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German Pages XII, 377 [382] Year 2020
Studien zur Kindheits- und Jugendforschung
Daniel Ganzert
Communities of Hustling Die Bewältigung urbaner Marginalisierung als Kunst sich zu arrangieren
Studien zur Kindheitsund Jugendforschung Band 7 Reihe herausgegeben von Heinz-Hermann Krüger, Halle, Deutschland Werner Helsper, Halle, Deutschland Merle Hummrich, Frankfurt am Main, Deutschland Nicolle Pfaff, Essen, Deutschland Rolf-Torsten Kramer, Halle, Deutschland Cathleen Grunert, Halle, Deutschland Wilfried Breyvogel, Essen, Deutschland
In dieser Buchreihe werden neben aktuellen empirischen Studien auch Forschungsüberblicke und theoretische Diskurse zur Kindheits- und Jugendforschung veröf fentlicht. Dabei werden Veränderungen kindlicher und jugendlicher Lebenslagen und Biografieverläufe in pädagogischen Institutionen wie Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, Hochschule, aber auch in der Welt der Familie, der Peers, der Medien und der jugendkulturellen Szenen in den Blick genommen. Besonders berücksichtigt werden sollen zudem Aspekte der sozialen Ungleichheit, der Migra tion und Transmigration sowie internationale Vergleichshorizonte.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11432
Daniel Ganzert
Communities of Hustling Die Bewältigung urbaner Marginalisierung als Kunst sich zu arrangieren
Daniel Ganzert Bochum, Deutschland Dissertation Universität Duisburg-Essen Fakultät für Bildungswissenschaften, 2019 Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung
ISSN 2512-1227 ISSN 2512-1243 (electronic) Studien zur Kindheits- und Jugendforschung ISBN 978-3-658-30411-9 (eBook) ISBN 978-3-658-30410-2 https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für Laura
Danksagung Hiermit möchte ich zuallererst meiner wunderbaren Frau Laura aus ganzem Herzen für ihre immense Geduld, Einfühlsamkeit und Unterstützung danken. Sie hat mir den Mut gegeben diese Studie nicht aufzugeben, sondern auch in harten Zeiten daran zu glauben und diese zu Ende zu führen. Zu außerordentlichem Dank bin ich zudem all den Jugendlichen und Gatekeeper*innen aus Deutschland und Italien verpflichtet, die mir enormes Vertrauen geschenkt und diese Studie erst ermöglicht haben. Mein besonderer Dank gilt auch meiner Doktormutter Nicolle Pfaff, die von Anfang an an mich und mein Projekt geglaubt hat. Ihr Engagement und ihre Motivation haben mich darin bestärkt meine Studie ernst zu nehmen. Diesbezüglich möchte ich auch meiner Zweitgutachterin Vicki Täubig herzlich dafür danken, dass auch sie, trotz der geographischen Distanz, immer präsent war und mich mit neuen Perspektiven und Sichtweisen bereichert hat. Vielen lieben Dank auch an meine Kolleg*innen Stefanie Wittich und Thorsten Hertel aus unserer Nachwuchsforschungsgruppe „Segregierte Quartiere als Bildungsräume“ sowie allen aus der AG Migrations- und Ungleichheitsforschung, die durch ihr ehrliches Feedback für informelle Lernprozesse in mir gesorgt haben. Timm Camps möchte ich für die Transkription der deutschsprachigen Interviews danken, die er mit großer Sorgfalt und Respekt den Akteuren gegenüber durchgeführt hat. Großer Dank geht auch an Mira Salomon, Bettina Hirsch-Weber und Samin Heidassarani, die mit ihren kritischen Blicken in der Abschlussphase diese vorliegende Untersuchung intensiv und äußerst aufmerksam gelesen haben. Bedanken möchte ich mich außerdem auch bei all den Freundinnen und Freunden, Tanten und Onkeln sowie Cousinen und Cousins, die mich wohlwollend über den gesamten Dissertationszeitraum begleitet, unterstützt und bekräftigt haben. Abschließend möchte ich der Hans-Böckler-Stiftung sehr herzlich für ihre finanzielle sowie ideelle Förderung danken, ohne die es für mich nicht möglich gewesen wäre überhaupt zu promovieren.
Daniel Ganzert
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ............................................................................................ 1 2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung .................... 7 2.1 Was ist Jugend? .................................................................................... 8 2.2 Jugendkulturen ................................................................................... 14 2.3 Jugendsubkulturen .............................................................................. 18 2.4 Junge Männer und Jugendkulturen ..................................................... 21 2.5 Jugend(sub)kulturen sind mehr als nur deviante Cliquen oder Gangs.................................................................................................. 28 2.6 Jugendkulturen oder Jugendsubkulturen?........................................... 30 2.7 Communities of Practice .................................................................... 33 3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung: Informelles Lernen und Sozialisation.................................................................. 41 3.1 Informelles Lernen ............................................................................. 41 Formen informellen Lernens .............................................................. 45 3.2 Sozialisation ....................................................................................... 47 3.2.1 Habitus .................................................................................... 47 3.2.2 Lernen durch (schweigendes) Wissen und Erfahrung ............. 48 3.2.3 Soziales Feld, Milieu, soziales Kapital ................................... 51 3.2.4 Lebensbewältigung ................................................................. 56
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung ......................... 61 4.1 Was ist Raum? .................................................................................... 61 4.2 Das Raumkonzept dieser Untersuchung ............................................. 64 4.3 Wie entsteht ein Raum? ...................................................................... 67 4.4 Wie sieht ein Raum aus? .................................................................... 68 4.5 Räume in und um einen Stadtteil........................................................ 69 4.6 Räumliche Disparitäten und Ungleichheit im Raum .......................... 73 4.7 Segregation ......................................................................................... 75 4.8 Stigma(-tisierung) ............................................................................... 76 4.9 Segregation + Stigmatisierung = Marginalisierung ............................ 80 4.9.1 Typen marginalisierter Stadtteile ............................................ 81
X
Inhaltsverzeichnis
4.9.2 Marginalisierung in Mafiadominierten Stadtteilen ................. 84
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie ......... 89 5.1 Feldzugänge und Untersuchungsmethode .......................................... 91
5.2
5.3
5.4 5.5 5.6 5.7 5.8
5.1.1 Stadtteil- und Peerethnografie ................................................. 93 5.1.2 Auswahl und Zugang zu den Stadtteilen ................................. 95 5.1.3 Auswahl und Zugang zu den Peergruppen .............................. 98 Der Ethnograf und das Feld .............................................................. 101 5.2.1 Die Rolle des Ethnografen im Feld ....................................... 102 5.2.2 Teilnehmende Beobachtung .................................................. 104 5.2.3 Dokumentation der Teilnehmenden Beobachtung ................ 106 Auswertung zwischen dichter Beschreibung und Habituskonstruktion ......................................................................... 107 5.3.1 Dichte / ethnografische Analyse ........................................... 108 5.3.2 Rekonstruktion von handlungsleitendem Wissen ................. 110 Wissen und Praxis ............................................................................ 112 5.4.1 Konjunktiver Erfahrungsraum............................................... 113 5.4.2 Kollektivität .......................................................................... 115 Interviews und Gruppendiskussionen als Erhebungsmethode .......... 117 5.5.1 Gruppendiskussionen ............................................................ 117 5.5.2 Einzelinterviews .................................................................... 119 Dokumentarische Textinterpretation als Auswertungsmethode ....... 121 Die mehrstufigen Auswertungsschritte der dokumentarischen Methode............................................................................................ 123 Zum empirischen Teil der Untersuchung ......................................... 127 5.8.1 Die Filosofi (=Philosophen) .................................................. 128 5.8.2 Die Isolani (=Insulaner) ........................................................ 129 5.8.3 Peppino ................................................................................. 130 5.8.4 Die Transformers .................................................................. 131 5.8.5 Die Supporters....................................................................... 132 5.8.6 Turgut .................................................................................... 132 5.8.7 Zur Struktur der empirischen Kapitel .................................... 133 5.8.8 Zur Transkriptions- und Übersetzungsarbeit ......................... 134
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken in marginalisierten Stadtteilen........................................................... 137 6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung ........................................... 138 6.2
6.1.1 Zwischen Distanzierung und Identifikation .......................... 138 6.1.2 Reflexion von Abwertung ..................................................... 154 Positionierung zu Devianz und Kriminalität .................................... 160 6.2.1 Verwicklungen ...................................................................... 160
Inhaltsverzeichnis
6.3
6.4 6.5
XI
6.2.2 Zwischen Teilhabe und Anpassung....................................... 165 6.2.3 Distanz .................................................................................. 169 Fluchtpraktiken................................................................................. 175 6.3.1 Mobilität ................................................................................ 178 6.3.2 Rückzug ................................................................................ 191 6.3.3 Mobilität und Rückzug als räumliche Bewältigungspraktik . 204 Repräsentationspolitik ...................................................................... 208 Raumhandeln und Jugendkulturen ................................................... 212
7 Hustling ........................................................................................... 215 7.1 Hustling als globale Praxis ............................................................... 216 7.2 Die Hustler von Pratobello ............................................................... 219 7.3 7.4
7.5 7.6
7.2.1 Peppino ................................................................................. 219 7.2.2 Gennaro ................................................................................. 223 Die Komplexität des Hustlings ......................................................... 227 7.3.1 Hustling als Arbeit ................................................................ 232 7.3.2 Hustling zwischen Selbstbestimmung und Begrenzung ........ 241 Die Vielfalt des Hustlings ................................................................ 253 7.4.1 Möglichkeitsräume und Bedingungen................................... 254 7.4.2 Mobilität ................................................................................ 255 7.4.3 Kommunikation .................................................................... 256 7.4.4 Offenheit für Neues ............................................................... 256 7.4.5 Vielseitigkeit ......................................................................... 257 7.4.6 Netzwerke ............................................................................. 258 Die Kompetenzen eines Hustlers...................................................... 259 Eine Überlebenspraktik .................................................................... 263
8 Interaktionspraktiken .................................................................... 265 8.1 Gespräche ......................................................................................... 267 8.2 Gespräche als Unterstützungspraktiken............................................ 269 8.3 Philosophische Gespräche ................................................................ 273 8.4 Reflexion und Metakommunikation der jungen Männer .................. 283 8.5 Gesprächsarten ................................................................................. 292 8.6
8.5.1 Zum Dialog ........................................................................... 293 8.5.2 Interaktionen in Communities of Practice ............................. 296 Gespräche als Praktiken informellen Lernens .................................. 301 8.6.1 Rolle und Beziehung ............................................................. 303 8.6.2 Performativität der Interaktionen .......................................... 304 8.6.3 Gespräche als Antwort auf das „Banking“-Konzept staatlicher Institutionen ......................................................... 307
XII
Inhaltsverzeichnis
9 Zusammenfassung .......................................................................... 313 9.1 Kollektive Räume der Bewältigung ................................................. 313 9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume .......................................................................... 321 9.2.1 Pratobello und Falldorf als ‚Ressource der Lebensbewältigung’ .............................................................. 324 9.2.2 Jugendkultur als Vergemeinschaftungsprozess in marginalisierten Stadtteilen ................................................... 325 9.2.3 Sozialisation im marginalisierten Erfahrungsraum ............... 328 9.2.4 Lebensbewältigende ‚Normabweichungen’ in marginalisierten Räumen ...................................................... 330 9.2.5 ‚L’arte di arrangiarsi’ in Communities of Hustling ............... 332 9.2.6 Hustling als Orientierung der Akteure .................................. 335
10 Handlungsbedarfe in der sozialen Arbeit ..................................... 339 Literaturverzeichnis ............................................................................ 347 Anhang .................................................................................................. 377
1 Einleitung „[...] deshalb die Sache is ein Mittel zu finden das dir ermöglicht dir ein wenig die Tore zur Welt zu öffnen daß du dann die Möglichkeit hast zu wählen (.) ok (.) ich geh hier rein und mache dies geh da rein und mach jenes und dann langsam langsam Schritt für Schritt Jahr für Jahr (.) Monat für Monat je nachdem wird ne Lösung kommen (.) auch wenns nie das sein wird was du wolltest (.) du hast aber dann deinen Teil gemacht und überlässt es dem der nach dir kommt [...] verstehste was ich mein? (.) deshalb isses auch wichtig was zu hinterlassen (.) irgendeine Botschaft zu hinterlassen (.) verstehste? also es reicht ne Idee zu hinterlassen die du hast weil wennde keine Wurzel hast auf die du die Idee aufbauen kannst (.) verstehste was ich mein? wir sind hier und reden und dann gehenwa raus und keiner spricht mehr über diese Sache [...] es stirbt hier drin und endet so (.) verstehste? wennde dagegen hier hier diskutierst drüber sprichst und dann wennde zuhause bist drüber nachdenkst und sagst ‚Scheiße ich muss ne Lösung finden’ machst du es so dass die Basis entsteht und dann von dieser Basis aus machst du langsam langsam deine Pläne“ (Alberto in GD_Filosofi, 2015: Z. 1980-1999).
Bei diesem Zitat handelt es sich um eine Aussage eines jungen Mannes, der in einem marginalisierten Stadtteil einer Großstadt in Italien lebt. Im Rahmen einer Gruppendiskussion geht er auf ein zentrales Thema ein, das die vorliegende Untersuchung rahmt und diese ermöglicht hat: der Wunsch nach Partizipation, Beteiligung und Teilnahme an der Gesellschaft. Dabei ist von großer Bedeutung, sich Gehör zu verschaffen und eine Botschaft für die Welt zu hinterlassen – und das ohne Gewalt! Das wird vielleicht einige Lesende erstaunen, denn die Medienberichterstattung fokussiert seit einigen Jahrzehnten hauptsächlich gewalttätige Rebellionen in den Peripherien der Großstädte Europas. Ausschreitungen von marginalisierten Jugendlichen in urbanen Ballungsräumen wie z. B. in Paris und London zeigen natürlich auch, dass es kaum oder sogar keine Kommunikation zwischen marginalisierten Stadtteilen und dem Rest der (Stadt-)Gesellschaft gibt. Medien und Sozialberichte sprechen von einer verlorenen Generation (vgl. International Labor Office 2012; Bauman 2012: 174ff.; Winterhoff 2011: 18ff.) oder gar Auflösung der Gesellschaft (vgl. Wüllenweber 2012: 132; Oborne 2011). Viele marginalisierte Stadtteile sind geographisch und/oder gesellschaftlich weit entfernt von Bildungs- und Kulturangeboten. Somit werden Potentiale ignoriert, Parallelwelten gefördert und die soziale Kluft zwischen Marginalisierung und Privilegien vergrößert. Gewaltanwendung, auch wenn sie oftmals sinnlos erscheint, gilt gerade für sozial benachteiligte Jugendliche als Kommunikations- und Wahrnehmungsmittel – auch in Deutschland und Italien! © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_1
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1 Einleitung
Im Zentrum der vorliegenden Studie stehen Gruppen von jungen Menschen, die sich nicht an Gewalt und an politischen Protesten beteiligen, sondern ganz andere, alternative Wege einschlagen, jedoch mit dem gleichen Ziel: sich Gehör zu verschaffen und an den gesellschaftlichen Prozessen mitzudenken und mitzuwirken, sofern sie die Möglichkeiten sehen und haben. Es scheint nicht nur die Politik und Wirtschaft, sondern auch die Sozial- und Kulturarbeit in marginalisierten Quartieren versagt zu haben bzw. nicht präsent genug zu sein. In dieser vorliegenden Studie wird besonderes Augenmerk auf informelle Lernpraktiken sozial benachteiligter Jugendlicher in marginalisierten Stadtteilen gelegt. Jugendliche werden mit ihren eigenen Bildungspraktiken, subkulturellen Interessen und Verantwortungen nur selten ernsthaft wahrgenommen und in gesellschaftliche Bildungsprozesse einbezogen (vgl. Youniss 1997; Delgado 2006). Deshalb ist erst einmal nicht – wie immer wieder behauptet – davon auszugehen, dass geringe gesellschaftliche Partizipation von sozial benachteiligten Jugendlichen der Auslöser für „[...] Orientierungslosigkeit, fehlende[n] Ehrgeiz, Antriebslosigkeit, Interessenlosigkeit, mangelhafte Kommunikation, fehlendes Selbstwertgefühl, fehlende Aufgeschlossenheit oder schlechte Umgangsformen“ (Winterhoff 2011: 14) ist. Zuerst wäre zu fragen, welche gesellschaftliche Partizipation von marginalisierten Jugendlichen erwartet wird und wie diese aussehen soll. Es wäre zu klären, welches Wissen darüber zur Verfügung steht, wie junge sozial benachteiligte Menschen an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen. Dann wäre zu fragen, ob bspw. Orientierungslosigkeit und fehlendes Selbstwertgefühl nicht eher im formalen Bildungssektor vorkommen und eher weniger in eigenen konstituierten, informellen Räumen, die einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Informelles Lernen ist gerade an den Orten besonders wichtig, wo staatliche Institutionen versagen und für bestimmte Interessenlosigkeit sorgen, jedoch nicht unbedingt für fehlenden Ehrgeiz etwas in der Gesellschaft zu erreichen - trotz erschwerter und eingrenzender Umstände. Informelles Lernen wird seit dreißig Jahren als wichtig angesehen (vgl. Rauschenbach et al. 2004), jedoch meist mit sportlichen, medialen und musischen Lernprozessen außerhalb des schulischen Kontexts innerhalb der Mittelschicht oder in der Erwachsenenbildung sowie im beruflichen Sektor in Verbindung gebracht (vgl. Täubig 2018). Aber was ist mit informellen Lernpraktiken an Orten, an denen Jugendliche sich von formeller Bildung abwenden oder an denen solche formalisierten Angebote fehlen? Vor diesem Hintergrund beschäftige ich mich in dieser Untersuchung vor allem mit einer zentralen Frage: was für Bewältigungspraktiken entwickeln junge Männer in ihrer marginalisierten Lage? Hierbei spielt der italienische Begriff „L’arte di arrangiarsi“ eine äußerst relevante Rolle, die auf Deutsch soviel wie die Kunst, sich zu arrangieren heißt, also die Kunst, sich über Wasser zu halten, bestimmte (Lebens-)Situationen ökonomisch, sozial und/oder psychisch zu bewältigen. Hierzu stellen sich weitere Fragen: Wie sehen die Lernprozesse innerhalb
1 Einleitung
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solcher Rahmen aus? Wie lernen Jugendliche in jugendspezifischen Erfahrungsräumen und Jugendkulturen? Um welche Lernpraktiken handelt es sich dabei? Und was wird gelernt? Die vorliegende Forschungsarbeit zielt also auf die Rekonstruktion von informellen Lernhandlungen und Praktiken der Raumaneignung junger Männer in marginalisierten Stadtteilen im deutsch-italienischen Vergleich. Es wurden hierzu vier Gruppen von jungen Männern in Deutschland und Italien im Rahmen von insgesamt zehn Feldphasen ethnografisch in ihrem Alltag begleitet. Dabei sind Feldprotokolle und Material in anderen Dokumentationsformen entstanden. Außerdem wurden sechszehn Interviews und vier Gruppendiskussionen geführt und ausgewertet worden. Basierend auf diesem empirischen Material und seiner dokumentarischen Analyse wird die Art und Weise rekonstruiert, in der sich junge Männer auf ihre Sozialräume beziehen. Dabei muss die Verhältnissetzung zu diesen Räumen beachtet werden und gleichzeitig gefragt werden, welche Rolle in diesem Kontext Praktiken des informellen Lernens zukommt. Den übergreifenden theoretischen Rahmen der vorliegenden Untersuchung bildet eine wissenssoziologisch fundierte Konzeption der Praxisgemeinschaft, die mit Blick auf den Gegenstand des informellen Lernens auf den Ansatz der Community of Practice enggeführt wird. Relevante Bezugspunkte in der sozialwissenschaftlichen Forschung sind dabei vor allem Studien zu Jugend im Kontext der Marginalisierung, Studien zu sozialräumlicher Segregation sowie raum- und lerntheoretische Konzepte. Die vergleichende Perspektive dieser Arbeit folgt dem bestehenden Wissen um strukturelle Ähnlichkeiten, aber auch um Unterschiede in sozialräumlichen Formen der Marginalisierung innerhalb Europas und darüber hinaus (vgl. z.B. Waquant 2008a und 2008b). Denn obwohl sich inzwischen in vielen urbanen Räumen auch in europäischen Staaten Räume der ökonomischen und sozialstrukturellen Marginalisierung finden, bestehen deutliche Unterschiede in den konkreten räumlichen Formen, aber auch in der infrastrukturellen und kulturellen Unterstützung entsprechender Stadtteile, die das Aufwachsen junger Menschen und ihre Teilhabechancen beeinflussen. Bei den in diese Studie einbezogenen Stadtteilen in Italien und Deutschland betrifft dies z.B. die Wirkungskraft von sozialen Sicherungssystemen und die Präsenz organisierter Kriminalität. Die Bedeutung beider Elemente wird in den Perspektiven der hier befragten und begleiteten jungen Männer durchgängig deutlich. Um der Reproduktion und Fortführung von Marginalisierung entgegenzuwirken, bedarf es neuer Plattformen und Gemeinschaften. Schulabbrecher*innen, die aus institutionalisierten, formellen Lernsettings ausscheiden, können durch informelles Lernen – wie bspw. im Rahmen von Communities of Practice - geteiltes, ausgetauschtes Wissen durch Partizipation, Engagement und Identifikation mit der eigenen Biographie generieren (vgl. hierzu Wenger 1998: 270).
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1 Einleitung
Die vorliegende Forschungsarbeit folgt ihren Akteuren im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Analyse und pädagogischer Herangehensweise. Im Kontext von sozialer Segregation und damit verbundener gesellschaftlicher Marginalisierung sind es vor allem junge Männer, die mit Gewalt, Devianz und Desinteresse an Bildung in Verbindung gebracht werden. Ihre Präsenz auf den Straßen benachteiligter Quartiere und der höhere Anteil dieser Gruppe unter Schulabbrechern und in Kriminalitätsstatistiken führt zu negativen öffentlichen Bildern. Die vorliegende Untersuchung stellt diese jungen Männer in einer anderen Perspektive ins Zentrum: als lernende, um soziale Teilhabe und Bildung ringende Akteure. Dabei folgt sie zunächst einem geschlechtsspezifischen Blick, wie er für die Jugendkulturforschung lange Zeit dominant war (Schrader/Pfaff 2013) und blendet die Erfahrungen junger Frauen in den untersuchten Stadtteilen aus. Hierfür sprechen neben dem inhaltlichen Interesse auch forschungspraktische Gründe, die mit dem Zugang zur Untersuchungsgruppe zu tun haben. Gleichzeitig kann die vorliegende Untersuchung damit auf die Problematik der Ausblendung von jungen Frauen aufmerksam machen und hofft so Anregungen für entsprechende Studien zu geben. Diese Forschungsarbeit beinhaltet insgesamt zehn Kapitel, welche die beschriebenen Fragen auf theoretischer sowie empirischer Ebene untersuchen. Dabei erfolgt in den ersten vier Kapiteln eine theoretische und auf verschiedene Forschungstraditionen bezogene Einführung in den Gegenstand. Die drei darauffolgenden Kapitel entfalten das Untersuchungsdesign und methodische Vorgehen der Studie und stellen anhand dreier thematischer Schwerpunkte die empirischen Rekonstruktionen und Befunde der Studie vor. Die letzten beiden Kapitel bündeln die Ergebnisse, benennen weitere Forschungsdesiderata sowie Handlungsbedarfe. Kapitel zwei beginnt mit einer ausführlicheren Begründung, warum in dieser Studie junge Männer fokussiert wurden und was generell unter Jugend zu verstehen ist. In den folgenden Unterkapiteln werden Jugendkulturen und Jugendsubkulturen sowohl aus historischer als auch aktueller Sicht fundierter betrachtet, um dann diese mit den für vorliegende Studie relevanten Themen der Männlichkeit, Cliquen, Gruppierungen, Peers und Vergemeinschaftung zu verbinden. Anschließend wird darauf basierend die sog. Community of Practice als jugendkulturelle Praxisgemeinschaft vorgestellt, da diese als Gemeinschaftsform bei den untersuchten Akteuren beobachtet wurde. Kapitel drei geht zunächst der Frage nach, inwiefern Jugendkulturen Orte der Sozialisation und des informellen Lernens sind. Diesbezüglich wird geklärt, was unter Sozialisation und unter informellem Lernen zu verstehen ist, bevor das Konzept der Community of Practice als zentraler konzeptioneller Rahmen der Untersuchung eingeführt wird. Abschließend wird untersucht, wie im Rahmen des informellen Lernens in Gemeinschaften in Gemeinschaften im Allgemeinen und in
1 Einleitung
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Communities of Practice im Speziellen dabei Wissen dabei Wissen generiert und das Leben bewältigt wird. Kapitel vier beschäftigt sich mit der Frage des Raumkonzepts dieser Studie. Raum wird hier nicht nur als physischer oder geographischer Ort Ort, sondern mit Bezug auf soziale und relationale Aspekte verstanden. Hierzu wird sowohl historisch, theoretisch als auch praktisch, also an den jugendlichen Lebenswelten orientiert, die Entstehung und Konstitution des Raumes mit Blick auf Disparitäten und Ungleichheiten geschaut. Diesbezüglich werden in weiteren Unterkapiteln die Begriffe Segregation, Stigma(-tisierung) und Marginalisierung erörtert und die inhaltlichen Zusammenhänge mit den Untersuchungsstadtteilen analysiert. In Kapitel fünf werden das Forschungsdesign, die Forschungs- und Auswertungsmethoden, die Feldzugänge sowie die Stadtteile und Akteure vorgestellt. Fragen nach den Inhalten der interaktionistischen Ethnografie oder der dokumentarischen Methode der Interpretation werden ebenso bearbeitet wie die methodologischen Perspektiven auf das Verhältnis von Wissen und Praxis sowie der Bedeutung von Erfahrungsraum und Kollektivität. In Kapitel sechs werden die Raumpraktiken der Akteure mit Bezug auf ihren marginalisierten Background vorgestellt, der gleichzeitig als ihr Sozialisationsraum fungiert. Es wird analysiert, wie sich die hier untersuchten jungen Männer in ihren Wohnquartieren und Sozialräumen bewegen und wie sie auf gewisse Beund Einschränkungen, Diskriminierungen, Machtverhältnisse und institutionelle Gegebenheiten reagieren, diese vermeiden, angehen, überwinden oder in diesen handeln. Kapitel sieben stellt eine informelle ökonomische Praktik vor, die im Leben der hier untersuchten jungen Männer eine zentrale Rolle im Wissenserwerb spielt und in den USA als “hustling“ bezeichnet wird. Diese wird von den jungen Teilnehmern dieser Forschungsarbeit sowohl in den Interviews und Gruppendiskussionen thematisiert, als auch zum Gegenstand der teilnehmenden Beobachtungsphasen gemacht. Anschließend befasst sich Kapitel acht mit den Interaktionspraktiken der jungen Männer, die auf Kapitel sechs und sieben aufbauend interaktive Lernprozesse aufzeigen. Hierbei geht es vor allem um Gespräche, Diskussionen und Debatten unter den Akteuren, die diese für solidarische Unterstützungszwecke, philosophische Theorien, Informationsaustausch und Alltagsverarbeitung nutzen. Kapitel neun fasst die durch die empirischen Analysen gewonnenen Ergebnisse zusammen, um auf der Basis dieser Resultate in Kapitel zehn den Lesenden Handlungsbedarfe und Ausblicke für die wissenschaftliche wie auch die sozialund bildungspädagogische Praxis zu geben. Die vorliegende Untersuchung zielt auf einen breiten Kreis von Lesenden ab, der möglichst unabhängig von Beruf, Bildungsgrad, Kultur, Religion und sozialem Hintergrund ist. Ich habe deshalb
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1 Einleitung
darauf geachtet dem Lesenden einen weitestgehend einfachen Einstieg zu ermöglichen und darzulegen, inwiefern diesbezüglich gehandelt, verändert, entwickelt, erneuert oder auch einfach akzeptiert, toleriert und respektiert werden kann. Nun liegt mir noch daran, diese Einleitung mit einem Zitat eines Vaters von einem der italienischen Akteure zusammenzufassen und abzuschließen sowie gleichzeitig in die eigentliche Untersuchung überzuleiten: „die Schulen sind immer schon äh:: ka::putt gemacht worden in irgendeiner Weise ausgeraubt worden (.) zerstört worden (.) wenn man den Hauptaspekt betrachtet sieht es so aus als ob es von kleinen kriminellen Gru- Gruppen vo=vo=von Heranwachsenden gewollt sei um auf sich aufmerksam zu machen von hm von denen die dann in Zukunft ihre ihre Arbeitgeber sein könnten also die großen Kriminellen (.) und ich will nicht aber ich glaube leider dass es so ist aber ich will nicht daran denken dass es dagegen von den großen Kriminellen gewollt ist die Schule zu zerstören um es soweit zu bringen dass es Kulturmangel Wissensmangel gibt und dadurch mehr Möglichkeiten geschaffen werden um ignorante Elemente zu generieren die dann bereit sind den [Clans] beizutreten [...] um das zu verdienen (.) was sie zum Leben brauchen“ (EI_Giacomo Russo, 2015: Z. 42-55).
2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung In diesem Kapitel soll begründet werden, warum junge Männer und nicht junge Frauen oder Jugendliche beider Geschlechter untersucht wurden, inwiefern junge Männer noch Jugendliche sind, was unter Jugendkulturen zu verstehen ist sowie der Zusammenhang im Hinblick auf das Thema dieser Studie und wie Jugendkulturen im Kontext von Vergemeinschaftungen zu Lernräumen werden können. Einen seit der Antike bis heute (in Europa) durchgängig und einheitlich genutzten Jugendbegriff gab es noch nie. Er schwankte schon immer zwischen den verschiedenen Altersklassen, -vorstellungen und –phasen der jeweiligen Länder und Kulturen. „Festhalten dürfen wir, dass die Lebensalterseinteilungen und Begriffe von Jugend selbst kontext-, d.h. zeit- und kulturgebunden waren und sind“ (Ferchhoff 2007: 86). In Italien bspw. gelten 34-Jährige noch als jugendlich1, sehr wahrscheinlich aus dem Grund, da sie häufig aus teils finanziellen, teils familiären Gründen noch bei den Eltern wohnen (müssen). „Die Lebenszeit, die von den meisten Jugendlichen vor dem Eintritt ins Erwerbsleben und der Familiengründung gelebt wird, ist immer länger geworden, während in der Jugendphase (ehemals erwachsenenbezogene) Unabhängigkeit und volle Gleichberechtigung angestrebt wird“ (Ferchhoff 2007: 97).
Um für Deutschland und Italien einen einheitlichen und gleichwertigen Begriff zu nutzen, wurde hier ‚junge Erwachsene’ bzw. ‚junge Männer’ als Überbegriff gewählt, da dieser sowohl das Jugend- als auch das Heranwachsendenalter einschließt. Im Feld ergab sich die Kontaktaufnahme zu jungen Männern von selbst. Es wurde anfangs nicht bewusst auf das männliche Geschlecht geachtet. Als männlicher Forscher war jedoch der Kontakt zu männlichen Adoleszenten einfacher, da gerade in den hier untersuchten Stadtteilen die soziale Kontrolle bei jungen Frauen stärker war als bei Männern. Somit waren Männer in bestimmten Kontexten auch verstärkt auf der Straße anzutreffen als Frauen. So konnte der Forscher mit weni1
Laut dem italienischen Statistikamt Istat (Istituto Nazionale di Statistica; deutsch: Nationales Institut für Statistik). Siehe hierzu: http://dati-giovani.istat.it/
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_2
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
ger Beeinflussung und Intervention seitens der übrigen Bewohner*innen bzw. Familien die ethnografischen Feldforschungen sowie die Gruppendiskussionen und Interviews durchführen. Zudem bestanden schon im Vorfeld enge Kontakte zu Gatekeepern, die allesamt männlich sind und auch männliche Gruppen weitervermittelten, die ebenfalls vorwiegend unter sich blieben. Es ist nicht zu leugnen, dass die männliche Kultur in diesen zwei hier untersuchten Quartieren stärker präsent ist als in anderen Wohngebieten. Diese männerdominierte Straßenkultur ist zudem eng verflochten mit organisierten Verbrecherbanden, die in hierarchische Geschlechterverhältnisse eingebunden sind. In Italien wurden bereits einige Studien zur Rolle der Frau in mafiadominierten Stadtteilen/Orten bzw. in der Mafia selbst veröffentlicht (siehe hierzu Siebert 1994; Fiandaca 2003; Puglisi 2012; Dino 1998, 2010, 2012, 2015).2 Zusammengefasst wird somit in diesem Buch auf eine männlich geprägte und von sozialer sowie teilweise auch ethnischer Marginalisierung betroffene Jugend eingegangen, die aber in den Medien und in der Öffentlichkeit auch verstärkt in Verbindung mit Gewalt, Aufruhr, Devianz, Schulabbruch und Desinteresse an Bildung gebracht wird. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, soll mit dieser Studie aus einer anderen Perspektive auf sog. gewalttätige, schulmüde und sozial benachteiligte junge Männer aus marginalisierten Stadtteilen geguckt werden.
2.1
Was ist Jugend?
Wie einleitend erläutert, sind der Jugendbegriff sowie die genaue Altersbegrenzung weltweit gesehen nicht einheitlich und haben je nach Disziplin, Region, Kultur oder sozialem Hintergrund unterschiedliche Bedeutungen, Fokussierungen
2
Alle aufgelisteten Untersuchungen, beschreiben die Rolle der Frau in der Mafia mit zwei Facetten: einerseits als unterdrückte, ausgebeutete und sexuell und/oder physisch und psychisch misshandelte Person im Kreis der Familien, Verwandtschaft und/oder Bekanntenkreis. Sie wachsen in einem patriachalen Umfeld auf, wo die Frau zuhause für die Kinder sorgen, den Haushalt führen und für Sex jeder Zeit zur Verfügung stehen muss sowie in kriminelle Machenschaften zur Mittäterschaft gezwungen ist. In einigen Extremfällen sind Töchter vor den Übergriffen seitens der Brüder, Väter und/oder Großväter nicht geschützt u.a. auch weil die Mütter (aus Angst) wegschauen. Andererseits wird die Frau in der Mafia auch als Mittäterin beschrieben [vgl. hierzu mafianeindanke.de: Frauen und Mafia, unter https://mafianeindanke.de/frauen-und-mafia/ (abgerufen am 07.07.2018)]. Ähnlich sieht es auch in Deutschland mit den Frauen im organisierten kriminellen Milieu der Rockerbanden oder arabischen Großfamilien aus (vgl. hierzu Krafft-Schöning 2013).
2.1 Was ist Jugend?
9
sowie Altersangaben. Es handelt sich dabei allgemein und historisch gesehen jedoch um eine junge „kulturelle Erfindung“ (vgl. Heinz 2001: 158), die durch die Industrialisierung aufkeimte. Parallel dazu fand auch eine Individualisierung statt, die in den letzten Jahren die Strukturen der Gesellschaft verändert hat: „Als soziologischer Terminus meint Individualisierung eine Entwicklungstendenz der modernen bzw. postmodernen Gesellschaft, die zur Auflösung tradierter Sozialstrukturen und zur Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Lebensformen im Zuge der Modernisierungsprozesse der Gesellschaft führt“ (Baumann 2002: 478).
Somit stellt die Individualisierung den Kern des reflexiven Modernisierungsprozesses dar und zeigt, dass junge Menschen heute mehr Möglichkeiten haben, sich ihren Lebenslauf selbst zu gestalten sowie mehrere Wege und Verläufe zu wählen. Gleichzeitig wird erwartet, dass all diese Entscheidungen und Praktiken unter Kontrolle gehalten werden. Hierbei müssen sie teilweise auch ohne Vorbilder und Anleiter ihren eigenen Weg finden und versuchen nicht zu versagen. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck beschreibt die Individualisierungsprozesse, die durch die Modernisierung bedingt sind in folgenden drei Dimensionen: 1) Freisetzungsdimension („Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und –bindungen“ (Beck 1986: 206)). 2) Entzauberungsdimension („Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ (ebd.)). 3) Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension („eine neue Art der sozialen Einbindung“3 (ebd.)). Durch Individualisierung wird aber keine Emanzipation der Akteur*innen erzielt. Der Ulrich Beck beschreibt vielmehr die historisch-soziologische sowie gesellschaftliche Dimension. Es werden dadurch auch keine sozialen Ungleichheiten abgebaut. „Vielmehr meint die Theorie von Beck, dass diese klassischen Konzepte in Anbetracht der Individualisierungsprozesse immer weniger brauchbar sind. Es findet eine Individualisierung von sozialen Ungleichheiten statt“ (Metzing 2006: 11). Von jungen Menschen wird erwartet, dass sie aktiv ihren Lebenslauf gestalten und sich dadurch von traditionalen Bindungen und vorhandenen Sozialformen immer mehr lösen. Dadurch werden Institutionen und sekundäre Instanzen immer wichtiger, aber gleichzeitig die Abhängigkeit von Moden und Märkten immer größer (vgl. Beck et al. 1994: 211): „Erlöst von den drückenden Bindungen traditioneller sozialer Beziehungen und mit immer mächtiger werdenden bürokratischen Strukturen konfrontiert, glaubt sich das moderne Individuum immer selbständiger in seiner Entscheidungsfreiheit, während es gleichzeitig auch immer stärker unter dem Zwang steht, diese Entscheidungen 3
„Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (Beck 1986: 209).
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
überhaupt zu treffen. Der Aufbau einer individuellen Identität (...) läuft notwendigerweise parallel zum Aufbau immer umfassender Kollektive“ (Van der Loo/Van Reijen 1992: 194).
Dadurch versuchen junge Menschen in der aktuellen Gesellschaft immer mehr an ihrer Identität zu arbeiten und ihren Alltag zu bewältigen bei gleichzeitiger Veränderung der Reihenfolge eines ‚traditionellen’ Lebenslaufs und unterschiedlicher Gewichtung und Anordnung von Wichtigkeiten. Alles hat sich im Vergleich zum 18. Jahrhundert zeitlich nach hinten verschoben und ist somit ins Erwachsenenalter gerückt (vgl. hierzu Berngruber 2016: 180ff.), was vorher in jüngeren Jahren schon abgeschlossen wurde. Dies beeinflusst dann natürlich auch die Persönlichkeitsentwicklung. “Durch die [...] Entwicklung hin zu einer individualisierten Gesellschaft veränderte sich die Lebensphase Jugend nicht nur im Hinblick auf Biographie. Erst im Zuge der Individualisierungstendenzen entwickelte sich überhaupt eine Jugendphase, abgrenzbar von Kindheit und Erwachsenenalter. Noch zur Jahrtausendwende war Jugend als eine eigenständige Phase im menschlichen Lebenslauf nicht bekannt. Jugend ist im Prinzip ein Produkt der modernen Industriegesellschaft. In der traditionellen Gesellschaft konnten Jugendliche nicht mit einem Begriff zusammengefasst werden, sie waren entsprechend ihres Standes Knechte, Mägde oder Lehrling und Geselle. Erst im Verlauf der Modernisierung kam es zu einer Ausbildung der Jugendphase und dann nach und nach zu einer einheitlichen Bedeutung von Jugend über Geschlecht und Klasse hinweg. Besondere Beachtung findet hierbei die Veränderung des Lebenslaufs, der die Entwicklung einer Jugendphase überhaupt erst ermöglichte“ (Metzing 2006: 17).
Die Veränderung des Lebenslaufs beginnt mit zwei Gesellschaftsformen: die „halbmoderne“ und die „reflexive moderne“ Gesellschaft (vgl. Lenz 1998: 53). Diese Veränderungen führen zu einem noch weniger einzugrenzenden Jugendbegriff. „Die erste Moderne hatte allgemein die Ablösung traditioneller durch industriegesellschaftliche Lebensformen zum Inhalt. Der Höhepunkt dieses Prozesses liegt in den Jahren um 1960“ (Metzing 2006: 17). Der deutsche Soziologe Karl Lenz bezeichnet diese Gesellschaftsform als eine „halbmoderne Gesellschaft“ (vgl. Lenz 1998: 53). Dies bedeutet, dass Traditionen auf moderne Weise weitergeführt und somit nicht gänzlich abgeschafft werden. Die Lebensphase Jugend gewinnt dadurch immer mehr an Bedeutung (vgl. Hurrelmann 2013: 23). „Dies zeigt sich deutlich an der zeitlichen Ausdehnung, die immer mehr zunimmt. 1910 bestand der Lebenslauf aus einem relativ einfach strukturierten Ablauf von Kindheit und Erwachsenenalter. 1950 hat das Jugendalter schon einen bedeutenden Stellenwert“ (Metzing 2006: 19).
2.1 Was ist Jugend?
11
Zu dieser Zeit wird der Begriff Jugend auch verallgemeinert benutzt, um die Phase vor dem Erwachsenenalter zu bezeichnen. Betrachtet man die zweite Moderne bzw. reflexive Moderne, die die Gesellschaftsform ab Anfang des 21. Jahrhunderts repräsentiert, dann wird von einer „Deinstitutionalisierung der Lebensläufe“ gesprochen (vgl. Kohli 1991: 310 ff.). „Die Ehe hat ihren doppelten Monopolanspruch, die einzig legitime Form einer auf Dauer gestellten Mann-Frau-Beziehung und der einzig legitime Ort sexueller Interaktion zu sein, verloren. [...] Normalarbeitsverhältnisse sind rückläufig und werden in der Zukunft immer mehr abnehmen“ (Lenz 1998: 58). Diese Gesellschaftsform ist durchzogen von unsicheren Arbeitsverhältnissen, staatlichen Transferleistungen und lebenslangem Lernen (vgl. Metzing 2006: 19 sowie Lenz 1998: 58). Allein diese Dimensionen verlängern die Jugendzeit und machen eine genaue Altersangabe und Definition von Jugend schwerer. Zu individuell und fragmentarisch sind die Lebensläufe heutzutage bezogen auf Beruf, Familie und Schule. „Die Veränderungstendenzen der Jugendphase beziehen sich vor allem auf die zeitige Möglichkeit für eine eigenständige Lebensführung. Jugendliche nehmen sich frühzeitig als eigene Person wahr und haben eine höhere Kompetenz zur Eigenverantwortung, obwohl sie länger auf materielle Unterstützung angewiesen sind“ (Metzing 2006: 19).
Zu diesen Veränderungsprozessen tragen auch Peergruppen bei. Sie spielen eine große Rolle und verändern das Jugendsein. Durch kollektive Praktiken und Orientierungen wird Jugend ganz anders wahrgenommen als vor dem 18. Jahrhundert. „Die sozio-kulturelle Verselbständigung der Jugendlichen setzt [...] in jüngeren Lebensphasen als früher ein. Begünstigt wird diese Entwicklung auch aufgrund der gewachsenen Bedeutung informeller Gleichaltrigengruppen und -beziehungen“ (Stangl 1999: 8). Klaus Hurrelmann geht davon aus, dass die Jugendphase beendet ist, „wenn in allen relevanten Handlungsbereichen ein vollständiger oder zumindest weit reichender Grad von Autonomie und Eigenverantwortlichkeit erreicht ist“ (Hurrelmann 1999: 46).
Somit wäre die heutige Jugend als ein Konstrukt und gemeinsam mit dem Erwachsenenbegriff als eine künstliche Unterteilung der modernen Gesellschaft zu beschreiben. Klare soziale Grenzen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen und klare Altersbegrenzungen sind weiterhin nicht vorzufinden. „Je nach Altersstufe, sozialem Milieu und je nach Epoche wirken verschiedene soziale Einflüsse mit unterschiedlicher Intensität auf den Jugendlichen ein, so daß der Begriff Jugend verschieden abgegrenzt und unterteilt werden muß“ (Stangl 1999: 7). Auch
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
verschiedene (internationale) Bildungsinstitutionen und Ministerien haben keine einheitlichen Altersangaben bezüglich Jugend: „Eine Umfrage des Bildungsministeriums aus dem Jahre 1997 bezog sich [vgl. Kösters 1999: 44] auf die Altergruppe der 14- bis 29-Jährigen. Für die Vereinten Nationen gelten Menschen bis 23 Jahre als Jugendliche. Jugendlicher im juristischem Sinne in Deutschland ist, wer 14 Jahre oder älter ist, aber das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat“ (Maßlo 2010: 28f.).
In den verschiedenen Shell-Jugendstudien wird auch jedes Jahr die Altersgruppe der Jugendlichen verändert (vgl. Maßlo 2010: 29). Dies zeigt, dass auch innerhalb der Wissenschaft der Jugendbegriff jeweils anders betrachtet wird. Die Frage ist nach all den verschiedenen Angaben und Perspektiven der letzten Jahrzehnte bezüglich Jugend und Erwachsenen, ob es überhaupt noch eine Jugend gibt oder ob vielmehr schon von Erwachsenen gesprochen werden sollte? Bricht nach der Kindheit das Erwachsenenalter an? Sind junge Menschen aus marginalisierten Stadtteilen, die sich im Alter von 14 Jahren ökonomisch und sozial um die Familie bzw. um sich selbst kümmern müssen schon Erwachsene? Und was ist mit den 16-Jährigen, die bereits Eltern sind und die Schule abgebrochen haben? Ist ein Student, der bis zum 30. Lebensjahr studiert und von der Familie ökonomisch abhängt noch ein Jugendlicher? Auch laut dem britischen Jugendsoziologen Andy Furlong ist die Jugend eine sozial konstruierte Zwischenphase, die Kindheit und Erwachsenenalter verbindet. Dabei wird nicht chronologisch auf ein bestimmtes Alter geachtet, um als Jugendlicher zu gelten, da dies aus den verschiedensten sozialen und individuellen sowie familiären Gründen nicht möglich ist (vgl. Furlong 2013: 1). Jugend kann auch nicht an Aktivitäten und Praktiken festgemacht werden, da sich diese wiederum abhängig vom sozialen Umfeld und den individuellen Interessen und Fähigkeiten ändern. „Youth is a broader concept than adolescence, which relates to specific developmental phases, beginning with puberty and ending once physiological and emotional maturity is achieved, and it tends to cover a more protracted time span” (Furlong 2013: 2). Somit könnte Jugend als eine Art Durchgangsstadium und Vorbereitungsphase in die Welt der Erwachsenen betrachtet werden, die je nach Situation, Erfahrungen und Selbstständigkeit in Kombination mit dem Alter variiert (vgl. Stangl 1999: 7). Hierzu müsste aber auch die biologische Geschlechtsreife und die soziale Reife bedacht werden, die bei jedem Menschen anders verläuft. Dies würde aber dann auch dazu führen, dass zwischen Jungen und Mädchen unterschieden werden müsste, da z.B. bei letzteren die Geschlechtsreife früher einsetzt (vgl. Stangl 1999: 8). In dieser vorliegenden Forschungsarbeit wird mit einem Jugendkonzept gearbeitet, das die Altersstufen 18 – 26 einschließt und junge Männer untersucht, die sich genau in dem oben genannten Durchgangsstadium befinden, gleichzeitig aber schon auf sich selbst gestellt sind. Sie sind unter der
2.1 Was ist Jugend?
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ohnehin schon marginalisierten Jugend zusätzlich marginalisiert. Diese Aspekte sind besonders interessant für diese Studie im Hinblick auf (Weiter-)Bildung, Arbeitserfahrungen und Freizeitgestaltung. Aus diesen Gründen war die Einbindung junger Männer dieser Altersklasse besonders relevant. Wie schon festgestellt, stellen Jugendliche allgemein schon eine marginalisierte Gruppe in der Gesellschaft dar. Allein aufgrund der oben genannten Individualisierung entsteht in der Gesellschaft auch eine geringere kollektive Partizipation von Jugendgruppen. Einzelne Jugendliche, die sich an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen, repräsentieren nicht die Jugend als Gemeinschaft und macht diese somit auch nicht so sicht- und hörbar. Dadurch ist die Partizipation an politischen Entwicklungen seitens junger Menschen teilweise stark eingeschränkt oder wird nur oberflächlich als Teilhabe deklariert. Dahinter stecken aber oftmals ganz bestimmte Interessen seitens der Institutionen oder des Marktes. „Die Freisetzung der Gesellschaftsmitglieder aus den normativ-bindenden Traditionen und Schranken der Klassenkulturen und Herkunftsmilieus, die eine zunehmende Pluralisierung von Lebensformen- und -stilen hervorbringt, geht mit der Tendenz einer individualisierten Existenzform und -lage einher, in der die Individuen trotz der unkalkulierbar werdenden Risiken – insbesondere hinsichtlich flächendeckender Arbeitslosigkeit – gezwungen sind, sich zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung und -führung zu machen. Gemäß dieser erzwungenen, gleichsam verordneten Freisetzung werden auch Prozesse der sozialen Marginalisierung wie die durch Arbeitslosigkeit und Armut reduzierten Teilhabechancen unter den Bedingungen einer umfassenden Individualisierung dem Einzelnen als persönliches Schicksal zugeschrieben“ (Helsper et al. 1991: 36).
Es sollte deshalb eine Abwendung von der Annahme stattfinden, dass die Peergruppe soziale Integration garantiert und als Verbindungsglied zwischen sozialen Organisationen und der Familie fungiert: „Denn die zunehmende Verselbständigung der Peers, die Ausgliederung Jugendlicher aus altersheterogenen Gruppen, die zunehmende Segregation der Altersgruppen und die soziale Erfahrungsferne etwa der Schule, kann ebenso eine Entfremdung Jugendlicher von gesellschaftlichen Erfordernissen bedeuten und damit sozial desintegrierend wirken (vgl. etwa Tenbruck 1962, Coleman 1961, 1983 u. 1986). Wenn diese Diagnose auch nicht verallgemeinert werden darf, so resultieren aus dem Zusammenspiel von jugendlichen Institutionen, den Bedingungen sozialer Ungleichheit und Ausschlüssen Jugendlicher und den jugendlichen Gruppenbildungen Zusammenhänge, die jugendliche Marginalisierung mit konstituieren“ (Helsper et al. 1991: 195).
Im Hinblick auf das Thema dieser Studie wird die Marginalisierung der Jugendlichen unter zwei Aspekten untersucht. Einerseits wird von einer aktuell allgemein unentschlossenen Gruppe ausgegangen (vgl. Hurrelmann/Albrecht 2014: vgl. 33ff.), die sich in Peerkonstellationen zusammentut und sich meist nochmals
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
von der Gesellschaft abschottet und eigene Regeln und Handlungsweisen beachtet bzw. durchführt; andererseits sind die Peergruppen dieser Studie zusätzlich aufgrund ihrer sozialen und geographischen Lage marginalisiert. Diese Marginalisierung wird im 4. Kapitel nochmals genauer untersucht. Das folgende Kapitel soll nun erst einmal auf die Entstehung von Jugendkulturen verweisen, um die soziale Positionierung der Jugend in der Gegenwartsgesellschaft besser verstehen und Vergemeinschaftungs- und Distanzierungspraktiken nachvollziehen zu können, die durchaus als Bildungsprozesse gesehen werden können.
2.2
Jugendkulturen
Jugendkulturen werden in den Sozialwissenschaften sowie in der Soziologie schon seit Jahrzehnten untersucht – auch aufgrund einer schon immer existenten, jedoch seit Beginn der Industrialisierung verstärkten Marginalisierung der Jugend. Die Analyse von jugendlichen Peers geht zurück auf die Chicago School of Sociology, die sich insbesondere devianten und kriminellen Jugendlichen widmete. Die Jugendkulturen an sich in Europa wurden außerdem von denen aus den USA seit den 1950er Jahren stark beeinflusst. Davor gab es in Europa eine Kultur der Jugendbewegung. Somit ging es sowohl um einen wissenschaftlichen als auch um einen praktischen Einfluss in Europa. Die USA sind demnach Vorreiter in beiden Fällen. Gerade in Zeiten sozialer Umbrüche wie zum Beispiel der Wandel der Schulsysteme (z.B. neue Technologien, veränderte Erziehungs- und Lehrmethoden, Einführung der Koedukation etc.), der vermehrte Einsatz von Maschinen und das Konsumverhalten, aber auch die 1960er Jahre, die zu vielen politischen und kulturellen Veränderungen führten, durch die junge Menschen stark beeinflusst wurden, haben das Interesse der Soziologie auf diese Themen erhöht. Insbesondere Untersuchungen zu Jugendgangs und deviantem Verhalten haben seit den 1920er Jahren in den USA eine regelrechte Tradition. Nach Frederic M. Thrashers „The Gang“ (1927) veröffentlicht Albert K. Cohen (1955) bspw. erneut eine Studie über Chicagoer Gangs und deren Territorien. Bei letzterer geht es auch um Klassenteilung und der Nicht-Anpassung seitens der jungen Gangmitglieder an Mittelklasse-Werte und deren Bildungsorientierungen. Cohen bezeichnet mit „problem of adjustment“ die Schwierigkeit mit der Anpassung, die die jungen Männer in der sie umgebenden Gesellschaft haben. Deshalb bauen sie sich ihre eigenen Regeln, Normen und Statuskriterien auf. Sie entwickeln eine ‚kollektive Lösung’, in der sie sich deviant, kriminell, ‚über-maskulin’ sowie hart und gewalttätig zeigen. Um den negativen Urteilen der Gesellschaft zu entkommen, hängen die jungen Männer von ihren regelmäßigen sozialen Interaktionen und von der
2.2 Jugendkulturen
15
Gruppensolidarität ab. Somit werden die Werte und Normen der Mainstream-Gesellschaft in gewalttätige und deviante umgewandelt: „[...] the delinquent’s conduct is right by the standards of his subculture, precisely because it is wrong by the norms of the larger culture” (Cohen 1955: 28). Diesbezüglich wurden auch bestimmte wissenschaftliche Herangehensweisen und Methoden erprobt und genutzt, um Jugendliche und deren kulturelle Praktiken genauer zu erforschen. Dabei wurde festgestellt, dass es eine ganze Vielfalt an Subkulturen gab, die aufgedeckt wurden. Somit wurde das Thema Jugendkultur zuerst von den Sozialpsycholog*innen im Rahmen der Adoleszenz- und dann der Delinquenz- und Devianzforschung untersucht.4 Später, in den 1980er Jahren, wurde dann auch im Rahmen der Subkulturen und der symbolischen Formen von Resistenzpraktiken geforscht: „In einer erweiterten Perspektive des subkulturellen Ansatzes abweichenden Verhaltens kann man feststellen, daß in entwickelten differenzierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften zwar bestimmte grundlegende Wertvorstellungen und Normen (bis auf wenige Ausnahmen) von den meisten Gesellschaftsmitgliedern (wenn auch latent) geteilt werden, daß es jedoch angesichts tiefgreifender sozialstruktureller Veränderungen und der Differenzierung und ‚Pluralisierung der sozialen Lebenswelten’, in denen die einzelnen Lebensbahnen, Lebensbereiche und Lebensläufe immer mehr (ohne garantierte gesellschaftliche Integration) auseinandertreten, verschiedene soziale Gebilde und Subsysteme gibt, in denen kulturell höchst unterschiedlich, nuancierte Werte und Normen gelten können, die also ihrerseits gerade auch von den gesamtgesellschaftlichen Verhaltenserwartungen und Normen abweichen können“ (Ferchhoff 1990: 21).
Diese Subsysteme und verschiedenen (Sub)Kulturen werden jedoch auch teilweise von den Akteur*innen selbst miteinander vernetzt und vermischt. In dieser vorliegenden Forschungsarbeit sind die marginalisierten jungen Männer aus Deutschland bspw. sowohl mit Fitness- als auch Diskussionspraktiken beschäftigt. Einige davon sind zudem stark in einer religiösen Gemeinschaft oder bei den Hooligans involviert. Hier sind innerhalb eines sozialen Raums mehrere (sub)kulturelle Praktiken zu beobachten, die verschiedenen – sich teilweise sogar kontrastierenden und widersprechenden – Regeln und Normen nachgehen. Hierbei geht es den Akteur*innen nicht um eine Kultur, sondern um ein möglichst großes soziales Netzwerk, auf dessen Ebene mehrere Plattformen der Anerkennung ermöglicht werden. Diese Option gibt es in marginalisierten Stadtteilen auch. Nicht jede*r Bewohner*in ist unbedingt von einer Gang oder einer (Sub)Kultur abhängig, sondern entscheidet selbst welche Interessen und Möglichkeiten individuell passen. „Demnach scheint man heutzutage von einer ‚einheitlichen dominanten 4
Wobei in den USA der Schwerpunkt bei den Stadtsoziolog*innen und in Deutschland bei den Sozialpsycholog*innen lag.
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
Kultur’ kaum noch auszugehen. ‚Dominante Kultur’, ‚Teilkultur’, ‚Gegenkultur’ und ‚Subkultur’ sind oftmals nur schwer auseinanderzuhalten; sie überkreuzen und mischen sich vielfach“ (Ferchhoff 1990: 21). Die beiden britischen Soziologen John Clarke und Tony Jefferson haben sich im Rahmen des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham mit einem Kapitel am Buch „Working Class Youth Culture“ (1976) beteiligt und das Bewusstsein der Arbeiterklasse über ihre soziale Lage und Unterordnung in drei Kategorien aufgeteilt: „dominantes“, „verhandeltes“ und „oppositionelles“ Bewusstsein (vgl. Clarke/Jefferson 1976: 146). Alle drei Bewusstseinskategorien spielen nach beiden Soziologen eine Rolle bezogen auf die Jugendkulturen und deren Strukturen, Praktiken und Gedankengüter. Innerhalb der Birmingham School wurde vor allem konstatiert, dass Subkulturen eine komplizierte Beziehung mit der ‚Elternkultur’ der Arbeiterklasse hätten. Elemente wie Widerstand und Feindseligkeit gegenüber den Autoritäten sind Teil der ‚Elternkultur’ und werden zwar von den Jugendsubkulturen kritisiert, aber immer noch besser akzeptiert als die Überlegenheit der Institutionen (vgl. Hall/Jefferson 1976). Von daher ist die ‚Elternkultur’ nie wirklich von der Jugendsubkultur getrennt, da sie beide auf die sozialen Zustände der Arbeiterklasse antworten. In Großbritannien bildet sich nach dem Zweiten Weltkrieg zudem auch ein Konflikt zwischen der traditionellen Arbeiterklasse und den „vergnügungssüchtigen Konsumkulturen“ (vgl. Cohen 1972). So übernehmen Jugendliche zwar die Rituale und den Slang der ‚Elternkultur’ der Arbeiterklasse, aber lassen sich vom Image des modernen, schrillen und glamourösen Konsumenten beeinflussen. Zudem verändern sich die Jugendkulturen der Arbeiterklasse auch durch den Abriss von den klassischen Arbeitervierteln und den Bau von Hochhaussiedlungen, die dadurch auch Aufenthalts- und soziale Räume zerstören bzw. trennen (vgl. Cohen 1972). Es entstehen daraus weitere und neue Subkulturen, die sich untereinander mischen sowie die Grenzen teilweise verschwimmen lassen und dadurch wiederum neue Orientierungen und Praktiken generieren: z.B. Skinheads, die sich nochmals von der Sprache und den Stilen der Arbeiterklasse prägen lassen. In den USA und dann auch in Europa beginnen die Gegenkulturen und studentischen Bewegungen. Es wird zu einer internationalen Jugendkultur, die sich gar nicht mehr nur auf bestimmte Stadtteile, Städte und soziale Klassen beschränkt, sondern die Jugend als ein Gesamtphänomen involvieren. In den USA protestieren in den 1960er Jahre afro-amerikanische Studierende für ihre Bürgerrechte, die zusammen mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg für viel Aufruhr, aber vor allem für viel Gehör und durchaus auch zu sozialen Veränderungen beitragen (vgl. Mungham/Pearson 1976: 4ff.). Es bilden sich erneute Widerstandskulturen ähnlich wie die Gangs, die Thrasher untersucht hat, und zwar die sog. rebellierenden ‚lads’, die Paul Willis
2.2 Jugendkulturen
17
in seinem Werk Learning to Labor (1977) erforscht und sich gegen die Schulinstitution auflehnen. Bei den ‚lads’ handelt es sich um Jugendliche der Arbeiterklasse, die die Schule abbrechen und nach Jobs suchen. Dabei ‚landen’ sie im Handwerkerbereich und stellen erst, als sie älter werden, fest, wie sehr sie ausgenutzt werden. Willis ist der Meinung, dass diese Jugendlichen aufgrund ihres Widerstandes gegen die Autorität und der Institutionen am Schluss aus ihrer Arbeiterklasse nicht herausgekommen sind und vor allem ungebildet geblieben sind. Dies trifft bspw. auf die jungen Männer dieser hier vorliegenden Untersuchung nicht zu. Es geht hierbei viel mehr darum nicht den Weg der Eltern zu gehen, die entweder arbeitslos sind, auf den Baustellen für Niedriglohn arbeiten oder im Untergrund illegalen Geschäften nachgehen. Gleichzeitig gehen sie aber auch nicht zur Schule. Sie bilden sich autonom weiter und/oder versuchen sich über Hartz IV oder Hochstaplerei über Wasser zu halten. Die Kollektivität und die Bindung untereinander stellen aber die Voraussetzung einer Jugend(sub)kultur dar. Erst dadurch werden die Ideen, Orientierungen und Handlungen zu einer Kultur. „Jugendkulturen werden emotional ‚besetzt’ und gesucht, weil sie eine Umsetzung von Bindungsbedürfnissen ermöglichen. Bindungen an Gleichaltrige haben eine stabilisierende Funktion in Zeiten des Umbruchs, wenn die Liebesenergie von den Eltern abgezogen werden muss“ (Schröder 2005: 303).
Im Falle der jungen Männer aus dieser vorliegenden Untersuchung ist die Bindung an Gleichaltrige – allein schon aufgrund ihres höheren Alters unter den Jugendlichen – vor allem bezogen auf ihre marginalisierte Lage. Ihr konjunktiver Erfahrungsraum ist die Marginalisierung, die Exklusion aus dem übrigen sozialen Geschehen der Stadt und die Diskriminierung über die Medien. Somit ist neben der genderspezifischen Relevanz der Jungenclique auch eine soziale Bedeutsamkeit zu beobachten. Um sich gegen die eben genannten Erfahrungen zu behaupten, ist der Zusammenschluss und Zusammenhalt von größter Bedeutung. „Die Clique kann, wenn sie in sich eine plurale Struktur hat, in der die Einzelnen zum Zuge kommen, der Ort sein, in dem sich die Einzigartigkeit des Jungseins im sozialen Gegensatz zu Familie und Gesellschaft leben und demonstrieren lässt“ (Böhnisch 2014: 26). Noch stärker lässt sich dies insbesondere in marginalisierten Milieus beobachten. Paul Willis (1977) und das CCCS in Birmingham haben mit ihren Studien über Arbeiter- bzw. proletarischen Jugendkulturen äußerst wichtige Beobachtungen gemacht, die auf viele der hier untersuchten Praktiken und Handlungen zutreffen. „Jugendliche im traditionellen Arbeitermilieu machen Front gegen die ‚parent culture’ ihrer Klasse, weil sie bspw. den Ausgrenzungen des Arbeitsmarktes und den sonstigen notorischen Stigmatisierungen entgehen wollen“ (Ferchhoff 1990: 54). Es entsteht ein Wir-Gefühl, eine Wir-Identität, die gegen die Marginalisierung, die prekäre Situation, die niedrigen Zukunftsaussichten und die Klassenabhängigkeit ankämpft. „Das gegenüber Familie und Gesellschaft isolierte
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
und unwirkliche Ich öffnet und bezieht sich in der Intimität des Wir der Gruppe und kann sich so sozial regulieren“ (Böhnisch 2014: 26). Dies führt dazu, dass Jugend(sub)kulturen zu einer Art Rückzugsort werden, die sich von Lebens- und Verhaltensweisen wie bspw. staatlichen (Aus-)Bildungs- und Beschäftigungssystem abgrenzen. Gleichzeitig stellen „die Jugend(sub)kulturen bestenfalls Teillösungen dar für Widersprüche innerhalb ihrer Lebenssituation. Ihr wichtigster Beitrag ist dabei die Erhöhung des persönlichen sowie manchmal auch die Schaffung eines teilkollektiv orientierten Identitätsgefühls“ (Ferchhoff 1990: 55). Dieses Identitätsgefühl wird in Peergruppen durch das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen gelebt und konstruiert, das durch szenespezifisches Wissen und verschiedene (materielle) Ausdrucksmittel mitgeteilt wird (vgl. Eisewicht et al. 2018). Dies sind beispielweise in der Graffitiszene das Graffiti an sich (ebd.) oder unter Rappern ein bestimmtes Image des Körpers, des Herkunftsstadtteils oder des Milieus der Abstammung (Dietrich/Seeliger 2012). Dieses Gefühl der sozialen Zugehörigkeit innerhalb von Jugendkulturen verstärkt sich insbesondere, wenn Jugendliche gesamtgesellschaftlich marginalisiert sind und wird umso relevanter, wenn Jugendliche aus marginalisierten Stadtteilen und Settings entstammen (vgl. Jarosz 2005: 170). Subkulturen wären in diesem Fall Teilbereiche, die teilweise für noch mehr Abgrenzung innerhalb der Gesellschaft und auch innerhalb sozialer Räume sorgen. Im Folgenden soll kurz auf das Subkulturkonzept eingegangen werden, um gegenüber den Jugendkulturen die feinen Unterschiede zu verdeutlichen und den Grundgedanken dahinter zu verstehen.
2.3
Jugendsubkulturen „Historisch gesehen nahm – in einer der vielleicht bekanntesten Varianten – das Subkulturkonzept seinen Ausgang von den sogenannten ‚Milieu- und Gang-Studien’ delinquenten (jugendlichen) Verhaltens der interaktionistisch und sozialökologisch ausgerichteten ‚Chicago-Schule’ , die in den Vereinigten Staaten der 20er, 30er und 40er Jahre durchgeführt wurden und dort [...] eine besondere Rolle spielten“ (Ferchhoff 1990: 19).
Aus einer soziologischen Perspektive betrachtet, ist eines der wichtigsten Themen bzgl. der Jugendsubkulturen die Beziehung zwischen den Alltagserfahrungen und der sozialen Klasse (vgl. O’Connor 2004). Dabei muss soziale Klasse nicht unbedingt getrennt gesehen werden und gleichzeitig spielt in einigen Fällen auch das Geschlecht eine große Rolle. Je nach Subkultur, Geschlecht und vor allem auch je nach Region und deren sozialen Strukturen gibt es teilweise große Unterschiede:
2.3 Jugendsubkulturen
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“There are many ways of thinking about social class. In the work of the French sociologist Pierre Bourdieu the main factors involved are parents' occupation and level of education. These have significant effects on the life chances of their children. Social class is not a social group: the idea is not that working class kids or middle class kids only hang out together. There may be some of this in any school or town. Social class is a structure. It is shown to exist by sociological research and many people may only be partly aware of these structures or may lack the vocabulary to talk about them. It is often the case that people blame themselves—their bad school grades or dead-end job—for what are, at least in part, the effects of a system of social class that has had significant effects on their lives. The main point of Bourdieu's research is to show that many kids never had a fair chance from the beginning” (O’Connor 2004: 409).
In dieser vorliegenden Forschungsarbeit gibt es durchaus große soziale Unterschiede zwischen Deutschland und Italien. Eine fundierte Auseinandersetzung mit diesem Thema findet sich im Kapitel zur urbanen Marginalisierung (Kapitel 4.6). Es soll jedoch hier darauf hingewiesen werden, dass bezüglich der Jugend(sub)kulturen durchaus ein differenzierter Blick entwickelt werden muss. Auch wenn es sich bei den Untersuchungsstadtteilen in beiden Ländern um marginalisierte Quartiere in zwei Großstädten handelt und keine Gegenüberstellung zwischen einem ländlich gelegenen Dorf und einer Metropole getätigt wird, so muss doch das soziale System der jeweiligen Länder beachtet werden. Bestimmte Schulformen, staatliche Unterstützungen oder Abwesenheiten, Arbeitslosenraten sowie ethnische Diversität beeinflussen jugendliche Subkulturen maßgeblich (vgl. hierzu Kapitel 4.6). In American sociology in the 1950s—a very conservative time in academic research—research on youth gangs and deviance indirectly showed the effects of class. It was argued that youth who cannot achieve according to social norms, who cannot do well in school or find good jobs, create subcultures. These in turn have their own roles and norms which these youth can fulfill. The idea was that youth who do badly at school create their own little societies in which they can achieve status by smoking, being tough or engaging in petty crime. This actually extends beyond youth (O’Connor 2004: 409). Diese Perspektive hat sich in der Zwischenzeit verändert. Mittlerweile ist deutlicher geworden, dass hinter marginalisierten Subkulturen viel mehr als nur Breakdance, Hip-Hop, Drogen, Gangs und Mikrokriminalität steckt. Gleichzeitig sind gewisse ‚Mainstream’-Subkulturen nicht nur bestimmten sozialen Klassen einzuordnen. Nicht jeder Skinhead der 1970er Jahre gehörte der Arbeiterklasse an und nicht jeder Hippie entstammte aus der Mittelklasse. So ist dies heute auch mit der Hip-Hop-Kultur. Zwar ist sie laut der Quellen aus der Unterschicht entstanden, aber mittlerweile hat diese Subkultur alle sozialen Klassen sowohl als aktiv Teilhabende als auch als Zuschauer oder Zuhörer erreicht.
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
“British research on subcultures in the 1970s had as its goal to argue against the idea that youth subcultures are simply generational conflict. It is not only a matter of youth briefly rebelling against their parents before settling down in a steady job. Research in cultural studies reintroduced the theme of social class. Subcultures are ways in which kids live out and understand a complex social structure” (O’Connor 2004: 409f.).
Vielmehr geht es in Subkulturen – gestern wie heute – um ein bestimmtes Image. Dieses Image wird von jeder sozialen Klasse bezogen auf die jeweiligen Hinter- und Entstehungsgründe der Subkulturen performt. In Rapmusikvideos stellen sich auch Angehörige der Mittel- oder Oberschicht vor verwahrloste Wohnblöcke und rappen von einer Welt, die sie nicht unbedingt betrifft. Das Image der ‚reichen’ und ‚gebildeten’ Intellektuellen wird somit auch von den Schulabbrechern des italienischen Untersuchungsstadtteils dieser Forschungsarbeit übernommen und ist insbesondere während der Gruppendiskussionen zu beobachten (vgl. hierzu Kapitel 8). Mittlerweile werden die Theorien zu den Subkulturen der Birmingham School von vielen Forschenden als veraltet und nicht mehr aktuell gesehen. Es wird teilweise von „postsubcultures“ und „neotribes“ gesprochen (Bennett 1999; Muggleton/Weinzerl 2003). Wie oben schon angesprochen, sind Jugendkulturen mittlerweile in weitere Sektionen fragmentiert und aufgeteilt bzw. vermischen sich und spielen sich noch stärker auf internationaler Ebene ab. Auch wenn schon seit den 1950er Jahren über Musik auf Vinylplatten und durch Zeitschriften für die Verbreitung der Jugendkulturen weltweit gesorgt wurde, ist dies über das Internet heutzutage noch schneller und weitläufiger zu erreichen. Dadurch werden bspw. Subkulturen aus den USA schneller in andere Länder implementiert sowie andersherum auch. Es gibt einen größeren Austausch und ein vielfältigeres Crossover in den Stilen, Praktiken, Denkweisen und Orientierungen. Es wird erstmals auch viel mehr über die LGBTQ5-Kulturen und -Szenen geforscht. Junge Frauen und ihre (Sub)Kulturen werden vermehrt untersucht und beachtet. Gleichzeitig gibt es aber auch weiterhin viele Wissenschaftler*innen, die trotz allem die Wichtigkeit der Beiträge der Birmingham School unterstreichen und sich auf die ethnografischen Herangehensweisen an die Jugend(sub)kulturen weiterhin beziehen (Haenfler 2010; Moore 2010). Schließlich wurden mehrere Studien zur Hip-Hop-Kultur (Rose 1994), Heavy Metal (Kahn-Harris 2007), Straight-edge Punkt (Henfer 2006), Klubkulturen (Thornton 1995) und Gothic (Hodkinson 2002) durchgeführt. Diese wiederum haben auch in Deutschland ähnliche Untersuchungen beeinflusst wie die Studien zu den Rockern (Schmid 2015), Fußballfans (Duttler et al. 2015; von der Heyde et al. 2016), Techno (Hitzler et al. 2001) und die Raveszene (Schwanhäußer 2010) und Hip Hop (Weller 2003; Dietrich et al. 2012). Durch all diese Studien wird ein Gesamtbild der jugendlichen 5
LGBTQ ist eine Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer.
2.4 Junge Männer und Jugendkulturen
21
Praktiken sichtbar, das differenziert auf die verschiedenen Handlungen schaut und dadurch einen Überblick über die vielen komplexen Strukturen, Verbindungen, Parallelen und Trends der Jugend verschafft, wobei diese Praktiken aber nicht mehr als Subkulturen zu sehen sind. Von daher wird im Hinblick auf das Thema dieser Studie von Jugendkulturen gesprochen, die wiederum in ‚interdisziplinäre’ Sektionen oder Szenen aufgeteilt sind. Weiterhin relevant ist für diese Forschungsarbeit der Bezug von jungen Männern zu Jugendkulturen. Im folgenden Unterkapitel soll mit einem kritischen Blick diese Thematik aufgegriffen werden.
2.4
Junge Männer und Jugendkulturen
Wie bereits festgestellt wurde und im weiteren Verlauf dieses Kapitels evidenter werden wird, ist, dass sich die Jugendforschung allgemein vorwiegend junge Männer anschaut und junge Frauen bzw. Mädchen außen vor gelassen werden. Dabei nehmen an allen oben genannten Szenen auch Mädchen teil und werden von diesen dementsprechend auch aktiv (mit-)gestaltet oder sogar „gegründet“ (vgl. Schrader/Pfaff 2013: 323ff.). Dies geschieht sicherlich teilweise auch in unterschiedlicher Form, ist aber dennoch forschungsrelevant und interessant für eine Gegenüberstellung bzw. einen Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Jugendkulturkonzepten. Da nun für diese Arbeit – wie bereits vorher erwähnt – junge Männer untersucht wurden, soll hier auch auf diese und deren Kultur eingegangen werden, was aber nicht bedeuten soll, dass die Untersuchungsergebnisse nicht auch für junge Frauen gilt. Raewyn Connell (2000a) schreibt, dass das Thema Gender im Allgemeinen als System sozialer Beziehung angegangen werden sollte. Männlichkeiten sind die Muster sozialer Praxis, die in den jeweiligen Gesellschaften mit der Position des Mannes verbunden sind. Die körperlichen Verschiedenheiten sind nach Connell (2000a) keine festen Determinanten der Gendermuster. Vielmehr handelt es sich dabei um einen Referenzpunkt in der Genderpraxis. Es gibt verschiedene Männlichkeiten. Es gibt hierarchische sowie auch kollektive oder individuelle Männlichkeiten. Diese können aktiv im Sozialleben konstruiert werden sowie sich im historischen Verlauf ändern. Männlichkeiten sind im Inneren komplex. In dieser Arbeit wird vor allem auf Männlichkeiten geschaut, die in lokalen ‚Arenen’ (vgl. Connell 2000a) operieren. In globalen Arenen agieren sie vor allem im Rahmen vom Imperialismus, Kolonialismus und der heutigen Globalisierung. In all diesen Arenen findet ein Wettkampf statt. Der Wettbewerb verbindet alle Männlichkeitsmuster. „Der historische Veränderungsprozeß von Männlichkeiten ist ein Prozeß des Ringens, bei dem nicht zuletzt beträchtliche Ressourcen auf dem Spiel stehen“ (Connell 2000b: 24). Zu den Ressourcen gehören bspw. der Wettbewerb unter
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
Männern. Dieser ist nicht unbedingt nur als gegnerisch-feindlich intendierte Praktik zu sehen, sondern in den meisten Fällen eher als eine Vergemeinschaftungspraktik, die sich fast schon zu einem brüderlich-freundschaftlichen Spiel entwickeln kann. „Der Wettbewerb ist, so paradox das erscheinen mag, auch eine Ressource von Solidarität“ (Meuser 2008: 39). Wettbewerbe müssen nicht unbedingt körperlich oder durch physische Gewalt ausgetragen werden, sondern auch verbal durch Streit(-gespräche) und/oder in Form eines Raps im Kreise der Hip Hop-Kultur (vgl. hierzu Bohnsack; Nohl 2001; Bohnsack et al. 1995; Meuser 1998). „Von zentraler Bedeutung für die Einübung der doppelten Distinktionslogik, also der Abgrenzung gegenüber Frauen wie gegenüber anderen Männern, ist die peer group der gleichaltrigen männlichen Jugendlichen, die Clique, der Freundeskreis. Die peer group ist lebensgeschichtlich gewöhnlich der erste homosozial geprägte soziale Raum, den sich der heranwachsende Jugendliche erschließt, ein Raum außerhalb der Familie. Hier wird die Strukturlogik des männlichen Habitus gleichsam spielerisch angeeignet“ (Meuser 2008: 36).
Somit gilt nach Meuser der Wettbewerb als ein zentrales Mittel männlicher Sozialisation (vgl. Meuser 2008: 34). Ob es nun Trinkwettbewerbe, Schlägereien, sportliche Duelle oder verbale Auseinandersetzungen sind, es hat immer etwas mit einer gewissen Kompetitivität zu tun. Nach Bourdieu wird nämlich der männliche Habitus „konstruiert und vollendet [...] nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen“ (Bourdieu 1997b: 203). Dies konnte bspw. auch bei denjenigen Akteuren dieser Untersuchung beobachtet werden, die als Graffitisprüher unterwegs sind oder im Fitnessstudio regelmäßig am Muskelaufbautraining teilnehmen. Bei ersterem handelt es sich um einen ständigen Wettbewerb um die besten Kalligraphien, ‚Pieces’, U-Bahnlinien und/oder gefährlichsten, schwierigsten sowie riskantesten Zugdepots oder Maloberflächen. In der Graffitiszene ist ein solches Verhalten besonders männlich geprägt und nicht zufällig sind insbesondere dort Vergemeinschaftungsprozesse in Form von Graffiticrews zu beobachten, die sich auch innerhalb dieser Gruppierungen um den besten „Style“ oder um die besten Sprühorte „streiten“ (vgl. hierzu auch Jung/Schmidt 2014: 63f.). „Im kraftsportorientierten Fitnessbereich treffen Jungen auf gleichgesinnte Menschen und altersnahe Vorbilder. Sie schließen sich selbstorganisiert zu eigenen Peer-Groups [...]“ (Liermann 2014: 100). Innerhalb dieser Peergruppen entstehen dann Wettbewerbe um das höhere Gewicht der Hanteln oder um die meisten ‚Sätze’ im Training. Dabei helfen sich die Jugendlichen aber auch gegenseitig das Fitnessprogramm gemeinsam zu gestalten, zu vollenden und sich dadurch auch gegenseitig zu motivieren. Der Gedanke hinter dem Bodybuilding ist jedoch bei jedem jungen Mann unterschiedlich (vgl. Hertling 2008: 109ff.). Innerhalb
2.4 Junge Männer und Jugendkulturen
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dieser vorliegenden Untersuchung war vor allem die Akzentuierung der einzelnen Muskeln am Körper vorrangig, um damit die Ästhetik eines kraftvollen Körpers innerhalb der Peergruppe zu demonstrieren und Frauen zu imponieren. „Vor allem Bodybuilding ermöglicht trainierten Jungen nicht nur körperbasierte Formen der Selbstpräsentation. Hier können sich auch männlich konnotierte Ideologien, die auf Grandiosität setzen, anschließen“ (Liermann 2014: 101; vgl. hierzu auch Hertling 2008: 45ff.). Auch wenn es laut Meuser viel Skepsis seitens der Soziologie gegenüber folgender Aussage gibt, bleibt sie in vielen Untersuchungen ein immer wieder erscheinendes Forschungsergebnis: „[...] nicht nur die Beobachtungen Bourdieus in der kabylischen Gesellschaft, auch viele andere ethnologische Studien zur Organisation von Geschlechterbeziehungen weisen deutlich darauf hin, dass die Verzahnung von Wettbewerb und Solidarität das Prinzip ist, das der Konstruktion von Männlichkeit in den unterschiedlichsten Kulturen zugrunde liegt“ (Meuser 2008: 43).
Sowohl in den studentischen Verbindungen als auch in der Welt der Rapper und Hip-Hopper sowie in den Straßengangs und bei der Mafia sind Muster des Wettbewerbs, der Hierarchien und der körperlichen Auseinandersetzung zu beobachten. Nicht alle Elemente müssen, wie gesagt, mit allen männlich geprägten (Sub-)Kulturen zusammenhängen, aber was in beiden Untersuchungsstadtteilen eindeutig zu beobachten ist, ist die Distanzierung oder gar Abschottung von Mädchen bzw. Frauen. „Die meisten Männergemeinschaften, insbesondere solche mit männerbündischem Charakter, basieren auf dem Prinzip der sozialen Schließung. Das kennzeichnet prestigereiche und hoch reputierliche Männergemeinschaften gleichermaßen wie solche in marginalisierten sozialen Milieus; man findet das Phänomen in einem Rotary Club wie im katholischen Klerus, bei der Mafia wie in street gangs“ (Meuser 2008: 36).
Hierbei spielen auch die männliche Dominanz und Gewalt eine relevante Rolle, die gegenüber Frauen und auch homosexuellen Männern besonders explizit zum Ausdruck gebracht wird. An dieser Stelle handelt es sich um weit mehr denn um „ernste Spiele“ wie sie Michael Meuser nennt (vgl. Meuser 2006). „Männer versuchen nicht nur, über Frauen zu herrschen, verschiedene Gruppen von Männern verfechten zudem verschiedene Männlichkeitsideale. Die hegemoniale Gruppe hat die Definitionsmacht, welche Männlichkeiten als bevorzugt gelten und damit mit hohem sozialen Status, Gütern und Frauen ausgestattet werden“ (Baur/Luedtke 2008: 10).
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
Wie bereits erwähnt, spielt die Vergemeinschaftung bei jungen Männern eine besonders große Rolle. Crews, Gangs, Cliquen oder Brüderschaften stellen insbesondere für marginalisierte Männer einerseits einen Familienersatz, andererseits einen Präsentations-, Austausch- und Konfrontationsraum dar. „Clique und Raum verschmelzen gerade bei Jungen zu einer besonderen Aneignungskultur. Es ist die Wechselseitigkeit von räumlicher und interaktiver Vergewisserung und den daraus erwachsenden Praktiken, in den sich Jungen als Jungen bestätigen (vgl. Breidenstein [2004])“ (Böhnisch 2014: 11). Dadurch, dass junge Männer unter besonderem Druck stehen sich mit ihrem Mannsein zu positionieren und ihre Männlichkeit zu entwickeln (vgl. Baur/Luedtke 2008; Meuser 2004, 1999; King/Müller 2000), stellt die Clique einen Raum dar, genau dies zu ermöglichen. Schließlich sind zum größten Teil der an dieser Untersuchung teilnehmenden Akteure ohne oder nur kurzfristig mit ihren Vätern aufgewachsen. Dadurch konnten sie sich nie mit einer männlichen Figur konfrontieren bzw. sich davon abgrenzen. Wenn zusätzlich aufgrund niederer Bildungsabschlüsse die Männlichkeit aufgrund der sozialen Schicht von höher gebildeten und finanziell mächtigeren bzw. hegemonialen Männern infrage gestellt wird, entwickelt sich dadurch eine besonders starke und sichtbarere Form von männlichem Verhalten (wie z.B. Bodybuilding, Deviantes und gewalttätiges Verhalten, Sexismus, Frauenfeindlichkeit, riskante Freizeitpraktiken etc.) (vgl. Colette 1984). „Die Entwicklung unserer heutigen Gesellschaft muss in der Tat an dem Erlöschen der väterlichen Imago gemessen werden. [...] Vater und Sohn [identifizieren sich] nicht mehr wechselseitig [...], da sich die materielle Zivilisation mit solcher Schnelligkeit entwickelt hat. Der Vater ist kein Handwerker mehr, der seine Fähigkeiten beweisen, der zeigen kann, was er macht. Er gehört einer komplexen Organisation an, in der er nur eines der Räder darstellt, und es kann nicht ausbleiben, dass diese Situation das Ich-Ideal beträchtlich schwächt, und zwar in dem Maße, in dem der Vater nicht einmal selbst mehr Achtung vor sich hat. Im Rahmen einer komplexen und unpersönlich gewordenen Gesellschaft ist der Vater ‚unsichtbar’. Das Über-Ich wird nicht mehr durch ihn verkörpert, sondern durch ‚die Forderung der Gesellschaft’“ (Colette 1986: 194-195).
Über den unsichtbaren Vater schreiben auch Dieter Schnack und Rainer Neutzling, die der Ansicht sind, je weniger männliche Kontur Jungen erleben, umso wichtiger wird der „kleine Unterschied“ (Suche nach dem eigenen Geschlecht) für sie (vgl. Schnack/Neutzling 2009: 34). Jungen identifizieren sich gerne mit ihren Vätern, vor allem mit deren Stärke (damit ist nicht nur die physische, sondern auch die mentale Stärke gemeint). Dieser Wunsch ist auch dann vorhanden, wenn der Vater nie da gewesen ist (vgl. Schnack/Neutzling 2009: 36). Heutzutage schwindet die väterliche Kontur immer mehr und die Extremfälle, bei denen es keinen Vater mehr gibt mit dem sich gemessen werden kann, nehmen zu. Immer mehr Väter sind nur ein Rad unter vielen anderen, die einen Apparat in
2.4 Junge Männer und Jugendkulturen
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Bewegung setzen sollen. Dieser Apparat stellt unsere heutige Gesellschaft dar. Die gesellschaftlichen Bedingungen sind anders geworden. „Der heranwachsende Sohn wird von gewaltigen Gruppen, in denen er nur mit Mühe seine Individualität findet, erstickt“ (Colette 1986: 194). Durch diese Schwierigkeit versuchen Jungen schnell, Helden zu finden, mit denen sie sich identifizieren können. Das ist eigentlich erst einmal ganz normal bei der Entwicklung eines Jungen. Bei dieser Suche jedoch verstärkt sich das Bedürfnis nach einer Vorbildkonstruktion, die auch eine soziale Konstruktion ist: „This highlights young people constructing defensive worlds in response to the new modes of personality increasingly demanded in network capitalism“ (Konto et al. 2003: 63). Im Falle der Akteure dieser Untersuchung stellen verschiedene Aktivitäten und Handlungen sowie die dazugehörigen Gruppen einen männlich geprägten Schutz- und Vorbildraum dar. „Wir stoßen hier vor allem auf junge Männer, die von ihrem sozialbiografischen Hintergrund her auf den Cliquenzusammenhalt angewiesen sind und deshalb die Devianzkultur der Clique nicht als abweichend, sondern als bewältigungsfunktional und emotional attraktiv empfinden: Selbstwertschöpfung, sozialer Rückhalt, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Status, die subjektive Erfahrung der Teilhabe an Aktivitäten als Beschäftigung“ (Böhnisch 2014: 33).
Das was die Mehrzahl der ethnografisch beobachteten jungen Männer in dieser Studie sehen, sind nicht ihre Väter (bei der Arbeit), sondern ihre älteren Brüder oder gar minderjährige Jungen, die mit illegalen Geschäften schnelles Geld verdienen. Oder aber sie sehen Väter anderer Familien, die sich aufgegeben haben, Drogen konsumieren oder den gesamten Tag zuhause ‚rumhängen’, während die Mütter hart arbeiten um die Familie über Wasser zu halten. Dies hat somit größtenteils mit den gesellschaftlichen, politischen sowie technologischen Veränderungen zu tun. In vorindustrieller Zeit konnte der Junge seinen Vater bei der Arbeit beobachten und wurde auch involviert. Dabei hatte er die Möglichkeit, sich mit ihm zu messen. Gérard Mendel schreibt, dass „in gewissen primitiven6 Gesellschaften [...] das fünfjährige Kind fähig [ist], äußerst wichtige Tätigkeiten vorzunehmen und sich im gesellschaftlichen Leben voll mit seinem Vater [zu identifizieren]“ (Colette 1986: 214). Dagegen gibt es in unserer heutigen Gesellschaft diese Möglichkeit nicht mehr. Die sozio-kulturellen Institutionen „erlegen dem Kind einen hohen Grad [an] Regression im Verhältnis [zum] väterlichen Ich-Ideal auf“ (Colette 1986: 214). Dies führt zu einer Vorbildkrise, die die Kinder zu einer Ablehnung beider elterlicher Gestalten bringt. Es werden automatisch andere Vorbilder gesucht. Es wird versucht das Leben selbst in den Griff bekommen, indem die Akteur*innen außerhalb der Familie und sich von der Familie entfernend eine 6
Der Autor dieser vorliegenden Forschungsarbeit distanziert sich von Gérard Mendels Ausdrucksweise.
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
leitende Figur finden. Hierbei geraten viele Jugendliche – auch Mädchen bzw. junge Frauen – in Gruppen oder Cliquen, die einer tribalen bzw. Stammes-Konstellation ähneln. Nach Raffaele Iannuzzi (2007) sind Stämme das konstante und unzerstörbare Zeichen der Jugendwelt, die vaterlos aufwächst. In Italien ist dies z. Z. ein Thema von Untersuchungen, die noch veröffentlicht werden müssen, während in den USA darüber seit längerer Zeit geschrieben wird (vgl. hierzu Zollicoffer 2011; Lamb 2010; Ancona 1998; Adams 1984). „Die Cliquen- oder Bandenmitglieder sind sozialisatorisch auf die Clique angewiesen, weil ihnen ihre Familien keine fördernden Umwelten schaffen konnten. Die Jugendlichen der meisten Cliquen der amerikanischen Szene stammen aus sozial benachteiligten und belasteten Familien mit psychotischem Einschlag (Bindungslosigkeit), aber rigide eingehaltener sozialer Unauffälligkeit“ (Böhnisch 2014: 31).
Das Phänomen der Stammeskultur ist in Italien jedoch unter Jugendlichen aus armen wie auch aus reichen Stadtteilen vorzufinden. In denjenigen Stadtteilen, in denen Straßengangs und Mafiaclans sehr verbreitet sind, dominieren gewisse Rituale, die die Stammeskultur charakterisieren und stärken. Rituale, bestimmte Orte und Symbole geben diesen ‚Stämmen’ etwas, um sich behaupten und festigen zu können. In dieser vorliegenden Studie bspw. ist die Präsenz von männlichen Gruppen besonders auffällig gewesen. In den reicheren Stadtteilen sind oftmals auch Marketingprodukte ein Symbol der Identifizierung und Festigung, die gewisse Jugendgruppen zusammenschweißen. „They might have more trappings of status – good education, nice houses and cars, good jobs, new clothes. They may have family, friends and colleagues who esteem them, or qualifications they are proud of, [...]“ (Wilkinson/Pickett 2009: 141). Somit ist folgender Aussage von Klaus Farin zu widersprechen: „Während die Bürgerkultur eine individualisierte, ichbezogene Kultur ist und Loyalität zu einer Gruppe nur bedingt kennt, ist die Straßenkultur eine Wir-Kultur – die Gruppe ist alles, das Individuum zählt wenig“ (Farin 2014: 43). Genauso sind in diesen Untersuchungen ichbezogene Hochstapler zu beobachten, die nicht durchgehend in einer Gruppe agieren, sondern auch als ‚Einzelgänger’ – und das in einem von Armut und Marginalisierung betroffenen Stadtteil. Bezogen auf diese Untersuchung kann trotz alledem gesagt werden, wie oben bereits erwähnt, dass sich in beiden Untersuchungsstadtteilen das Individuum in den Hintergrund rückt. „Räume sind immer noch vor allem von Jungen besetzt, durch ihre demonstrativen Aktionen markiert. [...] Jungen kontrollieren Räume, ihr Verhalten ist Territorialverhalten. Männliche Dominanz drückt sich vor allem in verschiedenen Formen räumlicher Dominanz aus. Männliches Raumverhalten ist Kontrolle, Ausgrenzung, Zurückdrängung anderer Jungen, die nicht der Clique angehören, und vor allem auch räumliche Zurücksetzung von Mädchen“ (Böhnisch 2014: 12).
2.4 Junge Männer und Jugendkulturen
27
Mädchen und (junge) Frauen sind zwar auch im Straßenbild präsent, aber entweder immer in der Nähe einer Männer-/Jungenclique oder begleitet von älteren männlichen Personen. In Ausnahmefällen führen sie für ihre inhaftierten Männer illegale Geschäfte wie Drogenverkauf oder die Kontrolle des Territoriums aus (vgl. Saviano 2009). Das Ausschauhalten nach gegnerischen Banden oder den Ordnungshütern ist in Italien durchaus eine Aufgabe, die auch Frauen erteilt wird, wodurch sie eine Präsenz im Stadtteil darstellen. Trotzdem befinden sich die hier untersuchten Peergruppen in einem absolut männlich geprägten Sozialraum. „In den Peers wird [also] nicht nur Jugend ausgelebt, sondern auch – damit verbunden – Geschlechtsidentität (weiter)entwickelt und inszeniert. Die hat bei Jungen eine weitreichendere Bedeutung als bei Mädchen“ (Böhnisch 2014: 7). Diese Cliquen von Jugendlichen werden in dieser Studie in ihrer Bedeutung als Orte informellen Lernens zum Gegenstand. Bezogen auf das Thema dieser Forschungsarbeit kann man also zusammenfassend sagen, dass der öffentliche Raum sowie die Peergroup als auch die männlichen Vergemeinschaftungen informelle Lernorte und somit jugendkulturelle Räume darstellen (vgl. Deinet 2013: 11). Die für die vorliegende Forschungsarbeit untersuchten jungen Männer verstehen sich erst einmal als Jugendliche oder Adoleszente, die sich geschlechter(un)typisch im Rahmen einer festen oder mehrerer loser Gruppierungen zusammentreffen, um Gemeinschaften zu bilden. Da in bisherigen Studien der „öffentliche Raum, als wichtiger Bildungsbereich für Kinder und Jugendliche, [...] kaum in den Blick [gerät], [...] aber Schauplatz der vom Subjekt ausgehenden Aneignungsprozesse [ist]“, muss er “deshalb stärker betrachtet werden“ (Deinet 2013: 11). Dies soll mit dieser vorliegenden Arbeit erreicht werden. Zudem wurde mit den eben erwähnten Hintergründen zur Männlichkeit bezogen auf Raum, Jugendkulturen und Cliquen ein Überblick zur sozialen Konstruktion und typische/erwartete/der Männlichkeit entsprechende Verhaltensweisen geschaffen. Was hier jedoch von noch größerer Bedeutung ist, ist der (männliche) Umgang mit Bildung und den zusammenhängenden Praktiken. In der heutigen modernen Gesellschaft wird überall Chancengleichheit suggeriert und propagiert. Durch Bildung und individuelle Leistungen soll das soziale Prestige erhöht und gut bezahlte sowie einflussreiche Jobs erreicht werden (vgl. Baur/Lüdtke 2008: 12; vgl. auch Esping-Andersen 1990; Schulte 2000; Klemm 2000; Bonß/Ludwig-Mayerhofer 2000). Dies stellt gerade für die jungen Männer dieser Forschungsarbeit eine extreme Herausforderung dar, die aber über Diskussionsrunden, die alle Untersuchungsteilnehmer verbindet, an Gewicht verliert (vgl. hierzu Kapitel 8).
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2.5
2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
Jugend(sub)kulturen sind mehr als nur deviante Cliquen oder Gangs
Nur sehr wenige Studien zu marginalisierten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen gehen fundiert auf die stattfindenden jugendlichen Diskussionen und sprachlichen Interaktionen ein, die eine sehr große Bedeutung in sozial benachteiligten Stadtteilen wie auch in jugendkulturellen Zusammenhängen haben.7 Sowohl im deutschen als auch im anglosächsischen Raum gibt es einige Studien zu jugendlichen Interaktionspraktiken. Diskussionen, Debatten und andere sprachliche Interaktionen sind in marginalisierten Stadtteilen eine Verarbeitungsmethode, die unter Peers besonders verbreitet ist und als Jugendkultur unbedingt stärker beachtet werden muss. Das von den Medien allzu präsente Bild des jugendlichen ‚Abhängens’ vor dem Block ist nur in den seltensten Fällen der Wahrheit entsprechend. Thrasher geht in seiner berühmten Studie zu den Chicagoer Gangs nur kurz auf die informellen Lernpraktiken der Gangmitglieder auch bzgl. Straßenbildung ein (vgl. Thrasher 2013 [1927]: 265f.). An dieser Stelle wäre es von Thrasher besonders sinnvoll gewesen etwas tiefer auf dieses Thema einzugehen, da er schließlich diese Thematik erkannt hat. Thrasher weist sogar darauf hin, dass zu viele Forscher*innen den Bildungsbegriff zu eng sehen würden (vgl. Thrasher 2013 [1927]: 265f.). Viel eindrücklicher und präziser geht dagegen William F. Whyte mit seiner Studie zur Street Corner Society (1943) auf die vielen verschiedenen informellen (Lern-)Praktiken der jungen italienischen Akteure im Bostoner Stadtteil Cornerville ein. Er untersucht sowohl die Interaktionen der corner boys an den sog. Corners (Straßenecken) (Whyte 1943: 3ff.) als auch die stärker bildungsorientierteren college boys (Whyte 1943: 52ff.) während der politischen Debatten und Diskussionsrunden im Stadtteil. Es werden informelle Gruppen sowie Clubs und kleine unabhängige Organisationen sowie Gangs und mafiöse Strukturen untersucht. Vielleicht bezieht sich Whyte zu einseitig auf das Racketeering und anderen negativen Praktiken, aber im Großen und Ganzen nimmt er viele Perspektiven trotzdem sehr differenziert und vielfältig unter die Lupe. Vor allem können die informellen Lernprozesse anhand der ethnografischen Beobachtungen von Whyte sehr gut nachvollzogen werden. Bspw. folgen nach politischen Diskussionen und anschließend durchgeführten Wahlen politische Proteste angesichts der Stadtteilzu7
Ausnahmen stellen bspw. Studien wie die über Jugendliche Video-Cliquen (Vogelgesang 1991), die Turkish Power Boys (Tertilt 1996) oder die italienischen Cliquen der Street Corner Society (Whyte 1943) sowie auch afro-amerikanische Gangmitglieder aus Gang Leader for a Day (Venkatesh 2008) oder Getting Paid: Youth Crime and Work in the Inner City (Mercer L. Sullivan 1989) dar. Darunter fallen zudem auch die Studien zum Kiezdeutsch (Androutsopolous 2013) und zu The Culture of Working-Class Girls (McRobbie 1991).
2.5 Jugend(sub)kulturen sind mehr als nur deviante Cliquen oder Gangs
29
stände. Dieser Ablauf zeigt den Weg von der Erlernung bestimmter Rhethoriktechniken bis hin zum Austausch von (politischem) Wissen über die vielen Diskussionen und Debatten in den Clubs oder an den Straßenecken. Auch die Soziologen des CCCS in Birmingham – darunter auch Paul Willis – haben in ihren Untersuchungen viele Aspekte der Subkulturen übersehen bzw. sind ihre Ergebnisse zu Subkulturen nicht auf andere (europäische) Länder übertragbar. Vom oben genannten Forschungszentrum wurden Mädchen und Subkulturen kaum bis gar nicht beachtet (vgl. aber McRobbie 2000). Der Fokus lag eindeutig auf jungen Männern. Auch der kulturelle Hintergrund war auf kaukasische Jugendliche beschränkt und geht kaum auf junge Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeiten ein. Zudem gingen die Forscher des CCCS davon aus, dass Subkulturen vor allem unter Jugendlichen der Arbeiterklasse verbreitet seien (vgl. hierzu Bennett et al. 2004: 7ff.). Gleichzeitig wurden die subkulturellen Orientierungen der untersuchten jungen Menschen als verfestigt angesehen und nicht als temporäre oder mobile, sich abwechselnde Subkulturphasen. „The problem is to reconcile adolescence and subculture. Most working-class teenagers pass through groups, change identities, play their leisure roles for fun; [...] For every youth ‚stylist’ committed to a cult as a full-time creative task, there are hundreds of working-class kids who grow up in a loose membership of several groups and run with a variety of gangs“ (Frith 1983: 219 – 220).
Durch diese Aussage wird auf eine ganz bestimmte Lebensart aufmerksam gemacht, die auf viele junge Menschen – u.a. auch auf die Akteure dieser Forschungsarbeit – zutrifft. Es zeigt eine bestimmte Mobilität und Flexibilität von Jugendlichen auf, die nicht unbedingt an feste Gangs oder Crews gebunden sein möchten. Vielmehr handelt es sich in vielen Fällen um informelle Gruppen, in denen einzelne Akteure sind, die wiederum Teil anderer Gruppen mit anderen Orientierungen und Interessen sind. Auch junge Menschen aus marginalisierten Stadtteilen können zwar in einer Gang sein, aber gleichzeitig auch anderen subkulturellen Richtungen nachgehen und sich mit anderen Menschen treffen und mit ihnen gemeinsam handeln. „Related to this is the problem that the subcultural theory developed by the CCCS is an essentially British concept, formulated with a view to studying a specific section of British youth – white, working-class males – at a particular point in post-Second World War British history” (Bennett 2004: 9).
Martha Muchow ist im deutschen Raum eine der ersten Forscher*innen, die sich diesem Thema intensiv widmet. Mit ihrer Studie zum Lebensraum des Großstadtkindes untersucht sie vorrangig Straßensozialisation, die vorerst nichts mit deviantem Verhalten zu tun hat, sondern mit der Erkundung der Stadt(teile) und
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
dessen sozialen, kulturellen und architektonischen/urbanen Strukturen (vgl. Muchow 1978). Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche, die selbständig und autonom außerhalb des schulischen Kontextes sich Räume aneignen und somit einen Lernprozess durchlaufen. Dies sind ganz eigene jugendkulturelle Praktiken, die mit dem untersuchten Hamburger Stadtteil Barmbek eng verknüpft sind. Hierbei wird jugendkulturelles Raumhandeln unter einer nicht devianten, aber trotzdem auch in einer damals noch subkulturellen Perspektive diskutiert (vgl. hierzu Kapitel 3.1.3). „academic analyses have frequently fallen disappointingly short in their highly selective dealings with youth based on a one-dimensional, often purely textual approach. Past limitations often stem from skewing studies towards more marginal youths sensationalising the deviant deeds oft he few while the essential conformity oft he silent majority, those who do not want to semiologically resist through rituals, is overlooked“ (Huq 2006: 22).
Ausgehend von diesem Forschungsstand soll diese Untersuchung genau aufzeigen, dass marginalisierte Jugendliche nicht unbedingt marginalisierten Handlungen nachgehen, sondern genauso von „essential conformity“ geprägt sind und genauso „silent“ sein können wie die von der britischen Soziologin Rupa Huq (2006: 22) erwähnte „majority“. Hier sollen unter Jugendkultur und/oder Kultur marginalisierter Jugendlicher nicht (nur) die üblichen ‚Geschichten’ über Gangs, antisoziales Verhalten, Devianz etc. verstanden werden. Vielmehr soll eine Jugendkultur des informellen Lernens aufgedeckt werden, die sicherlich viele, wenn nicht sogar alle marginalisierten Stadtteile auf dieser Welt betrifft.
2.6
Jugendkulturen oder Jugendsubkulturen?
Bei der Frage nach den Begriffen der Subkultur oder Jugendkultur handelt es sich hier um eine rein wissenschaftliche Diskussion. Es geht hierbei nicht um die Frage nach einer geeigneten Definition der Aktivitäten und Handlungen der in dieser Studie untersuchten Akteure. Angelehnt an die eben genannten verschiedenen Subkulturen und die Schwierigkeit diese genauer zu trennen und zu definieren, sollen im Folgenden einige Theorien vorgestellt werden, die für diese Studie besonders relevant sind. „1. der Ausdruck ‚Subkultur’ suggeriert, es handele sich um kulturelle Sphären, die unterhalb der akzeptierten elitären Kultur liegen – von teilweise zweifelhaftem Wert und jedenfalls einem irgendwie ‚unteren’ Bereich zugehörig. Diese Deutung ent-
2.6 Jugendkulturen oder Jugendsubkulturen?
31
spricht nicht den Tatsachen – wenn zwar sie häufig vertreten wird – und sollte vermieden werden. 2. ‚Subkultur’ provoziert aber nicht nur möglicherweise nicht wünschenswerte Assoziationen. Darüber hinaus legt der Begriff nahe, es handele sich um ‚Teilsegmente’ der Gesellschaft, die exakt auszudifferenzieren sind. Wir hatten gesehen, daß dies äußerst schwierig ist. Die Fülle von Übergängen zur ‚Gesamtkultur’ einerseits, der Anspruch an gleichgewichtige Legitimierung andererseits läßt es nicht geraten erscheinen, weiterhin von ‚Subkultur’ zu sprechen. 3. Die ‚Subkultur’-Theorien gehen jeweils davon aus, daß die einzelnen Subkulturen präzise lokalisierbar seien [...]. Das ist nur begrenzt haltbar, wie das Beispiel der Punks schnell zeigt: sie sind weder ‚links’ noch ‚rechts’ oder sie sind teils kommerziell, teils unabhängig, insgesamt keinem Raster einzufügen. [...] Es handelt sich um kulturelle Gruppierungen, die sich international ausbreiten und unter dem gleichen Erscheinungsbild ganz unterschiedliche Formen von Selbständigkeit und Abhängigkeit ausagieren. [...]“ 4. Obgleich es ‚Subkulturen’ gibt, die relativ selbständig sind und versuchen, alternative Netzwerke aufzubauen, gilt dies keineswegs generell. Gerade die Aussagen zur Postadoleszenz [...] macht deutlich, daß ein Element in Bells Definition von ‚Subkultur’ auf jeden Fall haltbar ist: die Betonung der Eigenständigkeit kultureller Systeme. [...] Der Ausdruck ‚Subkultur’ bliebe dann denen vorbehalten, die keinerlei Stoßrichtungen aus der vorhandenen Gesellschaft auszeichnet [...], sondern in ihr sich ansiedeln, meist verborgen, teilweise auch verboten, also wirklich im ursprünglichen Sinne ‚unter’gründig (Beispiele wären dann Subkulturen unter den Insassen der Gefängnisse oder auch der Mafia und Camorra in Italien)“ (Baacke 1999: 133f.).
Nun sind Subkulturen – wie eben von Baacke beschrieben – eher mit Mafiaorganisationen zu vergleichen als mit jugendkulturellen Praktiken. Somit ist der Begriff Jugendkultur genauer zu betrachten, denn diesem kommt bei den soeben aufgezählten Handlungen eine größere Bedeutung zu als den Subkulturen an sich. „Der Begriff ‚Jugendkultur’ besitzt bereits eine pädagogische Tradition (Wyneken, Bernfeld)8“ (Baacke 1999: 145). Dabei spielt das formelle Bildungssystem eine weitaus geringere Rolle. Schließlich wird von vielen der heutigen Jugendkulturen
8
Der Ausdruck ‚Jugendkultur(en)’ „stammt in der deutschen Sprache von Gustav Wyneken (1875 – 1964): ein bekannter deutscher Pädagoge, Mitarbeiter eines der maßgeblichen Begründer der deutschen Landschulheimbewegung, Hermann Lietz“ (Baacke 1999: 141). Der sozialistische Pädagoge Siegfried Bernfeld (1892 – 1953) wird dagegen mit dem Konzept der Schaffung ‚neuer sozialer Treffpunkte in Verbindung gebracht. Er hat versucht „[...] in seinen Schriften über Psychoanalyse, antiautoritäre Kindererziehung sowie sozialistische Heim- und Anstaltserziehung eine kritische Pädagogik sowohl zu begründen als auch zu praktizieren“ (Baacke 1999: 144).
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
eine Distanz zum bspw. von der Schule vermittelten Wissen genommen. „Vielmehr sind die heutigen Jugendkulturen freizeitbezogen, stellen [...] Absetzungsbewegungen auf der kulturellen Ebene [dar]“ (Baacke 1999: 145). Der bisher von Wyneken und Bernfeld überlieferte Begriff beinhaltet die neuen Dimensionen der ‚Kultur’ wie auch die Neu-Orientierungen nicht. „Gemeinsam ist Wynekens und Bernfelds Konzepten und der heutigen jugendkulturellen Praxis, [dass] sie – wie auch immer – emanzipative Momente enthalten: es sind heute diejenigen, die nicht in der gesellschaftlichen Akzeptanz und in den akzeptierten und etablierten kulturellen Überlieferungen aufgehen“ (Baacke 1999: 146).
Heutzutage wird aber vor allem von Jugendkulturen im Plural gesprochen, da es sich um eine Pluralisierung der Selbst-Konzepte und der Praktiken handelt (vgl. Baacke 1999: 147). Was natürlich auch eine große Rolle spielt, ist die bereits im Kontext der Subkulturen erwähnte Internationalisierung durch die Massenmedien und das Internet. Was für die hier vorliegende Untersuchung aber hauptsächlich wichtig ist, ist, dass die Jugendkulturen eine eigene Form der kulturellen Wissensaneignung und Gestaltung gegenüber der Bildungsinstitutionen bildet (vgl. hierzu Pfaff 2008: 34ff.). „Jugendkulturen sind außerschulisch, außerfamiliär und freizeitbezogen. Sie können sich als generalisierte Lernräume für alles anbieten; die Regel ist dies nicht. Jugendkulturell organisierte und/oder orientierte Jugendliche suchen in der Regel außerpädagogische Sozialräume. Sie gehen nicht in Häuser der offenen Tür, Jugendzentren, nehmen nicht an Ferien- und Freizeitveranstaltungen teil, die vom Jugendamt oder anderen pädagogischen Institutionen angeboten werden. Dies wäre eine für beide Seiten unzuträgliche Vermischung der Sphären“ (Baacke 1999: 276).
Das vielleicht wichtigste Element, was alle Akteure dieser Forschungsarbeit betrifft, ist die fast durchgehend bewusste Abgrenzung zum formellen Lernen. Die Straße und das soziale Umfeld bilden für alle Forschungsteilnehmenden den Fokus ihrer jugendkulturellen Praktiken. Die Schule ist dadurch in einigen Fällen erst zweitrangig. „Zwischen Jugendkulturen und den Bereichen institutionalisierten pädagogischen Handelns besteht [somit] ein [...] Ergänzungsverhältnis. Die Schule bspw. hat Defizite, die die Jugendkulturen quasi ausgleichen“ (Baacke 1999: 274). Am Beispiel der an dieser vorliegenden Untersuchung teilnehmenden jungen Männer zeigt sich eine erweiterte interessens- und überlebensbezogene Wissensaneignung, die durch formelle Bildungsinstitutionen nicht weitervermittelt werden kann. Bestimmte soziale Interaktionen und Erfahrungen können in einem Schulsetting aufgrund der Autoritäten, Kontroll- und Machtverhältnisse der Lehrenden bezogen auf die Schüler*innen nicht erlebt bzw. gemacht werden. Innerhalb jugendkultureller Kontexte können sich Jugendliche weiterentwickeln, ihr Erwachsensein testen, (er)leben und fühlen sowie individuelle Lösungen für sich
2.7 Communities of Practice
33
herausholen. Dennoch bleiben Jugendkulturen vorrübergehende „Phänomene“. „In und an den Jugendkulturen wird das Prinzip pluralisierter Variation, auf Verschleiß angelegt, evident. So sind Jugendkulturen eine zentrale Sozialisationsinstanz, aber keine, die -Kontinuität der Entwicklung garantiert – im Gegenteil“ (Baacke 1999: 275). Somit haben Jugendkulturen allein durch Baackes Aussage einen evidenten Bezug zu informellem Lernen. Aufgrund dessen soll in dieser Forschungsarbeit von einer Jugendkultur gesprochen werden, die das Handeln der Peergruppen definiert. Es wird deshalb ein Jugendkulturkonzept benötigt, das offen besondere jugendkulturelle Gemeinschaften bezeichnen, die entsprechende Lernkonzepte einschließt und im Folgenden vorgestellt werden soll.
2.7
Communities of Practice
Im Kontext dieser hier vorliegenden Forschungsarbeit könnte man bei der Community of Practice9 von einer jugendkulturellen Praxisgemeinschaft bezogen auf die soziale Lage der Akteure sprechen. Für die hier vorliegende Untersuchung ist die CoP von besonderem Interesse, da diese als Gemeinschaftsform bei den untersuchten Akteuren beobachtet wurde. Die Jugendlichen bilden zusammen mit ihrer Peergruppe sowie weiteren externen Freunden und Gemeinschaften eine CoP in der informell gelernt wird. Diese ist innerhalb des Milieus der jeweiligen Stadtteile angesiedelt und bildet einen eigenen sozialen Raum mit ihrem eigenen Habitus beeinflusst von verschiedenen sozialen Feldern. Bei der CoP handelt es sich um keine Institution und auch um keine angeleiteten Lernprogramme. Es geht hierbei um situiertes Lernen, das durch interdisziplinär verbundene Kompetenzen und Fähigkeiten, Wissensquellen und Erfahrungen sowie unterschiedliche Perspektiven und Lernformen geprägt ist. „Communities gehen nicht von einem individuellen, sondern von einem sozialen Lernbegriff aus. Lernen wird auf diese Weise als eine Handlungspraxis des Alltags betrachtet, die in erster Linie vom Erfahrungsaustausch und von den persönlichen Beziehungen zwischen den am Lernprozess Beteiligten lebt“ (Fahrenwald 2011: 195).
Eine „Praxisgemeinschaft“ ist somit ein informelles Lernkonzept und stammt ursprünglich aus der Ausbildungs- und Arbeitsforschung. Die Ethnografin Jean Lave und der Sozialforscher Etienne Wenger haben zusammen Untersuchungen zum situierten Lernen durchgeführt wonach Lernprozesse in Form von Enkulturation durch „legitime periphere Partizipation“ (Lave/Wenger 1991) stattfinden. Darauf basierend hat Etienne Wenger den Begriff ‚Community of Practice’ mit 9
Hier auch als CoP abgekürzt.
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
seiner Untersuchung zu Praxisgemeinschaften im Bereich der Berufsausbildung geprägt (vgl. Wenger 1998). Seiner Theorie nach schaffen sich Lernende „durch ausgewählte Verbindungen mit anderen Akteur*innen – die sie nicht persönlich kennen müssen – ihre persönlichen Wissens- und Lernnetzwerke“ (Jütte 2017: 569). Hierbei werden Lernprozesse deutlich, die über die Untersuchungen von Elizabeth Bennett (vgl. Kapitel 3.2.2) bezüglich des integrativen Lernens gut nachvollzogen werden können: „Das Knüpfen persönlicher Netzwerke hilft nicht nur bei der individuellen Problembewältigung, sondern dient auch der Kompensation institutioneller Defizite“ (Jütte 2017: 569). Durch Diskussionen und Interaktionen aller Art wird Wissen an die verschiedenen Teilnehmenden bzw. Mitglieder einer Community of Practice weitergegeben, sodass diese dann unbewusst bei bestimmten Problemen plötzlich wieder in Erscheinung treten und zu einer Lösung führen. „Sharing tacit knowledge requires interaction and informal learning processes such as storytelling, conversation, coaching, and apprenticeship of the kind that communities of practice provide“ (Wenger 2002: 9). Um nachhaltig Teil einer Community of Practice zu sein und sich in dieser zu engagieren und akzeptiert zu fühlen, bedarf es bestimmter Charakteristika, die die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft „zusammenhalten“. „Empirische Studien zeigen, dass in Unternehmen informelle Gruppen neben den formalen Strukturen existieren. Selbststeuerung und hierarchische Steuerung stehen in einem schwierigen Verhältnis zueinander ohne klar abgesteckte Grenzen und mit oft widersprüchlichen Anforderungen an die Organisationsangehörigen. [...] [Bei den Communities of Practice handelt es sich meist] um eine relativ homogene Gruppe, deren Mitglieder aus demselben Berufszweig und einer ähnlichen hierarchischen Position stammen und in einer gemeinsamen Handlungspraxis ihr Interesse oder Ziel verfolgen“ (Magg-Schwarzbäcker 2014: 88).
Somit wird eine CoP mit drei zentralen Merkmalen verbunden, die sich auch nicht ändern, wenn sie sich in einem ganz anderen Kontext befinden (vgl. hierzu Wenger et al.: 27 – 29). Die Basis bilden das Wissensgebiet („domain of knowledge“), die Gemeinschaft („community of people“) und die gemeinsame Praxis („shared practice“): 1. Das Wissensgebiet: Hierbei handelt es sich um einen gemeinsamen Bereich, der bestimmte Probleme, Fragen und Themen definiert. Durch diese Domain wird eine gemeinsame Identität aufgebaut, die die Mitglieder einer CoP dazu motiviert sich zu engagieren, teilzunehmen und beizutragen. Dadurch wird auch ihren Handlungen ein Sinn gegeben und halbgereifte Ideen werden durch andere Mitglieder eventuell weiter ausgefeilt. Somit regt das Wissensgebiet mit seinen Anforderungen zum Lernen an.
2.7 Communities of Practice
35
2. Die Gemeinschaft: Bei der Community handelt es sich um eine Gemeinschaft von Menschen, die sich für das Wissensgebiet interessieren. Sie kreiert eine „soziale Fabrik des Lernens“ und definiert sich vor allem über Interaktionen und Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen basieren. „Community is an important element because learning is a matter of belonging as well as an intellectual process, involving the heart as well as the head” (Wenger et al.: 28f.). 3. Die gemeinsame Praxis: Um in ihrem Wissensgebiet oder gemeinsamen Interessensbereich erfolgreiche Lösungen und Entwicklungen zu erreichen, muss die Gemeinschaft eine gemeinsame Praxis haben. „The practice is a set of frameworks, ideas, tools, information, styles, language, stories, and documents that community members share” (Wenger et al.: 29). Sobald der gemeinsame Interessensbereich ein Thema markiert worauf sich die Gemeinschaft fokussiert, ist die Praxis das spezifische Wissen, das die Community entwickelt, teilt und pflegt. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Praxis das Wissen der Akteur*innen hervorbringt und die Akteur*innen voneinander erwarten, dass dieses Wissen dann auch erlernt bzw. beherrscht wird. Etienne Wenger et al. (2002) fassen die CoP folgendermaßen zusammen: “Communities of practice are groups of people who share a concern, a set of problems, or a passion about a topic, and who deepen their knowledge and expertise in this area by interacting on an ongoing basis. Engineers who design a certain kind of electronic circuit called phase-lock loops find it useful to compare designs regularly and to discuss the intricacies of their esoteric specialty. Soccer moms and dads take advantage of game times to share tips and insights about the subtle art of parenting. Artists congregate in cafés and studios to debate the merits of a new style or technique. Gang members learn to survive on the street and deal with an unfriendly world. Frontline managers running manufacturing operations get a chance to commiserate, to learn about upcoming technologies, and to foresee shifts in the winds of power” (Wenger 2002: 4).
Dabei müssen die Teilnehmenden oder Mitglieder einer Community of Practice nicht unbedingt ständig miteinander arbeiten, aber sie treffen sich, weil sie die Interaktion zusammenbringt und Interaktion ist eines der wichtigsten Bestandteile des Alltagslebens der hier untersuchten jungen Männer. In Communities of Practice werden Ideen und Kreativität, Werkzeuge (in physischer wie auch psychischer Hinsicht) und Dokumente, Informationen und Ratschläge ausgetauscht, die zur Lösung alltäglicher wie auch nachhaltiger Probleme genutzt werden. Dabei spielt die reziproke Zusammenarbeit und die geteilten Erfahrungen eine fundamentale Rolle.
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
“In communities of practice, the definition of competence and the production of experience are in very close interaction. Mutual engagement in a shared practice can thus be an intricate process of constant fine tuning between experience and competence. Because this process goes both ways, communities of practice are not only a context for the learning of newcomers but also, and for the same reason, a context for new insights to be transformed into knowledge” (Wenger 1998: 214).
Die gemeinsame Praxis ist die Basis einer jeden Community of Practice. Für Neulinge stellt eine CoP die ideale Plattform dar, um sowohl eigene Erfahrungen und eigenes Wissen mit einzubringen als auch schnell Kompetenzen von den anderen Mitgliedern zu erlernen. Nehmen wir zum Beispiel einen Hochstapler, der in gewisse Bereiche der High Society eindringen möchte, um dort seine Geschäfte abzuwickeln. Dann braucht er Informationen, die er nur über eine CoP unauffällig erlangen kann. „A history of mutual engagement around a joint enterprise is an ideal context for this kind of leading-edge learning, which requires a strong bond of communal competence along with a deep respect for the particularity of experience” (Wenger 1998: 214). Diese Merkmale führen zu einer starken Praxisgemeinschaft, die dann erfolgreich dazu hinführt neues Wissen zu erlangen. Dies bedeutet jedoch nicht – wie oben bereits erwähnt –, dass sich nicht gestritten wird oder sich in vielen Punkten nicht einig ist,. Eine Community of Practice besteht gerade aus all diesen Interaktionen, die nicht friedlich und einvernehmend sein müssen. Gerade auch dadurch lernen die Mitglieder viele wichtige Aspekte bezüglich Interaktionsformen und sozialen Auseinandersetzungen. Die Identität der Partizipation der Mitglieder einer Praxisgemeinschaft wird laut Wenger durch folgende fundamentale Punkte erlangt: “1) by incorporating its members’ pasts into its history – that is, by letting what they have done, and what they know contribute to the constitution of its practice 2) by opening trajectories of participation that place engagements in its practice in the context of a valued future” (Wenger 1998: 215).
Communities of Practice stellen für ihre Mitglieder eine perfekte Plattform der Teilnahme am Lernen und Erfahren sowie auch Lehren und Gestalten (eachone-teach-one). Durch die Einbindung ihrer eigenen Biographie sowie ihres Sozialraums und physischen Stadtteils wird das Lernen und Lehren situiert, also auf deren Umfeld angepasst. Dies erleichtert das Lernen, da konkrete Zusammenhänge hergestellt werden. Somit finden sich CoP überall und in jedem sozialen und kulturellen Milieu. “Communities of practice are everywhere. We all belong to a number of them—at work, at school, at home, in our hobbies. Some have a name, some don’t. Some we recognize, some remain largely invisible. We are core members of some and occasional participants in others. Whatever form our participation takes, most of us are
2.7 Communities of Practice
37
familiar with the experience of belonging to a community of practice” (Wenger 1998: 5).
Bisher wurden Communities of Practice ausschließlich nur in Verbindung mit Ausbildungs-, Arbeits- und Business-/Managementkontexten gebracht (vgl. Wenger et al. 2002: 3f). Sowohl Wenger als auch Lave unterstreichen aber trotz ihrer Studien über situiertes Lernen in der Ausbildung, dass Praxisgemeinschaften in allen Bereichen vorzufinden sind und somit auch in Kontexten wie dem der Akteure dieser Untersuchung. Selbst und gerade in der Mafia und anderen kriminellen Milieus wird innerhalb von CoP situiert gelernt. So lernen die hier untersuchten jungen Männer auch Verhaltensweisen und Handlungen, die nicht unbedingt für das physiche sowie psychische Wohlbefinden ‚gesund’, aber für das Überleben im Stadtteil und die Bewältigung ihrer sozialen Lage sehr nötig sind. Für diese hier vorliegende Untersuchung sind folgende Charakteristika – neben den bereits oben verdeutlichten drei zentralen Merkmalen – von besonderem Interesse (vgl. hierzu auch Wenger 1998: 125f.): eine Community of Practice in einem marginalisierten Stadtteil muss gemeinsame historische Wurzeln, gemeinsame Vorhaben und Ziele verfolgen. Die sozialen Umstände der Mitglieder müssen sich ähneln und die Teilnehmenden zusammenkommen. Fundamental ist die geographische Nähe der jeweiligen Mitglieder zueinander oder zumindest müssen die Interaktionen nah beieinander stattfinden. Werkzeuge, Ideen und Repräsentationen sollten miteinander ausgetauscht werden. Wenn bestimmte Probleme auftauchen, werden diese gemeinsam geklärt bzw. gelöst. Das setzt ein schnelles Zusammenfinden voraus. Eine Community of Practice definiert sich über Konversationen und Interaktionen, die eine Kontinuität bzw. Fortsetzung eines fortlaufenden Prozesses aufweisen. Das führt auch dazu, dass die einzelnen Mitglieder voneinander wissen, was der Einzelne weiß und was getan werden kann, um eine Lösung des Problems zu erreichen. Hierbei handelt es sich um geteiltes Erfahrungswissen, das gleichzeitig Handeln in Routinen hervorbringt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Saar 2008: 290 und Magg-Schwarzbäcker 2014: 90). Eine Community of Practice ist somit ein konjunktiver Erfahrungsraum. Zusätzlich finden sich in den Interaktionen miteinander folgende Gemeinsamkeiten: „[…] local lore, shared stories, inside jokes, knowing laughter [,] jargon and shortcuts to communication as well as the ease of producing new ones” (Wenger 1998: 125). Zudem haben die Mitglieder zu bestimmten Diskursen einen gemeinsamen Blick auf die Welt. Das bedeutet aber nicht, dass alle Teilnehmenden einer CoP ständig miteinander intensiv interagieren. Wenn die Interaktionen jedoch immer weniger werden, dann handelt es sich nicht mehr um eine Community of Practice, sondern eher um individuelle, personalisierte Netzwerke. Auch die Handlungen und Aktionen müssen nicht unbedingt von jedem geteilt oder gefördert werden. „It is not neces-
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2 Junge Männer und Formen der Vergemeinschaftung
sary that a repertoire be completely locally produced. In fact, the bulk of the repertoire of most communities of practice is imported, adopted, and adapted for their purpose – if only the language(s) they speak” (Wenger 1998: 126). Generell ist sich eine Community of Practice als eine Gemeinschaft mit Strukturen vorzustellen, die nicht über Zuweisungen und Festlegungen definiert werden, sondern über die Handlungen, Kompetenzen und Tätigkeiten, die akzeptiert oder abgelehnt werden können. Durch diese Praxis werden auch Expert*innen, Moderator*innen wie auch aktive und weniger aktive Mitglieder oder Teilnehmende herausgebildet. Die Funktionen und Aufgaben werden innerhalb der Gemeinschaft situativ ausgehandelt. Es können sich sowohl Subgruppen herauskristallisieren wie auch externe Teilnehmende in die CoP eingebunden werden. Werden Communities of Practice im Bereich des Managements, der Wissenschaft oder anderen Arbeitsbereichen betrachtet, dann sind teilweise schon mehr Strukturen und präzisere Aufgabenbereiche erkennbar. Mittlerweile sind sogar bestimmte Handbücher herausgebracht worden (vgl. Wenger et al. 2002), die extra für berufliche Zwecke verfasst worden sind und bewusst Communities of Practice bilden möchten. In dieser vorliegenden Forschungsarbeit ist den Akteuren nicht unbedingt bewusst, dass sie einer Community of Practice angehören bzw. sie selbst eine Praxisgemeinschaft sind. “So characterized, the notion of practice refers to a level of social structure that reflects shared learning. Note that this is a level both of analysis and experience. Since communities of practice can form without being named or otherwise reified, most people do not think about their lives and their identities in these terms. In this sense, communities of practice are an analytical category, but nor merely an esoteric analytical category that refers to abstract kinds of social aggregates. By referring to structures that are within the scope of our engagement, this category captures a familiar aspect of our experience of the world and so is not merely analytical“ (Wenger 1998: 126).
Zusammenfassend soll hier noch einmal präzisiert werden, dass eine Community of Practice aus Akteur*innen aus verschiedenen sozialen Milieus mit unterschiedlichem Habitus und von unterschiedlichen sozialen Feldern bestehen kann. Gleichzeitig kann eine Community of Practice auch ein Milieu im Milieu sein, das zwar kollektive Erfahrungen, Einflüsse und Erlebnisse teilt, aber durch das gemeinschaftliche Lernumfeld ein neues Untermilieu mit besonderen Zielen und Praktiken schafft. In diesem Sinne sollen die untersuchten Gruppen in dieser Studie nicht als Subkulturen verstanden werden, sondern als jugendkulturelle Communities of Practice, die gemeinsam ein Milieu hervorbringen. Grundlage dieser Entwicklung des Milieus ist in allen CoP das soziale Kapital. Ohne soziale Beziehungen wäre eine CoP nicht möglich und somit stellt das soziale Kapital die Basis aller Praxisgemeinschaften. Unter anderem wird im Folgenden vor diesem
2.7 Communities of Practice
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Hintergrund betrachtet, wie dieses soziale Kapital als Grundlage des Aufbaus von Wissen und Entwicklungen von Praktiken entsteht.
3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung: Informelles Lernen und Sozialisation Um der Frage nachgehen zu können, inwiefern Jugendkulturen und somit auch Communities of Practice Orte der Sozialisation und des informellen Lernens sind, soll in diesem Kapitel erst einmal geklärt werden, was unter Sozialisation und unter informellem Lernen zu verstehen ist. Zur Sozialisation werden zunächst Pierre Bourdieus sozialisationstheoretische Überlegungen vorgestellt, die analog zur Jugendkulturtheorie das Handeln des Menschen in einem Milieu oder in Gemeinschaften in ihrer sozialstrukturellen Lage betrachten. „Wie Marx geht [nämlich] auch Bourdieu davon aus, dass es von Bedeutung ist, wer in einer Gesellschaft die Macht hat, wenn es um die Betrachtung von sozialen Rollen, gesellschaftlichen Normen und deren Aneignung geht“ (Walkling 2018). Dann stellt sich die Frage, wie im Rahmen des informellen Lernens in Gemeinschaften generell und speiziell in CoP dabei Wissen generiert wird.
3.1
Informelles Lernen
Der Begriff „informelle Bildung“ wird durch John Dewey schon 1916 in den USA geprägt und hat somit „seine Herkunft [...] in der US-amerikanischen Bildungsdebatte“ (von Gross 2016: 50). In seiner Veröffentlichung Democracy and Education und sah er „informal education“ als Grundstein der formalen Bildung (vgl. von Gross 2016: 50). Die besondere Schwierigkeit in der Philosophie des Lernens sah Dewey vor allem im adäquaten Gleichgewicht zwischen „informal education“ und „formal education“ (vgl. Dewey 1916: 10). Günther Dohmen schreibt in seinem Untersuchungsbericht zum informellen Lernen für das Bundesministerium für Bildung und Forschung der BRD (2001: 7), dass ca. 70 % des Lernens informell stattfindet. Er zitiert dabei eine Schätzung von Edgar Fraure, der 1972 für die UNESCO im Rahmen einer Kommission diese Untersuchung vorstellt und weltweit für Aufsehen sorgt. Fraure fordert, dass informellem Lernen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und dieses an die anderen Lernformen anschließen sollte (vgl. Fraure 1972). 1996 wird im Rahmen der © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_3
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
Delors-Kommission (vgl. Delors 1996) das Thema erneut untersucht. „Bis Mitte der neunziger Jahre beschränkt sich die Verwendung des Begriffes [informelles Lernen] in erster Linie auf englischsprachige Länder, wie die USA, Kanada, England und Australien. Diese werden in Deutschland zwar im Rahmen entwicklungspolitisch inspirierter Diskurse über Bildung im Nord-Süd-Verhältnis aufgegriffen, was aber nicht zu einer breiteren Wahrnehmung führte“ (Overwien 2007a: 1).
