurt a. Main: S. Fischer 1969, S. 169-179.

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gewaltsame Szenen, die eine – und sei sie noch so ironisch-gebrochen – Psychologisierung bewirken, die den Zuschauerakteuren zu denken geben mag. Aber auch die Performerinnen kontrollieren das Geschehen nicht, wenn sie es auch steuern und vorab die Regeln gesetzt haben, weil sie spontan und mit Geschick auf das Input der Zuschauerakteure reagieren müssen. Angesichts einer solchen Anordnung kommt Gadamers Verständnis von Kunst trotz seines Rekurses auf den Spielbegriff an gewisse Grenzen, beruhte dieses doch auf der Annahme einer Einheit des ästhetischen Gegenstands, auf der Konzeption des Kunstwerks als eines bedeutenden Ganzen, in welches sich der Rezipient verstehend vertieft, indem er sich auf das Spiel des Kunstwerks einlässt.57 Der geschlossene Werkcharakter bleibt in Gadamers hermeneutischer Philosophie unangetastet, auch wenn sich auch bei Gadamer das Kunstwerk allein im Vollzug erfahren lässt und insofern auch hier kein statisches Gegenüber von objekthaftem Werkgebilde einerseits und erfahrendem Subjekt andererseits entworfen wird. Diese Betonung der Bewegtheit des Vollzugs ist ja das, was bei Gadamer den Rückgriff auf das Modell des Spiels motiviert. Im Träumlabor hingegen sind allein ein bestimmtes Regelwerk und ein Materialfundus gegeben; damit daraus ein „Gebilde“ wird, braucht es die aktive Partizipation der Rezipienten, die weit über den bloß verstehenden Nachvollzug hinausgeht. Damit sind zumindest die auf die Bühne geholten Zuschauer, potentiell aber alle Anwesenden, aktiv an der Gestaltung der Performance beteiligt. Wenn also meines Erachtens Gadamers Ansatz die Ästhetik von Träumlabor verfehlt, erscheint mir ein Rekurs auf Jüngers Begriff der „Ahmung“ produktiv und erhellend. Das Besondere dieses In-Szene-Setzens, dieses Spielens der erzählten Träume durch die Performerinnen auf der Bühne wird mit diesem Begriff fassbar, weil diese Inszenierungen weit über eine bloße Nachahmung eines Gegebenen hinausgehen und die möglichen Dimensionen des Erzählten erkunden. Aber inwieweit sind die auf die Bühne eingeladenen Zuschauer tatsächlich den Performerinnen gleichberechtigte Mitspieler und ihnen im Hervorbringen der Performance gleichgestellt? Die Formulierung, die sich in der Beschreibung des Stücks auf der Website der Gruppe She She Pop findet und in der von einem oder einer träumenden ZuschauerIn die Rede ist, der oder die zugleich MitspielerIn sei, scheint nahezulegen, dass die konventionelle Grenze zwischen Publikum und

57 Vgl. etwa Gadamers Erläuterungen zur „Verwandlung ins Gebilde“, die das Kunstwerk vollzieht: „Das Spiel ist Gebilde – diese These will sagen: seinem Angewiesensein auf das Gespieltwerden zum Trotz ist es ein bedeutungshaftes Ganzes, das als dieses wiederholt dargestellt und in seinem Sinn verstanden werden kann.“ H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 122.

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Künstlerinnen hier im und durch das Spiel aufgehoben ist. Auch räumlich wird diese Grenze überschritten, indem zumindest ausgewählte Zuschauer zu einer bestimmten Zeit für eine festgelegte Dauer die Grenze zur Bühne überschreiten dürfen. Zumindest der auf die Bühne geholte Zuschauer gibt die übliche statische Sitzposition des Theaterpublikums auf und tritt in Dialog mit den Performerinnen. Aber wäre dann also nur der vor Publikum ‚träumende‘ Zuschauer Mitspieler oder sind es nicht vielmehr alle Anwesenden? Fällt der Spielraum wirklich mit der räumlichen Begrenzung des Bühnenraums zusammen, oder ist er ausgeweitet und umfasst auch den Zuschauerraum? Wie auch immer man hier entscheiden mag, ein Effekt des Stückes ist auf jeden Fall, dass konventionelle Grenzziehungen nicht mehr ohne Weiteres selbstverständlich sind. Träumlabor wirft schließlich nachdrücklich auch die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Spiel auf. Offensichtlich schafft die Performance eine Annäherung von Kunst und Spiel, die weit über deren Analogisierung hinausgeht, wie sie die verschiedenen im Vorigen vorgestellten Ansätze der philosophischen Ästhetik vornahmen, in denen Spiel nurmehr als abstrakte Bewegungsfigur verstanden wurde. In Träumlabor wird vielmehr durch Integration und Kombination von konkreten Spielen ein operatives Programm für die Realisierung des Kunstwerks geschaffen. Diese konkreten Spielelemente sind Teil des medialen Settings, Teil eines – mit Luhmann – Systems „loser Kopplungen“58, die im Laufe der Performance eine Form gewinnen. Diese Form ist in Ecos Sinne offen und in Bewegung, insofern als ein ausgeklügeltes Regelsystem, der Einbezug faktischer Spiele des Prinzips alea sowie die Partizipation der Zuschauer die Möglichkeit schaffen, eine potentiell unendliche Zahl von Varianten hervorzubringen. Das Interessante an Werken wie Träumlabor ist, dass sie konkrete, gegebene Spielformen in ihr mediales Setting einbauen, um neue Formen zu produzieren. Um die von David Lauer im Nachdenken über Spiel vorgeschlagene Terminologie aufzugreifen: Werke wie Träumlabor implementieren Spiele als Ergon und Energeia zugleich.59

58 Luhmann, Niklas: „Das Medium der Kunst“, in: ders., Aufsätze und Reden, hg. von Oliver Jahraus, Stuttgart: Reclam 2001, S. 198-217. 59 Lauer, David: „Sprache als Spiel: ‚ergon‘ und ‚energeia‘“, in: Stefan Berg, Hartmut von Sass (Hg.), Spielzüge. Zur Dialektik des Spiels und seinem metaphorischen Mehrwert, Freiburg und München: Alber 2014, S. 224-263.

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Doch wird dadurch, dass Spiele hier eine mediale Funktion in der Hervorbringung eines Werkes haben, aus dem Geschehen insgesamt ein Spiel? 60 Ich möchte eher dafür plädieren, dass durch die institutionelle Rahmung des Theaters Hebbel am Ufer das spielerische Geschehen, das in der Performance entfaltet wird, letztlich als Kunst markiert wird, so sehr die Performance auch diese Rahmung infrage stellen und mit dieser Rahmung spielen mag. Dabei wird die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst möglicherweise verschoben, nicht aber aufgehoben. Die Rahmung als Kunst, die durch Konventionen (etwa Gattungskonventionen) oder durch räumliche Gegebenheiten (Platzierung oder Aufführung in spezifischen Räumen wie Theatersälen, Museen, Galerien, Konzertsälen etc.), vor allem aber durch einen metakommunikativen Akt geschaffen wird, der ein wahrnehmbares Objekt besonders codiert (in unserem Falle als Kunst) und so – mit Luhmann – „eine eigene Realität etabliert, die sich von der gewohnten unterscheidet“, bleibt letztlich wirksam.61 Wenn Kunstwerke wie Spiele bestimmte Formen der „Realitätsverdopplung“62 (damit ist nicht notwendig Imitation gemeint) vornehmen, können sie jeweils andere Formen der Realitätsverdopplung integrieren: Die Unterscheidung von Realität und Spiel kann in die „eigene Realität“ des Kunstwerks integriert werden, wie auch umgekehrt Kunstwerke zum Spielelement werden können. Als Elemente des Spiels verlieren sie dann ihren herausgehobenen Charakter, sind nur noch ein Spielelement unter anderen, die zum Spielmaterial werden wie Bälle, Figuren und beliebige Gebrauchsgegenstände. Beide Operationen können ganz unproblematisch sein, sie können aber auch Friktionen produzieren, wenn die Integration dazu führt, dass die etablierten Rahmungen unsicher werden. Das kann dann auch zu einem neuen Begriff von Kunst führen. So ist auch Allan Kaprows berühmte Definition des Happenings „What is a Happening? – A game, an adventure, a number of activities, engaged in by participants for the sake of playing“63, in der er eine Identität von Happening und Spiel proklamiert, letztlich weniger eine adäquate Beschreibung des Happenings als eine Auseinandersetzung mit den Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst und letztlich eine Forderung

60 Zur Medialität des Spiels siehe Strätling, Regine: „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld: transcript 2012, S. 9-22, hier S. 16-17. 61 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 229. 62 Ebd., S. 230. 63 So Allan Kaprow in einer handschriftlichen Notiz von 1967. Zitiert nach Kaprow, Allan: Art as Life, hg. v. Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal. Los Angeles, CA: Getty Publications 2008, S. 68.

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nach einem neuen Kunstbegriff. Die ästhetischen Qualitäten, die Kaprows Happenings ebenso wie die Performance Träumlabor kennzeichnen, sind jedoch untrennbar davon, dass sie dem Rezipienten den Eindruck vermitteln zu spielen. Konkretes Spielen – nicht das abstrakte Spiel – und die mit dieser Aktivität einhergehenden Affekte werden hier zum essentiellen Teil ästhetischer Erfahrung.

Spielfeld versus Konzertbühne Zur Interpretation gamebasierter Musik an Beispielen von hans w. koch Julian Kämper

Wenn professionelle und hochspezialisierte Spielende sich auf einer Bühne befinden und vor Publikum etwas darbieten oder vortragen, kann es sich um ein Konzert oder ebenso gut um ein e-Sport-Event handeln. Vergleicht man beide Veranstaltungsformate, lassen sich verblüffende Ähnlichkeiten beobachten – erst recht, wenn aus beiden Kulturformen ein hybrides Format entsteht und Musik grundlegende Prinzipien des Gaming adaptiert. Es ist bewusst von „gamebasierter“ Musik und nicht von „spielbasierter“ Musik die Rede. Denn mit Rekurs auf die englischsprachige Differenzierung von „play“ (freies Spiel) und „game“ (regelbasiertes, wettkampforientiertes Spiel) wird eine bestimmte Kategorie von Spiel-Kompositionen in den Blick genommen, für die Regeln, Spielziele, Wettkampf-Elemente und Sieg-Niederlage-Codes elementar und formbildend sind.1 Damit wird der definitorisch schwer zu fassende Begriff des Spiels eingeengt und meint nunmehr wettkampfartige Spielformen, bei denen Gewinnen und Verlieren – auch im musikalischen Kontext – als mögliche Bewertungskriterien geltend gemacht werden können.

SPIELFELD ODER KONZERTBÜHNE Mit „Spielfeld versus Konzertbühne“ ist die Doppeldeutigkeit der Situation beschrieben, in der sich Interpret*innen sowie Publikum bei einer Aufführung gamebasierter Musik befinden. Diejenigen Spiel-Kompositionen einmal außer 1

Vgl. zur Definition des Spiel-Begriffs den Beitrag von Regine Strätling in diesem Band.

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Acht gelassen, die tatsächlich ortsspezifisch – Stichwort: site-specific art – auf Spielplätzen, Fußballfeldern, in Turnhallen oder allgemein im öffentlichen Raum stattfinden, bestimmt die traditionell gewachsene Konzertsituation das Dispositiv der hier verhandelten hybriden Arbeiten. Subtil bis brachial kann es bei SpielKompositionen aber gelingen, diese Konzertsituation mit ihren Ritualen und räumlichen Gegebenheiten in eine Game-Situation zu überführen. Mauricio Kagels Instrumentales Theater Match für 3 Spieler demonstriert das bereits 1964 sehr eindrucksvoll, ohne preiszugeben, dass es sich um eine konventionelle Konzertsituation handelt – im Gegenteil: Ausgehend vom Musizier-Ritual stellt Kagel die Situation eines Tennis-Matches her, in der die Konstellationen der Spielenden untereinander neu definiert werden. Die beiden Celli sind am linken und rechten Bühnenrand platziert, also je auf ihrer Spielfeldhälfte, und dazwischen das Schlagzeug-Setup als symbolische Netzmarkierung. Sind die ersten Takte gespielt, in denen sich die Celli insgesamt sechs Mal akustisch den Ball zuspielen, ist die szenische Situation für das Publikum sofort erkennbar – wenngleich im weiteren Verlauf die Tennis-Analogie akustisch und visuell nicht immer so offensichtlich bleibt wie in den Anfangstakten. Die Stärke und Innovationskraft von Kagels Match liegt in diesem feinsinnigen Oszillieren zwischen Musizierakt und Sportspiel. Diese kompositorisch geniale Doppeldeutigkeit wird abgeschwächt, wenn szenische Einrichtungen Sportkleidung, Bühnenbild und TennisRequisiten einsetzen und die körperlichen Gesten überhöht bzw. übertrieben werden, wie es in der Aufführungspraxis von Match zuweilen zu beobachten ist. Kagel thematisiert die Tatsache, dass sich die Beteiligten in einem Konzert befinden, und fügt dem Akt des Musizierens eine weitere Ebene des (außermusikalischen) Spielens hinzu. Wie wirkt sich nun diese ambivalente Aufführungssituation auf den Probenund Einstudierungsprozess aus, welche besondere Spielhaltung erfordert sie von den Spielenden auf der Bühne, und was folgt daraus für die Rezeption gamebasierter Musik? Um eine Annahme vorauszuschicken: Die Aufführung gamebasierter Musik kann eine eigene Charakteristik und Qualität besitzen, die bei konzertanten Darbietungen ohne Game-Faktor – beispielsweise Aufführungen des klassisch-romantischen Konzertrepertoires – so nicht existieren. Verschiedene Faktoren und Spezifika des Aufführungsaktes führen in der Summe zu einer gesteigerten (körperlichen) Präsenz der Interpret*innen und zu einer intensivierten Kommunikation zwischen Interpret*innen und Publikum.

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SPEZIFIKA GAMEBASIERTER MUSIK Um die Spezifika derjenigen Kompositionen herauszuarbeiten, die Prinzipien des wettkampf- und regelbasierten Spiels adaptieren, wird im Folgenden ein pyramidales Modell entworfen. Dabei wird ersichtlich, wo die hier verhandelten Kompositionen musikhistorisch und kompositionstechnisch einzuordnen sind und wo sie Alleinstellungsmerkmale aufweisen und eine eigene Kategorie bilden.

Abbildung 1: Pyramidenmodell. Spezifika gamebasierter Kompositionen

Offene Form: Musik in Echtzeit Vielen Kompositionen mit Game-Faktoren ist gemeinsam, dass sie improvisatorische, zufallsbedingte und offene Formteile enthalten. Dieser formale Freiraum variiert. Oftmals müssen Interpret*innen improvisieren, auf unvorhersehbare Spielverläufe (ausgelöst von Computern, Algorithmen oder Mitspielenden) reagieren und ein gesetztes Zeitraster mit eigenem musikalischen Material füllen. Insbesondere diejenigen Spiel-Kompositionen, denen ein Spielziel und eine wettkampfartige Grundkonstellation eingeschrieben sind, weisen einen besonders hohen Grad an Offenheit und Unvorhersehbarkeit auf. Es ist zu beobachten, dass in diesen Fällen die kompositorische Arbeit primär im Entwerfen von Spielsituationen und Spielregeln liegt und weniger in der Ausdifferenzierung des konkreten klanglichen Materials. Dies ließe sich damit begründen, dass die Spielenden über gestalterische oder, um in der Spiel-Terminologie zu bleiben, taktische Freiheiten verfügen müssen, um mit ihrer individuellen Strategie und zugleich intuitiv auf die Gegenseite reagierend das Spielziel anzustreben. Die

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Musik entsteht also, wie generell bei Kompositionen einer im weiten Sinne offenen Form, in Echtzeit. Regeltransparenz Durch die Existenz eines klar formulierten Regelwerks und eines definierten Spielziels lassen sich gamebasierte Kompositionen aber abgrenzen von freier Improvisation, von aleatorischen Arbeiten und von Kompositionen der offenen Form. So gibt es bei der freien Improvisation objektiv kein „richtig“ oder „falsch“. Zwar wird Improvisation häufig durch vereinbarte Regeln und Abmachungen gesteuert (z. B. Spannungsverläufe, motivische Ideen, Zeitraster), diese werden in der Regel aber nicht nach außen kommuniziert. Bei Kompositionen der offenen Form, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren vielfältig entwickelt worden sind, werden formale Entscheidungsprozesse der Interpret*innen teilweise der Aufführung vorgelagert. Und selbst wenn diese formalen Entscheidungen ad hoc in der Live-Aufführung getroffen werden, unterliegen sie oftmals keiner Rechtfertigung oder Bewertung. Vielmehr entziehen sie sich in manchen Fällen aufgrund ihres ästhetischen Credos einem Bewertungsurteil jeglicher Art. Zu denken wäre an John Cages Variations oder Stockhausens Klavierstück XI: Bei den Variations, deren grafisch abstrakte Partituren mit allen denkbaren klanglichen und nicht-klanglichen Aktionen interpretiert werden können, werden Material und Zeitstruktur zuweilen im Vorfeld ausgearbeitet, insbesondere dann, wenn mehrere Akteur*innen oder ein ganzes Ensemble an der Aufführung beteiligt sind. Bei Stockhausens Klavierstück XI ist der Pianist angehalten, absichtslos auf die Notenfragmente zu blicken und diese intuitiv zu verbinden, sodass die kausalen Zusammenhänge der in der Aufführung erfolgten Aneinanderreihung der Fragmente nicht von Bedeutung sind, weder für den Komponisten, noch für Pianist oder Publikum. Anders verhält es sich bei Game-Kompositionen, die dann eine besondere Eigenschaft aufweisen, wenn alle Beteiligten über das Regelwerk und die Spielziele informiert sind, so auch das Publikum. Es ist dabei zweitrangig, ob mittels Anmoderation oder Programmhefttext über das Regelwerk aufgeklärt wird oder sich Regeln und Spielziel aus der Dramaturgie der Komposition im Zuge der Aufführung selbst vermitteln. Das Entscheidungsverhalten der Interpret*innen orientiert sich also am allgemein bekannten Regelwerk, was die Entscheidungen und Bühnenaktionen für das Publikum nachvollziehbar macht. Solch unmittelbare Nachvollziehbarkeit und Transparenz sind bei der pluralistischen zeitgenössischen Musik, insbesondere bei Uraufführungen, in diesem Ausmaß selten

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gegeben. Die Möglichkeit einer objektiven, gar zählbaren Bewertung widerstrebt dem Ideal einer autonomen Kunstmusik geradezu. Kontrolle Der Begriff der Kontrolle wird hiermit ins Feld geführt, um damit ein außergewöhnliches Merkmal von gamebasierter Musik zu betonen. Die Rezipierenden befinden sich folglich in einer privilegierten Lage, da sie die Effizienz und „Richtigkeit“ des Spielverlaufs und damit des musikalischen Fortgangs bewerten können. Durch die Transparenz des Regelwerks ist es ihnen möglich, das Entscheidungsverhalten der Interpret*innen abzugleichen und eine Kontrollinstanz einzunehmen. Dabei können die Rezipierenden sich in die Position der Interpret*innen hineinversetzen und deren Entscheidungsverhalten mit den eigenen potentiellen Entscheidungen abgleichen und so partizipieren sie in hohem Maß an der Aufführung. Selber spielen und jemanden beim Spielen beobachten sind zwei Aktivitäten, die offenbar gar nicht weit voneinander entfernt sind hinsichtlich des Grades der Involviertheit in das jeweilige Spiel. Es wird später darauf zurückzukommen sein. Das Mittel der Kontrolle und der unmittelbare Abgleich des Bühnengeschehens mit dem eigenen Entscheidungsverhalten existieren für die Rezipierenden bei der Aufführung von fixierter Musik ohne Game-Elemente so nicht: Die Musiker*innen auf der Bühne werden von den Rezipierenden als Meister ihres Fachs angesehen, das virtuose Instrumentalspiel liegt für gewöhnlich außerhalb ihres Erfahrungshorizontes. Im Bereich des Spiels hingegen verfügen die Rezipierenden über Primärerfahrungen, haben spezifische Videospiele, Ballsportspiele oder Schnelligkeits- und Reaktionsspiele bereits selbst gespielt – zumindest aber im Fernsehen oder in Stadien verfolgt.

MUSIKALISCHE SPIELKONZEPTE BEI HANS W. KOCH Um das Modell, das die Spezifika von gamebasierter Musik insbesondere unter Rückgriff auf die Begriffe „Transparenz“ und „Kontrolle“ definiert, auf konkrete Kompositionen anzuwenden, eignen sich drei Arbeiten des Komponisten und Klangkünstlers hans w. koch. In seinem Schaffen lassen sich zahlreiche SpielKompositionen finden, die sowohl analoge Spielkonzepte (z. B. Kartenspiele, Schere-Stein-Papier, Badminton) als auch digitale, algorithmisch gesteuerte Spielsysteme aufweisen (die den Bereich Computer- und Videospiele berühren). Gemäß der ästhetischen Grundsätze von John Cage, von denen kochs Arbeiten geprägt sind, entwickelt der Klangkünstler und Komponist formal offene

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Spielkonzepte, in denen er – wie er sagt – „ein Feld von Möglichkeiten eröffnet, das aber begrenzt ist“.2 Einen Pfad möchte der Komponist nicht vorgeben, stattdessen „kann man sich den Pfad über das Feld selber suchen anhand verschiedener Regeln oder Spielsysteme“. Damit unterscheiden sich kochs hier untersuchte Arbeiten von Mauricio Kagels Match, das zwar die Doppelbedeutung der Spielsituation bestens veranschaulicht, bei dem aber tatsächlich kein echtes (Tennis-)Spiel ausgetragen wird – alles ist szenisch und klanglich präzise ausnotiert. hans w. koch limitiert viele seiner Arbeiten und Performancestücke auf sehr transparente und in ihrer Regelhaftigkeit reduzierte Versuchsanordnungen – ihr Interpretationsspielraum wird dadurch umso größer. Dieser Umstand ermöglicht es, im Folgenden gedanklich schnell in die Machart seiner SpielKompositionen einzusteigen und über die interpretationsspezifischen Problemund Fragestellungen nachzudenken. cut-off-frequencies Die Spielidee für cut-off-frequencies für Violine und Live-Elektronik aus dem Jahr 2005 formuliert hans w. koch knapp und klar in drei Sätzen: „30 seconds of improvised violinplaying against a computer-generated cluster of pitches. whenever the computer detects a pitch in the violin-playing, which matches one of the cluster, this pitch is eliminated from the cluster. will 30 seconds be enough to silence the computer?“3

Der Komponist setzt einen Rahmen: sowohl zeitlich, als auch hinsichtlich des musikalischen Materials, wenngleich das Cluster zufallsbedingt vom Computer generiert wird. Und er formuliert ein klares Spielziel, sodass die Performance des Geigers4 nach abgelaufener Zeit objektiv als Erfolg oder Misserfolg bewertet werden könnte. Das zu „besiegende“ Cluster aus insgesamt 28 Tonhöhen wird bei jedem Durchgang neu generiert, sodass jeder Durchgang einen unvorhersehbaren Verlauf hervorbringt, sich kein Spielablauf wiederholt. Die musikalische

2

Dieses und folgendes Zitat stammen aus einem Interview des Verfassers mit hans w. koch am 21.03.2017.

3

Homepage des Komponisten hans w. koch: http://www.hans-w-koch.net/performances/ cutoff.html (letzter Zugriff: 20.04.2020).

4

Der Geiger Johnny Chang gehört zum Kreis der Interpret*innen, die kochs cut-offfrequencies (ur)aufgeführt haben. Die folgenden Ausführungen zu interpretatorischen Fragen beziehen sich stellvertretend auf seine Person.

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Ausgestaltung obliegt allein dem Interpreten. Lediglich das Cluster dient als musikalischer Referenzpunkt, an dem sich der Musiker orientieren muss, möchte er die ihm gestellte Aufgabe formal lösen. Die Hörbarkeit des sich immer weiter reduzierenden Clusters sowie die numerische Anzeige der Software ermöglichen eine Kontrolle und Bewertung des Spielverlaufs durch das Publikum. 5 Im Hinblick auf die kompetitive Aufgabenstellung können Erfolg und Misserfolg objektiv gemessen werden. Es ist in Bezug auf das eingangs entworfene Pyramiden-Modell festzuhalten: bei den cut-off-frequencies entsteht die Musik in Echtzeit, das Regelwerk ist transparent und es lässt sich anhand des Clusters kontrollieren, ob der Spieler die Aufgabe erfüllt hat oder nicht. Wie löst der Spieler die ihm gestellte Aufgabe bzw. wie stehen Spielziel und die musikalische Gestaltung zueinander im Verhältnis? An diesem Beispiel lässt sich ablesen, worin eine zentrale Herausforderung solchen Spiels im Spiel für den Geiger liegt: Zunächst sollte er gemäß der Spielaufgabe im Fluss bleiben, die Regeln und das ausgerufene Spielziel befolgen und auf unvorhersehbare, nichtkooperative und zufallsbedingte Widerstände reagieren. Zudem sollte er idealerweise ein künstlerisch interessantes Resultat erzielen, da es sich, wie eingangs erläutert, immer um eine Konzertsituation handelt. Unterschiedliche Herangehensweisen wären für den Spieler der cut-off-frequencies entsprechend denkbar: Erstens könnte eine virtuose Improvisation entstehen, die einer subjektiven gestalterischen Idee folgt und repetitive Elemente (Ton- oder Motivwiederholungen) sowie Pausen einschließt. Alternativ dazu könnte, zweitens, sich der Spieler für eine willkürliche, intentionslose und unorganisierte Abfolge von unterschiedlichen Tonhöhen entscheiden. Drittens wäre ein langgezogenes Glissando vom höchsten bis zum tiefsten Ton denkbar, mit der Absicht, das System zu überlisten.6 Diese drei hypothetischen Szenarien unterscheiden sich im Hinblick auf den jeweiligen Gestaltungswillen und auf die Funktionalität und Effizienz. Aus dieser Durchdringung von Gaming und Instrumentalspiel schöpfen Arbeiten wie diese ihr künstlerisches Potenzial. So ausdrucksstark die Musik im ersten Szenario auch gestaltet sein möge, erweist

5

Bei der Uraufführung der cut-off-frequencies war die Bildschirmanzeige nicht für alle Zuschauer*innen ersichtlich. Der Komponist findet diesen Ansatz für eine Wiederaufführung aber sehr reizvoll, wie er in einer Korrespondenz mit dem Verfasser geäußert hat.

6

In der Theorie funktioniert diese Strategie, in der Praxis ist dies nicht garantiert, da die Tonhöhenerkennung des Patches bei zu schneller Eingabe ggf. nicht lückenlos funktioniert. Dieser technische Umstand ändert jedoch nichts daran, dass sich der Spieler für diese Strategie entscheiden kann.

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sich das verwendete Tonmaterial aufgrund der vielen Tonwiederholungen nicht als überaus erfolgsversprechend. Im dritten Szenario hingegen überwiegt der taktische Kniff, das gesamte Cluster mittels Glissando buchstäblich in einem Rutsch zum Schweigen zu bringen – wobei selbstverständlich auch in dieser vordergründigen Verweigerung von künstlerischem Ausdruck ein ästhetisch interessantes Resultat entstehen kann. Doppelrolle der Spielenden Die Interpret*innen befinden sich, dies wird hier ganz offensichtlich, in einer ambivalenten Doppelrolle: sie sind Spielende und Musizierende zugleich. Sie begeben sich in eine wie auch immer gerahmte Spielsituation, die ihrerseits aber in die bestehende Konzertsituation implementiert ist. Welche Rolle – Spieler oder Musiker? – dabei überwiegt, hängt einerseits von der jeweiligen kompositorischen Setzung ab, andererseits vom Selbstverständnis der Interpret*innen und ihrer Herangehensweise an die gamebasierten Kompositionen. Exemplarisch sei hier die Instrumentalistin, Performerin und künstlerische Forscherin Barbara Lüneburg genannt. Für sie, die in den letzten Jahren viele Kompositionen mit Gamebezug (ur)aufgeführt und damit wesentlich zur Entstehung zahlreicher Arbeiten in diesem Experimentierfeld beigetragen hat, ist dieser Balanceakt ganz zentral: „This implies that the players/performers cannot only be concerned with their own ludic pleasure, but they also have musical and performative responsibilities to shape the experience for the attending audience.“7

Barbara Lüneburg begibt sich auf der Bühne in zufallsbedingte und offene Spielsituationen, lässt aber niemals außer Acht, dass sie im selben Moment auch Musikerin in einer Konzertsituation ist. Die Verantwortung gegenüber der Musik, von der sie hier spricht, kann auch bei der Realisierung der cut-off-frequencies zu einem leitenden Faktor werden: Über Erfolg und Misserfolg in dieser Spielsituation entscheidet der Computer anhand rein numerischer Parameter, ästhetische Bewertungskriterien sind dabei zunächst ausgeblendet. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Interpret*innen an bestimmten Stellen bewusst Regelbrüche provozieren, d. h. für kurze Momente aus dem „spieltaktischen“

7

Lüneburg, Barbara: „Between ‚Ludic Play‘ and ‚Performative Involvement‘. Performance practice in gamified audiovisual multimedia artworks“, in: econtact! 20/2 (2018), https://econtact.ca/20_2/lueneburg_gamifiedmultimedia.html (letzter Zugriff: 14.06.2019).

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Denken ausbrechen müssen, um dem Künstlerischen gegenüber dem Streben nach Gewinnen mehr Gewicht zu verleihen und musikalisch gestalten zu können. Wenngleich hans w. koch wettkampfartige Spielanordnungen wie diese entwickelt, ist aus seiner Sicht nicht das Gewinnen die Maxime, sondern ein souveränes Verhalten innerhalb des vom Komponisten gesteckten Spielraums, das auch das Ignorieren von Spielziel und Regelwerk einschließen kann.8 Einen imperfekten Spielverlauf würde der Komponist einem glatten und erfolgreichen immer vorziehen. Fehler und Widerstände machen die Spielsituationen, die er entwickelt, erst interessant.9 Die hier betonte Verantwortung gegenüber der Musik und die damit verbundenen Regelbrüche müssen aber nicht gleich bedeuten, sich irgendeinem Spielethos zu widersetzen. So hat der Spiel-Philosoph und Gamedesigner Bernard de Koven auf die Frage nach der idealen Form des Spielens folgende Antwort gefunden: „The Well-Played Game is a game that becomes excellent because of the way it’s being played.“10 In seinem Buch The Well-Played Game entwirft er einen Leitfaden, wie solch ein perfekt gespieltes Spiel zu erreichen sei. Dabei sind versteckte Hinweise, Schummeln oder das Brechen und Verändern von Regeln situationsabhängig erlaubt, wie er in seiner Empfehlung schreibt: „Change the rule and see what happens to the rest of the game. See what other changes you have to make in order to restore the balance. If you try to change too many rules, and the game doesn’t work, you won’t be able to tell why.“11

Die Herausforderung, zwischen der Rolle des Musikers und des Spielers zu wechseln, hat Auswirkungen auf den Proben- und Einstudierungsprozess. Denn gehen Interpret*innen ganz unvorbereitet in eine Spielsituation, kommt möglicherweise kein Spielfluss zustande, da das Spiel nicht vertraut ist und eine taktische Herangehensweise fehlt. Gehen sie hingegen zu sehr vorbereitet und mit

8

Vgl. Zitat aus einem Gespräch des Autors mit hans w. koch am 16.10.2018: „Ich kann auch sagen, ich ignoriere diese Idee und ich spiele halt etwas, wovon ich denke, das macht mir Spaß zu spielen in diesem Moment. Und dann beobachte ich in diesem Moment, was da an Subtraktion passiert.“

9

Der Komponist begrüßt die Herangehensweise, die 30 Sekunden nicht komplett mit Klangmaterial zu füllen, damit das übrig gebliebene Cluster am Ende noch durchscheint und anhand dessen die Differenz nachzuvollziehen ist.

10 De Koven, Bernard: The Well-Played Game. A Player’s Philosophy, Cambridge, MA: MIT Press 2013 [1979], S. xxiv. 11 Ebd., S. 52.

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einem ausgearbeiteten Strategieplan in eine Spielsituation, droht das eigentlich intuitive und unvorhersehbare Spiel in ein So-tun-als-ob zu kippen. Die außergewöhnliche Qualität gamebasierter Musik kommt dann zum Vorschein, wenn sich der Akt der Aufführung zwischen diesen beiden Extremen bewegt. So gehört es im Übrigen auch zu den Kernkompetenzen von Gamedesignern, mit adäquaten Spielmechaniken einen Spielfluss zu garantieren und Momente von Erfolg und Frustration für Neulinge sowie Fortgeschrittene gleichermaßen auszutarieren.12 presumption & failure Das Performancestück presumption & failure hat hans w. koch 2004 für zwei Badminton-Spielende und Elektronik entwickelt. In einem Konzertraum oder einer Sporthalle – beides hat der Komponist bereits erprobt13 – stehen sich zwei Personen gegenüber, ausgerüstet mit Badmintonschläger und Ball. Dabei kann, muss es sich aber nicht um (professionelle) Musiker*innen handeln. Das etwa elfminütige Stück ist in drei Sätze gegliedert, die jeweils durch ein Trillerpfeifensignal eröffnet werden und explizite Aufgaben stellen: • 1. Satz

Zwei Spieler schlagen sich den Federball gegenseitig hin und her. Der Computer verfolgt das Spiel und sammelt Daten über den vermutlichen Spielverlauf. Diese Daten werden sonifiziert.14 • 2. Satz Der Computer sendet zusätzlich auf Grundlage der über den Spielverlauf gesammelten Daten seine Vermutungen über die nächsten Schläge. Aus der Differenz zwischen diesen Vermutungen und der Realität des Spiels werden Tonhöhen abgeleitet.

12 Vgl. Rehfeld, Gunther: Game Design und Produktion. Grundlagen, Anwendungen, Beispiele, München: Hanser 2014, insbesondere das Kapitel „Spielmechaniken“, S. 70ff. 13 Folgender Videomitschnitt dokumentiert die Uraufführung von presumption & failure in der Alten Feuerwache Köln 2004: https://www.youtube.com/watch?v=VfS 6mFBlfqU (letzter Zugriff: 28.05.2019). 14 Ergänzende Erklärung: Ein dritter Mitwirkender (i.d.R. der Komponist selbst) verfolgt den Ballwechsel und drückt bei jeder Ballberührung entsprechend auf die linke oder rechte Pfeiltaste des Laptops. Es ertönt bei jeder Eingabe ein „Ping“ oder ein „Pong“.

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• 3. Satz

Mit den Vermutungen spielt der Computer sein eigenes Spiel, dessen Rhythmus die beiden Spieler nun zu folgen versuchen, um Tonhöhendifferenzen zu eliminieren.

Abbildung 2: Performance von presumption & failure bei einem Konzert am 30.11.2017 in München, Foto: Nikolai Marcinowski

Die beiden Spielenden sind einer Drucksituation im doppelten Sinn ausgeliefert: Zunächst müssen sie den Ballwechsel kontinuierlich am Laufen halten als Grundlage für die musikalisch geprägte Zusatzaufgabe, die im dritten Satz hinzukommt. Diese erfordert, den Ball immer dann zu schlagen, wenn ein Computersignal ertönt – nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, da die Spielenden nur ein geringes Zeitfenster haben, in welchem der Ball sich in spielbarer Reichweite befindet, bevor er schließlich zu Boden fällt. Durch einen mit dem Computer möglichst synchronen Ballwechsel im dritten Satz sollen die Spielenden also versuchen, „Tonhöhendifferenzen zu eliminieren“15, wie es in der Spielanweisung heißt. Wenngleich hierfür motorisches Geschick und präzise Zeitgestaltung gefordert sind anstelle musikalischer oder instrumentaler Fähigkeiten, handelt es sich bei den Aktionen der Spielenden letztlich um einen akustisch motivierten Gestaltungsvorgang. 15 Vgl. Erläuterungen in der Partitur zu presumption & failure, Eigenverlag des Komponisten.

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Auf beiden Ebenen, der motorischen wie der klanglichen, ist die Möglichkeit des Scheiterns einkalkuliert. Erfolg und Misserfolg können daran gemessen werden, ob die Ballwechsel ohne Unterbrechung konstant sind oder die Spielenden an physische Grenzen stoßen. Hier hat sich in Proben und Aufführungen übrigens herausgestellt, dass weder blutige Anfänger*innen, noch Profisportler*innen die richtige Besetzung für dieses Performancestück sind. In dem einen Fall kommt kein Spielfluss zustande, im anderen Fall passieren nahezu keine Fehler – beide Szenarien sind einem künstlerisch interessanten Resultat nicht besonders zuträglich. Erfüllen die Spielenden also ihre Aufgabe im dritten Satz? Kontrollmittel ist die Melodie, deren Tonhöhen sich gemäß Erfolg oder Misserfolg der Spielenden verändern. Es entsteht dabei eine Diskrepanz zwischen dem Rhythmus des realen Ballwechsels und dem Rhythmus, den der Computer auf Grundlage seiner gesammelten Daten im ersten Satz berechnet hat und über akustische Signale mitteilt.16 hans w. koch macht genau diese Abweichungen hörbar. Jedes Mal, wenn die Realität und die Computerprognose nicht synchron sind, verändert sich die Tonhöhe des Computerklangs: je größer die zeitliche Abweichung, desto größer ist das Intervall vom ursprünglichen Signalton aus. Es entsteht, wie der Komponist es selbst formuliert, „eine Melodie, die aus gescheiterten Vermutungen besteht“.17 Die Tatsache, dass hans w. koch für die Aufführung keine Profisportler*innen wünscht und er die Spielenden im dritten Satz mit einer nahezu unlösbaren Aufgabe konfrontiert, bestätigt einmal mehr, dass es dem Komponisten nicht um Perfektion und Effizienz im Erreichen eines (außermusikalischen) Spielziels geht, sondern der künstlerische Reiz im provozierten Verfehlen und Scheitern liegt. Gesteigerte Kommunikation und Partizipation Die besondere Qualität der Aufführung von gamebasierter Musik liegt, so wurde bereits argumentiert, in der formalen und zeitlichen Offenheit des Spielverlaufs, in der Transparenz von Regelwerk und Spielziel sowie in der Nachvollziehbarkeit und Kontrolle der (musikalischen) Aktionen durch das Publikum. Die Interpret*innen gewinnen an (körperlicher) Präsenz, da ihre Entscheidungen in Echtzeit empathisch mitvollzogen und bewertet werden. Im Gegensatz zur

16 Die Varianz, die sich aufgrund von mangelhafter Reaktionszeit und Präzision zwischen dem Schlag des Spielers und der manuellen Eingabe des Unparteiischen am Laptop ergeben kann, sei hier außer Acht gelassen, da die Rolle des Unparteiischen im Spielkonzept nicht stark angelegt ist und hintergründig bleibt. 17 Zitat aus einem Gespräch des Autors mit hans w. koch am 21.03.2017.

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Aufführung von fixierter Musik sind die Musiker*innen nicht mehr nur ein Medium zur Erzeugung von Musik, das hinter dem klingenden Resultat möglichst verborgen bleibt. Stattdessen ist ihr intuitives und spontanes Entscheidungsverhalten selbst Gegenstand des künstlerischen Vortrags. Wovon sich gamebasierte Kompositionen also abgrenzen, lässt sich mit Christa Brüstle darlegen, die in ihrer Arbeit über Transformationen der Konzertpraxis die konventionelle Konzertaufführung folgendermaßen charakterisiert: „Der Aspekt des Vorführens, des Sehen-Lassens des Spiels als Solo- oder Ensemble-Spiel, den das traditionelle Konzert allerdings mit dem Theater und der Aufführung von sportlichen Spielen gemeinsam hat, dieser Aspekt wird in der Rezeption eines Konzertes zugunsten des Hörbaren zurückgestellt. Nicht der Prozess und die körperlich sichtbaren Handlungen sind wichtig, sondern das Ergebnis, nicht in erster Linie das Spielen als körperliches Tun, sondern das ‚höhere Spiel‘ (‚game‘).“ 18

Brüstles Gebrauch des Begriffs „game“, der für das höhere Spiel im Sinne eines ausdrucksstarken musikalischen Vortrags steht, ist nicht kompatibel mit dem Begriffsverständnis, das eingangs etabliert worden ist. Dessen ungeachtet hilft der Rekurs auf Brüstle, um auf die zunehmende Präsenz des Musikerkörpers im 20. Jahrhundert hinzuweisen. Daran anschließend sei nun das Moment des Scheiterns und des Verfehlens ins Zentrum gestellt, das in Game-Kompositionen, jedenfalls in den hier besprochenen, einkalkuliert ist und künstlerisch fruchtbar gemacht wird. Je weiter die Spielkonzepte vom gelernten Instrumentalspiel entfernt sind, desto mehr müssen die Interpret*innen ihr eigenes professionelles Metier verlassen und spieltechnische, strategische oder athletische Hürden bewältigen. Als ein mögliches Verfahren der „Verkörperung“, d. h. dem Hervorbringen der eigenen Körperlichkeit des Akteurs im performativen Akt, nennt Erika FischerLichte die „Betonung von Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit, Unzulänglichkeit des (Darsteller)Körpers“19. Demnach wird bei Überforderung und Überanstrengung der Akteur*innen in der Aufführung die Aufmerksamkeit auf deren phänomenalen, organischen Leib gerichtet und nicht (mehr) auf den semiotischen Körper. Wird also ein 28-töniges Cluster nicht „besiegt“ oder fällt beim Badmintonspiel der Ball zu Boden, so treten die Interpret*innen als diejenigen in Erscheinung, die

18 Brüstle, Christa: Konzert-Szenen. Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950–2000 (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 73), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, S. 13. 19 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2004, S. 139.

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einen Fehler begangen haben. Die latente Gefahr solch eines Scheiterns, die die gesamte Aufführung begleitet, erzeugt Präsenz und Aufmerksamkeit. Wie am Beispiel der Badminton-Performance manifestiert sich das Prinzip von Sieg und Niederlage sehr prägnant im modernen Wettkampfsport. Zumindest erscheint es dort geläufig und vertraut. Die einkalkulierte Gefahr des Scheiterns ist auch für Thomas Alkemeyer bedeutsam, der den Sport auf der Folie gegenwärtiger Performativitätskonzepte betrachtet. Er kommt dabei auf „Wirklichkeitseffekte“20 im Sport zu sprechen, durch die sich der Sport von anderen kulturellen Aufführungen unterscheidet: „Und während die Schauspieler auf Theaterbühnen Rollen spielen, verkörpern die Athleten in den Räumen des Sports keinen vorgängigen Text. Sie setzen ihre Körper nicht ein, um etwas anderes – fiktive, dramatische Figuren – darzustellen, sondern führen ‚wirkliche‘ Handlungen mit ‚wirklichen‘ Risiken aus. Sie sind prinzipiell der Gefahr körperlicher Verletzungen ausgesetzt; aufgrund der technisch-taktischen Komplexität der Bewegungskoordination oder der Spielzüge sind stets Fehler und Misslingen möglich. Die besondere Ästhetik des Sports lebt geradezu von dieser Möglichkeit des Scheiterns.“ 21

Auf den hier vorliegenden Gegenstand der gamebasierten Kompositionen übertragen bedeutet dies: Die Dichotomie zwischen einem „darstellenden“ Handeln und einem „wirklichen“ Handeln, die Alkemeyer hier betont, löst sich nahezu auf. Für die Kommunikation zwischen Spielenden und Zuschauern bedeutet das nach Alkemeyer, dass die „Wahrnehmung des Dargestellten durch ein (reflexives) Miterleben und ein virtuelles Nachbilden der aufgeführten Bewegungen und Handlungen“22 erfolgt. Er beschreibt den Rezeptionsvorgang als „Modus einer unter Beteiligung des Körpers vollzogenen, mimetischen Aneignung des Aufgeführten, die mit einem nicht-analytischen, praktischen Verstehen einhergeht.“23 Demnach ist auf Seiten des Publikums eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu vermuten, die sich aus der Bewertung und dem Abgleich des Bühnengeschehens mit dem eigenen Erfahrungshorizont aus der Welt des Spiels ergibt. Hier brechen Rezeptionsmodelle in den Bereich der Musik ein, die im Bereich der Performance

20 Alkemeyer, Thomas: „Verkörperte Weltbilder. Sport als aufgeführte Mythologie“, in: Erika Fischer-Lichte et. al. (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 216. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 217 23 Ebd., S. 217f.

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Studies, des Sports sowie im Tanz und in den Game Studies bereits phänomenologisch untersucht worden sind. So etwa in Bezug auf e-Sport, das öffentliche wettkampfbasierte Spielen von Computer- und Videospielen im Mehrspielermodus mit einer online wie offline gleichermaßen faszinierenden Anziehungskraft und Fankultur. Die Soziologin T. L. Taylor weist für den e-Sport darauf hin, dass nicht mehr nur der „Player-in-Action“ Gegenstand der Game Studies ist, sondern unter Berücksichtigung einer „Second-Player-Perspective“ der Rezipient als ein nicht mehr nur passiver in den Blick genommen wird. „Beyond the cognitive work the observer does, there are important affective and embodied aspects of spectatorship worth adressing. When I watch someone else play a computer game I am often activated internally as a player. I may feel excitement, tension, remembrance of my own similar play moments.“24

Mit Bezug auf andere Autor*innen skizziert Taylor, wie der Akt des Zuschauens in der kulturwissenschaftlichen Betrachtung von Computerspielen an Bedeutung gewonnen hat.25 Weiter führt sie einen körperlichen Aspekt ins Feld: „While we regulary notice the ways players hold their body in relation to play – leaning into screen, muscles tensed – spectators can also become activated in their bodies, sitting forward in anticipation during a tense moment, intently focused on the screen, feeling the visceral reverberations of the digital action within their bodies, cheering with excitement or clapping when victory happens.“26

Um bei der körperlichen Anteilnahme zu bleiben: Die Tanzwissenschaftlerin Christiane Berger hat dargelegt, dass die Rezipient*innen von Tanzaufführungen aufgrund ihres individuellen Körperwissens die körperlichen Aktionen der Tänzer innerlich mitvollziehen und diese stets mit der eigenen „Bewegungsbiografie“ abgleichen.27 Damit erklärt sie, woher die Faszination an den Arbeiten von

24 Taylor, T. L.: Raising the Stakes. E-sports and the Professionalization of Computer Gaming, Cambridge, MA: MIT Press 2012, S. 186. 25 Dies macht sich bemerkbar einerseits an Online-Massenphänomenen wie „Lets-Play“ oder großen Zuschauerströmen bei Game Conventions, andererseits am Paradigmenwechsel innerhalb der Game Studies, die lange Zeit die Wirkung und immersive Kraft von Computerspielen nur mit Blick auf die Spielenden selbst erforscht haben. 26 T. L. Taylor: Raising the Stakes, S. 186. 27 Vgl. Berger, Christiane: Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld: transcript 2006.

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Choreografen wie William Forsythe unter anderem rührt: von der Diskrepanz zwischen den Bewegungsbiografien der Tänzer*innen und jenen des Publikums. Die geschilderte intensivierte Kommunikation zwischen Interpret*innen und Publikum kann abermals gesteigert werden, wenn Spiel-Kompositionen eine direkte Zuschauerpartizipation vorsehen, diese beispielsweise mittels Interface, Smartphone oder analoger Bewegung den Spielverlauf mitbestimmen und manipulieren können. Hier potenziert sich das in Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen entwickelte Modell der „autopoietischen feedback-Schleife“, bei der Handlungen der Spielenden Reaktionen bei den Zuschauenden auslösen, auf die wiederum Reaktionen der Spielenden folgen und so weiter. Das Publikum ist involviert, darf gleichberechtigt mitspielen. Akteur*innen und Rezipient*innen werden, um mit Fischer-Lichte zu sprechen, zu „Ko-Subjekten“ in der Aufführung. Natürlich existieren Formen solch einer kognitiven wie motorischen Anteilnahme auch beim klassischen Musikvortrag. Ohne sie ließe sich die weit verbreitete Faszination für Live-Konzerte nicht begründen. Der wesentliche Unterschied, der in Anlehnung an das eingangs entworfene pyramidale Modell deutlich werden soll, liegt darin, dass Game-Kompositionen bewusst auf diese Anteilnahme abzielen, sie erst explizit machen und unter ästhetischen Gesichtspunkten thematisieren. Und um dies nochmal mit dem Aspekt des Scheiterns zu präzisieren: Selbstverständlich passieren auch im klassischen Konzertvortrag Fehler. Allerdings wird diesen Fehlern, etwa wenn ein Klaviervirtuose in einer technisch anspruchsvollen Partie neben die Tasten greift, kein künstlerischer Wert zugesprochen, es mildert oder stört vielmehr den Hörgenuss. privat klavier quartett Mit einem dritten und abschließenden Beispiel von hans w. koch soll die Frage nach einer spezifischen Spielhaltung diskutiert werden, zu der die Interpret*innen aufgrund der Gaming-Elemente in der Musik veranlasst werden. Es ist interessant, dass von Komponistenseite eine Haltung auf der Bühne eingefordert wird, die zwischen konzentriertem Konzertvortrag und unbedarfter Spielfreude changiert. „nicht vergessen, spass zu haben“, lautet etwa eine Spielanweisung von hans w. koch in seinem privat klavier quartett.28 Mit Anweisungen dieser Art ist impliziert, dass sich die gewünschte Spielhaltung gegenüber jener beim klassischen Musikvortrag unterscheidet – nur wie? hans w. koch hat 2014 einen

28 Ausschnitt aus Partituranweisung von privat klavier quartett, Eigenverlag.

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Kompositionsauftrag erhalten für ein Klavierquartett: ein Klavier und vier Spieler. Seine ironische Umdeutung des Wortes „Quartett“ führt zu einer Bühnensituation, die das konventionelle Konzertdispositiv durchbricht – und dies deutlich brachialer als in Kagels Match. „Quartett“ meint in diesem Zusammenhang nicht die kammermusikalische Gattung, sondern das Kartenspiel, bei dem die Spielenden vier Karten einer Kategorie sammeln müssen. Das Kartenquartett hat der Komponist selbst kreiert, es basiert auf Kleinanzeigen alter ausrangierter Klaviere. Verkürzt erklärt läuft die Aufführung folgendermaßen ab: Auf der Bühne steht ein Tisch, an dem vier Pianist*innen Kartenquartett spielen. Daneben befindet sich ein Flügel, an dem sie zu Beginn einen Zwölftonakkord stumm greifen und das Haltepedal justieren.29 Der Tisch ist mit Kontaktmikrofonen verkabelt, sodass die Geräusche (Sprechen, Gläserklirren, Klopfen) aufgenommen und über Schallwandler, die sich auf und zwischen den Saiten befinden, ins Innere des Flügels übertragen werden. Damit ist der Flügel zum Resonanzkörper verkommen, in dem sich die Geräusche des Kartenspiels ausbreiten. Dieses Klangkontinuum grundiert die gesamte Bühnensituation. Wer ein Kartenquartett vollständig hat, liest einen Abschnitt aus einem vom Komponisten vorgegebenen Text vor, der von unterschiedlichen Aspekten des „Gebrauchtklaviers“ handelt. Während der Text verlesen wird, gehen die anderen Pianist*innen zum Klavier und können den Zwölftonakkord sowie die Position der Schallwandler (piezos) modifizieren. Sind alle Quartette gesammelt und das Spiel beendet, verstummt auch der Flügel und das Licht geht aus. Haltung der Spielenden Die Partitur dieses Stückes besteht aus dem Kartenspiel, Regelerläuterungen, Hinweisen zu Bühnenaufbau und Technik und den zu verlesenden Texten. Musikalische Notationen existieren, wie auch in den ersten beiden Beispielen, nicht. Besonders erkenntnisreich für die Bühnensituation, die koch kreieren möchte, ist folgender Auszug aus den Regelerläuterungen: „11. das spiel folgt den Regeln des quartettspiels (s. anhang). ausrufe, gespräche und diskussionen sind ausdrücklich erwünscht.

29 Siehe zur Verwendung von Zwölftonakkorden als harmonische Methode bei hans w. koch seinen Werkkomplex the O. theorem. Die in privat klavier quartett verwendete harmonische Struktur ist als eigenständige Ebene zu verstehen, die über die Veränderung der Zwölftonakkorde keine weitere Wechselwirkung mit dem hier diskutierten Spielkonzept bzw. dem Spielverlauf aufweist.

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ebenso getränke/knabbern/rauchen, gesten etc. ggf. die lautstärke der piezos nachregulieren. das ganze soll nicht theatralisch („gespielt“) von statten gehen, sondern so entspannt, wie ein kartenspiel auf der bühne sein kann. nicht vergessen, spass zu haben.“ 30

Der Komponist treibt das (außermusikalische) Spielen auf der Bühne auf die Spitze und sieht Verhaltensregeln und Requisiten vor, die vielmehr an einem Wirtshaus-Stammtisch zu erwarten sind als im Konzertraum. Der vorletzte Satz verrät, dass hans w. koch um das Dilemma weiß, den formalen Konzertrahmen und die Ko-Präsenz von Interpret*innen und Publikum nicht ignorieren zu können. Die Spielenden befinden sich auf einem Podium, die Blicke des Publikums auf sich gezogen. Nicht zuletzt mit dem erlaubten Alkoholkonsum arbeitet der Komponist hier aber gegen die Konvention. Regelwerk und Spielanordnung sind in privat klavier quartett dichter und komplexer angelegt als in den beiden vorangehenden Beispielen. So wird zum einen das allseits bekannte Quartett-Spiel kombiniert mit musikalischen und szenischen Aktionen, die aus der üblichen Logik des Spiels fallen – wie auch bei der Badminton-Performance – und choreografiert wirken, etwa das Vorlesen eines Textes oder der Gang zum Klavier. Zum anderen fließt insbesondere durch die verlesenen Texte eine Narration in die Spielsituation ein, wie sie in den anderen Beispielen nicht existent war. Allen drei Beispielen gemeinsam ist allerdings die Ausrichtung der Spielenden: sie befinden sich auf der Bühne in isolierten, wettkampfartigen Spielsituationen, in denen sie vis-à-vis zueinander ausgerichtet sind, beispielsweise die vier Pianist*innen am viereckigen Tisch oder die sich gegenüberstehenden Spielenden beim Badmintonspiel. Es besteht in diesen Fällen keine Blickachse zum Publikum, die Spielenden sind – teilweise mit dem Rücken zum Publikum – inmitten einer dynamischen und zugleich intimen Spielsituation, die von außen beobachtet wird. Auf diese Weise gewinnt die Aufführung von gamebasierter Musik irgendwo im Schwellenbereich zwischen Spielfeld und Konzertbühne eine spezifische Charakteristik. Während Interpret*innen einen eigenen Zugang entwickeln, um dieses Spiel im Spiel künstlerisch reizvoll auszubalancieren und ihr eigenes Rollenverständnis auf den Prüfstand zu stellen, können auch die Rezipient*innen auf eine neue Art involviert sein als aktive Beobachtende des Spielverlaufs. Die diskutierten Beispiele von hans w. koch stehen hierfür beispielhaft, gerade weil es entgegen der in ihren Spielkonzepten vordergründig angelegten Spielziele nicht ums Gewinnen geht.

30 Ausschnitt aus Partituranweisung von privat klavier quartett, Eigenverlag.

„aufs Spiel setzen“ Spieltheoretisch motivierte Wettkampfsituationen in der Arbeit von Iannis Xenakis Robin Hoffmann

Die Beschäftigung von Iannis Xenakis mit mathematischen Grundlagen der Spieltheorie schlägt sich unmittelbar in drei seiner Kompositionen nieder: • Duel (1959) für zwei Orchester und zwei Dirigenten, UA 18.10.1971,

Hilversum, Orchestre de la Radio, Ltg.: Diego Masson/Fernand Terby • Stratégie (1962) für zwei Orchester und zwei Dirigenten, UA 25.04.1963,

Festival Venezia, Orchestre du Festival, Ltg.: Bruno Maderna/Constantin Simonovitch • Linaia-Agon (1972) für Horn, Posaune und Tuba, UA 26.04.1972, London, English Bach Festival1 Alle drei Stücke eint die Realisierung eines in Musik ausgeführten Wettstreits zweier sich gegenüberstehender Parteien. Duel und Stratégie sind nicht nur zeitlich nah entstanden, sie sind auch in der Konzeption eng miteinander verbunden. Die Erläuterungen zu den Partituren sind in ihrem Wortlaut nahezu identisch.2 Zudem werden beide Werke von Xenakis in seiner Schriftensammlung

1

Angaben nach dem Werkkatalog des Komponisten, Édition Salabert, 2001, als Download verfügbar über https://www.durand-salabert-eschig.com/en-GB/Composers /X/Xenakis-Iannis.aspx (Stand 15.11.2018).

2

Es liegen die handschriftlichen Partituren vor: Duel, Salabert MC 554, 1971, als Material erhältlich über Ricordi Berlin – erläuternde Graphiken mit französischen und englischen Beschriftungen, erläuternder Text in französischer Sprache. Stratégie, Boosey & Hawkes B.& H. 19773, 1969 (Leihmaterial) – die für die Realisierung der

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Formalized Music in einem zusammenhängenden Kapitel behandelt.3 In LinaiaAgon greift Xenakis den Gedanken auf, den er 10 Jahre zuvor entwickelt hatte, modifiziert und überträgt ihn in einen kammermusikalischen Zusammenhang. Zu fragen ist, welche Funktion Spielkonzepte in den Kompositionen einnehmen, welche Auswirkungen sie auf die musikalische Darbietung haben, in welchem Verhältnis Spiel und Musik zueinander stehen und schließlich, was die spezifische Behandlung der Thematik durch Xenakis auszeichnet. Dabei wollen wir von außen nach innen vordringen und zunächst die visuelle und akustische Ausformung der Stücke im Konzertsaal rekonstruieren, bevor der konzeptionelle Hintergrund der Arbeiten erläutert werden soll. Es erscheint sinnvoll, chronologisch vorzugehen, die beiden frühen Orchesterstücke gemeinsam zu behandeln, um sich im Anschluss Linaia-Agon separat zu widmen.

DUEL UND STRATÉGIE Die zwei Orchester, die in beiden Stücken in den Besetzungsangaben erwähnt werden, sind streng genommen ein großes Orchester, das in zwei gleich große Teile mit identischem Instrumentarium geteilt wird. Trotz opulenter Größe hält Xenakis den Standard eines Streicherapparates von insgesamt 12, 12, 8, 8, 6 ein, und auch eine übliche vierfache Bläserbesetzung wird nur bei wenigen Instrumentengruppen überschritten, sodass es in den einzelnen Orchesterhälften zu Streichern von 6, 6, 4, 4, 3 kommt und der paarweisen, teils solistischen Besetzung der Bläser. Die beiden Orchester entstehen somit aus einem Divisionsverfahren (1:2) und keinem Additionsverfahren (1+1). Die Unterteilung stellt einen elementaren Eingriff in die Organisationsform des Klangkörpers dar, berücksichtigt aber dessen interne Balance und ist nicht mit einer Übersteigerung der verfügbaren Klangmasse zu verwechseln. Die zu besetzenden Register beschäftigen Xenakis in Duel insofern, als dass er auf Instrumente wie Horn und Bratschen, die die Mittellage repräsentieren, verzichtet und auch durch Piccoloflöte und Es-Klarinette in der Höhe, BassKlarinette und Kontrafagott in der Tiefe das Vorhaben andeutet, Extremlagen

Partitur notwendigen Graphiken fehlen, stattdessen wird auf die Abbildungen in Formalized Music hingewiesen (siehe Anm. 3), erläuternder Text in Französisch, Englisch und Deutsch. 3

Xenakis, Iannis: Formalized Music – Thought and Mathematics in Composition, Revised Edition, Stuysevant: Pendragon Press 1992, Kapitel IV „Musical Strategy“, S. 110-130.

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unvermittelt miteinander zu konfrontieren.4 In Stratégie sind derlei mögliche Vorüberlegungen in der Besetzung nicht mehr zu erkennen, das orchestrale Klangspektrum ist hier mit einer großen Flöte, die sich zur Piccoloflöte hinzugesellt, einer B-Klarinette, die in der Lage zwischen Es- und Bassklarinette vermittelt, und nun auch besetzten Hörnern und Bratschen vollständig dargestellt. 5 Die Orchesterhälften sind links und rechts auf der Bühne postiert, 6 aus der Perspektive des Publikums in der üblichen Weise mit Streichern vorne, dahinter Bläser und an letzter Position das Schlagwerk. In der Mitte der Bühne ist von vorne nach hinten eine Schneise gezogen, an deren Eingang sich die Dirigentenpulte befinden. Die Dirigenten7 stehen mit dem Rücken zueinander und dirigieren jeweils nach halblinks oder halbrechts die ihnen zugewiesenen Orchesterhälften. Sie haben daher nicht die Möglichkeit, durch Blickkontakt ihre Aktionen zu koordinieren. Die Dirigentenpulte müssen, will man den Anweisungen von Xenakis gerecht werden, ungeahnte Ausmaße besitzen und dürften visuell den Charakter einer komplexen Kontrollstation annehmen. So sollen zum einen sämtliche Seiten der Partitur nebeneinander gelegt werden (8 Seiten für Duel, 10 Seiten für Stratégie im Überformat!), sowie eine Abbildung der von Xenakis sogenannten „Spielmatrix“ – ein Zahlengitter, in dem positive und negative Beträge eingezeichnet sind und das, wie sich im Folgenden zeigen wird, den Verlauf der Komposition bestimmt. Zum anderen bedarf es Platz für einen Stapel von großformatigen

4

Die exakte Besetzung von Duel nach den Partiturangaben (Gesamtzahl der spielenden Musiker): 2 Picc., 2 Ob., 4 Kl. (2 Es- und 2 Bass-Kl.), 4 Fg. (2+2 Kfg.); 4 Trp., 2 Pos.; 2x Schlagwerk (8 Spieler gesamt) mit je 1 Paar Bongos, 1 Paar Kongas, 1 Paar kleine Trommeln und einer zusätzlichen Konga; Streicher: 12, 12, 0, 8, 4.

5

Die Besetzungsangaben von Stratégie in Formalized Music entsprechen nicht denen der Partitur. Die genaue Besetzung, so wie sie sich im Notentext findet (Gesamtzahl der spielenden Musiker): 4 Fl. (2+2 Picc.), 4 Ob., 6 Kl. (2 Es-, 2 B- und 2 Bass-Kl.), 4 Fg. (2+2 Kfg.); 4 Hrn., 4 Trp., 4 Pos., 2 Tb.; 2x Schlagwerk (4 Spieler sind vorgesehen) mit je 1x Vibraphon/Marracas/gehängtes Becken/gr. Tr./4 Toms, sowie 1x Marimba/5 Tempelblocks/4 Woodblocks/5 Ziegenglocken; Streicher: 12, 12, 8, 8, 6.

6

Die entsprechende Graphik zu Stratégie in I. Xenakis: Formalized Music, S. 125. Im Vorwort der Partitur zu Stratégie wird auch auf die Option verwiesen, die Orchesterhälften auf getrennte, gegenüberliegende Podien zu verteilen.

7

Um der besseren Lesbarkeit willen wird hier und im Folgenden das generische Maskulinum verwendet. Es bezieht sich auch auf Personen weiblichen Geschlechts sowie andere Geschlechteridentitäten. Eine Ausnahme bilden die Inhalte, die ausdrücklich auf Frauen bezogen sind.

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Buchstabenkarten, mit denen den Musikern Hinweise gegeben werden können. Und schließlich soll auf den Pulten eine Vorrichtung positioniert werden, die es dem Dirigenten ermöglicht, durch unterschiedlich farbige Lichtsignale mit dem Orchester zu kommunizieren. Für die hierzu notwendige Apparatur hat Xenakis im Falle von Duel detaillierte Angaben gemacht, und sie belegen, welch zentrale Rolle in der Gesamtkonzeption eine derart aufwendig organisierte Weise der Verständigung einnimmt.8

Abbildung 1: Aufstellung Duel von Iannis Xenakis, ©1959 by Musique Contemporaine S.A., Reproduced by kind permission of Hal Leonard Europe Srl obo Editions Salabert

Hinten am Ende der Schneise verlangt der Bühnenaufbau von Duel eine Anzeigentafel, auf der im Laufe der Aufführung Zahlen addiert und subtrahiert werden und auf der zudem die bereits oben erwähnte Spielmatrix für das Publikum jederzeit sichtbar ist. In der entsprechenden Graphik für Stratégie ist diese Anzeigentafel nicht angegeben.9 Der Textabschnitt hierzu in den Erläuterungen, der für beide Stücke den gleichen Wortlaut besitzt, erwähnt als Alternative zur Anzeigentafel ein oder zwei Assistenten („Schiedsrichter“), die Berechnungen

8

Bei Stratégie fehlen vergleichbare Angaben zum technischen Aufbau.

9

Wie Anm. 6.

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vornehmen und erst am Ende der Aufführung dem Publikum einen hieraus ermittelten Gewinner des Wettkampfes mitteilen.10 Doch auch wenn Xenakis die Option einer Realisierung mit geringerem technischen Aufwand offen hält, so ist zu resümieren, dass mit den im Rücken zueinander stehenden Dirigenten, den Lichtsignalen, dem Hochhalten von Buchstabenkarten, möglichen Schiedsrichtern und der optionalen Anzeigentafel die Konzertsituation in etwas verwandelt wird, das sich nach heutiger Terminologie als „Multimedia-Ereignis“ beschreiben ließe. Das Publikum ist sowohl bei Duel als auch bei Stratégie über die musikalische Darbietung hinaus mit visuell wahrnehmbaren Handlungsmustern der Ausführenden konfrontiert, die ein Eigenleben zu führen scheinen und dennoch auf verborgenen Wegen mit dem musikalischen Geschehen verbunden sind. Die Frage drängt sich auf, inwiefern Lichtsignale, die hochgehaltenen Karten oder der Punktestand auf der Anzeigentafel für das, was klingt, verantwortlich sind? Oder stellen sie das Ergebnis einer spezifischen Klangkonstellation dar? Welches bedingt jenes und auf welche Weise? Man scheint einem Spiel beizuwohnen, dessen Spielregeln sich während der Aufführung schwerlich erschließen, und es mag die Anwesenden reizen, detektivisch im Konzertsaal die Vorgänge zu observieren, um die dahinter stehenden Motive aufzudecken. Die Rätselhaftigkeit aber ist inszeniert und für sich selbst genommen maßgeblicher Bestandteil beider Kompositionen.

HÖREINDRUCK STRATÉGIE Wir wollen uns daher noch, bevor das Geheimnis gelüftet und die Spielregeln erläutert werden sollen, einer online verfügbaren Aufnahme von Stratégie mit dem japanischen Yomiuri Nippon Symphony Orchestra (Dirigenten: Seiji Ozawa & Hiroshi Wakasugi)11 widmen, um die Doppelbödigkeit des Konzertgeschehens auch in seiner klingenden Gestalt nachzuvollziehen.12 Es handelt sich vermutlich um das einzige Ton-Dokument einer Aufführung des Werkes aus dem Jahr 1966.13

10 Siehe Anm. 2. 11 https://www.youtube.com/watch?v=Ipwbze36uj0 (Laufzeit: 13:25 min., letzter Zugriff: 7.4.2019). 12 Von Duel existiert meiner Recherche nach keine Aufnahme. 13 Die Aufnahme von Stratégie wurde mehrfach als Schallplatte veröffentlicht. In der durchnummerierten Diskographie (I. Xenakis: Formalized Music, S. 365-370) sind drei Veröffentlichungen gelistet (ohne Nennung des Veröffentlichungsjahres, aber allesamt mit den oben erwähnten Interpreten): Cybernetics Serendipity Music ICA 01.02 (Nr.

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Entsprechend dem Bühnenaufbau sind die Orchester halbrechts und halblinks im Stereo-Panorama angeordnet. Ihre rhythmisch-metrische Unabhängigkeit voneinander lässt sich somit gut nachvollziehen und prägt den Höreindruck maßgeblich. Das linke Orchester beginnt mit einer Struktur aus heterogen zusammengestellten Schlagzeuginstrumenten. Toms, Vibraphon, Marimba, Woodblocks und andere artikulieren dynamisch durchmischte, lautere und leisere Einzelimpulse, kurze Tremoli, flüchtige Glissandi auf den Stabspielen oder kleine rhythmische Figuren aus maximal drei Noten. Durch einzelne Akzente meint man, ein gemeinsames Bezugsmetrum wahrzunehmen trotz unentwegter rhythmischer Varianz. Keine Anzeichen von motivischer Festigkeit oder Wiederholungen, an denen man sich orientieren könnte. Die Aktionsdichte ist gemäßigt bei etwa ein bis drei Ereignissen pro imaginärem Puls von ca. MM = 50. Das zweite Orchester setzt unvermittelt bei 0′24″ ein, massiv, mit dominierenden, stark rhythmisch bewegten Sforzato-Blechbläsern, großen Sprüngen und Registerwechseln in den einzelnen Instrumenten, in der Aktionsdichte im Vergleich zur Schlagzeug-Schicht des ersten Orchesters um ein Vielfaches gesteigert. In dem großen Tohuwabohu lassen sich des Weiteren individuell geführte Holzbläser erkennen, die durch Hochtöne in einem plötzlich abreißenden Crescendo hin und wieder hervortreten. Auch das Schlagwerk des rechten Orchesters spielt und wirkt, im Vergleich zum linken, dynamisch angehoben. Dieses aber führt gänzlich unbeeindruckt ob der Attacke von rechts seine perkussive Schicht bis zu 1′12″ weiter und steigt hierauf mit einer dem rechten Orchester gleichwertigen Klangmasse ein.

26), RCA Victor SJV-1513 (Nr. 88), Varèse Sarabande 81060 (Nr. 94). Letztere ist die erste amerikanische Veröffentlichung von 1978, das Remaster einer in Japan bei JVC erschienenen Aufnahme von 1966 und höchstwahrscheinlich mit dem Youtube-Upload identisch:

https://www.audiophileusa.com/item.cfm?record=64332&c=1&kw=Class

ical (Stand 7.4.2019). Unter http://www.iannis-xenakis.org/xen/listen/disk_25.html (Stand 7.4.2019) ist zudem eine Veröffentlichung von 1989 auf Wotre Music – Colosseum 3447253 genannt. Die oben erwähnte Schallplatte Cybernetics Serendipity Music ICA 01.02 wurde digitalisiert und als Download zur Verfügung gestellt auf: http://cyberneticserendipity.net (Stand: 7.4.2019). Sie erschien 1968 im Zusammenhang mit der gleichnamigen, Computer-Kunst behandelnden Ausstellung (ICA Nash House, The Mall, London SW1). Anders als in der Track-Liste erwähnt, handelt es sich jedoch nicht lediglich um einen Auszug aus Stratégie. Zu hören ist zwar zunächst die Aufnahme des Yomiuri Nippon Symphony Orchestra (im Vergleich zum YoutubeUpload mit vertauschten Stereo-Kanälen!), doch dient diese lediglich als Rohmaterial für im Verlauf des 5-minütigen Ausschnitts zunehmende elektronische Manipulationen.