Dohmen erläutert in seiner Untersuchung nicht nur, was mit informellem Lernen gemeint ist, sondern auch, wie verschiedene Formen informellen Lernens differenziert werden können. Dohmen wie auch viele andere Akteur*innen der aktuellen Bildungsdiskussion unterscheiden zwischen informellem, non-formalem und formalem Lernen, die unterschiedliche Bildungsorte und Formen von Bildungsprozessen einrahmen und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit erkennbar machen (vgl. insbesondere Dohmen 2001; BMFSFJ 2002: 153ff.; BMFSFJ 2005; Otto/Rauschenbach 2004; Rauschenbach/Düx/Sass 2006; Tully 2006; Harring/Rohlfs/Palentien 2007). Zur besseren Veranschaulichung sollen die Definitionen zum formalen, nonformalen und informellen Lernen der Europäischen Kommission (2001) aufgeführt werden: Formales Lernen: „Lernen, das üblicherweise in einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung stattfindet, (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) strukturiert ist und zur Zertifizierung führt. Formales Lernen ist aus der Sicht des Lernenden zielgerichtet“ (ebd.: 33).
Nicht-formales Lernen: „Lernen, das nicht in Bildungs- oder Berufsbildungseinrichtungen stattfindet und üblicherweise nicht zur Zertifizierung führt. Gleichwohl ist es systematisch (in Bezug auf Lernziele, Lerndauer und Lernmittel): Aus Sicht der Lernenden ist es zielgerichtet“ (ebd.: 35).
Informelles Lernen: „Lernen, das im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit stattfindet. Es ist (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nichtintentional (oder ‚inzidentell’/beiläufig)“ (ebd.: 33).
Formales Lernen ist demnach ein „planmäßig organisiertes, gesellschaftlich anerkanntes Lernen im Rahmen eines von der übrigen Umwelt abgegrenzten öffentlichen Bildungssystems“ (Dohmen 2011: 18). Schulen, Ausbildungsstätten
3.1 Informelles Lernen
43
und Universitäten sind Orte und Einrichtungen der formalen Bildung. Gerade Schulen, für die in der BRD eine Besuchspflicht für Kinder und Jugendliche besteht, sind Institutionen, die aufgrund strikter Regeln und Selektionsmacht stark formalisiert sind (vgl. BMFSFJ 2005: 128). Diesbezüglich hat sich auch der brasilianische Pädagoge Paulo Freire (1970) mit dem „Banking“-Konzept geäußert (vgl. auch ausführlicher Kapitel 8.6.3): Bildung wird nach seinen Untersuchungen zu einer Füllhandlung. Die Schüler*innen sind die Behälter und die Lehrer die ‚Füllinstanzen’. Statt zu kommunizieren, zahlen die Lehrer wie in einer Bank ein und die Schüler*innen nehmen das Geld entgegen. Sie müssen auswendig lernen und wiederholen, was ihnen die ‚Füllinstanzen’ an ‚Material’ geben (vgl. Freire 2006: 107). Dies ist das sog. „Banking"-Bildungskonzept, bei dem sich der Handlungsspielraum der Schüler*innen nur auf das Empfangen, Ausfüllen und Aufbewahren der Einlagen erstreckt. Sie haben die Möglichkeit die aufbewahrten Dinge zu sammeln und zu katalogisieren (vgl. ebd.: 107). „But in the last analysis, it is the people themselves who are filed away through the lack of creativity, transformation, and knowledge in this (at best) misguided system. For apart from inquiry, apart from the praxis, individuals cannot be truly human” (ebd.: 107). Wissen entsteht – nach Freire – somit nur durch Erfindungen und Neuerfindungen. Dies funktioniert durch die rastlosen, ungeduldigen sowie beständigen und hoffnungsvollen Nachforschungen, die in und mit der Welt von den Lernenden untereinander durchgeführt werden sollen (vgl. ebd.: 107). Freire beschreibt, dass im Rahmen des „Banking“-Konzepts Wissen als ein Geschenk der Sachkundigen an diejenigen, die leere Container sind – also nichts wissen – ‚überreicht’ wird. Demnach ist diese Herangehensweise eine Ideologie der Unterdrückung der anscheinend ‚Unwissenden’. Bildung und Wissen werden demnach als Nachforschung, Erforschung oder Erfahrung negiert (ebd.: 107). “The teacher presents himself to his students as their necessary opposite; by considering their ignorance absolute, he justifies his own existence. The students, alienated like the slave in the Hegelian dialectic, accept their ignorance as justifying the teacher’s existence – but, unlike the slave, they never discover that they educate the teacher” (ebd.: 107).
Non-formales Lernen beschreibt Dohmen dagegen als „außerhalb des formalisierten Bildungswesen[s]“ (Dohmen 2011: 18) stattfindende Lernprozesse. Es handelt sich dabei um eine andere Form der Lerngelegenheiten. „Zwar sind auch non-formale Bildungsorte durch eine klare institutionelle Strukturiertheit und Rechtslage gekennzeichnet, doch basieren diese aufgrund einer offenen Angebotslage auf einer freiwilligen Nutzung und Inanspruchnahme“ (Harring 2010: 23). Die Europäische Kommission (2001) beschreibt ergänzend, dass das non-formale oder nicht-formale Lernen „systematisch (in Bezug auf Lernziele, Lerndauer und
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
Lernmittel) [erfolgt und] aus Sicht des Lernenden [...] zielgerichtet [ist]“ (Europäische Kommission 2001: 35). So sind bspw. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Jugendberufshilfe und Jugendzentren Orte der non-formalen Bildung bzw. des nicht-formellen Lernens. Informelles Lernen wird hingegen als sowohl intentionales bzw. bewusstes als auch unbewusstes Lernen innerhalb wie auch außerhalb von institutionalisierter Bildungseinrichtungen verstanden. Das intentionale bzw. bewusste informelle Lernen wäre bspw. im „[...] Rahmen des Arbeitsprozesses wie auch im außerberuflichen Umfeld des Lernenden“ (Bojanowski 2012: 15) anzusiedeln. Das unbewusste informelle Lernen dagegen passiert unreflektiert (vgl. Bojanowski 2012: 16), „[...] persönliche Potentiale und Ressourcen [werden] mehr und mehr in Eigenregie und das heißt auch abseits des schulisch organisierten Lernens entwickel[t]“ (Wahler et al. 2008: 23). Mit Bezug auf das Thema dieser vorliegenden Untersuchung beschreibt Dehnbostel (2001: 23), dass Probleme, Aufgaben und Handlungen, die z. B. Jugendliche in segregierten Stadtteilen alltäglich sammeln, authentisch und der Startpunkt des Lernens sind. Einige Untersuchungen unterstreichen die Wichtigkeit eines Überdenkens des momentanen Bildungssystems in Deutschland. Dies wird bspw. in einer Expertise zum Nationalen Bildungsbericht (vgl. Rauschenbach 2004), in denen non-formale (Kinder- und Jugendhilfe) und informelle Aktivitäten (Familie, Peers und Medien) vor und neben der Schule laufen sollten getan. Dabei geht es darum, die formale Bildung nicht auszugrenzen, sondern als Bestandteil des lebensweltorientierten Lernens zu sehen (vgl. Rauschenbach 2004: 14). Dohmen (2011) schlägt vor, dass der „Begriff des non-formalen Lernens zugunsten des informellen Lernens“ (von Gross 2016: 48) aufgegeben und vielmehr „alles Selbstlernen, das sich in unmittelbare[n] Lebens- und Erfahrungszusammenhängen außerhalb des formalen Bildungswesens entwickelt“ (Dohmen 2001: 25) auf das informelle Lernen bezogen werden sollte. Zu den informellen Lernorten gehören bspw. die Familie, die Peergruppe und die Medienwelten. Hierbei handelt sich um freikontextuelle Orte (vgl. Harring 2010: 23; Täubig 2018: 5). Rauschenbach bezeichnet diese Orte als Vorrausetzung informellen Lernens (Rauschenbach/Düx/Sass 2007: 7). Die darin agierenden Menschen setzen formelle und non-formale Bildungsprozesse fort. Dem stehen Sichtweisen gegenüber, die betonen, dass sich informelle Lernprozesse überall finden lassen, auch in formellen Institutionen, Einrichtungen und Bereichen (Kirchhoff und Kreimeyer 2003: 216). „Erstaunlicherweise aber wird auch in der Fachdebatte immer noch von einer Konkurrenz des formellen und informellen Lernens gesprochen, anstatt zumindest die Verwobenheit zu erkennen, die beide Lernformen untrennbar miteinander verbindet. Aus einer sozialisationstheoretischen Sicht müsste sich das Panorama sogar noch ein-
3.1 Informelles Lernen
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mal anders darstellen: Informelles Lernen dürfte hier nicht als eine sich herankämpfende Alternative zum formellen Lernen verstanden werden, sondern in der Debatte die höhere Priorität erhalten“ (Bauer 2016: 1).
Formen informellen Lernens Beim informellen Lernen handelt sich also einerseits um selbstgesteuertes und andererseits um beiläufig stattfindendes oder erfahrungsbasiertes Lernen. Schugurensky (2000) teilt das informelle Lernen in drei Formen auf: selbstgesteuertes Lernen, inzidentelles Lernen und Sozialisation bzw. schweigendes Wissen / „tacit learning“ (vgl. hierzu Merriam et al. 2007). Diese drei Formen unterscheiden sich bezogen auf Intentionalität und Wahrnehmung. Selbstgesteuertes Lernen bspw. wird als intentional und bewusst beschrieben. Prozesse des inzidentellen Lernens erzeugen nach Marsick und Watkins (1990) beiläufige, durch Erfahrung angeeignete Kompetenzen, die die Akteur*innen nicht intendieren und erst im Nachhinein als erlernt realisieren. Anschließend sind Ergebnisse von Sozialisation Formen so genannten unterbewussten, schweigenden Wissens, die weder intendiert noch bewusst wahrgenommen werden können, jedoch im Nachhinein sich durchaus durch „retrospective recognition“ bewusst gemacht werden könnte (Marsick und Watkins 1990: 6). Die amerikanische Bildungswissenschaftlerin Elisabeth Bennett (2012) hat Schugurenkskys Konzepte zum informellen Lernen um eine weitere Form erweitert: das integrative Lernen, das unbewusst, aber intentional durchgeführt wird. Sie beschreibt diese Form als einen „learning process that combines intentional nonconscious processing of tacit knowledge with conscious access to learning products and mental images" (Bennett 2012: 28). Darunter sieht sie zwei Subprozesse: Wissensverlagerung und Wissenssublimierung. Dies bedeutet, dass die Lernenden nur beschränkten Zugang zu ihrem eigenen schweigenden Wissen haben. Bei der Wissensverlagerung findet folgender Prozess statt: das schweigende Wissen ‚klettert’ durch reflexive Prozesse die Leiter des Bewusstseins hoch, bis sich der Bewusstseinszustand verändert (vgl. Bennett 2012: 29). Es werden somit einige Elemente des ‚tacit knowledge’ nach vorne gebracht und einige andere dagegen zurückgeführt, sodass implizites Wissen bewusst werden kann. „Reflection would be nonlinear with pieces, images, and fragments surfacing and then diving below again as the mind continued to work on the problem. Sending fragments back could simply re-file a memory or potentially alter tacit structures“ (Bennett 2012: 29). Bei der Wissenssublimierung geht es um plötzlich auftauchende Ideen zur Lösung eines Problems. Bei diesen plötzlichen Ideen kann jedoch nicht nachverfolgt werden, inwiefern diese 'erlernt' wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese mit Erinnerungsfragmenten und Erfahrungen zusammenhängen. Elizabeth Bennett (2012: 29) zitiert diesbezüglich eine psychologische Studie von Jung-
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
Beeman et al. (2004), die auf einem Experiment basiert, bei dem die Gehirne der Teilnehmenden beim Prozess von Problemlösungen gescannt wurden. Bei einigen wurden rationale Prozesse und bei anderen sog. ‚Aha’-Momente für die Lösung von Problemen festgestellt. „The researchers found immediately prior to sudden insight there was intensive neural activity in the right anterior temporal area, which is a region of the brain that is associated with making connections between remotely related information. […] I believe sublimation provides learning products or images to the conscious mind, but with very few traces to indicate how the learning products were created” (Bennett 2012: 29).
Das integrative Lernen könnte somit das Geheimnis hinter dem plötzlichen Verstehen von bestimmten Vorgängen oder unerwarteten intuitiven Ideen und Kreativitätsmomenten lüften. „If tacit knowledge is able to be used or altered through intentional but largely nonconscious processes, then a fourth type of informal learning is indicated” (Bennett 2012: 28). Gerade wenn bei der Problemlösung einmal nicht auf die Lösung eines Problems fokussiert wird, sondern andere Aktivitäten wie bspw. das Schlafen durchgeführt werden, oder andere Aktivitäten, die das Gehirn ablenken, kann es zu plötzlichen „Aha-Erlebnissen“ kommen, die das Gehirn verausgaben. „Integrative learning could direct responses to new experiences, too, when adults follow intuition or a ‘gut feeling’ of familiarity” (Bennett 2012: 28). Gerade dieser Prozess muss zukünftig näher erforscht werden, denn bei vielen Untersuchungen zum informellen Lernen geht es laut Bennett (2012) sowie laut Merriam, Caffarella und Baumgartner (2009) oftmals weniger um den Lernprozess an sich als um den Lernkontext oder Lernort. Hierbei handelt es sich laut den eben zitierten Autoren um eine Forschungslücke. Diesbezüglich ist die Erweiterung des dreiteiligen Modells von Schugurensky (2000) um ein vierteiliges seitens Bennett für diese Arbeit fundamental. Hier sind die vier verschiedenen Typen nochmals zusammengefasst (vgl. hierzu Bennett 2012: 27): 1. selbstgesteuertes Lernen (bewusst und intentional) 2. inzidentelles Lernen (bewusst und nicht intentional) 3. integratives Lernen (unbewusst und intentional) 4. schweigendes Wissen (unbewusst und nicht intentional) Bei den ersten beiden Lernformen handelt es sich um einfacher zu analysierende Prozesse. Diese wurden von Bennett auch unverändert gelassen. Das integrative Lernen hat Bennett dagegen fundierter erforscht, nachdem Schugurensky eine solche Lernform erkannte, aber nicht erklären konnte (vgl. Bennett 2012: 28). Beim vierten Lernaspekt hat Letztere Schugurenskys Sozialisation in ‚tacit’ umgewandelt, um das Unbewusste und Nicht-Intentionale besonders hervorzuheben.
3.2 Sozialisation
47
„Skill development through practice builds tacit and embodied knowledge as people make minor adjustments to build expertise without full conscious knowledge of the actions. Tacit in this modality would be subject to implicit processing” (Bennett 2012: 27).
3.2
Sozialisation
Sozialisation wird aktuell als ein Prozess „der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen“ (Hurrelmann 1990: 14) betrachtet, „die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren“ (ebd.: 14). Dieser Prozess kann nicht durch formale Bildung oder formale Lernprozesse erzielt werden. Es handelt sich somit um informelles, unbewusst-implizites Lernen (vgl. Overwien 2007a: 2). Denn Sozialisation ist ein Prozess, „in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiter entwickelt“ (Hurrelmann 1990: 14). Dabei sollten auch selbstsozialisatorische Prozesse genauer betrachtet werden. Dies würde dann bedeuten, dass es sich nicht mehr nur um schweigendes Wissen handelt, sondern auch um bewusst angeeignete Erfahrungen. Schließlich ist nach Luhmans Systemtheorie Sozialisation immer gleichzeitig auch Selbstsozialisation (vgl. Schulze/Künzler 2002: 135). Es handelt sich um selbstreferenzielle Systeme, die eine Autopoiesis1 entwickeln (vgl. Abels/König 2010: 232). Selbstsozialisation ist „weniger ein eigenständiger Ansatz als vielmehr eine Art Fokussierung [...], welche die Fremdanteile an Sozialisationsprozessen nicht kategorisch ausklammert, die Eigenleistung hingegen hervorheben möchte“ (von Gross 2016: 58). Jugendforscher Jürgen Zinnecker (2000) sieht im gegenwärtigen Ausbau der Erziehung als soziales Funktionssystem der Gesellschaft auch einen gleichzeitigen Anstieg von ungeplanten und unplanbaren sozialisatorischen Effekten.
3.2.1
Habitus
Habitus (Bourdieu 1982) sind verinnerlichte und inkorporierte sowie auch verkörperte Handlungsmuster eines Menschen, die von den sozialen Umständen 1
Selbstreproduktion.
48
3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
und Milieus beeinflusst werden. Sie beruhen auf Erfahrungen von Akteur*innen und bringen Handlungen hervor. Das Inkorporieren dieser Muster und Routinen erfolgt teilweise unbewusst, also informell und ist somit als Sozialisierung zu betrachten. Die Position im sozialen Raum formt den Habitus. Wenn nach Bourdieu das ökonomische, kulturelle, soziale und symbolische Kapital als gemeinsames Konstrukt betrachtet wird, dann resultiert daraus eine Lebenslage im sozialen Raum. Es handelt sich dabei um eine Verknüpfung zwischen Lebenslage und sozialer Praxis, die den sozialen Habitus darstellt. Bourdieu versteht somit Sozialisation als Aneignung eines sozialen Habitus. „Der Habitus ist das Resultat der Introjektion (der Verinnerlichung) dieser Unterschiede. Er konserviert regelrecht das nach Zeit und Ort variable Wissen über die soziale Realität und begründet damit eine Art individuelles Vertrautheitsverhältnis mit der sozialen Welt“ (Bauer 2011: 132).
Das Handeln wird somit durch den Habitus beeinflusst. Hierbei handelt es sich um einen Instinkt, der den Menschen dazu führt in bestimmten Situationen auf eine ganz bestimmte Weise zu handeln und gewisse ‚feine Unterschiede’ zu (re)produzieren. „Das situative Erleben wird also unter Rückgriff auf Unterscheidungsprinzipien klassifiziert, die ihrerseits das Ergebnis von Klassifizierungen sind, die durch Sozialisationseinflüsse erfahren werden“ (Bauer 2011: 137). Sozialisation ist demnach etwas, das instinktiv-selbstverständlich mit einem Menschen geschieht. Der Habitus ist ein Raum in dem die Realität als selbstverständlich wahrgenommen und akzeptiert wird. „Die Wirklichkeit wird über eine Alltagswelt, die Welt des Alltagsverstandes, vermittelt. [...] Die Handelnden nehmen sie von früh an als etwas Selbstverständliches wahr, ihre Überwindung bzw. Veränderung erscheint daher immer außerhalb des Möglichen“ (Bauer 2011: 143).
3.2.2
Lernen durch (schweigendes) Wissen und Erfahrung
In den Erziehungswissenschaften wird davon gesprochen, „was ein Mensch in jeder Lebensspanne an Wissen, Kompetenzen, Einsichten usw. erwirbt“ (Vogel 2008: 119). Nach Vogel kann also gar nicht anders als gelernt werden. Der Mensch merkt nicht einmal, dass er lernt, er lernt einfach. Selbst wenn sich in einem formellen Setting gegen das Lernen gewehrt wird, wird gelernt, und zwar informell und unbewusst. Nur weil Jugendliche in der Schule nicht erfolgreich sind und / oder als nicht lernwillig gesehen werden, bedeutet das nicht, dass sie nicht lernen möchten. “What appears to be a lack of interest in learning may therefore not reflect a resistance to learning or an inability to learn. On the contrary, it may reflect a genuine thirst for
3.2 Sozialisation
49
learning of a kind that engages one’s identity on a meaningful trajectory and affords some ownership of meaning. To an institution focused on instruction in terms of reified subject matters sequestered from actual practice, this attitude will simply appear as failure to learn” (Wenger 1998: 270).
Allein die Tatsache, dass bspw. ein*e Schüler*in der Lehrkraft sagt, dass sie*er nicht motiviert sei Hausaufgaben zu machen und den Unterricht zu besuchen, erzeugt einen informellen und unbewussten Lernprozess. Der*die Schüler*in lernt, welche Reaktionen bei der Lehrkraft und ihren*seinen Mitschüler*innen entsteht, wenn sie*er sich gegen das formelle, ihr*ihm beauftragte Lernen wehrt. Sie*er lernt sich selbst und ihre*seine eigenen Grenzen kennen: Wieweit kann ich mit meiner Anti-Haltung gehen? Bin ich überhaupt fähig mich gegen das ‚System’ Schule zu wehren? All diese Prozesse sind Teil eines ‚unsichtbaren’, informellen und teilweise unbewussten Lernprozesses. Psycholog*innen sprechen von einem Prozess, „der als Ergebnis von Erfahrungen relativ langfristige Änderungen im Verhaltenspotential erzeugt“ (Koch 2008: 369). „Deweys Explikation des Lernens ist eingebunden in das pragmatistische Konzept von Erfahren, Denken und Handeln. Nichts Neues kann gelernt werden ohne anregende Erfahrung. Dewey betont die aktive Seite der Erfahrung durch Ausprobieren und Versuch“ (Faulstich/Grotlüschen 2006: 59).
John Dewey geht deshalb von einem erfahrungsbasierten Lernen aus, in dem sich die Akteur*innen aktiv mit ganz greifbaren Erlebnissen reflexiv auseinandersetzen. Dadurch werden Probleme zu Lernprozessen gemacht, die von den Lernenden bewältigt werden. „Erst die Reflexion, also das intensive Nachdenken über im Alltag auftretenden Problemsituationen führt nach Dewey zu lehrreichen Erfahrungen und somit zur Erweiterung des Wissens eines Menschen“ (Stangl 2018). Dewey ist außerdem der Meinung, dass auch im schulischen, also im formalen Lernkontext, nur wirklich gelernt werden kann, wenn das Individuum auch an individuelle Erfahrungen anknüpfen kann. Somit sind auch in der Community of Practice Lernprozesse durch Probleme und Erfahrungen gesteuert. „Durch Erfahrung lernen heißt das, was wir mit den Dingen tun, und das, was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen“ (Dewey 1993: 187). In gewisser Hinsicht ist dieser Lernansatz schon seit der Antike bekannt und deshalb auch nichts Neues, „denn schon Sokrates zeigte, dass selbst scheinbar Unwissende von einer Fragestellung ausgehend schrittweise Lösungen für die schwierigsten Probleme finden können“ (Stangl 2018). Die Basis der Community of Practice bilden somit folgende Gedanken von John Dewey bezüglich der Interaktion, die das (Erfahrungs-)Lernen in einer Gemeinschaft voraussetzt: „The statement that individuals live in a world means, in the concrete, that they live in a series of situations. [...] It means, once more, that interaction is going on between
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
an individual and objects and other persons. The conceptions of situation and of interaction are inseparable from each other […]. The two principles of continuity and interaction are not separate from each other. They intercept and unite. They are, so to speak, the longitudinal and lateral aspects of experience (a.a.O.: 41-42).
Diese Aspekte lassen sich auch in spontanen Bildungsprozessen beobachten, die Arnd-Michael Nohl in seiner Untersuchung erforscht. „Aus spontanem Handeln kann Bildung werden. In der Spontaneität des Handelns bricht das Neue in das Leben ein, schafft sich seinen Raum, wird von anderen respektiert und von den Betroffenen reflektiert. So kommt ein Bildungsprozess in Gang, der nachhaltige und tiefgreifende Veränderungen der Lebensorientierungen von Menschen zeitigt. Diese transformativen Bildungsprozesse lassen sich unterscheiden von Lernprozessen, bei denen Wissen und Können innerhalb gegebener Lebensorientierungen erworben werden (zu transformativen Bildungsprozessen vgl. zuerst: Marotzki 1990. Siehe auch Koller 1999)“ (Nohl 2009: 177).
Allein das Zusammenkommen in einer neuen Gemeinschaft, die gewisse Interessen, Praktiken, Handlungs- und Verhaltensweisen und Regeln befolgt, führt zu spontanen Bildungsprozessen, die sowohl die Gruppendynamik als auch das einzelne Individuum verändern. Neue Ideen und Wissensbestände führen zu Reaktionen und Reflexionen über das eigene Handeln. Dadurch können einschneidende Erlebnisse und Erfahrungen gemacht werden, die das Leben der einzelnen Akteur*innen sowie der Gemeinschaft verändern können (vgl. hierzu die empirischen Befunde dieser Untersuchung). Beim Erfahrungslernen nach John Dewey handelt es sich laut Kirchhöfer um „beiläufiges Lernen, [das] intentional nicht auf das Lernen orientiert [ist], gleichzeitig zu einer anderen Tätigkeit (beiläufig) [verläuft] und vorerst unreflektiert vollzogen [wird]“ (Kirchhöfer 2004). Trotzdem muss beim Erfahrungslernen der Begriff der Erfahrung genauer betrachtet werden. John Dewey unterscheidet bestimmte Erfahrungen und verbindet sie nicht mit Bildung (vgl. Dewey 1938: 25f.). Jede Erfahrung, die den Aspekt hat, weitere Erfahrungen zu behindern, könnte für das Lernen schädlich sein. Erfahrung kann für Verhärtung sorgen. Sie kann die Sensibilität und Fähigkeit zu reagieren vermindern. Diesbezüglich kommt es zu eingeschränkten Möglichkeiten eine bereichernde Zukunft zu haben. Bestimmte Erfahrungen können Mobilität einschränken und dafür sorgen, dass sich die Person nur in eine Richtung bewegt (vgl. Dewey 1938: 26). Nach Dewey hängt alles von der Qualität der Erfahrung ab (vgl. ebd.: 27). Somit ist die Lernqualität auch von der Qualität der Erfahrungen bestimmt. Erfahrung ist in jeder Hinsicht eine Form des Lernens, aber sie kann weitere Lernprozesse behindern bzw. auf schlechte Weise beeinflussen. Von daher müssen die Lernbiographien von Jugendlichen immer genau betrachtet werden, um in Erfahrung zu bringen, warum
3.2 Sozialisation
51
bestimmte Handlungen und Beschäftigungen durchgeführt bzw. nicht durchgeführt werden. „In Bezug auf eine nähere Bestimmung schweigenden Wissens wird im Allgemeinen auf Michael Polanyi referiert. Polanyi beschreibt damit zunächst die alltägliche Erfahrung, dass wir mehr wissen als wir zu sagen wissen“ (Kraus 2017: 18). Gemeint seien Wissensformen, die mit (Lern-)Prozessen der Verinnerlichung, Einverleibung oder Einfühlung gleichzusetzen seien. Jedoch wird nicht klar, ob schweigendes Wissen überhaupt ermittelt werden kann. Hierzu äußert sich Polanyi nur sehr oberflächlich (vgl. Kraus 2017: 19).
3.2.3
Soziales Feld, Milieu, soziales Kapital
Basierend auf Max Webers klassischen soziologischen Untersuchungen, hat sich Bourdieu vor allem für die Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft interessiert. „Bourdieu untersucht die ungleiche Verteilung sozialer Macht nicht an dafür prädestinierten Erkenntnisobjekten wie dem Staat, dem Geschlechterverhältnis oder dem Bildungssystem“ (Bauer 2011: 108). Er interessiert sich stattdessen besonders für „alltagsästhetische Phänomene wie ‚Benimmkodi’ [...], Wertpräferenzen [...] und alltägliche, routinierte Verhaltensweisen“ (Bauer 2011: 108).
Hierbei achtet Bourdieu vor allem auf die symbolische Dimension sozialer Ungleichheiten, die sich in den sinnbildlichen Ausdrucksformen der sozialen Akteur*innen produzieren und reproduzieren. In Die feinen Unterschiede beschreibt Bourdieu 1982 genau diese Reproduktionsstrategien, die sich bei sozialen Gruppen finden lassen. „Bourdieu geht von der ungleichen Verteilung dreier Ressourcenarten aus: dem ökonomischen Kapital, dem Bildungskapital und dem ‚sozialen Kapital’ (in Gestalt sozialer Beziehungen). Je nach Ausmaß ihres Kapitalbesitzes insgesamt gehören die Menschen der Arbeiterklasse, dem Kleinbürgertum oder der Bourgeoisie an (vertikaler Aspekt). Und je nach Zusammensetzung bzw. Zukunftsaussichten ihres Kapitalbesitzes werden sie den Klassenfraktionen der Besitz- oder der Bildungsbourgeoisie sowie dem alten, dem neuen oder dem ‚exekutiven’ Kleinbürgertum zugerechnet (horizontaler Aspekt)“ (Hradil 2006).
Laut Bourdieu ist die Gesellschaft – neben den Klassen – in verschiedene verhältnismäßig autonome Felder unterteilt. Jedes Feld, wie bspw. Politik, Kunst, Wirtschaft und Religion, hat seine eigenen Spielregeln, Ziele und Einsätze. Teil des Feldes sind Akteur*innen mit ihrem Habitus und Kapital. Das Feld ist so strukturiert, dass es den Stand der Machtverhältnisse der jeweiligen beteiligten Ak-
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
teur*innen wiedergibt und somit die Kräfteverhältnisse zueinander erkennbar werden (vgl. Bourdieu et al. 2001: 108). Gewisse Strukturen des Feldes – also deren Spielregeln – begrenzen gewisse Handlungsmöglichkeiten der Akteur*innen, wobei das Feld nur wegen der Durchführung von individuellen und kollektiven Handlungen existiert. „Das Feld als Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteur[*innen] und Institutionen, das immer auch ein Raum des Möglichen ist, hat die Eigenschaft, den sozialen Akteur[*innen] die Verfügung über das kulturelle, ökonomische und soziale Kapital abzuverlangen, das dazu erforderlich ist, bestimmte Positionen in einem spezifischen Praxisfeld zu besetzen. Folglich setzt die objektivierte, Dinge gewordene Geschichte der Praxisformen eines Feldes inkorporierte, zu einem Habitus geformte Geschichte bei den sozialen Akteuren voraus, die in einem Feld agieren“ (Hillebrandt 1999: 13).
Diese sozialen Felder beeinflussen bestimmte soziale Milieus, die aus Gruppen von Gleichgesinnten bestehen, „die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten ausweisen“ (Hradil 2006). D.h., dass Milieugruppierungen mit jeweils ähnlichen Mentalitäten vorzufinden sind (vgl. Hradil 2006). Um das kulturelle und soziale Kapital nach Bourdieu besser nachvollziehen zu können und den Bezug zum informellen Lernen herzustellen, soll im Folgenden inhaltlich darauf detaillierter eingegangen werden. „Das kulturelle Kapital kann in drei Formen existieren: (1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben, und schließlich (3.) in institutionalisiertem Zustand, einer Form von Objektivation, die deswegen gesondert behandelt werden muß, weil sie – wie man beim schulischen Titel sieht – dem kulturellen Kapital, das sie ja garantieren soll, ganz einmalige Eigenschaften verleiht“ (Bourdieu 1997: 53).
Bourdieu versucht mit seiner Hypothese des kulturellen Kapitals Ungleichheiten bei Schüler*innen aus verschiedenen sozialen Milieus herauszufiltern. Mit kulturellem Kapital meint Bourdieu bestimmte Verhaltensweisen wie auch Kompetenzen sowie Gewohnheiten und bestimmte Stile, die von den Menschen im Verlauf eines Prozesses verinnerlicht werden und maßgeblich durch die soziale Herkunft geprägt werden. Er kritisiert, dass „Fähigkeiten“ und „Begabung“ bezogen auf Bildung von der Investition der Familien in diese abhängen. Wenn die „Transmission kulturellen Kapitals in der Familie“ (Bourdieu 1997: 54) nicht oder eingeschränkt bzw. anders stattfindet als die Institution Schule oder der Staat oder die Gesellschaft als Ganzes erwarten, dann können Kinder und Jugendliche aus
3.2 Sozialisation
53
marginalisierten Familien, aus marginalisierten oder segregierten Stadtteilen auch nicht mithalten und verstärken sowie setzen die Marginalisierung in Zukunft fort. Bourdieu sieht somit ein Problem in der Vererbung von kulturellem Kapital im Zusammenhang des Erziehungs- und Bildungsvorhabens einer Familie. Wie oben bereits zitiert, unterteilt Bourdieu das kulturelle Kapital in drei verschiedene Charakteristika. Diese sollen in Bezug auch auf informelle Bildung im Folgenden näher betrachtet werden. 1. Das inkorporierte Kulturkapital: Hierbei handelt es sich um eine Verinnerlichung von bestimmtem Wissen, das sich durchaus auch implizit angeeignet wird. Es können gewisse Bewegungen, Sprachstile und Handlungen sein, die sich jeweils nach Familien, Backgrounds und Regionen unterscheiden können. Der Mensch arbeitet an sich selbst, wenn es darum geht sich zu bilden. Das Maß an kulturellem Kapital wird durch die Investition des Einzelnen in seine Bildung deutlich. „Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der Person, zum Habitus geworden ist; aus ‚Haben’ ist ‚Sein’ geworden. [...] [V]erinnerlichtes Kapital kann deshalb [...] nicht durch Schenkung, Vererbung, Kauf oder Tausch kurzfristig weitergegeben werden“ (Bourdieu 1997: 56).
Nach Bourdieu ist das inkorporierte Kulturkapital an die Person bzw. an den Körper der Person und seinen sozialen Stand gebunden. Es wird dann wiederum durch soziale Vererbung an die nächste Generation weitergegeben. „Die Inkorporierung von kulturellem Kapital kann sich – je nach Epoche, Gesellschaft und sozialer Klasse in unterschiedlich starkem Maße – ohne ausdrücklich geplante Erziehungsmaßnahmen, also völlig unbewußt vollziehen“ (Bourdieu 1997: 57). 2. Das objektivierte Kulturkapital: Diese Kapitalform lässt sich materiell übertragen. Es können in diesem Zusammenhang „Schriften, Gemälde, Denkmäler, Instrumente usw.“ (Bourdieu 1997: 59) sein, die an andere Personen weitergegeben werden. „Übertragbar ist allerdings nur das juristische Eigentum. [...] [D]ie Verfügung über kulturelle Fähigkeiten, die den Genuß eines Gemäldes oder den Gebrauch einer Maschine erst ermöglichen“ (Borudieu 1997: 59) lässt sich jedoch wie beim inkorporierten Kulturkapital nur symbolisch aneignen. D.h., dass über Wissen und Kompetenz verfügt werden muss, um eine Maschine zu bedienen oder ein Gemälde zu verstehen. Bourdieu nennt den Ort dieser Auseinandersetzung „das Feld der kulturellen Produktion“ (Bourdieu 1997: 61) und meint damit die Kunst und Wissenschaft sowie viele andere Bereiche. 3. Institutionalisiertes Kulturkapital: Hierbei handelt es sich um legitime Beweise der Bildung bzw. des kulturellen Kapitals in Form von Schul- und Univer-
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
sitätsabschlüssen. Sie ziehen eine Grenze zwischen dem Kulturkapital der „Autodidakten“ und dem der formal Gebildeten. „Der schulische Titel ist ein Zeugnis für kulturelle Kompetenz, das seinem Inhaber einen dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert überträgt. Die Alchemie des gesellschaftlichen Lebens hat daraus eine Form von kulturellem Kapital geschaffen, dessen Geltung nicht nur relativ unabhängig von der Person seines Trägers ist, sondern auch von dem kulturellen Kapital, das dieser tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt besitzt“ (Bourdieu 1997: 61f.).
Um legitime Titel zu erhalten und so viel Wissen wie möglich zu inkorporieren, versuchen diejenigen Menschen, die an formaler Bildung orientiert sind, ein breites kulturelles Kapital anzusammeln, das sich in zeitlicher Investition in ihre schulische sowie auch berufliche (Aus-)Bildung abbildet. Durch einen akademischen oder schulischen Titel wird eine institutionelle Anerkennung erreicht, die später oftmals dazu führt ein höheres Einkommen erzielen zu können und somit auch einen spezifischen sozialen Status zu erreichen. Bourdieu zeigt mit seiner These zum kulturellen Kapital, wo Marginalisierung bereits beginnt und inwieweit diese fortgeführt und weitervererbt wird: „[...] die Primärerziehung in der Familie muß in Rechnung gestellt werden, und zwar je nach Abstand zu den Erfordernissen des schulischen Marktes entweder als positiver Wert, als gewonnene Zeit und Vorsprung, oder als negativer Faktor, als doppelt verlorene Zeit, weil zur Korrektur der negativen Folgen nochmals Zeit eingesetzt werden muß“ (Bourdieu 1997: 56).
In marginalisierten Stadtteilen jedoch ist das informelle Lernen eine der wichtigsten Ressourcen, um nicht gänzlich ins ‚Abseits’ oder noch tiefer in die Armut zu gelangen. Um Lebensbewältigungsstrategien zu erlernen, bedarf es an sozialem Kapital. Unter soziales Kapital versteht Bourdieu soziale Beziehungen, Solidarität, Kooperation und gegenseitige Unterstützung. Dabei geht es um Zugehörigkeit zu einer bestimmten (sozialen) Gruppe oder Klasse. Dies kann u.a. auch durch eine Familie, Institution, Gang, Mafiaclan, Schule oder Partei gekennzeichnet sein. Was das soziale Kapital fundamental markiert sind die Austauschbeziehungen innerhalb dieser Gruppen oder Zusammenschlüsse. Diese bilden nach Lothar Böhnischs Lebensbewältigungskonzept die Milieustrukturen: „Milieustrukturen sind durch intersubjektive biografische und räumliche Erfahrungen charakterisiert und als solche hoch emotional besetzt. Ihr Vorhandensein, ihre psychosoziale Dichte und Geschlossenheit, aber auch die in ihnen vermittelte Spannung zwischen Individualität und Kollektivität entscheiden über die Art und Weise, wie sich Individuen der Gesellschaft gegenüber (ausgesetzt oder zugehörig) fühlen. Mili-
3.2 Sozialisation
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eubeziehungen steuern also die Lebensbewältigung, strukturieren das Bewältigungsverhalten bei psychosozialen Belastungen und in kritischen Lebensereignissen. Sie lassen sich deshalb auch als Bewältigungskulturen bezeichnen. In Milieubezügen entwickeln sich Deutungsmuster über das, was als konform und was als abweichend zu gelten hat“ (Böhnisch 2016: 26).
Sozialkapital kann nur aufrechterhalten werden, wenn materielle und symbolische Aspekte kontinuierlich und untrennbar miteinander verbunden sind. „Der Umfang des Sozialkapitals, das der Einzelne besitzt, hängt demnach sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch vom Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht“ (Bourdieu 1997: 64).
Das soziale Kapital kann somit nicht auf ökonomische, soziale sowie geographisch-physische Nähe reduziert werden. Gleichzeitig ist es aber auch durchaus abhängig davon welche Beziehungen und Profite für eine bessere und (beruflich) erfolgreiche Zukunft für die Einzelnen ermöglicht werden können. Dies bedeutet, dass die jeweiligen Menschen fortlaufend Beziehungsarbeit leisten müssen, um genügend soziale Kontakte zu einem Unterstützer- und Austauschnetzwerk aufzubauen. Jeder Austausch bedeutet Anerkennung vom/von der jeweiligen Austauschpartner*in zu erhalten. Diese Anerkennung führt auch dazu im unmittelbaren Sozialraum Respekt zu bekommen und gesehen sowie bemerkt zu werden: „Die Existenz eines Beziehungsnetzes ist weder eine natürliche noch eine soziale ‚Gegebenheit’, die aufgrund eines ursprünglichen Institutionalisierungsaktes ein für allemal fortbesteht [...]. Sie ist vielmehr das Produkt einer fortlaufenden Institutionalisierungsarbeit. [...] Diese [...] ist notwendig für die Produktion und Reproduktion der dauerhaften und nützlichen Verbindungen, die Zugang zu materiellen oder symbolischen Profiten schaffen“ (Bourdieu 1997a: 65).
Durch die Institutionalisierungsarbeit entstehen dann auch bestimmte Verpflichtungen gegenüber der Gang, Familie, Nachbarschaft oder Partei. Da es sich um Austausch und Netzwerkarbeit handelt, erwarten die jeweiligen Mitglieder dieser Gemeinschaften Solidarität, Zugehörigkeit, Unterstützung bei Projekten, Ideen und Problemen sowie Gefälligkeiten und Profite. „Gegenseitiges Kennen und Anerkennen ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis dieses Austausches. Der Austausch macht die ausgetauschten Dinge zu Zeichen der Anerkennung“ (Bourdieu 1997a: 66). Von daher ist es besonders schwierig in solche Gemeinschaften, die durch Sozialkapital gekennzeichnet sind, hineinzugelangen, da Fremde die Regelungen, das soziale Kapital dieser ‚Institutionen’, eventuell durcheinanderbringen könnten. Somit ist es in verschiedenen sozialstrukturellen Segmenten besonders schwierig Anerkennung und Verständnis für bestimmte
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
Verhaltensweisen von Menschen, die sich außerhalb dieser Netzwerke und Gemeinschaften bewegen, zu erhalten. Dies macht auch ein Ausbrechen aus diesen Mustern besonders schwierig. Soziales Kapital bietet einerseits Sicherheit und Schutz und andererseits führt es zu Gewohnheiten. Auch innerhalb einer Gemeinschaft kann verschiedenes Sozialkapital nebeneinander existieren. „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1997a: 63).
3.2.4
Lebensbewältigung
Etablierte Strukturen der Sozialisation aus der ersten Moderne sind in der zweiten Moderne bereits kaum vorhanden, sondern vermischen sich mit neuen Formen und Konstruktionen. „Bisherige lineare Strukturen im Lebenslauf brechen auf, werden hinterfragt und mitunter reflexiv rekonstruiert“ (Böhnisch 2012: 3). Aus Entweder-oder- werden und-Strukturen (vgl. Beck 1993). Das Sozialisationsregime der zweiten Moderne ist vor allem durch Entgrenzungen und Chancen sowie Zwängen zur Selbstorganisation charakterisiert. Trotzdem sind alte Strukturen noch vorhanden und machen die Lebensbewältigung umso komplizierter – gerade in marginalisierten Stadtteilen, wo traditionelle (Mafia-)Strukturen herrschen, aber von der Gesellschaft mehr Flexibilität in der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt und in der Familienkonstellation gefordert werden. Wenn man den Identitäts- und Habitusbegriff dann genauer betrachtet, dann muss er bzgl. der neuen Gesellschaftsformen relativiert werden. „Diese Relativierung schließlich führt zur Begründung des Konzepts Lebensbewältigung als strategisches Kernkonzept einer Sozialisationstheorie. Denn sowohl das Konzept der Identitätsformation als auch das der Habitusbildung setzen stabile gesellschaftliche Kontexte und darin eingebettete Lebensverläufe voraus“ (Böhnisch 2012: 3).
Die eben zitierten Konzepte sind für die Gesellschaft der zweiten Moderne zu starr. Die Akteur*innen selbst müssen sich ständig neu erfinden, neue Identitäten kreieren, sich neu sozialisieren. Auch bei den Akteuren dieser Untersuchung ist eine ständige Dynamik der Neuausrichtung ihrer Aktivitäten im Alltag zu beobachten. Sie variieren kontinuierlich. Die Handlungen und Interessen reichen von philosophischen Diskussionen bis zu Graffitiaktionen auf U-Bahnen oder von Muskelaufbautraining bis zum Drehen von Filmdokumentationen zum Thema
3.2 Sozialisation
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Migrant*innen in Deutschland. Alle diese Handlungen sind Teil einer Lebensbewältigung, die das Umschalten von neuen Identitäten auch innerhalb einer Woche oder eines Tages voraussetzen. Es geht also um ein ständiges Streben nach Handlungsfähigkeit und um ein „wiederkehrendes ‚Herausgefordertsein’“ (Böhnisch 2012: 4). Bewältigungsmuster werden nach Böhnisch (2012: 5) „aus einer psychosozialen Grundstruktur heraus erworben [...]. So könnte man das Habituskonzept Pierre Bourdieus in unserem Sinne sozialisationstheoretisch wenden und als ‚implizite Sozialisationstheorie’ (Liebau 1992) einführen“ (ebd.: 5). Die Sozialisationstheorie ändert sich, wenn man Lebensbewältigung mitbetrachtet. „Von daher sind die Konzepte Identität und Habitus zu relativen Konzepten einer Sozialisationstheorie der zweiten Moderne geworden. Das sozialpädagogische Konzept der Lebensbewältigung hingegen ist [...] in den Mittelpunkt der sozialisationsbezogenen Theoriebildung gerückt“ (Böhnisch 2012: 7).
In dieser vorliegenden Untersuchung geht es um kritische Bewältigungskonstellationen, die durch eine tiefenpsychisch eingelagerte Erfahrung des Selbstwertverlustes gekennzeichnet sind. Die Erfahrung sozialer Orientierungslosigkeit und fehlenden sozialen Rückhalts und die Suche nach erreichbaren Formen sozialer Integration werden in das Bewältigungshandeln sozial eingebettet und in diesem Sinne normalisiert. „‚Erreichbare Formen sozialer Integration‘ meint in diesem Zusammenhang, dass die Betroffenen in ihrem Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit dort sozialen Anschluss und Anerkennung suchen, wo es ihnen als realisierbar erscheint. Dies können entsprechend der Logik des Bewältigungsparadigmas auch sozial abweichende Verhaltensformen sein, wenn sie Anerkennung und Selbstwirksamkeit versprechen. Diese Grunddimensionen sind unterschiedlich stark ausgeprägt aufeinander bezogen, in ihnen verdichten sich biografisch verstetigte Lebensthemen (vgl. Uhlendorff, 2010), die das Bewältigungsverhalten ‚steuern’“ (Böhnisch 2012: 8).
Deviantes Verhalten und aggressiv-gewalttätige Handlungen können für im Abseits lebende junge Menschen positiv konnotiert sein, denn sie erwirken Anerkennung in ihrem Raum und die Aneignung desselben. Dies kompensiert die Indifferenz der Gesellschaft gegenüber marginalisierten Jugendlichen. „Anomische Konstellationen können unterschiedlich und müssen nicht antisozial oder autoaggressiv bewältigt werden. Sie sind auch nicht ursächlich dafür, sondern begünstigen ein soziales Klima, in dem Orientierungs- und Hilflosigkeit gedeihen und sich Abspaltungsdruck entwickelt, vor allem wenn die anomische Situation nicht thematisiert werden kann“ (Böhnisch 2012:11).
In dieser Untersuchung werden aber zwei Bewältigungstypen veranschaulicht, die die jungen Männer teilweise gleichzeitig angehen. Einerseits versuchen
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3 Marginalisierte Jugend im Kontext von Bewältigung
die jungen Männer über ihre anomische Situation zu sprechen und diese somit zu thematisieren (siehe hierzu Kapitel 8), was andererseits aber dazu führt, dass dies innerhalb des Stadtteils deviant ist, da die Regeln der organisierten Kriminalität die des Schweigens, Akzeptierens und Ignorierens sind. In diesem Fall steht für die Dealer das Business im Vordergrund und die Anomie wird für ihre Businesszwecke genutzt – zum Nachteil der meisten Bewohner*innen des Stadtteils, die nicht direkt mit der Mafia zu tun haben (siehe hierzu Kapitel 6). Nach Böhnisch (2016a) können die eben genannten Fakten in einem „DreiZonen-Modell“ dargestellt werden. Die erste Zone geht auf die personal-psychodynamischen Aspekte des Bewältigungsverhaltens, die zweite auf die relationalintermediären Faktoren der Bewältigungskulturen und die dritte auf die sozialstrukturell-sozialpolitischen Lebens- und Bewältigungslagen ein (vgl. Böhnisch 2016b: 23). Im Folgenden sind die jeweiligen Dimensionen bzw. Zonen mit ihren einzelnen Aspekten genauer erläutert: „Psychodynamische Dimension. Verlust an Selbstwert, sozialer Anerkennung und Selbstwirksamkeit in kritischen Lebenssituationen (Lebenskonstellationen) – unbedingtes Streben nach Handlungsfähigkeit – Unfähigkeit zur Thematisierung innerer Hilflosigkeit – Zwang zur äußeren/inneren Abspaltung Soziodynamische/interaktive Dimension. Bewältigungskulturen und die in ihnen enthaltenen Chancen der Thematisierung des bedrohten Selbst: Familie, Gruppe, Schule, Arbeitswelt, Medien Gesellschaftliche Dimension. Sozialpolitisches Konzept Lebenslage – sozialpädagogischer Zugang zur Lebenslage: Bewältigungslage mit den Dimensionen Ausdruck (Thematisierung), Abhängigkeit, Aneignung, Anerkennung“ (Böhnisch 2016a: 11f.).
Nach dem älteren Zwei-Kreise-Modell von Böhnisch (2012) besteht der innere Kreis aus einem Magnetfeld des psychosozialen Strebens nach Handlungsfähigkeit in immer wieder entgrenzten Lebenskonstellationen. Der äußere Kreis ist nach gesellschaftlichen Bewältigungsaufforderungen gerichtet wie z.B. soziale Spielräume, Ermöglichungen und Erreichbarkeit in der Spannung zu gesellschaftlichen Vorgaben (vgl. Böhnisch 2012: 7). Der innere Kreis besteht aus drei Bewältigungsimpulsen: das Verlangen nach einem stabilen Selbstwert, entsprechender sozialer Anerkennung und nach Erfahrung von Selbstwirksamkeit (vgl. ebd.: 7). Was die älteren als auch neueren Zonen- und Dimensionsmodelle von Böhnisch gemeinsam haben, ist, dass das Bewältigungskonzept nicht auf eine „Sondergruppe“ beschränkt ist, sondern auf alle Akteur*innen, die in „kritischen Lebenssituationen“ leben und „soziale Hilfe zur Bewältigung brauchen“ (vgl. Böhnisch 2016b: 23) übertragen werden kann. Mit dieser These kann der Blick insoweit sozialpädagogisch geschärft werden, dass das Scheitern in einer Risikogesellschaft als normal angesehen wird und die Sozialpädagogik nicht in der
3.2 Sozialisation
59
Schublade der „Randgruppenwissenschaft“ landet (vgl. Böhnisch 2016: 23). Beim Zwei-Kreise-Modell wird Lebensbewältigung von Böhnisch teils hochindividuell gedacht und vergisst dabei die Kollektivität, die gerade für die Ergebnisse dieser Arbeit von größter Bedeutung sind. Von daher passen die aktuelleren drei Dimensionen von Böhnisch (2016a, 2016b) zum Gesamtkonzept dieser vorliegenden Untersuchung, da er kollektive Muster im Setting der Milieustrukturen und Sozialisation mitbedenkt. Durch die Gegenüberstellung beider Modelle soll darauf hingewiesen werden, dass ein Wandel in den letzten Jahren im Bereich der Vergemeinschaftung bezogen auf Bewältigungspraktiken einsetzt. Dieser zeigt, dass differenzierter gedacht wird und somit mehr Facetten der Lebensbewältigung aufgezeigt werden, die noch fundierter erforscht werden wollen. Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass unter Sozialisation in dieser Arbeit Prozesse der Habitualisierung und des Wissenserwerbs verstanden werden, die sozial/sozialstrukturell (als gesellschaftlich Marginalisierte) eingebettet sind. Informelles Lernen ist im Verhältnis dazu ein Prozess des Wissenserwerbs oder der Generierung von Wissen und Fähigkeiten, die junge Menschen in ihren jugendkulturellen Peergruppen durchlaufen. Die Akteur*innen erlernen sowohl individuell als auch kollektiv Bewältigungsstrategien und –formen innerhalb ihrer Milieustruktur. Ein Ziel dieser Arbeit ist es somit die Verhältnisse zwischen Sozialisation (Wohnbereichserfahrung, schulische Exklusion etc.), informellem Lernen (Communities of Practice) und Lebensbewältigungsformen aufzudecken und zu verdeutlichen. Um die Sozialisationsräume der hier untersuchten Jugendlichen sowie die Begriffe Raum, Marginalisierung und Segregation zu verstehen, soll in den folgenden Kapiteln auf eben diese Themen näher eingegangen werden, bevor der empirische Teil den eigentlichen Einblick in diese noch ‚unentdeckte’ Welt der Communities of Practice in sozial marginalisierten Kontexten gibt.
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung „Um die ‚Fehler’ der bisherigen Raumforschung zu vermeiden und Fallstricken auszuweichen, ist es ratsam, sich einen ganz bewussten Umgang mit den Begriffen anzugewöhnen. Es gibt eine ganze Reihe von Attributen und Adjektiven, die sich verwenden lassen, um relativ genau anzugeben, von welchem Raum man gerade redet. Selbst wer sich nur konzeptionell oder auf einer abstrakten Ebene über Raum austauscht, sollte kenntlich machen, ob von einem psychologischen, philosophischen, physikalischen oder alltagsweltlichen Sinn die Rede ist“ (Rau 2013: 52).
Raum wird in dieser Forschungsarbeit nicht nur als physischer Ort verstanden, sondern das Raumkonzept der Studie bezieht sich auch auf soziale und relationale Aspekte. Raum lässt sich – als kurze Einführung in die gleich folgende fundiertere Ausarbeitung – anhand dreier zentraler Punkte erklären. Lesende sollen sich deshalb erstens einen geographisch-physischen Ort vorstellen. Das kann bspw. ein Stadtteil sein. Zweitens sollen sie an mindestens zwei Personen denken. Das können zum Beispiel ein*e Graffitisprüher*in und ein*e Hochstapler*in sein. Beide repräsentieren das soziale Feld (vgl. Bourdieu in Kapitel 3.1.2). Als dritten und letzten Punkt sollen sich die Lesenden Gegenstände vorstellen. Das könnten im Stadtteil Wohnblöcke, Sitzbänke und Straßen sein. Hierbei handelt es sich um soziale Güter, die vom Menschen produziert worden sind. Die Anordnung dieser drei Punkte stellt den Raum dar. Der Stadtteil, der/die Graffitisprüher*in und der/die Hochstapler*in sowie die Wohnblöcke, Sitzbänke und Straßen sind der Raum. Die Handlungen, die sich zwischen und mit diesen drei Punkten abspielen produzieren den Raum.
4.1
Was ist Raum?
„Zu Anfang des 20. Jahrhunderts beginnen Émile Durkheim und Georg Simmel als Vertreter der als Disziplin noch jungen Soziologie in ihren Schriften das Verhältnis von Gesellschaft und Raum zu thematisieren“ (Löw 2005: 32). Beide sind zwar von Immanuel Kant (1724 - 1804) und seiner erkenntnistheoretischen Sicht auf Raum beeinflusst, aber sie kritisieren sie auch gleichzeitig. So war zu Kants Zeit die Vorstellung eines Raumes zweidimensional und als ‚Behälter’ gedacht. Émile Durkheim dagegen sieht ihn als ein Produkt der Sozialstruktur, des-
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_4
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4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
sen Form nicht kausal auf Formen der Vergesellschaftung wirkt, und lässt ihn gegliedert und eingeteilt zu einem sozialen Raum werden (vgl. Löw 2005: 33). Seine These war, dass sich soziale und räumliche Organisation entsprechen würden, doch dies wurde und wird bis heute kritisiert. Vorliegende Raumkonzeptionen wurden daraufhin von Georg Simmel nachhaltig modernisiert und bilden bis heute eine wichtige Basis für die aktuellen Raumtheorien. Raumgebilde sind seiner Konzeption nach als ‚Projektionen’ in den Raum zu sehen. „Georg Simmel unterscheidet fünf Raumqualitäten, die für verschiedene Vergesellschaftungsprozesse in unterschiedlichem Ausmaß relevant sind: Ausschließlichkeit und Einzigkeit, Zerlegbarkeit durch Rahmung/Grenzziehung, Fixierung von Inhalten, sinnliche Nähe und Distanz, Bewegung/Ortveränderung“ (Löw 2005: 33).
Georg Simmel verabschiedet sich nicht von der Kant’schen und Newton’schen Theorie des ‚absoluten Raums’, blendet aber die politische Geographie, die damals zur Theorie gehörte, aus. Sowohl Émile Durkheim als auch Georg Simmel „begreifen Gesellschaft als soziale Struktur und entsprechend Raum als anschaulich gegebene Basis, auf die gesellschaftliche Gruppen bezogen sind und in der sich soziales Handeln objektiviert“ (Löw et al. 2005: 34). Bei Pierre Bourdieu besteht dagegen eine Perspektive auf den Sozialraum, die von seinen etablierten Begriffen Habitus und soziales Feld ausgeht. Es handelt sich dabei um einen Raum der Machtverhältnisse in dem sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ihre eigenen Sozialräume abstecken und ihre Handlungen in diesen habitualisieren: „Der Begriff des sozialen Raums ist also bei Bourdieu nicht ohne den des sozialen Feldes und des Habitus zu verstehen. Diese Felder sind bisweilen Synonyme für gesellschaftliche Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Bildung oder Kunst; in jedem Fall aber handelt es sich um durch Interaktionen und Machtkämpfe gekennzeichnete Bereiche. Die Akteur[*innen; DG] handeln in diesem Feld nicht immer bewusst sondern indem sie inkorporierten Handlungsschemata oder, um in der Bourdieu’schen Sprache zu blieben, dem Habitus folgen“ (Rau 2013: 98).
In den USA unterscheiden sich dagegen die Raumbezüge bei den verschiedensten Forschenden – insbesondere in den vielen Untersuchungen der Chicagoer School – nicht so sehr wie in Europa (vgl. hierzu Riege und Schubert 2005). Vielmehr ergänzen sie sich gegenseitig. Erving Goffman (1922 - 1982) bspw., der sich insbesondere mit Interaktionsforschung befasst hat, welche gerade für die in dieser Forschungsarbeit untersuchten sozialen Praktiken von besonderer Relevanz ist, unterstreicht den Beziehungscharakter, der die interaktive Herstellung von sozialen Räumen betont (vgl. Löw 2005: 35). Darauf aufbauend verfasst Anthony Giddens (1984) ein weiteres raumtheoretisches Konzept folgendermaßen:
4.1 Was ist Raum?
63
„Aufgrund seiner Kritik an der Vernachlässigung des individuell menschlichen Handelns in Studien der Zeitgeographie betont Anthony Giddens, dass Raum als Ort zum Bezugsrahmen für Interaktionen wird, während umgekehrt die diversen Interaktionsbezugsrahmen für die Spezifizierung der Kontextualität von Raum und Zeit verantwortlich sind. Dafür prägt er den Begriff der Dualität von Raum“ (Löw 2005: 36).
Gegenüber Goffman sieht Giddens jedoch den Raum weiterhin als einen Behälter. Goffman dagegen ist der Meinung, dass sowohl Rahmen, Wissen und soziale Identität durch soziale Interaktion veränderbar sind und von daher nicht in einem Behälter ‚stecken’ können. Goffmans Sichtweise ist für diese Untersuchung sehr relevant, denn – wie in der Empirie zu erkennen ist – sind die untersuchten Akteure in einem ständigen gegenseitigen Wissensaustausch über intensive und habitualisierte Interaktionspraktiken, die von informellen Lernprozessen geprägt sind. Gleichzeitig ist eine physische Mobilität erkennbar, die den sozialen Raum allein dadurch schon flexibel und transformierbar macht. „Mit diesem Konzept ist der Gedanke verbunden, dass Raum und Wissen in einem komplexen Wechselverhältnis stehen. Dazu gehört auch die räumliche Strukturiertheit von Orten, an denen sich Wissen konstituiert. Wissensräume können zum einen Orte der Wissensproduktion und der Wissensverstetigung sein“ (Rau 2013: 177).
Noch konkreter und fundierter ausgearbeitet wird das Raumkonzept jedoch durch Henri Lefebvre (1901 - 1991), der zwischen sozialem und physisch-natürlichem Raum unterscheidet. Diesbezüglich sind „vor allem zwei Konzepte [interessant]: das der ‚Produktion’ des Raums (production de l’espace) und das seiner Dreiheit (triplicité)“ (Rau 2013: 47). Er geht davon aus, dass Raum durch räumliche Praxis, Repräsentationen von Raum und Raum der Repräsentationen gebildet wird (vgl. Rau 2013: 48f.). Lefebvre spricht dabei von sich auf die Marx’sche Einteilung beziehende Epochen, die einem bestimmten Raumtypen zugeordnet werden. „Anschließend werden jeder dieser Epochen drei Ebenen zugeordnet, die sich wechselseitig durchdringen, verstärken oder widersprechen können: der espace perçu als der erfahrene, wahrgenommen und genutzte Raum (auch der Raum der Alltagserfahrungen), der espace conçu als der gedachte, geplante und vorgestellte Raum (oder die Repräsentationen des Raums) und schließlich der espace veçu als der erlebte Raum (oder die Räume der Repräsentation) [Lefebvre 2000 (1974): 48f.]“ (Rau 2013: 49).
Lefebvre geht also davon aus, dass Räume durch Praxis und Wahrnehmung, kognitive Konstruktion und symbolische Repräsentation entstehen (vgl. Löw et al. 2005: 37). Das körperliche Erleben der Räume führt dazu, dass sich eine gelebte Praxis bildet, die wiederum dafür sorgt, dass sich räumliche Ordnung auch wiederholt. Auf diese Konzeption aufbauend, knüpft David Harvey später an, fügt
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4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
aber hinzu, dass der Raum auf Grund und Boden durch eine Kompression von Zeit und Raum reduziert wird (vgl. Harvey 2008: 36 – 60). „Der Wiederaufbau der Soziologie in Deutschland nach dem II. Weltkrieg gründet sich zunächst umfangreich auf Rezeptionen und Revisionen der Ansätze, die sich in den USA etabliert hatten“ (Löw et al. 2005: 39). Deutsche Forschende befassen sich somit eher mit der Stadtraumanalyse und der Sozialökologie (vgl. Atteslander et al. 1974). Erst mit Dieter Läpple (1991) beginnt wieder eine größere Diskussion zum Thema Raum in Deutschland an. „Er schlussfolgert, dass ein Raumkonzept, das gesellschaftliche Prozesse einbindet, weder neutrales Gefäß noch passive Resultante körperlicher Objekte sein dürfe, sondern auch die gesellschaftlichen Kräfte einbeziehen müsse, die die Raumstruktur gestalten“ (Löw et al. 2005: 40f.).
Der Raumdiskurs in der Soziologie dreht sich im 20. Jahrhundert vor allem um die Unterscheidung zwischen dem Behälter- und Beziehungsraum. Die Theorie um den Behälterraum hat gerade für diese Forschungsarbeit keinen Sinn und Zweck, da vor allem die Interaktionen, Handlungen und Mobilität der Akteure untersucht werden, und diese passen nicht in den „Behälter“. „Beziehungsraumkonzepte gehen hingegen von den Gegenständen aus [...] und beschreiben Raum als Ergebnis der Beziehungen zwischen diesen – sie konzipieren von innen nach außen, häufig ohne festgelegten Referenzpunkt“ (Löw et al. 2005: 42).
4.2
Das Raumkonzept dieser Untersuchung
In dieser Hinsicht ist Martina Löws Raumkonzept insofern grundlegend für die vorliegende Untersuchung, als es von einem Raum ausgeht, der von den Akteur*innen und deren Handlungen selbst produziert wird. „Alle neueren Ansätze gehen von der Kernvorstellung aus, dass Raum nicht länger als naturhaft gegebener materieller Hinter- oder erdgebundener Untergrund sozialer Prozesse unveränderbar und für alle gleichermaßen existent angenommen werden kann. Vielmehr wird Raum selbst als sozial produziert, damit sowohl Gesellschaft strukturierend als auch durch Gesellschaft strukturiert und im gesellschaftlichen Prozess sich verändernd begriffen“ (Löw et al. 2005: 31).
In den Feldbeobachtungen, Gruppendiskussionen und Interviews fällt insbesondere die Praxis der Akteure auf, auf autonome Weise und in stetiger Interaktion mit-, gegen- und/oder untereinander ihre eigenen Symboliken, Beschäftigungen, alltäglichen Rituale und habitualisierten, inkorporierten Handlungen, Repräsentationen und (Re)aktionen zu produzieren. Der Raum wird dadurch intensiv erlebt
4.2 Das Raumkonzept dieser Untersuchung
65
und gestaltet sowie durch habitualisierte Praktiken erfahrbar gemacht und wahrgenommen. „Gerade hinter dem Begriff des erlebten Raums (espace vécu [...]) steckt, wie bei Lefebvre zu sehen ist, alles andere als eine flüchtige Erlebniswelt, sondern ein viel komplexeres Konzept: ein mit habitualisierten Praktiken und Images versehener Raum, der von den Menschen gestaltet wurde und denselben Menschen umgekehrt ein gewisses Identifikationspotential bereitstellt“ (Rau 2013: 50).
So haben bspw. bestimmte Wohnbereiche im Stadtteil für jede*n Bewohner*in eine andere Funktion, Bedeutung und Symbolik aufgrund verschieden perzipierter Wahrnehmungen. Die Räume werden genutzt. Hierbei wird von einer Raumnutzung oder Raumaneignung gesprochen. Die Drogendealer nehmen einen bestimmten Wohnbereich als ihr Macht- und Kapitalterritorium wahr, wo die Eingangsbereiche zu den Wohnblöcken zu Drogenverkaufsstätten umfunktioniert werden, während die ‚normalen’ Bewohner*innen der Wohnblöcke den Wohnbereich als Hindernis und Barriere ihrer eigenen Freizeitaktivitäten bemerken. Somit spielen sich innerhalb des ‚Stadtteil’-Raums verschiedene Szenen ab, die sich kreuzen, nebeneinander verlaufen oder gegenseitig beeinflussen. „Eine weitere Form der Nutzung sind die Aneignungen (Appropriationen) bereits konstituierter Räume durch unterschiedliche Individuen oder Gruppen“ (Rau 2013: 186). Dadurch nehmen wir die Räume, in denen wir uns bewegen, individuell wahr. Sie sind sozial geprägt und sind damit konstruiert. Deshalb handelt es sich bei Räumen vielmehr um die Verhältnissetzung und das Ineinandergreifen räumlicher Ebenen: „Das Zimmer ist Teil einer Wohnung, diese ist Teil eines Hauses und dieses ist Teil eines Stadtteils etc. Ebenfalls lässt sich beobachten, dass dieselben Räume von verschiedenen Personen unterschiedlich wahrgenommen oder erinnert werden. Und dann tragen zur Raumwahrnehmung neben dem Sehen und Tasten auch noch andere Sinneswahrnehmungen bei: das Hören und das Riechen, die, wenn man sie zur Kenntnis nimmt, wieder andere Eindrücke hinterlassen. Versuchte man, aus diesen Eindrücken eine Zeichnung anzufertigen, sähe sie mit Sicherheit ganz anders aus, als wenn ein technischer Zeichner mit seinen Mess- und Maßstabsinstrumenten denselben Bereich zu Papier brächte. Diese schon im Alltag erkennbare Vielfalt der Konzepte gilt es ernst zu nehmen und auch für die Wissenschaft fruchtbar zu machen“ (Rau 2013: 54).
In dieser Forschungsarbeit wird zwischen physisch-absoluten und relationalen Räumen bzw. Sozialräumen unterschieden. Wenn von Raum die Rede ist, dann handelt es sich nicht um einen physisch-natürlichen also absoluten Raum wie z.B. eine Wohnung, eine Straße, ein Park oder ein Wohnblock, sondern um einen relationalen Raum als metaphorischer Begriff, der aber physisch-absolute Räume in-
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4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
korporiert. Der relationale Raum wird von den Menschen selbst gestaltet, ausgesucht und ihm eine Bedeutung gegeben und nicht anders herum. D.h., dass bspw. ein*e Graffitisprüher*in und seine*ihre verschiedenen Freund*innen, Familienangehörige und Bekannte wie die dazugehörigen jeweiligen Handlungen an ständig wechselnden oder an festen Orten den Raum konstituieren. An allen diesen Orten leben Menschen mit anderen zusammen und verbinden z.B. den Wohnblock und Park mit einer Bedeutung, Handlung oder einem Symbol. Aufgrund dessen können praktisch alle physischen Orte Teile des Raums des*der Graffitisprühers*Graffitisprüherin sein, wenn diese für ihr*sein Leben mit anderen wichtig sind. Der Park kann für sie*ihn bspw. aufgrund der nur flüchtigen sozialen Kontakte weniger wichtig sein als zum Beispiel die Bänke vor dem Wohnblock wo er/sie sich mit den anderen Freund*innen zum Diskutieren trifft. Zentral für diese Untersuchung sind, wie schon oben erwähnt, die Nutzung dieser Räume und die Praktiken, die darin stattfinden. Darunter fallen unter anderem die informellen Lernpraktiken, die den Raum produzieren und in dem diese auch stattfinden. „Zentral ist bei diesem Punkt zum einen, dass Räume durch Praktiken ‚gemacht’ werden; zum anderen, dass diese Praktiken ihre eigenen Logiken haben können, sie vorgegebenen Normen folgen, aber eben auch davon abweichen können. Als Oberbegriff wird hierfür der Terminus Raumpraktiken gewählt, im Sinne von (individuellen oder kollektiven) Handlungen, die praktischen (nicht theoretischen) Regeln folgen“ (Rau 2013: 183).
Martina Löw sowie später u.a. auch die Erziehungswissenschaftler Fabian Kessl und Christian Reutlinger (2007) weisen die ‚alte’ Definition des sozialen Raums der Natur- und Sozialwissenschaften zurück. Es handele sich nach ihnen beim sozialen Raum nicht um einen Container, in dem Handlungen von Menschen (als bewegten Raum) in einem an sich unbewegten/statischen, für sich kontinuierlich existierenden Raum stattfinden. Martina Löw schreibt hierzu: „Ich gehe (...) von einem Raum, der verschiedene Komponenten aufweist, aus. Das heißt, ich wende mich gegen die in der Soziologie übliche Trennung in einen sozialen und einen materiellen Raum, welche unterstellt, es könne ein Raum jenseits der materiellen Welt entstehen (sozialer Raum), oder aber es könne ein Raum von Menschen betrachtet werden, ohne dass diese Betrachtung gesellschaftlich vorkonstruiert wäre (materieller Raum). Analytisch gehe ich daher von einem sozialen Raum aus, der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten“ (Löw 2001: 15).
Räume werden von handelnden Personen konstruiert und sind eine relationale (An)Ordnung von Menschen und sozialen Gütern (vgl. Löw 2001: 224). Die Komponenten eines Raums sind dessen natürliche Bausteine und die sozialen Güter im Raum, die Menschen und ihre Beziehung zueinander.
4.3 Wie entsteht ein Raum?
67
Um weitere Missverständnisse zu vermeiden, soll hier Raum/Sozialraum weiterhin von dem in der Praxis der sozialen Arbeit verbreitete Konzept des Wohnbereichs bzw. der Wohneinheit in einem Stadtteil abgegrenzt werden: „In der sozialpädagogischen Sozialraumorientierung besteht dann die Gefahr, dass absolute Raumbegriffe ein Comeback erfahren [...]. Es wird in diesen Fällen schlicht davon ausgegangen, dass Sozialräume bestimmbare Quartiere, Wohnareale, Straßenzüge oder Häuserblöcke darstellten. Straße 1 bis Straße 5 werden als ‚ein Sozialraum’ beschrieben oder aber der Stadtteil X und der Bezirk Y“ (Kessl/Reutlinger 2007: 2829).
4.3
Wie entsteht ein Raum?
„Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu trennende Prozesse, die Syntheseleistung und das Spacing. Die Syntheseleistung ermöglicht es, Ensembles sozialer Güter und Menschen wie ein Element zusammenzufassen“ (Löw 2001: 224f). Das Spacing ist bei beweglichen Gütern oder Lebewesen der Moment der Platzierung wie auch die Bewegung zur nächsten Platzierung. Ein*e Graffitisprüher*in bspw. platziert sich alltäglich im Stadtteil vor den Wohnblockeingängen auf den Bänken um sich mit ihren/seinen Freund*innen zu unterhalten, verlässt aber nach ein bis zwei Stunden diesen physischen Ort und fährt wenig später mit dem Bus in einen anderen Stadtteil, um sich im Gebüsch neben dem UBahnschacht zu platzieren und ihre*seine Sprühaktion auf die U-Bahnwaggons abzuwarten. Das Warten vor dem Tunnel wäre demnach schon das nächste Spacing. Spacing kann aber auch durch Gedanken und Virtualität stattfinden, indem man sich an Orte mit Erinnerungen und Vorstellungen platziert. Die Syntheseleistung inkorporiert deshalb Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprozesse, in denen Güter und Menschen zusammengefasst werden (vgl. Löw 2001: 225). Der Stadtteil zum Beispiel ist ein Ort der Lokalisierung von Sozialräumen. Die jungen Männer dieser Untersuchung bspw. (inter-)agieren als Raum im Stadtteil, wie aber auch an anderen Orten außerhalb des Stadtteils. Dadurch verändert sich ihr Sozialraum nicht. Räume überschreiten Grenzen eines geographisch-physischen, absoluten Ortes und seine Funktionsfähigkeit. Die Spielräume des sozial konstituierten Raums sind verschiedene: zum einen gibt es den Raum als physische Umwelt mit den sozialen Gütern (z.B. das Wohnhochhaus im Wohnbereich oder die Bänke vor dem Wohnblockeingang) und Menschen (z.B. die jungen Männer dieser Untersuchung), zum anderen fließen die symbolischen Wirkungen der physischen Umwelt mit ein, die subjektiv wahrgenommen werden, wie beispiels-
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4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
weise die angespannte Atmosphäre im Wohnbereich zwischen den Drogendealerbanden und Bewohnenden. Hinzu kommt der Raum als in Besitz genommener Raum: die Wohnblockeingänge des Wohnbereichs gehören offiziell der Stadtgemeinde, aber sie wurden von den Drogendealern in Besitz genommen, mit Panzertüren und Kameraüberwachung ausgestattet und mit Gewalt bewacht und unter Kontrolle gehalten. Der Raum ist somit Besitz und Ausstattungs- und Machtfaktor. Daran anknüpfend spielt das institutionalisierte normative Regulationssystem des Raums eine große Rolle wie beispielsweise rechtliche Vorschriften zur Definition eines Gebietes, raumbezogene Verhaltensnormen, die Zugänge regeln, und Kontrollbeziehungen (wie eben mit der Inbesitznahme und Nutzung der Wohneingänge beschrieben). Betrachtet man den Raum als alltägliche Lebenswelt der*des Graffitisprüher*in beispielsweise genauer, so wird er jeweils vom handelnden Individuum konstruiert.
4.4
Wie sieht ein Raum aus?
Die Konstellation eines Raumes soll hier u.a. anhand eines Graffitisprühers veranschaulicht werden, der in einem mafiadominierten Stadtteil eines italienischen Peripheriebezirks wohnt. Zum Raum des Graffitisprühers gehören erstens unterschiedliche physische und virtuelle Orte: seine Wohnung in seinem Wohnbereich, der Weg vom seinem Wohnbereich in einen anderen Wohnbereich, die Bänke vor den Hochhauseingängen der anderen Wohnbereiche, das U-Bahndepot außerhalb seines Stadtteils, der Graffitishop im Stadtzentrum, der Parkplatz im benachbarten Bezirk als Arbeitsplatz, die Zugabstellgleise in einer Kleinstadt nicht weit von seiner Stadt, die Pizzeria im Einkaufszentrum seines Stadtteils, die Wohnung seines Schulfreundes, sein Computermusikprogramm und Facebook-Account. Zu all den eben aufgezählten Orten gehören zweitens die jeweiligen sozialen Beziehungen an diesen Orten: z.B. kann der Wohnblockeingang des Hauses 1 im benachbarten Wohnbereich, das U-Bahndepot außerhalb seines Stadtteils und die Wohnung seines Freundes für den Graffitisprüher der Raum sein, wenn/ weil er diese physischen Orte mit bestimmten Handlungen, Gedanken, Erinnerungen füllt – mal alleine, mal gemeinsam mit anderen Menschen. „An einem Ort können verschieden Räume entstehen, die nebeneinander sowie in Konkurrenz zueinander existieren bzw. in klassen- und geschlechtsspezifischen Kämpfen ausgehandelt werden“ (Löw 2001: 273). So kann der Wohnblockeingang des Hauses 1 einerseits ein Treffpunkt für den Graffitisprüher und seinen Schulfreund sein, an dem
4.5 Räume in und um einen Stadtteil
69
gemeinsame Gespräche geführt werden, andererseits ein Ort, an dem lokale kriminelle Banden aneinandergeraten und Streitigkeiten vor diesem Eingang ausführen (nebeneinander existierende Räume). Zugleich kann dieser aber auch von Drogendealern besetzt werden und die Freunde bei ihrem Gespräch unterbrochen und verscheucht werden (in Konkurrenz zueinander existierende Sozialräume). „Menschen sind in die Konstitution von Raum in zweifacher Hinsicht einbezogen. Zum einen können sie ein Bestandteil der zu Räumen verknüpften Elemente sein, zum zweiten ist die Verknüpfung selbst an menschliche Aktivität gebunden“ (Löw 2001: 224). Angsträume oder No-Go-Orte gehören somit drittens auch zum Raum: Weniger beim Graffitisprüher als bei seinem Schulfreund können die Verhaltensweisen und Handlungen bezogen auf Angsträume im Wohnbereich des Graffitisprühers beobachtet werden. In seinem Wohnbereich kontrollieren zwei Jugendbanden den Drogenmarkt und sein Schulfreund wird beim Durchlaufen des Wohnbereichs von Jugendlichen auf Motorrädern verfolgt, gepöbelt und mit sporadischer Gewaltanwendung bedroht. Der Schulfreund des Graffitisprühers interagiert auf einer abstrakten Ebene mit den Jugendbanden und die von den Jugendlichen ausgehenden Handlungen führen ihn zu einer Vermeidung des Wohnbereichs des Graffitisprühers, der trotzdem zu seinem Raum gehört, da dieser symbolisch für ihn ein Ort der ‚konkurrierenden’ physischen wie auch teilweise verbalen Interaktion ist. Der Graffitisprüher dagegen würde durch seinen Wohnbereich laufen und an die Stromkästen und Wohneingänge Tags sprühen ohne dass er etwas von Seiten der Banden zu befürchten hätte. Er interagiert mit seinem Wohnbereich nicht auf einer verbalen sondern auf einer physisch-künstlerischen Ebene, die wohl im Wohnbereich von den Bewohnenden respektiert oder schlichtweg ignoriert wird – solange sie nicht mit den Aktivitäten der Jugendbanden interferiert. Das bedeutet für die hier vorliegende Forschungsarbeit, dass für jede soziale Konstellation bzw. für jedes Milieu deren spezifischer Raum (neu) beschrieben und analysiert werden muss.
4.5
Räume in und um einen Stadtteil
Vor dem Wohnblockeingang des Hauses 1 stehen Betonbänke auf denen der Graffitisprüher und seine Freunde sitzen und miteinander sprechen. Das heißt konkret, dass der Wohnblockeingang nicht unbedingt aufgrund der Baustruktur und seiner Funktion als Eingang eine Bedeutung für den Graffitisprüher hat, sondern aufgrund des (zufälligen) Zusammenkommens und der (zufälligen) Diskussionsrunden mit seinen Freunden.
70
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
„In gleicher Weise wie Wahrnehmung beziehungsweise Erfahrungen sind auch Nutzungen ein wesentlicher Bestandteil der Raumkonstitution. Erst durch Nutzungen werden sie gewissermaßen gesellschaftlich aktiviert. Raumnutzungen zeigen sich in ganz verschiedener Weise: im Begehen eines Ortes, indem man hier sitzt oder dort debattiert; dabei kann man den vorgegebenen Empfehlungen (Regeln, Gepflogenheiten) folgen, wie etwa einem Redner zuhören, Fußball spielen, arbeiten, lernen, essen, beten. Indem man diese Tätigkeit jedes Mal verrichtet, wenn man sich innerhalb derselben räumlichen Konstellation befindet, entwickeln sich auch Nutzungsmuster beziehungsweise Regelmäßigkeiten“ (Rau 2013: 184).
Den Wohnblockeingang verbindet der Graffitisprüher mit dem sich ständig (re-)produzierenden Gewebe sozialer Praktiken (vgl. Kessl/Reutlinger 2007: 19), der Interaktionen mit Bekannten in Form von Zusammensitzen und unterhalten. Die Praktik kann sich aber jederzeit auf einen anderen physischen Ort verlagern. Was bleibt, ist die Verknüpfung zwischen dem Graffitisprüher und seinen Freunden und ihren Interaktionen. Somit sind diese Treffen in der Überschreitung physischer lokaler Grenzen mit seinen Freunden, Bekannten oder Verwandten der Raum des Graffitisprühers. Es handelt sich dabei um einen mobilen Raum. Dasselbe Prinzip findet sich auch im U-Bahndepot außerhalb des Stadtteils. Der Graffitisprüher geht zum U-Bahndepot, weil er gemeinsam mit einem Sprüher-Kollegen U-Bahnen bemalt. U-Bahnen zu bemalen, ist mit Spaß verbunden und ist somit eine soziale Praktik: Zwei junge Männer, die sich gut verstehen und ein gemeinsames Hobby ausüben, gehen malen. Das kann im U-Bahndepot außerhalb des Stadtteils oder in einem ganz anderen Bezirk sein. Neben diesen Orten und der dort existierenden Materialitäten gehören aber auch die gemeinsamen Aktionen mit dem Kollegen zum Raum des Graffitisprühers, der somit ein Ergebnis menschlichen Handelns ist (vgl. Kessl/Reutlinger: 23). Die soziale Beziehungsstruktur zwischen den beiden Sprühern ist dabei ein Element seines Raums. Beide verbinden das gleiche Hobby und die gleichen Handlungen, die wiederum den physischen Raum wie den der U-Bahn (soziales Gut) verändern und als Feld künstlerischer Aktivität konstruieren. Das Graffitibild ist eines der vielen Ergebnisse der Konstruktion des Raums von beiden Künstlern. Die Wohnung des Schulfreundes des Graffitisprühers als physisch-absoluter Raum ist z.B. mit einer Praktik verbunden, die dieser mit seinem Schulfreund des Öfteren vollzieht: das Kiffen. Beide sehen die Wohnung des Schulfreundes in Verbindung mit dem Haschisch als soziales Gut, in dem sich die Handlung prozessual verändert und bspw. vom Graffitimalen im U-Bahndepot zum gemeinsamen Kiffen und Abhängen in der Wohnung des Schulfreundes transformiert. Auch in diesem Fall ist die Wohnung als physisch-natürlicher Ort nicht vom Graffitisprüher und seinem Schulfreund als ‚Kifferbude’ im Vorfeld gebaut worden, sondern wurde durch die Handlung zu einem weiteren Ort ihres Raumes konstruiert. Die physischen vier Wände der Wohnung halten beide nicht auf, ihre Aktivitäten auch
4.5 Räume in und um einen Stadtteil
71
in den Park zu verlagern. Die gleiche Handlung kann also auch im Freien stattfinden ohne, dass die relationalen Verknüpfungen zwischen dem Graffiitisprüher und seinem Schulfreund oder sogar zwischen den anderen Menschen oder sozialen Gütern zerstört werden. Die Praktik ändert sich dadurch nur gering. Die zwischenmenschliche Konstellation und Relation bleibt weitgehend unverändert und von daher ist „menschliches Tun nicht direkt von räumlichen Zusammenhängen abhängig, allerdings auch keineswegs unabhängig von diesen“ (Kessl/Reutlinger 2007: 33). Was sich ändern würde, wäre die Lautstärke des Sprechens, oder es gäbe andere Gesprächsanlässe und Themen. Der Raum in seiner Gesamtheit ist nicht sichtbar, da es unmöglich wäre die relationalen Konstruktionen des Graffitisprühers als Ganzes in den Blick zu nehmen: Jeder Freund des Graffitisprühers wohnt in einem anderen Wohnbereich, die U-Bahndepots an denen er sich mit seinem Sprüherkollegen trifft, sind weit um seine Stadt herum verstreut und seine Freundin wohnt in einer anderen Stadt. Der Graffitisprüher selbst wohnt bei seinem Onkel, seine Eltern wohnen in einem anderen Bezirk. Der Raum ist als Ganzes nicht zu sehen, aber dennoch jedes ‚Element’ greifbar und erfassbar. Vielmehr müsste an dieser Stelle von Atmosphären gesprochen werden, die wahrnehmbar und eher erfassbar sind: „Atmosphären sind demnach die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung. Das bedeutet, Atmosphären entstehen durch Wahrnehmung von Wechselwirkungen zwischen Menschen oder/und aus der Außenwirkung sozialer Güter im Arrangement“ (Löw 2001: 205).
Wird bspw. das Handeln einer weiteren Gruppe junger Erwachsener aus demselben Stadtteil des Graffitisprüher beobachtet, wird ersichtlich, dass die Praktiken durch die Wechselwirkung zwischen den Drogendealern vor deren Haustür und ihnen als Gruppe beeinflusst werden. Die gedankliche und physische Abgrenzung der Freundesgruppe zu jeglichen Handlungen der Drogendealerbanden, die alltäglich und routiniert vor ihrer Haustür stattfindet, markiert eine ganz klare Positionierung in Relation zu anderen Platzierungen. Für die Freundesgruppe sind die Drogendealer Menschen, die sie als gefährlich wahrnehmen und mit denen so in Wechselwirkung eine Atmosphöre entsteht, die als angespannt beschrieben werden kann. Diese Atmosphäre jedoch ist sowohl Teil des Raums dieser Freundesgruppe als auch Teil des Raums der Drogendealer. All dies spielt sich zufällig oder doch bewusst im selben Wohnbereich ab, der als Ort verschiedener Sozialräume fungiert. „Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert. Orte werden durch Platzierung sozialer Güter oder Menschen kenntlich gemacht, verschwinden aber nicht mit den Gütern/Menschen, sondern stehen dann für andere Besetzungen zur Verfügung“ (Löw 2001: 224).
72
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
Orte, so wie Martina Löw sie beschreibt, sind bspw. die Stadtteile dieser hier vorliegenden Studie sowie die jeweilig inkludierten Wohnbereiche und Wohnungen. Das sind aber auch die U-Bahndepots, Fitnessstudios und Jugendzentren. An diesen Orten kommen und gehen Menschen, die entweder miteinander oder auch gar nicht verbunden sind. Das U-Bahndepot wird mal von den Graffitisprühern ‚besetzt’ und als ‚Sprühspielplatz’ genutzt, regelmäßig aber auch vom Sicherheitsund Reinigungspersonal wie auch von wiederum anderen Sprühern aus einer bspw. konkurrierenden Crew. Somit bleibt das U-Bahndepot ein Ort, der nicht mit den Sprühern, Reinigungskräften, Fahr- und Sicherheitspersonal verschwindet. Das U-Bahndepot bleibt und wird kontinuierlich neu „besetzt“. Das Besetzen schließt weder routinemäßige Rundgänge des Sicherheitspersonals noch sporadische Besuche der Sprüher aus. In allen Fällen handelt es sich aber um Räume die neben-, mit- oder gegeneinander sowie überlagernd und durchkreuzend das UBahndepot als einen Ort konstituieren, der „Ziel und Resultat der Platzierung“ (Löw 2001: 224) ist. Die U-Bahn ist z.B. auch ein Ort an dem verschiedene Räume mit den jeweiligen Symbolen und Wahrnehmungen entstehen. Für arbeitende Menschen beispielweise ist die U-Bahn ein schnelles und bequemes Fortbewegungsmittel zur Arbeitsstelle (soziales Gut) und für einen Graffitisprüher die mobile Projektionsfläche für seine künstlerischen Produkte, die von Pendler*innen evtl. entweder ignoriert oder als unleserlich und hässlich empfunden werden, von anderen Sprüher*innen aber verstanden werden und weitere (Re-)Aktionen auslösen. „Das Verhältnis von Flächen- und Sozialraum ist vielschichtig: An einem physischen Ort können unterschiedliche Sozialräume nebeneinander oder sich überlagernd existieren. Beispielsweise agieren (und konkurrieren) in einem Stadtteil, der von massiven Umstrukturierungsprozessen geprägt ist, verschiedene soziale Gruppen, Milieus und migrantische Netzwerke um Nutzungen und Bedeutungszuschreibungen des Flächenraumes. Andererseits kann sich ein Sozialraum auch plurilokal über mehrere Orte ausdehnen (Pries 2008a). Diasporische Gemeinden zum Beispiel bilden über weite Entfernungen hinweg soziale Beziehungsgeflechte, die durch kulturelle Praktiken und eine identitätsstiftende kollektive Verortung eines Herkunftsortes mehrere urbane Zentren miteinander verknüpfen“ (Wildner 2012: 217).
Raum entsteht, wie oben schon erwähnt, somit auch über den Computer und die jeweiligen Chatprogramme und Internetspiele. Hierbei handelt es sich um einen virtuellen Interaktionsraum (vgl. hierzu Otto & Kutscher 2004; Tillmann 2010; Tully 2009; Buschauer 2010). Am Beispiel vieler Jugendlicher heutzutage kann sehr deutlich die Konstruktion eines Raumes über digitale und virtuelle Systeme beobachtet werden. Dadurch werden zwei Räume gleichzeitig konstituiert „[...] mit der besonderen Zuspitzung, daß beide in Teilen wahrgenommen werden. Der Fußboden, auf dem man steht, die Gerüche der umgebenden Menschen werden
4.6 Räumliche Disparitäten und Ungleichheit im Raum
73
ebenso wahrgenommen wie die Geräusche und Farben der Computersimulation. Durch diese Überlappungen verwischen Wirklichkeit und Simulation“ (Löw 2001: 196).
Somit werden bspw. über Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse der heutigen Jugend und ihrer Internetchats Güter und Menschen zu einem Raum resümiert. Zusammengefasst ist der Stadtteil also als sozialer Raum zu verstehen, der kein Container ist, sondern ein Raum der Relationen. Menschen, Güter und Territorium spielen hierbei eine relationale und nicht zu trennende Rolle. Von daher sollten die Praktiken bei Marginalisierung immer aus der relationalen Raumperspektive betrachtet werden. Um Marginalisierung bezogen auf den relationalen Raum besser zu verstehen, sollen im Folgenden räumliche Disparitäten und Ungleichheiten im Raum erläutert werden.
4.6
Räumliche Disparitäten und Ungleichheit im Raum „Noch immer geht man von relativ geschlossenen Armutsquartieren aus und übersieht dabei oft genug, dass die meisten Quartiere heute in einem ständigen Umbruch sind und damit übergreifende Homogenität, welcher Provenienz auch immer, zunehmend verschwindet“ (Bukow et al. 2007: 25).
Auch wenn diese Aussage von Wolf-Dietrich Bukow und Erika Schulze sicherlich stimmt – vor allem bezogen auf Stadtteile in Deutschland, die von den eben genannten Forschenden untersucht wurden –, kann dies nicht von den Quartieren behauptet werden, die in dieser Arbeit untersucht wurden. Tatsächlich gehen Bukow und Schulze auch bewusst nicht auf bestimmte Hochhaussiedlung ihrer Untersuchungsstadt ein, die „faktisch als ‚soziale Brennpunkte’ konzipiert wurden und damit für die Bewohner[*innen] zur Falle wurden, in der sie zu ewigen Modernisierungsverlierern verurteilt werden“ (Bukow et al. 2007: 26). Hier geht es aber gerade um die Wohnviertel, die seit ihrer Entstehung konstant marginalisiert sind bzw. schon mit dem Gedanken der Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen gebaut worden sind (vgl. hierzu auch Kapitel 5.1.2). Um diese Marginalisierung besser zu verstehen, soll im Folgenden auf den Begriff und die Inhalte von Marginalisierung eingegangen werden. Was haben Segregation und Stigmatisierung mit Marginalisierung zu tun? Inwiefern ist ein marginalisierter Stadtteil ein Ghetto?
74
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
„Es ist zunächst unstrittig, dass nur ein Bruchteil marginalisierter Akteure/innen in ‚benachteiligten Gebieten’ wohnt. Ebenfalls empirisch gesichert ist die Einsicht, dass nicht alle Bewohner/innen ‚benachteiligter Gebiete’ benachteiligte bzw. marginalisierte Akteure/innen sind. Analytisch wie konzeptionell scheint es daher notwendig, Wirkungen der sozialen Lage und Quartierseffekte zu differenzieren. Versäumt man es zwischen Dynamiken, die durch den lokalen Sozialraum strukturiert sind und Dynamiken, die mit den Verortungen der Akteure/innen im gesellschaftlichen ‚sozialen Raum’ [Bourdieu] zusammenhängen, zu unterscheiden, produziert man schnell ökologische Fehlschlüsse, die auch hinsichtlich möglicher Handlungsempfehlungen auf Basis solcher ‚Erkenntnisse’ zu – gelinde gesagt – zweifelhaften Vorstellungen führen. So finden sich auch im aktuellen Sozialraumdiskurs deutliche Tendenzen zu Unteraggregationen, wenn z.B. Problemkonstellationen, die in einem viel breiteren gesellschaftlichen Verursachungskomplex verortet sind – wie etwa Armut oder Arbeitslosigkeit – auf jenen Sozialraum zurückgeführt werden, in dem sie sichtbar werden, weil beispielsweise überdurchschnittlich viele arme und arbeitslose Menschen dort leben" (Landhäußer 2005: 7).
In dieser Arbeit wurde der passende Begriff zur Benennung der sozialen Situation der beiden Untersuchungsstadtteile nach der Typologie jugendlicher Entwicklungswege ausgesucht. „Der Typ der Segregation kennt eine klare Abgrenzung zur Erwachsenengeneration und deren Vorstellungen. [...] Zentral ist die Entwicklung einer jugendlichen Subkultur. Sein primärer Bezugspunkt ist deshalb die peer-group“ (Ottersbach 2009: 67). Viel unklarer fällt dagegen die Orientierung der marginalisierten Typen aus. „Er verfügt weder über eine Zukunfts- noch über eine Gegenwartsorientierung [...]. Keine klare Zeitperspektive und eine hohe Orientierungslosigkeit kennzeichnen diesen Typen jugendlicher Entwicklungswege“ (Ottersbach 2009: 68). So behauptet Ottersbach (2009), dass der Typ der Segregation noch Chancen hätte den „Absprung“ aus einem marginalisierten Quartier zu schaffen, der Typ der Marginalisierung jedoch nicht (vgl. Ottersbach 2009: 69). „Seine Form des Protests ist eher nach innen gerichtet, sie spiegelt keinen Widerstand, sondern eher Desorientierung, Hoffnungslosigkeit, Apathie und Resignation wider. [...] Seine Chance, den Absprung noch zu schaffen, tendiert gen Null“ (Ottersbach 2009: 69). Marginalisierte Quartiere sind Stadtviertel mit spezifischen strukturellen Problemen. Laut Ottersbach handelt es sich dabei um wirtschaftlich schwache und politisch vernachlässigte Quartiere, teilweise auch um kulturell verödete und mit sozialen Problemen belastete Siedlungen oder Vororte (vgl. Ottersbach 2009). Zu den Kennzeichen marginalisierter Stadtteile gehören eine schlechte Infrastruktur (schlechte Versorgung mit Schulen, Arztpraxen, sozialen und kulturellen Einrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten), eine schlechte Bausubstanz (alte, unsanierte Häuser, dünne Wände etc.) sowie geringe Attraktivität (wenig Grünflächen, Hochhäuser etc.). Dies hat zur Folge, dass ein hoher Anteil armer Menschen in diesen Wohngebieten leben (vgl. Ottersbach 2009: 58f.). „Das negative Image eines
4.7 Segregation
75
Quartiers, das aufgrund eigener Erfahrungen oder aufgrund von Vorurteilen dem Quartier aufgedrückt wird, schränkt [...] sowohl nach innen [...] als auch nach außen [...] die Handlungsmöglichkeiten der Bewohner[*innen] weiter ein“ (Häussermann/Kronauer 2009: 121). Zusammenfassend wird festgestellt, dass die räumliche Lage die soziale Lage bestimmt. Marginalisierung ist eine Praxis der Wohnungs- und Sozialpolitik.
4.7
Segregation
Der Begriff der urbanen Segregation beschreibt zunächst die unterschiedliche Verteilung von Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Stadtgebietes (vgl. Häussermann 2008 & 2009). Segregation kann dabei anhand sehr unterschiedlicher Merkmale bestimmt werden. Geht es jedoch um ihre Beschreibung und Einordnung als ein Phänomen gesellschaftlicher Ungleichheit, wird sie häufig anhand solcher Differenzkategorien gefasst. Es handelt sich dabei um eine „Übersetzung sozialer Distanz in räumliche Distanz“, die für strukturelle Ungleichheiten ohnehin dominant ist, etwa Ethnizität und soziale Klasse. Die international vergleichende Forschung verweist zwar auf eher moderate Werte ethnischer Segregation in Europa (im Kontrast zu den USA z.B. Musterd 2005); gleichermaßen zeigt sie jedoch auch, dass soziale Segregation hier stetig wächst (z.B. Marcińczak et al. 2016). Dieser Befund ist mit neueren Analysen zur Entwicklung deutscher Städte deckungsgleich (Friedrichs & Triemer 2009). Weitere Arbeiten betonen zudem die Verschränkung von sozialer, ethnischer und demographischer Segregation. So verdeutlicht Strohmeier (2010: 318): „Dort wo die meisten ‚Ausländer‘1 leben, wohnen die meisten armen Leute und hier wachsen die meisten Kinder in den Städten auf“. Diese Aspekte beschreiben Segregation zunächst als ein makrosoziales Strukturphänomen. Daneben eignet sich ihr jedoch auch eine semantische Dimension, insofern städtische Räume das Ziel von Zuschreibungen werden, die sich ihrerseits auf die Bewohnenden der jeweiligen Stadtteile übertragen. So entwickeln sich um benachteiligte Quartiere herum vielfach stigmatisierende Zuschreibungen und Diskurse, welche die marginalisierte Position ihrer Bewohnenden durch Formen „territorialer Stigmatisierung“ symbolisch verfestigen (Wacquant 2008: 106; vgl. auch Belina 2013: 90f.). Segregierte Quartiere sind Stadtteile, Straßenzüge oder Sozialräume (z. B. Wohnblockgruppen), die innerhalb einer Stadt, meist räumlich abgeschottet
1
Hier wird von Strohmeier eine Aussage eines Politikers absichtlich im O-Ton zitiert.
76
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
und/oder schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, einer hohen Konzentration an sozialer Ungleichheit aufgrund niedrigen Einkommens, Bildungsbenachteiligung und/oder ethnischer Ausgrenzung ausgesetzt sind (vgl. Keller 2011: 238-247). Dies bedeutet auch, dass die Bevölkerung bezogen auf ihre soziale Zusammensetzung sehr homogen ist, was jedoch nicht heißt, dass ein Stadtteil mit hohem Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund auch gleichzeitig ein armes Wohngebiet ist. Die Studie von Elizabeth D. Huttman aus dem Jahr 1991 verdeutlicht, wie ethnische und soziale Segregation in Westdeutschland entstand und inwiefern auch die Wohnbaugesellschaften und städtischen Institutionen einen Einfluss auf die Verteilung von Wohnungen hatten (vgl. Huttman 1991: 116 ff.). Zusammenfassend kann bei Segregation von ungleicher Verteilung von Menschen aus sozialen Lagen im Stadtraum sowie einer Konzentration von Armut und Minderheiten gesprochen werden. Diese eben genannten Situationen werden durch Stigmatisierungsprozesse verstärkt, die im Folgenden nun werden.
4.8
Stigma(-tisierung) „Ein Stigma kann [...] als physisches, psychisches oder soziales Merkmal, als Eigenschaft oder als Verhaltensweise verstanden werden, durch die eine Einzelperson oder eine Personengruppe sich von den übrigen Mitgliedern einer sozialen Gruppe unterscheidet. Es sorgt dafür, dass seinem Merkmalsträger eine negative Bewertung zugesprochen wird, die soziale Deklassierung, Isolation und allgemeine Verachtung zur Folge haben kann. Die mangelnde Akzeptanz kann bewirken, dass sich die Träger von Stigmata mit einer Vielzahl negativer Reaktionen konfrontiert sehen“ (Buchholz 2016: 49).
Somit ist ein Stigma mit einem Stempel zu vergleichen, welcher Menschen, baulichen Strukturen, sozialen Räumen und Territorien ‚aufgedrückt’ oder gar ‚eingebrannt’ wird, um eine Kategorisierung zu verursachen und Schubladen zu bilden. Dabei wird der Inhalt hinter dem Stempel nicht genauer betrachtet und fundierter analysiert. Hinter Stigmata verbergen sich einerseits Vereinfachungen von komplexen sozialen Systemen und andererseits die Verkomplizierung dieser durch Differenzierungen, Trennungen und Ausschlüssen. All dies wird zudem durch Diffamierung, Herabwürdigung und Erniedrigung ergänzt. Die Aufgabe der Wissenschaft ist für eine De-Stigmatisierung zu sorgen, indem hinter die Kulissen geschaut wird ohne zu werten und ohne den Räumen sowie Akteur*innen Attribute zuzuschreiben. Das heißt dann auch, dass die Forschenden die kleinen Elemente, Netzwerke und Verbindungen beachten und näher betrachten. Der kanadische Soziologe Goffman glaubt,
4.8 Stigma(-tisierung)
77
„dass jede Gesellschaft Mittel zur Kategorisierung von Individuen bereitstellt, die es ermöglichen, den Mitgliedern bestimmter Kategorien spezifische Attribute zuzuschreiben. Die Assoziation dieser Attribute mit bestimmten Personengruppen wird von den einzelnen Mitgliedern einer sozialen Gruppe als normal oder gewöhnlich empfunden. Die tägliche Routine sozialer Kontakte veranlasst Individuen dazu, spezifische Anforderungen an ihre Interaktionspartner zu richten“ (Buchholz 2016: 50f.).
Ferner zeigt Goffman mit folgendem Zitat, dass gesellschaftliche Stigmatisierung ein sozialer Prozess und meist von außen gesteuert ist: „Stigma – die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist“ (Goffman 1967: 7). Während Goffman Stigmata auf drei sehr weit gefasste Kategorien verteilt, fokussiert sich der französische Soziologe Loïc Wacquant auf den sozialen Raum als markanten Anker sozialer Diskreditierung (vgl. Wacquant et al. 2014: 1272). Der soziale Raum wird somit zum Stigma:2 „To Bourdieu’s founding proposition that symbolic power contributes to ‘making and unmaking groups’ by cutting up social space in ways that (de)mobilize putative members, Wacquant (2014a) adds the crucial mediation of place as material container, social crossroads, and mental imagery carrying deep emotional valences, in and through which collectives will emerge (or not) through struggles to establish claims over the built environment“ (Wacquant et al. 2014: 1272).
Bourdieus und Goffmans theoretische Perspektiven sind nicht nur kompatibel, sondern sogar komplementär. „Bourdieu works from above, following the flow of efficient representations from symbolic authorities such as state, science, church, the law, and journalism, down to their repercussions upon institutional operations, social practices, and the self; Goffman works from below, tracing the effects of procedures of sense-making and techniques of ‘management of spoiled identity’ across encounters and their aggregations into organizations“ (vgl. Wacquant 2014: 1272).
Stigmata können also die Verhaltensweisen, die Emotionen und die Vorstellungen, Überzeugungen und den Glauben der Stigmatisierten beeinflussen und verändern. Dadurch werden auch gleichzeitig Räume und Raumpraktiken beeinflusst und verändert (vgl. Major/O’Brien 2005: 397ff.). Dies hat psychologische Ausmaße, die Goffman (1963) in seinem Buch Stigma: Notes on the Management of a Spoiled Identity erwähnt. Durch Stigmata werden Personen oder Personengruppen als verdorben gesehen und als nicht-relevant reduziert (Goffman 1963: 3). Dies führt zu einem niedrigeren Selbstwertgefühl innerhalb der stigmatisierten 2
Loïc Wacquant geht nicht wie in dieser vorliegenden Studie von einem anderen Begriff des sozialen Raums aus. Er sieht den Raum als einen Container. Stigma wird aber in dieser Studie in Verbindung mit dem relationalen sozialen Raum gesehen.
78
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
Gruppe und zu einem gesamtgesellschaftlichen Verständnis von Wertlosigkeit gegenüber der stigmatisierten Gruppe (vgl. Crocker et al. 1998: 505). Solche Stigmata werden nicht nur durch stigmatisierte Räume, Identitäten, Verhaltensweisen, Personengruppen etc., sondern auch durch geographisch-physische Bauten verstärkt. (vgl. Fava 2007: 105ff.). So sind bestimmte Stadtteile in gewissen Städten aufgrund der darin wohnenden Menschen auch baulich stigmatisiert. Dies wird medial verstärkt, indem immer wieder dieselben Wohnhochhäuser, Straßenecken und Hauseingänge bildlich gezeigt werden und die stigmatisierten Menschen zusätzlich noch interviewt werden, um die Stigmatisierung zu erhöhen. Hinzukommt das besondere Hervorheben sprachlicher und körperlicher Merkmale, die von anderen Bevölkerungsgruppen abweichen (vgl. Fava 2007: 105ff.). Solche Handlungen sind Zuschreibungen, die von außen an die Stigmatisierten getragen werden. Goffman geht beim sozialen Stigma davon aus, dass es sich um eine Zuschreibung handelt, die ein Individuum oder eine ganze Gruppe klassifiziert. Es geht um Kategorien, die kreiert werden, um Normabweichungen ‚abstempeln’ zu können. In diesem Zusammenhang werden soziale Räume teilweise auch absichtlich geschaffen und geographisch sowie physisch verortet, um eine möglichst große Entfernung zwischen den Stigmatisierenden und den Stigmatisierten zu erreichen (vgl. Wutich et al. 2014; Wacquant et al. 2014: 1273). Goffman definiert Stigma als eine ganz spezielle Art von Kluft zwischen virtueller sozialer Identität und eigentlicher sozialer Identität (vgl. Goffman 1963: 2). Territoriale Stigmatisierung führt Praktiken der sozialen Differenzierung und Distanzierung herbei (vgl. Wacquant 2008: 183). Dies führt dann zu erhöhter Gefahr anderen Menschen nicht mehr zu trauen und dadurch die Solidarität untereinander aufzugeben. Dies kann auch innerhalb von bereits gesellschaftlich und territorial stigmatisierten Stadtteilen geschehen: bspw. zwischen verschiedenen Wohnbereichen oder innerhalb von Wohnblocksektoren oder -eingängen, die sich aufgrund von Herkunft, sozialem Background oder Bildungsorientierungen unterscheiden (vgl. Wacquant 2008: 172f.). Dies führt oftmals dazu, dass sich die bereits gesellschaftlich und medial stigmatisierten Bewohnenden gegenseitig noch einmal verstärkt stigmatisieren. Somit werden bspw. bestimmte Nachbar*innen als Analphabeten oder als Kleinkriminelle abgewertet, um wiederum für sich eine Aufwertung der eigenen Situation zu erreichen, z.B. durch das besondere Hervorheben eines Abiturabschlusses oder durch den besonders liebevollen Umgang mit den Kindern in der Familie. Es wird durch diese Abwertungen / Aufwertungen Druck unter den Bewohnenden erzeugt (Wacquant 2008: 183) und die Stigmatisierung vervielfacht sich auf allen Ebenen: vom gesellschaftlich-sozialen Stigma zum territorialen und lokalen Mikrostigma. Durch diese räumlichen Stigmatisierungen, die auf einer Mikroebene in den Wohnbereichen der Stadtteile stattfinden, entfalten die Bewohnenden verschiedene Strategien der sozialen Distinktionen und Rückzüge, um Gemeinschaft und Bindungen zu vermeiden (vgl. Wacquant 2008: 183). Wacquant
4.8 Stigma(-tisierung)
79
hat basierend auf den Werken des französischen Soziologen Serge Paugam (1991: 193 – 205), drei Hauptformen dieser sozialen Distinktionsstrategien hervorgehoben: „mutual avoidance, the reconstitution and elaboration of ‚infra-differences’ or microhierarchies detectable only at ground level, and the diversion of public opprobrium onto scapegoats such as notorious ‚problem families’ and foreigners, or drug dealers and single mothers“ (Wacquant 2008: 183).
Somit versuchen viele Bewohnende aus marginalisierten Stadtteilen sich öffentlich nicht mit dem Stadtteil zu identifizieren und sich als nicht zugehörig darzustellen. Dabei wird konkret angesprochen, dass man auf sich allein gestellt sei und mit den ‚Drogendealern’ oder ‚Junkies’ oder generell mit den Aktivitäten auf der Straße nichts zu tun habe (Wacquant 2008: 184). Es handelt sich um materielle und symbolische Distanzierungen, die dafür sorgen, dass soziale Räume, Bindungen und Netzwerke brüchig werden und nicht mehr als solche funktionieren (Wacquant 2008: 184). Dies führt eher zu Kleingruppierungen, die unter sich bleiben und mit den anderen Gemeinschaften nicht kommunizieren (vgl. Wacquant 2008: 184). Der soziale Raum wird somit zum Stigma, wenn die Akteur*innen durch ihre Selbstwahrnehmung unter hohem Leidensdruck stehen und von ihren sozialen Netzwerken abgeschnitten oder ignoriert werden. Der schlechte Ruf untereinander wird von den Bewohnenden stigmatisierter Stadtteile verstärkt (vgl. Wacquant et al. 2014: 1275). Hinzukommt die gegenseitige Vermeidung der Nachbarn und die Diskriminierung auf Grund der Stadtteilherkunft bei der Arbeitssuche. Hier wird innerhalb wie auch außerhalb des Stadtteils der soziale Raum zum Stigma. Zu der Stigmatisierung trägt zudem die Polizeipräsenz wie auch die Gesundheitsdienstleistungen bei, die in ihrer Qualität entweder überpräsent aggressiv oder unterbesetzt-lethargisch sind. Einen weiteren erheblichen Einfluss zur räumlichen Stigmatisierung leisten die Berichterstattungen und Analysen von Journalist*innen, Forschenden und Politiker*innen (vgl. Wacquant et al. 2014: 1275). Abschließend kommen die Meinungen, Entscheidungen und Ansichten von Staatsbeamten hinzu, die über den Markt, die Vermarktung, die Arbeitsperspektiven und die Instandsetzung der Stadtteile entscheiden. All diese eben erwähnten Stigmata führen zu einer (Re-)Produktion von räumlicher Marginalisierung. Somit entsteht Marginalisierung durch Segregation und durch Stigmatisierung.
80
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
4.9
Segregation + Stigmatisierung = Marginalisierung „[I]n einen marginalisierten Zustand gerät eine Region oder ein Quartier erst, wenn neben der Segregation auch eine Stigmatisierung stattfindet. Die Unterscheidung dieser beiden Prozesse ist wichtig, da nicht jede segregierte Region oder jedes segregierte Quartier auch gleichzeitig einem Stigma unterliegt“ (Ottersbach 2009: 53).
Zusätzlich kommt noch ein weiterer Prozess hinzu, der zur Marginalisierung von Regionen oder Stadtteilen führt: die Polarisierung. Der Prozess der Polarisierung findet nach Ottersbach (2009) folgendermaßen statt: -
„De-Industrialisierung (d.h. Abbau traditioneller Industriezweige wie z.B. des Bergbaus oder der Stahlindustrie im Ruhrgebiet oder in der Saarregion) [...] Rationalisierung von Produktionsabläufen sowohl im sekundären als auch im tertiäre[n] Sektor mit dem Ziel der Produktivitätssteigerung [...] Globalisierung der Arbeitsmärkte (d.h. Verlagerung gering qualifizierter Arbeitsplätze im ‚Billiglohnländer’ oder in Länder mit geringen Umweltauflagen) [...] Re-Industrialisierung durch die Informations- und Kommunikationstechnologie [...] [...] [politische] Vernachlässigung von Quartieren mit Menschen ohne deutschen Pass bzw. ohne Pass eines EU-Mitgliedsstaats [...] Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen (wie z.B. der Verkauf von Sozialwohnungen, öffentlicher Verkehrsmittel etc.) [...] [Zurückfahren] staatlich geförderter Wohnungsprogramme [...] [Hang] der Kommunen zur Absicherung der Städte als Wirtschaftsorte (wie z.B. die Förderung von ‚Kultur’ und Tourismus, um die Attraktivität des Standorts für Unternehmen zu sichern [...] [...] Wegzug des Mittelstands aus von Armut betroffenen Gebieten mit der Folge, dass überwiegend ärmere Bevölkerungsschichten in diesen Quartieren zurückbleiben“ (Ottersbach 2009: 54).
Da alle diese Prozesse Marginalisierung hervorrufen, soll in dieser Arbeit genau dieser Begriff genutzt werden. Deshalb wird hier nicht allein von segregierten oder polarisierten sowie stigmatisierten Stadtteilen gesprochen. Trotz allem ist der Begriff der Marginalisierung für diese Arbeit ein noch zu allgemeiner Begriff, den es bzgl. der einzelnen Untersuchungsstadtteile zu schärfen gilt. Im Folgenden sollen also zuerst die Typen marginalisierter Quartiere vorgestellt und dann, bezogen auf die Untersuchungsstadtteile, genauer analysiert werden. Dabei werden Fakten und Untersuchungen aus Italien hinzugezogen, wie bspw. von den Untersuchungsrichtern Falcone und Borsellino oder vom investigativen Journalisten Roberto Saviano. Zudem entstammen viele der folgenden Zitate Untersuchungen der italienischen Antimafiabehörde.
4.9 Segregation + Stigmatisierung = Marginalisierung
4.9.1
81
Typen marginalisierter Stadtteile
Ottersbach (2009) teilt marginalisierte Quartiere in Deutschland in fünf verschiedene Typen auf, die hier kurz zusammengefasst werden sollen. Zum ersten Quartierstyp gehören Stadtteile in Vororten, „die von großen Umstrukturierungsprozessen betroffen sind. Sie sind einerseits durch einen Abzug oder Abbruch traditioneller Industriezweige, andererseits durch eine Zunahme des tertiären Sektors gekennzeichnet“ (Ottersbach 2009: 59). In diesen Wohnvierteln befanden sich früher Industrieanlagen, die durch Freizeit- und Konsumeinrichtungen ersetzt wurden. Zum zweiten Typ gehören Stadtteile, „die in der BRD in den 80er Jahren schon von so genannten Gentrifizierungsprozessen betroffen waren und deren Erscheinungsbild sich grundlegend gewandelt hat“ (Ottersbach 2009: 60). In diesen Fällen wohnt meist nicht mehr die einheimische Bevölkerung, sondern eher besserverdienende Menschen. Trotz allem gibt es in einigen Fällen noch innerhalb dieser Wohnviertel kleine Wohnbereiche, die von ärmeren Menschen bewohnt werden. Ottersbach fasst aber zusammen, dass es sich „[i]m Grunde genommen [...] eher um ehemalige marginalisierte Quartiere [handelt]. Man muss diesen Typen aber berücksichtigen, um zu zeigen, dass der Zustand der Marginalisierung nicht notwendigerweise ewig währen muss“ (Ottersbach 2009: 60). Großwohnsiedlungen, „die im Zuge der rapiden Bevölkerungszunahme der Großstädte in den alten Bundesländern als Maßnahme der Wohnraumbeschaffung außerhalb der Großstädte und innerhalb der sog. Trabantenstädte entstanden sind“ (Ottersbach 2009: 60) gehören zum dritten Quartierstyp. Diese Stadtteile haben zwar eine hohe Konzentration an Sozialwohnungen, aber an den öffentlichen Nahverkehr gut angebunden und seit den 1990er Jahren auch renoviert worden und zumeist mit Freizeit- und Kultureinrichtungen ausgestattet. Bei dem vierten Typen handelt es sich um Siedlungen, die am Rande von bürgerlichen Vororten entstanden sind und in vielerlei Hinsicht als marginalisiert zu bezeichnen sind. „Sie unterscheiden sich von den eben beschriebenen Trabantenstädten durch die Größe und teilweise auch fehlende oder nur marginal vorhandene eigene Infrastruktur [...], die sie stattdessen von den angrenzenden bürgerlichen Vororten nutzen“ (Ottersbach 2009: 61). Es handelt sich dabei um Wohnblockanlagen oder so genannte Wohnparks, die in den 1960er und 1970er Jahren entstanden, um die Wohnungsnot einzudämmen. Als fünften und letzten Typ erwähnt Ottersbach die Trabantenstädte der ehemaligen DDR bzw. der neuen Bundesländer. „Diese Art der Ansiedlung von Wohnraum ist eher mit der Architektur und der Infrastruktur der französischen Vorstädte vergleichbar als mit den Quartieren in den Trabantenstädten der alten Bundesrepublik“ (Ottersbach 2009: 62). Auch wenn viele dieser Siedlungen saniert worden sind, fehlt es an einer geeigneten Infrastruktur, die (jugend-)kulturelle Belange und soziale Einrichtungen einbeziehen. Urbane Marginalisierung ist, wie eben erläutert, nicht überall gleich. Es gibt viele verschiedene gesellschaftliche, politische und soziale Situationen, Milieus
82
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
und Räume, die Marginalisierung unterschiedlich aussehen lassen. Das Wort Ghetto wird gerade von den Medien, aber auch von den Einwohner*innen selbst des Öfteren benutzt. Aber können die Untersuchungsstadtteile Ghettos genannt werden oder handelt es sich nicht ‚einfach nur’ um marginalisierte Stadtteile oder, wie Wacquant es formuliert, um Anti-Ghettos? Da in einigen Interviews mit den Akteuren das Wort Ghetto3 im Zusammenhang mit den untersuchten Stadtteilen des Öfteren benutzt wurde, wird in diesem Kapitel der Begriff etwas genauer betrachtet, um zu schauen, ob es sich sowohl bei den italienischen als auch bei den deutschen Quartieren um Ghettos handelt. Schließlich wird von den jungen Männern sowohl implizit als auch explizit immer wieder auf eine teilweise doppelte Marginalisierung hingewiesen (vgl. alle drei Empiriekapitel). Wacquant unterscheidet in seinem Buch Urban Outcasts drei verschiedene Ghetto-Typen: mit Communal Ghettos sind die Stadtteile in den USA gemeint, in denen Afroamerikaner*innen in den 1950er Jahren wohnten und sich eine selbstorganisierte und stark untereinander vernetzte Community bildete. Zusammengefasst, eine Parellelwelt, „a ’black city within the white’“ (Wacquant 2008b: 114). Von Hyperghetto wird bezogen auf die heutigen Stadtteile in den USA, in denen ausschließlich Afroamerikaner*innen leben, gesprochen, die sowohl sozial, ethnisch als auch beruflich marginalisiert sind. Zusätzlich existieren keine informellen Banden innerhalb des Quartiers und zwischen den Bewohnenden (vgl. Wacquant 2008a: 57ff). Außerdem sind die sog. Hyperghettos urban und infrastrukturell verwahrlost und teilweise stark verfallen. Ein Anti-Ghetto dagegen trifft eher auf die westeuropäischen Stadtteile wie z.B. die banlieues in Frankreich zu. Diese Stadtteile sind nicht unbedingt ethnisch marginalisiert, da unterschiedliche Einwanderungsgruppen vermischt und die Marginalisierungsgrenzen löchriger seien als in den USA. Das bedeutet, dass in Europa Bewohnende der AntiGhettos Möglichkeiten zum Aufstieg und zum Stadtteilwechsel haben (vgl. ebd.: 192ff.). Problematisch ist jedoch die kontinuierliche Stigmatisierung dieser Stadtteile durch Politik und Medien (vgl. Wacquant 2008b: 116).
Diese Erkenntnis durch Wacquant ist sicherlich für diese vorliegende Studie von großer Relevanz und die Anti-Ghetto-These trifft für die meisten europäischen Stadtteile, die von Marginalisierung betroffen sind, zu. Was jedoch Wacquant nicht angesprochen bzw. deutlicher hervorgehoben hat, ist die Marginalisierung und Isolation innerhalb der schon marginalisierten und stigmatisierten Quartiere 3
In der Auseinandersetzung mit der Thematik des jüdischen Ghettos ergibt sich die Frage, inwieweit sich die Begrifflichkeit des Ghettos auch auf heutige soziale Brennpunkte und verwahrloste Stadtteile übertragen lässt. Ist der Begriff „Ghetto“ unter geschichtlichem Aspekt betrachtet nicht zu kritisch, um heutige segregierte urbane Außenbezirke als Ghetto zu bezeichnen? [vgl. hierzu unter The Holocaust Encyclopedia: https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/ghettos (abgerufen am 3.5.2019)].
4.9 Segregation + Stigmatisierung = Marginalisierung
83
durch die organisierte Kriminalität.4 Hier sollte von einer Isolation innerhalb einer Marginalisierung gesprochen werden. Die Frage ist, ob die organisierte Kriminalität Zusammenhalt und informelle Kommunikationsbande zwischen den Bewohnenden in den Anti-Ghettos produziert oder weitere Marginalisierung durch Gewalt und Macht aufzwängt und somit die These eines Anti-Ghettos überarbeitet werden sollte. „In the American hyperghetto, criminality is more economic than ludic; violence is pandemic because of the dominance of the informal economy over the wage-labour sector and the breakdown of both public and private institutions“ (Wacquant 2008a: 213). Diese Aussage trifft bspw. ebenso auf die italienischen, von der Mafia dominierten Stadtteile wie auch das hier untersuchte italienische Quartier zu. Diese Charakteristika haben aber nach Wacquant Anti-Ghettos in Europa nicht. Tatsächlich spricht Wacquant an späterer Stelle von Ausnahmen, die die süditalienischen Städte angehen und dies sollte in Bezug auf das italienische Untersuchungsquartier berücksichtigt werden. Hinzuzufügen wäre aber nicht nur der italienische Süden, sondern auch der Norden (vgl. hierzu Saviano 2011). “If the convergence between Europe and the United States, one implies that self-reinforcing cycles of ecological disrepair, social deprivation and violence, eventually leading to spatial emptying and institutional abandonment, are now operative on the Continent, the again the answer is negative. This is because European zones of urban exile which constitute the lower nodes of polarization, as it were, remain – with few exceptions such as some southern Italian cities and with reservations about the British case – deeply penetrated by the state” (Wacquant 2008a: 274).
„But discrimination and segregation must not be confounded with ghettoization“ (Wacquant 2008a: 273). Einige der italienischen Stadtteile können vielleicht nicht mit den afroamerikanischen Hyperghettos verglichen, aber genauso nicht einfach nur als marginalisiert oder als Anti-Ghetto bezeichnet werden. Es handelt sich in Italien um eine stark sozial segregierte Unterschicht, die zusätzlich von der organisierten Kriminalität mit psychischer und physischer Gewalt über Jahrzehnte ghettoisiert wurde und die auf Grund der eisernen Schweigepflicht keine Möglichkeit bietet auszubrechen. Besonders die familiale Bande ermöglicht dies nicht, da diese zu einer kompletten sozialen Kontrolle führt (vgl. Falcone 1991; vgl. Lo Verso 1998). Werden noch Inzestfälle hinzugefügt, die dazu führen sollen, dass diese familialen Bande durch Druck und häusliche Gewalt gewollt, ungewollt und/oder manipuliert noch stärker wird (vgl. Casarubbea/Blandano 1991; Lo Verso 1998; Scaglione 2011; Bottone 2016; ViceNews 2016; Romolini 2016), und die Absenz des Staates bezüglich Arbeitsmöglichkeiten, Arbeitslosengeld, Schutz 4
Zudem scheint Wacquant auch nicht festgestellt zu haben, dass die Lage der Sinti und Roma – in diesem Fall handelt es sich um ethnische Segregation – gerade in Italien zu den kritischsten in Europa gehören (Amnesty International 2012, 18. September).
84
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
vor der Kriminalität und eines angemessenen Gesundheitssystems sowie Stigmata seitens der Medien und Arbeitgeber*innen bezüglich der Wohnadresse, dann handelt es sich zwar um keine ethnischen, aber um mafiabedingte Hyperghettos. Wacquants Bezüge auf die enorme Kriminalitäts-, Gewalt- und Mordrate in den amerikanischen Hyperghettos ist sicherlich nicht mit Italien und schon gar nicht mit dem restlichen Europa zu vergleichen. Trotz allem beachtet er nicht, welche Ausmaße die Korruption in Italien auch bezüglich der Kriminalitätsstatistiken angenommen hat. Dies soll nun im folgenden Unterkapitel näher erklärt werden.
4.9.2
Marginalisierung in Mafiadominierten Stadtteilen
Elijah Anderson (1999) spricht von einem Code/ einer Kultur der Straße und die kann man durchaus auf die italienischen, aber auch deutschen Stadtteile beziehen. In Italien ist die Mafia und die Politik daran interessiert, dass es bei einer Kultur der Armut und der Mafia bleibt. Dies geht nicht von den Bewohnenden in diesen Stadtteilen aus, sondern von einigen sehr gewalttätigen und ökonomisch und militärisch mächtigen Mafiafamilien. Wenn man sich die italienische Geschichte der Briganten, die ständigen Besetzungen durch ausländische Truppen und Könige in der Vergangenheit anguckt (vgl. Falcone 1991; Behan 2009; Morlicchio & Morniroli 2013; Teti 2013; Felice 2013), dann ist dies ein sehr großes soziales Problem, das durchaus Hyperghetto-Maße erreicht. Schließlich sind auch die Afroamerikaner*innen US-Amerikanische Staatsbürger*innen, die segregiert leben (müssen). Es sind zwar zwei verschiedene historische Hintergründe, aber durchaus mit einigen dieser Marginalisierungsprozesse vergleichbar. Der große Unterschied zu den US-amerikanischen Hyperghettos ist, dass es sich in den hier untersuchten Stadtteilen nicht um eine „racial segmentation“ handelt. Es geht vor allem um eine ganz bewusst gewollte „social segmentation“ durch Politik und Mafia mit dem Ziel noch bessere Geschäfte zu erzielen. Der Begriff Hyperghetto passt diesbezüglich trotzdem zu den mafiadominierten Stadtteilen und Kleinstädten Italiens. Dies soll nun anhand von historischen Beispielen erklärt werden: Anfang der 60er Jahre wurden in verschiedenen italienischen Städten Bebauungskonzepte erstellt, um Bewohnende, die beispielweise von schweren Erdbeben, Wohnungsnöten oder aufgrund vorheriger prekärer Wohnverhältnisse (z.B. Barackensiedlungen) sowie von Gentrifizierung betroffen waren, günstigen Wohnraum zu bieten. Durch diese Bebauungspläne entstanden in ganz Italien Sozialwohnungen, die meist in enormen Hochhaussiedlungen errichtet wurden. Der Bau von Parkanlagen, Treffpunkten und Plätzen wurde dabei ‚vergessen’. Meist gab es nicht einmal einen Namen für diese Aneinanderreihung von Wohnhausanlagen. Viele dieser Wohnsiedlungen wurden nach den Bebauungsgesetzen „167“
4.9 Segregation + Stigmatisierung = Marginalisierung
85
oder „219“ benannt und erst viele Jahrzehnte später mit individuellen Namen ausgestattet (vgl. Garozzi 1997: 28). Das Hauptproblem dieser Stadtteilstrukturen ist, dass sie durch ihre Weitläufigkeit und Zerstreutheit, kein kompaktes System ermöglicht, das zur Identifizierung der Einwohner mit diesen Vierteln beiträgt. Es fehlen die entsprechenden Strukturen für Veranstaltungen, für Austausch, für Vielfältigkeit und für Sicherheit. Aus der städtebaulich aufgelösten Beschafenheit folgt ein Gefühl des emotionalen Aufgelöst- und Vernachlässigtseins. Dazu trägt auch die mangelhafte Ausstattung der Stadtteile mit Dienstleistungen und Gemeinschaftseinrichtungen bei und das Fehlen eines Netzwerkes mit produktiven und wirtschaftlichen Initiativen. Viele ungenutzte Flächen ergeben sich durch nicht fertig gestellte Wohnbereiche oder wegen der Verwahrlosung bestimmter Ausstattungen. Zudem werden viele dieser Stadtteile seit Jahrzehnten nicht mehr vom italienischen Staat kontrolliert, sondern von mafiösen Familienclans, die im vergangenen Jahrhundert zu weltweit operierenden und mächtigen Institutionen geworden sind (vgl. Falcone 1991; Sicari 2004; Saviano 2006; Behan 2009; Saviano 2011 & 2013). Diese Stadtteilbauprojekte wurden nicht selten auch in Zusammenarbeit mit der Mafia erstellt und somit teilweise absichtlich marginalisiert gebaut, um bestimmten illegalen Geschäften besser nachgehen (vgl. Garozzi 1997: 28; Sicari 2004: 152; Saviano 2006: 75f.; Behan 2009: 130f.; Saviano 2011: 67f.) und das Territorium besser überwachen zu können (Mortellaro 2013: 26f.). In Stadtteilen in denen die Mafia ‚regiert’ und ‚verwaltet’, kann und darf nichts verändert werden, solange es die Mafia nicht selbst tut. Ein Priester, der bspw. ein Kultur- oder Sozialzentrum oder ein Spielplatz bauen möchte, darf dies nicht tun. Er darf auch keine Debatten organisieren oder ein Buch präsentieren (vgl. Pilato 2009: 104). All dies ist in solchen Stadtteilen verboten und deshalb ist hier von einer doppelten Marginalisierung zu sprechen, die so in Deutschland nicht existiert (vgl. Ottersbach 2009). In bestimmten italienischen Regionen und Städten können selbst Kleinkriminelle nicht das tun was die Mafia nicht vorher erlaubt (vgl. Falcone 1991: 126; Saviano 2006: 79). ‚Normale’ Bewohnende müssen bei einer Gewalttat weggucken und den Tatort sofort verlassen. Sie dürfen auch keine Hilfe und schon gar nicht die Gesetzeshüter rufen (vgl. Gratteri/Nicaso 2011: 64f.). Die Mafia in Italien kontrolliert ganze Städte und Stadtteile nicht nur durch die üblichen illegalen Aktivitäten wie Schutzgelderpressung, Drogenverkauf, Glücksspiel, Prostitution und Wucherei, sondern auch durch den direkten Kontakt mit der Politik (vgl. Behan 2009: 130). Dazu gehören natürlich auch Stadtplaner*innen und Infrastrukturpolitiker*innen. Die Mafia entscheidet somit auch, welche Familien in welchen Wohnblöcken leben dürfen und welche dagegen mit psychischer oder physischer Gewalt verdrängt werden (vgl. Cirrincione 2007: 6; Immesi 2013; Buccini 2017). Dies führt zu organisierter und bewusst ausgeübter Segregation ganzer Stadtteile
86
4 Sozialer Raum im Kontext von Marginalisierung
oder Städte. Die Bewohnenden solcher Wohngegenden werden durch solche Gewaltanwendungen enorm in ihrer mentalen und physischen Mobilität eingeschränkt und verursacht dadurch eine hochisolierte, manipulierte und ausgenutzte Bevölkerung. „So bilden sich sozialräumliche Milieus, die selbst weitere Benachteiligungen [...] mit sich bringen. Die räumliche Konzentration von Benachteiligten mündet also in benachteiligenden Quartieren, die Ausgrenzungsprozesse hervorrufen oder verstärken“ (Häussermann; Kronauer 2009: 121). Dadurch entstehen ganz eigene Stadtteilkulturen, die an Mentalitäten, Sozialisationsinstanzen und Habitualisierungen der Mafia gebunden sind. Von daher ist von einer Kultur der Mafia, die eine Kultur der Armut und der Unterschicht durchaus bewusst pflegt, zu sprechen. Das bedeutet aber nicht, dass in diesen Stadtteilen nichts Unabhängiges oder Paralleles geschieht und keine autonomen Lernprozesse durchgeführt werden. Die Jugendlichen vor den Wohnblöcken sind nicht Jugendliche, die einfach nur ‚abhängen’ und mit Drogen dealen. Es verbirgt sich viel mehr. Nur ist die Lebensweise von diesen benachteiligenden ‚Symptomen’ beeinflusst und dadurch werden bestimmte Handlungen erschwert, die jedoch durch bestimmte Überwältigungsstrategien zu einer Alltagsnormalität und zu einer psychischen Flucht aus der Marginalisierung werden. Hierbei spielen Raumpraktiken eine große Rolle, die dafür sorgen, dass man sich im Quartier ein Hilfenetz aufbaut und versucht, den Sozialraum, soweit es geht, in die Handlungen einzubeziehen, um sich nicht gänzlich auszugrenzen. Hierbei geht es um einen kompromissbereiten Umgang mit dem Sozialraum und dies beeinflusst dementsprechend die Raumpraktiken (vgl. hierzu auch Häussermann/Kronauer 2009: 114f.). Das Risiko dieser kompromissbereiten Raumpraktiken oder dieser informellen Unterstützungsnetzwerke ist aber gleichzeitig, dass gewisse Lebensstile dem Sozialraum angepasst bleiben müssen. Die verschiedenen Stigmata von außen und innen steuern natürlich eine eigene Sozialraumkultur, eine eigene Raummentalität, die dazu führt, dass man nur schwer aus diesem habitualisierten Lebensstil herauskommt und diesen auch nur schwer vor Außenstehenden verstecken kann (vgl. hierzu Major/O’Brien 2005: 397ff.; Fava 2008: 171ff.). Dies führt dann des Öfteren dazu, dass diese Lebensweise offen ausgetragen wird – teilweise auch als stiller Protest konzipiert (vgl. hierzu Major/O’Brien 2005: 397ff.; Fava 2008: 125ff.). „Die permanente Erfahrung, mit dem eigenen Verhalten und mit den angeeigneten Normen außerhalb des Milieus auf Ablehnung zu stoßen, führt zu reaktiven Verstärkung und weiterer Distanzierung von der ‚normalen’ Gesellschaft“ (Häussermann/Kronauer 2009: 123).
Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass Marginalisierung ein Resultat sozialer Prozesse ist, wie deutlich an der These der Hyper- und Anti-Ghettos von Wacquant sowie anhand der kombinierten Kapitel zum sozialen Raum und
4.9 Segregation + Stigmatisierung = Marginalisierung
87
zur Segregation sowie Stigmatisierung nachvollzogen werden konnte. Dies soll in den empirischen Kapiteln analysiert werden.
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie Die Studie zielt auf die Rekonstruktion von informellen Lernhandlungen und Praktiken der Raumaneignung junger Männer in marginalisierten Stadtteilen im deutsch-italienischen Vergleich ab. Die Studie ist ethnografisch angelegt, weil Praktiken informellen Lernens im Zentrum stehen und diese durch Beobachtung im Feld am Besten zu rekonstruieren sind. Die Ethnografie hat vier fundamentale Kennzeichen: Die sozialen Praktiken sind der Gegenstand (1), die Versprachlichung findet durch das Schreiben statt (2), ein integrierter Ansatz bezogen auf die Methoden (3) sowie die unmittelbare Erfahrung prägen die Feldforschung (4) (vgl. hierzu Breidenstein et al. 2013: 32). „Die Individuen [...] der Ethnografie sind nicht Personen, sondern Situationen, Szenen, Milieus – Einheiten, die über eine eigene Ordnung und Logik verfügen“ (Breidenstein et al. 2013: 32). Folgende Fragen haben diese Studie in Bewegung gebracht und während ihrer Entstehung begleitet: - In welcher Art und Weise beziehen sich junge Männer auf ihre Sozialräume? - Inwiefern setzen sie sich zu diesen in ein Verhältnis? - Welche Rolle kommt in diesem Kontext den Praktiken der formellen wie informellen Bildung zu? - Inwiefern wird sozialräumliche Segregation als Erfahrungsraum der untersuchten Akteure für die Realisierung, Organisation und institutionelle Steuerung von Bildungs- bzw. Vermittlungsprozessen relevant? Die Abwesenheit eines gut funktionierenden Grundsicherungsleistungssystems spielen in Italien allgemein eine äußerst relevante Rolle. Im italienischen Untersuchungsstadtteil kommt noch die Präsenz der organisierten Kriminalität hinzu, die informelle Lernprozesse der zitierten Akteure beeinflusst. Die systematische Zerstörung oder Behinderung von formeller Bildung in Stadtteilschulen durch die Abwesenheit der staatlichen Kontrolle und der Präsenz der Mafia erschweren die Freizeit- und Lernpraktiken. Die dadurch entstehenden Bewältigungspraktiken sind von daher besonders interessant. Gerade diesbezüglich entsteht die ganz zentrale Frage dieser Arbeit: Welche Bewältigungspraktiken entwickeln junge Männer in ihrer marginalisierten Lage? Wie bereits vorher festgestellt, sind die zwei untersuchten Stadtteile von verschiedenen Exklusionsdynamiken betroffen. Diese sollen im weiteren Verlauf der Arbeit genauer untersucht, analysiert und erläutert werden. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_5
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Prinzipiell werden in dieser Arbeit erst einmal die Freizeitpraktiken der jungen Männer untersucht, die dann den Charakter einer Bewältigungsform bzw. Bewältigungspraktik annehmen. D.h. die Freizeitpraktiken werden durch die Lebenslagen der Jugendlichen beeinflusst. Der Raum dieser Praktiken ist die Peergroup. Sie ist der Ort, an dem bzw. von dem ausgehend die Praktiken stattfinden und überhaupt erst gelernt werden können. Aus den oben formulierten Fragestellungen und Zielen der hier vorliegenden Arbeit lassen sich folgende forschungsleitende Annahmen ableiten, welche im Verlauf der Analyse ausdifferenziert werden: 1. Der Mangel und/oder das mangelhafte Angebot an formellen sowie nonformalen Bildungsangeboten führt zu einem Versagen der Sozial- und Kulturarbeit und einer Kapitulation des Staates gegenüber jungen marginalisierten Männern sowohl in Italien als auch in Deutschland. 2. Die informellen Bildungspraktiken junger Männer in marginalisierten Stadtteilen unterscheiden sich aufgrund der unterschiedlichen Sozialund Wirtschaftssysteme in Italien und Deutschland. 3. Geringe gesellschaftliche Partizipation von sozial benachteiligten Jugendlichen der Auslöser für „[...] Orientierungslosigkeit, fehlender Ehrgeiz, Antriebslosigkeit, Interessenlosigkeit, mangelhafte Kommunikation, fehlendes Selbstwertgefühl, fehlende Aufgeschlossenheit oder schlechte Umgangsformen“ (Winterhoff 2011: 14) ist. 4. Erfahrungslernen gehört zur Bildung eines jeden Jugendlichen mindestens genauso dazu wie die institutionelle Bildung (vgl. Rauschenbach et al.). 5. Junge Männer werden mit ihren eigenen Bildungspraktiken, subkulturellen Interessen und Verantwortungen nur selten wahrgenommen und in gesellschaftliche Bildungsprozesse einbezogen (vgl. Youniss 1997; Delgado 2006). Mit der interaktionistischen Ethnografie sollen die Fragen bezogen auf die Handlungs- und Interaktionspraxis untersucht und mit der dokumentarischen Methode Lernprozesse sichtbar gemacht werden. Die dokumentarische Methode interpretiert das Wissen der Akteur*innen, das auf der Seinsverbundenheit1 der Letzteren beruht. Durch die Einbindung der dokumentarischen Methode sollen die jeweiligen ethnografisch analysierten Typen „in [ihren] spezifischen Ausprägungen sichtbar gemacht, auf diese Weise aber auch validiert und präzisiert werden“ (Bohnsack 2013a: 253).
1
Nach Karl Mannheim: existentielle Bestimmung, Relativität allen Denkens.
5.1 Feldzugänge und Untersuchungsmethode
5.1
91
Feldzugänge und Untersuchungsmethode
Das methodische Vorgehen dieser Arbeit ist als ein ethnografisches (vgl. Breidenstein et al. 2013; Emerson et al. 2011; Madden 2010) einzustufen. Hierbei handelt es sich um eine interaktionistische ethnografische Studie. Der Verlauf dieser Untersuchung ist in mehrere Schritte untergliedert: Nach einer intensiven Literatur-Recherche zum informellen Lernen, mehreren besuchten Seminaren zu diesem Thema und einer ersten Aufarbeitung des Forschungsstands, entstand eine Sammlung und Auswertung der verschiedenen Texte, Artikel und Schriftstücke. Die Basis dieser Forschungsarbeit bildet die interaktionistische Ethnografie mit einem sehr partizipativen Zugang zu den Akteuren. Entscheidend für diese Untersuchung sind vor allem die intensiven Feldforschungen, die Partizipation des Ethnografen an fast allen Praktiken und die damit verbundenen teilnehmenden Beobachtungen, die in einem engen Vertrauensverhältnis mit den jungen Männern über mehrere Wochen durchgeführt wurden und der partizipative Ansatz, der den Akteuren ermöglichte sich an der Forschungsarbeit zu beteiligen. Sie nahmen an den Gruppendiskussionen und Einzelinterviews teil und ‚leiteten’ sie dann praktisch selbständig. Sie erlernten teilweise auch Interviewtechniken und führten eigene Interviews in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld. Die interaktionistische Ethnografie basiert auf den Studien der Interaktionist*innen der Chicagoer Schule, „die zugänglich und bescheiden von fremden Lebenswelten berichten (vgl. Dellwing et al. 2012: 12). Im Zentrum der (interaktionistischen) Ethnografie steht das „Wie?“ und nicht das „Warum?“. Das bedeutet, dass Handlungsprozesse im Vordergrund stehen und nicht die Motivation dahinter. Es geht um die Rekonstruktion der „Ordnung von Praktiken“, damit verständlich werden kann, „in welch aufwändiger Detailarbeit etwas (für diese Welten) scheinbar Selbstverständliches geleistet wird“ (Dellwing et al. 2012: 13). Ethnograf*innen nehmen an den Praktiken teil und ‚mischen sich unter die Leute’. D.h., dass sie auch gewisse Regeln der Sozialwissenschaften und der Soziologie brechen, um Handlungen so authentisch wie möglich zu beobachten, zu dokumentieren und später zu rekonstruieren. „Da es gerade um ‚Einlassen’ auf fremde Welten geht, tritt jede mitgebrachte Methodik in den Hintergrund, wenn Feldanpassung etwas anderes erfordert“ (Dellwing et al. 2012: 9). Der amerikanische Soziologen John Lofland bemängelt, dass sich gewisse Forschende als Expert*innen einer gewissen Thematik oder einer gewissen sozialen Lebensweise darstellen, obwohl sie lediglich Interviews geführt und die Praktiken sowie Handlungen gar nicht miterlebt und beobachtet haben. Interaktionistische Ethnografie bedeutet auch einerseits mit den Akteur*innen zu interagieren und andererseits die Interaktionen der Akteur*innen zu beobachten (vgl. Lofland 1976: 12). Auch Erving Goffmann kritisierte 1968 in seinem Werk „The Neglected Situation“ die Soziologie
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
für ihren Abstand gegenüber den eigentlichen Handlungen, Interaktionen und Perspektiven der Akteur*innen (vgl. Goffman 1968: 135). Es handele sich dabei um soziale Situationen, die durch die Variablenforschung der Soziologie untergehen würden: “According to this definition, a social situation arises whenever two or more individuals find themselves in one another's immediate presence, and it lasts until the next-to-last person leaves” (Goffman 1964: 135). Goffmans Kritik gegenüber der viel zu theoretischen Soziologie sowie sein Konzept der sozialen Situation zeigen wie wichtig der Fokus auf den Raum und die Akteur*innen bei der interaktionistischen Ethnografie ist. Es geht um einen offenen Umgang mit den sozialen Situationen, die die Forschenden erwarten. Wie bei Goffman, ist die prinzipielle Frage der interaktionistischen Ethnografie: „Was ist hier eigentlich los?“ (vgl. von Lehn 2014). „Inspiriert von den Beobachtungsstudien, die Robert Park [...] und seine [Studierenden] zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Chicago durchgeführt hatten, verlegte sich die interaktionistische Ethnografie weitestgehend auf ‚naturalistische’ Beobachtungen im Feld“ (von Lehn 2014). Es geht um Vorbeobachtungen, die dann zu einer im Feld, um dann wiederum besser ‚hinter die Kulissen’ blicken zu können. Das bedeutet für die Ethnograf*innen, dass improvisiert werden muss, um das Feld bis in die vorerst nicht sichtbaren Details zu erkunden: „Wenn Ethnograf[*]innen eine interaktionistische Haltung einnehmen, dann gehen sie, so Dellwing und Prus, davon aus, dass Teilnehmende in Situationen handlungsfähig bleiben, indem sie sich nicht darauf verlassen, dass alles so abläuft wie immer, sondern bereit und vorbereitet sind, kreativ zu handeln und zu improvisieren, um die Lage zu meistern“ (vom Lehn 2014: 8).
Das bedeutet somit, dass interaktionistische Ethnograf*innen eine Multiperspektivität des Alltags akzeptieren und diese auch mit in ihre Forschungsarbeiten einbinden (vgl. vom Lehn 2014). Von größter Relevanz ist dabei auch, dass die Forschenden „die interaktive Konstitution von Intersubjektivität zu erfassen suchen“ und genau gucken, wie die Akteur*innen „den Sinn und die Bedeutungen, die ‚Objekte’ in der Situation ‚haben’, miteinander aus- und verhandeln“ (vom Lehn 2014). Hierzu dient die teilnehmende Beobachtung als wichtigstes Element einer interaktionistischen Ethnografie, denn „Interaktionisten sehen den Menschen nicht als einsames Individuum, das Bedeutungen vorschlägt und mit anderen aushandelt [...], auch nicht als Reproduktionsmaschine sozial gegebener Bedeutungen [...,] sondern als Wesen, das sich selbst als Objekt wahrnehmen kann und seine eigene Position kontinuierlich im Zusammenspiel mit anderen 'minded beings', selbstbezogenen-reflexiven Wesen, in beständiger Anpassung aushandelt“ (Dellwing/Prus 2012: 31).
5.1 Feldzugänge und Untersuchungsmethode
93
Nur durch Immersion ins Feld und akkurate Beobachtungen können diese Zusammenspiele rekonstruiert werden. Somit ist auch für diese hier vorliegende Forschungsarbeit die teilnehmende Beobachtung ein Kerninstrument in Kombination mit den qualitativen Einzelinterviews und Gruppendiskussionen. Die teilnehmende Beobachtung an sich führte zu vielen weiteren Forschungsfragen, Hypothesen und vor allem Methoden, die diese Untersuchung orchestrieren. Es entwickelten sich dadurch ganz neue Dimensionen, die auch stark von der Lebens, Denk- und Handlungsweise der jungen Männer beeinflusst wurden. Die hier genutzten ethnografischen Mittel sind somit wie in einschlägiger Literatur beschrieben (vgl. Breidenstein et al. 2013; Falzon 2009; Emerson et al. 2011) eher als integrierter Forschungsansatz und weniger als Methode zu sehen. Durch das geduldige Beobachten der vielen Handlungen wurden Mikrokosmen sichtbar, die so vorher nicht auffielen und nur durch die Präsenz im Feld (vgl. Gajek 2014: 53) sichtbar wurden. Diese Mikrokosmen wurden durch narrative Interviews und Gruppendiskussionen fundierter und gezielter untersucht. Die Anwesenheit im Forschungsfeld war für diese Untersuchung folglich unabdingbar und für die Ethnografie ist sie eine Grundbedingung (vgl. Breidenstein et al. 2013: 18).
5.1.1
Stadtteil- und Peerethnografie
Die Ethnografie hat ihre Ursprünge in der britischen Sozialanthropologie, in der amerikanischen Kulturanthropologie sowie in der qualitativen Soziologie der Chicagoer Schule (vgl. O’Reilly, 2009: 3). Der Terminus „Ethnografie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „über Menschen schreiben“ (vgl. Madden 2010: 18). Eine der zentralen Fragen in der Ethnografie ist: Was ist die fremde Kultur für die*den Fremde*n selbst? Diese Frage deutet auch auf die Ursprünge der Ethnografie hin, die in der ethnologischen Kulturanalyse liegen. Die ethnologische Kulturanalyse ist ein Zweig der Anthropologie. Sie analysiert Kulturen vor allem bezüglich ihrer historischen Entwicklung und vergleicht diese mit anderen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszufinden. Zwar ist es heute gängig Feldforschung zu betreiben, aber dies war zu Beginn der Ethnologie – Mitte des 19. Jahrhunderts – nicht der Fall. „Die meisten Ethnolog[*innen] zogen den Expeditionen nämlich eine andere Methode vor: Sie blieben zu Hause in ihren Bibliotheken und stellten ihre Theorien über fremde Kulturen auf der Basis dessen an, was sie über ferne Länder und Leute lasen“ (Breidenstein et al. 2013: 14). In der Chicagoer Schule dagegen war die Feldforschung essentiell. Die Beobachtung von sozialen und kulturellen Handlungen aus dem Geschehen heraus wurde geradezu vorausgesetzt. Man sollte „ein Gespür für Situationen entwickeln“ (Breidenstein et al. 2013: 23) und durch Erfahrungen lernen. So wurde in der Feldforschung mehr Gewicht auf die Fantasie der Ethnograf*innen gelegt, was den
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Zugang zum Feld und zu den Akteur*innen anging, und weniger auf die Methoden. „[Die*der] Feldforscher[*in] sollte ein[*e] hellhörige[*r] und scharfsichtige[*r] Indiziensammler[*in] sein, [die*]der kleine Details aufspürt, um sich anhand solcher interessanter Scherben einen Reim auf größere Zusammenhänge zu machen“ (Breidenstein et al. 2013: 23). Da es in dieser Forschungsarbeit u.a. darum geht Alltagswissen zu rekonstruieren, also implizites und kein theoretisches, kognitives oder sprachlich verfasstes Wissen, ist die dritte Traditionslinie der Ethnografie, die Alltagssoziologie, von besonderer Relevanz. Alltagserfahrungen können durch das ethnografische Beobachten plötzlich fremd wirken. „Das weitgehend Vertraute wird dann betrachtet, als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch befremdet: es wird auf Distanz zum [Beobachtenden] gebracht“ (Breidenstein et al. 2013: 25). Somit wird man zum Fremden in der eigenen Kultur. Die Methode, die die „Normalität des Alltags“ als Forschungsgegenstand hatte, wurde von Alfred Schütz begründet (Schütz/Luckmann 1979) und von Erving Goffman (1982; 1986) und Harold Garfinkel (1967) weiterentwickelt, die zur Untersuchung verschoben werden musste (vgl. Breidenstein et al. 2013: 26f.). Das Alltagswissen hat „eine Eigenschaft, über die weder schulisches noch wissenschaftliches Wissen verfügen: Es ist völlig zweifelsfrei“ (Breidenstein et al. 2013: 26). In dieser Untersuchung wird genau dieses Alltagswissen von jungen Männern in den untersuchten Sozialwohnsiedlungen rekonstruiert, denn es sind Informationen, die Routinen aufzeigen, die die Akteure selbst nicht mehr als Routinen sehen. Sie sind in deren Leben und geben eine feste Ordnung und Struktur im Alltag. Es geht in der Alltagssoziologie nicht um eine Kulturuntersuchung durch Texte, Erzählungen oder verbal-intellektuelle Daten, sondern u.a. auch um non-verbale kulturelle Praktiken. Es geht um das implizite, verkörperte Wissen, das selten bewusst reflektiert wird. „Mit diesem praktischen Wissen, wie etwas zu tun ist, vollziehen sie (wir) zugleich ihre (unsere) kulturellen Annahmen darüber, woraus die soziale Welt besteht“ (Breidenstein et al. 2013: 29). Um dieses implizite, unbewusste Wissen aus der Routine herauszuholen und zu untersuchen, bedarf es einer Herangehensweise nach dem Soziologen Harvey Sacks: doing being ordinary (vgl. Sacks 1984). „Das doing ist also die methodologische Maxime der Ethnomethodologie; die Maxime lautet: Betrachte jedes Phänomen so, als würde es gerade erst gemacht“ (Breidenstein et al. 2013: 30). Dabei geht es auch um ganz belanglose Details, die sowohl den Akteur*innen als auch den Forschenden erst einmal nicht wichtig erscheinen, die jedoch zur Routine dazu gehören und den Alltag formen und strukturieren. „Oft sind es nur kurze Sätze, kleine Situationen am Rande, die gar nicht im Zentrum der eigentlich beobachteten Handlung stehen, die aber im Verlauf einer Forschung entscheidende Erkenntnisprozesse auslösen“ (Gajek 2014: 61). Was Ehn et al. als „The Importance of Small Things“ (2016) betrachten,
5.1 Feldzugänge und Untersuchungsmethode
95
ist für die Ethnografie tatsächlich von größter Bedeutung. Die Sammlung und Untersuchung all dieser Elemente führt zu einem großen Gesamtbild. Dies ist nur durch Rekonstruktion möglich und hierfür werden verschiedene Methoden benötigt. In dieser Studie wurden bspw. ethnografische Beobachtungen mit Gruppendiskussionen und Einzelinterviews verbunden.
5.1.2
Auswahl und Zugang zu den Stadtteilen
Für mich stand von Anfang an fest, dass ich einen italienischen Stadtteil in meine Untersuchung einbinden wollte, da ich durch langjährige Arbeit als Straßensozialarbeiter in eben diesen Gebieten festgestellt hatte, dass soziale Marginalisierung in Italien teilweise enorm unterschiedlich als in anderen europäischen Ländern bzw. Deutschland ist. Somit war klar, dass ein marginalisierter Stadtteil aus Italien einen sehr guten Kontrast zu einem in Deutschland bieten und dadurch die teilweise unterschiedlichen, aber eben auch sehr ähnlichen Herangehensweisen von deutschen und italienischen Jugendlichen aus sozial benachteiligten Quartieren besser verdeutlichen würde. In Italien gibt es ein geringer ausgeprägtes Wohlfahrtstaatssystem als in Deutschland (vgl. hierzu Zarattini/Pelusi 2017); dies erschwert das alltägliche Überleben armer Bürger*innen. Zudem kommen noch die korrupten Stadtverwaltungen einzelner Klein- sowie Großstädte in Italien hinzu, die ein ‚sicheres’ Leben, wie es in großen Teilen Deutschlands ist, nicht möglich machen (vgl. hierzu D’Ambrosio 2014; Gelmini 2018; Walter/Santucci 2012; Vitale/Garzonio 2010). Mit der Korruption geht auch die organisierte Kriminalität einher, die dafür sorgt, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen sehr isoliert und sozial, infrastrukturell und kulturell wie auch teilweise ethnisch beeinträchtigt leben. Für diese kulturvergleichende Untersuchung sind auch die unterschiedlichen Marginalisierungszustände sowie -erfahrungen von großer Relevanz. Wie bereits in Kapitel 4.9.1 ausführlich beschrieben, gibt es enorme Unterschiede zwischen den europäischen Anti-Ghettos und den (süd-)italienischen mafiadominierten Ghettos. Interessant sind in all diesen kulturell-sozialen Unterschieden nicht nur die jeweiligen verschiedenen Handlungen und Herangehensweisen, sondern auch die erstaunlich vielen Gemeinsamkeiten der Jugendlichen. „Zwei Aspekte erscheinen für Kulturvergleiche besonders relevant: die Betonung der Bedeutung von Kontextfaktoren und Makrophänomenen für die Erklärung sozialen Handelns und die methodische Relevanz vergleichender Forschungsmethoden“ (Rippl/Seipel 2015: 20). Den Stadtteil Pratobello2 habe ich deshalb ausgesucht, weil er genau die oben erwähnten Charakteristika beinhaltet. Mit 40.000 Einwohnern ist Pratobello Teil 2
Pseudonym.
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
einer italienischen Großstadt, die ich Sasso genannt habe, und größter Drogenumschlagsplatz der Region. Der Stadtteil ist seit seiner Entstehung konstant marginalisiert und letztlich schon mit dem Gedanken der Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen gebaut worden. So wurden von der Stadtverwaltung bewusst Menschen aus anderen stark vernachlässigten Quartieren, Vorbestrafte unter Hausarrest und junge Familien aus den Barackensiedlungen sowie aus mafiösen Organisationen in die äußerste Peripherie einer italienischen Großstadt exiliert (vgl. hierzu auch Garozzo 1997: 28). Pratobello besteht aus insgesamt 20 Wohnbereichen, die aus verschiedenen Wohnblockkomplexen bzw. -gruppen aus den 1980er Jahren bestehen und mit Buchstaben und Nummern gekennzeichnet sind. In dieser vorliegenden Forschungsarbeit kommen die jungen Männer vorwiegend aus dem Wohnbereich L7. Der Wohnbereich L7 ist neben dem L9 einer der Hauptdrogenverkaufsstützpunkte von Pratobello. Er ist aufgrund der baulichen Struktur schwer von Ordnungskräften zu erreichen. Der L7 besteht aus insgesamt sechs lang gestreckten und nah aneinander liegenden Wohnblocks und drei 14-stöckigen Hochhäusern. Das gesamte Gebiet ist vierundzwanzig Stunden und sieben Tage die Woche von Drogendealern besetzt und von Aufpassern bewacht. Die Dächer der Hochhäuser dienen als zusätzliche Ausschauplattform der Aufpasser. Es gibt nur zwei befahrbare Eingänge in den Wohnbereich, die durch Kurven und Mülltonnen einen schnellen Zugriff der Polizei verhindern. Einige Eingänge der Wohnblocks sind durch Stahltüren versperrt und können nur von den Drogendealern, die durch kleine Postfachgroße Klappen dealen, geöffnet werden. D.h., wenn die ‚normalen’ Bewohnenden des Blocks zu ihren Wohnungen wollen, müssen sie die Drogendealer über die Aufpasser um Erlaubnis fragen. Diese Stahltüren müssen im Falle einer Razzia zuerst aufgesägt werden, um sich Zugang in die Blocks zu verschaffen. Bis dahin haben sich die Dealer in den offenen Wohnungen von nicht vorbestraften Bewohnenden versteckt oder über ein Dach- und Garagenfluchtsystem in andere Blocks begeben. Die Suche nach einem marginalisierten Stadtteil in Deutschland, der zumindest infrastrukturell dem in Italien ähnelt, war nicht ganz einfach, allein schon weil die meisten peripheren Hochhaussiedlungen mit Sozialwohnungen gut bis befriedigend an den ÖPNV angeschlossen sind. Der Stadtteil Falldorf in Vierstadt3 ist dagegen für einen Vergleich mit Italien sehr interessant und überzeugte mich im Verlauf meiner Erkundungstouren. Als ich das erste Mal nach Falldorf kam, wusste ich noch gar nicht, dass ich promovieren und über den Stadtteil forschen würde. Ich war ausgebildeter Straßensozialarbeiter und bekam über verschiedene Freunde und Kollegen mit, dass diese Hochhaussiedlung besonders vernachlässigt war und geographisch abgeschieden lag. Die geographische Lage erinnerte mich 3
Stadtteil und Stadt pseudonymisiert.
5.1 Feldzugänge und Untersuchungsmethode
97
dann tatsächlich schnell an einige italienische Sozialwohnsiedlungen, die ich im Laufe meines Lebens besucht bzw. in denen ich gearbeitet oder gewohnt hatte. Die Reise nach Falldorf dauerte vom Stadtzentrum der Großstadt Vierstadt aus mit dem Bus rund eine Stunde. Ich sah die Hochhäuser schon von weitem, denn zwischen ihnen und der nächstliegenden Siedlung liegen großflächige Ackerfelder, die den Blick auf die Wohnblöcke freigeben. Ich stieg direkt an der Haltestelle neben einem der höchsten Hochhäuser aus und war von den vielen Menschen auf der Straße überwältigt. Es war ein unglaublich reges Leben zu beobachten, das ich nur aus wenigen Hochhaussiedlungen in Deutschland kannte. Es war ein kalter Novembertag und trotzdem waren auf den Straßen viele Menschen und dementsprechend war auch der Lärmpegel. Was mir zudem ziemlich schnell auffiel, waren die Drogenabhängigen und Prostituierten, die unter den Menschenmengen umherliefen bzw. standen und die vielen Blicke, die auf mich gerichtet waren. Ich fühlte mich ziemlich schnell unerwünscht. Es waren zwar keine aggressiven Blicke, aber durchaus skeptische. Eindeutiger wurde dies, als ich einen der Wohnblöcke betrat und die Treppen hinauflief. Ich entschied mich bewusst nicht für die Fahrstühle, da vor diesen sehr viele Bewohnende standen und darauf warteten in ihre Wohnungen zu kommen. Als ich ungefähr in der 11. Etage angelangt war, kam mir ein junger Mann entgegen, der mich fragte, ob ich denn etwas suchen würde. Ich antworte mit „nein“ und verstand, dass es sich um die klassische Frage eines Spähers handelte, der wahrscheinlich für eine Drogenbande arbeitete. Ich beschloss das Treppenhaus zu wechseln, da mich eventuell weiter oben eine Etage erwartete, auf der Drogen verkauft wurden. Um das Business nicht unnötig zu stören, ging ich den mindestens zweihundert Meter langen Gang der 11. Etage entlang zum nächsten Treppenhaus. Die Wohnungen, die sich auf diesem Gang befanden, waren unzählig. Rechts und links sahen alle Türen gleich aus und man hörte viele verschiedene Sprachen, Geräusche und Stimmen. Kinder kamen mir ab und zu auf dem Gang entgegengerannt, Türen öffneten oder schlossen sich bzw. standen bereits offen, laute Musik ertönte aus einigen Wohnungen und an einigen Stellen standen Stühle draußen neben den Behausungen. Währenddessen klingelte mein Handy und ein italienischer Freund meldete sich am Apparat. Im Zuge der Konversation stieg ich die Stufen vom anderen Treppenhaus wieder hinunter. Ungefähr auf der Höhe der achten Etage kam mir von unten ein weiterer junger Mann entgegen, der mich kurz mit einem Handzeichen anhielt und auf Italienisch fragte, ob ich denn etwas brauchte. „Haschisch, Coca?“ Ich verneinte erneut und antwortete ihm auf Italienisch, dass alles Bestens sei und ich ihm einen schönen Abend wünschte. Als ich dann wieder unten auf der Straße war – weiterhin auf Italienisch am Handy telefonierend – und mir bei einem Kiosk Zigaretten holte, sprach mich ein weiterer Mann, diesmal um die vierzig, auf Italienisch an und wollte wissen, woher ich denn käme. Daraus entwickelte sich ein einstündiges Gespräch, bei dem der Mann am Anfang herausfinden wollte, was ich denn in der Siedlung täte und
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
wer ich sei. Etwas später ging das Gespräch dann über zu politischen und sozialen Themen sowie Unterschieden zwischen Italien und Deutschland. Der Mann stellte sich als Roma aus Mazedonien vor, der ein Jahrzehnt lang in Italien wohnhaft gewesen war und deshalb die italienische Sprache beherrschte. Durch ihn bekam ich erste Einblicke in das Leben der Menschen aus Falldorf, die mir noch Jahre später in Erinnerung blieben und mich dann auch dazu bewegten den Stadtteil und dessen Bewohnende im Rahmen meiner Promotion genauer zu untersuchen. Es ging vor allem um bestimmte Gefühle und Situationen, die mich dazu brachten Kontakt zu den Bewohnenden von Pratobello und Falldorf aufzunehmen. Mit der Zeit schien mir, als ob ich vom Feld anerkannt und respektiert wurde. Die Wohnblöcke und die darin lebenden Menschen hatten mich ab einem bestimmten Punkt ‚absorbiert’ und genau dieses Gefühl war für mich das Startzeichen für die Entwicklung von bestimmten Erhebungsmethoden und Forschungsansätzen. Schließlich war ich auch von einem so gut funktionierenden und organisierten Spähersystem bzgl. des Drogenhandels beeindruckt. Die Parallelen zu Pratobello in Italien waren sofort in meinem Kopf und ich wusste später, dass diese Parallität für diese Studie sehr geeignet war. Falldorf ist in drei große Wohnbereiche eingeteilt: Es gibt zwei Sozialwohnsiedlungen, und zwar die Siedlung Weitblick mit einer großen Ansammlung an Wohnhochhäusern aus den 1970er Jahren und die Siedlung Sechzig mit mehreren Flachwohnblöcken aus den 1960er Jahren. Dann gibt es eine Mehr- und Einfamiliensiedlung, Falldorf-Dorf. Die jungen Männer in dieser vorliegenden Studie kommen vorwiegend aus der Siedlung Weitblick. Für den forschenden Zugang habe ich mich ins Feld begeben und geguckt, inwieweit ich mich auf die Menschen einlassen konnte und vice versa. Durch die vielen Gespräche innerhalb der Nachwuchsforschungsgruppe, die für mich als Supervisorin fungierte, wurden die verschiedenen möglichen Methoden ausführlich geprüft, bis ich erkannte, welche zum Feld, zu mir als Ethnografen und zum Forschungsprojekt passten. Meine gesamte Herangehensweise an die Felder und Akteure war somit explorativ bestimmt.
5.1.3
Auswahl und Zugang zu den Peergruppen
Die Suche nach Akteuren war in Falldorf durchaus nicht leicht, da ich zunächst mit den Gruppendiskussionen beginnen und erst nach einer bestimmten Zeit die ethnografischen Beobachtungen durchführen wollte. Das hatte zum Zweck, dass die jungen Männer durch die Interviews in der Gruppe einen leichteren Zugang zu mir bekommen sollten und sich dadurch auch mir gegenüber schneller öffnen konnten. Ich wusste, dass die Gruppendynamik dazu verhelfen würde bestimmte Themen offener zu behandeln und diese mit mir auch zu teilen.
5.1 Feldzugänge und Untersuchungsmethode
99
Um das Vertrauen der jungen Männer zu gewinnen, entschloss ich gemeinsam mit dem Streetworker Umut4, dass ich für einige Wochen regelmäßig ins Jugendzentrum kommen würde, wo sich die meisten der Akteure für einige Stunden am Tag aufhielten. Dies verband ich mit dem Sitzen auf einer Bank vor einem der Wohnblöcke der Siedlung. Somit verging ein Monat in dem die Akteure und ich uns gegenseitig die Gelegenheit gaben uns näher kennenzulernen. Dabei fielen immer wieder die Worte, dass ich ein ‚Zivi’ sei, also ein Zivilpolizist. Dies begleitete mich bis fast zum Ende der ethnografischen Untersuchung. Es wurde dann jedoch zum running gag und ich lachte einfach mit. Dieses Verhalten respektierten die Akteure sehr. Sie fragten dann irgendwann selbst, wann ich denn mit den Interviews beginnen wollte. Dies war der Startschuss einer monatelang andauernden Erhebungsphase. Ich hatte in der Annäherungs- und Kennenlernphase zwei Gruppen identifiziert, die ich für jeweils eine Gruppendiskussion interviewte. Nachdem ich die Gruppendiskussion geführt hatte, begann ich die Akteure einzeln zu interviewen. Dabei kam es vor, dass Akteure, die keiner der beiden Gruppen angehörten, interviewt werden wollten. Dies stellte sich später in der Auswertungsphase als besonders wichtig heraus, denn es bereicherte die bereits vorhanden Perspektiven um weitere und war für die Kontrastierung umso aufschlussreicher. Das Aufsuchen von Jugendlichen in Pratobello gestaltete sich dagegen etwas leichter, da ich über einen Gatekeeper an die verschiedenen Jugendgruppen Zugang hatte. Dieser Gatekeeper kannte mich aus der Zeit, in der ich selbst im Stadtteil mit unterschiedlichen Gruppen als Jugendlicher durch die Straßen streifte und subkulturellen Aktivitäten nachging. Für diese Forschungsarbeit war jedoch fundamental, Jugendliche aus unterschiedlichen Wohnbereichen und unterschiedlichen Gruppierungen mit unterschiedlichen (sub-)kulturellen Orientierungen zu beobachten. So konnte ich über weitere Gatekeeper, die sich in der Feldphase herauskristallisierten, auch eher kriminell aktive bzw. deviant lebende Jugendliche erreichen. Diese sich teilweise stark unterscheidenden Lebensweisen allein innerhalb eines Wohnbereichs – und nicht nur generell im Stadtteil – bildeten einen wichtigen Kontrast für die Untersuchung. Gleichzeitig nutzten mir diese Gegensätze und Kontraste als Perspektivenwechsel, die mir als Beobachter vermittelten, „[...] wie schwer sich die Verständigungsarbeit zwischen zwei Seiten darstellt. Die Parteien mögen mit gänzlich unterschiedlichen Erwartungen, Aussichten, Zielvorstellungen in eine Begegnung gehen, in der sie erst nach und nach aufeinander eingestellt werden“ (Breidenstein et al. 2013: 79). Vor und während meiner Feldforschungsphase hatte ich viele Gelegenheiten informelle Interviews oder auch „friendly conversations“ (Spradley 1979: 55ff.) mit den Akteuren zu führen, die mit einem Mikrofon oder einer Videokamera nicht funktioniert hätten. Die meisten Informationen zu kriminellen und subkulturellen 4
Name geändert.
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Strukturen, Regeln, Normen und Verhaltensweisen hätte ich über strikt sozialwissenschaftliche Interviews nicht erhalten können. Gerade wenn in Gebieten geforscht wird, in denen das Schweigegelübde oder omertà von den kriminellen Organisationen soweit etabliert worden ist, dass die Bewohnenden dies mit oder ohne Angst vor Repressalien respektieren, ist die Arbeit mit Mikrofonen und Kameras sehr eingeschränkt. In einigen Fällen war das Vertrauen so groß, dass Akteure auch bei laufendem Mikrofon Insiderinformationen preisgaben, die von höchster Relevanz waren. Vor der Durchführung von teilnehmenden Beobachtungsphasen begann ich die Erhebung mit Gruppendiskussionen, um einen Einstieg in die jeweiligen Gruppendynamiken in die Wege zu leiten und gleichzeitig Vertrauen zu den Jugendlichen aufzubauen.5 Sie sollten erkennen, dass mein Interesse nicht am Ausspionieren, sondern am Verständnis und an der Nachvollziehbarkeit der Stadtteilstrukturen lag. Was alle Akteure dazu brachte mit mir zu sprechen und sich von mir begleiten zu lassen, war das genaue Feldwissen und mein ‚echtes’ Interesse an ihren Lebenslagen, Hobbys, Freizeitgestaltungen, Meinungen, Sichtweisen und Belangen. Zusammenfassend lassen sich also folgende chronologische Herangehensweise der Feld- und Erhebungsphase skizzieren: Nach dem oben ausführlich besprochenen Feldzugang, habe ich nach vielen Monaten des Mitgehens, Sprechens und Kennenlernens begonnen Gruppendiskussionen mit den Akteuren zu führen. Darauf folgten dann etwas intensivere und intimere narrative Einzelinterviews. Nach dieser Phase der Erhebung von sozialwissenschaftlichen Daten, kehrte ich in das Feld als Ethnograf zurück und begleitete die jeweiligen Gruppen durch deren Alltag. Dies führte zu großen Mengen an Feldnotizen und –protokollen. Durch das mit den Akteuren gemeinsame ‚Herumstreifen’ im Feld ergaben sich neue Interviewgelegenheiten mit neuen Akteuren und Gruppen, sodass eine weitere Erhebungsphase von Gruppendiskussionen und Einzelinterviews entstand. Hinzu kommen die unzähligen informellen, ethnografischen Interviews, die während der Feldphase und zwischendurch entstanden. Diese Gespräche waren mein Leitfaden im Feld und schärften meinen Blick auf Details und zunächst scheinbar belanglose Kleinigkeiten.
5
Diesbezüglich muss jedoch angemerkt werden, dass es generell mehr ethnografische Protokolle zum italienischen Untersuchungsstadtteil als zum deutschen Quartier gibt, da es zu den italienischen Akteuren eine engere Beziehung gab und Letztere deshalb auch mehr vom Alltag zeigten. Aufgrund dessen wurde in den empirischen Kapiteln zu den italienischen Untersuchungsgruppen verstärkt ethnografische Protokolle genutzt und zu den deutschen Akteuren mehr Interviewmaterial.
5.2 Der Ethnograf und das Feld
5.2
101
Der Ethnograf und das Feld
Bei genauerer Betrachtung des wissenschaftlichen Feldes wird deutlich, dass über eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen geschrieben wird, die sich zum Beispiel ethnisch, kulturell und/oder sozial von anderen unterscheiden sowie über Phänomene oder typische Handlungen jenseits sozialstruktureller Kategorien. Ethnografie ist die Konstruktion von Theorien über Kultur, Gesellschaft und menschliches Verhalten und die Beschäftigung mit der Frage, was es bedeutet Mensch in bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten zu sein. Somit ist auch ein ethnografischer Text eine Interpretation und Erklärung über eine Gruppe von Menschen und deren Handlungen, Verhaltensweisen und Kultur. Zwar handelt es sich nicht um eine Geschichte, die geschrieben wird, aber der Text wird narrativ verfasst und basiert auf systematisch erhobenen Daten (vgl. Madden 2010: 18). Dabei ist es von besonderer Wichtigkeit, dass die Produktion eines ethnografischen Texts die Realität möglichst nachvollziehbar darstellt. Deshalb ist sicherlich eines der wichtigsten Elemente der Ethnografie das ‚Zusammensein’ mit den Menschen über die bzw. mit denen geforscht und geschrieben wird. Es handelt sich um einen face-to-face-Kontakt, der eine direkte Forschungsweise darstellt (Madden 2010: 18). Die Ethnograf*innen wohnen, essen, arbeiten und (er-)leben mit einer Gruppe von Menschen, die sie vorher nicht kannten. Diese Methode wird auch teilnehmende Beobachtung genannt. Die*der Forschende muss eine hohe Verantwortung für die Forschungsteilnehmenden und Akteur*innen übernehmen. Dabei ist der Aufbau einer Beziehung fundamental. Es geht um gegenseitiges Vertrauen, Verpflichtungen, Freundschaften und ethisch basierten Respekt (vgl. ‚Frankfurter Erklärung’ zur Ethik in der Ethnologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde 20086). Kompromisse müssen von beiden Seiten eingegangen werden und gleichzeitig müssen Ethnograf*innen auch darauf achten, dass sie den Kontaktaufbau nicht zu schnell und/oder zu aufdringlich angehen. Mit diesem Verhalten würden Forschende statt einer Annäherung eine Distanzierung der Akteur*innen riskieren (vgl. O’Reilly 2009: 175). Im Fall meiner Arbeit war jeder Zugang unterschiedlich und musste von mir zuvor gut durchdacht sein. Da ich vor der Forschung teilweise sehr intensiv an den diversen Stadtteilleben partizipiert hatte und auch in einigen Quartieren wohnte, musste ich mich in diesen Fällen für eine Stepin-step-out-Ethnografie entscheiden, die das Übernachten teilweise ausließ und ich somit abends einen Rückzugort hatte, der zu einer gewissen Distanz zum Untersuchungsfeld führte (vgl. Madden 2010: 80). Diese Methode erlaubte es mir zu den beobachteten Handlungen abends bei der Verschriftlichung meiner Feldnotizen Abstand zum Ganzen zu schaffen und 6
Abrufbar unter: https://www.dgska.de/wp-content/uploads/2016/07/DGV-Ethikerklaerung.pdf Zugriff am: 13.4.2016
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
einen narrativen, realitätsreproduzierenden, aber gleichzeitig von den Akteuren unbeeinflussten und wissenschaftlich distanzierten Text zu schreiben. Da Ethnograf*innen routinierte, alltägliche und sogar ritualisierte Handlungen von Menschen studieren, war es für mich wichtig diese als solche auch zu erkennen und mich nicht als Bekannter oder Freund im Feld zu bewegen. Gleichzeitig können ethnografisch Forschende Handlungen, die sie als teilnehmende Beobachtende miterleben, nicht kontrollieren. Sie sind mitten im Geschehen und ‚schwimmen’ mit. Dabei sollte möglichst alles schriftlich oder anderweitig dokumentiert werden. Ethnograf*innen sind sowohl Teilnehmende als auch Beobachtende und die Kunst liegt dabei darin, das richtige Gleichgewicht zu wahren (vgl. LeCompte/ Schensul: 1999a: 2; Madden 2010: 82). Je nach Dauer eines ethnografischen Forschungsprojekts wird das Gleichgewicht erfahrungsgemäß immer schwieriger zu halten. Hier sind enge Beziehungen mit den Forschungsteilnehmenden praktisch unvermeidbar. Man muss dabei noch stärker auf die wissenschaftliche Distanz achten und seine Rolle immer wieder reflektieren. Durch den kontinuierlichen Wechsel zwischen Nähe und Distanz entwickelt sich eine ganz andere Perspektive auf die Praktiken. „In der Ethnologie spitzt sich [die] Frage zu, ob es angemessener ist, wenn Mitglieder anderer Gesellschaften selbst deren Ethnografie verfassen oder ob es notwendigerweise Mitglieder anderer Gesellschaften dazu bedarf“ (Breidenstein et al. 2013: 68). Diese Frage bleibt laut Breidenstein et al. jedoch unbeantwortbar, da „weder Nähe noch Distanz an sich eine gute Ethnografie garantieren können“ (Breidenstein et al. 2013: 68). Heutzutage wird generell Ethnografie weniger mit Langzeitstudien in Verbindung gebracht als in den Anfängen. Wo man früher teilweise bis zu 18 Monaten in bestimmten Communities verbrachte, ist dies heute auch aufgrund von finanziellen Einschränkungen sowie neuen Studiensystemen teilweise nicht mehr möglich (Madden 2010: 19). Im Fall dieser Untersuchung waren von daher kurzzeitige Aufenthalte besonders wichtig, um länder- und städteübergreifend arbeiten zu können. Schließlich wurden zur „Verbreiterung der Erkenntnismöglichkeiten“ (Flick 2011: 19) der Ergebnisse mehrere Methoden genutzt, die miteinander verschränkt wurden und zu einer Methodentriangulation führten, die für die Thematik und den Kontext dieser vorliegenden Forschungsarbeit passend erschien.
5.2.1
Die Rolle des Ethnografen im Feld
Die teilnehmende Beobachtung ist vielleicht eines der wichtigsten ‚Werkzeuge’ der (interaktionistischen) Ethnografie. Sie beeinflusst das zu erforschende Umfeld auf eine gewisse Weise. Wie der Ethnograf Coffey richtigerweise schreibt, ist die Feldforschung eine verkörperte (‚embodied’) Aktivität (vgl. Coffey 1999:
5.2 Der Ethnograf und das Feld
103
59). Es wird versucht seinen Körper so zu trainieren und vorzubereiten, dass im Feld die Haltungen, Bewegungen und Handlungen nicht mehr als die eines Fremden auffallen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes angepasst wird (vgl. Coffey 1999: 65). Jedoch soll es auch nicht um „Camouflage“ gehen, um sich somit zu verstellen oder eine „Pseudo-Identität“ auszudenken (vgl. Burzan et al. 2016: 50). Gleichzeitig wird in das Feld auch ein Habitus hineingetragen (Bourdieu 1990), der eine generelle verkörperte Geschichte darstellt (Sozialisation) – also mit Einflüssen aus dem eigenen Milieu. An dieser Stelle kommt eine weitere Herausforderung auf Ethnograf*innen zu: sie müssen versuchen eine Balance zwischen dem eigenen Habitus und dem der anderen zu finden. Es geht dabei vielmehr um die Verträglichkeit zwischen all diesen Elementen. Jedoch musste und muss sich noch immer diese Art der Forschung mit einem großen Problem auseinandersetzen: das der Intersubjektivität (vgl. hierzu Bischoff 2014: 14). „Wie können Forscherinnen und Forscher menschliche Gegebenheiten und Konflikte wissenschaftlich analysieren, in die sie selbst verwickelt sind?“ (Bischoff 2014: 14). Bin ich ein Fremder der eigenen Kultur? Habe ich eine Außenseiterposition in Pratobello oder Falldorf? Als Forscher war ich selbst Teil des Untersuchungsgegenstandes und habe mit den Akteuren, die ich beobachtet habe, kommuniziert und vor allem interagiert. D.h., dass es einen „kommunikativen Prozess zwischen Forschenden und Forschungsgegenstand“ (Bischoff 2014: 14) gab und dass ich als Forscher selbst von den Akteuren während des Feldzugangs beobachtet und ‚erforscht’ wurde. Die Akteure haben sich natürlich durch das Wissen, dass sie erforscht werden, auch verändert. „Jede Beobachtung beeinflusst den beobachteten Gegenstand. Die Selbstreflexion und Introspektion ist selbst Teil des kulturanthropologischen Methodenrepertoires und zentral für das Forschungsverständnis“ (Bischoff 2014: 14). Ich musste jedes Phänomen so betrachten, als ob es soeben erst stattgefunden hätte (vgl. Sacks 1984). Laut der Ethnografin Anne Honer ist gerade im Bezug zur Lebensweltanalyse von größter Bedeutung: „[Die] Bedeutung der Lebensweltanalyse [besteht] vor allem darin, dass wir mit ihr die Chance verbessern, Welt(en) wenigstens annäherungsweise so zu rekonstruieren, wie die Menschen sie erfahren, statt der Welt, wie sie nach Meinung des Soziologen aussieht“ (Honer 2000: 199). Das heißt, dass ein sog. „Über-Blick“ nicht ausreicht, sondern ein „DurchBlick“ – also mit den Augen der Akteur*innen bzw. der Teilnehmenden zu sehen – die soziale Wirklichkeit so zeigt, wie sie ist (vgl. Burzan et al. 2016: 11). Dies ist natürlich in bestimmten Situationen nur eingeschränkt möglich und erfordert viele Jahre beobachtende Teilnahme. Dies war bei der Vielzahl an Praktiken in diesem Projekt, die sowohl im italienischen als auch im deutschen Feld existieren, schlichtweg nicht machbar. Es hätte mehrere Ethnograf*innen für diese Herangehensweise gebraucht. Alfred Schütz geht auch davon aus, dass das Handeln nicht beobachtbar und
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
erfragt, sondern lediglich erlebt und erfahren werden kann, da „es sich beim Handeln um eine Bewusstseinsleistung und nicht um eine objektive Kategorie der natürlichen Welt handelt“ (Schütz/Luckmann 2003: 454). Das bedeutet, dass sich Ethnograf*innen die ‚Hände schmutzig machen’ müssen und an den zu beobachtenden Praktiken teilnehmen sollten, um zu erfahren, warum und wie die Akteur*innen handeln. Ich habe meine Untersuchung mit einer bestimmten Fragestellung begonnen und auch mit einer bestimmten Idee, die jedoch im Verlauf des Forschungsprozesses zu einem Lern- und Interaktionsprozess führte, aus dem eine ergebnisoffene Feldforschung entstand. Es war eine Art reziproke Schulung für die Akteure und mich. Wir haben Stunden, Tage, Wochen, Monate und insgesamt vier Jahre lang kommuniziert, agiert und Informationen, Wissen und Unwissen ausgetauscht. Es war ein ständiger Grat zwischen Vorurteilen, Verständnis, Erkenntnis, Vorwissen, Misstrauen und Vertrauen, Angst und Sicherheit, (Ver-)Zögerungen und Tests. „Feldforschung beginnt mit dem Wahrnehmen einer scheinbar unüberschaubaren Vielfalt. In der Fülle der Wahrnehmungen sind Themen, Fragen und Antworten angelegt, müssen jedoch erst [...] allmählich erkannt und behutsam ‚herauspräpariert’ werden“ (Gajek 2014: 55). Deshalb bin ich ins Feld mit offenen Fragen hineingegangen und habe mir Platz für weitere Prozesse und Phänomene gelassen. Ich bin auch auf die Interessen und Schwerpunkte der Akteure eingegangen. Letztere haben mich dann auch in verschiedene Richtungen geleitet, die mir neue Horizonte, Perspektiven und Erkenntnisse eröffneten. Ich kam des Öfteren von der Spur ab, genoss es jedoch: es machte den Forschungsprozess umso interessanter und spannender. Feldforschung ist vor allem das Ungewisse zu erwarten und sich diesem zu öffnen (vgl. Gajek 2014: 55).
5.2.2
Teilnehmende Beobachtung
Um die Beobachtungen möglichst intensiv und fundiert durchzuführen, schlagen Breidenstein et al. folgende Schritte und Herangehensweisen vor: „1. Wiederholung von Beobachtungen: Schnitte setzen, Zeitpunkte variieren. 2. Mobilisierung des Beobachters: Positionen wechseln, Akteuren folgen. 3. Fokussierung: thematisch, zeitlich, personell zuspitzen. 4. Seitenwechsel: verschiedene Perspektiven einnehmen“ (Breidenstein et al. 2013: 77 – 78).
Wie diese vier Aspekte in der vorliegenden Forschungsarbeit realisiert wurden, soll nun im Folgenden dargestellt werden:
5.2 Der Ethnograf und das Feld
105
1. Wiederholung: Um den Gesamtablauf eines ‚typischen’ Tages und einer ‚typischen’ Nacht dokumentieren zu können, habe ich über die Wochen hinweg die Teilnahme an den Praktiken zu verschiedenen Zeiten aufgeteilt und durchgeführt. Ich war also erstens nicht durchgehend im Feld und habe dementsprechend auch nicht durchgehend an allem teilgenommen. Eine*n Partner*in hatte ich nicht, um mich während der teilnehmenden Beobachtung abzuwechseln bzw. ergänzen zu können. Ich war allein, auch weil das Vertrauen mir galt und nicht anderen Personen. 2. Mobilisierung: Um Rituale und Wiederholungen von Abweichungen typischer Strukturmerkmale zu unterscheiden, musste ich mir ein Hintergrundwissen zu den jeweiligen Akteuren und derer sozialen Umgebungen, Freundeskreise und Wohnbereiche aneignen. Ich habe deshalb vor Beginn der teilnehmenden Beobachtung über Wochen mit den Gruppen und einzelnen Akteuren in den jeweiligen Stadtteilen verbracht, um Informationen zum Feld zu sammeln. Dadurch konnte ich mir ein Allgemeinwissen zu den Wohnsiedlungen, den zusammenhängenden (Lebens-) Geschichten sowie zu den sozialen und kriminellen Strukturen, Ritualen und Codes aneignen. 3. Fokussierung: Für diese hier vorliegende Untersuchung habe ich mich auf die Akteure fokussiert, die mir das Stadtteilleben, den Umgang mit der organisierten Kriminalität und bestimmte subkulturelle Praktiken aus der Sicht der Jugendlichen erfahren lassen haben. Somit bin ich den Protagonisten stetig gefolgt, habe an den Praktiken teilgenommen und mich über die Akteure dann auch im Feld orientieren können. Dieses Beobachtungsverfahren nennt sich personale Fokussierung (vgl. Breidenstein et al. 2013: 78). 4. Perspektivenwechsel: Es war sehr wichtig sowohl diejenigen Männer zu begleiten, die mit der Kriminalität im Stadtteil nicht in direkter Verbindung standen als auch diejenigen, die im devianten/kriminellen Milieu tätig waren. Zudem war es von höchster Relevanz auch die Wohnbereiche innerhalb der Wohnsiedlung zu wechseln. Denn jeder Wohnbereich hat seine eigenen Eigenschaften und Lebensweisen. „Durch den Wechsel nicht nur der Orte, sondern der sozialen Seiten lässt sich ein eigener, neuer Blick auf das Geschehen richten“ (Breidenstein 2013: 79).
106
5.2.3
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Dokumentation der Teilnehmenden Beobachtung
Meine Feldnotizen habe ich immer mit Uhrzeiten und Orten gekennzeichnet, an denen die jeweiligen Praktiken und Gespräche stattfanden. Dadurch konnte ich auch später die Bewegungsabläufe der jungen Männer gut rekonstruieren. „Das Notieren löst ein Gedächtnisproblem, Notizen sind eine Memotechnik. Sie schaffen Erinnerungsstützen und Merkposten, zusätzlich zu den Gedächtnisleistungen des Beobachters“ (Breidenstein et al. 2013: 87). Ich habe mit der Zeit im Feld ein Gespür für mein eigenes Gedächtnis und mein eigenes Erinnerungsvermögen entwickelt. In den meisten Fällen habe ich – wenn es die Lichtverhältnisse und die jeweiligen Situationen zuließen – kurze Stichpunkte aufgeschrieben. Jedoch war ich vor allem an der Teilnahme der Praktiken interessiert und damit auch die meiste Zeit beschäftigt, sodass ich erst in meiner Unterkunft und fernab vom Feld an mein Protokoll gesetzt und die Erfahrungen und Beobachtungen niedergeschrieben habe. Mein Aufschreiben fiel am Anfang etwas auf, aber schnell gewöhnten wir uns alle daran, dass ich ab und zu zum Notizblock griff. Dieses Ritual wurde dann Teil der Praktiken, sodass mir die Akteure selbst sagten, was ich unbedingt aufschreiben solle. Sie empfanden ein enormes Interesse an der Dokumentation ihrer Praktiken. Dadurch konnte ich alle Abläufe der teilnehmenden Beobachtung so wahrnehmen, dass ich mich auch zu einem späteren Zeitpunkt noch erinnern und diese zu Papier bringen konnte (vgl. Breidenstein et al. 2013: 87). Dadurch, dass ich am Anfang meiner Studie eine teilnehmende Beobachtung zur Probe im Stadtteil Pratobello durchgeführt hatte, wurde für mich im zweiten Anlauf klarer, wie viel ich aufschreiben sollte. Ich entwickelte ein Gespür für Kontextinformationen, die für das Feldprotokoll besonders wichtig sind. „Wer war anwesend? Worum ging es? Was geschah vorher und nachher?“ (Breidenstein et al. 2013: 89). Generell habe ich zwei verschiedene Methoden zur Produktion von Feldnotizen genutzt: zum einen die partizipativen Notizen, die ich während der Aktivitäten stichpunktartig verfasste, und die täglich dichten Notizen, die ich außerhalb des Forschungsfeldes niederschrieb (vgl. dazu Madden 2013: 135). All dies führte ich zuerst handschriftlich durch und später in den Computer abgetippt. Die Notizen verfasste ich sowohl in Italien als auch in Deutschland zweisprachig gemischt – je nachdem, welche Worte mir gerade in dem Moment einfielen. Ich habe über die gesamte Zeit im Feld die Beobachtungen möglichst objektiv und neutral protokolliert, auch um wertende Aussagen gegenüber den Akteuren zu vermeiden.
5.3 Auswertung zwischen dichter Beschreibung und Habituskonstruktion
5.3
107
Auswertung zwischen dichter Beschreibung und Habituskonstruktion
Für das Aufsuchen von Akteuren dieser Studie kamen ganz niedrigschwellige Methoden aus dem Streetwork zum Einsatz, die anfangs in insgesamt sieben Stadtteilen angewandt wurden und bezüglich der wissenschaftlichen Arbeit nicht alle erfolgreich verliefen. Aus sieben aufgesuchten Stadtteilen wurden vier ausgewählt, in denen Interviews geführt und ethnografisches Material erhoben wurden. Aus den vier Stadtteilen wurden dann insgesamt zwei, die für die Auswertung und Analyse dieser Untersuchung genutzt worden sind. Somit handelt es sich um eine Gegenüberstellung eines italienischen und eines deutschen Quartiers. Insgesamt wurden vier Gruppen von jungen Männern in Deutschland und Italien im Rahmen von insgesamt zehn Feldphasen ethnografisch in ihrem Alltag begleitet. Dabei sind neben Feldprotokollen und anderen Dokumentationsformen auch 16 Interviews und vier Gruppendiskussionen geführt und ausgewertet worden. „Bei der Interpretation der Daten stellt sich die Frage der Entscheidung darüber, welche Ausschnitte des Textes für die Interpretation insgesamt oder für besonders detaillierte Auswertungen herangezogen werden sollen [...]“ (Flick 2010: 155). Bezüglich der informellen Praktiken war zuerst von großer Bedeutung, welche der Praktiken am meisten und ausführlichsten beschrieben bzw. erwähnt wurden. Hierzu bezog ich mich ausschließlich auf die Interessen der Akteure. Da viel zu viele Praktiken sowohl beobachtet als auch in den Gruppendiskussionen und Interviews beschrieben wurden, versuchte ich sich möglichst voneinander unterscheidende Aktivitäten der jungen Männer auszuwählen. Ähnliche oder sich nahestehende Praktiken habe ich entweder in das Sample als Exkurs integriert oder in generelleren Kapiteln eingeflochten. Andere wiederum habe ich gar nicht erst näher untersucht. Begonnen habe ich mit dem Sampling der Praktiken der italienischen Akteure, da ich das empirische Datenmaterial zuerst in Italien erhoben hatte. Den Fokus legte ich auf ökonomische Praktiken, da diese den Hauptgegenstand des Alltags der jungen Männer repräsentierten. Diesbezüglich erstellte ich eine Tabelle, die all die Handlungen und Aktivitäten auflistet, die unter ökonomischen Praktiken zu verstehen sind und die sowohl im Feld beobachtet als auch in den Gruppendiskussionen und Einzelinterviews explizit und implizit thematisiert wurden. Für diese Forschungsarbeit erfolgte somit eine schrittweise Festlegung der Samplestruktur im Forschungsprozess; das sog. theoretische Sampling (vgl. Glaser und Strauss 1967/1998). „Dabei werden Entscheidungen über die Auswahl und Zusammensetzung des empirischen Materials [...] im Prozess der Datenerhebung und –auswertung gefällt“ (Flick 2010: 159). Somit wurde die Auswahl zuerst auf die Praktiken bzw. Fälle in Italien und dann in Deutschland getroffen. D.h., dass eine Tabelle pro Land erstellt wurde. Diese wurde dann den jeweiligen Akteursgruppen bzw. Individuen zugeordnet. „Auswahlentscheidungen richten sich
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
dabei auf dasjenige Material, das im Lichte des bereits verwendeten Materials und der daraus gewonnenen Erkenntnisse die größten Aufschlüsse verspricht“ (Flick 2010: 159). Bei allen untersuchten Akteursgruppen handelt es sich um Realgruppen, die also auch außerhalb der Interview- und Gruppendiskussionskontexte bestehen. Laut Mangold (vgl. Mangold 1960) haben die Akteure ihre soziale Lage gemeinsam. Als Grundsätzlichkeit für die anschließende Typenbildung stellen diese Homogenitäten des Samples die Basis dar (vgl. Glaser und Strauss 1967/ 1998: 53).
5.3.1
Dichte / ethnografische Analyse
„Hier werden Zeile für Zeile alle möglichen Kategorien, Themen und vielversprechenden Ideen auf einen oder mehrere Begriffe gebracht, die ein Protokoll anbietet“ (Breidenstein et al. 2013: 126). Nachdem die Feldnotizen zu einem Protokoll wurden, habe ich begonnen verschiedene Themen und Akteure zu kodieren, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind (vgl. Madden 2010: 139). Gleichzeitig sind gewisse Beobachtungen schon vorher vom Ethnografen unbewusst oder bewusst kodiert worden, da das Interesse für gewisse Praktiken allein durch die Fragestellung der Untersuchung geleitet wird. Somit werden später die bereits im Feld oder beim Niederschreiben der Feldnotizen vorkodierten Themen, Beobachtungen und Praktiken in einem weiteren Verfahren spezifischer und detaillierter kodiert (vgl. Madden 2010: 140f.). Die untersuchten Praktiken habe ich in verschiedene Themen unterteilt und diese dann den jeweiligen Gruppen und einzelnen Akteuren sowie Stadtteilen und Wohnbereichen zugeordnet. Einige der am Anfang kodierten Themen habe ich später teilweise wieder verworfen oder für diese Forschungsarbeit als überflüssig angesehen. Viele Themen führten auch über die eigentliche Fragestellung dieser Untersuchung hinaus, sodass ich noch systematischer und ‚kleinkarierter’ all die vielen Handlungen, Praktiken und Interaktionen aufteilen und sortieren musste, bis eine gewisse Struktur feststellbar wurde. Das führte aber dann auch zu einer immensen Menge an sog. Memos (Planungsnotizen), sodass ich begann mich vor allem auf die Themen zu konzentrieren, zu denen die meisten und detailreichsten Beobachtungen vorhanden waren. Zudem unterschieden sich die Interessen der Akteure in Italien von denen in Deutschland, sodass diese teilweise zur Gegenüberstellung und Kontrastierung nicht adäquat waren. Jedoch geht es hier um die Schwerpunkte der jungen Männer und auf die habe ich mich letztendlich beim Kodieren konzentriert. „Die Relevanz eines Falles erschließt sich nicht darüber, wie repräsentativ er für ein Feld ist, sondern vielmehr darüber, wie valide und generalisierbar die Schlussfolgerungen sind, die sich daraus ableiten lassen (Mitchell 2006: 26)“ (Breidenstein et al. 2013: 139). Natürlich kann erst während der Datenanalyse herausgefunden werden, ob sich die durch die
5.3 Auswertung zwischen dichter Beschreibung und Habituskonstruktion
109
Codierungen hervorgebrachten begrifflichen Provisorien und Aushilfen als tragfähig erweisen (vgl. Breidenstein et al. 2013: 129). Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass sich das Codieren in folgende fünf Schritte aufteilt: Benennungen, Vergleiche, Sortierverfahren, Relationieren und die analytische Metastruktur (vgl. Breidenstein et al. 2013: 138). In dieser vorliegenden Forschungsarbeit geht es hauptsächlich um das Verständnis bestimmter Praktiken. Hierfür müssen diese einerseits expliziert werden: „Die Fallanalyse kann auf einzelne Ereignisse fokussieren und diese auf ihre Bedeutung für das untersuchte Feld hin befragen“ (Breidenstein et al. 2013: 142). Andererseits können die Praktiken auch über Interaktionsverläufe rekonstruiert werden. Hierfür bieten sich neben beobachteten und protokollierten Interaktionen auch Gruppendiskussionen an. Bei ritualisierten Ereignissen und Praktiken, sollten sich Ethnograf*innen fragen, welche Muster über das Feld herauszufinden sind. Was bedeuten die Praktiken für das Feld? Wie und mit welchem Sinn werden sie ausgeführt? In einigen Fällen muss das Verhältnis zwischen Norm und Praxis herausgearbeitet werden. In anderen richtet sich die Analyse „auf die Explikation der Regeln alltäglicher Interaktion, die die Teilnehme[nden] zwar kennen und befolgen, aber nicht explizit wissen“ (Breidenstein et al. 2013: 147). Ethnograf*innen müssen auf kurze und evtl. auf dem ersten Blick banal erscheinende Notizen genau gucken und versuchen zu verstehen was hinter dieser Praktik eigentlich steckt und welche Rolle diese für die Akteur*innen spielt (vgl. Emerson et al.: 202). Hierzu müssen sie ihr eigenes Wissen nutzen, „um [ihr] Material zu erschließen“ (Breidenstein et al. 2013: 144). Für Ethnograf*innen selbstverständliche Handlungen müssen noch lange nicht für die Akteure selbstverständlich sein. Deshalb sollte auch in diesem Fall ganz genau hingeschaut werden. Sie müssen sich ständig selbst Fragen stellen, diese aus den Fällen heraus interpretieren und dann explizieren. Nach dem offenen Codieren gehen die Ethnograf*innen zur Fallanalyse über, die aus spezifischen Informationen allgemeinere generiert. Somit können innerhalb der jeweiligen Felder verschiedene Fälle nebeneinander bestehen. „Dabei kann es sich um Situationen oder Ereignisse, um Aktivitäten oder Personen, um Interviews oder Beschreibungen, um die Darstellung räumlicher oder technischer Settings oder um interessante Dokumente handeln“ (Breidenstein et al. 2013: 139). Dadurch können sehr komplexe Interpretationen entstehen, auch wenn gewisse Praktiken als selbstverständlich gelten. Es hängt auch immer von den unterschiedlichen Interpretationshintergründen ab, die dann in einem neuen Kontext betrachtet und bezeichnet werden müssen. „[Die] Ethnografie insistiert darauf, dass es letztlich nicht darum geht, Daten zu interpretieren, sondern darum, Situationen und kulturelle Praktiken zu verstehen“ (Breidenstein et al. 2013: 156). Diese Situationen und Praktiken können manchmal erst richtig verstanden werden, wenn
110
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
man als Ethnograf*in immer wieder ins Feld zurückkehrt und gewisse Handlungen erneut beobachtet. Manchmal muss man auch auf Erinnerungen zurückgreifen, die nicht dokumentiert worden, aber für die Untersuchung relevant sind.
5.3.2
Rekonstruktion von handlungsleitendem Wissen
Beim handlungsleitenden Wissen handelt es sich um ein handlungspraktisches, atheoretisches bzw. implizites Wissen. Wie in Kapitel 5.6 näher ausgeführt wird, ist die dokumentarische Interpretation „darauf gerichtet, einen Zugang zum handlungspraktischen, zum impliziten und konjunktiven Erfahrungswissen zu erschließen“ (Bohnsack et al. 2007: 15). Durch die Rekonstruktion der Handlungspraxis wird ersichtlich, in welchem Umfang und inwiefern es sich um eine kollektive Handlungspraxis oder eher um eine individuell bestimmte Aktion handelt. „Atheoretisches Wissen verbindet Menschen, beruht es doch auf einer gleichartigen Handlungspraxis und Erfahrung“ (Nohl 2012: 5). Während der Feldforschung habe ich Praktiken beobachten können, bei denen ich mich gefragt habe, wie der jeweilige Akteur diese erlernt hat. Es handelte sich dabei nicht um formell erlerntes, sondern um informell angeeignetes Wissen. Bohnsack hat hierfür das Beispiel mit dem Fahrradfahren in mehreren seiner Studien erwähnt: „Der Radfahrer beherrscht die Fertigkeit, sich im Sattel zu halten, ohne die Regel, der diesem Verhalten zugrunde liegt, durch die entsprechende mathematische Formel ausdrücken zu können“ (Bohnsack 2014: 209). So können über die Interaktionsformen und Handlungen der Akteure dieser Untersuchung innerhalb der Diskussionen Wissensbestände der letzteren expliziert werden. Hierbei nutzt man die dokumentarische Methode mit ihren verschiedenen Schritten zur Interpretation dieses Wissens. Karl Mannheim spricht diesbezüglich auch von „indexikalem“ Wissen (Mannheim 1964). „Dieses indexikale Wissen ist von seiner Genese her ein grundlegend kollektives oder (in der Sprache von Mannheim) ‚konjunktives’ Wissen, welches in der gemeinsam gelebten Praxis angeeignet wird und diese Praxis zugleich in habitualisierter Weise orientiert. Aus diesem Grund sprechen wir – indem wir auch zentrale Elemente der Theorie des inkorporierten Wissens und des Habitus im Sinne von Bourdieu (1976) integrieren – von ‚praxeologischer Wissenssoziologie“ (Bohnsack et al. 2003: 137).
In einer Gruppendiskussion können also Denkweisen und Prozesse beschrieben werden, die Hinweise auf die Wissensaneignung geben. Geht man folglich davon aus, dass auch während einer Gruppendiskussion agiert wird, so kann man mit der richtigen Auswertungsmethode diese Handlungspraxis sichtbar machen. Die Handlungspraxis kann nach Bohnsack auf verschiedene Weise dokumentiert werden. Er versteht, wie oben bereits erwähnt, die sprachlichen Darstellungen
5.3 Auswertung zwischen dichter Beschreibung und Habituskonstruktion
111
(wie Erzählungen und Beschreibungen), über die sich Handlungspraxis dokumentiert, als proponierte Performanz. Die Handlungen selbst, also das konkrete Fahrradfahren oder spontane Handeln mit den Freunden innerhalb der Gruppendiskussion, beschreibt Bohnsack, als performative Performanz. Die Performanz in den Gruppendiskussionen ist nach ihm all das, was, dem sprachlichen Tun im Sinne des Bezugnehmens – also der Diskursorganisation – zu tun hat (vgl. hierzu Bohnsack 2017: 92ff.). „Jede Proponierung des Performativen im Bereich gesprochener Sätze hat dabei immer auch ihre eigene Performanz, die sich im Wie, in der Herstellung oder Gestaltung der Darstellung (eines Satzes, einer Erzählung oder der Diskussion) dokumentiert“ (Bohnsack 2017: 93). Über diese Dimensionen bzw. Performanzen kann handlungsleitendes, konjunktives Wissen herauskristallisiert werden. Um handlungsleitendes Wissen explizieren zu können, müssen mit dem Mikrofon aufgezeichnete Gespräche oder Interviews transkribiert und dann interpretiert werden. Nur durch eine wortwörtliche Transkription kann auch eine gute Interpretation erfolgen. Dies bedeutet auch, dass die Forschenden ihr theoretisches Wissen über die Inhalte vor und während der Interpretation immer aktualisieren sollten. Auch ihr eigenes handlungspraktisches Wissen sollte sie immer reflektieren und dem der Akteur*innen gegenüberstellen. Hierfür ist die Standortgebundenheit von fundamentaler Relevanz. Dies ist die Grundlage für die Interpretation mit der dokumentarischen Methode und für das hier von Bohnsack zusammengefasste Statement: „Erst in dem je konkreten und spezifischen Modus Operandi des Vollzugs bzw. der Variation eines generellen Modus Operandi, wie etwa demjenigen des Fahrradfahrens, zeigt sich der je erfahrungsraumspezifische Habitus. Habitus und konjunktiver Erfahrungsraum konstituieren sich somit nicht schlicht auf dem Niveau der Herstellung eines Opus Operatum, also des Modus Operandi, sondern auf demjenigen des Wie der Herstellung der Herstellung, des Wie des Vollzugs des Modus Operandi, also sozusagen auf dem Niveau des Wie des Wie. Wir haben es hier also mit einem reflexiven Modus Operandi zu tun, also eines solchen auf dem Niveau einer Meta-Performanz. Das konjunktive Wissen, das Wissen im Medium des konjunktiven Erfahrungsraums, ist somit in doppelter oder gesteigerter Weise implizit. Es impliziert einerseits den Modus Operandi des Zeuggebrauchs und der Motorik und andererseits dessen gruppen- oder milieuspezifische Überformung in ihrem je konjunktiven Modus. Das Wissen um Zeuggebrauch und Motorik ist in diesem Sinne einerseits eine Grundlage für die Konstitution des konjunktiven Wissens. Andererseits ist seine zweckrationale Nutzung im Sinne von Um-zu-Motiven Grundlage für das kommunikative Wissen und Handeln: Ich knüpfe einen Knoten, um ein Seil zu reparieren“ (Bohnsack 2017: 146f.).
112
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Im Folgenden wird kurz auf die Gruppendiskussionen, Einzelinterviews und die Auswahl der Samples eingegangen um dann abschließend zur Beschreibung der dokumentarischen Methode der Interpretation überzuleiten.
5.4
Wissen und Praxis
In der vorliegenden Forschungsarbeit soll ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Wissen und Praxis hergestellt werden, denn das Wissen leitet die Praxis. Durch die ethnografischen Untersuchungen wurde die Praxis der Akteure beobachtet und dokumentiert. Um das Wissen der Akteure herauszufiltern, müssen jedoch andere Erhebungs- und Auswertungsmethoden angewandt werden. Um zu verstehen weshalb gewisse Handlungen von den Akteuren durchgeführt werden, muss das Wissen derselben untersucht werden, das zu diesen Handlungen führte oder diese leitet. Dieses Wissen ist selbst den Jugendlichen nicht bewusst, da es inkorporiert, schweigend bzw. habitualisiert ist. Einzelinterviews und Gruppendiskussionen als Erhebungsmethode dieses Wissens und die Dokumentarische Textinterpretation als Auswertungsmethode eignen sich diesbezüglich besonders gut. Durch diese Methoden wird u.a. auch – wie bei der Ethnografie – die eigene Fremdheit künstlich erzeugt, um den „inside point of view“ der Akteur*innen zu ermitteln (vgl. Nentwig-Gesemann 2005). Es schafft automatisch Distanz zum Feld und zum Erlebten. Die Anwendung verschiedener Erhebungsmethoden war für diese Arbeit zusätzlich für eine ausgedehntere Wahrnehmung der untersuchten Praktiken relevant. „Triangulation sollte entsprechend als Weg der Erweiterung der Erkenntnis über den untersuchten Gegenstand verstanden werden“ (Flick et al. 2009: 318). Viele Themen der Gruppendiskussionen und Einzelinterviews konnten mit den Beobachtungsprotokollen konfrontiert und miteinander verglichen werden. „Wir sollten Theorien und Methoden vorsichtig und zielbewusst in der Absicht kombinieren, unserer Analyse mehr Breite und Tiefe zu verleihen, aber nicht dem Ziel, ‚objektive Wahrheit’ anzustreben“ (Fieldling und Fieldling 1986: 33). Dies führte nicht immer zu Übereinstimmungen und gerade die Brüche eröffneten neue Erkenntnisse über den Unterschied von explizit kommunizierten und tatsächlich beobachteten Handlungen. Einige der Akteure beschrieben in den Einzelinterviews und Gruppendiskussionen Praktiken, die sie anscheinend täglich durchführten, aber während der Feldphasen überhaupt nicht beobachtbar waren. In der Praxis verhielten sich diese jungen Männer zum Teil entgegengesetzt zu dem was in den Interviews gesagt wurde. Teilweise wurde aber auch implizites, handlungsleitendes Wissen analysiert, das dann in der Beobachtungspraxis besonders ersichtlich wurde.
5.4 Wissen und Praxis
5.4.1
113
Konjunktiver Erfahrungsraum
Der konjunktive Erfahrungsraum „konstituiert sich auf der Grundlage eines gemeinsamen, eines kollektiven oder eben konjunktiven Erlebens der habitualisierten Praxis und ihres Verhältnisses zur Norm“ (Bohnsack 2017: 104). Im Falle der in dieser Untersuchung erforschten Gruppen lässt sich anhand der Gruppendiskussionen sowie anhand von Beobachtungen feststellen, dass sich sowohl die Interaktionen selbst als auch andere Aktivitäten in den jeweiligen sozialen Räumen als gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen herauskristallisieren, die das weitere Handeln des Kollektivs enorm beeinflussen. Hierbei sind sozialisatorische Prozesse, die gemeinsam durchlaufen werden genauso zu beachten wie auch Biografien, die im sozialen Raum verwurzelt sind. „Dieses Erleben ist als Prozess im kollektiven Gedächtnis oder Systemgedächtnis gespeichert und ermöglicht die Reproduktion der (interaktiven) Praxis und der Konstitution und Reproduktion des konjunktiven Erfahrungsraums“ (Bohnsack 2017: 104). Der Orientierungsrahmen ist somit das „Erfahrungswissen um den Modus Operandi“ (Bohnsack 2017: 104). Die menschliche Seinsverbundenheit, die Mannheim in seinem Werk von 1980 stetig betont, ist an kollektiven Erfahrungen bezogen auf Handlungszusammenhänge geknüpft (vgl. Mannheim 1980). „Nach Mannheim ist gesellschaftliches Sein derart zu verstehen, dass es sich durch Gemeinsamkeiten des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte, des Schicksals, d.h. durch konjunktive Erfahrung, überhaupt erst konstituiert“ (Bohnsack 1998: 120). Die bspw. gemeinsam erlebten Vernachlässigungen durch den Staat oder durch staatliche soziale und/oder (Bildungs-)Institutionen bilden in den Gedächtnissen der Akteure eine Art kollektive Erfahrung, die bei allen mehr oder weniger synonym gemacht und geteilt werden. Dadurch entsteht ein auf dem ersten Blick nicht sichtbares Wissen und eine ‚blinde’ Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit, die mit konjunktivem Erfahrungswissen gleichgestellt werden kann. „Das inkorporierte und habitualisierte Wissen auf der performativen Ebene bezeichne ich als konjunktives (Erfahrungs-)Wissen und mehr oder weniger synonym dazu als Habitus oder als Orientierungsrahmen im engeren Sinne“ (Bohnsack 2017: 104). Somit sind konjunktive Erfahrungsräume nicht nur dadurch geprägt, dass gemeinsame bzw. gesellschaftliche Erlebnisse gemacht werden und dadurch die Handlungspraxis kollektiv wird, „sondern [sie sind] immer auch [Produkt] des gemeinsamen [...] Erlebens der ubiquitären oder notorischen Diskrepanz zwischen Regel und Praxis, also zwischen den normativen Erwartungen [...] und dem kollektiven Habitus, dem Orientierungsrahmen“ (Bohnsack 2017: 104). Für Bohnsack ist der konjunktive Erfahrungsraum mit Erfahrungswissen gleichzusetzen, das aus einer vielschichtigen Verbindung von normativen wie auch identitätsbezogenen Erwartungshorizonten und habitualisierter Praxis besteht (vgl. Bohnsack 2017: 103). Dieses kann sich durch die Sprache, durch Ausdrücke und Symbole konstituieren. Die Begriffe selbst haben nach Mannheim eine „lebendige Existenz“ und zeigen
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
die gemeinsam gemachten und/oder inkorporierten Erfahrungen auf (vgl. Mannheim 1980: 220). „Im Bereich der qualitativen Forschung auf der Grundlage der Praxeologischen Wissenssoziologie und Dokumentarischen Methode bezeichnen wir jenen sozialen, interaktiven oder auch bildhaften Zusammenhang, für den eine Äußerung, eine Handlung oder eine inkorporierte Praktik einerseits Ausdruck ist, dessen Bestandteil sie andererseits darstellt, als Kontext oder genauer: als den von den AkteurInnen im Forschungsfeld selbst hergestellten Kontext“ (Bohnsack 2017: 77).
Dieser selbst hergestellte Kontext entsteht durch Intuition und ist als implizites Wissen zu verstehen. Es ist das Wissen, was sich anhand von Handlungen und von Sprechstilen herausfiltern lässt. Dieses Wissen befähigt die Gruppen oder einzelnen Akteure in einer bestimmten Weise zu handeln, zu denken und zu sprechen. „Von inkorporiertem Wissen spreche ich eher dort, wo wir es mit einem Wissen um Praktiken oder innerhalb von Praktiken zu tun haben, welche direkt körpergebunden Ausdrucksformen betreffen [...]“ (Bohnsack 2017: 143). Das heißt, dass dieses Wissen bspw. mit der Ausübung von Fitnessaktivitäten oder Graffitiaktionen sichtbar wird. Von habitualisiertem Wissen spricht Bohnsack dagegen, wenn es um verbale Praktiken geht wie z.B. die Diskussionspraktiken der jungen Männer sowohl in Falldorf als auch in Pratobello. Dieses habitualisierte Wissen lässt sich sehr gut anhand der Gruppendiskussionen mit der Dokumentarischen Methode visualisieren, das inkorporierte Wissen u. a. aber auch durch die ethnografischen Beobachtungen. Insgesamt versteht Bohnsack das implizite Wissen als ein performatives Wissen. „Die grundlegende Struktur des Impliziten ist diejenige der Performanz, das heißt des performativen Wissens, dessen Struktur ich auch als Performativität bezeichne“ (Bohnsack 2017: 143). Die Gruppen dieser Untersuchung haben Gemeinsamkeiten in ihrem Tun und Denken. Eine Gruppe hat sich zusammengefunden, weil sie die gleiche Erfahrung der Distanzierung von den devianten und illegalen Handlungen gemacht hat. Die andere Gruppe hat sich über ihre Involviertheit im illegalen Milieu zusammengefunden. Sie teilen Erlebnisse, die sie im selben Wohnblock oder Wohnbereich gemacht haben. Sie kennen dieselben Personen, die sie in die Welt der Illegalität eingeführt haben. Ihre Wege haben sich teilweise gekreuzt. Sie haben später ähnliche Herausforderungen erlebt, die sie bewältigen mussten, die jede*r in dem bestimmten Milieu einmal oder mehrmals bewältigen muss. „Milieuspezifische Kollektivität entsteht demnach durch die gegenseitige Aufnahme des anderen durch gemeinsam erlebte Strecken des Lebens, wobei Perspektivenübernahme und - teilhabe ermöglicht werden“ (Schäffer 2003a: 80). Gerade das habitualisierte und inkorporierte Wissen ist innerhalb der Gruppen nur durch genaues Hinsehen und Interpretieren erkennbar.
5.4 Wissen und Praxis
115
„Milieus sind als konjunktive Erfahrungsräume dadurch gekennzeichnet, dass ihre Angehörigen, ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind. Dabei ist die Konstitution konjunktiver Erfahrung nicht an das gruppenhafte Zusammenleben derjenigen gebunden, die an ihr teilhaben“ (Bohnsack 2003a: 111).
5.4.2
Kollektivität
In dieser Forschungsarbeit geht es hauptsächlich nicht um individuelle, sondern um kollektive Handlungen und Lernprozesse. Es geht um Gruppen junger Männer, also um Menschen, die voneinander, miteinander, beieinander, übereinander und nebeneinander leben, lernen, interagieren und sich definieren. Der konjunktive Erfahrungsraum erschafft Kollektivität. Durch die gemeinsamen Erfahrungen bilden sich Gruppen und diese Gruppen produzieren kollektive Praktiken und kollektives Wissen. „Das gemeinsame handlungsleitende Wissen [...] ist ein kollektives Wissen besonderer Art. Es handelt sich um ein kollektives und sozial vermitteltes Wissen, welches auf einer ähnlich generalisierten (oder noch generelleren) Ebene angesiedelt ist wie das kommunikativ-generalisierte Wissen, unterscheidet sich allerdings von diesem grundlegend dadurch, dass es sich der begrifflich-theoretischen Explikation entzieht und nicht nach der propositionalen Logik, also nicht zweckrational strukturiert ist“ (Bohnsack 2017: 145).
In der hier vorliegenden Untersuchung sind das Leben und die Erfahrung der Akteure durch Marginalisierung, räumliche Begrenzung, organisierte Kriminalität und Armut bzw. Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Dies ist, was Kollektivität ausmacht. Diese Fakten bilden einen common sense bei den Akteuren. Das gemeinsame Wissen wird kollektiv geteilt und kollektiv wird dann dementsprechend auch gehandelt. Bestimmte Sozialwohnsiedlungen in Deutschland und Italien sind in Wohnbereiche unterteilt. Jeder Wohnbereich ist vergleichbar mit einem kleinen Dorf mit ca. 3000 – 5000 Einwohner*innen. Ein Wohnbereich kann also wie eine große Gemeinschaft sein, die durch „Erfahrungen der dörflichen Alltagsexistenz“ verbunden ist (vgl. Bohnsack 2014: 63). „Die Gruppenmeinung ist keine ‚Summe’ von Einzelmeinungen, sondern das Produkt kollektiver Interaktionen. Die einzelnen Sprecher haben an ihrer Darstellung zwar in verschiedenem Umfang Anteil, jedoch sind alle aneinander orientiert [...]“ (Mangold 1960: 49). In dieser Konstellation wird Wissen hergestellt und diese Wissensherstellung wird nach Mannheim „als kollektiver, an die Sozialität von Milieus und Realgruppen gebundener Pro-
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
zess verstanden“ (Asbrand 2011). Hierbei geht es um kollektive und milieuspezifische Orientierungen, die in der Gruppe oder Gemeinschaft generiert werden. Kollektiv geteilte Orientierungen führen zu kollektiven Handlungen und Praktiken. Dadurch entstehen auch kollektive Meinungen: „Die Meinungen, die in solchen Gruppen in der Diskussion allgemeine Billigung finden, können nicht als Produkt der Versuchsanordnung, nicht als Endresultat eines aktuellen Prozesses gegenseitiger Anpassung und Beeinflussung in der Diskussionssituation selbst verstanden werden. In ihnen schlagen sich vielmehr informelle Gruppenmeinungen nieder, die sich in der Realität unter den Mitgliedern des betreffenden Kollektivs bereits ausgebildet haben“ (Mangold 1973: 249).
Wenn man z.B. die Diskussionen der Akteure dieser Forschungsarbeit genauer untersucht, dann wird durch die Interpretation mit der Dokumentarischen Methode ersichtlich, wie durch Argumentationsprozesse innerhalb der Gruppendebatten neben kollektiven Meinungen auch kollektive Lernprozesse entstehen. Die Individuen werden durch einen solchen Prozess bezogen auf neue Ideen und Lösungen angeregt. „Die kollektive Argumentation beim Problemlösungslernen führt zu einem Ergebnis, zu dem isolierte Einzelmitglieder nicht gelangen würden [...]“ (Wilkesmann 1999: 80). Durch diese kollektiven Zusammenhänge werden Erfahrungen gemacht, Wissen generiert und dementsprechend dann auch gehandelt. Dadurch entsteht auch eine Gruppenmeinung, die auf Gruppenerfahrungen basiert und zu Gruppenhandlungen führt. „Kollektivvorstellungen im Sinne von Mannheim unterscheiden sich dann allerdings von dem geistigen Gebilde des pythagoreischen Lehrsatzes zum einen noch einmal dadurch, dass wir diese geistigen Gebilde nicht denken, sondern in ihnen leben. Sie sind also nicht Gegenstand des Denkens, sondern handlungsleitende Wissensbestände“ (Bohnsack 2017: 65).
Das Gruppendiskussionsverfahren zielt genau auf die hier beschriebene Kollektivität ab. Es geht dabei um die im Diskurs „entfalteten Signifikanzen oder Sinnzusammenhänge“ über kennzeichnende Standortgebundenheiten, Lageabhängigkeiten oder Milieuumgebungen (vgl. Bohnsack 2014: 117).
5.5 Interviews und Gruppendiskussionen als Erhebungsmethode
5.5
5.5.1
117
Interviews und Gruppendiskussionen als Erhebungsmethode Gruppendiskussionen
An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Gruppendiskussionen mit Realgruppen durchgeführt wurden, die auch ohne Forscher und Mikrofon regelmäßig miteinander diskutieren, debattieren und intensive sowie regelmäßige Gespräche führen. Abgesehen davon führen diese Freundesgruppen auch Aktivitäten und Praktiken aller Art durch. Das Gruppendiskussionsverfahren basiert auf Untersuchungen, die im Rahmen der Dissertation von Werner Mangold (1960) durchgeführt wurden und zu einer Methode entwickelte, die zu einer ausschlaggebenden Wendung führte. Er entwarf das Konzept der „Gruppenmeinungen“. Gruppenmeinungen seien nach Mangold „keine ‚Summe’ von Einzelmeinungen, sondern das Produkt kollektiver Interaktionen“ (a.a.O.: 49). Er ging davon aus, dass durch die Interaktion in großen sozialen Gruppen „informelle Gruppenmeinungen“ entstehen, die sich von den Einzelmeinungen der Gruppenkomponenten unterscheiden und nur im Kollektiv funktionieren. „Die empirische Evidenz des Kollektiven erkannte Mangold als diejenige einer zwanglosen bis euphorischen Integration des Einzelnen in den in der wechselseitigen Bezugnahme sich steigernden Diskurs“ (Bohnsack in Flick 2009: 370). Mangolds Konzept der Gruppenmeinungen stimmt somit mit den Überlegungen Karl Mannheims zu den konjunktiven Erfahrungsräumen oder Milieus überein (vgl. dazu Bohnsack 2003a). Bohnsack arbeitete am Gruppendiskussionsverfahren hinsichtlich der dokumentarischen Methode weiter, das ein „erklärendes Verstehen kollektiver Phänomene“ (Loos/Schäffer 2001: 27) ermöglicht. „Das heißt, die Methode der Gruppendiskussion entspricht nur dann den Genauigkeitskriterien empirischer Forschung, wenn in einer anderen Untersuchungssituation dieselben Meinungen oder Orientierungen in der Gruppe beobachtbar sind“ (Bohnsack in Flick 2009: 371 – 372). Durch die dokumentarische Methode der Interpretation ist es dann möglich mithilfe eines mehrstufigen Auswertungsmodells die kollektiv geteilten Wissensbestände der Gruppen zu rekonstruieren. Die Interpretation der Gruppendiskussionen verschafft den Forschenden einen Einblick in die „Ordnung“ und Struktur des Interaktionsverlaufs und zeigt auf, dass Diskussionen innerhalb eines sozialen Kollektivs „als prozesshafte Abläufe von Kommunikationen“ (Loos/Schäffer 2001: 27) zu sehen sind. „Diskurse erscheinen oft zusammenhanglos oder in ihrem Ablauf relativ willkürlich, d.h. strukturlos und somit auch nicht reproduzierbar, wenn wir lediglich das betrachten, was in den einzelnen Redebeiträgen ‚wörtlich’ mitgeteilt wird“ (Bohnsack 2009b: 374). Durch den Einsatz der dokumentarischen Methode werden innerhalb der
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5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Gruppendiskussionen Strukturen sichtbar, die das Interaktionsverhalten unter den Gruppenmitgliedern zum Vorschein bringen. Es werden auch konkrete Gruppenpraktiken visualisiert, die mit einer einfachen Interpretation des Gesagten nicht erkennbar gewesen wären. In den Diskussionen der italienischen und deutschen Jugendlichen werden kollektiv entwickelte Symboliken, Sprachen, Körperbewegungen, Themen, Wahrnehmungen, Betrachtungsweisen wie auch Konflikte, subtile Missachtungen und Hierarchien deutlich. Gewisse Erzählstränge und Diskussionsorganisationen werden zudem veranschaulicht. Was zuerst oberflächlich betrachtet als „chaotisches“ Gespräch erscheint, kann bei genauerem Hinsehen durchaus einen Sinn ergeben (vgl. Bohnsack 2009b: 375). Das Gruppendiskussionsverfahren hat den großen Vorteil, dass die Gruppe im besten Falle durch die offenen Fragen dazu motiviert wird in einen Erzähl- und Interaktionsfluss zu kommen, den sie selbst steuert. Durch die vielen Beschreibungen und Argumentationen wird der gesamten Diskussion eine Dynamik verliehen, die Informationen über die Handlungspraxen, Strukturen und kollektiven Erfahrungen preisgibt. Es geht dabei um die Selbstläufigkeit der Gruppendiskussion. Alle Akteur*innen sind mit den Fragen adressiert. Die „Eigenstrukturiertheit“ der Gruppe soll sich dadurch prozesshaft entfalten können (vgl. Bohnsack 2009b: 380). Deshalb sollten in diesem Fall die Interviewenden möglichst nur dann einschreiten, wenn die Diskussion stocken oder aus anderweitigen Gründen nicht mehr vorangehen sollte. „Erst in einer späteren Phase werden bisher nicht behandelte Themen fremdinitiiert. Für die Analyse ist es auch aufschlussreich, was nicht zu den fokussierten Erlebniszentren gehört, welche Themen bzw. Erfahrungsbereiche warum fremd sind oder gemieden werden“ (Bohnsack 2009b: 380). Somit wurde für diese Untersuchung erst am Ende der Gruppendiskussionen versucht Unklarheiten des Forschers durch immanente Nachfragen zu klären. Teilweise wurden aber eben auch exmanente Nachfragen gestellt, um bestimmten forschungsrelevanten Interessen nachzugehen. Insgesamt sind die Gruppendiskussionen im Kontext dieser Untersuchung als eine Kooperation zwischen den jeweiligen Akteuren und dem Forscher anzusehen. Die Gruppen interagieren zwar hauptsächlich untereinander, aber dadurch, dass ethnografische Herangehensweisen sowohl vor als auch während der Interviewsituationen stattgefunden haben, entsteht ein kooperativer Prozess. Die Akteure bringen sich aktiv in die (Er-)Forschung ihrer Stadtteile ein (vgl. Buzran et al. 2016: 55). Die jungen Männer hatten vor der eigentlichen Gruppendiskussion für diese Untersuchung bereits jahrelange Gruppendiskussionserfahrung gesammelt. Die Jugendlichen aus Falldorf z.B. konnten es kaum erwarten ‚interviewt’ zu werden. Das Mikrofon wurde von den Jugendlichen teilweise sogar in der Diskussion mit analysiert. Während der ethnografischen Beobachtung wurde ersichtlich, dass ohne Mikrofon genauso diskutiert wurde wie mit Mikrofon. Teilweise wurden Videos von den jungen Männern
5.5 Interviews und Gruppendiskussionen als Erhebungsmethode
119
beim Diskutieren aufgenommen. Somit war das Mikrofon nicht unbedingt ein Gegenstand, der die Situation für junge Männer komplett in ihrem Sein veränderte. Zudem kann man anhand der Gruppendiskussionen feststellen, wie sehr die jungen Männer sprachliche Interaktionen, Debatten und Diskussionen gewöhnt sind. Die meisten Aufnahmen der Gruppendiskussionen in Italien wurden von den jungen Männern selbst wieder angehört und anschließend in einer informellen Diskussionsrunde diskutiert. Das Interesse an den Dokumenten seitens der italienischen Akteure war so groß, dass sie selbst Interviews für diese Untersuchung führten und/oder als Diskussionsleiter einsprangen. „Gleichwohl bleibt zu konstatieren, dass im Rahmen der sogenannten ‚qualitiativen Methoden’ einige Varianten der Dokumentenanalyse diskutiert werden (vgl. Bohnsack 2009; Keller 2011; Wolff 2000; zur Artefaktenanalyse vgl. Froschauer 2009), die [die*]der Ethnogra[f*in] methodenopportun nutzen und in seine eigene Arbeit integrieren kann“ (Burzan et al. 2016: 53).
In dieser Forschungsarbeit wurden die Gruppendiskussionen sowie narrativen Interviews mit der Dokumentarischen Methode interpretiert, weil es Dokumente sind, die der Ethnograf aufgrund seines eigenen und selbstständigen Zugangs zu den untersuchten Phänomenen produziert hat. Folgende Fragen wurden während der Gruppendiskussionen gestellt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Was macht ihr denn so wenn ihr zusammen seid? Wo finden die Aktivitäten statt? Welche Bedeutung hat Bildung für euch? Wie ist es so bei euch in der Schule? Könnt ihr was über euren Stadtteil erzählen? Was denkt ihr wie es für euch im Leben weitergeht? Was könnte man anders machen?
Meistens reichte die erste Frage sowie einige weitere etwas später im Verlauf der Diskussion. Ansonsten wurden die Fragen bereits beantwortet, bevor der Interviewer zum Schluss die immanenten sowie exmanenten Fragen stellen konnte.
5.5.2
Einzelinterviews
Da das Gruppendiskussionsverfahren den Fokus vor allem auf das konjunktive Erfahrungswissen sowie das Milieu legt und somit die impliziten Wissensbestände der einzelnen Akteure in diesem Kontext nur selten zum Vorschein kommen, war es für diese Untersuchung auch besonders wichtig Einzelinterviews zu
120
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
führen. Schließlich werden dadurch biographische Aufschichtungen, Sozialisationsprozesse sowie ganz konkrete Lebensbedingungen sichtbarer. Teilweise gab es Individuen, die sich im Feld mit der Zeit alleine bewegten und nicht mehr in der Gruppe. Auch diese Akteure sind Teil der Stadtteile und haben Praktiken entwickelt, die für die Erforschung des informellen Lernens von großem Interesse sind. Außerdem haben die Einzelinterviews auch gewisse Akteure dazu gebracht, sich dem Interviewer mehr zu öffnen als in der Gruppe. Teilweise sind einige der jungen Männer nur wenig zu Wort gekommen und hatten durch die Einzelinterviews die Chance mehr von sich und ihren Praktiken zu erzählen. Dies lag an verschiedenen Faktoren. Z. B. gab es unter einigen Gruppen Streitigkeiten durch die sich einige Akteure darauffolgend nicht so aktiv in die Diskussion einbrachten, obwohl dies in früheren Situationen vom Forscher so beobachtet wurde. Somit kann es durch die Gruppendiskussionen durchaus zu Verzerrungen der Meinungen des Individuums kommen, wenn es in einem Kollektiv agiert. Da der Fokus dieser Untersuchung auf der Rekonstruktion informeller Lernpraktiken liegt, sind Einzelinterviews genauso bedeutend wie die Gruppendiskussionen. Die Fragen sind somit fast alle identisch mit denen, die für die Gruppendiskussionen genutzt wurden. Der Grund dafür war das Ziel weitere Details aus dem Alltag der jungen Männer und Informationen zu ihren biographischen Verläufen herauszuarbeiten. Es wurden problemzentrierte Interviews (Witzel 1985) geführt, die aber je nach Situation und Akteur teilweise auch narrativ fundierte (Schütze 1977, 1983) oder episodische Interviewanteile (Flick 1996; 2000a; 2007d) beinhalteten. Es gab einige Interviewpartner, die entweder von selbst oder durch eine Frage seitens des Forschers wie „Erzähl mal von deiner Kindheit“ ihre eigene Biographie sowohl detailliert als auch episodenweise darstellten (vgl. Flick 2010: 213). Um noch mehr Offenheit im Umgang mit den Fragen zu gewährleisten, sowie die subjektive Erfahrungen durch weniger Inputs seitens des Interviewers besser herauszukristallisieren, wurde der Stil eines narrativen Interviews übernommen. „Eröffnet wird das narrative Interview durch die dem Thema der Untersuchung entsprechende Eingangsfrage (‚Erzählaufforderung’), die die Haupterzählung des Interviewten stimulieren soll“ (Flick 2010: 228). Dabei wurde jedoch nicht erwartet, dass der Interviewpartner chronologisch über seine Biografie erzählte. Vielmehr ergaben sich im Verlauf vieler Interviews episodenhafte Erzählstränge zu den jeweiligen Biographieabschnitten. Um gewisse Lernprozesse und –praktiken zu erfahren waren deshalb Fragen zur Generierung von Informationen über die jeweiligen Lebensgeschichten oder zeitlichen bzw. thematischen Abschnitte aus den Biografien nicht vordergründig. Vielmehr wurde den Interviewpartnern überlassen, ob sie ihre Praktiken in biografische Episoden einbetteten. Zentral für die Qualität der aus den Einzelinterviews bezogenen Daten war jedoch, dass die Erzählung des Akteurs
5.6 Dokumentarische Textinterpretation als Auswertungsmethode
121
„nicht seitens des Interviewers durch Fragen [...], direktive [...] oder bewertende Interventionen [...] behindert wird. Dagegen soll der Interviewer als Zuhörer [...] signalisieren, dass er sich in die erzählte Geschichte und die Perspektive des Erzählers hineinversetzt und sie zu verstehen versucht. Dadurch unterstützt und bestärkt er den Erzähler in der Fortsetzung seiner Erzählung bis zu ihrem Abschluss“ (Flick 2010: 230).
5.6
Dokumentarische Textinterpretation als Auswertungsmethode „Die Analyseverfahren der dokumentarischen Methode eröffnen einen Zugang nicht nur zum reflexiven oder theoretischen, sondern auch zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und somit zur Handlungspraxis. Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt insbesondere auf das dieser Praxis zugrundeliegende habitualisierte und z. T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert. Dennoch wird dabei die empirische Basis des Akteurswissens nicht verlassen“ (Bohnsack 2003: 40).
Implizites und handlungsleitendes Wissen zu rekonstruieren ist für die Untersuchung von informellen Lernpraktiken und –prozessen besonders relevant, da Ersteres das Wie dieser Handlungen erklärt. Anhand des inkorporierten Orientierungswissens der Akteure werden die Lernpraktiken erst wirklich sichtbar. Dieses Wissen zeigt wie gelernt wird. Angelehnt an die Wissenssoziologie von Karl Mannheim (vgl. Mannheim 1980) kann einerseits kommunikatives und andererseits atheoretisches, konjunktives Wissen durch die Dokumentarische Methode visualisiert werden. Bezüglich dieser zwei verschiedenen Wissensformen hat Bohnsack mit der Dokumentarischen Methode zwei aufeinander aufbauende Arbeitsschritte der Interpretation entwickelt. Mit der formulierenden Interpretation wird das kommunikative und allgemeine Wissen und mit der reflektierenden dann der konjunktive Sinngehalt sichtbar gemacht. Bei der formulierenden Interpretation werden „Dokumente der Erforschten möglichst so [aufgenommen], wie sie von ihnen selbst produziert werden“ (Blaschke 2012: 62). Die Feldprotokolle selbst könnten theoretisch als formulierende Interpretation gesehen werden, da in dieser Arbeit beständig verschriftlicht wird, was die jungen Männer im Feld kommunizieren und durchführen (vgl. Vogd 2010: 343). Die reflektierende Interpretation ist der darauf aufbauende nächste Schritt der Analyse von Gruppendiskussionen und narrativen Interviews. Es handelt sich dabei um „die eigentliche dokumentarische Interpretation: Das WIE der sozialen Interaktion wird herausgearbeitet, das handlungsleitende Wissen, insbesondere das
122
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
atheoretische praktische Erfahrungswissen wird rekonstruiert und in seiner erfahrungsraumbedingten Genese nachgezeichnet“ (Nentwig-Gesemann 2009: 29). Somit beschäftigt sich die reflektierende Interpretation primär mit dem Dokumentsinn, also mit dem konjunktiven, impliziten Erfahrungswissen. Es werden orientierende Strukturmuster in ihrer Bedeutung für Praktiken, Denk- und Sprachprozesse sowie Handlungen rekonstruiert. Die formulierende Interpretation orientiert sich dagegen am exmanenten Sinngehalt, also daran was von den Akteur*innen explizit angesprochen wird. „Galt es in der formulierenden Interpretation, dem ‚WAS’ eines Interviewtextes auf die Spur zu kommen, so ist die reflektierende Interpretation dem ‚Wie’ gewidmet: Wie wird ein Thema bzw. das in ihm artikulierte Problem bearbeitet, in welchem (Orientierungs-)Rahmen wird das Thema behandelt?“ (Nohl 2012: 41).
Die Analyse fokussieren sich somit auf Handlungspraktiken und Prozessverläufe (vgl. Nentwig-Gesemann 2005: 2), die als Ergänzung sehr gut mit den lebensweltanalytisch-ethnografischen Rekonstruktionen zu verbinden sind. Durch die mehrstufigen Auswertungsschritte werden gemeinsame Bindungen bspw. an ein Milieu und die damit verbundenen gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse identifiziert. Diese finden sich in spezifischen Handlungsmustern und Orientierungen, die Auskunft über die jeweiligen Normen, Strukturen, Denk- und Handlungsweisen sowie Rituale und habitualisierte Praktiken in den entsprechenden sozialen Räumen geben. Während der Auswertung der Gruppendiskussionen stellte sich konsequent die Frage: Was dokumentiert sich in dem Gesagten der Akteure? Die Akteure dieser Arbeit haben während der ethnografischen Untersuchungen ihr praktisches Handeln sowohl implizit als auch explizit in den Interviews erwähnt. D. h., dass über die Dokumentarische Methode genau diese konkreten Handlungen in der Situation der Gruppendiskussionen rekonstruiert werden. In der Gruppe wird dieses Handeln gemeinsam geteilt und gelebt. Nentwig-Gesemann (2005: 4) nennt dies „gelebtes Wissen“. Dieses Wissen kann in den Handlungspraxen der Akteur*innen rekonstruiert werden, wenn ein Einblick in das Handeln der Akteur*innen besteht. Die Forschenden müssen sich bei der Interpretation der Gruppendiskussionen fragen, welche konjunktiven gemeinsamen Orientierungen es gibt. Dies müssen sie vor allem dann, wenn sie mit den Akteur*innen keine gemeinsamen Erfahrungen teilen und nicht verständlich wird, was und wie etwas durchgeführt wird. Deshalb ist es wichtig zu interpretieren, um zu verstehen was z.B. die jungen Männer aus Pratobello denken, wenn sie von einem Wohnbereich in einen anderen gehen oder welches Wissen die Jugendlichen aus Falldorf über die Fitnesskultur haben. Bei der Interpretation geht es vor allem darum die habitualisierten Handlungspraktiken einer bestimmten Gruppe von Akteur*innen für die Forschenden selbst und die anschließenden Lesenden dieser Studie zu ‚übersetzen’.
5.7 Die mehrstufigen Auswertungsschritte der dokumentarischen Methode
123
„[Der] Orientierungsrahmen oder auch Habitus dokumentiert sich in der Handlungspraxis, in deren modus operandi, wie er vorzugsweise on detaillierten Darstellungen (Erzählungen und Beschreibungen), d.h. in dem darin vermittelten atheoretischen (handlungsleitenden) Erfahrungswissen seinen Ausdruck finden“ (Bohnsack 2013: 190).
Die dokumentarische Interpretation unterscheidet zwischen immanentem und dokumentarischem Sinngehalt. „Wenn Menschen von ihren Erfahrungen berichten, so lassen sich diese Schilderungen auf ihren wörtlichen, expliziten, d.h. auf ihren ‚immanenten Sinngehalt’ hin untersuchen“ (Nohl 2012: 2). Letzteres kann man sich anhand der Um-zu-Motive (vgl. Schütz 1974) erschließen, also über die Orientierung des Handelns oder den das Handeln orientierende Entwurf (vgl. Bohnsack 2012: 121). Der dokumentarische Sinngehalt lässt sich dagegen über den Habitus erschließen. „Es geht hier darum, wie der Text und die in ihm berichtete Handlung konstruiert ist, in welchem Rahmen das Thema (etwa eines Interviewtextes) abgehandelt wird, d.h. in welchem „Orientierungsrahmen“ [Bohnsack 2007a: 256] eine Problemstellung bearbeitet wird“ (Nohl 2012: 2). Der Orientierungsrahmen wird durch die Rekonstruktion des Habitus ermittelt, da nach Mannheim (1980: 92) die Erlebens- und Sinnzusammenhänge grundlegend zusammengekoppelt sind. Fundamental für diese Arbeit ist deshalb auch die Unterscheidung zwischen den durch lebensweltanalytische Ethnografie miterlebten und beobachteten Praktiken bzw. dem Habitus und den Handlungsentwürfen, -erwartungen und –intentionen (vgl. Bohnsack/Nohl 2001a). Interessant an der dokumentarischen Methode ist die Beobachtungsperspektive, „die zwar auch auf die Differenz der Sinnstruktur des beobachteten Handelns vom subjektiv gemeinten Sinn der Akteur[*innen] zielt, gleichwohl aber das Wissen der Akteur[*innen] selbst als die empirische Basis der Analyse belässt“ (Bohnsack 2003b, 41). Luhmann nennt dies Beobachtung zweiter Ordnung bezüglich des Interesses am modus operandi der Konstitution des Alltagswissen (vgl. Luhmann 1998: 85ff; vgl. Bohnsack 2003: 64).
5.7
Die mehrstufigen Auswertungsschritte der dokumentarischen Methode
Im Folgenden sollen nun die verschiedenen aufeinander aufbauenden Schritte einer Gruppendiskussionsinterpretation nach der Dokumentarischen Methode anhand von methodischen Bestimmungen kurz erläutert werden. Diese gelten eingeschränkt auch für die narrativen Einzelinterviews.
124
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Wie oben schon erwähnt, beginnt die Dokumentarische Methode mit der formulierenden Interpretation. Ralf Bohnsack schreibt bezüglich der Erfassung von Bedeutungszusammenhängen im Rahmen der Methode: „Solange die AkteurInnen innerhalb des jeweiligen zirkelhaften oder rekursiven Systems, innerhalb des (Orientierungs-) Rahmens, verbleiben [...], spreche ich von einer reflexiven Beziehung resp. von Reflexivität. Im Bereich der Interpretationsschritte der Dokumentarischen Methode ist dies derjenige der formulierenden Interpretation“ (Bohnsack 2017: 77).
Bei der formulierenden Interpretation handelt es sich um eine paraphrasierende Rekonstruktion der thematischen Gliederung. „Im Anschluss daran werden die Stellen im Diskurskontext markiert, die eine hohe interaktive und/oder metaphorische Dichte aufweisen, da diese Sequenzen darauf hinweisen, dass dort der übergreifende Orientierungsrahmen der Gruppe zum Ausdruck gebracht wird. [...] Die anschließende Rekonstruktion der thematischen Feingliederung ausgewählter Sequenzen erfolgt durch die Formulierung, bzw. Paraphrasierung dessen, was wörtlich gesagt wurde und bezieht sich damit auf den immanenten Sinngehalt [...]“ (Ophardt 2006: 136f.).
Der sog. genetische7 Sinngehalt wird dagegen durch die dokumentarische oder auch reflektierende Interpretation rekonstruiert. Ralf Bohnsack schreibt hierzu: „Demgegenüber treten wir im Falle der [...] reflektierenden Interpretation aus diesem Zirkel, Rahmen oder Kontext heraus und sporadisch in einen anderen Zirkel hinein. Dies kann imaginativ geschehen oder derart, dass wir uns einem anderen Fall zuwenden, also empirisch fundiert operieren“ (Bohnsack 2017: 77).
Es handelt sich dabei um die Rekonstruktion und Explikation des Rahmens: „Im zweiten Interpretationsschritt erfolgt eine Rekonstruktion und Explikation (Erläuterung) des Rahmens, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird. Diese Identifizierung von Bedeutungszusammenhängen wird als ‚reflektierende Interpretation‘ bezeichnet“ (Kamin 2014).
Empirisch begründete und plausible Gegenhorizonte sind nach Bohnsack die Vorbedingung für diesen zweiten reflektierenden Schritt (vgl. Bohnsack 2003:
7
genetisch = in seiner Genese / Entwicklung.
5.7 Die mehrstufigen Auswertungsschritte der dokumentarischen Methode
125
38). Hierzu müssen Gegenhorizonte identifiziert werden, die wiederum die Orientierungsfigur und dann die Enaktierungspotentiale8 hervorheben. Das ‚WAS’ der formulierenden Interpretation wird zum ‚WIE’ der reflektierenden Interpretation. Der Übergang zum ‚WIE’ besteht in der Rekonstruktion des Rahmens, innerhalb dessen die Akteur*innen bspw. eine Handlung auf eine bestimmte Weise sehen. Der Kommunikations- und Sinnhorizont des ermittelten Falls wird thematisiert und mit anderen Fällen verglichen. „Dieser Orientierungsrahmen (den wir Habitus nennen) ist der zentrale Gegenstand dokumentarischer Interpretation. Hierbei kommt der komparativen Analyse von vornherein eine zentrale Bedeutung zu, da sich der Orientierungsrahmen erst vor dem Vergleichshorizont anderer Fälle in konturierter und empirisch überprüfbarer Weise herauskristallisiert“ (Bohnsack et al. 2007: 14).
Nach diesen zwei Schritten der Interpretation folgt die Falldarstellung und Typenbildung. Durch die Falldarstellungen werden die Orientierungsrahmen ermittelt. Das bedeutet, dass der Habitus der Gruppen bzgl. des Falles veranschaulicht wird. Um die spezifischen Charakteristika der Fälle herauszufinden, empfiehlt es sich, diese mit anderen Fällen zu kontrastieren, was in dieser vorliegenden Forschungsarbeit mit den jeweils zwei verschiedenen Gruppen an Akteuren innerhalb von jeweils zwei verschiedenen Stadtteilen erreicht wird. Somit basiert die Typenbildung der Dokumentarischen Methode auf den Fallrekonstruktionen. Bohnsack unterscheidet dabei zwei Arten von Typenbildung: die Common-Sense- und die prozessanalytische Typenbildung. Erstere ist von einer zweckrationalen und deduktiven Logik geprägt. Zum einen leitet sie sich von der Common-Sense-Theoriebildungen ab. „Zum anderen finden wir derartige Typisierungen dort, wo Ablaufprogramme des Handelns in objektivierter und normierter Form vorgeschrieben sind, also im Bereich des institutionalisierten und rollenförmigen Handelns“ (Bohnsack in Nohl 2013: 245). Die prozessanalytische Typenbildung basiert auf dem modus operandi9 und arbeitet die jeweiligen Handlungspraktiken an der beobachteten Praxis selbst heraus.
8
Einschätzung der Realisierungsmöglichkeiten; Einschätzung der Chancen, die eigenen Orientierungen zu verwirklichen [vgl. hierzu PPT von Prof.’in Dr. Marion Klein (2017): „Die Auswertung qualitativer Interviews“ aus dem Seminar „Forschungsmethoden I: Methoden der qualitativen Sozialforschung“ an der FHCHP in Potsdam: fhchp.de/wp-content/uploads/2017/02/Dokumentarische-Methode-FT-17.ppt]. 9 Der modus operandi kann aber auch das Produkt inkorporierter – gleichsam automatisierter – Praktiken sein. In diesem Falle ist der Orientierungsrahmen auf dem Wege der direkten Beobachtung der Performanz von Interaktionen und Gesprächen und in der Vergegenwärtigung von körperlichen Gebärden im Medium materialer Bilder, wie u.a. Fotografien, in methodisch kontrollierter Weise zugänglich [...]“ (Bohnsack 2012: 126).
126
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
„Gemeint ist sowohl die sprachliche wie auch die vorsprachliche Praxis. Die Logik dieser Typenbildung ist eine abduktive, die in Analogien oder besser: Homologien bzw. auch funktionalen Äquivalenten und nach Art der komparativen Methode denkt [...] sowie in Kategorien [...] von primären und sekundären Rahmungen. Ich spreche daher mit Bezug auf diese die Praxis strukturierenden Orientierungsmuster von Orientierungsrahmen. Demgegenüber bezeichne ich jene Handlungsentwürfe, an denen das Handeln im Sinne von (zweckrationalen) Um-zu-Motiven orientiert ist und die Gegenstand der Common Sense-Typenbildung sind, als Orientierungsschemata. Den Terminus Orientierungsmuster verwende ich als Oberbegriff für beide (vgl. dazu auch Bohnsack 1997b)“ (Bohnsack 2007: 246).
Die Rekonstruktion des Habitus bzw. des Orientierungsrahmens einer Gruppe wird sinngenetische Interpretation genannt, die dann in eine sinngenetische Typenbildung fließen kann. Um die Erfahrungsräume den Orientierungen zuordnen zu können, muss die soziale Genese in der sog. soziogenetischen Interpretation der rekonstruierten Orientierungen herausgearbeitet werden. „Wenn man herausfinden möchte, in welchem sozialen Zusammenhang die Orientierungsrahmen stehen, darf die Interpretation nicht mehr beim Vergleich zweier Interviews in Bezug auf ein Thema stehen bleiben“ (Nohl 2012: 53). Deshalb wurden für diese Forschungsarbeit mehrere Interviews, Gruppendiskussionen sowie Interview- und Gruppendiskussionspassagen einbezogen, „in denen andere Themen bearbeitet und vor allem weitere Orientierungsrahmen rekonstruierbar werden. Die Fruchtbarkeit des empirischen Vergleichs steigt mit dem Variationsgrad der angewandten Tertia Comparationis“ (Nohl 2012: 53). Durch die vielen verschiedenen Orientierungsfiguren, die sich gerade während der Typenbildung der Gruppendiskussionen ergeben (aufgrund des Milieus, des Geschlechts und/oder des Alters), werden die sozialen Zusammenhänge deutlicher. Dadurch wird auch der Sinn der jeweiligen Handlungen, die von diesen Orientierungen geleitet werden, klarer. Durch komparative Analysen werden bei der soziogenetischen Interpretation überlagernde Erfahrungsräume miteinander verglichen. Dabei werden konstant mehrere Erfahrungsdimensionen kontrastiert und mehrere Fälle zusammengebracht, um eine Typik zu identifizieren (vgl. Nohl 2001). Da es in der sinngenetischen Typenbildung vor allem darum geht herauszufinden, „in welch unterschiedlichen Orientierungsrahmen die erforschten Personen jene Themen und Problemstellungen bearbeiten, die im Zentrum der Forschung stehen“ (Nohl 2012: 52), aber nicht verdeutlicht werden kann „in welchen sozialen Zusammenhängen und Konstellationen die typisierten Orientierungsrahmen stehen“ (Nohl 2012: 52), ist eine soziogenetische Typenbildung nötig. Diese „fragt nach dem Erfahrungshintergrund, genauer nach dem spezifischen Erfahrungsraum, innerhalb dessen die Genese einer Orientierung, eines Habitus zu suchen ist“ (Bohnsack in Nohl 2013: 248). In dieser Studie dient die Dokumentarische Methode als optimale Va-
5.8 Zum empirischen Teil der Untersuchung
127
lidierungs- und Präzisionsmethode im Zusammenhang ethnografischer Forschung. Durch das Einbeziehen von Gruppendiskussionen, narrativen Einzelinterviews und teilnehmenden Beobachtungen, kann man hier durchaus von einem Tertium Comparationis sprechen. „Das gemeinsame Dritte, das Tertium Comparationis ist nun nicht mehr durch ein (fallübergreifend) vergleichbares Thema gegeben, sondern durch den (fallübergreifend) abstrahierten Orientierungsrahmen bzw. Typus [...]“ (Bohnsack in Nohl 2013: 253). Abschließend ist in Bezug auf die Triangulation der Daten zu sagen, dass die Dokumentarische Methode der Interpretation gemeinsam mit den ethnografischen Herangehensweisen eine wichtige und vor allem essentielle Ergänzung für diese hier vorliegende Untersuchung ist. Bohnsack fasst dies wie folgt zusammen: „Die Beobachtung der performativen Performanz vermittelt uns zwar einen unmittelbaren (das heißt nicht nur durch die rekonstruierende Darstellung der Akteur[*]innen vermittelten) Zugang zur Handlungspraxis, zum Modus Operandi. Allerdings ist dieser unmittelbare Zugang als alleinige Datengrundlage keineswegs, wie in der Ethnografie häufig postuliert, als ‚Königsweg’ anzusehen. Denn zum einen ist er mit dem Nachteil verbunden, dass das Verhältnis des [m]odus [o]perandi zu den Ebenen der Reflexion über ihn nicht zugänglich ist. Und zum anderen – und vor allem – gewinnen wir keinen Einblick in die Persistenz, die Dauerhaftigkeit und damit die Generalisierungsfähigkeit dieses [m]odus [o]perandi. Dies ist uns nur möglich auf der Grundlage von Einblicken dahingehend, ob und inwieweit oder wie tiefgehend der Modus Operandi wissensmäßig, das heißt in den handlungsleitenden Wissensbeständen, verankert ist. Dies ist aber lediglich auf der Grundlage von rekonstruierten Darstellungen, also von Erzählungen und Beschreibungen, methodisch zugänglich“ (Bohnsack 2017: 96).
5.8
Zum empirischen Teil der Untersuchung
Die nächsten drei Großkapitel zeigen wie in der Praxis, die Themen Jugendkulturen, Männlichkeit, Raum, Marginalisierung, informelles Lernen sowie Communities of Practice gelebt und erlebt werden. Die Akteure der Einzelinterviews, Gruppendiskussionen und Feldbeobachtungen sind allesamt anonymisiert, wie alle Stadtteile, Städte und Orte, an denen sie agieren und sich aufhalten bzw. agierten und sich aufhielten. Die Namen für die Städte und Stadtteile wurden ohne eine Verbindung zu ihren realen Namen frei erfunden. Es wurde aber darauf geachtet, dass bei den italienischen Namen auch italienische Wörter und bei den deutschen Namen deutsche Wörter benutzt wurden, um die Lesenden auf den Länderwechsel aufmerksam zu machen. Bei der Suche nach Namen für die Akteursgruppen wurde auf Charakteristika der jeweiligen Gruppen geachtet. Für die einzelnen Akteure
128
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
wurden schlicht andere Namen benutzt, die sowohl in Italien als auch in Deutschland bzw. im Ausland verbreitet sind und somit eine Identifizierung der Akteure völlig ausschließt. Zudem wurden an einigen Stellen Fakten, die in den Interviews erzählt werden, verändert, um die Anonymität des Stadtteils zu bewahren. So sind bspw. gewisse Kriminalfälle, die in den Medien für Schlagzeilen gesorgt haben, etwas verändert dargestellt worden.
5.8.1
Die Filosofi (=Philosophen)
Die Filosofi wohnen im italienischen Stadtteil Pratobello im 10. Stadtbezirk der Stadt Sasso. Bei den Filosofi handelt es sich um vier junge Männer, die zwischen 25 und 27 Jahren alt sind und im südlichen Teil von Pratobello wohnen. Zur Interviewzeit befanden sich alle vier in keinem legalen Arbeitsverhältnis. Sie heißen Alberto (Alb),10 Ciro (Cir), Francesco (Fra) und Gennaro (Ge). Francesco lebt in einem Hochhaus des Wohnbereichs L7. Ciro, Gennaro und Alberto wohnen dagegen allesamt im älteren illegal bebauten Wohnbereich Pratobello Antico 1 km entfernt vom L7. Dieser Bereich besteht aus ca. achthundert 3 – 4-stöckigen in den 50er und 60er Jahren aus Backstein und Mörtel gebauten Mehrfamilienhäusern. Einige wurden renoviert und/oder verputzt, andere wiederum sind in einem noch sehr rustikalen Zustand. Einen festen Treffpunkt hat die Jugendgruppe nicht. Zwar bewegen sie sich vorwiegend innerhalb der südlichen Wohnbereiche, aber einen Ort, an dem sie sich regelmäßig treffen, konnte ich nicht beobachten. Meistens sind es die eigenen Räumlichkeiten in den Wohnungen oder Parkanlagen im und außerhalb des Stadtteils oder Sitzgelegenheiten auf der Straße vor den Wohnblöcken. Häufig werden von der Gruppe Orte gewählt, die von Menschen selten heimgesucht werden, um ungestört Unterhaltungen zu führen und Haschisch zu konsumieren. Zudem versuchen die Jugendlichen dadurch auch kriminellen Gruppen auszuweichen, während sie in den Wohnbereichen ihren illegalen Aktivitäten nachgehen. Die Gruppendiskussion mit den Filosofi habe ich in der Garagenwohnung von Gennaro mit einem Mikrofon aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt nutzte Gennaro diese Unterkunft zu Wohnzwecken. Die ehemalige Garage wie auch die Wohnung darüber gehören Gennaros Tante (mütterlicherseits), die ihn von der Obdachlosigkeit befreite und ihm diese Unterkunftsmöglichkeit anbot. Die Garagenwohnung ist eines der vielen Treffpunkte der Jugendgruppe. 10 Die in Klammern gesetzten Buchstabenkombinationen sind Abkürzungen der Akteursnamen, die in den empirischen Kapiteln für die Interviewpassagen genutzt werden, um das Lesen zu vereinfachen.
5.8 Zum empirischen Teil der Untersuchung
129
Die Gruppendiskussion wurde in einem Sitzkreis geführt. Alle Jugendlichen inklusive mir saßen auf Holzstühlen, die in der Garagenwohnung verteilt standen. In der Mitte des Stuhlkreises stand ein kleiner niedriger Tisch, auf dem das Mikrofon und mehrere Packungen Chips lagen. Während der fast zweistündigen Gruppendiskussion drehten und rauchten alle vier Jugendlichen zusammen mindestens drei Haschischjoints, aßen drei große Packungen Chips und tranken Cola, Wasser und Bier. Ciro griff als einziger Diskussionsteilnehmer immer wieder zu Papier und Stift und malte verschiedene Graffitischriftzüge während des Gesprächs. Insgesamt hat die Gruppe sehr konzentriert an der Diskussion teilgenommen und nur Gennaro ist zweimal vom Sitzkreis aufgestanden, um seinen kleinen Hund aus dem Innenhof in die Garagenwohnung zu holen bzw. um auf die Toilette zu gehen. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass alle vier Teilnehmer keine universitären oder sonstige akademische Abschlüsse haben. Ciro, Francesco und Alberto haben jeweils nicht mehr als einen Mittelschulabschluß (in Deutschland niedriger als ein Hauptschulabschluß). Gennaro hat als einziger einen Abiturabschluss und hält sich mit verschiedenen informellen, öknomischen Verkaufspraktiken über Wasser; Francesco ist Drogendealer, Ciro Graffitisprüher und Alberto produziert Reggae- und Technomusik ohne damit jedoch Geld zu machen. Die Jugendlichen haben allesamt einen großen Wissensdurst und eignen sich auch viel Wissen in unterschiedlichen Bereichen an.
5.8.2
Die Isolani (=Insulaner)
Wie die Filosofi auch wohnen die Isolani im italienischen Stadtteil Pratobello. Bei den Isolani handelt es sich um insgesamt 5 junge Männer zwischen 19 und 26 Jahren: Renzo (Re), Sandro (Sa), Ottavio (Ott), Mariano (Ma) und Umberto (Um). Einer von ihnen, Umberto, ist erst ganz zum Schluss der Gruppendiskussion hinzugekommen (in den letzten 10 Minuten). Ich hatte ihn eigentlich nicht mehr erwartet, da er sehr gezögert hatte am Interview teilzunehmen. Er ist Boss einer Drogendealerbande aus dem Wohnbereich L7, wo ich die Gruppe interviewt habe und in der die einzelnen interviewten Jugendlichen auch wohnen. Da es gerade in Italien innerhalb organisierter krimineller Banden ein absolutes Schweigegebot gegenüber Fremden, aber auch innerhalb der Organisationen gibt (viele wissen nicht, wer was wo macht), hat Umberto dieses Schweigen auch nicht brechen wollen. Auch in den letzten 10 Interviewminuten spricht er nie über seine Arbeit, sondern geht nur auf die Fragen ein, die ihn nicht in Gefahr bringen können. Renzo und Sandro sind Zwillingsbrüder, die seit ihrer Geburt im L7 wohnen und gemeinsam mit Umberto aufgewachsen sind. Umberto lebt mit seinen Geschwistern in der Nachbarswohnung von Sandro und Renzo auf derselben Etage. Umbertos Eltern sind schwer Heroinabhängig und der alleinerziehende Vater von
130
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Renzo und Sandro hat sich auch um Umberto und seine Geschwister von Anfang an gekümmert, ihnen zu essen gegeben und sie, so gut es ging, mit allem versorgt. Sandro und Renzo haben beide als Einzige im L7 ihr Abitur gemacht. Dafür sind sie auch bekannt. Beide sind jedoch seit einigen Jahren arbeitslos. Ottavio wohnt ein paar Blocks weiter im selben Hochhaus von Francesco (Jugendlicher aus der Filosofi-Gruppe). Seine Mutter hat ihn und seinen Bruder allein aufgezogen. Ottavio hat die Schule nach der 8. Klasse abgebrochen und ist seitdem arbeitslos. Mariano hat die Schule nach der 7. Klasse abgebrochen und ist Krankenwagenfahrer (stark unterbezahlte Schwarzarbeit dank familieninterner Vermittlungen) und langjähriger Freund von Sandro, Renzo, Umberto und Ottavio. Die Wohnung von Sandro und Renzo ist eine Art Aufenthaltsort dieser Gruppe, da der Vater von Renzo und Sandro dadurch immer für einen sicheren Treffpunkt gesorgt. Dies fungierte als Alternative zu den vielen Gewalttaten und Drogenaktivitäten im Wohnbereich. Ich habe die Gruppendiskussion in der Küche und die Einzelinterviews im Schlafzimmer der Wohnung von Renzo und Sandro aufgenommen. Die Küche, die gleichzeitig auch als Wohnzimmer fungiert, gehört zu den Hauptaufenthaltspunkten der Gruppe, da sie dort genügend Platz haben um Tisch- oder Computerspiele durchzuführen und währenddessen speisen können. Die Wohnung befindet sich im letzten Stock in einem der sechs langgestreckten, vierstöckigen Blocks des L7. Die Wohnungstür – wie viele andere in dem Block und auf der Etage auch – ist fast durchgehend geöffnet und es ist somit möglich direkt in das Wohnzimmer / in die Küche hineinzugucken.
5.8.3
Peppino
Peppino (Pep) gehört zu keiner der zwei eben vorgestellten Gruppen. Trotzdem spielt er vor allem für das 7. Kapitel (Hustling) eine zentrale Rolle und war für diese Untersuchung von äußerster Relevanz. Das Interview mit ihm hat sich Dank der Zusammenarbeit von Renzos und Sandros Vater ergeben. Peppino ist zur Interviewzeit 26 Jahre alt und wohnt im Wohnbereich L3, gegenüber des L2 und nicht weit vom L7 entfernt. Der L3 besteht aus insgesamt drei 14-stöckigen Punkthochhäusern und ist bisher nicht als Hauptdrogenverkaufszone aufgefallen. Trotzdem sind die drei ‚Türme’ für andere illegale Aktivitäten wie häusliche Prostitution und Waffenverkauf bekannt. Die unmittelbar angrenzende ehemalige und mittlerweile verwilderte Ackerfläche dient als Waffenerprobungsort. Bei meinen Rundgängen auf dem Ackerfeld bin ich immer wieder auf sehr viele Patronenhülsen großkalibriger Waffen gestoßen.
5.8 Zum empirischen Teil der Untersuchung
131
Peppino war mit 14 Jahren schon Drogendealer, mehrere Male für kürzere oder längere Zeit im Gefängnis. Nach seinem 16. Lebensjahr ist er vom Drogendealer zum Räuber geworden und hat in dieser Zeit die Mittelschule abgebrochen. Er verübte mehrere Bank- und Supermarktüberfälle. Peppino wurde innerhalb der südlich gelegenen Wohnbereiche von Pratobello zu einer respektierten und bekannten Persönlichkeit im kriminellen Milieu. Nach einer Schießerei während seines letzten Raubüberfalls wurde er an den Beinen und Hoden getroffen. Dies war ein Ereignis, das über mehrere Tagen in den Regionalfernsehern übertragen wurde. Ich selbst besitze einen Zeitungsartikel davon. Nach mehreren längeren und komplizierten Operationen musste er das Krankenhaus mit einem Rollstuhl verlassen und direkt ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung und einer intensiven Rehabilitation, kann Peppino wieder normal gehen. Er lebt z.Z. von seinen Hustlingaktivitäten, darunter auch temporäre Drogendeals. Er wohnt mit seiner Schwester und deren Tochter im L3. Seine Schwester war mit dem Bruder von Umberto (Bandenanführer aus dem L7 und Freund von Renzo und Sandro) zusammen.