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Die Blechbläser des linken Orchesters klingen an dieser Stelle ähnlich, wenn nicht nahezu identisch wie die des rechten; und wenn auch aufgrund der Komplexität der sich überlagernden Klangschichten nicht exakt durch einen schlichten Höreindruck bestimmt werden kann, dass beiden Dirigenten der gleiche Notentext vorliegt, so lässt sich zumindest erahnen, dass vielfältige Kombinationen eines relativ überschaubaren Vorrats komponierter Strukturen zum Einsatz kommen. Dies kann insbesondere am Schlagzeug nachvollzogen werden, das in seiner Charakteristik gleich bleibt, mal im linken, mal im rechten, hin und wieder in beiden Orchesterhälften erklingt und erstmalig bei 4′40″ gänzlich aussetzt. Die Bläser sind einem Zerfaserungsprozess unterworfen, der an mehreren Stellen in der Aufnahme in unterschiedlichen Umgebungen erscheint. Sie beruhigen sich etwa bei 0′50″ im rechten Orchester, spielen individuell einsetzende Liegetöne und rücken nur noch durch vereinzelte Sforzati hin und wieder in den Vordergrund. Ein ähnlicher Zerfaserungsprozess ist bei 1′30″ wahrzunehmen, wo die Bläser beider Orchester nach brachialen Klangverklumpungen ausfransen und in den ausgedünnten Passagen erstmalig Streicher zu hören sind. Verdeckungen entstehen immer wieder – sowohl aufgrund unterschiedlicher Gesamtlautstärke in den jeweiligen Orchesterhälften, als auch aufgrund der differierenden Klangmasse in den Instrumentengruppen. Solche dynamisch unangepassten Situationen verstärken den Eindruck des unabhängigen Agierens nicht nur voneinander, sondern auch innerhalb der beiden Orchestersektionen. Mehrfach müssen sich die Streicher aus einem Wust von Einzelimpulsen herausschälen, bevor die Spezifika der ihnen anvertrauten Klangstrukturen zur Geltung kommen. Diese bestehen aus starr gehaltenen hohen Flageoletts (z. B. bei 2′30″, rechtes Orchester), perkussiven Impulsflächen (z. B. bei 3′20″ oder 12′50″, linkes Orchester) oder den für die Handschrift des Komponisten so charakteristischen Glissandi (besonders auffällig ab 4′40″, linkes Orchester). Bemerkenswert ist die Schablonenhaftigkeit im Umgang mit den komponierten Strukturen. Die Instrumentengruppen interagieren nicht, sie sind nur übereinander gelegt. Die orchestralen Grundfarben Bläser, Streicher, Schlagzeug erzeugen bei gleichzeitigem Erscheinen keine Klangmischungen, sondern lediglich simultane, in sich abgeschlossene Einheiten. Vermittlungstechniken, wie sie etwa die klassische Instrumentationslehre kennt, die die Instrumente der einzelnen Gruppen auch nach Registern ordnet (z. B. Flöte geht mit Violine, Fagott mit Cello, etc.), fehlen vollständig. Dafür ist gruppenintern jedes Instrument individuell mit selbstständigem Rhythmus und Tonhöhe ausdifferenziert und wird zum Bestandteil eines autonomen Bläser-, Streicher- oder Schlagzeugklanges.

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Die Orchester spielen überwiegend gleichzeitig, nur in kurzen Momenten bleibt eines übrig, während das andere einen Neueinsatz vorbereitet. In der Mitte der Aufnahme bei Minute 6′22″ irritiert eine 15-sekündige Pause – man hört, außer dem Knistern der (digitalisierten) Schallplatte, Bühnengeräusche wie leises Räuspern oder Klappern, das möglicherweise auf das Zurechtrücken von Notenpulten oder ähnliches zurückzuführen ist. Zuvor bei Minute 5′30″ spielten noch die Schlagzeuger des linken Orchesters in der Weise wie zu Beginn. Sie werden bei Minute 6′03″, ohne zu überlappen, vom rechten Orchester abgelöst, indem es den Schlagzeug-Part übernimmt, zusammen mit einem gehaltenen HolzbläserAkkord. Nach der Pause setzen beide Orchester gleichzeitig im Tutti und fortissimo ein. Doch auch wenn dieser Ruhepol so zentral positioniert ist, wirkt er wie zufällig entstanden. Auf den Gesamtverlauf der Musik lässt sich keine übergeordnete Dramaturgie projizieren. Die Aufnahme endet abrupt, das letzte Glissando auf der Marimba im rechten Orchester wurde noch in den technischen Fade-Out hineingenommen.

DAS SPIEL Beiden Kompositionen, Duel wie auch Stratégie, liegt ein von Xenakis entwickeltes Spiel zugrunde. Wer es spielt, sind die beiden Dirigenten. Die Orchester führen lediglich die vorgenommenen Spielzüge aus. Nach den bisher beobachteten Auswirkungen des Spielgeschehens zu urteilen, mag dies verwundern. Schließlich müssen die Instrumentalisten über die gewohnte Orchesterpraxis hinaus aktiv mit den erweiterten Kommunikationsmitteln wie Buchstabenkarten, Hand- und Lichtzeichen der Dirigenten umgehen. Auch die Dichteverhältnisse und die Komplexitätsgrade der sich überlagernden Schichten in der Musik stimmen nicht mit dem Spielgeschehen überein. Bühnenaktivität, Klangcharakteristik und Spielverlauf sind, wie sich auch im Folgenden zeigen wird, inkongruent.

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Abbildung 2: Spielmatrix von Duel, entsprechend der in Formalized Music als M7 bezeichneten Entwicklungsstufe

Den Dirigenten liegt die bereits oben erwähnte Spielmatrix vor. Dirigent X spielt die Zeilen, Dirigent Y die Spalten. Sie haben demnach jeweils die Wahl zwischen sechs Zügen, die von Xenakis als „Taktiken“ bezeichnet werden (6 Zeilen für X, bzw. 6 Spalten für Y).14 Um das Spiel zu gewinnen, strebt Dirigent X einen positiven Betrag an, der sich aus den eingetragenen Werten ergibt, Dirigent Y umgekehrt einen negativen. Wer das Spiel beginnt, wird ausgeknobelt. 15 Am Anfang des Spiels werden noch keine Punkte verteilt. Wählt Dirigent X beispielsweise als ersten Spielzug die Taktik II, so hat Dirigent Y die Möglichkeit, bei den Taktiken II, III, IV und VI jeweils, wie an der entsprechenden Schnittstelle von Zeile und Spalte verzeichnet, -1 Punkt zu gewinnen. Wenn er vorausschauend handelt, wird Dirigent Y nicht Taktik IV wählen, denn dann hätte beim nächsten Spielzug Dirigent X die Option, mit Taktik III zu antworten und erhielte +5 Punkte. Vielleicht hat Dirigent Y aber auch noch mehr Spielzüge voraus gedacht und nimmt gerade den vorzeitigen Gewinn seines Gegners in Kauf. Denn wählt Dirigent X tatsächlich Taktik III, so kann Y mit Taktik VI antworten, erhält -3 Punkte und X kann im Folgezug maximal bei der Wahl von Taktik VI +3 Punkte gewinnen, was Y die Möglichkeit verschafft, Taktik III zu spielen und seinerseits

14 I. Xenakis: Formalized Music, S. 122. 15 Ebd., S. 126.

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-3 Punkte zu erzielen. Addiert und subtrahiert man die Zahlen unseres konstruierten Spielverlaufs, so erhalten wir den positiven Betrag von +1. Wäre das Spiel an dieser Stelle zu Ende, hätte Dirigent X trotz aller Bemühungen von Y mit einem knappen Vorsprung von einem Punkt gewonnen. In seinen Erläuterungen zu Duel und Stratégie fordert Xenakis dezidiert die Wettkampfsituation ein: „Die einzig gültige Methode, die etwas Neues bringt […], ist diejenige, welche durch Gewinne und Verluste, Siege oder Niederlagen gerechtfertigt ist.“16 Den strategischen Überlegungen der Duellierenden misst er höchste Wichtigkeit bei: „Tatsächlich soll jeder fähig sein, die Schritte seines Gegners vorauszusehen, damit er, wie beim Schachspiel, die besten Taktikfolgen auswählen kann.“17 Den Taktiken/Spielzügen I-VI hat Xenakis auskomponierte Klangstrukturen zugeordnet, die so lange vom jeweiligen Orchester ausgeführt werden sollen, bis sie von neuen Taktiken abgelöst werden. Auf diese Weise kommt es zu steten zeitlichen Überlagerungen der Taktiken von X und Y und damit dem gleichzeitigen Spiel der Orchester bei alternierenden Einsätzen. Welche Taktik gespielt wird, zeigen die Dirigenten ihren Musikern durch die oben erwähnten Lichtsignale oder durch Handzeichen an. Die Dauer einer Taktik bzw. die Dauer der ihr zugeordneten Musik richtet sich nach der Bedenkzeit, die der Spieler/Dirigent für seinen Spielzug benötigt. Der Notentext hingegen, der dieser Musik zugrunde liegt, gibt eine Dauer von etwa zwei Minuten vor.18 Das führt zu der Notwendigkeit, dessen Wiedergabe auf die Bedenkzeit des Spielers einzurichten. Xenakis gibt vor, die Musik so lange zu wiederholen, bis eine neue Entscheidung gefallen ist. Außerdem kann zu jedem Zeitpunkt, an jeder Stelle die Musik abgebrochen werden, um zu einer neuen Taktik zu springen. 19 In den ersten Takten der Taktik I von Stratégie lässt sich der Zerfaserungsprozess der Bläser erkennen, der in der Aufnahme an mehreren Stellen zu hören war und in dem die Blechbläser dominant hervorstachen. In der Partitur sind oberhalb des Notentextes Buchstaben im Abstand von ein bis drei Takten verzeichnet.

16 Ebd., deutsche Übersetzung im Vorwort zu Stratégie, wie Anm. 2. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 127. 19 Ebd.

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Abbildung 3: Stratégie, Taktik I0, Beginn ©1967 BY BOOSEY & HAWKES MUSIC PUBLISHERS LIMITED, mit freundlicher Genehmigung Boosey & Hawkes Bote & Bock, Berlin

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Damit ist dem Dirigenten die Möglichkeit gegeben, mit den Buchstabenkarten seinem Orchester zu signalisieren, an der entsprechenden Stelle einzusetzen. Anfangs- und Endpunkt des Partiturausschnitts, die im Verlauf eines Spielzugs erklingen, sind damit flexibel. Die Motivation des Dirigenten, die Einsatzstelle zu variieren, ist jedoch nicht an seine strategischen Überlegungen gebunden, das Spiel gewinnen zu wollen. Der Grund hierfür liegt außerhalb der Wettkampfsituation, von der sich Xenakis einen Innovationsschub für die Musik erhofft. Der Wunsch nach variablem Einsatz eines verbindlichen Notentextes, nach vielfältigen Kombinationen eines begrenzten Vorrats komponierter Strukturen, nach Mobilität der in ihrer Anzahl begrenzten Taktiken offenbart sich insbesondere durch die Einführung der Buchstabenkarten. Dieser Wunsch überlagert das Spielkonzept, sodass es zu musikalischen Entscheidungen kommt, die vom inszenierten Wettkampf der beiden Parteien unabhängig sind.

ANMERKUNGEN ZUR AUFFÜHRUNGSPRAXIS Die Dauer eines einzelnen Spielzugs ist abhängig von der Bedenkzeit des Dirigenten, die er für sein geschicktes strategisches Vorgehen im Spiel benötigt. Die Bedenkzeit variiert und Xenakis scheint sich hiervon eine Dynamik im Ablauf durch stark differierende Zeiteinheiten zu erhoffen. Hierfür spricht, dass er in seinen Erläuterungen vorschlägt, eine Mindestdauer von 10 Sekunden pro Spielzug zu vereinbaren.20 Bei dem Aufwand, den ein Wechsel von einer Taktik zur nächsten mit sich bringt, ist dies eine ausgesprochen sportliche Untergrenze und wirkt kaum realisierbar. Man bedenke die notwendigen Schritte für den Dirigenten: Dirigieren, dann Abwinken der Taktik, Angabe der neuen Taktik per Lichtzeichen, Angabe der Einsatzstelle per Buchstabenkarte und Einsatz für das Orchester. All dies ohne Umschweife, denn die Musik soll nicht unterbrochen werden.21 Die größten Schwierigkeiten in der Umsetzung der Partitur liegen jedoch darin, dass jeder Dirigent zwei voneinander unabhängige Aufgaben gleichzeitig erledigen muss. Er muss einerseits ein Orchester leiten, andererseits muss er aber auch spielen und „wie beim Schachspiel“ die Konzentration darauf richten, seinen Gegner mittels geschickter Zugkombinationen zu überwinden. An dieser

20 Ebd. 21 Siehe hierzu die Erläuterungen zu Duel und Stratégie, wie Anm. 2.

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Doppelfunktion wird ersichtlich, dass in Duel wie auch in Stratégie kein „musikalisches Spiel“ stattfindet. Die Musik wird zwar durch ein Spiel in der Abfolge ihrer Teile organisiert, ist aber selbst nicht Bestandteil des Spielkonzepts. Um gleichzeitig dirigieren und spielen zu können, müssen für eine Aufführung zwingend bestimmte Abläufe automatisiert werden. Es liegt nahe, die Abfolge der Taktiken festzulegen, doch genau dieses verbietet Xenakis vehement und bezeichnet eine solche Vorgehensweise als „degeneriert“.22 Alternativ bestünde die Möglichkeit für die Dirigenten, die Partitur auswendig zu lernen oder zumindest derart zu verinnerlichen, dass sich die nötige Flexibilität in der Handhabung der Taktiken erreichen lässt. Im Falle der Uraufführung von Stratégie wurde wohl dahingehend nachlässig gehandelt. Zumindest äußerte sich Xenakis enttäuscht: „Während der Aufführung spielten die Streicher, insbesondere die Madernas, irgendwas. Ich glaube, Maderna hat die Idee der Musik nicht verstanden und vernachlässigte sie. Er dachte, es handele sich um einen Fall von improvisierter, ‚aleatorischer‘ Musik, die er gewohnt ist und die ich vollständig ablehne.“23

An anderer Stelle zeigt sich Xenakis selbstkritisch: „Diese Stücke haben alle eine Komponente, deren Lösung mir nur zum Teil geglückt ist: jede ‚Strategie‘ sollte wirklich interessant wirken. Sie müssen alle voneinander verschieden sein, aber sie dürfen sich auch nicht allzusehr von den anderen unterscheiden, weil die Kontinuität der Musik bewahrt bleiben muß.“24

Unabhängig von den Einschätzungen des Komponisten muss nach Sichtung der Partituren von Duel und Stratégie betont werden, dass, bei Berücksichtigung des hohen Aufwands an Vorbereitung und Organisation, eine Realisierung der Kompositionen durchaus möglich ist. In der oben besprochenen Aufnahme erklingen in Ansätzen die mobilen Klangstrukturen in vielfältigen Zusammenstellungen, stets verschieden, ohne sich allzu sehr zu unterscheiden, auch wenn

22 Ebd. 23 Xenakis in einem Brief an W. Rowicki vom 8. März 1965, zitiert nach Schmidt, Christoph: Komposition und Spiel – zu Iannis Xenakis, Köln: Studio 1995, S. 146 (Übersetzung: R. H.). 24 Varga, Bálint András: Gespräche mit Iannis Xenakis, Zürich/Mainz: AtlantisMusikbuch-Verl. 1995, S. 105.

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Momente auftauchen, die in der Konzeption des Stückes nicht vorgesehen waren (wie etwa die Pause in der Mitte der Aufnahme). Knapp 60 Jahre nach der Entstehungszeit der beiden Kompositionen muss an dieser Stelle auch auf die digitalen Möglichkeiten verwiesen werden, mit Hilfe derer heute diverse Automatisierungsprozesse dem Computer überantwortet werden könnten. Bei digitalisiertem Notentext und Spielmatrix wäre es ein Leichtes, letztere beispielsweise per Touchpad zu bedienen und dadurch weitere Aktionen zu triggern. Mit einem einzelnen Handgriff könnten so die Auswahl der Taktik, die Stimmen für die Musiker und der entsprechende Partiturausschnitt für den Dirigenten bestimmt und angezeigt werden, was den gegenüberstehenden Parteien Freiraum für das strategische Vorgehen im Wettkampf einräumen würde. Einen ersten Versuch in dieser Hinsicht stellt die audiovisuelle Installation playing music der Musiker und Computer-Künstler Marco Liuni und Davide Morelli von 2006 dar.25 Die Arbeit konzentriert sich einzig und allein auf das Spielkonzept von Xenakis, die prinzipielle Frage nach Verständigung zwischen Spielendem und einem außerhalb des Spielgeschehens befindlichen Klangkörper fällt weg. Auf der Bühne agieren lediglich die zwei gegeneinander antretenden Wettkampfteilnehmer. Sie knobeln entsprechend der Angaben von Xenakis aus, wer beginnt, und bedienen darauf anstelle eines Orchesters den Computer. Die Steuerung findet durch Handbewegungen statt, deren Positionen von der Software erkannt und den einzelnen Taktiken zugeordnet werden. Die Anzeigentafel ist mit aktuellem Punktestand und einer Abbildung der Spielmatrix nach den Vorstellungen von Xenakis gestaltet, bietet aber darüber hinaus weitere Informationen. So werden Spielern und Publikum Hinweise für die bestmöglichen Spielzüge gegeben und an anderer Stelle ausgeblendet. Außerdem ist ein Timer eingeblendet, der den Spielern angibt, ob sie zu warten haben oder wie viel Zeit ihnen noch übrig bleibt – ein Element, das möglicherweise einen Bezug zur oben erwähnten Mindestdauer hat und die Spielvariante nutzt, in der nach einer bestimmten Zeit der Wettkampf beendet wird. Zusätzlich sind analog zu den sechs Taktiken sechs Fotos von Komponisten zu sehen: 1. Varèse, 2. Cage, 3. Ligeti, 4. Stockhausen, 5. Berio, 6. Xenakis. Die historisch anmutende elektronische Musik, die bei der entsprechenden Wahl einer Taktik erklingt, wird zwangsläufig auf diese Komponisten bezogen, ganz gleich ob die verwendete Musik erkannt wird oder nicht.

25 Das Video einer Aufführung vom 13. Mai 2006 wurde von den Künstlern online zur Verfügung gestellt unter: https://www.youtube.com/watch?v=JiojGw_zGzs (Laufzeit: 6:05 min., letzter Zugriff: 7.4.2019).

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Unabhängig davon, ob die hieraus entstehende Klangcollage für sich genommen musikalisch überzeugt, ist die Arbeit von Liuni/Morelli für unsere Belange aus folgendem Grund von Bedeutung: Mit der Fokussierung auf die Abläufe im Wettkampf und durch das Ausblenden der Herausforderungen, die die Organisation von nahezu hundert Musikern auf der Bühne mit sich bringt, wird das Verhältnis von Musik und Spiel offenbar. Das Spiel hat in playing music dieselbe Funktion wie auch in Duel oder Stratégie. Es ist ein Steuerungsmodul. Es kann programmiert und dadurch zum Editieren jeder erdenkbaren Musik herangezogen werden. Liuni/Morelli haben nicht den Anspruch, Duel zu realisieren. Aber sie haben ein wesentliches Element des Konzepts von Xenakis umgesetzt und die Musik, die in den Spielapparat gefüttert wird, der Autorität seiner Spiel-Regelhaftigkeit unterworfen. Die kompositorische Autorität von Xenakis aber liegt in den von ihm entworfenen Klängen. Er erwägt sogar am Ende seiner Anmerkungen zur Partitur einen umgekehrten Fall, die komponierten Taktiken beizubehalten, die Entwicklung der Spielmatrix aber dem Publikum zu überlassen: „Das Spiel […] ist schließlich eine Superstruktur, die die stochastischen Strukturen so überdeckt, dass keine Kombination entgegengesetzter Taktiken hässlich sei. Die Verallgemeinerung der Idee bestünde in der aktiven Teilnahme des Publikums, das durch gemeinsame Abstimmung die Spielmatrize aufstellt. Doch dieses Experiment kann erst zu einem späteren Zeitpunkt unternommen werden. Der Weg dazu steht offen...“26

EXKURS: SPIELTHEORIE Für die Untersuchung von Spielkonstellationen verwendet die mathematische Spieltheorie die Darstellung in einer Bimatrix. In dieser werden Gewinne und Verluste zweier im Wettbewerb befindlicher Parteien eingetragen. Die Spielmatrix von Xenakis lässt sich direkt hieraus ableiten. Der Unterschied ist allerdings, dass sie in seinen Kompositionen nicht als Analysemodell fungiert, sondern stattdessen aktiv als Spielbrett Verwendung findet. Nach der Terminologie der Spieltheorie handelt es sich bei dem von ihm entwickelten Spiel um den Sonderfall eines Zwei-Personen-Nullsummenspiels. Dieses zeichnet sich darin aus, dass der Gewinn der einen Partei exakt dem Verlust

26 Erläuterungen zu Stratégie, gleichlautend mit den Anmerkungen zu Duel (dort in französischer Sprache), wie Anm. 2.

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der anderen entspricht. Klassisches Beispiel hierfür ist das Spiel Schere, Stein, Papier, das sich in der Bimatrix auf folgende Weise darstellen lässt:

Tabelle 1: Schere, Stein, Papier – Bimatrix

Spieler X Spieler X

Schere Stein Papier

Schere

Spieler Y Stein

Papier

0/0 +1 / -1 -1 / +1

-1 / +1 0/0 +1 / -1

+1 / -1 -1 / +1 0/0

Die erste Zahl zeigt Gewinne und Verluste aus der Perspektive von Spieler X (Zeilen), die zweite von Spieler Y (Spalten). Da der Gewinn der einen Partei dem Verlust der anderen entspricht, lässt sich die Graphik vereinfachen, indem Gewinne und Verluste lediglich aus der Sicht von Spieler X dargestellt werden:

Tabelle 2: Schere, Stein, Papier – vereinfachte Darstellung

Spieler X Spieler X

Schere Stein Papier

Schere 0 +1 -1

Spieler Y Stein -1 0 +1

Papier +1 -1 0

Diese Darstellungsform hat auch Xenakis für seine Spielmatrix übernommen. In Schere, Stein, Papier hat jeder Spieler die Auswahl zwischen drei Spielzügen, in der Regel als „Strategien“ bezeichnet. Jede Strategie besitzt die gleichen Gewinnchancen: Gewinn, Verlust oder Unentschieden. Das Spiel ist zunächst ein Glücksspiel. Doch je mehr Runden man spielt, besteht die Möglichkeit, Musterbildungen zu erkennen oder auch anzuwenden, um diese dann geschickt zu durchkreuzen und somit die Entscheidung des Gegners zu beeinflussen. So könnte man beispielsweise konsequent auf die Strategie „Stein“ setzen und in dem Moment, wo der Gegenspieler das Muster erkannt und die Strategie „Papier“ wählt, mit „Schere“ antworten. Die Spieltheorie berücksichtigt derartige psychologische Komponenten, indem sie beispielsweise Spielertypen definiert oder mit dem Aufbau von

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Glaubwürdigkeit („Reputation“) bei einem Spielverhalten operiert.27 Für Xenakis spielt der psychologische Aspekt, der das strategische Vorgehen im Laufe eines Spiels mitbestimmt, keine Rolle. Er möchte ein Spiel entwickeln, das kein Glücksspiel ist, sondern in dem durch vorausschauendes, rationales Handeln gewonnen werden kann. Die Spieltheorie macht bei der Analyse von Gesellschaftsspielen 28 nicht halt, sondern überträgt den Aspekt des spielerischen Wettkampfes auf soziale Konfliktsituationen. Heutzutage findet die Spieltheorie insbesondere Verwendung in den Wirtschaftswissenschaften. Ein häufiges Einführungsbeispiel in die Materie ist das sogenannte Gefangenendilemma.29 Anders als bei Schere, Stein, Papier sind die Gewinne und Verluste der spielenden Parteien verschieden: Zwei Personen werden gefangen genommen, die gemeinsam ein Verbrechen begangen haben. Um sie zu überführen, benötigt man ein Geständnis. Gestehen beide, erhalten sie fünf Jahre Haft, gestehen beide nicht, werden sie aufgrund kleinerer Vergehen für ein Jahr eingesperrt. Gesteht jedoch einer und der andere nicht, gilt die Kronzeugenregelung: der Geständige wird frei gelassen, während dem Nichtgeständigen zehn Jahre Gefängnis drohen. Die Spielsituation kann folgendermaßen in der Bimatrix dargestellt werden:

27 Zur Spieltheorie existieren zahlreiche informative Websites und Online-Lehrvideos. Zu Spielertypen beispielsweise die animierte, selbst als ein Spiel angelegte Website The Evolution of Trust: https://ncase.me/trust/ (letzter Zugriff: 7.4.2019); zu Reputation (Spieltheorie) siehe u.a. Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Reputation_ (Spieltheorie) (letzter Zugriff: 15.3.2019). 28 Als einer der Begründer der modernen Spieltheorie gilt u.a. John von Neumann mit seiner formalisierten Analyse der Gesellschaftsspiele: ders.: „Zur Theorie der Gesellschaftsspiele“, in: Mathematische Annalen 100 (1928), S. 295-320; online verfügbar über https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN235181684_0100 (letzter Zugriff: 7.4.2019). 29 Holler, Manfred J./Illing, Gerhard: Einführung in die Spieltheorie, Kapitel 1, München: Springer

6

1990, als Download verfügbar unter: https://www.uni-siegen.de/fb6/

phima/romsem/dateien/holler-u-illig_2006_einfuehrung_in_die_spieltheorie.pdf (letzter Zugriff: 7.4.2019).

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Tabellen 3–8: Gefangenendilemma

Gefangener X

gesteht nicht gesteht

Gefangener Y gesteht nicht gesteht 1/1 10 / 0 0 / 10 5/5

Wie entscheiden sich die beiden Gefangenen? Sie können sich nicht abstimmen, das Spiel ist nicht-kooperativ! Die Entscheidungen werden gefällt gegeben der Entscheidung des anderen. Das bedeutet: Man untersucht die Wahlmöglichkeiten der einzelnen Parteien separat und liest zunächst aus der Perspektive von X die Spalten, um das aus seiner Sicht günstigste Ergebnis zu bestimmen:

Gefangener X

gesteht nicht gesteht

Gefangener Y gesteht nicht 1 0

Wenn Y nicht gesteht, wird X gestehen (fett gedruckt die gefällte Entscheidung). Gefangener Y Gefangener X

gesteht nicht gesteht

gesteht 10 5

Wenn Y gesteht, wird X ebenfalls gestehen.

Gefangener X

gesteht nicht

Gefangener Y gesteht nicht gesteht 1 0

Aus der Perspektive von Y werden anstelle der Spalten die Zeilen gelesen. Auch hier ist es so, dass Y gesteht, falls X nicht gesteht.

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Gefangener Y gesteht nicht gesteht Gefangener X

10

gesteht

5

Und Y wird ebenfalls gestehen, wenn X gesteht. Wir haben es demnach mit dominanten Strategien zu tun, denn unabhängig davon, wie die Gegenpartei entscheidet, setzen sowohl X als auch Y immer auf die gleiche Strategie (nämlich „gestehen“). Dies führt zu einem Nash-Gleichgewicht30, das in der Bimatrix durch zwei hervorgehobene Entscheidungen in der gleichen Zelle dargestellt ist: Gefangener Y Gefangener X

gesteht nicht

gesteht nicht 1/1

gesteht

0 / 10

gesteht 10 / 0 5/5 Nash-Gleichgewicht

Vorausgesetzt, dass die Gefangenen rational und gewinnorientiert handeln (und dabei in weniger Haftstrafe einen Gewinn sehen), kann ausgeschlossen werden, dass sie beide nicht gestehen, obwohl sie in diesem Fall nur mit einem Jahr Gefängnis davonkämen. Diese Entscheidung wäre nur durch einen für beide Seiten verbindlichen Vertrag möglich – die sogenannte „Monopollösung“. (Wir können beiläufig, ohne tief in die Wirtschaftswissenschaften eingestiegen zu sein, die notwendige Aufgabe eines Kartellamtes erkennen, das solche Monopollösungen zu verhindern versucht, um den Wettbewerb fair zu organisieren!) Der kurze Einblick in spieltheoretische Überlegungen soll genügen, um die Absichten von Xenakis bei der Entwicklung seines Spiels zu umreißen: 1) Das Spiel soll einfach sein. Xenakis entscheidet sich darum für ein ZweiPersonen-Nullsummenspiel. 2) Das Spiel ist nicht-kooperativ. Vereinbarungen zwischen den Spielern sind nicht zulässig.

30 Nach Nash, John Forbes.: Non-cooperative games, 1950. Die Dissertation ist online verfügbar unter: https://rbsc.princeton.edu/sites/default/files/Non-Cooperative_Games _Nash.pdf (letzter Zugriff: 7.4.2019).

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3) Das Spiel soll fair sein. Beide Parteien haben die gleiche Chance zu gewinnen. 4) Das Spiel soll kein Glücksspiel sein, sondern nach vorausschauenden, strategischen Überlegungen „wie beim Schachspiel“ gewonnen werden können. 5) Das Spiel soll vielfältig sein. Den Spielern muss ein Anreiz gegeben werden, die eingesetzten Strategien zu variieren. 6) Das Spiel soll in seinem Ergebnis offen sein. Es gilt, ein Nash-Gleichgewicht zu vermeiden. Anstelle dominanter Strategien sollen gemischte Strategien zum Einsatz kommen. In deren Fall lassen sich die Wahrscheinlichkeiten, mit der die jeweiligen Spielzüge zum Einsatz kommen, mit Hilfe des MinimaxTheorems nach von Neumann errechnen.31 Xenakis bemüht sich dabei um eine ausgeglichene Verteilung der Wahrscheinlichkeiten zwischen den Strategien und den beiden Spielern.

DIE ENTWICKLUNG DES SPIELS (DUEL) Das Spielkonzept wurde von Xenakis für Duel entwickelt und in modifizierter Form für Stratégie übernommen. Ausgangspunkt sind fünf für Duel angelegte Klangereignisse32: I. II. III. IV. V.

Pointillistische Streicher (pizzicato, arco staccato, legno battuto) Tenuto-Streicher Gegenläufige Streicher-Glissandi Schlagzeug Bläser

Xenakis erwähnt, dass die Charakteristik der Klangereignisse gewahrt bleiben müsse, auch wenn nur ein kurzer Ausschnitt der jeweiligen Struktur erklingt. 33 Er beabsichtige daher, beim Komponieren einerseits Homogenität, andererseits genügend Abwechslung („local fluctuations“) in den Ereignissen zu erreichen.34 Dabei ist die Wiedererkennbarkeit von Ereignis IV bzw. V allein durch die entsprechende Instrumentengruppe gegeben. Wenn wir dagegen die Ausarbeitung

31 Den spieltheoretischen Hintergrund solcher Berechnungen behandelt Christoph Schmidt ausführlich in: C. Schmidt: Komposition und Spiel, Kap. „Das Zwei-PersonenNullsummenspiel“, S. 23-32. 32 I. Xenakis: Formalized Music, S. 113. 33 Ebd., S. 114. 34 Ebd.

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der Streicher-Ereignisse I, II, und III beobachten, so lässt sich erkennen, dass in II neben gehaltenen Tönen (T. 38-45, 49-54, 63-69) und Tremolo-Flächen (T. 1-6, 14-26), die für die Charakteristik „tenuto“ stehen und eine Unterscheidung von I und III ermöglichen, auch Schnittmengen mit den beiden anderen Strukturen durch kurze, punktuelle Artikulationen (T. 7-14, 46-48) und Glissandi (T. 22-37, 41-45, 55-64) entstehen. Hörend lassen sich die ersten drei Klangstrukturen nicht klar voneinander abgrenzen, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass lediglich ein kurzer Ausschnitt aus II erklingen könnte, der das Material aus I oder III variiert. In einem nächsten Schritt evaluiert Xenakis die Qualität der Kombinationen möglicher zusammentreffender Ereignisse. Hierfür ordnet er sie in einer Bimatrix an und bewertet sie subjektiv auf einer Skala von p (passable) bis g (good). In der Matrix M2 ist dabei als sechstes Ereignis Stille hinzugefügt:35

Abbildung 4: Duel, Anordnung der Bewertungsskala in einer Bimatrix

Wie schon zuvor erwähnt, beinhaltet die subjektive Evaluation, dass laut Xenakis keine Kombination „hässlich“ sei.36 Am schlechtesten bewertet Xenakis, wenn beide Orchester nicht spielen, also das Zusammentreffen der Taktiken VI und VI, doch sei auch diese Möglichkeit einigermaßen brauchbar (p-). In dem Moment allerdings, in dem die Ereignisse in einer Bimatrix angeordnet sind, die bereits die

35 Ebd., S. 115. 36 Siehe Anm. 23.

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Spielkonstellation zweier sich gegenüberstehender Parteien vorwegnimmt, räumt Xenakis indirekt auch die Gültigkeit des Gegenteils seiner Einschätzung ein. Entsprechend eines Zwei-Personen-Nullsummenspiels ist der Verlust des einen der Gewinn des anderen. Was diesem zuwider, ist jenem gerade recht und billig. Xenakis nimmt die Perspektive des Dirigenten X ein, Y hingegen würde nach dem obigen Entwurf der Matrix von allen Kombinationsmöglichkeiten das Schweigen beider Orchester mit „sehr gut“ bewerten. Mögliche Kriterien der subjektiven Evaluation werden von Christoph Schmidt in seiner Dissertation Komposition und Spiel – zu Iannis Xenakis ausführlich untersucht. Der Verfasser setzt bei der in der Tabelle ersichtlichen Tatsache an, dass in allen Fällen die Zusammentreffen der gleichen Taktiken mit „passabel“ bewertet werden, und stellt die Hypothese auf, dass hierfür fehlender Kontrast zwischen den Klangereignissen einen Grund darstellen könne.37 Die Vermutung werde durch die Bewertung vieler Kombinationen gestützt, doch lasse sich die Annahme nicht bis ins Letzte verifizieren.38 Eine Beobachtung, die in Schmidts Arbeit weniger Aufmerksamkeit erhält, betrifft die Gleichwertigkeit der Ereignisse I-V. Xenakis rechnet mit der Möglichkeit, dass diese einzeln erklingen können, wenn in der jeweils anderen Orchesterhälfte die Taktik VI, also Stille, zum Zuge kommt. In diesen Fällen sind alle Kombinationen in der Graphik mit p gekennzeichnet. Das hieße folglich, dass eine solistische Schlagzeug-Schicht die gleiche (subjektiv empfundene) Qualität besäße wie eine Glissando-Wolke oder ein Bläser-Fortissimo. Xenakis setzt sich konzeptionell über die Physiognomien der von ihm entwickelten Klangstrukturen hinweg. Er missachtet sowohl ihr unterschiedliches dynamisches Potential, die qualitative Unterscheidung von perkussiven und zu Tonhöhen befähigten Instrumenten als auch die verschiedenen Ausdrucksqualitäten einzelner Spieltechniken. Die Ereignisse sind letztendlich sowohl austauschbar und gerade darum frei kombinierbar als auch in der Abfolge verschiebbar. Die Instrumente werden ihrer angestammten Funktion im Orchesterverbund enthoben und zu monolithischen Einheiten zusammengefügt. Den so erzeugten rohen Klang-Quadern wird eine Autonomie zugesprochen, die sie dazu befähigt, unvermittelt übereinander und nacheinander zu erscheinen. Gerade dies zeichnet die Rigorosität der Xenakis’schen Orchesterbehandlung aus und bildet die Ursache für die schroffen, kantigen Block-Konstellationen, die selbst in dynamisch zurückgenommenen Passagen nicht den Eindruck von Massivität

37 C. Schmidt: Komposition und Spiel, Kap. „Exkurs über Xenakis’ Bewertungen der Strategiekombinationen“, S. 38-52. 38 Ebd. S. 52.

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verlieren. Sie lassen sich in der oben behandelten Aufnahme von Stratégie hörend nachvollziehen. Und auch wenn der Notentext in dieser Komposition ein anderer ist als in Duel – die Vorgehensweise ist dieselbe und der Höreindruck von autonomen, mobilen, unvermittelt über- und nebeneinander klingenden Strukturen lässt sich in weiten Teilen auf die frühere Komposition übertragen. Vor dem Hintergrund der austauschbaren Strategiekombinationen, die im Spielverlauf ja auch alle eingesetzt werden sollen, wirkt die subjektive Bewertungsskala von p-, p, p+, g, g+ und g++ wie eine ironische Distanzierung von der eigenen Courage, mit der die physischen Klang-Gewichtungen durch autoritäre Spielregeln egalisiert werden. So wird die Skala auch im weiteren Verlauf der Spielentwicklung mehrfach umgeformt, um die oben genannten Kriterien für das Spiel, insbesondere die der Fairness und der Vielfältigkeit zu erfüllen. Der erste Eingriff ist der Austausch der Bewertung der Strategiekombination VI/VI. Anstelle p- setzt Xenakis g ein, um Dirigent X einen Anreiz für den Einsatz dieser Taktik zu geben. Im gleichen Zug überträgt er die Skala in die Zahlenfolge von 0, 1, 2, 3, 4 und 5 (Matrix M3)39, die er im weiteren Verlauf mehrfach modifiziert. Er arbeitet sodann mit experimentellen Spieldurchläufen und ordnet im Anschluss die Zahlenwerte in der Matrix neu, denn nach seinen Berechnungen hat Dirigent Y in den ersten Entwürfen einen Gewinnvorteil, der eliminiert werden soll. Er erhält schließlich Matrix M7 (Abb. 5), die den verwendeten Zahlenwerten nach der Spielmatrix von Duel entspricht. An mehreren Stellen ist die Symmetrie in der Darstellung aufgehoben. Das heißt, dass beispielsweise die Strategiekombination II/V einen anderen Zahlenwert erhält als V/II (nämlich in dem einen Fall +1, in dem anderen -1), ebenso im Falle von III/IV bzw. IV/III oder IV/II bzw. II/IV. Der erste Impuls, das Spiel mit Hilfe einer subjektiven Bewertungsskala zu organisieren, wurde zugunsten von Fairness und Vielfältigkeit im Spiel aufgegeben. Die oben genannten Kriterien für die Spielentwicklung ließen sich nur durch eine konzeptionelle Gleichwertigkeit der Klangereignisse erreichen.

39 I. Xenakis: Formalized Music, S. 116.

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Zu Beginn der Partitur erscheint die gültige Spielmatrix nun in folgender Form:

Abbildung 5: Duel, finale Spielmatrix von Iannis Xenakis, ©1959 by Musique Contemporaine S.A., Reproduced by kind permission of Hal Leonard Europe Srl obo Editions Salabert

Die Taktiken I, II und III sind durch die Buchstaben A, B und C ersetzt. Im Falle von A kann der Dirigent frei entscheiden, welche der drei Streicher-Strukturen er wählt. B stellt eine Kombination aus zweien der drei Orchestergruppen (Streicher, Schlagzeug, Bläser) dar und in C spielt das volle Orchester (wieder bei freier Wahl aus den drei möglichen Spielarten der Streicher). Die eindeutige Zuordnung von charakteristischen Klangereignissen zu den einzelnen Taktiken ist mit diesem Eingriff aufgehoben. Außerdem wird der hörbare Nachvollzug des Spielgeschehens deutlich erschwert, wenn gleiche Ereignisse Teile von unterschiedlichen Strategien repräsentieren. Gewonnen werden dafür Kombinationen der komponierten Klangereignisse innerhalb einer Orchesterhälfte. Damit aber steigt die Wahrscheinlichkeit, dass gleiche Strukturen in beiden Orchestern gleichzeitig bei versetztem Einsatz erklingen. Was anfangs

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lediglich als „passabel“ evaluiert wurde, wird nun zu einem prägenden Element der formalen Abläufe im Fortgang der Komposition. Hinsichtlich der Aufführungspraxis muss an dieser Stelle der zusätzliche Aufwand erwähnt werden, der mit der Abwandlung des Konzepts einhergeht. Es ist durchaus denkbar, dass der Dirigent sich dafür entscheidet, in der Taktik C jeder Instrumentengruppe eine andere Einsatzstelle in dem für sie bestimmten Notentext mitzuteilen – das könnte dann das Hochhalten von bis zu drei Buchstabenkarten pro Taktikwechsel bedeuten, abgesehen von den unterschiedlich farbigen Lichtsignalen für die einzelnen Orchestersektionen. Laut Xenakis hat das Spiel, wie unterhalb der Graphik erwähnt, einen gewissen Vorteil für Dirigent Y, der durch die Übertragung eines Bruchteils seiner Punkte (entsprechend dem Spielwert v = -0,07) an Dirigent X am Ende des Spiels ausgeglichen werden soll. Dies mag irritieren. Man möge eigene Spieldurchläufe konstruieren, um festzustellen, dass in den meisten Fällen X als Gewinner hervorgeht. Grund hierfür dürften unterschiedliche Einschätzungen der Fairness bei statischen Spielsituationen (wie zum Beispiel im Gefangenendilemma) und einem Spielgeschehen sein, in dem verkettete Entscheidungen bei alternierenden Spielzügen stattfinden. Schmidt hat dies untersucht und dabei festgestellt, dass in der Spielanlage früher oder später Loops, also sich wiederholende Patterns der TaktikAbfolgen entstehen und die variable Einsetzbarkeit hierdurch begrenzt ist. 40 „Zwei Möglichkeiten bleiben offen, dem Spiel bei alternierenden Zugfolgen die Ungewißheit und damit die Spannung zu bewahren. Die eine läßt es nicht zu, daß ein Spiel vollkommen überschaut wird, obwohl es vom Typ her ein Spiel mit vollständiger Information ist, und ergibt sich wie beim Schach in der Fülle von möglichen Spielsituationen und -reaktionen; die andere legt sich nicht auf die Anzahl der Zugfolgen fest.“ 41

Das Mittel der Unüberschaubarkeit in einem Spiel mit vollständiger Information wendet Xenakis in Stratégie an.

40 C. Schmidt: Komposition und Spiel, S. 93. 41 Ebd., S. 108.

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DIE MODIFIKATION DES SPIELS IN STRATÉGIE Die Spielmatrix ist nun im Vergleich zu Duel erheblich erweitert:

Abbildung 6: Stratégie, Spielmatrix ©1967 BY BOOSEY & HAWKES MUSIC PUBLISHERS LIMITED, mit freundl. Genehmigung Boosey & Hawkes Bote & Bock, Berlin

Jeder Spieler hat die Auswahl aus 19 Strategien. Grundlage hierfür sind wie zuvor sechs komponierte Klangereignisse, die den Taktiken I-VI zugeordnet sind: I. II. III. IV. V. VI.

Bläser Schlagzeug Streicher-Perkussion (mit Hand auf Korpus geschlagen) Pointillistische Streicher Streicher-Glissandi Gehaltene Streicher-Flageoletts

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Die Taktiken VII-XV sind Kombinationen von je zwei Orchestergruppen. Während für Taktik B in Duel dem Dirigenten überlassen war, eine der drei komponierten Streicher-Strukturen auszuwählen, so werden nun vier Klangereignisse der Streicher (III-VI) eingesetzt, um jeweils eine neue Strategie zu markieren (nachvollziehbar in der Spielmatrix, Abb. 6, anhand der zugewiesenen Symbole). Auf gleiche Weise kommt es zu vier Orchester-Tutti-Arten in den Strategien VI-IX. Dennoch haben die Dirigenten auch in diesem Stück Entscheidungen zu treffen, die nicht in den Spielvorgang im engeren Sinne eingebunden sind. Die variablen, mit Buchstaben gekennzeichneten Einsätze wurden beibehalten. Für die Bläser bietet Xenakis zudem zwei frei zu wählende Varianten an, Version I0 (Abb. 3 zeigt den Anfang dieser Variante) und Version I, die nicht den massiven, rhythmisch bewegten Beginn von I0 übernimmt, sondern vielmehr durch Liegetöne bei versetztem Ein- und Aussetzen in den Einzelstimmen charakterisiert ist. Die sechs Klangereignisse sind charakteristisch voneinander unterschieden und in sich homogen. Schnittmengen mit anderen Taktiken, wie sie in Taktik II von Duel beobachtet werden konnten, tauchen nicht mehr auf. Im Vergleich zu Duel fällt auch der Einsatz von „Stille“ weg.42 Die Ereignisdichte ist daher in Stratégie mit durchschnittlicher Wahrscheinlichkeit durch die Hilfe des Steuerungsmoduls der Spielmatrix angehoben. Eine wesentliche Neuerung im Vergleich zu Duel stellt die computergestützte Kompositionsweise und der Einsatz des zum Zeitpunkt der Entstehung von Stratégie frisch entwickelten ST-Programmes dar.43 Die Abkürzung ST steht für „musique stochastique“.44 Die stochastische Kompositionsmethode, die Xenakis schon zuvor angewendet hatte – auch in Duel sind die komponierten Ereignisse stets mit „stochastisch“ bezeichnet – sollte mit dem neuen Vorgehen systematisiert werden.45 Die Angaben in der Partitur wie zum Beispiel JW=1 (siehe Abb. 3) beziehen sich auf die jeweiligen Computer-Ausdrucke, denen Xenakis die

42 Dies macht im Übrigen die Generalpause in der Aufnahme des Yomiuri Nippon Symphony Orchestra (Anm. 12) noch rätselhafter. Eine Überprüfung der Annahme, dass in der Aufnahme möglicherweise die Klangstrukturen von Stratégie mit der Spielmatrix von Duel kombiniert wurden, führte zu keinem Ergebnis. 43 Das erste Stück der Kompositionsreihe ST wurde wie Stratégie 1962 komponiert. Siehe hierzu: Baltensperger, André: Iannis Xenakis und die Stochastische Musik – Komposition im Spannungsfeld von Architektur und Mathematik, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 1996, S. 483. 44 Ebd., S. 439. 45 C. Schmidt: Komposition und Spiel, S. 185.

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Daten zu den von ihm zuvor bestimmten Klangcharakteristiken entnahm und sie darauf in traditionelle Notenschrift transkribierte.46 Es wäre ein Irrtum, die neu gewonnene Homogenität in den Strukturen, wie sie oben erwähnt wurde, dem verwendeten Computerprogramm zuzuschreiben. Jede Taktik wurde aus mehreren Computerdurchläufen (in der Partitur mit JW gekennzeichnet) zusammengestellt und die Definition des zu komponierenden Klangraumes obliegt auch hier dem Komponisten. Bezüglich unserer Fragestellung ist jedoch festzustellen, dass die stochastische Methode in der Anwendung eines Spielkonzepts auf eine Komposition fortgeschrieben wird. Was Xenakis auf das Dringlichste umtreibt, ist die Bestimmung des Unbestimmten. Es ist nachvollziehbar, dass ein Komponist, der durch Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen und deren Charakteristiken größere zusammenhängende Klangstrukturen organisiert, dieses Prinzip auf den Ablauf einer Komposition projiziert und auf diese Weise zu Spielkonstellationen kommt, die durch Regeln klar definiert, in ihrem Ergebnis jedoch offen bleiben. Dass der spielerische Wettkampf mit Sieger und Unterlegenem auch eine existentielle Komponente aufweist, zeigt sich in der späteren Komposition Linaia-Agon.

LINAIA-AGON „In Budapest wurde durch ein holländisches Ensemble einmal Linaia-Agon aufgeführt, aber ohne erklärende Programminformationen konnten wir nicht recht verstehen, was auf der Bühne vor sich ging; wer und warum und nach welchen Erwägungen Punkte gewann oder verlor. Uns gefiel die Musik trotzdem.“47

Was Bálint András Varga in seinem Interviewband mit Iannis Xenakis einleitend formuliert, beschreibt die von uns bereits für Duel und Stratégie festgestellte, inszenierte Rätselhaftigkeit der Konzertsituation. Die Verständigungsproblematik zwischen Dirigent und Orchester fällt in dem kammermusikalischen Werk weg. Tatsächlich sind es nun die Musiker selbst, die das Spiel ausführen und dabei Taktiken wählen, die als mobile Klangstrukturen im Verlauf des Stückes erscheinen. Buchstabenkarten, Licht- und Handzeichen werden nicht mehr benötigt, eine Anzeigentafel ist nicht vorgesehen, wohl aber ein Schiedsrichter. 48

46 Ebd., S. 189. 47 B. A. Varga: Gespräche mit Iannis Xenakis, S. 104. 48 Partitur Linaia-Agon, Éditions Salabert, E.A.S. 17.055, Paris 1972. Der Dirigent wird erstmals erwähnt in den Erläuterungen zu Combat α, S. 5.

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Ansonsten entspricht die Bühnensituation der eines traditionellen Konzertes. Vargas Irritation aber beruht auf den ungewohnten, mysteriösen Handlungsmotiven der Musiker. Ohne Vorinformation kann das Publikum spekulieren, vielleicht auch investigieren oder sich wie Vargas der Musik widmen, ohne die undurchsichtigen Hinweise auf ihre Organisationsform zu berücksichtigen. In allen Fällen werden jedoch die Höreindrücke als zentrale Kategorie für die Bewertung eines Konzerterlebnisses in Frage gestellt. Die Darbietung kann musikalisch goutiert werden, doch das Gefühl, etwas verpasst zu haben, bleibt bestehen. Im Vergleich zu den beiden Vorgängerkompositionen kennt Linaia-Agon einige formale Neuerungen. So ist die Komposition in Abschnitte eingeteilt, die entweder durch einen Notentext mit verbindlichem Anfang und Ende oder durch mobile Klangstrukturen entsprechend des behandelten Spielkonzepts definiert sind: 1. Linos contre Agon – eine Einleitung für Horn, Posaune und Tuba. 2. Choix de Combats – für Posaune und Tuba. In diesem Teil wird mit Hilfe einer Spielmatrix die Reihenfolge der Wettkämpfe ermittelt. 3. Es folgen die Wettkämpfe. Drei Arten sind durch die verwendete Spielmatrix, den vorgegebenen Notentext und eine eigene Instrumentenkombination aus dem besetzten Trio unterschieden: a. Combat α für Posaune und Tuba b. Combat β für Horn und Posaune c. Combat γ für Horn, Posaune und Tuba. Die Anzahl der Runden, also wie häufig die einzelnen Wettkämpfe stattfinden, richtet sich nach der im Choix de Combats festgelegten Abfolge. 4. Entre les Combats α, β, γ – ein Intermezzo für alle drei Instrumente, das vor oder zwischen die Wettkämpfe eingefügt werden kann. 5. Suspens du Destin für Horn, Posaune, Tuba – der Abschnitt soll nach dem Ende der Wettkämpfe erklingen, während der Schiedsrichter den Punktestand ermittelt. 6. Der Schlussteil für alle drei Instrumente, überschrieben mit Chant de Victoire et Requiem. Der Titel und die Satzüberschriften von 1., 5. und 6. weisen außermusikalische Bezüge auf. Linaia ist eine Wortschöpfung, die den Namen der Widmungsträgerin Lina Lalandi abwandelt und zudem auf Linos verweist, eine Figur aus der griechischen Mythologie, Sohn des Apollon und der Muse Urania, Lehrer des Herakles und derjenige, dem die Einführung der Schrift nach Griechenland

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zugesprochen wurde.49 Xenakis erwähnt in einem kurzen, der Partitur vorangestellten Text, dass Linos, der gefeierte Musiker, den Apollon zum Wettkampf, dem Agon, herausforderte, dabei dem Gott unterlag und durch ihn getötet wurde. Im Gegensatz zur mythischen Erzählung besäße das vom Komponisten entworfene musikalische Spiel für Linos eine kleine, mathematisch errechnete Chance auf den Sieg. Xenakis formuliert einem Motto gleich: Den Göttern den Fehdehandschuh hinzuwerfen bedeutet nicht Blasphemie, sondern sie zu übertreffen, in dem man sich selbst übertrifft.50 In der Komposition ist Linos durch die Posaune, Apollon durch Horn und/oder Tuba repräsentiert. Die Posaune beginnt in der Einleitung mit einem über vier Takte gehaltenen g1, im Tempo frei (keine Metronomangabe), dynamisch bewegt durch sfff > pp < mf, sfff > pp. Das Horn nähert sich dem gehaltenen Ton in sieben mikrotonalen Schritten von unten an (staccato), um dann zusammen mit der Posaune ab T. 6 auf g1 durch unterschiedliche Intonationen des Tones Schwebungen in variierten Geschwindigkeiten zu erzeugen (durch Zahlen in eckigen Rahmen oberhalb der Noten angegeben). Die Tuba ist anfangs der Gegenüberstellung von Posaune und Horn untergeordnet, hat lediglich zwei markierende Staccato-Sechzehntel auf f in T. 4 auszuführen und nach der Generalpause T. 10 einen solistischen Impuls auf Fis in T. 11, um gemeinsam mit den anderen Instrumenten einen Takt später durch eine Klein-Cluster-Attacke (fis1, g1, gis1) den ersten Abschnitt der Introduktion zu beschließen.

49 Siehe Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen, Bd. 2: Die Heroengeschichten, München: dtv 31977, S. 112. 50 „To throw the gauntlet to the gods is not blasphemy but is to surpass them by surpassing oneself.“ Paritur Linaia-Agon, a.a.O., S. 2.

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Abbildung 7: Linaia-Agon, Einleitung (Auszug), von Iannis Xenakis, ©1972 by Musique Contemporaine S.A., Reproduced by kind permission of Hal Leonard Europe Srl obo Editions Salabert

Es folgt ein mit Apollon überschriebenes Solo des Horns, das zentrale musikalische Elemente des Stückes exponiert: Liegetöne (T. 24/25, 31/32), teilweise mit zitternden Tonhöhenvariationen (von Xenakis in T. 37 als „Quilismen“ bezeichnet), exzessives Vibrato (T. 13/14, 17-19, 27-29), Glissando (T. 21-23, 26, 30), Flatterzunge (T. 34-36), Einzeltöne mit verschiedenen Rhythmuswerten und Dynamiken (T. 16, 20, 37). T. 39 ist mit Provocation de Linos betitelt. Die „Provokations-Geste“ der Posaune weist eine signifikante Artikulation auf, die Xenakis als ein „Pizzicato-Glissando“ umschreibt. In dem mit Linos überschriebenen Teil ab T. 54 übernimmt die Posaune den Solo-Part und stellt ihrerseits charakteristische Materialien vor: es tauchen unter anderem die sehr trockenen Staccati auf und Glissandi, die sich von denen des Horns auch instrumentenspezifisch unterscheiden. So lässt sich das „Apollon-Glissando“ auf eine Verlangsamung der Vibratobewegungen beziehen bei gleichberechtigtem Anfangs- und Endpunkt, das „Linos-Glissando“ hingegen auf eine Augmentation der erwähnten „Provokations-Geste“ bei flüchtigem, als Vorschlagsnote notiertem Zielnotenwert (T. 50/51, 64-66). In dem Finale (ab T. 73: Apollon accepte le combat) wird das Duo nun durch die Tuba zum Trio erweitert, geprägt durch schnelle Tonrepetitionen in martialischer Lautstärke (ab T. 86) und einem abschließenden, aufheulenden, nach oben in die Extremlagen der Instrumente steigenden Glissando (T. 99). Die dramaturgische Anlage der Einleitung mit den beiden Soli von Horn und Posaune und der Steigerung gegen Ende und die verbalen Zusätze fordern nahezu

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eine programmatische Ausdeutung ein: Die Schwebungen zwischen Horn und Posaune lassen sich als eine vorsichtige Annäherung zwischen den handelnden Personen interpretieren. Mit der „Provokations-Geste“ grätscht die Posaune/Linos förmlich in die Horn-/Apoll-Welt hinein, die physischen Anstrengungen bei der Tonproduktion können auf die Anspannung der Kontrahenten vor dem Wettkampf bezogen werden. Die Musik erhält einen ausgesprochen narrativen Charakter. Auch die anschließenden Abschnitte der Komposition, die durch Spielmatrizen organisiert sind, erscheinen nun in einem neuen Licht. Das Spielkonzept besitzt nicht mehr allein die Funktion, die es bei Duel und Stratégie noch innehatte. War es zunächst an formale Überlegungen gebunden, Prinzipien der stochastischen Musik in die Spiel-Regelhaftigkeit von Abfolgen mobiler Klangstrukturen zu übertragen, ist es nun eingebettet in die instrumentalmusikalische Darstellung eines rituellen Wettkampfes zweier mythischer Gestalten um Leben und Tod. Die Spiele selbst sind in ihrer Komplexität stark zurückgenommen. Der Choix de Combats kennt entsprechend der drei Wettkämpfe nur drei Taktiken, zwischen denen die Kontrahenten auswählen können. Sie haben für die Instrumente verschiedene Klang-Repräsentationen: 1. Taktik α: Posaune – h1, mf; Tuba – D (Flatterzunge), p. 2. Taktik β: Posaune – as1(Flatterzunge), sfff; Tuba – F, sfff > ppp. 3. Taktik γ: Posaune – g1, pp; Tuba – Viertelton über G1, f. Demnach klingt dieselbe Taktik in der Posaunenversion anders als in der Tubaversion. Es entstehen sogar Schnittmengen zwischen unterschiedlichen Taktiken (etwa die Flatterzunge der Posaune in Taktik β und die der Tuba in Taktik α). Während noch in den Orchesterstücken für beide Orchesterhälften derselbe Notentext für eine jeweilige Taktik verbindlich war, können nun hier keine charakteristischen Klangereignisse den Taktiken zugeordnet werden. Hierin weicht der Choix de Combats von den anschließenden Wettkämpfen ab. In den Combats α und β sind die ersten drei Taktiken mit Symbolen bezeichnet. Anhand des Beginns von Combat α lassen sich die spezifischen Klangcharakteristiken nachvollziehen.

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Abbildung 8: Combat α, Takte 1-5, von Iannis Xenakis, ©1972 by Musique Contemporaine S.A., Reproduced by kind permission of Hal Leonard Europe Srl obo Editions Salabert

Die oberste Taktik kennzeichnet das aus der Einleitung bekannte Quilisma. Die zweite Taktik kennt als prägendes Merkmal das Staccato, die dritte das Glissando. Neben diesen klaren Zuordnungen entstehen auch Schnittmengen zwischen den Materialien der unterschiedenen Klangereignisse. Die Flatterzunge ist in der Posaune T. 5 einerseits mit einem Quilisma, andererseits mit einem Glissando kombiniert. In der Tuba taucht sie hingegen in der Staccato-Taktik T. 1, 4 und 5 auf, in der Notation ergänzt durch eine Zickzacklinie unterhalb des Systems. Xenakis wünscht, eine solche Linie als ein quilisma d'intensité irrégulier auszuführen und stellt damit Analogien zwischen den unregelmäßigen Dynamikschwankungen und den zitternden Tonhöhenvariationen der Quilisma-Taktik her. In Combat γ wird die kämpfende Apollon-Partei durch Horn und Tuba repräsentiert und die zugeordneten Klangcharakteristiken verwischen zunehmend. Die Taktiken sind daher nun in römischen Ziffern von I-III und nicht mehr in Symbolen bezeichnet. Am ehesten kann noch Taktik I der Posaune als „StaccatoTaktik“ klassifiziert werden, doch hindert das Xenakis nicht daran, Staccati auch in weiteren Taktiken ausführlich einzusetzen. Spannen wir einen Bogen von der Einleitung hin zu den Wettkämpfen, so können wir eine Tendenz zur Generalisierung der Klangmaterialien in drei Stufen feststellen: 1) Die Introduktion zeichnet sich durch charakteristische Abschnittsbildungen aus. Bestimmte Spieltechniken sind Apoll/Horn (z. B. das exzessive Vibrato) oder Linos/Posaune (z. B. das Pizzicato-Glissando) vorbehalten.

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2) In den Combats α und β werden die Materialien der Einleitung in einem Pool zusammengefasst und zur Charakterisierung der Taktiken herangezogen. 3) In Combat γ werden sie schließlich auch über die Taktiken hinweg verteilt. Im Sinne der Handlung lässt sich formulieren: Linos und Apoll kämpfen mit den gleichen Mitteln. Die Klangmaterialien verlieren aufgrund der Anordnung in den Taktiken und durch die nach spielstrategischen Motiven gelenkte Abfolge ihre narrative Struktur, die sie noch in der Einleitung innehatten. Übrig bleibt die hohe Expressivität der physischen Anspannung bei der Tonproduktion. In einem Pool zusammengefasst, stets variiert und neu kombiniert, erhalten sie die ihnen übergeordnete Eigenschaft der inszenierten Auseinandersetzung. Wir hören Kampf! Es sind diesbezüglich in Linaia-Agon musikalische Entsprechungen vorhanden, die Duel oder Stratégie nicht kannten. Das Spielkonzept gerinnt auch klingend zum Agon. In allen drei Wettkämpfen fügt Xenakis als vierte Taktik Stille hinzu.

Abbildung 9: Spielmatrizen der drei Wettkämpfe, von Iannis Xenakis, ©1972 by Musique Contemporaine S.A., Reproduced by kind permission of Hal Leonard Europe Srl obo Editions Salabert

Anhand des Zahlenmaterials lässt sich erkennen, dass die vierte Taktik den anderen dreien ebenbürtig ist. Eine Wertungs-Skala, wie sie noch in der Entwicklung des Spiels für Duel von Bedeutung war, ist nicht mehr zu erkennen. Die Spielmatrizen unterscheiden sich darüber hinaus stark in dem verwendeten Zahlenvorrat, der wechselnde strategische Vorgehensweisen der Spieler von Wettkampf zu Wettkampf erfordert. Anhand des Spielwertes, den Xenakis rechts unterhalb von jeder Spielmatrix notiert, lassen sich die errechneten Chancen der gegenüberstehenden Parteien erkennen. Linos, der die Position von Spieler X (Posaune) einnimmt und nach einem positiven Gewinn strebt, hat in Combat β einen kleinen Vorteil von v = 0,054. Apollon hingegen (Spieler Y), dessen Spielziel ein in negativen Zahlen ausgedrückter Gewinn ist, hat in Combat α einen gehörigen Vorteil von v = -5 und in Combat γ von v = -2,03. Die Fairness, die

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Xenakis in den Vorgängerstücken zwischen den Spielern anstrebte, verkehrt er nun in ihr Gegenteil. Entsprechend den mathematischen Berechnungen wird Apollon, auch wenn das Spiel theoretisch offen gestaltet ist, mit aller Wahrscheinlichkeit entsprechend der mythologischen Überlieferung den Sieg davontragen. Damit erhält das Narrativ auch in der Spielkonzeption den Vorrang vor der Idee, eine ergebnisoffene, mobile Form zu entwerfen. Das Spiel ist wie ein Selbstzitat des Komponisten eingefügt und übernimmt in dem zentralen Abschnitt der Komposition die formale Organisation, ist aber selbst nicht mehr formkonstituierend. Das Schicksal der beiden Kontrahenten wird schließlich f-Moll-pentatonisch in heterophon gesetzten Fanfaren-Signalen erwartet (Suspens du Destin). Der Gesang, der den Sieger ehrt und den Verlierer betrauert (Chant de Victoire et Requiem), ist dagegen ein polymetrisch artikulierter Ganztoncluster im ffff aus den Tönen f1, g1 und a1, durch Vorschlagsnoten zur Ganztonleiter ergänzt und schließlich in den Stimmen individuell chromatisch abwärts geführt, um zu verpulverisieren („plus en plus rapidement et decrescendo“). Für etwa 15 Sekunden gehaltene Pedaltöne im ffff beenden das Stück. Die Auseinandersetzung um außermusikalische Einflüsse, die aus den musikalischen Strukturen allein nicht herauszulesen seien, kennt die Auffassung, dass sie für die Qualität der Musik nicht von Belang seien und diese ihre Eigenwertigkeit besitze. In der oben zitierten Äußerung von Bálint András Varga wird eine solche Ansicht vertreten. Dabei werden die verborgenen Handlungsmotive, die sich rein akustisch nicht erschließen, zugunsten der Wahrung musikalischer Autonomie in Kauf genommen. Die Möglichkeit bleibt unbeachtet, den unauflösbaren Konflikt zwischen Musik und dem, was sie nicht ist, aber mit ihr umgeht, als ästhetische Qualität zu entdecken. Xenakis behandelt in LinaiaAgon die Problematik zweifach doppelbödig: einerseits durch die Erzählung in Musik, andererseits durch das Spiel, das als Steuerungsmodul die komponierten Klangstrukturen, die musikalischen Inhalte, nicht bestimmt, sondern editiert. Durch die Verknüpfung mit dem mythologischen Wettstreit zwischen Linos und Apollon aber wird das Spiel selbst zum Narrativ.

„AUFS SPIEL SETZEN“ Duel und Stratégie sind ein Beitrag zur Debatte um die „offene Form“. In der Musik nach 1950 können für diese nach Blumröder zwei voneinander abweichende Bedeutungen ausgemacht werden: Einerseits versteht man unter offener Form „Werke mit ziellosem, unabgeschlossenem musikalischen Verlauf“,

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andererseits „Werke mit veränderlicher äußerer Gestalt“. 51 Die zweite, allgemeinere Bedeutungsebene darf allein aufgrund der Variabilität der Taktik-Einsätze mit Gewissheit für die beiden Stücke in Anspruch genommen werden. Doch auch die erste, die vornehmlich durch die Diskussion um Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI von 1956 geprägt wurde52, kann mit Einschränkungen für die beiden spieltheoretisch motivierten Orchesterstücke von Xenakis gelten. In Formalized Music bezeichnet Xenakis sein an ihnen entwickeltes Formkonzept als „heteronom“.53 Dieses sei durch den externen Konflikt eines Wettbewerbs zweier sich gegenüberstehender Parteien definiert. Das Spiel gegeneinander ermögliche, dass die Musiker (im speziellen Fall die Dirigenten) kraft ihres strategischen Vorgehens zusammen mit dem Komponisten den Einsatz der Klangstrukturen mitbestimmten.54 Das Vorgehen ist daher nicht ziellos, denn die Handlungsmotive sind auf das Gewinnstreben der Spielteilnehmer ausgerichtet. Der Verlauf der Musik ist aber unabgeschlossen, auch wenn am Ende des Spiels ein Gewinner ermittelt wird. Die mobilen Strukturen erhalten in ihrer nach Spielregeln ermittelten Anordnung keine innere Tendenz zu einem Ziel hin. Sie werden als autonome Klangblöcke frei kombiniert, sie überlagern einander rhythmisch unabhängig und lassen sich in formaler Offenheit an jeder Stelle einfügen. Zudem werden von den Musikern Entscheidungen verlangt, die nicht in den Spielverlauf eingebettet sind. Die Wahl der Einsatzstelle innerhalb einer Taktik ist der Intuition der Dirigenten überlassen und damit durch eine „vom Augen-Blick abhängigen Weise“ ausgezeichnet, wie sie Stockhausen für seine Komposition einfordert.55 Auch Konrad Boehmer beschäftigt sich in seiner „Theorie der offenen Form“ mit dem Klavierstück XI. Was er diesbezüglich formuliert, lässt sich mühelos auf die zwei behandelten Werke von Xenakis übertragen: „Der Wahrscheinlichkeitsgrad für das Erklingen eines Elementes zu einem bestimmten Zeitpunkt mag – innerhalb der vom statistischen Kalkül definierten Grenzen – noch so groß sein, wie er will: er sagt nichts über die musiksprachliche, die kontextuelle Funktion dieses

51 Blumröder, Christoph von: „Offene Form“, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.), Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 1995, S. 324. 52 Siehe hierzu Boehmer, Konrad: Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik, Darmstadt: Ed. Tonos 1967. 53 I. Xenakis: Formalized Music, S. 111. 54 „These acts would derive from both the will of the two (or more) conductors as well as from the will of the composer, all in a higher dialectical harmony.“ Ebd. 55 C. v. Blumröder: „Offene Form“, S. 325.

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Elementes in musikalischen Zusammenhängen aus. Die Erwartung wiederum, welche der Hörer aufgrund des schon Gehörten in kommende Partien des Werkes hegt, ist mit der kompositorischen Verwendung von Wahrscheinlichkeitstheorien nicht zu lenken. Diese können Konstellationen musikalischer Elemente determinieren; nicht aber können sie von sich aus ‚Form‘ artikulieren.“56

Die Xenakis’sche Spielmatrix ist ein Automat, der mit strategischen Entscheidungen gefüttert wird und Operationen ausführt, die die entsprechende Anordnung der autonomen, mobilen Klangstrukturen bewirken. Der Apparat editiert, bestimmt aber nicht den musikalischen Inhalt. Indem aber Xenakis sein komponiertes Klanggut den autoritären Spielregeln des Wettkampfes überantwortet, erhält das resultierende Gebilde eine eigenwillige Ausdruckskraft. Der Starrsinn, mit denen die monolithischen Klang-Quader übereinander geschoben werden, die Unangepasstheit, die Rücksichtslosigkeit bezüglich ihrer musikalischen Eigenheiten, der Unwille, auf ihre jeweilige Klang-Umgebung zu reagieren und dabei zu verdecken, zu überlagern, zuweilen sogar auszulöschen, steht für die musikalische Sprache des Komponisten, die er aufs Spiel setzt. Die Spielmatrix, der Apparat, der Computer, die Stochastik – sie sind der Fehdehandschuh, den Xenakis den göttlichen Ordnungen vor die Füße wirft. Das Linaia-Agon vorangestellte Motto besitzt eine unverkennbare heroische Komponente. Xenakis steht dem Göttlichen als Herausforderer gegenüber: „Jetzt bin ich Atheist. Die Gottesvorstellung hat der menschlichen Freiheit sehr geschadet. Sie tut auch heute noch ihre Wirkung bei der Versklavung des Menschen, so daß ich auf diesem Gebiet keine Kompromisse kenne.“57

Auf der anderen Seite der göttlichen Ordnung steht das Chaos. Dessen Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, beschäftige Xenakis existentiell. Als „sinnlichen Schock“ beschreibt er wiederholt seine Kriegserlebnisse:58 „But I had in memory all those scenes of demonstrations that happened in Athens against the Nazis, with thousands of people, with slogans, that became suddenly chaotic when the Nazis were shooting the people. I was always in front because I was a student. So this change

56 K. Boehmer: Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik, S. 98. 57 B. A. Varga: Gespräche mit Iannis Xenakis, S. 20. 58 A. Baltensperger: Iannis Xenakis und die Stochastische Musik, S. 76, außerdem: B. A. Varga: Gespräche mit Iannis Xenakis, S. 23.

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from something very rhythmical into a chaotic phenomenon was something sensually, very important, very exceptional for me.“59

Die Ästhetisierung der lebensbedrohlichen Erfahrung beeinflusst in nicht geringem Maße die künstlerischen Strategien von Xenakis. In Linaia-Agon wird dies auf einer neuen Reflexionsebene verhandelt. Mit der Benennung des mythologischen Wettstreits und der Analogiebildung zwischen dem Agon und der spieltheoretisch motivierten Konzeption der Mittelteile im Stück wird der existentielle Impuls offenbar: Linos stirbt aller Wahrscheinlichkeit nach... selbst das vorhersehbare Ende der Erzählung wird aufs Spiel gesetzt. Xenakis führt eine weitere Anekdote an, die zwar in friedlicherer Umgebung spielt als die vorherige, aber nicht weniger für die Ästhetisierung eines biographischen Erlebnisses steht: „I must say that these were impressions I had also from camping (laughing) – really, in Attica, it was fantastic – with all sorts of insects, even the moscitos around you, very nice sounds although they harm you.“60

Schönheit hat ihren Preis. Was so wunderbar klingt, kann auch wehtun. Das Komponieren ist für Xenakis kein Spiel. Er wirft seine Kunst in den Ring zur Überwindung der Götter.

59 Iannis Xenakis im Interview mit Volker Banfield und Heinz Otto Peitgen während eines Gesprächskonzertes „Wege zur Neuen Musik“, 1991, in Auszügen online zur Verfügung gestellt: https://www.youtube.com/watch?v=j4nj2nklbts (letzter Zugriff: 6.4.2019), Transkription 1′18″–2′00″: R. H. 60 Ebd., 2′00″–2′23″.

„Es gibt da einen Vertreter, der mir nicht gehorcht.“ Eine kleine Studie zur Rolle des Spielverderbers in der neueren Musik Michel Roth Im Gedenken an Hans Wüthrich (1937–2019)

Im Schweizer Städtchen Zug erklang am 5. November 2014 Selten gehörte Musik. Die so benannte, in den 1970er-Jahren von den Künstlern Dieter Roth, Gerhard Rühm und Oswald Wiener begründete Konzertreihe erlebte im Rahmen einer Ausstellung des Kunsthauses Zug über Dieter Roth und die Musik1 eine Neuauflage. Auf der Bühne Roths langjährige Weggefährten: Gerhard Rühm (Klavier), Oswald Wiener (Synthesizer und Stimme), Hermann Nitsch (Orgel), Christian Ludwig Attersee (E-Piano, Stimme und Melodica) und Walter Fähndrich (Viola und diverse Klangerzeuger). Wie üblich verzichtete die Gruppe auf Proben, es bedurfte aber aufwändiger Vorkehrungen, um Hermann Nitsch, der sich eine veritable Hausorgel auf die Bühne hat schaffen lassen, daran zu hindern, das Konzert endlos zu dominieren: Man gewährte ihm ein Solo zu Beginn, anschließend sollte das Kollektiv genau 60 Minuten spielen und danach abgehen. Dies würde Nitsch signalisieren, seinerseits das Orgelspiel abzubrechen – die Bühne verlassen konnte er wegen eingeschränkter Gehfähigkeit nicht. Zur Sicherheit hat Oswald Wiener die Veranstalter um die Zuspielung einer sprechenden Uhr gebeten, deren Lautstärke er regeln konnte, um bei Bedarf jederzeit für alle hörbar die Zeit durchzugeben.

1

Kunsthaus Zug (2014), Kurator: Matthias Haldemann; Hamburger Bahnhof Berlin (2015), Kuratorin: Gabriele Knapstein; Projektmitarbeit: Flurina und Gianni Paravicini (Edizioni Periferia Luzern), Michel Roth und Michael Kunkel (Hochschule für Musik Basel).

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Unter diesen Vorkehrungen begann das Konzert. Schnell erfolgte eine erste Planänderung, denn Nitsch verzichtete nach seinem Eröffnungssolo auf jedes weitere Mitspielen und hörte – an seiner Hausorgel sitzend – fortan nur noch zu. Die anderen schienen sich an die Spielregeln zu halten und verließen nach einer Stunde die Bühne. Rühm nahm dabei spürbar irritiert zur Kenntnis, dass nicht wie befürchtet Nitsch, wohl aber Attersee entgegen der Vereinbarung auf seinem EPiano mit hoher Intensität weiterspielte. Plötzlich alleine setzte er zwar bald zum Schlussakkord an, doch das E-Piano spielte ohne sein Zutun einfach weiter und bescherte dem Publikum (und dem ausharrenden Nitsch) behäbigen Softpop. Backstage war die Aufregung groß, denn niemand konnte sich erklären, woher diese Musik kam, die das vereinbarte Konzept und das während einer Stunde gepflegte musikalische Chaos empfindlich unterminierte. Man konnte nur vermuten, dass Attersee, dessen Klavierspiel bevorzugt aus Handkantenschlägen besteht2, irgendwann an den Knopf für den Demo-Modus gekommen war, wonach sich das E-Piano verselbständigte und ihn zwang, immer weiterzuspielen. Das Problem wurde auf dringenden Wunsch der Beteiligten vom Organisator des Abends mittels Betätigung des Powerknopfs gelöst – trotzdem war das ausgehandelte Spielende gründlich schiefgegangen. Doch hinter der Bühne überwiegte alsbald die Freude über diesen kuriosen und in seiner Situationskomik unnachahmlichen Schluss.3

AUSEINANDERSPIELEN Die Anekdote zeugt nicht nur von Spielwitz und ungebrochener geistiger Flexibilität dieser um die achtzig Jahre alten Künstler, sondern verweist auf deren jahrzehntelange Erfahrung im produktiven Einbeziehen von Regelverstößen, Übertretungen und Tabubrüchen. Die Reihe Selten gehörte Musik verdankt ihre Entstehung dem Umstand, dass nach diversen Aktionen 1968, darunter Kunst und Revolution (in der Presse als „Uni-Ferkelei“ gebrandmarkt), die Wiener Aktionisten um Oswald Wiener, Hermann Nitsch und Günter Brus Österreich verlassen mussten und in West-Berlin mit Dieter Roth und Gerhard Rühm

2

Vgl. Dieter Roth und die Musik (Blog): http://blogs.fhnw.ch/dieterrothmusic/seltengehorte-gespraeche, Gespräch mit Christian Ludwig Attersee vom 27. September 2012, Timecode: 00:31:40.

3

Der beschriebene Ausschnitt des unveröffentlichten Konzertvideos kann unter folgendem Link eingesehen werden: https://youtu.be/DJNi5i1KPvE (letzter Zugriff: 24.06.2020).

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zusammentrafen. Experimentierend mit Formen der künstlerischen Kollaboration beim gemeinsamen Schreiben oder Zeichnen entdeckten die Protagonisten im Musizieren eine genuin kollaborative Kunstpraxis und eine heuristische Erprobungsmöglichkeit von Interaktionsformen auf einem Terrain, wo (mit Ausnahme Rühms) alle gleichermaßen Dilettanten waren. Dass sich Rühm mit Serialismus, Wiener mit Bebop, Nitsch mit Bruckner, Attersee mit Rock’n’Roll, Brus mit der Wiener Schule und Roth mit irgendwie aller Musik auskannte4, erwies sich dabei als Vorteil, da man auch aus musikalischer Sicht nicht an einem konventionellen Zusammenspiel interessiert war, sondern eher am spannungsvollen und bisweilen rivalisierenden „Auseinanderspielen“5, wie es Dieter Roth nannte. Im Programmheft zum bedeutendsten öffentlichen Auftritt der Gruppe, dem Berliner Konzert (1974, auf LP erschienen 1977), schrieb Günter Brus: „Die deliriengeschulten Meister spielen sich und sie betreiben Musik wie einen Aderlass. [...] Wer einmal, fernab von Anschauungen, Interessenverbänden und Selbstvergangenheit seinen innersten Stimmen feinnervigst gelauscht, beziehungsweise seine mannigfaltigen Organe bis zur Selbstaufgabe nach aussen geplärrt, geschunden, mit einem selbstzeitlosen Raumverdrängungsgebrüll gepfauch gehauch gepfiff gefiese und gelölle sich in- und ausser sich ergangen hat, der begreift, dass eine Methode, seine SELBSTMUSIK in ständig abrufbereite Formeln zu pressen, untauglich sein muss. Die Musik der Meister ist eine Selbstmusik, die mit anderen Selbstmusiken grad einmal zusammentrifft. Die einzelnen deliriengeschulten Meister sind wie Notenköpfe., [sic] Zeichen, die das eine oder das andere bedeuten, nie aber das Endgültige. Treffen, wie im Beispiel BERLINER KONZERT, 7 Meister zusammen, so ist ihr Beisammensein der Grundakkord. Das folgende benimmt sich mit der Zeit wie ein Konzertstück. [...] Die Selbstmusik ist auf die Bühne getreten. Niemand muss dirigieren, niemand muss musizieren. Es wird nur mehr komponiert. Allein, zu zweit, zu siebent, mit Lauschern, ohne Lauscher. [...] Treffen diese Ballungen aufeinander, so wird selten gehörtes noch seltener: es wird unerhört“.6

4

Vgl. Haldemann, Matthias/Roth, Michel et al.: Und weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik, Luzern: Edizioni Periferia 2014.

5

Roth, Dieter: Gesammelte Interviews, hg. von Barbara Wien, London: Edition Hansjörg Mayer 2002, S. 260.

6

Brus, Günter: „Es gilt also, die DELIRIENMUSIK aus dem finsteren Todesbrunen der Seele zu schöpfen: In seiner Art und Weise – spielt jeder eine Weise!“, in: [o.A.], Selten gehörte Musik. Das Berliner Konzert, Programmheft [unveröffentlicht], 1974, S. 6.

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„Komponiert“ meint hier nicht, dass die Gruppe ihre Konzerte notationell oder konzeptionell abgesichert hätte, sondern dass jeder sich in der üblichen musikalischen Schöpfungskette an hierarchisch höchster und freiester Stelle verstand, also letztlich niemand die anderen leitet oder dominiert. Als Konsequenz dieser Selbstmusik sind auf den veröffentlichten Schallplatten die gruppeninternen Konflikte und divergierenden Ideen deutlich spürbar, ja sie werden beispielsweise auf der Plattenhülle des Romenthalquartetts (1975, erschienen 1976) unverblümt offengelegt (Abb. 1). „Brus nicht einverstanden“ wird an einer Stelle vermerkt, auf der Vorderseite wird Oswald Wiener in der Reihe der Protagonisten als „Lücke“ dargestellt, da er zwar anwesend war, aber nicht mitspielen wollte – was ihm die anderen (auf Beethoven anspielend) mit einem eingespielten „Adagio mit Höllenfahrt oder die Wut über den verlorenen Wiener“ heimzahlen. 7

7

Brus, Günter/Nitsch, Hermann/Roth, Dieter/Rühm, Gerhard: Streichquartett 558171 (Romenthalquartett), Selten gehörte Musik, LP, Stuttgart: Edition Hansjörg Mayer 1976.

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Abbildung 1: Günter Brus, Hermann Nitsch, Dieter Roth und Gerhard Rühm: Selten gehörte Musik, Romenthalquartett, LP, Edition Hansjörg Mayer (1976), Frontcover und erste Innenseite, © Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth

UNBEKÜMMERTE VERWENDUNG MUSIKALISCHER SPIELFORMEN Gerade diese Spannungen erschlossen dem Kollektiv eine „selten gehörte“ Spielart von Musik, wie der Chronist der Gruppe, Gerhard Rühm, festgestellt hat: „wir musizierten oder artikulierten etwa, wie man vor sich hin kritzelt, allen momentanen impulsen folgend, triebhaft, motorisch, dann wieder aufeinander reagierend. [...] wir erzielten klanglich unterschiedliche stimmungen simultan, beispielsweise wenn einer versunken vor sich hinspielte, der andere währenddessen ‚loslegte‘, der dritte blödelte, motzte oder lachte. so kam eine mehrschichtigkeit zustande, die aufeinander eingespielte, in einem gemeinsamen stil musizierende improvisationsgruppen selten erreichen.

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stillosigkeit also als unmittelbares ausdrucksprinzip, andererseits unbekümmerte verwendung musikalischer zitate und spielformen – musik über musik.“8

Was Rühm hier beschreibt, erinnert an André Bretons Paradigma des Spiels als einendes Prinzip im Surrealismus, um streng mit frei, „high“ mit „low“, Weisheit mit Torheit zu verbinden.9 Das von Rühm angesprochene aufeinander Reagieren, das ein Mindestmaß an Können und stilistischer Verständigung voraussetzt, wurde innerhalb der Selten gehörten Musik und ihrer Werke jedoch kontrovers diskutiert. Auf der Platte Novembersymphonie (1973) kommentieren Gerhard Rühm, Oswald Wiener und Dieter Roth gemeinsam vorweg aufgenommene „72 Bagatellen“ – kurze Ausschnitte ihrer Kollektivimprovisationen – und reflektieren dabei die Wirkung unterschiedlicher Formen des Zusammenspiels als Charakteristiken bestimmter Musikstile: Roth: „Du musst schon schwer besoffen sein, dass dir das gefällt.“ Wiener: „Es klingt, als ob’s von Kagel wär.“ Roth: „Gib dem Kagel auch mal eins auf die Mütze, Du!“ Wiener: „Wie moderne Musik.“ Rühm: „Schade.“ Roth: „Dieses ekelhafte Warten immer, nicht, das ist so widerlich!“ [...] Roth: „Also, ist wieder typisch, nicht, dass die Sache beim mehrmaligen Hören verliert, dass sie abfault, nicht? Währenddem die anderen haben gewonnen, oder?“ Rühm: „Ja vielleicht haben wir’s ned oft genug gehört, das ist vielleicht auch ein Aspekt.“ Wiener: „Einfache Scheisse muss halt in die Situation gestellt werden, in der sie gut ist.“ Rühm: „Ausser als moderne Musik ist es ja ned so schlecht, na? Das ist nur von unserem Standpunkt aus.“ Wiener: „Na, wir wollten aber doch keine moderne Musik machen.“ Rühm: „Ja, drum sag ich ja.“ Roth: „Wieso nicht?“ Wiener: „Ja, eigentlich, warum?“ [...] Roth: „Das ist das schlimmste überhaupt, dieses Geklapper da.“

8

Rühm, Gerhard: „Einige Daten zu ‚Selten gehörte Musik‘“, in: Dieter Roth Foundation/Dirk Dobke (Hg.), Dieter Roth. Bücher + Editionen. Catalogue Raisonné, London: Edition Hansjörg Mayer 2004, S. 83-85, hier: S. 83.

9

Vgl. Flanagan, Mary: Critical Play. Radical Game Design, Cambridge: MIT Press 2009, S. 162.

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Rühm: „Das war ne besonders arge Phrase.“ Wiener: „Free Jazz is not besser.“ [...] Roth: „Du hast zum Schluss gar nicht mehr gespielt, zum zweiten Mal, oder?“ Wiener: „Naja...“ Roth: „Es war nicht so laut, ne?“ Wiener: „...ich hab meine Pflicht getan.“ Roth: „Das kann man aber gar nicht hören!“ [...] Wiener: „Zusammenspielen. Das ist auch ganz schlecht, wenn man so zusammenspielt, dass der eine auf den anderen hört und so, uh, das ist schlecht!“ Rühm: „Ja, dieses ewige Reagieren...“10

Im Rahmen des Oral-History-Projekts Selten gehörte Gespräche (2012–2014) wurden die Teilnehmer an diesen Musikproduktionen (mit Ausnahme des bereits verstorbenen Roths) zu ihren Erinnerungen und Eindrücken befragt. 11 Oswald Wiener äußerte sich auch in diesem Rahmen zum aufeinander Reagieren und verortete es als eine traditionelle Organisationsform, dem sich einzelne Protagonisten der Selten gehörten Musik bewusst widersetzt haben: „[B]ei den Konzerten im Allgemeinen wurde überhaupt nichts... überhaupt nichts abgesprochen. Aber das ist einfach so, dass eben durch diese Vielzahl, Vielfalt der Talente und Nicht-Talente sich von allein immer eine Dynamik entwickelt hat. Da war immer einer, der in einem konventionellen Sinn geantwortet hat, und da war immer einer, der das versucht hat zu stören, und daraus hat sich das aufgebaut. Der typische Antworter war der Günter [Brus] und der Gerhard Rühm, die haben so beide ein ziemlich konservatives Musikverständnis.“12

10 Ein Ausschnitt aus: Roth, Dieter/Rühm, Gerhard/Wiener, Oswald: Novembersymphonie, Selten gehörte Musik, LP, Stuttgart: Edition Hansjörg Mayer 1973, ist zugänglich als „Hörbeispiel 2“ unter: http://blogs.fhnw.ch/dieterrothmusic/projekt dokumentation. 11 Dokumentiert unter Dieter Roth und die Musik (Blog): http://blogs.fhnw.ch/dieterroth music/selten-gehorte-gespraeche 12 Ebd., http://blogs.fhnw.ch/dieterrothmusic/selten-gehorte-gespraeche, Gespräch mit Ingrid und Oswald Wiener vom 26. September 2012, Timecode: 02:43:00.

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IN PURE HAPPINESS THE RELATIONSHIP IS NULL Oswald Wiener hat sich als Schriftsteller und Denkpsychologe mit Fragen der Wahrnehmung, Selbstregulation und Kybernetik kritisch auseinandergesetzt. Am bekanntesten im „appendix A“ zu seinem Roman die verbesserung von mitteleuropa (erschienen 1969), worin mit dem Bio-Adapter eine Art „glücksanzug“ postuliert wird als „diskutable skizze einer vollständigen lösung aller weltprobleme.“13 Für den sich im Adapter befindenden Menschen wird die Umwelt ersetzt, „in der ersten adaptions-stufe vertritt der adapter förmlich das ‚aussen‘, er simuliert wechsel-beziehungen, indem er sich als partner versteht. der sich von seiner umwelt auf attraktive weise ausgeeinzelt fühlende mensch weiss sich inmitten einer konversation, in einem spiel-ähnlichen dialog mit einer wohlwollenden instanz begriffen.“14 Der Bio-Adapter tritt dem Menschen als „leicht überlegener partner (etwa in der audio-visuellen darstellung eines professoral wirkenden väterlichen freundes)“15 entgegen. Die Illusion wird dann perfekt, wenn der Bio-Adapter Denken und Wahrnehmen so weit zu kontrollieren vermag, dass selbst das Verlassen des Adapters oder „liebgewordene gestaltkomplexe (geschlechtspartner, bester freund, mutter, vorgesetzter, psychiater)“ 16 vorgespielt werden können, letzteres geschieht bevorzugt, da „im zweifelsfall [...] eine verifikation immer besser über sprachliche kommunikation mit ‚anderen menschen‘“17 erfolgt. Wiener persifliert dabei die in der Nachkriegszeit breit rezipierten Denkmodelle der Kybernetik, die weite Dimensionen der Lebenswelt einschließlich ihrer Wahrnehmung in spiel-ähnlichen Regelkreisen18 beschreiben wollte mit dem Ziel, entsprechende Steuer- und Regulierungsmechanismen zur „Verbesserung“ einer staatlichen, militärischen und sozialen Kontrolle und Lenkung zu nutzen. Ein politisch-ökonomisches System, das im pursuit of happiness ein „Schmier-

13 Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa, Roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. CLXXV. 14 Ebd., S. CLXXVI. 15 Ebd., S. CLXXVIII. 16 Ebd., S. CLXXIX. 17 Ebd., S. CLXXX. 18 Vgl. Wiener, Norbert: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf: ECON 1992, S. 241-256.

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mittel [...] für die durch neue Steuerungstechniken kontrolliert ineinandergreifenden Zahnräder von rationalisierter Massenproduktion und homogenisierter Nachfrage nach [...] Gütern des privaten Glücks“ 19 entdeckt. „In pure happiness the relationship is null“20, schrieb 1968 der Komponist und politische Aktivist Michael Chant. Tatsächlich erprobten er, Cornelius Cardew und das Scratch Orchestra ab 1969 Formen eines Musizierens unter Bedingungen des Widerstands, der individuellen Autonomie, aber auch spannungsvoller Interdependenz.21 Cardews Motivation war – wie Michael Parsons es ausdrückte – eine Suche nach „new types of performer, from backgrounds other than that of a classical training.“22 Nyman hat dies in Analogie gesetzt mit John Cages „freigelassenen Klängen“: Stattdessen habe der „super-individualism“ des Scratch Orchestra Menschen von ihren Rollen innerhalb eines sozialen Verbunds befreit.23 An die Stelle der Pseudokontingenz eines partiturbasierten Zusammenspiels (vergleichbar einem eingeübten Theaterstück)24 treten somit reaktive und wechselseitige Kontingenzen25 – wie Dick Higgins festgehalten hat: „[They] establish a community of participants who are more conscious of behaving in similar ways than they would be if they were acting in a drama. This community aspect has

19 Müller, Sabine/Innerhofer, Roland: „Humanversuche. Avantgarde, Experiment und Wissenschaft im Kon/Text der verbesserung von mitteleuropa“, in: Elisabeth Großegger/Sabine Müller (Hg.), Teststrecke Kunst. Wiener Avantgarden nach 1945, Wien: Sonderzahl 2012, S. 201-232, hier S. 213. 20 Chant, Michael: „Responses to Virtues, for Theorizing“, in: Cornelius Cardew, Treatise Handbook, London: Edition Peters 1971, S. XXI. 21 In der Reihe Selten gehörte Gespräche hat sich Oswald Wiener explizit auf die Künstlermusik der Portsmouth Sinfonia aus dem Umfeld des Scratch Orchestra bezogen; s. Dieter Roth und die Musik (Blog): http://blogs.fhnw.ch/dieterrothmusic/ selten-gehorte-gespraeche, Gespräch mit Ingrid und Oswald Wiener vom 26. September 2012, Timecode: 01:52:20. 22 Parsons, Michael: „The Scratch Orchestra and Visual Arts“, in: Leonardo Music Journal 11 (2001), S. 5-11, hier S. 5. 23 Vgl. Nyman, Michael: Experimental Music. Cage and Beyond, Cambridge: Cambridge University Press 21999, S. 134f. 24 Vgl. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987, S. 181f. 25 Jones, Edward E./Gerard, Harold B.: Foundations of social psychology, New York: Wiley 1967, S. 512.

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its dangers and its blessings. In being conscious of other participants an individual may become self-conscious and decide to reject them, grandstanding and damaging the spirit of the piece in a much more uncontrolled way than if he had not been given the responsibility of making his own use of the rules.“26

Folglich hat das Scratch Orchestra anfänglich bewusst sein Spiel nur in Form einer „draft constitution“ reglementiert und sich im Sinne einer „loose and informal sociability, which was based on mutual respect and tolerance rather than on adherence to any preconceived structure or set of rules“27 organisiert – jedoch mit einem hohen Maß an Diskursivität („Unity – Critisism – Unity“28). Letzteres beispielsweise in Abgrenzung zum Londoner Kollektiv AMM, das konsequent auf jeglichen Austausch unter den Mitgliedern vor oder nach einem Konzert verzichtete.

UNSTABLE POLYPHONY Zur Erreichung solcher (bei Wiener und Cardew erkenntnisgeleiteten) Kontingenzsituationen wurden prinzipiell freie Anordnungen mit bisweilen irritierenden „Stimuli“ 29 interpoliert. Cardew, und vor ihm schon Sylvano Bussotti30, imaginieren zu diesem Zweck maßlose, inkonsistente oder widersprüchliche Regelwerke, verwirrende Notationssysteme oder im Gegenteil das Vorenthalten jeglicher Anweisungen, „[a]ll these are psychological obscurities

26 Zitiert nach: M. Nyman: Experimental Music, S. 138. 27 M. Parsons: „The Scratch Orchestra and Visual Arts“, S. 7. 28 Eley, Rod: „A History of the Scratch Orchestra“, in: Cornelius Cardew, Stockhausen Serves Imperialism, o.O.: ubuclassics 2004 [Reprint d. Ausgabe 1974], S. 9-31, hier S. 28. 29 Zum Begriff des Stimulus, vgl. Stockhausen, Karlheinz: „Musik und Graphik“, in: Wolfgang Steinecke (Hg.), Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 3, Mainz: Schott 1960, S. 5-25, hier S. 18f.; Kagel, Mauricio: „Komposition – Notation – Interpretation“, in: Ernst Thomas (Hg.), Notation Neuer Musik. Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 9, Mainz: Schott 1965, S. 55-63; verwandt ist ebenso: Wiener, Oswald: „‚Klischee‘ als Bedingung intellektueller und ästhetischer Kreativität“ in: Ders., Literarische Aufsätze, Wien: Löcker 1998, S. 113-138, hier S. 135f. 30 Vgl. Ulman, Erik: „The Music of Sylvano Bussotti“, in: Perspectives of New Music 34/2 (1996), S. 186-201.

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directed at the player in the hope of waking him up.“31 Zusätzlich interferiert dies in produktiver Weise mit der Simultanität verschiedener Haltungen und Verhaltensweisen der zusammenspielenden Persönlichkeiten, wie Richard Teitelbaum festgehalten hat: „[B]y creating an interactive situation in which the performer cannot consciously comprehend or predict the outcome of his actions, his/her mind will bypass more superficial levels of thinking and rational control to reach something deeper.“32

So berichtet Cardew von einer Teil-Aufführung seiner grafischen Partitur Treatise (1963–1967) zusammen mit Frederic Rzewski, Mauricio Kagel, Italo Gomez und Sylvano Bussotti: Rzewski habe dabei die ungewöhnliche Idee verfolgt, nur die meist gerade Mittellinie, die sich über alle Seiten der Partitur erstreckt, zu interpretieren; auch die anderen hätten sich auf ausgewählte Aspekte begrenzt – einzig Kagel habe auf seiner „Freiheit bestanden“.33 Cardew erläutert: „Any rigidity of interpretation is automatically thwarted by the confluence of different personalities. I, as the composer, have no idea how the piece will sound in performance. [...] It is the enrichment of something primitive that we all carry around inside us: our living response to present experience.“34

Bekanntermaßen hat Cardew seine Meinung später geändert und genau diesen komponierten Stimulus als Hindernis zwischen den Musikern und dem Publikum wahrgenommen: „Behind that obstacle the musicians improvise, but instead of improvising on the basis of objective reality and communicating something of this to the audience, they preoccupy themselves with that contradictory artefact: the score of Treatise. So not only is Treatise an

31 Cardew, Cornelius: „Notation: Interpretation, etc.“, in: Tempo 58 (1961), S. 21-33, hier S. 23. 32 Zitiert nach: Gottschalk, Jennie: experimental music since 1970, New York: Bloomsbury 2016, S. 213. Eine sehr interessante Beschreibung eines analogen Prozesses im MEV-Ensemble liefert ein Brief von Frederic Rzewski an Richard Teitelbaum von 1967, abgedruckt in: Gronemeyer, Gisela/Oehlschlägel, Reinhard (Hg.): Frederic Rzewski. Unlogische Folgerungen. Schriften und Vorträge zu Improvisation, Komposition und Interpretation, Köln: MusikTexte 2007, S. 358-361. 33 Vgl. Cardew, Cornelius: Treatise Handbook, London: Edition Peters 1971, S. IX. 34 Ebd., S. IXf.

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embodiment of (not only irrelevant but also) incorrect ideas, it also effectively prevents the establishment of communication between the musicians and the audience.“ 35

In letzter Konsequenz bedeutete dies für Cardew den Übergang von seiner kompositorischen zu seiner aktivistischen Tätigkeit. 36 Kommunikative und interaktive Prozesse als „unstable polyphony“ 37 prägten zeitgleich die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) im Umfeld von Anthony Braxton und George E. Lewis. Maurice McIntyre stellt dazu einen über das gemeinsame Musizieren hinausgehenden gesellschaftlichen Kontext der afro-amerikanischen Kultur in den 1960er Jahren her und beschreibt die AACM als „an organization of staunch individuals, determined to further the art of being of service to themselves, their families and their communities... We are like stranded particle, the isolated island of the whole, which refuses to expire in the midst of the normal confused plane which must exist – in order that we may, but with which we are constantly at war. We are trying to balance an unbalanced situation that is prevalent in this society.“ 38

Dies bedingte innerhalb der Gruppe eine hohe Sensibilität im Umgang mit Regeln und Hierarchien, wie George E. Lewis anhand eines dokumentierten Wortwechsels zwischen Julian Priester und Muhal Richard Abrams anlässlich einer konstitutiven Sitzung (1965) aufgezeigt hat: Als Abrams betonte, dass die AACM nur ihre eigene Musik spielen soll, fand Priester diese Regel zu restriktiv, schließlich seien nicht alle Ensemblemitglieder auch als Komponisten aktiv, diese wären also durch so eine Vorschrift benachteiligt. Abrams verneinte und hielt fest: „We have to have performers and composers. We realized at the time that everyone is not gifted to a great deal of writing. But now, I feel this way, that you may not be Duke Ellington, but you got some kind of ideas, and now is the time to put ’em in. Wake yourself up. This is an awakening we’re trying to bring about.“ 39

35 C. Cardew: Stockhausen Serves Imperialism, S. 86. 36 Vgl. Taylor, Timothy D.: „Moving in Decency: The Music and Radical Politics of Cornelius Cardew“, in: Music & Letters 79/4 (1998), S. 555-576. 37 Zitiert nach: J. Gottschalk: experimental music since 1970, S. 192. 38 Zitiert nach: Lewis, George E.: A Power Stronger than Itself. The AACM and American Experimental Music, Chicago: University of Chicago Press 2008, S. 190. 39 Zitiert nach: Ebd., S. 106.

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In letzter Konsequenz erstrebte man eine gesellschaftlich autonome Situierung – „without the aid of the white-controlled power structure“.40 Ein New Regime – so der Titel einer Ende der 1960er Jahre kurzzeitig erscheinenden Zeitschrift der AACM – musste gefunden, beziehungsweise das alte Regime der Unterdrückung offengelegt werden. Beide Perspektiven stimmen darin überein, dass die Beteiligten auch beim Spielen kommunikative und interaktive Konstellationen in besonderem Maße reflektierten, gelegentlich mit scheinbar paradoxem Ergebnis, wie ein Vergleich der beiden Trompeter innerhalb der AACM, Lester Bowie und Wadada Leo Smith, zeigt. Bowie analysierte kommerzielle Unterdrückungsstrukturen, die auf eine Vereinzelung der Künstler zielen. Von sich selbst und voneinander entfremdet interagieren sie primär negativ, gegeneinander, rivalisierend. Sarkastisch meinte er über die fortschreitende Popularisierung und den Starkult in der Jazzmusik: „They must be made to discourage rather than encourage their fellow musicians’ needs, desires and right to play.“41 Im Gegenzug plädierte Wadada Leo Smith für ein selbstbewusstes Musizieren, das seine Autonomie gerade durch eine radikale Isolierung der einzelnen Mitwirkenden gewinnt, was an die „Selbstmusik“ der Selten gehörten Musik erinnert: „the concept that i employ in my music is to consider each performer as a complete unit with each having his or her own center from which each performs independently of any other, and with this respect of autonomy the independent center of the improvisation is continuously changing depending upon the force created by individual centers at any instance from any of the units. the idea is that each improviser creates as an element of the whole, only responding to that which he is creating within himself instead of responding to the total creative energy of different units. this attitude frees the sound-rhythm elements in an improvisation from being realized through dependent re-action. [...] in other words, each element is autonomous in its relationship in the improvisation.“ 42

LOSLASSUNG DES SPIELS Unter der Prämisse komponierter, jedoch indeterminierter Musik prägt der Diskurs einer „Emanzipation des Interpreten“ schon die Darmstädter Ferienkurse

40 Ebd., S. 181. 41 Zitiert nach: Ebd., S. 191. 42 Smith, [Wadada] Leo: notes (8 pieces), part 1, „notes on my music“ (1973); Quelle: https://wadadaleosmith.com/philosophy-and-language-of-music

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der späten 1950er und 1960er Jahre.43 Heinz-Klaus Metzger spricht davon, dass John Cage „dem einzelnen Musiker Emanzipation zumutet“, von einer „Loslassung des Spiel[s]“ und einem kritischen „Auflösen“ des tradierten Begriffs des Kunstwerks.44 Interessanterweise vermischten sich dabei in der Rezeption zwei von Cage, auch in seiner Darmstädter Indeterminacy-Lecture (1958) sorgsam auseinander gehaltene Konzepte: Die kompositorische Verwendung von Zufall („chance“) und die Indetermination „with respect to its performance“.45 Letzteres schließt eigenständige und absichtsvolle Entscheidungsprozesse des Interpreten ausdrücklich ein. Stattdessen gilt vielen die neue interpretatorische Offenheit, die sich am augenscheinlichsten in neuen Notationssystemen manifestiert, geradezu als Emblem des Zufalls: Für die einen, darunter Pierre Boulez, tritt unter diesen Umständen ein musikalisches Ereignis ein, „wie es eben unterläuft“, wodurch man gerade so gut das „Versehen“ zum Teil der Komposition erklären könne – andere bedienen sich zweifelhafter Wortspiele und schreiben von einer „‚Chance‘ des Interpreten“.46 Luigi Nono (1959) betrachtete die Verwendung des Zufalls als Methode für solche, „die Angst haben vor der eigenen Entscheidung – und vor der damit verbundenen Freiheit.“47 Aus heutiger Sicht könnte man Nonos Aussage jedoch dahingehend uminterpretieren, dass in den Komponisten eine gewisse Angst vor der mit Indetermination verbundenen Freiheit der Interpreten wach wurde, sodass deren souveräne, möglicherweise unberechenbare Entscheidungen in die Nähe des Zufalls gerückt wurden. Zeitgleich wie Nono stellte Stockhausen klar, dass diese Freiheit letztlich

43 Stellvertretend für viele sei hier an einen praxisnahen und eher humorvollen Beitrag erinnert: Foss, Lukas: „The Changing Composer-Performer Relationship: A Monologue and a Dialogue“, in: Perspectives of New Music 1/2 (1963), S. 45-53. 44 Metzger, Heinz-Klaus: „John Cage oder Die freigelassene Musik“, in: Ders./Rainer Riehn (Hg.), John Cage I, Musik-Konzepte Sonderband, München: text + kritik 1990, S. 5-17, hier S. 16f. 45 Cage, John: Silence, 50th Anniversary Edition, with a Foreword by Kyle Gann, London: Marion Boyars 2011, S. 38. 46 Vgl. Roth, Michel: „‚I allow myself to think of you not as of somebody playing the piano‘. Zur Interaktion von Komposition und Interpretation im Umfeld der Darmstädter Ferienkurse“, in: Thomas Schäfer/Michael Rebhahn (Hg.), Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 23, Mainz: Schott 2016, S. 49-57, hier 51–53. 47 Zitiert nach: Nono, Luigi: „Geschichte und Gegenwart in der Musik heute“, in: Rainer Nonnenmann (Hg.), mit nachdruck. Texte der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, Mainz: ed. neue zeitschrift für musik 2010, S. 199-206, hier S. 204f.

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in der Kompetenz der Komposition verbleiben muss, als Parameter „eines mehr oder weniger große[n] Spielraums für interpretatorische Entscheidungen“.48 Auch wenn die Spielmetapher naheliegend scheint, sie in den Werktiteln und Sekundärtexten dieser Zeit präsent ist und in jüngster Zeit die Interpretationsforschung im Hinblick auf kreative Prozesse in indeterminierten Partituren beschäftigt hat49, lehnte Cage sie ab. Zwar ist ihm das kybernetische Denken seines Weggefährten vom Black Mountain College Buckminster Fuller nicht fremd; er erkennt gar in dessen „Welt-Spiel [...] eine Strategie für die Nützlichkeiten“50 und verweist darauf, dass er zu diesem Nutzen auch in seinen Werken Organisationsstrategien anwende.51 Anderseits sieht er sich als Erfinder eher in der Rolle des „Spielverderbers“52: „Aber meine Musik ist kein Spiel. Ich mag nicht den Gedanken des Spiels, wenn Sie mit Spiel Regeln und Maße meinen. [...] Was mich interessiert, sind nicht die Regeln, sondern die Tatsache, dass sich diese Regeln ändern. Deshalb glaube ich nicht, dass meine Kunst ein Spiel ist. Ich versuche die Regeln zu ändern, oder sie jedesmal abzuschaffen. Im Gegensatz dazu hängt ein Spiel von der Befolgung der Regeln ab. Aber zu allererst davon, sie zu akzeptieren. Deshalb habe ich in meinem Werk, wenn man sich richtig damit befasst, nichts mit Spielen im Sinn. Ich bevorzuge die Erfindung.“ 53

48 K. Stockhausen: „Musik und Graphik“, S. 18f. 49 Auf anthropogische Spieltheorie bezieht sich Rebhahn, Michael: we must arrange everything. Erfahrung, Rahmung und Spiel bei John Cage, Saarbrücken: Pfau 2012; auf Entscheidungstheorie bzw. -psychologie rekurriert Saunders, James: „Heuristic Models for Decision Making in Rule-Based Compositions“, in: J. Ginsborg/A. Lamont/M. Phillips/S. Bramley (Hg.), Proceedings of the Ninth Triennial Conference of the European Society for the Cognitive Sciences of Music, 17–22 August 2015, Manchester, UK, RNCM: ESCOM 2015, S. 715-719; begrifflich an mathematische Spieltheorie angelehnt ist Roth, Michel: „Play it anew, man! Ein spieltheoretisches Quartett über relationales Komponieren“, in: MusikTexte 164 (2020), S. 47-54. 50 Cage, John: Für die Vögel. John Cage im Gespräch mit Daniel Charles, Berlin: Merve Berlin 1984, S. 267. 51 Ebd. 52 Vgl. M. Rebhahn: we must arrange everything, S. 122. 53 J. Cage: Für die Vögel, S. 266f.

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Während in diesem Umfeld ein kleiner Kreis von „Spielern“, allen voran David Tudor, zu kongenialen und einflussreichen Mitschöpfern wurde54, sind ebenfalls Fälle des Scheiterns solcher Emanzipationen gut dokumentiert, woraus deutlich wird, dass Cage an eine „Abschaffung der Regeln“ primär aus seiner auktorialen Perspektive gedacht hat. Berühmt geworden sind zwei von den Musikern sabotierte Wiedergaben von Cages Atlas Eclipticalis (1961), einmal 1964 durch die New York Philharmonic, einmal 1976 durch das Residentie-Orkest Den Haag.55 In letzterem Fall fühlte sich Cage nach der Probe an eine „Herde von Schafen“ 56 erinnert und sagte dem Orchester: „Wenn nun einer von Ihnen meine Worte in den Wind schlägt und beschliesst, sich aufzulehnen – dann habe ich keine Kontrolle darüber. Ich habe mich bemüht, ein Stück zu schreiben, in dem es offenkundig ist, dass jeder – sei’s der Dirigent, sei’s der Komponist – auf Kontrolle verzichtet. Ich will also nicht als Polizist fungieren. Sie haben hier vielmehr eine Möglichkeit, ein Individuum eigenen Rechts zu sein und aus Ihrem eigenen Zentrum heraus zu handeln, und ich wäre selbstverständlich entzückt, wenn Sie das nobel täten.“ 57

INDETERMINACY OF PARTICIPATION Cardew hat in diesem Punkt Cage deutlich widersprochen: „where things are left ‚free‘, and then the composer tells the player afterwards that he played well or badly (‚used‘ the freedom well or badly) [...], then there is no freedom.“ 58 Er geht sogar so weit, den Aufstand („riot“59) einzelner Mitglieder der New York

54 Vgl. Pousseur, Henri: „Musique et hasard“, in: Ders., Écrits théoretiques 1954–1967, choisis et présentés par Pascal Decroupet, Sprimont: Mardaga 2004, S. 109-135, hier S. 109. 55 Ebenfalls zwiespältig verlief 1965 ein gemeinsamer Auftritt von Cage mit der AACM unter dem Titel Imperfections in a Given Space, vgl. G. E. Lewis: A Power Stronger than Itself, S. 129-131. 56 Zitiert nach: Cage, John: „Rede an ein Orchester“, in: Metzger/Riehn (Hg.), John Cage I, (1990), S. 56-61, hier S. 61. 57 Ebd., S. 59. 58 C. Cardew: „Notation: Interpretation, etc.“, S. 30. 59 Vgl. Ryan, David: „Changing the System: Indeterminacy and Politics in the Early 1970s“, in: Stephen Chase/Philip Thomas (Hg.), Changing the System. The Music of Christian Wolff, Farnham: Ashgate 2010, S. 143-169, hier S. 152.

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Philharmonic und die einhergehende Beschädigung von elektronischem Equipment als Klassenkampf zu interpretieren: „I find it impossible to deplore the action of those musicians. Not that they took a ‚principled stand‘ [...], but they gave spontaneous expression to the sharply antagonistic relationship between the avant garde composer with all his electronic gadgetry and the working musician. There are many aspects to this contradiction, but beneath it all is class struggle.“ 60

Tatsächlich lässt sich zeitgleich in den politisch engagierten Werken Cardews (u.a. The Great Learning, 1968–1972) und Christian Wolffs (u.a. Prose Collection, 1968–1974) eine Vereinfachung und Demokratisierung der Partituren und ihrer Interpretationsregeln erkennen – Nyman hat treffend festgestellt, dass sich dabei die „indeterminacy of performance“ zur „indeterminacy of participation“ verschoben habe, einschließlich unterschiedlicher Motivationen und Vorbildungen der Beteiligten.61 Unter dem Einfluss fluxistischer Scores gilt es dabei oft, zunächst im Kollektiv auszuhandeln, wie die Spielregeln überhaupt zu interpretieren sind.62 Wolff legt überdies Wert darauf, dass in seinen Stücken „die absolute Kontrolle durch eine Person soweit wie möglich ausgeschaltet werden soll“63, was auch den Komponisten selbst einschließt – bekanntermaßen versucht sich Wolff beim Erarbeiten seiner Werke möglichst rauszuhalten. In letzter Konsequenz will Wolff in den 1970er Jahren die Zuhörer zu Interpreten machen, die sich gemäß ihrem Niveau unterschiedlich aktiv oder passiv einbringen können.64 Diese Kunstform als eine Art „Gesellschaftsspiel“ zu betrachten, lehnt er jedoch begrifflich ab – ein Spiel sei eher etwas „für einen verregneten Tag“.65 Trotzdem ergibt sich rückblickend eine auffallende Koinzidenz zur „New Games“-Bewegung der späten 1960er Jahre, die sich im Umfeld

60 C. Cardew: Stockhausen Serves Imperialism, S. 39. 61 Vgl. M. Nyman: Experimental Music, S. 110. 62 Vgl. Ebd., S. 18. 63 Wolff, Christian: „‚Nichts gibt es nicht‘. Gespräch mit Walter Zimmermann“ (1975), in: Gisela Gronemeyer/Reinhard Oehlschlägel (Hg.), Christian Wolff. Hinweise. Schriften und Gespräche, Köln: MusikTexte 1998, S. 103. 64 Wolff, Christian: „Was tun wir eigentlich? Gespräch mit Ildi Ivanji“ (1972), in: Ebd., S. 93. Eine ähnliche Stossrichtung berichtet Rzewski in einem Brief an Christian Wolff von 1968, abgedruckt in: Ebd., S. 362f. 65 C. Wolff: „Was tun wir eigentlich? Gespräch mit Ildi Ivanji“, S. 93.

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der Vietnamkriegs-Proteste in den USA formierte. Der Name „neue Spiele“ stand dabei programmatisch für eine kollektive experimentelle Haltung: „Es gibt noch keine Regeln. Oder genauer gesagt: Wir sind es, die die Regeln machen. [...] Wir sind es, die die Entscheidungen treffen. [...] Lasst uns also eine Spielgemeinschaft werden. Keine Gemeinschaft auf Dauer und mit festen Normen, sondern eine Gemeinschaft auf Zeit und mit Regeln, die erst während des Spielens entstehen. [...] Die Spiele, mit denen wir beginnen, sind keine Wettkämpfe. Wir könnten sie auch als Wettkämpfe durchführen, aber dies wäre noch verfrüht. Um die Spielgemeinschaft entstehen zu lassen, dürfen wir uns nicht in Gewinner und Verlierer aufspalten und so mit etwas beginnen, das uns voneinander trennt und gegenseitig ausspielt. Die Spielgemeinschaft entsteht, wenn wir uns füreinander öffnen und jedem von uns die Möglichkeit geben, sich als vollwertiges und gleichrangiges Mitglied zu erfahren.“66

Parallel werden von Spieltheoretikern wie Brian Sutton-Smith dem Spiel verstärkt transgressive und subversive Qualitäten zugeschrieben, was sich am Entstehen von sozial, politisch oder kulturell motivierten Activist Games ablesen lässt.67

DIE GROSSE GEFAHR EINER MANIPULATION SEITENS DES KOMPONISTEN Auch in Europa verfolgte man in den 1970er Jahren eine Musikpraxis als „Träger eines mehr gezielten Engagements.“68 Herausragend ist dabei Vinko Globokar, der laut eigenen Angaben „etwa 1972/73 [...] das Vertrauen in Werke, wo man das Klangmaterial strukturiert“69, verlor:

66 De Koven, Bernie: „Eine Spiel-Gemeinschaft entsteht“, in: Andrew Fluegelman/ Shoshana Tembeck (Hg.), new games. die neuen spiele, Soyen: Ahorn 1979, S. 41-42, hier S. 42. 67 M. Flanagan: Critical Play, S. 11. 68 Globokar, Vinko: „Das Verhältnis von Natur und Kultur als kompositorisches Problem“, in: Rainer Nonnenmann: mit nachdruck. Texte der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, Mainz: Schott 2010, S. 49-54, hier S. 54. 69 Schwarzbauer, Michaela/Hinterberger, Julia (Hg.): Individuum – Collectivum. Dokumentation eines Projekts im Rahmen des Forschungsprogramms „Sparkling Science“, Wien: Universal Edition 2014, S. 30.

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„Ich hatte das Bedürfnis nach etwas Wichtigerem als der Musik selbst. Etwas, das mit dem Leben zu tun hat: soziale, politische, psychologische Probleme, vielleicht auch Poesie. Da ich Musiker bin [...], versuche ich als solcher, an jene Probleme heranzugehen.“ 70

In seinem Aufsatz „Das Verhältnis von Natur und Kultur als kompositorisches Problem“ (1974) hält Globokar fest: „Die Improvisation ist vor allem ein soziales Problem. Der Versuch, sie nur auf eine musikalische Ebene im Rahmen eines Werkes zu beschränken, kann nur scheitern. Wir müssen von der Voraussetzung ausgehen, dass wir dem Interpreten nicht kompositorische Aufgaben geben können, weil es uns (den Komponisten) passt. Es geht nur, wenn er es wünscht. Es ist noch immer üblich, jedem Interpreten vorzuschreiben, was er zu tun hat; damit ist eine Verbindung zwischen ihm und dem Komponisten hergestellt. Es ist wichtig, diese Verbindungen zu multiplizieren und so zu organisieren, dass jeder Spieler nicht nur mit dem Komponisten, sondern auch mit den anderen Mitspielern verbunden ist, dass er von ihnen abhängig ist, dass er klangliches Material von ihnen bekommt und übernimmt. Das einfachste bisher angewandte Mittel waren die Reaktionen auf ein klangliches Stimulans: Der Spieler imitiert, was er hört, integriert sich einem schon vorhandenen Geschehen, macht das Gegenteil, erfindet und schlägt etwas Unterschiedliches vor, kann sich auch desinteressiert zeigen. Ich führe auch hierzu wieder einige andere Möglichkeiten an: Gleichzeitige Abhängigkeit von zwei Spielern, wobei man zu jedem ein verschiedenes Verhalten annehmen soll, oder Abhängigkeit von einer ständig sich ändernden Quelle, oder Kettenabhängigkeit, bei der jedes Mitglied Ausgangspunkt für das nächste wird, oder Abhängigkeit von einem Lautsprecher, einem Gerät oder irgendwelchen visuellen Quellen. Man soll an die musikalischen Fähigkeiten der Musiker appellieren, wobei das Gehör ausschlaggebend sein soll. Noch wichtiger scheint mir zu sein, dass das Kollektiv die Möglichkeit erhält, sich die Aufgaben selbst zu stellen, da, sobald man in diesen psychologischen Bereich vorstösst, die Gefahr einer Manipulation seitens des Komponisten sehr groß ist.“71

In seiner dreiteiligen Sammlung Individuum – Collectivum (work in progress seit 1979) vermittelt Globokar „Modelle“ als „Reflexionen, Spekulationen, Projekte: über die Komposition, die Improvisation, die Organisation der Töne oder der Aktionen, über die Wahl der Mittel und Materialien, mit

70 Zitiert nach: Ebd. 71 V. Globokar: „Das Verhältnis von Natur und Kultur als kompositorisches Problem“, S. 52f.

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denen man unter anderem Musik machen kann, [...] über die Weise, sich innerhalb einer Gruppe zu verhalten, auch über das Warum von all diesem.“72

Der Begriff „Modelle“ vermeidet bewusst einen mehr determinierenden Begriff wie „Konzepte“ oder „Stücke“, was auch in weiteren Anweisungen deutlich wird: „Was nicht notiert oder suggeriert ist, muss/kann von denen erfunden werden, die sich entschlossen haben, mit diesem Material zu arbeiten. Ihnen gehört das Resultat! [...] (Wenn im Verlauf des Weges, nach Überlegungen, Euch gewisse Vorschläge nicht nützlich erscheinen, vernachlässigt sie, erfindet andere!)“ 73

Zum Vergleich: Cages indeterminierte Werke bleiben in ihrer Erarbeitung fast immer partiturbasiert74 – was die Anweisungen an Fragen offenlassen, soll in eine Form gebracht werden, dass diese endogen, mit den Spielregeln der Partitur beantwortet werden können.75 Bei Individuum – Collectivum liegt jedes einzelne Modell in drei Versionen vor (gekennzeichnet mit a, b, c): eine grafische oder verbale Notierung für Mitspielende, die nicht Notenlesen können, eine stärker musikalisch ausdifferenzierte Version für professionelle Musiker und eine konzeptionelle Interpretation, die auch außermusikalische Faktoren reflektiert und einbinden kann und zu gemeinsamen Diskussionen anregt. Bei Modell 5c steht beispielsweise: „WEM GEHÖRT DIESE MUSIK? Mir, der Euch einige elementare musikalische Vorgaben diktiert? Euch, die Ihr sie realisiert? FORMULIERT EURE ÜBERLEGUNGEN!“76 Besonders ab dem zweiten Heft wird die „Interdependenz zwischen Mitwirkenden, Gruppen“ thematisiert, es geht

72 Globokar, Vinko: Individuum – Collectivum, Heft 1, Vorwort zur Partitur, Saarbrücken: Pfau o.J., o.S. 73 Ebd. 74 Ein Spezialfall sind Cages Variations VII, für die er im Rahmen der Performance 9 evenings (1966) zusammen mit Ingenieuren eine komplexe elektronische Verschaltung schuf, deren Manipulation ohne Partitur einer freien Zahl von Performern überlassen wurde – Cage spricht von „composition socialized“. Das Experiment blieb ihm jedoch in sehr zwiespältiger Erinnerung, vgl. Miller, David P.: „Indeterminacy and Performance Practice in Cage’s ‚Variations‘“, in: American Music 27/1 (2009), S. 6086, hier S. 73–83. 75 Anweisung im Vorwort zu Variations II, vgl. Pritchett, James: The Music of John Cage, Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 137. 76 V. Globokar: Individuum – Collectivum, Modell 5c.

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um „Übermittlung von musikalischen Informationen“ und um „[k]onvergierendes/divergierendes Verhalten“ (Abb. 2), wobei Globokar am Ende einer Modell-Trias jeweils vermerkt, man könne nun im Kollektiv (oder individuell) ein eigenes „Stück oder eine Situation, ein Konzept oder Spiel etc. erfinden oder vorschlagen, konstruieren oder herausfordern etc. (für und mit den anderen).“ 77

Abbildung 2: Vinko Globokar: Individuum – Collectivum, Partitur, Heft 2, Modell 18a, Copyright: Pfau Verlag

Im dritten Heft werden unterschiedliche Formen der Interaktion von Individuum und Kollektiv erprobt und modellweise sogar in kurzen Essays gruppendynamische Prozesse reflektiert, die an Diskurse der Selten gehörten Musik erinnern: „Das wichtigste Werkzeug für Improvisationstechnik war die Reaktion (imitieren, folgen, opponieren). Der eine schlug etwas vor, die anderen gingen auf die Idee ein und entwickelten sie bis sie ausgeschöpft war; dann wartete man im Wellental auf einen neuen Vorschlag. Im Lauf der Jahre wurde diese Reaktion aufgegeben, und der zentrifugale Geist der Gruppe, der nur eine vereinheitlichte Musik hervorbringen konnte, wurde durch ein 77 Z. B. ebd., Modell 12c.

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individualistisches Denken ersetzt. Der Kreis ist geschlossen und auch die Ästhetik der Reinheit beendet! Jeder führt seinen eigenen Vortrag und kümmert sich nur sehr wenig darum, ob es den Mitspielern gefällt oder nicht. [...] Wenn der musikalische Fluss ins Stocken gerät, füllt man nicht mehr um jeden Preis die Zeit. Die Nicht-Aktion ist Teil der Improvisation wie auch letzten Endes der Misserfolg. Eines Tages beginnen auf der Bühne zwei der Musiker eine Diskussion, von da an wird der verbale Austausch zu einem Mittel, um eine andere Richtung einzuschlagen, aber auch um aus einer Sackgasse herauszukommen. [...] Dieses ‚Spiel der Wahrheit‘ erlaubt es nicht mehr, sich hinter falschen Emotionen zu verstecken, gemeinschaftlich zu betrügen, ‚so zu tun, als ob‘. Mehr denn je wird jeder Charakter offengelegt, man spielt, was man ist [...]. Welch komische Tragödie, aber auch welch schöne Komödie!“78

KOMMUNIKATIONSSPIELE Vergleichbare Prozesse beschäftigten den Schweizer Komponisten und Sprachwissenschafter Hans Wüthrich. In Werken wie Das Glashaus (1974/75) werden gesellschaftliche Hierarchien thematisiert und ihre „Hackordnungen“ und Kommunikationsstrukturen in phonetische und theatralische Verläufe übersetzt.79 Umgekehrt, nun weniger analytisch als experimentell, erprobt Wüthrich in Netzwerk I–III (1982–1989), wie weit sich das Zusammenspiel eines Orchesters ohne Dirigent autonom kybernetisch regulieren kann. 80 Wüthrichs Vorstellung eines „realitätsbezogenen Musizierens“ findet seine konsequenteste Ausprägung im Konzept Kommunikationsspiele (1973/74). Das ausdrücklich als „Kompositionsanweisung“ deklarierte Werk, das in Form einer Gruppenkomposition zu „eigener musikalisch-schöpferischer Tätigkeit“ anleiten will, widmet sich der Beobachtung, der spielhaften Formalisierung und der anschließenden musikalischen Simulierung kommunikativer Verhaltensweisen und sozialer Situationen. Der Komponist betont: „Keiner spielt für sich allein, sondern jeder agiert und reagiert mit Bezug auf einen Partner und veranlasst durch sein Verhalten wieder neue Reaktionen. Alle Spieler sind auf diese

78 Ebd., Modell 35c. 79 Vgl. Meyer, Thomas: „‚Idealerweise ist bereits der erste Einfall multimedial‘. Zum Musiktheater von Hans Wüthrich“, in: Dissonanz/Dissonance 60 (1999), S. 24-29. 80 Vgl. Spahlinger, Mathias: „Veruneinheitlichende Ideen. Mathias Spahlinger spricht über den Komponisten Hans Wüthrich“, in: Dissonanz/Dissonance 111 (2010), S. 4855.

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Weise voneinander abhängig. Jeder ist in ein Geflecht von Beziehungen eingespannt, und aus dem kontinuierlichen Prozess dieser Wechselbeziehungen ergibt sich der musikalische Ablauf.“81

Ähnlich wie Globokar hat Wüthrich seine Kommunikationsspiele explizit für „Musiker und Nichtmusiker“ konzipiert und auch mehrfach erfolgreich mit Laien durchgeführt, beispielsweise mit kaufmännischen Berufslehrlingen: Wenig überraschend mündeten die Alltagserfahrungen dieser jungen Berufseinsteiger in eine Realisation unter dem Motto „Befehlen–Gehorchen“. Wüthrich berichtet, dass die entscheidende Prämisse für diese Umsetzung war, dass sich Kommunikation weitgehend asymmetrisch abspielen musste, indem verbale „Befehle“ nicht im eigentlichen Sinne beantwortet werden, sondern unwidersprochen konkrete Aktionen an einem Bürogerät auslösen. So wurde bereits auf der Ebene der „Instrumentierung“ (wer „spricht“, wer muss etwas „spielen“) eine Machtstruktur innerhalb eines Kommunikationsvorgangs erfahrbar. 82 Darüber hinaus wurden überfordernde Situationen musikalisch verarbeitet, in denen Befehle „zeitweise ziemlich rasch aufeinander folgen, sodass der Gehorchende ständig wechseln muss.“83 Im Gegenzug entwickelten die Lehrlinge auch ein Sensorium für Entlastungsstrategien der Untergebenen und ließen im Gesamtablauf auf die Episode „Zurechtweisen – Aufbegehren“ eine vierteilige Episode mit dem Motto „Vier nutzlose Arten, seinen Unwillen über Missstände am Arbeitsplatz Luft zu machen“ folgen: 1. Den Kollegen durch Gehässigkeit an den Nerven sägen 2. Wehleidiges Gejammer 3. Stöhnen und Schimpfen über die schlechten Zeiten 4. Einander gegenseitig anfluchen84 Mit einer anderen Gruppe, nun bestehend aus Laienmusikern verschiedener stilistischer Prägung, entwickelte Wüthrich eine Fassung seiner Kommunikationsspiele, die neben vielerlei Gesprächssituationen eine Episode „Gehorsame und

81 Wüthrich, Hans: Kommunikationsspiele, Zürich: Musik Hug Verlag 1975, o. S. [Vorwort]. 82 Vgl. Erni, Jürg: „Machtstrukturen zeigen. NZ-Gespräch mit dem Komponisten Hans Wüthrich“, in: National Zeitung (21.1.1977), S. 30. 83 H. Wüthrich: Kommunikationsspiele, S. 10. 84 Ebd., S. 17.

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Ungehorsame“ umfasste. Mehr als bei den Lehrlingen waren jetzt unabhängige Positionen denkbar – in diesem Fall zwei Klarinetten, die ungestört von den reglementierten Einsätzen des übrigen Ensembles frei dialogisieren. Hier wäre zu fragen, inwiefern eine solche Unabhängigkeit tatsächlich eine Formalisierung von „Ungehorsam“ sein kann, sich also nicht als aktive Renitenz oder Auflehnung ereignet, sondern als frei hinzugefügter Orgelpunkt im mezzopiano, von den Gehorsamen mit fortefortissimo übertönt. Das Beispiel macht deutlich, dass die Kommunikationsspiele nicht primär für ein Publikum gedacht sind, sondern als Erfahrung für die Spielenden selbst: Was hier von außen vermutlich relativ spannungsarm wirkt, ist für die Ausführenden, die natürliche Reflexe auf gegebene Einsätze unterdrücken müssen, bekanntermaßen schwer realisierbar. So sind unter den von Wüthrich in der Partitur versammelten Umsetzungen die mit einer Gruppe von Berufsmusikern entwickelten Spiele die interaktivsten und dadurch auch gegenüber Zuhörern „kommunikativsten“: Einzelne Episoden, etwa „Interdependenz“ nehmen schon die regelkreisbasierte Organisation der Orchesterstücke Netzwerk I–III vorweg.

BECAUSE THEY WANT TO SUBVERT THE SHIT Nichtsdestotrotz, Wüthrichs Kommunikationsspiele erweisen sich in allen Versionen als analytisch herauspräparierte und anschließend musikalisch intensiv geprobte Konstellationen und weniger als ergebnisoffene prozessuale Reflexionen zu deren Überwindung.85 Sie unterscheiden sich somit beispielsweise von John Zorns Game Pieces, die nicht nur zwingend auf einem hohen spielerischen Erfahrungs- und Kreativitätslevel angesiedelt sind, sondern zugleich im Spielverlauf energetisch zehren von gruppeninternen Gegenkräften und ihren Wechselwirkungen. Dadurch wird die Auswahl der beteiligten Persönlichkeiten zu einem prädeterminierenden Faktor, wie Zorn festgehalten hat:

85 In diesem Sinne, jedoch bezogen auf das musiktheatralische Schaffen Wüthrichs, äußert sich Pierre Sublet in der Radio-Sendung „Verstreute Gedanken“ – der Komponist Hans Wüthrich von Cécile Olshausen (SRF, Sendereihe Musik unserer Zeit, Erstsendung am 27.12.2017).

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„You want to pick someone not just because they can play well, but because they have a good sense of humor, or they get along with the guy across the room; because they believe in democracy, or because they don’t believe in it; because they want to subvert the shit or because they just want to sit back and do what they’re told. [...] There’s a lot of reasons to call someone into the band in a game piece.“86

Sein bekanntestes Game Piece, Cobra (1984), erhält zwar seinen Namen von einem Kriegssimulationsspiel, im Gegensatz zu den Kommunikationsspielen werden jedoch konkrete Spielzüge und zugrunde liegende Strategien nicht simuliert, sondern mit offenem Ausgang tatsächlich musikalisch ausgefochten. Nicht von ungefähr spricht Zorn von „checks and balances“ und einer unbeschreiblichen Mischung musikalischer und sozialer Vorgänge.87 Entsprechend sehen die Spielregeln von Cobra verschiedene Grade der Kooperation vor. Die einzelnen Spieler signalisieren einem „Prompter“ ihre Forderungen über den unmittelbaren Fortgang des Stücks, dieser kann daraus Ideen selektieren und an alle Mitglieder weitergeben oder einen Vorschlag auch ignorieren. Umgekehrt können Spieler in ein „Guerilla-System“ wechseln und ihrerseits den Prompter ignorieren, was sie diesem durch Anziehen eines Stirnbands anzeigen. Dabei können sie sich sogar mit mehreren Mitspielern zusammenschließen und eine eigenständige Untergruppe bilden, die unter anderem durch einen „Spy“ gesprengt werden kann, sodass wieder alle dem „Prompter“ Folge leisten. Zorn betonte, dass gerade diese Mischung unterschiedlicher Kooperationslevels die emergente Qualität des Stücks ausmacht: „Some players are really [...] trying to create some kind of compositional flow in their heads spontaneously. While others are, you know, creating problems.“88 Cobra wurde von Zorn bewusst mündlich tradiert, das Aufführungsmaterial mehr „gestreut“ als gezielt veröffentlicht89, Globokar hat seine Sammlung Individuum – Collectivum ohne Copyright publiziert, sie ist inzwischen im Internet frei verfügbar, Wüthrichs gedruckte Partitur der Kommunikationsspiele enthält auf eineinhalb Seiten das Konzept, gefolgt von 16 Seiten bereits realisierter Beispiele „als Anregung“. Ihrem Zeitgeist entsprechend wirken diese Partituren

86 Zitiert nach: Brackett, John: „Some Notes on John Zorn’s Cobra“, in: American Music 28/1 (2010), S. 44-75, hier S. 48. 87 Ebd., S. 55. 88 Zitiert nach: van der Schyff, Dylan: „The Free Improvisation Game. Performing John Zorn’s Cobra“, in: Journal of Research in Music Performance (2013), S. 1-11, hier S. 7. 89 Vgl. J. Brackett: „Some Notes on John Zorn’s Cobra“, S. 47.

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antiautoritär, arbeiten mehr mit impliziten als expliziten Regeln 90, animieren zu anarchistischen Interpretationen und wollen als eine Art „open source“ verstanden und weiterentwickelt werden.91 Nicht zufällig erinnert dies an die zeitgleich aufkommende Hackerkultur92, deren „Hacktivism“ sich gegen Hierarchie und Bürokratie richtet und in der sich in kollaborativen Netzwerken Widerstandsstrategien gegenüber gesellschaftlichen Normen und Institutionen formieren und experimentell Konzepte zu deren Neuinterpretation entwickelt werden.93 Games bieten dafür ein ideales Format, da sie nicht nur explizit über ihren Spielinhalt Wissen vermitteln, sondern durch Spielregeln, Interaktionsstrukturen und den damit verbundenen strategischen Präferenzen dem Spieler implizit Kenntnisse über Mechanismen und Prozesse verschaffen, wie Mary Flanagan festgestellt hat: „Game designers enact conflict and larger human themes, but what one is doing in a game matters significantly not only to the meaning of the game but also to players’ understanding of their own actions. As Félix Guattari might say, game actions are machines of materiality, expression, desire and politics. In this way, a game’s mechanic is its message.“ 94

Die „grosse Gefahr einer Manipulation“, die Wolff, Globokar und Wüthrich vermeiden, erfordert besonders bei hochgradig determinierten (Computer-) Spielen ein „critical play“, das den Spielinhalt konsumiert, zugleich die implizite „message“ reflektiert und allenfalls über kreative „gaps“ deren Logik offenlegt und unterläuft. Solche „Guerilla-Systeme“ oder spielerischen „hacks“ sind in jüngerer Zeit immer weniger gegeben, wenn kommerzielle und mitunter sogar nachrichtendienstliche oder militärische Interessen das Game Design perfektionieren und mit dem Mittel der Gamification eine Art „Bio-Adapter“ für alle Lebensfragen etablieren wollen.95

90 Vgl. Salen, Katie/Zimmerman, Eric: Rules of Play. Game Design Fundamentals, Cambridge: MIT Press 2004, S. 130. 91 Vgl. M. Flanagan: Critical Play, S. 173. 92 Vgl. Speyer Carithers, Kirsten L.: The Work of Indeterminacy: Interpretive Labor in Experimental Music, Illinois: Diss. Northwestern University 2017, S. 180-237. Die Studie wendet den Begriff des „Hackers“ vornehmlich auf das Schaffen und die politischen Positionen Cornelius Cardews an. 93 Zum „Hacking“ als postmoderne Organisationsstrategie vgl. Hatch, Mary Jo: Organization Theory. Modern, Symbolic, and Postmodern Perspectives, Oxford: Oxford University Press 42018, S. 145-147. 94 M. Flanagan: Critical Play, S. 185. 95 Vgl. Wark, McKenzie: Gamer Theory, Cambridge MA, Harvard University Press 2007.

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„[P]lay is never innocent“96, hat der Spielforscher Brian Sutton-Smith festgehalten: Wurden Spiele in den 1960er und 1970er Jahren als soziale oder künstlerische Experimentierfelder verstanden, einschließlich früher Computeranwendungen97, kann man übers Spiel heute dank elektronischer Vernetzung und Digitalisierung unbemerkt Einfluss nehmen auf unser Verhalten und unsere Umwelt. Neben dem lebensechten, immersiven Spielinhalt vermag sogar der Spielmechanismus die vierte Wand zu durchbrechen, das virtuelle Spielfeld zu verlassen und in die digitale Lebenswelt des Spielers vorzudringen. Ein aktuelles Beispiel ist das preisgekrönte Game Doki Doki Literature Club (2017). Darin gerät nicht nur die Spielhandlung (die u.a. Suizid thematisiert) außer Kontrolle, sondern die Spiel-Software selbst scheint sich zunehmend „aufzuhängen“, indem auf dem Gerät des Spielers „glitches“ und „resets“ inszeniert werden und sich das Spiel durch reale Selbstlöschung von Dateien auf der Festplatte scheinbar zerstört. Nicht von ungefähr werden die Gamer zu Beginn vor psychologisch verstörenden Effekten gewarnt. In der Hacker-nahen „mod-community“ kursieren jedoch inzwischen Alternativversionen, die diesen unausweichlich tragischen und destruktiven Verlauf des Spiels entlarven und ihm eine höhere Variabilität entgegensetzen.98 McKenzie Wark zieht trotzdem eine ernüchternde Bilanz und erkennt in dieser „Entfesselung“ von Play ein Einfallstor zu einer alle Lebensbereiche kontrollierenden Gamification: „Play no longer functions as a foil for a critical theory. The utopian dream of liberating play from the game, of a pure play beyond the game, merely opened the way for the extension of gamespace into every aspect of everyday life. While the counter-culture wanted worlds of play outside the game, the military entertainment complex countered in turn by expanding the game to the whole world, containing play forever within it.“ 99

96 Zitiert nach Flanagan, Mary: „Locating Play and Politics: Real World Games & Activism“, in: Leonardo Electronic Almanac, 16/2–3, S. 1-13, hier S. 2 (http://leo almanac.org/). 97 Zum historischen Übergang von Improvisationskollektiven zu improvisierenden Computernetzwerken insb. an der amerikanischen Westküste, vgl. Lewis, George E.: „From Network Band to Ubiquitous Computing: Rich Gold and the Social Aesthetics of Interactivity“, in: Georgina Born/Eric Lewis/Will Straw (Hg.), Improvisation and Social Aesthetics, Durham und London: Duke University Press 2017, S. 91-109. 98 Stulle, Maximilian: „Doki Doki ist so verstörend, dass Fans an fröhlichen Mods arbeiten“, online unter: https://www.spieletipps.de/artikel/8349/1 vom 25.01. 2018. 99 M. Wark: Gamer Theory, o.S., §16.

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SOMETIMES WE DO WHAT YOU SAY, BUT OCCASIONALLY WE DON’T Gegenüber indeterminierter Musik wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, dass der „variable Apparat, der sie bedingt“ 100, der Spielmechanismus und sein Möglichkeitsfeld, im Moment einer konzertanten Realisierung nicht offengelegt werde. Folgerichtig haben sich ab den späten 1960er Jahren parallel zu Musikprojekten, in diese integriert oder sogar als eigenständige Werke Working notes (u.a. Cardew, heute auch in Form von Blogs), Diaries (u.a. Dieter Roth)101 oder vielstimmige Prozessdokumentationen entwickelt, bekannte Beispiele sind die beiden Publikationen zu Stockhausens Darmstädter Kompositionsstudios Ensemble (1967, festgehalten vom aktiven Teilnehmer Rolf Gehlhaar102) und Musik für ein Haus (1968, kritisch dokumentiert vom damals freien Journalisten Fred Ritzel).103 In den letzten Jahren sind verschiedene Versuche, ein musikalisches Werk aus seiner Dokumentierung zu entwickeln, unternommen worden. Stellvertretend sei hier Fernorchester (2012) des Komponisten Hannes Seidl und des Videokünstlers Daniel Kötter erwähnt. Dabei wurden Mitglieder des Ensemble Mosaik einzeln vor die Kamera geholt und mit bestimmten Aufgaben betraut: Ihr Instrument zusammenzubauen, eine Situation zu reflektieren, eine bestimmte Passage zu üben. Der so entstandene akustische Verlauf (mitsamt Fehlern und umgebender Geräuschkulisse) wurde anschliessend genau transkribiert und bildete das Script der nächsten Sitzung, die wiederum audiovisuell aufgezeichnet wurde. Am Schluss entstand aus diesem Material eine polyphone Videoinstallation und ein Quintett, das in einer Aufführung des Werks (zusammen mit zahlreichen Bildschirmen auf der Bühne) live zu sehen und zu hören ist (Abb. 3). Gleichzeitig vermittelt die Video-Dokumentation auch die Lebenswelt außerhalb des Berliner

100 Boehmer, Konrad: zur theorie der offenen Form in der neuen musik, Darmstadt: Tonos 1988, S. 126. 101 Roth, Dieter: Splittersonate für Klavier (und Stimme), 1965–1994, 300. Kopiebuch (Bd. 2 aus der Bibliothek des Angefangenen), Reprint versehen mit einem Nachwort von Michael Kunkel und Michel Roth, Luzern: Edizioni Periferia 2014. 102 Gehlhaar, Rolf: Zur Komposition Ensemble: Kompositionsstudio Karlheinz Stockhausen, Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 11, Mainz: Schott 1968. 103 Ritzel, Fred: Musik für ein Haus: Kompositionsstudio Karlheinz Stockhausen, Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 12, Mainz: Schott 1970; vgl. auch Iddon, Martin: „The Haus that Karlheinz Built: Composition, Authority, and Control at the 1968 Darmstadt Ferienkurse“, in: The Musical Quarterly 87/1 (2004), S. 87-118.