5.8.4
Die Transformers
Im deutschen Stadtteil Falldorf im Stadtbezirk Wilfrichhausen der Stadt Vierstadt wohnen die Transformers. Bei den Transformers handelt es sich um vier junge Männer (alle zwischen 18 und 19 Jahre alt), die in verschiedenen Ländern11 geboren wurden, bevor sie nach Deutschland kamen. Karan (Kar) und Gökhan (Gö) sind in der Türkei, Idris (Idri) im Jemen und Ramin (Ra) in Syrien geboren. Idris, Ramin und Gökhan wohnen in der Falldorfer Hochhaussiedlung Weitblick und Karan in der Siedlung Sechzig. Karan hat eine Karriere als Profifußballer in der Türkei begonnen, jedoch nach einigen Jahren abgebrochen und ist zurück nach Vierstadt gezogen. Seitdem ist er arbeitslos und sucht nach einer Möglichkeit in ein regionales semi-professionelles Fußballteam einzusteigen. Seine Hauptbeschäftigungen sind verschiedene Fitnessaktivitäten. Gökhan, Ramin und Idris sind ebenfalls arbeitslos, wobei Ramin eine Ausbildung zum Verkäufer bei einem bekannten Automobilhersteller macht. Außer Ramin hat keiner von den jungen Männern einen Schulabschluss. Gökhan ist wie Gennaro und Peppino ein Hustler und hilft ab und an seinem Onkel in der Autowerkstatt aus. Idris ist meistens im Jugendzentrum um den Sozialarbeiter*innen unterstützend zur Seite zu stehen oder geht zusammen mit Karan in Cafés und Spielhallen. Er gehört der Hooliganszene des Vierstädter Fußballvereins an und ist diesbezüglich auch schon öfter mit dem 11
Die Herkunftsländer wurden zu Anonymisierungszwecken teilweise durch andere ersetzt.
132
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
Gesetz in Konflikt gekommen. Zusammen mit Karan geht er zudem regelmäßig ins Fitnessstudio. Idris hat außerdem ein Mitternachtsfußballangebot ins Leben gerufen, das jeden Freitagabend in der Falldorfer Grundschule stattfindet. An diesem Programm nehmen alle jungen Männer beider Falldorfer Gruppen teil. Alle vier jungen Männer gehen regelmäßig in die Moschee der Siedlung Weitblick.
5.8.5
Die Supporters
Bei den Supporters handelt es sich um drei junge Männer im Alter zwischen 16 und 19 Jahren, Haias (Hai), Mirza (Mir) und Levent (Lev). Sie alle stammen aus der Türkei und wohnen in der Falldorfer Hochhaussiedlung Weitblick. Levent macht eine Ausbildung zum Verkäufer, Mirza arbeitet schwarz bei seinem Vater als Elektriker und Haias ist arbeitslos. Mirza und Haias haben beide die Hauptschule abgebrochen und sind als Boxer in einem Kampfsportverein aktiv. Zudem geht Mirza regelmäßig zum Fitnesstraining und nimmt sporadisch Rapsongs zuhause bei sich auf. Viele Jahre zuvor war er des Öfteren in Jugendzentren außerhalb von Falldorf unterwegs und hat in den dortigen Studios regelmäßig Raptexte geschrieben und aufgenommen. Er hat zudem einige Videos in Falldorf aufgenommen, die sich mit der Thematik des Stadtteils befassen. Noch vor einigen Jahren war Mirza als Drogendealer in eines der Hochhäuser der Siedlung Weitblick tätig. Im Stadtteil war er dafür sehr bekannt und war eine Bezugsperson für die lokalen Drogenabhängigen. Levent hat als Einziger der Gruppe einen Hauptschulabschluss. Alle haben mehrere jüngere und ältere Geschwister und sind dementsprechend auch oft außerhalb der Wohnung. Wie die Transformers auch gehen Haias, Mirza und Levent gemeinsam in die Moschee der Siedlung Weitblick.
5.8.6
Turgut
Turgut (Tur) gehört wie Peppino keiner der vorgestellten Gruppen an, aber bat mich darum ihn unbedingt zu interviewen. Seine Lebensgeschichte und Beobachtungen über Falldorf waren von größter Relevanz für diese Untersuchung und wurden deshalb in die Analyse mit einbezogen. Turgut stammt aus dem Jemen, ist 18 Jahre alt und wohnt in der Falldorfer Hochhaussiedlung Weitblick. Er hat keinen Schulabschluss, aber macht gerade ein Praktikum im Bereich Heizung und Sanitär, um dann eventuell seinen Hauptschul-
5.8 Zum empirischen Teil der Untersuchung
133
abschluss nachzuholen und eine Ausbildung zu beginnen. Turgut gehörte vor einigen Jahren für insgesamt zwei Jahre einer Rockergang an, die in Falldorf für Drogen, Erpressung und Prostitution bekannt ist. Aufgrund mehrerer schlechter Erfahrungen und Gewissenslasten, ist er aus der Gang wieder ausgestiegen und versucht sich, so gut es geht, von seinen damaligen Kollegen fernzuhalten. Alle Interviews und Gruppendiskussionen der Gruppen und Akteure aus Falldorf wurden in verschiedenen Räumlichkeiten des Falldorfer Jugendzentrums durchgeführt. Die Gruppendiskussionen wurden wie in Italien entweder in einem Stuhlkreis mit dem Mikrofon auf einem kleinen Tisch in der Mitte oder an einem Tisch mit dem Mikrofon in der Mitte durchgeführt. Die Einzelinterviews wurden dagegen meist an einem Tisch sitzend im oder draußen auf einer Bank vor dem Jugendzentrum geführt. Die teilnehmende Beobachtung wurde in Falldorf mit beiden Gruppen durchgeführt, da die Transformers und Supporters sowohl im Jugendzentrum als auch im Stadtteil viel miteinander unternahmen, sich teilweise mischten und somit auch nicht getrennt beobachtet werden konnten. In Pratobello – auch aufgrund der Größe des Stadtteils, der vielen Wohnbereiche und aufgrund eines nicht funktionierenden Stadtteil- bzw. Begegnungszentrums – hatten die Filosofi mit den Isolani keinen Kontakt und repräsentieren hier zwei sehr verschiedene Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Tagesstrukturen.
5.8.7
Zur Struktur der empirischen Kapitel
Der empirische Teil dieser Arbeit ist in drei große Kapitel aufgeteilt: Raumpraktiken (Kapitel 6), Hustling (Kapitel 7) und Interaktionspraktiken (Kapitel 8). In den folgenden zwei ersten Empiriekapiteln (6 und 7) wird gezeigt, welche Wissens- bzw. Lernbedarfe aus der marginalisierten Situation der jungen Männer entstehen und welches Wissen dabei relevant wird. Begonnen werden soll mit dem Kapitel der Raumpraktiken, da dieser einen ersten Einblick in die verschiedenen Aktivitäten der jungen Männer aller vier Gruppen gewährt und dadurch den Lesenden auch eine bessere Vorstellung der Stadtteile und Praktiken bietet. Im Kapitel zum Thema Hustling wird eine ganz zentrale (ökonomische) Praktik vorgestellt. Die Praktik hatte für die Untersuchung große Relevanz und wie wird hier vorgestellt, um die Bewältigungsarbeit und den Bewältigungsstil der jungen Männer nachvollziehen zu können. In diesem Kapitel werden hauptsächlich die als Hustler identifizierten jungen Männer aus Pratobello untersucht: Gennaro und Peppino. Ihre Handlungen sind für das Gesamtergebnis dieser Untersuchung und für die (sozialen sowie künstlerischen) Praktiken der anderen jungen Männer aus
134
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign der Studie
beiden Stadtteilen wichtig. Deshalb wird auch hier ein ganzes Kapitel dieser Thematik gewidmet, um u.a. die Bedeutung des Wissensbedarf bezüglich die Kunst, sich zu arrangieren zu erörtern. Im letzten Empiriekapitel (8) werden die Lernräume vorgestellt, in denen dieses Wissen zum Ausdruck kommt. Es handelt sich um Interaktionspraktiken, bei denen es hauptsächlich um Gesprächs-, Dialog- und Diskussionspraktiken handelt. Interaktionspraktiken können auch mit vielen anderen Elementen, Handlungen und Formen in Verbindung gesetzt werden, jedoch fokussiert sich diese Arbeit auf die sprachliche Interaktion der jungen Männer. Körperliche und andere zwischenmenschliche sowie aufeinander bezogene Handlungen werden in dieser Untersuchung wenn dann eher als Raumpraktiken betrachtet. Da das Diskutieren in der Gemeinschaft bei allen vier untersuchten Gruppen besonders präsent war, wurde auf diese Form der Interaktion genauer geschaut. Fokus dieser Untersuchung ist jedoch nicht die Eigenlogik und der Orientierungsrahmen der einzelnen Gruppen. Vielmehr geht es um die Gemeinsamkeiten und Lernpraktiken der jungen Männer, die zu spezifischen und situativen Bewältigungsstrategien in marginalisierten Stadtteilen führen.
5.8.8
Zur Transkriptions- und Übersetzungsarbeit
Gearbeitet wurde in dieser Untersuchung mit zwei Sprachen: Deutsch und Italienisch. Die italienischen Transkripte sowie Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Autoren selbst. Der Slang der italienischen Akteure wurde auch im Deutschen übernommen, um zumindest den ‚Sound’ nicht ganz zu tilgen. Dies hat natürlich bei der Übersetzung auch für Probleme gesorgt, aber nichtsdestotrotz wurde die ‚Seele’ der jungen Männer nicht ‚beschädigt’, da darauf geachtet wurde so nah wie möglich an der Ausdrucksweise der Interviewten zu bleiben. Für die italienischen Gruppendiskussionen und Interviews wurde in der ursprünglichen Formatierung neben dem transkribierten Text zusätzlich die deutsche Übersetzung eingefügt: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Italienisch (Original) Adesso mi fai una domanda? ∟no prima presentazione ∟no devi (.) presentazione Ah piacere sono Francesco (2) Quanti anni hai? Venticinque (2) Ok (.) piacere Alberto ventiquattro anni (2) Ciao sono Gennaro ho ventisei anni (2) º( )º ºVa beneº @(.)@ Ciao sono Ciro a.k.a. TORO ventisette anni
Fm Ym Am Fm Ym Fm Am Gm Fm Cm Am Cm
Deutsch (Übersetzung) Stellst du mir jetzt eine Frage? ∟nein zuerst Vorstellung ∟nein du sollst (.) Vorstellung Ah angenehm ich bin Francesco (2) Wie alt bist du? Fünfundzwanzig (2) Ok (.) angenehm Alberto vierundzwanzig Jahre (2) Hi ich bin Gennaro bin siebenundzwanzig Jahre alt (2) º( )º ºIn Ordnungº @(.)@ Ciao ich bin Ciro a.k.a. TORO siebenundzwanzig Jahre
5.8 Zum empirischen Teil der Untersuchung
135
So wie oben dargestellt wurden aber die Transkripte in den folgenden Seiten nicht eingefügt, sondern lediglich der deutsche Übersetzungstext übernommen. Transkribiert wurden alle Texte nach dem TiQ_Transkriptionssystem (siehe Anhang und vgl. hierzu Bohnsack 1993: 193). Zum besseren Verständnis der einzelnen Transkriptionszeichen findet sich im Anhang eine Legende nach den TiQRichtlinien mit einigen Zusätzen des Autors.
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken in marginalisierten Stadtteilen „Die ‚Sicht von Innen’ weist die Bewohne[nden; DG] des ‚Brennpunkts’ nicht als Opfer marginalisierter Lebensverhältnisse aus, sondern als selbstbewusste Akteur[*innen], die ihre eingeschränkten Ressourcen zu nutzen versuchen und auf ihre Weise (Körper-)Kapital akkumulieren. Sie präsentieren sich als heterogene Gruppe, die sich kaum mit dem homogenisierenden Etikett des medialen Diskurses versehen lassen. Diese Heterogenität wird evident, wenn eine Innensicht die Akteur[*innen] selbst zu Wort kommen lässt und sich somit ihre Lebenssituation und ihr Blick auf das Umfeld erschließt“ (Witte 2011: 288).
Im Folgenden wird dargestellt, wie sich die hier untersuchten jungen Männer aus Falldorf und Pratobello in ihren Wohnquartieren und Sozialräumen bewegen und wie sie auf gewisse Be- und Einschränkungen, Diskriminierungen, Machtverhältnisse und institutionelle Gegebenheiten reagieren, diese vermeiden, angehen oder überwinden. Es handelt sich somit auch um Praktiken des (Über-)Lebens, die sich innerhalb der Peergruppe etablieren und zur Routine werden. Analog zu anderen Studien werden Interviews, die für die vorliegende Studie durchgeführt wurden, von den Akteuren als Plattform genutzt sich mitzuteilen und ein anderes Bild des sozialen Raums zu beschreiben: „Die Interviews werden daher von ihnen auch als eine Möglichkeit gedeutet und genutzt, gegen diesen Diskurs anzugehen, ein Gegenbild zu entwerfen und ihre je eigene Sichtweise auf sich selbst und ihr Umfeld darzustellen. In der für sie bedeutsamen Interviewsituation erleben sie sich als ernstgenommene Gesprächspartner und beschreiben das Viertel, in dem sie leben, als gar nicht so problematisch, wie der öffentliche Diskurs vorgibt“ (Witte 2011: 286f.).
Im Folgenden sollen informelle Lern- und Raumpraktiken anhand der jeweiligen Stadtteile und Akteure hervorgehoben werden, die vor dem Hintergrund der gegebenen marginalisierten Strukturen entstehen. Inwiefern gehen die Jugendlichen mit Marginalisierung innerhalb sowie außerhalb ihrer Stadtteile um und welche Praktiken informellen Lernens werden dabei relevant? Zuerst soll auf die Wahrnehmung der jungen Männer bzgl. ihrer Räume und physisch-materiellen Bedingungen in den Stadtteilen eingegangen werden. Daraus resultieren zugleich schon Raumhandlungen, die eng mit Praktiken informeller © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_6
138
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Bildung verknüpft sind. Später sollen einzelne Praktiken genauer in den Blick genommen und bezogen auf die ihnen zugrunde liegenden Wissensbestände und in ihrer Strukturiertheit analysiert werden.
6.1
Erfahrung räumlicher Marginalisierung
Sowohl im italienischen Pratobello als auch im deutschen Stadtteil Falldorf haben die untersuchten jungen Männer jeweils unterschiedliche Erfahrungen mit räumlicher Marginalisierung gemacht. Hierbei geht es vor allem um ihre Sicht auf ihre Stadtteile bezüglich der erlebten Isolation vom Rest der Stadt und ihre Reflexionen in Bezug auf die Abwertungen durch Medien und Außenstehende. Vor allem die Gruppendiskussionen und Interviews geben einen sehr fundierten Einblick in die Gedankenwelt der jungen Männer und zeigen gleichzeitig, wie sie trotz Marginalisierung und Stereotypisierung sowie Stigmatisierung im Raum handeln.
6.1.1 927 928 929 930 931 932 933 934 935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946 947 948 949
Zwischen Distanzierung und Identifikation DG Idri Kar DG Kar DG Kar Ra DG Kar Ra Kar
„Äh:h könnt ihr mir was über euren Stadtteil erzählen? (.) U::uh (.) o::oh Scheiße (.) fuck ∟das haben wir eigentlich schon; (.) oder? Ja:a aber vielleicht noch nochmal (.) ne konden- also ∟ja okay ∟so ne Zusammenfassung (.) Zusammenfassung (.) äh:hm ∟über welchen Stadtteil meinst du jetz über uns, ∟wo ihr jetzt lebt ∟(hammerhart) will- willste hier über Wilfrichhausen oder so reden? ∟ne erzähl ja (.) wird ( ) Falldorf ähm (.) is in drei Teilen auf- äh (.) aufgeteilt; (.) Siedlung Weitblick (.) äh:hm ist die Seite (.) Kriminalität; (.) zum Glück da (.) wo ich wohne und (.) mein Kollege auch; is da die Gegend (.) wo es eher (.) ruhig ist; nur Familien- (.) -häuser und es gibt noch ein äh (.) [Gökhan: °@(.)@°] das macht mich voll nervös Alter [Ramin: (@geile Scheiße@)] und (.) und
6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung
950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963
Idri Gö Kar
Idri Gö
139
∟dreh dich ma um ∟°@oah Junge@° ∟ ich weiß nich was (ich sagen wollte du Spasti ey) (.) und es äh die andere die dritte Seite is äh (.) son nennen wir das Falldorf-Dorf; (.) da is es ganz ruhig; da is äh da ist nichts los; (.) da:a ja (.) is ∟halt Falldorf (.) da is ∟also egal was du brauchs du muss nach Falldorf kommen; es sei denn (.) du brauchst Brot. (.) du brauchs äh Kaugummi du brauchs (.) Wassereis Bechereis was die kleinen Kinder wollen; (.) äh also (.) nein Spaß du (muss das sehen)“ (GD_Transformers, 2015: Z. 927-963).
Die jungen Männer aus Falldorf antworten auf die Frage des Interviewers eher zögerlich, da implizit klar wird, dass das Thema Stadtteil ein Dauerdiskussionspunkt innerhalb der Gruppe ist – sicherlich auch davon beeinflusst, dass die Medien in regelmäßigen Abständen über Falldorf negativ berichten und somit das Image des Stadtteils mittlerweile omnipräsent ist. Interessant an der Eingangspassage ist, dass Karan Falldorf urban und sozial aufteilt und erst einmal gar nicht auf die üblichen Stereotypen eingeht. Er erkennt zudem, dass der Interviewer mit Stadtteil nicht den Stadtbezirk Wilfrichhausen meint, sondern Falldorf. Es wird deutlich, dass die Jugendlichen Falldorf in drei Wohnbereiche aufteilen. Zum einen wird die Siedlung Sechzig zwar nicht beim Namen genannt, aber als der ruhigere Teil von Falldorf beschrieben. Wie schon in der Stadtteilbeschreibung erklärt, handelt es sich bei der Siedlung Sechzig um eine weitere Sozialwohnsiedlung, die jedoch um einiges kleiner ist als die Hochhaussiedlung Weitblick. Letztere wird dagegen als kriminelle ‚Hochburg’ dargestellt und setzt sich gemeinsam mit der Siedlung Sechzig vom eher dörflicheren Teil von Falldorf ab. Diese sehr genaue Beschreibung zeigt, dass sich die jungen Männer aus Falldorf mit ihrem Stadtteil intensiv auseinandergesetzt haben bzw. weiterhin auseinandersetzen und dessen räumliche Grenzen und Struktur genau präsent sind. Dies findet sich analog im italienischen Stadtteil Pratobello, wo die Wohnbereiche und Zonen von den Jugendlichen dargestellt werden (vgl. ital. Interviews weiter unten). Hier wird also sehr deutlich, dass die Bewohnenden des Stadtteils von Anfang an mit den (unsichtbaren) Grenzen aufwachsen und diese auch während der Kindheit lernen. Im Verlauf dieser Passage zum Stadtteil erwähnt einer der Akteure die gesammelten Erfahrungen als Kind bei der Überschreitung bestimmter Wohnbereichsgrenzen. An dieser Stelle zeigen sich sozialisatorische Lernprozesse. Was in Falldorf im Vergleich zu Pratobello jedoch sehr auffällt, ist, dass die Wohnbereichsgrenzen auch urban und architektonisch voneinander zu unterscheiden sind. Die Siedlung
140
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Sechzig ist von klassischer 1960er-Jahre-Blockbebauung, die Siedlung Weitblick vom Hochhausbau der 1970er-Jahre und Falldorf-Dorf von typischen Ein- und Mehrfamilienhäusern aus den 1930er bis 1990er Jahren geprägt. Allein schon visuell können die so genannten unsichtbaren Grenzen erkannt und dementsprechend dann auch bewusst gemacht werden, dass ein neuer Wohnbereich beginnt. 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002
Kar Idri Kar
Gö
Kar Gö Kar
Idri Kar Idri Kar Idri Kar Gö
Kar
„[...] Falldorf is eigentlich so ne Bruderschaft; (.) sowas hab ich noch nie in anderen Stadtteilen so gesehen (.) Da is die Stimmung gar nich halt famil- familiär; (.) An- also wenn ich andere Stadtteile seh da seh ich nur Leute die sich gegenseitig ficken. (.) Also in dem Sinne da jetz nich so wortwörtlich sondern [DG: ja-ja] (.) @isch meine@ ∟aber weiß du überhaup- (.) weißt du überhaupt woran das liegt? (.) Das liegt auch an den Mädchen; (.) hier in Falldorf gibt’s keine schönen Mädchen; (.) weißt du der eine haut ( ) ∟es es es gibt (.) in Falldorf(.) sagen wir ma ∟zwei drei (.) allerhöchstens zwei-drei ∟von hundert Prozent (.) sind nur zwei Prozent hübsch (.) an [Gökhan: tz::z] doch man (.) die anderen nisch ma zwei Prozent ja die anderen sind (.) entweder Junkies; (.) Gypsies (.) also (.) Zigeuner ∟Zigeuner (.) oder Rumänen ∟Ro-Ro Rumäne; (.) oder halt isch weiß nicht (.) Türken (.) und Kurden ∟halts Maul Alter ∟und Kurden ∟nein man (.) manche sind schon Granaten; (.) (Ja) genau wie mein Freund gesagt hat Gypsies also die sind halt Zigeuner (.) [Ramin: //ahmt ein Schlabbergeräusch nach] ja ey kommt drauf an zum Beispiel (.) nich jeder Türke weiß du is halt scheiße; nich jeder Kurde weiß du (.) scheiße halt so da weiß du nich halt jeder Afghaner is scheiße; (.) und das is halt das. (.) und nich auch jeder Zigeuner is scheiße. (.) ich hab auch Zigeuner-Freunde auch (.) °Mädchen° oder so (.) so auch weiß du so (.) Image-Scheiße Meistens passiert eigentlich auch St-Streitereien durch äh Frauen; (.) durch (.) Weiber und da (.) da wir hier
6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung
1003 1004 1005
Gö
141
keine haben (.) Deswegen also so:o super es solln auch keine Weiber hierhin“ (GD_Transformers, 2015: Z. 964-1005).
Gleich zu Anfang dieser Sequenz wird Falldorf sehr deutlich als „Bruderschaft“, ja als Familie dargestellt. Hiermit wird implizit ein starker Zusammenhalt innerhalb des gesamten Stadtteils deklariert, der auch für die Gruppe von hoher Relevanz ist und im Weiteren als Orientierung an kollektiver Vergemeinschaftung rekonstruiert werden kann. Es wird zwar zwischen den verschiedenen Wohnbereichen unterschieden und es wird auch deutlich, dass die Weitblicker in FalldorfDorf nicht gern gesehen sind. Verhandelt wird hier das Verhältnis der Bewohnenden der einzelnen Siedlungs- und Wohnbereiche innerhalb des Stadtteils, wobei nicht immer explizit wird, welches Quartier konkret gemeint ist. Dabei wird der Stadtteil in unterschiedlichen geographischen Grenzen entworfen. Falldorf wird gegenüber anderen Stadtteilen oder anderen Quartieren in Vierstadt als eine zusammenhaltende Community gesehen, in der keine lang anhaltenden Probleme zwischen einzelnen Wohnbereichen auftreten. Zugleich geht es hierbei um Vergemeinschaftung jenseits von Ethnizität. Laut der Akteure hat Falldorf nicht genügend hübsche Frauen, was Streitigkeiten verhindere. Somit ist Falldorf für die Bruderschaft ein Rückzugsort, an dem keine Konkurrenz bezüglich junger Frauen zu befürchten ist. Zugleich wird deutlich, dass kulturelle, ethnische und nationale Differenzierungen im Zusammenleben der Menschen im Stadtteil eine bedeutsame Rolle spielen. In der Auseinandersetzung der jungen Männer werden die Bedeutung der Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen ebenso verhandelt: Gökhan belehrt seine Freunde, indem er unterstreicht, dass Zugehörigkeit keinen Charakter produziert. 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025
Gö Kar Gö DG Idri Gö
Idri Gö
„Also hier in Falldorf das zu sagen haben also jetz (.) am meisten die Türken. (.) @Ganz andere Themen ( )@ ∟@ja (.) nein guck ma@ Ja (.) inwiefern? (.) Inwiefern? (.) ham also, ∟@ich versteh überhaupt nich warum der kommt mit sagen@ ∟i-in allem. (.) Ja i-is doch so oder nich? (.) Ja der redet von Falldorf zwei Prozent hundert Prozent dies Prozent (.) ich glaube ( ) ∟das Sagen ham die Türken? [Gökhan: ja] (.) Ein Scheißdreck ham die Türken das Sagen wenn du da∟wa-?
142
1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059 1060 1061 1062 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
∟Wer hat das Sagen in Falldorf
Idri wer? Gö Idri Gö Idri Kar Idri Kar Idri
Kar Gö Idri Kar Idri
Kar Ra
Idri Kar Idri Ra Idri
∟ Wer? Wer hat das zu sagen? ∟Keiner hat da was zu sagen. ∟ja klar man ∟natürliey willst du mich verarschen Alter (.) das sind ( ) von hundert Prozent ∟der Arme der Arme der is noch frisch achtzehn ( ) der ∟sind fünfundzwanzig Prozent ∟weiß gar nich was hier abgeht; (.) Nein warte das sind fünfundzwanzig Prozent Kurden Araber. (.) [Gökhan: macht im Hintergrund Summgeräusche] also eins. (.) fünfundzwanzig Prozent Türken fünfundzwanzig Prozent Zigeuner (.) und jetz fünfundzwanzig Prozent Rumäner; (.) da hat doch keiner was zu sagen wer will denn da was sagen? (.) Es kommt dadrauf an ∟ es geht (.) es geht es kommt es kommt nicht auf die Menge es kommt auf die Macht an. Wer dickere Eier hat (.) Wer hat in Falldorf Macht? (.) Kei- isch kann das nicht beurteilen; das kanns du aber auch nich beurteilen ( ) weiter ja; ∟das kann so- (.) natürlich Alter das kann sogar (.) sag mein Vater sein das kann sein Vater sein das kann dein Vater oder dein Vater sein; ∟woher (wisst ihr dass das unser Vater is) das is (Hadscham) Alter was soll der denn hier (.) machen? ∟Nein-nein-nein du has das falsch verstanden; (.) Nein-nein-nein du has das falsch verstanden; (.) er (.) also unser Kollege wollte damit sagen ∟nein Alter ∟isch nich ∟fuckt mich voll ab Alter keiner hat hier was zu sagen. ∟nicht zu sagen der hat das falsch ausgedrückt. (.) Der wollte damit sagen dass (.) Was (wolltest du denn sagen)?
6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung
1072 1073 1074 1075 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098 1099
Ra
Idri Kar Idri Kar Idri Gö Kar Idri Kar Gö Ra Kar Ra Kar Ra Gö Kar
143
∟mehr Türken in Falldorf wohnen; (.) also wie zum Beispiel Kurden; (.) er du kanns mir nich sagen dass mehr Kurden da sind als Türken; (.) Mittlerweile fast gleich viel; ∟Hau ab Alter ∟Siedlung Weitblick? (.) Hau ab Alter; Willst du mich verarschen? (.) Alleine haust du ab und ( ) @(.)@ Ey ( ) Alter; (.) (fuck mich nich ab Junge) [die Interviewpartner rufen unverständlich durcheinander] Sein Nachname is ( ) acht und zehn; ( ) Nein ( ) jetz Spaß beiseite aber (.) da hat der einerseits schon Recht dass (.) das Sagen halt (.) wie soll, ∟nisch sagen Macht ∟( ) nich auch ( ) ∟auch Macht doch Macht doch; ∟( ) ∟ ( ) oder die Leute hier Geschäfte machen; ∟letztens kam hier ( ) seine Geschäfte macht“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1010-1099).
Es scheint am Anfang dieser Passage über den Stadtteil explizit erst einmal nur um den Einfluss verschiedener in Falldorf präsenter Ethnien zu gehen. An dieser Stelle wird ausgehandelt, welche Bevölkerungsgruppe in der Mehrzahl ist und dementsprechend als stärker wahrgenommen wird. Die vier jungen Männer elaborieren über die Nennung von Prozentzahlen die genaue Anzahl an im Stadtteil vorhandenen nationalen und ethnischen Gruppen, was implizit darauf hinweist, dass Falldorf ein multikultureller Stadtteil ist. Dem prozentualen Vergleich wird dann später von Karan in Zeile 1048 – 1050 eine Antithese entgegnet, indem er auf den Einfluss der jeweiligen präsenten Bevölkerungsgruppen eingeht: „es geht (.) es geht es kommt es kommt nicht auf die Menge es kommt auf die Macht an. Wer dickere Eier hat (.)“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1048 – 1050). Bezüglich dieser von Karan aufgeworfenen Proposition schließt Gökhan direkt die Frage an, wer die Macht im Stadtteil überhaupt hätte. Daraufhin elaborieren die jungen Männer mit hoher Lautstärke die Machtverhältnisse der jeweiligen
144
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Nationalitäten im Stadtteil. Es wird dabei erst einmal nicht klar, um welche Art von Macht es sich dabei handelt. Die Mehrzahl an Türken oder Kurden scheint dabei nicht mehr relevant zu sein. Es ist erst einmal nur festzustellen, dass ein subtiler, aber nicht genau identifizierbarer Machtkampf zwischen Türken und Kurden in Falldorf wahrgenommen wird, der die jungen Männer beeinflusst. Dies wird über die Diskussionen, die sie führen, immer wieder deutlich und es scheint auch einige der jungen Männer zu reizen. Gleichzeitig sorgt Ramin dafür, dass sich die Gruppendynamik wieder beruhigt und bestimmte Aussagen genauer analysiert werden. Somit ist hier erst einmal festzustellen, dass innerhalb der Peergruppe Mechanismen der Regulation bestehen, die dafür sorgen, dass die Ruhe bewahrt wird und jeder seine Meinung frei äußern kann. Ähnlich wie in der Filosofi-Peergruppe aus Pratobello (vgl. hierzu Kapitel 8) wird hier eine Streitkultur in Maßen gepflegt, die von internen Mediatoren ausgeglichen wird. In diesem Fall sind Ramin und Gökhan für eine balancierte Atmosphäre zuständig, was auch darauf hinweist, dass die Gruppe an sich wichtig ist und der Vergemeinschaftungscharakter aufrecht gehalten werden soll. Es wird auch deutlich, dass sich die jungen Männer gegenseitig tatsächlich vertrauen und kein Interesse haben, die gemeinschaftliche Konstellation infrage zu stellen. Alle vier jungen Männer wissen, dass sie sich in diesem Raum frei äußern können, was im Stadtteil nur eingeschränkt möglich ist. Somit stellt die Peergruppe ein Lern-, Schutz- und gleichzeitig Fluchtraum dar, unabhängig von der jeweiligen kulturellen Herkunft. Es dokumentiert sich somit an dieser Stelle eine starke Orientierung an Vergemeinschaftung, die dazu führt, dass die jungen Männer in der Peergruppe zusammen agieren. Zum Ende der oben zitierten Sequenz, wird dann deutlicher über welche Machtverhältnisse die jungen Männer sprechen. Das Thema der Nationalitäten wird in Verbindung mit den illegalen Geschäften im Stadtteil gesehen. 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115
Idri Kar
Idri Kar Gö Idri Kar
„∟ey (.) was is denn für dich Macht bitte? ∟letztens wurd doch hier äh ver- (.) so verboten den Leuten hier zu ticken und so [Idris: ja] von wem von welchen Reddies kam das denn? (.) Wer welch- we-welche ∟(der hieß) Wizzard (.) Four City (.) besser gesagt; ∟Türken warn das Junge. Das warn Türken. ∟Türken Bruder ∟ach komm das (.) neunzig Prozent von den Türken äh Red Legions sind Türken Alter; ∟ja:a sag ich doch die ham (.) die Türken ham die Macht hier
6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung
1116 1117 1118 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159 1160 1161
Idri Kar Gö Idri Ra Gö Ra
Kar
Gö Kar
Gö Kar Idri Kar
Gö
Kar Gö Kar Gö
∟weil die nix zu tun haben Alter; ∟halt’s Maul; ∟ja:a halt’s Maul Junge; ∟ja komm her Mann ∟( ) bei uns gibt’s halt mehr Türken; (.) weil du Rumäner sind auch nich zu viele. ∟°@(.)@° Rumäner ( ) da (.) die verkaufen nur Rosen Alter die ham auch (.) der macht auch ∟(die) sind schon viele; (.) aber ( ) (.) die sind nich (.) die lernen doch nix Ma:ann; die gehen nur rum (.) die ziehen nur ab; ∟ich sag dir bi- (.) ich sag dir eins (.) isch weiß isch weiß jetz genau was er meint; (.) ich mein (.) vom (.) Rücken her sagen wir ma die Rückendeckung (.) ham die Türken am meisten; das sag isch ja ganz offen und ehrlich; das hat der bestimmt gemeint; das (.) Ja so mein isch ja ∟die Rückendeckung (.) ha- die größte Rückendeckung hier in Falldorf haben die Türken; das stimmt; (.) weil (.) (äh) hier sind (.) ich sag keine Namen oder so aber hier sind sehr viele Red LegionsAnhänger; (.) und auch von anderen äh:h MotorradGangs; Rockerbanden. (.) °davon weiß ich leider nix° (.) Es gibt hier ∟(wurden (.) wurden) nisch auch hier äh ∟es gibt hier (.) von Red Legions von den Outlaws von den La Fraternidad gibt’s hier sehr viele; (.) und das:s sind halt auch mehr (.) mehr Türken (.) und halt auch n paar Kurden aber das sind halt dann (.) die die sich eher im Hintergrund äh verstecken. ∟aber im Endeffekt weißt du wenn jemand der jetz Kurde is weißt du trotzdem wenn ich den auf der Straße sehen würde (.) jemand peitscht den aus oder haut den ich würd dem trotzdem eine weißt du weil (.) ich (bin halt) ∟ich weiß ich weiß aber (.) Ich bin halt weißt du wie soll ich das sagen (halt man) ich bin halt weißt du ∟(@halt gut@) (.) @gut@ (.) also (.) zum Beispiel weißt du mit dem guck
145
146
1162 1163 1164 1165 1166
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Kar
ma ich mach nur mit dem die Späße weißt du zum Beispiel (.) //pscht-ähnliches Geräusch von anderem Gesprächspartner// so weißt du mit (.) okay mein halt nich übertrieben beleidigen aber (.) @(3)@“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1100-1166).
Die Frage von Idris „was is denn für dich Macht bitte?“ entfaltet propositionalen Gehalt im Verlauf dieser Sequenz und eröffnet dem Interviewer eine Parallelwelt der kriminellen Gruppierungen, die sich im Stadtteil aufhalten und dort ihr Drogenbusiness kontrollieren. Hierbei wird implizit auch deutlich, dass Macht durch Gewalt ausgeübt wird. Somit wird spätestens ab Zeile 1112 klar, dass sich die Macht nicht auf die Nationalitäten und kulturellen Hintergründe beschränkt, sondern auf diejenigen Rockerbanden, die in Falldorf illegale Machenschaften durchführen. Idris scheint Gangmitglieder zu kennen, will sie jedoch namentlich nicht nennen, erklärt aber dafür, welche Rockergangs in Falldorf existieren und welche Nationalitäten in ihnen stärker und weniger stark repräsentiert sind. Hier zeigt sich, dass die Gangs teilweise nach kulturellem Hintergrund aufgeteilt sind und die Macht auch von der Anzahl der Mitglieder abhängt – wobei viele Motorradbanden auch Kontexte der Vergemeinschaftung jenseits der Ethnie bilden. Die türkischstämmigen Rockerbanden sind nach Aussage der jungen Männern die präsenteren und aufgrund der breiteren „Rückendeckung“ somit auch die stärkeren. Auch wenn der Vergleich zwischen den Ethnien im weiteren Verlauf der Sequenz ausläuft und nicht mehr im Vordergrund steht, ist ein gewisser Wettkampfgeist bei den jungen Männern diesbezüglich zu beobachten. Hier dokumentiert sich zugleich eine für den Stadtteil relevante Konfliktlinie. In mehreren informellen Gesprächen während des Forschungsaufenthalts wie auch in Medienberichten im Untersuchungszeitraum wurde auf gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken sowie zwischen Libanesen und Sinti und Roma im Stadtteil verwiesen. Dieser Hintergrund bestätigt aber erneut, dass die jungen Männer an sich gearbeitet haben und noch immer an sich arbeiten und sich von diesen Stadtteildynamiken nicht negativ beeinflussen zu lassen, indem sie diese Konflikte in Diskussionen offensiv verhandeln. Idris, Karan, Gökhan und Ramin haben – auch unter Moderation von Pädagog*innen des Jugendzentrums – gelernt negative Dynamiken in positive und humorvolle Diskurse umzuwandeln. Gökhan konkludiert die Passage zum Stadtteilklima mit einer Solidaritätsbekundung gegenüber Kurden und unterstreicht somit sein Desinteresse an negativ konnotierter kultureller Unterscheidung. Vielmehr ist er am Zusammenhalt der eigenen Gruppe interessiert. An dieser Stelle wird eine deutliche Abgrenzung von den kriminellen Praktiken deutlich. Im Falle von Gökhan ist eine Beteiligung in den Gangs auszuschließen, aber er ist ein Hustler, der das ein oder andere Geschäft
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147
im Stadtteil abwickelt (siehe hierzu Kapitel 7) und gewisse Geschäftsgrenzen nicht überschreiten möchte, um möglichst ruhig arbeiten zu können. Es dokumentiert sich hier eine Orientierung an Vergemeinschaftung und Konfliktvermeidung, die das Enaktierungpotential der humorvollen Infragestellung dieser gewaltförmigen und machtbezogenen (nationalkulturellen und ethnischen) Differenzierungen im Stadtteil beeinflusst. Die Gangs und die kontinuierlichen Machtkämpfe stellen in dieser Sequenz den negativen Gegenhorizont und die konstruktive Gesprächsatmosphäre der Peergruppe den positiven Horizont dar. Idris, Karan, Gökhan und Ramin sind der Gegenentwurf einer Rockergang. Sie schaffen sich durch ihr Freundschaftsbündnis einen Fluchtraum, der sie vor geschäfts-, macht-, gewalt- und kriminalitätsbezogenen Konflikten schützt. An dieser Stelle dokumentiert sich eine Orientierung des Zusammenhalts, die für diese Gruppe besonders relevant ist. Die Transformers gehen ferner auf die geographische Isolation des Stadtteils ein und beschreiben die teilweise daraus resultierenden devianten Handlungen: 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
DG Kar Ra Kar
Ra Idri Kar Ra Kar
„Ja gibt’s da n Unterschied dann zu anderen Stadtteilen also, [Gökhan: ja] ∟auf jeden Fall der Unter- (.) ∟ (is einfach) (.) (scheiß) Stadtteil ∟der Unterschied hier und den anderen is enorm (.) enorm das kanns du (.) das kannst du:u (.) isch also meiner Meinung nach kannst du Falldorf (.) mit keinem anderen Stadtteil hier aus Vierstadt vergleichen. (.) Kannst du gar nich. (.) Also wie ( ) aufgefallen is ( ) ∟ das kommt aber auch für mich ∟das is aber meine Meinung; ∟ist dass Falldorf (.) abgegrenzt is.(.) is zwei Kilometer von Singtal entfernt; zwei Kilometer von Fries (.) zwei Kilometer von Hieling; (.) Zwei Kilometer nach Haldental [Ramin: ja (.) nach Kursting zwei Kilometer] (.) das is halt immer (.) wie soll ich sagen so unser Stadtteil is halt (.) wenn (.) du sagen wir mal sagen wir mal wenn du jetz (.) zwei Jahre lang (.) über Falldorf recherchierst; (.) dich hier auseinandersetzt; (.) die Leute befragst (.) deine Zeit verbringst; (.) wirst du merken (.) dann kommst du in Ecken rein in Falldorf (.) in Wohnungen sag isch mal (.) sowas hast du noch nie gesehn; sag ich dir ganz offen
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1205 1206 1207 1208 1209 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217 1218 1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244 1245 1246 1247 1248 1249 1250
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
DG Kar
Gö Kar
Ra
Kar Ra Kar Ra Gö Kar Ra Kar Ra Kar Ra Kar
und ehrlich. (.) Würdest du ∟ich sag ganz offen und ehrlich (.) es gibt in Kellern (.) es gibt sozusagen eine wortwörtlich eine Drogenküche is da drin; (.) dort wird (.) vierundzwanzig Stunden (.) sieben Tage die Woche wird dort gekocht; (.) wird nur noch gekocht; (.) und das is halt (.) die Geldquelle die sich (.) so:o (.) manche sagen wir mal (.) zehn Prozent hier in Falldorf (.) das is die Geldquelle von denen. (.) Und ich finde ni:irgendswo anders gibt es sowas. (.) nirgendswo anders ∟also da ∟und hier wird der Rücken (.) hier wird der Rücken sogar (.) das is hier sozusagen (.) die die hier äh (.) vermieten (.) mieten und so weiter etcetera (.) die sind korrupt; (.) [DG: °mhm°] °ehrlich° also die werden gekauft die werden gekauft; (.) damit die die Fresse halten; (.) [DG: °mhm°] und so is halt diese Drogen- äh (.) Maschinerie sag ich mal so wird die weiterhin unterstützt und da hat man keine Chance. (.) Also das hat keinen kein Stadtteil (.) hier in Vierstadt hat das; (.) von Deutschland kann ich nix behaupten weil (.) dazu war ich noch nich überall und hab mich jetz noch nich erkundigt. (.) Hier war ja auch in Falldorf z- äh:h (.) Falldorf hat ja auch eine (.) eigene:e Revier Polizeirevier (.) [DG: °ahja genau°] äh:hm (.) nach ner Zeit also das war zwar schon so in (.) also was heißt in (.) da warn halt Polizisten drin (.) aber jetz is das halt geschlossen weil das glaub ich abgebrannt wurde oder so; (.) Das doch offen, ∟nein (.) [Km: doch] da sind keine mehr (.) Das sind offen; ∟nein ∟is offen ∟natürlich Bruder is das offen; (.) Nein man (.) das is zu. (.) Woher weißt du das? ∟dann gab’s das früher; (.) warum woran siehs‘ du den äh ∟warst du vielleicht ein Teil davon? ∟warum siehst du den Dings nich mehr? (.) Wie heißt der? //schnipst überlegend mit dem Finger// ∟Wolfgang?
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1251 1252 1253 1254 1255 1256 1257 1258 1259
Ra Kar Ra Kar
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(.) Wolfgang is Dings in (.) Kurting stationiert du (.) Der war früher hier warum is der in Kurting ∟der hat fünfzehn Jahre lang hier gearbeitet der wollte nisch mehr isch hab ihn doch in Kurting noch gesehen; (.) ( ) warum schreist du jetz auf einmal, ( ) ∟weil du behindert bis so viel zum Thema Bildung;“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1178-1259).
Karan und Ramin weisen auf die geographische Abschottung des Stadtteils mit Kilometerzahlen hin. Falldorf scheint demnach wie eine Insel isoliert zu sein. Dies ist mitunter auch ein weiterer Grund, warum der Stadtteil von den jungen Bewohnern „Los(t) Santos“ genannt wird (vgl. ausführlich den Begriff unter Kapitel 8.8). Die jungen Männer sagen explizit, dass Falldorf nicht mit anderen Stadtteilen zu vergleichen sei gerade aufgrund dieser geographischen Lage, aber wie Idris später näher erklärt auch bezüglich der kriminellen Handlungen, die dort durchgeführt werden. Die Drogenküchen werden als Beispiel dafür herangezogen, dass aufgrund der physischen Abgelegenheit des Stadtteils ein gewisser Freiraum für kriminelle Machenschaften herrscht, der in anderen Wohngegenden eher schwieriger zu finden bzw. aufzubauen sei. Hier wird eine bestimmte Exklusivität im Drogenhandel hervorgehoben, die sich von anderen Umschlagsorten absetzt. Karan erklärt, dass allein das Drogengeschäft – trotz lediglich zehnprozentiger Teilnahme der Gesamtfamilien in der Siedlung Weitblick – ein sehr machtvolles Geschäft sei. Dies zeigt auch das Ausmaß der wahrgenommenen Abgrenzung der kriminellen Gruppierungen aufgrund ihrer Geschäfte. Korruption unterstützt aus Sicht der jungen Männer diese Machenschaften zusätzlich und verstärkt die Isolation des Stadtteils. Diese Beschreibungen und Erzählungen der jungen Männer weisen auf eine auch sozial hervorgebrachte Einschränkung der sozialen Mobilität und Interaktion hin. Die Staatsgewalt scheint nämlich trotz eines eigenen Büros im Wohnviertel nicht präsent genug zu sein – zumindest für einige der interviewten Akteure. Die jungen Männer gehen hierüber in Auseinandersetzung. Es wird darüber diskutiert, inwiefern die lokale Polizei ihr Büro noch bezieht und inwiefern Präsenz in der Siedlung gezeigt wird. Die Auseinandersetzung über die Existenz der Polizeistation am Ort steht einem kollektiv verbürgten Wissen um die Macht krimineller Gruppierungen gegenüber. Der Staat ist so wenig präsent, dass selbst unter den jungen Männern Uneinigkeit herrscht, ob die Polizeistation noch geöffnet sei oder nicht. Die Polizist*innen im Stadtteil spielen somit in ihrer Wahrnehmung keine wesentliche Rolle. Es ist davon auszugehen, dass ähnlich wie in Pratobello auch, Menschen ‚gekauft’ werden, damit das Drogengeschäft weiter florieren kann. Dadurch, dass die jungen Männer auch im weiteren Verlauf der
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Gruppendiskussion nie die Polizei erwähnen – außer in der oben zitierten Sequenz bezüglich des Stadtteilbüros -, wird deutlich, dass diese für die Jugendlichen kein relevanter Akteur im Stadtteil ist. Aus den negativen Gegenhorizonten der Isolation, Kriminalität und staatlichen Vernachlässigung sowie aus den positiven Horizonten der besser gelegenen und ruhigeren Stadtteile in Vierstadt ergibt sich ein Orientierungsgehalt der Akzeptanz der bestehenden kriminellen Strukturen des Stadtteils Falldorf. Die Gruppe der Isolani aus dem italienischen Stadtteil Pratobello sehen diesen dagegen mit einer Mischung aus Distanz und Identifikation: Mariano beginnt mit einer sehr positiven, auf die infrastrukturellen Fakten des Stadtteils bzw. des Wohnbereichs bezogenen Beschreibung: 1570 1571 1572 1573 1574 1575 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584 1585 1586 1587 1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598 1
DG Ma
Ott
Ma Ott Ma Ott Ma
Re
Ott Re
Könntet ihr mir etwas über euren Stadtteil erzählen? (3) Für mich ich sag die Wahrheit mir gefällt Pratobello (2) mir gefällt es wei::l //räuspert sich// ( ) die Leute (2) u::nd mir gefällt es wei::l //räuspert sich// wir hal- wir Geschäfte haben wir haben eine Menge an Sachen die:: uns die Möglichkeit geben zu: handeln/ Sinne zum Beispiel Supermärkte äh Geschä- all das was du willst/ es is nicht so dass dir etwas fehlt wie wie in Pratobello1 ne Na ja was diese Sa- diese Aspekte angeht geht es/ es gibt alles glücklicherweise/ zum Beispiel im L9 gibt’s nichts/ die haben nicht einmal ein Geschäft/ es gibt nichts (.) hier in der Nähe ∟ja ich sag ich rede über unsre Gegend/ genau hier ∟Jaja inHier gibt es Gott sei Dank was diesen Aspekt angeht alles also: Es gibt viele Geschäfte:: auch au- äh es gibt den Superma:rkt es gibt ne Menge: Bewegung/ so (.) und normal das was die Leute machen interessiert uns nicht (.) ich guck auf mein Leben Also so als Stadtteil so auf struktureller und logistischer Ebene ist es optimal weil alles günstig gelegen is/ von daher wie sie sagten Supermärkte Kleidung Unterwäsche äh:: Drogeriemarkt du hast also wirklich alles in unmittelbarer Nähe von daher kann man sich über nichts ∟Jaja beklagen/ aber genau der einzige Makel ist tatsächlich
Hier wird aus der Perspektive des Wohnbereichs L7 gesprochen und Pratobello als Stadtteil um den L7 herum gesehen, obwohl der L7 in Pratobello ist.
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1599 1600 1601 1602 1603 1604 1605 1606
Ma Re Ma Ott Ma
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(.) wer ihn lebt wer ihn lebt äh:: we::r ihn äh zu dem ∟wer von draußen kommt macht was er ist das was er jetzt ist der Ruf den er jetzt ∟wer von draußen kommt ∟klar hat ist Dank diesen Personen die in ihm leben von daher isses keine schöne Sache [...]“ (GD_Isolani, 2015: Z. 1570-1606).
Daraufhin schließen sich auch Ottavio und Renzo Marianos positiver Beschreibung an, auch wenn Renzo den „einzigen Makel“ (vgl. GD_Isolani, 2015: Z. 1598) in den Menschen, die im Stadtteil wohnen sieht. Mariano ‚korrigiert’ diese Aussage jedoch sofort und verweist auf die Menschen außerhalb der Wohngegend als ‚Makel’. Gleichzeitig wird als weitaus schlimmer der Wohnbereich L9 (wohl nur bezogen auf die Infrastruktur) zur Kontrastierung beschrieben: „glücklicherweise/ zum Beispiel im L9 gibt’s nichts/ die haben nicht einmal ein Geschäft/ es gibt nichts“ (GD_Isolani, 2015: Z. 1580-1581). Von der Beschreibung der Grundsätze des Stadtteils dokumentiert sich in eben zitierten Zeilen der Übergang zu einer sehr generellen Kurzbeschreibung der Menschen vor Ort. Somit zeigen sich die Stadtteilbewohner, der L9 und Pratobello als die negativen Gegenhorizonte und die Infrastruktur, der Konsum und der L7 als positive Horizonte. Pratobello wird außerhalb der Grenzen des L7 gedacht und nicht in der Frage nach dem Stadtteil als Gesamtes mitreflektiert, sodass das Enaktierungspotential hier die Verteidigung des L7 ist. Der L7 wird im Kontrast zum L9 und zu Pratobello als der Stadtteil beschrieben, woraus sich die Orientierungsfigur der (positiven) Identifikation entwickelt und sich auch als Strategie zum psychischen Überleben heraus kristallisiert. Dabei zeigen sich zwei unterschiedliche Perspektiven bezüglich der Negativität des Stadtteils bzw. des Wohnbereichs: Mariano sieht in den Außenstehenden, und Renzo in den Bewohnern des Stadtteils das Problem. Mit Ottavios historischen Rückbezug bzgl. des Abrisses des Stadtteils wird jedoch wieder deutlich, dass die Infrastruktur nicht das Problem sei, sondern die Menschen: „es bringt nichts die Blöcke abzureißen wenn die Leute dieselben sind“ (GD_Isolani, 2015: Z. 1610-1612). Mit dem Stimulus „Erzähl mir was von deinem Stadtteil“ elaboriert Ciro der Filosofi-Gruppe das Thema, indem er die These „Pratobello ist sich selbst überlassen“ (EI_Ciro, 2014: Z. 200f.) aufwirft. Ciro arbeitet das Thema Stadtteil weiter aus, indem er auf die geographische und infrastrukturelle Isolation des Stadtteils, die ignoranten Menschen, die darin leben und auf einen geringen Respekt seitens der Bewohner hinweist. Pratobello sei vernachlässigt weil die Nahverkehrsmittel nicht ausreichend seien um ins Stadtzentrum oder andere Gegenden von Sasso zu
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
gelangen. Die Menschen seien ignorant weil es wenig Respekt gäbe und die Mentalität dazu beitrage. Näher führt Ciro jedoch das Thema nicht aus. 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225
Cir
„[...] aber leider weil es ein Problem der Mentalität ist u::nd deshalb die Leute nichts/ es sind die Leute die:: ein wenig verändert werden müssten die Mentalität der Leute die Kultur der Leute weil wir ein wenig in- mit Ignoranz leben und den Leuten glaub ich gefällts auch auch ignorant zu sein (.) aber ignorant im Sinne von entweder ich habe so getan als hätt ich nichts gesehn oder so getan als ob ich nichts gehö::rt hab weil sie in ihrer na ja kleinen Welt bleiben wollen (.) von daher isses das/ plus fügste die Probleme mit dem Nahverkehr hinzu die Probleme mi::t den wenigen Institutionen jedenfalls äh:: wenige ((Jugend-))Zentren um außerschulische und außerarbeitischere Aktivitä::ten zu machen [...]“ (EI_Ciro, 2014: Z. 213-225).
Ciro beschreibt eine Welt, die für ihn zu klein ist und von den Bewohnern selbst konstruiert wird. Wie in einer vorherigen Passage von Ciros Interview zu entnehmen ist, beschäftigt er sich in seiner Freizeit neben seiner Arbeit als Parkwächter vor allem mit Musik und Graffitis. Sie stellen für ihn eine neue Welt dar, die größer, bunter und spannender ist als die der Bewohner von Pratobello: 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105
Cir
„[...] (.) von daher gefällt mir am Aerosol vor allem die Buchstaben und dann die Farben also weil die Farbe::n (.) sie geben dir Harmonie Freude (2) aber Buchstaben Buchstaben Buchstaben (5) Lust auf Kommunikation vor allem das weil auf jeden Fa::ll Graffitis Kommunikation sind (.) entweder sag ich dir meinen Namen oder ich zwinge dir meinen Namen auf oder ich zwinge:: dir Sprü- Wü- Würmer Monsterchen Bilder Figuren auf es is jedenfalls kommunizieren Botschaften hinterlassen (3) Buchstaben Buchstaben Buchstaben (4)“ (EI_Ciro, 2014: Z. 95-105).
Pratobello scheint der negative Gegenhorizont zu Ciros Freizeitbeschäftigungen zu sein, wenn diese zwei Passagen gegenübergestellt werden und das Gesamtinterview genauer betrachtet wird. Ein Problem jedoch werfen die sich differierenden Aussagen von Ciro auf: Pratobello wird als geographisch und infrastrukturell isoliert wie auch ignorant aufgrund seiner Mentalität dargestellt. Gleichzeitig wird dieses Problem auf ganz Italien und andere Stadtteile von Sasso bezogen. Also scheint es kein isolierter Fall zu sein, wie es Ciro am Anfang der Passage zu meinen scheint.
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200 201 202 203 205 206 207 208 209 210 211 212
Cir
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„Pratobello ist ein Stadtteil eines der vielen Stadtteile in Sasso (.) ähä ich würd sage::n daß wirklich sich selbst überlassen ist (.) ein Gebie::t ein Gebiet wo:: die Nahverkeh::rsverbindunge::n nicht ausreichnd sind (.) Stadtteil wo:: leider die Leute ignorant sind aber weil sie es so wollen wollen (3) Stadtteil wo es wenig Respe::kt gibt aber ich denk wie:: in sehr vielen Teilen Italiens u::nd jetzt red ich nur von Italien und von Sasso (.) im Gegenteil ich spreche nur von Sasso (.) von anderen Stadtteilen von Sasso wie wie überall sollte man nicht das Kind wie man sagt ne man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten [...]“ (EI_Ciro, 2014: Z. 200-210).
Ferner ist seine These, dass Pratobello der schönste Stadtteil sein könnte und seine Antithese, dass Pratobello kriminell und benachteiligt sei. 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237
Cir
„[...] Pratobello könnte eines der schönsten Stadtteile sein wie es die Stadtteile im Zentru::m sein könnten/ wie die Vinelli auf der Massa/ es gibt viele Stadtteile aber leider ein wenig die Mentalität ein wenig die Kultur u::nd ein wenig weil es sich selbst überlassen ist (.) kurzum auch der Ruf als einer der benachteiligsten Stadtteile von Sasso Klei- kleine Kriminalität Dro::gendealereien man spricht oft von Pratobello als der Stadtteil von Sasso der verschmäht is (.) abe::r ich denk nicht dasses nen Stadtteil gibt der verschmäht is (.) also nen benachteiligteren Stadtteil [...]“ (ebd. Z. 221-230).
In der Darstellung von Ciro dominiert eine distanzierte und kritische Bezugnahme auf den Stadtteil: Isolation, Kriminalität, Vorurteile und Ignoranz dokumentieren sich als vier wesentliche negative Gegenhorizonte in der gesamten Passage. In Abgrenzung dazu stellen der Stadtteil Vinelli, die Institutionen (die es jedoch nicht genügend gibt), die Moral bzw. der Verstand und die Schönheit den positiven Horizont dar. Sowohl die negativen als auch die positiven Horizonte werden abwechselnd immer wieder explizit oder implizit genannt und wiederholt. Diese Wiederholungen gestalten die Inhalte sehr allgemein und lassen praktisch keine Einblicke in detaillierte und exemplifizierende Ausarbeitungen zu. Dies wird vor allem darin deutlich, wie Ciro sein Graffitihobby in all seinen Details und Gefühlen beschreibt. Pratobello beschreibt er im Vergleich hierzu als quasi gefühllos. Zusammengefasst dokumentiert sich so über Ciros Passage hinweg eine Orientierung an der Distanzierung zum Stadtteil(geschehen). Pratobello wird aus der
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Vogelperspektive betrachtet ohne in die Details hinein zu zoomen. In dieser Hinsicht spielt für Ciro Pratobello als Gelegenheitsraum kaum eine Rolle. Er sucht sich seine Stimulationen und Gelegenheiten außerhalb seines Stadtteils.
6.1.2 539 540 541 542 543 544 545 546
Reflexion von Abwertung2 Mir
„°Joa° mein Stadtteil is‘ soziales (.) soziales Brennpunkt. (.) Das weiß man. (.) //räuspert sich// Ähm (.) wo ich lebe sind äh (.) is‘ soziales Brennpunkt; (.) wo ich genau lebe sind halt (.) einige Hochhäuser das höchste is‘ vier‘ndzwanzig Etagen; (.) mit vier‘ndzwanzig Etagen; (.) und dann (.) halt sind noch fünfzehn(.) Hochhäuser dabei (.) jeweils mit fünfzehn bis (.) acht Etagen“ (EI_Mirza, 2015: Z. 539-546).
In Mirzas Darstellung entfaltet der Stadtteil als architektonische Form propositionalen Gehalt. Dies wird im weiteren Verlauf ausgearbeitet. Die architektonische Beschreibung des Stadtteils nutzt Mirza als visuellen Einstieg, um während der Elaboration die Herkunftsvielfalt der Bewohnenden und die kriminellen Dynamiken darzustellen. Hierbei handelt es sich um einen negativen Gegenhorizont und eine Bestätigung der üblichen medialen Vorurteile gegenüber Falldorf: Drogendealer, Drogenabhängige, Zuhälter und Gangs. 556 557 558 559 560 561
Mir
„[...] in den Hochhäusern wird viel (.) Drogen verkauft. (.) //räuspert sich// (.) Gibt’s viele Drogenabhängige. (.) Es gibt auch (ander’n) (.) es gibt Zuhälter; (.) Teil(e) von Gangs; (.) //räuspert sich// (.) alles halt. (.) Von der kriminellen (.) Seite (.) ( dat sagen) (.) //räuspert sich// [...]“ (EI_Mirza, 2015: Z. 556-561).
Analog zu den oben interpretierten Textstellen zählt Mirza deviante Handlungen im Stadtteil auf, die in verschiedenen Medienberichten in großer Menge nachzulesen sind. In Abgrenzung dazu unterstreicht er jedoch, dass es auch Bildungserfolge unter den Falldorfern gäbe und stellt so den positiven Horizont dar. 569 570 571 2
Mir
„Einer (.) st:::::tudiert ähm (.) Medizin oder wei- (.) (ne) ich glaub‘ Medizin war das; (.) ich bin mir nich‘ sicher auf jeden Fall macht (.) er studiert. (.) Das reicht schon in
Das Thema hier wird nur als Perspektive aufgeworfen, als Verhandlungsgegenstand aber später detaillierter in Kapitel 8 analysiert.
6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung
572 573 574 575
155
einen sozialen Brennpunkt. (.) //räuspert sich// Ich werde in die Schule gehen; (.) zum Beispiel. (.) We-wenn du sags‘ (.) Schule jetz‘ im Gegensatz zu Studium is‘ jetz‘ nichts Großes ne (.)“ (EI_Mirza, 2015: Z. 569575).
Mirza weist die beschriebenen Bildungsaktivitäten von Bekannten und von sich selbst als besonders in Falldorf aus. Es wird nicht als Normalität von Jugendlichen dargestellt die Schule zu beenden oder gar danach zu studieren. Es wird in Mirzas eigenem Horizont selbst als unerwartet geschildert. Somit schaut er in diesem Moment selbst implizit aus der Perspektive eines Außenstehenden auf den Stadtteil. Der Medizinstudent ist hiermit der positive Horizont und der Schulabbruch oder generell die Abwesenheit formaler Bildungserfolge der negative Gegenhorizont. So kann Mirzas Vorhaben zur Schule zurückzukehren als das Enaktierungspotential in dieser Passage gesehen werden; Distinktion und Abgrenzung von den Umständen wie auch Identifikation mit Falldorf bilden somit wichtige Orientierungsgehalte. Dabei handelt es sich um eine ambivalente Positionierung, die Unsicherheit des Akteurs aufzeigt. 593 594 595 596 597 598
Mir
„[...] wenn ich auch irgendwo hinfahre äh; wenn ich auch dir sage der sieht scheiße aus ( ) vielleicht is‘ (.)
is‘ der auch so’n äh Dummer oder wat weiß ich was; aber solang‘ ich den nich‘ (.) persönlich kenne kann ich auch nich‘ über den urteilen; (.) zum Beispiel. (.)“ (EI_Mirza, 2015: Z. 593598).
Mirza stellt dar, dass er wenn er andere Stadtteile besucht nicht sofort über die Menschen dort urteilt, sondern zuerst versucht die Bewohnenden richtig kennenzulernen. An dieser Stelle beschreibt er ein weiteres Enaktierungspotential, der den oben genannten Orientierungsgehalt der ambivalenten Positionierung zum Stadtteil erneut dokumentiert. Mirza erwartet somit dieselbe Verhaltensweise gegenüber den Falldorfern von den nach ihm geschätzten 90 Prozent Außenstehenden, die über den Stadtteil negativ urteilen. 599 600 601 602 603 604 605 606
Mir DG Mir
„[...] in den Medien wird viel äh (.) Sachen umgedreht. (.) °Mhm° Das (.) kommt auch nochmal da; (.) dazu. (.) //räuspert sich// zum Beispiel äh (.) wenn das so gemacht wurde die (.) Medien sa- (.) sagen das wurde zehn Mal so (.) zehnmal so schlimmer machen die das; zum Beispiel; (.) oder die verdrehen das alles; (.) obwohl das gar nich‘ so stimmt zum Beispiel“ (EI_Mirza, 2015: Z. 599-606).
156
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Mirza konstruiert somit Falldorf als einen Raum der nebeneinander verlaufenden positiven und negativen Horizonte, den es aufgrund der bestehenden negativen Medienberichterstattungen zu verteidigen und zu erklären gilt. Den medial beschriebenen repressiven und devianten Lebensweisen der Falldorfer*innen setzt er Beschreibungen kultureller Vielfalt, von „guten Leuten“ (ebd. Z. 563-565) und bildungsengagierten Bewohnenden entgegen. Anhand der folgenden Gruppendiskussionen wird deutlich, dass Mirza nicht allein mit seiner Sicht auf die Medien und die Vorurteile der Außenstehenden ist. Sowohl Idris, Karan, Ramin als auch Gökhan können Details zu Diskriminierungen, falschen oder schlecht recherchierten Berichterstattungen und Vorurteilen berichten. 1274 1275 1276 1277 1278 1279 1280 1281 1282 1283 1284 1285 1286 1287 1288 1289 1290 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298 1299 1300
DG
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Kar
Kar Idri Ra Gö Ra
Gö Ra Gö
DG
Gö Kar
„Äh:hm (.) wat sagen so die Medien eigentlich über euren Stadtteil? ∟oho::oh die Medien würd ich nix sagen; ∟die Medien, ∟immer schlecht. ∟heute wieder ∟auf der Arbeit (.) die sagen und was is am Wochenende wieder äh (.) in Falldorf passiert hat sich jemand runtergeschmissen, ich sag nein (.) nix darauf die Woche Montag und, was is passiert die so gab’s Schießerei, nein. //klatscht mit der Hand auf den Tisch// (.) das is immer schlecht ∟ja (.) die me(tschuldigung) die meisten Leute wollen (.) (Das sind alles) (.) (Wichser) ∟provozieren (.) die meisten Leute provozieren auch guck ma hier die Sache is halt weißt du (.) zum Beispiel da-da isch hab ein ( ) gemacht ne, (.) in einer Autowerkstatt; (.) und da ham die mir halt gesagt (.) und was wie is es da, und wie is es da, und-und die ham halt gelacht weißt du so, (.) [Idris: °Trottel°] (°an-°) weißt du so anstatt so zu fragen komm ma gu-guck schau dir das selber an. (.) Ja wenn die sich äh sich das denk- denkt ihr das da:a sich was ändern würde? (.) Durch ihre Berichterstattung? (.) [...] Die Medien (.) erzählen eigentlich hauptsächlich nur Scheiße hier. (.) Wenn du jetz [Gm: mh] wenn du dich jetz frags warum (.) Was meinse damit? (.) [weiterhin mit etwas im Mund] Is jetz egal (.) wenn du
6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung
1320 1321 1322 1323 1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331 1332 1333 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360 1361 1362 1363 1364 1365
Gö Kar
Gö
Ra Kar
dich jetz frags warum, (.) das Thema hatten wir auch vorhin angesprochen; (.) man kennt unseren Stadtteil halt nicht; (.) und dann wird n (.) dann wird halt was aufgedeckt (.) von den Medien (.) mit sagen wir ma (.) ünfzig Prozent Lügen (.) und das glaubt dann halt jeder; (.) Na klar ( ) ∟ungelogen vor zwei Jahren ne (.) vor zwei Jahren (.) wurde ne Leiche in der Tiefgarage gefunden; (.) unterm Hauptblock (.) Medien ham berichtet dass es ‘n Drogendealer sei; [Gökhan: @(.)@] die ham berichtet er sei Mafia-Ch:h -Boss; (.) die ham berichtet es gebe ne Mafia in Falldorf; (.) wurde so berichtet; (.) das hat dann jeder geglaubt weil auf Facebook; (.) gibt es halt ne Falldorf-Gruppe; (.) und dort wurde es halt direkt geglaubt dann wurde halt äh spekuliert und (.) wurde halt Mist erzählt und so weiter und dann (.) wurde das halt von jedem geglaubt und (.) die Medien (.) die ham selber keine Ahnung; (.) ich-ich behaupte ganz ehrlich (.) wir die wir jetz hier sitzen (.) wissen mehr als die Medien. (.) [Gökhan: klar] weil wir hier aufgewachsen sind; (.) was machen denn die Medien, die kommen (.) für diese ein zwei Stunden dahin (.) ö:öh nehmen sich paar äh (.) Informationen to go raus (.) und dann wars das auch. ∟Genau sagen wirs ma so wenn ich eine Reportage auf der Straße sehen würde ne (.) er würde noch nichma mir Hallo sagen er würde nur (ma) misch anschauen; (.) aber weißte wenn es hier um Falldorf geht ne (.) zum Beispiel es is ne Schießerei passiert; (.) a:ah könn- Sie mir be- behilflich sein so [DG: °@(.)@°] warum? (.) Nur (nur w-weil) auf der Straße; (.) man begrüß mich doch; (.) muss unbedingt eine Sache passieren damit du mich äh (.) ansprichst? [DG: mh] (.) Das sind viele Gerüchte auch; ∟Und noch ne noch ne Sache; (.) wo d- wo die Leiche in der Garage gefunden worden is ne, (.) standen (.) zwei Leute von Bild; und zwei Leute vo- (.) von Newsflash vor unserer Haustür; (.) isch hab denen nein gesagt (.) mein Vater wollte aber mit denen reden; (.) und dann ham die daraus son äh:hm (.) ne so ne Geschichte gemacht; (.) ne Reportage besser gesagt; (.) und das was mein Vater gesagt hat; isch hab mir den Artikel auch durchgelesen das was mein Vater gesagt hat; (.) kam gar nich da vor. (.) Und dann und dann wird dann halt noch gesagt (.)
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Gö
Fall- Falldorf is scheiße; (.) warum was mein Vater gesagt hat steht doch noch nichmal drauf; (.) weil wenn es nur einen (.) sagen wir mal du wohnst in einer sauberen Stadt; (.) du kommst grad aus Falldorf; (.) bist neu dahingezogen; (.) und irgendwas fehlt; (.) wer ists Schuld? (.) die Leute aus Falldorf. (.) Is ganz offen und ehrlich weil die (.) Medien (.) es halt noch schlimmer darstellen als es is (.) und das is halt das Handicap. (.) Muss ich ganz offen und ehrlich sagen; (.) Zum Beispiel (.) ich saß ma (.) vor der Polizei (.) in Vierstadt-Sandig Poli- (.) Polizeipräsidium [Karan macht den Versprecher von Gökhan nach: ::Sä-Sä-Pöl::] (.) //Idris und Karan machen Beatbox-Geräusche passend zu dem Versprecher// da sagt der Polizeibeamte zu mir so (.) also de- der Kripo-Beamte sagt da zu mir so (.) ja wie soll (.) wie lang soll das so weitergehen, sag ich was denn? (.) Sagt der ja:a mit den Anzeigen; (.) sag isch hören Sie mal das is meine erste Anzeige; (.) [Karan: °@(.)@°] ( ) sagt der wie? (.) Sagt der Sie kommen aus Falldorf; ich so ich so und? (.) Ich kenn sehr viele Mädchen oder Jungs die aus Falldorf kommen die keine Anzeige haben zum Beispiel [Karan: I::ich] er; (.) er hat zum Beispiel er se- seine Akte is weißt du, (.) sehr sauber; weißt du:u“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1274-1389).
Laut Aussagen der jungen Männer scheinen die Medien Falldorf als Stadtteil und die Falldorfer*innen als Bewohnende mit den Berichten zu provozieren und zu übertreiben. Die jungen Männer aus Falldorf beklagen fehlende Partizipation an der Darstellung der eigentlichen Fakten, die sich im Stadtteil ereignen. Die Medien werden als Faktenumwandler dargestellt, die nur die negativen Nachrichten senden und die guten vernachlässigen. Mit „50 Prozent Lügen“ weisen die jungen Männer metaphorisch genau auf diesen Missstand hin. Sie müssen mit den Vorverurteilungen durch die Medien und die Polizei mit ständiger Verteidigung, Rechtfertigung, Zurechtrücken der Fakten und Legitimierung umgehen. Damit erleben die jungen Akteure eine kontinuierliche Zurückweisung auf allen Ebenen. Die jungen Männer versuchen in Situationen, in denen sie sich befinden die Presse, Ordnungskräfte oder generell die Außenstehenden vom Gegenteil oder von positiven Seiten zu überzeugen. Dies tun die Akteure durch kommunikative und direkte Interaktion mit den potentiellen vorurteilsbelasteten Außenstehenden. Ähnlich wie Mirza versuchen auch die anderen differenziert mit dem Thema Stadtteil umzugehen. Sie stellen sich als Experten dar und konfrontieren Vorurteile und Falschaussagen mit ihrem Wissen. Dies ist ihre Stärke, die sie zur Bewältigung der Diskriminierung nutzen. Sie orientieren sich an Identifikation und
6.1 Erfahrung räumlicher Marginalisierung
159
Verteidigung des Stadtteils. Die Transformers führen darauf basierend eine Repräsentationspolitk durch, die auf andere Aspekte des Stadtteils fokussiert, die sonst von den Medien nicht beleuchtet werden. Hier deutet sich ein Orientierungsgehalt an, der auf die Überwindung und Veränderung bestehender Repräsentationen des Stadtteils zielt (vgl. Kapitel 6.4). Sie überzeugen sich selbst, dass ihr Wissen fundierter ist als das der anderen und sie zeigen sich auch bereit dieses Wissen mit denjenigen Menschen zu teilen, die sich Zeit für sie nehmen. Dies kann ganz praktisch anhand dieser empirischen Untersuchung gezeigt werden. Um die Interviews, Gruppendiskussionen und Feldprotokolle durchführen zu können, war – wie schon in der Einleitung dieser Forschungsarbeit geschildert – viel Vertrauensarbeit nötig. Schließlich sind die jungen Männer lediglich daran gewöhnt von Reporter*innen oder (Zivil)polizist*innen bezüglich Informationen über den Stadtteil aufgesucht zu werden. Allein die Bereitschaft der jungen Menschen, sich auf eine Gruppendiskussion einzulassen, zeigt ganz deutlich, wie ernst es ihnen ist, die Realität ihres Stadtteils so zu präsentieren wie sie sie erleben. Es sind in der oben zitierten Sequenz implizite Aufforderungen seitens der Akteure an Außenstehende herauszulesen (vgl. GD_Transformers, 2015: Z. 13401343), sich mit dem Thema Falldorf intensiver, reflektierter und fundierter auseinanderzusetzen. Die jungen Männer sehen sich als Experten ihres Stadtteilwissen („[wir] wissen mehr als die Medien“). Es wird damit deutlich, dass das Wissen der jungen Männer nicht ausgeschöpft und auch nicht zu positiven Zwecken genutzt wird. Sie selbst könnten bei Außenstehenden für eine differenzierte Perspektive sorgen und somit mit einer alternativen Repräsentationspolitik (vgl. hierzu Kapitel 6.4). Aus der oben zitierten Sequenz ergibt sich ein Orientierungsgehalt der Identifikation mit dem und Verteidigung des Stadtteils. Negative Gegenhorizonte bilden die Stereotypen und Diskriminierungen in Medien, durch Außenstehende und Polizei. Als positive Horizonte werden eine differenzierte mediale Berichterstattung und eine gerechte, respektvolle und vorurteilslose Herangehensweise von Außenstehenden und Polizist*innen gegenüber Falldorfern entworfen. Das Enaktierungspotential zeigt sich hierbei in Reflexionen über und die verbale Transformation von Stereotypen in differenzierte Bilder von Falldorf, wie sie in den Gruppengesprächen oder in Aufklärungsversuchen gegenüber Außenstehenden, etwa im Fall des Interviewers, zum Ausdruck kommen.
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6.2
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Positionierung zu Devianz und Kriminalität
Kriminalität und Devianz prägen Stadtteile wie Falldorf in der Wahrnehmung der hier untersuchten Akteure entscheidend. Kriminelle Praktiken stehen dabei neben den Versuchen vieler Bewohnenden, hier ein normales Leben auf der Grundlage legaler Arbeit und Bildung zu führen. Für die Jugendlichen in den untersuchten Gruppen bedeutet dies, dass sie sich zu kriminalisierten Praktiken und gewalttätigen Auseinandersetzungen positionieren müssen. Grauzonen zwischen Legalität und Illegalität erschweren dabei eine klare Positionierung. Im Folgenden wird untersucht, wie Jugendliche in Falldorf und auch in Pratobello mit dieser Herausforderung umgehen und wie sich Kriminalität und Devianz in beiden Stadtteilen in ihren Diskussionen und Aussagen dokumentieren. Dabei verweisen die Analysen durchaus auf klare Positionierungen der jungen Menschen.
6.2.1
Verwicklungen
Renzo aus der italienischen Gruppe Isolani erläutert anhand eines Beispiels menschliches Fehlverhalten in Pratobello, was gleichzeitig auch den Übergang zur Beschreibung des Stadtteilalltags innerhalb der Passage einleitet: 1622 1623 1624 1625 1626 1627 1628 1629 1630 1631 1632 1633 1634 1635
Re
„[...] es is so wennde nicht ne gewisse Anzahl an Stromrechnungen bezahlst schicknse dich nach ner gewissn Zeit weg (.) vielleicht schicknse dich weg auch wennde vorbestraft warst/ Dank dessen habense dich weg geschickt u::nd äh gabn das Haus a::n ne andre Familie die:: keins hatte (.) verstehse/ meiner Meinung nach is das ne exellente Idee also du gehs hin (.) kontrollierst was weiß ich diese Wohnung Parzelle Nummer 12 is von Giacomo Russo keine Vorstrafen; die Kinder auch net (.) ok er hat die Rechnungn bezahlt ja/ basta ( ) dagegn ne andre Fami::lie die Vorstrafen hat zahlt net/ net mal die Stromrechnungen/ also würd ich sie sofort wegschicken [...]“ (GD_Isolani, 2015: Z. 1622-1635).
Durch dieses Beispiel wird implizit dem Interviewer erklärt, dass es Familien mit Vorstrafen – zumindest im L7 – gibt und illegale Aktivitäten schon auf einer kleinen Ebene stattfinden. Interessant dabei ist, dass die Kriminalität hier nicht auf der Ebene des Individuums, sondern auf der der Familie gesehen wird. Somit sind in dieser Sequenz der negative Gegenhorizont die vorbestraften Familien und ihre Handlungen und der positive Horizont die Kontrollen gegen die ‚Kriminellen’ und
6.2 Positionierung zu Devianz und Kriminalität
161
die Bewohnenden, die die Stromkosten bezahlen; also eine moralische Kategorisierung zwischen den ‚guten’ und den ‚schlechten’ Bewohnenden. Als Orientierungsfigur der Sequenz stellt sich Distanzierung heraus, die als Enaktierungspotential Kritikausübung hervorbringt. Diese Orientierungsfigur wird aber in der nächsten Sequenz zur Legitimation des Stromabzapfens und somit fast schon zu einer widersprüchlichen Orientierung. Auch für diese Gruppen dokumentiert sich also eine ambivalente Orientierung zwischen Identifikation und Distanzierung: Schließlich scheinen alle jungen Männer in der Gruppe auch mit diesen Handlungen zu tun (gehabt) zu haben. Jedoch wird dies aus der Perspektive ‚mitgefangen, mitgehangen’ erzählt: 1685 1686 1687 1688 1689 1690 1691 1692 1693 1694 1695 1696 1697 1698 1699 1700 1701 1702 1703 1704 1705 1706 1707 1708 1709 1710 1711 1712 1713 1714 1715 1716 3
Re
Ott Re Sa Re Ott Sa Re Sa Ott Ma Ott Ma Sa Ma Sa Ma Ott Ma
„E::s is ne Sache die:: ne Sache die du Dank gewisser Freundschaften lernst die dich dazu führen diese gewissen Sachen zu machen und sie bringen dich also die führen dich in ein Umfeld wo es mittlerweile normal is/ du musst es jeden Tag machen ne. (.) und von dahe::r wennde zum Beispiel nen Überfall machn gehst ne is ∟normal dann danach wennde den Überfall gemacht hast das Telefon abzapfen und die Leitung klauen das kleinste ∟das is ein Kinderspiel Problem verstehste; (.) von daher du weißt daß ichs mache denkste ich mach mir ’n Kopf über das Leitungsklauen (.) und von daher isses mittlerweile ∟aber dann kommt alles (.) also:: genau ∟aber die die dir das zeigen si::nd immer die::ersten Leute die es vor dir gemacht haben (.) ∟ja bravo von daher stellste dich dahin hey ∟du sagst ‚wie macht man das?’/ ‚man machts so und so auch weil ichs seit Jahren ∟die sind aber mach’ wenig listig weil man den Anschluss dende machst sieht; (.) weil sonst trenn ich also ich trenn dir den Zähler ab ∟aber es is eindeutig aber zum Beispiel wie sie’s letztens gemacht habn a::m an diesem Turm3 der Turm hat gebrannt und da sind die ∟L1 andren gekommen die Feuerwehr ºis alles abgebrannt º wei::lse alle am Strom hingen verschiedene der ∟der Aufzug Beleuchtung/ Aufzug (.) an allem
Turm ist in diesem Fall der umgangssprachliche Begriff für Punkthochhaus.
162
1717
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Sa
∟sogar an de:n Stromkästen [...]“ (GD_Isolani, 2015: Z. 1685-1717).
In dieser Sequenz wird ein praktischer Lernansatz sichtbar: man lernt von den Profis. Zudem werden die verschiedenen Delikte entlang moralischer und rechtlicher Überlegungen sortiert: der Überfall ist definitiv schlimmer als das Telefonabzapfen. Somit wird die Tat des Telefon- oder Stromabzapfens abgeschwächt und es wird diesbezüglich auch keine Verschleierung der Tat unternommen. Es spielt sich tagsüber ab und alle scheinen von jedem zu wissen, wer was macht bzw. gemacht hat. Wie schon vorher angemerkt, gleitet an dieser Sequenz das begonnene Stadtteilthema ab in exemplifizierende Detailerzählungen aus dem Alltag von Pratobello, die sich vor dem Hintergrund des konjunktiven Erfahrungsraums der Gruppe quasi natürlich ergeben. Innerhalb der Gruppe sowie auch innerhalb des Wohnbereichs oder Stadtteils dokumentiert sich ein Freiraum für jeden der jungen Männer, der sie befähigt, sich aus diesen ‚Machenschaften’ herauszuhalten oder sich zu beteiligen. Alle agieren nutzenorientiert. Was mit dem Abzapfen des Stroms beginnt, führt zum Blackout der Straßenlaternen im Wohnbereich und dann weiter zum Abzapfen der Telefonanlagen bis zu den vielen Kabeln im gesamten Hochhausblock, das schließlich zu einem Brand führt. Dabei wird die Zuspitzung dieser Fakten auf eine Art und Weise von den jungen Männern erzählt bzw. bestätigt, in der sich eine gewisse Regelmäßigkeit und Normalität dieser Praktiken und Ereignisse dokumentiert. Gleichzeitig verweist die Performativität der Darstellung auch auf eine Undurchsichtigkeit im Stadtteil, die auf die Unmöglichkeit für die Jugendlichen verweist, sich den vielen Kabeln zu entziehen. Die kriminellen Handlungen werden zur Normalität auch für die ‚guten’ Stromabzapfer*innen, um in diesem ‚Salat’ zu überleben und sich den äußeren Umständen anzupassen. Hier werden die ‚guten’ Bewohner trotz vorheriger moralischer Kategorisierung zu (Mit)tätern. Somit wird die ‚innere Landkarte’4 der jungen Männer an die äußere angepasst. Die jungen Männer lernen dadurch inzidentell und vor allem situativ sich einigen Normen zu fügen, sich in einigen Fällen der Mehrheit, der Kollektivität im Wohnbereich anzuschließen, um ökonomisch prekäre Situationen zu bewältigen und sich auf die Solidarität der anderen Bewohnenden zu verlassen. Die positiven Horizonte dieser letzten Passage finden wir in der Darstellung einer Normalität des Stromabzapfens (so lange dies nicht zu größeren Katastrophen führt). Der negative Gegenhorizont wird durch die Beschreibung der vielen 4
vgl. Sachsse 2004: 150: „Über unterschiedliche Situationen und Kontexte entwickelt sich ein Netzwerk verschiedener interner Repräsentationen. Es entsteht eine ‚innere Landkarte’ der ‚äußeren Welt’. Diese ist Grundlage für alle Bereiche menschlichen Handelns, Fühlens und Denkens. Menschen reagieren auf ihre Abbildung der Realität, nicht auf die Realität selbst.“ Ralf Bohnsack spricht hier von ‚mentalen Bildern‘ (Bohnsack 2012).
6.2 Positionierung zu Devianz und Kriminalität
163
Kabel, der übertriebenen und undurchschaubaren Nutzung der Strom- und Telefonleitungen, die zu gefährlichen Vorfällen führen (können), ersichtlich. Daraus resultiert eine Anpassung der ‚inneren Landkarte’ an die von außen und durch kriminelle Mächte, Druck der (Mit)bewohnenden oder absolute Armut vorgegebene Landkarte. Diese Orientierung führt zum Enaktierungspotential des (unbewussten) devianten informellen Lernens innerhalb einer Grauzone, in der sich die jungen Männer bewegen. In der Beschreibung der Praktiken des Stromabzapfens handeln die jungen Männer in Ansehung geltender und auch von ihnen grundlegend anerkannter Rechtsnormen Vorstellungen von richtigem Handeln aus. Dem Orientierungsschema der sozialen Norm der individuellen Verantwortung für den eigenen Stromverbrauch steht die Erfahrung alltäglicher Normverletzungen gegenüber. Der Erfahrungsraum der Normverletzung steht für die Jugendlichen im Zusammenhang des Erlebens von Gewalt, sozialem Druck und Armut. So entfalten sie einen Orientierungsrahmen, in dem Normverletzungen bis zu einer gewissen Grenze akzeptiert werden, begrenzte Devianz als Normalität erscheint. Was in Kapitel 6.3.2 von der Gruppe Isolani mit Distanz betrachtet wird, wird hier als Normalität des Illegalen und Devianten empfunden. Dabei wird mit distanziertem Blick auf die Drogendealer („die da“, „die machen dies“, „die machen jenes“; vgl. hierzu Kapitel 6.3.2) im Wohnbereich und mit eher identifizierendem und teilweise legitimierendem aber gleichzeitig auch ambivalentem und erratischem Blick auf die Grauzone der kleineren sowie auf die evidenten größeren devianten Handlungen geschaut. Diese Normalität wird informell (bewusst und unbewusst) erlernt bzw. muss erlernt werden und ist somit eine der Hauptpraktiken der vier jungen Männer. Alle vier sagen immer wieder im Verlauf der Interviewpassagen: „das ist normal“, „na klar“, „normal“ und „normal, das was die Leute machen interessiert mich nicht“. Daraus resultiert eine fast schon indoktrinierte Mafiamentalität bzw. -kultur, die in Italien in gewissen Gebieten weit verbreitet ist – auch bei den nicht direkt involvierten Bewohnenden (vgl. hierzu Saviano 2006; Lo Verso 1998; Lo Coco 2005).5 Diese Mentalität schützt die Bewohnenden vor Angriffen seitens (krimineller) Machtgruppen und gibt ihnen gleichzeitig die Möglichkeit den Alltag unter diesen Umständen auch psychisch zu überleben. Das was, den anderen Menschen im Stadtteil passiert, scheint die jungen Männer bezüglich dieser Schutz- und Überlebenshaltung erst einmal nicht zu interessieren. Es wird schon in der Eingangspassage versucht, das eigene Gesicht zu wahren, und trotz der vielen ‚unsichtbaren’ psychischen sowie auch physisch-materiellen Grenzen überschreiten die Jugendlichen mit ihren 5
Wobei die Involviertheit selbst als auch der Begriff fundierter reflektiert werden muss, da Teilnahme an gewissen Handlungen auch schon mit der Passivität, also mit dem Wegsehen beginnt. Somit könnten die ‚guten’ Bewohner*innen von Pratobello auch als (Mit)täter*innen betrachtet werden (vgl. hierzu: Reichel 2001: 57 ff.; Rosati 2014).
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
(Lern)praktiken die starren Strukturen des Stadtteils und bauen sich ihre eigene Vergnügungswelt auf. Dazu gehört das gemeinsame Reden und Reflektieren. Die Gruppe lässt Freiräume zu, die sich sonst in ihrer unmittelbaren Zone nicht finden lassen. Was sich also implizit dokumentiert, ist, dass es (unsichtbare) Grenzen im Wohnbereich gibt, die gleichzeitig auch die Grenzen des Vergnügens sind. Diese Grenzen werden von allen vier jungen Männern täglich überwunden, umgangen oder gar nicht erst angegangen. Diese ‚Barrieren’ werden gerade in der Stadtteilpassage anhand der Diskussion als beobachtbare Praxis noch deutlicher: die jungen Männer grenzen ihren Beobachtungs- und Erzählraum auf die Infrastrukturen und das Detail des Stromabzapfens ein. All die vielen Handlungen, Tatsachen und Fakten, die in anderen Gruppendiskussionen, Interviews und Beobachtungsprotokollen vorzufinden sind, werden in dieser Gruppenkonstellation nicht weiter vertieft oder gar angesprochen. Das Sprechen über die kollektiv geteilte soziale Realität im Stadtteil und die eigene Positionierung dazu bringt dabei die Gemeinschaft der jungen Menschen als ein ‚Wir‘ performativ hervor. Bezogen auf die zwei ersten hier analysierten Passagen zeigt sich im großen Bedürfnis der jungen Menschen nach Vergemeinschaftung ein erster gemeinsamer Orientierungsrahmen der untersuchten Gruppen. Vor dem Hintergrund des geteilten Erfahrungsraums vieler parallel verlaufender Marginalisierungserfahrungen und einem davon gezeichneten Alltag verbindet die jungen Männer der Gruppen Transformers und Isolani, dass sie der sozialen Exklusion in der weiteren Gesellschaft die Gemeinschaft ihrer Peers entgegensetzen. Was zudem beide Gruppen gemeinsam haben, ist die kontinuierliche Suche nach festen Sozialräumen, der Austausch bzw. die Kommunikation und Reflexion. Somit kann festgehalten werden, dass sich die sozialräumliche Lage in den Orientierungen der Akteure manifestiert, indem sie Praxis rahmt und strukturiert. Die vor diesem Hintergrund entstehende Lernpraxis nimmt reflexiv Bezug auf den Raum und damit verbunden auf die marginalisierte soziale Lage. In der Gruppe können sie Ambivalenzen wie Distanzierung und Identifikation, Akzeptanz und Vermeidung diskutieren und reflektieren. Die Transformers versuchen über Gewalt Anschuldigungen seitens der Bewohnenden des älteren Teils von Falldorf abzuwehren. Zudem sehen sie gewisse deviante Handlungen nicht als kriminell, sondern als Teil ihrer Sozialisation, als Lernprozess für die Zukunft. Bei den Isolani dagegen ist die Involvierung in deviante Prozesse wie dem Stromabzapfen Teil einer Kollektivität, um in diesen marginalisierten Settings auf ökonomischer Ebene nicht noch mehr ausgegrenzt zu werden. Beide Gruppen legitimieren diese devianten Handlungen. Implizit wird aber deutlich, dass sich sowohl die Isolani als auch die Transformers mit großkriminellen Handlungen nicht identifizieren und sich hierzu distanzieren bzw. diese vermeiden.
6.2 Positionierung zu Devianz und Kriminalität
6.2.2
165
Zwischen Teilhabe und Anpassung
Eine ambivalente Haltung zum Stadtteil, die sich zwischen Identifikation und Distanzierung oder zwischen Verurteilung und Akzeptanz aufspannt, wurde in den bisherigen Darstellungen für alle Gruppen sichtbar. Am Beispiel des einzeln interviewten Falldorfer Jugendlichen Turgut soll diese Positionierung noch einmal differenziert nachvollzogen werden. 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264
Tur
„[...] als ich schon (.) neu nach Deutschland kam; (.) war so der erste Eindruck war Falldorf; (.) so was wir gesehen haben die Bl- (.) Hochhäuser (.) interessante Leute so mehrere Kulturen; da fühlt man sich direkt wohl; (.) (haben) auch ein bisschen verstanden von den Leuten (.) und auf einerseits (.) war auch so ‘ne riesen Abschreckung da wie schon gesagt; (.) man wollte ja (.) man wollte schnell Freunde haben; (.) keine Feinde auf jeden Fall keine Feinde und deswegen macht man immer das Beste draus so (.) rausgehen egal ob du Zeit hast oder nicht (.) finde die Zeit (.) sonst (.) gehen deine Freunde woanders hin und du bleibst noch da hocken [...]“ (EI_Turgut, 2015: Z. 251-264).
Turgut beginnt seine Stadtteilbeschreibung mit seiner persönlichen Migrationsgeschichte. Als er zum ersten Mal nach Deutschland kommt beeindrucken ihn die Hochhäuser seines Stadtteils und die multikulturelle Herkunft der Bewohner. Dies beschreibt Turgut als ein gutes Gefühl. Darin kommt zum Ausdruck, dass er Verständnis für seine Lebenssituation mit der Erfahrung von Migration verbindet. Dies verweist auf einen konjunktiven Erfahrungsraum, der durch Migration gekennzeichnet ist. Gleichzeitig betont Turgut, dass er in der Anfangszeit möglichst schnell Freundschaften schließen wollte, um sich ein soziales Netz aufzubauen. Mit diesem neuen Thema beschreibt Turgut seine Versuche eventuelle Exklusionen innerhalb seines Sozialraums im Stadtteil zu vermeiden. Er betont nämlich, dass er „auf jeden Fall keine Feinde“ (EI_Turgut, 2015: Z. 259) haben möchte. So scheint sich Turgut fast schon selbst dazu zu zwingen seine Freizeit ausschließlich mit Freunden draußen zu verbringen – „egal ob du Zeit hast oder nicht“ (EI_Turgut, 2015: Z. 261) – um den Anschluss an die Peers nicht zu verpassen. Turgut geht nicht auf eine Stadtteilerkundung bzw. weiter auf die bauliche Struktur des Stadtteils ein. Die Menschen im Stadtteil haben für ihn eine größere Bedeutung. In dieser ersten Sequenz dokumentiert sich der positive Horizont einer Freundschaft und der negative Gegenhorizont einer Feindschaft bzw. Exklusion. Daraus resultiert
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
eine Orientierung an sozialer Teilhabe und Anpassung, die zu einem Enaktierungspotential der (selbst erzwungenen) Vergemeinschaftung führt. Die Darstellung von Turguts Migrationsgeschichte wird als ein Ankommen im Sozialen Raum bzw. Stadtteil der Gleichaltrigen verdeutlicht. 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284
Tur
„[...] mein Stadtteil is‘ auch so (.) so wie ein schwarzer Loch find‘ ich (.) so (.) egal wo du hingehen willst (.) is‘ drei Kilometer entfernt; (.) und alles dazwischen sind Felder; (.) also du kannst gar nich‘ weg. (.) dir bleibt nichts anderes entweder ein Fahrrad klauen; (.) dass du schnell mobil bist (.) oder irgendeinen Roller oder d- von Taxi nehmen (.) und von Taxi abzuhauen (.) da bleibt dir nix anderes übrig; (.) VNV (.) Kontrolle is‘ da (.) Beispiel Singtal könn‘ wir gar nich‘ da hingehen; (.) eh bevor du schon einsteigst musst du schon zeigen und (.) und schon ( ) Singtal (.) bleibt dir nix anderes übrig anstatt jetz‘ (.) zehn Kilometer zu laufen (.) musse ers‘ natürlich Fahrrad klauen; (.) oder von Taxi abhauen (.) und das is‘ so (.) eher die Sache (.) das is‘ so ein schwarzer Loch“ (ebd. Z. 270 – 284).
Die Metapher „mein Stadtteil [...] is’ wie ein schwarzer Loch“ steht dabei nicht nur für die im Anschluss elaborierte geographische Abgeschiedenheit des Stadtteils; sie verweist auch auf ein Gefühl der sozial-räumlichen Isolation. Falldorf wird in diesem Interview als ein von Armut und Kriminalität geprägter Stadtteil geschildert, der den Bewegungs- und Erfahrungsradius des Akteurs entscheidend begrenzt. Falldorf ist von Feldern umgeben und von anderen sozialen Räumen abgeschnitten. Interessant dabei ist die genaue Kilometerzahl, die Turgut zur Veranschaulichung angibt und ebenso das Beispiel eines drei Kilometer entfernten Stadtteils, der für die Schwimmbäder, Freizeitaktivitäten und den historischen Stadtkern bekannt ist. Die Effekte dieser Isolationserfahrung beschreibt Turgut als Zugzwang, deviante Handlungen zu begehen, um die Grenzen seines Stadtteils zu überschreiten. Andere Möglichkeiten scheint es nach Turgut nicht zu geben um sich vom Stadtteil zu entfernen: „also du kannst gar nich’ weg“ (EI_Turgut, 2015: Z. 266) ist die Zwischenkonklusion von Turgut, die gleichzeitig mit weiteren Erschleichungsmöglichkeiten wie „Roller klauen“ (EI_Turgut, 2015: Z. 268) oder „ein Taxi zu nehmen ohne es zu bezahlen“ (EI_Turgut, 2015: Z. 268) im Modus der Exemplifizierung ausgearbeitet wird. Andere Formen des Erschleichens von Mobilitätsmöglichkeiten werden jedoch nicht in Erwägung gezogen. So dokumentiert sich in der zweiten Sequenz ein positiver Horizont bzgl. der Mobilität und Singtal als bevorzugtes ‚Reiseziel’. Als negativer Gegenhorizont manifestiert sich das Festsitzen und die Isolation. Die Enaktierungspotentiale „Fahrrad klauen“ und „schwarz fahren“ stehen weiterhin für den Orientierungsgehalt der
6.2 Positionierung zu Devianz und Kriminalität
167
Anpassung. In diesem Fall ist Anpassung mit Status innerhalb der Peergruppe verbunden. Es werden Praktiken durchgeführt um die Zugehörigkeit zur Gruppe aufzubauen oder zu verstärken: „[...] für die Jugendlichen steht nicht der Normbruch im Vordergrund, sondern das Ansehen und der Status in der Clique, aus deren subkulturellen Dynamik heraus agiert wurde. Der Normbruch wird also von den Jugendlichen angesichts des höheren Werts der Gruppenkonformität nicht nur in Kauf genommen, sondern gilt manchmal geradezu als Ausweis der Cliquenzugehörigkeit“ (Böhnisch 1999: 58).
Soziale Teilhabe zeigt sich bei Turgut aber auch anhand seiner Bemühungen in der Schule, die sich in einem ganz anderen Stadtteil befindet und sich vom sozialen Hintergrund von Falldorf stark unterscheidet: 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348
Tur
„Ja also Haldental is‘ ja eher so find‘ ich nobel; (.) wir merken so (.) gibt keine Hochhäuser; (.) keine Asozialen; (.) keine Kanacken; (.) dies das (.) und dann (.) und (.) Falldorf is‘ ja schon wie gesagt (.) schon wie gesagt so (.) is‘ (.) is‘ halt so schwer so akzeptiert zu werden von (.) von Falldorf zu Falldorf akzeptiert man sich eh- (.) ehrlich sehr schnell aber (.) andere Stadtteile (.) so eh(.) immer so mit ein (.) Hintergedanke dazwischen; (.) ob er dich wirklich mag, (.) oder der (.) hat nur Angst vor dir mit dir befreundet zu sein; (.) oder der will dich nur ausnutzen (.) und das andersherum (.) bei den Jungen (.) ich hab‘ (.) so was soll ich machen (.) so weiße‘-was-ichmein? (.) Ja wie soll ich das erklär’n, (.) das:s soschwer einfach so akzeptiert zu werden wirklich; (.) die meisten Leute haben (nämlich) wirklich Angst; (.) die meisten Leute wo- (.) wollen da auch nich‘ einladen so (.) damals (.) fünfte Klasse sechste Klasse siebte (.) die ham mich nie eingeladen; (.) zum Geburtstagen (.) also wo die gemerkt haben okay du muss‘ dich beweisen; (.) so (.) als ich Klassensprecher geworden bin; (.) dann ham die so germerkt okay (.) der is‘ nur ein Mensch (.) nur weil der irgendwie (.) woanders wohnt (.) weil er nich‘ so (.) einen hohen Sitzpunkt hat wie o-wir (.) der is‘ das gleiche der denkt gleich (.) der macht das gleiche (.) weiße dann; (EI_Turgut, 2015: Z. 324 – 348).
In dieser Sequenz wird über die dritte Exemplifizierung erneut soziale Teilhabe und Anpassung elaboriert: in Turguts Schule im „noblen“ Stadtteil Haldental muss er beweisen, dass er als Falldorfer fernab von Kriminalität, Indifferenz und
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
asozialem Verhalten Klassensprecher werden und dadurch eine gewisse Akzeptanz innerhalb des Sozialraums der Schulklasse erreichen kann. Aufgrund dessen kann er soziale Netzwerke aufbauen und an Geburtstagsfeiern auch außerhalb seines Stadtteils teilnehmen. Zudem zeigt sich wie aus der räumlichen Isolation und dem Image des Stadtteils soziale Exklusion entsteht. Turgut muss mit vielen Vorurteilen und daraus resultierende Misstrauen umgehen, die aufgrund der Ferne des Stadtteils und der attraktivitätslosen Bauweise Außenstehende nicht anlocken. In der Schule zeigt er somit eine andere Verhaltensweise, um vom Gegenteil des üblichen Falldorfclichés oder zumindest von einer alternativen Lebensweise der Falldorfer zu überzeugen. Die Orientierungsgehalte der Anpassung und sozialen Teilhabe dominieren somit oben dargestellte Sequenzen. Zusammenfassend kann von einer Überschreitung gesellschaftlicher Normen und Regeln von einer Orientierung an sozialer Teilhabe gesprochen werden, die auch für die Freunde von Turgut gelten. Devianz und Engagement sind in diesem Falle beides Ausdrucksformen bzw. Enaktierungen der Orientierung an Anpassung und sozialer Teilhabe. 297 298 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312
Tur
„Also der positive (.) ist daran (.) wir ham wirklich gelernt (.) das Leben zu schätzen; (.) so:o wir ham auch viele Obdachlose kennengelernt; (.) so die starben auch; (.) die auch (.) sehr nett waren; (.) obwohl ( ) was gesehen hat so (.) okay komm (.) der kann äh (.) der kann ja ‘ne Wohnung (.) bekommen (.) is‘ ja nich‘ schwer; (.) aber warum macht der das nich‘, (.) dann ham wir dem zugehört; (.) der hat einfach erzählt; (.) dass der zu stolz dafür is‘ (.) und da merkt man okay komm (.) für manche Leute is‘ wirklich der Stolz (.) wichtiger als sein Leben; und (.) auf einer anderen Seite hat so (.) Falldorf (.) also (.) unser Stadtteil uns gezeigt so; (.) du wirst nich‘ akzeptiert. (.) Solange du nich‘ in Falldorf bist (.) wirst du nicht akzeptiert; egal wo. (.) egal ob du im Bus bi:ist (.) Ba:ahn (.) Schule (.) mit Freunden raus (.) Kino:o (.) du wirst nicht akze- (.) akzeptiert“ (EI_Turgut, 2015: Z. 297312).
Falldorf wird als Beispiel für das Leben und somit als positiver Gegenhorizont von Turgut beschrieben. Die Obdachlosigkeit entfaltet sich dagegen als negativer Gegenhorizont, der im Modus der Exemplifizierung elaboriert wird. Das Leben in Falldorf in Abgrenzung zur Obdachlosigkeit wird somit von Turgut geschätzt. Dagegen scheint nach seiner Aussage für den Obdachlosen ein Leben in einer Wohnung in Falldorf keine Wahl zu sein; der Obdachlose bevorzugt lieber draußen auf der Straße zu sein, wo er sein Leben riskiert. Somit wird Falldorf auf
6.2 Positionierung zu Devianz und Kriminalität
169
drei Ebenen als schwarzes Loch dargestellt: Anpassungsdruck, Betrug und Obdachlosigkeit. Die Obdachlosigkeit wird von Turgut als unterste Lebensebene gesehen und scheint in Falldorf sehr präsent zu sein. Sie wird als letzte Station im bereits vorbelasteten Leben der Bewohnenden dieses Stadtteils gesehen. Der Betrug wird als Mittel zum Zweck beschrieben, um aus der Isolation herauszukommen und neue Stadtteile und Gebiete zu erkunden. Dies jedoch kann dann zu juristischen Folgen führen, die das Leben im Stadtteil nicht vereinfachen. Für Turgut kann hier eine Orientierung an sozialer Teilhabe und Anpassung rekonstruiert werden. Diese Orientierung spannt sich zwischen den Gegenhorizonten der Isolation und Exklusion und der Gemeinschaft und Integration einerseits und zwischen den Gegenhorizonten der Obdachlosigkeit und der Wertschätzung des Lebens in Falldorf andererseits auf. Auf der Ebene von Enaktierungspotentialen zeigen sich sehr verschiedene Handlungszusammenhänge: dies sind einerseits kriminelle Handlungen im Kontext der Peers und andererseits die Beteiligung in der Schülervertretung im Raum der Schule.
6.2.3 1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504 1505 1506 1507 1508 1509 1510 1511 1512 1513 1514 1515 1516 1517 1518 1519 1520 1521 1523
Distanz DG
Ra Kar DG
Kar Idri Kar Idri Kar Gö Kar
„Äh:hm (.) ja ich hab jetz noch die zwei letzten aber davor wollt ich noch fragen; (.) äh zum Beispiel in Italien is das so dass man äh in solchen Stadtteilen äh (.) gerne von äh organisierter Kriminalität dann äh rekrutiert wird; also dass viele Jugendliche ∟(genau) ∟genau ∟is das (.) is das hier so ähnlich also is da so die äh (.) die Lust darauf groß dass man da so reingezogen wird oder (.) is das eher so eine Entscheidung von den Leuten selbs ich will dahingehen ich geh die Leute kontaktieren, ∟man sagt ja (.) nich umsonst (.) sag mir deine Freunde und ich sag dir wer du bist; (.) [DG: okay] (.) Also (.) hier is es eigentlich ∟Ganz einfach wa- (.) warte ma kurz ∟ich dacht du wärst fertig ∟ham:merhart [Idris: halt deine Fresse jetz] man sagt ja auch (.) ähm ∟das ( ) (.) ∟sag mir wer deine Freunde:e sind und ich sag dir wer du bist da- (.) das heißt (.) ähm kommt drauf an mit wem
170
1524 [...] 1542 1543 1544 1545 1546 1547 1548 1549 1550 1551 1552 1553 1554 1555 1556 1557 1558 1559 1560 1561 1562 1563 1564 1565 1566 1567 1568 1569 1570 1571 1572 1573 1574 1575 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584 1585
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Idri
Gö Idri Kar Idri Kar Gö Idri Kar
Gö
du abhängst; (.) [...] ∟also ich wo- (.) also ich wollt noch was dazu sagen wegen der Rekrutierung was du vorhin a- [DG: ja] erwähnt hast; (.) [Gökhan: Samy Deluxe] also hier wird das eigentlich schon //räuspert sich// gemacht; (.) aber so dass es mh (.) die Mehrheit nich mitkriegt; also man (.) zum Beispiel (.) man hat mir gesagt (.) wenn du m:möchtest (.) ich hab d- (.) ich möchte ich biete dir das an; (.) mach das und das und das für mich also:o sagen wir mal (.) ich will dass du (.) mein Gras was ich anpflanze möchte ich dass du das äh zum Beispiel hier äh (.) die Stadtteile (.) um uns herum (.) dass du dort äh (.) der äh:h [Idris: Läufer bist] der Läufer genau (.) [DG: °mhm°] dass du das Zeug (.) dort verteilst; (.) anbietest; (.) und verkaufst; (.) das wurde mir angeboten und dann (.) hab ich halt gesagt nein; (.) da hat der gesagt ne ich hab noch n Vorschlag für dich (.) ich würde dir (.) Kokain geben (.) Kokain würd ich dir in die Hand geben (.) und du (.) bist so- ne nich mir würde der Kokain gegeben ich mach (.) ich brauch dich und noch n Freund von dir hat der zu mir gesagt; (.) ich brauch dich und noch n Freund (.) dein Freund hat das Kokain und du bis sozusagen der Wächter von ihm; (.) wurde mir halt angeboten und das geht halt auch in die Richtung Rekrutierung und (.) wenn man halt in der Sache mit verwickelt is dann kannste halt da nich mehr rausgehen weil (.) weil wenn er jetzt sagen wir ma irgendwie äh auffliegt mit seiner äh Masche dann äh (.) wird der auf jeden Fall mich (.) mitverraten und (.) Ja du bis ja auch nich so dumm und sags ja okay. (.) Ja d- genau s- das deswegen ∟heutzutage ( ) ∟gab es ja halt die Bildung; (.) deswegen gibt’s halt die Bildung. (.) Heutzutage we- wer ∟( ) ∟( ) ∟heutzutage werden in einer kriminellen Sch- Stadtteil (.) [Gökhan: kriminell] kriminellen [Gökhan: kriminellen] (.) die Jugendlichen (.) ausgenutzt; (.) [DG: mhm] als ∟ja:a [Idris: als] nich jeder wird ausgenutzt ma:an der liebe Gott hat jedem (.) ein Gehirn ver( ) [Karan: ja
6.2 Positionierung zu Devianz und Kriminalität
1586 1587 1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598 1599 1600 1601 1602 1603 1604 1605 1606 1607 1608 1609 1610 1611 1612 1613 1614 1615 1616 1617 1618 1619 1620 1621 1622 1623 1624 1625 1626 1627 1628 1629 1630 1631
Kar Ra Gö Kar Gö Kar Gö Kar
Gö Kar Ra
Idri Ra Idri Kar Idri Kar
Gö Kar Idri Kar
ich weiß] dann is jeder dumm oder was? (.) Auf sowas wollt ich raus hier ∟ der (.) der der äh (.) Aber viele geben auch ( ) da hat der auch Recht. (.) Was? ∟Sa- sa- sag ich sag ich ma so (.) Ey ja (.) Er is sechzehn; (.) boah ( ) ∟der der tickt is ä:äh (.) zwanzig einundzwanzig (.) der sagt dem als Sechzehnjähriger is (.) is man froh wenn man im Monat fün-fünfhundert Euro bekommt; [DG: mhm] (.) der sagt dem ich geb dir im Monat fünfhundert Euro und äh du bis mein Läufer; ∟( ) ∟sagt der ja (.) warum nicht? (.) Er is noch ein (.) Ki- äh Kind im Kopf; (.) er würds direkt bis ( ) (.) mit machen; ∟aber die sagen das halt nich so (.) das hat der ja Recht aber die sagen das halt ja nich so wie mit Gras oder so sondern die sagen (.) bring dieses Paket dahin aber mach dieses Paket nich auf; (.) und der denkt dann ah (.) als Sechzehnjähriger ∟der denkt sich halt nichts dabei; ∟denkt man sich ja n- dabei ∟dann denkt der halt das is n ganz normales Paket (.) was ich dem eben bringe und dann krieg ich halt Geld dafür ∟das wurd auch äh (.) schon so Freu∟das wurde mir auch so angeboten. ∟ Freundeskreis (.) wurde vielen (.) die ich auch kenne an- angeboten; (.) isch geb dir (.) tausend Euro du fährst mich nach Holland; (.) wir bringen nen halben Kilo Gras (.) und ja (.) Guck ma (.) ich frag dich zum Beispiel ∟ich bring das hier rüber halt also man man als Jugendlicher (.) was heißt Jugendlicher, als Kleinkind schon ausgenutzt; (.) Und dann is auch die Sache (.) ( ) ∟und man (.) gewöhnt sich dran (.) also man denkt sich äh (.) es is
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
ja:a (.) ganz schön ei- einfach an (.) an Geld zu kommen; (.) deswegen denken die sich schei- (.) scheiß ma auf die Schule (.) ich mach mein Geld so. (.)“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1498-1634).
Die Frage seitens des Interviewers nach eventuellen Rekrutierungen von Seiten der organisierten Kriminalität entwickelt im Verlauf der Passage propositionalen Gehalt. Die jungen Männer finden noch während der Frage des Interviewers einen Anschluss an das Thema, indem sie immer wieder validierende Ansagen wie „genau“ machen. Trotz allem suchen sie zuerst einen Modus, um darüber mit dem Interviewer zu sprechen. Idris übernimmt dann ab Zeile 1542 die Beschreibung der Situation im Stadtteil und schließt daran eine exemplifizierende Erzählung an, die den Verlauf unauffällig und fast nebenbei verlaufender Involvierung junger Männer in die organisierte Kriminalität schildern. Hierbei geht es ganz konkret um eine eigene Erfahrung, die Idris in seiner Siedlung gemacht hat. Daraus entsteht eine Diskussion über die (mentale) Stärke sich nicht in den Drogenhandel involvieren zu lassen. Den negativen Gegenhorizont stellen die Kriminalität und das Unwissen leicht beeinflussbarer Personen dar. Als positiver Horizont werden hingegen schulische Bildung und die Entschlossenheit bzw. das Wissen der Akteure entfaltet. Es dokumentiert sich eine Orientierung an Selbstbestimmung. Daraus resultiert hier ein Enaktierungspotential der Distanzierung von kriminellen Machenschaften insbesondere im Drogenmilieu. Die jungen Männer wollen ihre eigenen Entscheidungen treffen und sich nicht von eventuellen Großdealern beeinflussen lassen, sondern vielmehr selbst in gewisser Weise mit ihren Praktiken ‚Macht’, Autonomie und Stärke erreichen. Sie möchten keine „Kindsköpfe“ sein, sondern erwachsen und verantwortungsbewusst handeln. Idris erfährt durch den Rekrutierungsversuch ihm gegenüber Anerkennung. Durch den Verkauf von Kokain und die Nutzung von Peerstrukturen innerhalb des Drogenmilieus wird ihm eine wichtige und verantwortungsvolle Rolle vorgeschlagen (GD_Transformers, 2015: Z. 1553-1569). Das Ablehnen entfaltet sich hiermit als positiver Horizont, denn „heutzutage“ ist Bildung und Selbstbestimmung wichtiger als ‚gestern’, wo Dummheit und das Involviertsein eine Rolle spielten, die erst aus der Perspektive der jungen Männer als negativer Gegenhorizont konstruiert sind. Zwischen Karan und Gökhan entfaltet sich diesbezüglich in Zeile 1579 – 1587 eine Kontroverse, die einerseits von Ausnutzung der Jugendlichen innerhalb der kriminellen Milieus und andererseits auch von der Möglichkeit heutzutage bewusste Entscheidungen treffen zu können ausgeht. Differenziert wird das Thema ab Zeile 1589, wo die vier jungen Männer über finanzielle Anreize und über Betrug als Involvierungsform sprechen, die sie innerhalb des Milieus erleben. Demnach verfallen Kinder und Jugendliche laut Beobachtung und Erfahrung der jungen Männer den unauffälligen Strukturen der kriminellen Milieus, die deren Unwissen ausnutzen und diese Pakete von einem Ort zum anderen bringen lassen, ohne dass dabei der Inhalt
6.2 Positionierung zu Devianz und Kriminalität
173
reflektiert wird. Die jungen Männer sind deshalb der Meinung, dass mit mehr Bildung selbst Entscheidungen getroffen werden können und somit gewisse Einstiege in kriminelle Milieus vermieden bzw. besser oder selbstbestimmter durchgeführt werden könnten. 1636 1637 1638 1639 1640 1641 1642 1643 1644 1645 1646 1647 1648 1649 1650 1651 1652 1653 1654 1655 1656 1657 1658 1659 1660 1661 1662 1663 1664 1665 1666 1667 1668 1669 1670 1671 1672 1673 1674 1675
Gö Idri Gö
Kar Gö Idri Gö Idri Kar Gö Idri Gö Idri Gö
Idri Gö
„Ja das @Problem is aber@ (.) Wenn du erwischt wirs (.) wirst du gefickt ∟( ) also mit Drohungen und so hab ich sowas nix zu tun oder so isch bin (.) mein in meinem Kopf sind nur Autos; so Auto (.) Uhren und so ∟ja und (.) wie kommse denn dran? (.) Was n? Was n? ∟wie kommse an die Autos? (.) Ja Junge arbeiten. (.) Ja wie denn? (.) Mit arbeiten kommst du vielleicht zehn Jahren dran wenn du das machst was der gesagt hat; (.) in zwei Jahren ∟aber (.) muss ich das machen das was der gesagt hat? Nein. (.) [Idris: nein.] In so ner Gegend (.) is es halt so (.) Der Fifty guck ma ne, (.) kannse für fünfzig Cent nutzen ∟ °Wichser Alter fällt der mir ins Wort.° ∟fünfundfünfzig Cent der zum Beispiel; (.) der (.) isch (isch kapier das nich) (.) der Mann (.) der hat auch einma gesungen weißt du, (.) und weißt du (.) ja der hat seine Album ja weißt du nächste Zeit; (.) Bett weißt du, (.) der hat geschlafen auf einem ganz weißt du dünnen Dings; (.) so ne Matratze; (.) der (.) hat ja auch überall Lieder gesungen ∟größte zum Beispiel a( ) (.) Eminem ∟hat obwohl das noch nichmal ein Jahr gedauert hat; (.) der zum Beispiel der spielt doch Fußball; (.) wenn ein richtiger Mann zum Beispiel der Ahnung von Fußball hat und beobachtet ihn weißt du, (.) allerhöchstens eine Stunde (.) weißt du was Bruder von heute auf morgen wenn er will sogar ne (.) glaub mir Bruder wenn das [Karan: (° °)] wawa- warte ma ich ( ) (.) wenn der will Bruder der spielt Junge spielt weißt du in der TürkeiMannschaft; (.) in der ( ) TürkeiMannschaft. (.) wenn er zum Beispiel weiß du Dings is
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
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Bruder; (.) wenn ein Mann richtig so mit Geld den beobachtet und den auch (.) haben will; (.) dann glaub mir Bruder von heut aufmorgen du weißt nie was passiert; (.)“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1636-1679).
Gökhan unterstreicht wie in Kapitel 6.2.1 auch, dass er mit der kriminellen Welt nichts zu tun hat und haben möchte. Er erklärt erneut – fast schon wie ein Abwehr-, Schutz- oder eben Vermeidungsmechanismus –, dass er nur an Autos denke. Anhand dieser Aussage wird ein Automatismus deutlich, der zur Abwehr und Vermeidung möglicher Versuchungen eintritt. Gökhans Lösung ist eine legale Arbeit, also eine ökonomische Teilhabe, wobei Idris ihn darauf hinweist, dass er durch eine legale Arbeit viel länger bräuchte, um ein Auto zu kaufen. Hier dokumentiert sich eine Orientierung an materiellen Werten und Lebensstandards. Gleichzeitig beschreiben die jungen Männer anhand von Beispielen berühmter Rapper oder Fußballer den nicht gerade einfachen Weg zu Erfolg und Reichtum. Hieran zeigen sie sich gegenseitig alternative Wege auf, die nicht in Verbindung mit dem Drogenmilieu gebracht werden, sondern im Bereich der Musik und des Sports jenseits dessen verortet werden. Der positive Horizont stellt somit die legale Arbeit und der negative Gegenhorizont die (Drogen)Kriminalität dar. 1680 1681 1682 1683 1684 1685 1686 1687 1688 1689 1690 1691 1692 1693 1694 1695 1696 1697 1698 1699 1700 1701 1702 1703 1704
Ra
Kar Ra
Kar
„Isch weiß; (.) guck der hat ja grad eben auch gesagt dass äh (.) Gott jeden ein Gehirn gegeben hat; (.) das is auch bei uns nennt man das so bei den (.) Moslems oder vielleicht auch bei euch keine Ahnung; (.) dass der Gott (.) jedem schon geschrieben was der wird; (.) zum Beispiel (.) wenn Gott dem gesa- also (.) in seinem (.) Buch sag ich ma geschrieben hat der wird (.) Fußballer (.) //hustet// kann der jetz zum Beispiel von heute auf morgen Fußballer werden; (.) vielleicht sogar (.) größer als Ronaldo wenn Gott will; (.) kann der alles machen. (.) Wills du jetz für den ISIS rekrutieren oder was? ∟nein. (.) Das hat mit ISIS nichts zu tun (.) aber ich mein wenn Gott zu mir gesagt hat (.) ich mach jetz meine Ausbildung aber wenn Gott (.) in mein Buch schreibt (.) der macht eine Ausbildung (.) Nein da ( ) du ne was er meint is äh (.) wenn Gott dir schon (.) geschrieben hat dass du reich wirst (.) wirst du auf äh (.) muss nisch auf den We- Weg als Fuß- Fußballer sein; (.) [DG: °mhm°] kann auch auf einen anderen We- Wege sein; (.) [DG: °ja°] Beispiel was er hat (.) was er sagt (.) wenn äh der macht seine Aus- (.) -bildung halt und wenn ihm schon geschrieben wurde dass (.) der reich wird (.) muss das nisch (.) muss
6.3 Fluchtpraktiken
1705 1706 1707
Gö
175
das nisch un- unbedingt äh (.) in der Sache sein was er grad macht; (.) ∟(Hamdulillah) (.) @(3)@“ (GD_Transformers, 2015: Z. 1680-1707).
Ramin konkludiert durch das Wiederaufgreifen des Themas zum „Gehirn“ die Diskussion zur Vermeidung krimineller Machenschaften. Durch sein Beispielzitat aus dem Koran zeigt er, dass es verschiedene Wege auch aus religiöser Sicht gibt Geld zu verdienen. Das sollte seiner Interpretation nach nicht auf krimineller Ebene geschehen, sondern durch den von Gott vorgegebenen Wegen. Ramin will seinen Peers mit seinem Religionsbeispiel zeigen, dass sie Gott zu vertrauen und sich von ihm leiten lassen sollen. Die Einbindung des Glaubens scheint für Ramin bspw. der Weg zu sein, der ihm Orientierung und Halt gibt und ihn gleichzeitig von den kriminellen Machenschaften fernhält. Gerade im Streben nach Vergemeinschaftung und Autonomie finden die jungen Männer Ansätze der Bewältung der konjunktiven Erfahrungen der Marginalisierung, Exklusion und Isolation sowie Perspektiven der Positionierung gegenüber Praktiken der Diskriminierung sowie gegenüber Kriminalität und Gewalt.
6.3
Fluchtpraktiken
Vor den eben beschriebenen Erfahrungshintergründen entwickeln sich nun eine Reihe von Praktiken der Positionierung gegenüber dem Stadtteil. Dabei kommt Praktiken informeller Bildung eine entscheidende Rolle zu. Diese Praktiken zeigen sich als Erkundungen der Außenwelt sowie in Formen der abgrenzenden Distanzierung vom eigenen Sozialraum. Weiterhin zeichnen sich im Material Praktiken der künstlerischen ebenso wie der reflexiven Thematisierung der eigenen Situation und des eigenen Sozialraums ab. Alle untersuchten Akteure verbindet dabei das Bedürfnis, die Grenzen des eigenen Stadtteils zu überschreiten. Dies ist aber nicht ohne weiteres möglich. Die Erkundung der Außenwelt steht mitunter im Zusammenhang mit kriminalisiertem Handeln: Ciro etwa besprüht U-Bahnen und Züge, die nicht in Pratobello abgestellt werden, sondern in unmittelbarer oder teils entfernter Umgebung, mit Graffitis. Außerdem wohnen seine Graffiticrewmitglieder außerhalb seiner Wohngegend – dies ‚zwingt’ ihn letztlich dazu sich fortzubewegen und seinen Stadtteil zu verlassen. Ciro distanziert sich demnach vom Stadtteil, indem er die Grenzen des Sozialraumes erstens physisch und zweitens – durch das Besprühen von Zügen, die Pratobello verlassen – auch symbolisch überschreitet. Renzo hingegen zieht sich räumlich in sein Zimmer zurück und beschäftigt sich mit seinem Computer. Pratobello selbst betrachtet er nur noch durch sein
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Zimmerfenster. Er fühlt sich dann nicht mehr als Teil des Geschehens, das sich vor seinem Wohnblock abspielt. Er guckt ab und zu hinunter und sieht die Drogendealer, die noch vor einigen Jahren seine Freunde waren: 401 402 403 404 405 406 407 408 409
Re
„[...] alles was sie gemacht haben sah ich sehe ich wenn ich mich am Fenster zeige ich sagte manchmal sagte ich º“verdammt aber ich könnte doch raus; (.) ich könnte es machen“º aber nein (.) weil viele Leute die ich kenne die mit mir zusa::mme::n aufgewachsen sind ºalso wir waren zusammen Kinder neº/ die haben sich kaputt gemacht; (.) einige sind gesto::rbn/ alle in meinem Alter ne/ einige sind gestorben/ einige sind im Gefängnis (.)“ (EI_Renzo, 2015: Z. 401 – 409).
Renzo nimmt also eine distanzierte Beobachterhaltung zum Stadtteil ein. Auffällig ist dabei der Verweis auf den italienischen Autor Giacomo Leopardi. Renzo positioniert sich durch den Vergleich mit dem Dichter – der „dem Fenster“ ein Gedicht gewidmet habe – im Raum des Literarischen bzw. des Hochkulturellen. Der Rückzug nach innen ist damit nicht nur eine physische Abgrenzung nach außen, sondern wird mit diesem Verweis symbolisch aufgeladen. Dieser Form der Selbstpositionierung kommt dabei ein Bewältigungscharakter zu. Indem Renzo sich die Schicksale seiner Altersgenossen vergegenwärtigt (viele seien gestorben oder in Haft), hält er der Versuchung stand, sich eben doch nach draußen zu begeben. Während er aber physisch im Stadtteil verbleibt, reist er doch virtuell weit weg von Pratobello: Durch das Chatten mit Akteur*innen aus anderen Ländern erhält er nicht nur viele Informationen über diese, er findet in seinen OnlineFreundschaften auch er eine Art Solidargemeinschaft. Sie vermittelt ihm, dass seine Erfahrungen der Isolation kollektiv geteilt werden: 128 129 130 131 132 133 134 135 136
Re
[...] als ich hm:: mit den Freunde::n am Computer gesprochen habe merkte ich dass auch sie diese Probleme hatten und da sagte ich ‚verdammt also bin ich nicht der Einzige’ dann hab ich angefangen zu reden (.) wir haben uns Ideen ausgetauscht und die untereinander nicht nur Italiener ne (.) genau; (.) also auch Holländer/ Norweger/ aus allen verschiedenen Nationen/ wir sin- sind Bürger der Welt im Grunde ºsind wir Bürger der Weltº/“ (EI_Renzo, 2015: Z. 128 – 136).
Bezüglich der geographischen, urbanen und sozialen Abschottung wird anhand einer weiteren Interviewpassage deutlich, welche Strategien die Gruppe der
6.3 Fluchtpraktiken
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Transformers aus Falldorf entwickelt, um der Langeweile, der Abgrenzung und der Diskriminierung zu entgehen: 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187
Kar Gö Kar
Ra Kar Ra Kar Ra Kar Gö Kar Gö
Idri Gö
„Ja also so gesagt (.) so gesagt is‘ das bei uns so (.) jeder macht eigentlich in seiner Freizeit was anderes; (.) aber wenn wir zusammenfinden (.) Alle zusammen halt immer da alle ∟machen wir halt (.) machen wir halt das (.) worauf wir alle Bock haben und das is‘ halt Jugendzentrum (.) und chillen; (.) weil:l du kanns‘ halt (.) in diesem Kaff kannse halt wie soll ich sagen, (.) du kanns‘ halt nichts Großartiges machen; ∟Aber jetz‘ bevor du Kaff weil wir sind (.) total weit weg von der Stadt sagst jetz nicht dass man das falsch versteht; (.) Falldorf wird als Kaff (.) Fall- Falldorf wird als Kaff (.) bezeichnet weil (.) wegen den (.) Ich will ma‘ was sagen; ∟wegen den hohen Kriminalitätsraten und so weiter wird halt Falldorf als Kaff bezeichnet (.) und ∟Aber normal das is Falldorf weißte wir sind doch so aufgewachsen; ∟Ja warte ∟ganz kurz (.) das Problem is‘ halt zum Beispiel Mei- Meinungs-( ) von nem Richter (.) Richter weißt du, (.) der erzählt (.) der labert (.) der da soll der Richter mal weiß du, (.) oder sein sein Sohn oder sein Kind (.) egal wer aber weißt du aus seiner Familie; (.) soll ma‘ dann in Falldorf aufwachsen weiß du was isch mein, am Anfang immer weiß‘ du, (.) und da kann der nich sagen weißt du man soll damit aufhören (.) man sieht das weiß du man sieht alles das (.) man sieht nein sag mir bitte weiß du wir gehen ausm Haus raus (.) dicke Autos stehn da au- auf (.) Ja ∟je- jeder von uns kommt auf dir //stottert// dreckige Gedanken; [...]“ (GD_Transformers, 2015: Z. 153-187).
Das Jugendzentrum wird zu einem Alternativ- und Fluchtraum, um der Langeweile und Ödnis des Stadtteils zu entkommen. Die jungen Männer bezeichnen ihr Quartier selbst als „Kaff“, das weit vom Stadtzentrum entfernt liegt und nicht die geeigneten Strukturen zur Freizeitbeschäftigung bietet wie in der Innenstadt oder in anderen Stadtteilen. Ramin weist trotz allem darauf hin, dass das Wort
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
„Kaff“ genauer definiert werden sollte. Es wird erneut auf die soziale und geographische Isolation von Falldorf verwiesen. Diese Aussagen decken sich auch mit denen aus den Einzelinterviews. „Kaff“ wird in diesem Fall von den jungen Männern auch mit den isoliert und autonom verlaufenden kriminellen Machenschaften in Bezug gesetzt. Diese Praktiken werden als normalisiert dargestellt. Die Akteure haben sich an die Marginalisierung ihres Stadtteils gewöhnt und orientieren sich demnach an Fluchträume, die mit dem physischen Raum des Jugendzentrums sowie mit Praktiken wie dem ‚Chillen‘ in Verbindung gebracht werden, die im Verlauf der Feldforschung vor allem als kommunikative Interaktion (Diskussionen, Gespräche, Debatten) beobachtet wurden. Dies kann im Rahmen eines Tischkickerspiels, eines Videoabends sowie eines Kioskaufenthalts ablaufen. Hierin bestehen Enaktierungspotentiale der genannten Orientierungen der jungen Männer. Die Isolation, die wahrgenommene Alltäglichkeit von Kriminalität und die geringen Freizeitbeschäftigungen stellen negative Gegenhorizonte dar. Die positiven Horizonte dagegen manifestieren sich in der Gemeinschaft des Jugendzentrums und im ‚Chillen’. Das Normalisieren der gegebenen Umstände stellt hingegen eine weitere Praxis der Bewältigung dar. Gökhan beschreibt exemplifizierend bezüglich des Themas Kriminalität, dass jeder Mensch – auch ein Richter und dessen Kinder – von den Versuchungen der devianten Subkulturen verlockt werden und sich im Rahmen der Lebenswelt der urbanen, geographischen und sozialen Lage beeinflussen lassen könne. Gökhan spricht der Kriminalität und dem Wunsch an Geld und Reichtum zu gelangen, eine große Bedeutung für die jungen Männer aber insbesondere auf die Jugendlichen des Stadtteils zu. Gökhan beschreibt tägliche Versuchungen, denen nur schwer zu widerstehen sind und die somit einzelne Akteure fast schon dazu ‚zwingen’ kriminell zu werden. Er schildert implizit eine unvermeidliche Situation, der jeder Bewohnende aus der Siedlung ausgeliefert ist. 6.3.1
Mobilität
Gennaro und Ciro aus der Gruppe der Filosofi bspw. suchen sich Fluchträume auch außerhalb ihres Stadtteils. Dadurch wird ihr Erfahrungsraum und soziales Netzwerk automatisch heterogener. Dies führt dazu, dass sie sich mehr Überlebenspraktiken aneignen, wodurch sich ihre Chance erhöht für alle möglichen Probleme gerüstet zu sein. Es handelt sich also um einen langsam erlerntern Aufbau eines emotionalen Panzers als Verteidigungsmechanismus, um sich vor Diskriminierungen, vor Arbeitslosigkeit, vor Gewalt und kriminellen Mächten zu schützen. Ciro geht in die U-Bahndepots, weil er sich dort einen Freiheitsraum aufbaut, der ihm ermöglicht sich mit Farben und Buchstaben auszudrücken. Er beachtet hiermit die Regeln der lokalen U-Bahngesellschaft und des Staates bewusst nicht. Er versucht auch an dieser Stelle wie bei einem Strategiespiel Probleme zu lösen und Levels und Barrieren zu überschreiten. Jeder Gang zum
6.3 Fluchtpraktiken
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U-Bahndepot muss gut kalkuliert werden. Es muss herausgefunden werden, wie ein Zaun überquert, Überwachungskameras ausgewichen, Sensoren ausgeschaltet werden. Ciro beherrscht dies routiniert. Er lässt sich von all den Barrieren nicht abschrecken, weil er diese Barrieren schon aus dem Stadtteil kennt und an diese gewöhnt ist. Es scheint, dass Ciro diese als Herausforderungen begreift. „14.08.2014 11:50 Uhr Ich treffe mich mit Ciro vor dem Graffitiladen. Ciro: ‚Heute Abend gehen Giacomo und ich runter in den Tunnel der Linie 3 in Case Verdi und bomben das Teil. Ich kauf mal eben ein paar Dosen. Giacomo hat seine schon. Übrigens gehen wir heute Nachmittag zu Alberto. Der will ein paar Technotracks bauen und dann wird er heute Abend auch für uns aufpassen.’ Ciro kauft sich insgesamt 18 Sprühdosen. Darunter 6 chromsilberne und 6 schwarze für die U-Bahn-Aktion. Die restlichen für einen eventuellen bunten Hintergrund. Ciro: ‚Je nachdem wie viel Zeit wir haben mache ich auch einen Hintergrund. Ich will heute einen Wholecar machen.’ 12:30 Uhr Ciro fährt im Auto mit mir zum U-Bahndepot der neuen Linie 1. Ciro: ‚Giacomo wartet auf uns am Depot. Wir wollen uns das ganze Gebiet genau angucken und einige Proben machen. Wir wollen sehen, ob die Sensoren funktionieren.’ 13:30 Uhr Ciro parkt in einer Seitenstraße von Pinelli nur 100 Meter vom Depot entfernt zwischen den älteren Wohnblöcken. Von dort aus geht er mit mir zu Fuß zu einer schmalen Schotterstraße, die entlang des Depotzaunes führt. Zwischen der Straße und dem Zaun wartet Giacomo in einem Gebüsch sitzend. Giacomo, Ciro und ich begrüßen uns. Ciro: ‚Und, hat sich was getan?’ Giacomo: ‚Nicht wirklich, sieht alles wie immer sehr ruhig aus. Aber das heißt hier leider nichts.’ Giacomo und Ciro beginnen von mir gefolgt das gesamte Depotgelände zu umlaufen, immer am Zaun entlang. Ab und zu spähen sie über den Zaun und gucken sich den Betrieb innerhalb des Depotgeländes an. Jede Kamera wird von ihnen genau begutachtet: sie wollen herausfinden wohin das Objektiv gerichtet ist. An einer Stelle entdecken sie einen Betondeckel der über einen Schacht liegt. Ciro: ‚Alter, wir versuchen mal das Teil zu heben, denn ich glaube, dass da ein trockener Kanal unter dem Zaun zu einer dieser Abstellhallen führt. Das wäre genial, denn dann könnten wir da unten durchkriechen und direkt und unbemerkt in die Halle gelangen.’ In diesem Moment öffnet sich eine Tür der Halle, ein Arbeiter kommt heraus und läuft die Hallenwand entlang zu einem Bürogebäude. Ciro und Giacomo verstecken sich im Gebüsch. Ich bleibe auf der Schotterstraße von Bäumen verdeckt. Nach einigen Minuten versuchen Ciro und Giacomo den Betondeckel zu heben, doch er ist zu schwer. Giacomo: ‚Alter, das ist echt schwer mit diesem Depot. Langsam verzweifle ich hier. Ich frage mich echt, wie es die anderen da rein geschafft haben.’