„Es gibt da einen Vertreter, der mir nicht gehorcht.“ | 139

Probenlokals des Ensembles: Ein benachbarter Sportplatz, wo eine Gruppe Jugendlicher Fussball spielt. Die Autoren betonen den kollaborativen Charakter dieser Produktion, die beteiligten Ensemblemitglieder hätten in den Sitzungen sehr viele Freiräume gehabt, innerhalb des gegebenen Rahmens zu agieren. Seidl und Kötter haben jedoch auch immer wieder auktorial auf diesen Entstehungsprozess eingewirkt und mittels überraschender Stimuli die Spielenden herausgefordert: • „Eine Guggentruppe ist am Gebäude vorbei gezogen und hat ein Lied der ersten

Kibbuz Bewegung gespielt • ein Gewitter wurde zugespielt • ich habe mit einem Laubpuster die Noten weggeblasen“.104

Auch der englische Komponist und Musikforscher James Saunders nimmt gerne selbst an den von ihm initiierten Prozessen teil. Seit 2012 arbeitet er an einer größeren Sammlung von Stücken mit dem Titel things to do, in der Gruppenverhalten, individuelle und kollektive Entscheidungsfindung, aber ebenfalls kritische Kommunikations- und Partizipationsbedingungen erprobt werden. Die Stücke können einzeln gespielt oder zu größeren Netzwerken kombiniert werden: „They model organisation structures, and these tend to be complex, and often short circuit themselves at some point.“105

104 Hannes Seidl in einer E-Mail vom 14.4.2019 an den Verfasser. 105 Music at City (Blog): https://blogs.city.ac.uk/music/2014/04/05/five-minutes-withjames-saunders vom 05.04.2014.

140 | Michel Roth

Abbildung 3: Hannes Seidl, Daniel Kötter: Fernorchester, Ensemble Mosaik Berlin, Copyright: Kötter/Seidl 2011

Das wird deutlich im Stück Sometimes we do what you say, but occasionally we don’t (2017). Ein großes Ensemble wird aufgeteilt in vier Gruppen und alle Spielenden bringen dazu ein eigenes Arsenal an Klangkörpern mit. Im Voraus wird die Länge der Performance und die Menge und Art von verbalen Anweisungen („instruction words“) vereinbart, die bei den einzelnen Spielern eine individuell definierte Aktion auslösen. Eine Liste dieser Anweisungen wird auf vier Notenständern aufgestellt – die Performance beginnt, sobald sich mindestens ein Freiwilliger („volunteer“) aus dem Ensemble oder aus dem Publikum findet, der bereit ist, vor eine Gruppe zu treten und eine der vordefinierten Anweisungen zu erteilen. Deren weitere Folge ist frei, da aber jeweils sofort reagiert werden muss, kann die Situation bei mehreren oder dicht aufeinanderfolgenden Anweisungen schnell unübersichtlich und unkoordiniert werden. Zudem sollen die „volunteers“ nicht lauter sprechen als die erklingende Musik – wichtige Informationen können also von einzelnen der Gruppe überhört werden. Als weitere Gegenkraft zur Prädisposition des Materials gibt die Partitur folgende Instruktion: „Occasionally, ensemble players may stop responding to one or more of the volunteers. Players should decide when to do this individually, but may be influenced by the choices of other players. They may recommence responding to any of the volunteers at a later point if

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they wish. The volunteers may be in place for any section of the performance, from giving a single instruction to being present for the whole performance. They may sit down at any point. If players stop responding to a volunteer completely, the volunteer has the choice to regain their attention or give up and sit down. New volunteers may fill any available station during the performance. Ideally all four stations should be filled for most of the performance. The piece finishes when the ensemble stops responding to all the volunteers.“106

Da das Publikum die Anweisungen ebenfalls zu hören bekommt, wird es im Verlauf mehr und mehr zum kritischen Beobachter – man kann die Ansagen und ihre jeweiligen Aktionen erlernen und allmählich die Spielregeln durchschauen. Defektion, Überhören und Überforderung der einzelnen Spielenden, konvergierende oder divergierende Tendenzen innerhalb der Gruppen bis hin zum auch visuell vermittelten Aufgeben bzw. Auswechseln des „volunteer“ können von außen verfolgt und interpretiert werden. Das Spiel durchbricht damit die vierte Wand107, involviert die Zuhörenden aktiv, weckt eine subversive Lust, sich als „volunteer“ zu versuchen und den weiteren Verlauf zu beeinflussen, oder gerade „unmögliche“ Situationen stehen zu lassen und zu beobachten, wie man sich schlägt. Saunders dazu: „Anyone who works in a big organisation will know what this feels like, so you might identify with the chaos which ensues in the piece, despite the occasional havens of order.“108

„ES GIBT DA EINEN VERTRETER, DER MIR NICHT GEHORCHT.“ Verweigerungen oder (mehr oder weniger freiwillige) Regelbrüche können also eine gültige und ebenso produktive Partizipationsform am Spiel sein. Besonders schön zeigt sich das auf Dieter Roths Schallplatte The Kümmerling Trio (1979). Der Fluxus-Künstler Emmett Williams verweigert sich zunächst unüberhörbar

106 Saunders, James: Sometimes we do what you say, but occasionally we don’t, [Vorwort], online verfügbar unter: http://www.james-saunders.com/scores-2/ (letzter Zugriff 24.06.2020). 107 Man fühlt sich erinnert an Peter Weibels Tele-Aktion The Endless Sandwich (1972), wo am Ende einer Ereigniskette dem Betrachter der Ball zugespielt wird, selbst aktiv zu werden. 108 Music at City (Blog): https://blogs.city.ac.uk/music/2014/04/05/five-minutes-withjames-saunders vom 05.04.2014.

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den von Roth definierten Regeln, Roths Verleger Hansjörg Mayer hält sich dagegen daran und ruft immer wieder zu Disziplin auf, während Roth minutenlang zwischen beiden Positionen laviert – was das etwas hölzerne (auf dem Plattencover offengelegte) Konzept entscheidend belebt. Wie der Künstler Thomas Hirschhorn festgestellt hat, eröffnet sich in solchen Momenten ein kreatives Potenzial, indem Kunst „kritisch ist, weil sie ganz bei sich ist und weil sie gegen sich selbst auftritt. Es geht darum, kritisch Kunst zu machen, indem man auf ihre Kosten – auf Kosten der Kunst selbst – Form gibt.“109 Das kann auch heißen, dass dem Spielverweigerer sein Spiel verdorben wird, etwa wenn Kai Althoffs Absagebrief an die documenta 13 (2012) von der Kuratorin Carolyn ChristovBakargiev kurzerhand an eben dieser documenta in einer Vitrine als Kunstwerk gezeigt wird. So wird selbst die Widerständigkeit gegenüber den Spielregeln des Kunstbetriebs zum Teil ebendieses Betriebs in Form von „Kunstverweigerungskunst.“110 Das Begriffspaar „Kunstverweigerung“ und „Verweigerungskunst“ ist im Zusammenhang mit Robert Walser häufig anzutreffen.111 Beispielsweise in seinem Räuber-Roman (entstanden 1925, erschienen 1972) inszeniert der Erzähler seine Hauptfigur als renitent gegenüber dem Erzählvorgang, er sei ein „Vertreter, der mir nicht gehorcht“, und er beschimpft ihn deshalb regelmäßig mit Wörtern wie „Räuber“, „Fötzel“, „Löl“ oder „Idiot“. Gleichzeitig wird im Textverlauf deutlich, dass dieser „Räuber“, der übrigens kaum räuberische Eigenschaften zeigt und auch als romantischer Held wenig taugt, vielmehr als eine Art „Mitschriftsteller“ fungiert. Der Erzähler muss mit bzw. trotz ihm um jeden Preis einen Roman gestalten: „Diese Umschweife, die ich da mache, haben den Zweck, Zeit auszufüllen, denn ich muss zu einem Buch von einigem Umfang kommen“ 112, teilt der Erzähler seiner Leserschaft einmal freimütig mit.

109 Weiss, Judith Elisabeth/Kopp-Oberstebrink, Herbert: „Kunstverweigerungskunst“, in: Kunstforum International, Bd. 231 (2015) und Bd. 232 (2015), hier Bd. 232, S. 31. 110 Claus-Steffen Mahnkopf hat diese These versuchsweise auf die neuere Musik übertragen, siehe ders.: „Musikverweigerungsmusik“, in: Neue Musikzeitung 64 (2015), online verfügbar unter: www.nmz.de/artikel/musikverweigerungsmusik 111 Vgl. z. B. Siegrist, Christoph: „Robert Walsers Verweigerung der Kunst als Kunst der Verweigerung“, in: Schweizer Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 66/7–8 (1986), S. 629-640. 112 Zitiert nach: Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers „Jetztzeitstil“, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1998, S. 418. Die Seiten 408-423 seien als Studie der hier angedeuteten Erzählproblematik besonders empfohlen.

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Unter diesen Vorzeichen entsteht in meinem Stück Räuber-Fragmente (2012)113 eine konfliktreiche Quintettkonstellation: Ein Schauspieler versucht, den Plot des Walserschen Romans zu erzählen, wird jedoch von drei Instrumentalisten (Saxophon, Gitarre und Kontrabass) immer wieder mit dilettantischen Zwischenrufen und ablenkenden Klangaktionen unterbrochen oder akustisch in die Enge getrieben.114 Obwohl individuell determiniert, entfaltet sich das Geflecht an Interaktionen als Ganzes unvorhersehbar, denn wie bei Walser verfügen diese drei „Spielverderber“ über ein Repertoire von sprachlichen Floskeln und Ausflüchten, die beinahe immer dazu taugen, den Erzählfluss zu unterbrechen und „Umschweife zu machen“: z. B. „hievon im nächsten Kapitel mehr...“ oder „gut, gut, nur weiter...“.115 Eine solche Interpolation kann aber zugleich das Spiel aller Instrumentalisten gefährden, denn der Erzähler setzt darauf von einem neuen Punkt der Geschichte an, was bedeuten kann, dass sie ihren auskomponierten Part schnell adaptieren müssen. Noch verkomplizierend tritt ein „Vertreter, der mir [als Komponist] nicht gehorcht“ hinzu, ein „improvisierender Solist“, man könnte in ihm den Räuber personifiziert sehen (auf szenische Darstellung wird jedoch gänzlich verzichtet).116 Er improvisiert frei, eingeschränkt nur durch eine Regel: Er darf kein eigenes Material einbringen, sondern bloß von den drei Instrumentalisten abkupfern und dieses beliebig weiterentwickeln. Sobald einer dieser drei bemerkt, dass der Improvisator ihm musikalisch zu nahe kommt, kann er auf eine Sammlung von „In(ter)vektiven“ zurückgreifen: Er beschimpft ihn z. B. als „Räuber“, „Fötzel“, „Löl“ oder „Idiot“ und verjagt ihn so aus seinem (musikalischen) Terrain (Abb. 4).

113 Entstanden im Auftrag des Ensemble Cattrall Zürich, uraufgeführt durch Peter Schweiger, Urs Leimgruber, Rico Gubler, Mats Scheidegger und Uli Fussenegger. 114 Vgl. Gartmann, Thomas: „Imaginäre Inszenierungen. Michel Roth im Gespräch mit Thomas Gartmann über die Kammeroper ‚Im Bau‘“, in: Thomas Gartmann/Michael Kunkel (Hg.), Musik – Buchstaben – Musik. Kunst und Forschung an der Hochschule für Musik Basel, Saarbrücken: Pfau 2013, S. 326-345, hier S. 327f. 115 Vgl. dazu Kunkel, Michael: „‚Beifügen könnte ich, dass …‘ Behauptungen oder Mutmassungen über Michel Roths Komposition ‚Der Spaziergang‘ nach Robert Walser“, in: Dissonanz/Dissonance 107 (2009), S. 8-11. 116 Vgl. Gisi, Lucas Marco (Hg.): Robert Walser Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: JB Metzler 2018, S. 393.

144 | Michel Roth

Abbildung 4: Michel Roth: Räuber-Fragmente, Gitarrenstimme, Auflistung der „In(ter)vektiven“

Wie in den vorangehenden Beispielen von Zorn oder Wüthrich spielten persönliche Präferenzen und Konditionierungen als kontingentes Potenzial in den Proben- und Aufführungsprozess der Räuber-Fragmente hinein: Unter anderem lehnte der bedeutende Schweizer Jazzmusiker und Improvisator Urs Leimgruber

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seine Rolle als improvisierender Solist zunächst ab, spielte nicht mit und hörte nur zu. Als er dann eine ihm entsprechende Haltung zur Umsetzung gefunden hatte, blieb trotzdem ein produktives Spannungsmoment aufgrund der Tatsache, dass er gerade in üblicherweise gesuchten Momenten des Zusammenspiels von den Mitmusikern beschimpft wurde und die Verbindung abbrach bzw. auf eine andere Ebene wechselte.

PLAYTIME Im Stück pod (2017)117 für 15 Spielende und Live-Elektronik untersuchte ich ein Musizieren unter erschwerten bis verunmöglichten Kommunikationsbedingungen. Ausgehend von einer Erwähnung Oswald Wieners, dass er zur Vermeidung des „aufeinander Hörens“ ein ganzes Konzert mit Kopfhörer gespielt habe118, wurde mir bewusst, dass eine Situation, in der eine Gruppe von Menschen räumlich beieinander sitzen, aber alle mit Kopfhörern akustisch in einer eigenen Welt sind, einer heute alltäglichen Situation beispielsweise morgens in der Straßenbahn entspricht. So habe ich zwei Drittel der Ensemblemitglieder gebeten, rund eine halbe Stunde Musik, die sie gerne hören, zu kompilieren. Es entstanden rührende kleine akustische Selbstporträts, voller Lieblingsstücke, Erinnerungen, auch Hörbücher, Radiosendungen und Aufnahmen der eigenen Kinder waren dabei. Über weite Teile folgen sie während einer Aufführung von pod ausschließlich dieser über Kopfhörer gespielten Klangspur, gelegentlich als würden sie auf ihren Instrumenten frei mitsummen oder mitklopfen – vorgeschrieben sind jedoch teils sehr spezifische Verhaltensweisen, die im Gesamtzusammenhang nur selten offenkundig zitathaft wirken. Denn durchs eigene Spiel aktiviert sich ein FFT-basiertes elektronisches Filtersystem (entwickelt mit Daniel Zea), das steuert, was die Beteiligten von ihrer persönlichen Musik via Kopfhörer überhaupt noch zu hören bekommen – imitiert man auf seinem Instrument möglichst genau, was man hört, löscht man es weitgehend aus und es bleiben nur noch zwitschernde Artefakte übrig; imitiert man wiederum diese, so tritt das Ausgangsmaterial wieder fast

117 Entstanden im Auftrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für das Ensemble Proton Bern und das Ensemble Vortex Genf. Eine Aufnahme ist verfügbar unter: https://soundcloud.com/user-975110633/vortex-proton-1_roth_pod 118 Dieter Roth und die Musik (Blog), vgl. http://blogs.fhnw.ch/dieterrothmusic/seltengehorte-gespraeche, Gespräch mit Ingrid und Oswald Wiener vom 26. September 2012, Timecode: 02:44:30.

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unverändert hervor. In den meisten Fällen ereignen sich aber im Kopfhörer schwer vorhersehbare Verzerrungen, die das eigene Spielverhalten sehr heterogen beeinflussen. Letztlich entsteht durch diesen Regress eine Art „Filterblase“, deren zehnfache Überlagerung im Kollektiv, auch bei insgesamt einheitlichen Verhaltensweisen, aufgrund der individuellen Ursprungsmaterialien und des abgeschirmten Hörens eine solipsistische Polyphonie ergeben. Eine ZappingFunktion erlaubt, punktuell in die Tonspur der anderen hineinzuhören und darauf zu reagieren, was gelegentlich mehrere Spielende unbewusst zu koordinieren vermag. Entscheidend ist: Dieser Bereich der Elektronik hat fast ausschließlich die Funktion eines Audioscore, er bleibt für Außenstehende unhörbar, nur die jeweilige instrumentale Reaktion lässt sich verfolgen und bildet im traditionellen Sinn die eigene „Stimme“ in diesem Werk. Anders gesagt: Die vierte Wand wird nicht durchbrochen, sondern vielmehr hinsichtlich der Referenzebene aller dieser beobachtbaren Instrumentalaktionen schalldicht versiegelt. Stellenweise werden einzig die akustischen Abfallprodukte dieser Komprimierungs- und Filterungsvorgänge via Transducer auf die Instrumente der fünf übrigen Ensemblemitglieder übertragen. Diese zweite Gruppe agiert untereinander deutlich hellhöriger und kammermusikalischer und schafft eine Art flexiblen Resonanzraum, den sie wiederum mit teils penetrant alltäglichen Geräuschen konterkariert. Anstelle des abgeschirmten Hörens der anderen Gruppe wird bei ihnen partiell eine körperliche Abschirmung des Instruments eingesetzt: Während großer Teile ihres Parts benutzen sie „Prothesen“ zur Anregung, das sind Milchschäumer, Rasierapparat und elektr. Zahnbürste, Haushaltsgegenstände wie Entstopfer oder ein Wallholz mit Saugnäpfen. Das schafft eine großformale Klangdramaturgie, während die mit Kopfhörer Spielenden nur über statistische Prozesse gelenkt werden können: Gegen Ende akkumulieren sich alle Filter, sodass unabhängig vom Ausgangsmaterial bei allen in den Kopfhörern nur noch sehr ähnliche Artefakte und entsprechende Instrumentalaktionen übrigbleiben. Immer wieder – aus dem individuellen Spiel heraus und gleichzeitig durch ebendieses Spiel gesteuert – entsteht in pod eine Soundscape, die an die äußerst experimentelle Tonspur des Films Playtime (1967) von Jacques Tati erinnert. Dort zeigt eine Szene mit damals futuristischem Interieur eines Großraumbüros mit vielen kleinen Arbeitszellen, aber auch mit ihrem Stimmen- und SignaltöneCapriccio in hintergründig ironischer Weise die individuelle Abkapselung und kommunikative Vereinsamung innerhalb einer affirmativ technoid geprägten, vernetzten und doch nur noch medial erfahrbaren Welt (Abb. 5). Ein ähnlicher Zwiespalt zwischen Abkapselung und Überforderung, zwischen individueller

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Aktivität und kollektiv funktionalisiertem Aktionsraum war im Kontext der Aufführungen von pod bei den sehr ungewohnt beanspruchten Spielenden zu beobachten – und beim Publikum, das sich bisweilen von diesem „Spiel für sich selbst“ der Kopfhörergruppe geradezu provoziert fühlte.119 Letztlich erneuert pod nicht Jacques Tatis spielerische Modernismuskritik, sondern versteht sich als experimentelles Spielfeld, auf dem eine alltägliche Situation mit künstlerischen Mitteln modelliert und verschiedenes Kommunikations- und Koordinationsverhalten erprobt und von außen beobachtet werden kann.

Abbildung 5: Jacques Tati: Playtime (1967), Filmstill

DER SPIELER ALS UNBERECHENBARER TEILNEHMER Im allgemeinen Bewusstsein ist Musik der Inbegriff eines Kooperationsspiels, das unter hoher Determination und perfekten, vollständigen und symmetrischen Informationsbedingungen einer Partitur gespielt wird.120 Dies wurde auch 2014 in einer kleinen Versuchsreihe im Rahmen der Lucerne Festival Academy

119 Eine ausführliche Rezension findet sich bei Haffter, Christoph: „Situations. Trois créations par Protex – Vorton“, in: Dissonanz/Dissonance 141 (2018), S. 27f. 120 Als Kurzeinführung in diese spieltheoretische Terminologie, vgl. Rieck, Christian: Spieltheorie. Eine Einführung, Eschborn: Christian Rieck Verlag 2013, S. 160f.

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bestätigt:121 Zehn Probandinnen und Probanden aus großen Teilen der Welt wurde eine Duo-Improvisationsaufgabe gestellt, deren individuelle Anweisungen zueinander widersprüchlich und konfligierend waren, was die Beteiligten nicht wussten. Obwohl sich also scheinbar der jeweilige Duo-Partner ungewollt als „Spielverderber“ verhielt, ist niemand auf die Idee gekommen, vielleicht nicht über alle Informationen dieses Spiels zu verfügen oder dass hier zwei unterschiedliche Spiele gleichzeitig gespielt werden. Vielmehr wurden sogleich kooperative Absprachen getätigt, um das gemeinsame Spiel besser zu koordinieren. Nun wäre es kein wünschbares Ziel, nur noch nicht-kooperative Musik zu machen, so wie sich in den letzten Jahrzehnten die Spieltheorie (vielleicht allzu) stark auf „non-cooperative games“ konzentriert hat. Aber die Entwicklung kritischer Kooperationsformen in komponierter und improvisierter Musik, wie sie um 1970 vorangetrieben wurde, fände im heutigen medial (un)vermittelten Nebeneinander unterschiedlichster ästhetischer Erfahrungen und Positionen einen Gegenstand und zugleich eine „community of practice“ zu dessen Reflektierung.122 Wie ursprünglich mitbedacht eröffnen sich hier nicht zuletzt den Interpreten ungebundenere Auseinandersetzungen mit musikalischen Texten und miteinander:123 Dies potenziert John Cages Neudefinition des Kunstwerks als „process, not object“124, indem sich auch Ungeplantes, Unauflösbares, Widersprüchliches, Widerständiges, Glücken und Scheitern als „komische Tragödie“ (Globokar) ereignen und über die Performance hinaus in Diskurse und Gegenreaktionen, z. B. in sozialen Medien, fortentwickeln kann. Cardew hat im zeitlichen Umfeld der Indeterminationsdebatte und Fragen der „Absichtslosigkeit“ (Stockhausen) und „purposelessness“ (Cage) festgehalten: „mistakes are the only truly spontaneous actions we are capable of.“125 Die mit

121 Durchgeführt von Michel Roth im Rahmen des Forschungsprojekts Fokus Darmstadt. Fallbeispiele zur Aufführungspraxis der Neuen Musik 1946–1990 der Hochschule für Musik Basel, gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds. 122 Vgl. u.a. Muntendorf, Brigitta: „Social Composing“, in: Positionen 108 (2016), S. 16f.; ebenso: Dies.: „Mehr Chaos, bitte! Zeitgenössische Musik und Kultur der Digitalität“, [2018], Quelle: https://www.klangforum.at/blog-detail/muntendorfdigitalitaet.html 123 Vgl. de Assis, Paulo: Logic of Experimentation: Rethinking Music Performance Through Artistic Research, Leuven: Leuven University Press 2018, S. 189-200; ebenso: Cook, Nicholas: Beyond the Score. Music as Performance, Oxford: Oxford University Press 2013, S. 249-287. 124 Cage, John: Themes & Variations, Vorwort, Barrytown: Station Hill Press 1982, o. S. 125 C. Cardew: „Notation: Interpretation, etc.“, S. 26.

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Dieter Roth verbundene Berliner Gruppierung „Geniale Dilletanten“ [sic] setzte dies gezielt ein: „Das Ver-Spielen , das Ver-Schreiben als positiver Wert , als Möglichkeit zu neuen ,noch unbekannten Ausdrucksmöglichkeiten zu gelangen , soll möglichst universell angedeutet werden .“126 Oswald Wiener kritisierte, dass improvisierte Musik meist eine Sozialisation bloß reproduziere, „ohne deren Qualität wiedergeben zu können, d. h. sie versucht etwas spontan hervorzubringen, das vorher mühevoll antrainiert worden ist, beraubt sich aber der Möglichkeit, das Hervorgebrachte zu prüfen, zu überarbeiten oder zu verwerfen. Übrig bleibt ein Abklatsch des Möglichen.“127 Dieses Prüfen, Überarbeiten, Verwerfen aus der Dunkelkammer des Komponierens und des Probens zu holen und als eine Wirklichkeit des Musikmachens zu verstehen, ist das Anliegen vieler in diesem Aufsatz vorgestellter Spielarten von Musik. Eine „New Discipline“128 könnte den Weg weisen zu einem Musikspiel abseits von Disziplinierungen, einschließlich einer „Ästhetik des Nichtkönnens“129 und des Nichtwollens anstelle von antrainierter Virtuosität und perfekter Koordination – der „Spieler als unberechenbarer Teilnehmer“.130 Das schließt ein, dass wir die im zeitgenössischen Musikschaffen omnipräsenten medialen Technologien so gestalten und nutzen (nötigenfalls „hacken“), dass ihre implizierten Nutzungs- und Spielalgorithmen gleichrangig auch undiszipliniertes, kritisches131 und eigensinniges Verhalten zulassen.132 Ein verregneter Spielnachmittag an der Game-Konsole meines zwölfjährigen Sohnes zeigte mir noch das Gegenteil: • Glück, Psychologie oder das altbewährte Spekulieren auf die Dummheit des

Gegners spielen eine untergeordnete Rolle.

126 Müller, Wolfgang: „Die wahren Dilletanten“, in: Ders. (Hg.), Geniale Dilletanten, Berlin: Merve 1982, S. 9-14, hier S. 10 [unkonventionelle Typographie übernommen]. 127 Morgenroth, Claas: „1969. Oswald Wiener. Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman“, in: Sandro Zanetti (Hg.), Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien, Zürich-Berlin: Diaphanes 2014, S. 193-203, hier S. 197. 128 Walshe, Jennifer: „Die Neue Disziplin“, in: MusikTexte 149 (2016), S. 4f. 129 C. Morgenroth: „1969. Oswald Wiener“, S. 196. 130 Feely, Kara: „Vier Worte“, in: MusikTexte 149 (2016), S. 5f., hier S. 6. 131 Vgl. M. Flanagan: Critical Play, S. 261f. 132 Vgl. Costikyan, Greg: „I Have No Words & I Must Design: Toward a Critical Vocabulary for Games“, in: Frans Mäyrä (Hg.), Proceedings of Computer Games and Digital Cultures Conference, Tapere: Tampere University Press 2002, S. 9-33, hier S. 20.

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• Eigensinnigkeit oder gar Verweigerung führen unweigerlich und mit algorith-

mischer Konsequenz zu Schwäche. • Es gibt vielfach eine eindeutige optimale Strategie, davon abweichende, allen-

falls individuelle Lösungen werden sanktioniert. • Man kann nicht schummeln.133 • Scheitern ist nicht lustig oder produktiv, sondern wird im Normalfall mit dem

Tod bestraft. Zum Glück habe ich mehrere Leben.

133 Vgl. M. Flanagan: Critical Play, S. 11.

Gehen, Laufen, Rennen Spielformen des Parcours in musiktheatralen Performances der Gegenwart Sarah Mauksch

Anliegen dieses Beitrags ist es, einen Spiel-Begriff zu entwickeln, der für einen musiktheatralen Gegenstand funktionsfähig gemacht werden kann: Wie und in welchen Formen tritt das Spiel im aufführungstheoretischen Kontext in Erscheinung und wie lässt sich der Begriff über das Theater als Schau-Spiel hinaus für zeitgenössische interdisziplinäre Kunstformen brauchbar machen? Die Denkfigur des Spiels soll dafür mit der des Parcours (aus dem Französischen parcours von parcourir für „laufen“ bzw. aus dem Spätlateinischen percursus für „durchlaufen“) verknüpft werden. Exemplarisch werden nachfolgend jüngste und jüngere künstlerische Arbeiten vorgestellt, die unter dem Schlagwort der site-specific performances zu subsumieren sind. Ortsspezifizität ist ein entscheidender Faktor, um das Spielerische des Parcours näher zu untersuchen. Sie ist dafür verantwortlich, dass Aufführungsort und -raum zum Spiel-Platz bzw. zum Spiel-Raum künstlerischer Auseinandersetzung und ihrer Rezeption werden. Parcours kann in dieser Hinsicht entweder als Rezeptionspraktik, als künstlerisch-kompositorische Strategie oder als Spiel-Technik verstanden werden. Interessant wird es sein, zu betrachten, welche kunstwerk- und raumkonstituierenden Bedeutungen dem Parcours aus Sicht der Rezipient*innen zugeschrieben werden können und welchen Anteil daran musikalische, akustische, auditive oder musiktheatrale Interventionen haben. Auf produktionsästhetischer Ebene werden künstlerisch-kompositorische Strategien auf Basis einer spielerischen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material, wie in Collage/Montage, betrachtet sowie die Frage beleuchtet, was passiert, wenn Parcours als Spiel-Technik zur ästhetischen Strategie der Künstler*innen bzw. der Komponist*innen erklärt wird.

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Grundlage für den hier zu verwendenden Spielbegriff bildet die Spieltheorie Johan Huizingas1, die für künstlerische Arbeiten im Kontext ihrer theatralen Aufführungssituationen adaptiert werden kann. Darauf aufbauend gibt die Lektüre von Die Kunst des Handelns des französischen Theoretikers, Soziologen und Philosophen Michel de Certeau darüber Auskunft, wie parcoursähnliche Produktions- und Rezeptionsmodi in zeitgenössischen Kunstformen beschreibbar gemacht werden können. Mit diesem Blickwinkel treten v. a. die Aktivitäten, also die ‚Handlungen‘ des Gehens, Laufens und Rennens, wie der Haupttitel des Beitrags verrät, in den Mittelpunkt der Analyse. Dem sogenannten „Spiel der Schritte“ schreibt Certeau ein raumbildendes und performatives Potenzial zu, das an den jeweiligen Beispielen herausgearbeitet wird.

SPIEL-THEORIE In seiner 1938 das erste Mal publizierten Studie Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel definiert Johan Huizinga Spiel u. a. als eine kulturelle Praxis, die „sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer [sondert]. Eine Abgeschlossenheit und Begrenztheit bilden sein drittes Kennzeichen. Es ‚spielt‘ sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ‚ab‘. Es hat einen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst. [...] Das Spiel beginnt, und in einem bestimmten Augenblick ist es ‚aus‘. Es ‚spielt sich ab‘“.2

Das Spiel in zeitlichen und räumlichen Grenzen zu denken, korrespondiert im Kontext der Aufführungstheorie mit der räumlich-ästhetischen Grundsituation des Theaters. Die theatrale Aufführung erfolgt für einen bestimmten Zeitraum an einem bestimmten Ort. Alles im und am Theater und seinen Aufführungen ist Spiel. Das betrifft nicht nur den Spiel-Raum oder das Schau-Spiel: Auch theatertheoretische Komposita wie Schau-Spieler, Spiel-Ort, Fest-Spiel oder Rollen-Spiel bilden sich aus dem Wortstamm „Spiel“ und zeigen somit wie sehr ein Spiel-Begriff für Aufführungen benötigt wird. Der Spiel-Begriff im Theater

1

Ausführlich dazu der Beitrag von Regine Strätling in diesem Band, S. 23-53.

2

Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1956], übers. von Hans Nachod, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1981, S. 18. Zu den grundlegenden formalen Kennzeichen des Spiels zählt Huizinga darüber hinaus, dass Spiel „ein freies Handeln“ sei und sich vom „gewöhnliche[n] Leben“ abgrenze. Vgl. ebd., S. 16ff.

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muss auf einen sich fortwährend entwickelnden Gegenstand reagieren. Er muss einerseits das Narrativ, also die Handlung eines Stücks, und andererseits die vielschichtigen Erscheinungsformen umfassen.3 Und so trifft es sich sehr gut, dass Huizinga das Element der Handlung als zentrales Merkmal des Spiels hervorhebt. Er definiert Spiel also weiterhin als eine „freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selbst hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“4

Nicht zuletzt sei Spiel „eine Darstellung von etwas“5, sodass auch im (theatralen) Spiel eine „Ordnung der Dinge“ zustande gebracht werden könne, die „höher ist als die, in der sie [die Beteiligten der Aufführung] gewöhnlich leben“.6 Die Verwirklichung durch Darstellung trage in jeder Hinsicht die formalen Kennzeichen eines Spiels7, verrät Huizinga an eben dieser Stelle weiter. Mit dem Diskurs der Aufführungstheorie in der Theaterwissenschaft, der auf den sich seit dem 20. Jahrhundert stark verändernden Gegenstand der Künste reagiert, wissen wir heute, dass Aufführungen jedweder Art nicht wiederholbar sind. Neben ihrer besonderen Medialität werden u. a. Flüchtigkeit, Ereignishaftigkeit, Prozesshaftigkeit und Einmaligkeit, also Transitorik, zu den Grundparametern der Aufführung erklärt, die z. B. von Erika Fischer-Lichte 2004 in ihrer Untersuchung Ästhetik des Performativen festgehalten wurden.8 Die Merkmale einer Aufführung lassen sich also hinsichtlich ihres Produktions- wie Rezeptionsprozesses durchaus als Regelwerk zur Bestimmung auffassen; vielleicht als ‚Spiel der Aufführungen‘ denken.

3

Christopher Balme spricht in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen TextEbenen einer Aufführung: Theatertext, Inszenierungstext und Aufführungstext. Vgl. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin: Erich Schmidt Verlag 32003, S. 104.

4

J. Huizinga: Homo Ludens, S. 37.

5

Ebd., S. 23.

6

Ebd.

7

Vgl. ebd.

8

Siehe Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.

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Helmar Schramm stellt in seinem Artikel „Spiel“ die grundsätzliche Spielerfahrung als „habitualisierte Erfahrung“ an den Ausgangspunkt seiner Definition: Spiel verbinde sich „mit Lust, Begehren und tätiger Sinnlichkeit, mit Geschicklichkeit, Glück und Gefahr, mit Gemeinschaft und Kampf, mit der Macht des Zufalls und des Einfalls, mit einer ‚anderen‘ Wirklichkeit, einer Wirklichkeit des Möglichen, reich an Augenblicken der Verwirklichung.“9

Die zahlreichen Spieltheorien aus Philosophie, Kulturwissenschaft, Pädagogik, Ökonomie oder Mathematik lassen sich dennoch auf die drei Merkmale der (1) Regelhaftigkeit, (2) Begrenzung und (3) dynamischen Komplexität herunterbrechen. Diese sehr groben Parameter variieren von Fall zu Fall, von Disziplin zu Disziplin. Wie eine Aufführung, die sich im Zusammenspiel von Zuschauer*innen und Akteur*innen herausbildet – was von Fischer-Lichte als „autopoietische Feedback-Schleife“10 bezeichnet wird –, ist auch das Spiel als ein autopoietisches System zu begreifen, das durch gesetzte Rahmenbedingungen autonom abläuft. Diesen Gedanken setzt Tanja Wetzel in ihrem Eintrag „Spiel“ im Historischen Wörterbuch. Ästhetische Grundbegriffe fort und weist dem Spiel strukturbildende wie ereignishafte Züge zu.11 Eine besondere Ereignishaftigkeit und Strukturbildung kann, wie noch zu zeigen sein wird, in zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten durch den Rezeptionsmodus des Parcours erfolgen. „Parcours“ ist ein Kunstwort, das im 20. Jahrhundert für eine „Sportart der Raumaneignung, bei der Sportler versuchen, einen möglichst kurzen und geradlinigen Weg in einer (urbanen) Landschaft zu wählen“12, herausgebildet wurde. Rolf Nohr konstatiert, dass der Parcours sich als eine „Kunst der Bewegung und Beherrschung des Körpers“ figuriere, die nicht auf spektakuläre Wettkampfergebnisse aus sei, sondern „auf ästhetische (Selbst-)Erfahrung der

9

Schramm, Helmar: Art. „Spiel“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2005, S. 307-314, hier S. 307.

10 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 74. 11 Vgl. Wetzel, Tanja: Art. „Spiel“, in: Karlheinz Brack et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2003, S. 577-619, hier S. 611. 12 Nohr, Rolf: Art. „Parkour“, in: Stephan Günzel (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt: WBG 2013, S. 871f.

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Körperbewegung“.13 Damit ist der Parcours weit mehr als reine sportliche Betätigung – er ist als „räumliche Praxis“ aufzufassen. Die französische Gruppierung der Situationistischen Internationale um Guy Debord und später auch Michel de Certeau sahen im Parcours eine Form der „Aneignung des städtischen Raumes“, der sich über die eigene Positionierung im (Stadt-)Raum definiere. Im Rahmen dieses Beitrags soll der Parcours als Ausdruck spielerischer Dynamik verstanden werden, wenn es um die Einbindung von Publikum in zeitgenössischen installativen Arbeiten geht. Im Video Walk Ghost Machine (2010) von Janet Cardiff entwickelt die in Berlin lebende Künstlerin mit Mitteln binauraler Aufnahmetechnik einen Parcours durch das Theater Hebbel am Ufer. Dieser Parcours führt nicht nur durch die dem Publikum ständig zugänglichen Teile des Theaters, sondern auch durch die Künstlergarderoben, Werkstätten und die Hinterbühne. Cardiff verwendet dafür ein iPhone, auf dem ein Video zu sehen ist, das sie vorher selbst produziert hat und das aus einer Point-of-View-Perspektive (POV) zeigt, wie das künstlerische Subjekt durch das Theatergebäude läuft. Über Kopfhörer sind Richtungs- und Handlungsanweisungen der Künstlerin an die Rezipient*innen zu hören. Dabei überlagern sich reale akustische und visuelle Ebene und aufgenommene, fiktive Ebene derart, dass es immer wieder zu Überschneidungen kommt und Realität und Fiktion immer wieder, die Rezipient*innen irritierend, aufeinanderstoßen. Verbunden wird dieser Walk mit einer Kriminalgeschichte, zu deren Mitwisser*innen sich die Rezipient*innen im Laufe des Walks verwandeln. Spielerisch werden hier medial wie auditiv neue und andere Wahrnehmungsräume erkundet. Räume, denen ein Potenzial des Möglichen zugeschrieben werden kann; in welchen verschiedene Wirklichkeiten durch- und abgespielt werden. Die besondere Ästhetik zieht sich aus den Brüchen, die durch die Kollision zwischen dem gefilmten fiktiven Bild und der Realität entstehen. Je weiter die Rezipient*innen in die Geschichte und das Theatergebäude vordringen, desto enger wird das narrative Gewebe gesponnen, mit welchem Cardiff die Rezipient*innen umgarnt. Der Herausbildung einer „Wirklichkeit des Möglichen“ (Schramm), eines imaginierten oder virtuellen Raumes, kann also spielerische Qualität zugewiesen werden. Verstanden als ein Prozess bilden sich auf diese Weise mehrere (multimediale) (Spiel-)Räume heraus; werden also miteinander verlinkt. Aufführung und Spiel befinden sich im ständigen Werden und zeichnen sich durch ihr performatives Potenzial aus. Aus diesem Werden zieht Natascha Adamowksy für

13 Ebd.

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die Künste, dass das Spiel als eine „Vollzugsform“14 zu begreifen ist. Der Parcours fungiert hierin als Wahrnehmungsmodus und setzt gleichzeitig Rahmen und Grenzen für die Rezipient*innen. Adamowsky schreibt in diesem Zusammenhang dem Spiel eine Vermittlungsfunktion zu, die sich im Spielen selbst herausbildet. Sie bezieht sich auf zeitgenössische künstlerische Arbeiten und Filme und exemplifiziert an ihnen, inwieweit ein Suchen und Finden zum künstlerischen Spiel in diesen Arbeiten werden kann. Die Rezipient*innen von Ghost Machine sind immer auf der Suche nach der Protagonistin des Films, versuchen, ihr zu folgen, und entdecken vor dem Hintergrund einer Kriminalgeschichte das Theatergebäude neu. Auf die Vermittlungsfunktion stützend zieht Adamowsky folgenden Schluss: „Zu spielen heißt, Verbindungen herzustellen, spekulative Brücken zu schlagen, Disparates zusammenzuführen.“15 Die darin verborgene „performative Verknüpfungsdynamik“16 lässt sich nun auch am Parcours nachvollziehen.

ORFEO. NACH MONTEVERDI. EINE STERBEÜBUNG 17 Bei dieser Arbeit handelt es sich um einen „Orfeo-Parcours“18, der vom Solistenensemble Kaleidoskop in der Mischanlage Zollverein Essen zur Uraufführung gekommen ist. Zur Vorlage gehören Monteverdis Oper (also Orfeo) sowie das Tibetische Totenbuch (also Eine Sterbeübung). Das Publikum befindet sich im Inneren einer alten Mischanlage, umgeben von kalten Betonwänden. Die Architektur der Kokerei mit einer augenfälligen Trichterkonstruktion und die labyrinthisch wie gleichermaßen verworren angelegten Gänge und Räume blockieren die direkte Sicht der Rezipient*innen auf die Aufführungssituation. Brücken und Korridore verschlingen sich miteinander und erschweren die

14 Adamowsky, Natascha: „Von der Kunst des Findens und dem Spiel des Zeigens: Übungsformen der Subjektivität“, in: Regine Strätling (Hg.), Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld: transcript 2012, S. 59-76, hier S. 59. 15 Ebd., S. 62. 16 Ebd. 17 Regie: Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt, Bianca van der Schoot. UA: Ruhrtriennale 2015, Solistenensemble Kaleidoskop. 18 Versteele, Jeroen: „Orfeo: Eine Sterbeübung“, in: ORFEO. Nach Claudio Monteverdi. Eine Sterbeübung, Ruhrtriennale 2015, Programmheft, hg. von Kultur Ruhr GmbH, Hamm: Griebsch & Rochol Druck GmbH 2015, o. S.

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einfache Orientierung in der Mischanlage. Als Kontrast dazu wählt das Regieteam eine dem vorstädtischen Spießertum nachempfundene Kulisse als Vorhof zur Hölle, dem Limbus, in dem sich (die) Eurydike(s) – die Protagonistin aus Monteverdis Oper wird vervielfacht –, befindet bzw. befinden. Die vier bespielten Räume, in denen sich das Publikum je zehn Minuten aufhält, wurden von Katrin Bombe hyperreal gestaltet. Durch ihre Künstlichkeit wirken sie überzeichnet. Die Pastelltöne und die generische Einrichtung der Räume evozieren eine Computerspiel-Ästhetik à la Die Sims. Die Figuren dieses Stücks wirken seelenlos und distanziert. Überspitzt ist ebenso die Darstellung der Figuren, deren groteskgespenstische Maskenhaftigkeit die Protagonist*innen austauschbar macht. Sie könnten Avatare des Computerspiels Die Sims sein: Biedere Kleidung, blonde Perücken, verformte Gesichter verstärken den geisterhaft-entrückten Eindruck eines Nicht-von-dieser-Welt- oder Fern-gesteuert-Seins. Stumm starren sie auf Monitore, die dieselben Interieurs zeigen, die sie umgeben. Das Publikum erschließt sich die beeindruckende Örtlichkeit der Zeche Zollverein individuell. Auf diese Weise eröffnen sich neue Wahrnehmungsräume, die ausgehend vom Opern-Parcours immer wieder neu herausgebildet werden. Die Räume werden in einzelnen Gruppen zu je acht Personen erschlossen. Wie auch Cardiff in Ghost Machine erzeugt Kennedy in Orfeo einen virtuellen Raum, der nur akustisch wahrnehmbar ist. Über ein komplexes Lautsprechersystem werden über die gesamte Dauer Bearbeitungen der Komposition Monteverdis übertragen. Jeder Raum erhält eine individuelle Klanggestaltung. Dieses virtuell erzeugte Raumgefüge bezeichnet Michael Rauter vom Solistenensemble Kaleidoskop in diesem Zusammenhang als „Meta-Raum“.19 Musikalisch wird die Komposition Monteverdis als Materialbaukasten genutzt. Sie wird mit Techniken der Collage, mit Looping und Sampling bearbeitet, wodurch Monteverdis Orfeo eine Fragmentierung erfährt, um schließlich wieder neu zusammengesetzt zu werden. 20 Dafür verwenden Michael Rauter und Tilman Kanitz die Instrumentalteile, Chöre sowie Hauptarien Orfeos – die musikalische Vorlage wird also stark reduziert und im Sinne der Besetzung

19 Kaiser, Julia: „Der Raum ist Teil des Instruments. Das Orfeo-Logbuch (VIII): Ein Gespräch mit Michael Rauter und Tilman Kanitz über den Umzug in den MartinGropius-Bau und die prekäre Situation des Solistenensemble Kaleidoskop“, in: Berliner Festspiele Blog, https://blog.berlinerfestspiele.de/der-raum-ist-teil-des-instrumentes/ vom 25.9.2015 (letzter Zugriff: 1.11.2019). 20 Vgl. J. Versteele: „Orfeo“.

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des Ensembles uminstrumentiert.21 Übergänge von Aufnahmen, Reduktionen und Originalpartien sind fließend. Primäres Anliegen dieser Arbeitsweise war es, dem Wesen der Musik als Zeitkunst zu widersprechen. Die Musik solle Zustände erzeugen.22 Wenn nun Musik seiner traditionellen Rezeptionsweise – hier bezogen auf das Konzert – enthoben wird, indem das Empfinden von Zeitlichkeit unterbunden wird, dann wird der Fokus der Wahrnehmung auf den Raum gerichtet: Bewegung in verschiedenen Räumen, unterschiedliche Ausstellungsobjekte (Orfeo und Eurydikes) werden zum Betrachtungsgegenstand und bringen den Rezeptionsmodus einer Ausstellung hervor. Trägt die räumliche Darstellung von Orfeo dazu bei, die „Ausstellbarkeit von Musik“23 neu zu diskutieren? Der Parcours definiert hier die ästhetische Situation: Das bearbeitete Opernfragment Monteverdis steht in einem Spannungsverhältnis zwischen Aufführung und Ausstellung. Der Rezeptionsmodus des Gehens eröffnet neue Möglichkeiten des (akustischen) Wahrnehmens, die die Erfahrung neuer bzw. anderer Wirklichkeiten herausbildet.

MNEMO/SCENE: ECHOS 24 In diesem Stück wird das Publikum dazu angehalten, sich seinen eigenen Weg durch die vier Räume im Gewölbe des Münchner Einstein Kultur zu suchen, das von den Künstlerinnen bespielt wurde. Das künstlerische Konzept sieht die Suche des Wegs zur Erinnerung vor, die auf visueller, szenischer und v. a. musikalischer Ebene immer wieder zum Vorschein kommt. Das etwa einstündige Stück ist in zwei installative Teile gegliedert: einen mit konzertanten Einsprengseln in die räumliche Umgebung ausgestalteten Teil, worin die Einsprengsel als Hörpunkte fungieren, und einen etwa 20-minütigen Konzertteil. Hoch komplex verstricken die Künstlerinnen zahlreiche szenische, szenografisch-materialbasierte und musikalische Aktionen miteinander, die sich nach und nach zu einem Gewebe an Verweisen, Bezügen oder eben Erinnerungen verfestigen. Die Rezipient*innen sind zu jeder Zeit frei im Raum unterwegs und bekommen so die Möglichkeit,

21 Vgl. Kanitz, Tilman/Rauter, Michael: „Loslassen – Auflösen – Verlangsamen: Zur Musik von Orfeo“, in: Solistenensemble Kaleidoskop, http://www.kaleidoskop musik.de/zur-musik-von-orfeo/ vom 4.9.2015 (letzter Zugriff: 1.11.2019). 22 Vgl. ebd. 23 Ebd. 24 Regie: Pauline Beaulieu, Komposition: Stephanie Haensler, Raum: Yvonne Leinfelder. Münchener Biennale 2016.

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sich ihre eigene Wahrnehmung zu schaffen. Dreh- und Angelpunkt dieser Arbeit ist das musikalische Geflecht, das durch Einsatz unterschiedlichster kompositorischer Mittel Erinnerungsmomente auslöst, die wiederum die Bewegung der Rezipient*innen im Raum – das Erkunden – beeinflussen. Die Wege, die die Rezipient*innen in diesem Stück beschreiten, sind auf zwei Ebenen als labyrinthisch erfahrbar: Zum einen betrifft das die räumliche Gesamtstruktur, in welcher die Rezipient*innen immer wieder auf Hindernisse und Grenzen stoßen, um schließlich neue Wege finden oder an Ort und Stelle ausharren zu müssen. Zum anderen sind die Dekorationen der Bühnenbildnerin Yvonne Leinfelder in den Räumen selbst so angeordnet, dass auch dort die Rezipient*innen gezwungen sind, sich mäandernd einen Weg durch die installative Anordnung zu suchen. Ausgelöst wird der Wahrnehmungsmodus des suchenden Gehens – vielleicht auch des suchenden Hörens? – mit Hörpunkten durch in Skulpturen (GipsskulpturenRaum) versteckten Lautsprechern, die Aufnahmen abspielen, auf denen Schauspielerinnen ihre Texte vortragen. Parcourshaft und spielerisch ist damit nicht nur die räumliche Aufführungssituation gestaltet, sondern auch die Musik. Als Material des akustischen Gewebes verwendet Stephanie Haensler Robert Schumanns op. 28/II – die zweite der drei Romanzen für Klavier –, ein Stück, von dem die Rezipient*innen aufgrund der Bekanntheit des Stücks das Gefühl haben, es schon einmal gehört zu haben. Das suchende Hören wird hier zu einer Suche nach dem Original. Die Rezipient*innen folgen den Klangfetzen nach, um nachzuvollziehen, welche Komposition hier verschleiert wird. Aber auch für Nicht-Kenner des Schumann-Stücks entfaltet sich eine besondere Wahrnehmungssituation, die auf die Atmosphäre zurückzuführen ist, die letztlich von der Bezugskomposition ausgeht. Die drei Romanzen für Klavier komponierte Schumann ein Jahr nach den berühmten Kinderszenen (op. 15, 1838), ebenfalls ein Klavierzyklus. Der Anklang an die für Schumann typisch romantische Klaviermusik regt zum Schwelgen in vergangenen Zeiten an. Das Zitat ist als Schicht in dem Konzertstück wie auch in alle anderen Räume implementiert. Im Konzertstück bringt Haensler die Schumann-Romanze (Abb. 1) auf vielen Ebenen hervor. Als Zitat kann es ganz direkt erscheinen, es kann sich blitzartig verflüchtigen oder fragmentarisch hervortreten. Oftmals kreisen die Stimmen umeinander – eine Figur der Schraube in der Klarinette, begleitet von Horn und Posaune, wie im Notenbeispiel Takte 164-171 sowie 172-174 im Klavier (Abb. 2) gut zu sehen ist. Triolische Ketten hängen aneinander, rotieren, scheinen perpetuum-mobile-artig festzuhängen, bis sie sich wieder durch eines der zahlreichen Glissandi auflösen. An anderen Stellen wird das Zitat gedehnt, verliert jede Zeitlichkeit, die Erinnerung scheint still zu stehen. Oder aber es tritt wie am Ende dieses Stücks bruchstückhaft hervor.

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Abbildung 1: Robert Schumann: Drei Romanzen. Op. 28/II, in: Clara Schumann (Hg.): Robert Schumann’s Werke. Serie VII. Für Pianoforte zu zwei Händen, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880, S. 6f, hier S. 6.

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Abbildung 2: Stephanie Haensler: Mnemo/Scene: Echos für Ensemble (2015), Takte 164171, Klarinette, Horn, Posaune sowie Takte 172-174, Klavier.

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Haensler bedient sich einer Art Montagetechnik, mit der sie alle klanglichen Momente und eben das Schumann-Zitat in seinem Grundkeim nebeneinander legt. Hier werden filmschnittartig alle Teile zusammengefügt, wodurch dies wie eine Zusammenfassung des klanglich-kompositorischen Materials wirkt. Schumann bleibt als klangliches Substrat ständig wahrnehmbar und nistet sich analog zur Bewegung der Rezipient*innen im Raum auf akustischer Ebene in deren (Gehör-)Gang ein, ohne dass es tatsächlich auszumachen, zu identifizieren sei. Im installativen Teil bewegen sich auch die Musiker*innen fortwährend durch die Räume. Sie spielen solistisch oder im Ensemble kleine Konzertfetzen an, die im zeitlich größer zusammenhängenden Konzert hörbar werden oder waren. Sie interagieren mit den räumlichen Konstrukten oder direkt mit den Rezipient*innen („Emotion Room“). Auch hier ist Schumann über die gesamte Aufführungsdauer präsent. Im Klavier wurde ein Lautsprecher versteckt, über den die OriginalRomanze die ganze Zeit in verschiedenen Dynamiken in den GipsskulpturenRaum übertragen wird. Diese und andere versteckte akustische Hörpunkte regen das Publikum zu Bewegungen durch den Raum an. Mnemo ist nicht nur ein Spiel mit Erinnerungen, Vergegenwärtigungen und Ahnungen – um einmal Wagner’sche Kategorien zu bemühen –, sondern auch ein Spiel mit Kindheitserinnerungen, das zu Kontemplation und haptischen Erfahrungen/ Erinnerungen (Wie fühlen sich Sand und Kiesel an?) einlädt. Momente des Innehaltens (auf einem Bällebad-Sitzsack innerhalb des Boxring-Raums) sowie spielerische Momente akustischer Signale treffen aufeinander. Exemplarisch für letzteres steht der Einsatz eines sogenannten Knackfroschs – ein Triggergeräusch: Werden Erinnerungen getriggert? Die Rezipient*innen begeben sich, wie bei Cardiff auch, auf die Suche innerhalb eines Klanglabyrinths, das sie parcoursartig erkunden. In Mnemo setzt die musikalische Ebene akustische Orientierungspunkte, die im Spannungsverhältnis von Präsenz und Absenz stehen. Wenn die Rezipient*innen glauben, die durch akustische Momente getriggerte Erinnerung fassen zu können, ist sie auch schon wieder fort.

ENZYKLOPÄDIE DES PROFESSOR GLAÇON 25 Das Prinzip der Montage/Collage als Mittel zur Vergegenwärtigung musikalischer Vergangenheiten verwendet auch der Komponist und bildende Künstler François Sarhan. Dabei müssen die zusammengefügten Materialien nicht zwangsläufig auf

25 François Sarhan, Donaueschinger Musiktage 2011, Ensemble Recherche.

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tatsächlichen Zitaten aus der Musikgeschichte basieren, wie es in der Komposition von Haensler der Fall ist. Sarhan hingegen verwendet in einer seiner Kompositionen, Bon pied bel œuil, den elektronisch verfremdeten Originalton einer TVSoap und reflektiert Standards der italienischen Oper, um so spielerisch zwei hoch artifizielle Ausdrucksformen zueinander in Beziehung zu setzen. Wie schon in Orfeo wird hier die Frage laut, welche Beziehung Aufführung und Ausstellung als Dispositiv für künstlerische Produktion und Rezeption eingehen. MiniKonzertsituationen durchziehen die Räume der Fürstlich-Fürstenbergischen Sammlungen in Donaueschingen, einem Naturkundemuseum. Sogar in Vitrinen sitzend werden die Performer*innen zu Exponaten. Die Darstellung als aufgeführte Exponate bricht mit den Rezeptionsgewohnheiten sonstiger Ausstellungsund Aufführungsformate, wodurch das Spielerische als Bruch (oder Schnitt durch die Bewegung) der Räume hervortritt. Die Ausstellung wird auf diese Weise in ihrem Konzept des Zeigens und Sichtbarmachens ernst genommen und gehorcht damit einer anderen Rahmung als eine Aufführung. Beide sind jedoch als Orte der Vergegenwärtigung zu verstehen. Das Zeigen der Minikonzertsituationen kann als ein „zu Ohren bringen“ interpretiert werden, wodurch sie als Hör- und theatraler Spiel-Punkt im performativen Parcours in Erscheinung treten. Die Collage, so führt Tanja Wetzel in ihrem Eintrag im Lexikon Ästhetische Grundbegriffe an, sei seit der Kunst der Avantgarde eine Technik, die das „Spiel als Verfahren ästhetischer Konstruktion“ beschreibt. Mittels Bildformen der Collage/Montage gelinge es, „die tradierte Vorstellung eines geschlossenen Werkes und damit einer einheitlichen Abbildung zu durchbrechen.“26 Interessanterweise kann das Œuvre Sarhans genau vor dem Hintergrund der Avantgarden gelesen werden. Seine Konzertinstallationen und Musikperformances sind durch einen spielerischen Umgang mit Wirklichkeit und Identität geprägt. Ob Stücke der Leçons, die Teil der Aufführungsformen und künstlerischen Arbeiten seines Alter Egos Henry Jacques Glaçon sind, oder parcoursartige Bespielungen ganz konkreter Orte (Museen, Bahnhöfe, alte Herrenhäuser, Schlösser): In seinen Arbeiten scheint ganz grundsätzlich ein starker Spiel-Charakter durch. Die Freiheit, also das ‚freie Spiel‘, kommt dabei besonders für die Rezipient*innen zum Tragen, die die künstlerische Arbeit individuell erfahren und somit den von Sarhan eröffneten musiktheatralen Parcours-Raum immer wieder neu kartieren.

26 T. Wetzel: „Spiel“, S. 599.

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CARTE UND PARCOURS Michel de Certeaus Abhandlung Die Kunst des Handelns (Original: L’invention du quotidien, 1. Arts de faire, Paris 1980) setzt sich mit Praktiken im Raum auseinander, die er grundsätzlich als eine im Alltag performative Praxis herausarbeitet. Von besonderem Interesse ist der dritte Teil seiner Untersuchung, die „Pratiques d’espaces“. In diesen entwickelt Certeau nun zwei Modelle der Raumwahrnehmung oder anders gesagt: raumkonstituierende Praktiken, mit denen er Stadt-Räume und ihre Generierung zu beschreiben versucht: carte und parcours.27 Certeau schreibt darin der carte als Medium der Darstellung eine Sehpraktik (dem „Erkennen einer Ordnung“) zu, dem parcours als Rund- oder Spaziergang eine Gehpraktik (als „raumbildende Handlung“)28. Certeau exemplifiziert seine Überlegungen auf der einen Seite anhand von Wegbeschreibungsformen der Stadt New York. Das World Trade Center, von welchem aus sich ein Panorama-Blick über die Stadt böte, zeigt die Stadt als carte, als „Gesamt-Schauplatz“29. Auf der anderen Seite betrachtet Certeau den Fußgänger, dem zwar das große Ganze vorenthalten bleibe, der aber die Stadt – als parcours – gehend, laufend, rennend – erkunden, mithin miterzählen und – schreiben könne.30 Er versteht das Gehen als Erkundung räumlicher Muster im (Stadt-)Raum und bezeichnet es als „Spiel der Schritte“31, das Räume gestaltet und Grundstrukturen von Orten webt. Dem Parcours, der durch das Gehen erschlossen wird, schreibt Certeau also raumgenerierendes und raumstrukturierendes Potenzial zu. Daraus resultiert, dass erst der Gehende die Stadt in einen Raum transformiert. Der Theaterwissenschaftler Ralph Fischer misst dem Gehenden in den performativen Kunstformen ohnehin eine große Bedeutung bei: Dem Gehenden werde nämlich eine Doppelfunktion zuteil. Zum einen ist er Nutzer räumlicher Möglichkeiten, zum anderen an der Hervorbringung des räumlichen Gefüges beteiligt: „Der Gehende transformiert den Ort, den er durchwandert, Schritt für

27 Im weiteren Verlauf sollen statt der deutschen Übersetzungen in „Karte“ und „Wegstrecke“ weiterhin die französischen Termini verwendet werden. 28 De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, übers. von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 221. 29 Ebd., S. 225. 30 Vgl. Nigg, Marie-Louise: Gehen. Raumpraktiken in Literatur und Kunst (Kaleidogramme, Band 151), Berlin: Kulturverlag Kadmos 2017, S. 46f. 31 M. de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 188.

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Schritt, in einem Raum“32. Hier wird auch die für Certeaus Überlegungen wichtige, prinzipielle Unterscheidung zwischen Raum und Ort deutlich: Ein Ort ist, so Certeau, „eine momentane Konstellation von festen Punkten“33, in seiner Erscheinung also stabil. Der Raum hingegen ist „ein Ort, mit dem man etwas macht“34. Er setze sich als ein Geflecht aus beweglichen Elementen zusammen. Die Aktivitäten, mit denen er angefüllt werde, verzeitlichten ihn, geben ihm eine Richtung und letztlich Bedeutung.35 Dieser komplexe, variable Raumbegriff ist eng mit der Raumpraktik des Gehens verbunden, nach welcher v. a. Handlungsanweisungen für die Beschreibung des sich konstituierenden Stadtraums eine Rolle spielen. So beispielsweise: „Nach der roten Tür links.“ Oder: „Gegenüber vom Gemüseladen finden Sie die Post“. – Gerade diese Arten von raumbildenden Handlungsanweisungen finden im Video Walk von Janet Cardiff ihre künstlerische Entsprechung. Das Gehen hat immer auch zur Folge, dass ein Ort zuweilen nicht begangen oder ein Raum nicht erschlossen wird. Somit bewegt sich diese Raumpraktik immer zwischen den Polen von Anwesenheit und Absenz, von aktiver Herausbildung und Auslassung, oder weicher formuliert: von Er-Leben und VerMessen, Treffen und (Ver-)Fehlen. Fischer weist dem Gehen in Bezug auf die Performance Art des 20. Jahrhunderts „die Grundlage performativer Ästhetik“36 zu. Es sei als „performativer Akt, als physische Handlung in Raum und Zeit“37 und als „rhythmisch-alternierende[r] Prozess [zu verstehen], der sich räumlich, zeitlich, lautlich entfaltet und unmittelbar an die Körperlichkeit eines Subjekts gebunden ist, eine Bewegung in Raum und Zeit, ein flüchtiger Prozess, der gemäß des ephemeren Charakters performativer Ästhetik, im Augenblick – Schritt für Schritt – entsteht und verschwindet.“38

Als Subjekt können die Künstler*innen sowie die Rezipient*innen in Erscheinung treten. Gehen als performativer Akt könnte als eine Konsequenz, vielleicht aber auch als intendierte Handlungspraktik der Annäherung von Ausstellung und

32 Fischer, Ralph: Walking Artists. Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten, Bielefeld: transcript 2011, S. 122. 33 M. de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 218. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd. 36 R. Fischer: Walking Artists, S. 18. 37 Ebd., S. 23. 38 Ebd., S. 19.

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Aufführung verstanden werden. Bilden musiktheatrale/konzertante Interventionen kartografische Fixpunkte, so fungieren diese als Narrativ im Wechselspiel zwischen kartografischer Raumrezeption und gehender Raumproduktion. „Die Erzählungen führen also eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt. Sie organisieren auch das Spiel der wechselnden Beziehungen, die die einen zu den anderen haben. Diese Spiele sind sehr zahlreich. Sie reichen von der Errichtung einer unbeweglichen und quasi mineralogischen Ordnung [...], bis zur beschleunigten Aufeinanderfolge von Handlungen, die die Räume vervielfältigen [...].“39

Damit beschreibt Certeau eine dynamische Bewegung des Parcours, die auch die Rezipient*innen im Wahrnehmungsmodus installativer Musiktheater/KonzertPerformances vollziehen. Deutlich wird, dass Certeau die beiden Praktiken von carte und parcours nicht gegeneinander ausspielt. Auf diese Weise ergibt sich aus dem Wechselspiel von carte und parcours eine Raumfigur, eine Form des Raumes, die aus der GehHandlung (Bewegungsrichtung) hervorgeht. Bringt man dies mit den konzertanten Interpolationen, wie in den angeführten Beispielen dargestellt, zusammen, also mit den musiktheatralen Hör-Punkten als kartografische Fixpunkte, dann findet hier ein ständig zwischen gehender Raumerkundung und dem Innehalten in der Geh-Bewegung (der Draufsicht) auf eine (konzertante, performative) Interpolation variierender Rezeptionsmodus statt.

RUN TIME ERROR 40 Am Beispiel von Run Time Error des dänischen Komponisten Simon SteenAndersen – erstmals im Jahr 2009 aufgeführt und ein im Sinne des Regelwerks strengeres Spiel – soll v. a. das Wechselspiel von Ort, Material, Parcours, LivePerformance, besonderer Medialität und hergestellter Räumlichkeit aufgezeigt werden. Run Time Error kombiniert eine Video-Installation und eine ortsspezifische Performance, genauer gesagt: eine „site-specific audio-visual performance“, die Steen-Andersen selbst performt.41 Die Performance findet in

39 M. de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 220. 40 Komposition/Performance: Simon Steen-Andersen, Ensemble Modern, Opelwerke Rüsselsheim 2015. 41 Holmboe, Rasmus: „Run Time Error“, in: http://www.edition-s.dk/da/music/simonsteen-andersen/run-time-error (letzter Zugriff: 24.11.2019).

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einem Konzertraum statt. Zu sehen ist eine Video-Projektion, die durch einen Splitscreen in zwei Hälften geteilt wurde. Dem liegt ein Stereo-Soundtrack zugrunde, der mit zwei Joysticks spielbar ist. Die Videos wurden vorproduziert, stellen also das Produkt einer bereits stattgefundenen Performance an einem anderen Ort dar. Sie zeigen wie der Künstler sich dynamisch durch eine bestimmte Örtlichkeit bewegt und dabei verschiedene klangliche Ereignisse auslöst sowie selbst ausübt. Das macht ihn zu einem Protagonisten, wie er aus einem Videospiel bekannt sein könnte. Die hin und wieder auftauchende POV-Perspektive sowie die Situation der Live-Performance, in der Steen-Andersen die Videos und die Klangschicht steuert, unterstützen diesen Eindruck. Run Time Error ist weniger als freies Spiel zu verstehen, denn es folgt klaren Spielregeln, die kurz benannt sein sollen: • Only objects and instruments found at the location can be used, • Each object or instrument can only be used once, and • Each sound/action must have an immediate point of association with its

neighbouring sounds/actions.42 Auf diese Weise manövriert der Künstler sich einen Weg durch die zu bespielenden Örtlichkeiten43, hier durch die still gelegten Opelwerke in Rüsselsheim. Die Performance fand am 29. November 2015 zusammen mit dem Ensemble Modern im Frankfurter LAB statt. Die Live-Performance zeichnet sich dadurch aus, dass der Komponist sowohl die klangliche als auch die visuelle Ebene auf zwei Kanälen steuern kann – auf der einen Seite die doppelte Video-Projektion und auf der anderen die StereoSound-Ausgabe.44 Auf beiden Kanälen befindet sich derselbe Film in Bild und Ton, die nun nach dem klassischen Schema einer zweiteiligen Invention abgespielt werden. Steen-Andersen spielt dabei mit den Mitteln der Manipulation und wendet sie je für den Klang wie den Film an: Mittels der Joysticks manipuliert

42 Vgl. ebd. 43 Bislang z. B. in Den Frie in Kopenhagen, Kunsthalle Darmstadt, Queen Elisabeth Hall in London, in der Black Diamond, der Dänisch Königlichen Bibliothek in Kopenhagen, Aa Kirke in Bornholm, Winzavod Moskau, usw. Insgesamt wurde Run Time Error an über 15 Spielorten erprobt und dargeboten. 44 In den folgenden Beschreibungen beziehe ich mich auf einen Mailverkehr (7.–29. November 2018) mit dem Komponisten sowie auf die Ausführungen von Rasmus Holmboe. Vgl. Holmboe, Rasmus: „Have you seen the Music?“, in: http://www.editions.dk/da/node/4173 (letzter Zugriff: 24.11.2019).

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er Zeit und Abspielrichtung, wodurch beide Projektionen in der jeweiligen Abspielrichtung beschleunigt oder verlangsamt, gestoppt und gestartet werden können. Die visuelle und akustische Wirkung dieses Effekts ähnelt dem, was in Sound- und Videobearbeitungssoftware als „Scrub-Tool“ bezeichnet wird. Mit diesem Tool kann das Tempo manuell mit der Maus gesteuert werden, um einen bestimmten Punkt schnell und präzise anzusteuern. Steen-Andersen bezieht sich also nicht nur auf eine Videospielästhetik, sondern nutzt als Vorlage ein musikalisches Genre-Zitat, das der klassischen Invention. Wie eine Invention ist auch Run Time Error ein polyphones Stück, das bestimmte kompositorische – genauer gesagt: improvisatorische – Prinzipien durchläuft. Plötzliches Anhalten, Verkürzungen, Verlangsamungen, Dehnungen und Umkehrungen der Abspielbewegung gehören zu den Gestaltungsprinzipien. Die visuelle Ebene ermöglicht dabei, diese Strategien sofort zu verstehen. Anders, als es beim bloßen, einmaligen Hören für den ungeübten – und den geübten – Hörer ohne Blick in das Aufführungsprotokoll auf Anhieb möglich gewesen wäre. Die künstlerisch-kompositorische Strategie Steen-Andersens lässt sich basierend auf den Überlegungen von Chiel Kattenbelt als ein „transmediales Verfahren“ bezeichnen, bei dem ein Medium in ein anderes überführt wird 45: Der Künstler bedient sich klassisch-kompositorischer Prinzipien und setzt sie spielerisch in einen neuen Kontext, appliziert sie sogar auf ein anderes Medium. Der ‚kompositorische‘ Einfall kann ein Golfball sein, der, einem Dominospiel ähnlich, eine Klang-Ereignis-Kette in den Örtlichkeiten auslöst – oder wie im Falle der Rüsselsheimer Version das Geräusch eines abrollenden Klebebands und eines Schlagzeugbesens. Hinter dieser Strategie steckt die Auffassung Steen-Andersens, dass musikalisches Material bzw. Klang nicht ohne die Aktion denkbar ist, durch welche er erzeugt wird. Die dem Klang inhärenten Eigenschaften werden für ihn zum kompositorischen Material bzw. zum Ausgangspunkt konzeptueller Auseinandersetzung.46 Dieser Konkretisierung, wie Holmboe es fasst, folgt der Aspekt der Visualisierung direkt nach. Musik sichtbar machen, die visuelle Hervorbringung von Klängen zum Bestandteil der klanglichen Aspekte selbst zu erklären, scheint genuines Interesse des Künstlers zu sein.

45 Vgl. Kattenbelt, Chiel: „Multi-, Trans- und Intermedialität: Drei unterschiedliche Perspektiven auf die Beziehungen zwischen den Medien“, in: Henri Schoenmakers et al. (Hg.), Theater und Medien. Grundlagen – Analyse – Perspektive. Eine Bestandsaufnahme (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript 2008, S. 125-132, hier S. 126. 46 Vgl. R. Holmboe: „Have you seen the Music?“.

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Sein künstlerisch-kompositorisches Vorgehen ist von einer großen Transparenz geprägt, die unter Verwendung elektronischer Medien die Integration von Klang und Bild offenlegt, sie gleichermaßen für die Rezipient*innen erfahrbar macht. Steen-Andersen wird während der Live-Performance zum Spieler eines ‚Video-Spiels‘, dessen Protagonist er selbst ist. „Every little step or every little idea builds up as a part of the composition“, sagt der Künstler, „I am already thinking of the performance and the whole logistics of it while composing.“47 Durch den rasanten Lauf – im Sinne von rennen – durch die jeweiligen Orte bringt Steen-Andersen eine Räumlichkeit hervor, die eine starke Energie besitzt. Die Dynamik der Bewegung fängt er unterdessen auf Videoaufnahmen auf, sodass er sie während der Live-Performance an einen anderen Ort translozieren und dem Publikum erfahrbar machen kann. Diese Aufnahmen können also als Blaupause der Örtlichkeit verstanden werden, die der Künstler erzeugt. Allerdings, und das macht ihre besondere Medialität aus, existieren sie gewissermaßen nur noch in einem medialen Raum. Ein Raum, der während der Performance weitere Transformationen durchläuft, sodass letztlich ein hoch komplexes, hoch virtuoses Kunstwerk entsteht. Steen-Andersen erforscht durch den Ab-Lauf des Orts ebenjenen und bringt ihn gleichermaßen im Moment hervor, worin sich das hohe performative Potenzial dieser künstlerischen Arbeit zeigt. Dabei spannt sich in Verbindung mit der Kamera, die autark mitläuft, ein neuer medialer Raum auf, der zwar im Moment seiner Aufnahme nicht vom Komponisten wahrgenommen werden kann, aber im zweiten Teil der künstlerischen Arbeit den Rezipient*innen erfahrbar gemacht wird. Die Kamera wird von einer Person geführt, die allerdings im Verborgenen bleibt. An wenigen Stellen wird die Verbindung zum ‚unsichtbaren Walking Artist‘ (vgl. Fischer in Bezug auf Cardiff), wenn man so will, aufgelöst und die Kamera durch Seilverbindungen mechanisch geführt, bevor sie am nächsten Fixpunkt des Klang-Parcours wieder aufgenommen wird. In der Performance von Run Time Error ist Steen-Andersen selbst Ausführender. Sein Spiel folgt einer klaren Dramaturgie und Choreographie48, durch die zusätzliche Mediatisierung fällt jedoch die mitgestaltende Komponente der Rezipient*innen weg. Die hoch komplexen Handlungsweisen werden von SteenAndersen selbst (mit-)entwickelt und aufgeführt. Ohne Ko-Autor*innen des Wegs kommt er allerdings nicht aus. Es wird suggeriert, dass die Kamera eine

47 Simon Steen-Andersen in einer Panel Discussion mit Sanne Krogh Groth: „Composer as Performer“, in: Seismograf (2017), http://seismograf.org/en/artikel/performercomposer-panel (letzter Zugriff: 12.11.2018). 48 Vgl. T. Wetzel: „Spiel“, S. 609.

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Subjektivierung erfährt und losgelöst von menschlicher Begleitung dem vielschichtigen Klang-Parcours des Künstlers folgt. Durch die Mediatisierung kommt das Spiel in der Differenz, nämlich ihrem Zwischenraum als Spielraum, zum Tragen. Das virtuell Imaginierte steht einem real Rezipierten gegenüber. Die Filmtechnik der Montage setzt Raum- und Zeitkonstellationen außer Kraft. „Vor- und Rücklauf, Zoom und Weitwinkel [werden] eingesetzt, um dem Film, den der Betrachter im Kopf konstruiert, vielfältige Verweisungsmöglichkeiten einzuschreiben. Realitätsebenen werden verschachtelt, wobei die Sichtweise des Publikums als Teil der Inszenierung geplant wird“49, so Wetzel. Sie führt aus, dass diese virtuell erschaffene Wirklichkeit, die sich innerhalb eines begrenzten Rahmens eine nach eigenen Regeln frei entworfene Welt schafft, sich an diesem Punkt von der realen Wirklichkeit emanzipiert. Ein Moment, der im Spiel per se angelegt ist. 50

SCHLUSS Begreift man also nun die dynamische Fortbewegung von Rezipient*innen und Ausführenden im Raum, das Gehen, Laufen und Rennen, als eine Aktion, eine Handlung, die Räume und Orte hervorbringt, so kann man im Anschluss an Certeau die hinterlassene – vielleicht auch schon vergangene – Bewegung als eine Raum-Narration verstehen. Hierfür fungieren die performativen, akustischen wie musikalischen Einwürfe als Zentren der Erinnerung, anhand derer Verbindungen zu Vergangenheit hergestellt werden oder anders gesagt: Vergangenes (Erinnertes) vergegenwärtigt wird. Diese Vergegenwärtigungen können spielerisch mit den Mitteln der Montage/ Collage erzeugt werden – oder durch Mediatisierungen erfolgen. Darin kristallisiert sich die vermittelnde Funktion des Spiels, wie sie Adamowsky diesem zuschreibt: „Spiele organisieren Räume, in denen ludische Choreographien neue Verbindungen herstellen können, und bilden, kulturhistorisch betrachtet, ein Archiv intermediärer Kinästhesien, die neue Wahrnehmungen und Blickoptionen anbieten.“51 Auf diese Weise entstehen kartografische Fixpunkte musiktheatraler/ performativer oder klanglicher Interpolationen, die in ständiger Wechselwirkung mit raumbildenden Qualitäten eines Parcours stehen.

49 Ebd., S. 615. 50 Vgl. ebd. 51 N. Adamowsky: „Von der Kunst des Findens und dem Spiel des Zeigens“, S. 65.

Zeit und Aufmerksamkeit Spielkonzepte und ihr Verhältnis zu Performance, Rezeption und Partizipation – ein Werkstattbericht Kirsten Reese

Wenn Kompositionen mit Spielkonzepten arbeiten, stellt sich die Frage, was die Konzertbühne vom Spielfeld unterscheidet. Diese Frage soll hier anhand ausgewählter eigener Arbeiten insbesondere in Bezug auf die Rezeption der Arbeiten, also die Rolle und Beteiligung des Publikums oder der „Mitspieler“1, sowie im Hinblick auf den Aspekt der Zeit, d. h. den zeitlichen Verlauf einer Arbeit, und die damit verbundene Aufmerksamkeit der Rezipienten diskutiert werden. 2016 komponierte ich in enger Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Stefan Panhans die Musik zu seinem Video Freeroam À Rebours, Mod#I.1.2 Das Video geht aus von fehlerhaften Aktionen von Avataren in Videospielen, konkret in dem Spiel Freeroam, wie sie in Let’s Play-Formaten (Videos auf Youtube, bei denen Gamer spielen und ihre Aktionen und den Spielverlauf kommentieren) im Internet dokumentiert sind. Die Let’s Player zeichnen dabei auf, wie sie Avatare absichtlich fehlerhafte Handlungen durchführen und wiederholen lassen: etwa gegen eine Wand rennen oder zigmal hintereinander eine Autotür auf- und zumachen usw. Diese Handlungen wurden von einer Choreografin in Bewegungen für Tänzer übersetzt, die wiederum für das Video inszeniert und gefilmt wurden. Ein komplexer Zusammenhang also: Video-Gamer spielen mit

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Im Folgenden werden die männliche und die weibliche Form absichtlich alternierend verwendet.

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Informationen zu allen in diesem Beitrag erwähnten künstlerischen Arbeiten hinsichtlich Besetzung, Künstlerinnen und Aufführungsdaten sowie weiterführende Links zu Videodokumentationen sind zu finden unter http://www.kirstenreese.de

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einem Spiel, pervertieren die Regeln und treiben sie auf die Spitze. Diese Freiheit, selbst mit den Regeln des Spiels spielerisch umzugehen, inspirierte wiederum den Künstler zu seinem Video. Eine spieltheoretische Grundaussage, dass das Spiel immer zwischen Regel und Freiheit changiert, wird hier exemplifiziert. Die Komposition Kugelspiele. 11 Klangspiele für Akkordeon, Live-Elektronik, Videoprojektion und Geduldsspiele von 2009 ist im Hinblick auf Spielkonzepte in meinen Arbeiten zentral, weil sie ein komplexes Setting beinhaltet, was sowohl den technischen Aufbau und die Aufführungssituation als auch die verschiedenen Spiel- und Interaktionsaspekte angeht. Kugelspiele ist eine Instrumentalkomposition und eine Medienkunstarbeit, d. h. eine Arbeit, die unterschiedliche Medien (Live-Elektronik, Sensorik) verwendet und ihre Verwendung thematisiert. Gerade wenn Medien (Software, Hardware, Lautsprecher, elektronische Instrumente, Apps) im Spiel sind, tritt die Frage nach der Interaktivität hervor, also nach dem Aktivitätsniveau der Medien von Publikum, Zuschauer bzw. Zuhörerin und Spieler im Verhältnis zu den Entscheidungen der Komponisten oder Entwicklerinnen.3 Parallel zu der Frage, wie Konzertbühne und Spielfeld zueinander im Verhältnis stehen, geht es darum, ob eine Arbeit als Spiel, Instrument oder Komposition bzw. Werk zu verstehen ist. Grob skizziert könnte man definieren: ein Spiel hat stets bestimmte, begrenzte Möglichkeiten; ein Instrument kann als Werkzeug verwendet werden, wobei das Ziel offen ist, man kann damit spielen oder dafür komponieren; eine Komposition setzt klare Regeln und einen eindeutigen Rahmen. Entsprechend wechseln Rolle und Bedeutung von Publikum, den Ausführenden und der eigentlichen Komposition bzw. dem „Werk“ in der Analyse einer Arbeit. Ausgangspunkt für Kugelspiele war tatsächlich ein Spiel bzw. mehrere Spiele: elf verschiedene kleinformatige Gedulds- oder Geschicklichkeitsspiele aus den 1970er und 1980er Jahren, die ich bereits 2005 auf einem Flohmarkt in Paris entdeckte. Bei den Spielen müssen winzige Kugeln durch labyrinthartige Muster manövriert werden. Der Begriff „Geduldsspiel“ verweist darauf, dass dies etwas mit Zeit zu tun hat. Die Kugelspiele stehen für meine Faszination für ältere, nostalgische Objekte, die durch die künstlerische Beschäftigung mit ihnen und

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Marion Saxer hat in zwei Texten zu Kugelspiele medientheoretische Zusammenhänge aufgezeigt: Saxer, Marion: „Nur nicht die Geduld verlieren. Unwägbarkeiten in Kirsten Reeses Kugelspielen“, in: Neue Zeitschrift für Musik 170/6 (2009), S. 58-62; Saxer, Marion: „Distributed Agency. Verteiltes Handeln in künstlerischen Medienkonstellationen“, in: Kunsttexte, 4/2011, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/ 7519/saxer.pdf, hier werden Aktivitätsniveaus technischer Systeme – passiv, aktiv, reaktiv, interaktiv, transaktiv – anhand der Kugelspiele dargestellt.

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durch die Verbindung mit zeitgemäßen technologischen Apparaten quasi in die Jetztzeit geholt werden.

Abbildung 1: Deckblatt Partitur Kugelspiele mit grafischen Darstellungen der elf Spiele, die jeweils auf der Rückseite der Kunststoffgehäuse der Geduldsspiele angebracht sind

In dem Setting der Komposition dienen diese Kugelspiele dazu, einerseits über abgelesene Licht- und Videodaten Akkordeon-Samples zu manipulieren und andererseits den Spielverlauf und die Bewegung der Kugeln als „Partitur“ für das Akkordeon zu nutzen. In der Aufführung spielt eine Spielerin4 die Spiele und die von Sensoren erfasste Bewegung der Kugeln beeinflusst und steuert die liveelektronische Stimme der Komposition. Kugelspiele ist in diesem Sinn auch eine 4

Bei den bisherigen Aufführungen war stets die Komponistin die Spielerin der LiveElektronik.

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Performance, die das Spielen eines Spiels vorführt, denn die Klänge des Spiels selbst werden im ersten, einleitenden Stück über ein auf der Rückseite des Spielgehäuses angebrachtes Miniaturmikrofon verstärkt. Die Kugeln müssen durch labyrinthartige Strukturen oder in Einbuchtungen gelenkt werden, dabei hat jedes Spiel andere Anforderungen und ist anders aufgebaut. Die Live-Elektronik ist diesen Unterschieden entsprechend konzipiert: Bei den fünf Spielen, bei denen Kugeln in Einbuchtungen bzw. Löchern landen müssen, sind auf der Rückseite unter den Löchern Licht-Sensoren angebracht. Diese müssen im Spielverlauf durch Kugeln abgedeckt werden, was dann die über ein Arduino an die Software weitergereichten Daten eher sprunghaft verändert. Fünf weitere Spiele werden über eine Kamera gefilmt. Hierbei werden die Veränderungen der Helligkeit und des Kontrasts der Pixel durch die Software ausgewertet, die Veränderung der Daten verläuft dabei eher kontinuierlich. Die elektronische Stimme basiert ausschließlich auf Akkordeon-Samples. Ein Max-Patch mappt die über die Sensoren bzw. den Arduino und die Kamera eingespeisten Daten so, dass sie in einem Sampler in Ableton elektronische Bearbeitungen steuern, welche die Ausschnitte, die Dauer der ausgelösten Samples, ihre Überlagerungen und ihre Dichte bedingen. Einige der Spiele nutzen vornehmlich geräuschhafte Klänge (z. B. Terminal), andere eher Töne und dadurch harmonische Strukturen, die durch die live-elektronische Beeinflussung verändert werden. Der Spielverlauf wird als Video projiziert und die Instrumentalistin 5 liest die Bewegungen der Kugeln wie einen Notentext als zu interpretierende Anweisungen für Spielaktionen am Instrument. Das Video dient also der Instrumentalistin als erweiterte grafische Partitur. In der schriftlich fixierten, notierten Partitur sind die Anweisungen anhand der grafisch dargestellten Struktur des jeweiligen Kugelspiels erläutert in Form von „wenn-dann“-Anweisungen in Bezug auf den Spielverlauf, beispielsweise folgendermaßen: wenn eine Kugel in einem bestimmten Loch landet, dann ändere die Tonhöhe und beginne, einen bestimmten Ton zu spielen. Bei jedem Spiel sind die Anweisungen anders. Quadro beginnt etwa damit, von f² und höheren Tönen abwärts chromatische Läufe zu spielen. Wenn das erste Quadrat gefüllt ist, d. h. vier Kugeln in Löchern gelandet sind, dann wird zu einer zweistimmigen Chromatik im Abstand von einer großen Sekunde gewechselt. Wenn beide Quadrate gefüllt sind, dann sind nichtchromatische Figuren in der dreigestrichenen Oktave gefordert. Wenn die Kugeln in den Einbuchtungen an den vier Ecken des Spiels landen, dann ist jeder Ecke ein Ton zugewiesen (h², fis², cis³, f²), der dann ausgehalten wird. Ist das Spiel

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Kugelspiele war eine Auftragskomposition von Eva Zöllner, die auch die bisherigen Aufführungen spielte.

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„vollbracht“, wird der Akkord gehalten und es folgt ein allmähliches Decrescendo bzw. Ausblenden im elektronischen Part.

Abbildung 2: Partiturausschnitt Quadro mit Software-Einstellungen, Noten bzw. Spielanweisungen für Akkordeon

Die Besonderheit an diesen Spielen im Verhältnis zur musikalischen Aufführung ist, dass man nicht genau weiß, wie lange die Spiele dauern. Ein Kugelspiel ist kein Glücksspiel, sondern ein Geschicklichkeitsspiel: so wie Instrumentalisten ihren Instrumentalpart üben, kann auch die Spielerin die Geduldsspiele üben, deren Ablauf perfektionieren und so den Verlauf und damit die Dramaturgie und Form des Stücks beeinflussen. Dennoch kann es passieren, dass im letzten Moment eines vorgesehenen Ablaufs eine Kugel wieder aus einem Loch herausspringt. Bei einigen der Spielen ist der zu vollbringende Weg der Kugel linear (Terminal, Labyrinth, Surf), aber auch bei den freien, kreisenden Spielen ist oft eine bestimmte Reihenfolge des Einlochens notwendig, um sie erfolgreich beenden zu können – daher muss man in diesem Fall wieder von vorne anfangen, wenn ein Fehler passiert. Hinzu kommt, dass von den elf Spielen manche einfacher und dadurch besser im Ablauf vorhersehbar sind, andere schwerer und dadurch unvorhersehbarer. Manche dauern in der Aufführung länger als erwartet, andere sind unerwartet schnell fertig. Diese Unbestimmtheit in Bezug auf die musikalische Form und den dramaturgischen Verlauf ist ungewöhnlich, denn dass eine Aufführung eine bestimmte Dauer hat, die abschätzbar ist, ist eine starke Konvention. So ist etwa eine der häufigsten spontanen Kritiken bei Uraufführungen neuer Kompositionen: „Das Stück war zu lang“. In der freien Improvisation, die für einen spielerischen Umgang mit musikalischem Material steht, ist der zeitliche „Flow“ und die Dauer eines improvisierten Sets meistens nachvollziehbar. Über das musikalische Gestaltungsempfinden und den Gestaltungswillen der Spielerinnen entstehen zeitliche Dramaturgien – wann Material vorgestellt, wann mit anderem Material kontrastiert und wann imitiert

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wird usw. Der Umgang mit Zeit in kleineren Strukturen und in Bezug auf die größere Form hat Regeln, die von musikalischer Intuition ausgehen und vom Publikum intuitiv mitverfolgt werden. Bei den Kugelspielen führt ein kleiner Fehler, eine kleine Ungeschicklichkeit dazu, dass man wieder ganz von vorne anfangen muss. Dies wurde im letzten Stück Orbit, dem schwersten Spiel in der Reihe der elf Geduldsspiele, zum Thema gemacht. Das Spiel scheitert: Zunächst versucht die Spielerin, die Kugeln einzulochen, ihre Bewegungen werden jedoch immer hektischer, der zugehörige Klang immer verzerrter, piepsiger und hochfrequenter, bis nur noch ein aufgeregtes Chaos wahrnehmbar ist. Die Spielerin hört auf zu spielen (sie legt das Spiel ab) und man hört nur noch die Software nachtönen mit hohen, kurzen Klicks aus digitalen Artefakten. Im Gegensatz zu einer Klanginstallation oder einer installativen Aufführung längerer Dauer, bei der die Zuhörer selbst entscheiden, wie lange sie in einem Raum und in einer Klangsituation verweilen, ist das Publikum bei Kugelspiele in der zeitlichen Situation „gefangen“. Sie können den Verlauf der Spiele über die Videoprojektion verfolgen und so auch miterleben, warum es etwa zu einem Neubeginn bei einem Spiel kommt, müssen aber auch die Unvorhersehbarkeit passiv aushalten.6 Im Gegensatz etwa zu Fluxus-Stücken, die auch mit Handlungsanweisungen für Performer arbeiten und oft die zeitliche Dramaturgie aushebeln, wird aber bei den Kugelspielen nicht mit übergeordneten Konzepten grundsätzlich der Kontext der musikalischen (Konzert-)Aufführung in Frage gestellt. Im Fluxus wird das Konzert zum Happening, die Aufmerksamkeit konzentriert sich nicht mehr nur auf das musikalische Geschehen. Dies ist bei Kugelspiele nicht der Fall. Beim Gaming wiederum, wo je nach Komplexität des Spiels vielfältige Abzweigungen im Spielverlauf möglich sind bzw. immer der Anreiz des nächsten Levels winkt, kann der zeitliche Verlauf sehr differieren. Grundsätzlich bestimmt aber die Spielerin die Zeit, da sie spielt, solange sie Lust hat. Im Let’s Play-Format ist das Publikum, also die Youtube-Betrachter, passiv, sie verfolgen – genau wie bei Kugelspiele – lediglich das Spiel. In Bezug auf die Aufmerksamkeit der Betrachter handelt es sich aber um ein lockeres Format, die

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Ursprünglich war vorgesehen, vor und nach der eigentlichen Aufführung dem Publikum die Möglichkeit zu geben, individuell mit den Geduldsspielen zu spielen und die Interaktionsmöglichkeiten mit den Klängen zu erkunden. Der Aufbau und die unterschiedlichen technischen Einstellungen bei den verschiedenen Spielen waren jedoch so komplex, dass sich dies in der gegebenen Situation ohne Anpassungen nicht realisieren ließ.

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Gamer plaudern wie bei einer Talkshow und die Zuschauer können sich in das Geschehen einklinken, wie es ihnen passt. Postkartengeflüster und Lullabies sind zwei interaktive Arbeiten, bei denen die Hörer/Betrachter mit einem Computer „spielen“ und die zeitliche Verweildauer offen ist. Postkartengeflüster für Computer (MAX/MSP/Jitter), Webcam, Kopfhörer und Postkarten, 2006 entstanden und seither weiterentwickelt, ist eine Arbeit, bei der die interaktiven Möglichkeiten für das Publikum eine Form der vertieften Erkundung der Arbeit darstellen. Zu Postkarten, die ich in verschiedenen Städten und Orten weltweit sammelte, sind Audio-Aufnahmen des auf der Postkarte abgebildeten Ortes zu hören. Die Benutzerin sitzt vor einem Computerbildschirm, bewegt eine Webcam über ein vergrößert dargestelltes Postkartenfoto und beeinflusst damit die über Kopfhörer gehörten Klänge. Mit der Kamera wird das Bild auf der Postkarte quasi abgefahren, was die Klänge nach der Farbintensität auf einer Linie in der Mitte des Bildes filtert. Die Benutzer können so auditiv und visuell in einen Ort „hineinzoomen“. Der Klang ändert sich über die Bewegung kontinuierlich, das unbearbeitete Field Recording des Ortes bleibt aber erkennbar und lässt sich jederzeit wiederherstellen, d. h. ohne Filterung hören. Die ersten Postkarten bzw. Audioaufnahmen zu Postkartengeflüster wurden 2006 für eine Ausstellung in der Cité des Arts in Paris komponiert. Die verwendeten Postkarten und Field Recordings stammen aus der Umgebung des Installationsortes im III. Arrondissement in Paris. Die Postkarten zeigen bekannte, touristisch viel besuchte Orte. Die Tonaufnahmen konzentrieren sich auf spezifische klangliche Aspekte, die bei der Filterung charakteristische Hörerfahrungen ergeben. Eine parallele Arbeit ist die Computerinstallation Lullabies, deren interaktives Setup demjenigen von Postkartengeflüster gleich ist, jedoch werden die Klänge in Echtzeit über ein Max-Patch synthetisiert. Über die Kamera werden Daten aus einer von neun Zeichnungen (von Schlafenden, Zeichnungen: Margit Kern) extrapoliert und diese sind auf dem Bildschirm neben der gefilmten Zeichnung als große Pixel dargestellt. Für die Benutzerinnen entsteht wieder der Effekt des „Hineinzoomens“ in das Bild. Ebenso ergibt sich ein Hineinhören: indem jede Bewegung der Kamera einzelne Parameter der Klänge beeinflusst, verändern sich die Klänge, aber nur minimal. Die Klänge sind eher statisch-changierend, und assoziieren durch ihre Mikrostruktur und ihren synthetischen Charakter Nervenprozesse im Gehirn. Eine besondere Form der Interaktion entstand in der Aufführung von quiver, einer installativen Performance für sechs Performerinnen und elektronische Musik. Gemeinsam mit der Performancekünstlerin Victorine Müller wurde quiver für einen ehemaligen Kapellenraum im Künstlerhaus Bethanien in Berlin konzipiert: Sechs Performerinnen, bekleidet mit einem hautfarbenen Kostüm,

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liegen in einem statisch-lebendigen Schwebezustand auf dem Boden, beleuchtet durch ein Spotlight. Unter ihren Kleidern befinden sich Miniaturlautsprecher, aus denen jeweils zwei Sinustöne erklingen. Die leisen, feinen Zweiklänge verändern sich organisch und umhüllen die Körper dadurch wie eine durchlässige vibrierende Membran. Die Töne aller sechs Performerinnen zusammen ergeben wechselnde, den Raum leise füllende Akkorde. quiver ist hinsichtlich der musikalischen Form eine 8-kanalige, algorithmische Komposition mit über ein Max/MSP-Patch in Echtzeit synthetisierten Sinustönen. Die Komposition ist in sechs durch unterschiedliche Tonhöhen und Akkorde bestimmte Abschnitte unterteilt, deren Überblendungen durch kaum wahrnehmbare, sehr hohe flirrende Töne angezeigt werden. Für die Dramaturgie der 30 Minuten dauernden Komposition spielt das Publikum eine besondere Rolle: Die Besucher können sich im Raum bewegen und verschiedene Positionen einnehmen. Im Laufe der Aufführung beugen sie sich über die Körper der Performerinnen, um die leisen Klänge aus der Nähe wahrnehmen zu können. Ist das Ohr ganz nahe an einem Miniatur-Lautsprecher, sind die Töne sprunghaft deutlicher getrennt wahrnehmbar. Dadurch hatten viele der Hörer das Empfinden, sie würden die Töne aktivieren oder verändern, und es gebe eine technische Interaktivität. 7 Die Besucherinnen haben aktiv die Komposition durch ihre eigene Bewegung im Raum mitgestaltet, auch in Bezug auf die gesamte Aufführung und im Verhältnis zur Perspektive der anderen Rezipienten. Jede Besucherin erlebt die anderen, wie sie sich durch den Raum und gegenüber den Performern bewegen. Die Bewegung ist aber nicht völlig spontan und regellos, sondern hängt mit der klanglichen Komposition zusammen. Durch die ruhige Atmosphäre begannen die Besucher bei der Uraufführung nach etwa zehn Minuten, d. h. nach einem Drittel der 30minütigen Komposition, den Raum zu erkunden und dadurch mitzugestalten. Die Bewegung des Publikums ist wie eine Choreografie, ein Formverlauf, mitkomponiert. Eine umfangreiche Arbeit, bei der das Publikum zum Mitwirken/Mitspielen eingeladen war, war Phantom Synchron, entstanden in Kollaboration mit dem Komponisten Daniel Ott, dem Spieleentwickler Sebastian Quack und dem Regisseur Enrico Stolzenburg. Phantom Synchron war eine musikalische Ortserkundung für 40 mobile Lautsprecherboxen, zwölf Instrumente und

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Dies ist eine Erfahrung, die ich auch mit anderen Arbeiten vor allem im öffentlichen Raum gemacht habe: Obwohl es eigentlich keine technische Interaktion gibt, hat das Publikum durch die Veränderung des Hörens und der Wahrnehmung über die eigene Bewegung das Gefühl, selbst einzugreifen in das Klangbild und für die Klang- und Wahrnehmungsveränderungen verantwortlich zu sein – also: mitzuspielen.

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zahlreiche Mitwirkende im öffentlichen Raum in Weimar. Innerhalb von 24 Stunden fanden sechs Veranstaltungen an verschiedenen Aufführungsorten statt: in einem Sportstadion, einer Tiefgarage, einem ehemaligen Gefängnis, im Ilmpark und auf dem zentralen Theaterplatz in Weimar. Zwölf Instrumentalistinnen und zahlreiche lokale Gruppen in unterschiedlichen Funktionen trugen zu den Aufführungen bei, und wieder war das Publikum Mitspieler. 40 mobile Lautsprecherboxen, die fixed media abspielten, wurden an die Zuschauer verteilt. Die Exkursionen zu den Schauplätzen, den Aufführungsorten, starteten zentral am Theaterplatz in Weimar, wo Sound-Boxen ausgegeben wurden. Auf dem Weg zu den Spielorten erklangen aus den Boxen einfache Spielanweisungen (Richten der Lautsprecher, Bewegungen mit den Lautsprechern), die auch dazu dienten, die Mitspieler mit der Handhabung und den Möglichkeiten der Sound-Box vertraut zu machen. An den jeweiligen Spielorten angekommen, spielte jede Sound-Box eine durchkomponierte Tonspur, aufgeteilt in fünf bis 40 unterschiedliche Spuren, mit denen Klänge und Atmosphären im Raum positioniert werden konnten. Auf jeder Box befand sich oben unter Plexiglas ein Positions- bzw. Spielplan, der über Zeit- und Ortsangaben (Figuren auf dem Plan) organisierte, wie die Zuschauerinnen in die entstehende Szenerie eintreten konnten. Eine große Funkuhr zeigte den Beginn der Vertonung an. Zeiten und Orte auf den Plänen unterschieden sich, sodass sich unterschiedliche Verweilorte für das mitwirkende Publikum ergaben und „Choreographien“ sich aufbauten. Die komponierten Klänge knüpften an die Realität und Geschichte der Orte an, die sie akustisch transformierten. Im Hinblick auf das „Mitspielen“ ist interessant, dass das Publikum in Bezug auf die abgespielten Klänge keine Möglichkeit hatte, die Komposition zu beeinflussen. Der Gesamtklang, die Struktur der Komposition und ihre Bedeutungszusammenhänge wurden jedoch beeinflusst, denn die Position im Raum der Mitspieler – und damit der Sound-Boxen – stellte die Dichte und Präsenz der Klänge her. Wenn der Sound nicht am richtigen Ort abgespielt wurde, stellte sich keine Korrespondenz zu den Aktionen der beteiligten lokalen Gruppen (Komparsen) her. Zum Beispiel sollten sich auf dem Stadionfeld die Zuhörerinnen mit den Boxen bestimmten Gruppen von Fußballspielern zuordnen, die in einer bestimmten Reihenfolge mit Bällen trainierten, worauf die Boxen ebenfalls zeitlich strukturiert antworteten. Im ehemaligen Gefängnis hatte jeder Zuschauer einen anderen Zeitplan – worin die Positionen über Aufkleber markiert und die Zeiten draufgestempelt wurden –, sodass man gestaffelt an den Positionen, hier den Gefängniszellen, erschien. Das Publikum wurde inszeniert, es musste wie die Instrumentalistinnen Anweisungen ausführen und durch dieses Zusammenspiel entstand erst die ganze Komposition, deren Teile jeweils auch auf die unterschiedlichen Spielorte abgestimmt waren. Die ausführenden Musiker spielten

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beispielsweise im Stadion eine Nationalhymnen-Collage, in der ehemaligen JVA spielten sie, einzeln verteilt auf unterschiedliche Zellen, jede Minute einen Akkord, im Ilmpark erklang ihre solistische Musik aus dem Wald und intensivierte die Erfahrung der Atmosphäre bei Morgengrauen. Auch die Komparsen hatten Aufgaben mit einem starken ortspezifischen Bezug, dabei wurden auch andere Spielformen, insbesondere sportliche Aktionen, eingebunden: im Stadion agierten Sportvereine, Fechter zeigten im Schlosshof Kampfchoreografien. Einerseits wurde die Verbindung zur Bedeutung des Ortes betont und verstärkt, andererseits gab es auch Brechungen, wenn beispielsweise am frühen Morgen im Ilmpark Funkautos von einem Funkautoverein plötzlich in der Ferne auf einem Kiesweg auftauchten und diesen entlangfuhren. Das Publikum sowie die Mitspieler sollten sich am Ende dieser Aufführung in einer Reihe aufstellen und aus den Boxen erklangen Sounds, als ob eine Rakete starten würde. Zum Abschluss waren am letzten Spielort auf dem Theaterplatz die Tonspuren der Musik aus dem Computerspiel Super Mario zu hören, das Publikum fing spontan an zu tanzen. „Die Natur als Mitspieler“ – unter diesem Topos lässt sich die 2000 entstandene Klanginstallation bzw. Klangperformance Der tönende See betrachten. 32 schwimmende Klangschüsseln wurden auf einem See ausgesetzt und schwammen über den See an das Ufer und kleine Buchten, wo sich das Publikum individuell positionierte. Die Natur spielte mit im Sinne der Neubewertung der Rolle von Zuhörern bzw. Zuschauerinnen und natürlicher und physikalischer Phänomene in der Entwicklung der Klangkunst.8 Dass in Kugelspiele die Komponistin selbst die Spielerin der Geduldsspiele ist und auch mit auf der Bühne sitzt, verleitet zu der Frage, inwieweit das Komponieren selbst ein „Herumspielen“ ist. Der Kompositionsprozess als „spielerischer“ Prozess: Komponieren bedeutet eine Auseinandersetzung mit Regeln oder Kompositionsschemata (Tonsatzregeln, seriellen Reihen, Formeln). Und auch in neuen performativ-musikalischen und medial geprägten Formaten geht es darum, Regeln zu erfinden und sich selbst Regeln zu setzen – und am Ende eine Auswahl zu treffen und den offenen Prozess abzuschließen, der sich in der Interpretation und in der Aufführung dann wieder für andere Mitspieler öffnet.

8

Helga de la Motte hat „Die Natur als Mitspieler“ theoretisch aufgearbeitet in de la Motte-Haber, Helga: Musik und Natur. Naturanschauung und musikalische Poetik, Laaber: Laaber 2000.

Spielend hören, hörend spielen Das Playsonic-Projekt von Alter Oper Frankfurt, Ensemble Modern, HfMDK Frankfurt und Invisible Playground Karin Dietrich, Sebastian Quack, Orm Finnendahl 1

DIE IDEE DES PLAYSONIC-FESTIVALS Karin Dietrich Auf Initiative der Deutsche Bank Stiftung fand vom 25. bis 27. Mai 2018 in der Alten Oper Frankfurt das Playsonic-Festival statt, ein Kooperationsprojekt zwischen der Alten Oper Frankfurt, dem Ensemble Modern, der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK), kuratiert von Josa Gerhard und Sebastian Quack vom Netzwerk Invisible Playground und den beteiligten Institutionen. Unter dem ursprünglichen Arbeitstitel „Labor für die Vermittlung zeitgenössischer Musik“ sollte im Verbund dieser Frankfurter Institutionen der Frage nachgegangen werden, wie zeitgenössische Musik in alternativen Formen und Formaten an ein breites – und dezidiert erwachsenes – Publikum vermittelt werden könne. In die zahlreichen Treffen im Vorfeld flossen gleichermaßen die Erfahrungen des Ensemble Modern als einem der führenden Ensembles für zeitgenössische Musik, die Expertise der Alten Oper als Veranstalter auch ungewöhnlicher Formate und die Möglichkeiten und Experimentierräume der HfMDK ein. Um dieses Ideenfeld noch weiter zu sondieren, wurde zunächst die Musikwissenschaftlerin, Journalistin und Dramaturgin Martina Seeber auf Feldrecherche zu nationalen und internationalen Festivals geschickt. Zurück kam sie

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Die Beiträge der drei Autor*innen basieren auf einem Gespräch im Rahmen der Ringvorlesung. Der Beitrag von Sebastian Quack wurde für die Publikation von Julian Kämper bearbeitet.

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mit einem ganzen Kompendium und der Beobachtung, dass unter dem Stichwort „Playground“ gegenwärtig vielerorts neue Konzepte und Formate sozusagen spielend erprobt werden, die spezifische Schnittstelle zur Musik allerdings noch nicht ausreichend ausgelotet sei – das gab den Anstoß für das Frankfurter Playsonic-Festival. In Zusammenarbeit mit dem kooperativen Netzwerk Invisible Playground entstand dann ein Programm, das interdisziplinäre Arbeiten von Komponist*innen, Spieleentwickler*innen und weiteren Künstler*innen präsentierte. In einem Camp, das ein paar Monate vor dem eigentlichen Festival stattfand, wurden in vielen lebhaften Tryouts und Gesprächsrunden an der HfMDK zunächst Künstler*innen und Macher*innen der beteiligten Institutionen mit externen Gästen konfrontiert, die sich gemeinsam dem Thema näherten und das Vorhaben fokussierten. Dieses Material wurde entwickelt und bildete den Grundstock des Festivals, das dann in der Alten Oper und in ihrem Umfeld stattfand. Das Programm wurde von vier Säulen getragen, denen interdisziplinäre Fokusteams zugeordnet waren, die aus dem Bereich Komposition und Spieleentwicklung besetzt wurden. Dazu kam jeweils ein „Joker“ aus einer anderen Sparte, zum Beispiel aus den Bereichen Regie, Video, Architektur oder Kostümbild. Die Teams kannten sich vorher nicht und trafen sich im Rahmen dieser Arbeit zum ersten Mal. Die entstandenen vier Arbeiten im Grenzbereich von Musik und Spiel bildeten das Zentrum des Festivals. Dabei wurden vier Aufgaben vorgegeben: Es sollte ein abendfüllendes Ensembleformat, ein intimes Kammermusikformat, eine installative Arbeit und eine Arbeit im öffentlichen Raum entstehen. Erweitert wurde das Programm durch eine Vielzahl kleinerer Experimente, Workshops und Gesprächsrunden. In den Fokusteams public, chamber, ensemble und speaker entstanden vier völlig heterogene Arbeiten, die auch in der Funktionsweise – Ort, Dauer, Wiederholbarkeit, Zahl der Teilnehmer*innen, Möglichkeiten zum Mitspielen und/oder Zuhören – ganz unterschiedlich waren: Das Team public um Komponist David Helbich, die Spiele-Designerin Holly Gramazio und die Architektin Rosario Talevi beschäftigte sich damit, was passiert, wenn Musik den Konzertsaal und Spiel den Sportplatz, das Brett, den Computer verlässt. Wie kann man einen öffentlichen Ort mit neuen Ohren hören – oder im Spiel in etwas ganz anderes verwandeln? Wie wird Stadt zum Instrument des Spiels? Sie entwickelten ein Format, bei dem sich das FestivalPublikum, Passanten und regelmäßige Nutzer*innen des urbanen Raums im Umfeld der Alten Oper auf neue Weise begegnen und mit dem Stadtraum in eine neue Beziehung eintreten.

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Das Team chamber, bestehend aus Komponist Orm Finnendahl, Spieleentwickler und Regisseur Philipp Ehmann und Kostümbildnerin Lea Søvsø, hingegen fragte sich, was passiert, wenn das Publikum in einer intimen Kammermusiksituation in Interaktion mit Musiker*innen tritt? Wie können unterschiedliche Musiker*innen und Besucher*innen auf ihre eigene Art zu Mitspieler*innen in einer gemeinsamen musikalischen Performance werden? Das Team entwickelte ein Format, in dem Ensemble und Publikum einander in einem direkten Zusammenspiel begegnen. Durch Elemente einer Kostümierung entstanden theatrale Momente. Die Besucher*innen konnten sowohl aktiv spielend als auch beobachtend teilnehmen. Das Team ensemble mit Komponist Daniel Moreira, dem Spieledesigner Simon Johnson und der Videokünstlerin Anna Henckel-Donnersmarck beschäftigte sich damit, wie ein ganzes Konzertpublikum in ein interaktives spielerisches Musikerlebnis einbezogen werden kann. Wie lassen sich längere musikalische Zusammenhänge schaffen? Wie reagiert eine große EnsembleBesetzung auf die Aktivität eines spielenden Publikums? Sie entwickelten ein Format, bei dem für einen Abend alle Besucher*innen des Festivals zusammen auf eine große Musiker*innenformation treffen: das Ensemble Modern. Gemeinsam wurde das Gebäude der Alten Oper Frankfurt bis in den letzten Winkel klanglich und spielerisch erkundet. Im Team speaker um Komponistin Joanna Bailie, die Choreografin Begüm Erciyas und den Interface-Designer Rob Ochshorn wurde das Sprechen als basale Interaktionsform von Spielen und Musik in den Mittelpunkt gerückt. In beiden Welten nehmen heute technische Medien wichtige Positionen ein und werden selbst zum „Speaker“ – bis unklar ist, wer mit wem spricht und wer wem zuhört: Mensch oder Maschine? Es entstand ein installatives Format, das Besucher*innen während des Festivals einzeln oder in kleinen Gruppen betreten konnten. Neben den spielerischen und interaktiven Komponenten war es auch ein Anliegen, mit Podiumsdiskussionen und Workshops einen ästhetischen Diskurs anzustoßen. Das Projekt sollte Modell-Charakter haben, um weitere Institutionen und Ensembles anzuregen, sich mit der Schnittstelle von Musik und Spiel auseinanderzusetzen. Denn wir sind nicht am Ende des Diskurses, sondern mittendrin. Sichtbar wird das auch an den Nachwirkungen des Festivals und der Beschäftigung mit der Thematik: Gemeinsam mit Marion Saxer und dem Musikwissenschaftlichen Institut der Goethe-Universität stellte die HfMDK die Ringvorlesung unter dem Titel „Spiel² | Die Integration von Spielkonzepten in zeitgenössische Musik, Musiktheater und Klangkunst“ zusammen, zu der dieser Texteband erscheint. Außerdem wurden einzelne Spielekonzepte wiederaufgenommen und sogar weiterentwickelt, so im Rahmen der Neuen Musik Nacht

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2019 an der HfMDK. Hier kam es unter anderem zu einer neuen Workshop-Phase mit David Helbich, der das Projekt des Team public gemeinsam mit Studierenden überarbeitete und aufführte.

ÜBER DAS KURATORISCHE KONZEPT UND DIE IDEE EINER CREATIVE LITERACY Sebastian Quack Aus dem Programm des Playsonic-Festivals möchte ich exemplarisch das Projekt Mirror Music herausgreifen, an dem sich bereits die Kernfragen ablesen lassen: Mirror Music ist eine musikalische Übung, bei der sich Instrumentalist*innen und Besucher*innen gegenübersitzen. Die Besucher*innen geben Gesten und Körperbewegungen vor, die die Instrumentalist*innen spiegelbildartig imitieren und auf ihr jeweiliges Instrument übertragen, um Klang zu erzeugen. Dabei entsteht eine kooperative Situation, ein Rollenspiel, in dem die einen die anderen steuern und jene wiederum die vorgegebenen Bewegungsmuster improvisatorisch interpretieren und in Klangproduktion überführen. Auf welcher Ebene wird hier gespielt? Wir als kooperatives Netzwerk Invisible Playground suchen ausgehend vom Spielen nach neuen Kulturformen und kreativen Prozessen. Invisible Playground entstand 2009 und besteht aus sechs Expert*innen, die in Theorie und Praxis international an der Schnittstelle von Spiel und urbaner Gesellschaft arbeiten – als Spieleentwickler*in, Urbanist*in, Kurator*in, Autor*in, Musiker*in, Künstler*in, Szenograf*in und vieles mehr. Wir entwickeln unsere Projekte in agilen, unabhängigen Kooperationen zwischen einzelnen Mitgliedern des Netzwerkes, weiteren Künstler*innen, Designer*innen, Techniker*innen, Stadtverwaltungen, Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Das Netzwerk dient der gegenseitigen Beratung und dem Austausch von „good practices“. Seit 2017 organisiert sich Invisible Playground als Netzwerk kooperativ arbeitender Expert*innen mit individuellen Schwerpunkten. Projekte werden in unabhängigen Projekt-Teams konzipiert, finanziert und realisiert. Zum Projekt Playsonic von Alter Oper, Ensemble Modern und HfMDK kamen wir allerdings als Kuratoren. Spiel in ungewohnten Räumen zu kuratieren heißt oft: Vermitteln. Vermitteln zwischen Künstler*innen, Designer*innen und Orten, zwischen potenziellen Spielräumen, ihren Besitzer*innen und Verwalter*innen, zwischen lokalen Communities und der Öffentlichkeit. Vermitteln zwischen Prozess und Ergebnis. Und vor allem anderen: vermitteln, was und wo Spiel sein kann und darf. Ein gemeinsamer Recherche- und Arbeitsprozess vor Ort (z. B. in Form eines Camps)

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ist für unsere Arbeitsweise zentral. Erfahrene Gamedesigner*innen entwickeln und testen ihre Spiele gemeinsam mit Künstler*innen anderer Richtungen und Quer-Einsteiger*innen aus ganz anderen Bereichen. So werden Projekte zu Umschlagplätzen für Wissen und Fertigkeiten und zur gegenseitigen Beratungsplattform. Am Ende steht dann das Publikumsformat, offen für alle, ein gemeinsam geschaffenes Produkt aller Beteiligten. So sind wir auch in Frankfurt vorgegangen. Vor diesem Hintergrund war es notwendig, den ursprünglichen Auftrag, mit dem Spielgedanken alternative Vermittlungsformen für zeitgenössische Musik zu entwickeln, umzudeuten: Spiel ist nicht als reines Hilfsmittel zu begreifen, um Leuten komplexe Inhalte nahezubringen – auch wenn das Spiel durchaus ein solches Potenzial besitzt. Spiel ist aber in erster Linie eine Kulturform, die eine eigene Geschichte, einen eigenen Wertekanon und eine eigene Expertise hat, sodass mit Musik und Spiel zwei traditionell gewachsene Kulturformen aufeinandertreffen, die sich gegenseitig befruchten und bestenfalls neue Kulturformen hervorbringen. Vermittlung erfolgte demnach im Sinne von Vernetzung zwischen den Kreativschaffenden, die aus je eigenen Kunstrichtungen stammten, nicht aber nach pädagogischen Maßgaben. Das Festival sollte keine monolithische Antwort in Form von fertigen Werken auf die Frage geben, welches Potenzial die Verknüpfung der Bereiche Musik und Spiel bereithält. Stattdessen wurde anhand von drei Grundsätzen die Vielfalt der Ansätze und Resultate betont: Erstens setzten sich die einzelnen Projektteams interdisziplinär aus Akteur*innen unterschiedlicher künstlerischer Richtungen zusammen, die zuvor noch nie miteinander gearbeitet hatten. Zweitens erfolgte die Projektarbeit prozessorientiert. Im Zentrum standen also nicht fertige Werke, sondern die methodischen und kreativen Wege dorthin. Dabei sollte, drittens, stets die Offenheit bewahrt werden, künstlerisch Spuren in andere Richtungen zu markieren oder Verbindungen und Ähnlichkeiten aufzuzeigen, kurz: Fährten zu legen anstatt Antworten zu geben. Im Vorfeld wurden vier interdisziplinäre Fokusteams gebildet, jeweils bestehend aus Personen aus den Bereichen Komposition und Gamedesign sowie aus einer beliebigen Kunstsparte. Jedem Fokusteam wurde eines der folgenden vier Aufgabenfelder zugeordnet: Installation, public space, Kammer- und Konzertformat. Eine wichtige Instanz bei der Arbeit der Fokusteams war der gemeinsam durchgeführte Game Jam – ein gemeinsames Testspielen unterschiedlicher Spielformate, wie es in der Gaming-Branche aktuell Konjunktur hat. Man trifft sich mit Menschen, die man nicht kennt, und entwickelt über Kondensierung von Spielkonzepten und Spielregeln sowie zufällige Begegnungen gute Ideen und verwirft

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mangelhafte. Diese Form steht der im Musikbereich üblichen Probe gegenüber, bei der das gemeinsame Spiel allgemeinhin möglichst präzis ausgearbeitet wird. Der Dialog funktionierte für mich sehr gut. Beispielsweise fand ich auf der einen Seite interessant zu beobachten, dass die Gamedesigner allmählich eine Sensibilität fürs Zuhören entwickelt haben. Sie sind gewohnt, Aktivität und flow, Konflikt und Probleme herzustellen, nicht aber spezifische Zuhör-Situationen zu designen. Diese ausgeprägte Hörhaltung, wie sie sich insbesondere in der Musikszene entwickelt hat, hat in vielen Spielsituationen normalerweise gar keinen Raum und konnte im Rahmen des Festivals einmal forciert werden. Auf der anderen Seite war die Frage nach der Publikumserwartung interessant, da die Besucher*innen aus unterschiedlichen Kulturbereichen mit jeweiligen Gewohnheiten kommen. Wenn etwa nicht ausreichend Zuhör-Situationen und Hörraum geschaffen werden, sind Besucher*innen mit musikalischem Hintergrund möglicherweise frustriert. Auch dann, wenn das, was zu hören ist, nicht dem Fertigungsgrad entspricht, wie er in einem traditionellen Konzert zu erwarten ist. Dieser Aspekt der Frustration zeigt, dass die Kulturformen Spiel und Musik jeweils ein eigenes Vokabular und eingeschriebene Erwartungshaltungen mit sich bringen: so ist es die handwerkliche Aufgabe der Spieleentwickler*innen, durch bestimmte Setzungen das richtige Level von Frustration in einer Spielsituation herzustellen. Im Bereich der avantgardistischen Spieleentwicklung können Frustration und Negativerfahrungen sogar zum Prinzip erhoben werden, etwa im Sektor der „play to lose“-Spiele. Für ein Spielepublikum ist das nahezu normal, wohingegen es für ein Musikpublikum kaum die Möglichkeit gibt zu dekodieren, dass Frustration Teil der Erfahrung und des Metaausdrucks sein kann. Es existiert keine Grundlage, dies lesen zu können. Mit unseren Projekten konnten wir uns diesen Fragen annähern, allerdings sind wir weit davon entfernt, dass alle Akteure*innen, die in diesem Musik/Spiel-Raum unterwegs sind, eine Art kulturspartenübergreifendes Alphabet zur Verfügung haben. Ein bereichernder Ansatz ist einerseits, jeweils die Sprache des anderen Bereichs zu übernehmen. Wenn man sich fragt, in welchen Registern und auf welchen Ebenen Spiel stattfindet, etwa auf der Ebene der Fiktion, im Kopf, hinsichtlich Entscheidungen oder Zielgerichtetheit, dann führt das zu einem Nachdenken darüber, welche Situation überhaupt hergestellt wird, wenn Musik produziert oder rezipiert wird. Vielleicht geht es andererseits aber gar nicht primär darum, eine Verbindung oder Durchkreuzung zwischen der musikalischen literacy und der Gaming literacy herzustellen, sondern eine Art creative literacy zu erzeugen, die einem überhaupt erst erlaubt und ermöglicht, sich zwischen solchen Bereichen zu bewegen. Damit geht auch die Überlegung einher, welche Räume für diese Grenzbereiche benötigt und künftig kreiert werden müssten. Mit der Alten Oper, auf

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deren Portal „Dem Wahren Schönen Guten“ geschrieben steht, hatten wir einen Tempel der Musikkultur als Austragungsort, der architektonisch und hinsichtlich seiner sozial implementierten Strukturen äußerst wirkmächtig ist und der mit Perfektion und erhabenen Erlebnissen konnotiert ist. Diese musikkulturelle Besetzung des Raumes ließ sich auch nicht einfach weginszenieren. Es hat mir gut gefallen, dem eine alternative Bespielung und eine Art Intervention entgegenzusetzen, bei der es um künstlerisch Unfertiges und auch um Scheitern ging, bei der Reibungspunkte entstanden sind. Was wäre denn der ideale Ort in der Stadt, an dem sich eine creative literacy entfalten könnte? Was wäre die ideale Infrastruktur? Eine weitere Beobachtung im Verlauf des Festivals war, dass sowohl die Gaming-Welt als auch die Musik jeweils Exzellenz-Kulturen sind, die ein bisschen autistisch sind auf ihre eigene Weise. Es gibt in beiden Bereichen eine Faszination, die so tief geht, dass Leute den Blick verlieren können für die Außenwelt. Wenn man also versucht, diese beiden Bereiche in Beziehung zu setzen, dann ist das nicht einfach. Auch deshalb, weil Spiele – entgegen ihrem Ruf, dass sie per se Spaß bereiten und Inklusion ermöglichen – oft zu den exklusivsten Tätigkeiten gehören. Durch Spiele wird auch Exklusion erzeugt: Wenn du das Spiel nicht verstehst, dann bist du halt nicht dabei; wenn du nicht auf dem Spielfeld bist, dann bist du nicht dabei; wenn du nicht gut genug bist im Spiel, verlierst du eben. In Spielkulturen ist auch eine extreme Exklusivität, nicht nur Inklusion zu erleben. Es war spannend, diesen Aspekt bei der Begegnung von Musik und Spiel zu beleuchten. Gleichzeitig ist der Begriff der Freiheit in Verbindung mit Spiel sehr wichtig. Eine wichtige Referenz ist für mich der Spielephilosoph Bernie de Koven. Seiner Ansicht nach geht es beim Spielen nicht, wie viele Leute denken, um die Entdeckung des inneren Kindes, sondern vielmehr um die Entdeckung des inneren Erwachsenen. Die Frage könnte doch tatsächlich lauten: Sind wir nicht eigentlich Kinder in der Welt, in der wir leben, weil wir ständig irgendwelchen likes hinterherrennen, weil wir nur versuchen, irgendwie klar zu kommen? Man fühlt sich doch manchmal wie ein hilfloses Kind angesichts von Systemen, die man nicht versteht, von Politik, an der man nichts ändern kann. Entsteht nicht gerade in der Spielsituation die Möglichkeit, erwachsen zu handeln, d. h. etwas zu verstehen, Einfluss zu haben, Bewusstheit herzustellen? Mein Ziel wäre es, in Spielen Situationen herzustellen, in denen man beansprucht oder vielleicht zum ersten Mal ernst genommen wird. „Hier hast du den Zauberstab, mach mal was damit!“ – das finde ich, ist etwas Erwachsenes. Mit diesem Festival haben wir lediglich an der Oberfläche gekratzt, das Potenzial der Verschmelzung von Musik und Spiel ist noch überhaupt nicht

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ausgeschöpft. Ich beobachte auch, dass die Bereitschaft der Leute wächst, sich an diesen Zwischenbereichen zu beteiligen.

DAS PROJEKT GÖTTER DER DÄMMERUNG UND DIE FUNKTIONEN VON MUSIK Orm Finnendahl Götter der Dämmerung war ein mehrschichtiges, szenisches Projekt, in dem der Spielgedanke nicht nur als Spiel des Publikums, sondern zugleich auch als kooperatives Spiel im Zusammenspiel der Interpret*innen mit einer Live-Elektronik realisiert wurde. Die Interpret*innen waren das IEMA Ensemble, das aus 13 Instrumentalist*innen, einem Komponisten und einem Dirigenten bestand. Das szenische, durch übertriebene Kostümierung ironisch augenzwinkernd vorgestellte Narrativ bestand darin, dass eine Zerstörung der Welt droht, die die Mitspielenden des Publikums in Kooperation mit den Musiker*innen durch eine als „Messe“ ritualisierte Konzertveranstaltung verhindern sollten. Dazu sammelten die Spielenden während des Spiels an mehreren simultanen Spielorten präsentierte kurze Musikstücke, die von den Interpret*innen in verschiedenen spielerischen Interaktionen mit dem Publikum improvisiert wurden. So gab es eine kleine „Solokabine“ (ein an den Konzertsaal unmittelbar anschließender Raum für Simultandolmetscher), in der in mehreren Minikonzerten jeweils ein Publikumsspieler mit einem Ensemblemitglied alleine verbrachte und eine etwa zweiminütige Improvisation erlebte. Es gab „Tänze“, in denen das Publikum sich in auf dem Boden markierten Feldern bewegte und damit Interpret*innen, die um sie herumstanden, dirigierte. Das Ziel dieses Spiels bestand darin, die Ensemblemitglieder durch eine bestimmte Verteilung von Publikumsmitgliedern auf den Feldern zu einem Unisono zu führen. Und es gab eine Spielstation, in der das Publikum verschiedene, auf eine Leinwand projizierte Grafiken aussuchte, die eine Live-elektronische Verarbeitung darstellte und von den Interpret*innen realisiert wurde. Im Anschluss wählten die Publikumsmitglieder gemeinsam aus den einzelnen Präsentationen Stücke aus, die von einem aus Ensemblemitgliedern bestehenden „Hohen Rat“ zu einer Gesamtaufführung – einer etwa 10-minütigen Komposition – zusammengestellt und als Abschluss des Spiels vom gesamten Ensemble auf der Bühne präsentiert wurde. Die Gesamtdauer des Spiels war etwa 60 Minuten. Dieser Ablauf kristallisierte sich in einem mehrstufigen Prozess heraus, bei dem unser Team mehrere Gegenüber hatte: Auf der einen Seite die Musiker*innen eines Ensembles, mit denen ich kooperieren und einen Musikbegriff definieren musste, den wir gemeinsam als Spielbegriff auffassen wollten. Und auf der

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anderen Seite das Publikum, das in irgendeiner Form interaktiv beteiligt werden sollte – und das sind zwei ganz unterschiedliche Ansatzpunkte. Darüber führten wir dann auch eingehende Diskussionen: Was kann die Zielsetzung von einer Musik sein, die man mit und für das Ensemble entwickelt, und was ist die Zielsetzung einer Musik, in die man das Publikum einbindet? Spielerische Konzepte sind in meinen Arbeiten immer wieder schon Thema gewesen, neu war für mich in diesem Rahmen allerdings der Ansatz, das Publikum zu integrieren. In mehreren, über ein halbes Jahr verteilten Arbeitsphasen wurden dazu verschiedene Spielideen erprobt. Eine große Herausforderung bildete dabei die Notwendigkeit, das Spiel für das Publikum möglichst einfach, übersichtlich und anregend zu gestalten und zugleich musikalisch und akustisch attraktive Ergebnisse zu erzielen, die dem hohen spieltechnischen Niveau der Interpret*innen gerecht wurde. Die drei oben erwähnten Spiele kristallisierten sich dann in verschiedenen Verfeinerungen heraus. Der live-elektronische Teil hat dabei eine Vorgeschichte: Ich arbeite sehr viel mit Elektronik und habe mich vor etwa 15 Jahren intensiv mit der Frage beschäftigt, wie ich mit Instrumentalist*innen anders zusammenarbeiten könnte als im traditionellen Sinn. Ich mag die Arbeitsform nicht, bei der ein Komponist über lange Zeit ein Stück schreibt und es dann den Musiker*innen zum Spielen vorlegt. Stattdessen finde ich interessanter, die Musiker*innen in den Herstellungsprozess zu involvieren. Zu diesem Zweck habe ich ein live-elektronisches System entwickelt, das relativ spielerisch und anschaulich ist: Eine Projektion zeigt den Interpret*innen und dem Publikum eine farbige Grafik, über die ein senkrechte Linie läuft, die anzeigt, wann und in welcher Form der Computer live gespielte akustische Klänge elektronisch transformiert – ohne dass ich notwendigerweise vorher erklären muss, wie die sie damit umzugehen haben. Der Leitgedanke ist dabei, Interpret*innen in einen aktiven Wahrnehmungsprozess zu bringen, in dem sich ein durchaus auch intuitiv verstandenes und explorativ gewonnenes Bewusstsein über den Zusammenhang des eigenen Spiels mit den elektronischen Klängen entwickelt, der auch von einem Publikum als attraktiv und anregend erlebt wird. Dieses Ziel wurde bei Götter der Dämmerung auf das gesamte Spiel übertragen: Es gab sehr unterschiedliche Spielsituationen oder Spielmechaniken, an einigen war das Publikum beteiligt, an einigen waren eher die Ensemblemitglieder beteiligt und das Publikum war primär Zuschauer oder Zuhörerin. Dennoch wurde angestrebt, das in einer Form zu gestalten, in der das Zuhören aller Beteiligter aktiv stattfindet. Nicht nur, indem Spiele entwickelt wurden, die das aktive Zuhören fördern, sondern auch, weil die Publikumsmitglieder aufgefordert sind,

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eine Auswahl aus den präsentierten Minikompositionen zu treffen. Die Aufführung zum Schluss hat dann den doppelten Effekt, dass die einzelnen Bestandteile zuvor bereits erlebt wurden und zudem das Wiedererkennen und die Kontextualisierung der einzelnen Teile im Gesamtablauf genau dieses aktive Erleben und Zuhören unterstützen. Die Spielsituation kann dabei sehr befreiend wirken, da sie eine Hörhaltung fördert, die in einer normalen Konzertsituation nicht entsteht: In einem Konzert zeitgenössischer Musik setzen sich die Besucher*innen oft selbst unter Druck, weil sie meinen, sie müssten etwas „verstehen“. Der Eindruck, dass sie das bei zeitgenössischer Musik im Unterschied zu vertrauter klassischer Musik nicht tun, führt zu einer Frustration und einem damit verbundenen Negativerlebnis. Das Spiel ermöglicht eine Verlagerung dieser Situation durch die aktive Beteiligung, die eine andere, partizipative Wahrnehmungshaltung erzeugt, die zugleich spielerischer und lustvoller erlebt wird. Es fanden insgesamt vier Aufführungen von Götter der Dämmerung statt und alle waren unterschiedlich. Damit das Spiel gut funktionierte, brauchten wir ungefähr 30 Beteiligte – leider kamen in den ersten Aufführungen aufgrund geringer Publikumszahlen und einer anfänglich zögerlichen und abwartenden Haltung aber nicht so viele Mitspieler*innen zusammen. Durch die von außen beobachteten Ergebnisse der ersten Aufführungen stiegen allerdings im Laufe des Festivals unter den Besucher*innen Neugier und Wille zur aktiven Teilnahme. Dadurch hat das Spiel nach anfänglich weniger befriedigenden Ergebnissen zunehmend besser funktioniert, und ich war zum Schluss insbesondere mit der letzten Aufführung sehr zufrieden. Letztlich lief es darauf hinaus, dass die ersten beiden Aufführungen die Proben und das Testpublikum ersetzten, die uns im Vorfeld gefehlt haben. Auch das war eine wertvolle Erkenntnis für mich für zukünftige Planungen. Und für die Beteiligten war es natürlich auch eine positive Erfahrung, dass sich bei den letzten Präsentationen zunehmend herausgestellt hat, dass die Idee künstlerisch aufgegangen ist.

Komponieren/Spielen/Machen Musik und Computerspiel Julia H. Schröder

Musik komponiert man, Musik spielt man, Musik macht man. Geradezu gegensätzlich steht hierzu die reflexive Haltung der Hörenden im Konzertsaal oder das begleitende Musikhören über Wiedergabegeräte. Die große Chance von Computerspielen und Applikationen ist es, den Zugang zu Musik vielfältiger zu machen und damit Musik noch attraktiver. In diesem Beitrag geht es letztlich um solche Umgangsformen mit Musik, da die Beziehungen von Musik und Computerspiel vielfältig sind.

UMGANGSFORMEN MIT MUSIK Viele Spielende stellen den Ton ab,1 wenn sie ein Spiel zwischendurch spielen, sei es auf dem Smartphone in der U-Bahn oder auf dem Computer beim Arbeiten. Sie entscheiden sich gegen begleitende Musik oder akustisches Feedback 2.

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Sogar in Rollenspielen stellen 14,6% der Befragten den Ton ab und 16,7% ersetzen die Musik durch ihre eigene. Zindel, Maximilian: Let the music play. Über den Einsatz von Musik in digitalen Spielen am Beispiel von Final Fantasy, Münster: Lit Verlag 2015, S. 73. Das ist verhältnismäßig gering, doch bei Spielen, in denen Ton und Musik in die Spielhandlung integriert sind, bemerkenswert.

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Musik ist nur ein Teil des „Game Audio“, also der klingenden Bestandteile eines Computerspiels. Entsprechend dem Filmton wird er unterteilt in „Game Sound“, also Musik und Sounddesign sowie Sprache. Nicht alle Teile kommen in allen Games vor. Statt eingesprochenen Anweisungen wird beispielsweise oft nur Text angezeigt. Eine grundlegende Typologie zu gesprochener Sprache in Videospielen liefert: Stingel-

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Möglicherweise läuft nebenbei andere Musik über Lautsprecher im Café – oder die eigene Playlist wird im Spiel direkt hochgeladen. Diese Musik wird spielbegleitend gehört, als Hintergrundmusik oder – nach neueren Hörtheorien – in aufmerksamkeits-gleitendem Modus, der mal die Spielaktivität, mal die Musikrezeption favorisiert. Die dritte Form der Musikrezeption im Computerspiel bezieht sich auf narrative Spiele, in denen Musik Hinweise auf der Spielebene liefert, und schließlich gibt es Musikspiele, in denen das Ziel der Spielaktionen die Produktion – oder Modifikation – von Musik ist. Im Konzertsaalhören gibt es stattdessen das paradoxe Ideal des aktiven Hörens bei vollkommener Stillstellung. In dieser auf das Hören optimierten Umgebung unter Ausschluss aller Störungen kann man theoretisch am besten hören. 3 Andererseits erlauben spielerische Umgänge mit der Musik und ihren Materialen eine Ergänzung, die das Verständnis vertieft. Diese Vertiefung fand zu Adornos Zeiten im Partiturstudium statt und kann heute jenseits von Spezialistentum spielerisch erworben werden. Insofern sind Applikationen wie zu Björks Album Biophilia oder zu Annesley Blacks Kompositionen, die beide in diesem Band besprochen werden, ergänzendes Material zum aufmerksamen Hören der Musik.

MUSIK SPIELERISCH ANALYSIEREN Zum Thema des spielerischen Analysierens von Kompositionen habe ich also ein anderes Beispiel ausgewählt: Das Berliner Konzerthaus4 hat gemeinsam mit der

Voigt, Yvonne: „‚Stay low and avoid contact if possible.‘ Stimmklang in Computerspielen“, in: Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung, http://www.paidia.de/staylow-and-avoid-contact-if-possible/ (veröffentlicht: 20.02.2019. Zugriff: 21.03.2019). Game Sound Director Rob Bridgett ergänzt noch die sogenannte Atmo (klangliche Atmosphäre, englisch: ambience), wenn er von „Dialogue, ambience, sound effects and music“ spricht. Bridgett, Rob: „Contextualizing Game Audio Aesthetics“, in: John Richardson/Claudia Gorbman/Carol Vernallis (Hg.), The Oxford Handbook of New Audiovisual Aesthetics, New York: Oxford University Press 2013, S. 563-571, hier S. 563. 3

Siehe z. B. Heister, Hanns-Werner: Das Konzert. Theorie einer Kulturform, 2 Bde., Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1983.

4

„Das ‚Virtuelle Quartett‘ ist eine AR-Anwendung, die sich sowohl vor Ort als auch mit der kostenlosen App ‚Konzerthaus Plus‘ überall nutzen lässt. Hält man ein Smartphone auf die vier Spielkarten, erscheinen die Musiker des Konzerthaus Quartett Berlin und

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Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin unter der Beteiligung des Fachbereichs Audiokommunikation der Technischen Universität Berlin eine App entwickelt, die es erlaubt, einzelne Stimmen des Streichquartetts Der Tod und das Mädchen von Franz Schubert hervorzuheben. Die Anwendung ist intuitiv, da man eine Spielkarte, die eine der Quartettmusikerinnen zeigt, in die Kamera hält, woraufhin man die Streicherin spielen sieht und hört. Statt von „virtueller Realität“ wird in diesem Fall von „augmentierter Realität“ gesprochen: Die Kamera nimmt die Umgebung der Spielkarte realistisch auf, gibt aber die Violinistin als Hologramm in die „Realität“ eingebettet wieder. Die Videoaufnahme wird ergänzt, also wird die Realität erweitert oder eben augmentiert. Sie wird augmentiert durch das Video sowie den dazugehörigen Klang. Dessen Reproduktionsqualität ist kaum relevant, da die musizierende Figur durch Bild und Ton überzeugt. Die Applikation erlaubt auch das akustische Hervorheben einer oder mehrerer Stimmen aus dem Quartett: Legt man alle vier Spielkarten in den Kameraausschnitt, hört man alle Stimmen. Führt man eine Karte näher an die Kamera, tritt diese Stimme hervor, sodass diese Applikation ihre Funktion als ein spielerisches Analysewerkzeug erfüllt.

KOMPOSITION, SOUND TOYS UND EIN EXKURS ZU OFFENEN FORMEN Obwohl ich hier von Analyse spreche, geht Andrew Dolphin weiter und spricht von Komposition. Er führt den Begriff des Sound Toys, des Klang-Spielzeugs, ein. Sound Toys sind interaktive, „sonic-centric systems in which the end user may trigger, generate, modify, or transform sound“5. Ein neuer spielerischer Zugang zu Komposition wird postuliert. Denn Dolphin sieht diese Sound Toys in der Schnittmenge aus Komposition in offener Form, Instrument und Kompositionswerkzeug.

spielen den Anfang von Franz Schuberts Der Tod und das Mädchen. Die spielerische Anwendung erlaubt es, alle vier Musiker gemeinsam anzuhören oder sich auf einzelne Stimmen zu konzentrieren und so mehr über das komplexe Zusammenspiel zu erfahren.“ (Website-Text) https://www.konzerthaus.de/de/virtuelles-konzerthaus vom 24.3.2019. 5

Dolphin, Andrew: „Defining Sound Toys: Play as Composition“, in: Karen Collins/ Holly Tessler/Bill Kapralos (Hg.), The Oxford Handbook of Interactive Audio, Oxford: Oxford University Press 2014, S. 45-62, hier S. 45.

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Offene Formen finden sich Mitte des 20. Jahrhunderts in vielen Künsten. Was in der Musik unter den Begriffen „mobile Form“, „aleatorische Komposition“, oder eben „offene Form“ die Linearität des zeitlichen Verlaufs außer Kraft setzte, wurde ebenso in der Literatur oder im Theater erprobt. Die Besonderheit der Beteiligung des musikalischen Interpreten an Entscheidungen und damit die Möglichkeit, eine interaktive „mehrdeutige Form“ herzustellen, ist damals allerdings nur im Medium Buch und im Musiktheater zu verwirklichen gewesen. Der Leser wird – beispielsweise in Julio Cortázars Rayuela (1963) – zu Entscheidungen aufgefordert, die eine unmittelbare Rückwirkung auf die Erscheinungsform haben. Henri Pousseur hat in seinem Musiktheaterstück Votre Faust6 mehrere Stationen eingeplant, an denen das Publikum abstimmt, wie der Verlauf der Bühnenhandlung und also auch die Musik sich weiter entwickeln soll. Während hier eine ganze Gruppe, nämlich das Publikum, abstimmt, entscheidet in vielen Computerspielen ein Gamer durch sein Spiel, welchen folgenden Verlauf das Spiel und damit die begleitende Musik nimmt. Für den Musiktheaterkomponisten wie die Spielkomponistin bedeutet das, dass sie verschiedene Varianten komponieren müssen, von denen viele nicht gehört werden. Für die Hörenden oder hörend Spielenden bedeutet es, dass eine Wiederholung anders klingen wird. Im Spiel übernimmt eine Spielerin sozusagen die Rolle der Interpretin von indeterminierten Kompositionen, wie beispielsweise Morton Feldmans Klavierstück Intermission 6 von 1953 oder Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI von 1956. Nach den Spielanweisungen schaut die Pianistin absichtslos über den riesigen Partiturbogen und beginnt dann mit einem Notenfragment, auf das sie ein anderes folgen lässt usw. Solche indeterminierten Kompositionen oder Stücke in „mobiler Form“ – wie Earle Brown sie nannte – gibt es ebenso von Pierre Boulez und anderen. Es ist sicher kein Zufall, dass Hermann Scherchen 1956 in den von ihm herausgegebenen Gravesaner Blättern, die von der experimentellen Avantgarde der Darmstädter Ferienkurse gelesen wurden, ein Mozart zugeschriebenes Würfelmenuett wiederveröffentlichte und analysierte:7 Diese Anleitung zum

6

Votre Faust Henri Pousseur und Michel Butor (1960–1969; 1981). Siehe u. a. Wißmann, Friederike: Faust im Musiktheater des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin: Mensch und Buch Verlag 2003, S. 125ff.

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Scherchen, Hermann: „Mozarts ‚Anleitung zum Komponieren von Walzern vermittelst zweier Würfel‘“, in: Gravesaner Blätter. Vierteljahreszeitschrift für musikalische, elektroakustische und schallwissenschaftliche Grenzprobleme 4 (Mai 1956), S. 3-14.