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14:30 Uhr Giacomo und Ciro sind mit mir wieder an der Stelle angelangt, wo wir uns getroffen hatten. Giacomo dringt in ein mit einem Maschendrahtzaun abgesperrtes Gelände neben dem Depot hinein und steigt auf einen Schotterhügel. Dort bleibt er sitzen und gibt Ciro ein Zeichen. Ciro verschwindet im Gebüsch und nähert sich geduckt dem Stahlzaun unterhalb einer Überwachungskamera, die an einem hohen Mast angebracht ist. In wenigen Sekunden ist er auf dem Zaun geklettert, sitzt für wenige Sekunden auf dem Kabel der Sensoren und springt wieder hinunter ins Gebüsch und reißt ein Stück vom Kabel mit. Schnell springt Ciro aus dem Gebüsch heraus und rennt über die Schotterstraße an mir vorbei. Ich folge ihm während er eine Seitenstraße zwischen den alten Wohnblöcken hinaufläuft und in eine weitere Seitenstraße bis zur Hauptraße von Pinelli rennt. Dort gehen Ciro und ich in eine Bar und warten auf Giacomo. Fünfzehn Minuten später kommt auch Giacomo in die Bar und erzählt: ‚Alter, du glaubst nicht wie schnell die Securitys aus ihrem Häuschen raus sind und zum Zaun gefahren sind. Die sind aus dem Depot raus auf die Schotterstraße an mir vorbei. Die sind genau an der Stelle stehen geblieben, wo du auf den Zaun geklettert bist.’ Ciro: ‚Alter ich habe das ganze Kabel aufgerissen. Das hängt da jetzt am Zaun.’ Ciro lacht laut. Ich: ‚Das gibt eine Strafe allein schon weil du den Sensor kaputt gemacht hast.’ Ciro: ‚Ja, wahrscheinlich schon. Bin gespannt was die jetzt machen.’ Giacomo: ‚Klar ist schon einmal, dass die sehr schnell kommen, wenn du da rüber kletterst. Die Sensoren funktionieren auch an der Stelle. Die haben nur 3 Minuten gebraucht.’ Ciro: ‚An der anderen Stelle waren es letztes mal so um die fünf Minuten.’ Ciro, Giacomo und ich bestellen etwas zu Essen und bleiben für eine Stunde in der Bar. 16:00 Uhr Ciro und Giacomo entscheiden sich für eine weitere Sensorenprobe an der gegenüberliegenden Stelle neben dem Betonschacht. Ciro: ‚Alter, diesmal passe ich auf und du machst die Probe. @Muss mal chillen@’ Giacomo: ‚Das heißt aber für dich, dass du aufm Acker stehen musst und von da das Geschehen beobachten musst. Denn da gibt es keine Hügel und zu nah an der Straße darfst du auch nicht stehen, weil die Securitys direkt von da aus kommen werden.’ Ciro, Giacomo und ich machen uns erneut zu Fuß auf den Weg und umlaufen die Hälfte des Depots ein zweites Mal. 16:30 Uhr Ciro und ich gehen ungefähr 400 Meter über den Acker und bleiben in der Mitte stehen. Wir beobachten wie Giacomo an dem Sensorenkabel direkt am Betonschacht mit den Händen zerrt. Er hat sich diesmal sein T-Shirt um das Gesicht gewickelt. Danach rennt er in Richtung Neubausiedlung und verschwindet zwischen den Wohnblöcken als auch schon aus der anderen Richtung ein weißes Auto der U-Bahn-Wache herangefahren kommt. Ciro zu mir: ‚Lass uns ducken. Es kann nämlich sein, dass sie uns sehen.’ Zwei Beamte steigen aus und nähern sich dem Zaun. Sie bleiben ungefähr fünf Minuten dort stehen. Sie gucken sich um und laufen einen Stück den Zaun entlang und bücken sich in Richtung der Gebüsche. Kurz darauf fahren sie mit dem Auto wieder die Schotterstraße zurück in Richtung Depot-Haupteingang. Ciro und ich gehen über den Acker in die Neubausiedlung. Dort treffen wir auf Giacomo, der auf
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einer Betonbank in einem Spielplatz sitzt und einen Joint raucht. Dort berichtet Ciro was vorgefallen ist“ (TB_Filosofi, 2014: Z. 1384-1436).
Ciro bewegt sich aufgrund seiner Graffitipraktik quer durch Sasso. Dafür nutzt er sein Auto oder auch die öffentlichen Verkehrsmittel. Er kennt sich jedoch auf den Straßen außerhalb von Pratobello gut aus und weiß wo die Ausübungsorte liegen und wie diese erreicht werden. Seine Mobilität beginnt bereits damit, dass er sich die Sprühdosen außerhalb seines Stadtteils besorgen muss. Dadurch trifft er auf ganz neue und unterschiedliche soziale Räume, die Teil seines Aktionsraumes werden. Der Graffitiladen wird somit nicht nur zum Kauf von Hobbymaterialien genutzt, sondern auch als Interaktionsraum und Treffpunkt der Graffitiszene. Durch die Interaktionen, den Austausch von Informationen und der Erweiterung der sozialen Räume, lernt Ciro sich mit neuen Mentalitäten, Ideen, Meinungen, Lebensstilen und Herangehensweisen auseinanderzusetzen. Gleichzeitig lernt er dadurch auch konkret für seine Freizeitpraktik neue Graffitistile und –techniken kennen, die er sich allein durch den Aufenthalt in Pratobello sehr wahrscheinlich nicht aneignen würde. Hierzu bedarf es trotz Internet der Kommunikation und des Austauschs unter Graffitisprühenden. Ciro gestaltet sich dadurch seine Freizeitund Lernaktivitäten autonom. Dies tut er sowohl bewusst als auch unbewusst durch das Sprühdosen-Kaufen oder durch die Fahrten zu den U-Bahndepots. Ciro lernt über die Graffitipraktik Eigeninitiative zu ergreifen und aufgrund der vielen neuen Menschen, die er dadurch kennenlernt und die neuen Räume, die er sich dadurch erschließt, eine gewisse Struktur in den Alltag einzubauen. Gleichzeitig ist er fast durchgehend beschäftigt. Jede Lücke, die eventuell nicht mit Sprayen gefüllt werden kann, schließt er mit anderen Aktivitäten, wie z.B. zuhause bei Alberto mit Technoproduktionen. Hier greift die kollektiv vermittelte Orientierung an Neuem in der Gruppe der Filosofi. Ciro möchte Neues entdecken, herausfinden und erforschen. Ähnlich ist das auch bei den jungen Falldorfern, die sich im Fitnessstudio mit neuen Realitäten konfrontieren: sie sind Gleichgesinnte, wenngleich sie aus anderen sozialen Milieus und Stadtteilen kommen. Ciro könnte theoretisch seine üblichen Depots aufsuchen, mit denen er auch vertraut ist. Dies tut er zwar nebenbei auch, aber er geht immer eine Stufe weiter. Er gibt sich mit dem ersten Schwierigkeitsgrad im Depot des Stadtteils Case Verdi nicht zufrieden. Es ist eine Tunnelanlage, die zwar allein schon wegen des Einstiegs über einen Schacht nicht einfach zu begehen ist, aber Ciro hat schon konkrete und teilweise auch positive Erfahrungen mit dieser Anlage gesammelt. In Pinelli dagegen ist die Herausforderung viel größer und Ciro ist es auch bewusst, dass es mehrere Tage oder gar Wochen dauern könnte in das Depot einzusteigen und dort eine Graffitiaktion zu starten. Ciro hat aber ein Ziel und eine Leidenschaft, die über den Alltag in Pratobello hinausweisen. Zudem kann er seine Leidenschaft mit einer Freundschaft außerhalb seiner Peergroup in Pratobello verbinden. Er geht auf Giacomo ein, der aus Cervetto – einem benachbarten Stadtteil von Pratobello – kommt und
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damit nicht denselben konjunktiven Erfahrungsraum teilt wie Ciro in seiner Peergroup. Ciros und Giacomos Ziel ist es einen geeigneten Einstieg ins Depot zu finden. Es hat teilweise den Anschein, als ob die beiden jungen Männer das ‚System’ außerhalb ihres Stadtteils als eine Art ‚Rache’ angreifen möchten. Sie wissen, dass sie sozial exkludiert sind vom ‚System’ und in Pratobello zudem nochmals exkludiert sind aufgrund der kriminellen Banden. Der Bewegungs- und Handlungsraum ist dadurch sehr gering und dies führt dazu, dass einige junge Männer – natürlich nur wenn es ihnen möglich ist – sich außerhalb des Stadtteils eine eigene Welt erschaffen. Sie agieren somit extern wie die Banden in Pratobello: offensiv. Sie üben offensiv Macht auf das U-Bahnsystem aus. Sie eignen sich mit ‚Gewalt’ die Räume um das U-Bahnsystem an und ‚besetzen’ diese mit Symbolen, die sie mit Sprühdosen auftragen und sozusagen ihr Territorium markieren. Sie erobern sich neue Gebiete in einer ganz neuen und unbekannten Welt. Sie lernen mit anderen Menschen zu interagieren, die nicht ihren Erfahrungsraum teilen. Sie müssen sich neuen Herausforderungen stellen, lernen dabei aber eben Flexibilität, die andere evtl. so nicht lernen können. Gelegenheiten, Spontanität, Erfindergeist werden durch diesen Druck durchaus unbewusst gefördert. Graffiti sowie auch Fitness und Extremsportarten sind zugleich nicht nur Körperpraktiken, sondern haben einen versteckten Sinn der Flucht vor Exklusionssituationen jeglicher Art. Sie geben dem Selbstbewusstsein der jungen Männer Inhalt. Sie versorgen die Akteure aus den Stadtteilen mit neuen Strategien, Ideen und Heterogenität. Es handelt sich um eine Flucht aus der Homogenität, aus dem monotonen und diskriminierenden, einschränkenden Alltag. Dieser Alltag wird mit durchgehender Action in und außerhalb des Stadtteils bespickt. „14.08.2014 17:30 Uhr Ciro, Giacomo und ich fahren nach Cervetto und bringen Giacomo nach Hause. Von dort aus fährt Ciro mit mir nach Pratobello am Wohnblock von Francesco vorbei, wo wir Alberto auf dem Gehweg mit zwei Jugendlichen stehen sehen. Ciro: ‚Hey Alberto, was machst du denn hier. Wir sind gerade auf dem Weg zu dir.’ Alberto: ‚Yo, ich bin grad mit denen beschäftigt. Ich bin in einer halben Stunde bei euch. Wartet solange bei mir an der Unterführung auf mich.’ Ciro fährt mit quietschenden Reifen in Richtung Pratobello Antico an Albertos Wohnblock vorbei in eine Sackgasse. Am Ende der Sackgasse parkt Ciro das Auto neben einer Treppe die hinunter zu einer Unterführung führt. Ciro steigt mit mir aus und öffnet den Kofferraum. Er holt sich eine dunkelblaue und eine hellblaue Sprühdose heraus und steigt die Treppen hinunter zur Unterführung. An einer Wand direkt an der Treppe beginnt er ein Throw-Up mit seinem Pseudonymnamen zu malen. Fünf Minuten später malt er ein zweites. Danach zündet er sich eine Zigarette an und setzt sich auf die Treppenstufen und fotografiert die Kunstwerke. [...]
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22:00 Uhr Ciro zu Alberto: ‚Alter wir sehen uns um 23:30 Uhr in Case Verdi. Giacomo ist dann auch dabei.’ Alberto: ‚Alles klar. Ich gehe solange zu Francesco.’ Ciro und ich fahren mit dem Auto zurück zum neuen Depot der Linie 3 in Pinelli. Ciro: ‚Ich will unbedingt sehen, ob die U-Bahnwache die Sensoren wieder repariert hat. Wenn nicht, dann ist es eine gute Möglichkeit in das Depot unbemerkt hineinzukommen.’ 22:15 Uhr Ciro parkt das Auto diesmal in der Neubausiedlung in einer Nebenstraße. Während ich auf ihn in der Neubausiedlung warte, geht Ciro zur Stelle am Zaun zurück wo er das Sensorenkabel zerrissen hatte. Nach etwa 10 Minuten kommt Ciro zurück und sagt: ‚Tja, die haben noch heute das Kabel ersetzt. Es sieht so aus als wäre nie jemand über den Zaun geklettert. Unglaublich. Die sind hier echt verdammt streng. Naja, ich habe noch Zeit und würde stattdessen zum Depot der Linie 1 fahren. Das ist nicht weit vom Untergrundeinstieg wo wir heute malen wollen. Da kann ich mich zumindest mal ablenken. Bin ganz schön nervös.’ 22:30 Uhr Ich steige mit Ciro ins Auto. Aus dem Radio ertönt Funkmusik. Ciro rast über die Stadtautobahn an Pratobello und vielen weiteren Stadtteilen vorbei bis er in einem benachbarten Stadtteil von Case Verdi in einer dunklen Straße, zwischen mehreren Wohnhochhäusern, das Auto parkt. Von dort aus gehen Ciro und ich durch leere, offene, aber dunkle Verbindungsgänge zwischen den Wohnblocks auf eine große Wiese. Hinter der Wiese führt eine große Straße an einem langen Beton- und Stahlzaun entlang. Die Betonteile des Zauns sind mit Graffitis besprüht, die wohl im Rahmen einer Stadterneuerungsmaßnahme angebracht wurden. Hinter dem Zaun stehen in etwa achtgleisigen Reihen mehrere U-Bahnzüge und ein großer Hangar. Ciro rennt über die Straße, klettert die Betonwand hoch und hält sich an dem oberhalb der Betonwand angebrachten Stahlzaun fest und zupft mehrmals an den Sensorenkabeln. Dann springt er von der Mauer wieder runter und rennt über die Straße zur Wiese und setzt sich auf eine Holzbank unterhalb von Pinienbäumen. Da die Wiese leicht erhöht gegenüber der Straße liegt und die Bank wiederum auf einem kleinen Hügel steht, kann Ciro auf die U-Bahnen im Depot gucken. 22:45 Uhr Ciro: ‚Also letztes Mal kamen innerhalb von einer Minute die Securitys innerhalb des Depots angefahren. Heute tut sich ja gar nichts. Ich glaube, das sollte ich mir mal öfter hier angucken.’ Ciro bleibt weiterhin sitzen und starrt in Richtung U-Bahnen. Wenige Minuten später schnellt er hoch und guckt weiterhin in Richtung U-Bahnen. Ciro: ‚Ich glaub ich habe da jemanden um den Zug huschen sehen.’ Eine Minute später geht das Licht in einem der U-Bahnzüge an. Sekunden später erkennen Ciro und ich einen Mann in orangefarbener Arbeitsweste. Er steigt von einer U-Bahn in die andere und schaltet jeweils die Innenbeleuchtung der Züge ein. Ciro: ‚Tja, jetzt verstehe ich, warum die Security nicht gekommen ist, weil sie sich auf die Arbeiter verlassen. Aber wenn man es schlau anstellt, könnte man ein Zeitfenster finden, das weder die Arbeiter noch die U-Bahnwache bemerkt.’
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23:20 Uhr Ciro geht mit mir zurück zum Auto und wir fahren nach Case Verdi. 23:35 Uhr Alberto und Giacomo stehen an einer dunklen Ecke neben dem Ackerfeld von Case Verdi. Ciro parkt am Straßenrand und begrüßt Giacomo und Alberto. Ciro und Giacomo vergleichen und ordnen die Sprühdosen, dann steigen sie ins Auto und schütteln sie im Auto um keinen Lärm zu erzeugen. Alberto raucht währenddessen eine Zigarette und unterhält sich mit mir über die Musiktracks, die er in letzter Zeit produziert hat. 23:45 Uhr Ciro und Giacomo steigen aus dem Auto und gehen zusammen mit Alberto zur Stelle an der sich ein Loch im Maschendrahtzaun befindet. Ciro: ‚Alberto, du bleibst auf der gegenüber liegenden Straßenseite auf dieser Marmorbank sitzen und behältst den Acker, die Ringstraße und den Busbahnhof im Blick. Wenn du siehst, dass sich die U-Bahnwache, egal ob im Auto oder zu Fuß, nähert, klingelst du mich sofort auf dem Handy an. Unten ist Empfang, also es funktioniert hundertprozentig!’ Alberto: ‚Alles klar. Macht euch keine Sorgen.“ Giacomo: „Alberto, klingle auch nur an, wenn wirklich was ist und bleib erreichbar, falls wir von dir ein paar Infos brauchen.“ Alberto: „Schon gut, schon gut, geht jetzt.’ Ciro und Giacomo verschwinden mit ihren Plastiktüten und Sprühdosen in Richtung Acker. Aufgrund der tiefen Dunkelheit sind die beiden Jugendlichen nach wenigen Sekunden nicht mehr zu sehen. 00:00 Uhr Ich verabschiede mich von Alberto und nehme den Nachtbus zurück nach Hause“ (TB_Filosofi, 2014: Z. 1437-1556).
Ciro nutzt seinen Stadtteil zwar auch als Fläche zum Praktizieren von Graffitikunst und übt an verschiedenen Stellen – wo es keine Probleme gibt sich künstlerisch zu betätigen – seine Stile und Techniken, aber sein Interesse ist aus der Exklusion herauszubrechen und ein Graffiti auf einer fahrenden U-Bahn erscheint ihm weitaus vielversprechender als eines auf einer versteckten und eher unbekannten Wand in einem marginalisierten Stadtteil, der sowieso nicht von der Außenwelt betreten wird. Graffiti ist in den USA vor allem auf fahrenden Objekten entstanden und war für die ‚Ghettojugend’ eine Ausbruch- und Fluchtgelegenheit. Es heißt in verschiedenen Dokumentationen über die Graffitikultur, dass sich zu Entstehungszeiten in den 1960er Jahren in Städten wie Philadelphia und New York Graffiti auch als eine Art Fluchtpraktik etabliert hat. Kinder aus den US-amerikanischen Ghettos, die mit den Gangs und der Gewalt nichts zu tun haben wollten, sind aus ihren eintönigen und gewalttätigen Umfeldern ‚herausgekrochen’ und haben neue Gebiete erkundet und dabei neue Freundschaften geschlossen (vgl. hierzu Castleman 1982; Gastman und Neelon 2010; Golden et al. 2002; SchaeferWiery und Siegl 2002; McDonald 2013; Schiller et al. 2010; Thompson 2009; van
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Treeck 1993). Dadurch sind neue soziale Räume und Interaktionen entstanden, die Graffitisprüher*innen zusammenschweißten oder zumindest auf einer teils spielerischen Weise zum Wettbewerb führten. Die jungen Männer aus Pratobello teilen dieses Bedürfnis sich den Wettbewerben außerhalb ihrer kleinen Welt zu stellen und an diesen mitzuwirken. Anhand des Auszuges aus dem Beobachtungsprotokoll wird deutlich, wie sehr Ciro seinen Alltag mit Handlungen füllt. Er nutzt jede Gelegenheit für das Sprühen von Graffiti und dessen Vorbereitung. Das weist auf eine Leidenschaft für das Hobby wie auch auf ein geringes Bedürfnis hin sich im Stadtteil aufzuhalten. Der Stadtteil wird nur ab und zu dafür genutzt sich mit den Peers zu treffen, Essen zu gehen oder sich auszuruhen. Es ist somit anhand des langen Aufenthaltes außerhalb von Pratobello implizit davon auszugehen, dass es im Stadtteil nicht die nötigen Freizeitmöglichkeiten gibt. Durch diese ‚Leere’ bezogen auf geeignete Angebote für junge Menschen, lernen die Jugendlichen sich selbst zu beschäftigen und aus diesem Vakuum herauszuschreiten. Graffiti war schon immer mit Mobilität und mit dem Herausschreiten aus der Exklusion verbunden (vgl. Castleman 1982). Ciro ist somit in Pratobello mit der Erfahrung aufgewachsen, dass für Jugendliche nichts angeboten wird und im Stadtteil selbst bestimmte Freizeitbeschäftigungen aufgrund der Besetzung durch die organisierte Kriminalität auch nicht durchführbar sind. In dieser Hinsicht ‚lehrt’ Pratobello indirekt die jungen Männer sich zu bewegen, mobil und flexibel zu sein. In dieser Hinsicht wirkt Pratobello als (informeller) Bildungskontext. Man kann an dieser Stelle von einem Stadtteil als Bildungsraum sprechen. Es handelt sich dabei um einen Bildungsraum, der zeigt, dass übliche Freizeitbeschäftigungen von Jugendlichen dort nicht möglich sind. Pratobello bildet die Bewohnenden auf eine intensive Art und Weise zu Überlebenskünstler*innen aus. Die sozialen Dynamiken, architektonischen und urbanen Strukturen sowie kulturellen Hintergründe führen bei den jungen Männern zum Aufbau von Wissen über die Bewältigung von Herausforderungen. Grenzen zu überschreiten, physische Grenzen zu überwinden und diese Aktionen und Handlungen dann im Nachhinein zu besprechen, zu reflektieren oder zu kommentieren, bringt den jungen Männern Bestätigung ein. Sie verständigen sich darüber und vergewissern sich, dass sie etwas Großes geleistet und etwas Kompliziertes angegangen und gelöst haben. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Entwicklungen und Aktionen wird zu einer Praxis der Bestätigung. Graffitis zu sprühen und sich darüber auszutauschen gehört dabei ebenso zu den Praktiken der Bestätigung wie die Fitnesskultur der Jugendlichen in Falldorf. Sie führen die Akteure in einen Strom der Selbstbestätigung, der auf komplexen ‚Strategiespielen’ basiert. Ciro weiß, dass er in Pratobello nicht viel erreichen kann, weil der Platz den Drogenbanden gehört, die sich dort ähnliche Bestätigungskriege liefern.
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Ähnlich zum Graffiti bringen auch die Fitnesspraktiken Bestätigung ein und zeigen Grenzen auf, die zu überwinden sind. Hierbei handelt es sich um Mobilität im doppelten Sinne: Mirza bewegt sich von der Gruppe Supporters und Idris und Karan bewegen sich von der Gruppe Transformers aus dem Stadtteil hinaus, um in einen anderen Stadtteil zu fahren, in dem das Fitnessstudio liegt; sie sind physisch mobil auf ihre Fitnessübungen bezogen. „24.02.2016 12:30 Uhr Der Bus hält vor dem Fitnessstudio und Karan, Mirza und ich steigen aus. Wir gehen zum Eingang des Fitnessstudios. Während ich mit den Fitnessstudioangestellten über mein Vorhaben spreche, stehen Karan und Mirza draußen und rauchen eine Zigarette. Nach einigen Minuten kommen auch sie rein. Ich habe mittlerweile eine Gästekarte erhalten. Karan versucht durch die Drehtür zu gehen, aber seine Mitgliedskarte scheint den Durchgang nicht zu erlauben. Es piept. Er versucht es noch drei Mal, dann wendet er sich an den Angestellten. Es folgt ein 10 minütiges Gespräch über die Gültigkeit der Karte, der Einzahlung des Mitgliedsbeitrags und einer anscheinend vom Vater von Karan durchgeführten Überweisung. Karan zu Angestellten: ‚Ich war doch gestern noch hier und es hat funktioniert!’ Angestellter: ‚Ich sehe nur, dass der Monatsbeitrag nicht bezahlt wurde.’ Es kommt ein Vorgesetzter und handelt mit Karan aus, dass er diesmal durch kann, aber dass ihm dadurch mehr Geld abgebucht werde könnte, wenn er so weiter mache. Vorgesetzter: ‚Wir können dich durchlassen, aber dann erhöhen sich die Schulden. Du musst selbst den Mitgliedsbeitrag zahlen. Da kann dein Vater so oft kommen, wie er will, aber so funktioniert das nicht.’ 12:40 Uhr Mirza, Karan und ich gehen zur Umkleidekabine. Während wir uns umziehen fragt Karan Mirza: ‚Was machen wir eigentlich heute?’ Mirza: ‚Lass uns Schultern machen.’ Karan: ‚Ja, das ist gut, habe ich auch nicht mehr gemacht.’ Ich frage Karan wie lange er schon trainiert und er sagt mir, dass er seit November 2015 ins Fitnessstudio gehe. Mirza sagt mir, dass er seit Mitte Dezember 2015 ins Studio gehe. Karan: ‚Aber ich habe auch schon vorher viel mit Fußball trainiert.’ 12:50 Uhr Karan, Mirza und ich sind in Sportkleidung und begeben uns in eine Fitnesshalle, die mit Power Room betitelt ist. Karan sagt mir, dass sie sich erst einmal warm machen werden. Sie beginnen mit einer Übung für die Vorderschultern und den Nacken. Sie holen sich mehrere Hanteln mit unterschiedlichem Gewicht aus einem Regal. Karan setzt sich als erster auf einen Stuhl ohne Lehne und lässt mich wissen, dass das Gewicht einer Hantel Zweiundzwanzig und ein halbes Kilogramm betragen. Er hebt zwei Hanteln von diesem Gewicht und macht 15 Wiederholungen. Mirza hebt zwei Hanteln mit einem Gewicht von jeweils 15 Kilogramm und macht 10 Wiederholungen. Es handelt sich dabei um den ersten Satz. Während Karan den zweiten Satz mit
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einer Erhöhung des Gewichts von jeweils 25 Kilogramm macht, ruht sich Mirza stehend aus. Nach 10 Wiederholungen stellt Karan die Hanteln auf den Boden und Mirza holt sich zwei Hanteln, die jeweils Siebzehneinhalb Kilogramm betragen. Er macht 10 Wiederholungen und stellt schnaufend die Hanteln auf dem Boden. Während dessen macht Karan mit einer 10 Kilogramm-Scheibe ein paar Nackenübungen. Mirza ruht sich aus und Karan setzt sich kommentarlos wieder auf den Stuhl und erhöht das Gesamtgewicht auf jeweils Siebenundzwanzig und ein halb Kilogramm. Ohne ein Wort kommt Mirza Karan zu Hilfe als er die Hanteln hoch heben möchte. Mirza greift ihm unter die Ellbogen und hebt zusammen mit Karan langsam die Hanteln. Mit lautem Schnaufen macht Karan 10 Wiederholungen. Beim Absetzen hilft Mirza Karan wieder und stützt ihn unter den Ellbogen. Mirza setzt sich wieder auf den Stuhl und erhöht seine Hantel auf insgesamt jeweils 20 Kilogramm. Er macht 10 Wiederholungen während Karan sich am gesamten Körper dehnt. Sobald Mirza seine Wiederholungen beendet hat, setzt sich Karan auf den Stuhl und macht einen vierten Satz mit jeweils 30 Kilogramm. Mirza hilft ihm erneut das Gewicht durch das Stützen der Ellbogen zu heben. Mirza nimmt während der 10 Wiederholungen von Karan die 10 Kilogramm-Scheibe und macht weitere Schulterübungen. 13:00 Uhr Mirza und Karan machen eine kurze Pause und beginnen am selben Standort eine Übung für die hinteren Schultern. Karan sagt mir: ‚Daniel schreib auf: bei dieser Übung fang ich mit einem niedrigeren Gewicht an, weil es schwerer zu heben ist. Ich beginne mit 20 Kilo pro Hantel.’ Karan macht 10 Wiederholungen und Mirza mit jeweils 15 Kilogramm folgt auch mit 10 Wiederholungen. Dabei hilft ihm Karan die Arme hochzuheben und sagt ihm, er soll seine Beine gegen das Hantelregal stemmen. Karan ist wieder an der Reihe und erhöht das Gewicht der Hanteln auf jeweils Zweiundzwanzig einhalb Kilo, wobei Mirza ihm beim hochstemmen hilft. Während Karan dabei ist seine Wiederholungen zu machen, stellt Mirza sein Handtuch und seine Flasche Wasser neben einem Klimmzug- und Lastzuggerät ab. Ein junger Mann kommt auf ihn zu und fragt ihn, ob er nicht eben mal davor ein paar Klimmzüge machen könne. Mirza antwortet: ‚Ja, ja.’ Mirza rennt zu Karan und hilft ihm beim Abstellen des Gewichts. Mirza erhöht sein Stemmgewicht auf Siebzehneinhalb Kilogramm pro Hantel. Bei der neunten Wiederholung schnaubt Mirza und läuft im Gesicht rot an. Karan nähert sich Mirza und steht hinter ihm mit den Händen kurz unter den Ellbogen. Nach der 10. Wiederholung legt Mirza mit einem Ruck die Hanteln beiseite und steht auf. Er sagt mir: ‚Also ich habe weniger Gewichte als Karan, weil ich erst seit anderthalb Monaten dabei bin.’ Karan hat mittlerweile seinen dritten Satz mit jeweils 25 Kilos pro Hanteln begonnen. Mirza ruht sich aus und hilft Karan diesmal nicht beim an- und runterheben. Als Mirza an die Reihe kommt, vermindert er die Gewichte ein wenig und hebt ohne Unterstützung von Karan erneut jeweils 15 Kilogramm für 10 Wiederholungen“ (TB_Falldorf, 2016: Z. 938-990).
Mirza und Karan verfolgen ein striktes und nach Gewichten, Fitnesswiederholungen und -sätzen strukturiertes Muskelaufbautraining bei dem wenig geredet, dafür sich reziprok bei der Ausübung der Trainings körperlich und geistig unter-
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stützt wird. Es handelt sich dabei um eine Teamarbeit, die darauf zielt sich gegenseitig zu motivieren und ‚Durststrecken’ gemeinsam durchzuhalten. Es werden Ratschläge ausgetauscht und es zählt auch nicht wer mehr oder weniger Gewichte hat. Karan und Mirza interessieren sich für die gemeinsame Reflexion ihrer Schritte während des Muskelaufbautrainings. Sie lernen dadurch, wie Teamarbeit im Sport funktioniert und erfahren handlungspraktisch, wie man Hürden und Barrieren überwindet, Grenzen der Körperfähigkeiten testet und so psychische Fitness betreibt. „24.02.2017 13:20 Uhr Mirza und Karan sind mittlerweile zur Klimmzüge- und Lastzugmaschine gewechselt. Karan beginnt mit fünf Klimmzügen und Mirza startet mit 10 Kilogramm pro Schulterseite an der Lastzugmaschine. Karan folgt mit Zwölfeinhalb Kilogramm pro Schulterseite. Karan macht insgesamt 5 Sätze mit jeweils 10 Wiederholungen ohne Erhöhung der Gewichte. Mirza zieht 10 Kilo pro Schulterseite und macht insgesamt 6 Sätze mit jeweils 10 Wiederholungen ohne Erhöhung der Gewichte. Karan zu mir: ‚Wenn ich Schultern mache, geh ich eher auf Definition. Beim Fußballspielen muss man die Schulterdefinition erkennen, also die Definition der Muskeln der Schultern.’ Ich: ‚Aber ist tägliches Muskeltraining nicht zu viel für den Körper?’ Karan: ‚Die Muskeln ruhen sich über Nacht aus. Der Körper gewöhnt sich dran. Ich trainiere ja auch zwei Mal am Tag Fußball.’ Mirza und Karan besprechen welche Geräte sie als nächstes nutzen wollen und wer zuerst mit den neuen Übungen beginnen soll. Sie entscheiden sich für den Kabelzug und Karan sagt zu Mirza: ‚Danach gehen wir 20 bis 30 Minuten Fahrrad fahren.’ Karan beginnt mit der Schulterübung am Kabelzug. Er wählt zuerst 25, dann 30, wieder 25 und schließlich erneut 30 Kilogramm mit jeweils 10 Wiederholungen. Mirza führt 4 Sätze mit jeweils 10 Wiederholungen durch und nimmt zuerst 20 Kilogramm und dann zweimal 25 und abschließend 22. In den Pausen gucken Mirza und Karan jeweils auf ihre Handys. Am Schluss der Kabelzugübung sagt Mirza zu Karan: ‚Alter, ich hab eigentlich grad mehr Bock auf Kabelzug als auf Fahrrad. Warum Fahrrad?’ Karan: ‚Ok, dann lass uns zur großen Hantel gehen.’ Mirza und Karan gehen zurück zum Hantelregal und stellen ihre Getränkeflaschen erneut neben dem Hantelstuhl. Sie holen von einem Gewichthalter einige Gewichtescheiben und stecken gemeinsam jeweils eine 10 Kilogrammscheibe auf eine neben dem Hantelstuhl liegende Stahlstange. Karan: ‚Wir haben jetzt ein Gesamtgewicht von 30 Kilogramm. Die Stange wiegt 10 Kilogramm und die Gewichte sind 20 Kilogramm schwer. Es ist eine Übung für den Bereich zwischen Nacken und Schultern.’ Mirza beginnt mit der Übung indem er sich auf den Stuhl setzt und langsam die Stange auf Schulterhöhe hebt. Karan zu Mirza: ‚Stange nah am Körper bis zum Kinn hochziehen!’ Mirza schnaubt und macht insgesamt 8 Wiederholungen. Danach nimmt Karan die Hantel und macht 10 Wiederholungen. Mirza ist erneut dran und Karan sagt zu ihm: ‚Du musst nah am Körper bis zum Kinn. So hoch ziehen.’ Mirza schnaufend. ‚So?’ Karan: ‚Ja, so! Du musst die Ellbogen auf Höhe der Schulter machen.’ Mirza schnaufend: ‚Das ist schwer!’ Karan: ‚Ja, isses auch.’ Mirza macht
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insgesamt 5 Wiederholungen. Karan erhöht die Hantel auf 35 Kilogramm und macht 10 Wiederholungen. Mirza schaut auf Karan. Karan zu Mirza: ‚Lass einen weniger bei dir machen und am Ende kannst du immer noch eine drauf machen.’ Mirza: ‚Ok.’ Mirza macht 10 Wiederholungen mit einer 20 Kilogramm Hantel. Karan dehnt sich derweilen und erhöht seine Hantel auf 40 Kilogramm. Karan zu mir: ‚Das nennt man übrigens SZ-Stange’ und deutet auf die Hantel mit den veränderbaren Gewichten. 13:45 Uhr Mirza ist wieder dran und macht 10 Wiederholungen mit einem Gesamtgewicht von 20 Kilogramm. Karan: ‚Mach deine Ellbogen nach oben. Guck mal mach so.’ Mirza guckt in den Spiegel und sieht sich und Karan. Mirza imitiert Karans Bewegungen. Während dessen nimmt Karan eine Freihantel und macht weitere Übungen für die Vorderschulter: 10 Wiederholungen mit einer Zwölfeinhalbhantel und danach 10 Wiederholungen mit einer Fünfzehneinhalbhantel. Zwischendurch die Großhantelübung mit 40 Kilogramm Gesamtgewicht. Seine letzte Zwischenübung macht er mit einer 12 Kilogrammfreihantel für die hinteren Schultern. Mirza erreicht insgesamt drei Sätze mit jeweils 10 Wiederholungen mit der 20 Kilogramm-SZ-Stange. Karan zu mir bezüglich seiner Zwischenübungen mit der Freihantel: ‚Ich mach immer so zwei Runden pro Übungen, damit ich mehr verschiedene Übungen machen kann.’ Ich frage Karan, warum sie beim Aufwärmen nicht erst einmal Dehnübungen gemacht haben. Karan: ‚Es reicht aus, wenn man sich ein wenig zwischendurch dehnt.’ Mirza hat seine Übungen mit der SZ-Stange beendet und Karan guckt zu seiner Freihantel und sagt: ‚Ich weiß nicht ob ich jetzt die 15er noch schaff. Bin voll ausgepowert.’ 14:00 Uhr Mirza und Karan begeben sich in Richtung Hantelhebegerät/Multipresse. Sie befindet sich auf der anderen Seite des Power Rooms. Karan erklärt mir, dass sie nun Nackenübungen durchführen werden. Beide wärmen sich zuerst mit zwei 15 Kilogramm Gewichtscheiben auf. Karan nennt dies eine Schulterdehnübung. Danach setzt sich Karan an die Multipresse und stemmt in drei Sätzen mit jeweils 10 Wiederholungen einmal 80, 100 und 120 Kilogramm. Mirza dagegen 60 und zweimal 70 Kilogramm. Karan muss jedoch bei 120 Kilogramm nach 5 Wiederholungen unter großem Schnauben abbrechen. 14:30 Uhr Mirza, Karan und ich gehen am Empfang des Fitnessstudios vorbei. Ich gebe meine Gästekarte an der Theke ab und der Leiter des Studios kommt auf mich zu und bedankt sich bei mir dafür, dass ich gekommen bin“ (TB_Falldorf, 2016: Z. 991-1041).
Karan, der hier als Fitnessexperte auftritt, gibt Mirza Anweisungen zur korrekten Ausführung bestimmter Muskelaufbauübungen. Dabei achtet er auch darauf, dass Mirza mit dem Gewicht nicht übertreibt. Karan schlüpft so immer wieder in die Rolle eines Personal Trainers. Er erklärt zudem dem Beobachter um welche Übungen und Geräte es sich handelt. Die Blicke in den Spiegel während der Übungen scheinen die jungen Männer zu motivieren. Sie werden Beobachter
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ihrer selbst und ihrer körperlichen Entwicklung und Ästhetik. Der Körper wird als ein sich wandelnder Prozess betrachtet, der fast schon in Echtzeit beobachtbar ist. Es bestätigt die jungen Männer dabei positive Veränderungen zumindest vorerst bei sich selbst in nicht allzu langer Zeit erreichen zu können. Dies beeinflusst nicht nur die Fitness treibenden Akteure, sondern auch deren Freunde und Sozialräume. Das beginnt schon im Fitnessstudio wo die jungen Falldorfer keine Falldorfer mehr sind, sondern einige der vielen Fitnessinteressierten. Ihre Herkunft spielt dort keine Rolle. Sie werden weder auf irgendeine besondere Weise adressiert noch auffällig ignoriert oder sonst diskriminierend angesprochen. „Körperliche Fitness ist ein wichtiges Ideal, das mittels disziplinierter Haltung und sportlichen Ehrgeizes als erreichbar postuliert wird. Es geht hier um die Herstellung eines spezifischen Körperimages, das Stärke, Gesundheit und Autonomie symbolisiert. Sport dient dabei nicht nur der Kultivierung asketischer Strenge, sondern auch der Inszenierung von Attraktivität“ (Witte 2011: 277).
Das Fitnessstudio stellt deshalb ihren Fluchtraum dar in den sich die Jugendlichen zurückziehen. Dort können sie sich voll und ganz auf sich selbst und ihre physische Entwicklung konzentrieren. Interessant dabei ist, dass sie in den Gruppendiskussionen und Einzelinterviews Körperpraktiken oder allein das Wort Fitnessstudio nicht erwähnen. Es scheint wohl eine so routinierte und selbstverständliche Praktik zu sein, dass sie im Interview nicht erwähnenswert ist. „24.02.2016 14:35 Uhr Karan und Mirza holen sich an einem nahe gelegenen Supermarkt Getränke und Brötchen, die sie auf einem nahe gelegenen Spielplatz mit Käse und Geflügelwurst belegen. Ich frage Karan was er heute so gemacht hat. Karan: ‚Ich habe auf der Playsi Fußball gespielt und Filmserien geguckt.’ Beide erzählen mir von früheren Erlebnissen in Falldorf. Karan: ‚Alter, früher, da haben wir immer irgendwas geklaut. Ich habe zum Beispiel Kleidung geklaut und dann an Bekannte wieder verkauft. Ich hatte immer meinen ganzen Kleiderschrank voll mit neuester Kleidung, die ich in Falldorf an alle möglichen Leute verkauft habe. Aber weißt du, dann kam ich so zur Fußballkarriere und ich konnte dann auch nicht mehr die Scheiße durchziehen. Wir haben viel Scheiße damals gebaut. Wir sind immer irgendwie in Geschäfte unterwegs gewesen und haben so immer ein bisschen Geld gemacht.’ Mirza: ‚Ich habe damals ja nicht viel Taschengeld bekommen und dann habe ich einfach so mir extra was verdienen wollen. Da habe ich Drogen verkauft, ja. Da kannten mich alle in Weitblick. Ich hätte dir damals genau erzählen können, wie alles mit dem Verkauf funktioniert hat. Da konntest du auch nicht einfach in die Siedlung rein. Das war damals nicht so leicht. Heute kannste einfach reinlaufen. Die machen das nicht mehr auf der Straße. Die sind in den Blocks drinne aber ich kann dir nicht mehr sagen, wie das organisiert ist. Ich habe mit der Scheiße echt nichts mehr zu tun. Aber früher da habe ich auf
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jeden Fall ordentlich was dazu verdient. Ich hatte einfach kein Bock ohne Taschengeld herumzulaufen. Da war doch immer jemand, den man zum Essen einladen wollte oder mal ausgehn wollte. Das konnten meine Eltern mir nicht geben. Die hatten das Geld nicht.’ Karan: ‚Heute wie gesagt chillen wir viel. Gestern zum Beispiel waren wir ja auch wieder beim Fitness. Wir waren da von 00:00 Uhr bis 02:00 Uhr Nacht. Da war Abbas auch dabei. Da haben wir über Kampfkunst geredet und die Fußballzukunft von Karan. Wir reden viel so über solche Sachen. Das macht uns Spaß und das ist so eine Winterbeschäftigung, weisste. Du musst echt mal im Sommer kommen, da wirst du viel mehr sehen.’ 15:30 Uhr Karan, Mirza und ich rennen zur Buslinie 55, die gerade an der Haltstelle gegenüber des Fitnesscenters hält. Wir alle drei fahren zurück in die Siedlung Weitblick. Dort trinken wir ein wenig Soda und begeben uns zurück in unsere Wohnungen“ (TB_Falldorf, 2016: Z. 1042-1064).
Die Diskussion zwischen Karan und Mirza nach dem Fitnessstudiobesuch zeigt, dass neben dem Fitnessprogramm noch viele andere Aktivitäten laufen und nichts mit der Vergangenheit der damals jugendlichen Akteure zu tun haben. Die jungen Männer konstruieren den Sport und das Fitnessprogramm als Gegenhorizont zu ihrer früheren Kriminalität und zu devianten Verhaltensweisen. Schon die Erstellung eines sehr intensiven Fitnessprogramms beansprucht die jungen Männer zeitlich stark. Das Programm beinhaltet viele routinierte ‚Sätze’ und Wiederholungen während verschiedener Muskelaufbauübungen sowie spontan entschiedener Aktivitäten, die diese Routinen ergänzen. Zwischendurch werden die Schritte gemeinsam reflektiert und kommentiert. Dabei geht es darum ‚Fehler’ sofort zu erkennen und zu beheben. Hierbei entwickeln die Akteure auch Strategien der Alltagsbewältigung. Sie wissen, dass man Barrieren überschreiten und Grenzen erkennen kann. Muster der gegenseitigen Kontrolle, der Infragestellung des Handelns Einzelner und Angebote der Korrektur zeigen sich dabei auch über die Praktiken der Fitness hinaus bei verschiedenen Aktivitäten.
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Rückzug Re
„[...] i::ch hehe (.) ich mit mit dem Computer äh er hat mir sehr geholfen als ich gesundheitliche Probleme hatte (.) aber mehr als Gesundheit ºwaren es Probleme:: also hm:: Depressionen genauº (.) ich habe ein wenig unter Depressionen gelitten (2) u::nd von daher bin ich nicht mehr rau:: raus gegangen (.) ich habe mich von allem distanziert weil ich mir sagte der Stadtteil ist das was er ist/ ich werde sowieso nie Freunde haben die so sind wie i::ch weil hier alle rauchen ºalle dealen hier (.) hier machn alle::º dieselben Sachen/ ich dagegen was mach ich hier
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eigentlich? Also ich hab doch wirklich damit nichts zu tun/ warum bin ich hier? Von daher habe ich auch Probleme gekriegt/ Komplexe ne; (.) dann mit der Zeit/ dann als ich hm:: mit den Freunde::n am Computer gesprochen habe merkte ich dass auch sie diese Probleme hatten und da sagte ich ‚verdammt also bin ich nicht der Einzige’“ (EI_Renzo, 2015: Z. 116-131).
Durch Renzos Erzählung über seine Depressionen zeigt sich ein klares Bild der Selbstabschottung von den Jugendlichen in seinem Wohnbereich bzw. Stadtteil aufgrund ihres monotonen und devianten Lebensstils. Sie bilden den negativen Gegenhorizont zur Isolation von der Außenwelt des Wohnbereichs und wohl auch des gesamten Stadtteils. Renzo reflektiert in seiner depressiven Phase seine Rolle im Stadtteil und distanziert sich explizit vom devianten Verhalten der Peers im unmittelbaren Wohnbereich. Probleme kann er somit nicht mit Gleichaltrigen aus seiner Gegend besprechen, sondern muss über virtuelle Mittel seine Reflexionen ausarbeiten: „wir haben uns Ideen ausgetauscht und die untereinander nicht nur Italiener ne/ genau:/ also auch Holländer/ Norweger/ aus allen verschiedenen Nationen/ wir sin- sind Bürger der Welt/ im Grunde ºsind wir Bürger der Weltº/“ (EI_Renzo, 2015: Z. 132-136). An den Beispielen der Ablenkung durch den PC und der Kontakte zu Onlinefreunden deutet sich ein positiver Gegenhorizont der Gemeinschaft und gemeinsamen Aktivität an. Eingeschlossen in die damit benannten Enaktierungspotentiale und Gegenhorizonte liegt hier ein Orientierungsgehalt der Distanzierung. Renzo distanziert sich auch in weiteren Passagen (bspw. EI_Renzo, 2015: Z. 394-435) explizit vom Geschehen außerhalb seiner Wohnung. Er erlebt und beobachtet die Handlungen, aber nimmt nicht an diesen teil. Trotz der Verlockungen bleibt er hinter seinem Fenster und versucht sich über den Computer seine eigene Welt aufzubauen. Das Fenster kann als eine poetische Fokussierungsmetapher beschrieben werden, die den Orientierungsgehalt der Distanzierung von den devianten Handlungen im Wohnbereich auf den Punkt bringt. Leopardi wird von Renzo zitiert um auszudrücken, dass er versucht die Realität, die er aus dem Fenster sieht, emotional nicht an sich heranzulassen: 394 395 396 397 398 399 400 401
Re
„Ja (.) also was erzähl ich dir über meinen Stadtteil (.) äh ich meinen Stadtteil habe ich aus einem Fenster gesehn (2) ºokº (.) ºvon dahe::r stell dir das schon mal wie bei Leopardi vor (2) ºokº (.) haste gesehen der hat ein Gedicht er hat ein Gedicht @dem Fenster@ gewidmet ne (.) ºes ist kurzum ein wenig wie Leopardi mir würde es aber (.) ein bisschen gefallenº also ich sehe alles vom Fenster [...]“ (EI_Renzo, 2015: Z. 394-401).
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In der darauffolgenden Sequenz (EI_Renzo, 2015: Z. 410-417) dokumentiert sich erneut Distanzierung als Orientierungsfigur in der Kritik von Renzo vor dem Hintergrund des negativen Gegenhorizonts der drogenabhängigen oder nicht existierenden Eltern und des positiven Horizonts der fürsorglichen, aufmerksamen Eltern. Um der lokalen Mentalität von Pratobello und den „ungesunden“ (EI_Renzo, 2015: Z. 417) devianten Handlungen nicht zu verfallen, sieht Renzo die Lösung in der Adaptierung einer anderen Mentalität und Gegend. Die anderen Gegenden von denen Renzo spricht, stellen den positiven Horizont dar. Sie scheinen für ein gesundes Aufwachsen den richtigen Sozialraum zu bieten. Pratobello dagegen sollte nach Renzo lieber von einem Fenster aus beobachtet werden, um möglichst nicht mit der Mentalität und den ungesunden Handlungen in Kontakt zu gelangen. Erneut nennt Renzo den Computer als seine Rettung, er kann somit als Mittel zur Distanzierung zum restlichen Sozialraum in Pratobello gesehen werden. Außerdem sieht er auch eine Lösung im Ausweichen von den Problemen durch einen kontinuierlichen und stetigen Orts- bzw. Stadtteilwechsel, wenn es sich wahrscheinlich um Arbeits- und/oder Freizeitaktivitäten handelt: „vielleicht lebst du hier (.) also du hier du kommst hier nur zum schlafen (.) du schläfst (.) isst (.) und gehst in ne andre Gegend (.) du wohnst also (.) du gehst beständig in ne andre Gegend (.) du übernimmst ne andre Mentalität (.) du übernimmst nicht diese“ (EI_Renzo, 2015: Z. 425-428). Als Konklusion wirft Renzo jedoch eine Antithese auf: „aber leider sind viele Jugendliche kaputt und deshalb sieh::t man es daß nicht mal das geholfen hat (.) was soll ich dir sagen (2)“ (EI_Renzo, 2015: Z. 429431). Der Orientierungsgehalt Distanzierung prägt Renzos Elaborationen. Die jungen Männer distanzieren sich vom Alltag, der unter deren Wohnblöcken stattfindet, indem sie sich alternativ zuhause u.a. in ihrer Onlinewelt beschäftigen. Sie grenzen sich vom Drogenkonsum und –verkauf dadurch ab, indem sie keine Drogen nehmen und diese auch nicht verkaufen. Sie suchen sich alternative Einkommensmöglichkeiten bzw. Konsumpraktiken. Sie weichen den Drogendealern aus, um mit ihnen möglichst keinen Kontakt zu haben, damit eventuelle Versuchungen, unangenehme Interaktionen und/oder zufällige Einbindungen in Gewalttaten nicht aufkommen können. Innerhalb der Peergruppe von Renzo werden diese Themen aus verschiedenen Perspektiven dann weiter ausgehandelt. Auch in diesen Fällen spielt die Flucht vor der Realität und dem Alltag eine entscheidende Rolle: 1 2 3 4 5
DG Re Ma
„Ok ich habe eingeschaltet (.) und ich beginne mit der ersten Frage (.) was macht ihr so wenn ihr zusammen seid (3) ºNa jaº (.) Wir versuchen so viel Spaß wie möglich zu haben (2)
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Sa
∟mh fast immer gehen wir mit Freunden aus u::nd ja morgens gehen wir raus um zu frühstücken/ wir gehen zusammen raus/ nachmittags dagegen vir- versammeln wir uns u::nd wir gehen in eine Bar um Tischkicker zu spielen oder u::m einfach zu reden/ abends dagegen wenn es zum Beispiel Samstagabend ein Wochenende ist dann versagehen wir aus/ in Richtung/ um zu tanze::n oder irgendein Pub/ kurzum gegen Ende der Woche gehen wir uns amüsieren“ (GD_Isolani, 2015: Z. 1-15).
In den ersten Zeilen dokumentiert sich schon nach dem Erzählimpuls durch den Interviewleiter ein ausgeprägtes Wir-Gefühl innerhalb der Gruppe. Das wird unter anderem direkt mit der Antwort von Mariano nach einem anfänglichen Zögern durch Renzo deutlich: er beginnt nicht mit der Beschreibung der gemeinsamen Aktivitäten, sondern mit dem Ziel der Handlungen, das die Gruppe („Wir“) anscheinend gemeinsam versucht zu erreichen: „so viel Spaß wie möglich zu haben“ (GD_Isolani, 2015: Z. 5). Dieses Ziel wird dann erst von Sandro durch die Beschreibung des Alltagshandelns der Gruppe mit Beispielen erläutert. Dabei strukturiert er den Tagesablauf chronologisch von morgens bis abends und verdeutlicht dabei später, dass es sich um Aktivitäten unter der Woche handelt. Die gemeinsamen Handlungen am Wochenende werden dann etwas ungenauer und allgemeiner ausgedrückt. Somit unterscheidet Sandro zeitlich zwischen zwei Einheiten von Aktivitäten des Spaßes: eine Einheit unter der Woche, die eine gewisse Regelmäßigkeit und fast schon rituelle Handlung vorauszusetzen scheint und eine eher offene Spaßeinheit am Wochenende. Dabei wird das „Wir“ von Sandro besonders oft ausgesprochen: sowohl beim gemeinsamen Frühstück als auch beim gemeinsamen Ausgehen mit Freunden wie auch in der Bar beim Tischkickerspielen oder einfach beim Reden abends im Pub. So scheint der Spaß auch nur als Kollektiv erreichbar zu sein, denn das Frühstücken an sich scheint keine Spaßaktivität zu sein, sondern wird erst als gemeinsame Handlung in der Gruppe zum Vergnügen. „Einfach reden“ setzt Gemeinsamkeit voraus und kann auch an verschiedenen materiellen Orten stattfinden, die hier nicht aufgezählt werden. Durch Marianos Aussage zeigt sich aber auch, dass es beim Vergnügen Grenzen gibt: „Wir versuchen so viel Spaß wie möglich zu haben“ (GD_Isolani, 2015: Z. 5). Da es sich um einen Versuch handelt, kann schon am Anfang der Passage davon ausgegangen werden, dass der Spaß ‚erkämpft’ wird bzw. werden muss. Um was es sich genau für Grenzen handelt, wird in den anfänglichen Sequenzen noch nicht deutlich. Der positive Gegenhorizont der oben zitierten Sequenz ist die Gruppe, das Zusammensein bzw. die Gemeinschaft. Das Alleinesein bzw. die Isolation stellt den negativen Gegenhorizont dar. Die Enaktierungspotentiale werden durch durch
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die oben erwähnten gemeinsamen Handlungen deutlich. Die Orientierungsfigur handelt somit vom Wohlbefinden und Vergnügen. Ab Zeile 17 arbeitet Ottavio mit Unterstützung von Renzo die Gemeinsamkeit des Spaßes näher aus. Mariano platziert sich als Diskogänger während Renzo und Ottavio sich zuhause bei Renzo als Spieler herausstellen (GD_Isolani, 2015: Z. 28-31). Dabei wird zudem deutlich, dass es sich um lange Abende handelt, die das gemeinsame Essen beinhalten und den Eindruck erwecken, dass für Ottavio Renzos und Sandros Wohnung ein zweites zuhause ist. Bei allen dieser Aktivitäten geht es aber weiterhin um das Wohlbefinden der jungen Männer. Mariano verbindet das Tanzen mit Freiheit und Ablenkung; Renzo und Ottavio empfinden ein Wohlbefinden zuhause beim Spielen, Filmegucken und Pizzaessen. Hier wird die Gruppendynamik auch etwas klarer, auch wenn Sandros Rolle nicht erwähnt wird. Es deutet sich an, dass der positive Gegenhorizont bei Mariano das Ausgehen und bei Renzo und Ottavio das zuhause bleiben darstellt. Die Enaktierungspotentiale ähneln denen der vorherigen Sequenz: Tanzen, stundenlanges Spielen, Pizzaessen und Filme gucken. Ab Zeile 34 eröffnet sich durch Renzo eine weitere Orientierungsfigur der Eingangspassage, die gleichzeitig die zweite Sequenz zusammenfasst und zu einem neuen Thema überleitet: 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50
Re
Ott Re Ott Re Ott
„[...] zum Beispiel wie::/ wir ersetzen das was uns fehlt/ es fehlt uns die soziale Beziehung also sag ich „weißt du was ich pflege Kontakt zu Ottavio meinem besten Freund de::m dasselbe fehlt wie mir und wir ersetzen uns ohne daß wir es nötig haben auszugehen/ auch weil das hier ein sehr schlimmer Wohnbereich ist der (.) so haben wir jemanden mit dem wir ausgehen können (.) es sind höchstens noch deren Freunde dabei aber mehr als das/ wenn sie nicht da sind kannst du nic- nichts machen ∟nei::n er bietet nichts vor allem abends/ abends riskierst du hie::r sogar; (.) gut möglich daß sie dich ∟vor allem ja ∟das versteht sich von selbst schlagen ne- die ihr Business machen und deshalb ∟weil kannst du logischerweise nicht durch eine bestimmte Zone gehn wo sie ºihre illegalen Geschäfte abwickelnº [...]“ (GD_Isolani, 2015: Z. 34-50).
Die Freunde von Renzo sind der Ersatz für die fehlenden sozialen Kontakten im Wohnbereich. Hier dokumentiert sich erneut die Nicht-Teilhabe als negativer Gegenhorizont und die Teilhabe als positiver Horizont. Die weiteren Bewohnenden des Wohnbereichs scheinen nicht in die Gruppenkonstellationen zu passen.
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Da es sich nach den jungen Männern um einen „sehr schlimmen“ Wohnbereich handelt und das Risiko, Opfer von Gewalttaten zu werden, groß ist oder in bestimmten Zonen des Wohnbereichs aufgrund der „illegalen Geschäfte“ nicht erwünscht ist, dokumentiert sich der L7 bzw. Teile des L7 als weiterer negativer Gegenhorizont. Die Außenwelt, die Diskothek oder das eigene Zuhause entpuppen sich dagegen als weitere positive Horizonte und die Vergnügungspraktiken als Enaktierungspotentiale. Es dokumentiert sich eine Orientierungsfigur an Vergemeinschaftung als Ersatz zwischenmenschlicher Beziehungen bzw. sozialer Kontakte innerhalb unsichtbarer aber doch präsenter Grenzen im Wohnbereich. Dies findet sich auch bei den Transformers, Supporters und Filosofi mit ihren Praktiken und Freizeitbeschäftigungen. Dieser Ersatz beginnt zuerst mit der Suche nach geeigneten Freunden, die sich mehr oder weniger in derselben Lage befinden. Als zweiten Ersatz suchen sie sich gemeinsame Aktivitäten, die sowohl innerhalb der eigenen vier Wände als auch außerhalb des L7 stattfinden (können). Ein sorgloses Umherschweifen durch den Wohnbereich erscheint den Jugendlichen kaum möglich. Hier wird auch deutlich, dass die Jugendlichen Experten ihrer Wohngegend sind und genau wissen was sie tun dürfen und was nicht. Obwohl ein neues Thema bzgl. des Wohnbereichs zu beginnen scheint, schließt sich Mariano den Aussagen von Renzo und Ottavio an, was die Freizeitbeschäftigungen angeht. Von Zeile 51 bis 62 dokumentiert sich ein Handeln von Mariano das sich vor allem zuhause bei seinen Eltern abspielt. Auch er guckt „abends [...] einen schönen Film“ (GD_Isolani, 2015: Z. 53) oder redet mit seinen Eltern über das Leben und diskutiert soziale Themen. Um jedoch seine Gedanken abzulenken versucht er am Wochenende Tanzen zu gehen. Das Tanzen wird implizit als Entspannung dargestellt, die er zuhause bzw. im Stadtteil wohl nicht erhält. Auch hier findet sich dieselbe Orientierungsfigur des Ersatzes zwischenmenschlicher Beziehungen bzw. sozialer Kontakte, die im Falle von Mariano außerhalb des Stadtteils in den Diskotheken gesucht werden. Hierdurch werden implizit dieselben negativen Gegenhorizonte bezüglich des Wohnbereichs L7 deutlich, die auch bei Ottavio und Renzo ersichtlich sind. Diese Gegenhorizonte werden dann von Renzo zudem nochmals durch die erneute Aufnahme des Themas Wohnbereich/Stadtteil verstärkt: 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Sa
Ma Sa
„So oder so das was genau das was uns diese Gegend bietet diese Gegend ist die Peripherie i::st einer der Peripherien von Sasso (.) es ist ni::cht/ sie erlaubt uns nicht genau wie Ottavio gesagt hat abends auszugehen in einer ruhigen oder sicheren Umgebung zu sein/ ∟((räuspert sich)) hier jedenfalls hast du immer Angst rauszugehen und wenn du zu spät zurück kommst triffst du vielleicht Personen die du nicht treffen möchtest genau (.) du hast
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unangenehme Begegnungen also bist du gezwungen ein wenig früher nach Hause zu kommen oder du nimmst das Auto und gehst in andere Gegenden wo die Situation ein wenig ruhiger ist auch wenn wir eigentlich alle kennen also wir kennen alle Anwohner ºwir kennen sie alleº“ (GD_Isolani, 2015: Z. 63-77).
Der L7 an sich wird nicht als ein Raum des Wohlbefindens und Spaßes vermittelt, im Gegenteil, der L7 ist ein Gefahrenraum, in dem zu viel Druck entsteht, wenn der Aufenthalt dort zu lange ist – auch wenn bzw. gerade weil alle Bewohnenden bekannt sind. So ist ergibt sich quasi ein Zwang sich entweder außerhalb des L7 oder innerhalb der eigenen Wohnung aufzuhalten. Beim L7 handelt es sich um einen Wohnbereich mit zu vielen Zonen6. In Zeile 49 wird von Ottavio explizit erklärt, dass der Durchgang durch bestimmte Zonen aufgrund der illegalen Geschäfte nicht möglich ist, die dort abgewickelt werden. Zwischen den Wohnungen von Mariano, Renzo, Sandro und Ottavio und den Gebieten um den L7 herum gibt es einen Bereich, der durch unsichtbare aber den Bewohnenden trotzdem bewusste Grenzen gekennzeichnet ist. Dieser Bereich ist kein Aufenthaltsort für Menschen, die nicht Teil der kriminellen Gruppierungen sind. Somit sind die jungen Männer als Gruppe aufeinander angewiesen und müssen zwangsläufig zusammenhalten. Sicher dokumentiert sich anhand der oben zitierten Passage, dass Bewohnenden Teil irgendeiner Gruppe sein muss, um in dem Wohnbereich vor allem psychisch ‚zu überleben’. Von daher kann auch von einem Vergemeinschaftungszwang statt einem Vergemeinschaftungsersatz als Orientierungsfigur gesprochen werden. Alle von den Jugendlichen beschriebenen Praktiken haben etwas mit Flucht, Finden von Nischen und Ablenkung zu tun. Entweder findet der Aufenthalt zuhause fernab von den Zonen oder außerhalb des Wohnbereichs in den Diskotheken und Pubs statt. Das Tanzen, Computerspielen und Filmegucken dient der Ablenkung von den (kriminellen) Handlungen, die vor den Wohnblöcken stattfinden. Durch dieses Handeln zusammen mit den Aussagen der Jugendlichen wird auch eine sehr klare Abgrenzung vom kriminellen Milieu deutlich. Diesbezüglich ist ein Verhaltenskodex auf mehreren Ebenen festzustellen. Die Art und Weise wie dem Leben Sinn gegeben wird, strukturiert sich erstens durch die unterschiedlichen Zugehörigkeiten und zweitens durch das Vergnügen bzw. Spaßhaben. Dadurch werden auch Lernprozesse deutlich, die sich in der 6
Eine Zone ist ein Bereich innerhalb des Wohnbereichs in der illegale Geschäfte abgewickelt werden und die Präsenz der organisierten Kriminalität besonders hoch ist. Jeder Wohnbereich in Pratobello hat seine eigene Zone. Eine Zone kann entweder aus nur einem Straßenzug oder der Hälfte eines Straßenzugs oder mindestens einem Wohnblockeingang wie auch aus mehreren Innenhöfen, Brücken, Gehwegen und Straßen bestehen.
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Strukturierung ihres Alltags, im Quartierswissen (das Wissen, wann und wo hinausgegangen werden darf bzw. kann), in der Reflexion sowie gegenseitigen Auseinandersetzung und dem Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen bzw. Vergemeinschaftung (wem kann ich trauen und wem nicht?) dokumentieren. Das Verlagern der Aktivitäten innerhalb der Wohnungen oder außerhalb des Wohnbereichs bzw. des Stadtteils zeigt, dass die jungen Männer vom devianten Alltag und von den kriminellen Machenschaften fliehen. Die eigene Wohnung, die Diskothek, die Bar oder andere Orte sind die Fluchträume der Isolani. Das Jugendzentrum, die Sporthalle und gewisse Straßen und Ecken sind dagegen die Flucht- bzw. Rückzugsräume der Supporters und der Transformers aus Falldorf. Hier können sie in Ruhe ihren Aktivitäten nachgehen, ohne von den Handlungen devianter Gruppen beeinflusst bzw. gestört zu werden. „Freitag, den 19.02.2016 17:00 Uhr Ich treffe auf Simon, der auf dem Parkplatz vor dem Jugendzentrum in sein Auto steigen möchte. Ich gebe ihm aber die Hand und grüße ihn und frage wohin er denn eigentlich fahren möchte. Simon: ‚Ach ich gehe nach Hause und ein bisschen schlafen. Muss heute Nacht arbeiten.’ Ich: ‚Was arbeitest du denn?’ Simon: ‚Ich beliefere Apotheken mit Medikamenten in ganz Vierstadt, damit am nächsten morgen die Apotheken Medikamente bereit haben. Zum Beispiel machen abends Leute noch Bestellungen und wollen dann am nächsten Morgen sobald die Apotheke öffnet ihre Medikamente abholen. Oder auch Nachtapotheken machen Bestellungen. Also ich bin jedenfalls von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr am Morgen unterwegs.’ Ich: ‚Krass. Da kann ich verstehen, dass du jetzt pennen gehst. Gehst du noch zur Schule?’ Simon: ‚Ne, kein Bock mehr gehabt. Ich war erstmal auf der Hauptschule, dann habe ich da einfach zu oft gefehlt und dann haben die mich auf die Förderschule getan, um mir noch mal ne Chance zu geben, aber darauf hatte ich dann irgendwann mal auch kein Bock. Vor allem wegen Mathe, die blöde Lehrerin. Die hatte einfach kein Bock zu unterrichten. Wenn ich ihr gesagt habe, dass ich es nicht verstehe und dass sie es mir bitte erklären solle, dann hat die einfach nur auf mich geschissen und gesagt, lass es dir von deinen Mitschülern erklären. Ich kann es dir nicht erklären. Dann habe ich gesagt, dass die es doch auch nicht können und da hat die echt damit geantwortet, dass ich dann ja auch nach Hause könne, wenn ich kein Mathe kann. Und ja, dann bin ich einfach nach Hause und habe dann wieder gefehlt. Ich habe das dann auch der Schulleitung gesagt und die hat wohl mit der Lehrerin gesprochen und ich bin am nächsten Tag wieder hin und dann hat die tatsächlich dasselbe wieder gesagt. Ja dann war auch echt Schluss bei mir. Ich hatte einfach keinen Bock mehr. Seitdem habe ich mir ne Arbeit gesucht und ja, jetzt beliefere ich Apotheken.’ Ich: ‚Was machst du denn so in deiner Freizeit, wenn du nicht im Jugendzentrum bist?’ Simon: ‚Ach...ich spiele zuhause Computergames. Im Moment beschäftige ich mich mit GTA. Da kann man auf verschiedenen Levels spielen.’ Ich: ‚Spielst du allein oder online mit anderen?’ Simon: ‚Ich spiele mit anderen, die überall in Deutschland verstreut sind. Wir haben
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zusammen ein eigenes Programm entwickelt, dass die ganzen Levels von GTA mitzählt und die Punkte verteilt und so. Also das haben wir alle zusammen programmiert. Das macht richtig Spaß. Wir spielen über Monate an den ganzen Levels und fangen dann wieder von vorne an oder es kommen neue Spieler dazu. Du kannst so richtig in Rollen schlüpfen wie z. B. Gangmitglied, Mafiaboss und so. Das macht schon krass viel Spaß.’ Simon sagt mir, dass er nun gehen müsse, da er noch ein wenig Schlaf nachholen wolle. Ich grüße ihn und sehe auch schon Haias auf mich zukommen. Ich: ‚Wo gehst du hin?’ Haias: ‚Zum Training.’ Ich: ‚Ach so, kommst dann auch heute Abend zum Fußball?’ Haias: ‚Ja klar.’ Ich: ‚Ok, dann sehen wir uns dort!’“ (TB_Falldorf, 2016: Z. 591-621).
Anhand von Simons Aussagen wird deutlich, dass schlechte Erfahrungen in der Schule und subtile Diskriminierungen seitens der Lehrkräfte dazu führen, dass er nach einschlägigen Versuchen einen Neustart zu wagen, an einen Punkt gelangt, wo er eine Entscheidung trifft. Dem Akteur wird bewusst, dass er unter den von ihm beschriebenen Umständen dem Schulunterricht nicht folgen kann. Unterstützung hat er sich geholt, jedoch wurde ihm anscheinend nicht ausreichend geholfen, sodass er sich allein gelassen gefühlt hat. Der Wechsel von der Hauptschule zur Förderschule hat ihm nicht dazu verholfen, ein besserer und eher motivierter Schüler zu werden. Seine Bewältigungsstrategie, diesem ‚Schulmorast’ zu entkommen, ist die Flucht aus diesem formellen und diskriminierenden Lernmilieu sowie die Schaffung einer neuen Perspektive, in der er seine Kompetenzen sich selbst und anderen unter Beweis stellen kann. Simon hat sich somit eine eigene Beschäftigungswelt aufgebaut, die sich zwischen dem regelmäßigen Besuch des Jugendzentrums, den Computer(strategie)spielen und der Arbeit als Medikamentenlieferer bewegt. Er kann auf diese Weise seinen Alltag selbst gestalten und kontrollieren, sich ökonomisch durch die Arbeit mehr oder weniger absichern und sich die Interaktionspartner selbst aussuchen. „Freitag, den 19.02.2016 17:15 Uhr Ich gehe in das Jugendzentrum hinein und sehe Yiyit am Tischkicker im Eingangsbereich zusammen mit Ramin, Turgut und Karan spielen. Idris dagegen steht hinter dem Tresen im großen Saal und tippt einige Youtube-Videos in den Touchpadcomputer ein und lässt sie an der Leinwand abspielen. Idris zu mir: ‚Kennst du Kurdo? Ich liebe diesen Rapper, ja. Der spricht mir aus der Seele. Der hat auch so einen Track, der ein wenig über mein Leben spricht. Hier...schau dir dieses Video an. Das ist mein Lieblingsvideo.’ Ich gucke mir eine Serie an Musikvideos vom deutsch-kurdischen Rapper Kurdo an, in der es inhaltlich um Migration, das Leben in einem sozialen Brennpunkt und den kulturellen Differenzen in Deutschland geht.
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17:30 Uhr Idris lässt einige andere Lieder weiter laufen während er sich in den Eingangsbereich begibt und Turgut sagt er solle ihn mal spielen lassen. Idris tut sich mit Karan zusammen und Ramin spielt mit Yiyit. Es folgen Geschrei, Gebrüll, Siegesgesang, Fluchen, Freudesausbrüche und gegenseitige Beleidigungen. Nach einer Weile beginnt Idris zu sagen, dass er auf Facebook von irgendeinem Jugendlichen aus Weitblick eine Nachricht bekommen hätte, dass er seine Muskeln auf Facebook nur zeigen könne, weil er Anabolika nehmen würde. Er sähe aus wie ein Anabolikajunkie. Idris: ‚Alter, das fuckt mich voll ab. Alle denken ich würde Anabolika nehmen.’ Idris wiederholt diesen Satz einige Male und unterstreicht: ‚Alter, ich bin ganz ehrlich, aber das macht mich richtig kaputt. Das verletzt mich wirklich. Ich nehm doch nichts. Ich würde am liebsten diesen Hurensohn kaputt schlagen.’ Yiyit: ‚Ach mach dir doch deswegen kein Kopf. Das sind doch nur Neider. Die haben alle keine Disziplin wie du sie hast. Du ziehst doch das richtig durch. Du gehst ja fast täglich dahin, ist doch klar, dass man dann was sieht. Denk dran: Deren Neid, dein Stolz!’ Nach weiteren 10 Minuten Spiel, sagt dann Idris: ‚Alter, aber ich kann nicht mit Neid umgehen. Wir sollten echt so ne Crew gründen. Die Anabolikacrew. Lasst uns das nächste Mal auf Facebook zusammentun und Anabolikacrew nennen. Dann sollen die Pisser denken, dass wir Anabolika nehmen, na und? Fuuuuuuck drauf!’’ (TB_Falldorf, 2016: Z. 622-641).
Gespräche unter den jungen Männer sind alltägliche Praktiken, die entweder im Jugendzentrum oder auch an anderen Orten nebenbei oder fokussiert stattfinden. Idris teilt in diesem Ausschnitt des Beobachtungsprotokolls seine Sorgen mit seinen Spielkameraden. Das Brüllen und Schreien animiert die jungen Männer ihre aktuellen Gefühle freien Lauf zu lassen und gleichzeitig aber auch die Probleme beim Namen zu nennen und diese zu elaborieren. Somit haben die jungen Männer eine dreifache Strategie, ihre Sorgen und Probleme zu bewältigen: sie spielen ein Gemeinschaftsspiel – ähnlich wie Simon mit den Online-Computerspielen – sowie nutzen sie parallel dazu Kraftausdrücke und vokale Laute, um ihre Emotionen auszudrücken. Hinzu kommen Diskussionen und Gespräche, die alle anderen Beschäftigungen begleiten oder auch zeitweilig unterbrechen. Der Raum wird somit durch mündliche Kommunikation aller Art beeinflusst und durch Praktiken der medialen Freizeitgestaltung angeeignet. Das Jugendzentrum wird zum physischen Ort der Interaktionen und Handlungen. Dabei werden die verschiedenen dort vorhandenen Materialien und Gegenstände genutzt, um diese Praktiken durchzuführen und den Raum umzugestalten. „Freitag, den 19.02.2016 18:00 Uhr Gökhan kommt ins Jugendzentrum, begrüßt alle und geht ins Büro zu Umut. Idris spielt mit seinem Bizepsmuskeln und zeigt sie mir. ‚Sieht man da was?’ Ich: ‚Ja klar, du scheinst da ordentlich trainiert zu haben.’ Idris: ‚Alles harte Arbeit. Null Anabol.’ Das Spiel geht abwechselnd zwischen Yiyit, Karan, Turgut, Ramin und Idris. Als
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wieder Idris mit Karan zusammenspielt, beobachtet Idris, dass Karan absichtlich beim Spiel mit der Punktezahl schummelt. Idris sagt ihm: ‚Alter, lass das mit dem Schummeln. Lass uns richtig spielen. Wir werden schon wieder aufholen. Hab kein Bock zu schummeln. Wir sind doch gut. Lass uns real bleiben. Ich will nicht einfach so gewinnen. Ich will es richtig schaffen.’ 19:00 Uhr Die vier Jugendlichen spielen weiter mit Yiyit. Gökhan ist mittlerweile wieder nach Hause gegangen. Ramin ist an der Reihe. Er versucht den Ball mit einer der Spielfiguren festzuhalten und sagt: ‚Wenn du mathematisch denkst, dann kannst du von diesem Winkel aus direkt ins Tor schießen ohne dabei nur eine Figur zu berühren.’ Während er das sagt macht Karan ein Manöver mit seiner Figur, Ramin guckt kurz zu mir rüber und der Ball ist in Ramins Tor. Alle lachen laut. Ramin: ‚Alter es war weil ich auf Daniel geguckt habe.’ Idris: ‚Alter, deine mathematische Theorie war fürn Arsch!’ Alle lachen noch lauter. 19:30 Uhr Es wird weiter Tischkicker gespielt. Karan schreit: ‚Alteeeer, wir sind die Anabolikacrew. Keiner kann uns schlagen. Wir sind die Besten.’ Idris brüllt: ‚Jaaaaaaaa, so iiisssseeessss.’“ (TB_Falldorf, 2016: Z. 642-656).
Humor ist eine Form der Diskussions- und Interaktionspraxis, die die Praktiken der jungen Männer kennzeichnet. Die jungen Männer verarbeiten hier mit dem gegenseitigen Necken und ‚Verarschen’ Alltagsdruck. Sie wissen, dass sie dies untereinander machen können, ohne dass jemand dadurch verletzt wird. Anhand dieses Auszugs kann man erkennen, dass in der Vergangenheit eine gewisse Habitualisierung im Bereich der humorvollen ‚Sticheleien’ untereinander stattgefunden hat, da sich keine Anzeichen von negativen Reaktionen zeigen. Es handelt sich um eine Etablierung der humorvollen Umgangsweisen untereinander, die wiederum wichtig für das gemeinschaftliche Handeln innerhalb einer Praxisgemeinschaft und eines sozialen Raums sind. Zugleich können sie als eindeutige Anzeichen für eine Konjunktivität des Erfahrungsraums der Gruppe junger Männer verstanden werden. „Freitag, den 19.02.2016 20:00 Uhr Das Jugendzentrum schließt und ich gehe mit Idris und Ramin in Richtung Weitblick. Am großen Kiosk tauschen Idris und ich uns die Handynummern aus, denn er möchte mir später bezüglich des Mitternachtsfußballs Bescheid geben. Idris: ‚Alter ich weiß nicht ganz ob ich schon um 22:00 Uhr oder etwas später die Turnhalle öffne. Ich werde dich einfach kurz anklingeln und dann kannste kommen. Dann musste nicht vor der Turnhalle warten.’ Wir verabschieden uns und ich gehe in die Pizzeria.
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
21:30 Uhr Ich sitze gegenüber des Kiosks auf meiner üblichen Bank und sehe die vier Jugendlichen Roma auf mich zukommen: ‚Hey du Zivi, was machst du denn hier?’ Ich: ‚Ich warte auf Idris. Heute ist ja Mitternachtsfußball.’ Einer der Jugendlichen: ‚Echt? Ach ja, stimmt. Können wir da auch mitkommen?’ Ich: ‚Na klar, ich gehe um 22:00 Uhr dahin. Kommt doch einfach mit.’ Die Jugendlichen sagen: ‚Ok, wir kommen mit. Wir gehen nur kurz nach Hause und ziehen uns um.’ Bevor sie gehen, machen sie nochmal eine Runde Rapfreestyle wie am Vorabend. Wir alle lachen zusammen als sie in die Raps meinen Namen mit einbringen und das Stichwort Zivi dabei ist. 22:30 Uhr Ich warte weiterhin auf der Bank sitzend auf die Jugendlichen Roma und den Anruf von Idris. Der Anruf von Idris kommt nicht, aber zwei der vier Jugendlichen Roma. Wir gehen zusammen den circa zehnminütigen Weg zur Turnhalle der Grundschule. Ich sehe Licht brennen und als wir uns hinein begeben sind die Jugendlichen auch schon am Fußballspielen. Ramin, Idris, Karan mit nacktem Oberkörper, Haias, Haias’ Bruder Tolga, vier Jugendliche, die ich nur vom Sehen kenne. Ich begrüße alle und schreie: ‚Danke Idris, dass du mir Bescheid gegeben hast.’ Idris entschuldigt sich mehrmals und sagt: ‚Echt, ich bin ganz ehrlich. Ich habe es völlig vergessen dich anzurufen. Ich war selber im Stress und war noch beim Frisör und war schon zu spät dran und dann ist das untergegangen.’ Ich beobachte wie sich die Jugendlichen in Zweiergruppen aufwärmen indem sie sich gegenseitig den Ball zuspielen und versuchen Tore zu schießen. Dieses Aufwärmspiel findet unter Geschrei, Gelächter und Gebrülle statt. Man ruft sich Worte zu wie ‚Du Arschloch, du schaffst das nie!’, ‚Hey du Pisser, hier kriegst du nen Ball in den Anus!’, ‚Ich kille dich jetzt mit dem schnellsten Tor der Welt!’, ‚Pass auf du Piç, ich ficke dich du Bastard!’, ‚Alter, wie geil war das denn! Hau reiiiiiin Alteeeer!’, ‚Super Haias, das hast du gut gemacht!; ‚Ich bin stolz auf dich Idris!’, ‚Alter meine Eier klemmen!’, ‚Hey meine Schuhsohle ist kaputt, ich rutsch darauf aus, ich kann so nicht spielen!’, ‚Anaaaaaaboooooolllll!’, ‚Analbälleeeeeee!’ usw. 23:00 Uhr Die Jugendlichen teilen sich untereinander in Vierergruppen auf und beginnen gegeneinander zu spielen bis eine der Gruppen zehn Tore geschossen hat. Danach spielt die Gewinnergruppe gegen die andere wartende Vierergruppe. Die ersten zwei Gruppen bestehen aus den Spielern Idris, Karan, Haias, einem mir unbekannten Jugendlichen um die 18 sowie Ramin, Tolga und zwei weiteren mir unbekannten Jugendlichen. Idris beobachte ich als den anfeuernden Torwart der ersten Gruppe. Er schreit immer wieder Worte wie ‚Haias hau drauf du geiler Hengst!’, ‚Leute wir schaffen das. Lasst euch nicht unterkriegen!’, ‚Karan das war verdammt geil getroffen. Weiter soooo!’. Idris schlägt seinen Spielkameraden vor Spielbeginn vor, wie Karan mit nacktem Oberkörper zu spielen: ‚Alter wir zeigen wer wir sind. Wir sind die wahren Player auf der Street. Alle werden uns beneiden. Anaaaabooooool! Wir spielen hier Hardcore Fußball, nicht wie ihr Schlampen da drüben. Ramin du Fettsack mit den Glubschaugen, wir hauen dich um, hahahahaha!’ Der einzige aus der Gruppe, der sich weigert das T-Shirt auszuziehen ist Haias. Er hat keine Lust und wiederholt es immer
6.3 Fluchtpraktiken
203
wieder während Idris insistiert und sagt, dass sie ein Team wären und dass sie zusammenhalten sollen. Ferner sagt er noch, dass sie sowieso alle einen Bauch hätten und sich nicht schämen müssten. Nach circa 5 Minuten Überzeugungsarbeit während die gegnerische Mannschaft sich aufwärmt, zieht Haias dann doch sein T-Shirt aus und schreit in Kämpfer- und Wrestlingpose: ‚Jaaaaaaa, wir sind die Wahren!’ Und Idris: ‚Jaaaaa Mann, so isses. Komm wir reißen das Spiel!’ Diese Posen werden im Verlauf des Spiels immer wieder gezeigt. Vor allem die Bizepsmuskeln werden immer wieder den anderen vorgestellt. Ab und zu furzt Idris beim Spielen indem er in die Luft springt und mit einem halben Spagat wieder auf dem Boden ankommt. Dabei lacht er und kommentiert die Fürze beispielsweise mit einem ‚Boaaah Alter, was hab ich denn wieder gegessen!’ oder ‚Hey, habt ihr das gehört? Dat war ein Knallfrosch.’ Alle lachen dabei und Idris fragt mich am Ende des Spiels, ob sie mir sympathisch seien. Ich bejahe es und lache selbst mit. Die Spiele werden insgesamt gemeinsam abgesprochen, Fehler gegenseitig eingestanden und jeweils die Gegenspieler respektiert indem man sie nicht absichtlich foult oder falls ein Foul passiert, entschuldigen sich die Jugendlichen sofort. Die Punkte bzw. Tore werden von allen Spielern gemeinsam gezählt und es wird auch in gemeinsamer Arbeit darauf geachtet, dass sie auch richtig gezählt werden. Bei ungenauen Toren (die Torpfosten sind an die Wand der Turnhalle gemalt) wird mit einem 11-Meter für die Mannschaft, die das angebliche Tor geschossen hat, entschieden“ (TB_Falldorf, 2016: Z. 657-710).
Zum Ende des Tages unternehmen die jungen Männer weiterhin Aktivitäten, bei denen sie brüllen, schreien, sich verbal und physisch ‚austoben’ können. Dabei werden verschiedene physische Orte gewechselt: Vom Jugendzentrum zum Siedlungszentrum hinüber zur Turnhalle auf dem Grundschulareal. Die sozialräumlichen Praktiken bleiben jedoch dieselben, denn es geht um gemeinschaftliche Aktivitäten bzw. um die Gemeinschaft. In dieser Sequenz handelt es sich nicht mehr um Tischkickerspiele, sondern um physisch herausforderndere Fußballspiele. Hierbei geht es aber den jungen Männern nicht nur um das physische ‚Auspowern’ oder den Wettbewerb, sondern auch um die kommunikativen Interaktionen, den Spaß, Humor und Aktionismus. Trotz teilweise sehr harten und rauen sowie sexistischen und Frauen abwertenden Ausdrucksformen, die sich die Akteure erneut gegenseitig auf humorvolle ‚Mobbingweise’ zurufen, wird auf Fairness innerhalb des Fußballspiels geachtet. Dabei spielen alle teilnehmenden Akteure oder Gruppen eine Beobachterrolle. Jeder Spieler hat die Aufgabe, sich am Spielprozess aktiv zu beteiligen – sowohl auf Spieler- als auch auf Schiedsrichterebene. Alle scheinen das Recht zu haben sich bei unklaren Spielabläufen zu äußern und diese gegebenenfalls anzufechten. An diesem Ort werden traditionell hierarchische Spielrollen und -regeln aufgehoben und vielmehr auf gegenseitige Kontrolle und Verantwortung geachtet. In der Turnhalle wird Straßenfußball gespielt mit Regeln, die durch die Gemeinschaft entschieden und eingehalten werden müssen. Zudem erhalten die jungen Männer während des Spiels Motivationsrufe, die die Gemein-
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
schaft, die einzelnen Teams anfeuern. Zum Beispiel lässt sich der etwas schüchterne Haias am Schluss doch noch von Idris davon überzeugen seinen, nackten Oberkörper während des Spiels zu zeigen, um das Zugehörigkeitsgefühl innerhalb des Spielteams zu erhöhen. Die jungen Falldorfer kreieren sich durch das Mitternachtsfußball, den Gang in das Jugendzentrum und die damit verbundenen Gespräche und Spiele eine eigene und autonome Welt der gegenseitigen Anerkennung und Stärkung. Zusammenfassend kann anhand des gesamten Auszugs aus dem Beobachtungsprotokoll festgestellt werden, dass die jungen Akteure aktionistischen Praktiken nachgehen, im Stadtteil mobil sind, sich soziale Räume erschließen, intensiv und sehr viel interagieren, soziale Ordnung etablieren und sowohl für Inklusion als auch für alternative Umgänge mit Exklusion sorgen. Die jungen Männer ‚fliehen’ vor dem Straßenalltag der Wohnsiedlung, der von Kriminalität, Gefahren und Verlockungen aller Art geprägt ist. Fluchträume wie das Jugendzentrum, die Sporthalle, der Kiosk oder ein Spielplatz stellen konkrete Alternativen dar, die die jungen Männer für sich als Vergemeinschaftungsorte nutzen.
6.3.3
Mobilität und Rückzug als räumliche Bewältigungspraktik
Das Jugendzentrum stellt in Falldorf einen wichtigen Ort für junge Erwachsene dar, der für gemeinsame wie auch individuelle (Freizeit)beschäftigungen genutzt wird. Es ist zudem ein Lernort, an dem Bewältigungsstrategien erlernt werden. Hierbei spielt die Präsenz der dort arbeitenden Sozialarbeiter*innen weniger eine Rolle als die Verfügbarkeit von geschützten Rückzugsräumen. Hier entwickelte Kompetenzen und Stärken werden im Alltag der Jugendlichen genutzt und weiter ausgebaut. Neben dem Jugendzentrum sind die Sporthalle für die Mitternachtsfußballaktionen sowie das Fitnessstudio und gelegentlich auch abgelegene Straßen, die Holzhütte sowie auch der Kiosk in der Siedlung Weitblick Orte, an die sich die jungen Männer in Falldorf zurückziehen. In Pratobello bilden besonders die Wohnungen der Akteure, Parkanlagen oder ruhige Sitzbänke vor ausgewählten Wohnblöcken sowie an verschiedenen öffentlichen und privaten Orten Fluchträume außerhalb des Stadtteils. Benachbarte Stadtteile sowie auch schwer erreichbare Orte werden von den jungen Männern immer wieder aus den verschiedensten Gründen, aber meist verbunden mit Hobbys oder Liebesinteraktionen aufgesucht. Somit kann Pratobello allein nicht als Lernort der Bewältigung gesehen werden, sondern hier werden auch viele andere aufgesuchte Gebiete bedeutsam. Das können die U-Bahndepots sein, das Haus einer Freundin, das Vergnügungsviertel im Zentrum, der Park vor dem städtischen Krankenhaus oder ein Geschäft als Treffpunkt einer subkulturellen Szene. An all
6.3 Fluchtpraktiken
205
diesen Orten lernen die jungen Männer in gemeinsamer ‚Arbeit’ mit freundschaftlichen Netzwerken ihr Leben und ihren Alltag zu bewältigen. Hierbei entstehen, wie beim Graffiti, bei Fitness-Praktiken oder am Beispiel von Online-Interaktionen gezeigt, ‚situative Aktionismen‘. Der von Bohnsack (vgl. Bohnsack 1995) u.a. im Bezug auf Hooligangruppen geprägte Begriff bezeichnet ritualisierte Praktiken junger Menschen, über die habituelle Übereinstimmung probehaft inszeniert und damit austariert wird: „Der situative Aktionismus findet bei den Hooligans seine spezifische Funktion zunächst darin, die Jugendlichen aus ihrer Alltagsexistenz – so vor allem dem als monoton und vielfach auch sinnlos erfahrenen Arbeitsalltag – gleichsam herauszukatapultieren. Es geht darum, die Alltagsexistenz zu negieren, sich ihr vorübergehend in möglichst umfassender Weise zu entziehen“ (ebd. 1995: 25).
Aktionismen finden sich bei den untersuchten jungen Männern in Pratobello wie auch in Falldorf. Es handelt sich zwar bei fast allen interviewten jungen Männer um keine Gangs, die sich mit Gewalt ihre Fluchträume schaffen, aber analog zu den Hooligans und den von Bohnsack u.a. untersuchten Musikgruppen beziehen sich – wie dies auch in den nächsten Empiriekapiteln festgestellt werden kann – die untersuchten Praktiken auf Flucht und Schaffung von Freiräumen. Die jungen Erwachsenen in Falldorf lernen, dass es im Falle von Problemen mehrere zentrale Ansprechpartner*innen gibt. Zum einen wissen sie, dass das Jugendzentrum für alle möglichen Belange zur Verfügung steht. Sie wissen zudem, dass es Sozialarbeiter*innen sowie Streetworker*innen gibt, denen vertraut werden kann. Im Falle, dass die Sozialarbeiter*innen gewisse Themen nicht verstehen bzw. nicht zu jeder Zeit für eine Beratung zur Verfügung stehen, gibt es für die jungen Männer in Falldorf die Möglichkeit, sich mit den Peers entweder in einer überdachten Sitzgelegenheit im Stadtteil oder am zentralen Kiosk mitten in der Hochhaussiedlung zu treffen. In den ein oder anderen Fällen – aber eher selten – treffen sich die jungen Männer zuhause bei den Freunden. Die jungen Männer lernen, dass andere Orte eher gemieden werden sollten, um sich nicht der (organisierten) Kriminalität auszusetzen. Bestimmte Wohnblöcke werden nicht betreten. Der Aufenthalt in unmittelbarer Nähe von Wohnblöcken, die als Drogenverkaufsstützpunkt dienen ist praktisch nicht möglich und wird auch von den jungen Männern als gefährlich bzw. ungemütlich eingestuft. Somit ‚wandern’ sie innerhalb des Stadtteils an verschiedene Orte, doch der Aufenthaltsbereich ist nicht besonders groß. Die Einfamilienhaussiedlung wird gemieden, da sie dort von den lokalen Bewohnenden verscheucht werden bzw. die Polizei angerufen und der längere Aufenthalt somit verwehrt wird. Der ein oder andere Spielplatz wird nur dann aufgesucht, wenn es auch überdachte Sitzgelegenheiten bzw. offene Hütten gibt. Somit haben die jungen Falldorfer mit der Zeit ihre Freizeitpraktiken auf ganz konkrete Orte bezogen. Zum Beispiel haben sie es geschafft, die Sozialarbeiter*innen
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
des Jugendzentrum dazu zu überzeugen, Mitternachtsfußball in einer Schulsporthalle anzubieten. Hierfür werden auch keine Sozialarbeiter*innen gebraucht, sondern die Jugendlichen selbst – in Begleitung von jungen Erwachsenen, die im Stadtteil als Respektpersonen angesehen werden – schließen abends die Sporthalle auf und kümmern sich um die verschiedenen Mannschaftsspiele. Es handelt sich somit um einen autonomen Freiraum, der aus einer Mischung aus Regeln seitens des Jugendzentrums, der Schulordnung und der Codes der Straße besteht. Jedoch werden die Regeln der lokalen kriminellen Strukturen nicht in der Sporthalle zugelassen. Hier lernen die jungen Männer bestimmte Milieus zu unterscheiden und durch ihre räumliche ‚Abschottung’ Freiheit und Autonomie zu erzeugen, die sie so in ihrem unmittelbaren Wohnraum nicht haben. Mirza bspw. betont während eines Rundgangs durch die Hochhaussiedlung Weitblick, dass die Drogenabhängigen regelmäßig an seine Wohnungstür geklopft hätten, weil sie die Drogenverkaufswohnung verwechselt hätten. Diese Situation ist für viele Menschen handlungseinschränkend. Die jungen Männer lernen dadurch ihren Freizeitraum zu verlagern, um bestimmte Handlungen, die durch Macht und Druckausübung beeinflusst sind, zu vermeiden. Es ist davon auszugehen, dass das so genannte „Chillen“ in marginalisierten Stadtteilen vor allem damit zu tun hat, dass erstens die physischen Wohnräume viel zu eng und überfüllt mit Menschen und teilweise Problemen sind. Somit bedeutet für die jungen Männer das „Chillen“ auch Frust abzuladen und sich von den vielen Problemen und Störfaktoren im wahrsten Sinne des Wortes auszuruhen. Um dem „Chillen“ nachzugehen, werden über die Jahre Orte ausfindig gemacht, die einen entspannten Umgang mit den Peers möglich machen. Zweitens sind die Jugendlichen von verschiedenen Stressfaktoren geplagt, die sich von den eben erwähnten familiären Problemen über die Schule bis zu den beruflichen Aussichten ziehen. Hinzu kommen die verschiedenen sozialen, kulturellen und religiösen Diskriminierungen, die viele der jungen Männer davon abhalten sich außerhalb des Stadtteils frei oder ungestört zu bewegen. Drittens finden immer wieder Gewalttaten im Stadtteil statt, die die jungen Männer davon abschrecken sich in den so genannten Hotspots aufzuhalten. Es entsteht somit ein Druck auf mehreren Ebenen: der Wohnraum, die Korridore und Treppenhäuser der Wohnblöcke sind von Drogenkriminalität besetzt. Dies führt dann dazu, dass die Bewohnenden sich ziemlich schnell durch diese Bereiche bewegen und sich nicht lange in diesen aufhalten. Die große Anonymität dieser Hochhäuser, die nicht wenigen „leerstehenden“ Wohnungen, die für illegale Handlungen wie Drogenverkauf, Drogenlagerung und Prostitution genutzt werden, verstärken die Raumnot der jungen Männer. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass folgende Orientierungsgehalte festzustellen sind: Orientierung an Fluchträume, an Neuem, an Distanzierung, an
6.3 Fluchtpraktiken
207
Machtkritik, an Vergemeinschaftung sowie an Ersatz zwischenmenschlicher Beziehungen. Distanzierung und Vergemeinschaftung sind hier die relevantesten Orientierungen, die sowohl die Isolani als auch die Filosofi und Transformers betreffen. Auf sozialer als auch auf urbaner/architektonischer Ebene werden die Freizeit- und Lernmöglichkeiten deutlich eingeschränkt. Die jungen Männer lernen somit mobil zu werden und ihre unmittelbare Umgebung mit kleinen Fluchtorten zu gestalten, die dann zu Hauptaufenthaltspunkten werden. Somit sind die jungen Männer in gewisser Weise dazu gezwungen, sich auf wenige kleinere Orte im Stadtteil zu beschränken oder den Schritt zu wagen, sich außerhalb des gewohnten Umfelds zu bewegen. Der wahrgenommene Raum ist eine relationale Raumkonstitution, die Hochhäuser, Absperrungen vor den Eingangsbereichen und Sitzbänke beinhaltet; außerdem gehören die Dealer sowie die Akteure der Community of Practice dazu, die das soziale Feld darstellen; und all dies ist im Stadtteil Pratobello verankert. Die physische Bewegung ist auch gleichzeitig mit Interaktionen im sozialen Feld verbunden und somit Teil dieser relationalen Raumkonstitution. Die Einschränkung des Handlungsraums der Bewohnenden des Stadtteils konstituiert den sozialen Raum. Interaktionen, Relationen und auch die Position und Veränderung der vorhandenen Güter – also Veränderung von Eingangsbereichen durch die Dealer und Transformation einer Garage zu einer Wohnung oder zu einem zentralen Treffpunkt für die Community of Practice – ist der soziale Raum nach Martina Löw (2001). In diesem sind natürlich auch die physischen Bewegungen und der Handlungen der jungen Männer beinhaltet. Im relationalen Raum müssen Handlungen wie physische Mobilität und physicher Rückzug berücksichtigt werden. Das ist auch Teil der unsichtbaren Bewältigung der Akteure wie in Reutlingers (2003) Untersuchung zur Sozialgeographie von Jugendlichen in gespaltenen Städten. In den Feldbeobachtungen, Gruppendiskussionen und Interviews fällt insbesondere eine Praxis der Akteure auf, die auf autonome Weise und in stetiger Interaktion mit-, gegen- und/oder untereinander ihre eigenen Symboliken, Beschäftigungen, alltäglichen Rituale und habitualisierten, inkorporierten Handlungen, Repräsentationen und (Re)aktionen produzieren. Der Raum wird dadurch intensiv erlebt und gestaltet, sowie durch habitualisierte Praktiken erfahrbar gemacht und wahrgenommen. Was auf den ersten Blick als „Grenze des Sozialraums“ wahrgenommen werden könnte, sind aber, wenn man das Unsichtbare sichtbar macht, „große individuelle Aneignungs-, bzw. Bewältigungsleistungen [der Jugendlichen]“ (vgl. Reutlinger o.D.: 136). Auch aus diesem Grund ist es wichtig, dass das relationale Raumkonzept von Martina Löw mit dem Konzept der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch fusioniert wird. Erst dann kann man marginalisierte Jugendliche und ihre Handlungen, Biographien und Interaktionen im Raum aufdecken, verstehen und erklären. Die Mobilität zwischen den physischen Räumen ist Teil der relationalen Raumkonstitution. Die physischen Bewegungen und
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Rückzüge sind Handlungen des relationalen Raums. Handlungen konstituieren den sozialen Raum auf einer sozialen und relationalen Weise sowie auf der Basis von Interaktionen. Der soziale Raum verändert und transformiert den physischen Raum – auch virtuell und mehrere Räume einer/eines oder verschiedener Akteur*innen inkludierend.
6.4
Repräsentationspolitik
Kapitel 6 hat die verschiedenen informellen (Lern)Praktiken zur Alltags- und Lebensbewältigung der jungen Männer aufgezeigt, die im Verlauf der Feldphasen in Italien und Deutschland beobachtet und interviewt wurden. Es ist klar geworden, dass sich dieses Handeln auf die Lebensbedingungen, konkrete physische Orte und den gesamten Sozialraum sowie dessen Wahrnehmung beziehen. Die Raumwahrnehmung ist der Motor für die Praktiken und Lernprozesse der Akteure. Im Folgenden sollen zur Übersicht noch einmal die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst werden und gleichzeitig zu den zwei weiteren Kapiteln mit anderen tiefergehend analysierten Praktiken übergeleitet werden. Was alle Befragten in den zitierten Passagen gemeinsam haben, ist die kontinuierliche Suche nach festen Sozialräumen, der Austausch bzw. die Kommunikation und die Vergemeinschaftung wie auch Institutionalisierung, die sich in folgende konkrete Praktiken festhalten lassen:
Ciro sprüht Graffitis im Alleingang lokal in Pratobello und regional als Mitglied einer Graffiticrew außerhalb seines Stadtteils bzw. seiner Stadt. Durch den detaillierten Informationsaustausch über die Formen und Farben der Buchstaben entsteht eine Kommunikationsbasis, die ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen lässt und somit Teilhabe an einer subkulturellen nationalen wie auch internationalen Szene fördert. Mirza ist vor allem lokal auf Falldorf konzentriert. Er identifiziert sich mit dem Alltagsgeschehen des Stadtteils, indem er versucht Außenstehenden die Realität näherzubringen ohne sie selbst zu verurteilen. Mit diesem Handeln entsteht eine direkte Auseinandersetzung mit den Außenstehenden. Durch den Willen die Schule erneut zu besuchen entsteht auch die Bereitschaft zu einem neuen Sozialraumhandeln, das auch neue Austausch-, Vergemeinschaftungs- und Institutionalisierungspraktiken mit sich ziehen kann. Renzo bewegt sich über den virtuellen Raum mit seinen Chatprogrammen und Onlinecomputerspielen in transnationalen Welten, um sich kommunikativ von seinem Wohnbereich und Sozialraum zu entfernen. Er überschreitet somit Grenzen auf multimediale Weise. Durch das Chatten und den Computer entsteht eine bilinguale Kommunikations- und Austauschebene, die zu einer virtuellen Verge-
6.4 Repräsentationspolitik
209
meinschaftung und Institutionalisierung führt. Seine virtuellen Freundschaften zusammen mit dem Computer als Gegenstand tragen zu einem Distanzierungsprozess bei, der wiederum das Zusammentreffen mit anderen Realitäten fördert. Turgut bewegt sich mit improvisierten Fortbewegungsmitteln und Nahverkehrserschleichungen fort. Sein Stadtteil einerseits als devianter Handlungsort und die Schule andererseits als bildungsintensiver Erprobungsraum führen zu einer ambivalenten Kommunikationspraxis. Früher die Gang und jetzt die Freundschaften in Falldorf wie auch die Schulgemeinschaft sind Teil von Turguts Vergemeinschaftung und Institutionalisierung. In der Gruppendiskussion und den Interviews zeichnet sich dabei ab, dass es sich auch hier erstens um kollektive d.h. gruppenorientierte Praktiken handelt und zweitens um solche, die es ermöglichen, sich reflexiv in einen Bezug zum eigenen Sozialraum zu setzen.
Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass sich die sozialräumliche Lage in den Orientierungen der Akteure manifestiert, indem sie Praxis rahmt und strukturiert. Die vor diesem Hintergrund entstehende Bildungspraxis nimmt reflexiv und/oder künstlerisch Bezug auf den Raum und damit verbunden auf die marginalisierte soziale Lage. Die hier angesprochenen Repräsentationsraumpraktiken können als informelle Bildungspraktiken beschrieben werden. Während die jungen Männer ihnen Sinn zuschreiben und sie positiv als Gegenwelt oder Alternative zur Involviertheit in Gewalt und Kriminalität im Stadtteil konstruieren, nimmt die formelle Bildung – die ihnen bislang insbesondere in Gestalt der Schule begegnet ist – eine ambivalente, zumeist negative Bedeutung an. Mit Blick auf das Verhältnis von formeller und informeller Bildung lässt dies erstens den Schluss zu, dass die Praktiken der informellen Bildung nicht einfach als ein Ersatz für formelle Bildung fungieren. Vielmehr scheinen sie dazu beizutragen, den Autonomieanspruch von Bildung einzulösen, den die Schule schuldig geblieben ist. Denn wo die Schule dominant als ein Raum mangelnder habitueller Passung und mithin der Diskriminierung erfahren wird, motivieren die dargestellten informellen Bildungsformen eine autonom-selbstreflexive Bezugnahme auf den Sozialraum und sich selbst. Kurzum: Sie stiften Transformationen des WeltSelbst-Verhältnisses7 (Marotzki 1990; Kokemohr 2007; Koller 2007). Dies zeigt sich in den Formen der reflexiven Distanzierung zum eigenen Sozialraum ebenso wie in der Rahmung der eigenen Beobachtungshaltung durch das Hochkulturelle. Auch die expressive Dimension der Graffitis ermöglicht eine solche Form der Bezugnahme. Gleichzeitig verweist sie auf die Dimension der Repräsentation des sozialen Raums. Sowohl die Graffitis als auch die Fitness-, Fußball-, Spiel- und Vergnügungspraktiken sowie die Mobilität innerhalb und außerhalb der Stadtteile und Wohnbereiche und der Rückzug in die Wohnungen und Jugendzentren können als 7
Die Veränderung eines Menschen im Bildungsprozess.
210
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Repräsentation des sozialen Raumes verstanden werden. In Cudaks Kritik am Sozialraum, in der Verweigerung, sich seinen Strukturen der Marginalisierung zu unterwerfen, sind sie zugleich Teil einer Repräsentationspolitik, die auf ein Repräsentationsregime bzw. auf ein Marginalisierungsregime (vgl. Cudak 2017: 95) antwortet. Was nämlich alle Peergruppen dieser Untersuchung verbindet, ist die kontinuierliche, harte Arbeit am negativen Image des Stadtteils. Sowohl Außenstehenden – wie z.B. dem Interviewer – als auch innerhalb der Peergruppe wird versucht, den eigenen Stadtteil aus einer positiven Perspektive darzustellen. Dies findet vor allem über Gespräche oder Berichte statt. Die jungen Männer beschreiben Handlungen aus dem Stadtteil aus ihrer Perspektive und distanzieren sich sowohl explizit als auch implizit von den Medienberichterstattungen. Sie beleuchten Praktiken, Hintergründe und Stadtteilbeschreibungen, die sonst außerhalb nicht erwähnt oder gar wahrgenommen werden. Bildungsabschlüsse, arbeitende Menschen und Freizeitaktivitäten werden von den jungen Männern besonders unterstrichen, um sich innerhalb der Peergruppe selbst zu bestätigen und bewusst zu werden, dass sie „doch eigentlich ganz normale Jungs“ seien sowie um Außenstehenden zu demonstrieren, dass auch in marginalisierten Stadtteilen „normale“ Praktiken stattfinden (können). Unterschiede zeigen sich zwischen den Filosofi und Isolani aus Pratobello und den Transformers und Supporters aus Falldorf in der Konstruktion des Stadtteils. Die Isolani und Filosofi orientieren sich mehr an Reflexivität, also an kritischer Analyse des Stadtteils als Ausdruck sozialer Verhältnisse. Die Transformers und Supporters orientieren sich eher an Repräsentation(spolitik), dadurch dass sie soziale Verhältnisse und konstruktive Marginalisierung sowie Image verdeutlichen und gegen dieses ankämpfen. Das Verhältnis zum Stadtteil zeigt sich bei den Isolani und Transformers mit einer Orientierung an Distanzierung und Flucht, bei den Filosofi mit einer Orientierung an Neuem bzw. mit der Überschreitung von Grenzen. Der Orientierungsrahmen, der alle Gruppen betrifft, ist die Vergemeinschaftung, die für Stärke, Zusammenhalt und Solidarität in der Repräsentationspolitik sorgt. Was Außenstehende jedoch oft nicht wissen, ist, wie sehr die jungen Männer daran arbeiten und kämpfen, um das, was als „normal“ außerhalb ihres Stadtteils gilt, in ihrem Milieu auch durch- bzw. einzuführen. Die jungen Männer aus Pratobello und Falldorf schweben in einer ihnen visuell, textlich und sprachlich zugewiesenen Sphäre der Repräsentation von „Differenz“ und „Andersheit“ – wie dies der britische Soziologe Stuart Hall (2004) beschreibt. Hall legt diese Sphären als Repräsentationsregime dar (vgl. Hall 2004: 115). Pratobello und Falldorf sowie deren Bewohnenden werden von den Medien und auch von Außenstehenden stereotypisiert. „Stereotypisierung reduziert Menschen auf einige wenige, einfache Wesenseigenschaften, die als durch die Natur festgeschrieben dargestellt werden“
6.4 Repräsentationspolitik
211
(ebd.: 143). Pratobello und Falldorf sind in beiden Fällen medial gesehen auf Armut, Drogen, Kriminalität, urbane und soziale Verwahrlosung sowie Gewalt reduziert. Diese Konstruktion prägt das Bewusstsein von Bewohnenden wie Außenstehenden und produziert einer Verhärtung der Stereotypisierung und damit Marginalisierung. Im Falle dieser Studie ist der Begriff Marginalisierungsregime deshalb passender, da die jungen Akteure sowohl von staatlichen Institutionen, Medien und Außenstehenden sowie Gruppierungen der organisierten Kriminalität gezielt marginalisiert werden. Diese Verhärtung macht sich durch eine „Strategie der Spaltung“ (vgl. ebd.: 144) bemerkbar, die sich durch die teils bewusst gewollte (vgl. hierzu Entstehung von Pratobello in Kapitel 5.1.2) räumliche Isolierung der Stadtteile nachweisen lässt. Diese Spaltung zeigt sich auch in den mentalen Bildern der jungen Männer aus den untersuchten Gruppen, die sich mit dem Rest ihrer Stadt nicht identifizieren können und deshalb auch sagen, dass sie nach Sasso oder Vierstadt fahren obwohl Pratobello zu Sasso gehört und Falldorf zu Vierstadt. Auch innerhalb des Stadtteils konnte gerade bei der Isolani-Gruppe festgestellt werden, dass sogar ihr Wohnbereich schon eine Spaltung im Bezug zum Rest des Stadtteils bedeutet. Das heißt, dass die Stereotypisierung eine „Praxis der ‚Schließung’ und des Ausschlusses“ (ebd.: 144) hervorruft: „Sie schreibt symbolisch Grenzen fest, und schließt alles aus, was nicht dazugehört“ (ebd.: 144). Somit beginnt z.B. in Sasso die Stereotypisierung auf der Stadtteilebene: ‚Pratobello gehört nicht zu Sasso, da es viel zu weit weg ist und dort die Kriminellen wohnen’. Dann ist auch innerhalb von Pratobello eine Stereotypisierung festzustellen: ‚Im L7 sind die Menschen besonders isoliert und haben alle mit dem Drogenhandel zu tun’. Im L7 selbst wird dann nochmal zwischen den Zonen gespaltet: ‚In Zone 1 sind die Drogendealer besonders gewalttätig, von daher werden diese Gebiete gemieden’. Ähnlich ist es mit Falldorf auch: Der Stadtteil ist als Drogenumschlagsplatz, Rockerbanden- und ‚Asozialenviertel’ bekannt und wird oftmals gar nicht mit Vierstadt in Verbindung gebracht. Innerhalb des Stadtteils werden die jungen Männer aus der Siedlung Weitblick von den Falldorf-Dorf-Bewohnenden am Aufenthalt vor ihren Häusern oder sogar am Gang durch ihre Straßen gehindert. Innerhalb der Siedlung Weitblick werden die Wohnblöcke nochmals in ethnischer Zugehörigkeit unterteilt, was u.a. auch zu Spannungen zwischen verschiedenen Nationalitäten führt. Um den Fokus nicht mehr auf diese negativen und stereotypisierenden Praktiken zu legen und vielmehr die positiven Aspekte zu betrachten, sorgen die jungen Männer mit ihren künstlerischen, sportlichen oder musikalischen Freizeitaktivitäten, Gesprächen, (interkulturellen) Vergemeinschaftungen, Bemühungen in der Schule sowie (Strategie)spielen für eine Umkehrung des Repräsentationsregimes (vgl. ebd.: 158) bzw. des Marginalisierungsregimes. Dieses Regime wird demontiert und transkodiert, indem aus der isolierten Lage des L7 bspw. eine Gruppe von ‚Philosophen’ entsteht, die aus den im Wohnbereich gemachten Erfahrungen die Welt erklären (möchten) (vgl. hierzu Kapitel 8). In Falldorf entsteht
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6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Ähnliches mit der Selbstorganisation von Mitternachtsfußballaktionen, der ohne einen ‚eingekauften’ Trainer, aber durch Multiplikatorenwissen durchgeführt wird. Beleidigungen im Internet werden zu Gruppen- bzw. Teamnamen umgewandelt (z.B. „Anabolika-Crew“). Graffitis versuchen zudem visuell die Monotonität der Außenstehenden und Stereotypisierenden mit Farbtönen zu durchbrechen. „Das Stereotyp umzukehren, bedeutet nicht notwendigerweise, es umzustürzen und zu untergraben. Dem Zugriff eines stereotypen Extrem zu entkommen [...] kann ganz einfach bedeuten, seinem stereotypen ‚Anderen’ [...| in die Falle zu gehen“ (ebd.: 161). Durch die Community of Practice, die in Falldorf und Pratobello für ein reziprokes Empowerment sorgt, werden in der Peergruppe Handlungen erlernt, die zur Analyse, zur Auseinandersetzung mit dominanten Repräsentationen führen und eine zeitweilige Umkehrung oder Demontage von Stereotypen, Marginalisierung und Diskrimination hervorbringen.
6.5
Raumhandeln und Jugendkulturen
Vor dem eben beschriebenen Hintergrund spielt deshalb das Raumhandeln der jungen Männer dieser Untersuchung gerade bezogen auf die Themen zu den Jugendkulturen und zur Sozialisation eine sehr große Rolle. Die gesamten (Lern-)Praktiken spielen sich im Bezug zum physischen sowie relationalen Raum der Stadt ab, hauptsächlich jedoch im direkten sozialen Umfeld und im Stadtteil der Akteure. Gerade gruppenspezifische Aktivitäten, wie die künstlerischen Graffiti-Praktiken der Filosofi, das Fitnesstraining der Transformers oder auch die Online-Kontakte der Isolani überschreiten jedoch die Stadtteilgrenzen und erschließen den jungen Männern andere Räume. Die Lebenswelten und Möglichkeitsräume für die Akteure dieser Forschungsarbeit sind vor allem auf formeller, institutioneller und ökonomischer Ebene deutlich beschränkt, teilweise aber auch auf informeller Ebene beschränkt durch Einschränkungen der organisierten Kriminalität oder anderen Machtfaktoren, die das Leben im Stadtteil kontrollieren. Jedoch schaffen sich die jungen Männer trotz dieser defizitären Umstände eine eigene Lernkultur, die das Handeln im Raum unbeschwerter macht und sogar die Hindernisse in ihrem Handeln integriert und zu ihrem Vorteil nutzt. In einigen Kontexten können sich Jugendliche leichter positionieren und erfahren auch generell mehr Aufmerksamkeit durch die Medien, Sozialarbeiter*innen oder Städtebauplaner*innen (vgl. hierzu Muri et al. 2009 bzgl. der Raumaneignung Jugendlicher im Züricher Quartier Neu-Oerlikon). Wie werden also Räume von Jugendlichen konstruiert? Dies ist eine ganz zentrale Frage dieser Arbeit und genauso zentral für die Raum- und Bildungstheorie sowie die Forschung zur Raumaneignung (vgl. Grunert/Ludwig 2017: 30;
6.5 Raumhandeln und Jugendkulturen
213
Grunert 2012). Biografische Erfahrungen sowie soziale Interaktionen spielen sowohl in Bildungsprozessen als auch in räumlichen Praktiken eine große Rolle. Gleichzeitig stellt sich auch die Frage wie diese in physischen Räumen zu verorten sind (vgl. Grunert/Ludwig 2017: 30). Was haben physische Orte für einen Einfluss auf das Raumhandeln der Jugendlichen und deren Jugendkulturen? Wie bewegen sie sich in diesen physischen Orten, wenn „sich bestimmte Raumbestimmtheiten [...] konstituieren und sozial zurückwirken [?]: Als Botschaften im Raum, in Form von formellen Regeln oder informellen Verhaltenserwartungen oder auch in Form von räumlich vermittelten Strukturen [?]“ (Krisch 2009: 11). Grunert und Ludwig (2017) unterscheiden zwischen vier Mustern der Raumpraktiken von Jugendlichen: Unter „transitorische Raumpraktik“ fassen sie ständig wechselnde Aufenthalts- und Gestaltungsorte der Akteur*innen (vgl. ebd.: 32). Hierbei spielt die Mobilität der Jugendlichen die Hauptrolle. Fortbewegungsmittel aller Art – ob öffentlich oder privat – werden regelmäßig genutzt, um an verschiedene Orte zu gelangen und verschiedenen Praktiken nachzugehen. Die Filosofi tun dies um Graffitis in U-Bahndepots zu sprühen oder sich zum Diskutieren zu treffen. Dabei orientieren sie sich vor allem an Neuem. Die Transformers sowie Supporters bewegen sich regelmäßig aufgrund ihrer Sportpraktiken und überschreiten damit geographische Grenzen. Gleichzeitig dienen das Jugendzentrum und andere Vergemeinschaftungsorte im Stadtteil als Fluchträume bzw. sind als Räume zwischen Rückzug und Teilhabe anzusehen. Rückzug eröffnet nämlich alternative Partizipationsräume. Somit orientieren sie sich vorwiegend an Distanzierung und Flucht. Dies tun gerade Peergruppen, die gerne neue Städte, Einkaufszonen und Shoppingmalls erkunden und/oder Gleichaltrige des jeweiligen anderen Geschlechts kennenlernen möchten. Als zweites Muster werden die „mobilen Raumpraktiken“ benannt, bei denen der öffentliche Raum alternativ genutzt wird bzw. umgenutzt wird, um eigene Praktiken durchzuführen (vgl. Grunert/Ludwig 2017: 32). Die Graffitisprüher – wie z.B. Ciro oder Gennaro von den Filosofi – sind bspw. konstant mobil und zwar aus ästhetisch-künstlerischen Gründen. Durch die Graffitis werden der öffentliche Raum sowie die öffentlichen Verkehrsmittel durch Farbe verändert. Neben einer Raumveränderung entsteht gleichzeitig auch eine Mobilität der Akteure. „Sowohl das Hinterlassen von Spuren kann daher als Resultat der Raumaneignung gesehen werden, als auch sind die Spuren Träger von Bedeutungen für Zuschreibungen, die Jugendliche den Räumen zuordnen [sic!]“ (Muri et al. 2009: 140). Zu den mobilen Praktiken gehören aber auch die Aktivitäten junger Männer, die innerhalb ihres Stadtteils verschiedenen sportlichen Aktivitäten nachgehen – wie die Transformers und Supporters –, darunter auch bauliche Substanzen nutzen, um bspw. Fitnessübungen oder Parkour durchzuführen oder diese für Fußballspiele als Tore umfunktionieren. Die Isolani bewegen sich, um sich zu vergnügen, zu spielen und zu essen innerhalb bzw. teilweise außerhalb des Stadtteils minimal, denn sie orientieren sich vor allem an Rückzug.
214
6 Raumhandeln und Lebensbewältigungspraktiken
Als drittes Muster nennen Grunert und Ludwig den „Erprobungsraum erwachsenspezifischer Verhaltensmuster“ wie etwa der Gang und Aufenthalt in einer Gaststätte (vgl. Grunert/Ludwig 2017: 32). Gerade in Falldorf sind die jungen Akteure regelmäßig in Shisha-Bars, Cafés oder Wettbüros aufzufinden, in denen sich vor allem ältere Männer aufhalten und an den Spielautomaten sitzen. In den Sozialwohnsiedlungen dieser vorliegenden Studie werden regelrechte AutomatenAbende organisiert, an denen die Peergruppen zusammenkommen und gemeinsam die verschiedenen Glücksspiele durchführen. Die „hangout-Zonen“ werden als viertes und letztes Muster der Raumpraktiken erwähnt (vgl. ebd.: 32). „Funktionsgebundene Orte der Erwachsenenwelt werden dann zu peerkulturellen Kommunikations- und Handlungsräumen umgedeutet“ (ebd.: 32). Diese wurden bereits oben als Räume der Diskussionsrunden berücksichtigt, die an öffentlichen Plätzen oder Parkanlagen sowie vor Wohnblockanlagen auf Bänken stattfinden und zu ‚Seminarräumen’ umfunktioniert werden, in denen auf der Straße über den Austausch von Informationen und Meinungen etwas gelernt werden kann. In dieser hier vorliegenden Forschungsarbeit erscheinen die mobilen Raumpraktiken und die hangout-Zonen als die relevantesten Muster, die gerade auch vor dem Hintergrund zur marginalisierten Lage der jungen Männer zu verstehen sind. Hierzu wurde mit dieser Untersuchung ein Beitrag zur weiteren Erforschung von Raumhandeln und Raumaneignung geleistet. Dabei ist der Bezug zu jugendkulturellen sowie lernorientierten Praktiken und Prozessen in marginalisierten Settings ein Hauptschwerpunkt für die hier analysierten Praktiken. „Raumhandeln und Raumaneignung von Jugendlichen sind trotz [bereits einiger durchgeführter Untersuchungen]8 bislang als Forschungsthemen noch wenig systematisch in den Blick der Jugendforschung und insbesondere einer erziehungswissenschaftlich orientierten Jugendforschung geraten“ (ebd.: 33). In den Rekonstruktionen dieses Kapitels wurden Raumhandeln und Raumaneignungspraktiken zum einen also vor allem bezogen auf die Identität, auf die persönliche Geschichte der Akteure sowie auf die Räume und Orte und zum anderen bezogen auf die sozialstrukturellen und regionalen Gegebenheiten untersucht. Grunert und Ludwig unterstreichen zudem, dass Forschungsprojekte gebraucht werden, „die den öffentlichen Raum als Ermöglichungs- und Begrenzungsraum für Lern- und Bildungsprozesse im Jugendalter in den Blick nehmen und auch hier nach Momenten sozialer Ungleichheit fragen“ (ebd.: 33). Genau diesbezüglich wurde mit dieser Untersuchung ein Beitrag geleistet, die andere Forschenden dazu motivieren soll, sich mit dieser Thematik mit mehr Intensität auseinanderzusetzen, denn äußerst interessant ist hier gerade die Relation zwischen den Lernprozessen und dem Raum (vgl. ebd. 33).
8
Siehe hierzu die von Grunert und Ludwig (2017) vorgestellten Studien: 36f.
7 Hustling In diesem Kapitel soll eine informelle ökonomische Praktik vorgestellt werden, die im Leben der hier untersuchten jungen Männer eine zentrale Rolle spielt und in den USA als ‚hustling’ bezeichnet wird. Diese wird von den jungen Teilnehmern dieser Forschungsarbeit sowohl in den Interviews und Gruppendiskussionen thematisiert als auch zum Gegenstand der teilnehmenden Beobachtungsphasen. Bevor die einzelnen Praktiken und Akteure vorgestellt werden, soll erst einmal der Begriff und theoretische Hintergrund geklärt werden. In der deutschen Sprache gibt es keine direkte Übersetzung der amerikanischen Begriffe ‚hustling’, ‚hustler’ oder ‚to hustle’. In der US-amerikanischen Rapszene wird ein ‚hustler’ als ein mit allen möglichen Gegenständen und Dienstleistungen sowie mit allen möglichen Mitteln handelnde*r Akteur*in dargestellt, aber ein*e ‚hustler’ ist nicht nur ein*e Händler*in, sondern es steckt eine ganz eigene und komplexe Lebenswelt und Lebensart dahinter, die in diesem Kapitel genauer betrachtet werden sollen. Der Soziologe Loïc Wacquant hat in einer Untersuchung zum ‚hustling’ die verschiedenen Facetten dieser Praktik klar zusammengefasst: „[Hustling ist] ein eigentlich unübersetzbarer Begriff, dessen semantisches – und gesellschaftliches – Feld im Französischen (wie auch im Deutschen) keine direkte Entsprechung hat, und den man in einer ersten Annäherung mit den Begriffen Masche, Gewieftsein, Kungelei, Hochstaplerei, Gaunerei und Schwindelei mit dem Ziel, zu Geld zu kommen, definieren kann. [...] Das Verb to hustle bezeichnet in der Tat ein Feld von Aktivitäten, die als Gemeinsamkeit den Einsatz einer bestimmten Art symbolischen Kapitals erfordern, nämlich die Fähigkeit, andere zu manipulieren, sie zu täuschen und, bei Bedarf, zum Erzielen eines unmittelbaren finanziellen Vorteils, neben List und Charme auch Gewalt einzusetzen“ (Wacquant 1997: 179).
Im Italienischen dagegen gibt es eine direkte Übersetzung aller drei amerikanischen Begriffe: das ‚hustling’ als Handlung wird mit ‚arte di arrangiarsi’ (‚die Kunst sich zu behelfen’), das Verb ‚to hustle’ mit ‚arrangiarsi’ oder ‚fare degli impicci’ und der*die ‚hustler’ als Akteur*in wird mit ‚trafficone’ übersetzt. Da aber alle eben genannten Begriffe für die deutsche Version dieser Forschungsarbeit irrelevant sind, sollen hier die englischsprachigen Begriffe Hustling, Hustler und hustlen benutzt werden.1 1 Die Wörter/Verben an sich sollen in dieser Arbeit auch nicht mehr in Anführungszeichen dargestellt werden, da diese nun fester Bestandteil des Vokabulars dieser Untersuchung sind und zudem zur Begriffsklärung eine Forschungsreise in die USA vorrausging, um mit
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_7
216
7.1
7 Hustling
Hustling als globale Praxis
Neben Loïc Wacquant (1997, 1998) haben noch weitere amerikanische Autor*innen zum Thema Hustling sowohl lange vor als auch nach ihm publiziert: Ned Polsky (1967), Bettylou Valentine (1978), Dan Rose (1987), Mercer Sullivan (1989), Sudhir Venkatesh (2006, 2008 & 2015), Terry Williams & Trevor B. Milton (2015). In allen hier genannten Publikationen wird die Hustlingpraktik detailliert entweder über das gesamte Buch in unterschiedlichen Exkursen oder in einem einzelnen längeren Kapitel beschrieben. Weitere kürzere und weniger konkret definierte Beschreibungen zu Hustlingpraktiken finden sich bspw. in amerikanischen Untersuchungen zu Obdachlosen (vgl. hierzu Venkatesh 2006: 406; Forrest Stuart 2016). Generell scheinen vorwiegend in den USA Untersuchungen unter dem Begriff Hustling durchgeführt worden zu sein und fast ausschließlich im Zusammenhang mit von Armut, (ethnischer) Segregation, prekären Lebenslagen und Gewalt geprägten Milieus. Auch in dieser Forschungsarbeit werden – wie der Titel schon andeutet –ausschließlich Hustler aus marginalisierten Stadtteilen beobachtet, was jedoch nicht zu bedeuten hat, dass Hustling nicht auch in anderen Milieus existiert (vgl. hierzu Venkatesh 2015). In diesem Zusammenhang ist eine Forschungslücke festzustellen, auch wenn sich alle für diese Untersuchung befragten Wissenschaftler*innen und Akteur*innen aus den USA darüber einig waren, dass Hustling auch alle ökonomischen Praktiken des Verkaufens umfasst, ohne diese steuerlich zu erklären. D. h. auch, dass z.B. ein*e formell arbeitende*r Arzt*in in seiner Praxis informell Patient*innen nach der üblichen Arbeitszeit behandeln könnte, von ihnen jedoch das Geld bar entgegen nimmt und es steuerlich nicht erklärt. Dasselbe gilt aber eben auch für die vielen informellen, illegalen und/oder nicht registrierten Verkaufshandlungen der sogenannten Streethustler in den Straßen amerikanischer Ghettos oder marginalisierter Stadtteile: „It is the grey world of the illicit and the illegal, which leaves no paper trail, no official trace, that which Expert*innen und lebensweltlichen Akteur*innen die Handlungen der Hustler aus Pratobello gemeinsam zu analysieren. An dieser Stelle soll auch gleich darauf hingewiesen werden, dass in dieser Arbeit auf männliche Hustlingformen fokussiert wird und mit Hustler weder eine weibliche noch männliche Prostituierte gemeint ist, welche in den USA auch mit diesem Begriff bezeichnet werden. Die männliche Prostitution beispielsweise wurde während der Feldarbeit für diese Untersuchung weder beobachtet noch von den Akteuren explizit oder implizit erwähnt und beschrieben. Um den Rahmen inhaltlich nicht zu sprengen, soll deshalb im weiteren Verlauf nicht weiter auf diese Aspekte des Hustlings eingegangen werden. Zur eventuellen Vertiefung ist folgende Literatur empfehlenswert: 1) Gail Sheehy, Hustling: Prostitution in Our Wide Open Society (New York: Delacorte Press, 1973). 2) Mitchell Duneier, Sidewalk (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1999).
7.1 Hustling als globale Praxis
217
is reproved and repressed by society [...] but a world known and tacitly tolerated by all because it is both banal and necessary“ (Wacquant 1998: 4). Hinter dem Begriff ‚Hustler’ als Bezeichnung für den Hustling Praktizierenden verbirgt sich ein Akronym: „H.U.S.T.L.E.R - How U Survive This Life Everyday, Resourcefully“ (Urban Dictionary).2 In der ausgeschriebenen Version deutet sich bereits an, dass damit nicht nur eine ökonomische Praktik beschrieben, sondern auch eine Lebenseinstellung zusammengefasst wird. Der Lexikoneintrag präzisiert: „A Hustler is someone who knows how to get money from others. Selling drugs, rolling dice, pimpin. You’re hustlin for that money“ (Urban Dictionary).3 Im Dictionary of the English Language gibt es mehrere Definitionen des Verbs ‚to hustle’, einerseits die Hochenglische und andererseits die Slang-Version: „1. To move or act energetically and rapidly: We hustled to get dinner ready on time. 2. To push or force one's way. 3. To act aggressively, especially in business dealings. 4. Slang a. To obtain something by deceitful or illicit means; practice theft or swindling. b. To solicit customers. Used of a pimp or prostitute. c. To misrepresent one's ability in order to deceive someone, especially in gambling“ (American Heritage 2016).