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Componiren von Walzern vermittelst zweier Würfel besteht aus durchnummerierten Notenfragmenten – Melodie und Begleitung als Klaviersatz –, Zuordnungstabellen und einer Erklärung, wie die Takte nach dem Würfeln aneinanderzusetzen seien. Das ist ein Kompositionsspiel, welches von Scherchen dem Zeitgeist entsprechend wiederentdeckt wurde. Meine These ist seit längerem, dass die musikalische Avantgarde heutige Verfahrensweisen von Computern durchspielte: Zunächst in der Parametrisierung, dann in offenen Formen und nicht-linearen Abläufen, wie sie in der Komposition für Computerspiele teilweise berücksichtigt werden. Diese These von Komposition als Spiel- und Experimentierfeld für zukünftige Technologien muss noch ausgeführt werden. Nach Andrew Dolphin wäre das musikalische Würfelspiel ein Sound Toy, denn „sound toys are frameworks for compositions and composition tools“ 8. Als Beispiele nennt Dolphin folgende Spiele: Electroplankton (2005), RjDj (2008), Bloom (2008), Biophilia (2012)9, Aura Flux (2010), Sonic Wire Sculptor (2010), Sounddrop (2010), SoundyThings (2010), Daisyphone (2009). Vielleicht wäre Music Toy ein treffenderer Begriff für solche Computerspiele, die zwischen Musikinstrument, Musikanalyse-Werkzeug und kompositorischem Hilfsmittel liegen. Sie erlauben oft Improvisation wie ein Musikinstrument, die allerdings innerhalb eines vorgegebenen musikalischen Stils stattfindet. Beispielsweise erzeugt eine Berührung des Smartphone-Bildschirms in Bloom (2008) einzelne Töne – ganz wie das Material in Morton Feldmans Intermission 6, das beliebig zusammengesetzt wird. In Bloom spielt man also die Melodie statt auf dem Klavier auf dem Touchscreen, sodass ein Spieler sozusagen Musik im Stil von Brian Eno improvisiert, denn Brian Eno hat die Software mitentwickelt.

GENERATIVE MUSIC, PROCEDURAL MUSIC, ALGORITHMIC COMPOSITION Brian Eno hat auch den Begriff Generative Music 1995 bekannt gemacht, nachdem er schon früher den Begriff Ambient Music eingeführt hatte. Mit Ambient

Die Gravesaner Blätter sind als Digitalisat auf der Website des Archivs der Akademie der Künste Berlin einsehbar. 8

A. Dolphin: „Defining Sound Toys“, S. 46.

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Siehe: Korsgaard, Matthias Bonde: „Music video transformed“, in: Richardson/ Gorbman/Vernallis, The Oxford Handbook of New Audiovisual Aesthetics (2013), S. 501-521 sowie den Beitrag von Ulrich Wilker in diesem Band, S. 247-263.

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Music ist eine Form von unaufdringlicher, aber immersiver Musik gemeint, die gleichsam schwebend auf markante Rhythmen verzichtet. Dieser musikalische Stil erlaubt eine sehr lang ausgedehnte Form, über Tage, Monate oder Jahre, von immer etwas anders, aber immer ähnlich klingender Musik. Obwohl sich eine Analogie zu extrem langen Computerspielen aufdrängt – Rollenspiele dauern teilweise 40 Stunden, einige Spielende halten sich bis zu 100 Stunden in dieser Welt auf –, scheinen sich doch zu repetitive Musikformen nicht dafür zu eignen. Langzeitinstallationen wie La Monte Youngs Dreamhouse sind zwar immersiv wie Computerspiele, doch offenbar nicht kompatibel.10 Generative Musik ist also berechnet – heute meist über einen Computer. Als Procedural Audio kann sie in Computerspielen eingesetzt werden. Procedural Audio ist in Echtzeit generierter Ton, sei es Musik oder Geräuscheffekte. In einem Berechnungsprozess wird durch den Algorithmus Musik oder Klang generiert. Der Begriff Procedural Music trägt also diesen Prozess im Namen. Eine Algorithmische Komposition ist Computermusik. Sie ist weniger in anwendungsbezogenen Bereichen wie Games zu finden, als vielmehr in der Kunstmusik- und Medienkunst-Sphäre. Mit Computermusik im Feld zwischen Instrumentendesign, Komposition und Improvisation hat sich Miriam Akkermann in ihrem Buch Zwischen Improvisation und Algorithmus beschäftigt.11 Was Musik im Computerspiel von anderer Medienmusik abhebt, ist ihre Interaktivität.12 Erstaunlicherweise sind die meisten Studien zu Musik und

10 Versuche, Computerspiele als Kunstinstallationen auszustellen, wie kürzlich im mobilen Planetarium-Projekt der Berliner Festspiele (The New Infinity: Neue Kunst für Planetarien, 26. September bis 14. Oktober 2018, Mobile Dome | Mariannenplatz, Berlin-Kreuzberg), versetzen die Besuchenden wieder in die passive Rolle – obwohl man per Smartphone Einfluss auf die Objektgeneration und die daran gekoppelte Musik nehmen konnte. David O’Reillys Eye of the Dream (2018), für das mobile Planetarium der Berliner Festspiele entwickelt, basiert auf seinen früheren Computerspielen, u. a. Everything. 11 Akkermann, Miriam: Zwischen Improvisation und Algorithmus: David Wessel, Karlheinz Essl und Georg Hajdu, Schliengen: Edition Argus 2017. 12 Hier nur der Hinweis, dass der Begriff ausdifferenziert wurde: Linear Music ist von den Spielenden nicht beeinflussbar, Reactive Music wird direkt beeinflusst (entspricht also Phillips und Collins), Proactive Music veranlasst die Spielenden zu bestimmten Handlungen. Daniel Ernst gibt als Beispiel das Vorspielen einer Melodie, deren Auslösen (reaktiv) zum Erlernen und Nachspielen bzw. das Spielen später im Spielverlauf (proaktiv). Liebe, Michael: „Interactivity and Music in Computer Games“, in: Peter Moormann (Hg.), Music and Game. Perspectives on a Popular Alliance,

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Computerspiel aus der Spielenden-Perspektive verfasst, d. h. es gibt kaum Arbeiten, die sich mit den produktionstechnischen Aspekten aus geisteswissenschaftlicher Perspektive befassen. Während die Musikwissenschaft große Mengen von analytischer Literatur auf Grundlage des Partiturstudiums hervorgebracht hat und bedeutend weniger reine Höranalysen, verhält es sich in der Ludomusikologie genau anders herum. Die Rezeptionsperspektive ist in deutlich mehr Veröffentlichungen bedacht. Eine Ausnahme ist das Lehrbuch von Winifred Phillips, A Composer’s Guide to Game Music.

PRODUKTIONSPERSPEKTIVE AUF INTERAKTIVITÄT Die Computerspiel-Komponistin Winifred Phillips spricht von zwei Arten interaktiver Musik:13 Wenn die Musik jedes Mal intensiver wird, sobald eine Spielerin einen Schuss abgibt, liege „direkte Interaktion“ vor (Karen Collins unterscheidet hier „interactive“ und „adaptive audio events“). Wenn die Musik angespannt wird, sobald die Lebensenergie (englisch health status) des Avatars auf einen gefährlich niedrigen Stand sinkt, spricht Phillips von „indirekter Interaktion“ (Karen Collins: „adaptive audio events“).14 Die Musik reagiert hier auf den allgemeinen Spielstand und nicht ein einzelnes Ereignis.

Wiesbaden: Springer 2013, S. 41-62. Zitiert nach: Ernst, Daniel: „Musik als dynamischer und interaktiver Bestandteil im Spielverlauf“, in: Christoph Hust (Hg.), Digitale Spiele: Interdisziplinäre Perspektiven zu Diskursfeldern, Inszenierung und Musik, Bielefeld: transcript 2018, S. 311-324. Außerdem bringt Marion Saxer die „transaktive Kategorie“ nach Werner Rammert ein: aktiv, passiv, reaktiv, interaktiv und transaktiv. In der letzten Kategorie arbeiten mehrere Handelnde zusammen und ändern die Funktionsweise des Systems. Das muss noch in die Computerspielmusik-Forschung eingebracht werden. Saxer, Marion: „Distributed Agency. Verteiltes Handeln in künstlerischen Medienkonstellationen“, in: kunsttexte.de/auditive_perspektiven Nr. 4 (2011). 13 Phillips, Winifred: A Composer’s Guide to Game Music, Cambridge, London: MIT Press 2014, S. 187. 14 Karen Collins spricht als Besonderheit von Dynamic Audio in Computerspielen, das aus interaktiven, also von der Spielerin ausgelösten Elementen, und adaptiven Audio Events besteht. Collins, Karen: „An Introduction to Procedural Music in Video Games“, in: Contemporary Music Review 28/1 (2009), S. 5-15, hier S. 5f.

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Im musikalischen Würfelspiel und vielen Gamemusiken liege eine „horizontale Re-Sequenzierung“15 vor, also eine mobile Form, die von der Permutierbarkeit von Formteilen ausgeht. Horizontal beschreibt die zeitliche Abfolge. Hier gilt es laut Phillips, je nach Spielbedarf anschlussfähige Musikformteile zu komponieren. Bei Spielereignissen wie Kampfsequenzen muss man Loops setzen können, um die variable Dauer aufzufangen. Je nach Erfolg oder Misserfolg schließt ein anderer Musikteil an etc. Phillips beschreibt das detailliert. Bemerkenswert scheint mir, dass in rhythmischer Musik Anschlusspunkte nur auf schweren Taktteilen, also auf Beats, liegen können, während ein Anschlusspunkt in Musik ohne Rhythmustrack fast immer möglich ist. Gleiches gilt für Melodien. Hier wäre es interessant, die Veränderungen innerhalb der musikalischen Gestaltung zu verfolgen. Wenn man davon ausgeht, dass Game-Musik einen großen Einfluss hat, was anlässlich der globalen Vermarktung und Nutzerzahlen einiger Games naheliegt, kann man postulieren, dass es vermehrt Spezialisierung auf Game-Musik und damit die Anpassung der Kompositionen an das Genre geben wird, also wird sich auch die Musik ändern. Schon jetzt denke ich, eine Anordnung nach Dauern in Signalton, Jingle, Motiv, Thema und Melodie ist nicht mehr eindeutig möglich. Hinzu kommt, dass diese Begriffe funktional definiert sind, also gar nicht vergleichbar auf der Dauernebene. Ein anderes Konzept ist laut Phillips die „Vertikale Schichtung“ („vertical layering“/„vertical re-orchestration“). Dabei werden verschiedene Schichten so komponiert, dass sie gleichzeitig gespielt werden können, je nach Bedarf. 16 Dies ist also ein Orchestrationsprinzip oder ein Denken im Sinne von PopmusikProduktionsweise. Wenn die Musik im MIDI-Format vorliegt, kann sie nach musikalischen Parametern variabel gehalten werden, also transponiert werden, accelerando gespielt werden etc. Ebenso gestaltet der Audio Director eines Games nicht nur als Sound Designer die einzelnen Geräusche, sondern entwickelt auch die Regeln, nach denen diese im Spiel eingebettet und abgerufen werden, mit.17 Überhaupt werden sowohl Computerspielmusiken als auch Geräusche in größeren Produktionen von mehreren gestaltet und komponiert, da zuweilen fünf Stunden Musik komponiert werden.

15 Horizonal re-sequencing, in: W. Phillips: A Composer’s Guide to Game Music, S. 188. 16 Es gibt die Möglichkeit, alle Schichten kombinierbar zu halten oder einige austauschbar anzulegen (additive versus interchange technique). Ebd. 17 R. Bridgett: „Contextualizing Game Audio Aesthetics“, S. 568.

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MUSIKSPIELE Statt spielerischer Analyse bieten Musikspiele mehr oder weniger Musizier- bzw. Tanzoptionen an. Guitar Hero oder Rock Band sind sicher die bekanntesten Musizierspiele – Axel Stockburger spricht von Rhythm Action Games. Verwirrenderweise spricht er bei Musikspielen ohne spezielle Gamecontroller, die aber Musik generieren und die vielleicht Kompositionsspiele heißen könnten, von „Electronic Instrument Games“.18 Im Prinzip sind damit Sound Toys – oder eben Music Toys – gemeint, also Spiele, mittels derer man musikalisch improvisieren kann. Die Grundlage von Rhythmusspielen ist hingegen ein vorgegebenes Musikstück in Tonaufnahme. Sie verfügen meist über einen speziellen Gamecontroller, also ein Eingabegerät beispielsweise in Form einer elektrischen Gitarre, die aber statt Saiten nur Knöpfe zum Drücken hat. Die Spielerin folgt den im Video vorgegebenen Tasten. Erfolg bedeutet, die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt, der jeweils song- und interpretationsabhängig ist, zu drücken. Die Aktionen werden also vom musikalischen Rhythmus vorgegeben und mit ihm synchronisiert, nicht als Reaktion auf ein unvorhersehbares Ereignis in der Spielwelt, wie in einem Ego-Shooter. Da die meisten Spielerinnen die Songs gut kennen, können sie die Tastenkombinationen voraussehen. Ein Faktor ist Virtuosität im Sinne von Schnelligkeit, was geübt werden kann. Die Aufnahme selbst wird durch aktives, wiederholtes Anhören ikonisch.19 Kiri Miller zitiert einen Spieler, der beschreibt, dass ihn die Musikspiele zu einem analytischeren Hören führten: „I’ve learned to listen to music differently. Whereas before I would typically listen to a song as a whole, I now find myself picking out the various individual instruments and assessing their particular contributions to the music.“20 18 Stockburger, Axel: „Sound-Image Relations in Video and Computer Games“, in: Dieter Daniels/Sandra Naumann (Hg.), See this Sound. Audiovisuology Compendium. An Interdisciplinary Survey of Audiovisual Culture, Wien, Köln: König 2010, S. 128-139. Online: http://see-this-sound.at/kompendium/abstract/34.html 19 Übrigens sind offenbar Choreografien aus dem Spiel Fortnite, welche die Avatare nach einem Spielerfolg tanzen, inzwischen so erfolgreich bei der Zielgruppe, dass sie von jungen Fußballprofis auf dem Feld ebenso wie auf dem Schulhof getanzt werden. Die Tanzgesten werden ikonisch. Die Musik ist dabei meines Wissens beschränkt auf das Genre, also bei gleichbleibendem Metrum und Tempo austauschbar. 20 Chris Sanders zitiert in: Miller, Kiri: „Schizophonic Performance: Guitar Hero, Rock Band, and Virtual Virtuosity“, in: Journal of the Society for American Music 3/4 (2009),

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Dass die Spielenden den Klang nicht selbst erzeugen, sondern eine Aufnahme durch Knopfdruck auslösen, nennt Kiri Miller „Schizophonic Performance“.21 Damit gibt sie einer Debatte um solche Musikspiele einen Namen, die sich darum dreht, ob man hier von Musizieren sprechen kann, wenn doch nur Musikaufnahmen ausgelöst werden. Den Begriff entlehnt sie dabei R. Murray Schafers „Schizophonie“, mit der er die Trennung von Klang und Klangherstellung durch das Abspielen von Tonaufnahmen bezeichnete.22 Die von Miller befragten Spieler wollen einerseits nichts Kreatives in diesen Musikspielen sehen, fühlen sich aber andererseits in die Tonaufnahme und ihre Vorstellung vom Einspielen durch eine Musikerin ein und erleben ein stark kreatives Mit-Empfinden. Meines Erachtens werden ähnliche Prozesse aktiviert, wie bei Spiegelneuronen beobachtet. Rhythmusspiele können auch hinsichtlich ihres Grades des Entrainments betrachtet werden. 23 Entrainment ist ein Begriff aus der Chronobiologie, welcher die Synchronisierung mit einem äußeren Zeitgeber meint. In der Musik also beispielsweise das Mitwippen zu rhythmischer Musik oder eben das rhythmische Tanzen zur Musik im Dance Game. Dabei handelt es sich um eine spezifisch menschliche Fähigkeit, die auf Gruppenkommunikation hindeutet: Zusammen musizieren und tanzen und einem gemeinsamen Metrum folgen.

S. 395-429, hier S. 410. „Ich habe gelernt Musik anders zuzuhören. Während ich vor meiner Spielerfahrung einen Song als Ganzes anhörte, bemerke ich jetzt, dass ich einzelne Instrumente hörend herauspicke und ihren Beitrag zum Musikstück einschätze.“ (Übersetzung JHS). 21 K. Miller: „Schizophonic Performance“; Miller, Kiri: Playable Bodies. Dance Games and Intimate Media, New York: Oxford University Press 2017. 22 Schafer, R. Murray: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester: Destiny Books 1977; darin: Glossary. 23 Siehe: Costello, Brigid: „Rhythmic Experience and Gameplay“, in: Proceedings of DiGRAA 2014: What is Game Studies in Australia, http://digraa.org/wp-content/ uploads/2014/06/12_costello.pdf (veröffentlicht: 6. Dezember 2014). S. a. Akkermann, Miriam/Heßler, Daniel: „Vom Rhythmus zur Regel zum Raum und zurück – Über Rhythmus und Entrainment im Gameplay von Donkey Konga, Vib-Ribbon und Rayman Legends“, in: Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung, http:// www.paidia.de/vom-rhythmus-zur-regel-zum-raum/ (veröffentlicht: 20.02.2019).

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PERFORMANCE Wie auch David Roesner geht es Miller hauptsächlich um den PerformanceAspekt, der im Spielen ausgelebt werden kann.24 Das rhythmische Agieren zu Musik wird ganz ähnlich in Tanzspielen wie Dance Dance Revolution trainiert, wie Melanie Fritsch argumentiert.25 Auch diese Tanzspiele arbeiten teilweise mit speziellen Controllern, in Dance Dance Revolution gibt es ein Interface für die Eingabe über die Füße. Pfeile auf dem Bildschirm geben vor, auf welchen Pfeil auf dem Fußfeld der Spieler treten soll. Ein rotes „Buh“ oder ein grünes „Good“ oder „Great“ geben auch visuell Feedback, ob das im richtigen Moment, also synchron zur Musik, geglückt ist. Übrigens kann man am Rheinufer in Mainz auf einem ganz ähnlichen Feld hüpfen und dabei Klänge mechanisch auslösen: Dort ist ein Klangspielzeug im öffentlichen Raum installiert. Tanzspiele verwenden andere Eingabemöglichkeiten, also Gamecontroller, als die herkömmliche Computertastatur. Einige historische Gamecontroller umfassen unter anderem Spielzeuggewehre, Musikinstrumente, Tennisschläger-Kopien. Insgesamt habe ich allerdings den Eindruck, dass die Controller für Computerspiele aufgrund der Ökonomie des Gamemarkts deutlich weniger vielfältig sind, als die Entwicklungen im Bereich der experimentellen Musik, wo es mit der NIME – der internationalen Konferenz für New Interfaces for Musical Expression – seit 2001 einen kontinuierlichen Austausch gibt. Unter „Expression“ im Konferenztitel werden nicht nur affektive Ausdrucksformen verstanden, sondern auch kontinuierliche Kontrolle von musikalischen Parametern. Karen Collins thematisiert das unter dem Stichwort „kinesonic fidelity“: 26 Wenn ein Controller qualitativ unterschiedliche Eingaben erlaubt, möchte die Spielerin auch ein entsprechendes Resultat hören, d. h. wenn ein Cello mit viel Armdruck gestrichen wird, ist der Ton lauter. Um das umzusetzen, vermutete Collins 2013, würden die gesampelten Klänge wieder zugunsten der bis zu den 1990er Jahren verwandten synthetisierten Klänge aufgegeben. Synthetisierte Klänge seien leichter anpassbar.

24 Roesner, David: „Der Guitar Hero zwischen Musizieren und Performen“, in: Stephanie Schroedter (Hg.), Bewegungen zwischen Hören und Sehen. Denkbewegungen über Bewegungskünste, Würzburg: Königshausen und Neumann 2012, S. 591-608. 25 Fritsch, Melanie: „Live Performance Games? – Musikalische Bewegung sehen, hören und spielen“, in: Schroedter, Bewegungen zwischen Hören und Sehen (2012), S. 609623. 26 Collins, Karen: Playing with Sound. A Theory of Interacting with Sound and Music, Cambridge, London: MIT Press 2013, S. 36.

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Bei einem Gamecontroller in Form eines Gewehrs sind sportliche Synchronisation und Geschicklichkeit gefragt. Schießen zählt ja auch zu den Sportarten, womit die Zuordnung von Games zu einerseits Wettkampf (ludus) und andererseits freiem Spiel (paidia) angesprochen wird: Viele Spiele werden inzwischen als Wettkampf öffentlich ausgetragen – vor allem in Südkorea. Sie gelten wie Schach als Sport, als e-Sport. Virtuosität wird präsentiert. Das Publikum ist beim sogenannten Zuschauersport ebenso passiv bzw. aktiv-nachvollziehend wie in der eingangs geschilderten Konzertsaalsituation. Da sich das Spielgeschehen und der Punktestand nicht nach einer Partitur, sondern variabel ändern, könnte man die Publikumserfahrung mit der einer live-coding-Aufführung vergleichen. Dabei sitzen Menschen vor Laptops und schreiben Code, wodurch sie die live im Raum zu hörende – möglicherweise generative – Musik beeinflussen. Wie genau ist nur begrenzt nachvollziehbar, obwohl sich die Community zu Transparenz ermahnt. 27 Im Prinzip liegt beim e-Sport bereits ein Ebenenwechsel vor, nämlich vom Selber-Spielen zum Zuschauermodus.

MIGRIERENDE MUSIKFORMEN (MEDIENWECHSEL) Solche Migrationsphänomene gibt es viele im weiteren Umfeld des Computerspiels. Allgemein ist das zum Beispiel die Gamification, also das Einbringen von Spielelementen in Lernkontexte oder Alltagskontexte. Auf Musik bezogen sind Migrationsphänomene die Nutzung präexistenter Musik im Computerspiel – Yvonne Stingel-Voigt spricht von „lizensierter Musik“,28 da die Rechte zur Wiederverwertung der Musik erworben werden müssen. Außerdem zählt dazu die Zweitvermarktung und Rezeption von Computerspielmusik auf CD, im Film und Konzertsaal. Beispielsweise gaben in einer Umfrage zu Musik im Rollenspiel Final Fantasy auf der Computerspiele-Messe Gamescom fast 40% der Befragten an, den Spiel-Soundtrack auch als Musikaufnahme zu kaufen.29 Aus dieser Gruppe kommt auch das Publikum von Konzertaufführungen von Game-Musik durch Symphonieorchester. Sehr bekannt ist die Adaption von Filmen als Computerspiel und umgekehrt. Ebenso können Romane adaptiert werden, eigentlich alle narrativen Genres. In der

27 Zum Live-Coding siehe: https://toplap.org/ 28 Stingel-Voigt, Yvonne: Soundtracks virtueller Welten: Musik in Videospielen, Glückstadt: vwh 2014, S. 198ff. 29 39,4% der Befragten stimmten zu: „Ich kaufe mir Spielsoundtracks, wenn mir die Musik gut gefällt.“ M. Zindel: Let the music play, S. 72f.

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Intermedialitätstheorie ist das ein Medienwechsel. Bei Film und Computerspiel werden oft Elemente der Musik beibehalten, wenn vom einen ins andere Medium adaptiert wird. Meines Erachtens ist die Erwartung an die Qualität von Filmmusik nach wie vor etwas höher. Das wäre damit zu erklären, dass das Filmpublikum selbst nicht aktiv ist und damit vermutlich kritischer zuhört. Inzwischen komponieren jedoch die berühmtesten Filmmusikkomponisten wie Hans Zimmer ebenso Teile von Gamemusik wie Gamemusik für Symphoniekonzerte orchestriert und arrangiert wird. Ein neues Musikgenre ist die sogenannte 8-Bit-Musik,30 die sich auf die elektronischen Klänge der frühen Computerspielmusik beschränkt und referenziell darauf bezieht. Damals wurden Soundchips verwandt, weshalb auch Chiptunes und Soundchip Music als Name verbreitet sind. Einzuordnen sind diese Formen in die sogenannte Demoszene, in der Gameplattformen von Hackern zu neuer Medienkunst oder eben Musik umgewidmet werden. 31 Teilweise wird in der Hardware Music mit obsoleten Computerbauteilen musiziert. Dann liegt eine Nähe zum Circuit Bending vor, in dem ebenfalls alte Elektro- oder Computerbauteile zu Kunst oder Musikinstrumenten zusammengesetzt werden.

COMPUTERSPIEL IN MUSIK Schließlich gibt es auch Kompositionen, die Gamecontroller als Instrumente nutzen und das Computerspiel zum Thema machen, beispielsweise Stefan Prins’ Komposition Generation Kill (2012). In der Aufführung sieht man die Musizierenden vor Laptops mit Gamecontrollern spielen. Ihnen gegenüber sind mehrere Projektionsflächen, auf denen die Instrumentalspielenden – teilweise verfremdet – erscheinen. Die Gamer beeinflussen also das Live-Spiel der Musizierenden. In der Aufführung durch das Nadar Ensemble waren die Performenden an den Gamecontrollern selbst Musiker und Musikerinnen. Sie saßen vor jeweils einem Laptop und führten mit den Controllern Live-VideoManipulation von vorher aufgenommenen Musikern nach Partiturangaben durch. Im letzten Teil der Komposition sieht man Projektionen von Drohnen-Aufnahmen aus Kriegsgegenden. Prins zitiert das Buch Generation Kill des Journalisten Evan Wright über nordamerikanische Soldaten in der Irak-Offensive 2003: „Dieser Krieg wurde von

30 Siehe dazu: Mihály, Julia: „‚low tech music for high tech people‘. Chiptunes – der Punk der elektronischen Musik“, in: MusikTexte 155 (Nov. 2017), S. 14-18. 31 S. a. K. Collins: Playing with Sound, S. 111ff.

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der ersten Playstation-Generation geführt. Und eine Sache ist, dass sie im Irak sehr gut töten.“ Der Komponist schreibt, er thematisiere in seiner gleichnamigen Komposition Überwachung, Bilder und Kriege, „die wie Videospiele geführt werden, mit der immer durchlässiger werdenden Grenze zwischen Realität und Virtualität“.32

MUSIK IM COMPUTERSPIEL Computerspiele sind Medien, die den Seh- und Hörsinn einbeziehen, insofern sind viele ihrer Funktionsweisen mit Tonfilm, Tanzaufführungen oder Musiktheater vergleichbar. Entweder ist Musik Video-begleitend oder das Video begleitet die Musik, um nach Claudia Bullerjahn Beziehungen von Musik und Video grundlegend zu unterscheiden.33 Beispielsweise spielt eine Hintergrundmusik während einer Verfolgungsjagd im Autorennspiel oder ein Avatar begibt sich an einen speziellen Ort der virtuellen Spielwelt, um einem Konzert innerhalb der Spielwelt zu lauschen. Der Stellenwert der Musik ist in beiden Beispielen unterschiedlich und die Musik wird einerseits an das Rennen angepasst, andererseits werden Bilder generiert, die der Musik folgen. Weitere Relationen von Musik und Computerspiel beziehungsweise Funktionen von Musik im Computerspiel sind ähnlich der gut untersuchten Filmmusik.34 Karen Collins nennt beispielsweise: Handlung antizipieren, Aufmerksamkeit lenken, Wiedererkennung durch Leitmotive ermöglichen, Emotionen erregen, Zeit und Ort repräsentieren, Erfolg signalisieren.35 Einzig das Erfolgssignal gibt es nicht im Film, alle anderen Funktionen sind in beiden Medien möglich.

32 Stefan Prins im CD-Booklettext zu Generation Kill (2012), Nadar Ensemble, in CD: Donaueschinger Musiktage 2012, SWR, Neos 2013, S. 36f. 33 Bullerjahn, Claudia: „Musik und Bild“, in: Herbert Bruhn/Reinhard Kopiez/Andreas C. Lehmann (Hg.), Musikpsychologie. Das neue Handbuch, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2008, S. 205-222. 34 Siehe u. a. Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg: Wißner 2001. Kloppenburg, Josef (Hg.), Musik multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, Laaber: Laaber 2000, S. 55. De la Motte-Haber, Helga: See this SoundWebarchiv: http://www.see-this-sound.at/compendium/abstract/71 (letzter Zugriff: 20.12.2018). 35 K. Collins: „An Introduction to Procedural Music in Video Games“, S. 7.

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Auch auf der narrativen Ebene kann in beiden Medien in diegetischen und extradiegetischen Klang unterschieden werden. Spielinterner Klang, alles, was der Avatar „hören“ kann, ist diegetisch. Extradiegetisch ist hingegen die klassische Filmmusik, die Emotionen vermitteln soll, ohne Teil des Spielgeschehens zu sein. Diese Kategorien werden auch erweitert oder angezweifelt. Schließlich können im Game – wie im Film – stilistische Unterschiede der Musik von den Zielgruppen gut unterschiedlichen Spielgenres zugeordnet werden. Eine Art Ambient Music, wie sie Brian Enos Music for Airports popularisierte, höre ich beispielsweise in Star Citizen, einem Weltraumspiel, das noch nicht veröffentlicht ist, da die Finanzierung rein über Crowdfunding läuft.36 Es gibt Geräuscheffekte und diegetische Musik, beispielsweise in der Bar, wo typische Barmusik spielt. Zusätzlich gibt es Synthesizer-Musik, die extradiegetisch zu sein scheint. In Verfolgungsjagden ist sie rhythmischer, bei einfachem Durchstreifen der Weltraumstation ist sie ambient-artiger. Ein extremer Fall von Klangzentrierung sind Audio-only Computerspiele,37 also Spiele, die ohne Bild auskommen. In konventionelleren Spielen gibt es auch Episoden ohne Bild, beispielsweise die Durchquerung einer dunklen Höhle in Hellblade: Senua’s Sacrifice,38 also eine auditive Orientierung im akustisch simulierten Raum. Das akustische Ergebnis des Spielens kann laut einem Gedankenexperiment von Leigh Landy und den Autoren Andrew Hugill und Panos Amelidis als elektroakustische Musik gehört werden. Hierfür müsste der Spieler von der Funktionalität der Signale und akustischen Hinweise absehen und sich das Ergebnis seiner Spielaktionen in rein ästhetischer Hinsicht anhören. Ob das beim Durchqueren einer akustisch simulierten Höhle möglich ist, finde ich fraglich. Hugill und Amelidis beschreiben jedenfalls narrative und emotionale Funktionen von Sprache, Geräuschen und Musik in Papa Sangre statt eines musikalischen

36 Gameplay Demo von der Citizencom 2018: https://video.golem.de/games/21940/starcitizen-gameplaydemo-von-der-citizencon-2018.html, in: https://www.golem.de/news/ star-citizen-detailverliebtheit-die-an-wahnsinn-grenzt-1810-137076.html

(veröffent-

licht: 12. Oktober 2018). 37 Hugill, Andrew/Amelidis, Panos: „Audio-only computer games: Papa Sangre“, in: Simon Emmerson/Leigh Landy (Hg.), Expanding the Horizon of Electroacoustic Music Analysis, New York: Cambridge University Press 2016, S. 355-375. 38 Siehe: Ruf, Oliver/Matt, Markus/Bayreuther, Rainer: „Einflüstern – Klangkultur und 3D-Sound-Spielmechanik in ‚Hellblade: Senua’s Sacrifice‘“, in: Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung, http://www.paidia.de/einfluestern/ (veröffentlicht: 20.02.19).

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Gesamtgefüges aus akustischen Bestandteilen, wie sie es eingangs vorschlagen. Eine akustisch-musikalische Analyse beispielsweise der Großform verschiedener Spieldurchgänge und verschiedener Spiele steht meines Wissens noch aus und könnte interessante Ergebnisse bringen.

FORSCHUNGSÜBERBLICK Eine überzeugende Gliederung des großen Forschungskomplexes Musik in Videospielen nimmt Yvonne Stingel-Voigt in Soundtracks virtueller Welten vor. Im Kapitel zu Musik und Narration lautet beispielsweise ein Zwischenergebnis: „Musik bildet in Videospielen häufig die Komponente, die die Narration begleitet, kommentiert, unterstützt und fortführt. Dabei erzählt sie mit, steigert die Spannung, dramatisiert, beruhigt etc. Musik lässt zudem Assoziationen zu. Sie sagt dann mehr als Bilder. Unter Umständen greift Musik in das Geschehen ein und trägt zur Gesamterzählung bei (Musik als Tool). Bestimmte Instrumente können Handlungsträger sein. Leitmotive existieren als erzählende (erklärende und erläuternde) Elemente. Charaktere werden durch Musik adaptiert, dargestellt und beschrieben. Und Musik kann als äußerer Rahmen der Fortentwicklung einer Geschichte dienen.“ 39

Das belegt Stingel-Voigt an zahlreichen Beispielen. Eine weitere hilfreiche Analysekategorie bei Stingel-Voigt ist die couleur locale, also das Lokalkolorit, mit dem eine örtliche Spezifik in Bild und Ton dargestellt wird. Musik, die eine spezifische Gegend oder Kultur assoziiert, wie gregorianischer Gesang, der für das Klosterleben im Mittelalter steht, oder ein Muezzinruf, der eine islamischgeprägte Gegend akustisch symbolisieren soll. Dass hier sowohl differenzierte als auch Klischees reproduzierende Zuordnungen getroffen werden, ist den jeweiligen Spielentwickelnden und deren Vorstellungen über ihre Zielgruppe geschuldet. Technisch hat das beispielsweise Jon Inge Lomeland beschrieben: In massively multiplayer online role-playing games, sogenannten MMOs, werden Umgebungen optisch und akustisch gestaltet, d. h. ein Haus, eine Stadt oder eine Gegend kann als Zone definiert werden. Sobald eine Spielerin ihren Avatar in so einen Trigger Spot bewegt, beginnt eine Zone Music oder ein Zone Track zu spielen, der durch seine Verbindung mit dem Ort diesen charakterisiert. Eine andere Verbindung von Musik und Aktion ist die Event Music, die von

39 Y. Stingel-Voigt: Soundtracks virtueller Welten, S. 197f.

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bestimmten Ereignissen im Spielverlauf ausgelöst wird: beispielsweise Kampfmusik.40 Diese Implementierungen beschreibt Bettina Schlüter als „virtuelle Rekonstruktion des Hörsinns“41, wenn sie argumentiert, dass die Avatare und die anderen Charaktere im Computerspiel sich aufgrund von akustischen Informationen verhalten. Die vielleicht einflussreichste Forscherin international ist Karen Collins mit Publikationen wie beispielsweise ihrer Monografie Playing with Sound und als Herausgeberin des Oxford Handbook of Interactive Audio, das auch einen Schwerpunkt Musik und Klang in Computerspielen aufweist. Wie ich eingangs dargestellt habe, sehen auch Collins und ihre Co-Herausgebenden einen neuen Umgang mit Musik und Klang in interaktiven Medien. „[I]nteracting with sound is different from just listening to sound […]. Physical agency and control through interactivity add a level of involvement with sound that alters the ways in which sound is experienced in games, interfaces, products, toys, environments (virtual and real), and art.“42

Karen Collins hat sich in ihren Veröffentlichungen mit den zentralen Themen von Musik im Computerspiel beschäftigt, also auf der Rezeptionsseite mit Interaktivität und mit Immersion sowie auf der Produktionsseite mit Nicht-Linearität und generativer Musik. Diese Forschungsansätze firmieren unter dem Stichwort „Music and Games“ oder „Computerspielmusik“. Ludomusikologie wurde als Begriff von Melanie Fritsch

40 Lomeland, Jon Inge: „How can interactive music be used in virtual worlds like World of Warcraft?“, in: Collins/Tessler/Kapralos, The Oxford Handbook of Interactive Audion (2014), S. 117ff., S. 121f. 41 Schlüter, Bettina: „Environmental Audio Programming. Geräusch und Klang in virtuellen Welten“, in: Sylvia Mieszkowski/Sigrid Nieberle (Hg.), Unlaute: Noise: Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900, Bielefeld: transcript 2017, S. 363-374, hier S. 373. 42 Collins, Karen/Kapralos, Bill/Tessler, Holly: „Introduction“, in: dies., The Oxford Handbook of Interactive Audio (2014), S. 1. „Mit Klang zu interagieren unterscheidet sich vom bloßen Zuhören. Physische Macht und Kontrolle durch Interaktivität fügen einen Grad der Involvierung mit Klang hinzu, der die Erlebnisweisen von Klang in Games, Interfaces, kommerziellen Produkten, Spielzeugen, virtuellen und realen Umgebungen und Kunst ändert.“ (Übersetzung JHS).

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in die deutschsprachige Forschung eingebracht und von ihr auf 2007 datiert. 43 „Ludus“ ist neben „Paidia“ ein Begriff für das Spiel, wie Stingel-Voigt ausführt.44 Ludus ist auf ein Ziel gerichtet und folgt Regeln, während Paidia frei ist. In der Ludomusikologie wurde der Begriff aber eher aus der Diskussion der Erzählforschung um das Ludische im Unterschied zum Narrativen abgeleitet, wie Fritsch schreibt. „Fragen der ‚realness‘ [von Spielerlebnissen], Authentizität und Echtheit von spielerischen Musikperformances, die auf diese Weise hervorgebracht werden, und in der Folge die Frage nach dem Verhältnis der Spielerinnen zu Spiel und Musik beschäftigen den ludomusikologischen Diskurs nach wie vor.“45

Da dieser Beitrag angesichts der Forschungsaktivität bald nicht mehr aktuell sein wird, möchte ich auf ein Recherchewerkzeug hinweisen: Die Society for the Study of Sound and Music in Games mit dem Akronym SSSMG hat eine OnlineBibliografie erstellt, die auch nicht-englische Literatur enthält. In einer statistischen Auswertung zeigt sich, dass die Forschung zwar in den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts begann, doch erst in den 2000ern von einem eigenen Feld gesprochen werden kann.46

WIRKUNG VON MUSIK IM COMPUTERSPIEL Da die Musik selten im Aufmerksamkeitsfokus steht – eigentlich nur bei Musikspielen –, nehmen Forschende eine Wirkung vergleichbar der von Filmmusik auf die Spielenden an. Experimente zum Nachweis von verschiedenen Wirkungen sind in ihrer Reichweite begrenzt, werden aber gleichwohl durchgeführt.47

43 Fritsch, Melanie: „Musik und Computerspiel, oder: Wie das ‚Ludo-‘ in die Musikologie kam“, in: Hust, Digitale Spiele (2018), S. 385-396. 44 Y. Stingel-Voigt: Soundtracks virtueller Welten, S. 28f. Sie bezieht sich auf Caillois, Roger: Les jeux et les hommes, Paris: Gallimard 1958. 45 Melanie Fritsch, „Musik und Computerspiel“, S. 395. S. a. Fritsch, Melanie: Performing Bytes. Musikperformances der Computerspielkultur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. 46 Siehe: www.sssmg.org 47 Z. B. Wharton, Alexander/Collins, Karen: „Subjective Measures of the Influence of Music Customization on the Video Game Play Experience: A Pilot Study“, in: Game

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Nachvollziehbar sind Ergebnisse besserer Reaktionsgeschwindigkeit bei Autorennspielen ohne Musik,48 wenn man die musikpsychologischen Studien zum Autofahren kennt, nach denen in gefährlichen Situationen Hintergrundmusik stört.49 Buzzwörter sind Immersion in Virtuelle Welten und Flow-Zustand im Spiel. Hiermit wird einerseits das Eintauchen der Spielenden in die virtuelle Realität beschrieben – und untersucht –, andererseits geht es um einen besonderen Zustand von aktivem Handeln, wie er beim Musizieren oder eben beim Computerspielen erreicht werden kann. Die Versenkung in die Virtuelle Welt gelingt besser, wenn diese künstliche Welt verschiedene Sinne anspricht, wenn also auch Musik und Geräusche da sind. Die Musik kann durchaus extradiegetisch sein und die Geräusche müssen gut gemacht, aber nicht realistisch sein, da nach Samuel T. Coleridges These der Willing suspension of disbelief, also der freiwilligen Suspendierung des Unglaubens, in fiktionalen Welten durchaus Präsenz in einer Kunstwelt erfahren werden kann. Das Flow-Erlebnis kann andererseits zum Verlust von Zeit- und Ortsgefühl führen, eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf eine Tätigkeit kann das Gefühl von Präsenz negativ beeinflussen. Insofern sind die Begriffe nicht in eins zu setzen. Psychologische Studien zu Musik oder Klang und Computerspiel fragen also bekannte Themen ab und bringen vor allem im Gebiet von spielerischem Lernen anwendbare Ergebnisse. Doch die Spielindustrie selbst ist auch interessiert an Forschung, durch die sie die Popularität ihrer Produkte erhöhen kann. Fragen sollte man also immer auch nach dem Ziel von öffentlich finanzierter Forschung. Problematisch sehe ich folgende Beschreibung des Sonic Emotioneering: „What if we could inform the game engine of the player’s psychophysiological state (thus, their boredom/excitement level, their valence, and even their specific emotions at any point in time), and the game engine could then use this information to synthesize and process sounds in real time in order to more closely control the player’s emotional experience, to

Studies: the international journal of computer game research 11/2, http://game studies.org/1102/articles/wharton_collins (veröffentlicht: Mai 2011). 48 Yamara/Fujisawa/Komora

(2001),

zitiert

nach:

Grimshaw,

Mark/Tan,

Siu-

Lan/Lipscomb, Scott D.: „Playing with Sound: The role of music and sound effects in gaming“, in: Siu-Lan Tan et al. (Hg.), The Psychology of Music in Multimedia, Oxford: Oxford University Press 2013, S. 289-314, hier S. 300. 49 De la Motte-Haber, Helga/Rötter, Günther: Musikhören beim Autofahren, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1990.

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more fully engage and immerse the player, and to guide the player through a more satisfying emotional adventure?“50

Dieses Sonic Emotioneering, das Mark Grimshaw nicht nur spekulativ vorschlägt, sondern aktiv mitentwickelt, besteht also darin, die Reaktionen der spielenden Person anhand von Biofeedback abzufragen, indem beispielsweise der Hautwiderstand gemessen wird oder Gehirnregion-Aktivitäten, und anhand von programmierten Einstellungen die Musik bzw. den Spielverlauf direkt darauf reagieren zu lassen: Der Spieler ist zu lange Zeit überfordert, also setzt Musik ein, die für diese Person als beruhigend getestet wurde. Die Spielerin langweilt sich, also wird das Sounddesign so komplex, dass die Spielerin sich stärker konzentrieren muss.51 Warum gruselt mich das mehr als ein „Surivival Horror Online Game“? Vermutlich weil ich in einer Tradition der Avantgardemusik-Rezeption sozialisiert wurde, in der Wirkungsüberlegungen tabuisiert waren. Das Selbstverständnis der Komponierenden war von einer bewussten Distanzierung zur Manipulation von Massenemotionen der faschistischen Propagandamaschinerie geprägt. Schon emotionale Filmmusik galt als manipulativ. Die im Sonic

50 Grimshaw, Mark: „Computer Game Sound: From Diegesis to Immersion to Sonic Emotioneering“, in: Jens Gerrit Papenburg/Holger Schulze (Hg.), Sound as Popular Culture. A Research Companion, Cambridge, Massachusetts: MIT Press 2016, S. 325333, hier S. 329. Hervorhebungen JHS. „Wie wäre es, wenn wir die Game-Engine über den psycho-physiologischen Zustand des Spielers informieren könnten, also seinen Grad von Langeweile oder Aufregung, seine Valenz und sogar seine spezifische Emotion zu jedem beliebigen Zeitpunkt? Und wenn die Game-Engine diese Informationen dann nutzen könnte, um Klang in Echtzeit zu synthetisieren und prozessieren, mit dem Ziel, die emotionale Erfahrung des Spielers besser zu kontrollieren, den Spieler mehr zu engagieren und eintauchen zu lassen und den Spieler durch ein befriedigenderes emotionales Abenteuer zu leiten?“ (Übersetzung und Hervorhebung JHS). 51 „[Consumer biofeedback devices] monitor the player’s physiological responses through methods such as electroencephalography or electromyography […]. Their potential [in gaming] lies in the possibility to combine the data they generate with the real-time sound synthesis and processing techniques […] in order to create sounds that more immediately impact the player’s responses and emotions or to increase the perceived level of immersion. For instance, the tempo (pace) and loudness of music may accelerate with increasing heart rate or tightened grip on the remote.“ Grimshaw/Tan/Lipscomb: „Playing with Sound“, S. 292.

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Emotioneering angestrebte individuelle Affektkontrolle empfinde ich als deutlich bedrohlicher als Filmmusik, die nicht von außen auf meinen momentanen Zustand abgestimmt wird. Es geht hier nicht nur um Macht über Emotionen durch Entwickler, sondern um moralisch-ethische Fragen von Einflussnahmen und letztlich auch um die Gefahr der Instrumentalisierung. Dass Computerspiele nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern auch in der Ausbildung eingesetzt werden, ist bekannt. Wie Computerspiele für das Militär genutzt werden, hat beispielsweise der Filmemacher Harun Farocki in seiner Filminstallation-Reihe Ernste Spiele (2009/2010) thematisiert. Darin wurde sowohl die Vorbereitung von Soldaten auf den Einsatz als auch die Therapie von traumatisierten Veteranen am Computerspiel dokumentiert. Zweifellos wird die Wirkung des Einsatzes von Spielen im Militärbereich besser überwacht als der in der Unterhaltungsbranche. Mich hat überrascht, dass Grimshaws Forschung meines Wissens nicht öffentlich kontrovers diskutiert wird. Mein Vorschlag lautet: In einem interaktiven, flexiblen und individuellanpassbaren Medium wie dem Computerspiel könnte man die Studien zum Sonic Emotioneering als Spiel modellieren, sodass die Versuchspersonen mit den Einstellungen, die auf sie wirken sollen, selbst spielerisch umgehen können. Das Potenzial des Mediums ist die Beteiligung seiner Nutzenden. Das sollte die Forschung entwickeln.

MUSIKMACHEN Musik komponiert man, Musik spielt man, Musik macht man – gerade im Computerspiel. Dessen große Chance ist also, einen variableren Zugang zu Musik zu ermöglichen und damit das Musikmachen zu demokratisieren. Was vormals den Ruf hatte, jahrelangen Unterricht, teure Instrumente und großes Talent vorauszusetzen, wird zugänglicher.52 Games können als Kompositionstools eine spielerische Anleitung zum Komponieren geben. Games können als digitale Instrumente Lust auf das Erlernen von Musikinstrumenten machen. Games können den aktiven Umgang mit Musik eröffnen – im Sinne des Musicking53. Das

52 Das zeigt auch ein Teil einer Umfrage zu Musiziergewohnheiten und Computerspiel: Roth, Kevin: „Listening to Video Games. Der Musikgeschmack von Videospielern“, in: Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung, http://www.paidia.de/listening-tovideo-games/ (veröffentlicht: 20.02.2019). 53 Small, Christopher: Musicking: the meanings of performing and listening, Hanover u. a.: Wesleyan Univ. Press 1998.

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haben sie gemeinsam mit bestimmten Spielformen neuer Musik und Klangkunst, die beispielsweise publikumsinteraktiv eine Teilnahme erlauben, als Instrument spielerischen Zugang eröffnen oder selbst ein Game sind.54

54 Mein Dank geht an Dr. Yvonne Stingel-Voigt, Prof. Dr. Marion Saxer, Prof. Peter Kiefer, Juliane Seger, Sylvia Freydank, Internationales Musikinstitut Darmstadt.

Ein Polardiagramm für die Analyse gamifizierter audiovisueller Werke Marko Ciciliani

Dieser Beitrag1 beschreibt eine Methode zur Analyse von Werken, die von Elementen aus Computerspielen Gebrauch machen. Entwickelt wurde die Methode im Rahmen des künstlerischen Forschungsprojekts „GAPPP – Gamified Audiovisual Performance and Performance Practice“, das zwischen 2016 und 2020 am Institut für elektronische Musik und Akustik der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz angesiedelt war.2 Das Hauptinteresse bei diesem Projekt lag in der Untersuchung der ästhetischen Wirkung von Elementen aus Computerspielen im Kontext der aufführungsbasierten audiovisuellen Komposition. Wenn von aufführungsbasierten Kompositionen die Rede ist, soll hervorgehoben werden, dass es hierbei um Werke geht, die in einem konzertanten Kontext dargeboten werden und bei denen aufführende Performerinnen und Performer beteiligt sind. Ziel ist es nicht, sogenannte „music games“ zu produzieren, sondern zu erforschen, wie Verhaltensweisen und Konfigurationen, die für ein Computerspiel typisch sind, künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten im Bereich der experimentellen audiovisuellen Komposition erweitern.

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Dieser Beitrag wurde bereits auf Englisch in einer geringfügig abweichenden Fassung veröffentlicht: Ciciliani, Marko: „A Polar Diagram for the Analysis of Gamified Audiovisual Works“, in: Ciciliani, Marko/Lüneburg, Barbara/Pirchner, Andreas (Hg.), Ludified, Berlin: The Green Box 2021.

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GAPPP wird vom Österreichischen Wissenschaftsfonds im Rahmen des PEEKProgramms für künstlerische Forschung gefördert. Projektnummer: AR364-G24. Ich möchte meinen Teammitarbeiter*innen Dr. Barbara Lüneburg und Andreas Pirchner dafür danken, dass sie mir bei der Bewertung dieser Methode behilflich waren und mir in verschiedenen Entwicklungsstadien wertvolles Feedback gegeben haben.

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Für dieses Projekt wurden neue Arbeiten in Auftrag gegeben, die sich auf unterschiedliche Fragestellungen konzentrieren, die für die Forschung relevant sind. In der Forschung findet dabei ein trianguläres Forschungsdesign Anwendung, das dazu dient, die neu geschaffenen Werke anhand von drei unterschiedlichen Gesichtspunkten zu untersuchen: der Perspektive 1) der Autorinnen und Autoren der Arbeit, 2) der Interpretinnen und Interpreten und 3) des Publikums. Im Verlauf des Forschungsprojekts wurden knapp 20 neue Werke von zehn unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstlern geschaffen, die sich unter anderem stark in ihrem ästhetischen Ansatz, ihren technischen Dispositiven, den Rollen, die sie den Performerinnen und Performern zuweisen, oder der Art und Weise, wie sie sich auf das Publikum beziehen, unterscheiden. Mit dem wachsenden Repertoire wurde es eine stetig größer werdende Herausforderung, die teilweise sehr unterschiedlichen Werke miteinander zu vergleichen. Da es im Allgemeinen wenige analytische Methoden im Bereich der audiovisuellen Komposition und Aufführungspraxis gibt und da die hier vorliegende Kombination von Spielelementen und aufführungsbasierten Multimedia-Systemen zudem spezielle Eigenschaften und Kriterien mit sich bringt, musste eine geeignete Methode entwickelt werden, um sich diesen Werken analytisch zu nähern und sie schließlich miteinander zu vergleichen. In diesem Artikel stelle ich solch eine neue Methode vor. Dabei fließen Konzepte aus der Spieltheorie, der Komposition und der Performance-Analyse ein. Obwohl die Methode auf unsere spezifische Kombination aus Spielelementen, Performance und audiovisueller Komposition ausgerichtet wurde, könnte sie mit geringfügigen Anpassungen auch auf verwandte Dispositive außerhalb dieses speziellen Bereichs Anwendung finden.

1. EINFÜHRUNG Die Methode basiert auf einem Polardiagramm, das auf fünf Achsen zehn Parameter darstellt (siehe Abb. 1). Je nach Ausprägung eines einzelnen Parameters werden Werte auf der zugehörigen Achse grafisch eingetragen. Wenn ein Parameter eine Polarität zwischen zwei Begriffen darstellt, wie z. B. „Performer vs. System Agency“, entspricht die grafische Darstellung der Parameterbezeichnung auch der Anordnung der Begriffe auf der Achse. Das bedeutet, dass bei diesem Parameter die „Performer Agency“ auf dem äußersten Punkt der Achse, während die „System Agency“ im Mittelpunk des Diagramms angesiedelt ist. Umgekehrt ist es beispielsweise bei dem Parameter „Spontaneität vs.

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Planung“. Hier ist auf dem Diagramm der Begriff „Spontaneität“ in der Nähe des Mittelpunkts und der Begriff „Planung“ in Richtung des Außenpunkts, sodass dem auch die Polarität der Halbachse entspricht.

Abbildung 1: Das Polardiagramm zur Analyse von gamifizierten, aufführungsbasierten audiovisuellen Werken

Wurden den einzelnen Parametern Werte zugeordnet, werden diese anschließend durch gerade Linien miteinander verbunden (siehe Abb. 2-5). Dadurch ergibt sich eine charakteristische Form, die sich mit anderen Graphen vergleichen lässt, die aus der Analyse anderer Werke hervorgegangen sind. Ähnlich ausgeprägte Formen weisen auf Gemeinsamkeiten zwischen den Werken hin, die möglicherweise zunächst nicht offensichtlich sind. Umgekehrt weisen unterschiedlich geratene Formen spezifische Unterschiede zwischen Werken auf, die dann genauer untersucht werden können. Dieser Ansatz und insbesondere die zugrunde liegende Verwendung des Polardiagramms baut auf früheren Veröffentlichungen von Birnbaum, Magnusson und meiner eigenen Methode zur Analyse von Aufführungspraktiken in der

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elektronischen Musik auf.3 Im folgenden Kapitel werde ich zunächst das grafische Arrangement der Achsen und schließlich jede einzelne Achse mit den zugehörigen Parametern erläutern. Wo es sich anbietet, werde ich die Parameter mit kurzen Beispielen anschaulich machen. Im dritten Kapitel werde ich auf die latente Punktsymmetrie eingehen, die der Anordnung der Parameter paradigmatisch zugrunde liegt und die einen Einstieg in vergleichende Analysen bietet. Im vierten Kapitel werde ich vier unterschiedliche audiovisuelle Kompositionen, die im Rahmen unseres Forschungsprojekts entstanden sind, beschreiben, kurz analysieren und zwei davon miteinander vergleichen. Hier ist es das Ziel, die analytische Methode in der konkreten Anwendung besser verständlich zu machen und sie dabei auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Kapitel 5 bietet eine zusammenfassende Bewertung des Resultats, ehe ich im sechsten und letzten Kapitel auf den Nutzen der Verwendung von Kategorien im Kontext der künstlerischen Forschung und der darin verborgenen eventuellen Risiken eingehe.

2. DIE ACHSEN UND PARAMETER Jede der fünf durchgehenden Achsen des Polardiagramms kombiniert zwei Parameter, die sich auf das gleiche Phänomen oder auf miteinander verwandte Phänomene beziehen. Dabei richtet sich der Teil der Achse, der sich auf die obere Hälfte des Polardiagramms erstreckt, auf Fragen bezüglich kompositorischer Entscheidungen des analysierten Werks, während der Teil der Achse in der unteren Hälfte die Perspektive der Aufführenden in den Fokus stellt. Die fünf verschiedenen Achsen werden als Interface-Achse, Determinismus-Achse, Agency-Achse, Präsenz-Achse und Spiel-Achse bezeichnet. In den folgenden Absätzen werden die Achsen und ihre Parameter erläutert. Im Allgemeinen wird das gesamte audiovisuelle technologische System als eine einzelne Einheit des Werks betrachtet, mit der eine Aufführende bzw. ein

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Birnbaum, David [u.a.]: „Towards a Dimension Space for Musical Devices“, in: Proceedings of the International Conference on New Interfaces for Musical Expression (NIME), Vancouver 2005, S. 192-195; Magnusson, Thor: „An Epistemic Dimension Space for Musical Devices“, in: Proceedings of the International Conference on New Interfaces for Musical Expression (NIME), Sydney 2010, S. 43-46; Ciciliani, Marko: „Towards an Aesthetic of Electronic Music Performance Practice“, in: Proceedings of the ICMC|SMC, Athen 2014; Ciciliani, Marko/Mojzysz, Zenon: „Evaluating a Method for the Analysis of Performance Practices in Electronic Music“, in: Proceedings of the International Conference on Live Interfaces, Lissabon 2015.

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Aufführender interagiert und dabei in ein Verhältnis tritt. Beide werden in den folgenden Beschreibungen als singuläre Akteure behandelt: das technologische audiovisuelle System und die Aufführenden. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um eine Vereinfachung, da sowohl das technologische System aus sehr unterschiedlichen Komponenten bestehen kann, was sowohl die verwendeten Medien – z. B. Licht, Video, Klang – als auch unterschiedliche Reaktions- oder Verhaltensweisen betrifft. Entsprechend kann es sich natürlich auch um ein Werk handeln, das statt von einer einzelnen Person von mehreren Aufführenden oder einem ganzen Ensemble realisiert wird. Diese Komplexitätsreduktion wird in Kauf genommen, um übergeordnete Eigenschaften erkennbar zu machen. 2.1 Interface-Achse Die Interface-Achse beschreibt qualitativ die Mittel, die den Aufführenden für den künstlerischen Ausdruck zur Verfügung gestellt werden und die eine Schnittstelle zu dem technologischen System darstellen. 2.1.1 Erforderliche Expertise Der Teil der Interface-Achse im Kompositionsbereich des Diagramms gibt an, ob für die Anwendung des Interfaces Übung und Expertise erforderlich sind oder ob es sich um ein generisches Instrument handelt, das ohne eine vorausgehende umfangreichere Schulung verwendet werden kann.4 Da die Wahl eines bestimmten Interfaces oder Instruments normalerweise Teil des kompositorischen Entscheidungsprozesses ist, befindet sich dieser Parameter in der oberen Hälfte des Diagramms. Zu einem Expertise erfordernden Interface gehören viele traditionelle Instrumente, deren Beherrschung normalerweise viele Jahre der Übung erfordert, aber auch modernere Varianten von Game-Controllern, die oft bis zu 20 Parameter über unterschiedliche Knöpfe und Joysticks verfügbar machen und dementsprechend einen differenzierten Umgang in der Handhabung erfordern. Ein zugängliches Interface wäre dagegen ein einfach zu handhabendes Schlaginstrument oder die Betätigung einer übersichtlichen Anzahl von Schaltknöpfen.

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Die Begriffe „Interface“ und „Instrument“ werden in dem vorliegenden Kontext weitgehend als Synonyme verwendet, wobei sich letzterer eher auf traditionelle Instrumente bezieht.

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Bei dieser Frage werden Details bezüglich des Mappings und der Reaktionsempfindlichkeit nicht berücksichtigt, die Großteils von der Softwareimplementierung abhängen. Gerade aus Computerspielen sind viele Fälle bekannt, wo zwar sehr rudimentäre Interfaces verwendet werden, diese aber extrem präzise angewendet werden müssen und deren Bedienung somit eine nur mit Übung zu bewältigenden Aufgabe darstellt. Man denke hier z. B. an das klassische Computerspiel Pong, bei dem nur ein einzelner Potentiometer zu bedienen ist, um die Position eines virtuellen Tennisschlägers zu kontrollieren, was bei höherem Tempo eine große Herausforderung wird. Der Parameter „Erforderliche Expertise“ berücksichtigt solche softwareseitigen Koppelungen nicht, sondern gibt lediglich an, ob das Interface einem Publikum suggeriert, dass dessen Verwendung ein allgemeineres Wissen und Verständnis erfordert und damit den Eindruck erweckt, dass man die Handlung des Aufführenden auch selbst leicht bewerkstelligen könnte, oder ob eben eine besondere Expertise für die Bedienung vonnöten ist. Da die Verwendung von jedem Interface erlernt werden muss, ist die Entscheidung, ob etwas als „zugänglich“ erscheint, kritisch zu hinterfragen in dem Sinne, für welche Anwendergruppe so eine Einschätzung zutrifft. Gerade Interfaces aus der Spielindustrie scheinen für ein mit der Branche vertrautes Publikum oft spontan zugänglich zu sein, wobei sich das aber für Anwenderinnen und Anwender, die keine Erfahrung mit diesem Bereich haben, gänzlich anders darstellt. 2.1.2 Responsibilität Auf der Seite der Achse, die in den Performancebereich hineinragt, wird hier – im Unterschied zu dem unter 2.1.1 beschriebenen Parameter – das Interface einschließlich der Implementierung auf der Softwareseite beschrieben. Der Fokus liegt somit nicht mehr darauf, wie das Interface nach außen wahrgenommen wird, sondern wie es sich für die Aufführenden mit seinen gesamten Verhaltenscharakteristiken anfühlt. Dieser Parameter gibt an, ob die dem Performer zur Verfügung gestellte Kontrolle empfindlich und feinkörnig ist oder ob nur grobe Steuerungen möglich sind. Dies bezieht sich nicht nur auf die individuelle Wahrnehmung dessen, wie empfindlich ein einzelner Parameter erfasst und verarbeitet wird, sondern auch auf das allgemeine Steuerungsgefühl, das den Aufführenden vermittelt wird.

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2.2 Determinismus-Achse Diese Achse beschreibt, wie das technologische System algorithmisch gestaltet ist und wie sich dies auf die Aufführung überträgt. Dabei geht es darum, ob das Verhalten des technologischen Systems konsistent und vorhersagbar ist oder ob bei jeder Aufführung unerwartete Ereignisse auftreten können. Diese Fragen beziehen sich auf die algorithmische Anlage des Systems und wie sich dieses auf die Aufführung überträgt. 2.2.1 Determiniertheit Dieser Parameter gibt an, ob die Komposition deterministisch angelegt ist oder viele zufällige oder anderweitig unvorhersagbare Prozesse involviert sind. Der Unterschied zwischen Zufall und Determiniertheit sollte hier qualitativ verstanden werden. Es gibt viele vollständig determinierte Prozesse, deren Resultate eine unvorhersagbare Qualität haben.5 Bei diesem Parameter ist es wichtig, die Auswirkungen der Algorithmen zu beobachten. Selbst umfangreich eingesetzte zufallsgesteuerte Prozesse können nämlich eine Arbeit lediglich geringfügig charakterisieren, wenn diese nur auf Detailebene wirksam werden. Als Beispiel aus dem musikalischen Bereich kann hier variazioni e un pianoforte meccanico von Klarenz Barlow aus dem Jahr 1986 herangezogen werden. Hierbei handelt es sich um ein generatives Stück für computergesteuertes Klavier, das zwar in fast jedem Detail bei jeder Aufführung anders erklingt, im Gesamten aber eine klar wiedererkennbare Form und Dramaturgie ergibt und im Gesamten deshalb eine weitgehend determinierte Qualität hat. Vergleichsweise eingreifender sind meistens zufällige Entscheidungen, die beispielsweise die Erzeugung formaler Elemente oder die Wahl des klanglichen Materials betreffen. Henri Pousseurs Komposition Scambi aus dem Jahr 1956 besteht aus Anleitungen, die sowohl die Wahl des klanglichen Materials als auch die musikalische Form zufälligen Prozessen unterwerfen. Folglich gibt es sehr unterschiedliche Versionen dieses Stücks – die Anlage der Komposition wäre demnach als nicht-determiniert zu bewerten.

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Dass es in digitalen Systemen in der Regel nur pseudo-zufällige Prozesse gibt, spielt hier wegen der qualitativen Bewertung keine Rolle.

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2.2.2 Spontaneität vs. Planung Dieser Parameter beschreibt, wie sich die unter 2.2.1 beschriebene Anlage der Komposition auf die Aufführung und die Erarbeitung einer Interpretation überträgt. Handelt es sich um ein Stück, das bei jeder Aufführung sehr unterschiedlich ausfällt, erfordert das oft von den Aufführenden eine spontane Reaktions- und Anpassungsfähigkeit. Eine Komposition, die jedes Mal ähnlich oder gar identisch erscheint, erlaubt eine andere Art von Planung bei der Erarbeitung einer Interpretation. Die Ausarbeitung jeder Interpretation setzt voraus, dass wesentliche Aspekte des Stücks im weitesten Sinne konstant bleiben und damit wiederholbar sind. Solch eine Wiederholung kann aber auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Selbst wenn Unvorhersehbarkeiten und auf Seiten der Aufführenden entsprechende Flexibilitäten vorgesehen sind, hat man es mit einer Konsistenz zu tun, auf die die Aufführenden im Sinne einer Interpretation vorbereitet sein können: sie sind darauf vorbereitet, dass sie in bestimmter Weise und in einem bekannten Rahmen spontan werden reagieren müssen. Als Beispiel hierfür kann Cobra (1984) von John Zorn dienen, das den Aufführenden einerseits erlaubt, im Rahmen vorgegebener Regeln frei zu improvisieren. Andererseits gibt es verschiedene Regeln die u.a. die Interaktion zwischen den Aufführenden anleiten, sodass bei jeder Realisation dieser Komposition dieser vorgegebene Rahmen jede gewählte Handlung in einen bestimmten Kontext setzt. Handelt es sich um Kompositionen, die genaue Details vorgeben und danach verlangen, dass diese bei jeder Realisation ausgeführt werden, erlaubt das die Planung von Details der Interpretation, wie sie bei einem Stück wie Cobra nicht möglich wären. Das würde u.a. auf alle Werke, die traditionell notiert sind, zutreffen und beschreibt somit auch die klassische Aufführungspraxis. Nun haben wir es hier aber mit Kompositionen zu tun, die in irgendeiner Weise mit Spielelementen arbeiten. Das hat zur Folge, dass man den Aufführenden einen flexiblen Raum von Handlungsmöglichkeiten bietet, was die Option einer traditionell notierten Partitur in der Regel von vornherein ausschließt. Die Unterscheidung zwischen „Spontaneität und Planung“ ist dabei dennoch deutlich auszumachen, da sich die Grenzen solch eines Raums von Handlungsmöglichkeiten in sehr unterschiedlichem Rahmen manifestieren können. Zusammengefasst beschreibt dieser Parameter also, ob die Art der Interpretation einer gegebenen Komposition in hohem Maße nach spontanen Handlungen und Entscheidungen verlangt oder ob ihr Verlauf in solch einer Detailhaftigkeit vorgegeben ist, dass eine Planung der Interpretation aller Feinheiten der Ausführung möglich ist.

Ein Polardiagramm für die Analyse gamifizierter audiovisueller Werke | 225

2.3 Agency-Achse Diese Achse beschreibt die Verteilung von Agencies in der grundlegenden Gestaltung des Werks und wie diese auf deren Aufführung eine Wirkung haben.6 2.3.1 Performer vs. System Agency Dieser Parameter beschreibt, ob die dominierenden Agencies in der Komposition von den Aufführenden ausgehen oder ob sie im Design des technologischen Systems implementiert sind. Wenn ein Akteur eine aktive Rolle übernimmt, zwingt er in einem direkten Beziehungsgeflecht – und um solche handelt es sich in der Regel in spielbasierten Systemen – den anderen Akteur dazu, sich reaktiv zu verhalten. Performerbasierte Agencies liegen in der Regel dann vor, wenn das System als eine Erweiterung des Instruments der Aufführenden wirkt. Jedes traditionelle Instrument ist durch verschiedenartige Einschränkungen und eventuell auch Widerspenstigkeiten charakterisiert. In der Gesamtheit ist das Instrument im Verhalten aber konsistent und somit erlernbar. Bei guter Beherrschung handeln die Aufführenden als Akteure und nicht umgekehrt. Durch ihr Spiel „zwingen“ sie das Instrument sozusagen dazu, sich in bestimmter Weise zu verhalten. Umgekehrt verhält es sich aber z. B. bei Instrumenten, deren Verhalten nicht vollständig vorhergesehen werden kann, so wie es bei dem No-Input Mixer der Fall ist. Hierbei handelt es sich um ein konventionelles Mischpult, bei dem die Ausgänge mit den Eingängen verbunden werden, sodass interne Rückkopplungen entstehen, die verschiedenartige Klänge produzieren. So einen No-Input Mixer kann man durch bestimmte Einstellungen in Zustände versetzen, in denen sie sich instabil verhalten. In so einer Situation sind Aufführende in einer zum Teil reaktiven Rolle, da sie sich dem Verhalten des Instruments ständig anpassen

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Hier wird bewusst der englische Begriff „agency“ verwendet, da es keine von der Bedeutung her deckungsgleiche Übersetzung im Deutschen gibt. Der damit verknüpfte Begriff „agent“ wiederum, wird mit dem deutschen Terminus „Akteur“ übersetzt. Gemeint sind hiermit Knotenpunkte in einem Beziehungsgeflecht, die entweder autonom handlungsfähig sind oder in anderer Weise eine Änderung eines Zustands bewirken können. Eine Agency kann von den Aufführenden oder auch von dem technologischen System ausgehen. Beide sind in so einem Fall als Akteure tätig und verfügen über eine Agency. Ein Akteur kann aktiv oder auch reaktiv handeln, oder auch in einem neutralen passiven Zustand sein.

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müssen. Es entsteht eine dialogartige Situation zwischen Instrument und den Aufführenden, bei der ersteres über mindestens gleich viel Agency verfügt wie letztere. 2.3.2 Gestaltungsspielraum Dieser Parameter beschreibt, inwieweit die Aufführenden die Komposition flexibel gestalten können. Wenn während der Aufführung z. B. hauptsächlich auf proaktive Verhaltensweisen reagiert werden muss, die vom System ausgehen, ist zu erwarten, dass der gesamte Gestaltungsspielraum der Aufführenden geringer ist als in einer umgekehrten Beziehung. Als Beispiel kann hier meine eigene Komposition Atomic Etudes (2016) herangezogen werden.7 Bei diesem Stück besteht die Aufgabe der Aufführenden darin, auf Bewegungen von Trajektorien auf einem Display von 16x16 LEDKnöpfen zu reagieren. Die dominierende Agency ist hier eindeutig auf der Seite des Systems und hat zur Folge, dass man bei der Aufführung zwar durchaus noch Einfluss auf die zeitliche Gestaltung der Komposition hat, ansonsten aber in der reaktiven Rolle verbleibt. Vergleichsweise groß ist der Gestaltungsspielraum bei Christof Ressis Komposition Game Over, die weiter unten noch im Detail besprochen wird (siehe 4.1.2). Hier müssen die Aufführenden in keiner Weise auf Aktionen des Systems unmittelbar reagieren, was einen entsprechend größeren Gestaltungsspielraum mit sich bringt. 2.4 Präsenz-Achse Diese Achse beschreibt, ob sich Handlungen der Aufführenden auf das Verhalten des Systems auswirken und ob davon gesprochen werden kann, dass in dem Verhalten des Systems – z. B. durch generierte Klänge oder Visualisierungen – die Wirkung der Aufführenden auszumachen ist. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass in bestimmten Fällen Technologie die Präsenz der Aufführenden nicht nur fortspinnen, sondern sie sogar verstärken kann. Diese Auffassung schließt sich an die von Philip Auslander 8 vertretene Position an, dass Technologie nicht im Widerspruch zur Präsenz der Aufführenden in einer Aufführungssituation steht, was sich entgegen der von u.a. Erika

7

Ein Video ist aufrufbar auf: https://vimeo.com/189931805 (05.04.2020).

8

Auslander, Philip: Liveness – performance in a mediatized culture, London: Routledge 2

2008.