Wie diese Kurzbeschreibungen zeigen, beschreibt der Begriff augenscheinlich zunächst kein eindeutiges und abgrenzbares Verhaltensrepertoire, das übertragbar wäre auf alle Hustler. Es wird sofort ersichtlich, dass es sich um eine breit gefächerte Aktivität handelt, die viele Kenntnisse, aber auch soziale Beziehungen und situative Gelegenheiten erfordert. Es bedarf besonderer Fähigkeiten und Kompetenzen, die durchaus mit viel Geduld und Kontinuität verbunden werden müssen, um sich über andere Menschen finanziell zu versorgen. Was jedoch schon einmal festgestellt werden kann, ist, dass es sich dabei um ein schnelles, bewegliches, teils aggressives und energetisches, vor allem aber informelles und illegales Business handelt. Gerade in Armuts- und Marginalisierungskontexten, in denen es besonders schwierig ist ‚legale’ Arbeitsverhältnisse zu finden, versuchen Hustler ihr Einkommen über alternative Wege zu erlangen. Zum Beispiel im Bereich des Handels: statt als Verkäufer*in in einem Warenhaus Originalartikel zu verkaufen, vertreiben sie auf der Straße über kleine Stände oder über den Kofferraum eines Autos oder über die eigene Garage gefälschte Ware. Hierbei müssen sie sich vor Institutionen und Behörden jeglicher Art verbergen und sich in non-formalen Räumen bewegen, die sich sozusagen ‚unter dem Radar’ befinden. The Dictionary of 2
4. Definition des Urban Dictionary: http://www.urbandictionary.com/define.php?term=hustler (abgerufen am 23.4.2015). 3 1. Definition des Urban Dictionary: ebd. (abgerufen am 23.4.2015).
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7 Hustling
the English Language präzisiert weiter: „[Hustling is] [a]n illicit or unethical way of doing business or obtaining money; a fraud or deceit“ (American Heritage 2016). Werden die italienischen Begriffsbeschreibungen bzgl. Hustling genauer betrachtet, dann ist bspw. laut Stefano De Matteis (1994) die „arte di arrangiarsi“ als mehr oder weniger legal, unabhängig und selbst-organisiert einzustufen (vgl. De Matteis 1994). Verkäufer*innen geschmuggelter Zigaretten bis hin zu Straßenhändler*innen, die je nach Gelegenheiten und Festtagen die zu verkaufenden Produkte ändert bzw. abstimmt, gehören der Kategorie Hustler an. Es gibt keinen festen oder bestimmten Ort für einen ‚trafficone’. Auch Verkäufer*innen mit einem Stand oder „Minuten-Handwerker*innen“ sind als Akteur*innen der „arte di arrangiarsi“ hinzuzuzählen (vgl. De Matteis 1994). Die Frage nach der Legalität und Illegalität des Business’ wird schnell relevant, wenn bedacht wird, dass diese Händler*innen Markenprodukte verkaufen, die aber Fälschungen und selbst produziert worden sind (vgl. De Matteis 1994). Es handelt sich dabei um eine Welt, die Verbindungen zwischen ‚Schatten’ und ‚Licht’ aufbaut und pflegt (vgl. Venkatesh 2015: 200). Verbindungen, Kontakte und Netzwerke sind die unverzichtbare Basis des Hustlers. Ohne Verbündete, ‚Teilnehmer*innen’ und Unterstützer*innen auf beiden Seiten – der formellen und informellen sowie der legalen und illegalen – können Hustler nicht arbeiten und vice versa auch nicht: „In Maquis Park there is always a steady stream of men and women who hustle, but it does not take long to notice similar faces in the crowd. Their neighborhood involvement coalesces around the underground economy; it is through hidden earnings that they support themselves, build social relations with the wider public, and play a part in the daily life of a poor community. And without a business, or often a home, to call their own, hustlers create their world, and make their opportunities, on the street and in the public eye” (Venkatesh 2006: 170).
Somit lässt sich schon einmal zusammenfassend sagen, dass es sich bei einem Hustler um einen informellen Händler*innen handelt, der mit den verschiedensten (intelligenten und gründlich vorbereiteten) Taktiken und (teilweise auch kriminellen und gewalttätigen) Mitteln – sowohl auf sprachlicher wie auch auf körperlicher und geistiger Ebene – verschiedenste Gegenstände verkauft, Dienstleistungen anbietet und sich mit Manipulationen und Tricksereien über Wasser hält (vgl. Venkatesh 2006; Wacquant 1998; De Matteis 1994;). Das Hustling ist eines der vielen autonomen Arbeiten, die ein ‚Spinnennetz’ des Überlebens aufbauen (vgl. De Matteis 1994). “The verb to hustle denotes a field of activities that have in common the fact that they require mastery of a particular type of symbolic capital, namely, the ability to manipulate others, to inveigle and deceive them, if need be by joining violence to chicanery
7.2 Die Hustler von Pratobello
219
and charm, in the pursuit of immediate pecuniary gain. These activities span a continuum […] hat goes from the relatively innocuous and inoffensive – the manufacturing and peddling of home-made dishes and alcohol (sold in ‘after-hours clubs’), the sale and resale of stolen (‘hot’) merchandise, betting on games of chance (cards, dice, pool) in ways forbidden by the law, participating in the underground lottery of the ghetto known as the policy or numbers game […] – to the felonious – petty pillage and theft, break-ins, stealing and stripping cars, scavenging bricks, pipes, windows and door frames from abandoned buildings, and all manner of swindles and scams duly recorded by the oral lore – all the way to the downright criminal: mugging, stickups, pimping, racketeering local shopkeepers (who are kindly requested to pay up ‘insurance mones’ on threat of arson and other violent disruption), the wholesale and retail trade of drugs, and even murder on order, for which the going raters are common knowledge in some sectors of the ghetto” (Wacquant 1998: 3-4).
Im Folgenden werden Arten, Methoden und Formen, Handlungsstrukturen und – strategien, die biographische Einbettung, relevante Sozialisations- und Sozialräume und Kompetenzen sowie Bedingungen und Orientierungen von Hustling als ökonomische Praxis der untersuchten Sozialwelt bei den jungen Männern in den untersuchten Stadtteilen rekonstruktiv beschrieben. Dabei werden Bezüge zu bestehender internationaler Literatur, vor allem aus den USA, eröffnet, um das Phänomen umfassend zu beschreiben.
7.2
Die Hustler von Pratobello
Damit das Umfeld der hier untersuchten Hustler, die jeweiligen persönlichen Charaktere und Hintergründe schon im Voraus etwas klarer werden, um darauf aufbauend die oben erwähnte Komplexität des Hustlings besser analysieren zu können, sollen zuerst die Akteure und ihre Biographien vorgestellt werden. Dabei handelt es sich um die beiden jungen Männer Peppino und Gennaro aus Pratobello, die in zwei verschiedenen Wohnbereichen des Stadtteils wohnen. Die Wohnbereiche unterscheiden sich von der geographischen und infrastrukturellen Lage sowie von der Bauweise der Häuser. Peppino wurde nur einzeln interviewt, während Gennaro sowohl einzeln als auch innerhalb einer Gruppendiskussion der Gruppe Isolani (vgl. GD_Isolani, 2014) interviewt und teilnehmend beobachtet wurde. 7.2.1
Peppino
Peppino ist zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt und wohnt im Wohnbereich L3, gegenüber des L2 und nicht weit vom L7 entfernt. Peppino hat schon in jungen Jahren Gewalt in der Familie erleben müssen – sowohl ihm als auch seiner Schwester gegenüber sowie zwischen den Eltern. Seine
220
7 Hustling
Schwester wurde zudem von Peppinos Onkel über einen längeren Zeitraum sexuell missbraucht. Über dieses Ereignis hat Peppino vor laufendem Mikrofon explizit nicht gesprochen, jedoch deutlich gemacht, dass ihn das bis heute psychisch sehr belastet, was damals passiert ist: 541 542 543 544 545 546 547 548 549 550 551 552 553 554 555 556 557 558 559 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574
Pep
„aber dann sind auch andre Sachen passiert auch zuhause verstehste/ enge Familienmitglieder die mi::ch mi::ch wirklich getötet haben (.) äh:: das is was mich geprägt hat weil immerhin ein Fünfzehnjähriger geprägt hat weil immerhin ein fünfzehnjähriger sechzehnjähriger Junge der sich einredet daß der Vater und die Mutter nicht in der Lage sind die kleine Schwester groß zu ziehen das ist viel (.) das ist wirklich viel (.) weils das ist was das wütende Gemü::t verfehlt/ die Lebensweise/ den Gedanken/ ich hatte einen sturen Gedanken (.) ich musste ein paar Kröten zusammenkratzen (.) wenn ich ohne Nike Schuhe aufgewachsen bin dann musste meine Schwester sie haben (.) ich machte Raubüberfälle/ kam zurück nach Hause/ hatte 400 Euro: ‚Hier Bà/ geh dir das kaufen wasde willst’ (.) am nächsten Morgen weckte ich sie mit dreitausend Euro in der Tasche auf/ sie mit vierhundert Euro weißte was ich machte? Ich brachte sie in die Geschäfte/ ‚Was willste haben?’ ‚Das/ das und das’/ ‚Ah okay/ nimm sie’/ Wir gingen zur Kasse: ‚Wieviel isses?’ (.) ‚Äh nein diee zahlt sie’/ Ich ließ sie mit dem Geld zahlen das ich ihr gegeben hatte/ die kaufte nicht ich (.) das war wegen einer Sache um ihr zu zei- zu zeigen verstehste wie man mit Geld umgeht/ u::m und diese Sache hab ich ihr jedenfalls gezeigt wei::l wei::l meine Schwester du hast ja ohnehin schon gesehen (.) sie ist schön/ sie ist stark (.) äh:: wie auch imme::r es ist wahr mir gefiel es weil um- also lassenwa mal die Vierhundert Euro die ich ihr geschenkt hab beiseite/ wenn sie Kleider kaufen gegangen ist dann sollte ich sie ihr kaufen? Für mich änderte sich dadurch nichts (.) also ich hätte sie ihr mit dem Herzen gekauft/ verstehste? (.) Abe::r es war auch schön zu sehn daß sie mit dem Geld umgehn konnte [...]“ (EI_Peppino, 2015: Z. 541-574).
Peppino erzieht seine Schwester zu finanzieller Autonomie und Selbstbestimmtheit, die gleichzeitig dafür sorgt, dass sowohl er als auch sie von der Familie nicht mehr abhängig sein müssen. Er sorgt für eine psychische Unabhängigkeit und Selbststeuerung der Lebensentscheidungen und -prozesse. Er möchte weder gezwungen sein, das Leid selbst länger mitzuerleben, noch seine Schwester die
7.2 Die Hustler von Pratobello
221
belastenden familienabhängigen Taten weiter miterleben zu lassen. Somit dokumentiert sich innerhalb der oben zitierten Passage eine Orientierung an Autonomie und Selbstbestimmtheit, die in der Vergangenheit gelagert ist. Es zeigt, dass sich diese Orientierung seit der Kindheit bzw. Jugend durch das weitere Leben von Peppino zieht. Diese Orientierung hat Peppino auch immer versucht der Schwester näher zu bringen. Peppino hat sich nämlich seine Welt der Selbstbestimmung und Autonomie aufgebaut und gibt diese weiter, denn er kennt keine andere bzw. will keine weitere mehr kennen. Seine Eltern haben sich getrennt als Peppino neun Jahre alt war und ab diesem Zeitpunkt beginnt für ihn eine neue Lebensphase, die den Weg zum Hustling ebnen: 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Pep
„[...] ich hab dieses Leben begonnen weil verschiedene Vorfälle geschehen sind also na ja:: es begann alles als sie sich getrennt hatten (.) und dann wie auch immer hab ich ne hässliche Kindheit geha::bt gehabt weilse sich getrennt hatten und ich hatte auch wirklich Probleme auf familiärer Ebene gehabt (.) meiner Schwester ist was passiert (.) ihr so etwas und ich war kurz davor vierzehn fünfzehn Jahre alt zu werden und ich hab mir eingeredet daß mein Vater und meine Mutter sowieso nicht in der Lage warn sich um meine Schwester zu kümmern und sie groß zu ziehen (.) also hab ich begonnen zu dea::len im großen Stil [...]“ (EI_Peppino, 2015: Z. 48-60).
Peppino geht nach seiner Proposition in Zeile 48 – 60 nicht näher auf die Erfahrungen seiner Schwester ein. Explizit schreibt er jedoch die Schuld den Eltern und ihrer Unfähigkeit zu, Kinder sicher und geborgen aufziehen zu können. Gleichzeitig entfaltet sich durch die Elaboration im Modus der Erzählung, dass es zumindest für die Kinder an Geld in der Familie fehlte und Peppino sich aufgrund der mangelnden Versorgung seitens der Eltern als Fürsorger sah (vgl. Payne 2016). An anderer Stelle des Interviews beschreibt er es explizit: „aber ich hatte schon immer ein wenig nen Vaterinstinkt sie groß zu ziehen/ vielleicht weil ich meine Schwester großgezogen hab“ (EI_Peppino, 2015: Z. 106-108). Somit sieht Peppino seine Verantwortung im Großziehen der Schwester und beginnt zu dealen. Das Dealen ersetzt zwar keine Erziehung, aber Peppino stellt sich als jemanden dar, der sich aufgrund seiner Machtlosigkeit bezüglich der schlimmen Erfahrungen seiner Schwester, zumindest um genügend finanziellen Halt kümmert und somit um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.
222
7 Hustling
In der Schule war Peppino ein sehr guter Schüler, jedoch brach er in der 1. Oberschulklasse ab. Mit vierzehn fing Peppino seine Karriere als Drogendealer an und war diesbezüglich auch mehrere Male für kürzere oder längere Zeiten im Gefängnis oder im Hausarrest. Nach seinem 16. Lebensjahr entfernte er sich langsam vom Drogendealen und ging immer mehr zu Raubüberfällen über. Er übte zuerst kleinere und später dann auch größere Raubüberfälle im Alleingang oder zusammen mit einem Komplizen aus. Darunter sind mehrere Bank- und Supermarktüberfälle in Stadtteilen nicht unweit von Pratobello zu zählen. Peppino wurde dadurch innerhalb der südlich gelegenen Wohnbereiche des Stadtteils zu einer respektierten und bekannten Persönlichkeit im kriminellen Milieu. Sein Hang zu Geld, Gewalt und Waffen sowie seine kontinuierliche physische Präsenz auf den Straßen der südlichen Wohnbereiche führten dazu, dass er eine gewisse Kontrolle über die Jugendbanden und –cliquen ausübte. Dies war – laut Insider aus dem Milieu – für die lokale organisierte Kriminalität von Vorteil, da dadurch eine gewisse Ruhe für die Drogengeschäfte gewährleistet wurde.4 Nach einer Schießerei während seines letzten Raubüberfalls wurde er an den Beinen und Hoden getroffen. Dies war ein mediales Ereignis in der Region. Nach mehreren längeren und komplizierten Operationen musste er das Krankenhaus mit einem Rollstuhl verlassen und direkt ins Gefängnis gehen. Nach seiner Entlassung und einer intensiven Rehabilitation kann Peppino wieder normal gehen. 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348 349 350 351 352 353 4
Pep
Wissen des Autors.
„[...] bis dann irgendwann mal kann man sagen als ich also meine Schwester und die Tochter meiner Schwester also gesehen hab (.) da hab ich immerhin begonnen zu versteh::n was was ich dem Mädchen hätte geben können da sie sowieso bei mir zuhause wohnte (.) ich konnte ihr nicht all diese Scheiße vermitteln all di=diese Boshaftigkeit ne (.) wie wär das Mädchen aufgewachsen? Mit welchen Regeln? Und tatsächlich ist Bildung diese da ist für mich sehr wichtig (.) und außerdem isses wahr daß das Mädchen- jeden Tag wenn sie die Hausaufgäbchen und Sachen machen muss dann setztenwa uns hin und machen schreiben/ ich lass sie die Briefchen und Sachen abschreiben //tiefer Seufzer// und ich sag ihr immer daß sie nicht das machen soll was ich gemacht hab/ ich hab die Schule verlassen/ ich fühlte mich fühlte mich allmächtig/ ich war/ ich war ein der Weltherrscher kann man sagen/ ich konnte mir ein Mädchen kaufen/ ich konnte mir mir das kaufen was ich wollte abe::r //tiefer Seufzer// die Allmacht hat mich in die Scheiße gesteckt/ in die
7.2 Die Hustler von Pratobello
354 355
223
Ohnmacht weil ich immerhin jetzt mit all den Sachen die ich immer gemacht hab [...]“ (EI_Peppino, 2015: Z. 333-355).
Peppinos Reflexionen über seinen kriminellen wie auch familiären/biographischen Lebenslauf (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 253-295) lassen sich aus dem Interview selbst, also aus der Interviewpraktik herauslesen. Die Fürsorge für seine Schwester (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 108: „weil ich meine Schwester großgezogen hab“) und Nichte sieht er als eine nicht unangenehme Pflicht, aber trotz allem als eine Verantwortung. Schließlich sagt er selbst, dass er seine Schwester und Nichte großziehen und ihnen Autonomie und Selbstbestimmung vermitteln muss, um Leid von ihnen fernzuhalten (vgl. hierzu auch EI_Peppino, 2015: Z. 580). Peppino ist ein Elternersatz für seine Schwester und seine Nichte. Die Beziehung zu den beiden sieht er zudem teils als Bewahrung vor weiteren kriminellen Handlungen oder einem Wiedereinstieg in organisierte Verbrechermilieus, aber gleichzeitig auch als Grund, für beide zu sorgen und somit zu hustlen. Das Hustling ist für Peppino ein Lebensschwerpunkt, der vor allem durch seine biographisch-familiäre Situation geprägt worden ist und für Selbstbestimmung und Autonomie in seinem Leben und seiner Fürsorge gesorgt hat. Zur Zeit lebt Peppino von seinen Hustlingaktivitäten. Er wohnt mit seiner Schwester und deren Tochter in einer Wohnung im L3. Er hat innerhalb des lokalen kriminellen Milieus aufgrund von Generationen- und Bandenwechseln keinen hohen Status und Einfluss mehr. Zu seiner Mutter hat er nur sporadischen und zu seinem Vater keinen Kontakt mehr.
7.2.2
Gennaro
Gennaro ist zum Zeitpunkt des Interviews und der teilnehmenden Beobachtungen 27 Jahre alt und wohnt – wie in Kapitel 5.8.1 erwähnt – im älteren Wohnbereich von Pratobello, einer vorwiegend zwischen den 1930er und 1960er Jahren illegal errichteten Siedlung mit hunderten drei- bis vierstöckigen Mehrfamilienhäusern aus Backsteinen und Beton. 650 651 652 653 654 655 656 657 658
Ge
„[...] etwas (5) etwas mh sagen wi::r (3) etwas was mich dazu gebracht hat die Menscheit zu verachten aber nicht mit tiefer Verachtung sondern mit Ärgernis zu sehen dass (2) ºdassº das existiert. (.) die Tatsache eine schwierige Familie einen etwas komischen mh gewalttätigen Vater zu haben (.) das war ein wenig das Heraussprudeln des Anfangs des Bösen/ aber aber auch i::n auch se- also sagen wir wenig gebildet zu sein bringt dich dazu ein wenig böse zu werden aber es
224
7 Hustling
659 660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 674 673 674 675 676 677 678 679
betrifft ni::cht das man böse auf das Böse ist sondern eher das Böse realisieren zu können und von daher und von daher kann böse sein bedeuten denjenigen zu verachten der verachtet; (.) in diesem Fall also verachte ich viele Sachen viele Personen viele Gestalten sowohl von meiner Familie als als auch drum herum von daher (3) also ich schätze nicht ich schätze nicht die Sachen n=nein nein ich habe einfach nicht mehr die Fähigkeit die Sachen zu schätzen weil von der Vergangenheit bis zur Gegenwart bis zur Zukunft hat mich zu dem gebracht/ also die Tatsache a=rm zu sein was den wirtschaftlichen T=Teil betrifft/ nicht reich vielleicht nicht nicht sehr arm; (.) meine Familie hat es mir vielleicht teilweise nie an Essen fehlen la- lassen auch wenn es viele Male gefehlt hat (.) mh vielleicht nicht an einem Dach wenn es geregnet hat/ genau/ das gab es (.) abe::r aber ich habe ein (.) wie soll ich sagen (.) es hat viele Probleme gegeben/ es scheint scheint scheint leicht aber dann vielleicht wenn man darüber nachdenkt man also da- du: man denkt nicht an banale Sachen aber es gab sehr viele Probleme die einer angeht [...]“ (EI_Gennaro, 2014: Z. 650-679).
Anhand dieser Passage wird deutlich, dass sich Gennaro durch den physischen und psychischen Missbrauch in der Familie sich über Wasser halten musste und zwar nicht im finanziellen, sondern vor allem im psychischen Sinn. Er beschreibt ein gewisses Ohnmachtsgefühl, das ihn damals befiel, gegenüber der Tatsache, dass in seiner Familie Gewalt herrschte. Seinen Vater stellt er diesbezüglich als Hauptverantwortlichen dar. Durch diese ‚Boshaftigkeit’ hat Gennaro eine emotionale Armut durchleben müssen, die dazu führte, dass er gewisse positive Emotionen nicht mehr spürt. Eine Taubheit in der Wertschätzung sich selbst und anderen Dingen, Menschen oder Situationen gegenüber ist eingetreten. Näher geht Gennaro darauf nicht ein, aber es wird deutlich, dass er in seiner Kindheit und Jugend Opfer psychischer und emotionaler Vernachlässigung war und diese bei ihm emotionale ‚Narben’ hinterlassen haben. Er konkludiert die oben zitierte Sequenz, indem er kontrastierend zur materiellen Armut unterstreicht, dass die emotionale Verwahrlosung keine Banalität sei, und deren Bedeutung auch für spätere Lebensabschnitte implizit hervorhebt. Schließlich war er in seiner Kindheit aufgrund all dieser Problemlagen überfordert und musste herausfinden, wie sie anzugehen waren. Seit vielen Jahren bewohnt nun Gennaro eine ehemalige Garage eines vierstöckigen Mehrfamilienhauses, die seiner Tante gehört, die wiederum im selben Haus in einer kleinen Wohnung mit ihrer Tochter – Gennaros Cousine – wohnt. Die Garage hat Gennaro über die Jahre in einen Wohnraum umgebaut. Er ist von
7.2 Die Hustler von Pratobello
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seinen Eltern im Alter von 19 Jahren aus der elterlichen Wohnung verdrängt worden. Um ein Leben auf der Straße zu verhindern, stellte ihm seine Tante ihre Garage zur Verfügung. 770 771 772 773 774 775 776 777 778 779 780 781 782 783 784 785 786 787
Ge
„Ja mit neunzehn Jahren oder ein paar Tage vor (.) meinem Geburtstag haben sie mich von zuhause verscheucht (.) sie haben mich mit Schlägen massakriert/ alles in meinem Zimmer zerstört/ sie haben di=den Fernseher zerstört/ die Schränke/ die Tür (.) u::nd er hat mein Tier das ich im Käfig hatte entfliehen lassen/ es war alles zerstört/ auf dem Boden verstreut/ das ganze Tierfutter in der Luft (.) ºeine Sauereiº (.) u::nd von diesem geschlagen ºwar ich auch ziemlich erschüttertº (.) u::nd nichts/ nach ner Weile (.) mh ist meine Tante gekommen mit meiner Oma und sie haben mich weg gebracht (.) sie haben mir gesagt du schläfst hier dri::n (2) es gab nicht also diese Tür hier war offen (.) auch diese (.) u::nd ºes gab kaputte Lichter und es gab nichts von dem was du jetzt siehst/ nur ein Lager/ es gab eklige Sachen/ ein Haufen an Schaben/ ein saukaltes Doppelbett (.) äh ich rede von Dezember nach Weihnachtenº [...]“ (EI_Gennaro, 2014: Z. 770-787).
Der spezifische Grund des Rauswurfs aus der Wohnung bleibt unklar, jedoch wird durch die vorher zitierte Sequenz deutlich, dass das Gewaltereignis gegen Gennaro einen Höhepunkt der von ihm erlebten familialen Gewalt darstellt. Interessant dabei ist jedoch, dass Gennaro nicht näher auf das „Massaker an Schlägen“ eingeht, sondern vielmehr auf die Zerstörung seiner Zimmereinrichtung und das gewollte Verschwinden seines Haustiers. Hier zeigt sich, dass Gewalt ein so habitualisierter Teil von Gennaros Biographie ist, dass er es fast schon beiläufig erwähnt, als ob es zur Normalität gehörte. Jedoch viel geschockter schien er von der Zerstörung seines wohl letzten emotionalen Rückzugraums – in diesem Fall sein Zimmer und Haustier – zu sein. Gennaro wurde aus einem menschenwürdigen und mit Emotionen verbundenen Raum gewalttätig entrissen und in einen menschenunwürdigen, verwahrlosten und lieblosen Raum ‚geworfen’. Die ersten Eindrücke in seiner neuen Unterkunft beschreiben diesen Zustand sehr explizit und zeigen auch, dass er – ähnlich wie bei den Hustlern, die Sudhir Venkatesh beschreibt – sich fast schon als Squatter/Obdachloser durchschlagen und neu erfinden musste: “[Some hustlers] are vagabonds who move through short periods of homelessness, squatting, and temporary stays in rental units […]” (Venkatesh 2006: 168f.). Gennaro verliert praktisch sein gesamtes Hab und Gut, seine physische sowie emotionale Bindung zu seinem Haustier, eine gewisse finanzielle und materielle Sicherheit. Dieser drastische Wechsel ist der Beginn eines materiell, finanziell,
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7 Hustling
emotional und physisch absolut unsicheren Lebensabschnittes, verknüpft mit einem in mehrfacher Hinsicht prekären Wohnverhältnis. Seitdem lebt Gennaro in ständig prekären Verhältnissen und schlägt sich mit kleinen Drogengeschäften und Hustlingaktivitäten durch. Zwar muss er keine Miete bezahlen, aber er muss die Nebenkosten übernehmen wie bspw. Strom und Wasser. Die gesamte Garagenwohnung hat er selbst über mehrere Jahre mithilfe seiner damaligen Freundin, Freunden und Bekannten sowie seiner Tante bewohnbar gemacht und mit dem Nötigsten eingerichtet. Hierbei lernte er auch Möbelstücke und Gebrauchtwaren zu suchen, einzusammeln oder zu vergünstigten Preisen zu kaufen: „ich hatte keine Küche und die Küche war zwanzig Jahre alt/ wir mussten Geld zusammenlegen ºum sie zu kaufenº/ der Kühlschrank war voller Würmer/ wir mussten ihn gebraucht kaufen [...]“(EI_Gennaro, 2014: Z. 746-748). Mittlerweile isst Gennaro regelmäßig bei seiner Tante oben in ihrer Wohnung zusammen mit seiner Cousine, aber aufgrund der psychischen Erkrankung seiner Tante gibt es kein abwechslungsreiches und gesundes Essen. So sorgt er selbst für die Lebensmitteleinkäufe und bekocht des Öfteren seine Cousine und Tante. Aufgrund dessen darf er seit einigen Monaten auch immer wieder im ehemaligen Zimmer des Onkels schlafen und wohnen. Gennaro hat lediglich mit seiner Mutter noch sporadischen Kontakt. Die Kommunikation fokussiert jedoch meist die Geldsorgen der Mutter. 843 844 845 846 847 848 849 850 851 852 853 854 855 856 857 858 859 860 861
Ge
„[...] und meine Mutter war eine hörige Sklavin bis jetzt (.) eine seh- [schluckt] sehr unterwürfige Person [schluckt] also wirklich (3) untunterwürfig und und ºLügnerinº/ meine Mutter kennt den Wert der Lüge und weiß wie sie sie nutzen kann (.) und leider die Sache die am schlimmsten ungerechtesten ist ist daß sie sich selbst und die anderen um sie herum anlügt (.) und //seufzt// und viele nutzen das auch manchmal aus/ auch ich/ manchmal nutzt sie mich aus (2) bis heute nutzt sie mich aus (3) also meine Mutter hat sich zum Beispiel von meiner Cousine Geld geliehen die vierzehn Jahre alt ist und jetzt ist sie achtzehn und bis jetzt hat sie es noch nicht zurückbekommen/ also auch Sachen die sie sich von mir ausgeliehen hat und sie mir nicht zurückgegeben hat //seufzt// (2) und nicht einmal nicht einmal also im Sinne und die Stromrechnungen hier wo ich lebe zahlt meine Tante äh (2) ºfalls du verstehst was ich meineº (3) was fü- was machst du damit (8)“ (EI_Gennaro, 2014: 843-861).
Gennaro beschreibt ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu seiner Mutter, das von reziprokem, aber geringem Vertrauen geprägt ist. Er beschreibt die Mutter selbst in einer verzweifelten Lage, sodass sie von Gennaro und seiner Cousine
7.3 Die Komplexität des Hustlings
227
immer wieder materiell abhängig dargestellt wird. Die Unzuverlässigkeit seiner Mutter beschreibt er durch ihre Tricksereien und ihrer Abhängigkeit von Gennaros Vater, der sie wohl erniedrigt und finanziell/materiell stark einengt. Dadurch hat sich zwischen Gennaro und seiner Mutter eine gegenseitige Betrügerei entfaltet, die auf ein reziprokes Hustlen deutet. Beide versuchen sich in ihrer jeweiligen Situation durchzuschlagen. Gennaros Tante kann die Nebenkosten der Garagenwohnung nicht übernehmen und somit ist er allein schon aus diesem Grund gezwungen Geld zu beschaffen. Durch die Tricksereien seiner Mutter verliert er zudem Geld, das er sich wahrscheinlich beiseite gelegt hat. Dies zeigt, dass Gennaro noch sehr unsicher gegenüber der familiären Situation ist: einerseits hilft er seiner Mutter, andererseits trickst er sie auch aus – wobei er sein eigenes Handeln hier nicht detailliert. Er ist jedenfalls auf sich allein gestellt und muss zusehen wie er die jeweiligen Situationen managen muss. Auf diesem Weg in eine autonome Lebensführung bewältigt Gennaro auch die ersten Schritte des Hustlings. In der Schule war Gennaro – wie Peppino auch – ein guter Schüler, hat jedoch im Gegensatz zu Peppino nicht abgebrochen und sein Abitur gemacht. Nach seiner Schulzeit hat er auf diversen Baustellen als Maurer gearbeitet und seinen Drogenkonsum verstärkt. Er hat nach eigenen Angaben schon alle möglichen weichen und harten Drogen ausprobiert. Während der Erhebungen rauchte er jedoch durchgehend nur Haschisch und nahm ab und zu psychodelische Pilze zu sich. Vor den Erhebungen war Gennaro mehrere Jahre in psychotherapeutischer Behandlung und bekam auch Psychopharmaka verschrieben, die er während der teilnehmenden Beobachtungsphase zu sich nahm. Parallel zum Hustling beschäftigt sich Gennaro auch intensiv mit Kunst, insbesondere mit Streetart und Graffitis. Während seiner Zeit in der Oberschule war er Teil einer Graffiticrew, die in ganz Sasso unterwegs war und insbesondere in den U-Bahnwaggons während der Betriebszeiten mit Markern und teilweise auch Sprühdosen sein Pseudonym hinterließ. Vor einigen Jahren löste sich die Crew auf. Gennaro malt unter seinem Pseudonym „WISER“ weiterhin Schriftzüge vorwiegend auf Haus- und Lärmschutzwänden sowie im Rahmen von regelmäßig stattfindenden Graffitijams, bei denen Preise gewonnen werden können und der Künstlerbedarf bezahlt wird.
7.3
Die Komplexität des Hustlings
„07.08.2014 [...] 16:40 Patrizio setzt sich wieder an die Bettkante und malt sein Ölbild weiter. Diesmal kümmert er sich um die Windeffekte. Patrizio: ‚Du siehst ja, dass ich hohe Wellen gemalt
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7 Hustling
habe, da braucht es auch ein wenig Wind.’ Währenddessen telefoniert Gennaro mit einem Freund aus Pratobello Antico. Gennaro: ‚Leute, ich muss zu Arturo. Der schenkt mir ein leeres Aquarium. Ich muss es abholen und bräuchte eure Hilfe.’ Patrizio: ‚Wie? Willst du das von da bis hierher schleppen?’ Gennaro: ‚Nein, meine Mutter leiht mir ihr Auto. Wir fahren kurz dahin, laden den Scheiß ins Auto und fahren hierher. Ihr müsst mir aber helfen das Teil von seiner Wohnung runter ins Auto zu schleppen.’ Ich: ‚Wozu brauchst du ein Aquarium?’ Gennaro: ‚Das weiß ich noch gar nicht. Vielleicht tu ich da Insekten rein.’ Ich: ‚Wozu brauchst du Insekten?’ Gennaro: ‚Ich verkaufe sie im Internet oder ich verkaufe sie einfach an den Anglerladen hinter meinem Haus.’ Gennaro spielt auf Youtube den Song Temper Temper von Goldie ab und nimmt die Arbeit an der Theaterwebseite wieder auf. Er lädt einige Fotos aus einer vergangenen Theateraufführung hoch. 17:00 Gennaro hat sich einen Joint gedreht, zündet ihn an und geht mit Patrizio und mir in ein Baufachgeschäft nur 50 Meter von seinem Block entfernt. Dort kauft er Säuberungsbenzin: ‚Arturo braucht es. Gebe ich ihm als Gegenleistung für das Aquarium.’ Der Verkäufer fragt Gennaro, ob er eine Tüte haben wolle. Gennaro überlegt und sagt: ‚Hm ich weiß nicht.’ Der Verkäufer: ‚Ja, also du musst es wissen.’ Gennaro: ‚Ja vielleicht.’ Verkäufer: ‚Ja oder nein?’ Gennaro: ‚Naja.’ Verkäufer: ‚Also dann nicht.’ Gennaro: ‚Doch doch, ich nehme eine.’ Verkäufer: ‚Jetzt gibt es keine mehr.’ Gennaro, Patrizio und ich gehen hinaus. Gennaro: ‚Was ist das für ein beklopptes Arschloch.’ Patrizio: ‚Ach du bist doch bekloppt. Du hast einfach zu lange herum überlegt. Du bist echt mit dem Kopf nicht ganz da. Ich hätte dir längst eine reingehauen.’ Gennaro: ‚Ach was sagst du da. Ich jedenfalls hab ihn abgezockt. Das Zeugs kostet eigentlich 3 Euro. Ich habe ihm gesagt, dass es 2 Euro kostet (lacht). Der wusste selber den Preis nicht.’ Gennaro, Patrizio und ich steigen in das Auto von Gennaros Mutter ein, das vor Gennaros Block steht. Gennaro zündet sich den mittlerweile ausgegangenen Jointstümmel wieder an und fährt mit hoher Geschwindigkeit durch die Straßen von Pratobello. Patrizio: ‚Hey komm mal klar. Wir haben keine Eile. Du hast nicht einmal deinen Führerschein dabei und rauchst auch noch einen Joint am Steuer. Also ich weiß nicht.’ Gennaro muss mehrere Male abrupt bremsen, weil er zu nah an Passanten am Straßenrand fährt. Patrizio: ‚Tja, Daniel, wie du siehst gibt es hier keine Gehsteige. Das ist hier zum Teil Selbstmord, wenn du zu Fuß unterwegs bist. Da sind ja sogar die Favelas besser, da kann man zum Teil gar kein Auto fahren, sondern höchstens mit nem Motorrad. Hier muss jeder Arsch ein Auto haben, auch wenn es nicht durchpasst.’ Bei Arturo angekommen, steigen wir alle drei aus und gehen zu einem Mehrfamilienhaus aus den 60er Jahren. Patrizio: ‚Das sind auch so Häuser, die ohne Genehmigung in der Nachkriegszeit gebaut wurden. Ganz Pratobello Antico besteht aus solchen Häusern. Bei Gennaro um die Ecke haben die vor ein paar Jahren erneut versucht ein illegales Haus zu bauen, das haben die Bullen aber gemerkt und jetzt steht es halb fertig rum und die Junkies gehen da rein und fixen sich. Wir gehen aber auch ab und zu hin um zu kiffen’ (lacht). Arturo wohnt im dritten Stockwerk. Er öffnet die Tür und lässt uns alle drei hinein. Die Wohnung wirkt groß, sauber und ordentlich. Während Gennaro mit Arturo in ein Zimmer geht, erzählt mir Patrizio,
7.3 Die Komplexität des Hustlings
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dass Arturo seinen Vater verloren habe. Er wohnte früher in Patrizios Block. Nachdem er aber einen sicheren Job erhielt, investierte er das Geld in diese Wohnung und wohnt seitdem mit seiner Schwester und Mutter darin. Gennaro guckt sich gleich drei Aquarien an. Eines steht im Wohnzimmer, das andere im Schlafzimmer von Arturo und das dritte auf dem Balkon. Gennaro: ‚Ach hier ist übrigens das Säuberungsmittel.’ Arturo: ‚Wie viel macht es?’ Gennaro: ‚3 Euro.’ Arturo gibt Gennaro 3 Euro. Gennaro entscheidet sich für das größte Aquarium auf dem Balkon. Er zündet sich eine Zigarette an, während Arturo ihm ein kleines Ikearegal zeigt. Arturo: ‚Wenn du willst kannst du es auch haben.’ Gennaro: ‚Hm, das könnte ich auch gebrauchen. Das nehme ich auch mit.’ Patrizio: ‚Alter, wie soll das alles ins Auto passen?’ Gennaro: ‚Wir machen einfach die Hintersitze platt und du kannst hinten das Zeug mit der Hand halten, damit es nicht verrutscht.’ Patrizio: ‚Das war mal wieder klar.’ Gennaro zu Arturo: ‚Hast du zufällig auch ein wenig Aquariumerde?’ Arturo geht ohne zu sprechen in die Wohnung und kommt wenig später mit einem großem Sack Tiererde zurück: ‚Hier Gennaro, das kannste auch gleich mitnehmen.’ Gennaro: ‚Du bist großartiiiiig!’ Auf dem Balkon sind viele weitere Gegenstände, die Gennaro mehrere Minuten lang betrachtet: ‚Du hast ja hier ne richtige Werkstatt. Damit kann man so einiges machen.’ Arturo: ‚Ich kann dir auch diesen Plasmafernseher für nur 300 € verkaufen. Der hat früher 500 € gekostet.’ Gennaro geht in das Schlafzimmer von Arturo und guckt sich den Plasmafernseher an. ‚Ich nehme es nur mit, wenn du mir das Teil schenkst. Wer garantiert mir, dass der noch funktioniert.’ Arturo: ‚Ich zeig es dir.’ Gennaro: ‚Ne ne lass mal lieber. Ich nehme die Teile hier mit. Das reicht erst einmal. Danke dir!’ Gennaro und ich tragen das schwere Aquarium die Treppen hinunter zum Auto. Patrizio nimmt das Regal. Während Patrizio und ich die Geräte in das Auto verstauen, geht Gennaro die Erde holen. Patrizio zu mir: ‚Der Gennaro ist echt ein schlauer Fuchs. Der wird das Aquarium im Internet verkaufen. Der macht Business mit allem. Der hat sogar Arturo verarscht und hat ihm statt 2, 3 Euro für das Mittel abgezockt. Er hat dadurch 1 € Gewinn gemacht. Mit jeder Kleinigkeit versucht er dich über den Tisch zu ziehen. Und Arturo ist eigentlich voll der nette Mensch. Der hat ihm ja das alles einfach geschenkt. Andererseits ist Gennaro auch großzügig mit dem Haschisch. Der hat mir und Fausto gestern für nur 35 Euro 5 Gramm gegeben’“ (TB_Filosofi, 2014: Z. 589-644).
In diesem Abschnitt werden die Komplexität und die in den vorherigen Kapiteln genannten Grauzonen des Hustlings deutlich. Im Folgenden werden zum einen die Netzwerke und die Mobilität sowie die Spontaneität und die Gelegenheiten des Hustlings näher betrachtet. Gennaro erhält in dieser Passage des Beobachtungsprotokolls Informationen zu Businessgelegenheiten über einen Freund. An dieser Stelle spielt ein Telefonat eine große Rolle. Dieses Telefonat führt ihm zu einer potentiellen Geschäftsgelegenheit, die er jedoch noch nicht einordnen kann – zumindest vermittelt er es dem Beobachter so. Einige Ideen hat er bereits schon und teilt sie mit Letzterem. Diese Ideen sind letztlich die Elemente, die Gennaro dazu motivieren, die Gelegenheit zu nutzen. Somit braucht er für seine Hustles ein Netzwerk an Menschen, die ihn anrufen bzw. die er selbst anruft, um Informationen auszutauschen und abzuwägen, ob sich eine Businessgelegenheit
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7 Hustling
ergeben könnte. Dies findet jedoch nicht regelmäßig und nach einem bestimmten Muster statt (vgl. hierzu das gesamte Beobachtungsprotokoll TB_Filosofi, 2014). Es sind eher Zufälligkeiten auf die Gennaro u.a. angewiesen ist. Er weiß in diesen Fällen vorher nicht genau ob und was sich für ein Business ergeben könnte, sondern geht eher mit vagen Ideen an die sich bietenden Gelegenheiten heran. Vielleicht motiviert durch die aktuelle Präsenz von Freunden, entschließt er sich, es einfach auszuprobieren – wie es bspw. mit dem Aquarium der Fall ist. Hier nutzte er sowohl die Gelegenheit der Präsenz von Freunden als auch die Gelegenheit einer vagen Verkaufsidee. Dabei lässt er sich auch Zeit für eventuelle weitere Businessgelegenheiten, die sich im Verlauf der Gespräche mit seinen Freunden und dem Herumwandern in der Wohnung ergeben. Eine vorher geplante Struktur innerhalb und zwischen den jeweiligen Handlungen scheint jedoch nicht zu existieren. Sicher ist, dass neben den bereits laufenden Hustles gleichzeitig an weiteren ‚Projekten’ gearbeitet wird. Durch die Beschäftigung mit der Internetseite wird deutlich, dass Gennaro mehrere ‚Geldquellen’ gleichzeitig hat, die zwischen Schwarzarbeit, Illegalität und Legalität ‚pendeln’. Es wird dadurch auch ersichtlich, dass es sich um fragmentarische Arbeit handelt: Gennaro arbeitet für einige Minuten an einer Sachen und für weitere Minuten an einer weiteren Angelegenheit. An diese potentielle Gelegenheiten schließen sich nämlich gleichzeitig weitere an wie z.B. die des Kaufs der Säuberungsmittel im Bauladen. Sehr deutlich wird es in der Passage, wie er bei jedem Zufall und bei jeder Gelegenheit anders reagiert, spricht und handelt. Im Bauladen ’stellt sich’ Gennaro gegenüber dem Verkäufer absichtlich ‚dumm’, um ihn über das kleine ‚Wortgefecht’ bezüglich der Einkaufstüten abzulenken und den Preis des Säuberungsmittel währenddessen – wohl in einem Nebensatz – selbst zu nennen, ohne dem Verkäufer die Zeit zu lassen, selbst nach dem Preis zu schauen. Hier agiert Gennaro schnell, intuitiv und improvisierend. Etwas wortkarger und reflektierter geht Gennaro jedoch bei seinem Freund Arturo vor, wo er erst einmal die Lage in seiner Wohnung ‚abcheckt’, sich die Gegenstände genau anguckt und sich von Arturo ‚beraten’ lässt, welche Gegenstände für ihn eventuell noch nützlich sein könnten. In diesem Fall lässt sich Gennaro Zeit zum reflektieren und schmiedet wohl an dieser Stelle an seinem kleinen Businessprojekt, das Projekt ‚Aquarium’. Auch hier trickst Gennaro selbst seinen eigenen Freund aus, indem er ihm den eigentlichen Preis des Säuberungsmittels nennt, obwohl er weniger dafür im Laden gezahlt hat. Da es sich um eine sehr kleine Summe handelt, die er ‚einsackt’, wird klar, wie automatisch Gennaro hustlet. Teilweise wird der Eindruck gewonnen, dass er gar nicht (mehr) bemerkt, dass er seinen Gegenüber ‚ein wenig’ betrügt. Bei Gennaro handelt es sich mittlerweile um habitualisierte Handlungen, die zu seinem Alltag gehören. Er trickst auf eine Weise, die keine Aggressivität und Gewalt beinhaltet. Das Gegenüber bemerkt die Hochstaplerei von daher auch nicht. Der ‚Motor’ für Gennaros Hand-
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lungen sind die Zufälle und Gelegenheiten, die nicht nach einem bestimmten Muster ablaufen. Vielmehr handelt es sich um ein ‚Herumwandern’ und ‚Sich-TreibenLassen’ das ihm eine Alltagsstruktur zu bieten scheint. Es wird nämlich über den oben zitierten Ausschnitt deutlich, dass Hustler nicht nur Gelegenheiten und Zufälle nutzen, um schnell und intuitiv zu tricksen, sondern auch, um kleine oder große Projekte zu planen und durchzuführen, die für einen etwas längeren Zeitraum Geld einbringen könnten. Dies wird bereits in anderen Studien beschrieben: „Most underground exchanges are short-term efforts to make a buck, but they can nevertheless follow strict patterns. Individuals know where to meet one another to trade off the books; there are usually particular places where this trading occurs and particular people who are known to be involved. People will have a rough idea of prices or rates of barter and trade before initiating the exchange” (Venkatesh 2006: 9).
Somit hat Gennaro zwar (anscheinend) erst einmal eine vage Idee für ein mögliches Aquariumsprojekt, aber während seines Denkprozesses agiert er wiederum schnell und fragt nach Erde und weiteren Materialien. Wie bei einer Projektarbeit ist Gennaro zudem auf verschiedene Kooperator*innen angewiesen, die ihn mit den nötigen Informationen, Materialien, Logistik und ‚Personal’ versorgen. Er koordiniert die Vorbereitungen und die Durchführung. Von daher lässt sich vorerst festhalten, dass Gennaro für seine Projekte je nach Situation und Gelegenheit Unterstützung von jemandem braucht, der gerade (zufällig) präsent ist. Das können Freund*innen, Bekannte oder Businesspartner*innen sein. Zudem ist eine Gegenleistung in den meisten Fällen nötig, um businessrelevante Materialien zu erhalten bzw. um das Geschäft an sich durchführen zu können. „remarkably, hustlers are not at the mercy of these stakeholders. In the tight web of the underground economy, there is a structure of codependence in which information, goods, and services pass between the two” (Venkatesh 2006: 168f.). Außerdem muss ein Hustler Situationen, Emotionen, Intuitionen und Gelegenheiten (manchmal auch innerhalb von sehr kurzer Zeit) abwägen und dementsprechend (re)agieren können. Dies zwingt ihn auf mentaler und physischer Ebene mobil und flexibel zu sein. Gennaro ist somit in ständiger Bewegung zwischen den Grenzen des informellen und formellen Business’ und den damit immer wieder verbundenen kleinen Tricksereien, aber auch Sympathien und Großzügigkeiten, die sein Freund Patrizio beschreibt. Somit kauft er bspw. innerhalb eines formellen Settings in einem Geschäft Säuberungsmittel für seinen informellen Deal mit Arturo, womit er sowohl den Verkäufer des Ladens als auch Arturo selbst ‚über den Tisch zieht’. Er hustlet dadurch in beiden Settings und erreicht finanzielles Plus.
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In der deutschen Hustler- und Drogenszene würde Gennaro diesbezüglich als ein ‚Plusmacher’ bezeichnet werden. Dieser Ausschnitt aus Gennaros Alltag gibt einerseits einen kleinen Einblick in den Tagesablauf eines Hustlers, weist jedoch andererseits darauf hin, dass es keinen typischen Hustlertag gibt. Hierzu soll im folgenden Kapitel der Alltag beider Hustler aus Pratobello untersucht werden, um der Komplexität der Praxis noch differenzierter nachzugehen. Bei Peppino und Gennaro zeigt sich die Komplexität des Hustlings bezüglich der Grenz- und Grauzonenbewegungen sowie der vielen verschiedenen und unregelmäßigen Bewegungs- und Handlungsabläufe im Alltag.
7.3.1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Hustling als Arbeit DG Pep
„(6) Was machst du so über den Tag? Äh:: nichts regelmäßiges (.) ich steh auf (.) da::nn nehm ich mach ich also die Rundgänge:: und Sachen die ich machen muss (.) und versu::che also:: so in den Tag hineinzuleben um etwas zu verdienen (.) ein paar Kröten (.) jeden Tag so (.) das Nötigste (3) ºum zu lebenº (3) äh:: äh tja äh (2) und dann verbringe ich des Öftere::n Zeit mi::t dem kleinen Mädchen meiner Schwester (.) die:: die/ seitdem sie klein ist kümmere ich mich kurzum o::ft um sie/ o::ft ich (.) weils also viele Proble::me Sachen gegeben hat (.) äh:: und ja und dann in der Freizeit bi::n ich kurzum dort zuhause/ ich repariere Computer/ ich repariere iPhones und- diese Sachen u::nd mir gefällt es zu singen u::nd und Musik zu spielen (8)“ (EI_Peppino, 2015: Z. 1-15).
In den ersten Zeilen des narrativen Interviews mit Peppino entfaltet sich nach dem Erzählimpuls durch den Interviewleiter eine sehr allgemein und undurchsichtig gehaltene Beschreibung des Alltags von Peppino. Zudem weist er den Fragengehalt des Interviewers zurück. Die Aussage „Äh:: nichts regelmäßiges“ weist sofort auf einen Tagesablauf hin, der keinen festen Strukturen unterliegt und entfaltet im Verlauf der Passage propositionalen Gehalt. Im Italienischen bedeutet die Aussage nämlich sowohl, dass es keinen geregelten Ablauf gibt, als auch, dass kein geregeltes und/oder legales Geld fließt. Das bedeutet also, dass Peppino keine regelmäßigen Einnahmen hat und somit keiner geregelten Arbeit nachgeht. Das Aufstehen ist die erste Handlung, die von Peppino beschrieben wird, wobei nicht klar wird, ob es feste Uhrzeiten gibt bzw. das Aufstehen morgens oder später stattfindet. Viel mehr orientiert sich Peppino direkt nach außen, wo er Rundgänge und Sachen erledigen muss – welche genau es sind wird an dieser Stelle nicht weiter erwähnt. Klar wird nur, dass es sich aus seiner Sicht um Pflichten handelt, die
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233
beim Gehen oder Fahren durchführbar sind und womöglich immer wieder zu Geldeinnahmen führen. Es geht in diesem Fall um täglich stattfindende und von Peppino erwartete, aber dem Zufall überlassene Handlungen, die seinem Alltag trotz allem Struktur auf einer allgemeineren und abstrakteren Ebene geben: „jeden Tag so“ (EI_Peppino, 2015: Z. 6). Einerseits scheint es eher eine erratische Suchbewegung von Peppino zu sein, die von seinem Versuch „in den Tag hineinzuleben“ (EI_Peppino, 2015: Z. 4f.) abhängig ist. Jeder Tag scheint für Peppino eine (finanzielle) Ungewissheit darzustellen, die ihn dazu zwingt das nötige Geld aufzutreiben, um leben zu können. Peppino konkludiert seine Alltagsbeschreibung mit „das Nötigste (3) ºum zu lebenº“. Somit ist Peppino darauf vorbereitet, dass etwas auf ihn jeden Tag zukommt und er es jeden Tag auf sich zukommen lässt. Andererseits ist auch im Aufstehen, Losgehen und nach „ein paar Kröten“ (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 6) suchen zu gehen eine Konstante da, die die oben erwähnte Alltagsstruktur vorgibt. Bei Gennaro variiert der Tagesablauf noch stärker und unterliegt einer kontinuierlichen Suche nach Gelegenheit und Interessen. Besonders fällt in der Eingangspassage seine Orientierung an Neuem auf, die sich in den Enaktierungspotentialen des „Herumspazierens“ und Lernens entladen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 [...] 16 [...] 18 19 20 [...] 23 24 25 26 27 28
DG Ge
„Also beginnen wir äh was machst du:: äh den Tag über? (2) Na ja hm in den letzten Wochen //zündet sich einen Joint an// äh nähere ich mich neuen Techniken um meine Basiskenntnisse zu verbessern/ genau/ von daher bemüh ich mich immer über Informatik zu lernen und über Sounddesign aber auch über die Wissenschaft des Gehirns Hypnose und ich interessiere mich auch sehr für ä=hm sagen wir Wiedererkennungstechniken äh sagen wir (.) über das Bild und den Menschen/ also wie der Mensch äh Informationen einkapselt und im selben Moment diese verbreitet [...] zur Zeit bin ich dabei zwei Webseiten voranzubringen [...] zwei Internetseiten die ich von Null auf aufgebaut habe ähm die mir gute Vorsätze geben auch um kleine Sachen zu lernen die mir fehlten [...] ich treib manchmal Sport/ ich mag es Sport zu treiben/ ich renn renn mit dem Hund/ ich geh in die Parkanlagen/ sehe schöne Menschen/ mache Fotos und ich mach oft Kunst/ ich habe Ölfarben gekauft/ Wachsfarben u::nd Leimfarbe mh Pinsel und ich bemühe mich ein wenig das zu machen/ ich hab in den letzten Tagen in den
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7 Hustling
29 30 31 32 33 34 35 36 [...] 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
letzten zwei Wochen nen Freund von mir geholfen der seinen Uniabschluss gemacht hat und er hat sein Studium an der Kunstakademie Gott sei Dank mit sehr guten Noten abgeschlossen/ von daher hab ich ihn währenddessen begleitet/ wir sind dann oft manchmal früh morgens aufgestanden um sechs u- um wichtige Sachen zu machen um zur Akademie zu gelangen um kurzum mh den Studienabschluss zu verteidigen [...] (5) wie alle Menschen ruhe ich auch ab und zu auch abe::r (.) wenn ich es mache mach ich es immer auf intelligente Weise weil ich vielleicht wichtige Aufgaben in den in den Videospielen durchführe die ich nicht unwichtig für den Alltag finde/ ich sehe es kurzum wie ein=Ereignis der Regenerierung/ von daher ab und zu wenn man mal nicht für für den Sport für äh den Spaß rennt sitzt man dagegen zuhause vor dem PC oder vor dem Fernseher (.) es ist immer schön etwas tagsüber zu machen/ der Familie behilflich zu sein/ mich mit ihnen auszutauschen für sie zu kochen mh m=mir gefällts; (.) natürlich gi::bts auch den Moment des Zeitvertreibs wie freitags oder samstags wo man sich mit den Freunden trifft/ man tauscht sich ein paar Informationen aus/ man findet Neuigkeiten/ ich lese dann auch oft Zeitschriften über das Mysterium. (.) von daher interessiere ich mich kurzum immer nicht nur aber oft für historische Charaktere und zeitgenössische Lyriker innerhalb der italienischen Grenzen und mehr noch außerhalb o::der einfach für Vermutungen wie man über ein über eiantike Geschichten sprechen kann die von Mysterien eingehüllt sind die sich dann wieder der Realität stellen [...]“ (EI_Gennaro, 2014: Z. 1-63).
Die Aussage „ich nähere mich neuen Techniken um meine Basiskenntnisse zu verbessern“ entfaltet nach dem Erzählimpuls durch den Interviewleiter und während der beschreibenden Elaboration von Gennaro propositionalen Gehalt. Gennaro konstruiert seinen Alltag in Gänze als einen Lernprozess. Unabhängig davon welchen Praktiken und Handlungen er nachgeht, beschreibt sich Gennaro als interessiert sich weiterzubilden und neue Dinge zu lernen. So können dies neue Techniken im Bereich der Informatik und Musikproduktion sein sowie im Bereich der Neurowissenschaften und Biologie. Er sei daran interessiert zu verstehen, wie Menschen lernen bzw. wie er selbst fähig ist zu lernen. Selbst den Aufbau und die Pflege einer Internetseite reflektiert Gennaro im Modus der Beschreibung als einen Lernprozess, den er absolviert, wenn er am Computer sitzt und daran ‚rum-
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bastelt’. Im Verlauf der Eingangspassage beschreibt Gennaro viele weitere Aktivitäten, die nicht regelmäßig bzw. ohne bestimmten Plan und teilweise scheinbar auch gleichzeitig stattfinden. Gemeinsam ist diesen Darstellungen, dass Gennaro sie als Experimente und Lernprozesse schildert, denen er mit Neugier und Interesse begegnet. In dieser Darstellung dokumentiert sich ein Orientierungsgehalt der Suche nach Neuem und der persönlichen Entwicklung. Gennaro stellt sich durch immer wieder expliziten Aussagen wie „von daher bemüh ich mich [...] zu lernen“, „ich interessiere mich auch sehr für [...]“, „[...] um kleine Sachen zu lernen“, „man tauscht sich Informationen aus“ oder „ich lese dann auch oft Zeitschriften“ als Lernenden dar. Gleichzeitig beschreibt er immer wieder mit kurzen Detaileinwürfen seine (bisherigen) Kenntnisse zu den jeweiligen Interessensgebieten und Praktiken. Dadurch führt er das Gegenüber in seinen aktuellen Lernprozess ein, indem er gleichzeitig auch als Vermittler seines erlernten/angeeigneten Wissens fungiert. Durch seine Informationsweitergabe stellt er sich als Lerner und ‚Dozent’ gleichzeitig dar. Auffällig ist dabei auch, dass die einzelnen Aktivitäten in keinem direkten Zusammenhang zueinander stehen. Ihre Aneinanderreihung folgt vielmehr Gennaros Erfahrungen und unterliegt lebenspraktisch vielen Zufällen und situativen Gegebenheiten. Dies zeigt sich vor allem durch die Art und Weise des Sprechens: z.B. durch Wiederholungen und unsystematische Abfolgen. Dieser Kontingenz der Lernanlässe, der Gelegenheitsstrukturen des Lernens, die sich Gennaro bieten, steht die Form seiner Darstellung entgegen, in der die einzelnen Lernanlässe in einen Zusammenhang gestellt werden und jeder einzelne mit Bedeutung aufgeladen wird. Dieser Modus des Beschreibens der Aktivitäten verbindet das Erlernen der Pflege von Webseiten, das Unterstützen des Freundes beim Studienabschluss, das Computerspielen als Entspannungszeit und die Lektüre von Magazinen. Auffällig sind darüber hinaus unterschiedliche Markierungen von Zeitlichkeit in der Darstellung, die auf den Mangel an Regelmäßigkeit hinweisen (in den letzten Wochen, in den letzten Tagen, manchmal, immer). Dass Gennaros Leben darüber hinaus keinem festen Tagesablauf folgt, zeigt auch die Betonung des ‚Früh Aufstehens’ bei der Unterstützung des Freundes. Zudem identifiziert er sich mit und platziert sich in diesem akademischen Lern- und Vorbereitungsprozess. Somit dokumentiert sich erst einmal ein Alltag des kontinuierlichen Arbeitens, Experimentierens, Lernens und Ausprobierens. Das Ausruhen ist für Gennaro wichtig, muss jedoch einen Sinn haben. Zum Beispiel sieht er das Videospielen und Fernsehschauen als Regenerierung und schildert sie gleichzeitig als Weiterbildung und Informationsgewinnung. Fast scheint es, als müsse er sich dafür rechtfertigen, Ruhepausen zu machen. Gennaro teilt sich die vielen von ihm erwähnten Aktivitäten in kleine Portionen auf und verteilt sie über die Wochen, so wie sie ihm am besten passen. Er baut sich seine Alltags- und Wochenstruktur autonom und unabhängig von den Bedürfnissen anderer auf. Diese Struktur folgt
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7 Hustling
seinen Hustlingpraktiken und somit Gelegenheiten und Zufällen. So lässt er sich für den Zeitvertreib mit seinen Freunden das Wochenende frei. Es wird an dieser Stelle deutlich, wie unmittelbar Praktiken des Hustling mit solchen des Lernens verbunden sind und umgekehrt. Das sich Einlassen auf Geschäfte entlang von Gelegenheiten erfordert Wissen und Kompetenzen, die kurzfristig zu erwerben sind; andererseits schafft dies auch neue Gelegenheiten und ist dadurch als Kreislauf zu sehen. Auch in diesem Fall werden Informationen und Neuigkeiten ausgetauscht, die dann Gennaro über seine Beschreibung bezüglich seiner Informationsgewinnung elaboriert. Somit führt Gennaro in der Peergruppe mehr oder weniger dieselben lernorientierten Handlungen fort, die seine Arbeitspraxis als Hustler kennzeichnet. So können die Treffen in der Peergruppe auch als Präsentationsplattform verstanden werden, in der erlernte Fähigkeiten und angeeignetes Wissen den anderen vorgestellt werden. Gennaro scheint sich durch den Austausch mit seinen Freunden angetrieben zu fühlen sich über die Wochen zu bemühen seine Fähigkeiten, Kompetenzen und Informationen zu verfeinern. Auch wenn bei Peppino der Alltag nicht stark variiert wie bei Gennaro, dokumentiert sich auch in seinen Darstellungen eine ähnliche Grundstruktur. 21 22 23 24 25 26 27 [...] 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
DG Pep
„(9) also was machst du so den Tag über? Also während des Tages/ jeden Tag wache ich auf u::nd ich versuche so viel Geld wie möglich zusammenzukriegen weil ich sowieso also alle Tage muss ich Einkäufe erledigen/ ich muss dies und das kaufen/ weil ich essen muss (.) du weißt meine Familie ist ein wenig geschädigt (.) [...] äh:: und ja von daher mach ich alles mögliche (.) was weiß ich/ wenns dazu kommt ne Arbeit zu:: zu machen/ zu zu dealen zu:: was weiß ich auch einen Computer und iPhone zu reparieren/ ich krieg auch das hin (.) und um ein paar Kröten zusammenzukratzen bin ich bereit ein bisschen alles zu machen (.) also natürlich nicht jemanden umbringen ode::r einer Frau die Handtasche zu entreiße::n (.) sowas niemals (.) einer älteren Dame/ abe::r (.) aber wenn du also Geld brauchst brauchst du Geld/ da kannste nichts machen (.)“ (EI_Peppino, 2015: Z. 21-52).
Peppino beginnt erneut seine Alltagsbeschreibung mit dem täglichen Aufstehen und dem täglichen Versuch, Geld zu verdienen. Es entfaltet sich dadurch ein propositionaler Gehalt, der im Verlauf der Passage ausgearbeitet wird, jedoch immer wieder von Hintergrundkonstruktionen im Modus der Erzählung bzgl. seines Familienhintergrundes, durch Zwischenkonklusionen und Anschlusspropositionen unterbrochen wird.
7.3 Die Komplexität des Hustlings
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Auffällig ist erst einmal, dass Peppino das Aufwachen als eine Handlung beschreibt, die während des Tages passiert und nicht zu einer präzisen Uhrzeit oder in einem bestimmten Zeitraum des Tages. Analog zu Gennaro ist dies ein Hinweis darauf, dass Peppino keiner Arbeit nachgeht, die ihn zu einem festen Stundenplan zwingt bzw. bei der er zu einer festen Uhrzeit von einem*einer Chef*in oder von Kolleg*innen erwartet wird. Peppino kann über das Aufwachen selbst bestimmen bzw. überlässt es seinem biologischen Rhythmus. Nach dem Aufstehen beginnen für Peppino dann tägliche, als Zwang dargestellte Handlungen wie das Erledigen von Lebensmitteleinkäufen, die einer weiteren unvermeidbaren Handlung dienen: dem Essen. Der Akt des Essens selbst wird jedoch im Tagesablauf nicht erwähnt. Gennaro bspw. geht dagegen – wie im Kapitel zu seiner Biographie schon verdeutlicht – sehr intensiv auf das Thema Essen ein und unterstreicht damit eine weitere Kompetenz von ihm (vgl. EI_Gennaro: Z. 862f.). Durch die darauffolgende Bewertung seiner familiären Situation in den Zeilen 26 – 27 wird deutlich, dass sich Peppino in einer prekären und von Armut geprägten Lage befindet. Er wird also bezüglich der Beschaffung von Geld durch seine prekäre Lebenslage angetrieben. Die Geldbeschaffung wird von Peppino als eine lebensnotwendige Handlung beschrieben. Diese Lage begründet er mit den familiären Umständen, die er selbst als „geschädigt“ sieht. Mit der Transposition „äh:: und von daher mach ich alles mögliche“ (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 42) beginnt Peppino zum ersten Mal Einblicke in einige seiner Geldbeschaffungspraktiken zu geben: der Drogenverkauf und die iPhone- und Computerreparaturen. Beide Handlungen sind entweder illegal oder sind wohl als unregelmäßige (Schwarz)Arbeit einzustufen. Peppino beschreibt seine Bereitschaft für Geld alles zu machen, zeigt jedoch ebenfalls im Modus der Argumentation Grenzen auf: Mord und Handtaschenraub an Frauen kommen für ihn nicht infrage, aber für Geld müssen wohl – so konkludiert Peppino – einige Methoden angewandt werden, die nicht im Rahmen der Legalität lägen. Er reflektiert die rechtliche Situation seiner Praktiken und Tätigkeiten durch den negativen Gegenhorizont des Schädigens. Implizit wird dadurch deutlich, dass sich Peppino vor allem illegalen/kriminellen Tätigkeiten zu widmen scheint. Die Bereitschaft alles für Geld zu tun scheint unter Hustlern in sozial marginalisierten und von Armut betroffenen Stadtteilen nicht unüblich zu sein (vgl. Wacquant 1998: 3): „like I said: tha’ wha’s all abou’ is dollars. They do anythin’ to get tha’ dollar man, anythin’“ (Wacquant 1998: 19). Dieselbe Bereitschaft dokumentiert sich auch bei Gennaro: 307 308 309 310 311
DG Ge
„Arbeitest du momentan? Momenta::n sagen wi::r ich arbeite fa- fast (2) sagen wi::r (2) n-nein in Wirklichkeit tats- tatsächlich arbeite ich für den Staat nicht/ ich bemühe mich ab und zu wenn ich kann etwas zu verdienen von von über die
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312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328
Internetseiten/ etwas von von meinen Werken zu verdienen/ wenn wenn ich herumspaziere kommt es vor dass ich ab und zu nützlich bin/ von daher ein kleines Gehalt zu bekommen .zum Beispiel äh:: zum Beispiel auch als es mit Andrea Caputo5 zustande gekommen ist (2) dasselbe dasselbe auf andere Art und Weise aber aber auch auch //zündet Joint wieder an// in der Familie/ äh äh sagen wir wie auch immer schaffe ich es teilweise was zu verdienen/ genau/ das Glück zu haben einen Garten zu haben bedeutet Ausgaben zu haben/ vielleicht äh mich äh=ll also auszunutzen um den Garten zu säubern und vielleicht ein kleines Honorar zu bekommen könnte eine Arbeit sein und=nn aber ich wiederhole es is ein Vollzeitjob Gegenstände auf ebay zu verkaufen/ es bringt dir hundert Euro im Monat ein aber die hundert Euro pro Monat zahlst du vielleicht zur Hälfte nur für die Telefonkosten ne? Und von daher (3)“ (EI_Gennaro, 2014: Z. 307-328).
Auf die Frage nach seiner aktuellen Arbeit, wirft Gennaro eine Proposition auf, die implizit ziemlich klar auf seine Hustlingaktivität hinweist. Dabei sind zwei Aussagen von ihm besonders prägnant: die explizite, aber zunächst zögerliche Äußerung „nicht für den Staat zu arbeiten“ sowie die Information sich darum „zu bemühen ab und zu etwas zu verdienen“, wenn sich die Gelegenheit bietet. Die anschließende Elaboration im Modus einer aufzählenden Beschreibung zeigt die Vielfalt an Arbeitsfeldern. Außerdem verweist er auf eine gelegentliche und auf Zufällen basierende Tätigkeit, die darauf hinweist, dass er sie nur durchführt, wenn dabei Geld herausspringt – also für ihn ein Zweck bzw. Sinn dahinter zu erkennen ist. Viel unkonkreter, aber dafür gezielter ist das „herumspazieren“. Gennaro geht durch das Herumspazieren ähnlich wie Peppino mit seinen „Runden“ gezielt auf die Suche nach Gelegenheiten. Implizit deutet seine Aussage bezüglich seiner Spaziergänge auch auf seine Bereitschaft hin, sich neu zu erfinden und auszuprobieren: „zum Beispiel auch als es mit Andrea Caputo zustande gekommen ist“. Hinter dem Zufall steckt ein Sinn und den sucht Gennaro gezielt, auch wenn das Herumspazieren zunächst auf Ziellosigkeit hinweist. Diese Ziellosigkeit bewegt ihn aber genau zu den Zufällen, die er erreichen möchte. Gleichzeitig führt ganz gezieltes Spazierengehen auch zu schon vorhersehbarer, geplanter Gelegenheiten – wie oben schon mit der ‚Projektarbeit’ angedeutet. Gennaros Elaboration im Modus der Beschreibung veranschaulicht jedoch allgemein seinen ‚springenden Alltag’.
5
Leiter des Theaters von Pratobello.
7.3 Die Komplexität des Hustlings
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Zusammengefasst haben seine Spaziergänge den Zweck, sich innerhalb und außerhalb seines Netzwerkes bemerkbar zu machen, sich umzuhören und gleichzeitig sich sehen zu lassen. Wacquant bezeichnet die Mobilität als das A und O eines Hustlers (ebd.: 10). Es handelt sich zusammen mit den anderen Strategien und Methoden um eine regelrechte ‚soziale Kunst’: „Maneuverings in the street [...] [are] what we may call the ‚social art’ of negotiating one’s way through the social space of the ghetto“ (ebd.: 11). Bezogen auf seine Familie positioniert sich Gennaro ambivalent. Auf der einen Seite verdient er über Tätigkeiten im familiären Garten etwas Geld, andererseits fasst er diese Beziehung als „ausnutzen“ auf und entwirft sie damit als negativen Gegenhorizont zu fair bezahlter Arbeit. Gennaro dagegen verdient vielmehr über den Verkauf von Gegenständen auf eBay und seine Konklusion weist daraufhin, dass trotz der vielen kleinen Beschäftigungen ein „Fulltimejob“ vorhanden ist, der ihm auch 100 Euro im Monat einbringt. „you have got to live and to take care of your own. And thus, owing to the chronically insufficient level of income received from work or from social assistance, nearly all residents of the ghetto must, a tone point or another, rely on some kind of hustle to get by“ (Wacquant 1998: 4).
Zusammenfassend kann hier von einer Zufalls- und Gelegenheitsstruktur und -konstante bei beiden Akteuren gesprochen werden, in der reguläre, bezahlte Arbeit einen meist impliziten, nicht näher bestimmten Gegenhorizont bildet. Es gibt eine Alltagsstruktur, die durch Zufälle und Gelegenheiten vorgegeben ist: durch die Rundgänge werden die Zufälle gesucht oder aber auch gezielt ‚Projekte’ und Businessvorhaben durchgeführt. Beide Tagesabläufe sind vor allem von Arbeit geprägt und zwar in Form einer Suche nach Gelegenheiten, Geld zu verdienen. Gennaro hält zusätzlich immer seine Augen und Ohren auch für Lern- und Wissensgelegenheiten offen. Das Business steht nicht immer explizit im Vordergrund, aber es wird eine gewisse Hustler-Attitüde deutlich: Gennaro nutzt jede Gelegenheit, um sich selbst darstellen und performen zu können. Er teilt gerne sein Wissen mit anderen und zeigt sich anderen gegenüber auch als Intellektuellen. Dafür nutzt er gezielt seine Sprachgewandtheit (hierzu mehr unter Kapitel 7.4), die zu einer sehr wichtigen Kompetenz des Hustlers gehört. Gennaro und Peppino orientieren sich beide an Notwendigkeiten, von denen sie sich treiben lassen. Dieses Getriebensein führt zu ihren vielen Pflichthandlungen und Pflichtrundgängen. Beide Hustler weisen die Aktualisierung eines Orientierungsschemas der beruflichen Integration durch die Frage des Interviewers nach dem Tun (=Arbeit) zurück, indem sie sich a) als arbeitend im Sinne von Lebensunterhalt sichernd und b) als bedeutsame Dinge tuend im Sinne des Lernens konstruieren. Damit setzen sie sich mit ihrer Praxis des Hustlings auch in ein Verhältnis zur gesellschaftlichen Marginalisierung. Sie möchten nicht als exkludiert und
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7 Hustling
arbeitslos ‚abgestempelt’ werden, denn schließlich arbeiten sie, nur wird diese Arbeit formell nicht (an)erkannt. Ihre Positionierung unterscheidet sich daher kaum von der allgemein um Integration und Anerkennung kämpfenden Gesellschaft bezüglich der biographischen Bedeutung von (formeller) Arbeit in Zeiten von Prekarität: „Trotz geschwächter Integrationspotenziale der Arbeitsgesellschaft und der daraus resultierenden massiven Verunsicherung, die sich in Statusängsten und Abstiegssorgen manifestiert [...], wird dadurch die Bedeutung der Erwerbsarbeit als Ort sozialer Integration und Identitätsstiftung keineswegs gemindert: Wo Zugehörigkeiten erkämpft werden müssen, Arbeit ein ‚knappes Gut’ wird und soziale Exklusion nicht länger die Ausnahme, sondern eine allgegenwärtige Bedrohung darstellt, gewinnt die Erwerbsarbeit an Relevanz für die individuelle Selbstverortung. [...] Mit dem Bedeutungsgewinn von Arbeit für die Verortung der Individuen verändert sich zugleich das vormalig durch die Trennung von Arbeit und Leben charakterisierte Verhältnis von Arbeit und Subjektivität in Richtung einer intensiveren wechselseitigen Durchdringung“ (Hardering 2011: 10).
Hustling tritt damit biographisch für die untersuchten Akteure an die Stelle der (regulierten) Erwerbsarbeit. „Begleitet von einer Ökonomisierung, die alle Lebensbereiche umfasst, ist die Arbeitskultur im 20. Jahrhundert geprägt von einer zunehmenden Subjektivierung über neue Steuerungsformen von Arbeit, in der das Individuum sich selbst organisiert“ (Freier 2013: 49): die Idee, ‚sein eigener Chef sein’ zu sein (Bröckling 2007: 66) und selbständig auf die „Jagd nach Ressourcen“ zu gehen, gehört schon seit Längerem zu den Wünschen der Menschheit (Rosa 2016: 17). Damit ist das Hustling erst einmal eine sehr moderne und vor allem scheinbar autonome Art der Arbeit. „Damit präsentiert und reproduziert das unternehmerische Selbst die subjektivierte Arbeitskultur. Das Individuum identifiziert sich mit dem Produkt seiner Erwerbstätigkeit und individualisiert die eigene Position auf dem Markt. Doch bedeutend ist nicht nur der Marktwert des Produktes, sondern auch die soziale Anerkennung, da das Arbeitsergebnis auch als Werkstück seiner selbst verstanden werden kann“ (Freier 2013: 54).
Unter Arbeit versteht die Soziologin Irene Dölling (Dölling 2013) vor allem aber Entwicklung und nicht Erwerbsarbeit. „Sie plädiert [...] daher nicht für eine Ausweitung des Arbeitsbegriffs und fordert demgemäß auch nicht die Anerkennung reproduktiver Tätigkeiten nach ökonomischen Maßstab“ (Borgi et al. 2013: 18). Somit arbeiten Gennaro und Peppino als Hustler, um Resonanz zu erfahren (vgl. hierzu Rosa 2016: 393ff.). Sie wollen spüren, dass etwas zu ihnen zurückkommt. Da sie von der Gesellschaft marginalisiert und vom Arbeitsmarkt vorwiegend exkludiert bzw. aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert bzw. stigmatisiert sind, kreieren sie ihre eigene Arbeit und kriegen hierfür ein Feedback. Schließlich
7.3 Die Komplexität des Hustlings
241
geben der Staat, die Berufswelt, die Wirtschaft und die Industrie den Bewohnenden von Pratobello keine Antworten. Gearbeitet wird nicht nur um Geld zu verdienen, sondern um Relationen aufzubauen, sich weiterzubilden, sich spielerisch weiterzuentwickeln sowie sich nützlich zu fühlen (vgl. hierzu Andolfi 2004: 201ff.). Arbeit ist auch Arbeit, wenn diese nicht in einem Beschäftigungsverhältnis durchgeführt wird, sondern im informellen Bereich (vgl. Grint 2005: 29). Oftmals ist dies für junge Männer wie Peppino und Gennaro profitabler, da keine Steuern gezahlt werden müssen und das Geld direkt wieder in neue ‚Projekte’ investieren bzw. Familienmitglieder dadurch unterstützen können. Zusammengefasst kann an dieser Stelle also gesagt werden, dass das Hustling als Arbeit definiert werden kann, nur dass sie informell und ‚unter dem Radar’ stattfindet.
7.3.2
Hustling zwischen Selbstbestimmung und Begrenzung
Peppino beschreibt durch regelmäßig eingebrachte Hintergrundkonstruktionen im Einzelinterview seine selbstbestimmte Arbeit als ehemaliger Drogendealer und Raubgangster sowie als aktueller Hustler. Aber welchen Strukturen unterliegt seine Praxis? Welche Bedingungen und Begrenzungen regulieren diese? Im Verlauf dieses Kapitels sollen diese Bedingungen aufgeworfen und untersucht werden. Dabei werden auch Peppinos und Gennaros Strategien und Methoden deutlich, die einerseits für ihre Autonomie und Selbstbestimmung, andererseits aber auch für ihre Barrieren und Einschränkungen sorg(t)en – und zwar in den verschiedenen Milieus und Lebenssituationen seit ihrer Jugend: im lokalen System der organisierten Kriminalität, in der Szene der Mikrokriminalität, in der Untergrundwirtschaft und in der Familie. 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93
Pep
„[...] also hab ich begonnen zu dea::len im großen Stil/ ein Kilo Haschisch ein Kilo Gras/ ein Kilo Haschisch ein Kilo Gras (.) bis ich geboomt bin und sie mich festgenommen haben/ sie haben mir Dreitausend Euro und ein Kilo Haschisch mit Sechzehn weggenommen (.) u::nd und als ich raus kam hatte ich auf einmal Fünftausend (.) und ich habe begonnen meine ersten Coups zu starten/ die ersten kleinen Raubüberfälle (.) die ersten Sa::che::n und von da an hat alles begonnen weil ich mich sowieso allmächtig fühlte/ ich hatte vor Niemandem Angst/ ich hatte zuhause die Pistole (.) ich hab auch immer den Carabinieri gesagt: ‚Ich schieß auf euch/ mir isses Scheißegal’ u::nd ich habs mir ein bisschen zu Kopf steigen lassen bis ich jedenfalls vier Jahre Knast bekommen habe und am Ende haben sie
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7 Hustling
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mich entlassen (.) zwei Monate später haben sie auf mich geschossen (.) von daher habe ich ge- hab ich sehr lange darauf gewartet frei zu kommen (.) aber eine Freiheit die ich mi::r mir jedenfalls vorgestellt hatte jedenfalls wie ich sie gelebt habe war falsch weil sie mich nach zwei Monaten ins Krankenhaus brachte und noch einmal anderthalb Jahre in den Knast“ (EI_Peppino, 2015: Z. 78-100).
Peppino erzählt in den oben zitierten 23 Zeilen stark zusammengefasst seine bisherige kriminelle Karriere und beschreibt dabei teilweise den Geld- und Drogenumsatz, den er dabei gemacht hat. Es dokumentiert sich eine sehr bewegte und vor allem (be)rauschende und schnelle Zeit im kriminellen Milieu aufgrund der vielen erlebten Ereignisse, die ihm dann auch „zu Kopf gestiegen“ sind. Das kontinuierliche Leben ziwschen Gefängnis und Stadtteil, der Aufstieg vom Drogendealer zum Räuber und der abrupte Abbruch seiner Karriere durch die Schießerei unterstreichen dies. Peppino war kein gelegentlicher Drogendealer, sondern tat dies im „großen Stil“. Trotz Verhaftung im Alter von sechzehn Jahren und anschließender Entlassung führt Peppino seine kriminelle Karriere noch steiler fort. Er lässt das Dealen sein und widmet sich Raubüberfällen, die ihm wohl ein größeres Macht- und Kontrollgefühl geben sowie auch viel schneller mehr Geld als das Dealen einbringen. Um das zu erreichen – betont Peppino in Zeile 89 – habe er eine Pistole und diese wird für ihn zu einem Objekt der Machtausübung. Sein Allmachtgefühl entsteht insbesondere durch sein im Modus der Beschreibung erzähltes hypermächtiges Auftreten und Handeln: „ich hatte vor niemandem Angst“ (EI_Peppino, 2015: Z. 88-89). Er sucht die Konfrontation mit der Militärpolizei und will sich sogar mit ihnen messen bzw. über sie stellen. In den vergangenen Jahren seiner kriminellen Tätigkeiten scheint Peppino über die Realität hinweg in seiner selbst erbauten Welt zu schweben und sich so autonom und selbstbestimmt zu fühlen, sowie Allmachtgedanken zu unterliegen. Peppinos Machtrausch wird auch durch das von ihm beschriebene völlig unerwartete und schockierende Ereignis der Schießerei ersichtlich, die ihn eine Zeit lang im jeglichen lähmten und auf den Boden der Tatsachen brachten. Er beschreibt an dieser Stelle diese Erfahrung als Auslöser eines Reflexionsprozesses (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 292-297), der dafür sorgte, dass er weitere Gefängnisaufenthalte oder lebensbedrohliche Gefahren vermied. 292 293 294 295 296 297
Pep
„[...] früher war ich ein Verrü- ein Irrer (.) als sie auf mich geschossen haben guck mal das war fast wie eine Rettung wei::l man immerhin nicht weiß wo ich geendet wäre (.) weil ich war wirklich ein Irrer (.) also ich schlug mich mit drei vier Kiddies/ da fuhr ich einmal mit dem Mofa vorbei (.) einer sagt so::/ früher war ich
7.3 Die Komplexität des Hustlings
298 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 332
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wirklich ein Verrückter (.) auch wenn ich seit der Geburt des kleinen Mädels meiner Schwester etwas besänftigt bin weil ich ja immerhin mit ihr Zeit verbringe und sie groß ziehe/ einmal fuhr ich mit meiner Freundin aufm Mofa vorbei/ also gut ich fahr in eine Straße und da stehen welche die mich grüßen und hupen/ na gut ich gehe/ ich fahr ne weitere Straße ab und da ist auch schon die dritte/ an der dritten schwör ich dir is mir noch nie so was passiert (.) da war so ne Clique u::nd mit zehn fünfzehn Jugendlichen (.) hör dir an was passiert ist (.) also dieser sagt so: ‚Ah siehste das ist mein Mofa/ mein Zähler’/ Das war ein Mofa mit dem ich gehustlet hatte mit dem ich fünf sechstausend Euro verdient hatte um einer Frau eine Finanzierung zu geben (.) also was hab ich gemacht (.) ich wa::r (.) immer noch siebzehn Jahre alt/ ich ging also in de::n in den Laden mit meiner Mutter um in Bar zu kaufen/ ich hab ne Versicherung abgeschlossen die sich dann als ihre herausstellte/ also was machte ich/ ich hatte wirklich so nen Wutanfall/ ich bin runter gestiegen mit dem Motor noch an/ meine Freundin war kurz davor runterzufallen/ Gott sei Dank konnte sie sich noch rechtzeitig mit den Füßen abstützen (.) ich hab den Helm ausgezogen und ich bin ihm entgegen gelaufen/ ich begann bamm bamm und sie fingen alle an umzufallen (.) die sind alle weg gerannt ne (.) fünfzehn Jugendliche und ich allein (.) aber äh ah ich hatte nen Wutanfall (.) und ich so: ‚Nun von wem ist der Zähler?’ ‚Nein nein Entschuldigung Entschuldigung’ und sie sind weggerannt/ die Clique war nicht mehr da (.) die sind sogar dann nach Jahren wieder zurückgekommen/ ah=andre Ereignisse (.) man kann sogar sagen gewisse Schießereien (.) gewisse Sachen (.) wir haben vierzig Jugendliche verscheucht wir haben so einige Schäden angerichtet“ (EI_Peppino, 2015: Z. 292-332).
Peppino beginnt diese Sequenz mit Selbstkritik und einer Bewertung seines eigenen Verhaltens in der Vergangenheit, obgleich er klarstellt, dass er sich Dank einer Schießerei – bei der er nicht ums Leben gekommen ist – und Dank der Geburt seiner Nichte positiv geändert hat. Zum einen hat ihn die Schießerei auf den Boden der Tatsachen gebracht und zum anderen hat er für seine Nichte eine Art Verantwortungsgefühl als stellvertretender Vater entwickelt. Somit werden gleich zwei einschneidende Erfahrungen von Peppino erzählt, die seinen bisherigen Lebensstil drastisch änderten. Seine Erzählstruktur ist diesbezüglich sehr unstrukturiert. Viele Gedanken und Geschichten sowie Beschreibungen vermischen sich mit
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7 Hustling
Erzählungen aus der Vergangenheit. Es ist nicht ein Erzählstrang und roter Faden erkennbar, sondern mehrere, die sich gegenseitig überlappen oder überschneiden. Auffallend ist über die Sequenz hinweg Peppinos Selbstdarstellung: er alleine gegen alle. Er stellt sich als Alleinherrscher und Einzelkämpfer dar, obwohl sich gleichzeitig auch implizit manifestiert, dass er einige der Gewaltaktionen nicht alleine durchgeführt hat: „wir haben vierzig Jugendliche verscheucht [...]“ (EI_Peppino, 2015: Z. 330). Näher auf seine Partner*innen geht Peppino aber nicht ein. Es wird aber deutlich, dass eine sehr männlich geprägte Sichtweise auf Frauen vorherrscht. Peppino stellt sich als Versorger, Vater, Aufpasser und Beschützer gegenüber Frauen dar und impliziert damit die ‚Schwäche’ der Frauen, wie dies in traditionell männlich geprägten Familien üblich ist. Dies spiegelt sich auch in seinem Gewaltverhalten wider. Gewalt spielt in der Erreichung von Respekt, Selbstbestimmung und wahrscheinlich auch territorialer Autonomie bei Peppino eine große Rolle. Die vokale Nachahmung der Schläge zum Beispiel, zeigen noch immer seine lebhafte Erinnerung und sein Hochgefühl sowie die Macht, die er damals hatte: „ich begann bamm bamm und sie fingen alle an umzufallen“ (EI_Peppino, 2015: Z. 321-322). Wut scheint dabei der Treibstoff für seine Taten zu sein: „ich hatte wirklich einen Wutanfall“ (EI_Peppino, 2015: Z. 324). Diese Wut ist auch während seiner Erzählung durch ein Zittern in seiner Stimme und schnell gesprochene Sätze bemerkbar, was auch darauf hinweisen könnte, dass Peppino auch als Hustler noch weiterhin Gewalt anwendet und deshalb noch sehr nah an dieser Realität ist. Peppino lässt es sich nämlich nicht gefallen, dass er ein „Arschloch“ genannt wird: „wir haben vierzig Jugendliche verscheucht (.) einmal weil einer mir Arschloch gesagt hat (.) also wir haben Schäden angerichtet verstehste“ (EI_Peppino, 2015: Z. 330-331). Peppino erreichte mit seiner Gewalt, dass er mehrere Cliquen an Jugendlichen verscheuchte und dies über mehrere Jahre. Es manifestiert sich anhand der Erzählung zu seinen Mofarundfahrten ein Grundrespekt, den Peppino in seinem unmittelbaren Wohnbereich oder wahrscheinlich sogar im gesamten südlichen Teil von Pratobello unter Jugendlichen genoss: „also gut ich fahr in eine Straße und da stehen welche die mich grüßen und hupen“ (EI_Peppino, 2015: Z. 302-303). Dieser Grundrespekt erlaubte ihm mit Gewalt ungeschoren zu agieren, ohne dass sich Menschen gegen ihn zusammentaten. Er musste keine Gewalt mehr anwenden, weil die Cliquen an den Straßenecken oder vor den Wohnblocks ihn aus Respekt präventiv grüßten. Anhand seiner Möglichkeit innerhalb und außerhalb seines Wohnbereichs frei herumfahren zu können, dokumentiert sich auch eine Selbstbestimmung und Autonomie, die ihm wohl die großkriminellen Banden gewähren. Es handelt sich bei Peppinos Mobilitätsraum auch nicht um einen Straßenzug, sondern um mehrere Straßen, die er auf dem Mofa und dann auch mit seiner Freundin abfährt (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 301-303). Das ist für Pratobello eine eher privilegierte Mobilitätsfreiheit, die andere aus Angst und Respekt vor den Milieuregeln nicht haben. Anhand der
7.3 Die Komplexität des Hustlings
245
Erzählungen von Sandro in der Gruppendiskussion z.B. wird eine klassische Gegenperspektive auf die freie Bewegung innerhalb der Wohnbereiche der dem Milieu fremden Menschen deutlich: 69 70 71 72 73 74 75
Sa
„[...] hier jedenfalls hast du immer Angst rauszugehen und wenn du zu spät zurück kommst triffst du vielleicht Personen die du nicht treffen möchtest genau (.) du hast unangenehme Begegnungen also bist du gezwungen ein wenig früher nach Hause zu kommen oder du nimmst das Auto und gehst in andere Gegenden wo die Situation ein wenig ruhiger ist [...]“ (GD_Isolani, 2015: Z. 69-75).
Peppino baut seinen Respekt auf der Angst und der Omertà6 der Menschen auf, die ihn umgeben und die er als Opfer auswählt, darunter auch Menschen, die nicht zum Milieu gehören. Was sich bei Sandro, Renzo und deren Freunden als negativer Gegenhorizont herausstellt, ist bei Peppino ein positiver Horizont: die Präpotenz und die Angst der Anderen. Eine Orientierung an Selbstbestimmung, Kontrolle und Autonomie wirkt dabei als modus operandi für die Stadtteilrundfahrten auf dem Mofa, das Hustlen mit den Versicherungen, die Schläge und Schießereien. Nicht alle Hustler jedoch haben, wie Peppino, die Möglichkeit so viel Kontrolle und Autonomie in Stadtteilen wie Pratobello zu erlangen. Nicht alle haben die nötigen Verbindungen und Netzwerke, die ein solches Verhalten erlauben. Es gibt somit einen Unterschied zwischen den sog. ‚con artists’ (‚Hochstapler’) und den ‚gorilla hustlers’ (gewalttätige Hustler): „Hustling and con artistry differ in a few key respects. A hustler is a kind of con artist, but the category of hustling is expansive and includes individuals who simply work hard to make extra money (by legal means). And then there are ‘gorilla hustlers’ who make a livelihood from more violent acts. A true con artist usually does not resort to physical violence; his most potent weapon is his smooth, articulate conversation” (Williams/Milton 2015: 8).
Anhand von Gennaros Erzählungen und den ethnografischen Beobachtungen wird dadurch eine weitere Barriere bzgl. der ‚ruhigeren’ Hustler oder con artists besonders deutlich: 962 963 964 965 6
Ge
„[...] in Pratobello gibts alles/ hab ich dir nicht erzählt vor einign Wochen? nur weil ich ne Kapuze ich ne Kapuze aufm Kopf hatte sind sechs Arschlöcher sechs Jugendliche gekommen um mir und
Gesetz des Schweigens innerhalb der ital. Mafia sowie innerhalb von der Mafia ‚regierten’ Stadtteilen, Bezirken, Orten und Städten.
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966 967 968 969 970 971 972 973 974 975 976 977 978 979 980 981 982 983 984 985 986 987 988 989 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011
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DG Ge
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nem Freund aufn Sack zu gehen und die wolltn uns auauch noch schlagen/ ich musste antworten hier in Pratobello we- kannst kannst dus nur schaffn wenn du antwortest sonst kriegste was ab oder sie klauen dir dein Stoff (4) Und was hast du denen geantwortet? Ich hab gesagt daß sie nicht nerven sollten/ daß ich ein zvilisierter Mensch sei der am spaziern gehn is/ es is kalt ich hab ne Kapuze wie ich es will und sie können ihre Kopfbedeckungen machen wie sie wollen/ ich habe natürlich (.) ich habs ungefähr so erzählt/ es is nicht leicht/ wie auch immer/ sie haben nach mir weiterhin tagelang gesucht und wahrscheinlich wenn ich sie=sie wieder treffe haben sie immer noch was zu sagen/ auch nach all den Wochen wo ich ihnen nichts gesagt habe [baut sich einen Joint] also:: diese Sachen passieren Und was machen diese Jugendlichen normalerweise? Sie hängen ab/ wir wi- wi- wissen nach dem was mir gesagt wurde da::ß sie Teil der Gruppe sind die di- vor einigen Wochen bevor du hier nach Italien kamst //schluckt// äh:: (2) den siebzehnjährigen Jungen auf der Straße erschossen haben/ die haben ihn in ner Blutlache liegen gelassen (.) die sind Teil dieser Gruppe wo einige von denen dabei sind/ andere sind nur da um aufn Sack zu gehn/ inklusive mir (.) Warum? Ehrlich gesagt weiß ich nicht warum (2) meiner Meinung nach um aufn Sack zu gehn wie viele bekannte Namen es ma::chen/ wie der Fasan (.) ich weiß nicht ob du jemals vom Fasan gehört hast? Bekannte Namen oder eben auch Tiger oder Salotti (.) Salotti/ viele Namen/ es gibt so einige Namen ∟und wer sind diese da? ∟zum Beispiel Salotti ist der Bruder von diesem Jugendlichen von dem ich dir erzählt hab dass er Analphabet is (.) die sind alle verrückt/ sie waschen sich nicht/ sie waschen sich nicht/ sie haben Krusten auf dem Mund auf den Zähnen auf sich und (.) u::nd nichts/ den Vorfall den ich hatte war so dass er zu mir von der andren Straßenseite kam/ er hat mir die Handgelenke kontrolliert ob ich etwas Goldenes an mir dran hatte/ dann hat er mich am Körper kontrolliert und hat gefragt ‚haste Geld? Haste Stoff?’ und ich sagte ‚Nein ich hab nichts/ lass mich sein/ lass mich sein’ und dann hat er so gemacht/ er hat mich hier angefasst und hat so getan als würde er mir nen Schlag geben/ also hab ich mich daraufhin nach hinten bewegt um zu sehn ob ich die
7.3 Die Komplexität des Hustlings
1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021
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kleine Kette hatte ne (.) und ich bin erschrocken und der machts mit allen so oder zumindest früher machte er es so/ er is ne Person die:: aggressiv ist/ der die Leute attackiert/ der es scha::fft schafft dir Angst einzujagen raus zu gehn und der sich mit mit Heroin dopet/ mit Kokain vor allem/ der den Leuten sagt ihm zu helfen indem sie mit ihm und ner Taschenlampe auf dem Boden kontrollieren wo seine Drogenstücke Teile liegen für seine Sammlung ne? (.) ºalso um sich zu dopen @ums kurz zu fassn@º“ (EI_Gennaro, 2014: Z. 962-1021).
Anhand dieser sehr langen Passage werden die Dimensionen der Hürden und Schwierigkeiten des Hustlings auf den Straßen von Pratobello deutlich. Es wird erkennbar, dass die Bewohnenden in Pratobello gegen die vielen organisierten Banden praktisch keine Chancen haben, wenn diese nicht Teil dieser Gruppen sind. Gerade Hustler sind in bestimmten Wohnbereichen oder Zonen nicht gern gesehen – aus den verschiedensten Gründen. Beschrieben wird eine Dealergruppe, die im Wohnbereich L2 handelt. Dies kann über die Beschreibung der Bande und dem damit verknüpften Mord herausgelesen sowie über die ethnografischen Beobachtungen explizit erfahren werden. Auch Peppino lässt dem Interviewer durch Zeichen und in bedeckten Worten wissen, dass er mittlerweile Probleme mit der Bande aus dem Bereich L2 hat. Es kann hier von einem Zufall ausgegangen werden, aber es scheint kein Einzelfall zu sein. Wie Gennaro selbst in der oben zitierterten Passage beschreibt, handelt es sich um eine gewalttätige Gruppe, die den Wohnbereich und vor allem deren Zone sehr gut unter Kontrolle hat. Peppino hat nun nicht mehr seine ‚Immunität’ von früher und muss somit auch mit den Barrieren und Grenzen kämpfen. Gennaro jedenfalls ist empört über die Aggressivität dieser Jugendlichen und beschreibt sie als unzivilisiert. Dadurch grenzt er sich auch von der organisierten Kriminalität ab: „ich hab gesagt daß sie nicht nerven sollten/ daß ich ein zivilisierter Mensch sei der am spaziern gehen is“. Nun könnte eventuell das Spazierengehen für einen Außenstehenden als harmlos interpretiert werden, aber wie man durch die vorherigen Passagen und Sequenzen herausfinden konnte, ist das Spazierengehen von Gennaro mit der Suche nach Businessgelegenheiten verknüpft. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Gruppe Jugendlicher das weiß und ihm durch kontinuierliche Druckausübung erklären wollten, dass dies ein businessfreies Territorium für Hustler oder zumindest für Gennaro sei. Klar wird, dass man als Hustler in Pratobello – in diesem Fall vor allem im Wohnbereich L2 – viel Druck aushalten muss und dass dieser auch über längere Zeit anhalten kann. Trotz allem bleibt Gennaro mit seinen Aussagen sehr bedeckt und stellt sich nicht immer als Hauptwissender dar. Er versucht sich selbst nicht zu involvieren, indem er im Plural spricht und angibt es nicht selbst bestätigen zu können, da er es nur
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7 Hustling
von den anderen wüsste. Dies ist eine typische Haltung, die in Italien in verschiedenen Regionen und Städten, in denen die organisierte Kriminalität eine hohe Präsenz aufweist, zu beobachten ist (vgl. hierzu Saviano 2006): „wir wi- wi- wissen nach dem was mir gesagt wurde da::ß sie Teil der Gruppe sind die di- vor einign Wochen bevor du hier nach Italien kamst //schluckt// äh:: (2) den siebzehnjährigen Jungen auf der Straße erschossen haben“ (EI_Gennaro, 2014: Z. 986-987). Diese Information hat Gennaro zu dem Zeitpunkt nicht aus den Zeitungsartikeln holen können, da die Täter noch nicht gefasst worden sind und es auch nicht klar war, wer dahinter steckte. Gennaro aber wusste davon und konnte diese Information sehr wahrscheinlich nur über seine Peers während der Diskussionsrunden gewonnen haben, die wiederum sehr wahrscheinlich die Informationen von anderen erfahren hatten oder Gennaro hat sie direkt von der Straße über seine Rundgänge im Milieu der Drogendealer mitbekommen. Die Täter hinter dem Tötungsdelikt schienen deshalb sehr wahrscheinlich ein offenes Geheimnis zu sein, das Gennaro als aufmerksamer und neugieriger Hustler nicht verpassen konnte. Gleichzeitig kann auch davon ausgegangen werden, dass er als guter Beobachter und aufmerksamer Zuhörer Nachforschungen diesbezüglich angestellt hat, um sich über die potentiellen kriminellen Fähigkeiten der Drogendealer im Bereich L2 bewusst zu werden und somit seine Autonomie und Selbstbestimmung an deren ‚Welt’ anzupassen. Hierbei handelt es sich also um eine weniger aggressive und sich von Peppinos Herangehensweise unterscheidende Taktik und Strategie: Konfliktvermeidung (siehe hierzu zu den Machtverhältnissen das Stadtteilkapitel). Diese ist aber auch mit Grenzen und eingeschränktem Handlungsraum ausgestattet. Gennaro erzählt auf Nachfragen des Interviewers hin weitere Details über die Strukturen der lokalen Kriminalität, was darauf hinweist, dass es in Pratobello fast schon Pflicht ist, zu wissen wer was macht und wer das Sagen hat – einerseits um der Autonomie und Selbstbestimmung und andererseits um der Ko-Abhängigkeit jeden Akteurs Willen (vgl. Venkatesh 2006: 168). „04.04.2014 20:00 Uhr Gennaro sagt zu Alberto, dass er nicht die Straße des L2 nutzen möchte, weil er „Stress mit einigen der Dealergruppen“ hat. Er erzählt, dass er immer wieder von den Jugendlichen gestoppt werden würde und zum Teil auch schon bedroht worden sei. Er weiß aber nicht warum sie das tun. Gennaro und Alberto gehen daraufhin über den nahe gelegenen Park. 20:20 Uhr Gennaro und Alberto bestellen sich eine Pizza neben Gennaros Block und gehen danach in Gennaros Wohnung. Dort ‚bauen’ sie sich einen Joint und rauchen.
7.3 Die Komplexität des Hustlings
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21:00 Uhr Gennaro und Alberto haben sich soeben die Pizza abgeholt und essen sie auf dem Platz neben Gennaros Haus. 21:10 Uhr Eine Gruppe Jugendlicher auf zwei Motorrädern kommt auf Gennaro aus Richtung L2 zugefahren. Allesamt haben keine Helme auf. Sie bleiben mit laufenden Motorrädern vor ihm stehen und alle vier Jugendlichen schauen Gennaro in die Augen für ca. 5 Sekunden ohne das Gesicht zu verziehen. Danach fahren sie einmal um den Platz herum und kommen auf Gennaro wieder zugefahren. Sie bleiben erneut stehen und gucken ihm erneut für weitere ca. 5 Sekunden in die Augen und fahren dann mit quietschenden Reifen in Richtung L2 wieder zurück. Die Blicke der Jugendlichen wirkten auf mich sehr angespannt“ (TB_Filosofi_1, 2014: Z. 97-109).
Anhand dieser Passage aus dem Beobachtungsprotokoll wird deutlich, dass Gennaro gewisse Wohnbereiche nicht (mehr) durchqueren kann. Die Gründe scheint er selbst nicht zu wissen. Er versucht – nach mehrmaligen Drohungen und Konfrontationen im Bereich L2 – gewisse Straßen zu meiden. Allein dies zeigt eine Einschränkung in seiner Mobilität und Handlungsfreiheit in Pratobello. Zudem wird er auch innerhalb seines Wohnbereichs beobachtet und bedrängt. Macht übt nicht er aus, sondern sie wird auf ihn ausgeübt – analgo zu den Handlungen von Peppino mit anderen Menschen. Es wird Gennaro ohne Worte, aber mit Symboliken, Handlungen und Blicken, die in seinem Stadtteil verstanden werden, klar gemacht, dass er gewisse Grenzen nicht zu überschreiten hat, denn die Grenzen dürfen allein gewisse Gruppierungen aus dem Wohnbereich überqueren. Symbolisch wurde dies durch das Eindringen in Gennaros Wohnbereich mit den Motorrädern gezeigt. Nun scheint die eben zitierte Erfahrung bei Peppino strukturidentisch zu sein. Denn trotz seiner Vergangenheit als ‚allmächtiger’ Drogendealer und Raubgangster, kann er sich auch nicht mehr alles erlauben, wie es früher wohl möglich gewesen war und dies zeigt, dass er als Hustler nun mehr finanzielle Unsicherheiten und nicht mehr ein ‚regelmäßiges Einkommen’ durch die Coups und Deals hat. Auf die Frage nach seinen vorrangigen Interessen, geht zwar Peppino kurz mit einer knappen Antwort darauf ein, reflektiert jedoch im Modus der Argumentation die aktuellen Zustände der lokalen Kriminalität in Pratobello: 101 102 103 104 105 106 107 108
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„Was interessiert dich am Meisten? (.) Äh momentan n paar Krötn machn weil wie auch immer (.) äh es gab Zeiten wo es mir sehr gut ging/ ich kam auch auf Dreihunderttausend Euro auf meinem Bankkonto u::nd jetzt ist es grad ne harte Zeit weils letzlich ein Rad ist dass sich dreht (.) hier wie::/ es ist möglich dass ich morgen raus geh und nach Hause komme und Zwanzigtausend Euro habe wie es auch
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109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136
DG Pep
möglich ist dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehre/ verstehste was ich meine? Du kannst getötet werden/ die können dich buste::n/ die könne::n alles (.) und sowieso zu diesen Zeiten in Pratobello bringen sie dich wirklich um (.) auch für fünfzig Euro/ und dann diese da:: also lass die sein (.) //zeigt mit dem Finger in Richtung L2// Ja Äh dann haben sie sich auch für zehn Euro umgebracht ne (.) für zwanzig Euro/ für die Wumme deiner Mutter/ das is alles (.) diese da bringen dich wirklich um (.) die schießen direkt auf dich (.) ich war nur zum Beispiel mit nem Mädel zusammen/ sie hat meine Oma zuhause gepflegt nachdem sie mit mir zusammenzog/ na gut wir lebten ein Jahr zusammen alles drum und dran/ also:: sie war ein wenig jünger als ich aber ich hatte schon immer ein wenig nen Vaterinstinkt sie groß zu ziehen/ vielleicht weil ich meine Schwester großgezogen hab (.) u::nd und na ja/ dann ist sie weg/ sie war auch noch auch noch so frech sich Sachen auszudenken/ sie hat mir auch fünfzehn äh fünfzehn Schläger geschickt (.) verstehste? (.) Also wirklich Mafiamäßig (.) die sind um Mitternacht unten an meinem Block aufgetaucht u::nd ich kehre alleine zurück/ da kommen fünfzehn Leute aus der Eingangshalle raus und sie haben mich zusammengeschlagen (.) und letztendlich weiß man nicht einma::l nicht einmal warum (.) ich hab nichts gemacht (.) aber na gut (7)“ (EI_Peppino, 2015: Z. 101136).
Auch durch die Proposition im Modus der Beschreibung in Zeile 102 wird eine Orientierung an Geld und somit Peppinos ‚sturer Gedanke’ auch bezüglich seines aktuellen Alltags bestätigt. Peppino hat keinen ‚festen Job’ mehr als Drogendealer oder Räuber, sondern muss nun mit anderen wohl weniger ertragreichen bzw. unregelmäßigen und an Zufälle und Gelegenheiten gebundenen Geschäften überleben, wobei er auch auf die Möglichkeit verweist, 20.000 Euro am Tag machen zu können (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 108). Hier könnte es sich um größere Hustles handeln im Bereich des Glücksspiels und der Glückslotterie handeln (vgl. Wacquant 1998: 3-4; Venkatesh 2006), um einen Hinweis auf gelegentliche Raubüberfälle (vgl. Wacquant 1998: 4) oder eine Bestätigung seiner Aussage in der Eingangspassage bezüglich des gelegentlichen Drogendealens (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 44). Jeder Tag ist für Peppino jedenfalls ein Tag voller Ungewissheiten, die auch stark verknüpft sind mit Todesängsten. Er beschreibt nämlich das Risiko in Pratobello wegen Banalitäten ermordet zu werden als ein „Rad das sich dreht“ – wie beim russischen Roulette oder Lottospiel. Die Jugendlichen in Pratobello
7.3 Die Komplexität des Hustlings
251
beschreibt er an anderer Stelle als unberechenbar (vgl. EI_Peppino, 2015: Z. 411f.). Er zeigt sich somit bereit dieses Risiko für den Geldgedanken (ein kontinuierlich roter Faden bei Peppino) und für das Essen einzugehen. Auch an dieser Stelle dokumentiert sich ein unkalkulierbarer und von unberechenbaren Zufällen und Gelegenheiten gespickter Alltag – voller Gefahren. Peppino beschreibt die Gefahren nicht von der Polizei ausgehend – zumindest was die physische Unversehrtheit angeht – sondern von den Jugendbanden aus dem L2, die auch für Gennaro eine Gefahr bedeuten. In einer Argumentation erzählt er exemplifizierend, was solche Banden in Pratobello imstande sind zu tun. Somit wird in den Zeilen 106 – 115 ersichtlich, dass das Durchführen jeglicher Geschäfte sowie auch andere nicht milieukonforme Handlungen in Pratobello eine Gefahr darstellen. Es wird deutlich, dass ein/e Untergrundhändler*in in Pratobello sein/ihr Leben riskieren kann, wenn derjenige oder diejenige nicht aufmerksam genug ist. Zudem wird durch Peppinos exemplifizierende Hintergrundkonstruktion bzgl. des ‚Rachefeldzuges’ seiner ehemaligen Freundin ersichtlich, dass die Gefahren ernst zu nehmen sind. Er selbst beschreibt explizit diese Aktion als mafiöse Taktik und implizit wird deutlich, dass Peppino niemandem mehr vertraut und somit als Hustler in Pratobello auch auf sich allein gestellt ist. Diese Tatsache führt einerseits dazu, dass die jungen Männer dazu praktisch gezwungen werden, selbstbestimmt und autonom zu handeln, um weiteren Gefahren während des Business zu entgehen, andererseits grenzt dies ihre Autonomie und Selbstbestimmung gleichzeitig auch ein. Denn ohne soziales Netzwerk wird Hustling und die damit verbundene (eingeschränkte) Autonomie unmöglich. Zwar hat ein Hustler keinen Boss oder Leader, aber ist dafür von einem großen Unterstützernetzwerk abhängig. Entweder ordnet er sich einer Gang oder Familie unter und respektiert die internen Regeln mit allen damit verbundenen Pflichten und Unannehmlichkeiten oder er ist dazu gezwungen, sich selbstständig zu machen und die Grenzen der Selbstbestimmung und Autonomie sowie die Regeln der Straße und der jeweiligen Milieus in den jeweiligen Stadtteilen zu respektieren. Das erfordert hohe Flexibilität und wie Wacquant schon zitiert hat, scheinen Hustler trotz allem generell lieber unabhängig und selbstbestimmt handeln zu wollen: „I never ha’ a desire to be a follow-up under nobody. No, I always like I sai’, I always been a loner an’ by me not bein’ hooked up, you know, when you hooked up, you in a gang, uh, tha’ make me have to be extra tough out here“ (Wacquant: 20). So arbeiten auch Peppino und Gennaro als Hustler lieber alleine – ohne einen Boss über sich zu haben (vgl. EI_Gennaro: Z. 89f., EI_Peppino: Z. 14f.). Implizit lässt sich jedoch aus den Passagen von Gennaro und Peppino herauslesen, dass Hustling gegenwärtig komplexer und schwieriger ist, da durch die Unberechenbarkeit der Banden eine Ko-Abhängigkeit und die Aufrechterhaltung oder der Aufbau eines neuen Business-Netzwerk deutlich schwieriger wurde.
252
7 Hustling
Somit haben wir einerseits Gennaro, der mit ‚leiseren’ Methoden und Strategien seine Selbstbestimmung erzielt, und Peppino, der aufgrund seiner großkriminellen Vergangenheit eher lauter vorgeht und sich nicht davor scheut Gewalt anzuwenden, um autonom und selbstbestimmt seiner Arbeit nachzugehen. Die Orientierungsfiguren sind dadurch bei beiden einerseits Bewegungsfreiheit und Autonomie, andererseits Einschränkungen und (Ko-)Abhängigkeit. Peppino orientiert sich zudem an Gewalt und Kriminalität im Gegensatz zu Gennaros Orientierung an Gewaltlosigkeit und Legalität. „If [the] definition [of hustling] lacks in precision, it is because the hustler is an elusive and slippery character, difficult to grasp and pin down in reality itself, precisely in that his trade consists in many instances in unobtrusively inserting himself into social situations, or in spinning about him a web of deceitful relations, just so that he may derive some more or less extorted profit from them“ (Wacquant 1998: 4).
Hustler gehen – wie die oben zitierte Passage zeigt – je nach privater, physischer und psychischer Lage, Tagessituation und Milieu anders vor bzw. passen sich an die jeweiligen vorgegebenen Strukturen an. Sie verschwinden dadurch in diesen Strukturen, entwickeln aber ihre eigenen unsichtbaren Strategien. Somit entsteht eine Struktur, die sich an eine bereits vorhandene Struktur anpasst – aber nicht assimiliert. Diese Anpassungsmethode sorgt für eine besondere Unsichtbarkeit der Hustler. Somit dokumentiert sich diskrete Anpassung als weitere Orientierung von Gennaro und Peppino. Denn sie sind nicht sichtbar, da sie erstens ständig in Bewegung und somit nicht ortsgebunden sind (siehe hierzu die verschiedenen von Gennaro und Peppino beschrieben Praktiken in den vorherigen Passagen). Dadurch sind sie auch weniger (er)fassbar. Zweitens sind sie mit so vielen Aktivitäten gleichzeitig oder hintereinander beschäftigt, dass sie bezüglich jeder Handlung für den jeweiligen Zeitraum das sind, was sie gerade durchführen (vgl. EI_Gennaro: Z. 3 ff.; vgl. EI_Peppino: Z. 42ff.). Ein paar Stunden, Tage oder Wochen später sind sie jedoch wieder jemand anderes. Sie schlüpfen in verschiedene Rollen, improvisieren oder stützen sich auf erlerntes Wissen (vgl. EI_Gennaro: Z. 3ff. und TB_Filosofi: Z. 433-533 und Z. 589-693; vgl. EI_Peppino: Z. 44ff. und Z. 423ff.). Drittens fallen sie aufgrund ihrer Hobbies, ihrer Integration in verschiedenen Freundeskreisen, ihres Interesses an den aktuellsten Technologien und neuesten Informationen sowie durch die Teilnahme an verschiedenen öffentlichen Aktivitäten nicht auf. Zudem benutzt bspw. Gennaro auch die richtige Sprache in den richtigen Momenten. Peppino dagegen nutzt seine kriminellen Vorerfahrungen als Drogendealer und Räuber, um auch auf die ‚härtere Tour’ hustlen zu können und sich Respekt zu verschaffen (vgl. EI_Peppino: Z. 301ff.). Beide schützen sich dadurch auch vor der gefährlichen Umgebung in der sie leben, denn beide haben schon brenzlige Situationen erlebt, die ihnen signalisieren, dass sie von den Launen der Gangster in Pratobello abhängig sind. Loïc Wacquant
7.4 Die Vielfalt des Hustlings
253
schildert diese Tatsache ähnlich: „The informal economy of hustling is nonetheless highly destructive and [a hustler] knows full well – the funerals he attends in short succession are there to remind him of it – that in the end it leads nowhere“ (Wacquant 1998: 14).
7.4
Die Vielfalt des Hustlings
Es ist deutlich geworden, dass es sich beim Hustling um ein Set von Praktiken handelt, das sehr viele Phänomene und Grauzonen aufweist. Hustling kann auch in Verbindung mit dem Lebenshustle gebracht werden. Jemand, der sich durch das Leben hustlet, ist jemand, der mit allen möglichen Mitteln versucht sich über Wasser zu halten, sich durchzuschlagen oder einfach nur hart an sich, seinen Zielen und seinen Fähigkeiten arbeitet (vgl. Wacquant 1998: 12). Sich durchzuschlagen erfordert vor allem aber informell erlernte Strategien (vgl. Wacquant 1998: 17ff.; Venkatesh 2006: 8ff.). Im Falle der hier untersuchten jungen Hustler aus Pratobello und Falldorf handelt es sich um implizites Erfahrungs- sowie selbstgesteuertes intentionales Lernen. Durch diese Strategien schaffen es Gennaro und Peppino sich Taktiken, Sprechweisen und Manöver anzueignen, die andere Menschen manipulieren und zum Kauf von geschenkten, geklauten, gesammelten, selbst gebauten oder gebastelten, scheinbar nutzlosen wie auch nützlichen Gegenständen sowie Dienstleistungen zu bewegen. Dafür werden große und gut funktionierende (soziale) Netzwerke gebraucht. Anhand der vielen Ausschnitte aus den Beobachtungsprotokollen und den Sequenzen sowie Passagen der Einzelinterviews und Gruppendiskussionen kann man sehr gut beobachten, wie viele Menschen(leben) vom Hustling abhängen, wie verbreitet und ko-abhängig sowie breit gefächert diese Praktik sein kann. Es sind immer wieder Verkaufshandlungen, die eng mit dem ‚durch das Leben Schlagen’ verknüpft und von Existenznöten getrieben sind (vgl. Venkatesh 2006, 2008 und 2015; Payne 2010; Wacquant 1997, 1998). Peppino und Gennaro hustlen, weil sie sich über Wasser halten müssen. Gleichzeitig haben sie aber aus ihren Husltingerfahrungen eine Kunst gemacht, die nicht alle beherrschen (können). Folgende zentrale Ergebnisse können aus den oben durchgeführten Untersuchungen zusammengefasst werden:
254
7.4.1
7 Hustling
Möglichkeitsräume und Bedingungen
Die folgenden relevanten Aspekte des Hustlings lassen sich aufzählen, die notwendige Wissensbestände erfordern: soziales Kapital (1), Mobilität und Raumkenntnis (2), Kommunikationsfähigkeit (3), Umgang mit Gelegenheiten (4). Bei all diesen Aspekten, haben die Hustler eine Haltung zu ihrer Arbeit, die reflexive Positionierung zu moralischen Grundsätzen und Gesetzen beinhalten (5). Demgegenüber dokumentiert sich eine Orientierung an Gelegenheiten, die zur relevantesten Orientierung im Hustling gehört. 1. Soziales Kapital: Hustler sind von einem großen Netzwerk an Freunden, Bekannten und Stadtteilbewohnern abhängig, um einerseits möglichst viele Informationen und Businessgelegenheiten zu schaffen und andererseits um genügend Klienten und Businesspartner zu erreichen. Dieses Netzwerk muss gepflegt werden und erfordert dadurch auch viel Kommunikationsarbeit. 2. Mobilität und Raumkenntnis: Hustler müssen sich auf viele Rundgänge innerhalb des Stadtteils einlassen, bei denen man Straßen, Wohnungen, Läden und andere Gebäude ‚abklappert’ um mit den ‚Klient*innen’ und ‚Partner*innen’ den Kontakt aufrecht zu erhalten. Hierzu bedarf es bester Kenntnisse des Sozialraumes. An dieser Stelle soll unterstrichen werden, dass die Aspekte des sozialen Kapitals sowie der Raumkenntnis miteinander in Beziehung stehen und die Mobilität im Hustling fördern. 3. Kommunikationsfähigkeit: Zudem nutzen heute Hustler auch das Internet, Handys und virtuelle soziale Netzwerke, um sichtbar und up-to-date zu bleiben. Dies erfordert zusätzlich virtuelle / digitale Pflege, Kompetenz und Zeit. Somit ‚schweben’ Hustler zwischen virtuellen, digitalen, physisch-natürlichen und sozialen (Möglichkeits-)Räumen. 4. Umgang mit Gelegenheiten: Alles was zu Business (gemacht) werden kann, wird von Hustlern genutzt. Die Bedingungen sind möglichst viele teilnehmende und unterstützende Menschen, die den Hustler mit Informationen, Materialien/Gegenständen oder gleich mit Geld beliefern. Wenn dies nicht klappt, dann können auf eigene Faust oder mit einer*einem vertrauten Partner*in auch Raubüberfälle oder temporäre Drogendeals oder geplante sowie zufällige Diebstähle durchgeführt werden. 5. Reflexive Positionierung zu moralischen Grundsätzen und Gesetzen: Was die Hustler zudem als Bedingung brauchen, ist das Weglassen von moralischen Ideen und eine auf Manipulation vorbereitete Mentalität und Attitüde. Auch wenn man beim Hustlen Moralfragen in den Hintergrund stellen muss (Wacquant 1998: 12), scheint Peppino diese zumindest bezüglich älterer Frauen und Morden doch zu haben (vgl. EI_Peppino: Z. 37-40). Gleichzeitig wird aber implizit ersichtlich, dass alle weiteren kriminellen Handlungen nach Moral (zumindest zeitweise) nicht hinterfragt werden, und bestätigt Wacquants’ These bezüglich dieser unverzichtbaren Attitüde, die ein Hustler an den Tag legen muss:
7.4 Die Vielfalt des Hustlings
255
„For this, one must consent to effecting a sort of moral bracketing, to suspend if temporarily, one’s initial reaction of sympathy, indignation or horror, and accept to take upon this world the point of view that [the hustler] himself adopts, that is, the ‚natural attitude’ of everyday life [...] which inclines one to take things for granted as they come“ (Wacquant 1998: 12).
7.4.2
Mobilität
Wie schon am Anfang dieses Kapitels über das Dictionary of the English Language angedeutet, ist das Hustling von Mobilität durch und durch geprägt: “1. To move or act energetically and rapidly: We hustled to get dinner ready on time. 2. To push or force one's way. 3. To act aggressively, especially in business dealings” (American Heritage 2016).
Hustler sind in ständiger Bewegung, wie man auch anhand der verschiedenen Passagen aus den Interviews, Gruppendiskussionen und Beobachtungsprotokollen feststellen kann. Sowohl Gennaro als auch Peppino bewegen sich sowohl physisch innerhalb des Stadtteils zwischen den verschiedenen Wohnbereichen, Wohnungen, Freunden, Bekannten und Händlern als auch psychisch durch Gedanken-, Ideen- und Methodenaustausch und ‚Weiterbildungen’ sowie virtuell/digital durch soziale Medien. Durch die ständige Mobilität der drei Hustler zeigt sich eine kontinuierliche Suche der Akteure: „Diese Menschen [sind] Suchende. Genau wie die avantgardistischsten Jungunternehmer in den Garagen von Silicon Valley [träumen] sie davon, ihre Welt zu verändern. Und in ihrem Alltag als Bürger und Verbraucher [halten] sie mit ihren illegalen Einnahmen zahlreiche legale Unternehmen am Leben. In diesem Sinne [sind] sie wichtige Stützen ihrer Gemeinschaft“ (Venkatesh 2015: 200).
Es handelt sich dabei nicht nur um eine Suche nach Gelegenheiten, Gegenständen, Zufällen und Geldmöglichkeiten, sondern auch um eine Suche nach dem Sinn des Lebens. Beide Hustler aus Pratobello machen sich jeweils an mehreren bestimmten Stellen der Interviews Gedanken über ihr Handeln, ihre Zukunft und den Sinn ihrer Vorgehensweisen. Das Reflektieren der drei Akteure weist auf einen Suchprozess hin. Sie mobilisieren ihre Gehirne durch Diskussionen (siehe hierzu nächstes Kapitel), Informationsaustausch, Lernpraktiken und Wissensübermittlung. Diese mentalen Bewegungen führen dazu, dass sich alle drei auch physisch bewegen und sie von Wohnbereich zu Wohnbereich ziehen. Sie sind Straßenwanderer, die Grenzen und Barrieren überschreiten oder sich zwischen bzw. innerhalb der Grenzen bewegen. Dabei ist die Mobilität nicht unentwegt frei.
256
7 Hustling
Hierzu sind Regeln zu beachten, die die physische Mobilität einschränken und erschweren. Trotz allem wird selbst in diesen Situationen nach Möglichkeiten und Gelegenheiten gesucht, diese zu überwinden oder zu vermeiden.
7.4.3
Kommunikation
Wird das gesamte Interview von Gennaro betrachtet, dann fällt seine sprachliche Gewandtheit – gerade im italienischen Original – stark auf. Er wechselt immer wieder zwischen dem üblichen vereinfachten Sasso-Italienisch, das in den von Armut betroffenen Außenbezirken Sassos gesprochen wird und dem Hochitalienisch, das in der Schule gelehrt und bspw. von Akademiker*innen genutzt wird. Es würde den Rahmen dieser Forschungsarbeit sprengen auf die verschiedenen Redewendungen, Redens- und Ausdrucksweisen von Gennaro einzugehen, trotzdem sollen in diesem Unterkapitel einige Besonderheiten hervorgehoben werden, die für Hustler typisch sind. An dieser Stelle gelangt man bei Wacquants’ Begriff der rhetorical prowess, die er bei seinen Hustlern sieht (Wacquant 1998: 5). Diese rhetorische Fähigkeit nutzt Gennaro um seine Persönlichkeit zu konstruieren und zu präsentieren. Er ist – wie Gennaro selbst feststellt – von „ignoranten“ Mitbewohnenden in Pratobello umgeben, die mehrheitlich ihre Schullaufbahn nicht beendet haben (vgl. Kapitel 5.2) und auf der Ebene seines Wissens nicht kommunizieren, diskutieren oder sich messen können. Seine Sprache nutzt Gennaro somit einerseits als Distanzierung zu den jeweiligen Realitäten, die er als „gewalttätig“, „faul“ und „dumm“ darstellt; andererseits auch um sich als ‚intelligent’ bzgl. seiner ‚Stadtteildienstleistungen’ darzustellen und somit seine Businessgelegenheiten zu erhöhen.
7.4.4
Offenheit für Neues
Gennaro und Peppino zeigen im Verlauf der Interviews oder Feldbeobachtungen ihre Offenheit gegenüber neuer Geschäftsmethoden, Produkte und Gegenstände wie auch gegenüber neuer Handwerkerarbeiten, Musikproduktionen, Menschen, Jugendgruppen, Ideen, Informationen, Texte, Materialien und Einflüsse (fast) jeglicher Art. Ihre vielfältigen Hobbies verbinden sie immer auch mit der Suche nach einer neuen Idee für ein weiteres Geschäft oder für ihre Weiterbildung. Dabei durchforsten sie eine ganze Vielfalt an Möglichkeiten. Beide Hustler aus Pratobello sind Künstler im ‚Durchforsten’. Sie gehen wie in einer Bibliothek von Buch zu Buch, von Seite zu Seite, um auf neue Informationen, Inputs und Kontakte zu gelangen. Sie sind offen für neue Einflüsse und Informationen. Die Ein-
7.4 Die Vielfalt des Hustlings
257
flüsse und Informationen können digital, analog, biologisch, virtuell und (zwischen)menschlich sein. Alles wird von Gennaro und Peppino begutachtet, registriert, eventuell kritisiert und verworfen, neu reflektiert und überarbeitet, neu geformt oder produziert, vermischt und verwoben. Beide Hustler sind bereit, sich auf neue Situationen vorzubereiten, durch diese Türen zu gehen und/oder auf Neues einzulassen. Sie sind bereit sich anzupassen oder sich Informationen und Wissen anzueignen. Die Offenheit für Neues ist immer sehr mit ihrer Wissens- und Lernlust verbunden. Es dokumentiert sich ein stetiges Interesse an Hintergrundinformationen, Funktionsmöglichkeiten und –alternativen, Meinungen, Wissen und Erfahrungen der Freunde und Bekannten. Diese Offenheit ist eine Voraussetzung und Basis für jeden Hustler, der über längere Zeit aktiv bleiben möchte (vgl. Wacquant 1998: 23ff.).
7.4.5
Vielseitigkeit
Peppino und Gennaro sind mit mehreren Aktivitäten gleichzeitig beschäftigt, die ihnen mehr Möglichkeiten, Gelegenheiten und Zufälle bieten. Diese Vielfalt wird von beiden Akteuren in den Interviews mehrmals unterstrichen. Handwerkliche Kompetenzen, Geschäftsaffinität, akademisches Wissen, Straßengeschichten, Gewalterfahrungen, künstlerische Begabungen jeglicher Art und Milieuwissen. Diese Vielfältigkeit soll hier auf Pratobello bezogen nochmals zusammengefasst dargestellt werden. 7 1) Handel im und außerhalb des Stadtteils: - Gelegentlicher Verkauf von kleineren und/oder größeren Drogenmengen (vgl. u. auch TB_Filosofi, 2014: Z. 433-533 sowie Z. 1065-1189) - Verkauf verschiedenster geklauter, geschenkter, zuvor günstig gekaufter oder auf der Straße, in Hinterhöfen und Garagen aufgesammelter Gegenstände auf ebay und anderen Internetplattformen sowie an Freunde, Bekannte, Familienangehörige und Nachbarn - Verkauf von selbstproduzierten Gütern: Graffitigemälde auf Leinwänden, Plastiken, Modellfiguren, Musikproduktionen 2) Dienstleistungen für Bewohnende der Nachbarschaft - Brennen von Computerspielen und Filmen auf CDs und DVDs - Reparatur von Handys, Smartphones und Computern - Durchführung von Computerscans und Versand von E-Mails 7
Aufgrund des umfangreichen Materials an Interviews, Gruppendiskussionen und Feldprotokollen, konnten hier nicht alle erwähnten Aktivitäten mit Zitaten und Beispielen veranschaulicht werden.
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7 Hustling
-
Kleintransporte Graffitiaufträge an Hauswänden oder in Innenräumen Musikproduktionen für Theater, Film, Konzerte und Videoclips Internetseitenerstellung
3) Sonstige Tätigkeiten - Glückspiele mit Bekannten, Unbekannten und Freunden auf der Straße, in Bars und Spielsalons - Weitergabe von Informationen im Austausch gegen Gegenstände oder andere Informationen - Kleine Ladendiebstähle oder Betrügereien an den Ladenkassen - Schwarzarbeit auf Baustellen oder in Geschäften - Teilnahme an Graffitiwettbewerben um Geldpreise zu erhalten - Reduzierte Nutzung von bezahlten Materialien und Werkzeugen im Rahmen einer Auftragsarbeit, um die übrig gebliebenen Materialien und Werkzeuge für private Zwecke zu nutzen oder diese dann weiter zu verkaufen
7.4.6
Netzwerke
Ohne ein akkurat aufgebautes Netzwerk könnten Peppino und Gennaro ihre Hustlertätigkeiten nicht durchführen. Freunde, Bekannte, Familienangehörige, (lokale) Geschäftspartner*innen, Studendierende, Händler*innen und Gangster gehören in ein gut ausgebautes soziales Netzwerk, das für verschiedene Gelegenheiten und Zufälle unbewusst und bewusst sorgt. Jeder Anruf, jede Begegnung, jede Diskussion und jeder Smalltalk kann dazu führen, dass sich eine kleine Arbeitsgelegenheit ergibt. Dadurch wird automatisch eine Verbindung zwischen der Schatten- und legalen Wirtschaft geschaffen, die legale Arbeitsmöglichkeiten mit einschließen bzw. nicht ausschließen. Netzwerke müssen zudem gepflegt werden. Bei Gennaro kann z.B. sehr gut beobachtet werden, wie er seine Freunde und Bekannten mit kleinen Angeboten und ‚Geschenken’ an sich bindet. Diese ökonomisch orientierte Herangehensweise ist durchaus eine Charakteristik auch in der ‚legalen’ Wirtschaft. Zudem lässt seine Garagenwohnung zu, dass sich mehrere Personen unter einem Dach aufhalten und ihre Zeit verbringen können. Es handelt sich um eine Art ‚Auffangraum’ für junge Menschen, die ihre Freizeit im Kollektiv und fernab von den familiären Problemen verbringen wollen und eventuell etwas Produktives nebenher schaffen.
7.5 Die Kompetenzen eines Hustlers
7.5
259
Die Kompetenzen eines Hustlers
„07.08.2014 17:25 Uhr Gennaro hält das Auto auf der Rückfahrt nach Hause an einem Tabakladen in Pratobello Antico und kauft Zigaretten. 17:30 Uhr Gennaro hält vor einem Bäcker im L7 und holt für sich und Patrizio zwei gefüllte Brötchen. Patrizio: ‚Das ist echt definitiv der beste Bäcker hier in Pratobello. Das Zeug ist immer frisch und der Geschmack ist einmalig.’ 17:40 Uhr Gennaro fährt nach Hause und bringt zusammen mit Patrizio und mir die Gegenstände hinunter in seine Garagenwohnung. 18:00 Uhr Gennaro und Patrizio bauen sich einen Joint in der Garagenwohnung und rauchen. Patrizio kommentiert erneut den Joint: ‚Jedenfalls dieses Haschisch schmeckt nach Gras. In Italien mischen sie immer Schuhlack bei. Es ist alles gestreckt hier in Italien. Das hier ist natürlicher. Die anderen sind alle dreckig.’ 18:15 Uhr Gennaro, Patrizio und ich gehen in ein weiteres Baufachgeschäft nur wenige Meter von Gennaros Haus entfernt. Gennaro hat mittlerweile einen weiteren Joint im Mund und begrüßt einen Bekannten im Außenbereich des Geschäftes: ‚Ach was, du arbeitest jetzt hier?’ Der Bekannte bejaht und erzählt wie er an den Job gekommen ist. Patrizio: ‚Der macht übrigens auch Rap. Der wohnt im 3. Block im L2.’ Gennaro gibt dem Bekannten seinen Joint und kauft im inneren Bereich des Geschäftes eine große Kartonrolle, die er für den nächsten Graffitiwettbewerb braucht. Gennaro: ‚Ich helfe immer ein wenig bei der Organisation des Wettbewerbs mit. Ich kümmere mich zum Beispiel auch um die Materialien. Die geben mir natürlich auch immer was dafür.’ 18:30 Uhr Nachdem Gennaro seine Kartonrolle in seiner Garagenwohnung lässt, geht er mit mir zum L7, um sich mit Francesco, Alberto und Ciro zu treffen. Patrizio geht auf dem Weg dahin zu sich nach Hause im L2. 19:00 Uhr Alberto, Gennaro, Ciro und Francesco rauchen zwei Joints und tauschen sich über Videospiele aus.
260
7 Hustling
19:45 Uhr Gennaro verabschiedet sich und geht mit mir zu Alvaro ins L1. Alvaros Mutter muss eine Stromrechnung bezahlen und muss den Zählerstand per E-Mail an die Stromgesellschaft schicken. Weder Alvaro noch seine Mutter können das Dokument hochladen. Alvaros Wohnung ist mit wenigen Möbeln eingerichtet. Er wohnt mit seiner Mutter und Tante im 4. Stock in einem von außen gepflegt wirkenden lang gezogenen Betonblock. Als Gennaro und ich die Wohnung betreten, ist sie dunkel. Ein kleines Wohnzimmer ist zu erkennen und ein Korridor der direkt zu Alvaros Zimmer führt. Rechts vom Korridor sieht man in einem Zimmer mit großem Bett und einem kleinen Schrank die Tante von Alvaro auf dem Bett liegend mit Zigarette im Mund und Handy in der Hand. Die Rollos sind bis zur Hälfte herab gelassen und nur wenig Licht dringt in das Zimmer ein. Ähnlich sieht es auch in Alvaros Zimmer aus. Die Wände sind nicht verputzt und auch der Fliesenboden weist abgeriebene Flächen auf. Die Holztür hat mehrere Ritze und Löcher. Im Zimmer gibt es ein kleines Bett, ein kleines Regal über dem Schreibtisch mit Computer, eine E-Gitarre und einige Poster mit abgebildeten Hanfblättern. Auch in Alvaros Zimmer schimmert das Licht von außen durch die halb herunter gelassenen Rollos. Alvaro erklärt kurz Gennaro was zu tun ist, setzt sich dann auf einen Stuhl und berührt mit seinen Fingern die Saiten der E-Gitarre. Es erklingen einige Töne während er dabei einen Joint raucht. Die Mutter von Alvaro kommt herein, während sich Gennaro in den E-Mail-Account von Alvaro einloggt. Die Mutter gibt Gennaro das Dokument, Gennaro fotografiert es mit seinem iPhone, steckt ein Kabel in den Computer und lädt das Foto auf den Desktop hoch. Anschließend fügt er das digitale Dokument der E-Mail hinzu und verschickt es an die Adresse der Stadtwerke. Die Mutter von Alvaro bedankt sich bei Gennaro und sagt: ‚Hoffen wir, dass sie die E-Mail bekommen, denn wir sind im Rückstand mit den Zahlungen und die haben uns gedroht, dass sie in zwei Tagen den Strom bei uns abschalten.’ 20:00 Uhr Alvaro baut einen weiteren Joint und raucht ihn zusammen mit Gennaro. 20:30 Uhr Gennaro und ich verabschieden uns von Alvaro und gehen zur Haustür. Im Wohnzimmer erblickt Gennaro ein großes und leeres Aquarium und fragt Alvaro, ob er es haben dürfe. Alvaro sagt, dass er es nehmen dürfe. Gennaro und ich tragen zu Fuß das schwere Aquarium vom L1 bis zur Wohnung von Gennaro. Ich: ‚Damit kannst du ja eine ganze Insektenfarm aufmachen.’ Gennaro lacht und sagt: ‚Ja, damit kann ich so einiges anstellen. Ich könnte auch Schildkröten züchten.’ 20:40 Uhr Gennaro geht mit mir in die Pizzeria nebenan und wir treffen Alberto und Ciro. Zusammen bestellen wir Pizzen, die wir in die Kellerwohnung von Gennaro bringen und dort essen. Ciro hat wieder seinen Turnsack mit Sprühdosen dabei und malt nach dem Essen auf den Pizzakartons mehrere Penisabbildungen mit der Sprühdose. Gennaro: ‚Gar nicht mal so schlecht. So fein mit Sprühdose auf Karton zu malen ist nicht so leicht und dann auch noch einen Penis mit Spermaflocken.’ Alle lachen.
7.5 Die Kompetenzen eines Hustlers
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22:15 Uhr Gennaro geht ins L7 und besucht einen Freund um ‚ein bisschen zu kiffen’, wie er selbst sagt“ (TB_Filosofi, 2014: Z. 645-693).
Gennaro besitzt die Kompetenz andere Menschen in seine Hustlingpraktiken zu involvieren, wie schon im vorherigen Kapitel festgestellt. Zum Beispiel wird Gennaros Beobachter selbst in die Arbeit eingebunden. Als Gennaro in Alvaros Wohnung das Aquarium erblickt, weiß er, dass er es alleine nicht bis nach Hause tragen kann. Ein Auto hat er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung und erneut nutzt er die Gelegenheit sich beim Transport helfen zu lassen. Gleichzeitig konstruiert er sich aber auch die Gelegenheiten, indem er zu sich nach Hause regelmäßig Freunde und Bekannte einlädt, oder er selbst zu Freunden und Bekannten geht bzw. sich mit Menschen umgibt, um seine Dienste anzubieten oder einfach nur um Haschisch zu rauchen und sich nebenbei zu unterhalten. Unterhaltungen sind für Gennaro von großer Bedeutung, da er darüber Informationen für seine Lern- aber auch Hustlingprozesse gewinnt. Er muss sich die Unterhaltungen nicht gezielt suchen, sondern verbindet diese immer mit irgendeiner Aktivität. Gerade weil Gennaro handwerklich und technisch so versiert ist, kann er Dienstleistungen anbieten, die im Analphabeten- oder technisch inkompetenten Milieu von größter Bedeutung sind, und dabei informelle Gespräche führen. In Süditalien wird so jemand auch ‚spiccia faccende’ (jemand, der Angelegenheiten löst) genannt (und gehört zu den Charakteristika eines „trafficone“ / Hustlers; vgl. Hess 1988: 35f.; Scala 2016). Sie bieten ihre Dienste für Analphabeten an, wie bspw. das Verfassen von Briefen an Ämter und Institutionen, oder begleiten Menschen bei Behördengängen, um Texte vorzulesen, die die Klienten nicht lesen können. Gennaro tut dies im Falle der Stromrechnung bzgl. Technik und Elektronik. Er ist der Experte, der solche Angelegenheiten löst, die junge Menschen ‚normalerweise’ selbst und täglich problemlos durchführen können. Daraus macht er ein Business, das die sog. Ko-Abhängigkeit hervorruft, also ihn von seinem Umfeld, Käufer*innen und Netzwerken abhängig macht. „As we have seen, hustlers do not exist in a vacuum, negotiating only with each other. Their success also depends upon their ability to negotiate relationships with those in the wider community” (Venkatesh 2006: 197). Somit kann zusammenfassend gesagt werden, dass Gennaro keine Zeit verschwenden, seinen Wünschen und Bedürfnissen nachgehen und unabhängig bleiben möchte. Er bleibt niemals still, bemüht sich immer etwas Sinnvolles zu machen oder zumindest über den Sinn seiner Handlungen und Aktionen zu reflektieren: „Full-time hustlers never can relax to appraise what they are doing and where they are bound. As is the case in any jungle, the hustler’s every waking hour is lived with both the practical and the subconscious knowledge that if he ever relaxes, if he ever
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7 Hustling
shows down, the other hungry, restless foxes, ferrets, wolves, and vultures out there with him won’t hesitate to make him their prey” (Wacquant 1998: 11-12).
Gennaro tauscht seine Dienstleistungen gegen Gegenstände, Drogen oder Geld. Im Falle von Alvaro weiß er, dass er bspw. vergünstigt Drogen oder Kontakt zum Drogenmarkt erhalten kann (vgl. hierzu TB_Filosofi, 2014: Z. 433-533). Im oben zitierten Ausschnitt aus dem Beobachtungsprotokoll ist es das Aquarium. Es ist nicht Gennaros erstes Aquarium. Bereits einige Stunden vorher – desselben beobachteten Tages – hat er mehrere Aquarien aus der Wohnung eines anderen Freundes mitgenommen, auch wenn er noch nicht genau zu wissen scheint, ob er so viele und alle nur für die Insektenzucht braucht. Es scheint eine Art Absicherung zu sein und die braucht er auch für sein ‚Projekt’. Je mehr er von diesen Aquarien hat, desto mehr weitere Gelegenheiten und Zufälle können sich ergeben. Gennaro scheint zu wissen, an welcher Stelle er sparen und an welcher er großzügiger sein kann. Hier dokumentiert sich ein Geschick verknüpft mit Intuition. Auffallend ist auch, dass Gennaro in seinem Alltag ständig Lücken zu füllen scheint: Auf dem Rückweg von Arturos Haus stoppt er kurz vor der Bäckerei um nebenher schnell Lebensmittel zu besorgen; nach der Verstauung der Aquarien von Arturo geht er noch in ein weiteres Baufachgeschäft, um sich Materialien für seine künstlerischen Tätigkeiten zu holen; nach dem Abendessen bleibt er nicht zuhause, sondern geht noch zu einem Freund. Gennaro scheint in einem Handlungsstrom zu sein, der für Pausen nur wenig Zeit lässt oder, wie Gennaro in der Eingangspassage selbst sagt, nutze er Pausen sinnvoll, indem er sie mit anderen Aktivitäten verbindet. Peppino scheint auch nicht viele Pausen zu haben. Bei ihm hängen Pausen und Zeit für seine Leidenschaften davon ab, ob er genügend Geld besitzt: „und dann na gut ich hab auch meine Leidenschaften und meine Sachen die ich sowieso lebe wenn ich nichts zu tun habe und ich ein wenig zurecht komme (.)“ (EI_Peppino, 2015: Z. 52-53). Bisher dokumentieren sich an dieser Stelle bei beiden Hustlern Orientierungen an Zeitmanagement, Engagement und am Hustling selbst. In diesem Fall repräsentiert das Hustling die harte, durchgehende, energetische und kraftvolle Arbeit (vgl. hierzu bzgl. des Verbs „to hustle“ American Heritage 2016). Vor allem bei Gennaro dokumentiert sich zudem eine Orientierung an Bildung und Vollzeitlernen, die seine Enaktierungspotentiale der ständigen Informationsgewinnung und -weitergabe beeinflussen: „[...] ich schlie- schließe ab indem ich sage dass ich über sehr viele Sachen was sagen könnte könnte/ sehr viele Nachrichten weiterzugeben und zu erhalten aber kurzum am Ende gibt es nicht das ganze @Leben zum sprechen@ [...]“ (Z. EI_Gennaro, 2014: 483-486).
7.6 Eine Überlebenspraktik
7.6
263
Eine Überlebenspraktik
In Peppinos und Gennaros Alltag sind viele verschiedene Handlungen und Aktivitäten zu beobachten, die nicht nach einem bestimmten Plan ablaufen oder sich an einer festen, regulären Arbeit orientieren. Die beiden Aktuere machen diese Flexibilität jedoch zu ihrer Stärke bezüglich ihrer (eingeschränkten) Unabhängigkeit und Autonomie. Beide sind arbeitslos, gehen nicht mehr zur Schule und haben keine finanzielle Unterstützung – weder von den Familien noch von anderen Quellen. Durch das Herumspazieren oder Runden drehen sowie Freunde und Bekannte treffen als ihre habitualisierte und regelmäßige Alltagspraktik, rufen sie Gelegenheiten und Zufälle hervor und sorgen somit für einen dynamischen und abwechslungsreichen Alltag, aber stets mit dem Geschäft als Hintergedanken und Tagesziel. Was beide dabei jedoch verbindet ist auch die Orientierung an diskreter Anpassung, um in den jeweiligen Milieus nicht zu stark aufzufallen und somit auch nicht Konkurrenten oder Gegner anzutreffen. Diesbezüglich dokumentiert sich bei beiden auch eine Orientierung an Einschränkungen und Ko-Abhängigkeit, bei der sich ihre Arbeit einerseits nicht mit allen Bewohnenden und Akteur*innen des Stadtteils vereinbaren lässt, andererseits aber stark von einem (sozialen) Netzwerk abhängig macht. Somit ist bei beiden auch eine Alltagsunsicherheit und stetig präsente innere Unruhe festzustellen, die Peppino und Gennaro dazu antreibt, sich selbst zu animieren, sich ständig an Neuem und an (Über-)Engagement zu orientieren. Dies verbinden sie mit der Orientierung an Vollzeitarbeit und an Straßenwissen (hier insbesondere über den Exkurs mit Francesco deutlich geworden), um immer eine Gelegenheit und Möglichkeit mehr zur Verfügung zu haben. Sowohl Gennaro als auch Peppino sind zwei Hustler, die sich ein solides Fundament aus geeigneten und nützlichen Informationen, Kontakten, Manipulationen und Gegenständen gebaut haben, um dem Morast der familiären und emotionalen Instabilität, der prekären Wohnverhältnisse und des von Gewalt und schwerer Kriminalität geprägten Stadtteils zu entkommen bzw. sich zumindest davon zu distanzieren. In diesem Kontext orientieren sich beide an Notwendigkeiten, an Geld, am Mittel zum Zweck und an Bewegungsfreiheit. Beide hatten Ohnmachtsgefühle in ihrer Kindheit. Beide fühlten sich damals ohnmächtig bezüglich ihrer Handlungsunfähigkeit. Sie wussten nicht, wie sie mit diesen Situationen umgehen sollten: Gennaro mit der Gewalt zuhause und Peppino mit der Gewalt gegen seine Schwester. Beide Hustler können sich nicht auf ihre Familien verlassen und beide kümmern sich um jüngere Verwandte. Peppino hat seine jüngere Schwester großgezogen und Gennaro kümmert sich um seine jüngere Cousine. In beiden Fällen haben sie sich somit am Hustling selbst orientiert, um diese Situationen zu überleben und sich durchzuschlagen. Sie haben (Überlebens)Strategien entwickelt, die mit ihren jetzigen Orientierungen am selbständigen Arbeiten zusammenhängen.
264
7 Hustling
Peppino bspw. versuchte auf eigene Faust Geld zu erlangen, um einen Ausweg aus den familiären Verhältnissen zu finden und vor allem auch um seiner Schwester zu helfen. Gennaro bspw. sah, wie seine Mutter lügt und sich über sein Geld und das der anderen ihr Leben ‚zurechthustlet’ und ahmt diese Taktik nach. Zudem musste er mit den Taten seines Vaters umzugehen lernen und Strategien entwickeln diesen Gewalttaten gerecht zu werden. Vielleicht hat zu dieser Zeit auch eine Art Suche nach dem Sinn dieser Taten begonnen und ihn dazu angetrieben, auch im weiteren Lebensverlauf nach einem Sinn hinter jeder seiner Handlungen zu suchen bzw. diese zu reflektieren und sich dementsprechend Wissen anzueignen. Gennaro jedenfalls versucht das „Böse“ und „Ignorante“ mit Intellekt und Wissen zu bekämpfen bzw. sich davon stark zu distanzieren. Es dokumentiert sich diesbezüglich eine Orientierung an Bildung, Vollzeitlernen und persönlicher Entwicklung. In diesem Fall wäre Hustling auch eine Praktik der Distanzierung und Resilienz, und kein Geschäft im materiellen Sinne, sondern ein Geschäft mit den Emotionen, Kommunikationen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Gennaro war gezwungen und auf sich allein gestellt seine Lebensumstellung nach dem Rauswurf aus der elterlichen Wohnung zu ver- und bearbeiten. Zudem wurde ihm dadurch auch klarer, dass ihm Pratobello als marginalisierten Stadtteil bezüglich Arbeitsperspektiven nichts bieten kann. Dies ist zudem auch Peppino sehr bewusst. Beide würden lieber einer ‚würdevollen’ und ‚regulären’ Arbeit nachgehen, aber Hustling scheint (für sie) die einzige Lösung zu sein, um die geringe und unzuverlässige sowie kosten- und zeitintensive Möglichkeit der (öffentlichen) Fortbewegungsmittel zu vermeiden. Gennaro verweist dabei mehrmals implizit auf die urbane Isolation des Stadtteils, die durchaus eine Behinderung auch für ein Hustlingbusiness außerhalb der Wohnbereichsgrenzen darstellt. Gennaro scheint diesbezüglich den Aufenthalt im Stadtteil sowie das Hustlen als Arbeit zu bevorzugen, da dadurch der Aufwand etwas minimiert wird, der Verdienst jedoch höher ist. Ähnlich ist dies auch bei Peppino. Beide Hustler aus Pratobello beklagen also die Arbeitslosigkeit und die Schwierigkeit Arbeit zu finden. Sie sehen das Hustling als eine Notwendigkeit zu überleben. Das Überleben dokumentiert sich als Hauptorientierung von Peppino und Gennaro, die das Enaktierungspotential des Hustlings motiviert. In allen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Hustling sind dies zudem die immer wieder erwähnten Gründe eines Hustlers: „the ever-renewed struggle to [...] ‚make it through the day’“ (Wacquant 1998: 5). In diesem Kapitel ist nun deutlich geworden, wie einige Jugendliche aus marginalisierten Stadtteilen jenseits staatlicher Grundsicherung, ihren Alltag alternativ wirtschaftlich bewältigen.
8 Interaktionspraktiken 961 962 963 964 965 966
Cir
„Während des Tages je nachdem wie wir drauf sind/ es hängt vo::n (.) vielen Sachen ab ob ma::n zuhause ist und in Gesellschaft ist/ wie wir gesagt haben spielen wir Playsi oder wir rauchen nen Joint ode::r (.) oder es wird diskutiert/ man macht Politik oder es werden viele andere Dinge gemacht [...]“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 961-966).
6 7 8 9 10 11
Sa
„[...] mh fast immer gehen wir mit Freunden aus u::nd ja morgens gehen wir raus um zu frühstücken/ wir gehen zusammen raus/ nachmittags dagegen vir- versammeln wir uns u::nd wir gehen in eine Bar um Tischkicker zu spielen oder u::m einfach zu reden [...]“ (GD_Isolani, 2015: Z. 6-11).
41 42 43 44 45
Idri
„Ja hauptsäschlisch eigentlich nur mit Freunden chillen hier; (.) bisschen Zeit vertreiben und (.) ja Playstation spielen; (.) und dann draußen reden; (.) fall- was wir so am Wochenende (.) machen und so; (.) ja das halt; das halt; hauptsäschlisch; (.)“ (EI_Idris, 2015: Z. 41-45).
199 200 201 202 203 204 205 206 207
Lev
„ja ich (.) kann anfangen; (.) also (unser) (.) ich finde (.) meiner meiner Meinung nach sind ha- (.) Stadtteil (.) es mach- es is gut hier zu wohnen; (.) man is f-familiärisch sehr gebunden; (.) wenn man rausgeht (.) kann man mit jedem reden; (.) ja. (.) is auf jeden Fall gut hier. (.) Ja (.) man is halt auch (.) halt gewohnt hier (.) mit jeden den du hin und her gehen siehst kannst du immer noch auch reden; (.) kenns jeden hier; (.) ja. [...]“ (GD_Supporters, 2015: Z. 199-207).
Mir
Wie diese vier exemplarischen Zitate zeigen, ist die sprachliche Interaktion, das Reden, das Diskutieren eine Praktik, die in jeder der vier untersuchten Gruppen junger Männer explizit als wichtige gemeinsame Aktivität benannt wird. Im Verlauf aller vier Gruppendiskussionen wird diese Praktik sowohl inhaltlich immer wieder reflektiert und elaboriert, als auch anhand des Diskursmodus und der Interaktion selbst beobachtbar. Die Beobachtungsprotokolle zeigen zusätzlich, wie sich häufig die jungen Männer innerhalb der beobachteten Wochen zum © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_8
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8 Interaktionspraktiken
„Chillen“ treffen und sich dabei informelle Diskussions- und Debattenrunden ergeben. In der ersten oben zitierten Aussage von Ciro aus der Filosofi-Gruppe bringt er die Interaktionspraktik der jungen Männer auf den Punkt: „wir machen Politik“. Dies scheint auf den ersten Blick überzogen zu klingen, mit Blick auf die Diskursorganisation und den Inhalt der Debatten wird jedoch sehr deutlich, dass es sich um erfahrene Diskutanten handelt, die u.a. gesellschaftsbezogenes Wissen untereinander austauschen. So zeigt sich am zweiten Zitat, wie bereits mehrfach gezeigt, dass das Reden innerhalb der Peergruppe auch nebenbei und an verschiedenen Orten stattfinden kann. Sandro aus der Isolani-Peergruppe unterstreicht dabei, wie wichtig es sei, dass mal „einfach geredet“ wird und sich die Zeit dafür genommen wird – egal ob er in der Bar oder zuhause sitzt. Auch für die Transformers-Gruppe aus Falldorf ist das Diskutieren untereinander fundamental, um gemeinsam Aktivitäten zu planen oder sich schlichtweg „auszuheulen“ (vgl. Kapitel 8.4). Idris unterstreicht diese Praktik als die Hauptaktivität der jungen Männer aus Falldorf. Levent und Mirza heben aus der Supporters-Gruppe das Reden als eine allgemeine Praxis von Falldorf hervor, was darauf hinweist, dass es zur Stadtteilkultur gehört und sehr spontan, aber gleichzeitig kontinuierlich stattfindet. Diese Hinweise sowie die vielen Beobachtungen im Laufe der verschiedenen empirischen Erhebungsphasen sowohl in Italien als auch in Deutschland führten dazu, Gespräche als informelle Lernpraktik näher zu untersuchen. Schließlich wurde von Monat zu Monat sichtbarer, dass die sprachlichen Interaktionen unter jungen Männern nicht einfach nur simple Smalltalks sind, sondern noch viel mehr dahinter steckt. An dieser Stelle sollen Peergruppen deshalb mit Neumann-Braun und Deppermann (1998) als Interaktionsgemeinschaften verstanden werden, die untereinander Wissen und Erfahrungen austauschen, (politische) Debatten führen, gegenseitige (psychologische) Unterstützung anbieten und kritisches Denken und Reflektieren fördern. „Peer-Groups können als Interaktionsgemeinschaften verstanden werden, die durch die routinisierende Interaktionspraktiken, mit denen Jugendliche ihre Begegnungen gestalten, als soziale Einheiten konstituiert und reproduziert werden. Solche Interaktionspraktiken umfassen bspw. Spiele, Witze, Rituale der Kompetenz- und Statusdemonstration, Formen der Konfliktaustragung und –regelung oder Klatsch, aber auch Abgrenzungen gegenüber Dritten, die Verhandlung von (Graden der) Mitgliedschaft oder Formen der Selbst- und Fremdkategorisierung“ (Neumann-Braun/Deppermann 1998: 246).
Somit sollen in diesem Kapitel die Gesprächsinhalte, der Dokumentsinn der Interaktionen sowie die Diskussionsarten innerhalb der jeweiligen Peergruppen untersucht werden. Dabei sollen die Interaktionsorte besonders berücksichtigt werden, vor allem vor dem Hintergrund der marginalisierten Situation und dem
8.1 Gespräche
267
Verhältnis zu formalen Orten wie z.B. den Schulen der jeweiligen Akteure. Bevor das empirische Material zu den Themen Gespräch und Interaktion fundierter untersucht wird, soll ein kurzer theoretischer Überblick gewährt werden, der im Verlauf des empirischen Kapitels weiter vertieft wird.
8.1
Gespräche
Der Sprachwissenschaftler Sigurd Wichter setzt für ein Gespräch folgende zentrale Punkte voraus, die für die weiteren Inhalte dieses Kapitels fundamental sind: „Die Linguistik hat seit einiger Zeit das Gespräch zu ihrem Gegenstand gemacht mit reichen Ansätzen für diesen Typ der gesprochenen Kommunikation. Relevant ist die definitorische Festlegung. Im Vordergrund stehen dabei zwei Rechte eines jeden Teilnehmers, damit die Kommunikation ein Gespräch sei: das Recht, jederzeit im Gespräch das Wort zu ergreifen, d. h. einen ‚Gesprächsschritt’ (Henne/Rehbocks Ausdruck für turn) zu formulieren, und das Recht, jederzeit eigene Themen zur Behandlung vorzuschlagen. Für die Inanspruchnahme beider Rechte gelten Höflichkeitsregeln, nicht Schmuck, sondern Fundament. Das Gespräch im linguistischen Sinn ist eine kleine Geselligkeit, von zwei oder drei oder einigen Personen. Denn notwendig wächst mit der Zahl der Beteiligten das Problem, die Gleichberechtigung aller Partner wirksam werden zu lassen. Prototypisch für das Gespräch ist die Einheit des Ortes im engen Sinn des Gegenübers von Angesicht zu Angesicht. Neuere Formen der Telekommunikation können eine fiktive Einheit des Ortes schaffen, also eine Ortsversetzung ermöglichen. Im Gegensatz dazu wird durch eine Zeitversetzung der Gesprächscharakter negiert“ (Wichter 1999: 262).
Da es sich bei allen Gruppen junger Männer in der vorliegenden Studie um nicht mehr als fünf Teilnehmer handelt, kann in Bezug auf Wichters Punkte von Gesprächen gesprochen werden, die eine gleichberechtigte Beteiligung der Einzelnen im Interaktionsprozess potentiell ermöglichen. Sprachwissenschaftliche Studien zur Jugendsprache in marginalisierten Stadtteilen (z.B. Labov 1976 & 1977; Schwitalla 1994 & 1995) vernachlässigen die inhaltliche Struktur und den Sinngehalt der Diskurse und betrachten diesen nicht als einen informellen Lernprozess in Abgrenzung zu formellen Settings. Dagegen spricht das Banking-Konzept von Paulo Freire das Diskutieren als einen informellen Lernprozess benachteiligter Gruppen an und versucht zu zeigen, wie die Schule selbstständiges und kritisches Denken teilweise stark einschränkt (vgl. Freire 1987a & 1987b). Gespräche werden als Raum des Lernens konzipiert. Auch
268
8 Interaktionspraktiken
John Dewey wird mit Bezug zum Gegenstandsfeld der Peer-Interaktion bei Pädagog*innen und Kommunikationswissenschaftler*innen zitiert (vgl. Dewey 2004). Bezüglich informeller Diskussionsrunden unter Jugendlichen, jungen Erwachsenen oder Peergruppen – insbesondere mit Blick auf marginalisierte Quartiere – ist bislang allerdings nur sehr oberflächlich geforscht worden. Es wird vielmehr generell in den Kommunikationswissenschaften von Interaktionspraktiken und Kommunikationskulturen (vgl. Neumann-Braun et al. 1998; Schwarze 2014; Simpson et al. 1986) und in der Erziehungswissenschaft von Peerpraktiken, Peerkultur, (informellen) Cliquen, Peer- und Freundschaftsbeziehungen (vgl. Harring 2010; Köhler 2016; Pfadenhauer et al. 2014; Scherr 2010) gesprochen, die jedoch nicht nur sprachlich sondern auch körperlich oder anderweitig vollzogen werden können. Selbst wenn von informellen Lernprozessen in Peergruppen gesprochen wird (vgl. Hitzler 2004; Plöger 2012; Reutlinger et al. 2007; von Gross 2015), scheinen Diskussionen, Gespräche, Smalltalk, sprachliche Interaktionen, Storytelling und Debatten in diesem Kontext keine große Rolle zu spielen. Lediglich Miriam Morek (2015) geht im deutschen Raum auf die Dissensbearbeitung unter Gleichaltrigen ein und untersucht somit auch eher implizite Sinngehalte und Effekte in den Gesprächen von Jugendlichen. Johannes Schwitalla (1994; 1995) hat sich mit den sprachlichen Formen der sozialen Abgrenzung einer Jugendgruppe im Mannheimer Stadtteil Vogelstang beschäftigt und gibt hierzu sprachwissenschaftliche Einblicke in die sprachliche Interaktion von jungen Menschen in marginalisierten Stadtteilen. Bezüglich informeller Lern- und Wissenstransferprozesse findet sich jedoch keine fundierte Analyse. Die Zielgruppe dieser vorliegenden Forschungsarbeit weist hingegen Nähen zu den von Paul Willis in der Studie „Spaß am Widerstand – Gegenkultur in der Arbeiterschule“ (1979) untersuchten Jugendlichen auf und betrachtet den informellen Lernwert von sprachlichen Interaktionen gegenüber eher restriktiven schulischen Barrieren. In den USA beschäftigt sich Timothy R. Lauger (2014) intensiver mit dem Storytelling unter Gangmitgliedern, das für die interpretative Reproduktion der Straßenkultur verantwortlich ist. Hierbei untersucht er die cultural transmission, behandelt also die Frage, wie innerhalb einer Gruppe eines bestimmten kulturellen Zusammenhangs oder einer bestimmten Gesellschaft gelernt wird und Informationen weitergegeben werden: „Researchers in other settings argue that cultural transmission is a reflexive process, as youths immersed in a broader cultural milieu actively construct and reproduce culture by participating in communicative events (Corsaro & Eder, 1990; Harris, 1995; see also Rubin, Bukowski, & Parker, 2006). Corsaro (1992) calls this process the interpretive reproduction of culture. Even preschool children negotiate cultural artifacts by taking ideas from the adult world, which they do not fully understand, and create new meanings so that a relatively autonomous culture emerges. During adolescence, youths continue to build social knowledge through interactions with peers, and
8.2 Gespräche als Unterstützungspraktiken
269
their cultural systems evolve. Thus, preexisting cultural traditions influence how new cohorts of street-oriented youths understand social events, but through collaborative communicative endeavors these cohorts amend aspects of culture. Indeed, street culture is a flexible system subject to the thought processes of its participants, and street socialization involves a process whereby individuals both come to understand and subtly shape various frames and scripts that allow them to make sense of their social environment“ (Lauger 2014: 195-196).
Nun ist das Storytelling aber nur ein Diskursmodus und ist somit höchstens ein Teil einer Debatte, Diskussion oder eines Gesprächs. “Interaction [with others] is more than an enhancing agent; it is central to the learning process” (Simpson/Gallo 1986: 37). Was aber verbirgt sich hinter den gemeinsamen Treffen von jungen Männern, die dazu führen, dass manchmal auch über mehrere Stunden beim Rauchen von Joints oder auf einer Bank vor einem Wohnblock sitzend diskutiert wird? Was bewirken diese Gespräche und inwiefern handelt es sich um (informelle) Lernprozesse? Was für ein Wissenstransfer findet währenddessen satt, wenn man davon ausgeht, dass der Austausch von Wissen ein Teilaspekt des informellen Lernens ist? Wie lernen junge Männer in Abgrenzung zu den formellen Settings in von Diskriminierung und von sozialer Ausgrenzung geprägten Stadtteilen? Inwieweit beeinflussen erschwerte (formelle) Bildungsmöglichkeiten das informelle Lernen? Im Folgenden wird zunächst der Fokus der Analyse auf den Nachvollzug der thematisierten Inhalte oder des propositionalen Gehalts der Diskussionen und Gespräche gelegt (Kapitel 8.2 – 8.4). In einem zweiten Schritt steht dann die performative Struktur (Kapitel 8.5 – 8.6) der Interaktionen im Mittelpunkt (vgl. hierzu Bohnsack 2014).
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Gespräche als Unterstützungspraktiken Hai DG Hai DG
„[Das Jugendzentrum] is halt auch zweites Zuhause man verbringt auch v- sehr viel Zeit hier mit seinen Freunden; (.) (ja und) solche Sachen; (.) Was machst du zum Beispiel äh (.) mit deinen Freunden wenn du hier bist? (.) (°Ja°) reden; (.) quatschen; chillen; (.) halt solche Sachen; (.) Über was redet man meistens? ∟ja manchma reden wir v(.) über voll viele Sachen einfach wir quatschen; (.) wir machen Faxen; wir ärgern uns; wir (.) lachen auch sehr viel miteinander; (.) ja und solche Dinge auch; (.)
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8 Interaktionspraktiken
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Also was wir hier reden is zum Beispiel (.) eigentlich über alles; (.) wenn wir jetz ganz offen reden (.) über äh Sex reden wir; äh (.) über unsere Erlebnisse reden wir; über unsere Probleme reden wir; (.) über die Schule wird ge- gesprochen; (.) über die Arbeit; (.) über ja wie gesagt über die Pro- über (.) wenns sein muss wegen familiärische Probleme weil; (.) wir reden eigentlich äh über alles hier weil (.) im Endeffekt wir helfen uns auch gegenseitig. (.) Deswegen wird auch eigentlich hier über alles gesprochen. (.) Zu neunzig Prozent sag isch ma so; (.) (4) Äh:::hm (.) ja könnt ihr mir nochmal (.) äh näher da- äh darübe:er was sagen über diese:e Diskussionen, (.) was die euch weiterbringen, also wenn ihr euch mit euren Freunden trefft und (.) mit denen nochmal, (.) also mh über alles redet, was-was bringt das euch? (.) Erstens; (.) man äh (.) es kommt drauf an über was man auch spricht ne, (.) zum Beispiel wenn isch jetz äh (.) wütend bin zum Beispiel in der Schule hatt isch Probleme wenn isch jetz mit denen darüber rede (.) dann hab (.) is äh:h (.) is das frei;is das von mir raus; kann ich mich bei denen (.) wie sagt man ausheulen oder sons was [DG: mhm] verstehs schon was isch meine, und äh (.) wenn isch zum Beispiel über Probleme rede; (.) dann äh heul isch misch auch bei denen aus; (.) dann kann der mir vielleischt aber auch weiterhelfen; (.) weil im Endeffekt (.) das sagt man ja eine Hand wäscht die andere (.) deswegen; zum Beispiel is er (gay); (.) boa isch hab jetz meine Arbeit verloren zum Beispiel; (.) was soll isch jetz nur machen? Er sagt ey (.) hör ma zu (.) hier mein Onkel oder n Kollege (.) die brauchen noch n (.) Helfer oder sons was da könntest du vielleischt ma; (.) so (.) passiert mir halt die Sachen; (.) deswegen reden wir ja wie gesagt und alles; deswegen kommt aber auch meistens kommen wir auch weiter; (.) wir kommen immer weiter wenn wir äh da über (.) alles reden. (.) Was bedeutet immer weiterkommen? (.) Dass äh-°äh° dass äh (.) dass man sisch gegenseitig hilft; (.) dass das Ergebnis halt dann positiv is; (.) wie isch schon grade diesen Beispiel gemacht habe (.) sagen wir isch hab meine Arbeit verloren der sagt ja-ja bap bup (.) Helfer brauchen die komm (.) isch hab dir was klar gemacht; (.) Schule (.) äh oder zum (.) Be- wenn isch zum Beispiel zu Thema zum Schule wieder komme; (.) (°//pfum-i-pfum//°) vor (.) paar Monaten hab isch gesagt isch mach nie wieder Schule nie. (.) Isch hab mal
8.2 Gespräche als Unterstützungspraktiken
364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376
271
isch hab misch äh mit zwei Kumpels gesprochen darüber; (.) isch hab gesagt vi- äh (.) das war vor (.) paar Wochen jetz ne, (.) isch hab gesagt hey (.) isch überlege vielleischt die Schule zu machen ( ) ne, (.) der eine sagt (ach komm) vergiss es; (.) du has schon lange nisch mehr; Scheiß drauf; (.) der andere (.) die zwei ham mir gesagt mach die Schule. Die ham misch also so (.) halt gepusht; (.) da hab die ham mir noch mehr Motivation gegeben; (.) dann bin isch auf die zu der äh (.) auf die Schule gegangen hab isch misch auch angemeldet; (.) dass is das zum Beispiel das Beispiel; (.) das Ergebnis (.) das positive Ergebnis; (.) das war nur ein Beispiel. (.)“ (GD_Supporters, 2015: Z. 306-376).
Auf die Frage des Interviewers nach der Bedeutung des Jugendzentrums stellen zuerst Mirza in den Zeilen 286 – 297 und dann später Haias in der ersten Zeile der oben zitierten Passage das Jugendzentrum als ihr zweites Zuhause dar. Beide Aussagen entfalten innerhalb der Beschreibung zwei identische propositionale Gehalte, die im weiteren Verlauf ausgearbeitet werden. Die gemeinsamen Gespräche bspw. bedeuten für die jungen Männer zuerst vor allem eine Möglichkeit zur Vergemeinschaftung und zur freien Äußerung ihrer Gefühle und ihrer Erfahrungen. Es besteht kein Zwang sich den anderen gegenüber zu verstellen, da „Faxen“, „Lachen“, Privates, gegenseitiges Necken und explizite Themen und Sprache im freundschaftlichen Rahmen erlaubt sind. Es ist ein Teil der Sozialisation und des Alltags: „ja hier is man das daran gewohnt; also hier kann man das machen“ (GD_Supporters, 2015: Z. 405-406). Das Jugendzentrum bietet zudem die geeigneten physischen Räume sich zusammenzusetzen und zu diskutieren. So können sie auch im Winter in einem warmen Zimmer oder Saal in Ruhe reden – zwar zu festen und zuvor abgemachten Zeiten, aber ohne, dass es zwischenzeitlich Störungen von anderen Jugendlichen gibt. Den Sinn und Zweck der Unterhaltungen beschreiben die jungen Männer vor allem als reziprokes Unterstützungsnetzwerk. Sie helfen sich gegenseitig indem sie sich vor allem zuhören – wie dies auch anhand dieser und weiterer Passagen der Gruppendiskussion der Transformers beobachtbar ist – und die jeweiligen Probleme oder Informationen analysieren und elaborieren, um eine gemeinsame Lösung bzw. Antwort zu finden. Die unmittelbare Nähe zu den Sozialarbeiter*innnen aus dem Jugendzentrum ist für die jungen Männer von großem Vorteil, da dadurch die Möglichkeit einer konkreten Umsetzung der Lösungsvorschläge erhöht werden kann. In der Gruppendiskussion mit den Transformers wird dies in der Eingangspassage ganz konkret benannt: „Ja ich sag mal auch so wir waren auch so in unsrer Freizeit werden wir auch (.) sehr oft unterstützt; (.) vom Jugendzentrum hier in Falldorf und (.) ja die erleichtern uns halt ein paar Aufgaben“ (GD_Transformers, 2015: Z. 46-48). Mit der Aussage „wir können hier über alles
272
8 Interaktionspraktiken
reden“ wird von Haias und Mirza in der Eingangssequenz immer wieder verdeutlicht, dass es in anderen Situationen und an anderen Orten keine Möglichkeit des freien Sprechens gibt. Das schließt auch die Sozialarbeiter*innen des Jugendzentrums mit ein – so sehr sie die Jugendlichen auch unterstützen mögen. Da über die teilnehmenden Beobachtungen eine Abschottung der Peergruppen gegenüber den Mitarbeiter*innen des Jugendzentrums bei bestimmten Themen zu beobachten war (vgl. TB_Falldorf, 2016: Z. 1211-1213). Zudem wird explizit immer wieder auch von der Falldorfer Gruppe Supporters erwähnt, dass einige Gesprächsinhalte mit den Familienmitgliedern nicht thematisiert werden können und auch die Schule keinen ‚Schutzraum’ für alle Sorgen bietet. Somit sind die jungen Männer hauptsächlich auf die Gruppe angewiesen, die sich im zweiten Zuhause – dem Jugendzentrum – treffen, weil sie dort erstens ungestört sein können, zweitens ihre Freunde dort aufzufinden sind und drittens qualifiziertes Personal vor Ort ist, das ihnen bei bestimmten Belangen helfen kann. Die Gespräche, welche die jungen Männer in der Gruppe Supporters führen, handeln von Themen, die (konjunktive) Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen beinhalten und die im Kollektiv als gegenseitig anschlussfähiges Wissen ausgetauscht werden. Es werden einerseits Gefühlslagen angesprochen wie bspw. die Wut auf eine Erfahrung in der Schule und andererseits auch sachliche Anliegen, die dann, wie bei einer sozialen Anlaufstelle, an die jeweiligen ‚Institutionen‘ weitervermittelt werden. Hier wird die Peergruppe zu einer Vermittlungs- und Informationsstelle, die sich mit den jeweiligen individuellen sozialen, kulturellen und traditionellen Hintergründen intensiv beschäftigt und auskennt. 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Gö
„[...] jeder von uns zum Beispiel weißt du, (.) hat ein anderen Cha- Charakter; (.) und jeder von uns hat auch ein andren Aussehen aber trotzdem (.) so wenn du so uns alle zusammen mit der Schippe zusammen so wie soll ich halt sagen, so sammeln würdest (.) sind wir vom Kopf her alle gleich (.) so vom Verhalten her auch alle gleich weil (.) bei uns gibs keine Geheimnisse; (.) zum Beispiel ich kenn sein Geheimnis; (.) er kennt mein Geheimnis; (.) so was zum Beispiel halt“ (GD_Transformers, 2015: Z. 20-29).
Zudem – wie in dieser soeben zitierten Aussage von Gökhan aus der Transformers-Gruppe explizit angesprochen wird – besteht ein sehr enges und vertrauenswürdiges Verhältnis, das eine weitere Bestätigung der großen gegenseitigen Kenntnis innerhalb der Gruppe ist. Dieses wird hier als auf habituellen Gemeinsamkeit wie auch auf persönlichem Wissen über andere Gruppenmitglieder basierend beschrieben. Aus dieser Basis heraus entsteht also eine sehr konkrete Hilfestellung sowie Informationsweitergabe für alle Akteure des Kollektivs. Die
8.3 Philosophische Gespräche
273
Freundesgruppe ist sozusagen der Ersatz für evtl. überforderte Sozialarbeiter*innen, Lehrkräfte, Behörden und Eltern. Haias, Mirza und Levent von der Gruppe der Supporters bilden für sich gegenseitig eine Entlastungsinstitution. Sie haben in diesem Interaktionszusammenhang die Möglichkeit, sich von den Alltagslasten temporär oder auch langfristig zu entlasten. Hier ist das „Ausheulen“ erlaubt. Teil einer solchen Gruppe in Falldorf zu sein, bedeutet für einen jungen Mann von einem großen informellen Kontaktnetzwerk zu profitieren. Diese eröffnen Zugänge zu ‚informellen’ Jobs zur temporären Überbrückung oder langfristig auch als konkrete Arbeitsperspektive. Mit diesen Netzwerken entsteht eine für Außenstehende unsichtbare Parallelwelt und Unterstützungsinstitution. Durch die Gespräche verstehen die jungen Männer zudem, dass sie sich bezüglich ihrer Lernprozesse und sozialen Situationen weiterentwickeln: „wir kommen immer weiter wenn wir äh da über (.) alles reden“. Dabei handelt es sich vor allem um positive Lösungen für den Einzelnen oder für die gesamte Gruppe. Diese Problemlösung wird allein durch den Austausch von verschiedenen Gesichtspunkten, Meinungen und Perspektiven und der anschließenden gemeinsamen sowie individuellen Abwägung der einzelnen Punkte vollzogen. Das Kollektiv fungiert zudem als Motivationsmotor. Es hält den Einzelnen davon ab aufzugeben, andere evtl. negative Wege zu gehen oder kriminelle Alternativen im Stadtteil zu suchen. Zusammengefasst dokumentiert sich so über die gesamte Passage hinweg eine Orientierung an reziproker, kollektiver Unterstützung, die dadurch das Enaktierungspotential der Diskussionen/Gespräche beeinflusst. Die positiven Horizonte bilden das Jugendzentrum, die Problemlösungen, die intimen Freundschaften, das gegenseitige Vertrauen sowie die Freiheit, sich frei zu entfalten und zu verhalten in durch Offenheit, Verständnis und Problemlösung geprägten Interaktionskontexten. In Abgrenzung dazu stellen die Straße und Familie sowie die Schule, die Feinde, Probleme, die Außenwelt, die Isolation wie auch das Fremde negative Gegenhorizonte dar.
8.3
Philosophische Gespräche
Während der Feldphase in Italien zeigten sich im weitesten Sinne literarischphilosophische Bildungspraktiken als gemeinsamer Bezugspunkt der Jugendlichen. In der Gruppe Filosofi beschaffen Alberto und Francesco z. B. Literatur, um sich über historische, psychologische oder philosophische Phänomene in informellen Settings zu informieren und sie zu diskutieren. Eine wichtige Rolle spielen dabei u.a. Kontakte zu Studierenden, wie hier am Beispiel eines Freundes namens Beppe elaboriert wird:
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8 Interaktionspraktiken
2439 2440 2441 2442 2443 2444 2445 2446
Fra
„[...] es gibt nen Freund von mir der heißt Beppe der mir geöffnet/ ich war schon für all diese mentale Offenheit prädestiniert aber es gibt diesen Freund von mir Beppe der mir mehr Input gegeben hat/ er hat mich bestimmte Persönlichkeiten kennenlernen lassen die ich nicht kannte/ er hat mich bestimmte Sachen lesen lassen die ich nicht kannte und er hat mir ne komplett neue Welt eröffnet Alter [...]“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 2439-2446).
2456 2457 2458 2459 2460 2461 2462 2463 2464 2465
Alb
[...] es is auch ne ininformelle Sache zum Beispiel ne ich sprech über Persönliches im Sinne daß Freud/ all diese Persönlichkeiten/ ich hab sie seit vier Jahren entdeckt ne? Indem ich Bücher gelesen hab/ indem ich Biografien gelesen hab/ inde::m ein wenig alles ne? Weil es is wirklich ne Sache der Information die ich schon immer hatte/ mir gefällts Sachen zu entdecken und sie gut vorher zu wissen bevor ich drüber rede was ich sag/ verstehste was ich mein? [...]“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 2456-2465).
Wie in dem ersten Zitat deutlich wird, hat Beppe für Francesco eine Art Gatekeeper-Funktion. Er ist nicht nur Ansprechpartner und Freund, sondern auch so etwas wie ein intellektueller Orientierungspunkt. Der Zugang zur Literatur eröffnet Francesco eine „neue Welt“ und die Möglichkeit, sich nach seiner Maßgabe mit Dingen und Themen zu beschäftigen, die eigentlich dem hochkulturellen bzw. formellen Bildungsraum vorbehalten sind. Diese Praktiken finden meist zuhause in Wohnungen oder draußen in ruhig gelegenen Parkanlagen außerhalb von Pratobello statt. Über die Inhalte und Lernfortschritte wird im Freundeskreis beim Haschischrauchen reflektiert und ausführlich über mehrere Treffen hinweg diskutiert. Alle Teilnehmer der Gruppe sind in der Lage auch nach tagelangen Diskussionspausen die Themen vom vorherigen Treffen wieder aufzunehmen. Dies wird anhand eines Auszugs des Beobachtungsprotokolls deutlicher: „03.04.2014 16:40 Der Bus hält am Krankenhaus von Prato Nuovo. Gennaro, Alberto und Francesco steigen aus und gehen zu einer Wiese vor dem Krankenhaus. Dort wartet Beppe sitzend unter einem Baum und liest in einem Philosophiebuch. Die jungen Männer begrüßen ihn und setzen sich zu ihm unter dem Baum. Francesco fragt ihn auf welche Seite er sei und ob er ihn zu einem bestimmten Kapitel was erklären könne. Beppe
8.3 Philosophische Gespräche
275
beginnt über einige spezifische philosophische Themen zu erzählen. Während dessen lässt Gennaro seine Hündin von der Leine und spielt zusammen mit Alberto ein wenig Frisbee. Nach 30 Minuten gesellen sich auch Francesco und Beppe dazu und nehmen statt des Frisbees den Rugbyball. 17:00 Gennaro, Alberto, Francesco und Beppe rauchen zwei Joints, die sie sich untereinander aufteilen. Gennaro lässt von seinem Handy Technomusik abspielen. 17:30 Gennaro spielt ein wenig mit seinem Hund auf der Wiese. Wenig später kommt Alberto hinzu. 17:45 Francesco und Beppe nehmen ihre philosophische Diskussion wieder auf, gehen in das Krankenhaus und kommen mit Getränken und Snacks wenige Minuten später wieder zurück“ (TB_Filosofi_1, 2014: Z. 64-75).
Der Park mit dem Baum repräsentiert einen weiteren Lernort. Die beiden jungen Männer treffen sich, weil sie mit den gemeinsamen Freunden Sport treiben möchten. Francesco hat dafür extra einen Rugbyball mitgenommen. Beppe dagegen überbrückt die Wartezeit mit Lesen. Francesco scheint zu wissen, dass Beppe aktuell ein bestimmtes Buch mit philosophischen Inhalten liest und beginnt mit der Frage nach den erreichten Seiten eher beiläufig eine inhaltliche Diskussion. Schließlich setzen sich auch die Freunde kurz hin und als die Diskussion inhaltlich etwas fundierter wird, stehen die anderen auf und fangen an zu spielen, da sie das Buch anscheinend nicht gelesen haben. Francesco scheint aber entweder das ganze Buch oder zumindest so weit gelesen zu haben, dass er mit Beppe darüber eine halbe Stunde diskutieren kann. Das Thema scheint beide so sehr einzunehmen, dass sie auch beim Einkaufen von einigen Snacks den Faden nach einer Spielunterbrechung wieder aufnehmen. Hier konnte der Beobachter Zeuge einer nebenbei verlaufenden Lernpraktik werden, die durch Unterbrechungen, Ortswechsel und Wiederaufnahmen von Dynamik gekennzeichnet ist. Auch die Teilnahmekonstellation verändert sich. In diesem Fall haben Gennaro und Alberto nicht das Interesse oder Wissen, an Francescos und Beppes Gespräch zu partizipieren. Somit verändern sich die Diskussionsformen ständig, sind jedoch flexibel, denn innerhalb der Peergruppe wird niemand dazu gezwungen an solch einem Gespräch teilzunehmen. Der positive Horizont ist im Falle des oben zitierten Interviewausschnittes der informelle Wissensaustausch, das Lesen von Büchern und die anschließenden Diskussionen mit seinem Freund. Der negative Gegenhorizont ist die formelle Bildung, die Schule und der Frontalunterricht. Es dokumentiert sich somit eine Ori-
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8 Interaktionspraktiken
entierung an Neuem, der das Enaktierungspotential, die schichtübergreifende Interaktion mit einem Freund aus einem anderen sozialen Hintergrund, beeinflusst. Weitere philosophische Diskussionen wurden in der Filosofi-Gruppe über Themen wie Graffiti geführt: 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1
Ge
Fra Ge Fra Cir Ge Cir Fra Ge Fra Ge Fra Ge Fra Ge
[...] leider äh da::nn ich hof- ich kenne ihn gut den FONK1 zum Beispiel/ sein Vater ist ein Straßenkünstler also im Sinne dass wie auch immer es gi::es gibt Writer2 und Writer äh es gibt Writer wie zum Beispiel CESTON der ein sehr raffinierter Typ ist/ anständig und macht flashige Farben die auch ein wenig sein Ego hervorbringen/ es ist auch eine ästhetische Sache ∟es ist ein wenig die Wiederspiegelung deiner selbst/ was sagste? ein wenig spiegeln sie auch ∟ja genau exakt so (.) wenn du ein finsterer Typ bist benutzt du vielleicht ein wenig dunklere Farben/ ein wenig pingelig und präzise/ aber ∟nein Jungs ich weiß andersrum ich denke ∟CESTON na gut er hat Klasse CESTON ist alles/ er ist alles in einem für diejenigen die es erka::nnt haben ∟nein nein na gut ich wollte etwas anderes sagen im Sinne:: also zum Beispiel wenn ∟es gibt nen Unterschied/ es gibt nen Unterschied du einen etwa::s einen etwas scheuen Charakter hast aber meiner Meinung nach auch das isn Scheiß/ es sind alles Sache::n/ es sind alles Scheinsachen/ verstehste ∟nein also was ich mein? also vi- vielleicht siehste mich und ich könnte auf dich als dunkle Person wirken aber mir gefallen warme Farben sehr wie gelb rot grün/ ich würde ∟ich würde sagen dass dir die Farben gelb und rot gefallen/ ich würde es dir dagegen sagen sie überall benutzen aber ich zieh sie nicht an von daher vielleicht ah würdest du so sagen/ ∟ja:: würd ich sagen (.) außerdem würde dir zum Beispiel auch gut ( ) stehn
Anonymisiertes Pseudonym eines Graffitisprühers der lokalen Szene. Im Verlauf dieses Interviewabschnitts werden weitere Pseudonyme genannt. 2 Szeneinterner Begriff für Graffitisprüher.
8.3 Philosophische Gespräche
1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940
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Danke äh du hast gut geschätzt Also manchmal muss ne Person zwei mal darüber nachdenken vielleicht hat jede Persone sowieso/ die Sache ist dass das Schöne folgendes ist/ wir sind alle unterschiedlich Alta/ also vielleicht erwe::ckt in mir Schwarz Beklemmung Angst äh und dir sagt schwarz ∟nein (.) nein (.) nein vielleicht wie faszinierend es ist/ schwarz wie ( ) nagut es ist alle::s auf jede Person abwägbar ∟zum zum Beispiel ich bin eine Person die die sehr also die sich nicht so sehr informiert/ vielleicht gucke ich die Astrologie nein ∟ja Astromie Astromie ( ) das Steinbockzeichen ist wesentlich schwarz ( ) aber es ist eigentlich überhaupt keine schwarze Farbe sondern eher weiß (.) aber wie soll ich dir das sagen (.) also es hat es gibt ∟ah ah na ja jajaja vielleicht etwas was dich von oben zu der Farbe annähert“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 1884-1940).
Ab Zeile 1782 fragt der Interviewer – nach einer längeren Diskussion über Graffiti – wo die Aktivitäten der jungen Männer denn stattfänden. Es werden vor allem szeneinterne Informationen ausgetauscht und validiert. Im Verlauf dieser Thematik gehen die jungen Männer auf die Bedeutung von Farbkonstellationen und -auswahlen sowie auf die Botschaft hinter einem Graffitibild ein. In Zeile 1932 schlägt Gennaro eine Brücke zur Astrologie, um das Thema der Graffitisymbole, -zeichen und -farben aus einer anderen Perspektive zu diskutieren. Durch diesen astrologischen Einwurf seitens Gennaro entsteht eine Diskussion über Mystik, Gott und das Universum. 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
Alb
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„[...] tja alles ist Teil des Universums deshalb ist meiner Meinung nach die Astrologie und auch die Horoskope beziehn sich auf die Sterne/ auf die Wellen/ auf die Bewegungen/ auf diese Sachen/ deshalb isses trotzdem ne Sache die mit uns zu tun hat/ verstehste was ich mein? (.) also im Sinne daß der Mond ∟ja auch weil sich der Erde nähert und wir es merken/ deshalb wird es nen Grund geben verstehste? ∟genau genau in der Tat/ von daher si- sind es Kräfte die ob man will oder nicht wie auch immer/ also sie/ also der Einfluß ne oder vielleicht hat es wird es einen ) mystischen Charakter haben (
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2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2031 2032 2033 2034
8 Interaktionspraktiken
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Ge Fra Ge Fra Ge Alb
∟meiner Meinung nach müsste man man Gott definieren können/ genau das isses Alta/ die Sache der Kraft/ all das was uns umgibt/ im Sinne ich meine die Kraft des Universums/ das is der wahre Gott/ verstehste was ich meine? Abgesehen davon daß meiner Meinung nach der wahre Gott von von dir selbst also der echte Gott bist du/ du für dich selbst/ Punkt/ also also du müsstest hydraulieren hyldrau- hydrotaulisiern ich habe es nich richtig gesagt d- der du du wie ich müsste ihn maximal vergötzen ((anbeten)) so gut es geht/ verstehste was ich meine? Du kannst es für dich behalten ob du jetzt meintest Gemüse und Obst zu essen/ du musst eine geordnete und präzise Person sein und mit dir selbst zufrieden sein und so kannst du auch mit allen zufrieden sein/ du könntest wirklich Gott finden weil ich es in mir gefunden habe/ genauso wenn wir uns aber auf etwas beziehn möchten das wir nich sind/ sein Gott könnte die Universalkraft sein/ verstehste was ich mein? Die Sache ist daß beispielsweise der Mond die Macht hat mich zu verwirren ode::r die Kälte naja warte aber vielleicht ist es so gemeint ∟also na ja ( ) aber warum also die natürlichen Kräfte die sicher ∟aber das sind die wirklichen Kräfte äh ja Alta stärker sind als die Kräfte sagen wir die uns besser kontrollieren können ∟weil sowieso am Ende ich meine sie bezwingen dich also mit dir dir sie ergänzen und bezwingen dich zugleich ∟ich war ∟rechne auch damit dass sie nicht helfen ne“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 1991-2033).
Albertos Aussage „tja alles ist Teil des Universums“ (Z. 1991) entfaltet im Verlauf der Passage propositionalen Gehalt. Es werden Kräfte und Beeinflussungen vom Universum von Alberto, Francesco und Gennaro beschrieben, die Handlungen und Denkweisen der Menschen gelenkt werden. In den Zeilen 2000 – 2003 werden diese Gedanken von Gennaro bestätigt und er konkludiert damit, dass Einigkeit darüber herrsche, dass es sich um einen mystischen Charakter handele, dessen Kräfte den Menschen unvermeidlich beeinflussen würden. Francesco leitet daraufhin ein neues Thema mit derselben Proposition ein, das sich mit der Definition Gottes beschäftigt. Er elaboriert argumentativ in einem deklaratorischen Modus, indem er Gott doppelt bestimmt: als Kraft, die im Menschen liegt, und als Kraft, die von außen kommt. Er nimmt eine persönliche Position ein und sieht sich auch selbst als sein eigener Gott mit seinen eigenen inneren (Universal)Kräften.
8.3 Philosophische Gespräche
279
Exemplifizierend elaboriert Francesco bis Z. 2024 weiter, dass durch die eigene Zufriedenheit auch die der anderen erreicht werden könne und diese wiederum vom Mond bzw. Universum beeinflusst sei. Zwischen Gennaro und Francesco entfalten sich unterschiedliche Auffassungen von den Kräften und somit differenzieren sie einerseits die natürlichen und andererseits die wirklichen Kräfte. Beide können aus ihrer Sicht jedoch den Menschen ergänzen oder bezwingen. Es lassen sich basale philosophische Inhalte erkennen, die als Einflüsse auf die Gesellschaft diskutiert werden. Dabei werden von den Akteuren auch Oppositionen entworfen. Alberto beispielsweise setzt Francesco in Z. 2034 entgegen, dass Kräfte bei bestimmten Problemen nicht helfen können. Hier und an vielen weiteren Stellen werden das ständige Ausloten, das Ausdifferenzieren, die Sicht aus verschiedenen Perspektiven. Sie geben sich nicht einfach mit einem Ergebnis zufrieden, sondern lassen oftmals das Ende offen, ohne eine Lösung. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt nicht wieder aufgenommen wird (vgl. hierzu das Thema in den verschiedenen Interviews und Protokollen der Teilnehmenden Beobachtung; vgl. auch Pfaff 2006, Kap. 5). 2034 2035 2036 2037 2038 2039 2040 2041 2042 2043 2044 2045 2046 2047 2048 2049 2050 2051 2052 2053 2054 2055 2056 2057 2058 2059
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„gestern gestern war ich zufällig a- a- am Computer meiner Cousine und habe die Geschichte des Prometheus gelesen na gut es hat nichts damit zu tun glaub ich mit dem geh∟bringst du mir bitte ein Bier mit/ draußen //an Alberto gerichtet// ∟ja natürlich Aber wie auch immer Prometheus war war ein Titan au::s aus aus mm∟saugeil glaubste mir daß ich mir das gestern zwischen den Titanen angeguckt habe? Wo wir Prometheus gesehn haben? Is das nich der die Waffen fü:: für fü fü Zeus gemacht hat? für für ∟ja sagen wir ja/ aber zur gleichen Zeit die anderen die er kannte die ihm das Geschenk gemacht haben hat er verbreitet die º( )º hat er unters Volk verbreitet/ na gut wegen ner bestimmten Geschichte und deshalb hat Zeus ihn bestraft (.) vor allvor allem mit dem Feuer äh mm wie kann ich das sagen/ es ist ein sagen wir es ist ne ideologische Zusammenfassung die in der Novelle geschrieben steht um wie auch immer zu verdeutlichen daß der Mensch letzten Endes ne erledigte Person is/ also erledigt nich im Sinne daß es hier endet/ im Sinne daß sie limitiert is als sie dann durch durch das Erlernen des Gedankengangs die Natur schlägt/ also Feuer vielleicht Blitze auf auf auf
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8 Interaktionspraktiken
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dingsda (.) also schon da von da an fängt die die wahre ∟ja ja Evolution der Menschen an und daher dann das Graffito/ die Graffitis in den Höhlen/ dann sind sie raus aus den Höhlen und haben Häuser Häuser Materialien gebaut/ findet Gold im Boden/ so viel Sachen/ beginnt sich zu bewegen und jetzt wo wir inner Ära angekommen sind wo wir nichts finden können abgesehn vom Medikament um eine bestimmte Krankheit zu vermeiden oder der Grund um keine Unfälle mit den Autos zu bauen/ also wir sind nun da angekommen nur um Probleme zu reparieren die entstehen ∟aber du warum sagst du also schon so also warum also alles ∟mittlerweile mittlerweile sind wir fast die Herrscher der also der Natur also wenn wir möchten daß es regnet regnets und für alle Fälle geh ich zum Brunnen hols und bewässere (.) die Pflanze wenn wenn wir Sonne möchten gibts Sonne/ mit Sonne könnenwa Energie machn (.) wir haben Feuer Feuerzeug Gas also wir können alles machen/ alles was wir vorher nich nich machn konnten oder was schwierig zu machen war oder was jetzt schwierig zu machen is ∟meiner Meinung nach sind wir nicht wirklich Herren der Natur wir können sie formen ∟von daher haben wir jetzt kein Scheiß mehr zu tun/ von daher ist für uns/ wir sind so wirklich in diese Gesellschaft eingedrungen die die also uns schon als Kinder von der Playstation bis zur Pistole in die Hand drückt/ wir wachsen so auf dasswa alle töten müssen ∟aber was soll das heißen? es sind Perioden Alter/ also also meine Mutter verdammte Scheiße vielleicht hatte meine Mutter Modellzüge aus Holz/ verdammt das bedeutet daß diese Züge aus Holz/ wenn du mir jetz vielleich sagst es gibt zu viel Globalisierung in Anführungszeichen geb ich dir auch Recht Alta/ also vielleicht gibt man einem Produkt heute:: kein Wert mehr/ was weiß ich/ ∟na also für mich ist es immer auch ne Sache von Schikane/ was ich vorher meinte/ wer mehr Wert auf diese Sachen legt hat hat keine Möglichkeit weil es gibt immer den der über einen steht aufgrund von Empfehlungen und andren Sachen/ verstehste? Von daher isses trotzdem richtig was er in Anführungszeichen sagt/ im Sinne daß wir nich die Herrscher der Natur sin
8.3 Philosophische Gespräche
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aber vielleicht gibs so viel daß die einzige Sache die man zu machen hat is entweder das zu verbessern was man gemacht hat oder die Schädn zu reparierEn die gemacht wurden indem man verbessert was gemacht wurde/ verstehste was ich mein? Also am Ende (.) (GD_Filosofi, 2014: Z. 2034-2110)
Gennaro schließt das Thema Gott in Z. 2034 mit einer Transposition ab. Er erzählt, wie er sich am Computer seiner Cousine mit Prometheus – in diesem Fall nur ein Gott – beschäftigt hatte. Hier wird zuerst einmal ganz deutlich, wie Gennaro seine Informationen, sein erlerntes Wissen weitergibt, und vor allem, wie er dieses Wissen erlangt hat. Er benutzt also den Computer und, damit verbunden, sehr wahrscheinlich das Internet als Lernmedium. Zudem scheint das Thema Mystik für Gennaro besonders wichtig zu sein (siehe hierzu auch sein Einzelinterview in Kapitel 7.3.1) sodass er sich seinen Freunden gegenüber als Experte darstellt, indem er anhand von Prometheus sein Wissen exemplifizierend weitergibt. Hier dokumentiert sich also die Gesprächspraktik als informelle Lehr- und Vermittlungspraktik. Anhand dieser Passage der Gruppendiskussion wird der Lernprozess deutlich. Gennaro gibt Informationen an die Gruppe weiter, woraufhin neue Kenntnisse und weitere Informationen von den anderen hinzugefügt werden. Dabei hat Gennaro als Person, die das Thema eröffnet, die Zeit zu erzählen und zu beschreiben, ohne unterbrochen zu werden. Es wird ihm also zugehört und erst nach einer gewissen Zeit werden Gegenargumente oder Befürwortungen zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich somit um eine Wissensaneignung über Kommunikation. Alle vier Akteure kommunizieren über die gesamte Gruppendiskussion themenbezogenes Wissen und nutzen die Treffen in der Gruppe als Plattform für die Darstellung von Wissen. Dieses wird sich durch andere Teilnehmer angeeignet und im weiteren Diskurs verwendet. Hier dokumentieren sich Prozesse der Darstellung und Aneignung von Wissen. Die Interaktionen sind Gennaros, Francescos, Ciros und Albertos Bühne. In den Zeilen 2047 - 2060 wird die Funktion und genauere Bestimmung von Prometheus von Gennaro beschrieben. Hierbei wird auf die Willkür der Götter, denen die Menschen ausgesetzt sind, hingewiesen und er beginnt eine neue Proposition in Zeile 2062 („die wahre Evolution“), die er elaboriert, um auf den von ihm wahrgenommenen Verfall der Menschheit aufmerksam zu machen. Es könnte sich an dieser Stelle um eine starke Zusammenfassung der Menschheitsgeschichte handeln. Nach weiteren Propositionen, Differenzierungen, Transpositionen und Validierungen wird deutlich, dass vor allem Gennaro und Francesco eine theoretische Auseinandersetzung über Menschheitsgeschichte betreiben, die sie mit der Entwicklung der Bewohnenden aus ihrem Stadtteil verbinden. Dabei spielen sie mit dem Diskurs, auch wenn es an einigen Stellen wie ein Streit aussieht.
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8 Interaktionspraktiken
Zusammengefasst werden zwei zentrale Themen besprochen: das Thema Gott und sowie das Thema der menschlichen Evolution und Entwicklung. Ciro hält sich aus der Diskussion komplett heraus. Er malt währenddessen auf einem Blatt Papier, das auf einem Stuhl liegt, verschiedene Graffitischriftzüge und scheint lediglich den anderen Freunden zuzuhören. Gennaro scheint gerade am Anfang den Horoskopen zu glauben, zeigt aber Wissenslücken in der Astrologie. Francesco sieht dagegen die Erzählungen und Beschreibungen von Gennaro etwas skeptischer, entgegnet Gennaros Thesen und lenkt die Diskussion aktiv auf bestimmte Phänomene. Alberto dagegen scheint eher die Rolle des Schiedsrichters zwischen Gennaro und Francesco zu übernehmen. Er sieht die vorgebrachten Argumente differenzierter und stellt sie in ein Verhältnis zueinander. In konzeptioneller Auseinandersetzung zu informellem Lernen / Peer Learning werden diese Prozesse wie folgt beschrieben: “The ability to think critically […] involves three things: (1) an attitude of being disposed to consider in a thoughtful way the problems and subjects that come within the range of one's experiences, (2) knowledge of the methods of logical inquiry and reasoning, and (3) some skill in applying those methods. Critical thinking calls for a persistent effort to examine any belief or supposed form of knowledge in the light of the evidence that supports it and the further conclusions to which it tends. It also generally requires ability to recognize problems, to find workable means for meeting those problems, to gather and marshal pertinent information, to recognize unstated assumptions and values, to comprehend and use language with accuracy, clarity, and discrimination, to interpret data, to appraise evidence and evaluate arguments, to recognize the existence (or non-existence) of logical relationships between propositions, to draw warranted conclusions and generalizations, to put to test the conclusions and generalizations at which one arrives, to reconstruct one's patterns of beliefs on the basis of wider experience, and to render accurate judgments about specific things and qualities in everyday life” (Glaser 1941: 14).
Durch die Diskussion zu den Kräften und Göttern, besonders am Beispiel von Prometheus, entstehen Metaphern, die Brücken zu der aktuellen gesellschaftlichen und sozialräumlichen Situation der jungen Männer schlagen. So entsteht ein komplexer Reflexionsprozess der eigenen sozialen Lage, der zum kritischen Denken innerhalb der Gruppe motiviert, und eine gegenseitige Beeinflussung der jeweiligen aufgeworfenen Ideen und Gedankenverläufe entsteht: “And, since this group critical thinking process is the learning environment, we, therefore, have an enriched learning environment which should stimulate more learning of critical thinking. Thus, we can, theoretically and ideally, create a continuous, positive feedback loop with the group process and individual critical thinking interacting and influencing each other through communication. […] communication is both a mediating and a moderating variable. It is the channel for the observation of others’ thought process” (Dixson 1991: 19).
8.4 Reflexion und Metakommunikation der jungen Männer
283
Zudem vermischt sich in dieser Passage Spiritualität mit wissenschaftlichen Kenntnissen, die zu einer ambivalenten Kommunikationsform in der Gruppe führt: die jungen Männer wechseln zwischen Hochitalienisch und lokalem Slang, übernehmen zeitweise auch einen journalistischen Sprachgebrauch – je nach beschriebener Situation. Die Sprache hängt von den gewählten Themen ab und die Themen selbst werden in einem sehr ernsten Ton besprochen. Es sind zwischendurch keine Witze, Beleidigungen oder kollektives Gelächter zu beobachten. Die vorgestellten Interpretationen zeigen, wie die Jugendlichen medial erworbenes Wissen aus unterschiedlichen thematischen Feldern kollektiv akkumulieren bzw. zusammentragen und auf dieser Basis die eigenen Erfahrungszusammenhänge kritisch reflektieren.
8.4
Reflexion und Metakommunikation der jungen Männer
2078 2079 2080 2081 2082 2083 2084 2085 2086 2087 2088 2089 2090 2091 2092 2093 2094 2095 2096 2097 2098 2099 2100 2101 2102 2103 2104 2105
DG
Gö DG Idri Kar Idri Kar Idri
Kar
„[...] ich hab jetz nochmal ne da fällt mir äh Frage ein (.) [Idris: ja bitte] ähm und zwar hab ich ja gesehen dass ihr ja äh sehr gerne (.) zusammen sitzt und unt- euch unterhaltet und diskutiert; (.) [Idris: ja] äh was hat für euch für ne Bedeutung, (.) zusammenzusitzen und zu diskutieren, (.) über mh::h bestimmte Themen? ∟nei- (wenn du nisch da würdest) würden wir alle hier nackt sitzen @(.)@ ∟was-was fühlt ihr dabei? (.) Nein also die Sache ist (.) du hast du hast gesagt der redet weiter. ∟(wir ver-) wir vertrauen uns (.) egal um welches (.) Thema es geht. ∟genau. Also (.) sagen wir mal (.) wir sind setzen uns jetz hier zusammen; ∟( ) alles überhaupt zu reden. ∟ wir setzen uns jetz hier zusammen sagen wir mal (.) und dann sagen wir mal (.) er hat was auf (.) er hat etwas auf dem Herzen; (.) er möchte das unbedingt loswerden. (.) Dann sind wir ja (.) die Vertrauenspersonen; (.) und dann sagt der zum Beispiel (.) Gott bewahre irgendwas is passiert mit seiner Familie; (.) irgendjemand is gestorben. (.) Dann heult der sich halt bei uns aus ∟weil es gibt auch (.) Sachen (.) die man den Eltern nisch
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2106 2107 2108 2109 2110 2111 2113 2114 2115 2116 2117 2118 2119 2120 2121 2122 2123 2124 2125 2126 2127 2128 2129 2130 2131 2132 2133 2134 2135 2136 2137 2138 2139 2140 2141 2142 2143 2144 2145
8 Interaktionspraktiken
Idri
Ra Idri
Ra
erzählen kann denn (.) [Idris: genau] den eigenen FaFamilie nisch so [Idris: sagen wir ma] erzählen kann. ∟mal sagen wir mal (.) isch hab zum Beispiel gestern ne Frau geschwängert (.) möschte es aber meinen Eltern nich sagen (.) und sie möchte das Kind nich abtreiben. (.) Zu wem geh ich, zu meinen Freunden ersmal (.) [DG: °mhm°] erkläre denen die Sage (.) dies- diese Lage; (.) und dann müssen wir halt (.) nen Punkt finden damit halt diskutiert wird (.) und dann wird sehr viel diskutiert; (.) ∟Beste is halt wirklich ( ) ∟und dann (.) kommen wir (.) wir wie wir hier zusammen sitzen (.) kommen wir auf einen Punkt. (.) Und dann wird halt immer daraus gezogen und das is halt immer (.) wie soll ich sagen das is halt immer so (.) es erleichtert einem zum Beispiel; (.) ((Gökhan sagt etwas Unverständliches im Hintergrund)) zum Beispiel letztens wurd ich beim Rauchen erwischt. (.) isch hab misch hier mit meinen Freunden zusammengesetzt (.) ich hab gesagt das und das is passiert Jungs (.) wurde zwar gelacht; (.) aber es wurde auch halt ernst genommen (.) dann wurd jetz (.) achten die halt drauf (.) die sagen zu mir rauch nich hier rauch n bisschen da. (.) Oder isch äh wir machen das jetz ab sofort so Idris (.) du gehs äh zehn Meter weg von uns (.) und wir warten hier in der Ecke und sagen dir Bescheid wenn jemand kommt (.) [DG: °okay°] damit du zu Ende rauchst. Das sind haltso ( ) ∟(das Ding is halt wenn man jemand am Herzen) etwas liegt (.) wenn man halt das zu seinen Freunden sagt dann bekommt man halt auch Tipps von denen (.) [Idris und Ramin reden ein paar Worte durcheinander] Und dann (.) reagiert man halt dazu auf diesen Thema (.) hört man halt auf jede Meinung von jedem Freund; (.) und das is halt das Gute daran (.) //zustimmende Geräusche von Idris, Gökhan und Karan// dass man halt auch (ma) verschiedene Meinungen hört. [DG: mhm] ( .)“ (GD_Transformers, 2016: Z. 2078-2145).
Zusammenfassend dokumentiert sich anhand dieser Passage eine Orientierung an gemeinschaftlichen Problemlösungen. Die positiven Horizonte bilden, wie zuvor bereits rekonstruiert, ein gegenseitiges Vertrauen zueinander, die Freiheit über alles innerhalb der Gruppe sprechen zu können, die Vergemeinschaftung,
8.4 Reflexion und Metakommunikation der jungen Männer
285
die gemeinsame Freizeitgestaltung und die multimediale Kommunikation. In Abgrenzung dazu ist die Familie kein Vertrauensraum und die jungen Männer wären keine Freundesgruppe, wären diesen Streitereien und Misstrauen unterworfen, von Langeweile und individueller Freizeitgestaltung geprägt sowie von erschwerter Kommunikation betroffen. Diese Orientierungen münden in der gemeinsamen Praxis des Gesprächs und des Diskutierens. Das Diskutieren ist für die jungen Männer eine Form der Verarbeitung von (privaten) Sorgen und Problemen sowie Erlebnissen und Ereignissen, die sowohl einen familiären, freundschaftlichen oder auch stadtteilbezogenen Bezug haben können. Die Freundesgruppe ist zudem auch ein Familienersatz, da mit den eigenen Familien nicht alle Probleme besprochen werden können – hierzu beschreibt Idris exemplifizierend eine ‚delikate’ Situation, wie bspw. die Schwangerschaft einer Freundin. Die Gruppeninteraktion ist somit die Plattform, in der solche Ereignisse partizipativ besprochen werden können, ohne dass gegenseitige Anschuldigungen entstehen bzw. jemand negative Konsequenzen zu befürchten hat. Ganz explizit beschreiben die jungen Männer, dass die Gruppe eine Ansprechinstanz ist. Es werden gemeinsam Lösungen gefunden und je nach Tiefe des Themas wird auch „sehr viel diskutiert“ – solange, bis ein Resultat gefunden ist. Dabei spielt, wie in der Gruppe Isolani aus Pratobello (vergleiche GD_Isolani, 2015: Z. 255ff.), auch hier das „Wir“ eine große Rolle. Es wird auch in dieser Gruppe versucht gemeinsame Ziele zu erreichen: „und dann (.) kommen wir (.) wir wie wir hier zusammen sitzen (.) kommen wir auf einen Punkt“. Verstärkt wird dies auch durch das bewusste Einbinden und vor allem Nicht-Vergessen der anderen Gruppenmitglieder über multimediale Instrumente wie die Whatsapp-Gruppe: „wir setzen uns wir sind um zehn Uhr noch hier drei Leute sind hier aber einer fehlt (.) dann schreiben wir dem halt mit (.) mit in der Gruppe weil er muss ja morgen arbeiten“ (GD_Transformers, 2015: Z. 22052208). Dies erleichtert den Umgang miteinander und die gemeinsamen Treffen bleiben somit nicht unbesprochen. An dieser Stelle dokumentiert sich erneut eine Orientierung an Interaktion. Diesbezüglich sind auch Ähnlichkeiten mit der Gruppe Filosofi in Pratobello aufzufinden. Sie debattieren gerne über die Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, die für die jungen Männer eine Barriere darstellen an ihre Ideen und Projekte zu glauben und an diesen festzuhalten. Im Unterschied zu den Transformers stehen den Filosofi keine Sozialarbeiter*innen zur Seite, wie dies in Falldorf mit den Mitarbeiter*innen des Jugendzentrums gegeben ist. Zudem existiert keine physische Anlaufstelle, wie es bspw. ein Jugendzentrum sein könnte. Trotz dieser fehlenden Strukturen besprechen die Filosofi eigenständig gesellschaftsrelevante Gespräche wie in folgender Passage, bei der es eine Debatte über Umweltverschmutzung und Einsparung von Benzin geht. Diese Diskussion führte zu einer
286
8 Interaktionspraktiken
kurzen allgemeineren Konversation über den aktuell herrschenden gesellschaftlichen Zwang, sich mit Autos fortbewegen zu müssen, da auch die Infrastruktur so gebaut sei, dass es keine andere Wahl gäbe. Schließlich seien die öffentlichen Verkehrsmittel in Pratobello zudem noch unzuverlässig und rar und auch die Straßen wären für ein Alternativmittel wie das Fahrrad ungeeignet (vgl. GD_Filosofi, 2014: Z. 1905-1926): 2249 2250 2251 2252 2253 2254 2255 2256 2257 2258 2259 2260 2261 2262 2263 2264 2265 2266 2267 2268 2269 2270 2271 2272 2273 2274 2275 2276 2277 2278 2279 2280 2281 2282 2283 2284 2285 2286 2287
Alb
Fra
Cir Fra Cir Alb Fra Alb Fra Alb Fra Ge Fra Alb Fra Alb Fra Alb Ge Alb
„In der Tat ist es absichtlich so gemacht dass du sagen musst ich kauf mir auf jeden ein Auto weil wenn ich dort ankommen will und ich zu Fuß gehe musst du entweder die Strecke gehen wie die Autos und somit die dreifache Zeit einplanen weil du nicht zu Fuß durch die Felder gehn kannst weils nich die Möglichkeitn gibt/ Verstehste? ∟aber weißt du die Sache die mir bei uns aufn Sack geht/ also die Sache die mir bei uns auf den Sack geht ist daß wir so sehr versuchen/ also wir sehen alle Probleme wir analysieren sie sehr gut aber die Sache is daß wir nicht versu::chen wirklich dann ne Lösung zu konkreti- konkretisieren/ ich will damit sagen wir können weitere 20 Minuten über die Sache der ∟weil mit den wenigen Mitteln die Verschmutzung reden wir haben können wir nicht Alta/ weil wir mit den wenige::n Mitteln nicht können ∟wir sind eingeschränkt das is die Sache ∟ja aber siehst du die Sache ist dass wir weitere male weitere zehn Jahre sagen können mit den wenigen Mitteln können wir nicht (.) wir vier bilden einen Kern der ∟aber in der Tat wenn wir wollten vielleicht also wir könnten uns mit der Absicht zusammentun/ glaub mir/ wir könnten auch sagn ∟aber genau ich will ein Zimmer also du schreibst ‚Verdammt hier werden Debatten geführt/ Leute wenn ihr Eier habt und sprechen wollt //klatscht laut in die Hände// kommt her!’ ∟kommt her gro::ßartig verstehste was ich mein? und es kostet wie viel kostet es ∟ja (.) richtig 50 Euro die Woche? zu viert kriegen wir 50 Euro die Woche zusammen ∟nein aber meiner Meinung nach ist es nicht nur die Sache Debatten zu führen weil sowieso wie du sagst wie ∟nein nein selbstverständlich du sagst du sprichst findest Lösungen aber dann findest ∟( ) du nicht die Mittel um diese Sache zu lösen weil du von
8.4 Reflexion und Metakommunikation der jungen Männer
2288 2289 2290 2291 2292 2293 2294 2295 2296 2297 2298 2299 2300 2301 2302 2303 2304 2305 2306 2307 2308 2309 2310 2311 2312 2313 2314 2315 2316 2317 2318 2319 2320 2321 2322 2323 2324 2325 2326 2327 2328 2329 2330 2331 2332 2333
Fra Alb Fra Alb
Ge Alb
Ge Alb
∟ja der Gesellschaft limitiert bist die dir bestimmte Einschränkungen vorgibt verstehste (.) deshalb (.) bravo ∟und wir ändern die Gesellschaft/ die Gesellschaft bin ich bravo deshalb musst du es machen/ musst du entweder ne Methode finden ne Methode auf die die Gesellschaft niemals drauf kommen würde/ ich blockiere diese Sache weil du ne Sache kreierst die sie nich kennen verstehste? ∟aber ein weitere::r wie auch sein kann dass du einen Song machst und sagst ‚Yo du bist ein Arschgesicht’ aber wie/ also es kann sich auch so entwickeln daß ich vielleicht mit Gennaro spreche aber Gennaro es nich hört und ers nicht merkt daß ich über ihn rede verstehste aber ich hab solange mal mein Problem den andren Personen geschildert die dir dann sagen werden ‚Ah dieser sagt das also dieser vielleicht hat er es aus dem Grund gemacht’ und also sie werdn drüber nachdenkn/ verstehste was ich mein? Deshalb die Sache is n Mittel zu finden das dir ermöglicht dir ein wenig die Tore zur Welt zu öffnen daß du dann die Möglichkeit hast zu wählen (.) ok (.) ich geh hier rein und mach dies geh da rein und mach jenes und dann langsam langsam Schritt für Schritt Jahr für Jahr (.) Monat für Monat je nachdem wird ne Lösung kommen (.) auch wenns nie das sein wird was du wolltest (.) du hast aber dann deinen Teil gemacht und überlässt es dem der nach ∟aber ich will dir sagn dir kommt/ verstehste was ich mein? (.) Deshalb isses auch ne Sache was zu hinterlassen (.) irgendne Botschaft zu hinterlassen (.) verstehste? Also es reicht ne Idee zu hinterlassen die du hast weil wennde keine Wurzel hast auf die du die Idee aufbauen kannst (.) verstehste was ich mein? Wir sind hier und reden und dann gehnwa raus un es spricht keiner mehr über diese Sache //klatscht in die Hände// es stirbt hier drin und endet so (.) verstehste? Wennde dagegen hier hier diskutierst drüber sprichst und dann wennde zuhause bist drüber nachdenkst und sagst ‚Scheiße ich muss ne Lösung finden’ machst dus so dass die Basis entsteht und dann von dieser Basis machst du langsam langsam deine Pläne/ wennde sie dann hast (.) ich mach dir n dummes Beispiel/ 20 Lebensjahre um diese Sache zu machen und in zwanzig Jahren sagste ok nach 20 Jahren macht es niemand mehr du mußt es so machen damit dann jemand später deine Lehren fortführt wie mit Dings
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8 Interaktionspraktiken
2334 2335 2336 2337 2338 2339 2340 2341 2342 2343 2344 2345 2346 2347 2348 2349 2350 2351 2352
Fra Alb
mi::t verdammt wie heißt er er heißt Fre-Freud ne Fraud äh zum Beispiel er ha::t allein mit der Psychoanalyse begonnen als man noch dachte daß die äh Psychoanalyse verstehste? Äh daß die schizoschizofrenen Leute dass sie schauspielen würden um sich nicht kurieren zu lassen aber er hat mit denen gesprochen/ er hat mit den Leuten gesprochen und hat Symptome entdeckt/ hat andre Forscher aus Wien geholt und gesagt ok //klatscht in die Hände// ich habe die Psychoanalyse entdeckt und das das is das/ niemand hat ihm zugehört und nach 20 Jahren habn sie ne Bewegung gegründet/ Verstehste was ich mein? Von daher das isses/ er war der erste der diese Sache gemacht hat und andre Menschen einbezogen hat diese Sache zu machen und die haben ne Bewegung kreiert/ heute geht die Psychoanalyse weiter weil er was Richtiges und Vernünftiges erfunden hat und er hat das Mittel gefunden ∟bin einverstanden um diese Sache zu konkretisieren“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 2249-2352).
Nachdem sich Alberto in den Zeilen 2249 – 2252 zu der aktuellen Infrastruktursituation in der italienischen Gesellschaft äußert – und sich implizit sicherlich auf die Situation in Pratobello und Sasso bezieht –, wirft Francesco eine Proposition auf, die für den späteren Verlauf der Diskussion von großer Bedeutung wird. Er erkennt die Problemanalysefähigkeit der Gruppe, die im Rahmen der Gesprächsrunden stattfindet, sieht jedoch keine problemangehenden Handlungen seitens der einzelnen Akteure. Für diese Aussage erntet Francesco von Ciro und Alberto explizite Abwehrreaktionen. Beide sind der Meinung, dass aufgrund der gesellschaftlichen (Infra)Strukturen problemlösendes Handeln erschwert wird, was die von Francesco kritisierte Handlungsunfähigkeit bzw. Untätigkeit der Gruppe erkläre. Daraufhin versucht Francesco die Wirkung der eigenen Diskussionen der Gruppe auf gesellschaftliche Veränderungen zu reflektieren und dies den anderen Gruppenmitgliedern vor Augen zu halten. Ihm reichen die Gesprächsrunden nicht aus und er kritisiert deren fehlende Wirkung. An dieser Stelle der Gruppendiskussion wird zum ersten Mal das Diskutieren und dessen Effizienz infrage gestellt. Alberto sieht die Schwierigkeit darin vorhandene theoretische Lösungsansätze in der Praxis umzusetzen, weil es an den nötigen Ressourcen fehlt. Hier wird implizit auf die fehlende Präsenz des Staates in Pratobello verwiesen sowie auf die damit verbundenen geringen oder nicht vorhandenen kulturellen, sozialen und stadtteilorientierten Angebote. Diese können somit auch nicht – verglichen mit der Situation in Falldorf mit dem Jugendzentrum und den präsenten engagierten Sozialarbeiter*innen – als Vorbild dienen, aktiv und vor allem motiviert an der
8.4 Reflexion und Metakommunikation der jungen Männer
289
Umsetzung von entwickelten Ideen zu arbeiten. Die Debattenrunden scheinen die einzige Befreiung und Legitimation der Gruppe innerhalb dieses exkludierten Stadtteils zu sein. Was jedoch für sie frustrierend ist, ist die Absenz einer geeigneten Plattform, die eine öffentliche und eventuell weitreichendere Debatte ermöglicht. Somit wird implizit auch auf die segregierende, exkludierende und diskriminierende Situation von Pratobello verwiesen, die sich weitaus ausgeprägter als in Falldorf darstellt. Vor diesem Hintergrund weist Francesco auf die Autonomie der Gruppe hin, welche die einzelnen Akteure bzw. Hustler ja schon in den informellen ökonomischen Praktiken gewohnt sind zu nutzen: das Geschäftskonzept. Die Erlangung von geeigneten Ressourcen für ein aktives und praxisorientiertes Handeln würde er demnach durch eine offizielle Debattenrunde im Stadtteil über Teilnahmebeträge anstreben. Somit würde er ein Geschäftskonzept mit dem Hobby der Gruppe verbinden. An dieser Stelle dokumentiert sich eine Orientierung an aktiver Partizipation, worin gleichzeitig ein Enaktierungspotential liegt, um wiederum andere dazu zu motivieren aktiv zu werden und sich aus der gesellschaftlichen Lähmung zu befreien. All dies wird vor dem Hintergrund ersichtlich, dass die negativen Gegenhorizonte durch die Untätigkeit, Ressourcenarmut, Plattformmangel, Handlungslähmung, Unsichtbarkeit der Debatten und Motivationslosigkeit gebildet werden. In Abgrenzung dazu formen die Aktivierung des Stadtteils, Mut zu innovativen Ideen sowie die bereits bestehenden theoretischen Lösungsansätze die positiven Horizonte. Alberto reagiert auf Francescos Anregungen ab Zeile 2290 mit dem Vorschlag (innovative) Ideen einfach auszuprobieren und deren Wirkung abzuwarten. Dies versucht er exemplifizierend – vor dem Hintergrund seines musikalischen Erfahrungsraums – anhand eines viralen Songs zu erklären, der von dem Produzenten eventuell durch Zufall und ohne große vorherige Intentionen kreiert, dann aber zu einem Hit wurde, da er den Geschmack der aktuellen Gesellschaft traf. Alberto sieht im Zufall eine Lösung – ähnlich wie die Hustler Peppino und Gennaro in ihren Verkaufstaktiken (vgl. Kapitel 7). Eine gute Idee kann aus seiner Sicht der Gesellschaft als Input für weitere oder ganz andere Veränderungen nutzen und diese auch später zu ‚Revolutionen’ und Transformationen führen. Implizit sieht Alberto also durchaus auch in den Worten und Botschaften eine Kraft, die zu veränderungsmotivierenden Handlungen führen, die aber nicht unbedingt von der Gruppe selbst, sondern von anderen umgesetzt werden können. Zudem scheint er im Gegensatz zu Francesco die Gesprächsrunden als eine erneuerungsfördernde Handlung zu sehen. Alberto versucht zudem der Gruppe anhand von Freud und seinen psychoanalytischen Studien, exemplifizierend zu erklären, dass gute Ideen Entwicklungszeit brauchen und dass die Diskussionen innerhalb der Gruppe durchaus auf lange Sicht einen Effekt haben (können). Schließlich habe Freud auch lange Zeit gebraucht, um seine Idee vollständig zu entfalten sowie um Gehör
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8 Interaktionspraktiken
in der Gesellschaft zu finden. Hiermit verweist Alberto auch auf die Bedeutung des richtigen Zeitpunkts. Er setzt also der eher negativen Sicht Francescos eine positive Lesart entgegen. Dabei handelt es sich um ein Ringen um Deutung. Daraufhin entsteht bezüglich des Stichworts Zeit ein neues Thema innerhalb der Diskussion, das Francesco mit der Proposition aufwirft: „Die Zeit heute ist zu modern“. 2353 2354 2355 2356 2357 2358 2359 2360 2361 2362 2363 2364 2365 2366 2367 2368 2369 2370 2371 2372 2373 2374 2375 2376 2377 2378 2379 2380 2381 2382 2383 2384 2385 2386 2387 2388 2389 2390
Fra
Alb Fra Ge Fra Alb Fra Alb Fra
Alb Fra Alb Fra
Alb Fra
„[...] aber weißt du was die Sache is? meiner Meinung nach is die Sache dass leider die Zeiten zu:: zu:: (.) die Zeit heute is zu modern/ es is alles/ wir sind zu viele Personen weil vorher vielleicht eine Idee konnte:: ∟die Zeit erscheint uns so schnell meiner Meinung nach/ die Zeit also im Sinne daß sie zu schnell vergeht verstehste? ∟ja ja ja jajaja weil es ist unterteilt weil es dich ∟º( )º zwingt diese Zeit zu unterteilen verstehste was ich mein? ∟klar Du arbeitest kehrst nach Hause gehst ins Fitnessstudio kehrst zurück nach Hause isst schläfst morgen wach∟das isses weil du hast die:: weil ich gezw- die zwingen dich dazu zu unterteilen aber jetzt is mir klar ich/ Jungs vielleicht irre ich mich/ besser noch ich frage euch/ gebt mir ruhig auch ihr eure Meinung (.) mir is klar geworden dass meiner Meinung nach (.) nn- nicht mit den Worten und mi- mit dem nein Krieg/ man kann nich- leider kann man nichts lösen weil es is alles so/ es is alles so verfault dass man nur mit der Gewalt/ mir tut es Lei- mein mein Herz weint wirklich während ich das hier sage aber nur mit der Gewalt kann man die- diesen Zustand der Gewalt verändern den es im Moment gibt (2) warte lass mich zuende reden (.) im ∟ich bin nicht damit einverstanden ∟kla klar Sinne ich meine nicht Gewalt auf der Ebene von Mord und Vergewaltigung und Zerstörung aber ich meine äh eine praktische und mächtige Handlung im Sinne daß ∟nein nein klar man wirklich 1 Million und 500.000 Menschen in den Geba- in den Gebäuden der Macht/ die Personen bei den Ohren herausziehen nicht wirklich bei den Ohren aber sowieso sie rausholen und du sagst du bist gekündigt/ ∟das so genannte:: hol dir was ich dir geben muss/ verpiss dich geh arbeiten und nicht dass du sie nimmst und sie alle
8.4 Reflexion und Metakommunikation der jungen Männer
2391 2392 2393 2394 2395 2396 2397 2398 2399 2400
Alb Fra
Alb
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∟das sogenannte Auge um Auge Zahn um Zahn/ meinst du das? ∟ja aber man braucht eine Periode eine kurze Periode um alles wieder zu regeln und alles wieder neu zu programmieren/ im Sinne daß es dann inner neuen Gesellschaft die du kreierst keine Gewalt mehr geben darf um die Sachen zu erreichen/ verstehste was ich mein Alta? (.) aber ja die wird es geben weil es im ∟aber es wird sie immer geben/ das is die Sache [...]“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 2353-2400).
Es entsteht ein intensiver Dialog zwischen Alberto und Francesco, an dem sich Ciro gar nicht beteiligt und in den Gennaro vergeblich versucht sich einzuklinken. Francesco und Alberto verweisen auf den hektischen Alltag der modernen Gesellschaft, der ihrer Meinung nach zu einem Trancezustand und somit zu der oben erwähnten Untätigkeit der Menschen führt. Francesco scheint zuerst überzeugt zu sein, dass die einzige Methode zum Erwachen der Menschheit Gewalt sei. Verglichen mit seinem Vorschlag aus den informellen Gesprächsrunden der Gruppe eine öffentliche und verbindliche Stadtteildebatte zu realisieren, ist dies ein sehr drastisches und fast schon überraschendes Gegenkonzept. An dieser Stelle wird eine Handlungsunsicherheit ersichtlich. Auch hier wird nämlich der Staat – diesmal von Francesco – in die Verantwortung gezogen (vgl. hierzu Renzo in Kapitel 6.3.2). Die Handlungslähmung lebt seiner Ansicht nach der Staat der Gesellschaft vor, die wiederum diese übernimmt oder fortführt. Francescos weitere Vorgehensweise wäre die ‚Reinigung’ des politischen Machtapparats von korrupten und handlungsfaulen bzw. -unfähigen Elementen, die seiner Meinung nach zu Unrecht bezahlt werden, während jungen Männern wie ihm nicht einmal eine Plattform für Stadtteildebatten zur Verfügung stehen. Der Staat, die Gesellschaft sowie m.E. die Gruppe selbst bilden den negativen Gegenhorizont, während Gewalt, ein vorbildlicher Staatsapparat und starke und innovative sowie nachhaltige Ideen den positiven Horizont schärfen. Zusammengefasst dokumentiert sich somit über die gesamte Passage hinweg eine Orientierung an Neuem und sozialer Partizipation. Gleichzeitig lassen sich diese Orientierungen auch in revolutionären Handlungen verankern, die Enaktierungspotentiale einer Debatten- und innovativen Ideenwerkstatt hervorrufen. Ferner wird anhand der oben zitierten Passage deutlich, dass Beispiele und Themen, die in den Diskussionen behandelt werden, immer sehr nah an den individuellen sowie konjunktiven Erfahrungsräumen der jungen Männer sind. Dies zeigt, dass in diesem Kontext ein Ideenpool existiert, nur nicht wirklich angesprochen bzw. (mit)bedacht wird. So bezieht Alberto seine Beispiele häufig aus seinen musikalischen Aktivitäten oder Francesco sowie Gennaro aus den Philosophiebü-
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8 Interaktionspraktiken
chern bzw. -gesprächen. Das Wissen, das die einzelnen Akteure in die Gruppendiskussionen einbringen – wie zum Beispiel die Diskussion um Freud und die Psychoanalyse –, taucht kollektiv in den verschiedensten Debatten wieder auf. Hier bestätigt sich, was Mangold (1973) als Kennzeichen ‚natürlicher Gruppen‘ beschrieb: „Die Meinungen, die in solchen Gruppen in der Diskussion allgemeine Billigung finden, können nicht als Produkt der Versuchsanordnung, nicht als Endresultat eines aktuellen Prozesses gegenseitiger Anpassung und Beeinflussung in der Diskussionssituation selbst verstanden werden. In ihnen schlagen sich vielmehr informelle Gruppenmeinungen nieder, die sich in der Realität unter den Mitgliedern des betreffenden Kollektivs bereits ausgebildet haben“ (Mangold 1973: 240).
Es werden bestimmte Details, die vorher von einem Akteur im Einzelinterview angesprochen wurden, in den Gruppendiskussionen von einem anderen oder vice versa thematisch elaboriert, was auf einen Austausch dieses Wissens über diese Themen im Rahmen der Gespräche und Debatten hinweist.
8.5
Gesprächsarten
Der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons beschreibt die Gleichaltrigengruppe als durch Gleichheit und Gleichberechtigung der Mitglieder in der jugendlichen Interaktion gekennzeichnet und verortet sie damit als Gegensatz zu den auf generationalen Hierarchien basierenden Institutionen der Familie und Schule (Parsons 1951: 261ff.). Während Parsons die Ordnung der Schule jedoch funktional als notwendig erachtet, kritisiert der Pädagoge Paulo Freire ihre hierarchische Struktur: „Oppression – overwhelming control – is necrophilic; it is nourished by love of death, not life. The banking concept3 of education, which serves the interests of oppression, is also necrophilic. Based on a mechanistic, static, naturalistic, spatialized view of consciousness, it transforms students into receiving objects. It attempts to control thinking and action, leads women and men to adjust to the world, and inhibits their creative power” (Freire 2008: 248).
Die Gesprächsart der Akteure, die hauptsächlich in Erscheinung tritt, bewegt sich im Rahmen eines Dialogs, auch wenn immer wieder Elemente des empraktischen, handlungsbegleitenden Sprechens (vgl. Baldauf-Quilliatre 2014) sowie der
3
vgl. hierzu Kapitel 8.11.
8.5 Gesprächsarten
293
Dissensbearbeitung (vgl. Morek 2015) auftauchen. Beim empraktischen, handlungsbegleitenden Sprechen handelt es sich um eine Kommunikationsform, die eine bestimmte Tätigkeit begleitet, ohne notwendigerweise auf deren Inhalt beschränkt zu sein. Zum Beispiel weisen unterschiedliche Zögerungsphänomene4 auf einen Kontext des empraktischen Sprechens hin (vgl. Baldauf 2002: 183). Die Strukturen des empraktischen Sprechens und des Dialogs kennzeichnen den Zusammenhang der untersuchten Gruppen junger Männer als Communities of Practice. Beide strukturellen Formen der Interaktion stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen und Rekonstruktionen. 8.5.1
Zum Dialog
In der griechischen Philosophie bezeichnet der Begriff des Dialogs einen Sinnstrom bei dem neue Erkenntnissen aufkommen. Etwas Neues entsteht ohne intendiert zu sein, gleichsam zufällig. Es entsteht ein untereinander geteilter Sinn, den Bohm als „Leim“ und „Zement“ sieht, „der Menschen und Gesellschaften zusammenhält“ (Bohm 1996: 33). „als Prototyp des Dialogs [wird] der interaktive Austausch von mindestens zwei Personen angesehen [...], die von Angesicht zu Angesicht, zeitlich und räumlich kopräsent, mit verbalen, paraverbalen und nonverbalen Mitteln kommunizieren. Von diesem Prototyp ausgehend, können dann auch räumlich (Telefongespräche) oder zeitlich versetzte (Voice Messages; WhatsApp-Kommunikation etc.) Interaktionen als Dialoge beschrieben werden“ (Imo 2016b: 341f.).
Die im Rahmen dieser Forschungsarbeit untersuchte Gruppe Filosofi bspw. teilt einen Sinn bezüglich der interaktiven Praktiken des Zuhörens, des Sprechenlassens, des Reflektierens, des Kommentierens, des Mitteilens von Informationen, des Widersprechens und Aufzeigens neuer Wege. Auch wenn die Interaktion teilweise an ein Streitgespräch erinnert, kann anhand der Gruppendiskussionen gut beobachtet werden, dass sich die Jugendlichen mit Denkprozessen hinter den Annahmen und nicht nur mit den Annahmen selbst befassen. Hiermit wäre man nach Bohm bei einem echten Dialog (Bohm 1996: 36): „Der Dialog, wie Bohm ihn versteht, ist ein vielschichtiger Prozeß, der über die typische Vorstellung von Gespräch und Gedankenaustausch weit hinausgeht. In diesem Prozeß wird eine ungewöhnliche Bandbreite menschlicher Erfahrungen erkundet: unsere tiefsitzenden Wertvorstellungen, Wesen und Intensität der Emotionen, die Muster unserer Denkprozesse, die Funktion des Gedächtnisses, die Bedeutung tradierter kultureller Mythen und die Art und Weise, in der Neurophysiologie die Augenblickserfahrung strukturiert. Am wichtigsten aber ist vielleicht die Auslotung der Art 4
Mit Zögerungsphänomenen ist in der Linguistik bspw. ein ‚äh’ oder ‚hm’ gemeint.
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8 Interaktionspraktiken
und Weise, in der das Denken – von Bohm als inhärent begrenztes Medium gesehen, nicht als objektives Abbild der Wirklichkeit – auf der kollektiven Ebene hervorgebracht und erhalten wird.“ [Nichol 1996: 7f.].
Auf der Ebene der thematischen Gehalte geht es in den Dialogen der untersuchten Jugendlichen um wissenschaftliche Inhalte aller Art: Religion, Geschichte, Mystik, moderne und antike Technologie sowie um urbane, stadtplanerische, soziale und zwischenmenschliche Probleme weltweit wie auch stadtteilund wohnbereichsbezogen. Zum Beispiel wird immer wieder die Erforschung der menschlichen Entwicklung zum Thema. Es werden kontinuierlich Bezüge zu vergangenen Zeitaltern gemacht und diese teilweise intensiv analysiert. Darunter mischt sich Wissen über Mystik, das u.a. im Rahmen von Computerstrategiespielen erlernt wurde (siehe GD_Filosofi, 2014: Z. 2033-2060). Es ist eine gewisse ‚Wahrheitssuche’ bei allen Teilnehmern der Diskussionsgruppe zu beobachten. Hierbei führt der persönliche Ehrgeiz wie auch die starre Verteidigung von Theorien einiger Dialogteilnehmer zu hitzigen und lautstarken Diskussionen, die – wie vorher schon angedeutet – einem Streitgespräch ähneln. Die Gruppe bleibt trotz verfügbarer technologischer Telekommunikationsmöglichkeiten auch dem klassischen (lateinischen) communicare treu, was soviel bedeutet wie ‚etwas gemeinsam machen, einander mitteilen.‘ Die Jugendlichen teilen im Verlauf der gesamten Gruppendiskussionen nicht nur Informationen und Wissen mit, sondern tun auch etwas gemeinsam: „In einem Dialog versuchen also die Gesprächsteilnehmer[*innen; D.G.] nicht, einander gewisse Ideen oder Informationen mitzuteilen, die ihnen bereits bekannt sind. Vielmehr könnte man sagen, dass [sie] etwas gemeinsam machen, das heißt, dass sie zusammen etwas Neues schaffen“ (Bohm 1996: 37). Um diese Zusammenarbeit nachzuvollziehen, wird im Folgenden der Gesamtverlauf und die performative Struktur der Gruppendiskussionen analysiert. Dabei zeigen sich einerseits Passagen, die eher an Informations- und Wissensmitteilungen erinnern und somit den Eindruck gewinnen lassen, dass die Diskussionsteilnehmer ihre alten Vorstellungen und Ansichten nicht fallen lassen möchten. Es scheinen Schutzschilder der Gedanken zu entstehen, die nach Bohm zum Ergebnis von Verwirrung und Kommunikationsproblemen führt (vgl. Bohm 1996: 28). Solche Phasen (Streitgespräche) sind in dieser Gruppendiskussion immer wieder festzustellen, jedoch kommt es andererseits auch zu Kooperationen unter den Jugendlichen, die eine Öffnung und neue Sichtweise auf die Dinge ermöglichen und somit den Dialog auf weiteren Ebenen fortführt. So versucht bspw. Ciro Francesco und Alberto vom Streitgespräch auf die eigentliche Fragestellung des Interviewers in der Gruppendiskussion zu verweisen. Für beide ‚Streitenden’ tut sich durch ihre gegenseitige Einsicht eine weitere Stufe des Dialogs auf:
8.5 Gesprächsarten
692
295
„[...] äh:: aber kann ich dir ne Sache sagen
Fra Alta
693 694 695 696 697 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731 732 733 734
Alb Fra Alb Fra Alb Fra Alb
Fra Alb Fra
Alb Fra Cir
Alb Ge Cir Fra Alb Cir Fra
∟äh:: aber es ist ja ni::cht so dass du jede Meinung anfechten ∟nein niemals ich fechte kannst oder jede Sache die einer sagt (2) ich bnie an/ ich sage dass es Ideen sind die meiner Meinung nach zu vage sind um zu sagen so ist es/ verstehst du was ich meine? (.) Aber jede Sache könnte/ jede zu vage sein/ jede Idee die einer hat könnte eine vage Sache sein/ i- ich habe dir meine Idee dargelegt ∟aber genau/ ich sag dir doch nicht dass es falsch ist aber ich sag dir dass es jetzt trotzdem in diesem Kontext nicht funktionieren wird ∟wie du es aber da- wie du das aber darstellst scheint es mir dagegen dass du ºaber gegen jeden einzelnen ( )º vorgehst ∟nein/ weil ich dir doch sage dass jeder seine seine persönliche Vision hat/ verstehste was ich meine? Von daher da jeder seine eigene persönliche Vision hat sag ich ja nicht dass du Fehler machst sondern ich sage dass trotzdem diese Sache zu allgemein ist/ Verstehste was ich meine? Also im Sinne du sprichst ja im spezifischen ( ∟nein aber (.) aber ) du hast mir nicht (.) abgesehen davon Alta dass/ aber abgesehen davon dass du vorher augenscheinlich mein Thema nicht vom Anfang bis zum Ende hast beenden lassen Alta (.) deshalb habe ich auch zerstückelt Alta ∟ohoh ok da kann man nicht wirklich verstehen na ja (3) du hast verstanden was ich dir gesagt habe ∟wie gesagt jajaja wie gesagt kommen wir auf die Hauptdiskussion zurück/ jetzt wo ich euch höre:: das Schöne d- da- daran ist also auch das hier ne äh von von ∟von der Diskussion ∟Brainstorming ∟Brainstorming Das Schöne sind auch die Kontraste denk ich ne (.) die ∟ja ja klar ∟ja ja Kontraste:: du bis A du bis B tu bis C und ich bin D (.) ∟ja ja klar deshalb is äh is es schön gerade wegen dieser ∟ja ja ∟aber
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8 Interaktionspraktiken
735
wir sind alle eine sehr schöne Gruppe gerade deshalb“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 692-735).
Die immer wieder aufkehrenden „geistigen Sperren“ der Jugendlichen bezüglich bestimmter Vorstellungen, Ideen, Vorurteile und Überzeugungen erscheinen damit nur temporär und werden durch die Intervention sogenannter Dialogbegleiter (vgl. Bohm 1996: 47) wieder entsperrt. Dieser Eingriff beugt einem vollkommenen Zusammenbruch des Dialogs vor. Er befähigt die Jugendlichen auf eine Dialogebene zurückzukehren und diese aufgrund des vorhergehenden Streitgesprächs konstruktiv zu erweitern. Jeder hat zudem die Möglichkeit, zu Wort zu kommen und seinen Standpunkt zu vertreten. Es findet somit weitestgehend ein egalitärer Diskurs statt. Trotz allem ist die Dissensbearbeitung nicht die dominante Form der Interaktion zwischen den Jugendlichen. Vielmehr geht es um Dialoge, ineinander Einfühlen, Streitgespräche, empraktisches Sprechen und Debatten.
8.5.2
Interaktionen in Communities of Practice
In dieser vorliegenden Studie geht es um Dialoge innerhalb von Peergruppen, die in einem situierten Kontext stattfinden. Von daher ist für diese Forschungsarbeit das Konzept des situierten Lernens innerhalb sozialer Interaktionen von zentraler Bedeutung (vgl. Wenger 1998 und Kapitel 2.7). Soziale Interaktionen innerhalb von Peergruppen werden im Konzept des situierten Lernens als ein Erfahrungsraum interpretiert. Innerhalb von Gesprächen, Dialogen oder eben – um es allgemeiner zu fassen – Interaktionen können einzelne Kompetenzen sowie Praktiken entwickelt, ausgeführt und kollektive Bedeutungen ausgehandelt werden (vgl. Kapitel zu Communities of Practice). Somit wird über Gespräche und Dialoge innerhalb einer Community of Practice situativ gelernt. Dabei ist Wissen die Grundlage von Interaktionen, um überhaupt in einer Community of Practice kommunizieren zu können. „Wissen ist an fast jeder Interaktion zugleich als Voraussetzung, als thematischer Gegenstand sowie als Produkt des Miteinandersprechens beteiligt. Alle Arten von Kompetenzen, die für die Konstitution interaktiven Handelns von Belang sind, sind in Form von Wissensbeständen organisiert. [...] Wissen ist die Voraussetzung für Wahrnehmung und Kategorisierung, für Verstehen, Erklären und Antizipieren von Handlungen und Ereignissen und für die Planung von Handlungen. Wissen kann bewusst sein, ist es aber zumeist nicht. Unsere bewusste Konzeptualisierung von Wissen, das wir für unser interaktives Handeln einzusetzen meinen, muss sich keineswegs mit den tatsächlich benutzten Wissensbeständen decken“ (Deppermann 2015: 1f.).
Was die Erforschung von Interaktionen innerhalb von Peergruppen angeht, gehören die Erziehungswissenschaftler Douglas R. Barnes und Frankie Todd zu
8.5 Gesprächsarten
297
den ‚Pionieren’. 1977 wurde ihre Studie Communication and learning in small groups veröffentlicht. Dabei handelt es sich – wie viele nachfolgende Untersuchungen anderer Wissenschaftler*innen zu diesem Thema – vor allem um Studien innerhalb von schulischen Settings (vgl. hierzu auch Light et al. 1994; King 1989; Teasley 1995; Tudge 1992; Webb, Troper & Fall 1995). Trotz allem wurden informelle Gespräche von Kleingruppen – auch außerhalb des Klassenraums – analysiert. Hierbei wurden zwei Ebenen des Peergruppendialogs erforscht: “Level one consists of a) discourse moves (such as initiating, eliciting, extending and responding) and b) logical processes (such as proposing a cause, advancing evidence, negating, suggesting a method, evaluating). Level two is comprised of a) social skills (such as competition and conflict, supportive behaviour), b) cognitive strategies (such as setting up hypotheses, constructing new questions), and c) reflexivity (such as monitoring one's own speech, evaluating one's own and others' performance). They identified ‘exploratory’ speech characteristics such as hesitation and changes of direction, tentativeness in voice intonation, assertions and questions made as hypotheses rather than direct assertions, invitations to modify or surmise, and self-monitoring and reflexivity. Barnes and Todd proposed conditions for collaborative work amongst groups in classrooms, based on this empirical evidence. Further analysis (Barnes and Todd,1995) provides descriptive examples of the four categories of collaborative moves: initiating, eliciting, extending and qualifying’” (Edwards 2005: 4).
Diese Ebenen finden sich auch in den Interaktionen zwischen den jungen Männern dieser vorliegenden Studie, die sich in einer Community of Practice zusammenfinden, miteinander interagieren, Wissen austauschen und reflektieren. Interaktionen in Communities of Practice folgen der Struktur informeller Gespräche. Es wird Wissen ausgetauscht und darüber diskutiert. Es wird situiert – also je nach Ort, Raum, Situation, Präsenz gewisser Akteur*innen – über das Wissen reflektiert. In diesen Interaktionen innerhalb von CoP werden bestimmte Sprachcodes, Glauben, Werte, Meinungen und Ideen geteilt (vgl. Androutsopoulos/Georgakopoulou 2003: 9). Dabei spielt auch die Intimität in diesen Diskussions- oder Interaktionsgruppen eine Rolle. Das ‚Wir’ und ‚Die da’ verstärken innerhalb der Interaktionen einer Community of Practice auf symbolischer Ebene das Gemeinschaftsgefühl und somit auch die Interaktionsprozesse (vgl. ebd.: 10). Es sollen in dieser Studie keine linguistischen Aspekte analysiert, sondern vielmehr die Praxis dieser Interaktionen untersucht werden. „Lange fokussierte die Linguistik auf den Austausch von Informationen, nicht auf gemeinsam durchgeführte Praktiken. Dies bedeutet eine Fokussierung auf das Produkt, auf eine kontextgelöste sprachliche Äußerung. Die Alternative besteht darin, auf den Prozess, der einem Gespräch zugrunde liegt, zu fokussieren. Der Inhalt, der Sinn eines Gesprächs wird dabei als Ergebnis eines ko-konstruierten Prozess verstanden, bei dem das Resultat – also das beobachtbare Gespräch, das nur den Analytikern
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8 Interaktionspraktiken
als Produkt vorliegt, nicht aber den Interagierenden selbst – Ergebnis einer kontinuierlichen Aushandlung und lokalen Anpassung sowohl von formalen Strukturen (Äußerungen) als auch Inhalten ist“ (Imo 2016a: 157).
Es geht hier also nicht um sog. „speech communties“ (vgl. Gumperz 1968), die bestimmte linguistische Systeme, Normen und soziale Identitäten beinhalten, sondern um die soziale Bindungen zwischen den interagierenden Personen, die mit dem Begriff der Community of Practice besser zu fassen sind. In einer CoP werden die gemeinsamen Praktiken sichtbar. Im Fall dieser Studie haben wir es mit Peergruppen zu tun, die als Community of Practice gefasst werden können und Gespräche sowie Interaktionen aller Art als Lernraum nutzen, was zum einen Selbstsozialisation und zum anderen Selbstbildung fördert (vgl. hierzu Kapitel 2). „Dabei steht die aktive Aneignung von Themen durch die Jugendlichen im Mittelpunkt, die in Aushandlungs- und Deutungsprozesse der Cliquen eingelagert sind. [...] Im Vergleich zu institutionellen Settings sind Selbstbildungsprozesse zumeist in den Interaktionsformen und den Ergebnissen offen. Ein gemeinsamer Horizont des Verstehens muss von den Peers erst erarbeitet werden. Dies trainiert die Fähigkeit Kontakte zu knüpfen, zu erhalten und ggf. wieder zu lösen“ (Eckert et al. 2016: 210).
Bei einer Peergruppe handelt es sich also um eine Zusammenstellung von Individuen, die gleiche oder ähnliche Interessen haben und sich entweder persönlich treffen oder via Internet oder Handy kommunizieren. Es wird durch den Austausch von Kommentaren und posts (engl.) versucht, Probleme zu lösen oder neue Ideen zu besprechen. Dabei können zwei Räume beobachtet werden, in denen Interaktionen im Rahmen einer Community of Practice durchgeführt werden: der physische und der digitale Raum (vgl. Deinet/Reutlinger 2014). Auch wenn die jungen Männer dieser Studie beide Räume nutzen, wurden sie vor allem bei physischen Diskussionen beobachtet, die in den Gruppendiskussionen und Interviews immer wieder auch selbst zum Thema wurden. So nutzen zwar alle Akteure der jeweiligen Gruppen das Internet und haben somit einen Teil ihrer Sozialisation während des Booms der virtuellen Foren und Messengersysteme durchlebt, doch wie in der virtuellen Diskussionswelt haben sie auch eine ganz reale Gesprächsgruppe erschaffen, die sich an realen Orten trifft und vor dem Hintergrund folgender Merkmale als Community of Practice zu verstehen sind (vgl. hierzu Dixson 1991: 4): - alle Akteure haben mindestens ein gemeinsames Interesse; - es handelt sich um eine informelle Gruppe; - jeder bringt verschiedene Erfahrungen und Kenntnisse mit; - sie gehen verschiedenen Praktiken nach z.B. Hustling, Graffiti, Musikproduktion, Fitnessstudio, Playstation, Fußball etc.; - während der Dialoge werden die Wahrnehmung, das kritische Denken und die Analysefähigkeit weiterentwickelt.
8.5 Gesprächsarten
299
-
es werden Ideen und Informationen ausgetauscht; es werden Vorschläge bezüglich individueller Bedürfnisse, Probleme und Fragenkomplexe gemacht. Anhand des folgenden Zitats, in dem die eigene Gesprächspraxis in einer typischen Verlaufsform zum Thema wird, soll zunächst die Praxis aus Sicht der Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. Im Folgenden handelt es sich um eine teils bereits zitierte Sequenz aus der Gruppendiskussion, die mit der Filosofi-Gruppe im Sommer 2014 geführt wurde: 723 724 725 726 727 728 729 730 731 732 733 734 735 736 737 738 739 740 741
Cir
Alb Ge Cir Fra Alb Cir Fra Ge Cir Alb Cir
∟wie gesagt jajaja wie gesagt kommen wir auf die Hauptdiskussion zurück/ jetzt wo ich euch höre:: das Schöne d- da- daran ist also auch das hier ne äh von von ∟von der Diskussion ∟Brainstorming ∟Brainstorming Das Schöne sind auch die Kontraste denk ich ne (.) die ∟ja ja klar ∟ja ja Kontraste:: du bis A du bis B tu bis C und ich bin D (.) deshalb is äh is es schön gerade wegen dieser ∟ja ja klar ∟ja ja ∟aber wir sind alle eine sehr schöne Gruppe gerade deshalb ∟ich bin ( ) Unterschiede/ weil jedes Mal entstehen neue Gelegenheiten/ neue Anreize/ neue Atmosphären/ neue Stimmungen von daher ist ist man beisammen/ ich ∟natürlich komme auf die vorherige Diskussion zurück [...]“ (GD_Filosofi, 2015: Z. 723-741).
Ciro schildert in dieser Passage, wie sich die Gruppe untereinander aufteilt, um bestimmten Hobbys nachzugehen. Gleichzeitig ist dem Diskussionsverlauf in der Passage zu entnehmen, dass die Diskussion eine zentrale Beschäftigung für die Gesamtgruppe spielt und diese die Gruppe als Ganzes zusammenbringt. Während der teilnehmenden Beobachtung konnte ich immer wieder feststellen, wie bspw. Ciro nach einer nächtlichen Graffitiaktion dem Rest der Gruppe am nächsten Tag beim Haschischkonsum von seinem Abenteuer erzählte und somit einen neuen Dialog initiierte. Die Kontraste, die es untereinander gibt, und das „Brainstorming“, das stattfindet, benennt Ciro ab Zeile 729 als das „Schöne“ an den Diskussionen mit seinen Freunden. Ciro geht dann detaillierter auf die Strukturen der Gruppe bezüglich der gemeinsamen Aktivitäten ein: wenn er zu Francesco geht, spielt er entweder Playstation, kocht mit ihm zusammen oder geht mit ihm in einem Pub, um ein Bier zu trinken. Mit Gennaro dagegen teilt er die Leidenschaft für Graffiti und geht deshalb mit ihm sprühen. Mit Alberto produziert Ciro Musik.
300
8 Interaktionspraktiken
Je nach Atmosphäre und Situation wählt Ciro seine Hobbys aus. All dies wird dann in der Gruppe beim Haschischkonsum im gemeinsamen Gespräch aufgearbeitet. Alberto fügt bezüglich dessen hinzu, dass Auseinandersetzungen untereinander (er bezieht sich konkret auf das in Abschnitt 8.7.1 rekonstruierte ‚Streitgespräch’ mit Francesco von Zeile 692 – 722) zu neuen Visionen, Ideen und Meinungen führen und dadurch eine ständige Veränderung stattfindet. Gennaro fasst es daraufhin als eine positive Weiterentwicklung zusammen, die etappenweise erklärt werden müsse: 768 769 770 771 772 773
Ge Alb Ge
„[...] dann sagen wir also der der positive Teil daran ist dass es sich weiterentwickelt hat aber letztenendlich hängt es auch von der eigenen ∟klar Meinung ab/ aber du musst die Fakten Schritt für Schritt erklären“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 768-773).
In dieser Aussage reflektieren die Jugendlichen die von David Bohm zum Thema Dialog entworfenen Prinzipien. Bohm schreibt – wie oben schon erwähnt –, dass ein Dialog durch die Weiterentwicklung der Gedanken und Aussagen bestimmt wird. Es wird etwas gemeinsam gemacht, etwas Neues erschaffen (vgl. Bohm 1996: 26f.). Es werden zumindest auf dem ersten Blick während dieser Dialoge den jeweiligen Teilnehmern keine „geistigen Sperren“ verhängt (vgl. ebd.: 30). Die Dialogpartner werden vielmehr durch neue Gedanken und Perspektiven dazu ‚angefeuert’, verschiedene Blickwinkel zu nutzen und somit den Dialog auf weiteren Ebenen voranzutreiben. So kann Gennaros häufiges Abschweifen in andere Themen auch als Zusatzinformation für die fortlaufende geistige Entwicklung und Dynamik der Gruppe verstanden werden. Es scheint sich an dieser Stelle um eine Dialogform zu handeln, die die Methode der Dialektik von Aristoteles mit These und Antithese in vielen Passagen inkorporiert. Die Jugendlichen betreiben hier einen geistigen Austausch und spielen entgegengesetzte Positionen zu (philosophischen) Themen durch (vgl. Aristoteles 2004: 25 ff.). Zusammenfassend kann zu diesen ersten Sequenzen gesagt werden, dass die Beschreibungen von Ciro und Gennaro bezüglich der Launen und der zufälligen Wahl von Aktivitäten auch generell auf die häufigen Themenwechsel innerhalb der Gruppendiskussion mit den Jugendlichen zutrifft. Je nach Interesse und Reiz wird das Thema gewechselt. Die Gruppendiskussion an sich stellt sich im Nachhinein als beobachtete Praxis heraus, die den „unorganisierten“ bzw. spontanen Tagesablauf der Gruppe projiziert. Dies wird nicht nur im Interview beschrieben, sondern dem Interviewer im Augenblick der Aufnahme auf eine gewisse Art und Weise ‚vorgelebt’.
8.6 Gespräche als Praktiken informellen Lernens
8.6
301
Gespräche als Praktiken informellen Lernens 2576 2577 2578 2579 2580 2581 2582 2583 2584 2585 2586 2587 2588 2589 2590 2591 2592 2593 2594 2595 2596 2597 2598 2599 2600 2601 2602 2603 2604 2605 2606
DG Alb
[...] was hat Bildung für euch für ne Bedeutung? (.) Für mich isses ne Sache zu wissen zu wissen wie man lernt vor allem das was vernünftig ist (.) also im Sinne was mich betrifft weiterhin persönlich gesehn ich kann nicht für alle sprechn von daher sprech ich nur für mich/ die persönliche Frage is für mich die Sache dass vielleicht ist mi- ich stand schon immer in Kontakt mit der Musik von daher ist für mich Musik n Ausdrucksmittel um mit mir selbst und mit jeglicher Sache Frieden zu schließen/ es sind schon 11 Jahre/ ich habe mit 11 Jahren ich äh habe die ersten Schritte mit der Musik mit 11 Jahren gemacht ich fing an zu spieln/ zu produziern/ Bongos zu spielen/ verschiedene Instrumente zu spieln/ auch wenn ich nicht fähig war zum Beispiel ging ich zum Schlagzeug und ich versuchte trotzdem was zu trommeln/ von daher isses das Wissen/ die Leidenschaft und bestimmte Sachen machen wennde sie nicht machst lernste nicht/ mach Fehler und du lernst/ das isses/ von daher is die Bildung die Situation leben/ Verstehste? (.) auch auf der Straße wenn du mit ner Person ne Diskussion führst isses möglich daßde ne vernünftige Diskussion anstrebst (.) vielleicht fließen zu viele Emotionen und du verhaust deshalb die Art wie du ne Sache sagst/ du verhaust es einmal zweimal oder oder dreimal beim vierten hast dus gelernt (.) verstehste was ich mein? Das isses deshalb je mehr du die Situationen erlebst desto besser verstehste wo du Fehler machst und wo du keine machst/ für dich selbst/ Verstehste was ich mein? Du musst nachdenken wie du dich mit den andren verhältst/ das is das Wichtigste“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 2576-2606).
Informelle Gespräche innerhalb von Peergruppen werden in dieser Forschungsarbeit als informelle Lernprozesse und -räume betrachtet: „Lernen in Gleichaltrigengruppen außerhalb der Bildungsinstitutionen kann dem ‚informellen Lernen’ zugerechnet werden (Europäische Kommission 2001: 9, 32f.; Grunert 2012; Rauschenbach/Düx/Sass 2008; Harring 2007; Pfaff 2009)“ (Eckert et al. 2016: 210). Auch Carliner (2012) schreibt in seiner Studie zu den Grundlagen informellen Lernens: „Discussions with people who have implemented agile processes in their organisations, conducted either in person or through online communities. These provide firsthand opinions and experiences. But people may
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8 Interaktionspraktiken
unintentionally omit essential information” (Carliner 2012: 24). Sie sind für die Formung einer Identität der Gruppe sowie der einzelnen Individuen verantwortlich: „Erzählen und Reflektieren sind Elemente eines Identitätslernens. Das Erzählen von Lebensgeschichten und das – gemeinsame – Reflektieren dieser Geschichten dienen der Bilanzierung des Lebens, der Vergewisserung dessen, was ‚Sinn macht’ und damit der Suche nach einer ‚klugen Lebensführung’. [...] Die narrativen Geschichten und die reflexiven Diskurse sind – sozial-konstruktivistisch – Formen sinnhafter Wirklichkeits- und Selbstkonstruktion. Erinnern und Reflektieren können Grundlage für neue Lernprozesse sein“ (Siebert 2005: 30).
Wie auch Alberto in der oben zitierten Sequenz aus einer Passage der Filosofi-Gruppe explizit beschreibt, ist die Gesprächsführung und das Gespräch an sich ein Lernprozess bzw. eine Lernpraktik, in der Fehler gemacht werden und erlaubt sind, um sich weiterentwickeln zu können. Die Peergruppen erfahren und erkennen durch die vielen (Fehl-)Schritte, Diskussionen, Themen und Handlungen ihr schweigendes Wissen, auch wenn es ihnen nicht bewusst ist, dass es sich um schweigendes Wissen handelt. Was die jungen Männer mit ihren regelmäßigen Gesprächstreffen erreichen, zeigt Analogien zu dem Bildungsbegriff, den John Dewey 1916 in seinem Buch Democracy and education entwickelte: „Education is not an affair of ‚telling’ and being told, but an active and constructive process” (Dewey 2004: 46). Wir haben es mit einem informellen reziproken Lern-LehrSystems zu tun, wo innerhalb eines segregierten und benachteiligten Umfelds Peergruppen zusammenkommen und dafür sorgen, dass sie sich gegenseitig lehren. Jeder, der etwas weiß gibt es an den anderen weiter und das funktioniert vor allem durch Dialoge, Debatten und Diskussionen. „Die Mitgliedschaft in der informellen Gruppe macht den Einzelnen ganz allgemein für die unsichtbaren informellen Dimensionen des Lebens empfänglich. Hinter den offiziellen Definitionen der Dinge eröffnen sich weite Landschaften. Irgendwie entwickelt sich die doppelte Fähigkeit, einerseits öffentliche Sachverhalte und Ziele zu registrieren und andererseits dahinterzublicken, ihre Implikationen zu erwägen und herauszufinden, was tatsächlich vorgeht. Diese Fähigkeit zur Interpretation wird oft als eine Art Reife empfunden, als ein Gefühl, dass man ‚weltklug’ wird, dass man weiß, ‚wie die Dinge wirklich laufen, wenn es darauf ankommt’. Es verleiht dem ‚echten’ Insider Wissen, das ihm tatsächlich hilft, den Tag zu überstehen“ (Willis 1979: 46).
8.6 Gespräche als Praktiken informellen Lernens
8.6.1
303
Rolle und Beziehung
Bei den hier untersuchten jungen Männern ist ein Pädagoge inexistent, aber sie sind füreinander die informellen Pädagogen. In den untersuchten Stadtteilen gibt es – wie schon in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt – außer den Schulen kaum pädagogische Einrichtungen. Somit haben diese Akteure auch keinen regelmäßigen Input was die Gesprächsführung angeht. Es handelt sich also um eine informell erlernte Praktik, die auf informeller Ebene weiterhin für Wissensgenerierung und Lernprozesse sorgt und vor allem von den jungen Männern selbstgesteuert wird. In allen bisher untersuchten Gruppen – sowohl in Deutschland als auch in Italien – hat sich eine Gesprächskultur gebildet. „In rituellen Handlungen, Gesten und Spielen, in Ausdrucksformen körperlicher Interaktionen, in räumlichen Positionierungen und raumzeitlichen Arrangements manifestieren sich kulturelle Praktiken und Formen der Kommunikation, die auf verschiedenen Wegen und in diversen Szenarien weitervermittelt, aufrechterhalten und verändert werden“ (Kraus et al 2017: 14).
An dieser Stelle soll besonders unterstrichen werden, dass es sich um bildungsinteressierte Akteure handelt, die sich jedoch in formellen Settings entweder nicht akzeptiert sehen oder diese als zu starr empfinden. Auf informeller Ebene fühlen die Jugendlichen jedoch, dass sie ihre Bildung eher ausleben und sich thematisch breit beschäftigen sowie den Stoff auch gründlich analysieren können. Praktisch alle Gruppendiskussionen sind mit Argumentationen, Oppositionen und Differenzierungen jeglicher Art versehen. Situativ entlang von Interessen, Bedürfnissen und Aktivitäten wechseln die jungen Männer zwischen verschiedenen Modi der Interaktion. Es handelt sich um dynamische Gespräche bei denen Informationen und Wissen präsentiert und ausgetauscht werden. Dabei kristallisieren sich auch immer ‚informelle’ Diskussionsleiter heraus, die vorher nicht explizit gewählt worden sind, sondern vielmehr situativ aus der Gruppe heraus entstehen. Sie sind gewissermaßen Beobachter dieser Dialoge und schreiten ein, falls ein Thema zu sehr abweicht oder sich zu lange hinzieht bzw. Schweigepausen eintreten. Diese Regelmäßigkeit und Routine der Gespräche ist auf ein schweigendes Wissen zurückzuführen: „Schweigend kann das Wissen [...] insofern genannt werden, als die Jugendlichen diese Regelmäßigkeit nicht benennen (können) müssen, damit sie wirksam ist, aber auch, weil sie nicht Resultat intentionaler Handlungen ist, sondern eine Art Rationalität ‚hinter dem Rücken der Akteure’ darstellt [...]. [D]ie Praktiken Jugendlicher [werden] durch ein implizites Wissen orientiert [...], dieses Wissen wird aber als ein inkorporiertes oder habitualisiertes konzeptionalisiert, das an die jeweiligen Akteure und nicht vorrangig an die aktuelle Interaktions-Situation gebunden ist“ (Amling 2017: 402).