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Fischer-Lichte vertretenen Auffassung positioniert, die behauptet, Präsenz entstünde nur in der direkten und gerade nicht technologisch vermittelten Begegnung zwischen Publikum und Aufführenden.9 2.4.1 Input Data Mapping Dieser Parameter beschreibt, ob rein quantitativ gesehen eine große Anzahl von Daten aus dem Spiel der Aufführenden extrahiert wird, die zur Ansteuerung anderer akustischer oder visueller Ereignisse verwendet werden. Dazu gehören beispielsweise Methoden wie Amplitude Following, Pitch Detection, klangfarbliche Deskriptoren oder auch das Erfassen von körperlichen Bewegungen mittels Motion Tracking oder Accelerometern. 2.4.2 Liveness Dieser Parameter beschreibt die Reaktionsfähigkeit des Systems auf Handlungen der Aufführenden. Der Begriff Liveness wird hier im Sinne von John Crofts Beschreibung als eine „ästhetische Liveness, über die […] ästhetisch bedeutsame

Änderungen im Eingangssignal auf ästhetisch bedeutungsvolle Änderungen im Ausgangssignal übertragen werden“10, verstanden. Mit anderen Worten gibt dieser Parameter an, inwieweit das Verhalten des Systems die Handlungen der Aufführenden widerspiegelt, indem es z. B. als Teil oder als Erweiterung des Instruments erlebt wird. Dies bezieht sich nicht nur auf das klangliche Verhalten des Systems, sondern auch auf eventuelle visuelle Übersetzungen der Handlungen der Aufführenden. Hier ist festzuhalten, dass der Begriff Liveness meistens eine Qualität beschreibt, die für das Publikum erlebbar ist. Da wir es hier aber mit der Hälfte des Polardiagramms zu tun haben, die sich auf die Perspektive der Aufführenden bezieht, ist auch dieser Parameter unbedingt so zu beschreiben, wie er sich aus deren Sicht darstellt.

9

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, insbesondere S. 47.

10 Original: „aesthetic liveness, by which [...] aesthetically meaningful differences in the input sound are mapped to aesthetically meaningful differences in the output sound“ [Übersetzung des Verfassers, Betonung im Original], in: Croft, John: „Thesis on Liveness“, in: Organised Sound 12/1 (2007), S. 59-66, hier S. 61.

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2.5 Spiel-Achse Diese Achse bezieht sich darauf, wie sich spielbezogene Aspekte im Kontext der betrachteten Arbeit manifestieren. 2.5.1 Paidia vs. Ludus Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriffen geht auf den Spieltheoretiker Roger Caillois zurück: „Paidia beschreibt eine ungestüme, freie und improvisatorische Art von Spiel, während Ludus für regelgebundenes, reguliertes und formalisiertes Spiel steht.“11 Ersteres ermutigt in der Regel einen explorativen Ansatz mit freien Variationen für die Spielenden, während sie letzteres in ein starreres Regelwerk versetzt, welches ihr Verhalten bestimmt. Auch im vorliegenden audiovisuellen Kontext kann man zwischen diesen Ansätzen und unzähligen dazwischen liegenden Varianten unterscheiden. Welches dieser beiden Konzepte implementiert wird, ist eine Entscheidung, die die allgemeine Gestaltung der Komposition betrifft und meistens die kompositorische Makroebene der Gestaltung betrifft. 2.5.2 Regeldominanz Dieser Parameter bezieht sich auf das gleiche Phänomen wie 2.5.1, nämlich die Balance zwischen Paidia und Ludus. Im Gegensatz zum vorhergehenden Parameter geht es hier aber explizit darum zu beschreiben, wie diese Qualitäten von den Aufführenden erlebt werden. In der Praxis kann es zu Abweichungen kommen gegenüber demjenigen Wert, der dem vorhergehenden Parameter zugeschriebenen ist, wenn beispielsweise ein strenges Regelkorsett vorherrscht, die Aufführenden neben dem Erfüllen dieser Vorgaben aber noch viele andere Gestaltungsmöglichkeiten haben. Wie die Erfahrung in unserem Projekt gezeigt hat, führt selbst bei Kompositionen, die von strikten spielbezogenen Regeln dominiert sind, die bloße Einhaltung der Regeln zu keiner zufriedenstellenden Aufführung. Bei der Realisierung der Komposition müssen die Aufführenden das Regelwerk in eine künstlerische Interpretation integrieren. Während Spiele in erster Linie an

11 „Paidia represents wild, free-form, improvisational play, whereas ludus represents rulebound, regulated, formalized play.“ Zitiert nach: Salen, Katie/Zimmerman, Eric: Rules of Play. Game design fundamentals, Cambridge: MIT Press 2004, S. 308 [dt. Übersetzung M.C.].

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Spielerinnen und Spieler adressiert sind,12 vermitteln Aufführende ihre Interpretation einer Arbeit an ein Publikum, auch wenn es, wie z. B. in einer Probesituation, nur fiktiv anwesend ist. Sie spielen also nicht für sich, sondern präsentieren anderen ihr eigenes Verständnis der Arbeit. Dies verlangt nach einer Spielweise, die dieser Situation gerecht wird. 13

3. PUNKTSYMMETRIE ALS VERGLEICHSSCHABLONE Die Achsen und Parameter sind so angeordnet, dass eine hypothetische Standardsituation zustande kommen könnte, bei der die zwei Parameter der gleichen Achse ähnliche Werte haben, was insgesamt zu punktsymmetrischen Diagrammen führen würde. Das bedeutet konkret, dass eine hohe Ausprägung eines einzelnen Parameters einer Achse – hypothetisch gesehen – zu einer hohen Ausprägung des komplementären Parameters derselben Achse führt. Das beruht auf folgenden Annahmen: • Bei der Interface-Achse wäre zu erwarten, dass ein Interface, das zur Bedienung

umfangreiche Übung erfordert, mehr Kontrolle bzw. künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten bietet als ein generisches Interface. • Bei der Determinismus-Achse wird angenommen, dass ein deterministisches Design wahrscheinlich zu einer vorhersehbareren Situation für die Aufführenden führt als eines, das auf vielen zufälligen Entscheidungen aufbaut. • Bei der Agency-Achse wird erwartet, dass eine Situation, in der entscheidende Agencies dem Willen der Aufführenden unterliegen, diese auch über einen höheren interpretatorischen Gestaltungsspielraum verfügen.

12 Durch die rezentere Entwicklung von e-Sports, Gaming Channels oder die Entwicklung von Machinimas wird diese Auffassung zunehmend in Frage gestellt, sodass einige Theoretiker dazu übergehen, Computerspiele als Performance zu begreifen. Siehe dazu u. a. Leino, Olli Tapio: „Chaos at the Europort: Performance, Empathy and Materiality in Euro Truck Simulator 2“, Paper presented at 11th International Philosophy of Computer Games Conference (PCG2017), Krakau 2017. 13 Für eine ausführliche Diskussion siehe Lüneburg, Barbara: „Between ‚Ludic Play‘ and ‚Performative Involvement‘: Performance Practice in Audiovisual Gamified Multimedia Artworks“, in: eContact 20/2 (2018), online verfügbar unter: https://econtact. ca/20_2/lueneburg_gamifiedmultimedia.html

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• In Bezug auf die Präsenz-Achse wird angenommen, dass zahlreiche und

ausgeprägte Mappings für die Aufführenden das Gefühl der Liveness während des Spiels erhöhen, da ihre Handlungen vielfach in Daten umgewandelt und weiter verarbeitet werden. • Bei der Spiel-Achse wird wiederum erwartet, dass ein Design, das sich am Paidia-Konzept orientiert, eher dazu führt, dass ein künstlerisch freieres Spiel zur Entfaltung kommt als in einem strikteren regelbasierten Kontext. Würden all diese Annahmen tatsächlich zutreffen, sollte der Wert, der einem Parameter einer Achse zugewiesen wird, sich auf dem gegenüberliegendem Teil der Achse widerspiegeln. Die Gesamtform des Diagramms wäre daher punktsymmetrisch. Bei der Anwendung dieser Methode auf konkrete Kompositionen sind die Parameter auf der gleichen Achse jedoch selten tatsächlich symmetrisch. Zur Verdeutlichung soll ein Beispiel dienen, das die Präsenz-Achse betrifft. Es wäre denkbar, dass bei einem Werk das Spiel der Aufführenden in mannigfaltiger Weise in Daten umgewandelt wird (→ hoher Wert des „Input Data Mapping“-Parameters). Wenn diese Daten für die Aufführenden jedoch in keiner transparenten und nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden, kann es durchaus sein, dass das Erlebnis von Liveness gering ist (→ geringer Wert des „Liveness“Parameters), was zu einer Asymmetrie auf dieser Achse führen würde. Auch eine umgekehrte Asymmetrie wäre vorstellbar: so kann nämlich das geschickte Verknüpfen von wenigen Parametern zu einem sehr hohen Gefühl von Liveness verhelfen, wenn deren Wirkung für die Aufführenden nachvollziehbar und gut zu steuern ist. Die Annahme der Punktsymmetrie als hypothetisches Standardmodell stellt ein hilfreiches Kriterium bei der Analyse eines Diagramms dar. So ist es gerade interessant, die Analyse eines Diagramms damit zu beginnen, dass man nach Asymmetrien sucht und genauer untersucht, warum diese zustande gekommen sind. Auf diese Weise können bestimmte individuelle Merkmale einer Arbeit schnell erkannt und benannt werden. Die in Kapitel 4 folgenden Beispiele und deren Analysen sollen das anschaulich machen.

4. BEISPIELE Aus Platzgründen können keine sehr ausführlichen Analysen von Beispielen präsentiert werden. Um zu zeigen, wie Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Kompositionen zu einer bestimmten Diagramm-Form führen und

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diese anschließend analysiert und interpretiert werden können, werden im Folgenden vier Beispiele in knapper Form vorgestellt. Die Abbildungen 2-5 zeigen die Diagramme meiner Analysen der Arbeiten: To Kill Two Birds With One Stone von Martina Menegon und Stefano D’Alessio, Game Over von Christof Ressi, Conditional Love von Simon Katan sowie meiner eigenen Komposition Kilgore.14 Ich werde die vier Arbeiten zunächst beschreiben und anschließend die Diagramme miteinander vergleichen und eine Analyse einzelner Aspekte präsentieren. 4.1 Analysierte Arbeiten und Diagramme 15 4.1.1 To Kill Two Birds With One Stone von Martina Menegon und Stefano D’Alessio To Kill Two Birds With One Stone ist eine Arbeit für zwei Aufführende, die auch von Publikumsmitgliedern realisiert werden kann. Sie besteht aus einer Adaption des Spieleklassikers Pong – einem der ersten kommerziell erhältlichen Computerspiele aus dem Jahr 1972 – in Kombination mit dem vermutlich jahrhundertealten Spiel Stein, Schere, Papier. To Kill Two Birds verwendet einen Aufbau, der einem Tischtennistisch nachgeahmt ist. Die zwei Aufführenden stehen sich gegenüber, doch der Tisch besteht aus einem großen flach liegenden Bildschirm, auf dem der gesamte visuelle Teil der Komposition stattfindet und der den Aufführenden visuelles Feedback zu ihren Aktionen gibt. To Kill Two Birds wird mit zwei physikalischen Interfaces, und zwar LeapMotions16, aufgeführt, die auf den Seiten der Aufführenden am Rand des Tisches befestigt sind. Die Aufführenden müssen ihre Hand horizontal über dem Interface bewegen, das dann die Bewegung auf ein virtuelles 3D-Modell einer Hand auf dem Bildschirm überträgt. Diese virtuelle Hand übernimmt die Funktion des „Tennisschlägers“ des Spiels Pong. Während bei Pong in Analogie zu einem Tennisspiel ein kleines Quadrat zwischen den Spielenden wie ein Ball hin- und hergespielt wird, ersetzt stattdessen bei To Kill Two Birds das Modell einer weiteren virtuellen Hand diesen Ball. Diese Hand

14 Videodokumentationen der hier analysierten Arbeiten sind unter folgendem Link einzusehen: www.vimeo.com/channels/polardiagramm 15 Vgl. die Abbildungen 2–5. 16 https://www.leapmotion.com/ (03.07.2019).

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nimmt aber immer wieder andere Haltungen ein, entweder eine offene Handfläche, ein V-Zeichen oder eine Faust. Diese Haltungen repräsentieren beim Spielen von Stein, Schere, Papier ebendiese Materialien. Die beiden Aufführenden sind in einem Wettstreit miteinander und müssen die hin und her schwebende Hand nicht nur dem Kontrahenten bzw. der Kontrahentin zuspielen, sondern entsprechend der Regeln von Stein, Schere, Papier dabei die richtige Handhaltung annehmen: Papier (flache Hand), um die Hand zurückzuspielen, wenn sie die Haltung Stein einnimmt; Stein (Faust) als Reaktion auf Schere; und Schere (V-Zeichen) als Antwort auf Papier. Das LeapMotion-Interface erkennt nicht nur die horizontale Position der Hand, sondern auch die Positionen der einzelnen Finger und kann damit die unterschiedlichen Gesten unterscheiden. Die musikalische Komponente der Arbeit entsteht dadurch, dass abhängig von der Haltung aller beteiligten virtuellen Hände sämtliche Kombinationen von Berührungen dieser virtuellen Hände mit jeweils anderen Klängen versehen werden. Die von den Aufführenden gesteuerten Ereignisse generieren also eine sehr reichhaltige und variationsreiche klangliche Textur, die direkt an die Ereignisse auf dem Monitor gekoppelt ist. Das Stück hat eine transparente Regel- und Zielstruktur, die auch von einem nicht eingeweihten Publikum schnell erfasst werden kann. Jede Aufführung durchläuft ein sich steigerndes dreistufiges Leveldesign, wobei die Gesamtdauer einer Aufführung nur wenige Minuten dauert. Die Arbeit kann in einem konzertanten Rahmen aufgeführt werden, ist jedoch in erster Linie als Installation konzipiert. Da sie auf zwei populären Spielen beruht, die sogar einem Nicht-Gamer-Publikum meistens bekannt sind, kann sie auch spontan von Besucherinnen und Besuchern realisiert werden. 4.1.2 Game Over von Christof Ressi Game Over übernimmt die Ästhetik eines 2D-Plattform bzw. Jump ’n’ RunSpiels. Das Werk wurde von Christof Ressi für und mit dem Klarinettisten Szilárd Benes in enger Zusammenarbeit entwickelt. Bei der Aufführung steht der Klarinettist frontal vor einem Projektionsschirm, mit dem Rücken zum Publikum. An dem Instrument ist ein Beschleunigungsmesser angebracht. Durch Bewegen der Klarinette in verschiedene Richtungen kann Benes einen kleinen Avatar auf einem Projektionsbildschirm bewegen und dadurch in vielfältiger Weise mit der Umgebung interagieren. Die Arbeit ist als Open-World-Design ohne Regeln und Ziele konzipiert. Die dabei präsentierte Welt umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Umgebungen, die sich durch spezifische visuelle Gestaltungen sowie unterschiedliche musikalische Möglichkeiten auszeichnen. Zusätzlich zu den

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unterschiedlichen Umgebungen gibt es ortsspezifische Objekte und NPCs17, die alle ein unterschiedliches Verhalten aufweisen und andere klangliche Merkmale mit sich bringen. Die Exploration der unterschiedlichen Umgebungen wirkt formgenerierend, da jede Umgebung mit ihren Eigenschaften eine bestimmte Atmosphäre und klangliche Umgebung schafft. Benes navigiert durch die Umgebungen auf der Klarinette improvisierend und führt dabei die körperlichen Gesten aus, die den Avatar in die gewünschte Richtung steuern. Das digitale System reagiert, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht auf das akustische Signal der Klarinette. Technisch gesehen erfolgt die Navigation also unabhängig von dem musikalischen Spiel des Klarinettisten. In der tatsächlichen Umsetzung von Benes ergibt sich jedoch eine enge Verbindung zwischen dem musikalischen Klangmaterial und den körperlichen Gesten. Da sich das Grunddesign von Game Over an einem Open-World-Design orientiert, liegt es in Benes Kontrolle, wie lang eine Aufführung des Werks dauert. Die kürzesten Aufführungen dauern um die 10 Minuten. Möchte Benes aber das volle Potential der „Welt“ erkunden, führt dies zu Aufführungen mit einer Dauer von 30 bis 45 Minuten. Eine Besonderheit ist, dass Ressi die Welt immer wieder neu gestaltet und die Regionen mit den unterschiedlichen Charakteristika neu miteinander verschachtelt. Zusätzlich gibt es zwischen den beiden Künstlern die Absprache, dass Ressi für jede Aufführung Überraschungen einbaut, z. B. indem er die räumliche Gestaltung der digitalen Welt verändert, sodass sich Benes nie darauf verlassen kann, dass er die Spielumgebung genau so vorfindet, wie er sie in den letzten Proben kennengelernt hat. Das bedeutet, dass jede Aufführung tatsächlich unerwartete Ereignisse für Benes in sich birgt und so von ihm Spontaneität, Reaktionsgeschwindigkeit und musikalisches Anpassungsvermögen fordert.

17 NPC steht für non-player-character. Es handelt sich dabei um virtuelle Lebewesen im digitalen Spiel, die algorithmisch gesteuert sind und also nicht vom Ausführenden direkt kontrolliert werden können.

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Abbildung 2 und 3

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Abbildung 4 und 5

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4.1.3 Conditional Love von Simon Katan In Conditional Love übernimmt das Publikum die Rolle der Aufführenden. Mit Smartphones oder Tablets können Zuschauerinnen und Zuschauer verschiedene Aktionen ausführen, während das Stück durch unterschiedliche Abschnitte fortschreitet. Die Aktionen bestehen hauptsächlich daraus, auf verschiedene Weise über die Fläche der Touchscreens zu streichen. Das Voranschreiten des Stücks wird vom Komponisten überwacht, der die verschiedenen Aktionen des Publikums beobachtet und entsprechend die Wechsel von Formteil zu Formteil einleitet. Die Arbeit ist von der Anlage her entwicklungsorientiert und lässt sich in zwei Hauptabschnitte teilen. Am Anfang bekommt das Publikum nach einer musikalischen Einleitung über einen Text, der auf dem Touchscreen ihres Geräts eingeblendet wird, die Anweisung, über diesen in einer bestimmten Weise zu streichen. Das führt dazu, dass eine zunächst runde fleischfarbene und organisch anmutende Form auf den Geräten sichtbar wird, die auf das Streichen reagiert und dabei auf dem Gerät Klänge produziert. Immer wieder bekommt das Publikum per Text neue Anweisung, die Art des Streichens in bestimmter Weise zu variieren, was sowohl zu klanglichen Abwandlungen und Verdichtungen führt, als auch die auf den Displays abgebildete Gestalt in eine intensiver werdende Modulation und Pulsierung versetzt, bis es in der Animation nach einer Kontraktion ejakulationsartig ein (virtuelles) Sekret ausscheidet. Diese Ausscheidung ist wiederum von einem Klang einer herausspritzenden Flüssigkeit begleitet, sodass man als Publikumsmitglied mitbekommt, wenn Nachbarinnen und Nachbarn diesen Punkt in der Entwicklung erreicht haben. Auf einem Projektionsschirm, der bis jetzt dunkel war, werden einen Sekundenbruchteil nach dem Moment der „Ejakulation“ Farbkleckse sichtbar, was den Eindruck vermittelt, die mobilen Geräte des Publikums hätten tatsächlich eine Flüssigkeit auf den Schirm „gespuckt“. Während anfangs alle Klänge ausschließlich aus den mobilen Geräten herauskamen, wurde sehr allmählich während des beschriebenen Prozesses über Lautsprecher ein statischer synthetischer Klang eingeblendet, der zu dem Zeitpunkt, wenn der Projektionsschirm zur Verwendung kommt, eine deutliche Lautstärke und Präsenz angenommen hat. Hiermit wird der Übergang in den zweiten Teil der Komposition eingeleitet. In diesem Teil können die Publikumsmitglieder die Kleckser auf der Leinwand, die vermeintlich von ihnen erzeugt wurden, mit ihrem mobilen Gerät auf dem Schirm navigieren, wobei diese eine linienartige Spur hinterlassen. Das Bild wird durch die Spuren der überlagerten Bewegungen allmählich komplexer, die Beweglichkeit der Farbflecke wird jedoch immer schwerfälliger und kommt

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schließlich ganz zum Erliegen, was das Ende der Komposition einleitet. Dieser zweite Teil ist klanglich flächiger und geräuschhaltiger als der erste, der hauptsächlich von den Überlagerungen der Gesten auf den Schirmen der Mobilgeräte bestimmt war. 4.1.4 Kilgore von Marko Ciciliani Kilgore ist ein audiovisuelles Werk für zwei Aufführende, denen jeweils eine Projektionsleinwand zugeordnet ist. Auf den Leinwänden ist eine relativ umfangreiche und komplexe 3D-Landschaft zu sehen. Die Aufführenden spielen Instrumente, wobei die Wahl der Instrumente variabel ist, mit der Einschränkung, dass ein Instrument beteiligt sein muss, das verstärkt wird und kontrollierte Rückkopplungen realisieren kann (z. B. eine EGitarre oder verstärkte Violine). In den zwei umfangreichsten Teilen des insgesamt fünfteiligen Werks legen die Aufführenden jedoch ihre Instrumente ab und navigieren mit einem Game-Controller einen Avatar durch die ihnen zugeordnete virtuelle 3D-Landschaft. Mit dem Avatar werden unterschiedliche Handlungen und Aufgaben verrichtet, wodurch die Komposition klanglich zur Entfaltung kommt. Die grundsätzliche Beziehung zwischen den Aufführenden ist konkurrierend – sie verfolgen verschiedene Aufgaben, die sie versuchen erfolgreich abzuschließen. In den drei Prä-, Inter- und Postludien verwenden die Aufführenden ihre Instrumente. Begleitet werden die instrumentalen Aktionen durch weitestgehend vorproduzierte audiovisuelle Sequenzen. Im Präludium bilden regelgebundene Rhythmus- und Melodiebildungen die Grundlage, die die Aufführenden in einer engverschachtelten Weise miteinander realisieren. Nach ca. 2-3 Minuten erfolgt der Übergang zum ersten Teil, der mittels der Game-Controller in der virtuellen 3D-Landschaft ausgeführt wird. Es handelt sich hierbei um eine karge und felsige Landschaft, in deren Mitte sich ein See mit einer Insel und einem Haus modernerer Bauweise befindet. Die Aufgaben, die die Aufführenden mittels ihrer Avatare realisieren müssen, erfolgen in diesem Teil ausschließlich in der Landschaft um den See herum. Sie bestehen in erster Linie aus dem Sammeln von Objekten, was zu einer zunehmend dichter werdenden synthetischen Klangtextur führt, die sich schließlich in einem Höhepunkt entlädt und auflöst. Während des folgenden Interludiums improvisiert einer bzw. eine der Aufführenden Melodien mittels Rückkopplungen, die in Interaktion mit einem Verstärker auf der Bühne ausgeführt werden.

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Es folgt nun der zweite Teil, der in der virtuellen Landschaft realisiert wird. Die beiden Aufführenden überqueren zunächst den See und erfüllen auf der Insel Aufgaben, um schließlich das Haus betreten zu können. Während der erste Teil in der virtuellen Landschaft musikalisch von teilweise dichten harmonischen Texturen geprägt wurde, sind bis zu diesem Zeitpunkt die Klänge, die von den Aufführenden bewirkt werden, entweder melodisch oder geräuschhaft. Sobald das Haus betreten wird, werden durchdringende rhythmische Patterns ausgelöst, die die Aufführenden durch bestimmte Handlungen unterbrechen müssen, was dann aber immer wieder neue rhythmische Patterns hervorbringt, bis sich auch hier die Textur zunächst rhythmisch auflöst und sich dann in einem mehrschichtigen Klangkonglomerat entlädt. An dieser Stelle wird ein Gewinner bzw. eine Gewinnerin ermittelt, was auf der Anzahl der erfolgreich abgeschlossenen Aufgaben beruht. Die Komposition endet mit einem Postludium, das auf einer Variation der regelgebundenen Rhythmus- und Melodiebildungen beruht, die auch schon im Präludium realisiert wurden. 4.2 Vergleich und Analyse Die Diagramme für die jeweiligen Stücke (siehe Abb. 2-5) zeigen deutlich, dass die Ausprägungen der einzelnen Parameter und folglich die resultierenden Formen auf den Polardiagrammen für jedes Werk unterschiedlich sind. Jede Form zeigt Merkmale, die für die jeweilige Komposition charakteristisch sind. 4.2.1 Ähnlichkeit von Diagrammen – To Kill Two Birds With One Stone und Conditional Love Die Diagramme von To Kill Two Birds With One Stone und Conditional Love zeigen eine gewisse Ähnlichkeit. Beide weisen eine Dominanz der „System Agency“ auf, also niedrige Werte auf der oberen Hälfte der Agency-Achse. Auch der Parameter „Gestaltungsspielraum“ ist gering ausgeprägt und führt so bei beiden Diagrammen annähernd zu einer Punktsymmetrie auf dieser Achse. Ebenso weist bei beiden Stücken die Interface-Achse eher geringe Werte auf, während sie bei der Spiel-Achse mindestens im mittleren Bereich oder höher sind. Ersteres sagt aus, dass die gewählten Interfaces bei beiden Kompositionen eher generischer Natur sind und keine Expertise in der Bedienung erfordern: bei To Kill Two Birds steuern die Aufführenden mit großräumigen vertikalen Handbewegungen und drei Handgesten die Aufführung, während es bei Conditional Love über das Streichen über den Touchscreen eines Smartphones

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oder eines Tablets geschieht. Die höheren Werte auf der Spiel-Achse, zugunsten „Ludus“ bzw. einer Regeldominanz, sind darauf zurückzuführen, dass der Verlauf der Stücke in hohem Maße vom System vorgegeben wird und die Handlungen eher von einem Reagieren auf das Vorantreiben der Komposition charakterisiert sind. Hier lohnt es sich darauf hinzuweisen, dass bei Conditional Love zwar keine Regeln vorherrschen, die eine bestimmte Reaktion erzwingen. Allerdings erhalten die aufführenden Publikumsmitglieder genaue Instruktionen, was sie in bestimmten Formabschnitten zu tun haben, was nicht dem für „Paidia“ charakteristischen explorativen Handlungsrahmen entspricht. Da das Publikum im Detail die Art der Interaktion aber doch relativ stark variieren kann, wie z. B. die Art des Streichens über den Touchscreen ihres Telefons, wurde hier ein mittlerer, statt – wie bei To Kill Two Birds – ein maximaler Wert gewählt. Auf der Präsenz-Achse sind ebenfalls bei beiden Werken ähnliche Werte im mittleren Bereich festzustellen. Lediglich der Parameter „Input Data Mapping“ ist bei To Kill Two Birds etwas geringer ausgeprägt, sodass dort bei dieser Achse keine Spiegelsymmetrie vorherrscht. Das ist darauf zurückzuführen, dass hier – wie ich soeben schon beschrieben habe – lediglich drei Handgesten und ihre horizontale Positionierung als Eingangsdaten unterschieden werden. Bei Conditional Love ist der Wert bei „Input Data Mapping“ dagegen etwas höher, was wiederum darauf zurückzuführen ist, dass das Streichen auf dem Display der Telefone recht detailliert ausgewertet wird und damit in diesem Rahmen auch mehr Gestaltungsspielraum bietet. Schließlich bleibt noch zu untersuchen, warum auf der Determinismus-Achse der Parameter „Determiniertheit“ bei To Kill Two Birds im Vergleich zu dem niedrigen „Spontaneität vs. Planung“-Wert höher ausgeprägt ist. Auch wenn der Gesamtablauf dieser Komposition bei jeder Aufführung sehr ähnlich ist (→ höherer Wert des „Determiniertheit“-Parameters), erfordert die als Pingpongball fungierende Hand, die zudem zufällig die Geste ändert, von den Aufführenden ein starkes Reaktionsvermögen, was meinem Eindruck nach die Erfahrung der Aufführung stark dominiert. Folglich ist dieser Wert entsprechend näher am Mittelpunkt angesiedelt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz der erläuterten Unterschiede bei den einzelnen Werten dieser beiden Diagramme doch einige auffallende Ähnlichkeiten zu finden sind, obwohl sich die Kompositionen voneinander in vielen Punkten erheblich unterscheiden. Um nur einige Unterschiede zu nennen: To Kill Two Birds dauert zwischen 4 und 5 Minuten und Conditional Love mehr als das vierfache; bei To Kill Two Birds konkurrieren zwei Aufführende, während bei Conditional Love die Anzahl der Aufführenden sehr hoch sein kann und kein

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Wettbewerbsverhältnis vorherrscht. Ich würde dennoch sagen, dass die resultierende Form des Diagramms charakteristisch ist für Werke, die für ein allgemeines Publikum zugänglich sein wollen. Das führt einerseits zur Wahl eines Interfaces, das ohne Übung und besondere Vorkenntnisse zu bedienen ist (→ geringe Werte auf der Interface-Achse) und zu einer stärkeren Ausprägung von regelgeleiteten Handlungen (→ geringere Werte auf der Agency- und hohe Werte auf der Ludus-Achse, zudem geringe Werte beim Parameter „Gestaltungsspielraum“). 4.2.2 Punktsymmetrie Wie bereits erwähnt bildet die Frage nach der Punktsymmetrie einen guten Einstieg in die Analyse. Auf einige Asymmetrien bin ich bereits bei dem Vergleich von To Kill Two Birds und Conditional Love eingegangen. Im Folgenden möchte ich auf diesen Aspekt zunächst bei Game Over und dann in konziser Weise bei Kilgore eingehen. Das Diagramm zeigt bei Game Over deutliche Symmetrien bei den Achsen für Determinismus, Agency und Spiel. Asymmetrien finden sich dagegen bei der Interface- und bei der Präsenz-Achse. Bei ersterer wird das Interface als hoch spezialisiert beschrieben. Es besteht aus einer Klarinette mit einem Beschleunigungssensor, ein Instrument also, das viele Jahre an Übung erfordert, um es souverän spielen zu können. Obwohl das Instrument mannigfaltige Ausdrucksmöglichkeiten anbietet, führt das jedoch nicht zu einem sehr sensiblen Gesamtsystem. Das ist darauf zurückzuführen, dass das Instrument weitgehend unabhängig vom audiovisuellen System funktioniert und die interagierenden Daten hauptsächlich von dem an der Klarinette befestigten Accelerometer stammen, der nicht direkt auf das Spiel des Musikers reagiert. Zudem beruht die Interaktion mit den grafischen Elementen im audiovisuellen Umfeld häufig auf binärem Ein- und Ausschalten von Vorgängen ohne nuancierte Zwischenstufen. Folglich ist die Schnittstelle zwischen dem Aufführenden und dem audiovisuellen System deutlich weniger sensibel als die Klarinette als Instrument. Ich möchte hier darauf hinweisen, dass diese Bewertung keineswegs als Kritik zu interpretieren ist, so wie auch sonst alle den Parametern zugeordneten Größen wertneutral sind. Vielmehr handelt es sich hier um eine Übersetzung der Handlungen des Musikers, die genau der Gesamtästhetik der Komposition entspricht, die in vielerlei Hinsicht auf die Computerspielästhetik der 80er und frühen 90er Jahre verweist. Die auditive und visuelle „Low-Fidelity“ wurde also in der gewissermaßen kruden Koppelung des Instruments weitergeführt.

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Die gleichen Gründe führen auch zu der Asymmetrie auf der Präsenz-Achse, wo der Parameter „Input Data Mapping“ einen deutlich geringeren Wert aufweist als der Parameter „Liveness“. Der hohe „Liveness“-Wert ist darauf zurückzuführen, dass schon das Spiel der Klarinette ein großes Ausdrucksspektrum bietet und die Kopplung an das audiovisuelle System aufgrund des Accelerometers sehr körperlich und unmittelbar ist. Aufgrund des bereits Gesagten werden von all diesen Tätigkeiten des Aufführenden allerdings längst nicht alle in digitaler Form an das audiovisuelle System weitergegeben, was sich in dem geringeren Wert bei „Input Data Mapping“ niederschlägt. Bei Kilgore finden sich kaum genauere Punktsymmetrien bei den einzelnen Achsen, allerdings auch keine drastischen Asymmetrien. Die etwas größere Abweichung bei der Determinismus-Achse ist darauf zurückzuführen, dass der Gesamtablauf aus formaler Perspektive in vielerlei Hinsicht genau festgelegt ist, was zu dem höheren Wert des Parameters „Determiniertheit“ führt. Da Ereignisse auf Detailebene jedoch stärker von Zufallsprozessen abhängen und die Aufführenden aber genau auf diese reagieren müssen, prägt sich bei dem Parameter „Spontaneität vs. Planung“ der Eindruck des Ersteren stärker aus, folglich ist dieser Wert etwas geringer. Die Asymmetrie auf der Agency-Achse ist auf einen ähnlichen Sachverhalt zurückzuführen. Die Vordeterminiertheit der Gesamtform führt bei dem Parameter „Performer vs. System Agency“ zu einem Wert zugunsten der System Agency. Der Eindruck des Gestaltungsspielraums für die Aufführenden ist dagegen vergleichsweise hoch, was auf die vielfältigen Handlungsmöglichkeiten auf der Detailebene zurückzuführen ist, nicht zuletzt auch auf die freien Bewegungsmöglichkeiten im virtuellen 3D-Raum.

5. BEWERTUNG UND ZUSAMMENFASSUNG Wie soeben beschrieben, führt die Anwendung des Polardiagramms bei jedem analysierten Werk zu Diagrammen unterschiedlicher Formen, die einige jeweilige besondere Eigenschaften visualisieren. Bei zweien der besprochenen Beispiele wurden aufgrund dieser Formen Ähnlichkeiten offengelegt, die darauf zurückzuführen sind, dass beide Arbeiten für eine Mitbeteiligung des Publikums konzipiert wurden. Eine Überprüfung der Symmetrien der Achsen zeigte außerdem detailliertere Merkmale der Verknüpfung zwischen dem Interface und dem audiovisuellen System. Alles in allem funktioniert das Analysesystem in dem Sinne, dass ein Vergleich zwischen verschiedenen Werken ermöglicht wird und dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden. Darüber hinaus gibt es Einblick in einige Details, die das einzelne Werk charakterisieren.

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Da jeder Parameter nach qualitativen Einschätzungen bestimmt wird, sind dabei jedoch keine absoluten Kriterien auszumachen, nach denen die Referenzwerte für die einzelnen Parameter gewählt werden. Was ist die Bezugsgröße, wenn beispielsweise ein hoher Wert für „Gestaltungsspielraum“ ausgewählt wird? Die ausgefüllten Werte entsprechen folglich der subjektiven Einschätzung der analysierenden Person.18 Zur Erprobung der hier beschriebenen Methode haben wir in unserem aus drei Personen bestehenden Forschungsteam drei – hier nicht weiter besprochene – ausgewählte Stücke unabhängig voneinander analysiert und anschließend die resultierenden Diagramme miteinander verglichen. Erwartungsgemäß waren die Ergebnisse unterschiedlich, allerdings waren bei zweien dieser drei Werke die resultierenden Grundgestalten bei uns allen dreien ähnlich (siehe Abb. 6). Bei dem dritten waren die Ergebnisse allerdings sehr unterschiedlich (siehe Abb. 7). Auch in letzterem Fall erwies sich die Analysemethode aber als nützlich, weil sie uns genaue Anhaltspunkte für eine anschließende Diskussion geliefert hat, wo wir den unterschiedlichen Einschätzungen auf den Grund gehen konnten.

Abbildung 6 und 7

18 Ich würde jedoch behaupten, dass jede Analyse subjektiv geprägt ist. Analysemethoden mögen manchmal fixe Definitionen enthalten, wie z. B. das Verhältnis zwischen einer Dominante und einer Tonika. Sobald es aber darum geht, komplexere Zusammenhänge zu begreifen und zu beschreiben, bilden solche objektivierbaren Axiome lediglich einen Ausgangspunkt. Im Bereich der Musik und der visuellen Künste gibt es meines Erachtens keine objektiven Analysen.

Ein Polardiagramm für die Analyse gamifizierter audiovisueller Werke | 243

6. ANMERKUNGEN ZUR VERWENDUNG VON KATEGORIEN IM KONTEXT DER KÜNSTLERISCHEN FORSCHUNG Die hier vorgestellte Methode dient der Analyse, indem sie Komplexität reduziert und Aspekte isoliert, die in unserem speziellen Kontext als relevant erachtet werden. Jedes System, das Kategorien anwendet wie dieses, ist mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln, da – wie Bowker und Star in ihrem Buch Sorting Things Out – Classification and its Consequences festhalten – „jede Kategorie eine Betrachtungsweise aufwertet und dafür eine andere unterdrückt.“19 Es ist daher wichtig, Systeme, wie das hier besprochene, kritisch einzusetzen und mit jeder Analyse einer audiovisuellen Komposition zu überprüfen, welche Aspekte durch die Anwendung des Analysesystems möglicherweise vernachlässigt oder gar übersehen werden. Andererseits ist es auch wichtig zu beobachten, ob und wie solche Systeme die eigene künstlerische Praxis beeinflussen. Dies ist besonders relevant in einem Fall wie dem unseren, der im Kontext künstlerischer Forschung stattfindet und in dem die Forscherinnen und Forscher auch die praktizierenden Künstler sind. Denn „selbst wenn man Klassifikationssysteme als rein gedankliche oder formale Modelle versteht, passt man sein Verhalten an, um diesen Konzepten zu entsprechen.“20 Dies kann problematisch sein, wenn das Analysesystem die kreativ Schaffenden dazu veranlasst, dass sie – möglicherweise unbewusst – ihre Entscheidungen darauf ausrichten, unbedingt den Kriterien des Systems zu genügen. Ebenso steckt aber auch ein positives Potenzial in der Methode. Die Wahl der Parameter und ihre räumliche Anordnung sind schließlich das Resultat einer länger andauernden Beobachtung der Werke, die im Rahmen unseres Projekts entstanden sind. Sie machen uns nicht lediglich für andere Kriterien blind, sondern erhöhen gerade auch unsere Sensibilität und Beurteilungsfähigkeit für Aspekte, die sich für unsere Interessen als besonders wichtig erwiesen haben. Werden mithilfe der Analysemethode ein verfeinertes Verständnis und eine

19 „[e]ach […] category valorizes some point of view and silences another.“ Zitiert nach: Bowker, Geoffrey/Star, Susan Leigh: Sorting Things Out – Classification and its Consequences, Cambridge: MIT Press 1999, S. 5 [dt. Übersetzung M.C.]. 20 „[...] Even when people take classifications to be purely mental, or purely formal, they also mold their behavior to fit those conceptions.“ Zitiert nach: G. Bowker/S. L. Star: Sorting Things Out, S. 59 [dt. Übersetzung M.C.].

244 | Marko Ciciliani

differenzierte Unterscheidungsfähigkeit verinnerlicht, um dann in die künstlerische Praxis zu fließen, ist das durchaus positiv zu bewerten. Schließlich geht es in der künstlerischen Forschung in der Regel darum, nicht nur die erforschten Phänomene besser zu verstehen – was auch die Zielsetzung der Musikwissenschaft ist –, sondern auch die damit zusammenhängende künstlerische Praxis zu verändern und zu entwickeln. Mit dieser Analysemethode hoffen wir, dazu einen Beitrag zu liefern und mit einer größeren Interessensgruppe zu teilen.

(Press) Play Björks App-Album Biophilia Ulrich Wilker

Sucht man nach einer Verbindung von Björks Musik zu dem Themenkomplex Spiel, Games und Gaming, so wird man schon viele Jahre vor der Veröffentlichung von Biophilia (2011) fündig: Ein wesentlicher Bestandteil von Michel Gondrys Video zu Björks Hyperballad (vom 1995 veröffentlichten Solo-Album Post) sind jene Sequenzen, in denen ein Björk-Avatar im Stil eines Jump ’n’ Run-Games durch eine computeranimierte Landschaft läuft. Im Songtext berichtet ein sprechendes Ich von seinem morgendlichen Ritual, Alltagsgegenstände von einem Cliff hinabzuwerfen: „we live on a mountain / right at the top / there’s a beautiful view / from the top of the mountain / every morning i walk towards the edge / and throw little things off“1. In der zweiten Strophe imaginiert das sprechende Ich als Steigerung den eigenen Sturz und Aufprall. Der Sinn wird in der Pointe des Refrains enthüllt: „i go through all this / before you wake up / so i can feel happier / to be safe up here with you“2. Der Song und das Video können zunächst als paradigmatisches Beispiel für Björks Schaffen herangezogen werden, da sie alle Elemente enthalten, die Nicola Dibben als charakteristisch beschreibt: So lässt sich das Verwischen von Genregrenzen, das auch in Björks Diktum „fuck styles, fuck categories“3 zum Ausdruck kommt, hier auf musikalischer Ebene in der Kombination von elektronischen Beats mit einem Streicherarrangement beobachten, zu dem Björks – in elektro-

1

https://bjork.com/home#/past/discography/post/track2/lyrics2 vom 28.10.2019.

2

Ebd.

3

Das Zitat ohne Quellenangabe in Pytlik, Mark: Björk. Wow and Flutter, Toronto: ECW Press 2003, S. 67.

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nischer Musik eher ungewöhnlich – vergleichsweise wenig elektronisch nachbearbeitete Stimme tritt.4 Die Auflösung einer Technologie-Natur-Dichotomie durch die Verbindung von elektronischer und ‚natürlicher‘ Klangerzeugung (Stimme, Streichinstrumente) findet ihre Entsprechung in Gondrys Hyperballad-Video durch Verschmelzung der digitalen Cyber-Landschaft mit Björks Gesicht,5 auf das wiederum eine grob gerasterte Videoprojektion seiner selbst geworfen wird. „Diese Vervielfältigung des Körpers der Künstlerin Björk“6 im Video lässt sich zudem als paradigmatisch für das für Björks Image ebenfalls typische „Spiel mit Rollen und Inszenierungen“7 lesen. Darüber hinaus ist das Video insbesondere aus ludomusikologischer Perspektive interessant, da, wie bereits erwähnt, einige Sequenzen im Stil eines Computerspiels gestaltet sind, „in dem sich eine kleine animierte Spielfigur mit den Gesichtszügen Björks ihren Weg durch eine nächtliche Großstadt bahnt. Außerhalb der Stadt muss sie einigen Telegrafenmasten ausweichen, läuft auf einen Felsenabgrund zu, springt herunter und zerschellt am Boden.“8

Die Simulation eines Games beschränkt sich allerdings nicht nur auf den Rückgriff auf Computergrafik, sondern verdankt sich einer engen Kopplung von visuellen und akustischen Elementen: „Formal setzt er [der Clip] sich aus vier verschiedenen Ebenen zusammen, die immer wieder neu kombiniert und übereinander gelegt werden. Auf der ersten Ebene wird zunächst eine computeranimierte und sehr schematisch dargestellte Gebirgslandschaft mit vorüber

4

Zu diesem Aspekt vgl. das Kapitel „Conclusion: The Compatibility of the Technological and the Natural“ in Dibben, Nicola: Björk, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 2009, S. 95-99.

5

Vgl. N. Dibben: Björk, S. 181 (Endnote 11).

6

Frahm, Laura: Bewegte Räume. Zur Konstruktion von Raum in Videoclips von Jonathan Glazer, Chris Cunningham, Mark Romanek und Michel Gondry (Studien zum Theater, Film und Fernsehen Bd. 44), Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2007, S. 105.

7

Neubauer-Petzoldt, Ruth: „Traumwesen oder durchgeknallte Isländerin: Selbstinszenierungen und mythische Ikonologie der Künstlerin Björk“, in: Kordula Knaus/Susanne Kogler (Hg.), Autorschaft – Genie – Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Musik – Kultur – Gender Bd. 11), Köln/Wien/Weimar: Böhlau 2013, S. 253-279, hier S. 260.

8

L. Frahm: Bewegte Räume, S. 104.

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ziehenden Wolken abgebildet. Die zweite Ebene zeigt den schlafenden Kopf Björks auf einem flachen, wiesenartigen Untergrund. Dieser dient als Projektionsfläche für die auf der dritten Ebene zu beobachtende Visualisierung der Musik [...]. Denn hier wird jedem Klang ein bestimmter visueller Eindruck zugeordnet, der beim Ertönen des jeweiligen Instruments erscheint, wird das Bild zum Seismografen der Rhythmen der Instrumente.“ 9

Gondrys Video simuliert, dass es sich nicht um ein Video zum präexistenten Song, sondern um den gerade jetzt erklingenden Sound eines (fiktiven) HyperballadGames handelt, indem hier ein interaktiver „event-driven“ Sound im Sinne von „Kinesonic Synchresis“10 vorgegaukelt wird. „Event-driven“ gibt der Sound im Hyperballad-Video insofern vor zu sein, als die optischen Effekte den Sound mit auszulösen scheinen, also die Sounds als „feedback to acknowledge an event“ 11 dienen und nicht etwa umgekehrt die optischen Effekte nur zur Visualisierung der Musik dienen. Natürlich handelt es sich jedoch nur um eine Simulation von „Kinesonic Synchresis“, denn Interaktivität ist im Musikvideo nicht gegeben. Mehr noch: Im Video ist „das Computerspiel [...] als Visualisierung des Traums ein autonomes Geschehen, das keine aktive Teilnahme zulässt. Hier wird eine Distanz aufgebaut, welche die Handlungen der Spielfigur als individuelle und damit als unantastbare kennzeichnet.“12

BIOPHILIA ALS INTERAKTIVES APP-ALBUM Damit aber ist der wichtigste Unterschied zu Biophilia angesprochen, nämlich die in Hyperballad nur simulierte, in der Biophilia-App aber tatsächlich umgesetzte Interaktivität, die Seth Schiesel in seiner Rezension für die New York Times so zusammengefasst hat: „The real magic happens when you press ‚play‘. That doesn’t tell the machine to play the song; it means it’s time for you to play the

9

Ebd., S. 103. – Zum Video vgl. auch Rosiny, Claudia: Tanz Film. Intermediale Beziehungen zwischen Mediengeschichte und moderner Tanzästhetik (TanzScripte Bd. 27), Bielefeld: transcript 2013, S. 188-191.

10 Collins, Karen: Playing with Sound: A Theory of Interacting with Sound and Music in Video Games, Cambridge (Mass.): MIT Press 2013, S. 32. 11 Ebd. 12 L. Frahm: Bewegte Räume, S. 105.

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song.“13 Biophilia, veröffentlicht im Jahr 2011, bezeichnet allerdings nicht nur das gleichnamige App-Album, sondern ein in jeder Hinsicht multimediales Projekt, das das zuerst veröffentlichte Audio-Album mit zehn Songs, eine App-Suite, eine Tour mit Livekonzerten14 sowie längere residencies (u. a. mit pop-up-Musikschulen) in ausgewählten Orten umfasst. 2014 wurde es im Rahmen der Präsidentschaft Islands im nordischen Ministerrat zum noch größeren Biophilia Educational Project ausgebaut und in der Folge in die Curricula insgesamt 69 teilnehmender Schulen in Island, Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, Grönland, den Färöer- und den Åland-Inseln implementiert.15 Nicola Dibben, die als Musikwissenschaftlerin am Projekt beteiligt war und am edukativen Konzept mitgearbeitet hat, fasst die zugrunde liegende Idee folgendermaßen zusammen: „Björk’s idea was to use touchscreens as an intuitive tool for music making and as a means for interactive, educational experiences that would allow the user to learn about some aspect of musical structure through nature-world phenomena.“16

Das Konzept lag also in der Vermittlung von musiktheoretischen Inhalten durch naturwissenschaftliche Themen und Phänomene, die nicht nur den Gegenstand der extra für diesen Zweck geschriebenen Songs, sondern auch der interaktiven Apps für Smartphones mit Touchscreen bilden. Björk hat im Zusammenhang mit Biophilia nicht das erste Mal mit Touchscreens zur Erzeugung von Musik gearbeitet: Schon auf ihrer Tour zum sechsten Studioalbum Volta hatte sie elektronische Musikinstrumente eingesetzt, die ein tangible user interface benutzen, so u. a. das Reactable und das Lemur

13 Schiesel, Seth: „Playing the new Bjork Album, and Playing along, with Apps“, in: New York Times vom 24.10.2011 (https://www.nytimes.com/2011/10/25/arts/video-games/ bjorks-biophilia-an-album-as-game.html vom 1.10.2019). 14 Zum Konzertfilm Biophilia Live (2014) und Fragen der Materialität, die im Hinblick auf die digitale Vertriebsform des Albums besonders akut erscheinen, vgl. Tiainen, Milla/Kontturi, Katve-Kaisa/Hongisto, Ilona: „Framing, Following, Middling. Towards Methodologies of Relational Materialities“, in: Cultural Studies Review 21/2 (2015), S. 14-46 (http://dx.doi.org/10.5130/csr.v21i2.4407 vom 5.10.2019). 15 https://biophiliaeducational.org/ vom 29.10.2019. 16 Dibben, Nicola: „Visualizing the App Album with Björk’s Biophilia“, in: Carol Vernallis/Amy Herzog/John Richardson (Hg.), The Oxford Handbook of Sound and Image in Digital Media, Oxford: Oxford University Press 2013, S. 682-704, hier S. 687.

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Input Device, das Synthesizer über Berührungen steuern kann. 17 Für den Kompositionsprozess der Songs für Biophilia schließlich spielte zudem der Touchscreen eines iPads eine besondere Rolle: Da Björk bis dahin vokal, d. h. ohne die Hilfe von Klavier oder Gitarre komponierte, fand sie im iPad eine neue Möglichkeit, musikalische Ideen festzuhalten oder mit ihnen zu arbeiten, für die man keine klassische Instrumentalausbildung braucht: „Well, believe it or not, this project started because I wanted to simplify things, and then ended up being one of the most complex things I’ve done. But the initial idea, in a way, was because of the arrival of the touch screen. I was already on my last tour from 2006 to 2008, the ‚Volta‘ tour. I had a touch screen instrument called the Lemur and another one called Reactable. And I was performing or people who were playing with me in the band were on those. Once the tour was finished in 2008, I was excited not just to perform with touch screens, but to write with them or kind of use it as much as you could. For me, it tapped into an issue I had as a child and sort of had since.“18

Biophilia war allerdings nicht etwa das erste App-Album überhaupt: Noch vor seinem Erscheinen wurde im gleichen Jahr (2011) als erstes app-basiertes Album National Mall von Bluebrain veröffentlicht, das GPS-Signale nutzt, um jeweils unterschiedliche, ortsabhängige Sound Samples beim Durchschreiten des National Mall Parks in Washington abzuspielen.19 Die ersten ein CD-Album ergänzenden Apps erschienen bereits 2009, z. B. von Pink, Fall Out Boy und Snow Patrol.20 Diese ergänzenden Apps hatten die gleiche Funktion wie frühere Experimente mit sogenannten enhanced CDs oder CD-Alben ergänzenden Webauftritten – ein Beispiel wäre hier das Album Year Zero (2007) von Nine Inch Nails, das Webinhalte ebenso einschloss wie E-Mail-Aktionen, auf absichtlich in Konzerthallentoiletten deponierten USB-Sticks geleakte Songs und thermoempfindliche

17 Vgl. N. Dibben: „Visualizing the App Album“, S. 686. 18 Binder, Jonathan: „Björks ‚Biophilia‘ Takes Music to the App World“, CNN, https://edition.cnn.com/2011/10/10/tech/innovation/bjork-app-album-biophilia/index. html vom 29.10.2019. Verkürzt zitiert auch bei N. Dibben: „Visualizing the App Album“, S. 686. 19 Vgl. Morris, Jeremy Wade: „App Music“, in: Sheila Whiteley/Shara Rambarran (Hg.), The Oxford Handbook of Music and Virtuality, Oxford: Oxford University Press 2016, S. 477-494, hier S. 485. 20 Vgl. ebd.

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CD-Oberflächen, die durch die Erwärmung beim Abspielen eine vorher verborgene Webadresse freigaben, usw.21 All diese Strategien verfolgen das gleiche Ziel, nämlich die Neudefinition des Konzeptalbums und Rückgewinnung des Gefühls von Materialität und Geschlossenheit von Musikalben in den Zeiten von mp3Downloads und schwindenden CD-Verkaufszahlen.22 Feszuhalten ist hier erstens, dass Biophilia nicht nur als downloadbares AppAlbum vertrieben worden ist, sondern auch als physische CD in verschieden luxuriös ausgestatteten Packages,23 obwohl es in der Hauptsache als App-Album beworben und auch besprochen worden ist. Zweitens war Biophilia nicht das allererste App-Album; allerdings hatte es im Vergleich mit allen anderen, so Jeremy Morris, „certainly the highest profile“24.

INTERAKTIVITÄT ALS OFFENHEIT Die wichtigste Neuerung von Biophilia als App-Album besteht darin, dass das Drücken von „play“ nicht mehr schlicht das Abspielen des Songs auslöst, sondern weitere Auswahlmöglichkeiten wie song mode und instrument mode zur Verfügung stellt, in denen „play“ tatsächlich die interaktive Manipulation des musikalischen Materials oder sogar das Spielen eines virtuellen Instruments bedeuten kann. Dieses Konzept und der detaillierte Aufbau von Biophilia und den einzelnen Apps sind bereits mehrfach beschrieben und die Einordnung in den Kontext der vorhergehenden Alben Björks auch mehrfach vorgenommen worden. Außer Dibbens Perspektive aus der Sicht einer beteiligten Musikwissenschaftlerin sind in diesem Zusammenhang vor allem Samantha Blickhans Aufsatz „,Listening‘ through Digital Interaction in Björk’s Biophilia“25 sowie Leonie Reinekes Aufsatz „Die Björk’sche Juxtaposition. Überlegungen zu dialektischen Konzepten des Albums Biophilia“26 zu nennen. Diesen Überblicksdarstellungen

21 Vgl. K. Collins: Playing with Sound, S. 83f. 22 Vgl. N. Dibben: „Visualizing the App Album“, S. 695. 23 Vgl. ebd., S. 698f. 24 J. W. Morris: „App Music“, S. 485. 25 Blickhan, Samantha: „,Listening‘ through Digital Interaction in Björk’s Biophilia“, in: Michiel Kamp/Tim Summers/Mark Sweeney (Hg.), Ludomusicology. Approaches to Video Game Music, Sheffield (UK)/Bristol (CT): Equinox 2016, S. 133-151. 26 Reineke, Leonie: „Die Björk’sche Juxtaposition. Überlegungen zu dialektischen Konzepten des Albums Biophilia“, in: Seiltanz. Beiträge zur Musik der Gegenwart 9 (2014), S. 12-23.

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und Detailstudien zu einigen ausgewählten Apps, die in den genannten drei Forschungsbeiträgen geboten werden, möchte ich im Folgenden einige eigene Beobachtungen und Gedanken an die Seite stellen. Die Steuerung der Biophilia-App erfolgt über die sogenannte mother app27, in die die neun restlichen Apps – eine pro Song – eingebettet sind. In der mother app sind die neun Apps bzw. Songs als unterschiedlich farbige Sterne einer Galaxie dargestellt, durch die man über die Touchscreen-Steuerung in sämtliche Richtungen navigieren kann. Zoomt man an einen Stern heran, wird die Musik des dazugehörigen Songs hörbar; je näher man herannavigiert, desto lauter erklingt der dazugehörige Song. Schon hier wird die Verbindung von Musik und Interaktivität der Navigation sinnfällig. In der mother app erklingt dazu außerdem als musikalischer Hintergrund ein durch Chorstimmen umgesetztes ShepardRisset-Glissando, also eine akustische Täuschung, die den Eindruck eines unendlichen Abwärtsglissandos erzeugt. Diese unendliche Abwärtsspirale ist ein treffendes musikalisches Symbol für diese neue Art der Ansteuerung der Albumtracks, denn hier handelt es sich nicht mehr um einen geschlossenen Zyklus aus durchnumerierten Tracks. Vielmehr stehen alle neun Apps bzw. Songs völlig gleichberechtigt über-, unter- und nebeneinander in dem Dreidimensionalität simulierenden Galaxiedesign der mother app: „In Biophilia, the author did not state an intended order in which the album should be played. [...] The Gutenberg-era ‚one-at-a-time‘ [...] behaviour, provoked by system of written language, is not the premise in this case. The album is presented as a 3D universe (on a 2D screen) in which the sounds from at least three tracks start merging. One is free to decide the direction to follow and which sounding stars (in a constellation of song apps) one wishes to mix and play. With the first interactions, the idea of nonlinear storytelling is triggered.“ 28

27 Björk: Biophilia: Cosmogony App Tutorial (Video), 00:00:06 (https://biophilia educational.org/apps/cosmogony vom 6.11.2019). 28 Vgl. Sa Dias, Fernanda: „Album Apps: A New Musical Album Format and the Influence of Open Works“, in: Leonardo Music Journal 24 (2014), S. 25-27, hier S. 25 (https://muse.jhu.edu/article/561874 vom 5.10.2019).

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Diese freie Navigierbarkeit ganz nach Belieben des Users hat (zusammen mit weiteren interaktiven Funktionen der neun Song-Apps, dazu siehe weiter unten im Zusammenhang mit sound toys) zu Vergleichen mit experimentellen Werken der Avantgarde aus den 1950er Jahren geführt, deren Werkgestalt offen ist bzw. die eine „veränderliche[] äussere[] Gestalt“29 aufweisen. Als Beispiel wird von Fernanda Sa Dias Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (1956) angeführt,30 doch auch der Vergleich mit Pierre Boulez’ (unvollendeter) Troisième Sonate pour piano (1955–57) liegt auf der Hand, vor allem im Hinblick auf die grafische Darstellung als Galaxie. Boulez hat das Formkonzept seines aus fünf „Formanten“ bestehenden Stücks als „[z]wei Zyklen, um eine bewegliche Achse kreisend“ 31, beschrieben (siehe Abb. 1).

Abbildung 1: Quelle: Pierre Boulez: „Zu meiner Dritten Klaviersonate“, S. 177

29 Vgl. von Blumröder, Christoph: Art. „Offene Form“, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie Bd. 4, Stuttgart: Franz Steiner 1972–2006, S. 1, S. 4f. 30 Vgl. F. Sa Dias: „Album Apps“, S. 25. 31 Boulez, Pierre: „Zu meiner Dritten Klaviersonate“, in: Ders., Werkstatt-Texte. Aus dem Französischen von Josef Häusler, Frankfurt am Main/Berlin: Propyläen 1972, S. 164178, hier S. 170.

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Im Mittelpunkt steht der Satz mit dem vielsagenden Titel Constellation. Zur orbitalen Formdarstellung und dem Satztitel kommt noch hinzu, dass Boulez den Anfang von Constellation (Mélange) als Mise en abyme gestaltet und diese als „Mikrokosmos der großen Konstellation“32 bezeichnet hat. Ausdrücklich spricht er schließlich von der „Konzeption des Werkes als ein in Bewegung, in Expansion befindliches Universum“33. Die symmetrische Anlage der Sonate aus einem zentralen Satz langer Dauer, zwei Sätzen mittlerer und zwei Sätzen kurzer Dauer34 lässt sich dabei durchaus mit Björks Beschreibung der Cosmogony-App als „a galaxy with planets whirling around it to show kinda this element of equilibirum and harmony between all the different elements so emotionally it’s sort of a celebration of like the harmony in nature“35 in Bezug setzen. Das Konzept von Offenheit prägt die mother app bzw. den dazugehörigen Song Cosmogony zudem in noch zweierlei Hinsicht. Erstens handelt es sich bei der Galaxie der mother app nicht um eine realistische Darstellung. Vielmehr sind die jeweils für eine App stehenden Sterne Teil einer durch weiße Linien angedeuteten Konstellation bzw. fiktiver Sternbilder, die zwar etwas darzustellen scheinen, aber so vage gestaltet sind, dass eine Fülle von Interpretationen möglich ist, ja geradezu provoziert wird. Zweitens wird diese Offenheit, in der es kein richtig und falsch gibt, sondern alle Entscheidungsmöglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander stehen, im Songtext von Cosmogony verhandelt. Der Song beginnt bemerkenswerter Weise mit dem aus der mother app bekannten Chorglissando, allerdings nun aufwärts gerichtet. Der Songtext des isländischen Autors Sjón stellt verschiedene Kosmogonien, also Weltschöpfungsmythen (oder besser: -erzählungen), vor. Dabei steht die Urknalltheorie offenbar gleichberechtigt neben „native American, Chinese and Australian aboriginal creation myths“ 36, denn jede Strophe beginnt mit einem relativierenden „and they say“: „and they say: back then our universe / was an empty sea – until a silver fox / and her cunning mate began to sing / a song that became the world we know / [...] and they say: back then our universe / wasn’t even there – until a sudden bang / there was light – was sound – was matter / and it all became the world we know“ 37

32 P. Boulez: „Zu meiner Dritten Klaviersonate“, S. 174. 33 Ebd., S. 177. 34 Vgl. ebd. 35 Björk: Cosmogony App Tutorial, 00:00:14–00:00:30 (https://biophiliaeducational.org/ apps/cosmogony vom 6.10.2019). 36 https://biophiliaeducational.org/apps/cosmogony vom 6.10.2019. 37 https://bjork.com/home#/past/discography/biophilia/track4/lyrics4 vom 6.10.2019.

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In einer anderen Song-App steht die Offenheit der musikalischen Struktur selbst im Fokus: Die Crystalline-App verbindet den Flug durch ein Weltraumlabyrinth38 mit dem Erklingen verschiedener Songabschnitte, die je an das Durchfliegen eines bestimmten Tunnels gekoppelt sind. Musikalische Form selbst wird hier zum navigierbaren Labyrinth: „Song structure is the theme of Crystalline, and structures of all kinds, shapes and sizes are one of the strong underlying themes of Biophilia in general. [...] Crystalline reflects Björk’s spatial experience of verse-chorus form, and this spatial analogy is used in the app as a tool for learning about song structure. The verses are confined melodically, harmonically and rhythmically, coinciding with the narrow tunnels of the app. In the chorus the music opens up, shifts to a more danceable metre. The lyrics change from internal to external, and the app changes from tunnel to space.“39

Der Weltraumflug in Crystalline, dem mit Erreichen des chorus keine Grenzen mehr gesetzt sind, unterscheidet sich von allen anderen Biophilia-Apps vor allem auch dadurch, dass die Steuerung nicht über Touchscreen, sondern ähnlich wie bei Wii-Controllern über die in Smartphones eingebauten Beschleunigungssensoren erfolgt. Diese Verschmelzung von Controller und Gyroskopsteuerung zeichnet auch die Handheld-Konsole Nintendo 3DS aus, die im gleichen Jahr wie Biophilia auf den Markt kam. Der zweidimensionalen Touchscreen-Navigation durch die Dreidimensionalität simulierende Biophilia-Galaxie in der mother app wird hier also ein Navigationsmodus an die Seite gestellt, der einerseits Verkörperung (durch die Bewegung des Controllers) und das räumliche Erfahren von Songstrukturen verschmilzt, andererseits die Idee der Offenheit durch die Weitung von der Touchscreen-Steuerung per Finger hin zur Gyroskopsteuerung mit Händen und Armen (evtl. sogar den ganzen Körper erfassend) im Wortsinne „verkörpert“. Auch in diesem Sinne gibt sich die App optisch zwar als „retro video arcade game“, das gleichzeitig aber „the continuity between new and old gaming technologies and aesthetics“40 hervorhebt.

38 Der Begriff „Labyrinth“ ist auch für Boulez’ Troisième Sonate zentral, vgl. P. Boulez: „Zu meiner Dritten Klaviersonate“, S. 166f. 39 https://biophiliaeducational.org/apps/crystalline vom 7.10.2019. 40 N. Dibben, „Visualizing the App Album“, S. 690.

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MUSIKSPIELE, SOUND TOYS, COMPOSITION-INSTRUMENTS Samantha Blickhan hat mit Verweis auf Jesper Juuls Spieltheorie darauf hingewiesen, dass die verschiedenen Biophilia-Apps eigentlich keine games im eigentlichen Sinne darstellen, da in Biophilia keine messbaren Spielergebnisse erzielt werden können.41 Auch gebe es in Biophilia keine Möglichkeit der Verknüpfung mit sozialen Netzwerken, sodass auch dieser kompetitive Aspekt von games hier ausgeschlossen sei.42 Als Musikspiele lassen sie sich gleichwohl auffassen:43 Mit Blick auf Michael Austins Kategorisierungen von Musikspielen erweisen sich mit Ausnahme des pitch-matching game Dark Matter alle BiophiliaApps als mixing und musical-making games,44 die wiederum unter die sound toys subsumiert werden können. Andrew Dolphin definiert sound toys als „[…] a playful medium for composition as they offer access to music composition and sound creation. Sound toys can be considered as interactive, sonic-centric systems in which the end user may trigger, generate, modify, or transform sound. Playful approaches to composition offered by sound toys provide a novice user access to composition through symbolic representation of often complex underlying systems. The visual domain becomes a dynamic and artful animated interface for player exploration of sound and/or music.“45

Sound toys können dabei als Instrumente, Kompositionen oder Tools für Kompositionen aufgefasst werden – die Übergänge sind teilweise fließend.46 Alle eröffnen der Spielerin Wahlmöglichkeiten mit einer sehr flexiblen Breite der Offenheit. Zugrunde liegt dabei immer ein „designed or composed play space for

41 Vgl. S. Blickhan: „‚Listening‘ through Digital Interaction“, S. 137. 42 Vgl. ebd., S. 149. 43 Zum „Sonderfall Musikspiele“ vgl. das entsprechende Kapitel in Fritsch, Melanie: Performing Bytes. Musikperformances der Computerspielkultur (Thurnauer Schriften zum Musiktheater Bd. 35), Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, S. 166-221. 44 Vgl. ebd., S. 174f. – Fritsch bezieht sich auf Austin, Michael: „Introduction – Taking Note of Music Games“, in: Ders. (Hg.): Music Video Games: Performance, Politics, and Play, New York: Bloomsbury Academic 2016, S. 1-22. 45 Dolphin, Andrew: „Defining Sound Toys: Play as Composition“, in: Karen Collins/Bill Kapralos/Holly Tessler (Hg.), The Oxford Handbook of Interactive Audio, Oxford: Oxford University Press 2014, S. 45-61, hier S. 45. 46 Vgl. ebd., S. 45f.

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sonic exploration and discovery“47. Dolphin perspektiviert sound toys entsprechend als „open works“ bzw. „open-form compositions“48 vor der Folie von Umberto Ecos Das offene Kunstwerk. Charakteristisch für sound toys ist zudem, dass die meisten – wie eben Biophilia – nicht-kompetitiv oder agonal sind und sie weder Avatare, Spielercharaktere, Action oder Gewalt, ein Ziel oder einen Score aufweisen und nicht auf ein zu erreichendes Ende hinzielen.49 Eher handelt es sich um „exploratory audiovisual experiences that are primarily concerned with sound.“50 Sie geben auch unerfahrenen Usern die Möglichkeit der improvisatorischen Kontrolle über das Soundmaterial, indem sie „accessible symbolic control of generative music parameters“ 51 erlauben, z. B. weil die Repräsentationen der zugrunde liegenden Algorithmen symbolisch und spielerisch sind und konkrete musikalische Parameter nicht Teil des musikalischen play space sind. Als Beispiel nennt Dolphin das Spiel Electroplankton (2005) für Nintendo DS von Toshio Iwai, das ebenfalls über einen Touchscreen gesteuert wird und das das Biophilia zugrunde liegende Konzept der Verbindung von Natur und Technologie im eigenen Namen gleichsam ausbuchstabiert.52 Electroplankton wird auch von Norbert Herber als Beispiel herangezogen.53 Das bereits von Dolphin konstatierte Charakteristikum von sound toys, dass sie Instrumente, Kompositionen oder Kompositionstools zugleich sein können, führt hier zu Herbers Hybrid-Benennung „composition-instruments“. Auch Herber grenzt diese composition-instruments zunächst von Games ab: „The non-linear and emergent experience of interactivity is incongruous with the overly repetitive, linear music that is often heard in games and other digital media. [...] A composition-instrument is a work that can play and be played simultaneously.“ 54

47 Ebd., S. 46. 48 Vgl. ebd., S. 48. 49 Vgl. ebd., S. 46. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Vgl. ebd., S. 47-49. 53 Vgl. Herber, Norbert: „The composition-instrument: emergence, improvisation and interaction in games and new media“, in: Karen Collins (Hg.), From Pac-Man to Pop Music: Interactive Audio in Games and New Media, Aldershot: Ashgate 2008, S. 103123, hier S. 111. 54 Ebd., S. 104.

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So wie Dolphin sich auf die Theorie des offenen Kunstwerks Umberto Ecos bezieht, zieht Herber als Vorformen der digitalen und interaktiven compositioninstruments konkrete Werke mit offener Form heran, so etwa Earle Browns Stücke aus den 1950er Jahren oder John Zorns Game Pieces.55 Was Herbers composition-instruments von den sound toys unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Interaktion des Users hier nicht zu einem sofortigen und überschaubaren Effekt führt, sondern das generative System, die Umwelt und der User in einem komplexen Beziehungsverhältnis stehen, in dem die Beeinflussung eines Elements wiederum die anderen Elemente beeinflussen und zu einer Reaktion führen mag – es können also im weiteren Spielverlauf vom User nicht vorhergesehene Effekte auftreten.56 Im Hinblick darauf scheinen die Biophilia-Apps nicht wie Electroplankton sowohl als composition-instruments (nach der engeren Definition Herbers) als auch als sound toys oder sogar als beides zugleich aufgefasst werden zu können, da im Instrumentenmodus der Biophilia-Apps alle Entscheidungen des Users sofort hörbar werden und es dann keine weiteren Reaktionen des generativen Systems darauf gibt, die das Ergebnis unberechenbar machen würden. Dolphin selbst positioniert Biophilia so: „In Björk’s Biophilia many of the individual pieces have the option to be used as an ‚instrument‘, and could therefore be classified accordingly. The different modes offered in Biophilia suggest each piece may be experienced as a song (or composition), but also as an instrument. In this case, different classifications within a single piece of work exist, which is presented as a form of album, or collection of works. Is this sound toy therefore best defined as an open-form composition, composition tool, or as an instrument? It is suggested that issues of definition can be considered as a classification continuum between these three areas or definitions.“57

Dolphin kommt somit zu demselben Schluss wie der leitende Entwickler der Biophilia-Apps, Scott Snibbe: „Each app isn’t just a music video or even an instrument, it’s something in-between.“58

55 Vgl. ebd., S. 105-107. 56 Vgl. ebd., S. 114-116. 57 A. Dolphin: „Defining Sound Toys“, S. 53. 58 Björk: Biophilia: Tour App Tutorial, 00:00:17–00:00:21 (https://www.youtube.com/ watch?v=n8c0x6dO2bg vom 14.11.2019).

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ELEKTRONISCHE MUSIK ZUM ANFASSEN Nicola Dibben zählt drei Konsequenzen auf, die aus dem App-Format von Biophilia erwachsen:59 Erstens wird durch die Visualisierung von Musik, einerseits in den spielbaren sound toys der Apps, andererseits in den ebenfalls interaktiv navigierbaren animation- und score-Modi, aufmerksames Hören gefördert oder jedenfalls wahrscheinlicher – im Gegensatz zum Nebenbeihören während anderer Tätigkeiten. Als Beispiel führt sie u. a. die mother app an, in der das Navigieren durch die Sternenkonstellation dadurch auditiv erfahrbar wird, dass diejenige Musik näherzukommen scheint, deren Stern man ansteuert. Dieses audiovisuelle Erlebnis trägt zum Immersionseffekt bei und lenkt die Aufmerksamkeit auf sound.60 Zweitens ist neben der Visualisierung insbesondere die Interaktivität mittels Touchscreen für das multimodale oder multisensorische Erlebnis, das Biophilia bietet, prägend.61 Als drittes Charakteristikum nennt Dibben jenen Rahmen, den Biophilia als App-Suite selbst bietet und der zu einer „curated experience of a coherent artistic vision that is the product of collaborative work“62 führt. Auf eine mögliche Nebenwirkung des App-Formats hat Henry Keazor aufmerksam gemacht, nämlich dass die Apps offenbar eher von den eigentlichen Songs ablenken, anstatt sie wie Musikvideos medial zu ergänzen.63 Vielleicht ist das der Preis für das entscheidende Charakteristikum und Novum von Biophilia, nämlich die Interaktivität, die dieses App-Album als sound toy auszeichnet. Interaktivität verändert die Rolle des Users in entscheidendem Maße: „At its most basic level, interactivity alters the ways in which people listen to sound: we attend to sound in ways that may require us to remember and repeat that sound [in Biophilia zum Beispiel in der Dark Matter-App]. Our relationship to sound is changed by our ability to self-produce those sounds, whether through evoking, creating, selecting or shaping the sound.“64

59 Vgl. N. Dibben: „Visualizing the App Album“, S. 688. 60 Vgl. ebd., S. 691f. 61 Vgl. ebd., S. 693-695. 62 Ebd., S. 688. 63 Vgl. Keazor, Henry: „Portable Music Videos? Music Video Aesthetics for Handheld Devices“, in: Volume! 14/2 (2018), S. 201-210, hier S. 209 (https://www.cairn.info/ revue-volume-2018-1-page-201.htm vom 5.10.2019). 64 K. Collins: Playing with Sound, S. 143.

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„Interactive media by its nature encourages a desire to engage in these types of cocreative practice and to find ways in which the game – and the experience of game sound – can be made our own. By calling into question notions of authorship through these types of cocreativity, the line between professional artist/creator and consumer/player is disintegrating.“65

Die Interaktivität in Biophilia ist indes insofern neu und besonders, als sie über den Touchscreen hergestellt wird. Dibben sieht die Besonderheit dieser Touchscreen-Steuerung darin, dass das Machen von elektronischer Musik und Lernen so zu einem körperlicheren Prozess, einer körperlicheren Erfahrung wird: „The standard tool for electronic music composition is the Digital Audio Workstation, yet tangible musical interfaces such as touchscreens can allow a more embodied form of composition and performance, both for performers and audiences of electronic music. As regards music teaching and learning, Björk saw touchscreens as a way to make music education a more embodied experience, countering what she saw as its unnecessarily dry and abstract theorization of musical structures and processes.“66

Ein höheres Maß an Verkörperung spricht Karen Collins bereits dem geschichtlich etwas älteren Wii-Controller zu, der z. B. in Wii Music (2008) dazu genutzt werden kann, die 50 in dem Spiel enthaltenen Songs zu modifizieren. 67 Das Berühren des optischen Interface Bildschirm stellt demgegenüber eine nochmalige Steigerung der von Collins beschriebenen „gestural congruence which brings an embodied connection back into electronic music production“ 68 dar. Collins pariert damit auch die Kritik, Immersion in virtuelle Welten koppele die Userin von ihrem realen Körper ab. Auch wenn sie sich auf Computerspiele generell bezieht, lässt sich Collins’ Argumentation auch auf Biophilia übertragen: „Recent thinking about embodiment and technology has proposed that rather than disembodying us, technology offers an extended body. [...] We are not disembodied so much as we are reembodied through the game space. [...]. One of the clearest examples of this extension of the body into the virtual world is through sound. As players create, evoke,

65 Ebd., S. 145. 66 N. Dibben: „Visualizing the App Album“, S. 694. 67 Vgl. K. Collins: Playing with Sound, S. 117. 68 Ebd., S. 118.

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shape and voice sound in virtual space, the body and its physicality are brought into the virtual through sound.“69

Ein weiterer Aspekt der Verkörperung ist im Hinblick auf TouchscreenNavigation aber auch das Fühlen bzw. Gefühl von bzw. beim Computerspielen. Für Aubrey Anable stellt der Touchscreen ein Interface dar, das die Beziehung von Hand, also Motorik und Sensorik, und Auge, also Visualität, neu bestimmt und eine neue affektive Assemblage aus Hören, Sehen und Fühlen – im doppelten Sinne – bildet.70 „I propose“, so Anable, „a model that attends to surfaces – of screens and bodies – not as sites of secondary expressions, but rather as crucial sites of touch and entanglement, where representation still matters and representation is matter.“71 Anable zeigt die Verquickung von Berühren (des Touchscreens) und Gerührt-Werden (durch das auf dem Touchscreen dargestellte) exemplarisch am mobile game Sword&Sorcery auf, das, so der Clou des Spiels, nicht zu gewinnen ist; im Endkampf opfert sich der Avatar („the Scythian“), egal was der User über die Touchscreen-Steuerung auch versucht: „In the game’s final battle, no matter how we touch the screen, the Scythian ends up sacrificing herself in order to kill the Gogolithic Mass. Her limp body then floats slowly down the river as people and animals gather along the banks [and] pay their respects. We do not literally press into the hard surface of the touchscreen, yet in Sword&Sorcery we experience [...] a kind of pulling in and down. What we are feeling when we touch the game is, in the most basic sense, code. We are accessing through touch how the game’s algorithms work, and we are learning to manipulate the algorithms according to our desire for a certain outcome. But we also feel the game’s code touching us back, when, in the end, our desire for a certain outcome – the Scythian to live – is trumped by the game’s programming, its desire to move us. To be moved by this sad ending, to be touched by the game, is at least partly bound up in the intimate circuit of feeling among player, narrative, and code made possible at the ludic interface. At the screen, we touch the game and the game touches us.“72

Eine ähnliche Ästhetik des Scheiterns liegt auch der Virus-App in Biophilia zugrunde:

69 K. Collins: Playing with Sound, S. 146f. 70 Vgl. Anable, Aubrey: Playing with Feelings. Video Games and Affect, Minneapolis/ London: University of Minnesota Press 2018, S. 43. 71 Ebd., S. 46. 72 Ebd., S. 66f.

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„This is a kind of game where the viruses are attacking the cell and it’s possible to fling them away [...]. But if you do, the song actually gets stuck, you only hear the first two verses, and then you manage to save the cell, but you don’t get to hear the whole story. So, it’s a game that you actually have to lose in order to win, you have to let the cell die in the center, in order to hear the entire song.“73

Die Userin kann also zwar die Viren an der Infektion der Zelle hindern. Doch der programmierte Code legt fest, dass, nur wenn man es nicht tut und die Infektion und damit Zerstörung der Zelle in Kauf nimmt, der Song bis zum Ende erklingt und man durch den kompletten musikalischen Verlauf und den vollständigen Text „describing [how] infatuation turns out to be about the dangerous relationship between biological virus and host“74 affiziert werden kann. Die Interaktivität in Biophilia ermöglicht dem User nicht zuletzt, das gleiche zu tun wie Björk selbst, die die Bedeutung von Touchscreens für ihr eigenes Musizieren hervorgehoben hat:75 Es wird möglich, elektronische Musik durch Berühren zu erzeugen oder zumindest das elektronische Klangmaterial in gewissen Grenzen zu manipulieren: „By touching the screen, a user does something other than cross its frame. They are able to create within the hybrid space that Bjork [!], Sen, Dbben [!], and Snibe [!] designed. No longer a spectator, the user participates in and through the interface.“ 76

In gewissem Sinne wird die Userin so zu einer Verdopplung Björks, zu einem Björk-Avatar innerhalb dieses „hybrid space“, in dem „play Björk“ somit zwei Bedeutungen zuwachsen: „Play Björk“ kann hier nämlich sowohl das Abspielen des Björk-Albums bedeuten als auch das „Björk Spielen“ im Sinne einer Übernahme der Rolle Björks als via Touchscreen elektronische Musik schaffende Künstlerin durch den User. Mit Biophilia bleibt sich Björk also insofern treu, als sie hier im Rahmen des Spielerischen neue Grenzen überschreitet und Dichotomien auflöst.

73 Björk:

Biophilia:

Virus

App

Tutorial,

00:01:07–00:01:32

(https://biophilia

educational.org/apps/virus vom 18.11.2019). 74 https://biophiliaeducational.org/apps/virus vom 18.11.2019. 75 Vgl. Wright, Katheryn: „Haptic Perception Meets Interface Aesthetics: Cultural Representations of Touchscreen Technology in the Aftermath of the iPhone 2007“, in: Rupkatha Journal on Interdisciplinary Studies in Humanities 9/3 (2017), S. 6. (https://dx.doi.org/10.21659/rupkatha.v9n3.02 vom 5.10.2019). 76 Ebd.

THIS FEELS GREAT Gamedesign und Komposition Annesley Black, Jonas Hansen, Marion Saxer

Marion Saxer Ich begrüße Sie zur letzten Sitzung unserer Ringvorlesung, in der wir uns mit Spielkonzepten in der zeitgenössischen Musik beschäftigen. Bevor ich die heutigen Gäste vorstelle, möchte ich zunächst rückblickend etwas zu der Ringvorlesung sagen, die für Sie als Studierende der Musikwissenschaft eine Zumutung war. Ich möchte Ihnen aber auch sagen, warum sie ein Geschenk war. Sie war Zumutung und Geschenk zugleich: Zumutung war sie, weil wir uns mit Gegenständen beschäftigt haben, zu denen es so gut wie keine musikwissenschaftliche Literatur gibt. Wir haben uns mit einem für die Musikwissenschaft neuen Bereich beschäftigt. Sie können Kulturwissenschaftliches zum Thema Spiel nachlesen, aber eben nicht Musikwissenschaftliches im spezifischen Sinn. Das heißt, wir befassen uns mit einer sehr aktuellen künstlerischen Entwicklung, die sich in den letzten Jahren entscheidend formiert hat. Es ist also ein Themenfeld, zu dem man Ihnen gar nicht so viel Hintergrundliteratur an die Hand geben kann. Wir haben das Themenfeld gemeinsam gesichtet. Dazu haben wir Künstler*innen zum Gespräch eingeladen und Musik- und Kulturwissenschaftler*innen haben ihre Positionen und Beobachtungen vorgestellt. Musikwissenschaft kann sich in noch unerschlossene Bereiche bewegen und das Terrain sondieren. Und wir sind jetzt in der glücklichen Position, eine erste Publikation zu diesem aktuellen Themenfeld herausgeben zu können, die breit angelegt ist und zahlreiche Aspekte thematisiert und zusammenführt. Meine Doktormutter hat mal einen Satz gesagt, den ich nur unterstreichen kann – sie hat gesagt: „In einer Kultur bzw. in einer Gesellschaft, die nur aus der Vergangenheit lebt, möchte ich eigentlich nicht leben, so großartig die Werke der Vergangenheit vielleicht auch sind.“ Und ich würde da gerne noch einen draufsetzen und sagen: In einer Kultur, die sich nur mit Sowieso-Verstandenem beschäftigt, möchte ich auch nicht leben. Wir

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brauchen einen Raum, wo Künstlerinnen und Künstler etwas formulieren, das noch nicht gleich verstanden ist. Da setzt das Denken ein. Und das brauchen wir, glaube ich, als Frischblutzufuhr für unsere Kultur ganz unbedingt. Aber das ist eben auch mit gewissen Zumutungen verbunden, das ist mir schon klar. Ein Geschenk war diese Vorlesung auch an die Studierenden unseres Instituts, weil sie verbunden war mit finanziellen Kosten und mit einem hohen organisatorischen Aufwand. Nochmal ein großer Dank an die Kooperationspartner der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Es ist schon seit langem ein Wunsch von mir, Künstler*innen, heute eine Künstlerin, mit einem technischen – ich weiß gar nicht, wie ich das jetzt nennen soll, da sind wir wieder in einem Bereich, wo wir gar keinen Begriff haben – CoKreateur ins Gespräch zu bringen, weil das eine Entwicklung im 21. Jahrhundert ist, die zunehmend an Bedeutung gewinnt: die Zusammenarbeit zwischen Komponist*innen und Techniker*innen und Programmierer*innen, die ein gewisses Knowhow mitbringen. Ich begrüße ganz herzlich Annesley Black. Spiel und Sport sind Sujets, die Annesley immer wieder beschäftigen in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Und Annesley gehört zu den ersten Komponist*innen Neuer Musik, die ein Computerspiel kreiert haben – gemeinsam mit Professor Jonas Hansen. Sie, Herr Hansen, sind Medienkünstler und Game Designer und Professor für Design und Medientechnologie an der Kunsthochschule Halle im Studiengang Multimedia | VR-Design. Sie hatten freundlicherweise zugesagt, uns zu Beginn in Ihre Arbeit einzuführen. Jonas Hansen Ich arbeite seit 2003 als Medienkünstler.1 1999 bin ich nach Utrecht gekommen, um dort an der Theaterfakultät mit dem Studium des neu gegründeten Studiengangs Design für virtuelles Theater und Games zu beginnen. Das Konzept war, Spieltechnologie als neues Medium aktiv im Theater zu nutzen und gleichzeitig auch Theatertheorie und das Wissen des Theaters in der Gestaltung digitaler Spiele anzuwenden. Zu dieser Zeit wurde der Computer selbst überhaupt erst als ein relevantes Medium gesehen und es war für uns besonders spannend, dies aus dem Blickwinkel des Theaters zu tun. Im Anschluss an das vierjährige Studium habe ich meinen Master in Leiden in dem Studiengang Medientechnologie absolviert mit dem besonderen Fokus auf der Schnittstelle zwischen Kunst, Technologie und Wissenschaft. Diese Verbindungen zwischen künstlerisch-gestalterischen sowie technologisch-wissenschaftlichen Fragestellungen

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Für einen Einblick in die Arbeiten und Tätigkeiten von Jonas Hansen siehe https://pixelsix.net/ (letzter Zugriff: 25.08.2020).

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beschäftigen mich bis heute. Aktuell bin ich an der BURG Giebichenstein Kunsthochschule Halle tätig, an der eine Vielzahl an unterschiedlichen Disziplinen in Kunst und Design gelehrt wird. In meinem Studiengang Multimedia|VR-Design beschäftigen wir uns vor allem mit der Synergie zwischen Technologie und Gestaltung. Obwohl der Studiengang einen stark technologischen Fokus (VR-, AR-, Game-Design, Animation etc.) hat, ist es gleichzeitig ein gestalterischer Studiengang, in dem wir stets probieren, neue kreative Formen des Ausdrucks mit dem Computer zu entwickeln. Aber machen wir einen Sprung zurück zu meiner Beziehung zu Musik und Spiel. Eine frühe Arbeit war das Spiel qbic, meine Abschlussarbeit an der Theaterhochschule in Utrecht: ein Klangspiel, das angelehnt war an Kasimir Malewitschs Malerei. Es war ein Versuch, diese Bilder des Suprematismus interaktiv hörbar zu machen. Dabei ist eine Art Sandbox-Spiel entstanden, bei dem es um die Übersetzung von Farbe und Klang ging. Das Spiel ist von 2003, hinsichtlich der Grafiken sehr einfach und minimalistisch gehalten. Im Spiel repräsentiert das Viereck die Blockflöte, der Kreis die Stimme und das Dreieck die Geige. Je nach Farben können unterschiedliche Geräusche bzw. Tonhöhen gewählt und so eigene audiovisuelle Kompositionen entworfen werden. Ein weiteres Projekt, mein Abschluss des Masterstudiengangs, war CollecTic: ein Spiel, entwickelt für die Playstation Portable, eine der ersten Gamekonsolen, die WLAN-Verbindung hatten und mit denen man mobil herumlaufen konnte. Zu dieser Zeit haben sich alle Spiele im Display abgespielt. Meine Idee war es, wenn man schon nach Netzwerkpunkten scannen kann, die ganze Stadt als Spielfeld zu benutzen. Jeder gescannte WLAN-Punkt wird visualisiert als auch sonifiziert und man muss versuchen so viele Punkte wie möglich in der Stadt einzusammeln. Mittlerweile kennt man das Prinzip von Pokémon Go, aber 2006 war das noch neu und sehr spannend. Ein letztes Spiel, das ich noch vorstellen möchte, ist eher ein konzeptionelles Spiel. Als die ersten Android Smartphones auf den Markt kamen, habe ich das Spiel namens Thumbs down entwickelt. Das einzige, was man im Spiel tun muss, ist es, solange wie möglich den Daumen auf das Display zuhalten. Dann startet ein Timer, der so lange läuft, bis man den Daumen wieder absetzt. Es geht um die Pause. Man kann das auch mit John Cage assoziieren, denn es geht hier um das aktive Ignorieren aller smarten Funktionen des Handys und einfach um das Warten. Den „Daumen Runter“ kann man auch als eine negative Geste den neuen Technologien gegenüber sehen. Interessanterweise wurde es, obwohl es eine so minimale Spielfunktion und eigentlich nichts anderes als Warten ist, doch von Spielern aktiv gespielt. Der Highscore liegt aktuell bei 1 Stunde und 54 Minuten. Spannend daran finde ich, dass es bei diesen Spielen gar nicht unbedingt um das Spiel im Display geht, sondern darum, welche Räume und was für

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Situationen Spiele erzeugen können zwischen Spieler, Spielraum und Apparat. Als damals die Idee aufkam, mit Annesley Black eine Kollaboration zu starten, war ich Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln. Annesley Black Diese Zusammenarbeit lief über den Deutschen Musikrat im Rahmen meiner CDProduktion.2 Der Musikrat kam auf die Idee, Jonas zu kontaktieren und mit ihm und drei Kölner Studierenden aus dem Bereich Game Design für die Entwicklung dieser Spiele zusammenzuarbeiten. Da ich mich, wie Marion Saxer schon gesagt hat, mit Sport und in verschiedenen Stücken auch mit Spiel-Elementen befasst habe, fand ich es eine gute Idee, erstmals mit Game Designern zu arbeiten. Von Beginn an fand ich es wichtig, dass ich den Game Designern viel Freiheit gebe. Gerade weil ich selbst keine Game Designerin bin, wollte ich nicht sagen: Ich will ein Game machen, das so und so funktioniert. Deswegen habe ich ihnen nur meine künstlerischen Ideen geschildert, was in den jeweiligen Kompositionen wichtig war für mich und was übertragbar wäre in so ein Computerspiel. Dann habe ich abgewartet, auf welche kreativen Ideen die Studierenden auf dieser Basis kommen. Es gibt bei THIS FEELS GREAT vier Spiele und jedes dieser Spiele ist mit jeweils einem Stück auf der CD verbunden. Das künstlerische Team bestand also aus Jonas Hansen und den drei Studierenden Andreas Schönau, Jairo Gutiérrez und Milan Grajetzki sowie Hazel Meyer und mir. Hazel Meyer ist eine bildende Künstlerin und sie hat die grafische Gestaltung für diese Spiele gemacht. Hazel und ich haben viel zusammengearbeitet bei Projekten, bei denen es thematisch um Sport ging, denn sie als Künstlerin bewegt sich sehr viel in diesem Themenbereich.3 JH Das war für uns das Material, mit dem wir dann im kleinen Team gearbeitet haben: einerseits die Musik, aus der wir kleine Ausschnitte und Samples herausgenommen haben, und andererseits ganze Bücher voll mit Zeichnungen von Hazel Meyer, von kleinen Skizzen bis hin zu ausgearbeiteten Illustrationen. Jeder von uns vier Game Designern hat dann ein einzelnes Spiel entwickelt. Basierend auf

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„Annesley Black: NO USE IN A CENTRE: Humans in Motion / aorko / tender pink descender / Smooche de la Rooche II / misinterpreting the 2008 south sudanese budget reform for the orchestra“ + SPIELE-DVD „THIS FEELS GREAT“ WERGO 2013 (WER 6590 2).

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Für einen Einblick in die Arbeiten und Tätigkeiten von Hazel Meyer siehe https://www.hazelmeyer.com/ (letzter Zugriff: 25.08.2020).

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diesen Fragmenten sind sozusagen wieder neue Kompositionen entstanden. Um diese vier Spiele miteinander zu verknüpfen, gibt es in jedem Spiel versteckte Sterne, die man suchen und freischalten kann, um so die Motivation zu triggern, die Spiele öfter zu spielen. AB Ich habe auf verschiedene Weise mit jedem gearbeitet. Zum Beispiel das Spiel in diesem Ausstellungsraum – ein Raumerkundungsspiel – ist strukturell anders als das Flipperspiel, weil sich dort der Raum verändert, je nachdem, wie du dich bewegst. Und genauso hat Andreas, der dieses Spiel entwickelt hat, auch mit den Klängen gearbeitet. Er hat Klänge aus meiner Musik genommen, die ihn angesprochen haben, und er hat sie zu bestimmten Objekten kombiniert. Das war ein sehr intuitives und sehr wirkungsvolles Vorgehen. MS Habe ich das richtig verstanden: Andreas Schönau als Game Designer hat die Klänge ausgewählt? AB Ja, er hat sich zum Beispiel auch Klänge von bestimmten Stücken gewünscht – insbesondere von der Komposition aorko für Viola und Elektronik. Er wollte bestimmte Klänge daraus haben. Und so haben sich auch die anderen für spezifische Klangwelten entschieden und ich habe das für sie zusammengeschnitten. MS Im Prinzip hast du also ein Klangarchiv zur Verfügung gestellt mit deinen Stücken? JH Wenn ich das ergänzen darf: Ja, Annesley hat eine Auswahl an Klängen bereitgestellt, darüber hinaus aber auch die konzeptionelle und formale Anlage der jeweiligen Stücke. Das Seilspring-Spiel zum Beispiel bezieht sich konkret auf die Komposition smooche de la rooche II, bei der die Musiker auf der Bühne Seil springen.

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Abbildung 1–4: Screenshots aus den Computerspielen THIS FEELS GREAT. (Credit: Andreas Schönau, Jairo Gutiérrez, Jonas Hansen, Milan Grajetzki, Kunsthochschule für Medien Köln; Illustrationen: Hazel Meyer)

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AB Weil alle Spiele so impulsartig sind, war es mir wichtig, über die Klanggestaltung eine Dramaturgie entwickeln zu können. Wenn man ins nächste Level kommt, ändern sich die Klänge. Das ist vielleicht subtil, man merkt es vielleicht nicht sofort. Aber es war mir wichtig, dass man nicht nur ein Mickey-Mousing von Aktion zu Klang hat, sondern dass ich klangspezifische Dramaturgien innerhalb der einzelnen Spiele schaffen konnte. JH Das ist die besondere Herausforderung bei der Gestaltung der musikalischen Ebene eines Computerspieles, weil man nicht wie bei einem Konzertstück einen zeitlichen und formalen Ablauf komponieren kann, sondern die Musik im Computerspiel auf Interaktionen und die Zeit, wie lange ein Spieler in einem Prozess ist, reagieren können muss. Dafür benötigt man Samples für eine gewisse Phase, die sich dann aber auch innerhalb dieser Phase verändern können. Man muss vielmehr in Klangräumen oder Klangteppichen denken. MS In einer der vorangegangenen Sitzungen hat Ulrich Wilker Biophilia von Björk vorgestellt.4 Es ist eigentlich ganz schön, diese beiden Projekte voneinander abzusetzen. Denn bei Björks Game-Applikationen ist es so, dass meines Erachtens pädagogisiert wird und die Spielenden bestimmte musikalische Strukturen oder irgendwelche Skalenausschnitte zu erinnern lernen. Da ist es so, dass Björk selber auch wie eine Art Lehrerin auftritt und erklärt, was man lernen soll im jeweiligen Video. Hier ist die Zielrichtung eine andere. Vielleicht könnt ihr dazu beide auch etwas sagen: diese Verbindung, die hier diese visuelle spielerische Ebene und der Klang bei euch eingehen, die zielt doch auf etwas ganz anderes ab? AB Die einzige aus unserem Team, die hier auftritt, ist Hazel Meyer. Sie taucht visuell auf, weil sie sich selber auch viel in ihren Arbeiten zeichnet. Das ist eine Komponente, die alle vier Spiele vielleicht verbindet: es ist eine Hazel-ähnliche Figur, die Seil springt, die sich hinter der Tür versteckt, deren Darm als Spiel-Feld gezeichnet ist. Aber sie ist keine Lehrerin, sie ist Künstlerin. Sie erklärt nichts, sie schwitzt und seufzt beim Springen, sie ächzt und stöhnt, weil sie Bauchweh hat.

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Siehe den Beitrag von Ulrich Wilker in diesem Buch, S. 247-263.

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JH Man könnte sagen, dass wir in diesen vier Spielen auch vier verschiedene Perspektiven einnehmen: zunächst haben wir den Außenraum, der beschrieben wird mit der Figur, die hinter der Tür steht, dann spielen wir die Figur, dann gehen wir in sie hinein und enden in einer fast abstrakten Klangwelt. Aber wir hatten bei der Entwicklung der Spiele nicht irgendeinen Anspruch, dass man etwas Konkretes erlernen sollte, außer die Spielmechaniken und Rätsel der Spiele selbst, um so eine andere Perspektive auf Annesleys Musik zu bekommen. Das unterscheidet uns eventuell von dem Spiel von Björk, bei dem man schon etwas über die Komposition und Struktur ihrer Stücke lernen soll. MS Ja, vielleicht ist das so. Ich glaube aber auch, dass die Zielsetzung bei euch eine andere ist. Mich würde interessieren, wie ihr die Zielsetzung beschreibt, gerade in Verbindung mit Klang. Das ist das vollkommen Neue, dass diese Ebene des Computerspiels in seiner Visualität und mit seinen üblichen Funktionen, die wir kennen, jetzt in einer besonderen Weise mit einer klanglichen Ebene gekoppelt ist. Wie würdet ihr die Verbindung von Audiovisualität und Annesleys Musik beschreiben? JH Grundsätzlich – auch in dieser Kooperation – ist es so, dass man beides erstmal als gleichberechtigtes Medium sieht und dadurch auch das Gefühl hat, etwas finden zu müssen, das es zusammenbringt, ohne dass man probiert, nur ein Musikstück zu visualisieren. Es ging darum, irgendwie eine Form zu finden. Und da kann es eine Strategie sein, das Material teilweise umzufunktionieren. Das wirft dann aber wiederum die Frage auf, wie man die Verknüpfung zur ursprünglichen Komposition nicht verliert. Für die drei Studierenden waren es deren erste Spiele, sie wollten wirklich eine eigene Form des Mediums, einen eigenen Ausdruck entwickeln. Deren Duktus und Ideen finden sich in den Spielen wieder. MS Also könnte man sich auch Rezeptionen vorstellen, bei denen die Spieler mal vom Visuellen abswitchen und sagen: ach, diesen Klang fand ich jetzt interessant, den will ich mal mit jenem Klang kombinieren. Dass es also ein Splitting geben könnte zwischen visuell geleiteter Spielaktion und klanglich intendiertem Agieren auf der Spielfläche – war das dezidiertes Ziel?

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AB Ich kannte Spiele, die genau so angelegt sind, zum Beispiel von Kirsten Reese. Aber ich wollte in dieser Gemeinschaftsarbeit, dass die Game Designer ihre Freiheit haben, denn es sollte trotzdem ein Spiel bleiben. Andernfalls spielt man zwar mit Klang, aber es fehlt die wettbewerbsartige und regelbasierte SpielKomponente. MS Das bedeutet, dass du, Annesley, als Künstlerin auch dazu bereit warst, ein Stück zurückzutreten. (Das wäre interessant für die Genderforschung, zu überprüfen, ob das auch männliche Komponisten so machen würden.) Das Spiel sollte also auch in seiner Spielhandlung über die Visualität geleitet passieren? AB Ja. Und da gibt es schon Sachen, die ich mir wünsche, wenn ich das spiele – und ich glaube, das geht anderen auch so. Wenn man sich wünscht, einen bestimmten Klang nochmal zu hören und dann versucht, diesen Klang erneut auszulösen, ist das ein Teil des Spiels. Aber ich kann den gewünschten Klang nicht so einfach auslösen, ich muss das kontrollieren, das ist dann wieder eine Herausforderung. Beim Spielen möchte man eine Runde weiterkommen, weil man weiß, dass die Klänge sich ändern. JH Man muss sagen: es war ein sehr untypisches Projekt. Das erwähnte Björk-Spiel war eine Auftragsarbeit und ist im Studio produziert worden. Aber hier ist Annesley Black an die Kunsthochschule der Medien in Köln gegangen, die sehr individuelle Medienkünstler ausbildet, die alle auch ihren eigenen Ausdruck suchen. In dieser Konstellation war es nicht möglich zu sagen, wir machen jetzt eine Auftragsarbeit. Das sollte eine Kooperation sein zwischen Annesley, Hazel, den drei Studierenden und mir, in der alle ihr eigenes Ding machen innerhalb des übergeordneten Zusammenhangs. Das war auch die Chance, fand ich, weil Annesley sich dafür geöffnet hat. MS Trotzdem würde ich da jetzt gerne nochmal die Frage anschließen, ob diese Spiele, die ihr hier gemacht habt, Kunstcharakter haben? Das ist, finde ich, eine spannende Frage. Geht jetzt hier das Game in die Sphäre der Kunst hinein?

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AB Wir haben uns im Vorfeld über ein Zitat meines Professors für Komposition unterhalten, das blieb mir immer im Kopf. Ich habe bei ihm studiert, als ich das Seilspring-Stück geschrieben habe. Ich habe ihm von der Idee erzählt, er war nicht so überzeugt und hat mir davon abgeraten, das Stück zu schreiben. Dann hat er mir gesagt: Musik bzw. Kunst ist kein Spiel. Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, wie er das meinte. Und ich habe mittlerweile ein Verständnis dafür, warum er das sagte und wie er es meinte: Er ist ein politischer Komponist. Er hat etwa 40 Jahre daran geglaubt, dass seine Musik eine politische Wirkung haben könnte. Er hat gedacht, er könnte die Gesellschaft ändern mit Klängen. In Kunst liegt die Möglichkeit, eine Welt zu erschaffen, in der man Regeln selbst bestimmen und diese wiederum brechen kann. In Kunst kann man unsere Gesellschaft bzw. Realität widerspiegeln oder auch andere Realitäten konstruieren. Man kann Klänge wie Menschen behandeln, mit Empathie, Respekt und Vertrauen. Ich glaube, er wollte mit diesem Vertrauen niemals spielen. JH … und als Annesley mir das dann erzählt hat, gingen bei mir die Alarmglocken an, denn für mich ist das etwas so Grundlegendes: Ich kann nur mit dem Computerspiel als Medium arbeiten, indem ich es auch als ein künstlerisches Medium begreife. Ich würde sogar sagen: Es gibt keine Kunst ohne Spiel. Also eher anders herum gedacht, so wie bei Homo Ludens von Johan Huizinga beschrieben, dass bei jeglicher Form des Kulturschaffens das Spiel immer dabei ist. Und so sehe ich auch die Computerspiele: Natürlich haben sie einen künstlerischen Charakter. Und ich denke auch, sie sind ein eigenes Medium, sie haben eine eigene Form des Ausdrucks. Bei ganz großen Spielproduktionen ist dann der Ausdruck kleiner und das monetäre Interesse viel größer – aber auch da lässt sich eine Form der Autorenschaft feststellen mit einer künstlerischen Intention. MS Also ich bin eigentlich völlig d’accord, aber ich insistiere nochmal: Wenn ihr den Anspruch eines Kunstcharakters erhebt, worin liegt der? Wenn ich jetzt mal provokant wäre, könnte ich sagen: es sind bekannte Spielfunktionen, die kennen wir aus anderen Spielen auch, es ist ein sehr schönes, visuelles, nettes, einfallsreiches Design, und dann sind diese Spielfunktionen mit Klängen gekoppelt. Das sind besondere Klänge, das sind auch Klänge, die mir sehr gut gefallen. Aber gibt es da noch etwas, was das noch näher spezifizieren könnte, warum diese Form des Computerspiels in der Sphäre der Kunst zu verorten ist?

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JH Mir fällt es schwer, Kunst als ein Qualitätsmerkmal zu begreifen. Es ist schwierig, beurteilen zu wollen, wann ein Computerspiel Kunst ist und wann nicht. Es sind Computerspiele und die sind mehr oder weniger interessant. Nur wenn ich ein Spiel in einer Kunstgalerie ausstelle, dann ist es eindeutig, dass ich es als Kunstwerk betrachten möchte. Gleichzeitig ist es natürlich auch eine gestalterische Design-Leistung, die nicht von sich aus den Anspruch erhebt: hänge mich in eine Galerie. Sondern sie stellt sich der Bewertung der Anwender bzw. Spieler, die die Form der Interaktion, die Gestaltung genauso wie eventuelle gesellschaftliche Kritik im Medium bewerten. In unserem Projekt haben wir versucht, die unterschiedlichen Gewerke Illustration, Neue Musik und Game Design zu einer spannenden Spielerfahrung zusammenzubringen. MS Vielleicht kommt man ja ohne diesen Begriff aus in diesem Bereich. Ich wollte einfach mal wissen, wie ihr das seht. Ich finde das schon eine wichtige Frage, denn Computerspiele sind ja inzwischen als Kulturgüter definiert worden. JH Genau. Nicht als Kunstwerke per se, aber als Kulturgüter. Das ist natürlich eine wichtige Novellierung des Mediums Computerspiel, weil es dadurch gleichgestellt wird mit dem Film und so auch Anspruch auf Kulturförderung oder Kunstfreiheit im Computerspiel hat. AB Ich finde bei euch Game Designern auch die Arbeitsweise interessant. Es gibt verschiedene Weisen, wie ihr den Entwicklungsprozess organisiert, verschiedene Hierarchien und Arbeitsorganisationen. JH Ja, es gibt einen großen Unterschied zwischen populären, groß produzierten Computerspielen und dem Independent-Bereich: Die großen Studios wie zum Beispiel Ubisoft arbeiten mit Tausenden von Leuten, da ist auch jedes Gewerk ganz klar aufgeteilt. Bei den kleineren Spielen, den Indie-Games, ist vieles aus einer Hand: sie programmieren, sie gestalten – nur die Musik ist immer etwas unterbesetzt. Persönlich finde ich die Indie-Games auch die spannendste Entwicklung, wenn Einzelpersonen oder kleine Teams die Spiele machen, weil sie meistens viel experimenteller hinsichtlich ihrer Form, Spielmechaniken, Ästhetik und Inhalte sind. Große Produktionen, die in die Millionen gehen können, trauen

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sich natürlich weniger, da experimentelle Ansätze hohe Risiken und Kosten bergen können. MS Ich fand eigentlich die Antwort, die ihr auf den Kunstcharakter gegeben habt, sehr gut. Denn ich denke da an einen Satz von Morton Feldman, der mal über die Musik der 1950er Jahre in etwa Folgendes gesagt hat: „In den 50er Jahren, da gab es einen Moment, da wusste kein Mensch, was Kunst ist – und da haben wir angefangen.“ Und eigentlich habt ihr genau das beschrieben. Da gibt es so ein Zwischenfeld, aber genau da ist ein produktiver Moment und da kann man anfangen, auch etwas auszuprobieren und etwas zu gestalten. Das kann auch dieser Bereich des Spiels im Kontext der Musik sein, den wir jetzt anvisiert haben. Es ist eben noch nicht kodifiziert, da fängt etwas an. Ich habe noch eine Frage an Annesley, an dich als Komponistin. Du hast aus deinen Stücken die Schnipsel zur Verfügung gestellt für die Spieledesigner. Du musstest das ja schneiden und deine Kompositionen in Fragmente auflösen. Was war das für ein Prozess für dich und hatte das irgendwelche Konsequenzen oder Auswirkungen auf dein Komponieren? AB Ich habe die Stücke zellenhaft kennengelernt. Ich musste einzelne Fragmente von deren Kontext in den Stücken befreien. Zum Beispiel das Kontrabassklarinettenduo ist aus Zellen gebaut. Jede Zelle ist unterschiedlich und das macht sich im Spiel bemerkbar. Wenn das nächste Level erreicht wird, gewinnen die Zellen andere klangliche Qualitäten. Wenn ich dieses Spiel selbst spiele, höre ich einige Aspekte von den ersten Phasen meiner Kompositionsverfahren in dem Stück. JH Was übrigens auch ganz schön war, dass wir zur Veröffentlichung das Spiel als Live-Performance mit Musikern und Annesley als Spielerin des Spiels kombiniert und aufgeführt haben. AB Ja, das war lustig. Wir haben in einer Ausstellungseröffnung der Hochschule der Medien in Köln als Trio gespielt, also zwei Kontrabassklarinetten und ich. Ich

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habe die Spiele mit den Klarinetten zusammen gespielt.5 Dabei habe ich versucht, das Spiel musikalisch zu spielen, und die Musiker haben wiederum live auf das Bild reagiert. MS Da haben wir ein ganzes Konglomerat an Stücken und Aufführungsmöglichkeiten. Ich möchte abschließend noch auf politische Dimensionen von Computerspielen zu sprechen kommen. JH Meine Spiele, zum Beispiel diese zwei Spiele, die ich vorhin kurz vorgestellt habe, die kann man auch politisch betrachten: Wenn man mit dem Handheld durch die Stadt geht und die Entwicklung unsichtbarer Netzwerkstrukturen von WLANRoutern erkundet, hat das auch eine politische Dimension, oder zumindest ist es eine Reaktion auf Technik. Gleichzeitig kann man bei Thumbs down das Negieren von Technologien auch als Aktivismus sehen. Es gibt natürlich noch viel mehr eindeutig politische Spiele. Zum Beispiel Paolo Pedercini, der mittlerweile Professor an der Carnegie Mellon University ist, hat eine Vielzahl an politischen Spielen entwickelt.6 Ein bekanntes Spiel war zum Beispiel Phone Story von 2011, bei dem man in kleinen Minispielen von den katastrophalen Zuständen in einem Lebenszyklus eines Apple iPhones erfährt, von dem Abbau von seltenen Erden bis hin zu fragwürdigen Recyclingmethoden.7 Das Spiel ist mittlerweile vom Apple-Store ausgeschlossen und die Gewinne, die er mit dem Verkauf des Spiels gemacht hat, wurden für NGOs gespendet, die an einer Verbesserung der Arbeitsumstände betroffener Menschen arbeiten. Das ist natürlich höchst politisch. AB Was ich auch noch wichtig finde ergänzend zu dem, was du, Jonas, gesagt hast: Die Defunktionalisierung von Spielen ist meiner Ansicht nach auch eine politische Dimension. Es gibt zum Beispiel ein sehr schönes Spiel mit dem Titel Dinner Date über einen Mann, der auf eine Frau wartet, mit der er zum Abendessen verabredet ist – doch sie erscheint nie.8 Das ganze Spiel besteht nur daraus, dass man in dem

5

Im Rahmen der Veranstaltung „PAUSE – Computer Games and Cultural Contingencies“ in der Temporary Gallery Köln (20.-24.11.2013).

6

Für Einblicke in die Arbeiten von Paolo Pedercini siehe http://molleindustria.org (letzter Zugriff am 04.09.2020).

7

http://www.phonestory.org (letzter Zugriff am 04.09.2020).

8

Dinner Date, Stout Games. http://stoutgames.com/:DinnerDate

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Restaurant sitzt und wartet. Man darf essen, trinken, rauchen und lernt immer mehr über seinen psychologischen Zustand, während er langsam merkt, dass er versetzt worden ist. Es gibt auch eine Reihe von anderen Spielen, die von Depressionszuständen handeln.9 Ich finde, es ist auch eine schöne politische Aktion, die Funktion eines Spiels umzudrehen. JH Es ist auch der Definition von Spiel immanent, dass man eine gewisse Freiheit haben muss. Ich muss, ohne Konsequenzen zu fürchten, im Spiel alles ausprobieren dürfen. Man kann nicht zum Spielen gezwungen werden. Dann ist es kein Spiel mehr. Es braucht auch eine gewisse Form des Abkapselns, eine Trennung vom Spielraum zum Alltag. Dass dies auch wieder politisch sein kann, schwingt immer mit. Der Vorwurf dem Spiel, im Besonderen dem Computerspiel gegenüber, dass es weltfremd ist, dass man sich isoliert, dass man abtaucht und dass ein gewisser Eskapismus gelebt wird, kommt schnell auf. Wie ein Spiel wirkt, hängt natürlich stark vom Game Designer ab. Ich glaube, dass man Game Design, das Definieren von ganz klaren Regeln, mit Komponieren von Musik vergleichen kann. Der Game Designer muss klare Regeln definieren, innerhalb derer sich der Spieler bewegen kann, so wie der Komponist klare Regeln definiert, innerhalb derer sich die Musiker bewegen. Da gibt es gewisse Parallelen, nur ist der Umgang mit der Zeitachse bei Musik häufig linearer. AB Wir haben über ein Dreieck gesprochen: der Autor – das Entwicklerteam – die Spieler. Und das verglichen mit der Trias Komponist – Musiker – Zuschauer. Darüber kann man nachdenken. [Frage aus dem Publikum] Meinen Sie, es ist gelungen an diesem Projekt, weder die Musik zu sehr zu betonen, noch das Gameplay zu sehr zu betonen? So wie ich es verstanden habe, war das Ziel, beides in seiner eigenen Form zu respektieren. Haben Sie das geschafft?

9

Siehe beispielsweise Depression The Game, https://store.steampowered.com/app/ 881920/Depression_The_Game/ (letzter Zugriff: 07.09.2020).

278 | Annesley Black, Jonas Hansen, Marion Saxer

JH Ich denke schon, dass wir es geschafft haben, eine gemeinsame Form zu finden, die gleichzeitig die unterschiedlichen Ansätze und Ideen der beteiligten Personen mit aufnimmt. So haben die Spiele zwar keine einheitliche Handschrift, ermöglichen aber ganz unterschiedliche Erfahrungen mit und Perspektiven auf die Musik. Die ist eindeutig ein Mehrwert zur Musik-CD, was zum Beispiel eine reine Illustration eines CD-Covers oder Booklets gar nicht bieten könnte. Die Spiele selbst sind natürlich nicht absolute Neuwerke, die das Medium Computerspiel revolutionieren, aber uns und allen Beteiligten hat es die Möglichkeit geboten, neu über Spiele im Zusammenhang mit Musik nachzudenken. Und für die nicht so spieleaffinen Zielgruppen bieten die Spiele vielleicht eine interessante Perspektive auf Annesleys Musik. AB Ja, ich denke auch. Ursprünglich habe ich mir gewünscht, dass bei den Spielen eine klangliche Entwicklung stattfindet, dass also die Klänge zum Beispiel bei jedem neuen Level in eine neue Umgebung gesetzt werden und jedem einzelnen Klang eine neue musikalische Funktion zugeordnet werden würde. Das ist nicht bei jedem Spiel zustande gekommen. Vielleicht kann man die Tatsache, dass dieses Ziel nicht verwirklich wurde, als Scheitern sehen. Es war aber nötig, um dieser abgekapselten Form, die Jonas angesprochen hat, gerecht zu werden. Die Spiele sind aber auf eine Weise gelungen, die ich nicht vorhersehen konnte. Die Spiele haben durch die Zusammenarbeit mit den Medienkünstlern und Hazel ihr eigenes Leben gewonnen. Manchmal muss man dazu bereit sein, sich von der eigenen Position zu distanzieren, diese vielleicht kurzzeitig zu verlassen und sich selbst aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten – damit eine interdisziplinäre Kollaboration gelingt. Es ist ein Spiel der Flexibilität, und dieses Spiel ist abgekapselt, wie die Computerspiele. Es kann viel Auswirkung auf einen selbst und die eigene weitere Arbeit haben, je nachdem, wie stark man sich öffnet. MS Das nehmen wir als Schlusswort. Mir hat gefallen, dass wir alle gemeinsam unsere Fühler in die Zukunft ausgestreckt und gemeinsam überlegt haben, wie es auf diesem Feld weitergehen könnte, nach all diesen Sondierungen, die wir im Verlauf dieses Semesters vorgenommen haben. Vielen Dank.

Autor*innen

Annesley Black (*1979 in Kanada) ist Komponistin. Ihre Werkliste umfasst verschiedenste Gattungen, Konzertformate und Medien. Sie arbeitete mit zahlreichen renommierten Künstler*innen aus verschiedenen Kunstbereichen zusammen und erforscht eine ungewöhnliche Breite innovativer Themen und Konzepte. Ihre Kompositionen weisen mit ihren komplexen kompositorischen Strukturen eine ausdrucksstarke und eigenständige Musiksprache auf. Sie studierte an der McGill University (Montréal), an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und an der Musikhochschule Freiburg Komposition bei Brian Cherney, York Höller und Mathias Spahlinger sowie Elektronische Musik bei Hans Ulrich Humpert und Orm Finnendahl. Für Ihre Kompositionen erhielt Annesley Black verschiedene Auszeichnungen, u.a. den Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart (2009) und einen Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung (2019). 2018 wurde sie zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin gewählt. Annesley Black lebt in Frankfurt am Main. Sie unterrichtet als Lehrbeauftragte für Komposition mit neuen Medien am Dr. Hoch’s Konservatorium und lehrt Komposition und Technologie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Prof. Dr. Marko Ciciliani ist Komponist, audiovisueller Künstler und Performer. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der performativen Verwendung von Elektronik in Kombination mit Licht-, Laserdesign und/oder live generiertem Video. Seine Werke, die in mehr als 45 Ländern aufgeführt wurden, entziehen sich der eindeutigen Zuordnung zu einzelnen Genres und sind folglich ebenso auf Festivals der Postavantgarde wie z. B. den Donaueschinger Musiktagen oder dem Huddersfield Contemporary Music Festival anzutreffen wie auf Festivals oder Konzertserien der experimentellen elektronischen Musik, etwa am ZKM/ Karlsruhe oder Ibrasotope/São Paulo, oder auch in Zentren der Medienkunst wie Ars Electronica/Linz oder iMAL/Brüssel. Ciciliani ist Universitätsprofessor für Komposition Computermusik am Institut für Elektronische Musik und Akustik

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(IEM) der Kunstuniversität Graz. 2014, 2016 und 2018 war er Tutor für Komposition bei den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt und ist seit 2020 künstlerischer Leiter des Sommerworkshops ChampdAction.LAbO für intermediale Kunst und des Festivals TimeCanvas in Antwerpen. Dr. Karin Dietrich (*1971) leitet seit Juni 2014 das Institut für zeitgenössische Musik IzM an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Sie studierte Musikwissenschaft und Soziologie an der Universität Freiburg, wo sie am Handwörterbuch der musikalischen Terminologie mitarbeitete, sowie an der Universität Karlsruhe und der Sorbonne in Paris. Ihre Dissertation über die Ballets Suédois schloss sie 2014 ab. Sie arbeitete als Musikdramaturgin u. a. an der Staatsoper Stuttgart, am Staatstheater Darmstadt und am Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Als Dramaturgin ist sie regelmäßig beim Hessischen Staatsballett zu Gast und arbeitet mit freien Projektteams. Im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 zeichnete sie verantwortlich für die Dramaturgie und das Projektmanagement für „Das Henze-Projekt. Neue Musik für eine Metropole“ mit über 200 Veranstaltungen und zahlreichen Publikationen. Sie fertigt LibrettoÜbersetzungen aus dem Französischen und Englischen an für Chester Music London, Amin Maalouf und Kaija Saariaho, Lucia Ronchetti, die Alte Oper Frankfurt und die Wiener Festwochen. Außerdem schreibt sie regelmäßig für Festivals und Ensembles. Prof. Orm Finnendahl studierte 1983-90 Komposition und Musikwissenschaft bei Frank Michael Beyer, Gösta Neuwirth und Carl Dahlhaus in Berlin. 1995-98 weiterführende Studien bei Helmut Lachenmann in Stuttgart. 1988/89 besuchte er das California Institute of the Arts in Los Angeles, 1991-95 war er künstlerischer Leiter der Kreuzberger Klangwerkstatt. Unterrichtstätigkeit u.a. am elektronischen Studio der TU Berlin und dem Institut für Neue Musik der HdK Berlin, deren Leiter er von 1996-2001 war. In den Jahren 2000-2004 Lehrtätigkeit am Institut für Computermusik und elektronische Medien (ICEM) der FolkwangHochschule in Essen. Verschiedene Stipendien und Preise, darunter Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart 1997, Busoni-Preis der Akademie der Künste Berlin 1999, Prix Ars Electronica Linz 2001 und CynetArt Award 2001 in Dresden. Sein Interesse an elektronischen Medien und der durch sie provozierte Versuch einer fortwährenden Neubestimmung des eigenen Selbstverständnisses führte zu Kompositionen, die technologische Hilfsmittel wie Computer, Zuspielbänder und Live-Elektronik einbeziehen. Seit 2000 verstärkte Zusammenarbeit mit Improvisationsmusikern, Tanzensembles und Medienkünstlern. CD-Veröffentlichungen bei Wergo. 2004-2013 Professor für Komposition und Leiter des

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Studios für elektronische Musik und Akustik (selma) an der Musikhochschule Freiburg. Seit 2013 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Prof. Jonas Hansen ist Prorektor für Studium und Lehre Fachbereich Design und Professor für Design und Medientechnologie im Studiengang Multimedia|VRDesign an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Er ist Gründungsmitglied von Stichting z25.org (Utrecht, 2003) und dem Paidia Institute (Köln, 2009). Von 2007–2016 war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln im Bereich experimentelles 3D und Games und hatte Lehraufträge im Bereich Game Design am Cologne Game Lab (TH Köln, 2014–2015). In seiner Arbeit beschäftigt er sich mit interaktiven Installationen bis hin zu experimentellen Spielen, die häufig die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt untersuchen. Mit Arbeiten und Vorträgen war er auf Ausstellungen, Festivals und Konferenzen vertreten, beispielsweise im Museum of Modern Art (Rovereto), beim ComeOutAndPlay Festival (Amsterdam), bei der Ars Electronica (Linz) und Transmediale (Berlin), bei der Translife International Triennial of New Media Art China (Beijing) sowie im Nam June Paik Art Center (Seoul) und im ZKM Karlsruhe. https://j-hansen.de Robin Hoffmann (*1970) studierte zunächst Gitarre am Dr. Hoch’s Konservatorium und an der Musikhochschule in Frankfurt (pädagogische und künstlerische Ausbildung), worauf ein Kompositionsstudium bei Nicolaus A. Huber an der Folkwanghochschule in Essen folgte. Er wohnt seitdem in Frankfurt a. M. und ist neben seiner freiberuflichen Tätigkeit als Komponist Dozent für Komposition/Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt mit zusätzlichen Lehraufträgen am musikwissenschaftlichen Institut der Philipps-Universität Marburg. Er komponiert für Solo-Instrumente, Kammermusik, Ensemble, Orchester und vokale Besetzungen, zudem elektroakustische Kompositionen und experimentelle Improvisation. Zahlreiche kooperative Projekte, musikintern und über sie hinaus mit Tänzern, Choreographen, bildenden Künstlern, Medienkünstlern oder Schriftstellern. Seine Arbeiten werden weltweit, gleichermaßen von jungen, engagierten Musikern und Musikerinnen und von im Musikbetrieb etablierten Ensembles und Orchestern aufgeführt auf Festivals wie dem Warschauer Herbst, dem Gogolfest Kiew, Stockholm New Music Festival, ECLAT Stuttgart, den Wittener Tagen für Neue Kammermusik oder Ultraschall Berlin. Workshops, Lectures, Vorträge z. B. bei den Darmstädter Ferienkursen, der Darmstädter Frühjahrstagung des INMM, Akademie der Künste Berlin; Publikationen von Aufsätzen und Essays in diversen Fachzeitschriften und

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Tagungsbänden (MusikTexte, edition text+kritik, Edition Neue Zeitschrift für Musik u.a.). Für seine Kompositionen wurde Robin Hoffmann mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit einem 1. Preis beim Deutschen Studienpreis der KörberStiftung 2002, dem Stuttgarter Kompositionspreis 2005, dem Kranichsteiner Kompositionspreis 2006 und zuletzt dem Hans-Werner-Henze-Preis des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 2019. Julian Kämper (*1989) ist Musikwissenschaftler, Dramaturg und Journalist im Feld der zeitgenössischen Musik. Er hat Musikwissenschaft mit Nebenfächern Kunstgeschichte und Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg studiert. Aktuell promoviert er über Prinzipien von Sport und Spiel in der Neuen Musik. In den Spielzeiten 2014/15 und 2015/16 war er Dramaturgieassistent an der Jungen Oper der Staatsoper Stuttgart. Als Dramaturg arbeitet er eng mit Komponist*innen und interdisziplinär arbeitenden Künstler*innen zusammen, um themen- und raumspezifische Konzertformate und Präsentationsformen zu entwerfen. Mit dem Münchner trugschluss-Kollektiv konzipiert und realisiert er Projekte in der Freien Szene sowie in Kollaboration mit Kulturinstitutionen wie den Münchner Philharmonikern. Julian Kämper schreibt und produziert regelmäßig Features, Interviews und Essays für Zeitschriften sowie für öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten. Dr. Sarah Mauksch ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Nach ihrem Studium der Theaterwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Musiktheaters, der Musikwissenschaft und Neueren deutschen Literaturwissenschaft in Bayreuth und Ferrara, Italien promovierte sie 2018 im Promotionsstudiengang Musik & Performance am Forschungsinstitut für Musiktheater Thurnau der Universität Bayreuth mit einer Arbeit über Wechselwirkungen von Klang und Raum in zeitgenössischen künstlerischen und musiktheatralen Arbeiten (Klang-RaumKonfigurationen. Ästhetische Situationen zwischen Aufführung und Ausstellung, Königshausen & Neumann: Würzburg 2020 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater Bd. 48)). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im zeitgenössischen Musiktheater, dem Musiktheater und der Musik des 20. Jahrhunderts, der Klangkunst und in der Entwicklung interdisziplinärer Lehrformate zwischen Musikpraxis und Musikwissenschaft. Sebastian Quack arbeitet an der Schnittstelle von Spiel, Partizipation und urbaner Politik, als Künstler, Game-Designer und Kurator. Seine Projekte sind prozessorientiert und kooperativ. Er ist Gründungsmitglied des Netzwerks Invisible

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Playground, kuratiert Playpublik, das internationale Festival für Spielräume der Öffentlichkeit, und ist Mitbegründer von Drift Club, einer Plattform für zufällige Spaziergänge durch die Stadt. Regelmäßig unterrichtet er Kunst und Design, hält Vorträge und berät Organisationen, wie sie spielerisch mit der Welt um sie herum in Kontakt kommen. Nach dem Studium der Kulturwissenschaft und Informatik (M.A.) an der Humboldt-Universität Berlin war Quack Fellow an der Graduiertenschule der Universität der Künste Berlin. Er war an einer Reihe wegweisender Projekte beteiligt, wie etwa plundr von Area/Code, dem weltweit ersten ortsabhängigen Browserspiel. Weitere Arbeiten realisierte Quack u.a. mit dem Theater HAU Berlin, dem Oerol Festival, dem Victoria & Albert Museum, Metropolis Festival, Aichi Triennale, Urbane Künste Ruhr und Nuit Blanche Paris. 2018 entwarf und kuratierte er mit dem Netzwerk Invisible Playground das Festival Playsonic im Auftrag von Alter Oper, Ensemble Modern und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Sebastian Quack lebt in Berlin. Prof. Kirsten Reese wuchs in Hongkong, den Philippinen und im Rheinland auf und studierte Flöte, elektronische Musik und Komposition in Berlin und in New York. Als Komponistin und Klangkünstlerin komponiert und produziert sie Werke für elektronische Medien und Instrumente sowie intermediale und interaktive Installationen. Eine hervorgehobene Rolle spielen bei ihren Arbeiten raum- und wahrnehmungsbezogene sowie performative und narrative Aspekte. Viele Arbeiten thematisieren Aspekte „dokumentarischen Komponierens“ wie etwa die Komposition mit Archiven und Archivmaterial (z. B. Atmende Kugel für sechs Stimmen und Hermann Scherchens rotierende Lautsprecherkugel) sowie Mediengeschichte und die Spezifität und Aura von historischen und aktuellen medialen Instrumenten. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Kompositionen, Installationen und Audiowalks für Landschaften und den urbanen Außenraum. Seit 2005 unterrichtet Kirsten Reese elektroakustische Komposition an der Universität der Künste Berlin. 2018 war sie Dozentin für Komposition bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und leitete den Workshop „Komponieren mit dem Archiv“. Prof. Michel Roth, geboren 1976 in Altdorf, lebt in Luzern. Er ist Professor für Komposition, Instrumentation und Musiktheorie an der Hochschule für Musik Basel und Mitglied der dortigen Forschungsabteilung. Als langjähriger Leiter des Luzerner Studios für zeitgenössische Musik arbeitete er unter anderem mit Pierre Boulez, Helmut Lachenmann und Peter Eötvös zusammen. Viele Radio- und CDProduktionen dokumentieren sein Schaffen, für das er zahlreiche Preise und

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Förderbeiträge erhalten hat. Seine Werke sind regelmäßig an internationalen Musikfestivals zu hören, darunter die Oper Im Bau (2012, Theater Basel, Zürich, Barcelona) und die depressive Operette Die Künstliche Mutter (2016, Lucerne Festival, Gare du Nord Basel). Daneben forscht und publiziert er über musiktheoretische und interdisziplinäre Themen mit den Schwerpunkten Spieltheorie und Indetermination (u.a. David Tudor), kollaborative Kunst (u.a. Dieter Roth und die Selten gehörte Musik) und Organologie (u.a. betreute er als Ko-Autor die Bände Posaune und Schlagzeug in der Spieltechnik-Reihe des Bärenreiter Verlags). Weitere Informationen unter: www.michelroth.ch. Prof. Dr. Marion Saxer (1960–2020) war Professorin für zeitgenössische Musik und Klangkunst am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Dozentin der Internationalen Ensemble Modern Akademie. Ihre Forschungsschwerpunkte: Musik im Medienwandel, die Interpretation zeitgenössischer Musik, gattungsübergreifende künstlerische Entwicklungen, zeitgenössisches Musiktheater, der Experimentbegriff in der Musik. Zu ihrer Tätigkeit gehörte die Planung von Tagungen und Gesprächsreihen. Sie war Mitglied im Redaktionsbeirat der Zeitschrift Positionen sowie Autorin und Herausgeberin zahlreicher Schriften zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Eine Monografie unter dem Titel „Quintendiskurse“ wird 2021 erscheinen. Dr. Julia H. Schröder ist promovierte Musikwissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkten in zeitgenössischer Kunstmusik, Klangkunst, Musik und Tanz sowie Musik/Sounddesign im Theater, Sound Studies und Konzertsituationen. Dazu veröffentlichte sie Bücher und Aufsätze. Nach Forschungstätigkeit an der Freien Universität Berlin und der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz forscht sie gegenwärtig zu „Theatergeräuschen“ an der Technischen Universität Berlin und lehrt am Masterstudiengang Sound Studies and Sonic Arts der Universität der Künste Berlin. Dr. Regine Strätling ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn (Abt. für Vergleichende Literaturwissenschaft/Komparatistik). Sie studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL), Philosophie und Französisch in Berlin und Paris und wurde 2007 an der Freien Universität Berlin mit der Arbeit Figurationen: Rhetorik des Körpers in den Autobiographien von Michel Leiris promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geschichte und Theorie der Autobiographie, literarische Trauerarbeit, französische Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Maoismus-Faszination in den

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Künsten und Wissenschaften sowie Ästhetiken des Spiels. Zum Thema Spiel und Kunst hat sie vielfach publiziert und mehrere Sammelbände herausgegeben: Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld: Transcript 2012, Witty Art. Der Witz und seine Beziehung zu den Künsten, München: Fink 2014 (gem. mit Erika Fischer-Lichte) sowie Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung, München: Fink 2016 (gem. mit Christian Moser). Dr. Ulrich Wilker studierte Musikwissenschaft, Germanistik sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität zu Köln und schloss das Studium mit einer Magisterarbeit zu Fragen von Zwölftontechnik und Form in Arnold Schönbergs Violinkonzert ab. Ebenfalls in Köln wurde er mit einer Arbeit über Alexander Zemlinskys Operneinakter Der Zwerg als Schlüsselwerk der Moderne an der Schwelle zur neuen Musik promoviert. Die Arbeit an der Dissertation wurde von einem Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Als Lehrbeauftragter hat er an der Universität Köln, an der Musikhochschule Köln sowie an der Universität der Künste in Berlin unterrichtet. Von 2011 bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Joseph Haydn-Institut und erarbeitete dort neben Sinfonieeditionen den nachträglichen Kritischen Bericht zum bereits 1963 erschienenen Notenband mit den letzten drei Londoner Sinfonien (Hob. I:102-104). Seit 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dort forscht er u.a. über die musikalische Repräsentation von Männerbünden in Instrumental- und Bühnenwerken. Seine Forschungsinteressen umfassen daneben die Wiener Schule um Arnold Schönberg, Joseph Haydn (vor allem im Hinblick auf Editionsfragen), nordeuropäische Musikgeschichte (mit einem Schwerpunkt auf dem Schaffen von Jean Sibelius) sowie gender und queer studies.

Personenregister

Abrams, Muhal Richard 122 Adamowsky, Natascha 27f., 39, 44, 158, 172 Adorno, Theodor W. 196 Akkermann, Miriam 200 Alkemeyer, Thomas 68 Althoff, Kai 142 Anable, Audrey 260 Andriessen, Louis 9 Attersee, Christian Ludwig 111113 Austin, Michael 255 Bailie, Johanna 185 Balme, Christopher 155 Barlow, Klarenz 223 Barthes, Roland 29, 34f., 39 Berger, Christiane 69 Berio, Luciano 47, 86 Birnbaum, David 219f. Björk 19, 196, 245-247, 249f., 253, 261 Black, Annesley 19, 263-278, 281 Blickhan, Samantha 250, 255 Blumröder, Christoph von 107f., 252 Boehmer, Konrad 108f. Bombe, Katrin 159 Bondt, Cornelis de 9f. Boulez, Pierre 124, 198, 252-254, 285

Bowie, Lester 123 Bowker, Geoffrey 243 Braxton, Anthony 122 Breton, André 116 Bridgett, Rob 196 Brown, Earle 198, 257 Brus, Günter 112-114, 117 Brüstle, Christa 67 Bussotti, Sylvano 120f. Cage, John 9, 13, 58f., 86, 119, 124126, 130, 148 Caillois, Roger 29, 30, 36, 39-44, 212, 228 Cardew, Cornelius 119-122, 126f, 138, 148 Cardiff, Janet 157, 159, 164, 167, 171 Certeau, Michel de 154, 157, 166168, 172 Chant, Michael 119 Christov-Bakargiev, Carolyn 142 Ciciliani, Marko 18, 217-244, 281 Collins, Karen 197, 200f., 205, 207f, 211f, 247, 250, 255f., 258260 Cortázar, Julio 198 Croft, John 227 D’Alessio, Stefano 231 de Duves, Thierry 24 de Koven, Bernard 63, 189

290 | Musik als Spiel – Spiel als Musik

Debord, Guy 157 Derrida, Jacques 29 Dibben, Nicola 245f., 248-250, 254, 258f. Dietrich, Karin 9, 17, 183-192, 282 Dolphin, Andrew 197, 199, 255257 Duchamp, Marcel 9 Eco, Umberto 46f., 51, 256 Ehmann, Philipp 185 Eno, Brian 199 Ensemble Modern 17, 168f., 183, 185f, 285 Ensemble Mosaik 138 Ensemble Proton Bern 145 Ensemble Recherche 164 Ensemble Vortex 145 Erciyas, Begüm 185 Fähndrich, Walter 111 Fall Out Boy 249 Feldman, Morton 198f. Finnendahl, Orm 17, 183-192, 281f. Fischer, Ralph 166f., 171 Fischer-Lichte, Erika 67f., 70, 155f., 227, 287 Flanagan, Mary 116, 128, 136f., 149, 150 Forsythe, William 70 Freud, Sigmund 49 Fritsch, Melanie 205, 211f., 255 Fuller, Buckminster 125 Gadamer, Hans-Georg 34f., 50 Globokar, Vinko 128-131, 133, 135f., 148 Gomez, Italo 121 Gondry, Michael 245-247 Gramazio, Holly 184

Grimshaw, Mark 213-215 Haensler, Stephanie 160f., 164f. Hansen, Jonas 19, 263-278, 283 Heile, Björn 11 Helbich, David 184, 186 Henckel-Donnersmarck, Anna 185 Herber, Norbert 256f. Higgins, Dick 119 Hirschhorn, Thomas 142 Hoffmann, Robin 16, 73-110, 283f. Hohlfeldt, Marion 47 Huizinga, Johan 14, 29f., 36-40, 45, 119, 154f. IEMA Ensemble 190 Iwai, Toshio 256 Johnson, Simon 185 Jünger, Friedrich Georg 43f., 50 Juul, Jesper 255 Kagel, Mauricio 56, 60, 71, 116, 120f. Kämper, Julian 9-19, 55-72, 183, 284 Kanitz, Tilman 159f. Kant, Immanuel 31, 33f Kaprow, Allan 52 Katan, Simon 231 Kattenbelt, Chiel 170 Keazor, Henry 258 koch, hans w. 16, 55-72 Kötter, Daniel 138f. Lauer, David 51 Leimgruber, Urs 143f. Leinfelder, Yvonne 160f. Lewis, George E. 122 Liuni, Marco 86f Lomeland, Jon Inge 210 Luhmann, Niklas 51f. Lüneburg, Barbara 62, 217, 229

Personenregister | 291

Maderna, Bruno 73, 85 Magnusson, Thor 219f. Mauksch, Sarah 16, 153-172, 284 Mayer, Hansjörg 113f., 116f., 142 McIntyre, Maurice 122 Menegon, Martina 231 Metzger, Heinz-Klaus 124, 126 MEV-Ensemble 121 Meyer, Hazel 52, 132, 266, 270 Miller, Kiri 203-205 Moreira, Daniel 185 Morelli, Davide 86f. Morris, Jeremy 249f. Mozart, Wolfgang Amadeus 198 Nadar Ensemble 207f. Nash, John Forbes 91 Neuenfeld, Jörg 29, 32 Nitsch, Hermann 111-114 Nohr, Rolf 156 Nono, Luigi 124 Novalis 33f. Nyman, Michael 119f., 127 Ochshorn, Rob 185 Ott, Daniel 180 Parsons, Michael 119f. Pécoil, Vincent 24 Pedercini, Paolo 276 Phillips, Winifred 125, 200-202 Pink 249 Pirchner, Andreas 217 Pousseur, Henri 126, 198, 223 Priester, Julian 122 Prins, Stefan 207f. Quack, Sebastian 17, 180, 183192, 284f. Rauter, Michael 159 Rebhahn, Michael 124f., 298 Reese, Kirsten 17, 173-182, 272, 285

Reineke, Leonie 250 Ressi, Christof 226, 231-233 Roesner, David 205 Roth, Dieter 111-114, 116f., 119, 138, 145, 149, 286 Roth, Michel 16, 111-150, 285 Rühm, Gerhard 111f., 114-117 Rzewski, Frederic 121, 127 Sarhan, François 164f. Saunders, James 125, 139, 141 Saxer, Marion 13, 19, 174, 185, 201, 216, 263, 266, 286 Schafer, R. Murray 204 Scherchen, Hermann 198f. Schiesel, Seth 247f. Schiller, Friedrich 30, 32-34, 36, 39 Schirach, Ferdinand von 38 Schlegel, Friedrich 31, 33, 35 Schlüter, Bettina 211 Schmidt, Christoph 85, 92, 94, 97, 99 Schröder, Julia H. 18, 195-216, 286 Schulze, Holger 47, 214 Schwingeler, Stephan 24 Seeber, Martina 183 Seidl, Hannes 138f. She She Pop 26, 47, 50 Simmel, Georg 25 Sjón 253 Smith, Wadada Leo 123 Snow Patrol 249 Solistenensemble Kaleidoskop 158-160 Sonderegger, Ruth 33, 35f. Søvsø, Lea 185 Star, Susan Leigh 243 Steen-Andersen, Simon 168-171

292 | Musik als Spiel – Spiel als Musik

Stingel-Voigt, Yvonne 196, 206, 210, 212, 216 Stockhausen, Karlheinz 47, 58, 86, 108, 120, 122, 124f., 127, 138, 148, 198, 252 Stolzenburg, Enrico 180 Strätling, Regine 12, 15, 23-54, 55, 154, 158, 286 Sutton-Smith, Brian 128, 137 Talevi, Rosario 184 Tati, Jacques 146f. Taylor, T.L. 69 Tudor, David 126, 286 Varèse, Edgar 78, 86 Varga, Bálint András 85, 100f., 107, 109 Walser, Robert 142f.

Walz, Steffen 28 Wark, McKenzie 136f. Wetzel, Tanja 14, 29, 156, 165, 171f. Wiener, Oswald 111f., 114, 116120, 145, 149 Wilker, Ulrich 19, 199, 245-261, 270, 287 Wittgenstein, Ludwig 26, 29f. Wolff, Christian 127, 136 Wright, Evan 207 Wüthrich, Hans 111, 132-136, 144 Xenakis, Iannis 1, 16, 73-77, 80-82, 84-89, 91-95, 97, 99f., 102f., 105-110 Young, La Monte 200 Zorn, John 134f., 144, 224, 257

Auswahlbibliographie

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294 | Musik als Spiel – Spiel als Musik

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Auswahlbibliographie | 295

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Musikwissenschaft Dagobert Höllein, Nils Lehnert, Felix Woitkowski (Hg.)

Rap – Text – Analyse Deutschsprachiger Rap seit 2000. 20 Einzeltextanalysen Februar 2020, 282 S., kart., 24 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4628-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4628-7

Helen Geyer, Kiril Georgiev, Stefan Alschner (Hg.)

Wagner – Weimar – Eisenach Richard Wagner im Spannungsfeld von Kultur und Politik Januar 2020, 220 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4865-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4865-6

Rainer Bayreuther

Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs 2019, 250 S., kart., 5 SW-Abbildungen 27,99 € (DE), 978-3-8376-4707-5 E-Book: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4707-9

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Musikwissenschaft Eva-Maria Houben

Musical Practice as a Form of Life How Making Music Can be Meaningful and Real 2019, 240 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4573-6 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4573-0

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Rhythmik – Musik und Bewegung Transdisziplinäre Perspektiven 2019, 446 S., kart., 13 Farbabbildungen, 37 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4371-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4371-2

Anna Langenbruch (Hg.)

Klang als Geschichtsmedium Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung 2019, 282 S., kart., 19 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4498-2 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4498-6

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