Was hier schon vorab zusammenfassend konstatiert werden kann, ist, dass
304
8 Interaktionspraktiken
die Akteure dieser Studie aufgrund der hier untersuchten philosophischen Gespräche und Interessen an Bildung jeglicher Art (formell, informell, mittelschichtssowie Milieubezogen) ein Aufklärungserlebnis erzielen, wenn man sich die negativen und einheitlichen Medienberichterstattungen sowie die vorurteilbelasteten Kommentare der Außenstehenden gegenüber jungen Männer in marginalisierten Stadtteilen vergegenwärtigt.
8.6.2
Performativität der Interaktionen
Ohne sich von Lehrkräften oder Pädagog*innen anleiten oder orientieren zu lassen, haben alle hier untersuchten Peergruppen eigenständig flexible, aber trotzdem durch unsichtbare Regeln und Strukturen selbst aufgebaute Diskursformen entwickelt, die so routinisiert sind, dass diese auch während verschiedener Aktivitäten und Handlungen entstehen bzw. diese begleiten. Hierzu gehören, wie weiter oben bereits erwähnt, Modi der Gruppenkommunikation und des informellen Lernens, die durch Gespräche, Dialoge, empraktisches Sprechen, Beratung und rituelle Beleidigungen hergestellt werden. Das angeeignete Wissen der jungen Männer ist auf verschiedene und sehr vielfältige Quellen zurückzuführen. „Learning informally is a journey that shapes knowledge, attitudes, beliefs, and skills through ongoing interactions with a variety of resources and experiences. The journey often lacks a map; rather, each interaction deepens understanding and refines the path of the journey” (Carliner 2012: 26). […] “The success of peer groups depends on a number of factors, including access to expertise and resources and a willingness to engage in honest conversation and dialogue. Strong group processes, too, are essential to the success of peer learning. Because team members learn from one another, the group process need to provide everyone an equal opportunity to speak and promote respect for all opinions expressed” (Carliner 2012: 109).
Neben dem Know-how aus Büchern und Interaktionen scheinen sich die jungen Männer Diskussionswissen auch aus Internetforen und virtuellen Diskussionsplattformen zu (Online-)Computerspielen angeeignet zu haben. Bei vielen der interviewten Akteure spielen (Online-)Computerspiele eine große Rolle in ihrer Freizeit. Teilweise werden diese Spiele face-to-face innerhalb der Gruppe inhaltlich diskutiert und in einigen Fällen sogar auf die historischen Quellen der jeweiligen Spiele hin geprüft und analysiert. Das weist darauf hin, dass die jungen Männer durch die Spiele zur Entwicklung von Hintergrundwissen angeregt werden. Das kann somit auch bedeuten, dass in der Gruppe diesbezüglich bestimmte Themen erst nach einer Woche wieder weiter besprochen werden. Z.B. können sich die Akteure noch sehr gut an die vorher stattgefundene – jedoch dann abgebrochene – Diskussion über eine gewisse Spieltaktik erinnern, da sie u.a. auf neues
8.6 Gespräche als Praktiken informellen Lernens
305
Wissens, das durch weitere Spielpraxis und –erfahrung generiert wird, warten. Zugleich zeigt sich in der Praxis selbst das große Interesse am Erwerb von Wissen. Die Kommunikation während der aktionistischen jugendkulturellen Praktiken verändert sich jedoch auf ein empraktisches, handlungsbegleitendes Sprechen. „Wenn Sprechen sekundär und begleitend ist, werden Funktionen zentral, die in anderen Interaktionssituationen nur peripher eine Rolle spielen, etwa das Herstellen einer gemeinsamen Orientierung oder das Aushandeln, ob jemand sprechen darf oder nicht“ (Baldauf-Quilliatre 2014: 107). Häufig entsteht nach dem empraktischen Sprechen eine Alltagskonversation, die sich wiederum in eine kleine oder größere Diskussion entwickeln kann (vgl. Alt 1994: 23). „Bei Alltagskonversationen steht die soziale Funktion im Vordergrund: Sie tragen dazu bei, Beziehungen zu stabilisieren (ohne daß die Beziehung zum Thema gemacht wird). Außerdem sind sie ein Mittel, um Kontakte herzustellen und Beziehungen aufzubauen – z.B. redet man über das Wetter und lernt sich dabei kennen. Zu dieser Art von Gesprächen gehört auch der Klatsch, ein Mechanismus sozialer Kontrolle, der das Gefühl der Verbundenheit stärkt, aber durchaus auch destruktive Auswirkungen haben kann“ (Alt 1994: 23).
Deshalb kann man hier nicht nur von Alltagskonversationen sprechen, sondern durchaus von Diskussionen, die das Ziel haben, Wissen weiterzugeben, sich als Wissender darzustellen, etwas Neues zu lernen und Kenntnisse zu erweitern. „In Diskussionen geht es ja nicht darum, irgendwelche beliebigen Sätze zu formulieren und zu kritisieren. Ausgangspunkt jeder argumentativen Auseinandersetzung sind Probleme, für die wir eine Lösung, Fragen, auf die wir eine Antwort suchen. Im Verlauf von Diskussionen gelingt es aber häufig nicht, den Bezug zu den Problemen aufrechtzuerhalten – wir verlieren das oder die Probleme, um deren Lösung wir ringen, aus den Augen. Deshalb lohnt es sich, hin und wieder zu prüfen, ob die Argumente überhaupt noch etwas mit dem Problem oder dem Thema der Diskussion zu tun haben“ (Alt 1994: 24).
Während der Gruppendiskussionen kann sehr gut beobachtet werden, wie die jungen Männer bei einem Problem ziemlich schnell noch weitere Probleme und Themen entdecken und diese ansprechen, was dazu führt, dass der Diskussionsverlauf abweicht bzw. nicht richtig abgeschlossen wird, sondern eine neue Richtung einschlägt. Je nach Relevanz und (persönlichem oder kollektivem) Interesse, wird dann das jeweilige Thema entweder schnell wieder auf das vorherige zurückgeleitet (meistens durch den informellen Diskussionsleiter) oder dementsprechend vertieft, sodass erst später wieder zum anfänglichen Diskussionsverlauf zurückgekehrt wird. „Allerdings muss hierbei beachtet werden, daß so gut wie jedes Problem die Tendenz hat, neue Probleme, neue Fragen und Schwierigkeiten hervorzubringen: Probleme pflanzen sich fort. Die Entdeckung neuer – unerwarteter – Probleme im Verlauf einer
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8 Interaktionspraktiken
Diskussion ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Wir haben nämlich dazu gelernt, auch wenn dabei neue Schwierigkeiten aufgetaucht sind“ (ebd.: 24).
Die Diskussionen zwischen den jungen Männern haben nie wirklich ein Ende, weil es ihnen darum geht, sich ständig weiter zu entwickeln. Ähnlich wie bei den Hustlern geht es um kontinuierliche (Weiter-)Entwicklung und Formung. Damit gehen die Jugendlichen natürlich und weitgehend mitthematisiert davon aus, in Entwicklung bzw. im Lernen begriffen zu sein, was Freire (2008: 252) als Grundlage jeder Bildung einsieht: „Problem-posing education affirms men and women as beings in the process of becoming – as unfinished, uncompleted beings in and with a likewise unfinished reality. […] In this incompletion and this awareness lie the very roots of education as an exclusively human manifestation. The unfinished character of human beings and the transformational character of reality necessitate that education be an ongoing activity”.
Im Unterschied zu wissenschaftlichen Debatten bzw. Diskussionen in akademischen oder anderen formellen Settings, handelt es sich bei den Gesprächen der jungen Männer vor allem um weniger strukturierte und regelbehaftete Interaktionen. Es besteht nämlich kein Zeitdruck bei den Akteuren. Auch wenn die Zeit laut Marquard (1992) die knappste Ressource ist, scheinen bspw. Gennaro, Francesco, Ciro und Alberto genug Zeit zu haben, ihre Diskussionen und Debatten über Wochen hinweg zu führen. Schließlich handeln sie nebenher und verlieren somit keine Zeit. Das Diskutieren ist nur eine der vielen weiteren Handlungen, die gleichzeitig bzw. nebenbei geschehen. Sie sind Teil dieser Multitaskingstrukturen, die sich die jungen Männer angeeignet haben. Es wird neben dem Sprechen gedealt, Joints „gebaut“ und geraucht, Muskelaufbautraining praktiziert, Playstation gespielt oder Graffitis gesprüht. Dabei wird nicht nur empraktisch gesprochen, sondern es entstehen Situationen des auf gesellschaftliche Phänomene bezogenen Dialogs, der Beratung oder der Bearbeitung von Beziehungen in Form ritueller Beleidigungen. Es scheinen auch keine stabilen Machtverhältnisse innerhalb der Gruppen zu bestehen und wenn es diese gibt, dann eher auf subtilere Weise und nicht so stark, dass einer der Akteure vollkommen ausgeschlossen ist. Gibt es manchmal über mehrere Minuten keine Wortmeldung seitens einem der Diskussionsteilnehmer, dann aufgrund einer bewusst gewollten Beobachterphase oder künstlerischen Reflexionspause (vgl. beispielsweise Ciro in GD_Filosofi, 2014: Z. 319-722; Z. 775953; etc.). Jedoch ist eine Verschlechterung der Interaktion und der argumentativen Qualität aufgrund der bestehenden Unterschiede zwischen den Teilnehmern nicht beobachtbar gewesen. Bezüglich mangelnder Kompetenzen während der Diskussionen scheinen sich die Akteure je nach Thema natürlich zu unterscheiden. Sicherlich werden
8.6 Gespräche als Praktiken informellen Lernens
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Wissenslücken kollektiv akzeptiert. Niemand wird ernsthaft sprachlich angegriffen, sondern vielmehr werden Ratschläge zur weiteren Vertiefung eines Themas gegeben. Falls es zu einer mangelnden Bereitschaft, kritische Prüfungen zuzulassen kommen sollte, dann wird über den informellen Diskussionsleiter oder gemeinsam als Gruppe darauf hingewiesen, sich dem bestimmten Problem mehr zu öffnen. Sicherlich „kollidiert [immer wieder] die Suche nach Erkenntnis, nach argumentativ plausibel gemachten Aussagen, manchmal mit bestimmten Interessen, aber auch mit Hoffnung und Wünschen“ (Alt 1994: 28). Dies führte jedoch im Untersuchungszeitraum nicht zu einem Kontaktabbruch innerhalb der Gruppe. Eventuell entstehen längere Pausen des Zusammentreffens, um genügend Zeit zu haben, die Diskussionen und Argumente zu verarbeiten und eventuell fundierter für die nächste Debatte zu recherchieren. Jedoch scheint dies von den Akteuren als normaler Prozess angesehen zu werden. 8.6.3 2456 2457 2458 2459 2460 2461 2462 2463 2464 2465 2466 2467 2468 2469 2470 2471 2472 2473 2474 2475 2476 2477 2478 2479 2480 2481 2482
Gespräche als Antwort auf das „Banking“-Konzept staatlicher Institutionen Alb
Cir Alb
„[...] es is auch ne ininformelle Sache zum Beispiel ne ich sprech über Persönliches im Sinne daß Freud (.) all diese Persönlichkeiten/ ich hab sie seit vier Jahren entdeckt ne? Indem ich Bücher gelesen hab/ indem ich Biografien gelesen hab/ inde::m ein wenig alles ne? Weil es is wirklich ne Sache der Information die ich schon immer hatte/ mir gefällts Sachen zu entdecken und sie gut vorher zu wissen bevor ich drüber rede was ich sag/ verstehste was ich mein? Und deshalb sagenwa auch daß wenn ich an all diese Entdeckungen denk hab ich an die Schulzeit gedacht/ wennde zur Schule gehst und die Mittelschule die Grundschule besuchst das sind die Basisischulen/ diese Sachen diese Persönlichkeiten werden in keinster Weise erwähnt; (.) es wird nur über geschichtliche Fakten geredet wie Christoph Kolumbus der Amerika kolonialisiert hat ∟nein das is nich wahr/ dazu kann ich dir sagen dass es nich wahr ist weil je nachdem wie die Lehrer sind wie die Personen die ma∟immer je nachdem wie die Lehrer sind/ in der Tat es hängt auch von den Personen ab die dich bilden aber damit du ne informelle Basis hast also die gleich ist wie die von allen anderen müsste jeder Lehrer ein Programm verfolgen das festgelegt is/ dann is klar ne Person is ne Person von daher fügt er auch eigenes mit ein. (.) Verstehste was ich mein? Aber es is
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8 Interaktionspraktiken
2483 2484 2485 2486 2487 2488 2489 2490 2491 2492 2493
normal daß du ein Plan verfolgen solltest das für alle gleich is wenn du ne bestimmte Information weitergeben willst und ich habe in der Tat zu meiner Schulzeit die Schule sein gelassen we- gerade wegen der Sache dass meiner Meinung nach mir nie be- niemand mir jemals was über bestimmte Sachen erzählt hat/ bestimmte Religionen/ Kulturen/ Verstehste was ich mein? Von daher als ich dann weg gegangen bin habe ich selber entdeckt/ habe ich bevorzugt mich selber zu informieren statt Personen zuzuhören die mir dann ganz was anderes sa::gten/ Verstehste? Deshalb vielleicht [...]“ (GD_Filosofi, 2014: Z. 2456-2493).
Wie Alberto schon während der Gruppendiskussion mitteilt, ist er mit dem Schulunterricht nicht zufrieden (vgl. GD_Filosofi, 2014: Z. 2467f.). Es spreche ihn nicht an, denn es sei kein Unterricht auf Augenhöhe. Kritisches Denken wird nicht gefördert, Gespräche würden als zu einseitig oder gar nicht vorhanden wahrgenommen. Hier wird klar, wie wichtig es den jungen Männern stattdessen ist, sich während der Gespräche auszutauschen und die verschiedenen Themen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Dabei soll es auch zu Konfrontationen kommen, die sich dann zu einem Streitgespräch entwickeln. Alle Teilnehmer wissen jedoch, auf was sie sich einlassen und auch, dass sich die Meinungen und Inhalte nach einigen Tagen wieder verändern können. Die Herangehensweise der jungen Männer erinnern an die konzeptionellen Überlegungen von Paulo Freire: “Education is suffering from narration sickness. The teacher talks about reality as if it were motionless, static, compartmentalized, and predictable. Or else he expounds on a topic completely alien to the existential experience of the students. His task is to ‘fill’ the students with the contents of his narration – contents which are detached from reality, disconnected from the totality that engendered them and could give them significance. Words are emptied of their concreteness and become a hollow, alienated, and alienating verbosity” (Freire 2006: 243f.).
Alberto und seine Freunde wollen keine Container sein, die von Lehrkräften mit Erzählungen ‚gefüllt’ werden (vgl. Freire 2006: 244). Sie wollen auf Augenhöhe Wissen austauschen. Bei der Gesprächspraktik als Bildungsraum handelt es sich um einen räumlich mobilen, inhaltlich und performativ abwechslungsreichen Wissenstransfer. Jeder ist Lehrer*in und Schüler*in zugleich und die Kommunikation steht im Vordergrund. Somit positionieren sich Alberto, Ciro, Gennaro und Francesco auf eine Art und Weise handlungspraktisch gegen das „Banking“-Konzept, das Paulo Freire am mononarrativen Unterricht kritisiert:
8.6 Gespräche als Praktiken informellen Lernens
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„Instead of communicating, the teacher issues communiqués and makes deposits which the students patiently receive, memorize, and repeat. This is the ‘Banking’ concept of education, in which the scope of action allowed to the students extends only as far as receiving, filling, and storing the deposits” (Freire 2006: 244).
Die jungen Männer kämpfen und wehren sich gegen eine vom Schulsystem, vom Staat, von den Medien und von der Gesellschaft aufgestülpte Ignoranz. Auch beide Gruppen aus Falldorf rechtfertigen sich ständig bezüglich ihrer ‚wahren’ Lebenslage, ihrem ‚wahren’ Image und ihrem ‚wahren’ Wissen. So kritisieren die jungen Männer aus Pratobello wiederum die Exklusion, die sie täglich über Jahrzehnte seitens der Gesellschaft und des Staates erleben. „In the banking concept of education, knowledge is a gift bestowed by those who consider themselves knowledgeable upon those whom they consider to know nothing. Projecting an absolute ignorance onto others, a characteristic of the ideology of oppression, negates education and knowledge as processes of inquiry” (Freire 2006: 244).
Ihre Antwort auf die Schulmüdigkeit sind die gemeinsamen informellen Lernpraktiken, die sie Tag für Tag im oder außerhalb des Stadtteils ausüben. Laut einiger Kulturpsycholog*innen lernen Menschen, während sie an alltäglichen soziokulturellen Aktivitäten teilhaben (vgl. hierzu Morrell 2006: 113; sowie auch Bruner 1996; Cole 1996; Lave und Wenger 1991; Rogoff 1990; Vygotsky 1978). „[The cultural psychologists] critique transmission models of learning often promoted in schools that assume that teachers are sole disseminators of knowledge and that students are empty vessels“ (Morrell 2006: 114). Deshalb sind gerade in den USA schon seit einigen Jahrzehnten von marginalisierten Jugendlichen Initiativen organsiert worden, die das dortige Schulsystem mit teils dramatischen Protestaktionen (vgl. Stovall 2006), „radikaler Inklusion“ (vgl. Torre & Fine 2006: 272) und vor allem durch stadtteilbezogenen Jugendorganisationen und/oder – zentren kritisieren und gleichzeitig die formelle Lernkultur umwandeln und/oder neu gestalten bzw. mit informellen und non-formalen Lernpraktiken sowie stadtteilrelevanten Themen und Inhalten verbinden (vgl. hierzu auch O’Donoghue 2006). Dies ist auf eine intensiv ausgeübte Netzwerkarbeit und kontinuierliche Interaktion unter den Jugendlichen zurückzuführen. Die Kommunikation unter den jungen Männern dieser Forschungsarbeit ist auch ein wichtiger Bestandteil des Alltags. Sie kann sich von einem kurzen Gespräch auf der Straße bis zu einer intensiven und mehrere Stunden dauernden Diskussion ausweiten. Sie kann während eines Tischtennisspiels stattfinden sowie auch beim Graffitimalen. Die jungen Männer sprechen über Farben, Mystik, Gesellschaft, Körperlichkeit, Beziehungen, Formen, formbare Buchstaben – alles Themen, die etwas mit Entwicklung zu tun haben. Gerade Gennaro und Peppino sind auf der konstanten Suche nach Neuem, nach (Weiter)Entwicklung, nach Experimenten und Versuchen
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8 Interaktionspraktiken
– Dinge, die ihnen an den ihnen bekannten (staatlichen) Schulen nur schwer möglich erscheinen. Somit praktizieren die vier jungen Männer im Sinne Paulo Freires ein Bildungskonzept der „Liberation“: „Liberation is a praxis: the action and reflection of men and women upon their world in order to transform it“ (Freire 2006: 249). Somit wäre hier erneut eine Umkehrung des Repräsentationsregimes festzustellen. Die jungen Männer demontieren mit ihren Gesprächs- und alternativen Lernpraktiken die Sterotypisierung der Schulmüdigkeit, der ‚Lernbehinderung’ und der Lustlosigkeit. Vielmehr bilden die Transformers, Supporters, Isolani und Filosofi jeweils eine Community of Practice, in der eine Transformation des Lernens stattfindet: „Liberating education consists in acts of cognition, not transferrals of information. It is a learning situation in which the cognizable object (far from being the end of the cognitive act) intermediates the cognitive actors – teacher on the one hand and students on the other. Accordingly, the practice of problem-posing education at the outset that the teacher-student contradiction be resolved. Dialogical relations – indispensable to the capacity of cognitive actors to cooperate in perceiving the same cognizable object – are otherwise impossible” (Freire 2006: 249).
Diese Transformation beginnt bei den Transformers und Supporters aus Falldorf mit der reziproken, kollektiven Unterstützung, was sich in den Enaktierungspotentialen der Gespräche widerspiegelt. Dies begründet auch die weiteren Orientierungen an Kommunikation und Interaktion sowie an Vergemeinschaftung. Für diese Orientierungen und Enaktierungspotentiale nutzen die jungen Männer aus Falldorf den Kiosk als Interaktionszentrale der Siedlung und das Jugendzentrum des Stadtteils als geschützten Interaktionsraum; in Abgrenzung zu den formellen Settings in der Schule und des ‚Drucks’ seitens der Medien, des Staates und der Außenstehenden. Dies wird insbesondere durch die kontinuierliche Orientierung an Anerkennung des Stadtteils und dessen Bewohnenden sowie an der Verteidigung und Rechtfertigung eben dieser deutlich. Ähnliche Phänomene beschreibt auch Willis (1979) in seiner Studie zu den Lads: „Die Gruppe bietet auch die Kontakte, die es dem Einzelnen erlauben, sich alternative Landkarten der sozialen Realität zu entwerfen. Sie liefert dem Einzelnen die nötigen Informationen, mittels derer er herausfinden kann, was die Dinge ‚zum Laufen bringt’. Im Grunde ermöglicht es nur die Gruppe, andere Gruppen zu treffen und durch sie wiederum neue und immer neue Gruppen. Schulgruppen koalieren und verbünden sich weiter mit Nachbarschaftsgruppen und bilden so ein Netz für die Weitergabe ganz bestimmter Arten von Wissen und Einsichten [...]. Die Infrastruktur der informellen Gruppe ist es, die überhaupt erst eine eigenständige Form des Klassenkontakts – oder der Klassenkultur, im Unterschied zur herrschenden – ermöglicht. Die Schul-Gegenkultur verfügt bereits über eine ausgeprägte Form des inoffiziellen Tauschs und Austauschs, beruhend auf ‚Organisieren’, ‚Abstauben’, [...] ‚Gelegen-
8.6 Gespräche als Praktiken informellen Lernens
311
heiten’ – ein Muster, das natürlich in der Welt der erwachsenen Arbeiter noch deutlicher sichtbar wird“ (Willis 1979: 47).
Insbesondere die Filosofi aus Pratobello unterscheiden sich an einigen Orientierungsgehalten von den jungen Männern aus Falldorf. Aktive, soziale Partizipation sowie Entdeckung von Neuem, stellen ihre relevanten Orientierungen dar, die u.a. in den Gesprächsrunden enaktiert werden. Ihre Gesprächsorte unterscheiden sich ebenfalls: Sie treffen sich in (Garagen-)Wohnungen, Parkanlagen oder vor den Wohnblöcken auf Sitzbänken. Francesco, Ciro, Gennaro und Alberto haben nicht nur vor zu diskutieren, sondern sie möchten, dass ihre Debatten Früchte tragen. Francescos Idee ihre Debatten dem Stadtteil zu öffnen und in gewisser Weise zu institutionalisieren, unterstreicht die These der Partizipation und schlägt wiederum eine Brücke zu den Orientierungen der Falldorfer Männer, die selbst auch aktiv werden möchten und ihre Themen über Videointerviews der breiten Bevölkerung näher bringen möchten. Dies macht die deutschen und italienischen Gruppen gleichermaßen zur Instanz der Verteidigung und Rechtfertigung von Handlungsweisen und Mentalitäten ihrer Stadtteile. Was alle Peergruppen zudem gemeinsam haben, ist die implizite und/oder explizite Verarbeitung von inkorporierten, teilweise langjährigen (Diskriminierungs-)Erfahrungen im Stadtteil durch eine Routine des Erzählens und Diskutierens. Alle vier Gruppen teilen einen Erfahrungsraum, der durch Diskriminierung und soziale Ausgrenzung gekennzeichnet ist. Die Gespräche dienen den Gruppen als Dokumentationspraktiken ihres Wissens, ihrer Erfahrungen sowie ihrer ästhetischen und ökonomischen Praktiken. Es findet eine Art unsichtbare Dokumentation statt, die in verschiedene ‚Kapitel’ und ‚Bände’ unterteilt ist und als Kontingenzbewältigung genutzt wird: „In den in einem weiteren Sinne praxeologisch informierten Ansätzen wird hingegen angenommen, dass die alltagskulturellen Praktiken Jugendlicher durch ein ‚schweigendes Wissen’ strukturiert werden, das die Jugendlichen bereits in die Situation hineintragen. Hier wird davon ausgegangen, dass die sozialen Akteure im Lauf der Sozialisation ein gleichartiges konjunktives und habitualisiertes Wissen ausbilden, das sie mit anderen Akteuren verbindet, auch ohne, dass es zu einer face-to-face-Interaktion kommt. Es wird insofern angenommen, dass Peerkulturen sich in den kollektiven Praktiken Jugendlicher in konkreten Situationen vor allem dokumentieren, dass die Neu-Entstehung/Transformation dieser Kulturen hingegen eher die Ausnahme darstellt“ (Amling 2017: 409).
So lässt sich über die gesamten Orientierungen aller in dieser Forschungsarbeit untersuchten Gruppen hinweg eine übergreifende Orientierung an Lebensbewältigung dokumentieren. Nach all den Enttäuschungen, die sie vom Staat, von den Schulen, von den Außenstehenden sowie im Falle Italiens von absenten (So-
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8 Interaktionspraktiken
zial)Pädagog*innen erfahren haben sowie nach all den Herausforderungen, Hürden und Kämpfen, die sie angehen mussten und noch müssen, ist eine Strategie zur Einschränkung des Risikos entwickelt worden. Diese Strategie dokumentiert sich durch den Rückzug der jungen Männer an ihre vertrauten Orte und durch die eigens konzipierten politischen Debatten und alltagsbasierten Gespräche sowie durch Handlungsmuster, Interaktionen und gemeinschaftlichen Verteidigungsstrategien. „Je stärker aber die Sozialintegration gestört ist, je mehr ein Mensch ausgekoppelt ist aus dem normalen Gang der Dinge – also keine Arbeits-, Lern- oder Leistungsfähigkeit zu reproduzieren hat – desto mehr verengt sich ja auch diese Lebensbewältigung, desto mehr verlagert sie sich von der Orientierung an gesellschaftlichen Institutionen auf soziale Beziehungen. Wenn Institutionen keinen Sinn mehr geben, keinen Halt in einer Lebensphase, keine Sicherheit, keine befriedigende Tätigkeit vermitteln, keine Zukunft verheißen, dann wir die personen- und lebensweltzentrierte Perspektive ‚Lebensbewältigung’ lebensbestimmend“ (Böhnisch et al. 1985: 80).
All dies geschieht beiläufig und implizit. Es ist keine explizit wahrgenommene Bewältigungsstrategie. Es entsteht ein gewisser Automatismus im Denken und Handeln gegenüber dem Staat, der als Außenstehender wahrgenommen wird (vgl. Kapitel zur Stadtteilwahrnehmung) sowie gegenüber Institutionen jeglicher Art. Das Arbeiten und Lernen werden von den jungen Männern selbst definiert und konstruiert. Verschiedene politische, gesellschaftliche, ökonomische und mystisch-philosophische Fakten und Erlebnisse werden durch Gespräche, Beobachtungen, Zurückhaltung und Konfrontation mit anderen Möglichkeiten (vgl. hierzu Peppino und Gennaros Hustlingmethoden) durch Lebensbewältigungsformeln kontrolliert (vgl. Ammermann 2000: 204). Die Legitimation bestimmter Stadtteilstrukturen und -kulturen ist Teil dieser Orientierung an Lebensbewältigung.
9 Zusammenfassung Auch wenn die Orientierungsrahmen der einzelnen Gruppen nicht im Fokus dieser Untersuchung stehen, sollen die vier beteiligten Jugendgruppen sowie die einzeln interviewten Jugendlichen Peppino und Turgut hier noch einmal in ihren Besonderheiten hervorgehoben werden, um sie einerseits zu würdigen, andererseits aber auch um die Zusammenfassung dieser Untersuchung einzuleiten.
9.1
Kollektive Räume der Bewältigung Die Filosofi:
Was die Gruppe der Filosofi besonders ausmacht, ist vor allem die kontinuierliche Orientierung an Entwicklung. Viele ihrer Praktiken sind sowohl auf individuelle als auch auf kollektive Weiterentwicklung ausgerichtet. Sie sind auch deshalb eine der mobilsten Peers dieser Untersuchung. Auf den Straßen von Pratobello sind sie in der Garage von Gennaro, in Parkanlagen, Wohnungen und vor den Wohnblöcken zu finden. Die jungen Männer sind sowohl zeitlich als auch räumlich mobil und dadurch flexibel für Gelegenheiten. Dementsprechend können sich die Filosofi gut an neue Situationen anpassen. Sie überschreiten Stadtteilgrenzen und diese Überschreitungen rahmen ihre Raumpraktiken. Der Antrieb diese Grenzen zu überschreiten, ist ihr Durst nach Wissen. Dieser ist bei ihnen nicht nur besonders ausgeprägt, sondern wird auch explizit in der Gruppe thematisiert. Die Frage nach Lernmöglichkeiten und nach Formen des Lernens gehören bspw. zu den relevanten Diskussionsthemen der Gruppe. Der stetige Wissensaustausch, das Lernen durch Handeln und die Mobilität führen neben intentionalen Lernprozessen, wie in den rekonstruierten Dialogen, auch zu teilweise zufälligen, inzidentellen Lernprozessen. Auffällig ist dabei die kontinuierliche kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Wissensbeständen, die auch die ‚Streitgespräche’ der Gruppe prägt. Von allen untersuchten jungen Männern sprechen Ciro, Francesco, Alberto und Gennaro am Meisten. Gespräche und Diskussionsrunden rahmen ihre gesamte Praktik. Auch wenn sie einzeln heterogenen Aktivitäten nachgehen, ist die Gesprächskultur das Element, das die Gruppe zusammenführt und zu einer typischen Community of Practice macht. Die Herangehensweise an die Gesprächsthemen und der Diskussionsstil ist kritisch. Sie analysieren die Welt und setzen sich gemeinsam mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie aktuellen Themen auseinander. Konfrontationen, Gegenargumente und Kontrapositionen wer© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_9
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9 Zusammenfassung
den von den Mitgliedern der Gruppe akzeptiert und charakterisieren ihre Diskussionen, was ihre Gespräche äußerst dynamisch macht. Ihre kritischen Gedanken zeigen sich auch bezüglich ihres Willens die vorherrschende Repräsentation zu ändern (vgl. Hall 2004): sie distanzieren sich von ihrem Stadtteil und analysieren diesen aus der Distanz. Charakteristisch für die Filosofi sind auch die Praktiken des Hustlings, denen Gennaro hauptsächlich nachgeht. Peppino gehört nicht zu der Gruppe, ist aber ein junger Mann aus Pratobello, der starke Ähnlichkeiten zu Gennaro aufweist, auch wenn er in einem anderen Wohnbereich aufgewachsen ist und von einem anderen Sozialraum geprägt wurde. Seine Handlungen stellen einen starken Kontrast zu Gennaros Hustlingpraktiken dar. Peppinos Husltingaktivitäten sind von Gewalt geprägt und stark mit lokalen Banden verflechtet. Diese versucht Gennaro zu vermeiden und sein ökonomisches Überleben mit legalen Geschäften zu sichern. Trotzdem orientieren sich beide an Entwicklung, Zufall und Gelegenheiten, was auch ihre informellen Lernpraktiken maßgeblich rahmt. Auch die Graffitipraktik, der Ciro hauptsächlich nachgeht, ist für die Gruppe eine Aktivität, die viele der Gespräche und Informationsaustausche beeinflusst. Zugleich muss an dieser Stelle auch der Drogenkonsum der Filosofi unterstrichen werden, der gegenüber den anderen Gruppen eine weitere Charakteristik darstellt. Der Konsum von Haschisch begleitete alle Aktivitäten. Lediglich Ciro verzichtete auf Haschisch während seiner künstlerischen Aktionen und auch sonst war er derjenige, der am wenigsten in der Gruppe konsumierte. Gelernt wird bei den Filosofi sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gruppe vor allem zu den Themen Philosophie, ästhetische Praktiken, Politik und Technologie. Der Stadtteil als fundamentale Lern- und Lehrquelle sowie das Hustlen gehören zu den wichtigsten Raumhandlungspraktiken der Filosofi. Es wird über die vielen Erfahrungen auf den Straßen, das Konsultieren von Büchern, Zeitschriften, dem Internet und sozialen Kontakten innerhalb des eigenen Stadtteils sowie außerhalb in anderen Milieus (über befreundete Studierende oder Graffitisprüher*innen zum Beispiel) gelernt. Der kontinuierliche Austausch in den Gesprächspraktiken und über die sozialen Dynamiken innerhalb und außerhalb von Pratobello tragen zudem zum informellen Lernen bei. In Diskursen, Dialogen und Lehrgesprächen wird Wissen in der Gruppe generiert und zusammengetragen und zugleich vermittelt. Die Isolani: Die Gruppe der Isolani kann vor allem dadurch charakterisiert werden, dass sie im Vergleich zu den anderen untersuchten Jugendlichen sehr zurückgezogen lebt. So sind die Isolani kaum auf den Straßen in Pratobello unterwegs und wenn, dann nur um Einkäufe zu erledigen oder in eine Bar zu gehen. Ihre Wohnungen
9.1 Kollektive Räume der Bewältigung
315
sind ihre Treffpunkte und Orte der Vergemeinschaftung, des Lernens und der Durchführung von Praktiken aller Art. Zu den kriminellen Gruppierungen haben sie dementsprechend ein sehr distanziertes und gleichzeitig ambivalentes Verhältnis. Dies lässt sich, wie bei den Filosofi auch, im Bezug auf ihre Repräsentationspolitik beobachten. Sie wollen einerseits verhindern, dass ihr Stadtteil von Außenstehenden als hauptsächlich kriminell dargestellt wird und somit die Chancen eine Arbeitsstelle zu finden, verringert wird. Andererseits haben sie ein Interesse, dass sie selbst nicht in die Kriminalität abrutschen, sondern Bildung und eine ‚ehrliche’ Arbeit in ihrem Wohnbereich als eine realistische Alternative gesehen wird. Ihre Sicht auf den Stadtteil ist distanziert, auch wenn sich die jungen Männer nicht ganz von devianten Verhaltensweisen abgrenzen können, vor allem wenn die Kollektivität eines Wohnblocks oder Wohnbereichs betroffen ist und sich die Praktiken in Grauzonen bewegen. In dieser Hinsicht orientieren sich die Isolani stark an Anpassung und Akzeptanz der Situation in ihrem Stadtteil. Gleichzeitig – und damit verbunden – sind sie von Handlungsohnmacht betroffen, die sie verglichen mit den Filosofi zu weniger Freizeitmöglichkeiten oder Auslebung bestimmter Praktiken führt. So weisen die Isolani eine eingeschränkte Mobilität im Stadtteil auf. Vielmehr ist Ihre Mobilität medial, digital und/oder virtuell. Ihre Interaktionen und Diskussionen bieten die Möglichkeit, sich reflexiv mit der eigenen Position in der Gesellschaft und im Stadtteil auseinanderzusetzen. Dies tun sie nicht nur untereinander zuhause, sondern auch durch multimediale Kommunikation, die ihre Lernprozesse beeinflusst. Die Isolani lernen vor allem reflexiv in Rückzugsräumen. Es handelt sich dabei um ein gezielteres Lernen, das auf langfristige Lernziele gerichtet und stärker zukunftsorientiert ist. Sie haben ein ausgeprägtes Wissen und einen großen Erfahrungsschatz was Arbeitsverhältnisse, -politik und Diskriminierung am Arbeitsplatz angeht. Gleichzeitig haben sie konkrete Ziele was ihre berufliche Zukunft angeht. Gelernt wird dies über Erfahrung, Informationsaustausch in Gesprächen und Diskussionsrunden – gezielt und selbstgesteuert. Der zentrale Orientierungsrahmen der Isolani ist die Suspendierung. Sie entziehen sich den Stadtteilnormen und der potentiellen Gewalt in ihrem unmittelbaren Wohnbereich. Die Vermeidung bestimmter Praktiken, Menschen und Wege führt zu einem Hustlingverhalten, das die Isolani seit ihrer Kindheit erlernt haben. Sie schlagen sich mit Alternativen und mit Rückzug durch. Soziale Kontakte werden fast schon zwanghaft außerhalb des Stadtteils gesucht, um dem Gefühl der doppelten Marginalisierung zu entkommen und gesellschaftlich akzeptiert zu werden; vor allem aber um an der Gesellschaft teilzuhaben. Drogen und Alkohol spielen im Leben der jungen Männer keine Rolle. Sie werden sogar als eine Gefahr gesehen, der sich die Peergruppe nicht aussetzen möchte. Mitunter einer der Gründe, sich in ihre Wohnungen zurückzuziehen, ist die kontinuierliche Vermeidung mit der Welt der Drogen in Kontakt zu kommen, sowohl aus ökonomischer als auch aus konsumorientierter Sicht.
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9 Zusammenfassung
Die Transformers: Was die Transformers als Peergruppe und Community of Practice besonders kennzeichnet, ist die starke Identifikation mit ihrem und die Verteidigung ihres Stadtteils. Letztere ist gleichzeitig auch ein erster Orientierungsrahmen der Gruppe. Zu ihren relevantesten Praktiken gehört die Umkehrung des Repräsentationsregimes, das in den Medien und bei Außenstehenden besteht. Somit basiert ihre Repräsentationspolitik verglichen mit den italienischen Gruppen auf einer starken Identifikation mit dem Stadtteil, den sie in ihren Interaktionen zu verteidigen wissen. Dies lässt sich über die vielen positiven Darstellungen innerhalb ihrer Gespräche in der Gruppe und mit Außenstehenden feststellen. Mit kontinuierlichen Interaktionen, die hauptsächlich im und um das Jugendzentrum von Falldorf herum, in den Sporthallen und –plätzen sowie am zentralen Kiosk in der Siedlung Weitblick stattfinden, lernen sie mit ihrer Marginalisierung umzugehen und sich auf die positiven Praktiken im Stadtteil zu fokussieren. Dadurch verändern sie auch ihren alltäglichen Sprachgebrauch. Sie konzentrieren sich, wie eben erwähnt, während der Gespräche auf positive, den Außenstehenden unbekannte Aspekte. Außerdem fällt insbesondere beim Sport die häufige Nutzung von empraktischem, ritualisiertem und scheinbar beleidigendem Vokabular unter den Akteuren auf, das jedoch zur Entwertung bzw. Veränderung der eigentlichen Bedeutung genutzt wird. Durch den Besuch des Fitnessstudios und der Sporthalle überschreiten die Transformers, wie auch die Filosofi, in hoch mobilen Praktiken Stadtteil- bzw. Wohnbereichsgrenzen. Auch wenn die Situation von Falldorf weniger dramatisch als in Pratobello ist, was Mafiapräsenz und Kriminalität angeht, ist es für die Transformers nicht selbstverständlich alle Wohnbereiche zu betreten. So gibt es Stellen im Stadtteil, an denen die Bewohnenden junge ausländische Männer diskriminierend behandeln und ihnen Zugänge und Aufenthalte verwehren. Die Transformers sind daher in ihrem Handeln innerhalb des Stadtteils teilweise beschränkt und ‚flüchten’ mit alternativen Praktiken in benachbarte Stadtteile, um z.B. Fitness zu betreiben oder an Fußballturnieren teilzunehmen. Dies nutzen sie, um devianten und kriminellen Praktiken in ihrer Wohnsiedlung aus dem Weg zu gehen und davon Abstand zu nehmen. Auch Interaktionen, wie bspw. über Körpernormen, soziale Beziehungen, Lebenspraktik, Zugehörigkeitsordnungen und Religion, finden an verschiedenen Orten, also vor allem mobil, beim Spazierengehen und Umherschweifen im Stadtteil statt. Während Medien und Außenstehende stetig für ein negatives Image sorgen, hustlen sich die Transformers durch dieses Repräsentationsregime, um daraus Stärkung, Identifikation und Anerkennung zu erreichen. Ihre Praktiken dokumentieren einen Transformationsprozess der Bewältigung des marginalisierten Alltags der Falldorfer Jugendlichen. An dieser Praktik der Umkehrung und des Hustling
9.1 Kollektive Räume der Bewältigung
317
ist das Jugendzentrum unterstützend beteiligt, was die Transformers zu schätzen wissen. Das Jugendzentrum sowie die sportlichen Aktivitäten und die Mobilität, sorgen für informelle Lernpraktiken, die sich in der Veränderung beiläufig abspielen: beim Tischtennis- und Fußballspielen, beim Interagieren und bei der Entwicklung von Kleinprojekten, wie die Videodokumentation zu den Silvestervorfällen in Köln im Jahre 2015 oder die Produktion eines Rapsongs. Hierbei handelt es sich vor allem um inzidentelles Lernen. Bei den Fitnesspraktiken oder auch bei der Durchführung von Automatenspielen in den Cafés und Casinos, die bspw. von Karan und Idris besucht werden, wird dagegen ein gezieltes, selbstgesteuertes Lernen realisiert. Hierbei geht es den jungen Männern um den Aufbau von Wissen bezüglich der Gewichte und Techniken des Muskelaufbautrainings oder um die neuesten Tricks und Strategien der jeweiligen Casinospiele. Auffällig ist weiterhin, dass die Transformers offen für pädagogische Interventionen sind. Sie kommunizieren täglich mit den Sozialarbeiter*innen vor Ort und lassen sich auch bei der Job-, Ausbildungs- und Schulwiedereinstiegssuche helfen. Wie die Isolani nehmen die Transformers keine Drogen und trinken auch keinen Alkohol. Drogen wurden lediglich in der Vergangenheit von einigen Mitgliedern der Gruppe ausprobiert und konsumiert. Beobachtet wurde aber im gesamten Untersuchungszeitraum kein Konsum jeglicher Art. Bei Turgut, der nicht Teil der beiden hier untersuchten Falldorfer Gruppen ist, zeigt sich, ähnlich wie bei den Transformers, ein Orientierungsrahmen der Transformation und Veränderung. Auch er überschreitet Stadtteilgrenzen, um an gesellschaftlichen Prozessen und allgemein verbreiteten Freizeitpraktiken zu partizipieren. Sein repräsentationspolitisches Agieren ist auch von der Verteidigung des Stadtteils gekennzeichnet. Dies zeigt sich z.B. an seinem schulischen Engagement als ein an der inhaltlichen Schul- bzw. Klassengestaltung interessierter und teilnehmender junger Mann. Seine Lernpraktiken sind inzidentell, wie sich das durch das Klauen von Fahrrädern oder das Schwarzfahren im Nahverkehr zeigt. Es ist ein an den Alltag angepasstes, teilweise unbewusstes Lernen. Die Supporters: Auffallend an den Supporters ist ihre Unauffälligkeit. Auch wenn sie sehr viel mit den Transformers aufgrund der Zusammenkunft im Jugendzentrum interagieren, gehen sie ihren eigenen Praktiken nach und ziehen sich ähnlich wie die Isolani eher zurück. Die Raumpraktiken werden somit durch ihren Rückzug ins Jugendzentrum oder in ihre eigenen Wohnungen gerahmt. Sowohl Mirza als auch Haias sind Boxer und dementsprechend neben den Fitnesspraktiken mit eigenem Training beschäftigt. Levent und Mirza sind zusätzlich die einzigen der Falldorfer Gruppe, die nebenher arbeiten und somit auch nicht ständig im Jugendzentrum
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9 Zusammenfassung
anwesend sein können. Alle drei verbringen zudem viel mehr Zeit in ihren Wohnungen als die Transformers: Mirza wegen der Arbeit an seinen Raptexten und Reimtechniken, Haias und Levent aufgrund der Nutzung ihrer Heimkinos. Das Jugendzentrum sowie ihre Wohnungen sind ihr Rückzugsort, um dem Sog der Straße zu entgehen und sich vor kriminellen Geschäften und Gewalt zu schützen. Sicherlich gehört zu den wichtigsten gemeinsamen Praktiken der Supporters das Diskutieren. Die Interaktionen finden solidarisch statt. Die Alltagspraxis wird bewertet und über diese Gespräche erreichen sie reziproke, kollektive Unterstützung, die auch der sozialen Teilhabe innerhalb des Stadtteils dient. Als Orientierungsrahmen der Gruppe dokumentiert sich somit Solidarisierung. Die Repräsentationspolitik ist aber mit der der Transformers gleichzustellen: die Supporters verteidigen ihren Stadtteil, was sich anhand ihres Orientierungsrahmens und ihrer Interaktionspraxis zeigt. Die Supporters lernen im Rahmen des Jugendzentrums über soziale Beziehungen, Stadtteildynamiken, Innen- und Außenpolitik, Medien und Stadtverwaltung sowie soziale Arbeit inzidentell. An ihren Arbeitsstellen und beim Sport lernen sie dagegen fachspezifische Inhalte in selbstgesteuerter Form. Die Interaktionen, die in allen drei eben genannten Bereichen stattfinden, sind der Rahmen, der diese Lernprozesse anregt. Die Supporters lernen somit an vertrauten Orten je nach Situation zufällig oder intentional. Lernanlässe ergeben sich durch die Lebenspraxis und die Probleme, die dort auftauchen. Hier lässt sich eine Verbindung zu den Isolani feststellen. Was für die Repräsentationspraktiken dagegen gilt, ähneln die Supporters den Transformers. Man kann an dieser Stelle über die Supporters sagen, dass eine Mischung der Charakteristika zwischen den Isolani und Transformers festzustellen ist. Wie die Isolani und Transformers, konsumieren die Supporters keine Drogen. Lediglich Haias und Mirza trinken auf Partys Alkohol. Anhand des folgenden Schaubildes, können die Charakteristika und rekonstruierten Orientierungen der einzelnen Gruppen abschließend und zusammengefasst eingesehen werden: Dimensionen Filosofi Überschreitung von Flucht Stadtteilgrenzen Distanzierung Autonomie Kritisch Teilhabe Vergemeinschaftung Lernen
Isolani Rückzug
Transformers Überschreitung von Stadtteilgrenzen Distanzierung Identifikatin Reflexion Verteidigung
Supporters Rückzug
Vernetzung
Vernetzung
Vernetzung
Identifikation Solidarisierung Vernetzung
Entwicklung
Suspendierung
Transformation und SolidarisieVerteidigung rung
9.1 Kollektive Räume der Bewältigung
319
Durch dieses Schaubild wird auch deutlich, dass trotz der verschiedenen Charakteristika der einzelnen Gruppen zusammenfassend festgestellt werden kann, dass es sich dabei um Gemeinsamkeiten handelt. Schließlich werden alle vier Peergruppen von denselben Dimensionen miteinander verbunden. Die Community of Practice und somit die Vergemeinschaftung stellt den sozialen Rahmen dar, dessen zentrale gemeinsame Orientierungen sich auf das Hustling beziehen. Es handelt sich beim Hustling um ein ‚Sich-Über-Wasser-Halten’, ‚sich durchbeißen’, ‚sich durchboxen’ bzw. ein ‚Durchkommen’ durch den Alltag. Sowohl über die Interaktions- und Hustlingpraktiken als auch über die vielen Raumpraktiken hinweg, dokumentiert sich in den untersuchten Gruppen eine kontinuierliche Orientierung an sozialer Teilhabe, Flucht, Vergemeinschaftung und Selbstbestimmung sowie Entwicklung. Alle lernen dabei vor allem informell und raumbezogen. Da es ein raumbezogenes Lernen ist, dessen Hintergrund der Erfahrungsraum der sozialräumlichen Marginalisierung darstellt, findet es ‚hustlend’ statt. Das heißt, dass die Akteure ‚auf der Flucht’, mobil, flexibel, autonom, strategisch, teilhabend, teils zurückgezogen, aber auch und vor allem in der Gemeinschaft lernen. Wie die Hustler auf den Straßen von Pratobello schlagen sich die Transformers, Filosofi, Supporters und Isolani mit ihren Lernpraktiken, ihren Netzwerken, Interaktionen und Kontakten im Alltag durch, um in ihren Räumen psychisch, ökonomisch und sozial zu überleben. Alle Dimensionen sind mit der Mobilität verbunden. An dieser Stelle lässt sich diese als Relevanz für die Realisierung, Organisation und institutionelle Steuerung von Bildungs- bzw. Vermittlungsprozessen der untersuchten Akteure beobachten, der durch einen Erfahrungsraum der sozialräumlichen Segregation angetrieben wird. Die jungen Männer aller vier Gruppen haben bewusst oder unbewusst erkannt, dass sie mit mehreren Motoren noch viel mobiler sind und noch viel mehr alternative Wege aus der Marginalisierung bzw. zum Überleben dieser finden. Die Community of Practice stellt diese Wege dar. Das Lernen in den vier hier vorgestellten Communities of Practice orientiert sich an fünf Aspekten: 1. Flucht (räumlich); 2. Autonomie (flexibel); 3. Teilhabe (soziale Integration); 4. Vergemeinschaftung (Netzwerkbildung); 5. Lernen. Diese fünf Aspekte im Rahmen der Community of Practice konstituieren das informelle Lernen in den untersuchten Gruppen. Die Marginalisierung be- und verarbeiten die jungen Männer durch Hustling in der Gemeinschaft. Die meisten Praktiken in den Gruppen sind gemeinschaftlich verankert und haben einen Bezug zu Mobilität: -
auf physischer Ebene mit der Bewegung von einem Ort zum anderen; auf multimedialer Ebene mit virtuellen Reisen in digitale Welten des Computers und Internets; mit der Vorstellungskraft, Analyse und Reflexion;
320
9 Zusammenfassung
-
mit der Distanzierung, Suspendierung und dem Rückzug von bestimmten Gedanken und Geschehnissen.
Die (räumliche) Flucht stellt eine Strategie für die Gruppen dar, um sich von den kriminellen Gruppierungen im Stadtteil abzuwenden, distanziert von diesen und in Ruhe, ihren eigenen Interessen und Praktiken nachzugehen. Sie lernen somit einerseits sich zurückzuziehen und in ihrem ‚Exil’ trotzdem etwas Sinnvolles für ihren Alltag und die psychische Bewältigung der umliegenden Belastungen zu bewirken. Andererseits überschreiten sie die Stadtteilgrenzen und flüchten vom Alltag, indem sie außerhalb ihrer Wohnumgebungen Beziehungen und Netzwerke aufbauen sowie (jugendkulturellen) Praktiken und Arbeiten nachgehen, die in Pratobello und Falldorf auf diese Weise nicht durchführbar sind bzw. nicht existieren. Dadurch, dass sie eine Art ‚Inselleben’ innerhalb ihres Stadtteils aber gleichzeitig auch innerhalb der (Mehrheits-)Gesellschaft führen, können die jungen Männer den Alltag meist flexibel gestalten, solange sie räumlich flüchten und sich im und außerhalb des Stadtteils unauffällig verhalten und bewegen. Diese Autonomie lässt sich insbesondere anhand der Graffiti-, Straßenhustling-, Fitness- und Interaktionspraktiken beobachten. Gerade während der Diskussionen und Debatten führen die jungen Männer repräsentationspolitische Handlungen durch, die zumindest in ihrem Sozialraum für autonome Reflexionen und Handlungen – teils im sich von Stadtteil distanzierten, teils im sich mit dem Quartier identifizierenden Modus sorgen. Durch die Teilhabe an gewissen gesellschaftlichen Prozessen, wie bspw. bei Turgut in der Schule oder bei Francesco mit dem befreundeten Studenten Beppe oder bei Ciro mit seinen Graffitikollegen, integrieren sich die jungen Männer in die Gesellschaft und versuchen diese mitzugestalten und an dieser mitzuwirken. Dadurch lernen die Akteure neue Realitäten kennen, die ihnen neue Strategien zur Bewältigung sozialer sowie ökonomischer Probleme und Hindernisse bieten. Gennaro und Peppino tun dies auf ihre Weise innerhalb der Stadtteilstruktur, um durch ihr Netzwerk in harten Zeiten Unterstützung zu erhalten. In diesen Fällen ist mit Teilhabe auch soziale Integration innerhalb des eigenen Sozialraums gemeint. Diese führen die Filosofi kritisch durch, indem sie die Partizipationsmöglichkeiten im und außerhalb des Stadtteils basierend auf ihren Erfahrungen zuerst aus der Distanz genauer beobachten, bevor sie agieren. Die Isolani reflektieren ihre partizipativen Handlungen in der Gruppe, um abzuwägen, inwiefern diese für ihren Alltag fruchtbar sind bzw. sein können. Die Transformers nehmen an gesellschaftlichen Prozessen teil und verteidigen ihren Stadtteil. Über die Medien wollen sie Außenstehenden eine andere Perspektive auf ihren Stadtteil zeigen. Die Supporters nehmen am Quartiersleben solidarisch teil, indem sie die jeweiligen Freunde und Gruppen mit ihrem Know-how unterstützen.
9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
321
Teilhabe führt somit automatisch zu Vergemeinschaftung und bezweckt einen vielseitigen und perspektivübergreifenden Lernprozess, der für die jungen Männer von größter Bedeutung im Zusammenhang mit der Erlangung neuer Erkenntnisse, Ideen und Strategien ist. Die Gemeinschaft lässt eine Lehr-Lern-Funktion zu, die für Anerkennung, Schutz, Zusammenhalt und Stärke und somit für eine sehr gute Lernumgebung sorgt. Dadurch fällt die Bewältigung leichter und die Marginalisierungserfahrungen werden weniger belastend, da diese auf mehrere Individuen verteilt und somit im Kollektiv verarbeitet wird. Der letzte der fünf Aspekte erscheint zuerst widersprüchlich, aber das Lernen der jungen Männer dieser Untersuchung, insbesondere das der Filosofi, orientiert sich am Lernen selbst. Der Durst nach (Weiter-)Entwicklung und nach Neuem (Filosofi) sowie ihre Beobachtungsgabe, Analysefähigkeit, Reflexionskompetenz und Informationsweitergabe zeigen ihre ganz konkrete Orientierung am Lernen selbst. Die Transformators lernen im Transformations- und Verteidigungsprozess durch ihre Repräsentationspolitik, um Marginalisierungsregimes umzuwandeln. Die Supporters lernen hierdurch sich solidarisch gegenüber diesen Prozessen und Praktiken zu verhalten. Dies machen sie sich auch in den Interaktionen immer wieder explizit bewusst. Die Isolani dagegen lernen ihre Handlungen, Tätigkeiten und Praktiken – sobald sie aus der Wohnung treten – in ihrem Wohnbereich zu suspendieren. Sie befreien sich von den Verpflichtungen bzgl. der Mafiaregeln, die sie draußen seitens der kriminellen Gruppierungen erwarten.
9.2
Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
Die vorgeliegende rekonstruktive Studie belegt, wie junge Männer aus marginalisierten Quartieren über die Kritik an ihrer gesellschaftlichen Lage, über ökonomische Praktiken des Hustlings und über diskursive Praktiken in Peergruppen alternative Räume des informellen Lernens etablieren. Dass der Erwerb handlungspraktischen Wissens hoch bedeutsam ist für das soziale und ökonomische Leben von jungen Menschen in marginalisierten Quartieren, wird in den Gruppendiskussionen, Interviews und Feldprotokollen deutlich. Für alle vier untersuchten Jugendgruppen konnte eine hohe Bedeutung informeller Lernprozesse aufgezeigt werden. Das hier generierte Wissen ist dabei ebenso Voraussetzung wie Ergebnis von gemeinsamen Praktiken der räumlichen Mobilität, des Hustlings und der sozialen Interaktion. Die jungen Männer aus Falldorf und Pratobello setzen dem ‚Banking‘-Konzept der Schule dabei eine andere Form der Generierung und Vermittlung von Wissen entgegen. Diese ist erfahrungsbasiert und auf die Bewältigung von Marginalisierungserfahrungen gerichtet. Der soziale Kontext, in dem
322
9 Zusammenfassung
das geschieht, wurde in dieser Arbeit als Community of Practice bezeichnet, weil er sich durch einen informellen Charakter, gemeinsame Interessen und Praktiken, Erfahrungsbezug, die Anerkennung von Kenntnissen und Fähigkeiten sowie den strukturierten Aufbau von Wissen auszeichnet. Zugleich weisen die hier stattfindenden Formen des Lernens einige Besonderheiten auf: sie sind in ihren Inhalten variabel und schließen konkrete alltagspraktische, z.B. die Sicherheit im Quartier oder jugendkulturelle Praktiken betreffende, ökonomischen Nutzen versprechende, aber auch gesellschaftspolit-ische und historisch-philosophische Zusammenhänge ein. Die Praktiken finden in unterschiedlichen sozialen Zusammensetzungen sowie an wechselnden Orten und Zeiten statt. Die jungen Männer treten situativ sowohl als Lernende als auch als Lehrende auf und den Ausgangspunkt bilden jeweils konkrete alltägliche Zusammenhänge und Erfahrungen. Das informelle Lernen der jungen Männer in marginalisierten Quartieren stimmt damit in seiner Struktur mit dem hier als ökonomische Praktik rekonstruierten Hustling überein. Hustling stellt damit eine allgemeinere Form dar: Diese kennzeichnet die Aktivitäten in den hier untersuchten Communities of Practice insgesamt. Sie können also auch als Community of Hustling bezeichnet werden (vgl. ausführlich (Kap. 10.5). Die Praktiken wurden in den dargestellten Rekonstruktionen als situative Lernprozesse nachgezeichnet, die auf die Ausbildung einer Kunst, sich zu arrangieren (= l’arte di arrangiarsi), sich auf psychischer, sozialer und ökonomischer Ebene über Wasser zu halten, gerichtet ist. Über die empirischen Fälle hinweg zeigt sich in den Rekonstruktionen die Erfahrung der sozialräumlichen Marginalisierung als grundlegend homologer Erfahrungsraum zwischen den Akteuren aus Falldorf und Pratobello: Dies betrifft erstens den Aspekt der räumlichen Isolation. Sowohl die Akteure aus Deutschland (vgl. Turguts Zitat: „mein Stadtteil ist wie ein schwarzes Loch“), als auch jene aus Pratobello entwickeln diesen Aspekt in ihren Interviews und Diskussionen gleichermaßen. Die räumliche Isolation ist dabei unmittelbar verbunden mit der Erfahrung eines eingeschränkten Zugangs zu Ressourcen und, ganz grundlegend, zu anderen Räumen. Darüber hinaus dokumentiert sich zweitens in den Wissensbeständen der Akteure die Erfahrung ‚territorialer Stigmatisierung‘. Sowohl die italienischen als auch die deutschen Jugendlichen berichten von einem prekären Kampf um Anerkennung, der vor allem mit Zuschreibungen zu ihren Stadtteile und damit an sie selbst in Verbindung steht. Sie versuchen die Vorurteile der Medien und Außenstehenden mit positiven Beschreibungen ihres Stadtteilalltags, peerkulturellen Freizeitaktivitäten sowie gesellschaftlicher Teilhabe (z.B. als Klassensprecher in der Schule, als Debattengruppe im Stadtteil oder über Videodokumentationen zu bestimmten Themen) zu ‚überschreiben’.
9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
323
Dabei kommt drittens der Schule und somit der formalen Bildung über die Fälle hinweg die Rolle eines ambivalent bleibenden Gegenhorizonts zu. Während Mirza und Turgut die Schule zwischendurch abgebrochen hatten, zeigt sich auch bei den Jugendlichen in Pratobello eine dominante Orientierung an Schuldistanz. Allerdings sind die Beweggründe hier stellenweise verschieden. Für Mirza und Turgut waren Diskriminierungserfahrungen hauptsächlicher Beweggrund des Schulabbruchs. Neben der Tatsache eines nur unzureichend ausgebauten Bildungsangebots, das sich etwa in baufälliger Infrastruktur und mitunter in der mutwilligen Zerstörung der Schulen durch die Mafia dokumentiert, gaben die italienischen Jugendlichen an, dass sie die Schule aus Gründen des Desinteresses verlassen haben. Paradigmatisch hierfür steht die Aussage von Alberto in einer Gruppendiskussion. Er habe die Schule fast absichtlich verlassen, „gerade wegen der Sache, dass meiner Meinung nach niemand mir jemals was über bestimmte Sachen erzählt hat, bestimmte Religionen, Kulturen, verstehste was ich mein?“ (GD_Filosofi_2014: Z. 2118). Die Schule ist somit sowohl in Deutschland als auch in Italien für die jungen Akteure ein Ort der kulturellen Passung (vgl. hierzu Bourdieu/Passeron 1971). Autonomie und Selbstbestimmung im Lernen erfahren demnach die Jugendlichen in diesem formalen Kontext als unmöglich. Im deutschen Untersuchungsstadtteil Falldorf stehen dabei Diskriminierungs- und Exklusionserfahrungen im Vordergrund. Die jungen Männer erfahren Ausgrenzung in einem selektiven staatlichen Schulsystem. Im italienischen Untersuchungsstadtteil Pratobello besteht im Kontext eines durch Korruption und Infrastrukturprobleme geprägten städtischen Bildungssystems ein unerfülltes Bildungs- und Teilhabeversprechen, in dem junge Menschen keine Stimme in der gesamtgesellschaftlichen sowie politischen Debatte haben. Für die jungen Männer in dieser empirischen Untersuchung dokumentiert sich übereinstimmend eine Orientierung an Teilhabe vor dem Hintergrund von Exklusions- und Marginalisierungserfahrungen. Im deutschen Kontext ist die Grundlage hierfür mehr die Abhängigkeit von Arbeitslosengeld oder anderen staatlichen Maßnahmen, schulischen Sanktionen oder politisch-diskriminierenden Handlungen. Im italienischen Kontext findet sich in den Sozialräumen der jungen Männer sowohl eine Restriktion in der Mobilität innerhalb der Wohnbereiche sowie auch in dem Zugang zu formeller Bildung. Es zeigt sich, was Häussermann und Kronauer (2009: 121) allgemein mit Bezug auf segregierte Quartiere formulieren: „Der Stadtteil kann als ‚Ressource der Lebensbewältigung’ (Herlyn u.a. 1991; Neef u.a. 2007) dienen, kann aber auch als Beschränkung der Lebenschancen wirken (Kapphan 2002).“
324
9.2.1
9 Zusammenfassung
Pratobello und Falldorf als ‚Ressource der Lebensbewältigung’
Wie in den Theoriekapiteln gezeigt, werden junge Männer aus marginalisierten Stadtteilen noch zu oft – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft – mit Devianz, Kriminalität, Gewalt, Schulmüdigkeit und Gangs in Verbindung gebracht. Hierzu gehören auch Studien von Forschenden der CCCS in Birmingham (z.B. Willis 1977) und der Chicagoer Schule (z.B. Thrasher 1927 und Cohen 1955). Die vorliegende Studie zeigt dagegen eine andere Perspektive: Junge Männer in Gruppen mit männlichen Mitgliedern, die sich vergemeinschaften und durch informelle Lernpraktiken und –strategien sowie durch Sozialisation die Marginalisierung (zu) bewältigen (versuchen), jedoch ohne Gewaltanwendung und nicht in oder als Gangs. Zwar haben auch die hier untersuchten jungen Männer „problems of adjustment“ (Cohen 1955), also Schwierigkeiten sich an Mittelklasse-Werte und deren Bildungsorientierung anzupassen, aber sie zeigen sich nicht deviant, kriminell und gewalttätig und vor allem nicht den eben genannten Werten und Orientierungen abgeneigt. Im Gegenteil: Sie bilden Communities of Practice, bei denen sie durch Wissensaustausch und Interaktionen die Kunst sich durchzuschlagen und Marginalisierungserfahrungen zu bewältigen, lernen. Dabei spielt aber auch Anpassung und Teilhabe an den allgemeingesellschaftlichen Prozessen eine große Rolle. Dies ist ein zentrales Ergebnis dieser Studie und beantwortet eine meiner ersten Forschungsfragen: Durch die hustlenden Praxisgemeinschaften, die die jungen sozial benachteiligten Männer in den hier untersuchten marginalisierten Stadtteilen bilden, lernen sie informell an Orten, an denen sie sich teils von formeller Bildung abwenden oder an denen formalisierte Angebote fehlen. Die vorliegende Studie trägt zum Wissenszuwachs des informellen Lernens bei. Wie Täubig (2018) es formuliert, wurden bisher lebensweltliche Lern- und Bildungsprozesse „unter dem Stichwort ‚informelles Lernen’ kaum noch in ihrer Eigenständigkeit und –sinnigkeit [...] untersucht [...]“ (ebd.: 8). Diese Forschungsarbeit zeigt also Formen des informellen Lernens, die hustlend geschehen, wobei gleichzeitig gefragt werden müsste, ob informelles Lernen nicht per se hustlend geschieht. Schließlich gehört zum Hustling – wie beim informellen (vor allem inzidentellen und unbewussten) Lernen auch – geringe Strukturierung dazu und Handlungen, die von Gelegenheiten und Zufall beeinflusst werden. Hierzu bräuchte es mehr Forschung, um diese These mit fundierten Untersuchungen bestätigen zu können.
9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
9.2.2
325
Jugendkultur als Vergemeinschaftungsprozess in marginalisierten Stadtteilen
Diese Arbeit untersucht eine Jugendkultur, die sich von der Delinquenz- und Devianzforschung distanziert, dabei aber das Wir-Gefühl, die Solidarität und Kollektivität einer Peergruppe, wie sie auch bei den lads von Paul Willis (1977) vor über vierzig Jahren vorzufinden waren. Der Kampf gegen Marginalisierung und prekäre Situationen unter jungen marginalisierten Männern wird fortgesetzt, aber nicht nur (oder nicht mehr) auf militante Art und Weise, sondern durch eigenständige jugendkulturelle Praxisgemeinschaften und Praktiken, die stark mit informeller Bildung und Hustling verflochten sind. Es geht hier nicht um ‚klassische’ Subkulturen, wie die Gangs und Milieus aus den 1920er – 1940er Jahren in den USA oder die Punker und Skinheads aus den 1970er Jahren in Europa (vgl. Ferhhoff 1990 und O’Connor 2004). Es geht auch nicht um ein bestimmtes Image, das durch gewisse Subkulturen dargestellt werden soll, und auch weniger darum etwas zu zeigen, was die jeweilige Person nicht ist, sondern um die Performanz der jeweiligen Fähigkeiten, Kompetenzen und Wissensbestände innerhalb von Interessensgemeinschaften. Wenn für die jungen Männer aus dem italienischen Stadtteil das Diskutieren eine konjunktiv relevante Praktik ist, dann nutzen sie diese Plattform als Anerkennungsraum. Bourdieus Konzept des Habitus bringt genau diese Beispiele auf den Punkt. Er geht von einem artistischen Feld aus, in dem Menschen verschiedener kultureller bzw. sozialer Hintergründe zusammentreffen und ihren Entscheidungen und Lebenskonzepten nachgehen. Jede Herangehensweise an die bestimmten subkulturellen Praktiken ist bzgl. des sozialen Habitus unterschiedlich. Meine Befunde zeigen darüber hinaus, dass in dieser vorliegenden Arbeit Wettbewerbe unter den jungen Männern im Rahmen von Vergemeinschaftungen und Peergruppen beobachtet werden konnten (vgl. Meuser 2008), die über besonders intensive und mehrere Monate andauernde Diskussionsrunden geführt wurden und noch werden. Diese entwickeln sich teilweise – je nach Thema und je nach emotionaler Identifikation mit Letzterem – zu Streitgesprächen, die ähnlich wie bei den Turkish Power Boys (Tertilt 1996: 198ff.) in spielerisch gemeinte Beleidigungen und verbalen Angriffen – durch Erhebung der Stimme und/oder kontinuierliche Verteidigung einer Meinung oder These – enden. Diese werden oftmals am nächsten Tag oder in der Woche darauf erneut aufgenommen, aber dann durch neues Wissen beeinflusst, sodass jeder der jungen Männer die Chance hat sich zu den jeweiligen Themen weiterzubilden, um stärkere (Gegen-)Argumente vorweisen zu können. Hier wird auch deutlich wie wichtig für junge Männer eine Peergruppe ist. Es geht nicht nur um den Wettbewerb, sondern um die Vergemeinschaftung, um einen eigenen Raum, in dem sie sich weiterentwickeln und (ver)stärken können. Gerade bei marginalisierten Männern ist eine solche Grup-
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9 Zusammenfassung
pierung von größter Bedeutung. Das bestätigt zudem die These, dass junge marginalisierte Männer nicht unbedingt Teil einer Gang oder Straßenclique sein müssen, um Marginalisierung oder Prekariat zu bewältigen oder marginalisierten/ marginalisierenden Handlungen nachzugehen, sondern Teil einer Jugendkultur des informellen Lernens sind, die über lebensweltliche Lern- und Bildungsprozesse hustlet und somit eine Community of Hustling bilden. Konkret wurde anhand der Auseinandersetzung mit den Untersuchungen zu Communities of Practice (Wenger 1998) und situiertem Lernen (Lave/Wenger 1991) deutlich, dass sich solche informellen Praxisgemeinschaften auch unter jungen marginalisierten Jugendlichen bilden. Die Art der Interaktion und der massive Wissensaustausch in den Peergruppen dieser Arbeit deuteten darauf hin und eröffneten viele Parallelen zu Wengers und Laves Forschungsergebnissen. Diese Erkenntnis führte auch schnell zu einer Antwort zu einer weiteren ganz zentralen Forschungsfrage dieser Untersuchung: junge Männer entwickeln in ihrer marginalisierten Lage Lebensbewältigungspraktiken und -strategien, die in Form von Communities of Hustling und jugendkulturellen informellen Lernpraktiken durchgeführt und alltäglich gelebt werden. Vor diesem Hintergrund wurde Hustling als Lebensstil beobachtet, der vom sozialen Kapital (Bourdieu 1997) abhängt bzgl. der Austauschbeziehungen innerhalb und außerhalb der Peergruppen. Das soziale Kapital steht wiederum in Verbindung mit dem Raum. Deshalb handelt es sich in dieser Studie um das Raumkonzept eines relationalen Raums nach Martina Löw (2001), der von Stigmata und Segregation räumlich marginalisiert ist und wird. Diese (Re-)Produktion räumlicher Marginalisierung führt zu Vermeidungs-, Abschottungs-, Stigmaamplifizierungs- und Selbstdegradierungspraktiken im Raum. Die jungen Männer aus Pratobello und Falldorf, ihre (sozialen) Güter und ihr Stadtteil spielen eine relationale und voneinander nicht zu trennende Rolle. Dies führte dazu, dass in dieser Untersuchung Marginalisierung aus der relationalen Raumperspektive betrachtet wurde. Pratobellos und Falldorfs räumliche Lage bestimmen die soziale Lage, da es sich um geschlossene, marginalisierte Stadtteile handelt (vgl. Ottersbach 2009 sowie Häussermann/Kronauer 2009), die keine Heterogenisierungsprozesse erleben, wie z.B. Bukows und Schulzes (2007) untersuchte Stadtteile. Parallel dazu werden durch die territoriale Stigmatisierung Praktiken der sozialen Differenzierung und Distanzierung (Wacquant 2008) sowie der Segregation (Häussermann 2008 & 2009) – in Falldorf auch ethnisch – herbeigeführt. Durch die zusätzliche Polarisierung (Ottersbach 2008) von Pratobello und Falldorf zeigt sich eine eindeutige Marginalisierung dieser Stadtteile. Diese führt dazu, dass der relationale Raum zum Stigma zusammengefasst wird und somit eine ‚übliche’ Schul- bzw. Bildungslaufbahn, Arbeitssuche, Berufsorientierung, politische und gesellschaftliche Teilhabe sowie Freizeit-, Familien- und Peerbeschäftigungen erschwert wird.
9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
327
Gleichzeitig kann aber – wie oben bereits aufgeführt – ein marginalisierter Raum auch zu Vergemeinschaftung führen – also das genaue Gegenteil von dem, was Wacquant und andere Soziolog*innen bisher bezüglich Raum herausgefunden haben. Auf ihre Räume beziehen sich somit die hier untersuchten jungen Männer auf verschiedene Art und Weise. Als dominante Modi zeigen sich hier einerseits Praktiken der Identifikation und andererseits solche der Distanzierung. Bei den Transformers und Supporters beispielsweise ist eine starke Verteidigung des und eine Solidarisierung mit dem Stadtteil festzustellen. Bei den Filosofi lässt sich eine Verwobenheit mit dem Stadtteil feststellen, die sich zwischen Wissensdurst, Kleinkriminalität und gesellschaftspolitischer Teilhabe bewegt. Dabei wird über die Gesprächspraktiken ein distanziert-kritischer Blick auf den Sozialraum geworfen, dieser wird in Interaktionen gemeinsam analysiert, abgewogen und reflektiert. Bei den Isolani dagegen ist vor allem eine Distanzierung zu ihrem Raum festzustellen, die sich jedoch hauptsächlich auf die Relationen im Stadtteil bezieht. Der kleine und enge Freundeskreis bildet dagegen einen Raum der Zugehörigkeit, der Vergemeinschaftung und des Zusammenhalts eingerahmt im kollektivem Rückzug. Die Orientierung an Vergemeinschaftung ist für alle untersuchten Gruppen ein zentraler habitualisierter Wissensbestand. Hier zeigen sich Analogien zu anderen rekonstruktiven Jugendstudien, die auf die Bedeutung der Peergruppe und jugendkultureller Zusammenhänge als Sozialisationsräume aufmerksam machen (z.B. Helsper 1991; Bohnsack u.a. 1995; Pfaff 2006; Metzing 2006; Eisewicht 2018). Er wird enaktiert in regelmäßigen, gleichwohl offenen, räumlich meist flexiblen Treffen sowie in gemeinsamen sozialen, räumlichen und interaktiven Praktiken. Somit ist Vergemeinschaftung nicht nur für diese Forschungsarbeit, sondern auch für die Jugend(kultur)forschung eine relevante Praktik und zentrales Ergebnis (vgl. hierzu Thrasher 1927; Willis 1977; Bohnsack 1995). Sowohl die Supporters und Transformers sind durch die Treffpunkte im Jugendzentrum, am Kiosk oder in der Hütte als auch die Filosofi und Isolani durch die Treffpunkte in ihren Wohnungen, Garagen oder Straßen als Gruppe an sich ein Bezugs- und Interaktionspunkt, der von Tag zu Tag bzgl. der Anzahl der Anwesenden variieren kann. Dies ermöglicht in der Kollektivität einen Rollentausch unter den jungen Männern, der große Bedeutung für Praktiken informellen Lernens in den Gruppen hat: Anwesende treten sowohl als Lerner als auch als Lehrer, sowohl als Diskussionsleiter als auch als Experten, sowohl als Ratsuchende als auch als Berater auf. Deshalb wird an dieser Stelle ungeachtet der beschriebenen Differenzen in den Orientierungen einzelner Gruppen von einer Community of Practice gesprochen. Die Flexibilität, der Rollentausch und die Unverbindlichkeit inner-
328
9 Zusammenfassung
halb der Peergruppe sind Kennzeichen dieser Communities of Practice und erzeugen ihren nicht formalisierten Rahmen. Im Gegensatz zur Schule ist Lernen hier durch weniger Regeln und Einschränkungen gerahmt. 9.2.3
Sozialisation im marginalisierten Erfahrungsraum
Was sich in dieser Untersuchung über die zentrale Rolle der Vergemeinschaftung von jungen Männern hinaus zeigt, ist, dass das informelle Lernen – wie oben bereits mit Täubig (2018) erwähnt – einen sehr großen Bezug zur Alltagspraxis hat. Die jungen Männer aus den jeweiligen Stadtteilen dieser Studie bspw. sind seit ihrer Geburt von ihrem sozialen Raum und ihren Lebensbedingungen beeinflusst aufgewachsen und entwickeln somit über die Jahre gewisse „Merkmale, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen“ (Hurrelmann 1990: 14), die vor allem unbewusst erlernt bzw. inkorporiert werden. Dies wird als Habitus bezeichnet (vgl. Bourdieu 1982; Bauer 2011: 134). In diesem Fall handelt es sich um schweigendes Wissen oder tacit knowledge (vgl. Kraus et al. 2017: 11), denn den Akteuren wird das angeeignete Handlungswissen kognitiv nicht komplett zugänglich. „im Akt der Mitteilung selbst offenbart sich ein Wissen, das wir nicht mitzuteilen wissen“ (Polanyi 1985: 14). Diese Sozialisationsprozesse beeinflussen eine Peergruppe bezogen auf gemeinsame bzw. konjunktive Erfahrungsräume sowie gemeinsame historische Wurzeln. Trotzdem steuern diese implizit erlernten Wissensaspekte die Handlungen, Entscheidungen und Lebenswege der einzelnen im Alltag. Im Kontext dieser hier vorliegenden Forschungsarbeit soll bei der Community of Practice von einer jugendkulturellen Praxisgemeinschaft bezogen auf die soziale Lage der Akteure gesprochen werden, in der sowohl informelles Lernen als auch Sozialisation relevant sind – auch weil Sozialisation informelles Lernen beinhaltet. Die Peergruppe ist somit die Sozialisationsinstanz in der informelle Lernpraktiken stattfinden. Somit sind Jugendkulturen als Orte der Sozialisation durch informelles Lernen zu sehen. Dies beeinflusst insbesondere das Raumhandeln der jungen Männer in Bezug auf ihre jugendkulturellen Praktiken. Somit sind Sozialisation und Handeln im Raum sich gegenseitig beeinflussende Faktoren. Die formelle Bildung wird zwar von allen Akteuren respektiert und als lebensrelevant angesehen, aber zumindest die Filosofi und Transformers kritisieren diese massiv und unterstreichen das Erfahrungs- und Selbstlernen explizit als wichtigste Lernform. Durch die Interviews, Gruppendiskussionen und Beobachtungsprotokolle wurde deutlich, dass die Akteure dieser Arbeit zwischen non-formalem und informellem Lernen gar nicht trennen und damit die These von Dohmen (2001) unterstreichen, dass beide Formen zum Selbstlernen gehören. Informell lernen die jungen Männer durchgehend in den verschiedensten Situati-
9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
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onen und dies zeigt auch, was für eine besonders große Rolle das informelle Lernen im Setting von Pratobello und Falldorf für die Akteure spielt. Somit kann an dieser Stelle die These von Rauschenbach et al. (2007: 7) bestätigt werden, dass informelle Lernprozesse Fortsetzungen formeller und non-formaler Bildungsprozesse sind. Sie finden sich auch in formellen Umgebungen, also auch in der Schule (Kirchhoff und Kreimeyer 2003: 216). Was jedoch die Akteure dieser Untersuchung kritisieren, ist, dass sich das formelle Lernen nur auf bestimmte Bereiche fokussiert und informelle Lernpraktiken oder anderes Wissen nicht mit einschließt. Wenn die Familie und/oder die Peergruppe Voraussetzung für das informelle Lernens ist (vgl. Rauschenbach et al. 2007: 7), dann kann dies in der Schule nicht ausgeschlossen werden. Was diese Forschungsarbeit jedenfalls zeigt, ist, dass informelle Lernprozesse der Lebensbewältigung auch in den formellen Institutionen stattfinden und damit das ‚Banking’-Konzept der Schulen zu transformieren, suspendieren und/oder zu ignorieren versuchen. Die jungen Akteure dieser Untersuchung unterstreichen und bestätigen somit die These von Bauer (2016): „Informelles Lernen dürfte hier nicht als eine sich herankämpfende Alternative zum formellen Lernen verstanden werden, sondern in der Debatte die höhere Priorität erhalten“ (ebd.: 1; vgl. auch Kapitel 3.1). Die sozialräumliche Segregation als Erfahrungsraum der untersuchten Akteure für die Realisierung, Organisation und institutionelle Steuerung von Bildungs- bzw. Vermittlungsprozessen wird insofern relevant, als diese den ‚Motor’ darstellt, überhaupt handeln zu wollen. Sie bewegen sich, sie sind aktiv, sie sind in Aktion. Sie suchen nach Alternativen, nach Neuem, nach Entwicklungspotentialen auf psychischer, sozialer sowie physischer Ebene. Vor dem Hintergrund dieses Erfahrungsraums bildet der Kontext der peerkulturellen Gemeinschaften einen Raum für Prozesse informellen Lernens. Konkrete Lernprozesse der jungen Männer zeigen sich in Praktiken der Verinnerlichung, Einverleibung oder Einfühlung, also in schweigenden Wissensformen und Sozialisation (vgl. Schugurensky 2000; Merriam et al. 2007; Bennett 2012) – unbewusst und nicht intentional – sowie durch Erfahrungs-, Peer-to-Peer- und kollaboratives Lernen innerhalb einer Community of Practice. In letzteren Fällen spielt selbstgesteuertes Lernen eine große Rolle, da den jungen Männern bewusst ist, dass sie Lernen und dies auch intentional durchführen wie bspw. bei den Filosofi die konkrete Aneignung von gesellschaftspolitischen oder mythologiebezogenen Wissensbeständen. Ähnlich sieht dies auch bei den Transformers und Supporters mit ihrem Fitnesstraining aus. Hierbei wird intentional und bewusst gelernt, wie man seinen Körper mit den richtigen Übungen und Geräten muskulöser und fitter macht. Die inzidentellen Lernprozesse finden zwar bewusst statt, sind aber nicht intentional. Dies ist z.B. bei Ciro mit seinen Graffitischriftzügen zu beobachten.
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9 Zusammenfassung
Er skizziert ununterbrochen, ohne bewusst lernen zu wollen, aber in den Interviews ist ihm plötzlich bewusst, dass sich seine Buchstabenformen mit dem vielen Skizzieren verbessert haben. Unbewusst und nicht intentional sind, wie oben schon erwähnt, Lernprozesse bei denen sich schweigendes Wissen angeeignet wird. Hierbei geht es um Sozialisationsprozesse, die im Falle dieser Untersuchung zur Anpassung an verschiedene Lebenssituationen verhelfen (vgl. Hurrelmann 1990; Overwien 2007a). Die jungen Männer aus den untersuchten Stadtteilen wachsen in einem sehr dynamischen und gleichzeitig unsicheren Umfeld auf, das Kompetenzen zur kontinuierlichen Transformation und Entwicklung erfordert. Gelegenheiten müssen praktisch täglich erkannt und erfasst werden, um mit den ständigen (drastischen) sozialen und ökonomischen Veränderungen mithalten zu können. Die Peergruppe ermöglicht Räume der Selbstsozialisation (vgl. Zinnecker 2000), um gewisse Strategien der Anpassung an neue Situationen und Veränderungen im Umfeld sowie im Leben zu entwickeln. Konjunktive Erfahrungen werden in den jeweiligen sozialen Umfeldern und Stadtteilen von mehreren Akteuren erlebt und geteilt (Bohnsack et al. 2007: 15). Hier spielt die Peergruppe eine entscheidende Rolle. Es handelt sich dabei um Sozialisationsprozesse, die gemeinsam erfahren sowie durchlebt werden, einerseits, ohne dass diese den jeweiligen Menschen bewusst sind, andererseits durch bewusste Abgrenzung von Erziehungsinstanzen, die eine „planmäßige und professionell betriebene Veränderung von Personen“ (vgl. Zinnecker 2000: 285) anstreben. In dieser Forschungsarbeit werden diese Zusammenhänge als konjunktive Erfahrungsräume gefasst, denn diese verbinden Individuen durch gemeinsame Erfahrungen. Darauf basierend bilden sich handlungsleitende, kollektiv geteilte Orientierungen und ein erfahrungsbasiertes, habitualisiertes Wissen (vgl. Mannheim 1980; Bohnsack 2003a: 58ff.; vgl. hierzu auch Kapitel 5).
9.2.4
Lebensbewältigende ‚Normabweichungen’ in marginalisierten Räumen
Gerade bei den Filosofi, aber auch bei den Transformers wurden während der Interaktionen explizite Orientierungen an Entwicklung dokumentiert, was die These von Grunert und Ludwig (2017) bzgl. des Raums und der Bildung, die als soziale Interaktionen gesehen werden sollten, „innerhalb derer sich Dynamiken und Prozesse der Entstehung von Neuem entfalten können“ (ebd.: 3), unterstreicht (vgl. hierzu Kapitel 6.5). Implizit wurde dies aber auch bei den Supporters und Isolani festgestellt, nur dass dies über soziale Teilhabe und durch Abgrenzung von bestimmten Praktiken geschieht. Dadurch, dass sich die Isolani von den im Wohnbereich L7 habitualisierten Praktiken abgrenzen, sich also nicht – wie vom Rest der Siedlung erwartet – diesen Strukturen hingeben, entwickeln sie etwas Neues. Denn sowohl „durch sozialen Druck als auch durch Imitationslernen werden diese
9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
331
Normen im Quartier verbreitet, und eine Kultur abweichenden Verhaltens wird zur dominanten Kultur“ (Häussermann/Kronauer 2009: 122). Um in Falldorf und Pratobello zu überleben, kann man nicht das Verhalten der Gesamtgesellschaft bzw. der Mittel- oder Oberschicht übernehmen, sondern muss dieses abweichend davon umstrukturieren und dem Sozialraum angepassen. Hustler verhalten sich dementsprechend teilweise abweichend von der gesellschaftlichen Mittelschichtsnorm, um ihr psychisches, ökonomisches und soziales Überleben zu sichern. Auch die Orientierung an Entwicklung bei den Filosofi zeigt, dass man neue Wege auch innerhalb der Stadtteilnorm gehen muss. D.h., dass die Filosofi und auch die Isolani mit den ‚Stadtteilregeln und dem -habitus’ brechen und sich dementsprechend ‚deviant’ verhalten, da sie sich treffen, um sich auf informeller Ebene weiterzubilden und nicht entgegen der Mafia ‚ignorant’ bleiben wollen. Die Community of Hustling (kurz: CoH) ist ein widerständiger Raum sowohl im Bezug auf Normen des Stadtteils als auch in Bezug auf die Gesellschaft im Allgemeinen. Es ist ein Raum, der Normierungsprozesse in Frage stellt bzw. widersprüchliche Normsysteme sichtbar macht (z.B. zwischen Stadtteil und Rechtssystem). Die CoH ist eine lernende Gegenbewegung, die bestimmten Normen der Gesellschaft und auch der kriminellen Gruppierungen im Stadtteil standhalten möchte. Selbst wenn einige Orientierungsfiguren an Anpassung und Akzeptanz dokumentiert wurden, lässt sich eine widerständige Lernhaltung der CoH sehr deutlich erkennen. Die Jugend(kultur)forschung hat – wie im vorherigen Kapitel bereits mehrmals unterstrichen – seit Jahrzehnten (marginalisierte) Jugendliche als deviant (im negativen Sinne) untersucht. In dieser Studie wurde somit Devianz nicht im jugend(kultur)forschungsüblichen Sinne untersucht, sondern als dem relationalen Raum der Akteure entsprechende Normabweichung. Die Lernkultur innerhalb einer Community of Hustling, versucht also mit von der gesellschaftlichen ‚Norm’ oder von einer gewissen (Mehrheits-)Schicht abweichenden Handlungen, den Alltag im marginalisierten Stadtteil so gut wie möglich zu bewältigen. Die Supporters versuchen bspw. durch soziale Teilhabe, also z. B. Turguts’ Mitwirkung im schulischen Klassenverband etwas für Falldorf Unübliches – also ‚normabweichendes’ – zu tun (vgl. hierzu auch Mirza in Kapitel 6.1.2). Für die jungen Männer dieser hier vorliegenden Untersuchung fungiert das dabei generierte Wissen als Orientierungswissen. Über dieses Wissen können sie ihren Alltag bewältigen und sich in ihrem Umfeld und Raum fortbewegen. Gleiches gilt für die Isolani, die im Wohnbereich L7 von Pratobello unüblicherweise entweder die Schule beenden oder ‚legal’ arbeiten bzw. generell sich von kriminellen, illegalen Machenschaften fernhalten. Dies stellt innerhalb des Wohnbereichs eine Normabweichung dar. Dagegen sind die Straßenhustles, wie sie Gennaro und Peppino durchführen, für die Mehrheit außerhalb von Pratobello unüblich und vor allem nicht nötig. Dies
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9 Zusammenfassung
ist aber für die ökonomische Bewältigung des Alltags in marginalisierten Stadtteilen die Norm und teilweise sogar überlebenswichtig. Diskussionspraktiken wie die von den Transformers oder Filosofi, die in einer bestimmten Sprache mit gewissen Beleidigungsriten durchgeführt werden, werden als normabweichend von der Mehrheitsgesellschaft gesehen, sind aber innerhalb ihres Raumes vollkommen legitim und nötig, um u.a. Repräsentationsregimes umzuwandeln. Umwandlungen sind somit in gewisser Hinsicht zu erst einmal immer normabweichend. Somit wird für zukünftige Forschungsarbeiten diesbezüglich folgender Handlungsbedarf deutlich: Devianz bzw. Normabweichung ist mit dieser Arbeit nicht mehr als kriminell oder negativ zu sehen. Die Erkenntnisse dieser Arbeit stellen eher eine Loslösung vom üblichen Devianzbegriff dar und sollte deshalb in Zukunft mehr auf dieser Ebene im Zusammenhang mit Jugend(kultur) gebracht werden.
9.2.5
‚L’arte di arrangiarsi’ in Communities of Hustling
Elemente und Herangehensweisen des ökonomischen Hustlings, das auf der Straße von den sog. Streethustlern durchgeführt und gelebt wird, werden von den jungen Männern im alltäglichen Umgang und in der kontinuierlichen Bewältigung mit Marginalisierung eingesetzt. Das ökonomische Hustling wird in diesem Sinne zu einem sozialen Hustling. L’arte di arrangiarsi, also die Kunst sich ‚über Wasser zu halten’, wird in allen Alltags- und Lebensbereichen informell erlernt und eingesetzt. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Begriff Hustling, wie er in der USamerikanischen Forschung genutzt wird (vgl. Venkatesh 2006, 2008, 2015; Wacquant 1997, 1998; Williams/Milton 2015 etc.), von dem Oberbegriff dieser Untersuchung abgegrenzt werden muss. Zwar beinhaltet das Alltagshustling der jungen Männer aus Pratobello und Falldorf auch die Straßenhustles (insbesondere, die von Peppino und Gennaro, die sich mit den US-amerikanischen Beobachtungen, Ergebnissen und Raster vergleichen lassen), aber hier geht es vor allem um ein ökonomieübergreifendes Hustling: es geht um Bewältigungsstrategien für den Alltag, die durchaus nach einigen Prinzipien, Elementen und Herangehensweisen der Straßenhustler oder con men funktionieren (vgl. hierzu Williams/Milton 2015). Hierfür sind Schulen und insbesondere solchen, deren Praktiken auf bloßes ‚Banking‘ zielen, nicht geeignet, Jugendlichen beizubringen, wie sie Marginalisierung bewältigen. Die Community of Hustling wird im Folgenden entlang der in dieser Untersuchung dargestellten Rekonstruktionen zur Lerngemeinschaft. Diese Lerngemeinschaft lernt hustlend in einem Erfahrungsraum, wo Exklusion, Marginalisierung und Diskriminierung vorkommen.
9.2 Communities of Hustling als alternative Lern- und Bewältigungsräume
333
Die Filosofi, Supporters, Transformers und Isolani hustlen an dieser Stelle, um sich zu repräsentieren und die Gesellschaft zu verändern. Es handelt sich hier um eine Umkehrung des Marginalisierungsregimes (vgl. Cudak 2017: 95). Hustling wird informell durch die verschiedensten Situationen, durch Sozialisation, Gelegenheiten, Rückschläge und durch schwere Arbeit erlernt. Dabei spielt Arbeit im Beschäftigungssinne nicht die primäre Rolle. Arbeit im Bereich des Hustlings bedeutet u.a. auch, dass es viel Energie und Vorbereitung erfordert, Strategien zu entwickeln, die einen dazu führen nicht noch tiefer in die Marginalisierung zu gelangen. Man muss sich deshalb weiterbilden, weiterentwickeln und vorausdenken. Turgut sagt es an einer Stelle seines Interviews sehr explizit (vgl. hierzu Kapitel 6.2.2): Wie die Obdachlosen will er nicht enden, denn dies würde für ihn die absolute Exklusion von der Gesellschaft bedeuten. Um aber in einem Stadtteil wie Pratobello oder Falldorf nicht noch tiefer zu fallen, muss man sich Unterstützung holen. Anhand der Isolani kann man bspw. sehr gut erkennen, dass man gerade wenn man von kriminellen Machtfaktoren umgeben ist, alternative kollektive Hilfe braucht, um zu lernen wie man sich sozial, psychisch, gesellschaftlich und ökonomisch ‚über Wasser hält’. Die Gemeinschaft ist somit die Basis des Hustlings. Das bedeutet nicht, dass man in der Gemeinschaft hustlet, aber dass man sich über eine Community die nötigen Werkzeuge und Informationen holt. An den Communites of Hustling nehmen auch Menschen teil, die nicht alltäglich an den Treffen, Freizeitaktivitäten und Vergemeinschaftungspraktiken beteiligt sind. Es können auch Freund*innen von Freund*innen sein, Bekannte oder zufällig vorbeilaufende Nachbar*innen sein, die gerade eine wichtige Information teilen bzw. etwas von der Gruppe junger Männer lernen wollen. Über Graffiti, Fußball und Fitness lernen die Jugendlichen mobil, fit, stark, sportlich und smart zu bleiben, was für die Umkehrung des Marginalisierungsregimes besonders wichtig ist, da dadurch Positivität und Teilhabe am Stadtgeschehen garantiert und somit auf die Exklusion mit Inklusion ‚reagiert’ wird. Schließlich lernen die Graffitisprüher und Fitnesstreibenden neue Menschen außerhalb ihres Stadtteils kennen und schließen darüber Freundschaften, die für eine Auflockerung der sozialen Spaltung sorgt. Über die Mafia und die Gangs lernen alle vier Gruppen ihre psychischen und physischen Grenzen kennen. Sie passen ihr Verhalten dementsprechend an, was zu einer ständigen Flexibilität im Handeln führt, die auch für andere Lebensbereiche von Nutzen ist. Dies ist auch in der Forschung zu räumlicher Segregation und Marginalisierung bekannt: „Es wird deshalb zunehmend wichtig, den urbanen Alltag als eine immer wieder neu hervorgebrachte Konstruktion zu verstehen“ (Bukow et al. 2007: 25). Diese Flexibilität kompensieren die jungen Männer aber mit regelmäßigen Treffen, die für eine eher feste
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9 Zusammenfassung
Vergemeinschaftung sorgen, um für positive Routine, Standhaftigkeit und Wurzeln zu sorgen. Die Vergemeinschaftung ist der Anker für die Community. Die Interaktionen sind die Verbindung zwischen alle den eben erwähnten Handlungen und Praktiken und sorgen für einen informellen Wissensaustausch, der hauptsächlich für die (Selbst)sozialisation und die Lernprozesse im Allgemeinen zuständig ist. Für die Peergruppen dieser Forschungsarbeit ist Selbstsozialisation in einigen Fällen der einzige Weg, den starren Rollen zwischen Subjekten und Objekten von Erziehung zu entkommen (vgl. Zinnecker 2000: 285). Die Schule und andere Institutionen der Erziehung und Bildung geben keinen Raum für Lernprozesse, die für das Überleben und ‚Durchschlagen’ im Alltag marginalisierter Stadtteile nötig sind. Selbstsozialisation wird von daher in einigen Fällen zum Muss oder zum Zwang. Die Peergruppe unterstützt den Prozess dieser Sozialisation und nimmt diesbezüglich einen viel größeren Raum ein als die Familie, die Schule, der Staat und die Sozialpädagog*innen. Anhand der Diskussionen, Gespräche und empraktischen Redensarten lernen die jungen Männer mit Diskriminierung, Mobbing und anderen unterdrückenden Handlungen im Alltag und in den eben genannten Umfeldern umzugehen. Gleichzeitig lernen sie aber auch sich rhetorisch besser mitzuteilen, wie das vor allem bei den Filosofi der Fall ist. Alle jungen Männer dieser Untersuchung bereiten sich somit auf die Gesellschaft außerhalb ihres Sozialraums vor und auf einen besseren Umgang mit der Besetzung ihrer Wohnbereiche durch die kriminellen Gruppierungen. All diese Vorbereitungen sind weitere typische Strategien eines Hustlers – ob es bewusste oder unbewusste Handlungen sind. Durch Communities of Hustling können junge Erwachsene als Individuen zusammenkommen und in einer durch Individualisierung und unbeschränkter Möglichkeiten der Gestaltung und Zusammensetzung des Lebenslaufs geprägten modernen Welt endlich emanzipieren und sich konkrete Ziele gemeinsam und stärker als zuvor verfolgen. Sie schaffen sich dadurch einen Sozialisationsraum in dem informell und weit entfernt von institutionalisierter Bildung gelernt werden kann und darf. Die Communities of Hustling in Pratobello und Falldorf stellen Lern- und Lebenslaufalternativen dar, die sich vom Druck der gesellschaftlichen Erwartungen lösen. Die CoH ist sozusagen der Anleiter der jungen Männer dieser Studie, um in der modernen Welt Orientierung zu finden. Hierzu bedarf es der Reflexion und des ständigen Lernens in einer digitalisierten sowie technisierten Welt. Eine Community of Hustling bietet diesen ‚Luxus’, reflektiert und bedacht am Lebenslauf zu arbeiten und den richtigen Weg sowohl für die Gruppe als auch für das Individuum zu finden. Dieses Zusammenkommen und gemeinsame Lernen ist gleichzeitig auch eine starke ‚Waffe’ gegen die Trends, Moden und institutionellen Beeinflussungen, die in der modernen individualisierten Welt zu Vereinsamung und stärkerer sozialer Ungleichheiten führt (vgl. Beck 1986; Baumann
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335
2002). Es hilft den Akteuren die fragmentarisch verlaufende Jugendphase zu ordnen und dadurch zu lernen wie man in der aktuellen Welt psychisch sowie ökonomisch überlebt bzw. hustlet. Hierzu bedarf es einer Gruppe Jugendlicher, die allesamt gemeinsam hustlen und sich unterschiedliche Ratschläge zu verschiedenen Hustles austauschen. Dies führt auch dazu, dass man in einer Praxisgemeinschaft lernt, autonom und eigenverantwortlich zu sein. Die Peergruppe ist in diesem Fall fundamental geworden, vor allem in Verbindung mit einer CoH. Die Lernprozesse sind dementsprechend mobil, deviant, kollektiv (bzw. in der Gemeinschaft) und hustlend. Durch den interaktionistisch-ethnografischen Ansatz wird in dieser Untersuchung die Handlungsfreiheit den jungen Männern überlassen, wenn auch durch die Präsenz des Forschers leicht beeinflusst. Durch das Konzept der Community of Hustling wird ersichtlich, dass alle Handlungen und Räume jederzeit formbar, veränderbar und transformierbar sind und niemals wirklich auf den aktuellen Stand festzuhalten sind. Es sind höchstens Momentaufnahmen, da die jungen Männer – während sie z.B. über eine aktuelle Angelegenheit diskutieren – sich bereits mit anderen Themen und Handlungen beschäftigen, die wiederum die Interaktion in dem Moment verändert und in eine andere Richtung führt. Das ist Hustling; weit mehr als nur Lebensbewältigung! Es handelt sich um hustlende Lebensbewältigung, die keine Grenzen kennt, sondern diese Grenzen – wie beim Parkoursport – als Teil des ‚devianten Weges’ integriert. ‚Hindernisse’ werden in die Mobilität und Handlungen inkludiert und werden somit nicht ausgeschlossen. Wenn Gennaro aus Pratobello gewisse physische Wohnbereiche umgeht und für eine Zeit nicht durchquert, dann hat er trotzdem auf relationale Weise eine Strategie entwickelt, um mit seinem ‚Business’ weiterzukommen, neue Kontakte zu erschaffen, die ihm wiederum irgendwann mal später wieder Zugang zu diesem Wohnbereich verschaffen. Um dies durchzuführen, braucht Gennaro ein soziales Netzwerk – oder wie Böhnisch (2016) es nennt einen sozialen Nahraum –, der fundamental für eine Community of Hustling ist. In dieser Hinsicht braucht es eine neue Bewältigungstheorie und diese vorliegende Untersuchung könnte diese Anreize geben.
9.2.6
Hustling als Orientierung der Akteure
Die Orientierung an Hustling lässt sich in allen Praktiken, die in den empirischen Kapiteln vorgestellt wurden, finden. Kapitel 7 zum Thema Hustling selbst fungiert als Basis dieses für die hier vorliegende Untersuchung dokumentierten Orientierungsrahmens. Alle hier vorgestellten Praktiken haben mit den in Kapitel 7.5 analysierten relevanten Hauptpunkten des Hustlings zu tun: Möglichkeitsräume und Bedingungen, Mobilität, Kommunikation, Offenheit für Neues, Vielfältigkeit und Netzwerke. Anhand dieser Punkte soll der Orientierungsrahmen des
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9 Zusammenfassung
Hustlings abschließend durch die verschiedenen Praktiken nochmals erfahrbar gemacht werden. Dies soll mit folgender Unterteilung erfolgen: 1. Communities of Hustling: Vergemeinschaftungs- und Interaktionspraktiken; 2. Informelles Lernen: Graffiti, Fitness- und Repräsentationspraktiken, also hustlende Formen des informellen Lernens als Spezifik. Communities of Hustling Vergemeinschaftung: Auch wenn Hustler viel alleine unterwegs sind, brauchen sie Unterstützung vom ganzen Stadtteil und sind deshalb auf gemeinschaftliche Zusammenarbeit angewiesen. Die Isolani bspw. haben sich ein alternatives Netzwerk aufgebaut, das ihnen die Möglichkeit bietet, sich über analoge und virtuelle Spiele sowie Diskogänge und Tanz zu vergnügen und somit dem kriminellen Alltag des Wohnbereichs zu entfliehen. Das bedeutet, dass die jungen Männer auch psychisch mobil sind und die Vielfältigkeit im virtuellen Raum suchen und finden. Die Neugier, Freundschaften über das Internet zu schließen, zeigt eine Offenheit für Neues, die sonst in ihrem Wohnbereich nicht vorzufinden ist. Es wird somit – wie bei den Hustlern auch – kommuniziert, interagiert, entdeckt und konstant nach Alternativen und Gelegenheiten gesucht – all dies auch und vor allem kollektiv. Interaktionspraktiken: In den Interaktionspraktiken finden sich auch alle Hauptpunkte des Hustlings. Die philosophischen Gespräche der Filosofi z.B. sind wie die Repräsentationspolitik eine Plattform der Bewältigung von Stereotypen, Marginalisierung und Stigmatisierung durch den Austausch und die Vermittlung von gesellschaftspolitischem sowie philosophischem Wissen. Hierbei spielt die Kommunikation eine zentrale und offensichtliche Rolle, die durch die Vielfältigkeit der Themen für mentale Mobilität und neue Möglichkeitsräume sorgt. Die jungen Männer finden immer wieder neue Ideen und Themen, die sie zu Netzwerken verbinden und sich daraus tatsächlich auch neue Kontakte ergeben wie beispielsweise der befreundete Student Beppe, der über die ökonomischen Hustlingaktionen von Francesco in den Kreis der Peergruppe kommt. Hier sieht man auch eine Verbindung der verschiedenen Hustlingformen. Gerade bei den Filosofi ist die Offenheit an Neuem besonders groß und lässt sich anhand der Inhalte der besprochenen Themen sehr gut sehen. Gleichzeitig spielen die vielen Gespräche, die alle jungen Männer dieser Untersuchung in Gemeinschaft führen, eine große Rolle bezüglich der gegenseitigen
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Unterstützung, die von den Supporters explizit hervorgehoben wird. Das Jugendzentrum fungiert als Rückzugsort oder Basis, an dem man sich mentalen Support holt, indem man miteinander kommuniziert, sich über alltägliche Herausforderungen unterhält und mit der jeweiligen eventuell vorhandenen Expertise sich gegenseitig beratschlagt. Auch hier sind die Netzwerke, die Vielfältigkeit der Gespräche sowie die Möglichkeitsräume, die dadurch geschaffen werden, wichtige Punkte der Interaktionspraktiken. Dadurch, dass das Jugendzentrum oder eine Hütte für die Gespräche aufgesucht wird, ist Mobilität ein wiederkehrendes Merkmal der Bewältigungs- und Überlebenspraktik. Informelles Lernen Graffiti: Graffitis eröffnen den untersuchten Jugendlichen neue Möglichkeiten der Raumaneignung, die jedoch mit Bedingungen wie kriminalisiertem Handeln verknüpft sind. Ciro sprüht, um seinen Stadtteil zu verlassen, neue ‚Welten’ und Menschen zu entdecken, sich künstlerisch frei zu äußern, ohne dass die machthabenden Drogenbanden ihn implizit oder explizit daran hindern. Dies ist mit einer starken Mobilität verbunden, die er trotz schlechter Infrastruktur von Pratobello bewältigt. Er hustlet sich mit Graffiti aus dem monotonen Alltag der Peripherie, die abgeschottet vom Rest der Stadt liegt, hinein in eine Welt, die er in ganz Sasso durch seine Erkundungstouren, über seine Sprüherkolleg*innen und Einkäufe im Graffitiladen entdeckt. Dabei spielen Kommunikation mit seinen Begleitern, Offenheit für Neues bzgl. neuer Graffitistile und Menschen, Vielfältigkeit in der Art und Weise wie und wo Schriftzüge angebracht werden und das Netzwerk der Sprüherszene eine sehr große Rolle. Fitness und Sport: Über das Muskelaufbautraining im Fitnessstudio verlassen die jungen Männer Idris, Mirza und Karan ihre gewohnte Umgebung in Falldorf und begeben sich in einen neuen Stadtteil. Idris, Karan und Mirza sehen neue und andere Menschen und können sich ganz auf ihr Training konzentrieren, ohne dass eine soziale Kontrolle seitens der Falldorfer entsteht. Somit sind Netzwerke, Vielfältigkeit und Offenheit für Neues drei weitere Hauptpunkte des Hustlings, die sich auch hier wiederfinden. Über das Fitnesstraining arbeiten sie an einem positiven Image ihrer Körper und ihrer Erscheinungsbilder. Die Arbeit an ihrer physischen und psychischen Verfassung ist mit Positivität verbunden und ist somit eine Bewältigungspraktik, die neue Möglichkeitsräume bietet. Ähnlich ist dies auch beim Mitternachtsfußball, wo die jungen Männer aus Falldorf sich gegenseitig ‚pushen’ und stärken, indem sie sich Kraftwörter und
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Beleidigungen zuschreien, nicht um sich niederzumachen, sondern um Negativität in Positivität umzuwandeln. Hustler machen genau dies: sie finden neue Wege, um aus ihrer schwierigen Lage herauszukommen und davon eventuell auch noch zu profitieren. Die jungen Männer aus Falldorf profitieren vom Fußball, indem sie sich neue Möglichkeitsräume schaffen, um sich selbst in ein anderes Licht zu rücken. Hierbei spielen auch wieder Kommunikation, Mobilität und Netzwerke eine wichtige Rolle. Repräsentationspolitik: Den Supporters, Transformers und Filosofi dient die Vergemeinschaftung auch um Stigmatisierung, Stereotype gegenüber ihren Stadtteilen sowie Marginalisierung durch kontinuierliche Reflexion, Distanzierung, Analyse, Interaktionen, Vergleich und Gegenüberstellung, Gespräche und Darstellung in etwas Positives umzukehren. Hier werden eindeutige Parallelen zu Stuart Halls (2004) Beobachtungen und Untersuchungen bzgl. Repräsentationspolitik ersichtlich, die seine Arbeit auch für soziale Marginalisierung und Stigmatisierung heutzutage zeitlos machen. Hierbei geht es um Empowerment, also um Strategien, die den Grad der Autonomie und Selbstbestimmung im Leben der jungen Männer erhöhen sollen. Genau darum handelt es sich bei den Hustlern aus Pratobello auch. Es wird etwas Eigenes geschaffen. Es wird gearbeitet. Es werden neue Möglichkeiten geschaffen, den Stadtteil in ein anderes Licht zu rücken. Hustling ist somit eine Lebensform, die die jungen Männer beider Stadtteile spätestens über ihre Peers wie aber auch über individuelle Erfahrungen in ihrem Sozialraum informell erlernen und auf viele, wenn auch nicht alle, Bereiche ihres Alltags übertragen bzw. inkorporieren. Die Community of Hustling bildet einen sozialisationsnahen Lernraum, der sich im spezifischen Erfahrungsraum konstituiert.
10 Handlungsbedarfe in der sozialen Arbeit Mit Blick auf die Wissenschaft muss eine Jugendkulturforschung entwickelt werden, die bspw. die schwierigen und eingrenzenden Umstände in von organisierter Kriminalität kontrollierten Stadtteilen beachtet und fundierter untersucht. Hier müssen die Überlebens- und Bewältigungsstrategien, die alternativen Praktiken und die innovativen Wege, die zur Erfüllung und Durchführung bestimmter jugendkultureller Handlungen von marginalisierten Jugendlichen eingeschlagen werden, stärker in den Fokus genommen werden, um diese ‚Umwege’ und ‚Alternativsuchen’ als eine eigene Jugendkultur anzuerkennen. An dieser Stelle kann man nicht mehr – wie Paul Willis und andere Forscher der Birmingham School – von ‚resistance’ reden, sondern hier bietet sich, wie die vorliegende Studie zeigt, eher das Konzept des ‚hustling’ an. Die jungen marginalisierten Männer dieser hier vorliegenden Arbeit suchen nach Schlupflöchern, alternativen Pfaden und Möglichkeiten. Sie nutzen jede Gelegenheiten, die sich ihnen bietet, um ihre jugendkulturellen Praktiken durchführen zu können. Auf die Arbeiten aus dem Umfeld des CCCS muss in diesem Zusammenhang dennoch weiter Bezug genommen werden: „The work of the Birmingham CCCS theorists are still a near-necessity in contemporary considerations of youth culture but new paths of enquiry too are necessitated by new diverse youth groupings and ever-developing youth cultural phenomena. Grand theories and linear models of youth culture are arguably increasingly redundant in the culturally pluralist, multimedia twenty-first century” (Huq 2006: 23-24).
In der vorgelegten Untersuchung werden ähnlich wie in vielen Studien der Chicagoer School oder des Birmingham CCCS zwar erneut marginalisierte, männliche Jugendgruppen und deren Jugendkulturen untersucht, gleichzeitig aber aus einer anderen und sicherlich weniger sensationalistischen und vor allem weniger subkulturellen Perspektive. Durch den partizipativen ethnografischen Ansatz, der ausführlich im Methodenkapitel beschrieben wurde, konnte eine differenzierte Untersuchung durchgeführt werden, die bezogen auf die Orientierungen und Praktiken durchaus Wissen über Jugend im Allgemeinen hervorbringt. Statt sich abgrenzen zu wollen, sind die an dieser Arbeit teilnehmenden Akteure darum bemüht sich den Jugendkulturen der „silent majority“ (vgl. Huq 2006: 22) zu nähern bzw. diese nachzuahmen. Schließlich sollen die Praktiken und Orientierungen von den an dieser Untersuchung teilnehmenden jungen Männern nicht als Jugendsubkultur wie in vielen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9_10
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10 Handlungsbedarfe in der sozialen Arbeit
früheren Studien aus der Chicagoer Schule zu den Gangs oder aus der Birmingham School zu den Arbeiterklassenjugendlichen betrachtet werden. Es handelt sich bei den Praktiken der an dieser Studie partizipierenden jungen Männer um eine andere Art der (Gegen-)Kultur und der Normabweichung. Sie vermischt sich mit alternativen Bildungskonzepten, international beeinflussten Orientierungen und kulturellen Praktiken – all dies in einem extrem marginalisierten Setting. Was jedoch in dieser vorliegenden Studie fehlt, ist die Perspektive junger Frauen. Der thematische Fokus lag nicht auf dem Geschlecht, worin eine deutliche Grenze der Untersuchung besteht. Weitere Forschung zum Verhältnis der (traditionellen) Geschlechterrollen in marginalisierten Stadtteilen ist nötig. Gerade während meiner Forschungsaufenthalte in Falldorf und Pratobello wurde mir die patriarchale Unterdrückung junger Frauen bewusst, die nicht nur im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität (wie in Kapitel 2 bereits erwähnt) erforscht werden sollte, sondern in allen alltäglichen und lebensweltlichen Bereichen. Was außerdem aus Gründen der hohen Anzahl an Themen und Materialien in dieser Studie nur eingeschränkt berücksichtigt werden konnte, sind die raumgreifenden Bezüge der Kriminalität auf die Jugend. Auch an dieser Stelle wären weitere Untersuchungen notwendig, die gleichzeitig auf eine noch größere Vertrauensarbeit aufbauen müssten. Hierzu würden sich alternative partizipative Aktionsforschungsansätze eignen wie die einzigartigen Street PAR-Projekte (Street Participatory Action Research) des US-amerikanischen Soziologens Yasser Arafat Payne der University of Delaware, die vor allem die „low-income Black and Brown people“ (Payne/Bryant 2018: 452) fokussieren. Diese Herangehensweise braucht auch Europa, insbesondere Deutschland und Italien. Payne erforscht seit 2007 in verschiedenen Stadtteilen und Städten der USA gemeinsam mit „streetidentified people of color“ (Payne/Bryant 2018: 452) u.a. strukturelle Gewalt, Diskriminierung und Rassismus in marginalisierten Quartieren (vgl. hierzu u.a. Payne/Brown 2016; Hitchens/Payne 2017; Payne et al. 2017). Hierbei handelt es sich um folgendes Konzept: “Street PAR is a comprehensive research-activist program designed for those who are street-identified and/or involved with the criminal justice system to participate in empirically evaluating the lived experiences of other individuals or groups involved in crime […]. […] Street PAR is a methodological framework and a phenomenologically based research orientation that requires a deep appreciation and full respect for men and women of color who hold a street identity and/or are involved with the criminal justice system. Street PAR ultimately calls for culturally competent and comprehensive analysis of street-identified people of color through an agency-structure theoretical, methodological, and empirical paradigm“ (Payne/Bryant 2018: 450-452).
10 Handlungsbedarfe in der sozialen Arbeit
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Mit Blick auf das in der Studie ebenfalls untersuchte Gegenstandsfeld des informellen Lernens weisen die Ergebnisse der Studie auf einen notwendigen Perspektivwechsel hin. Wenn Bildung wie bislang in vielen Zusammenhängen auch der Jugendkulturforschung nur auf beruflich verwertetes Wissen hin konzipiert wird, bleiben weite Teile jugendlicher Lernprozesse unbeachtet. Auch der erziehungswissenschaftliche Fokus auf dem Lernen in Institutionen vernachlässigt die hier untersuchten Praktiken und Inhalte. Damit verbundene Lebenspraktiken und Bewältigungsformen von struktureller Marginalisierung werden nicht in den Blick genommen. Die hier beschriebenen Befunde zeigen, dass auch junge Menschen, die aufgrund ihrer Schulbiographien als ‚bildungsfern‘ betrachtet werden könnten, teilweise hohe Bildungsorientierungen aufweisen und eigenständig Praktiken des Lernens und dafür notwendige Settings hervorbringen. Hierzu wäre weiter zu forschen um ein sozial sowie auch ethnisch selektives Bildungsverständnis zu überwinden. Auch für die sozialpädagogische wie auch jugend- und bildungspolitische Praxis weisen die dargestellten Befunde auf Handlungsbedarfe hin: Interviews, Gruppendiskussionen und Beobachtungsprotokolle verweisen bereits auf Missstände von jungen marginalisierten Männern, die in vielen Bereichen aber auch für junge marginalisierte Frauen gelten. Sie hinterlassen mit dieser Arbeit bereits ihre Stimme, ihre Botschaft, ihre Anliegen und Wünsche. Gemäß ihrer partizipativen Anlage lässt die Arbeit auch deshalb viel Platz den Interview- und Gruppendiskussionspassagen, um Erfahrungen der Jugendlichen möglichst authentisch darzustellen – und diese für die Praxis nutzbar zu machen. Allein diese Forschungsarbeit soll zeigen, dass in Zukunft – wenn von Teilhabe von Jugendlichen die Rede ist – Jugendliche aller sexueller Orientierungen, Geschlechter, sozialer, ethnischer und kultureller Herkünfte sowie Identitäten auch wirklich an Teilhabeprozessen mitwirken. Die Community of Practice bzw. die Community of Hustling ist bereits eine Jugendgesteuerte Handlung der Teilhabe an der Gesellschaft, die vor allem als (unbewusstes) Gegenmodell zur formellen Bildung bzw. zur Institution Schule fungiert. Die jungen Männer benötigen nur mehr Aufmerksamkeit und eine Plattform auf der sie ihre Lernpraktiken mit einer breiteren Öffentlichkeit austauschen und teilen können. Laut einiger Kulturpsycholog*innen, lernen Menschen während sie an alltäglichen soziokulturellen Aktivitäten teilhaben (vgl. hierzu Morrell 2006: 113; sowie auch Bruner 1996; Cole 1996; Lave und Wenger 1991; Rogoff 1990; Vygotsky 1978). „[The cultural psychologists] critique transmission models of learning often promoted in schools that assume that teachers are sole disseminators of knowledge and that students are empty vessels“ (Morrell 2006: 114). In diesem Zusammenhang bestehen bspw. in den USA schon seit einigen Jahrzehnten Initiativen von marginalisierten Jugendlichen, die das dortige Schulsystem mit teils dramatischen Protestaktionen (vgl. Stovall 2006), der Forderung nach „radikaler
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10 Handlungsbedarfe in der sozialen Arbeit
Inklusion“ (vgl. Torre & Fine 2006: 272) und vor allem durch Aktivitäten von stadtteilbezogenen Jugendorganisationen kritisieren. Hierbei geht es vor allem um Inititativen gegen ethnische Segregation und Unterdrückung, die institutionalisiert und tief in der US-Amerikanischen Gesellschaft verankert sind. Sie zielen darauf ab, die formelle Lernkultur umzuwandeln und/oder neuzugestalten bzw. mit informellen und non-formalen Lernpraktiken sowie stadtteilrelevanten Themen und Inhalten zu verbinden (vgl. hierzu auch O’Donoghue 2006). Nicht zuletzt betrifft die Forderung nach Teilhabe auch bildungspolitische Auseinandersetzungen, in denen die Stimmen junger Menschen selbst kaum gehört werden. Hierauf zielen aktuell viele Initiativen auf der Ebene der Europäischen Union und in der BRD ab (vgl. zusammenfassend BMBFSJ 2015). Dass auch marginalisierte Jugendliche hierzu klare Positionen formulieren, zeigen die Aussagen der jungen Männer dieser Untersuchung: Sie wünschen sich Plattformen, die informelle politische Debatten mit anderen jungen Menschen aus anderen Stadtteilen und sozialen sowie kulturellen Kreisen ermöglichen. Insbesondere seitens der italienischen Jugendlichen wird ein meritokratisches System im Bereich der beruflichen (Weiter-)Bildung und Perspektiven gefordert; die Abwesenheit des Staates in bestimmten Stadtteilen sollte nicht nur durch vermehrte Ordnungskräfte, sondern auch durch gut funktionierende und lebensweltorientierte Bildungsinstitutionen und soziale Einrichtungen kompensiert werden. Im differenzierten deutschen Bildungssystem führt schulische Selektion bei vielen der jungen Männer aus Falldorf zu Desorientierung und Resignation. Für eine partizipative Gestaltung von Bildungssystemen unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ergeben sich Chancen durch gestiegene lokale Spielräume für die Gestaltung von Bildungseinrichtungen (vgl. Checkoway & Richards-Schuster 2006: 322 für die USA). Erfahrungen mit stadtteilbezogenen Bildungsprogrammen, die sich vor allem auf das Wissen und die Expertise, aber eben auch generell auf die Wünsche, Interessen, Belange und Notwendigkeiten der marginalisierten Jugendlichen richteten gibt es in einigen US-amerikanischen Städten. Entsprechende Initiativen müssen auch in marginalisierten Stadtteilen in Deutschland und Italien verstärkt und gestärkt werden. Dabei sollte dringend die Rolle der weißen Bevölkerung gegenüber People of Color (PoC) im Zusammenhang mit (institutionellem) Rassismus, Ausschlusserfahrungen und Marginalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen in den Fokus genommen werden. Sehr eindrücklich tut dies z. B. der britische Sozialwissenschaftler Yusef Bakkali mit seiner Studie zu Jugendgewalt in Sozialwohnsiedlungen im Süden Londons: In Dying to Live: Youth violence and the munpain (2019) werden die Erfahrungen und Reflektionen von jungen PoC in marginalisierten Stadtteilen Großbritanniens sehr deutlich. Es gibt in Deutschland unzählige Projekte der jugendlichen Teilhabe, aber sie enden noch immer in großer Anzahl mit Ergebnissen, die nicht für Jugendliche
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343
aus marginalisierten Milieus zugeschnitten sind (vgl. hierzu Ottersbach et al. 2009). Viele Jugendforen werden heute noch immer überwiegend von jungen Frauen und Männern aufgesucht, die nicht in marginalisierten Stadtteilen leben. Somit wird den Jugendlichen, die dort leben, mit diesen ‚Teilhabeprojekten’ weiterhin keine Stimme gegeben. Dagegen beziehen sich viele Erasmus+1 Jugendaustauschprojekte z.T. direkt auf sozial benachteiligte junge Menschen, die hierüber Erfahrungen im Ausland machen sollen. All dies führt dann dazu, dass die Teilhabe weiterhin von der Politik bzw. von einflussreichen Gesellschaftsschichten bestimmt bzw. gesteuert wird. Es wird gar nicht auf das Milieu, den Milieuhintergründen und ihre Anliegen zugeschnitten. Soziale Einrichtungen sowie Bildungsinstitutionen haben die Pflicht, die Interessen junger Menschen auf allen Ebenen zu vertreten, denn wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, sind marginalisierte Jugendliche durchaus in der Lage ernsthafte, gesellschaftsrelevante Angelegenheiten zu erkennen, zu analysieren, zu reflektieren und dementsprechend auch zu handeln. Würde man in diesen Stadtteilen eine gewissenhafte, lebensweltorientierte und tatsächlich auf allen Ebenen partizipative soziale Arbeit mit den richtigen Instrumenten durchführen, dann wäre eine positive Veränderung nicht zu verhindern. Solange jedoch eine Ökonomisierung der Sozialen Arbeit und der Bildungsinstitutionen akzeptiert und durchgeführt wird, also der Markt kontrolliert (vgl. Seithe 2012: 94) und eben genannte Bereiche marktwirtschaftliche Unternehmen bleiben, dann können die Desiderata der hier untersuchten Jugendlichen nicht durchgeführt werden. Diese Arbeit soll zeigen, dass diese Herangehensweise mit der politisch gewollten Teilhabe in vielen marginalisierten Settings nicht funktionieren wird. Die Filosofi und Transformers haben gezeigt, dass sie sehr wohl an Politik, Debatten, Diskussionen, Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe interessiert sind, aber sie haben auch ein großes Misstrauen gegenüber dem Staat. Aber dieses baut man nicht mit schwierig verständlichen und langatmigen Erasmus+ Anträgen ab und auch nicht mit Jugendforen, die eine ganz andere Sprache sprechen als die der Isolani oder Supporters. Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet nicht nur die Sprache der Wirtschaft, der Politik, der Bildungsinstitutionen und der Mittelschicht zu sprechen, sondern auch die der vielen anderen Akteure, Kulturen und Schichten. Anhand der Interviews kann man außerdem sehr gut sehen, dass die Sprachen gar nicht einmal so unterschiedlich sind, aber die Empathie und die Fähigkeit zuzuhören vielen Handelnden aus den unterschiedlichsten marktorientierten, politischen, sozialen (!), bildungsbezogenen sowie wirtschaftlichen Bereichen fehlt.
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Erasmus+ ist ein Programm der Europäischen Union zur Förderung internationaler Mobilität für junge Menschen in allen Bereichen: von der niederschwelligen Jugendarbeit mit marginalisierten Jugendlichen bis zu den Studierenden an Hochschulen.
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Sowohl die Filosofi als auch die Transformers, Isolani und Supporters sprechen allesamt den Wunsch einer Verbesserung ihrer Lebenssituation an und zeigen auch anhand ihrer Praktiken, dass sie am Leben mit der restlichen Gesellschaft sehr interessiert sind und dieses teilweise auch mit erschwerten, aber ‚hustlenden’ Mitteln mitgestalten. Die wirtschaftlichen Interessen verdrängen das Denken, Reflektieren und Kritisieren sowie die soziale (Weiter-)Entwicklung. Für die Akteure dieser Studie ist gerade das Zusammenkommen, das Diskutieren und der Austausch als Community of Practice ein an sozialer Entwicklung orientierter Raum, das Möglichkeiten und nicht Einschränkungen durch Nummern, Formeln, Normen und Reduzierung von Ressourcen anstrebt. Diese Communities sind für die Soziale Arbeit und die Bildungsinstitutionen eine Chance, Verbesserungen in allen Bereichen, aber vor allem Zufriedenheit unter den Akteur*innen zu erreichen. Hierfür muss aber reflektiert, gedacht, debattiert, gestritten sowie flexibel gehandelt werden. Die vielen hier immer wieder erwähnten Institutionen könnten somit von den jungen Männern dieser Untersuchung lernen, mehr auf sozialer, wissenschaftlicher Ebene zu hustlen und weniger auf ökonomischer. Sie könnten von den Filosofi erfahren, sich wieder fundierter mit Theorien und interdisziplinären Wissensbeständen auseinanderzusetzen. Von den Isolani könnten sie sich die gesellschaftlichen Reflexionsprozesse abgucken. Die Transformers hätten zusammen mit Turgut bereits Lösungsvorschläge zur schulischen und gesellschaftlichen Teilhabe, die sie schon experimentiert haben. Durch die Supporters würden viele Angestellte dieser Institutionen lernen solidarischer umzugehen, sich gegenseitig zu unterstützen, statt zu konkurrieren und in einen ökonomischen, wirkungsorientierten Wettbewerb zu enden. Somit kann abschließend gesagt werden, dass die Professionalität in der Jugendsozialarbeit generell verbessert und zukünftig gewährleistet werden muss. Für angehende Sozialarbeiter*innen wären zum einen, eine gute, abwechslungsreiche und interdisziplinäre theoretisch-praktische Hochschulbildung nötig, die u.a. auch mit Methoden der partizipativen Aktionsforschung und Partizipationsprogrammen in Zusammenarbeit mit marginalisierten Stadtteilen – insbesondere deren Jugendlichen – und sozialen Einrichtungen eine Erdung, Transparenz und zugänglichere Öffentlichkeits(forschungs)arbeit zwischen Wissenschaft, Praxis und sozialer Realität schafft (vgl. hierzu erfolgreiche US-amerikanische Projekte: Torre & Fine 2006; Morrell 2006). Außerdem müssen ausgebildete Jugendsozialarbeiter*innen dafür kämpfen, dass theoretisch-reflexive Phasen wie auch Wissensaustausch mit Forscher*innen und Adressat*innen unabdingbar für eine erfolgreiche und professionelle Arbeit sind. Mehr Kooperation zwischen den (politischen) Institutionen und Vertreter*innen und mit den Adressat*innen durch
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akkurate Vertrauensarbeit, aktive Einbindung in die pädagogischen Maßnahmen und Freizeitbeschäftigungen und eine verstärkte Supervision der Pädagog*innen führen sicherlich zu einem effektiveren, ausgeglichenen und interkulturellen Arbeitsprozess (vgl. hierzu erfolgreiche US-Projekte: Kirshner 2006; Checkoway & Richards-Schuster 2006). Konkret könnte dies durch die Einbindung sozial benachteiligter Jugendlicher in wissenschaftliche Forschungsprojekte oder in öffentliche wissenschaftliche Diskussionen erreicht werden, da hierdurch Akteur*innen, Wissenschaftler*innen und Adressat*innen zusammenarbeiten und sich somit mehrere Horizonte und Perspektiven eröffnen würden, die schneller miteinander geteilt bzw. verbunden werden könnten – auch um Druck auf entsprechende Politiken auszuüben (vgl. Lewis-Charp et al. 2006; Kwon 2006; Noguera & Cannella 2006; Stovall 2006). Dies könnte bspw. zur direkteren und zielorientierten Verbesserung der Lebenslagen marginalisierter Milieus als auch für Akteur*innen von äußerst großem Vorteil sein (Ginwright & Cammarota 2006: xiii). Dabei muss jedoch beachtet werden, dass es zu keiner Kolonialisierung der jugendlichen Lebenswelten kommt, die durch das Eindringen der Sozialarbeit und Bildung in die Räume der Jugendlichen oft genug geschieht. So, wie die Einleitung mit einem Gedankengang eines Akteurs dieser Forschungsarbeit begonnen hat, so soll diese Untersuchung auch mit einem Zitat von einem der jungen interviewten Männer abgeschlossen werden: „Ich würde die Mentalität und Kultur der Menschen ä::ndern (.) nur das (.) weil wenn du ein Gebäude änderst und ein Gebäude bemalst bleiben die Leute so (.) der Kopf bleibt so (.) wenn der A denkt und du änderst von grau auf orange denkt die Person weiter A; (.) von daher muss man die Seele u::nd den Kopf der Menschen ändern. (.) man muss zu verstehen geben wie die Sachen wirklich sind; (.) nicht äh und nicht über die Farbe des Gebäudes reden (.) Mentalität und Kultur Daniel (.) man muss wirklich den Kopf der Menschen ändern (3) den De::nkprozess das Ve::rhalten (3) Menschenverstand es braucht Menschenverstand (5)“ (EI_Ciro, 2014: Z. 300-309).
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Anhang Transkriptionsrichtlinien nach TiQ (vgl. Bohnsack 1993: 193): Betonung @(.)@ @(3)@ @lachend@ (.) (3) ºLeiseº Laut ∟ Äh=äh BitAlb DG (schwer) ( ) //hustet// heu::te:: . ; [Gökhan: Ich finde aber-] ((Kommentar)) [...] / EI_Mirza, 2015 GD_Isolani, 2015 TB_Filosofi, 2014 TB_Falldorf, 2016
Betont gesprochen Kurzes Lachen des interviewten Akteurs Lachen des interviewten Akteurs (Dauer in Sekunden) Text wird lachend gesprochen Sehr kurze Pause (1-2 Sekunden); kurzes Absetzen Pause (Dauer in Sekunden) Leise gesprochen Laut gesprochen Überlappung, Unterbrechung Schneller Anschluss; Zusammenziehung Wort wird abgebrochen Abkürzung der interviewten Akteure Abkürzung des Interviewers (Daniel Ganzert) Schwer verständlicher Text, Unsicherheit bei der Transkription Unverständlicher Text, unverständliches Wort Nicht verbale akustische Signale der Teilnehmer im Gesprächsverlauf Lang ausgesprochene Vokale oder Konsonanten stark bzw. schwach sinkende Intonation Überlappung durch einen weiteren interviewten Akteur (für diese Arbeit vom Autor ausgesuchtes Zeichen) Kommentar / Erklärung / Bemerkung durch den Transkribierer (für diese Arbeit vom Autor ausgesuchtes Zeichen) Auslassung im Transkript (für diese Arbeit vom Autor ausgesuchtes Zeichen) Vom Transkribierer gesetzte Punkte bzw. Kommata, um den Text besser lesen zu können (insbesondere bei den schnell gesprochenen italienischen Interviews vom Autor ausgesuchtes Zeichen) Einzelinterview mit Akteur Mirza im Jahr 2015 (für diese Arbeit vom Autor ausgesuchtes Zeichen) Gruppendiskussion mit Akteursgruppe Isolani im Jahr 2015 (für diese Arbeit vom Autor ausgesuchtes Zeichen) Teilnehmende Beobachtung mit Akteursgruppe Filosofi im Jahr 2014 (für diese Arbeit vom Autor ausgesuchtes Zeichen) Teilnehmende Beobachtung im Stadtteil Falldorf im Jahr 2016 (für diese Arbeit vom Autor ausgesuchtes Zeichen)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Ganzert, Communities of Hustling, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 7, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30411-9